Staatssicherheit und KSZE-Prozess: MfS zwischen SED und KGB (1972–1989) [1 ed.] 9783666310690, 1969197240, 9783525310694


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Staatssicherheit und KSZE-Prozess: MfS zwischen SED und KGB (1972–1989) [1 ed.]
 9783666310690, 1969197240, 9783525310694

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Douglas Selvage / Walter Süß

Staatssicherheit und KSZE-Prozess MfS zwischen SED und KGB (1972–1989)

Analysen und Dokumente Band 54 Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU)

Douglas Selvage/Walter Süß

Staatssicherheit und KSZE-Prozess MfS zwischen SED und KGB (1972–1989)

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Der Erste Sekretär des ZK der SED Erich Honecker (links) und Bundeskanzler Helmut Schmidt auf der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki, 30. Juli 1975 Bildnachweis: Bundesregierung/Reineke, Engelbert; Signatur: B 145 Bild-00009689

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-1064 ISBN 978-3-666-31069-0

Inhalt

1. Einleitung [DS]�������������������������������������������������������������������������������������������13 1.1 Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1.2 Forschungslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1.3 Quellenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1.4 Vorgehensweise und Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2. Der KGB, das MfS und die Entspannungspolitik, 1969–1975 [DS/WS]����������������������������������������������������������������������������������37 2.1 KGB, MfS und sowjetische Entspannungspolitik, 1969–1972 . . 40 2.1.1 Andropow, Mielke und die Deutschlandpolitik der SED . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .45 2.1.2 Zugeständnisse vor der KSZE: der Grundlagenvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 2.1.3 Mielke, das MfS und der Grundlagenvertrag . . . . . . 53 2.2 SED, MfS und KSZE-Verhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.2.1 Die Sowjetunion, die DDR und die KSZEVerhandlungen, 1972 bis 1975 . . . . . . . . . . . . . 60 2.2.2 Die DDR und die sowjetischen Zugeständnisse . . . . .68 2.3 Der Einfluss des KGB und des MfS auf die Verhandlungen vor Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 2.3.1 Das MfS und die Zusammensetzung der ostdeutschen Delegation . . . . . . . . . . . . . . . . . . .78 2.3.2 Der Beitrag der HV A, 1972 bis 1975: Aufklärung . . . 86 2.4 Gipfeltreffen in Helsinki und Aktion »Delphin« . . . . . . . . . 89 2.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 3. Die Sowjetunion, die DDR und der Kampf um die Auslegung der KSZE-Schlussakte [DS] ����������������������������������������������������������������������99 3.1 Die Sowjetunion, die KSZE und der Kampf um »militärische Entspannung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 3.2 Die sowjetische und die ostdeutsche Auslegung und Implementierung der KSZE-Schlussakte . . . . . . . . . . . . 111 3.2.1 Der Osten und Korb III: kulturelle Zusammenarbeit . . 116

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Inhalt

3.2.2 Die UdSSR und Korb III: Information und menschliche Kontakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 3.2.3 Die DDR und Korb III: Information und menschliche Kontakte . . . . . . . . . . . . . . . 120 3.2.4 Organisatorische Anpassung des MfS . . . . . . . . . 123 3.3 »Entspannungsfeindliche Kräfte«, östliche Dissidenten und die KSZE-Schlussakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 3.3.1 KSZE, Menschenrechtsaktivisten und »HelsinkiGruppen« im Osten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 3.3.2 Mielke, das MfS und die Gefahr einer »Dissidentenund Bürgerrechtsbewegung« in der DDR . . . . . . . 129 3.4 »Reforming Détente«: Die Carter-Administration, die Menschenrechte und die Entspannungspolitik . . . . . . 135 3.5 Gegenoffensive: Die »Bruderparteien«, ihre Staatssicherheitsdienste und die Menschenrechte im Westen . . . . . . . . . . 145 3.5.1 Aktive Maßnahmen: Der KGB, die »Bruderorgane« und die Menschenrechtsproblematik . . . . . . . . . . 149 3.5.2 Die Bundesrepublik im Visier der SED und der Stasi . 153 3.6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 4. Die DDR, die deutsche Frage und der KSZE-Prozess [DS]������������������� 161 4.1 In die Offensive? Die DDR und das »Grenzprinzip« in der Schlussakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 4.2 Die KSZE und die Ausreisebewegung in der DDR . . . . . . 172 4.2.1 Die Gefahr grenzübergreifender Kontakte (1): Die Ausreisewilligen und die westdeutschen Massenmedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 4.2.2 Die Gefahr grenzübergreifender Kontakte (2): Die Riesa-Petition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 4.2.3 Das MfS und die Verschärfung der Bekämpfung von Ausreiseversuchen mittels des Strafrechts, 1976 bis 1977 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 4.3 Das MfS und »entspannungsfeindliche Kräfte« in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 4.4 Die DDR, die Bundesrepublik und die Ausreiseproblematik im Vorfeld des Belgrader Treffens . . . . . . . . . . . . . . . 203 4.5 Honecker, Schmidt und das Belgrader Treffen . . . . . . . . 207 4.6 Das deutsch-deutsche Verhältnis in Belgrad . . . . . . . . . . 213

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4.7 Die Unterdrückung der Ausreisebewegung und ihre Grenzen 1976 bis 1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 4.8 Moskau, Mielke und der »Moskauer Flügel« des SEDPolitbüros . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 4.9 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 5. Das Belgrader Treffen (1977–1978): Menschenrechte, Korb III, Friedensoffensive [DS] ���������������������������������������������������������������������������� 233 5.1 Vorbereitungen: Die Sowjetunion, der Warschauer Pakt und die DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 5.2 Das MfS und die Vorbereitung der DDR auf das Belgrader Treffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 5.2.1 Das MfS und die Zusammensetzung der ostdeutschen Delegation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 5.2.2 Die HV A und die Aufklärung der Politik westlicher und nichtpaktgebundener Staaten . . . . . . . . . . . 245 5.3 »Wall II«: Das MfS, die »Bruderorgane« und die Verhinderung von Demonstrationen während des Belgrader Treffens . . . . 255 5.4 Belgrader Treffen: Die USA, die UdSSR und die Menschenrechtsproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 5.5 Korb III: Die Supermächte, die Bundesrepublik und die DDR 266 5.6 Friedensoffensive: Der Osten, das Belgrader Treffen und die Neutronenbombe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 5.7 Pattsituation in Belgrad und östlicher »Sieg« über die Neutronenbombe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 5.8 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 6. Madrider Folgetreffen (1980–1983): Korb III, Friedensoffensive und Menschenrechte [DS] ������������������������� 293 6.1 Moskaus Spaltungstaktik und der sowjetische Vorschlag für eine Konferenz über militärische Entspannung in Europa . . . 294 6.2 Vorbereitungen: Moskau, Ostberlin und das Madrider Treffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 6.3 Madrider Treffen: Menschenrechte, Korb III und Europäische Abrüstungskonferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 6.4 Die Kompromissbereitschaft Moskaus und der Widerstand der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 6.4.1 Das MfS und der Kampf des MfAA gegen sowjetische Zugeständnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312

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6.4.2

Die endgültigen Zugeständnisse Moskaus im III. Korb und die DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 6.4.3 Mielke, Andropow und die sowjetischen Konzessionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 6.5 Das MfS vor Ort in Madrid . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 6.5.1 Das MfS, das MfAA und die ostdeutsche Delegation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 6.5.2 Die HV A in Madrid: Dekonspirationen . . . . . . . . 328 6.5.3 Die HV A und die Aufklärung westlicher und N+N-Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 6.5.4 Das MfS, die »Bruderorgane« und die Bekämpfung westlicher NGO in Madrid . . . . . . . . . . . . . . 337 6.5.5 Gegenoffensive: östliche Frontorganisationen und das Madrider Treffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 6.6 Die zweite Phase des Madrider Treffens (27.10.–18.12.1981): Rückschläge und Fortschritte . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 6.7 Das Ende der Entspannungspolitik? Kriegsrecht in Polen und das Madrider KSZE-Treffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 6.8 Die Kompromissbereitschaft Moskaus und der langsame Rückzug des Ostens, 1982–1983 . . . . . . . . . . . . . . . . 359 6.8.1 Generalsekretär Andropow und das Madrider Treffen 362 6.8.2 Moskau, Ostberlin und »RM-39/Revised« . . . . . . . 364 6.8.3 Letzte Schachzüge: Kondraschow, Kampelman und der spanische Kompromiss . . . . . . . . . . . . . . . 368 6.9 Das MfS, die ostdeutsche Partei- und Staatsführung und der Ausgang des Madrider Treffens . . . . . . . . . . . . . . . 375 6.10 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 7. Das Madrider Abschlussdokument, die Ausreisebewegung und die Milliardenkredite 1983 bis 1985 [DS]���������������������������������������������� 383 7.1 Das Madrider Abschlussdokument, die deutsch-deutschen Beziehungen und die Ausreisebewegung 1983 bis 1984 . . . . 384 7.1.1 Das MfS, die Veröffentlichung des Madrider Schlussdokuments und die Ausreisebewegung . . . . . 386 7.1.2 Das Madrider Abschlussdokument, Botschaftsbesetzungen und die Ausreisewelle 1984 . . . . . . . . 389

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7.2

Die Milliardenkredite, die deutsch-deutschen Beziehungen und die Ausreisewelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 7.2.1 Die Kürzung sowjetischer Erdöllieferungen, die wirtschaftliche Lage der DDR und das MfS, 1981 bis 1983 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 7.2.2 Die Milliardenkredite, Mielke und Moskau . . . . . . 401 7.3 Das Ende der Botschaftsbesetzungen und die erneute »Zurückdrängung« von Ausreisewilligen . . . . . . . . . . . 422 7.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 8. Fehlgeschlagene Friedensoffensive: Euromissiles, die Stockholmer Konferenz und westliche Friedensbewegungen, 1983 bis 1985 [DS] � 429 8.1 Die DDR, die östliche »Friedensoffensive« und die Grünen . . 431 8.2 Honeckers »Koalition der Vernunft«, die Sowjetunion und die Grünen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 8.3 Die Stockholmer Konferenz und der sowjetische »Friedenskampf« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 8.4 Das MfS vor Ort in Stockholm . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 8.4.1 Das MfS und die Zusammensetzung der ostdeutschen Delegation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 8.4.2 Die HV A und die Aufklärung westlicher und N+N-Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 8.4.3 Das MfS und die »operative Lage« in Stockholm . . . 465 8.5 Ein Bumerangeffekt: die Grünen, die unabhängigen Friedensgruppen in der DDR und die Menschenrechtsfrage . . 469 8.6 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 9. Expertentreffen zu Menschenrechtsfragen [WS] ����������������������������������� 481 9.1 Ottawa 1985 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 9.2 Das Berner Expertentreffen zu »menschlichen Kontakten« im Frühjahr 1986 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 9.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 10. Vorbereitungen und Beginn der Wiener Folgekonferenz [WS]������������� 515 10.1 Vorarbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 10.1.1 Treffen der Staatssicherheitsdienste zum Kampf gegen die »politisch-ideologische Diversion« . . . . . . . . . 524 10.1.2 DDR-Delegation und SED-Direktive . . . . . . . . . 531 10.1.3 Das MfS in Wien im ersten Jahr der Folgekonferenz . 532

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10.2 Erste Verhandlungsphasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 540 10.2.1 Netzwerk Ost-West-Dialog . . . . . . . . . . . . . . . 545 10.2.2 Die Implementierungsdebatte . . . . . . . . . . . . . . 548 10.2.3 Das Januarplenum der KPdSU . . . . . . . . . . . . . 558 10.2.4 Meinungsbildung im MfS . . . . . . . . . . . . . . . 562 10.2.5 Vorschläge für Elemente eines Abschlussdokuments . . 565 10.2.6 Beginn der Redaktionsphase . . . . . . . . . . . . . . 569 10.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570 11. Sowjetischer Positionswandel, Beginn politischer Reformen und die Taktik der Warschauer-Pakt-Staaten in der KSZE [WS] ���������������� 573 11.1 Politische Reformen in der Sowjetunion und die Taktik der Warschauer-Pakt-Staaten bei der KSZE . . . . . . . . . . 588 11.1.1 Expertentreffen der Warschauer-Pakt-Staaten . . . . . 589 11.1.2 Mielke meldet in Moskau Bedenken an . . . . . . . . 599 11.1.3 Entwurf eines Abschlussdokuments . . . . . . . . . . 603 11.1.4 Neuer sowjetischer Vorschlag . . . . . . . . . . . . . . 607 11.2 Die XIX. Parteikonferenz der KPdSU und die SED . . . . . . 611 11.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 12. Abschlussverhandlungen in Wien [WS]������������������������������������������������� 621 12.1 Revision der sowjetischen Positionen . . . . . . . . . . . . . . 625 12.1.1 Tauziehen um Menschenrechtskonferenz in Moskau . 632 12.1.2 Gorbatschow vor der UNO . . . . . . . . . . . . . . . 636 12.1.3 Letzter Widerstand im Warschauer Pakt . . . . . . . . 637 12.1.4 Kritik aus dem DDR-Staatsapparat . . . . . . . . . . . 639 12.1.5 Abstimmungsprobleme im Warschauer Pakt . . . . . 641 12.1.6 Mielke interveniert in Moskau . . . . . . . . . . . . . 642 12.1.7 Letzte Absprachen zwischen den Supermächten . . . . 643 12.1.8 Kaschlew in Ostberlin . . . . . . . . . . . . . . . . . 644 12.2 Das Abschlusstreffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647 12.3 Das Schlussdokument – ein Vergleich . . . . . . . . . . . . . 651 12.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657 13. Nach Wien [WS]������������������������������������������������������������������������������������� 659 13.1 Anpassungsversuche der Staatssicherheit . . . . . . . . . . . . 668 13.2 Menschenrechtstreffen in Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . 682 13.3 Ein letzter Hilferuf aus Ostberlin . . . . . . . . . . . . . . . . 694 13.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695

Inhalt

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14. Schlussbetrachtung [DS]������������������������������������������������������������������������� 697 14.1 Der Einfluss des MfS auf die Entspannungs- und KSZE-Politik der DDR und der Sowjetunion . . . . . . . . . . . . . . . . . 697 14.2 Das MfS und die Unterdrückung der ungewollten Auswirkungen des KSZE-Prozesses auf die DDR . . . . . . . . . . . 701 14.3 Das MfS, der KSZE-Prozess und der Untergang der DDR . . 704 14.3.1 Die KSZE-Politik Moskaus und die Ausreisebewegung . 706 14.3.2 Erich Honecker, die deutsch-deutschen Beziehungen und die Ausreisebewegung . . . . . . . . . . . . . . . 707 14.3.3 Das MfS, der KSZE-Prozess und der Untergang der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710 Anhang ���������������������������������������������������������������������������������������������������������� 713 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 715 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723 1. Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723 2. Veröffentlichte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 726 3. Zeitzeugeninterviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733 4. Zeitungen und Zeitschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733 5. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 734 Decknamenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 751 Danksagung���������������������������������������������������������������������������������������������������� 759 Angaben zu den Autoren ������������������������������������������������������������������������������� 761 Hinweis: Die Tabellenanhänge, auf die im Text verwiesen wird, finden sich als elektronisches Dokument (PDF) auf der Website des Verlags in der Titelanzeige https://www. vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/themen-entdecken/geschichte/zeitgeschichteab-1949/48886/staatssicherheit-und-ksze-prozess und auf der Website des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen https://www.bstu.de/informationen-zur-stasi/ publikationen/ ebenfalls bei der Anzeige des Einzeltitels.

1. Einleitung Zwei Themen, die seit dem Untergang des osteuropäischen Kommunismus immer wieder für kontroverse Diskussion sorgen, sind erstens die Ursachen für den Kollaps des sowjetischen Imperiums und das Ende des Kalten Krieges und zweitens die relative Macht der osteuropäischen Staatssicherheitsdienste gegenüber den (zumindest formell) führenden kommunistischen Parteien. Ein drittes Thema, das in der wissenschaftlichen Forschung bisher wenig berücksichtigt wurde, ist die Beziehung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zu seinem sowjetischen Pendant, dem KGB (Komitet gossudarstwennoi besopasnosti, Komitee für Staatssicherheit oder KfS) in den 1970er- und 1980er-Jahren. Diese Arbeit dient als Fallstudie für alle drei Themen. Sie untersucht Rolle und Einfluss des MfS und seines Ministers Erich Mielke bei der Formulierung und Propagierung der Entspannungs- und KSZE-Politik der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und der Sowjetunion in den Jahren 1972 bis 1989 sowie die Rolle und den Einfluss des MfS bei der Unterdrückung ungewollter gesellschaftlicher Reaktionen auf diese Politik in der DDR. Die Fokussierung auf den KSZE-Prozess1 ergibt sich aus der Tatsache, dass seit den 1990er-Jahren mehrere wissenschaftliche Studien eine wesentliche Ursache für den Untergang des kommunistischen Regimes in Europa in den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen des KSZE-Prozesses gefunden haben. Verfechter dieses Standpunktes verweisen auf die Zugeständnisse des Ostens an den Westen in der Endfassung der Schlussakte – u. a. die Verpflichtung zur Beachtung der »Menschenrechte und Grundfreiheiten« als Prinzip 7 im Prinzipienkatalog des ersten Teils oder Korb I der Schlussakte und die Zulassung eines Korbs III, der u. a. eine Ausweitung der menschlichen Kontakte und verbesserte Arbeitsbedingungen für Journalisten vorsah. Westliche Regierungen, Nichtregierungsorganisationen (non-governmental organizations, NGO) und Bewegungen bzw. Bürger in Osteuropa forderten von den kommunistischen Regierungen die Einhaltung dieser Verpflichtungen. Nach einem längeren Kampf hätten, so die Verfechter dieser These, ihre Bemühungen Wirkung auf die Regierungen im Osten gezeigt, die Änderungen in ihren Gesetzen und repressiven Praktiken vornahmen, und diese Änderungen hätten zum Untergang der kommunistischen Regierungen zumindest beigetragen. 1  Der KSZE-Prozess umfasst die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE); ihre Schlussakte, die von 35 Staatsoberhäuptern Europas und Nordamerikas auf einem Gipfeltreffen in Helsinki am 1. August 1975 unterzeichnet wurde und die darauffolgenden Nachfolge- und Expertentreffen der KSZE.

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Einleitung

Die These eines maßgeblichen Beitrags des KSZE-Prozesses zum Untergang des staatssozialistischen Regimes in Osteuropa ist aber umstritten. Timothy Garton Ash schreibt zum Beispiel in diesem Zusammenhang von einem »Helsinki-Mythos«.2 Zeitgenössische Kritiker der Entspannungspolitik im Westen teilten die Meinung solcher Partei- und Staatsführer im Osten wie Leonid Breschnew und Erich Honecker, die die Schlussakte als großen Sieg für die östliche Politik betrachteten – u. a. wegen der Bestätigung der Unverletzlichkeit der europäischen Grenzen durch den Westen in Korb I der Schlussakte, die Honecker mit der Anerkennung der DDR und die Sowjetunion mit der Anerkennung ihrer Einflusssphäre in Osteuropa gleichsetzten. Dazu kam die neben der Bundesrepublik gleichberechtigte Teilnahme der DDR an der KSZE, die das internationale Ansehen der DDR weiter erhöhte. Die Warschauer-Pakt-Staaten betrachteten auch Korb II der KSZE-Schlussakte, der von einer Erweiterung der Handels- und der wissenschaftlich-technischen Beziehungen zwischen Osten und Westen sprach, als Erfolg. Sie hofften ihn zu nutzen, um ihren wirtschaftlichen und technologischen Rückstand gegenüber dem Westen aufzuholen und den Lebensstandard ihrer Bevölkerungen zu verbessern. Die folgende Analyse von Rolle, Einfluss und Wirkung des MfS im Zusammenhang mit dem KSZE-Prozess gibt Aufschluss über dessen Auswirkungen auf die innenpolitische Lage in der DDR und deshalb auch dessen relativen Beitrag zu der Destabilisierung und dem Untergang des ostdeutschen Regimes. Sie gibt aber auch Aufschluss über andere, exogene Einflüsse auf die innenpolitische Lage in der DDR und auf die sowjetische und ostdeutsche Politik, die neben oder im Zusammenwirken mit dem KSZE-Prozess und seinen Auswirkungen zum Untergang führten.

1.1 Fragestellung Die Studie untersucht den Einfluss Erich Mielkes und seines Ministeriums auf die Entspannungs- und KSZE-Politik der DDR und der Sowjetunion in den Jahren 1972 bis 1989 sowie die Bemühungen der Staatssicherheit, die damit verbundene »Friedensoffensive« des Ostens gegen den Westen zu unterstützen und gleichzeitig die destabilisierenden Auswirkungen von Zugeständnissen Moskaus an den Westen auf die ostdeutsche Diktatur zu minimieren und einzudämmen. Es geht hier um sieben aufeinanderfolgende Fragekomplexe:

2  Peter, Matthias; Wentker, Hermann: »Helsinki-Mythos« oder »Helsinki-Effekt«? Der KSZEProzess zwischen internationaler Politik und gesellschaftlicher Transformation. In: dies. (Hg.): Die KSZE im Ost-West-Konflikt. Internationale Politik und gesellschaftliche Transformation 1975–1990. München 2012, S. 1–14, hier 4; Beitrag von Timothy Garton Ash. In: From Solidarność to Freedom. International Conference Warsaw–Gdańsk, August 29–31, 2005. Warschau 2005, S. 27 f. bzw. ders.: Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent. München 1993, S. 420 f.

Fragestellung

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–– Wie schätzte die Leitung des MfS die Entspannungs-, West- und KSZE-Politik der DDR bzw. der Sowjetunion in den Jahren 1972 bis 1989 ein? Wie − wenn überhaupt − nahm das MfS Einfluss auf diese Politik und welche Rolle spielte es bei ihrer Formulierung? –– Wie unterstützte das MfS die KSZE-Politik der DDR und der Sowjetunion mit seinen Dienstleistungen – zum Beispiel mit Aufklärungsinformationen, seiner Präsenz vor Ort bei den KSZE-Treffen und seinen verdeckten Operationen (»aktiven Maßnahmen«)3 im Westen? Inwieweit beeinflussten diese Dienstleistungen bzw. ihre Ergebnisse die KSZE-Politik der DDR und der UdSSR? –– Welche Rolle spielte das MfS in der Auslandspropaganda des Ostens bzw. in den Kampagnen der »Bruderorgane«, die KSZE- und Ostpolitik der westlichen Länder im Sinne des Ostens zu beeinflussen? –– Wie schätzte das MfS die möglichen Auswirkungen der Übereinkünfte im KSZE-Prozess auf die DDR ein, insbesondere im Zusammenhang mit Korb III und den Menschenrechten? Was waren ihre tatsächlichen Auswirkungen? –– Welche Rolle spielte das MfS bei der Auslegung und Implementierung der Übereinkünfte im KSZE-Prozess in der DDR? –– Welche Schritte unternahm das MfS im Zusammenwirken mit der SED und anderen Staatsorganen der DDR, um ungewollte gesellschaftliche Reaktionen auf die Vereinbarungen im KSZE-Prozess zu unterdrücken? –– Gab es exogene Faktoren, die die Unterdrückung ungewollter innenpolitischer Auswirkungen des KSZE-Prozesses durch das MfS erschwerten? Welche Schlussfolgerungen kann man daraus bezüglich des Stellenwerts des KSZE-Pro-

3  Der KGB definiert »aktive Maßnahmen« der Aufklärung entsprechend ihrer Zielsetzung: »Agent-operational measures directed at exerting influence on the foreign policy and the internal political situation of target countires in the interests of the Soviet Union and of other countries of the socialist community, the World Communist and National Liberation Movement, weakening the political, military, economic and ideological positions of capitalism, undermining its aggressive plans, in order to create conditions favourable to the successful implementation of the Soviet Union's foreign policy, and ensuring peace and social progress.« Mitrokhin, Vasiliy: KGB Lexicon: The Soviet Intelligence Officer's Handbook. London, Portland 2002, S. 13. Das MfS definiert sie im Jahr 1979 allgemeiner und mit besonderer Rücksicht auf ihre Durchführung abweichend: »Aktive Maßnahmen sind darauf gerichtet, mithilfe operativer Kräfte, Mittel und Methoden den Feind bzw. einzelne feindliche Kräfte und Institutionen zu entlarven, zu kompromittieren bzw. zu desorganisieren und zu zersetzen; progressive Ideen und Gedanken zu verbreiten und fortschrittliche Gruppen und Strömungen im Operationsgebiet zu fördern; die Entwicklung von Führungspersönlichkeiten und solche Personen zu beeinflussen, die bei der Bestimmung der öffentlichen Meinung eine besondere Rolle spielen. Der Einsatz der konspirativen Kräfte, Mittel und Methoden ist so vorzunehmen, dass Ausgangspunkte, handelnde Personen und Zielsetzung der aktiven Maßnahmen verschleiert werden.« MfS, IM-Richtlinie 2/79, v. 8.12.1979. In: Müller-Enbergs, Helmut: Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil 2: Anleitungen für die Arbeit mit Agenten, Kundschaftern und Spionen in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1998, S. 476.

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zesses und seiner Auswirkungen für die Destabilisierung bzw. den Untergang des SED-Regimes ziehen? In allen diesen Bereichen wird auch nach dem relativen Erfolg bzw. Misserfolg des MfS bei seinen Bemühungen gefragt und – wenn nach der heutigen Quellenlage möglich – darauf geantwortet. In dieser Hinsicht ist die Frage besonders wichtig, inwieweit das MfS die vom SED-Regime ungewollten innenpolitischen Auswirkungen des KSZE-Prozesses unter Kontrolle hielt. Hat das MfS als Repressionsorgan versagt? Ein besonderer Schwerpunkt der Analyse wird die Rolle des MfS als »Diener zweier Herren« – d. h. als »Schild und Schwert« der SED4 und als »Kampfabteilung der ruhmreichen sowjetischen Tscheka«5 – im Zusammenhang mit dem KSZE-Prozess sein. Normalerweise gab es für das MfS bei dieser Doppelrolle keinen Widerspruch: Die Linie der SED in der Außen- und Innenpolitik folgte zumindest oder entsprach der Linie Moskaus, und das MfS unterstützte diese gemeinsame Linie mit seinen geheimdienstlichen Leistungen. Die Lage war aber komplizierter, wenn es Streit oder Widersprüche zwischen SED und KPdSU gab wie im Falle der Entspannungs- und KSZE-Politik. Daraus ergibt sich die Frage: Wenn es solche Meinungsunterschiede gab, schlug Mielke sich auf die Seite der SED-Führung oder auf die Seite Moskaus, vertreten durch den KGB?

1.2 Forschungslage Der Verlauf der KSZE und ihrer Nachfolgekonferenzen ist gut dokumentiert. Zudem liegen viele einschlägige Erinnerungen von Teilnehmern aus Ost und West vor; neben den Memoiren bekannter Politiker, die seinerzeit in den Prozess involviert waren, auch solche von Akteuren auf mittlerer Ebene. Die meisten wissenschaftlichen Arbeiten sind in unmittelbarem Zusammenhang mit den Konferenzen geschrieben worden und reflektieren vor allem die Verhandlungspositionen der jeweiligen Seiten und deren Wandel, wobei als Akteure in der Regel die Verhandlungsdelegationen und die hinter ihnen stehenden Regierungen erscheinen. Alle solche Arbeiten hier abzuhandeln, insbesondere nach der Forschungswelle des letzten Jahrzehnts zum KSZE-Prozess, würde den Rahmen dieser Einleitung sprengen, und es gibt schon gute Übersichten der maßgebli-

4  Süß, Walter: »Schild und Schwert« – Das Ministerium für Staatssicherheit und die SED. In: Henke, Klaus-Dietmar; Engelmann, Roger (Hg.): Aktenlage. Die Bedeutung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes für die Zeitgeschichtsforschung. Berlin 1995, S. 83–97. 5  Schlusswort Mielkes auf der Kreisdelegiertenkonferenz im MfS zur Vorbereitung des X. Parteitags vom 20. bis 21.2.1981; BStU, MfS, ZAIG Nr. 3967, Bl. 1–54, hier 13.

Forschungslage

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chen wissenschaftlichen Literatur.6 Stattdessen werden hier einige grundlegende Arbeiten diskutiert, die inhaltlich auf die DDR fokussieren oder deren Ansatz direkt mit der Fragestellung dieser Studie zu tun hat. Eine bahnbrechende Arbeit in der Politikwissenschaft, die immer noch die wissenschaftlichen Arbeiten zum KSZE-Prozess beeinflusst, ist besonders relevant für die vorliegende Studie: Daniel C. Thomas’ Werk »Helsinki-Effect« von 2001.7 Er betrachtet die KSZE-Schlussakte als Ausgangspunkt für die Durchsetzung allgemeiner Menschenrechtsnormen in Osteuropa, und dieser langfristige »Helsinki-Effect« habe signifikant zum Untergang des Kommunismus und zum Ende des Kalten Krieges beigetragen.8 Nach dem Modell von Thomas hätten soziale Bewegungen im Osten, Nichtregierungsorganisationen im Westen sowie einzelne Dissidenten und Journalisten eine zentrale Rolle im Prozess des »Framing« oder der Deutung des Inhalts der Schlussakte im Sinne der Durchsetzung der Menschenrechte in Osteuropa gespielt.9 Diese Gruppen, Bewegungen und Einzelpersonen hätten sich von 1976 bis 1978 grenzübergreifend als »transnationales Helsinki-Netzwerk« verflochten und angefangen, Druck auf westliche und östliche Regierungen für die Durchsetzung der Menschenrechte in Osteuropa auf Grundlage der Helsinki-Schlussakte auszuüben.10 Nach einer Phase der Repression von 1979 bis 1985, in der die Regierungen und Staatssicherheitsdienste des Ostens solche Tätigkeit zu unterdrücken versuchten,11 habe eine »Sozialisation« oder Annahme von Menschenrechtsnormen unter Eliten im Osten spätestens mit dem Amtsantritt Michail Gorbatschows als Generalsekretär der KPdSU stattgefunden. Die Annahme dieser Normen und ihre Verwirklichung in der Ära Gorbatschow hätten die früheren, nach der KSZE-Schlussakte entstandenen Menschenrechtsbewegungen im Osten erneut mobilisiert, und die von ihnen ausgehenden Proteste hätten zum Untergang der kommunistischen Regierungen geführt. Weil die meisten östlichen Regierungen und insbesondere die sowjetische Regierung unter Gorbatschow die Menschenrechtsnormen in der KSZE-Schlussakte als Teil ihrer »europäischen« Identität übernommen hätten, entschieden sie sich gegen den Einsatz von Gewalt gegen die Demonstranten, selbst auf Kosten des Untergangs ihrer Regierungen.12 6  Siehe z. B. Peter; Wentker: »Helsinki-Mythos« oder »Helsinki-Effekt«, S. 14; Peter, Matthias: Die Bundesrepublik im KSZE-Prozess 1975–1983. Die Umkehrung der Diplomatie. Berlin, München, Boston 2015, S. 8–16; Hanisch, Anja: Die DDR im KSZE-Prozess 1972–1985. Zwischen Ostabhängigkeit, Westabgrenzung und Ausreisebewegung. München 2012, S. 17–23. Für eine laufende Bibliografie wissenschaftlicher Arbeiten seit 1995 siehe https://ifsh.de/core/ service-ressourcen/bibliographie-zur-kszeosze/ (letzter Zugriff: 2.10.2018). 7  Thomas, Daniel C.: The Helsinki Effect. International Norms, Human Rights, and the Demise of Communism. Princeton 2001. 8  Ebenda, S. 4. 9  Ebenda, Kapitel 3. 10  Ebenda, Kapitel 4–5. 11  Ebenda, Kapitel 6. 12  Ebenda, Kapitel 7.

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Obwohl die Studie von Thomas für die wissenschaftliche Forschung – nicht zuletzt weil sie immer wieder als Referenz zitiert wird – relevant bleibt, hat er aus Sicht der vorliegenden Studie zu wenig über die DDR und den KSZE-Prozess geschrieben. Das ist auch der Fall bei der viel detaillierteren und quellengesättigten Arbeit der Historikerin Sarah Snyder über das Entstehen und die Wirkung des von Thomas postulierten transnationalen Helsinki-Netzwerks.13 Es gibt aber gute Gründe, dass die DDR nicht häufiger in diesen Studien vorkommt. Im Gegensatz zur Sowjetunion, zu Polen oder der Tschechoslowakei passt die DDR nicht ideal zum Modell von Thomas, weil in den Jahren 1976 bis 1978 keine dauerhafte Gruppierung oder Bewegung in Ostdeutschland entstanden ist, die die Einhaltung der Menschenrechte durch das SED-Regime auf der Grundlage der KSZE-Schlussakte forderte und in dem grenzübergreifenden Helsinki-Netzwerk mitwirken konnte.14 Wenn es um die Sozialisation von Menschenrechtsnormen geht, fand keine ähnliche Entwicklung in der DDR statt wie in der Sowjetunion oder im reformkommunistischen Polen und Ungarn in den 1980er-Jahren.15 In der Sowjetunion sei, so Thomas, ab Anfang der 1980er-Jahre eine relativ kleine Gruppe von Parteifunktionären und Vertretern außenpolitischer »Think-Tanks« durch ihr Lesen von Kritiken der Dissidenten und Kontakten zu westlichen Diplomaten und Politikern im Sinne der westlichen Menschenrechtsnormen beeinflusst worden16 und Gorbatschow habe auf sie gehört, insbesondere nach seiner Wahl zum Generalsekretär.17 Das Schweigen von Thomas zu einer Annahme von Menschenrechtsnormen durch die ostdeutsche Regierung ist verständlich, wenn man die Dissertation von Christian Domnitz liest, die die wechselnden Europa-Konzeptionen in der offiziellen bzw. der Untergrundpublizistik in der DDR, Polen und der Tschechos13  Sarah B. Snyder: Human Rights Activism and the End of the Cold War. A Transnational History of the Helsinki Network. New York 2011. 14  Thomas zitiert aber die – für sein Modell relativ späte – Gründung der Initiative Frieden und Menschenrechte im Jahr 1985 in der DDR als Beispiel der nach Helsinki entfachten Bewegungen für Menschenrechte in Osteuropa. Er nennt auch die wachsende Anzahl von Ausreiseanträgen an die ostdeutsche Regierung ab 1975, die die »Menschenrechts«-Verpflichtungen in der KSZE-Schlussakte als Begründungsinstanz zitierten, als Beispiel des »Helsinki-Effekts« im Falle der DDR. Thomas: Helsinki Effect, S. 187 f., 249. Thomas nennt verschiedene Faktoren, warum keine »Helsinki-Gruppe« in der DDR in den Jahren von 1976 bis 1978 gegründet worden sei – u. a. die relative Produktivität der ostdeutschen Wirtschaft und die vergleichsweise bessere Versorgung der ostdeutschen Bevölkerung, die fehlende Erinnerung ostdeutscher Bürger an die Demokratie nach fast 40 Jahren NS- und SED-Diktatur und das fortdauernde Engagement ostdeutscher Intellektueller in den 1970er- und 1980er-Jahren für den Marxismus. Thomas nennt noch eine weitere Ursache, auf die zurückzukommen sein wird: »die vollständige Unterwanderung der ostdeutschen Gesellschaft durch die Stasi, die sicherstellte, dass jedwede unabhängige Initiativen entdeckt und eliminiert« würden. Ebenda, S. 186 f., 275. 15  Zu Ungarn und Polen siehe ebenda, S. 285. 16  Ebenda, S. 278 f. 17  Ebenda, S. 224–226.

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lowakei von der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte 1975 bis zum Wendejahr 1989 vergleichend und transnational analysiert.18 Es habe nach der KSZE einen Deutungskampf zwischen den kommunistischen Regierungen und Oppositionellen über »Europa« gegeben – u. a. darüber, ob deren Schlussakte eine Bestätigung des politischen Status quo oder die Annahme von Menschenrechten als Bestandteil einer europäischen Identität bedeuten solle.19 In den 1980er-Jahren hätten im Gegensatz zum reformkommunistischen Polen weder die DDR noch die Tschechoslowakei eine reformierte Europa-Konzeption in ihrer Publizistik übernommen. Später hätten sie sogar die Gorbatschowsche Konzeption eines »gemeinsamen Europäischen Hauses« vermieden bzw. mit altem, Breschnewschem Inhalt gefüllt.20 Domnitz fasst zusammen: »Die Gemeinsamkeiten im Erzählen eines Europas von ›Sicherheit und Zusammenarbeit‹ in der DDR und der Tschechoslowakei rührten nach dem Machtantritt Gorbatschows nicht mehr aus einer zentralen Moskauer Steuerung, sondern nur noch aus einer letztgeteilten Referenz: der sowjetischen Außenpolitik der Vergangenheit.«21 Die Verfasser der orthodox-kommunistischen Artikel für die offizielle Publizistik in der DDR (z. B. in der außenpolitischen Zeitschrift »Horizont«) waren häufig Mitarbeiter von staatlichen »Think-Tanks« in der DDR wie dem Institut für Internationale Politik und Wirtschaft (IPW), deren Pendants in der UdSSR die reformkommunistischen Berater Gorbatschows hervorgebracht hatten.22 Der Schluss liegt nahe, dass in der DDR kein vergleichbarer Sozialisierungs- oder Lernprozess im Sinne der Aufnahme der Menschenrechte als Bestandteil einer europäischen Identität in der DDR stattfand wie Thomas ihn im Falle der UdSSR postuliert. Aufbauend auf die Ergebnisse von Thomas23 u. a. veröffentlichte Oliver Bange in den letzten Jahren mehrere Arbeiten, die die DDR im KSZE-Prozess thematisieren.24 In allen stellt er mehr oder weniger dieselbe These auf: Weil sowohl 18  Domnitz, Christian: Hinwendung nach Europa. Öffentlichkeitswandel im Staatssozialismus 1975–1989. Bochum 2015. 19  Ebenda, S. 140–214. 20  Ebenda, S. 306–320. 21  Ebenda, S. 341 f. 22  Ebenda, S. 47 ff. 23  Vgl. z. B. Bange, Oliver: Zwischen Bedrohungsperzeption und sozialistischem Selbstverständnis. Die DDR-Staatssicherheit und westliche Transformationsstrategien 1966–1975. In: Diedrich, Torsten; Süß, Walter (Hg.): Militär und Staatssicherheit im Sicherheitskonzept der Warschauer-Pakt-Staaten. Berlin 2010, S. 253–296, hier 253. 24  Siehe ebenda sowie Bange, Oliver: The GDR in the Era of Détente: Conflicting Perceptions and Strategies. In: Villaume, Poul; Westad, Odd Arne (Hg.): Perforating the Iron Curtain: European Détente, Transatlantic Relations, and the Cold War, 1965–1985. Copenhagen 2010, S. 57–77; Bange, Oliver: Onto the Slippery Slope: East Germany and East-West Détente under Ulbricht and Honecker, 1965–1976. In: Journal of Cold War Studies (JCWS) 18:3, Summer 2016, S. 60–94; Bange, Oliver: »The Greatest Happiness of the Greatest Number ...«: The FRG and the GDR and the Belgrade CSCE Conference (1977–78). In: BilandŽić, Vladimir; Dahlmann, Dittmar; Kosanović, Milan (Hg.): From Helsinki to Belgrade. The First CSCE

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die Entspannungspolitik (zumindest in Europa) als auch der daraus entstandene »Prozess« mit der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte praktisch »unumkehrbar«25 geworden sei, habe die DDR in den Genfer KSZE-Verhandlungen »ihren eigenen Untergang«26 verhandelt. Die DDR gelte deshalb als »Hauptopfer der Ost-West-Entspannung«.27 Die These Banges von der »Unumkehrbarkeit« der europäischen Entspannung nach Helsinki wurde schon von anderen Historikern als teleologisch kritisiert.28 Sie stammt nach Angaben Banges von Egon Bahr,29 der zusammen mit Willy Brandt einen »Gesamtplan« in Form der »neuen Ostpolitik« verfolgte, der eine Unterminierung und den langfristigen Untergang der kommunistischen Regierungen in Osteuropa durch die Erweiterung von Ost-West-Kontakten und Handel beim gleichzeitigen Offenlassen der deutschen Frage vorsah.30 Aber selbst wenn Bahr die Entspannungspolitik nach Helsinki für »unumkehrbar« hielt, war das dennoch nicht der Fall, wie das Beispiel des Kollapses der US-sowjetischen Entspannung nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan und dem NATO-Doppelbeschluss im Dezember 1979 zeigt. Sogar die Entspannung in Europa war 1980 in Gefahr, als Moskau eine militärische Intervention in Polen erwog.31 Follow-up Meeting and the Crisis of Détente. Bonn 2012, S. 225–254; ders.: Der KSZE-Prozess und die sicherheitspolitische Dynamik des Ost-West-Konflikts 1970–1990. In: Bange, Oliver; Lemke, Bernd: Wege zur Wiedervereinigung: die beiden deutschen Staaten in ihren Bündnissen 1970 bis 1990. München 2013, S. 87–106; Bange, Oliver: Sicherheit und Staat. Die Bündnisund Militärpolitik der DDR im internationalen Kontext 1969 bis 1990. Berlin 2017; Bange, Oliver: The Stasi Confronts Western Strategies for Transformation. In: Haslam, Jonathan; Urbach, Karina: Secret Intelligence in the European States System, 1918–1989. Stanford 2014, S. 170–208; Bange, Oliver: No End to »Political Ideological Diversion«: The Stasi Perspective as Circumstancial Evidence for a Long Détente. In: ders.; Villaume, Poul (Hg.): The Long Détente: Changing Conceptions of Security and Cooperation in Europe, 1950s–1980s. Budapest, New York 2017, S. 97–126. 25  Bange: Zwischen Bedrohungsperzeption und sozialistischem Selbstverständnis, S. 279. Vgl. auch ders.: The Stasi Confronts Western Strategies, S. 170; ders.: Onto the Slippery Slope, S. 94; ders.: No End to »Political Ideological Diversion«, S. 98. 26  Bange: Zwischen Bedrohungsperzeption und sozialistischem Selbstverständnis, S. 253; ders.: The Stasi Confronts Western Strategies, S. 170; ders.: GDR in the Era of Détente, S. 57. 27  Ebenda; Bange: Onto the Slippery Slope, S. 94. 28  Siehe z. B. Kramer, Mark: Editor's Note, Journal of Cold War Studies (JCWS) 18:3, Summer 2016, S. 1 f. Vgl. auch Selvage, Douglas: H-Diplo Article Review 701 on »CSCE, the German Question, and the Eastern Bloc«, 1. Juni 2017, https://networks.h-net.org/node/28443/ discussions/182163/h-diplo-article-review-701-%E2%80%9Ccsce-german-question-and-eas tern-bloc%E2%80%9D. 29  Siehe Bange, Oliver: An Intricate Web: Ostpolitik, the European Security System and German Unification. In: ders.; Niedhart, Gottfried (Hg.): Helsinki 1975 and the Transformation of Europe. Oxford, New York 2008, S. 23–38, hier 32. 30  Ebenda. Vgl. auch Bange: Sicherheit und Staat, S. 53. 31  Selvage, Douglas: The Superpowers and the Conference on Security and Cooperation in Europe, 1977–1983. Human Rights, Nuclear Weapons, and Western Europe. In: Peter; Wentker

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Was immer man von der »Unumkehrbarkeit«-These Banges hält, war es sein Verdienst, als erster die Rolle des MfS im Zusammenhang mit dem KSZE-Prozess zu thematisieren und grundlegend dazu im Stasi-Unterlagen-Archiv zu recherchieren. Zutreffend und wertvoll sind seine Angaben zur Opposition Mielkes gegen geplante Zugeständnisse Moskaus in den KSZE-Verhandlungen und zu den Vorbereitungen des MfS auf die möglichen Auswirkungen der KSZE-Schlussakte.32 Wenn es um die Einflussnahme des MfS auf die KSZE-Politik der SED geht, gibt es aber einen bestimmten Widerspruch in Banges Arbeiten. Auf der einen Seite habe das MfS, so Bange, nach dem Anfang der Genfer KSZE-Verhandlungen in 1973 »einen nicht abreißenden Strom« von Warnungen vor der Langzeitwirkung Brandts Entspannungs- und KSZE-Politik an die Partei und Staatsführung der DDR geliefert.33 Auf der anderen Seite hätten Mielke und sein Ministerium die politische Führung der DDR in ihren »Illusionen« hinsichtlich der Stabilität der DDR, trotz östlicher Zugeständnisse in den Genfer KSZE-Verhandlungen, bestärkt, die ihr die Zustimmung zur KSZE-Schlussakte (und deshalb zum eigenen Untergang) erleichtert habe.34 Warum das MfS sich offenbar widersprach bzw. die SED-Führung bestimmte Aussagen des MfS ernst nahm und die anderen nicht, bleibt unklar. Dieser Analyse der Rolle des MfS in der KSZE-Politik der DDR liegt offenbar eine Überschätzung der Rolle des MfS zugrunde; Bange bezeichnet das MfS und seinen Minister Mielke in einigen Publikationen als

(Hg.): Die KSZE im Ost-West-Konflikt, S. 15–58, hier 36 f. Honecker war seinerseits bereit, die europäische Entspannung aufs Spiel zu setzen, indem er sich für eine solche Intervention unter Beteiligung der Nationalen Volksarmee (NVA) einsetzte. Siehe Kubina, Michael; Wilke, Manfred: Hart und kompromißlos durchgreifen! Die SED kontra Polen 1980/81. Geheimakten der SED-Führung über die Unterdrückung der polnischen Oppositionsbewegung. Berlin 1995. Die Sowjetunion entschied sich spätestens im Dezember 1981 gegen einen Einmarsch in Polen. Siehe Paczkowski, Andrzej: Droga do »mniejszego zła«. Kraków 2002, S. 113; Zubok, Vladislav M.: A Failed Empire. The Soviet Union in the Cold War from Stalin to Gorbachev. Chapel Hill 2007, S. 266 f.; Kommentare von Georgii Shakhnazarov in: Savranskaya, Svetlana; Blanton, Thomas (Hg.): Dialogue: The Musgrove Conference, May 1–3, 1998; in: Savranskaya, Svetlana; Blanton, Thomas; Zubok, Vladislav (Hg.): Masterpieces of History. Budapest, New York 2010, S. 129. Wir wissen aber nicht, wie die Sowjetunion im Dezember 1981 reagiert hätte, wenn es bei der Einführung des Kriegsrechts in Polen zu bewaffneten Konflikten gekommen wäre. Siehe Kramer, Mark: Das Verhalten der UdSSR und des Warschauer Paktes in der Polnischen Krise 1980/81. In: Diedrich, Torsten; Süß, Walter (Hg.): Militär und Staatssicherheit im Sicherheitskonzept der Warschauer-Pakt-Staaten. Berlin 2010, S. 167–212, hier 180–184. 32  Siehe z. B. Bange: GDR in the Era of Détente, S. 71; ders.: »Greatest Happiness«, S. 227– 229; ders.: Zwischen Bedrohungsperzeption und sozialistischem Selbstverständnis, S. 276–278; ders.: Sicherheit und Staat, S. 248 f. 33  Bange: Sicherheit und Staat, S. 248 f. 34  Bange: Zwischen Bedrohungsperzeption und sozialistischem Selbstverständnis, S. 263; ders.: Sicherheit und Staat, S. 56; ders.: Onto the Slippery Slope, S. 87; ders.: GDR in the Era of Détente, S. 72.

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praktisch »allmächtig«.35 Damit werden die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung über die relative Rolle des MfS gegenüber der SED ignoriert.36 Diese Charakterisierung steht auch in eklatantem Widerspruch zum Schluss Banges. Wenn die Stasi allmächtig gewesen wäre, warum konnte sie die Auswirkungen des KSZE-Prozesses auf die DDR nicht unter Kontrolle halten, wie die SED offenbar annahm? Die einzige Antwort, die Bange anbietet, ist ein weiterer Hinweis auf die »Irreversibilität« der Entspannungspolitik nach Helsinki.37 Banges Darstellung der DDR hauptsächlich als Opfer oder sogar »Hauptopfer« der sowjetischen Entspannungs- und KSZE-Politik minimiert ihre eigene (wenn auch nur begrenzte) Handlungsfähigkeit, wenn es um die deutsch-deutschen Beziehungen bzw. Kontakte ging. Breschnew hatte sich in einem Gespräch mit Honecker am 18. Juni 1975 – d. h. vor der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte – beschwert, dass die DDR zu viele westdeutsche Besucher einlasse.38 Er hatte damit klargestellt, dass die DDR trotz der KSZE-Schlussakte die deutsch-deutschen Kontakte bremsen und die von Moskau geforderte Politik der Abgrenzung der DDR von der Bundesrepublik verfolgen müsse. Der Kommentar Breschnews deutete an, dass die bilateralen deutsch-deutschen Beziehungen als alternative Erklärung oder zumindest als Ko-Faktor neben der KSZE für den von Bange und Thomas postulierten Prozess der inneren Aufweichung bzw. des Untergangs der DDR berücksichtigt werden müssen. Das war offenbar der Ansatz von Hermann Wentker, als er 2007 den KSZE-Prozess aus DDR-Perspektive in das Dreieck der Abhängigkeit von der UdSSR, der »Sogwirkung« der Bundesrepublik und dem Bemühen um innere Stabilität einordnete.39 35  Bange: »Greatest Happiness«, S. 229; ders.: Onto the Slippery Slope, S. 79; ders.: Sicherheit und Staat, S. 244; ders.: GDR in the Era of Détente, S. 67. In einer Publikation konzediert Bange aber, dass das MfS bei der Unterdrückung der innenpolitischen Auswirkungen des KSZEProzesses eher als »verlängerter Arm der Staats- und Parteiführung als ein eigenständiger Akteur« tätig gewesen sei. Siehe Bange: Zwischen Bedrohungsperzeption, S. 281. 36  Siehe z. B. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR. München 2013, S. 16; Suckut, Siegfried; Süß, Walter (Hg.): Staatssicherheit und Staatspartei. Zum Verhältnis von SED und MfS. Berlin 1997. 37  Bange: Sicherheit und Staat, S. 548. Vgl. auch ders.: Zwischen Bedrohungsperzeption, S. 281. 38  Siehe II.2.4 unten bzw. Bericht des Ersten Sekretärs Honecker vor dem Politbüro des Zentralkomitees der SED über das Gespräch mit dem Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU Breschnew am 17. Juni 1975 in Moskau (Auszug), 18.6.1975. In: DzD VI/4 (1975/1976), S. 211–222, hier 216. Es ist kennzeichnend, dass Bange Honeckers Antwort an Breschnew, dass es »immer die Staatssicherheit gebe und diese existiert noch weiter«, in Verbindung mit der »innenpolitischen Absicherung der KSZE-Verpflichtungen« statt in Zusammenhang mit den deutsch-deutschen Beziehungen – d. h. dem eigentlichen Gesprächsthema Breschnews – bringt. Siehe Hanisch: DDR im KSZE-Prozess, S. 92. 39  Wentker, Hermann: Außenpolitik in engen Grenzen. Die DDR im internationalen System 1949 bis 1989. München 2007, S. 3, unter Verweis auf Lemke, Michael: Die Deutschlandpolitik der DDR zwischen Moskauer Oktroi und Bonner Sogwirkung. In: Kocka, Jürgen; Sabrow, Martin (Hg.): Die DDR als Geschichte. Fragen – Hypothesen – Perspektiven. Berlin 1994, S. 181–185.

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Die Doktorarbeit von Anja Hanisch von 2012, die die Lücke einer Monografie über die DDR im KSZE-Prozess füllte, baut auf den Erkenntnissen Wentkers auf.40 Sie beschreibt aber das Dreiecksverhältnis etwas anders. Die Politik der DDR im KSZE-Prozess bliebe zwischen den Wünschen Moskaus (Ostabhängigkeit), ihrer unmittelbaren Nachbarschaft zur Bundesrepublik und der damit entstandenen Notwendigkeit der Westabgrenzung und den innenpolitischen Entwicklungen in der DDR gefangen.41 Nach der Darstellung von Hanisch heißt das, dass eine harte Linie der DDR in der multilateralen Konferenzdiplomatie des KSZE-Prozesses und in den Beratungen dazu in der Warschauer Vertragsorganisation (WVO) praktisch prädestiniert war. Zur »Westabgrenzung« zeigt Hanisch, wie die DDR erfolglos gegen die westdeutsche Initiative kämpfte, einen Passus über die »friedliche Änderung von Grenzen« in die Schlussakte aufzunehmen, und wie sie weiter im KSZE-Prozess gegen Konzessionen in den Bereichen menschliche Kontakte und Arbeitsbedingungen für Journalisten im III. Korb Widerstand leistete, die die deutsch-deutsche Grenze durchlässiger machen würden. Nach der Entstehung der Ausreisebewegung in der DDR infolge der KSZE-Schlussakte opponierte die DDR noch härter gegen irgendwelche neuen Konzessionen im III. Korb und demzufolge gegen die Weiterentwicklung des KSZE-Prozesses. Nach der Darstellung von Hanisch führte die harte Linie Ostberlins zu Konflikten mit der oft kompromissbereiteren UdSSR, die größere entspannungspolitische Interessen im KSZE-Prozess, hauptsächlich im Bereich der »militärischen Entspannung«, verfolgte. Am Ende war die »Ostabhängigkeit« der DDR für deren KSZE-Politik entscheidend: Wann immer es Interessengegensätze zwischen der DDR und der UdSSR gab, wurden sie zugunsten Moskaus gelöst. Hanisch zeigt, wie die DDR mehrmals von sowjetischen Konzessionen an den Westen für größere entspannungspolitische Ziele überrollt wurde. Während der Madrider Nachfolgekonferenz (1980–1983) wurde »der Interessengegensatz zwischen der UdSSR und der DDR« sogar »gravierend«,42 als Moskau entschied, Konzessionen an den Westen im III. Korb in den Bereichen Ausreise, Familienzusammenführung und Eheschließungen zu machen. Solche Konzessionen drohten die Ausreisebewegung in der DDR zu stimulieren. Nichtsdestotrotz wurden sie in das Abschlussdokument des Madrider Treffens aufgenommen. Die Versuche der DDR, solche Konzessionen durch Kritik auf verschiedenen Treffen der WVO oder 40  Hanisch: DDR im KSZE-Prozess. Die Dissertation entstand aus dem mehrjährigen Projekt des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ), »Der KSZE-Prozess: Multilaterale Konferenzdiplomatie und die Folgen (1975–1989/91)«, das sowohl die multilaterale Diplomatie im KSZE-Prozess als auch deren Folgen für die inneren Verhältnisse in den Warschauer-Pakt-Staaten thematisierte. Teile dieser Analyse wurden schon in der Rezension von Douglas Selvage zum Buch Hanischs in »sehepunkte« veröffentlicht. Siehe sehepunkte 12 (2012) 10 [15.10.2012], URL: http://www. sehepunkte.de/2012/10/21517.html. 41  Hanisch: DDR im KSZE-Prozess, S. 377. 42  Ebenda, S. 264.

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Einleitung

durch Vorschläge für »stärkere Abstimmung«43 abzuwenden, nützten nichts. Eine letzte Möglichkeit der DDR, ein Veto auf dem entsprechenden KSZE-Treffen gegen das Abschlussdokument und die in ihm enthaltenen Zugeständnisse im III. Korb einzulegen, wurde nie wahrgenommen. Insgesamt scheint die DDR nach Hanischs Darstellung gegenüber den Entscheidungen Moskaus »hilflos«44 gewesen zu sein. Die gut belegte Forschung von Hanisch widerlegt die Behauptung von Johannes Kuppe, dass die DDR nach Breschnews Tod erweiterten Spielraum im KSZE-Prozess bekommen und genutzt hätte.45 Das wichtigste Ergebnis von Hanischs Forschung liegt aber nicht im Bereich der Konferenzdiplomatie, sondern in den Auswirkungen des KSZE-Prozesses auf die ostdeutsche Gesellschaft. Hanisch argumentiert überzeugend, dass »die gra­vierendste Folge des KSZE-Prozesses« und des III. Korbes für die DDR nicht die Bildung einer Menschenrechtsgruppe wie die Moskauer Helsinki-Gruppe oder Charta 77 war, sondern die Entstehung einer wachsenden Ausreisebe­wegung in der DDR. Hanischs Arbeit dient als notwendiges Korrektiv zu früheren Dar­stellungen, die den Menschenrechtsaktivismus in der DDR als Auswirkung der Helsinki-Schlussakte überbetonten.46 Die Bekämpfung der Ausreise­ bewegung als (Teil)folge des KSZE-Prozesses vonseiten der SED, des Ministe­ riums des Innern (MdI) und hauptsächlich des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) wird auch von Hanisch thematisiert. Obwohl die Ausreisebewegung schon von Bernd Eisenfeld grundlegend erforscht wurde,47 stellt Hanisch als erste explizit »die Frage nach den genauen Auswirkungen der verschiedenen KSZE-Treffen auf die Entwicklung der Ausreisebewegung«.48 Sie referiert in ihrem Buch u. a. genaue Statistiken über die Entwicklung der Ausreisebewegung aus den Akten des MdI und des MfS. 43  Ebenda, S. 192. 44  Ebenda, S. 274. 45  Ebenda, S. 282–284. Vgl Kuppe, Johannes: Die KSZE und der Untergang der DDR. In: Deutschland Archiv (DA) 38 (2005) 3, S. 487–493, hier 490 f. 46  Hanisch: DDR im KSZE-Prozess, S. 5 f.; siehe auch II.3.2 unten. Vgl. z. B. Eckert, Rainer: Opposition und Repression in der DDR vom Mauerbau bis zur Biermann-Ausbürgerung (1961–1976). In: Archiv für Sozialgeschichte 39 (1999), S. 355–390, hier 387; Eppelmann, Rainer: Brüsewitz, Biermann, KSZE und die Folgen. In: Kaiser, Ewald; Frei, Gert (Hg.): Christen, Staat und Gesellschaft in der DDR. Düsseldorf 1995, S. 6–12; Bange: »Greatest Happiness«, S. 230; ders.: KSZE-Prozess und die sicherheitspolitische Dynamik, S. 95. 47  Siehe z. B. Eisenfeld, Bernd: Flucht und Ausreise, Macht und Ohnmacht. In: Kuhrt, Eberhard (Hg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft. Opladen 1999, S. 381–419; Eisenfeld, Bernd: Die Ausreisebewegung – eine Erscheinungsform widerständigen Verhaltens. In: Poppe, Ulrike; Eckert, Rainer; Kowalczuk, Ilko-Sascha (Hg.): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR. Berlin 1995, S. 192–223. Siehe auch Gehrmann, Manfred: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs«: die Abwanderung aus der DDR in die BRD und nach West-Berlin als innerdeutsches Migranten-Netzwerk. Berlin 2009. 48  Hanisch: DDR im KSZE-Prozess, S. 6.

Quellenlage

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Obwohl die Politik der SED-Regierung auf den verschiedenen KSZE-Treffen und ihre Maßnahmen zur Eindämmung ungewollter innenpolitischer Auswirkungen im Zentrum von Hanischs Analyse stehen, analysiert sie durchgehend den relativen Einfluss des MfS auf diese Politik und insbesondere seine Rolle bei der »Zurückdrängung« der Ausreisebewegung. Weil die vorliegende Studie auch chronologisch vorgeht, gibt es Überschneidungen mit Hanischs Werk zu diesen Fragen. In den meisten Fällen, in denen die Autoren mit der Analyse von Hanisch übereinstimmen, wird ihre Arbeit einfach zitiert und zusammengefasst. Unsere Arbeit behandelt aber auch Aspekte der Tätigkeit des MfS, die wegen der unterschiedlichen Fragestellung in Hanischs Studie nur begrenzt oder gar nicht vorkommen – zum Beispiel die Beziehungen MfS – KGB bzw. die versuchte Einflussnahme Mielkes auf die sowjetischen »Tschekisten« in Fragen der sowjetischen KSZE-Politik, die Unterstützung des MfS für die SED und insbesondere den KGB mit aktiven Maßnahmen zugunsten der »Friedensoffensive« des Ostens und gegen die »Menschenrechtsdemagogie« des Westens im KSZE-Prozess, die Präsenz des MfS bzw. der HV A mit hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeitern in den DDR-Delegationen auf den verschiedenen KSZE-Treffen und ihre Tätigkeit vor Ort, eine genaue Analyse der Aufklärungstätigkeit der HV A im Zusammenhang mit dem KSZE-Prozess und dessen Ergebnissen. Es gibt auch einen chronologischen Unterschied. Hanischs Studie endet mit dem Jahr 1985, während diese Studie die Entwicklungen im KSZE-Prozess bis zum Untergang der DDR analysiert.

1.3 Quellenlage Weil die Sowjetunion die führende Rolle bei der Festlegung der Entspannungsund KSZE-Politik des Ostens spielte, sind die verfügbaren Quellen über deren Politik als Ausgangspunkt für die Studie wichtig. Besonders aussagekräftig hinsichtlich der Politik der Sowjetunion sowie ihrer Verbündeten – darunter die DDR – im KSZE-Prozess sind die Reden, Protokolle und Berichte von Sitzungen des Warschauer Pakts, insbesondere vom »Politisch Beratenden Ausschuss« (d. h. den Partei- und Staatsführern des Ostens), dem Komitee der Außenminister und den Treffen der stellvertretenden Außenminister. Diese sind zum Teil auf der Website des ehemaligen »Parallel History Project for Cooperative Security«49 verfügbar, andernfalls als Anlagen zu den Protokollen (oder Protokollentwürfen) der darauffolgenden Sitzungen des SED-Politbüros in der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen (SAPMO) der ehemaligen DDR im Bundesarchiv Berlin. Einzelne Protokolle und Berichte von bilateralen ostdeutsch-sowjetischen 49  Parallel History Project (PHP) on Cooperative Security: Warsaw Pact Records, http:// www.php.isn.ethz.ch/lory1.ethz.ch/collections/colltopic4328.html?lng=en&id=14916.

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Einleitung

Gesprächen geben auch Einsicht in die Entspannungs- und KSZE-Politik der UdSSR und deren Meinung zu Entwicklungen in den deutsch-deutschen Beziehungen. Die meisten können als Anlagen zu Protokollen des SED-Politbüros bzw. im Bestand des Büros Honecker gefunden werden. Einige der wichtigsten wurden von Hans-Hermann Hertle und Konrad Jarausch veröffentlicht.50 Es gibt glücklicherweise auch viele veröffentlichte Primärquellen aus sowjetischen Archiven, die für die Studie relevant und online verfügbar sind – zum Beispiel die »Electronic Briefing Books« des National Security Archive (NSA) in Washington.51 Das NSA hat auch die Tagebücher von Anatoli Tschernjajew online veröffentlicht,52 der über den gesamten Zeitraum der Studie in der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU arbeitete und später zum engen Berater von Gorbatschow wurde. Weil so viele wichtige Quellen zur sowjetischen Entspannungs- und KSZE-Politik schon veröffentlicht wurden oder in Drittarchiven zugänglich sind, schien es den Autoren nicht notwendig zu sein, mehrere Monate in den Moskauer Archiven zu verbringen, um vermutlich nur vereinzelte neue Einsichten in die sowjetische Politik zu bekommen. Wegen der Fokussierung der Fragestellung auf Stasi und KGB wären die Akten über die Zusammenarbeit MfS – KGB, die aktiven Maßnahmen der östlichen Geheimdienste und die Rolle des KGB in der Entspannungs- und KSZE-Politik in den Archiven des Föderalen Dienstes für Sicherheit (Federalnaja sluschba besopasnosti) oder des Dienstes der Außenaufklärung (Sluschba wneschnei raswedki) der Russischen Föderation besonders wertvoll für unsere Forschung gewesen. Diese Archive bleiben aber seit 1993 für externe Forscher weitestgehend geschlossen.53 Die wichtigsten Quellen für die Politik der DDR im Zusammenhang mit dem KSZE-Prozess stammen vom SED-Politbüro – hauptsächlich Direktiven für die DDR-Delegation bei einzelnen KSZE-Treffen und Beschlüsse über die Realisierung der Vereinbarungen im KSZE-Prozess bzw. zur Begrenzung ihrer ungewollten innenpolitischen Auswirkungen (z. B. zur »Zurückdrängung« der Ausreisebewegung). Die meisten wesentlichen Dokumente können als Anhang zu Protokollen bzw. deren Entwürfen des SED-Politbüros oder gelegentlich des Sekretariats des SED-Zentralkomitees (ZK) in den SAPMO-Akten gefunden werden. Es gab auch relevante Unterlagen in anderen Beständen von SAPMO – 50  Hertle, Hans-Hermann; Jarausch, Konrad (Hg.): Risse im Bruderbund. Die Gespräche Honecker – Breschnew 1974 bis 1982. Berlin 2006. 51  Siehe »Europe« unter: National Security Archive: Electronic Briefing Books, http://nsarchive. gwu.edu/NSAEBB/ (letzter Zugriff: 1.11.2018). 52  Tschernjajew, Anatoli: Tagebücher, 1972–1991. In: Rossiskije programmy Archiva Nazio­ nalnoi Besopasnosti [National Security Archive Russian Program], http://nsarchive.gwu.edu/ rus/Chernyaev.html (letzter Zugriff: 1.11.2018). 53  Walther, Ulf: Russlands »Neuer Adel«: die Macht des Geheimdienstes von Gorbatschow bis Putin. Stuttgart 2014, S. 220 f.; Soldatov, Andrei; Borogan, Irina: The New Nobility. The Restoration of Russia’s State Security and the Enduring Legacy of the KGB. New York 2010, S. 98–100.

Quellenlage

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u. a. im Büro Honecker, in der Abteilung Internationale Verbindungen (IV) und im Büro des ZK-Sekretärs für Internationale Verbindungen Hermann Axen. Die Akten des Ministerbüros des MfAA der für die KSZE zuständigen Haupt­ abteilung Grundsatz und Planung und insbesondere die Akten des MfAA zu den einzelnen KSZE-Treffen, die offenbar irgendwann schon ausgedünnt wurden, dienten als wichtige Quellen für diese Studie. Sie liegen in der Abteilung MfAA im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes (PA AA) in Berlin. Telegramme von den ostdeutschen Delegationen auf einzelnen KSZE-Treffen, die in den Akten des MfAA nicht ausfindig zu machen waren, liegen zum Teil im Archiv des BStU in den Unterlagen der Rechtsstelle (RS) bzw. der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des MfS. Wenn es um den Verlauf der einzelnen KSZE-Treffen geht, dienten nicht nur die Akten des MfAA als wichtige Quellen, sondern auch die veröffentlichten Dokumente anderer Außenministerien und Regierungen – u. a. Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland54 im Falle der Bundesrepublik, »Foreign Relations of the United States«55 für die USA, »Documents on British Policy Overseas«56 für Großbritannien und »Polskie Dokumenty Dyplomatyczne« (Polnische Diplomatische Dokumente)57 für Polen. Die Dokumentationen von Hermann Volle und Wolfgang Wagner mit öffentlichen Dokumenten von der KSZE und den Nachfolgetreffen in Belgrad und Madrid bleiben immer noch nützlich.58 Für das Belgrader Treffen veröffentlichte das CWIHP (Cold War International History Project) zwei Bände von relevanten Dokumenten, hauptsächlich aus US-Archiven.59 Besonders nützlich für das Belgrader Treffen waren der Nachlass des US-Delegationsleiters Arthur J. Goldberg bei der Library of 54  Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland hg. im Auftrag des Auswärtigen Amtes vom Institut für Zeitgeschichte. 55  Foreign Relations of the United States hg. vom Office of Historian, U.S. Department of State. 56  Documents on British Policy Overseas (DBPO), Series III, Vol. II: The Conference on Security and Cooperation in Europe, 1972–1975, hg. von G. Bennett und K. A. Hamilton. London 1997. 57  Polskie Dokumenty Dyplomatyczne hg. im Auftrag des polnischen Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten vom Polnischen Institut für Internationale Angelegenheiten (Polski Instytut Spraw Międynarodowych, PISM). 58  Volle, Hermann; Wagner, Wolfgang (Hg.): KSZE. Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. In: Beiträge und Dokumente aus dem Europa-Archiv. Bonn 1976; ders.: Das Belgrader KSZE-Folgetreffen: der Fortgang des Entspannungsprozesses in Europa. In: Beiträgen und Dokumenten aus dem Europa-Archiv. Bonn 1978; ders.: Das Madrider KSZE-Folgetreffen. Der Fortgang des KSZE-Prozesses in Europa. In: Beiträgen und Dokumenten aus dem Europa-Archiv. Bonn 1984. 59  CWIHP: From Global Politics to Human Rights: The CSCE Follow up Meeting, Belgrade, 1977, hg. von Mircea Munteanu und Kristina Terzieva. Washington 2011, verfügbar online: https:// www.wilsoncenter.org/publication/global-politics-to-human-rights-the-csce-follow-meetingbelgrade-1977.

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Einleitung

Congress in Washington und die damaligen Telegramme des State Departments, die die National Archives der USA in College Park/Maryland für die Jahre 1973 bis 1979 online zur Verfügung stellten. Das Archiv der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Prag beinhaltet hauptsächlich offizielle Dokumente von den verschiedenen KSZE-Treffen, aber die dort auffindbaren Delegationslisten waren für diese Studie besonders wertvoll, insbesondere bei der Erforschung der Personen in der ostdeutschen Delegation. Für die Politik der USA auf dem Madrider KSZE-Treffen liefert die Website von Jason Saltoun-Ebin »The Reagan Files«60 mit Dokumenten aus dem Ronald-Reagan-Presidential-Library wichtige Einsichten. Die Vorbereitungsmaterialien, Protokolle und Berichte von den Gesprächen des Ministers für Staatssicherheit Erich Mielke mit den Vorsitzenden des KGB bzw. ihren Stellvertretern oder Besucherdelegationen des KGB in Berlin waren für diese Studie besonders bedeutend. Sie können im Stasi-Unterlagen-Archiv in den Akten der ZAIG, des Sekretariats des Ministers (SdM) und der für die Organisierung der internationalen Zusammenarbeit zuständigen Abteilung X des MfS gefunden werden. Ein kleiner Teil dieser Dokumente wurde vom BStU digitalisiert und online veröffentlicht.61 Neue Aufschlüsse wurden durch die manuelle Rekonstruktion (MReko) von zahlreichen, von Hand zerrissenen Akten der Abteilung X durch die »Puzzler« im Archiv des BStU erwartet. Seit der Veröffentlichung des vorläufigen Findbuchs für die Abteilung X durch den BStU 200562 sind insgesamt 1 048 (Stand: 12.5.2017) neue Akten der Abteilung X von MReko für die Forschung bereitgestellt worden. Viele dieser Akten beinhalten Einzelexemplare von Dokumenten über die internationale Zusammenarbeit des MfS, die in den Akten der anderen Diensteinheiten des MfS nicht zu finden sind. In den Akten der Hauptabteilung XX (Bekämpfung der »politisch-ideologischen Diversion«)63 und der Hauptabteilung IX (Untersuchung)64 gibt es Protokolle und Berichte von Gesprächen des MfS mit den entsprechenden Hauptabteilungen des KGB u. a. über die Bekämpfung der ungewollten innenpolitischen Auswirkungen der Entspannungspolitik und des KSZE-Prozesses. Dazu kommen auch die Protokolle und Redebeiträge der »Bruderorgane« auf den multilateralen Treffen 60  Saltoun-Ebin, Jason: The Reagan Files, http://www.thereaganfiles.com/about.html. 61  Selvage, Douglas; Süß, Walter: Das MfS und die Zusammenarbeit mit anderen kommunistischen Geheimdiensten. DDR-Staatssicherheit und sowjetischer KGB. Berlin 2012, https://www. bstu.de/informationen-zur-stasi/quellensammlungen/das-mfs-und-die-zusammenarbeit-mit-anderen-kommunistischen-geheimdiensten (letzter Zugriff: 26.11.2018). 62  Vorläufiges Findbuch zur Abteilung X: »Internationale Verbindungen« des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, bearb. von Marko Pollack. Münster 2005. 63  Zu der HA XX des MfS siehe Auerbach, Thomas u. a.: Hauptabteilung XX: Staatsapparat, Blockparteien, Kirchen, Kultur, »politischer Untergrund« (BStU, MfS-Handbuch). Berlin 2008, http://www.nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0292-97839421301343. 64  Zu der HA IX des MfS siehe Engelmann, Roger; Joestel, Frank: Hauptabteilung IX: Untersuchung. Berlin 2016, http://www. nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0292-97839421301036.

Quellenlage

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zur Bekämpfung der »politisch-ideologischen Diversion«, die seit 1974 infolge der Entspannungspolitik und der wachsenden Ost-West-Kontakte stattfanden.65 Die Akten der MfS-Führung waren selbstverständlich am wichtigsten, um die relative Stellung und Politik des MfS im Zusammenhang mit dem KSZEProzess zu verstehen. Die wichtigsten Akten zur Auslegung der Dokumente des KSZE-Prozesses durch das MfS, zur Einschätzungen und Analyse des MfS über die Auswirkungen des KSZE-Prozesses auf die DDR und zu den Vorbereitungen des MfS und der ostdeutschen Delegationen auf die einzelnen KSZE-Treffen sind in den Überlieferungen der ZAIG66 im Archiv des BStU zu finden. Die ZAIG stellte auch Vorbereitungsmaterialien für die ostdeutschen Delegationen bei den verschiedenen KSZE-Treffen zusammen, die die angebliche Realisierung der Schlussakte durch die DDR und Verstöße westlicher Länder belegen sollten. Die ZAIG verteilte an die Partei- und Staatsführung der DDR nicht nur die Ausgangsinformationen der HV A zur internationalen Politik im Zusammenhang mit dem KSZE-Prozess (siehe unten), sondern auch Einzelinformationen über die Reaktionen der ostdeutschen Bevölkerung. Ein Teil dieser Berichte wurde für einzelne Jahrgänge schon in der Reihe des BStU »Die DDR im Blick der Stasi«67 veröffentlicht. Ähnlich wertvolle Quellen sind auch in den Überlieferungen des SdM (Sekretariat des Ministers) und der SED-Kreisleitung (SED-KL) in kleinerem Umfang zu finden. Die Befehle und Dienstanweisungen des Ministers im Zusammenhang mit den KSZE-Treffen und zur »Bekämpfung« von unerwünschten Auswirkungen in der DDR sind in der Dokumentensammlung (Dok.) des Büros der Leitung (BdL) archiviert. Dort findet man auch Protokolle von verschiedenen Dienstberatungen des MfS über die »Bekämpfung« solcher unerwünschten Auswirkungen (z. B. der Aktivitäten von westlichen Menschenrechts-Organisationen oder der Ausreisebewegung). Die Akten der Rechtsstelle (RS)68 der ZAIG beinhalten die Analysen des MfS über die wahrscheinlichen innenpolitischen Auswirkungen der Abschlussdokumente der verschiedenen Treffen im KSZE-Prozess sowie geplanter sowjetischer Zugeständnisse in deren Verlauf. 65  Zu diesen Treffen siehe Süß, Walter: Wandlungen der MfS-Repressionstaktik seit Mitte der siebziger Jahre im Kontext der Beratungen der Ostblock-Geheimdienste zur Bekämpfung der »ideologischen Diversion«. In: Ansorg, Leonore u. a. (Hg.): »Das Land ist still – noch!« Herrschaftswandel und politische Gegnerschaft in der DDR (1971–1989). Köln, Weimar, Wien 2009, S. 111–134. 66  Zur ZAIG siehe Engelmann, Roger; Joestel, Frank: Die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (BStU, MfS-Handbuch). Berlin 2009, http://www.nbn-resolving.org/ urn:nbn:de:0292-97839421302024. 67  Die DDR im Blick der Stasi. Die geheimen Berichte an die SED-Führung 1953 bis 1989, hg. von Daniela Münkel. Göttingen 2009 ff., www.ddr-im-blick.de. 68  Zur Rechtsstelle des MfS siehe Knabe, Hubertus: Die Rechtsstelle des MfS (BStU, MfS-Handbuch). Berlin 1999.

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Einleitung

Die Akten der Diensteinheiten des MfS, die die größte Rolle bei der Ausein­ andersetzung des MfS mit den innenpolitischen Auswirkungen des KSZEProzesses auf die DDR spielten, waren auch für diese Studie grundlegend. Besonders wichtig waren die Überlieferungen der für die Bekämpfung der »politisch-ideologischen Diversion« zuständigen Hauptabteilung (HA) XX, die die Tätigkeit von Bürgerrechtlern, Friedensbewegten und anderen Oppositionellen in der DDR unterdrücken sollte, die für das MdI und die Deutsche Volkspolizei zuständige HA VII69 und die Zentrale Koordinierungsgruppe (ZKG)70 des MfS, die – wie unten dargestellt – wechselnde Rollen bei der »Zurückdrängung« der infolge der KSZE-Schlussakte entstandenen Ausreisebewegung spielten und die Akten der Untersuchungsabteilung des MfS (HA IX), die für die strafrechtliche Verfolgung von Oppositionellen und Ausreisewilligen zuständig war. Die für Spionageabwehr zuständige HA II71 kommt auch in diesem Zusammenhang – zum Beispiel bei der geheimdienstlichen Bearbeitung von westlichen Journalisten – vor. Alle enthalten auch Einschätzungen und Berichte an die ZAIG über die Auswirkungen des KSZE-Prozesses auf Personen in ihrem Verantwortungsbereich. Für die deutsch-deutschen Beziehungen, deren Entwicklung parallel zum KSZE-Prozess lief und die die Innenpolitik der DDR beeinflussten, findet man die wichtigsten Akten im SAPMO im Bundesarchiv Berlin – v. a. in den Überlieferungen des Büros des 1. Sekretärs des Zentralkomitees der SED (Büro Ulbricht und Büro Honecker), als Anlagen zu den Protokollen bzw. Protokollentwürfen des SED-Politbüros und im Büro Axen. Viele der maßgeblichen Dokumente wurden schon in der AAPD, Dokumente zur Deutschlandpolitik72, bzw. den Akteneditionen von Heinrich Potthoff 73 sowie Detlef Nakath und Gerd-Rüdiger Stephan veröffentlicht.74 Zur Rolle Mielkes in der Entwicklung bzw. der Hemmung der deutsch-deutschen Beziehungen befinden sich die wichtigsten Quellen in den Überlieferungen des SdM und der ZAIG beim BStU.

69  Zur HA VII siehe Wunschik, Tobias: Hauptabteilung VII: Ministerium des Innern, Deutsche Volkspolizei. (BStU, MfS-Handbuch). Berlin 2009, http://www.nbn-resolving.org/ urn:nbn:de:0292-97839421300805. 70  Zur ZKG des MfS siehe Eisenfeld, Bernd: Die Zentrale Koordinierungsgruppe: Bekämpfung von Flucht und Übersiedlung. Berlin 1996, http://www.nbn-resolving.org/urn:nbn:de: 0292-97839421301655. 71  Zur HA II siehe Labrenz-Weiß, Hanna: Die Hauptabteilung II: Spionageabwehr (BStU, MfS-Handbuch). Berlin 1998, http://www.nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0292-97839421300593. 72  Dokumente zur Deutschlandpolitik hg. vom Bundesministerium des Innern und vom Bundesarchiv. 73  Potthoff, Heinrich: Die »Koalition der Vernunft«: Deutschlandpolitik in den 80er Jahren. München 1995; ders.: Bonn und 1969–1982. Dialog auf höchster Ebene und vertrauliche Kanäle. Darstellung und Dokumente. Bonn 1997. 74  Nakath, Detlef; Stephan, Gerd-Rüdiger (Hg.): Die Häber-Protokolle: Schlaglichter der SED-Westpolitik 1973–1985. Berlin 1999.

Quellenlage

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Quellen zur Rolle der Aufklärung Eine besondere Herausforderung für diese Studie war die zumindest partielle Rekonstruktion der Rolle der HV A im KSZE-Prozess, weil ungefähr 90 Prozent der Akten der ehemaligen HV A entweder zerstört75 oder in die Sowjetunion verbracht76 wurden und deshalb nicht im Archivbestand des BStU liegen. Überliefert sind hauptsächlich Teile der Einzelinformationen (EI) der HV A und der fast wöchentlichen Aktuellen Informationsübersichten (AUE) der HV A für Honecker bzw. Außenpolitische Übersichten (APUE) an ausgewählte Mitglieder der Parteiund Staatsführung der DDR. Diese Sammlung von Ausgangsinformationen der HV A, die hauptsächlich in den Überlieferungen der HV A bzw. der ZAIG zu finden sind, ist keineswegs komplett. Das ist auch der Fall für Informationen zum KSZE-Prozess. Die Überlieferungen von EI, AUE und APUE in den Beständen der HV A und der ZAIG konnten zum Teil durch andere Bestände ergänzt werden. Einzelne Meldungen aus der AUE bzw. APUE wurden zum Teil an die »Bruderorgane« in den anderen Ländern des Warschauer Paktes weitergeleitet, und Kopien von mehreren solchen Ausschnitten, adressiert an die Aufklärungsorgane verschiedener sozialistischer Länder, befinden sich in der Allgemeine Sachablage (AS) des MfS und für die letzten Jahre der DDR (1985–1989) in den Überlieferungen der Abteilung X im Archiv des BStU. Bestimmte Einzelinformationen der HV A sowie einzelne Meldungen aus der APUE/AUE, die nicht im Archiv des BStU liegen, konnten im Archiv der polnischen Partnerbehörde des BStU, des Instituts für Nationales Gedenken (Instytut Pamięci Narodowej, IPN), in Warschau gefunden werden. Bisher gibt es leider keine konkreten Pläne oder Vorschläge in Berlin oder Warschau, diese Vielzahl an hauptsächlich originalen MfS-Dokumen­ten in deutscher Sprache systematisch zu veröffentlichen oder einem breiteren Publikum leichter zugänglich zu machen. Praktisch alle Eingangsinformationen der HV A – d. h. die Telegramme ihrer Residenturen bzw. gestohlene Geheimdokumente und Berichte von Spionen – wurden zerstört. Dank der Arbeit von Stephan Konopatzky und seinen Mitarbeitern im Archiv des BStU konnte ein Teil der Datenbanken der HV A 75  Im Februar 1990 stimmte die Arbeitsgruppe für Sicherheit des Zentralen Runden Tisches, dem Mitglieder der ostdeutschen Opposition und ehemalige ostdeutsche Amtsinhaber angehörten, der Selbstauflösung der HV A zu. Daraufhin durfte die HV A ihr eigenes Archiv zerstören. Knabe, Hubertus: West-Arbeit des MfS: Das Zusammenspiel von »Aufklärung« und »Abwehr«. Berlin 1999, S. 133. 76  Gestützt auf Überlieferungen des polnischen Innenministeriums im Archiv des polnischen Instituts für Nationale Erinnerung (Instytut Pamięci Narodowej, IPN) behaupten polnische Wissenschaftler, dass 1990 Akten aus dem Archiv der HV A mit Eisenbahncontainern in Richtung Sowjetunion abtransportiert worden seien. Siehe z. B. Cenckiewicz, Sławomir: »W kontenerach do Moskwy… [In Containern nach Moskau]«. In: Cenckiewicz, Sławomir (Hg.): Śladami Bezpieki i Partii: Studia – Źródła – Publicystyka [Spuren der Staatssicherheit und Partei: Studien – Quellen – Publizistik]. Łomianki 2009, S. 589–600.

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Einleitung

(SIRA: System der Informationsrecherche der HV A) aus einigen unzerstörten elektronischen Datenträgern rekonstruiert werden.77 SIRA enthielt u. a. Angaben über die Eingangsinformationen und ihre Einschätzung durch das MfS bzw. die Quellen für die verschiedenen Ausgangsinformationen. Obwohl diese Angaben nicht komplett sind, ermöglichen sie begründete Aussagen über den Beitrag einzelner Spione, darunter inoffizielle Mitarbeiter (IM) und Offiziere im besonderen Einsatz (OibE) der HV A in den ostdeutschen Delegationen vor Ort und zur Berichterstattung der HV A über den KSZE-Prozess. Die (Teil)kartei der HV A »Rosenholz« (RoHo)78 erlaubt es, die unter Decknamen genannten Quellen in SIRA in Verbindung mit IM- und OibE-Akten der HV A zu setzen und damit mit den Personen, die in diesen Vorgängen geführt werden – zum Beispiel Diplomaten in den ostdeutschen Delegationen oder anderen Quellen der HV A im Westen. Vergleiche zwischen den Auflistungen der ostdeutschen Delegationsmitglieder auf den verschiedenen KSZE-Treffen mit RoHo erlauben es festzustellen, ob und in welcher Beziehung die Diplomaten zur HV A standen. Wenn es um die Rolle des MfS bei der Zusammensetzung der ostdeutschen Delegationen und seinen damit verbundenen indirekten Einfluss auf die KSZE-Verhandlungen vor Ort ging, waren die Akten der für das MfAA zuständigen Abteilung 14 der HA II (HA II/14), die 1975 diese Verantwortung von der HA XX/1 übernahm,79 für diese Studie aufschlussreich. Als Aufgaben waren ihr zugewiesen: die Abwehr von Anwerbeversuchen fremder Geheimdienste (die es gab, die aber kaum einen so umfänglichen Apparat gerechtfertigt hätten). Weiter die Überwachung der Kaderpolitik und Sicherheitsüberprüfungen von Auslands- und Reisekadern. Dabei handelte es sich nicht nur um die Verhinderung der zuvor 77  Eine ausführliche Beschreibung der SIRA-Datenbank findet sich im Internet unter http:// www.bstu.bund.de/DE/Wissen/Aktenfunde/HV_A-Sira/hva-sira_node.html. Die Datenbank wurde Ende 1998 weitgehend rekonstruiert und steht seither der Forschung zur Verfügung. In den Folgejahren wurde die Rekonstruktion fortgeführt. Siehe auch Konopatzky, Stephan: Möglichkeiten und Grenzen der SIR A-Datenbanken. Die Beispiele Günter Guillaume und Werner Stiller. In: Herbstritt, Georg; Müller-Enbergs, Helmut (Hg.): Das Gesicht dem Westen zu ... DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland. Bremen 2003, S. 112–132. Für eine zusammenfassende Übersicht zu SIRA siehe Herbstritt, Georg: Bundesbürger im Dienst der DDR-Spionage. Eine analytische Studie. Göttingen 2007, S. 54–64. 78  Zu Rosenholz siehe Müller-Enbergs, Helmut: »Rosenholz«. Eine Quellenkritik (BStU, BF informiert; 28). Berlin 2007, http://www.bstu.bund.de/DE/Wissen/Aktenfunde/Rosenholz/ rosenholzbericht2007_pdf.pdf. 79  Vgl. Befehl 16/74 über die Politisch-operative Sicherung der Vertretungen anderer Staa­ten, internationaler zwischenstaatlicher Organisationen und bevorrechteter Personen in der DDR vom 12.8.1974; BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 1919; vgl. auch Braun, Matthias und Eisenfeld, Bernd: Abteilung 1: Staatsapparat, Justiz, Gesundheitswesen, Blockparteien. In: Hauptabteilung XX: Staatsapparat, Blockparteien, Kirchen, Kultur, »politischer Untergrund« (BStU, MfS-Handbuch). Berlin 2008, S. 23; Labrenz-Weiß, Hanna: Die Hauptabteilung II: Spionageabwehr (BStU, MfS-Handbuch). Berlin 2001, S. 49 f., http://www.nbn-resolving.org/ urn:nbn:de:0292-97839421300593.

Quellenlage

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genannten Anwerbeversuche, sondern um die Überwachung der in diesem Bereich tätigen Kader, denen man, obwohl sie handverlesen waren, misstraute. Sie könnten, vermutete man, besonders wenn sie verführerischen Einflüssen im westlichen Ausland ausgesetzt waren, schwach und damit angreifbar werden. Akten über einzelne Diplomaten, die aus ihren Überprüfungen durch das MfS entstanden sind, sind im BStU-Archiv unter dem Bestand der HA II/14 archiviert. Noch wertvoller für diese Studie waren die Akten von einzelnen IM der HA II/14, die in der für KSZE-Politik zuständigen HA Grundsatz und Planung des MfAA tätig80 oder gelegentlich im Auslandseinsatz in ostdeutschen Delegationen auf KSZE-Treffen waren. Zwischen der HA II/14 und der für Auslandsresidenturen zuständigen Abteilung III der HV A (HV A III) bestand eine besonders enge Zusammenarbeit, weil die im Außenministerium angestellten inoffiziellen Mitarbeiter der HA II/14 im Falle eines längeren Auslandseinsatzes in einer Auslandsvertretung oder als Delegationsmitglieder für diese Zeit an die HV A III abgegeben und von dort geführt wurden. Nach ihrer Rückkehr in die DDR wurden sie, manchmal mit erheblicher Zeitverzögerung, wieder der HA II/14 zugeordnet. Leider wurde das Aktenmaterial der HV A normalerweise aus der entsprechenden IM-Akte vor der Übergabe an die HA II/14 entfernt,81 obwohl manchmal etwas Wertvolles – zum Beispiel eine Einschätzung der Arbeit des IM durch die HV A III während des Auslandseinsatzes – erhalten geblieben ist. Auch aus heutiger Sicht ist das mehr als bedauerlich, denn deshalb vermögen diese im Bestand der HA II erhaltenen Unterlagen nicht die Lücken zu schließen, die durch die weitgehende Vernichtung der HV-A-Akten gerissen worden sind. Hier soll aber auch der besondere Wert der Kartei der HA II/14 in der Abteilung 2 des Archivs (AR 2) des BStU für diese Studie erwähnt werden, die Ort und Zeitraum der Auslandseinsätze von ostdeutschen Diplomaten – darunter auch OibE und IM der HV A – angibt. Solche Angaben sind sonst schwer auffindbar. Die Akten von bestimmten Vertretern des ostdeutschen Militärs in KSZE-Delegationen, die als IM für die zuständige HA I (Militäraufklärung) des MfS tätig waren, dienten auch als wertvolle Quellen für das Agieren des MfS vor Ort.

80  Bei den »Abwehraufgaben« der HA II/14 war Referat 1 zuständig für die Sicherung der HA G/P (Hauptabteilung Grundsatz und Planung) sowie des Ministerbüros. Vgl. Wiedmann, Roland: Die Organisationsstruktur des Ministeriums für Staatssicherheit 1989. (BStU, MfS-Handbuch). Berlin 2011, S. 111, http://www.nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0292-97839421302710. 81  In einem Schriftsatz der HA II heißt es: »Nach 1–2 Jahren vor der Beendigung des Auslandseinsatzes, nachdem die Verbindung zu den IM/GMS längerfristig unterbrochen war, kommt es in der Regel zur Übergabe [an die HA II/14]. Dabei ist der Grundsatz dominierend, übergeben werden nicht die politisch-operativ erfahrendsten [sic!]. Das übergebene Material (IM/ GMS-Akten) entspricht in der Regel nicht den Anforderungen, d. h., dass das übergebene Material teilweise nicht über einen Fragebogen hinausgeht.« Anforderungen an die Abwehrarbeit unter operativ bedeutsamen Personenkreisen, o. D. [ca. 1982]; BStU, MfS, HA II Nr. 39324, Bl. 121.

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Einleitung

Ein bisher wenig beachteter Aspekt der Arbeit der HV A im Zusammenhang mit der Entspannungs- und KSZE-Politik des Ostens ist ihr Beitrag zu den vom KGB gesteuerten Kampagnen von aktiven Maßnahmen82 im Westen, um die Menschenrechtskampagne der USA bzw. des Westens zu lähmen und die Entspannungs- und KSZE-Politik im sowjetischen Sinn (»Friedensoffensive«) voranzubringen.83 Obwohl die meisten relevanten Akten der HV A zerstört wurden, konnten entsprechende Akten in den Archiven der ehemaligen »Bruderorgane« des MfS in Prag und Sofia gefunden werden. Unter den zugänglichen Akten der damaligen tschechoslowakischen und der bulgarischen Aufklärung befinden sich Protokolle von Gesprächen und Korrespondenzen von deren Abteilungen für aktive Maßnahmen mit der für Desinformation zuständigen Abteilung X der HV A bzw. des für aktive Maßnahmen zuständigen Diensts »A« der I. Hauptverwaltung des KGB. Die Informationen in diesen Dokumenten ermöglichten Rückbezüge auf Akten und Datenbanken der HV A und anderer Diensteinheiten des MfS im Archiv des BStU, die wegen der weitgehenden Zerstörung der HV-A-Akten sonst nicht möglich wären. Auf dieser Grundlage konnte die Tätigkeit der HV A/X im Beziehungsgeflecht ihrer »Bruderorgane« unter der Führung des KGB zumindest zum Teil rekonstruiert werden. Weil die aktiven Maßnahmen des KGB und seiner »Bruderorgane« normalerweise den Plänen und Richtlinien der UdSSR für die Auslandspropaganda entsprachen,84 konnte Bezug auf die multilateralen Treffen der Internationalen und Ideologischen Sekretäre der »Bruderparteien« genommen werden. Auf diesen Treffen verkündete und erklärte der Leiter der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU die Linie der Sowjetunion bzw. des Ostens für die Auslandspropaganda. Reden und Berichte von diesen Treffen konnten als Anlagen zu Protokollen der Sitzungen des SED-Politbüros im SAPMO (Bundesarchiv Berlin) gefunden werden.

1.4 Vorgehensweise und Aufbau Entsprechend der Logik des KSZE-Prozesses, in dem die Folgetreffen bzw. Expertentreffen auf den Ergebnissen der vorherigen Treffen aufbauten, geht die Studie hauptsächlich chronologisch vor. Der maßgebliche Akteur für die DDR in 82  Zur Begriffserklärung von »aktiven Maßnahmen« siehe Fn 3, oben. 83  Für eine Ausnahme siehe Selvage, Douglas: Operation Synonym. Soviet-Bloc Active Measures and the Helsinki Process, 1976–1983. In: Bułhak, Władysław; Wegener Friis, Thomas (Hg.): Need to Know. Eastern and Western Perspectives. Odense 2014, S. 81–96. 84  Zu den Strukturen der Auslandspropaganda und der Integration der aktiven Maßnahmen der »Bruderorgane« in denselben siehe Selvage, Douglas; Nehring, Christopher: Die AIDSVerschwörung. Das Ministerium für Staatssicherheit und die AIDS-Desinformationskampagne des KGB (BStU, BF informiert; 33). Berlin 2014, S. 15–18, http://www.nbn-resolving.org/ urn:nbn:de:0292-97839421307690.

Vorgehensweise und Aufbau

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der Entspannungs- und KSZE-Politik im gesamten Zeitraum der Studie blieb die Sowjetunion. Die Politik der DDR entstand fast immer in Reaktion auf die Politik Moskaus, unabhängig davon, ob sie diese unterstützte oder dagegen opponierte. Deshalb beginnt praktisch jeder Teil bzw. jedes Kapitel über die Verhandlungen im KSZE-Prozess (2., 5., 6. und 8.3–8.4) mit einer Analyse der Politik der sowjetischen Partei- und Staatsführung bzw. des KGB und geht erst dann zur Politik der Partei- und Staatsführung der DDR bzw. der Rolle des MfS über. Diese Kapitel über die einzelnen KSZE-Treffen analysieren die Rolle des KGB und des MfS bei der Entspannungs- und KSZE-Politik der jeweiligen Staaten und ihren Einfluss darauf. Es wird auch untersucht, inwieweit und mit welchem Erfolg Erich Mielke als Minister für Staatssicherheit die sowjetische Politik in diesen Fragen über den KGB zu beeinflussen versuchte. Auch der Frage, wie das MfS die KSZE-Politik der DDR und der Sowjetunion mit seinen Dienstleistungen – zum Beispiel Aufklärungsinformationen, seiner Präsenz vor Ort und seinen aktiven Maßnahmen unterstützte – wird nachgegangen. Die Einschätzung der potenziellen Auswirkungen des Schlussdokuments des jeweiligen Treffens durch das MfS ist ebenfalls Gegenstand dieser Kapitel. Der Staatssicherheitsdienst interessierte sich dabei insbesondere für die östlichen Zugeständnisse im Zusammenhang mit Korb III (menschliche Kontakte und Information) und Prinzip 7 (Menschenrechte). Die Kapitel bzw. Abschnitte über Entwicklungen zwischen den KSZE-Treffen (3., 4., 7., 8.1–8.2, 8.5) fokussieren hauptsächlich auf die Rolle des MfS im Deutungskampf zwischen Ost und West über den KSZE-Prozess (»Friedensoffensive« kontra Menschenrechte bzw. menschliche Kontakte) sowie auf Strategie und Taktik des MfS im Zusammenwirken mit anderen Staatsorganen der DDR zur Unterdrückung ungewollter gesellschaftlicher Reaktionen auf die Übereinkünfte im KSZE-Prozess (z. B. Menschenrechtsaktivismus und Übersiedlungsersuchen). Diese Kapitel behandeln auch parallele Entwicklungen in den deutsch-deutschen und den ostdeutsch-sowjetischen Beziehungen, die Form und Intensität der Auswirkungen des KSZE-Prozesses auf die DDR beeinflussten. Bei der Untersuchung dieser Entwicklungen stehen die Wahrnehmung und Analyse der sich entwickelnden Lage durch das MfS und insbesondere Staatssicherheitsminister Erich Mielke ebenso im Zentrum der Analyse wie dessen Versuche, diese zu beeinflussen. Hinweis: Die Tabellenanhänge, auf die im Text verwiesen wird, finden sich als elektronisches Dokument (PDF) auf der Website des Verlags in der Titelanzeige https://www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/themen-entdecken/geschichte/ zeitgeschichte-ab-1949/48886/staatssicherheit-und-ksze-prozess und auf der We­bsite des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen https://www.bstu.de/ informationen-zur-stasi/publikationen/ ebenfalls bei der Anzeige des Einzeltitels.

2. Der KGB, das MfS und die Entspannungspolitik, 1969–1975

Das Gipfeltreffen der Staatsoberhäupter der Teilnehmerstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) im August 1975 in Helsinki gilt bis heute als der Höhepunkt der Entspannungspolitik während des Kalten Krieges. Sowohl Breschnew wie auch Honecker betrachteten die Schlussakte dieser Konferenz als großen Sieg für ihre jeweiligen Länder. Das Hauptergebnis der KSZE sei, so Breschnew in Helsinki, dass die »erforderliche politische Bilanz nach dem Zweiten Weltkrieg«1 gezogen werde – die Bestätigung der Unverletzlichkeit der europäischen Grenzen durch den Westen in Korb I der Schlussakte.2 Honecker stimmte Breschnew selbstverständlich zu. Er erklärte am 6. August 1975 in einem Interview mit dem Parteiorgan der SED, dem »Neuen Deutschland«, die wichtigsten Ergebnisse der KSZE seien die Bestätigung der »souveränen Existenz und territorialen Integrität der Teilnehmerstaaten …, vor allem die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen. Das bedeutet zugleich die Fixierung der territorialen und politischen Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegsentwicklung in Europa.«3 Die Anerkennung der Unverletzlichkeit der Grenzen in der KSZE-Schlussakte bedeutete die Erfüllung des ersten Vorschlags der Außenminister der Warschauer-Pakt-Staaten vom Oktober 1969 für eine europäische Sicherheitskonferenz.4 Für Honecker stand zudem die internationale Aufwertung der DDR durch ihre Teilnahme an der KSZE im Vordergrund der Konferenz. Auf einer Sitzung des SED-Politbüros am 5. August 1975 erklärte Honecker: 1  Text der Erklärung Breschnews am 31.7.1975; Volle; Wagner (Hg.): KSZE, S. 301. 2  Gromyko bekräftigte auf einem Treffen der Außenminister der Staaten des Warschauer Vertrages im Dezember 1975: »Es ist klar, dass das Kernstück der für uns nützlichen Ergebnisse der Konferenz die multilaterale Verankerung der Positionen der sozialistischen Länder zu den territorialen Fragen darstellt.« Rede Gromykos auf der Beratung der Minister für Auswärtige Angelegenheiten der VRB, der UVR, der DDR, der VRP, der SRR, der UdSSR und der ČSSR, 16.12.1975. In: SAPMO BA, DY 30, J IV2/2A-1940, Bl. 100–121, hier, 102. 3  Helsinki und wir: Interview des »Neuen Deutschlands« mit Erich Honecker. In: ND v. 6.8.1975, S. 3 f., hier 3. 4  Als erster von zwei Punkten für die Tagesordnung einer europäischen Sicherheitskonferenz (ESK) nannten die östlichen Außenminister: »1. Gewährleistung der europäischen Sicherheit und Verzicht auf Gewaltanwendung oder Gewaltandrohung in den gegenseitigen Beziehungen zwischen den europäischen Staaten«. Siehe Erklärung der Konferenz der Außenminister der Mitgliedstaaten des Warschauer Vertrages am 30./31.10.1969 in Prag. In: Sicherheitskonferenz in Europa. Dokumentation (1972), S. 473 f.; vgl. Hanisch: Die DDR im KSZE-Prozess, S. 33 f.

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KGB und Entspannungspolitik, 1969–1975

Die Konferenz machte besonders deutlich das gewachsene internationale Ansehen und die Position der DDR. Die Konferenz von Helsinki zeigte anschaulich, dass die DDR heute nicht nur ein international anerkannter und gleichberechtigter Staat ist, sondern aufgrund ihrer Potenzen, ihrer erfolgreichen Innen- und Außenpolitik, ihrer festen Verbundenheit mit der Sowjetunion und aufgrund ihrer strategischen Lage als wichtiger Staat behandelt wird.5

Der Osten könne auch Korb II der KSZE-Schlussakte als Erfolg verbuchen. Dessen Hauptgegenstand war die »Erweiterung der gleichberechtigten Handels-, Wirtschafts- und wissenschaftlich-technischen Beziehungen« zwischen den europäischen Ländern.6 Breschnew unterstrich die Wichtigkeit dieser Öffnung der Beziehungen zwischen Ost und West auf einem Treffen des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer Pakts: »Für die sozialistischen Länder – und wir alle haben das in unseren Erklärungen wiederholt gesagt und auch in unseren Dokumenten – bedeutet die Entspannung die Möglichkeit, die Probleme des sozialistischen und kommunistischen Aufbaus und der Hebung des Lebensniveaus unserer Völker noch schneller und sicherer zu lösen.«7 Alle östlichen Partei- und Staatsführer hofften, dass sie ihre Länder durch die De-facto-Anerkennung des territorialen und politischen Status Quo in der KSZE-Schlussakte und den verbesserten Zugang ihrer Volkswirtschaften zu Krediten, Technologien und Märkten im Westen weiter stabilisieren könnten. Das heißt, die KSZE-Schlussakte und die Entspannungspolitik im Allgemeinen sollten zu der Sicherheit ihrer jeweiligen kommunistischen Parteistaaten beitragen. Sowohl Breschnew als auch Honecker spielten in ihren Reden die Tatsache herunter, dass der Osten bestimmte Zugeständnisse an den Westen machen musste, damit die KSZE-Schlussakte zustande kam. Unter dem Prinzipienkatalog im Korb I der KSZE-Schlussakte stand als Prinzip 7 die Beachtung der »Menschenrechte und Grundfreiheiten«, wogegen der Osten seit Beginn der Verhandlungen opponiert hatte. Im Korb III musste der Osten u. a. eine Erweiterung der menschlichen bzw. humanitären Kontakte und verbesserte Arbeitsbedingungen für Journalisten zugestehen. Der Westen hatte auch erfolgreich einen Passus in die Schlussakte eingebracht, der die friedliche Änderung der Grenzen explizit genehmigte. Auf diese Weise – und darauf wird zurückzukommen sein – wurde die Möglichkeit einer friedlichen Wie5  Vgl. Bericht zum Verlauf und zu den Ergebnissen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, o. D., Anlage Nr. 1 zum Protokoll Nr. 33 der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees vom 5.8.1975; SAPMO BA, DY 30, J IV 2/2-1575, Bl. 5–13, hier 5. 6 Ebenda. 7  Rede Breschnews vor dem Politischen Beratenden Ausschuss der Warschauer Vertrags­ organisation, 25.11.1976. In: Mastny, Vojtech u. a. (Hg.): Parallel History Project on Cooperative Security, Collections, Warsaw Pact Records, Leaders (PHP, WP Leaders), http://www.php.isn. ethz.ch/lory1.ethz.ch/collections/colltopic439e.html?lng=en&id=19359&navinfo=14465 (letzter Zugriff: 10.11.2018), S. 12.

KGB und Entspannungspolitik, 1969–1975

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dervereinigung Deutschlands offengelassen. Wegen dieser Zugeständnisse an den Westen waren nicht alle Führungspersönlichkeiten in der KPdSU oder der SED so begeistert von der KSZE und ihrer Schlussakte wie Breschnew oder Honecker. Das galt besonders für den KGB-Vorsitzenden Juri Andropow und den ostdeutschen Minister für Staatssicherheit Erich Mielke. Ihre größten Sorgen galten dem Korb III und den Menschenrechtsprinzipien. Im sowjetischen Politbüro hatte es in den Wochen vor der Konferenz in Helsinki eine »hitzige Debatte« über die östlichen Zugeständnisse gegeben. Nicht nur KGB-Chef Andropow, sondern auch Staatsoberhaupt Nikolai Podgorny, Ideologiechef Michail Suslow und Ministerpräsident Alexei Kossygin hatten wegen der möglichen Einmischung in die inneren Angelegenheiten der UdSSR »große Zweifel« an der Schlussakte.8 Während der Genfer Verhandlungen hatte Andropow gegenüber dem sowjetischen Delegationsleiter und Stellvertretenden Außenminister Anatoli Gawrilowitsch Kowaljow moniert: Das Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen – das ist natürlich gut, sehr gut. Aber ich mache mir Sorge um etwas anderes: Die Grenzen werden im militärischen Sinn unverletzlich sein, aber in allen anderen Aspekten werden sie – wegen des Wachstums der Kontakte, des Informationsflusses – durchlässiger werden … Bis jetzt wird das Spiel nur auf der einen Seite des Felds gespielt; das MfAA [Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten] sammelt die Punkte und der KGB verliert sie.9

Während der Debatte im sowjetischen Politbüro habe Gromyko, dessen Ministerium die KSZE-Schlussakte vor allem ausgehandelt hatte, sie verteidigt und mit dem Argument überzeugt: »Wir bleiben Herren im eigenen Haus.« Den Durchbruch brachte schließlich, dass er von Breschnew unterstützt wurde.10 Im SED-Politbüro machte man sich ebenfalls Sorgen. Laut dem ostdeutschen Diplomaten und Delegationsleiter für die Genfer KSZE-Verhandlungen Siegfried Bock, der an der Politbürositzung am 5. August teilnahm, waren nicht alle über Helsinki begeistert. Während Honecker und sein engerer Kreis »in der KSZE den internationalen Durchbruch der DDR sahen und die angefangene Politik fortsetzen« wollten, hatten Mielke und Joachim Herrmann, der Leiter der Agitationskommission des Politbüros, »große Bauchschmerzen […] weil sie sich für die innere Sicherheit zuständig hielten«.11 8  Dobrynin, Anatoly: In Confidence. Moscow's Ambassador to America's Six Cold War Presidents (1962–1986). New York 1995, S. 351. 9  Zit. nach: Savranskaya, Svetlana: Human rights movement in the USSR after the signing of the Helsinki Final Act, and the reaction of Soviet authorities. In: Nuti, Leopoldo (Hg.): The Crisis of Détente in Europe: From Helsinki to Gorbachev, 1975–1985. London, New York 2009, S. 26–40, hier 29. 10  Dobrynin: In Confidence, S. 346. 11  Interview Benno-Eide Siebs mit Siegfried Bock, zit. nach: Siebs, Benno-Eide: Die Außenpolitik der DDR 1976–1989. Strategien und Grenzen. Paderborn u. a. 1999, S. 139.

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Mit Blick auf die Reaktionen der leitenden »Tschekisten« der Sowjetunion und der DDR auf die KSZE-Schlussakte im Sommer 1975 hätte man zu dem Schluss kommen können, dass sowohl Mielke als auch Andropow von Anfang an gegen die KSZE-Verhandlungen und die Entspannungspolitik im Allgemeinen opponiert hätten. Die Wirklichkeit war jedoch etwas komplizierter.

2.1 KGB, MfS und sowjetische Entspannungspolitik, 1969–1972 Zumindest seit Ende der 1960er-Jahre hatte Andropow die Entspannungspolitik Breschnews gegenüber dem Westen und insbesondere der Bundesrepublik Deutschland maßgeblich gefördert und unterstützt. Es gab für die Entspannungsbemühungen der Sowjetunion zu dieser Zeit drei wesentliche Gründe: (1) Sie wollte die europäische »Flanke« der UdSSR in einer Zeit der eskalierenden Spannungen und einer möglichen militärischen Konfrontation mit China sichern; (2) sie bemühte sich, dringend benötigte Waren, Kredite und Technologien von der Bundesrepublik und dem Westen zu erhalten; (3) sie konnte ihre Hegemonie über Osteuropa und ihren Führungsanspruch im Warschauer Pakt untermauern, indem sie mit der Bundesrepublik und dem Westen im Namen ihrer Verbündeten verhandelte.12 Andropow wollte die Verbindungen des KGB benutzen, damit die sowjetische Führung mit dem SPD-Vorsitzenden und (ab 1969) Bundeskanzler Willy Brandt ins Gespräch kommen konnte. Mielke und sein Stellvertreter Markus Wolf hatten – zumindest anfangs – gegen einen Ausgleich zwischen Moskau und Bonn opponiert.13 Der Grund für die Opposition der ostdeutschen »Tschekisten« und auch der SED-Führung gegen einen sowjetisch-westdeutschen Ausgleich war klar: Die DDR würde den Preis dafür bezahlen müssen. Nicht nur in geheimen diplomatischen Gesprächen, sondern auch in öffentlichen Erklärungen gab es schon 1969 Hinweise, wie ein solcher Ausgleich aussehen könnte. Moskau würde auf seine langjährige Forderung nach der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik (zumindest zeitweilig) verzichten im Austausch für eine möglichst bindende De-facto-Anerkennung des Status quo in Europa durch die Bundesrepublik, verbunden mit einer Gewaltverzichtserklärung und einem Verzicht Bonns auf den Zugang zu Nuklearwaffen. Moskaus Verschiebung der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR würde für die DDR an sich schon ein schwerer Schlag 12  Selvage, Douglas: Der Warschauer Pakt und die europäische Sicherheitskonferenz 1964– 1969: Souveränität, Hegemonie und die deutsche Frage. In: Diedrich, Torsten; Süß, Walter: Militär und Staatssicherheit im Sicherheitskonzept der Warschauer-Pakt-Staaten. Berlin 2010, S. 225–251, hier 246. 13  Suckut, Siegfried: Probleme mit dem »großen Bruder«. Die DDR-Staatssicherheit und die Deutschlandpolitik der KPdSU 1969/70. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 58 (2010) 3, S. 403–439.

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sein. Man konnte aber, besonders in der DDR, auch nicht voraussehen, welche weiteren Zugeständnisse bei möglichen Verhandlungen zwischen Moskau und der Brandt-Regierung herauskommen würden. Andropow bekam die Ängste und die Unzufriedenheit der ostdeutschen »Tschekisten« zu spüren, als Mielke und Wolf Mitte November 1969 Moskau besuchten. In den Gesprächen trug Mielke offenbar Erkenntnisse der für die Aufklärung zuständigen Hauptverwaltung A (HV A) über die Gefahren der Ostpolitik der neuen Brandt-Regierung vor. Die Ostpolitik Brandts, so ein Papier Mielkes für die Beratung, sei als »Versuch zu erkennen, das sozialistische Lager zu spalten, die Staaten ›gegeneinander auszuspielen‹, ihre ›Kampfgemeinschaft‹ mit der DDR zu ›erschüttern‹ und sie – wie die Sowjetunion – zu isolieren«.14 In einer Konzeption der HV A für die Beratung wurde Brandt mit einer angeblichen »internen« Ankündigung zitiert, »man wolle die DDR über ihre Verbündeten ›von hinten aufrollen‹«.15 Eine Rede Breschnews zitierend, warnte die Disposition Mielkes: Die »Unversöhnlichkeit gegenüber revisionistischer/rechtsopportunistischer Gefahr muss sich im politischen Kampf der Partei und Sicherheitsorgane widerspiegeln«. »Selbst in [der] KPdSU«, konstatierte das Papier, seien »Kräfte, die nicht illusionslos sind«.16 Die von Mielke vorgetragenen Argumente mussten als »eindringliche Warnung« an die sowjetischen »Freunde« vor der Ostpolitik Brandts und möglichen Verhandlungen mit Bonn gelten.17 Mielke war in doppelter Hinsicht alarmiert: Er befürchtete eine besonders raffinierte Form der politischen Unterwanderung – in seinen Worten: der ideologischen Diversion und Aufweichung – und dass es der Bundesregierung gelingen könnte, die diplomatische Blockade im Verhältnis zu den anderen Warschauer-Pakt-Staaten zu durchbrechen und dadurch die DDR noch stärker zu isolieren.18 Andropow versuchte, die Bedenken von Mielke und Wolf zu zerstreuen. Er erklärte: »In der Politik der Sowjetunion gegenüber Westdeutschland wird es keinerlei prinzipielle Veränderungen geben.« Unter anderem strebe Moskau danach, dass »Westdeutschland die im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges entstandenen Grenzen anerkennt einschließlich der Grenzen der DDR« und »auf den Anspruch verzichtet, im Namen des ganzen deutschen Volkes zu sprechen«. Interessanterweise zitierte Andropow in diesem Zusammenhang den mutmaßlichen Versuch von Breschnews Vorgänger, Nikita S. Chruschtschow, einen Modus Vivendi mit Bonn durch Geheimverhandlungen seines Schwiegersohns Alexei Adschubej mit westdeutschen Politikern im Jahr 1964 u. a. über die Preisgabe lebenswichtiger 14  Suckut: Probleme mit dem »großen Bruder«, S. 405. 15  Ebenda, S. 406. 16  Disposition für die Beratung, o. D.; BStU, MfS, SdM, Bd. 1471, Bl. 1–10, hier 5. 17  Suckut: Probleme mit dem »großen Bruder«, S. 405. 18  Süß, Walter: Der KSZE-Prozess der 1970er-Jahre aus der Perspektive der DDR-Staatssicherheit. In: Diedrich; Süß: Militär und Staatssicherheit im Sicherheitskonzept der Warschauer-Pakt-Staaten, S. 319–340, hier 320 f.

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Interessen der DDR zu erreichen. Andropow erklärte: »Als Chruschtschow und Adschubej anfingen mit Westdeutschland zu liebäugeln, hat das das ZK korrigiert und würde das jederzeit wieder korrigieren.« Es werde, so Andropow, »keinerlei Schwankungen« in der sowjetischen Deutschlandpolitik geben.19 Andropow war gegenüber seinen ostdeutschen Kollegen nicht ganz offen. Anfang September 1969, noch vor den Bundestagswahlen in Bonn, hatte er Breschnew formell vorgeschlagen, über den KGB einen geheimen Gesprächskanal zwischen dem Generalsekretär und Willy Brandt zu etablieren, und Breschnew hatte das Vorhaben genehmigt.20 Einen Tag nach dem Treffen zwischen Andropow und Mielke bekam Brandts Vertrauter und außenpolitischer Berater Egon Bahr die erste Botschaft über den geheimen Kanal aus Moskau. Ironischerweise agierte als »Briefträger« für den geheimen Kanal vonseiten des KGB der Journalist Waleri Lednew, der Adschubej auf seiner berühmten (oder aus Sicht der SED berüchtigten) Reise nach Bonn begleitet hatte.21 Lednew wurde von dem KGB-Generalmajor Wjatscheslaw Keworkow geführt, der später auch persönlich mit Bahr Kontakt aufnahm.22 In der geheimen Botschaft unterstrich Lednew die – teilweise schon bekannte – Tatsache, dass Moskau in Verhandlungen mit Bonn nur auf der »De-facto-Anerkennung« der DDR und nicht ihrer völkerrechtlichen Anerkennung durch die Bundesrepublik bestehen würde.23 Lednew bestätigte diesen Punkt erneut, als er im Dezember 1969 nach Bonn reiste und Kontakt 19  Aufzeichnung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, 17.11.1969. In: DzD VI/1, S. 58–61, hier 60. Das Original befindet sich im Archiv des BStU: BStU, MfS, SdM, Bd. 1473, Bl. 1–5. Zu dem Adschubej-Besuch in Bonn 1964 und die Deutschlandpolitik Chruschtschows siehe Kosthorst, Daniel: Sowjetische Geheimpolitik in Deutschland? Chruschtschow und die Adschubej-Mission 1964. In: VfZ 44 (1996) 2, S. 257–293; Selvage, Douglas: The Warsaw Pact and Nuclear Nonproliferation, 1963–1965. In: Cold War International History Project (CWIHP) Working Paper 32 (2001), S. 9–12. 20  Siehe Brief von Andropow an Breschnew, 9.9.1969. In: Bukovsky, Vladimir: Soviet Archives at INFO-RUSS, http://psi.ece.jhu.edu/~sasha/IRUSS/BUK/GBARC/pdfs/non-comm/soc69a-2.pdf. Vgl. Keworkow, Wjatcheslaw: Der geheime Kanal. Moskau, der KGB und die Bonner Ostpolitik. Berlin 1995, S. 45–49. Andropow hatte eigentlich schon Anfang 1968 vor, solch einen geheimen Kanal zu etablieren, aber der Prager Frühling und die darauffolgende sowjetische Intervention hatten seine Pläne zunichte gemacht. Ebenda, S. 24 f., 29 f. 21  See: Memorandum From Director of Central Intelligence Helms to the President's Assistant for National Security Affairs (Kissinger), 30.11.1970. In: Geyer, David (Hg.): Foreign Relations of the United States (FRUS), 1969–1976, Vol. XL, Germany and Berlin 1969–1972, S. 398–400, hier 399. Verfügbar online: https://history.state.gov/historicaldocuments/frus1969-76v40/pg_399. 22  Siehe Keworkow: Der geheime Kanal, passim. Zu Keworkows KGB-Rang und seiner folgenden Karriere (er wurde Abteilungsleiter für Gegenspionage) vgl. Кеворков Вячеслав Ервандович [Keworkow Wjatscheslaw Jerwandowitsch]. In: Разведка и контрразведка в лицах. Энциклопедический словарь российских спецслужб, http://rusrazvedka.narod.ru/base/htm/ke.html (4.1.2019). 23  Brief von Georg Volkmar Graf Zedtwitz von Arnim an Bahr, 18.11.1969; Archiv der sozialen Demokratie (AdsD), Depositum Bahr, Ordner 434, V.L., 1969–1974, n. p. Zedtwitz von Arnim, Journalist und Leiter der Pressestelle der Friedrich-Krupp GmbH, hatte oft Berthold Beitz bei seinen Geschäftsreisen (teilweise mit politischen Aufträgen) in osteuropäische Länder begleitet

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mit Bahr aufnahm.24 Aus Sicht des MfS und zumindest der Hardliner-Fraktion im SED-Politbüro unter Erich Honecker (siehe unten) hätte zu diesem Zeitpunkt solch ein Angebot die Preisgabe lebenswichtiger Interessen der DDR bedeutet. Das MfS erfuhr letztlich durch seine Spionage in der Bundesrepublik von dem geheimen Kanal des KGB, aber es bleibt unklar wann.25 Obwohl Mielke und Wolf die Einzelheiten der Gespräche im geheimen Kanal zwischen Moskau und Bonn in den Jahren 1969/70 offenbar nicht erfahren haben, wussten sie von ihren Quellen in Bonn vom Verlauf und Fortschritt der Gespräche zwischen Bahr und dem sowjetischem Außenminister Andrei Gromyko. Die völkerrechtliche Anerkennung der DDR bzw. ihrer Grenzen war schnell vom Verhandlungstisch.26 Mielke warnte Andropow erneut vor den Gefahren der Ostpolitik Brandts während eines Besuchs in Moskau im Juni 1970. Obwohl kein Protokoll von den Gesprächen gefunden wurde, sind der Rededisposition Mielkes pointierte Fragen zu entnehmen: Wird in [der] UdSSR Brandts Friedens- und Entspannungsdemagogie richtig beurteilt? Wird immer richtig erkannt, dass Brandts sogen. Entspannungspolitik in erster Linie darauf berechnet ist, dem westdeutschen Imperialismus größeren außenpolitischen Handlungsspielraum für die Durchsetzung der antisozialistischen politischen Konzeption zu verschaffen?27

In diesem Zusammenhang wurde ein französischer Pressebericht zitiert, nach dem Gromyko in Paris erklärte habe, die »Brandt/Scheel-Regierung sei realistischer; ihre Haltung zeige, dass sie die Realitäten anerkenne, besonders die Grenzen; dadurch würden Fortschritte möglich usw.«.28 Das MfS stellte damit die Einschätzung Brandts durch die sowjetische Parteiführung und Moskaus und diente nicht selten auch als Übermittler von Nachrichten in dem geheimen Kanal zwischen Keworkow oder Lednew und Bahr. 24  Vermerk des Staatssekretärs im Bundeskanzleramt Bahr über das Gespräch mit dem Kontaktmann der sowjetischen Regierung Lednew in Bonn, 24.12.1969. In: DzD VI/I, S. 167 f. Siehe auch Brief vom Regierungssprecher und Leiter des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Conrad Ahlers an Bundeskanzler Brandt, 17.12.1969; AdsD, Depositum Bahr, Ordner 434, V.L., 1969–1974. 25  Nach den Erinnerungen von Keworkow wurde der Kanal ein Gesprächsthema zwischen den beiden »Bruderorganen«, als die KGB-Vertretung in Karlshorst ein Zusammentreffen Keworkows mit Mielke nach wiederholten Anfragen des Letzteren arrangierte. Vgl. Keworkow: Der geheime Kanal, S. 145–149. Nach Keworkows Darstellung traf er sich mit Mielke erst, nachdem Iwan Anissimowitsch Fadeikin durch Wassili Timofejewitsch Schumilow als Leiter der KGB-Vertretung in Karlshorst ersetzt wurde. Fadeikin kehrte 1974 nach Moskau zurück und Schumilow übernahm das Amt erst 1976. Vgl. auch Wolf, Markus: Spionagechef im geheimen Krieg. 2. Aufl., München 1999, S. 245. 26  Suckut: Probleme mit dem »großen Bruder«, S. 408. 27  Konzeption (Thesen), o. D.; BStU, MfS, ZAIG, Bd. 5131, Bl. 42–72; Auszüge nachgedruckt in: Suckut: Probleme mit dem »großen Bruder«, S. 422–439, hier 430. 28 Ebenda.

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Gesprächsbereitschaft gegenüber Bonn infrage. Leider gibt es in den Überlieferungen keine Antwort Andropows auf die Nachfragen in der Disposition, die »im Ton passagenweise zwischen Verhör und Anklage schwankten«.29 Trotz der Vorbehalte Mielkes, Wolfs und der Ostberliner Führung kamen die Verhandlungen zwischen Moskau und Bonn zügig voran. Im August 1970 unterzeichneten Brandt und Breschnew den Moskauer Vertrag. In diesem verzichteten beide Seiten in den beiderseitigen Beziehungen auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt, und Bonn erkannte die »Unverletzlichkeit« der in Europa bestehenden Grenzen an, darunter namentlich die Oder-Neiße-Grenze und die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten. Moskau nahm eine einseitige Erklärung von Bonn, einen Brief zur deutschen Einheit, hin, in dem die Bemühungen Bonns um eine friedliche Wiedervereinigung Deutschlands als nicht vertragswidrig bestätigt wurden. Während der Verhandlungen hatte sich Andropow innerhalb der sowjetischen Führung flexibler und konzessionsbereiter als Gromyko gezeigt und hatte bei Breschnew persönlich interveniert, als die Bahr-Gromyko-Gespräche zu scheitern drohten. Entsprechende Hinweise hatte er durch den geheimen Kanal bekommen. Das heißt, Andropow und sein Apparat waren innerhalb der sowjetischen Führung Förderer der Entspannungspolitik.30 Nach der Unterzeichnung des Moskauer Vertrags schien Wolf besonders unzufrieden zu sein. Er wollte sogar nach der Unterzeichnung eine weitere Information über die Gefahren der Bonner Ostpolitik an die Partei- und Staatsführung der DDR absenden. Darin hieß es u. a., dass sich nichts »an der Grundaussage über die reaktionären Absichten der Bonner Regierung geändert habe«. Bonn wolle »insbesondere den sowjetisch-westdeutschen Vertrag« in diesem Sinne »missbrauchen«.31 Mielke unterband die Weiterleitung der Information an die Partei- und Staatsführung.32 Die Frage wurde schon mit dem Moskauer Vertrag von dem »großen Bruder« entschieden. Wie in den öffentlichen Erklärungen der SED-Regierung hieß es auch MfS-intern von nun an, nicht zuletzt wegen des Drucks vonseiten des KGB,33 dass der Moskauer Vertrag und der kurz darauffolgende Vertrag zwischen der Bundesrepublik und Polen im Dezember 1970 als »Ausdruck der gewachsenen Stärke und des zunehmenden Einflusses der sozialistischen Staaten« einzuschätzen sei. Das erklärte Mielke auf einem Zentralen Führungsseminar des MfS im März 1971. Moskau habe die Versuche der Bundesregierung »vereitelt«, die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa abzuschwächen. Bonn habe sich verpflichten müssen, »auch die territoriale Integrität der DDR in 29  Suckut: Probleme mit dem »großen Bruder«, S. 411. 30  Keworkow: Der geheime Kanal, S. 76 f. 31  Suckut: Probleme mit dem »großen Bruder«, S. 415. 32  Ebenda, S. 416. 33  Ebenda, S. 417 f.

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ihren heutigen Grenzen uneingeschränkt zu achten«.34 Auf Anregung des KGB würde das MfS von nun an der Bekämpfung des »Rechtsblocks« in Bonn Priorität gegenüber der Bekämpfung des »Sozialdemokratismus« und des »Revisionismus« der SPD einräumen. Der »Rechtsblock« reiche, so das MfS, von der CDU bis zur Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), stelle sich gegen die Entspannungspolitik und strebe den »Sturz der Regierung Brandt« an.35 Als die Ratifizierung der Verträge mit Moskau und Warschau im Frühling 1972 im Zusammenhang mit einem konstruktiven Misstrauensvotum gegen Brandt im Bundestag zu scheitern drohte, wurde die HV A im Sinne der KPdSU und (nun) der SED aktiv. Sie bestach mindestens zwei Oppositionspolitiker in Bonn, für beide Verträge und für Brandt zu stimmen. Die Stimmen waren entscheidend für die Ratifizierung der Verträge und die Rettung der Regierung Brandt – Scheel.36 Damit erfüllte das MfS seine normale Rolle als Helfershelfer sowohl der SED als auch des KGB als Vertreter der KPdSU. Honecker konstatierte gegenüber dem rumänischen Diktator Nicolae Ceauşescu im Mai 1972, dass die »groteske Lage« entstanden sei, »dass wir als die stärksten Helfer für die Stabilisierung der Regierung Brandt auftreten mussten«.37

2.1.1 Andropow, Mielke und die Deutschlandpolitik der SED Auf dem Treffen in Moskau Mitte November 1969 nahmen nicht nur Mielke und Wolf zu potenziellen Gesprächen zwischen Moskau und Bonn Stellung. Zur Möglichkeit solcher Gespräche zwischen Bonn und Ostberlin äußerte sich auch Andropow. Seine Stellungnahme kam zu einem Zeitpunkt, als die Spannungen in der SED-Führung wegen dieser Frage einen Höhepunkt erreicht hatten. Ende Oktober 1969 hatte Ulbricht in einer Sitzung des SED-Politbüros vorgeschlagen, die neue Ostpolitik Brandts mit einer »neuen Westpolitik« der SED zu kontern.38 34  So Mielke auf dem zentralen Führungsseminar des MfS vom 1. bis 3.3.1971. Ebenda, S. 419. 35  Ebenda, S. 418. 36  [Herbstritt, Georg:] Der Deutsche Bundestag 1949 bis 1989 in den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR. Gutachten für den Deutschen Bundestag gemäß § 37 (3) des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. Berlin 2013, S. 265 f.; Münkel, Daniela: Kampagne, Spione, geheime Kanäle. Die Stasi und Willy Brandt (BStU, BF informiert; 32). Berlin 2013, S. 49–56; Sarotte, M. E.: Dealing with the Devil. East Germany, Détente and Ostpolitik, 1969–1973. Chapel Hill 2001, S. 132–134. 37  Herbstritt, Georg: Bundesbürger im Dienst der DDR-Spionage. Eine analytische Studie. Göttingen 2007, S. 138. Zu Moskaus Absichten, westdeutsche Parlamentarier zu bestechen, siehe Keworkow: Der geheime Kanal, S. 110 ff. 38  Mitschrift des persönlichen Mitarbeiters Ulbrichts, Berger, aus der außerordentlichen Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees der SED, 30.10.1969; DzD VI/1, S. 26–30. Zu der Auseinandersetzung siehe auch Sarotte: Dealing with the Devil, S. 31; Wentker: Außenpolitik in engen Grenzen, S. 320–322.

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Ulbrichts Vorstellungen waren auf dezidierten Widerstand von Honecker und seinen Unterstützern im SED-Politbüro gestoßen. Honecker hatte in der Politbüro-Sitzung entgegnet, dass die DDR von der Bundesrepublik volle völkerrechtliche Anerkennung fordern und einer Politik der Abgrenzung gegenüber der Bundesrepublik folgen solle,39 wie es Moskau der DDR im Juli 1969 vorgeschrieben habe.40 Offensichtlich ohne Honeckers Wissen hatte Hermann von Berg, der seit Mitte der 1960er-Jahre als geheimer Kanal zwischen der SED- und der SPD-Führung diente, schon Kontakt mit Bahr aufgenommen und im Namen von Ulbricht und Stoph verschiedene Vorschläge für Verhandlungen zwischen Bonn und Ostberlin gemacht – u. a. einen Austausch von »Sonderbevollmächtigten« anstelle von Botschaftern und den Abschluss eines Gewaltverzichtsabkommens. Von Berg hatte im Namen von Ulbricht und Stoph erklärt, dass die DDR vor oder während solcher Verhandlungen keine Forderung nach völkerrechtlicher Anerkennung stellen würde.41 Mielke und Wolf hätten von dem Inhalt der Gespräche von Bergs mit Bahr wissen müssen: Seit dem Beginn seiner Tätigkeit als geheimer Verbindungsmann hatte er als IM »Günther« des MfS agiert. Seine Berichte gingen über den zuständigen Führungsoffizier in der Desinformationsabteilung (X) der HV A an Wolf und Mielke und letztendlich von Mielke an Ulbricht und Stoph.42 Das MfS brachten seine Gespräche mit Bahr in Verlegenheit. Im November 1969 leitete der KGB eine Information an das MfS weiter, die offenbar den Inhalt dieser Gespräche wiedergab.43 Höchstwahrscheinlich wurde von Berg deswegen im selben Monat vom MfS schriftlich ermahnt, »in der operativen Bearbeitung der vorhandenen Kontakte größte Aufmerksamkeit und Vorsicht« zu zeigen und »jegliche Versuche zur »Provokation« gegenüber der SED oder der Sowjetunion« zurückzuweisen.44 Es gab in den Jahren 1970 bis 1972 weitere Treffen zwischen 39  Disposition des Politbüromitglieds Honecker für die außerordentliche Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees der SED, n. d.; DzD VI/1, S. 19–21. 40  Mitteilung des Politbüros des ZK der KPdSU als Antwort auf die Frage beim Besuch der Partei- und Regierungsdelegation der SED, 26.7.1969; SAPMO BA, IV 2/1/399, Bl. 15–20. 41  Vermerk des Staatssekretärs im Bundeskanzleramt Bahr über das Gespräch mit dem Abteilungsleiter im Presseamt des Ministerpräsidenten der DDR, von Berg, 27.10.1969. In: DzD VI/1, S. 3–5. Von Berg hat keinesfalls eigenständig verhandelt. Ulbricht versuchte Anfang Dezember 1969 ähnliche Vorschläge im SED-Politbüro in Vorbereitung auf die Gespräche mit Breschnew durchzubringen, aber sie wurden infolge interner Konflikte im SED-Politbüro verwässert. Siehe Grieder, Peter: East German Leadership 1946–73: Conflict and Crisis. Manchester, New York 1999, S. 177; Brief von Winzer an Ulbricht, 18.11.1969. In: DzD VI/1, S. 61–64 u. Fn 3; Konzeption für Verhandlungen mit der westdeutschen Koalitionsregierung Brandt/Scheel, o. D. In: ebenda, S. 69 f. 42  Münkel: Kampagnen, Spione, geheime Kanäle, S. 36 ff. 43  Übersetzung aus dem Russischen, GEHEIM!, 1034/69; BStU, MfS, SdM, Bd. 1473, Bl. 332–334. 44  Knabe, Hubertus: Der diskrete Charme der DDR. Stasi und Westmedien. 2. Aufl., Berlin 2003, S. 145.

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von Berg und verschiedenen journalistischen Mittelsmännern zu Bahr und Brandt, aber diese wurden laut der HV A »auf ein Minimum beschränkt«.45 Vor dem Hintergrund des laufenden Streits im SED-Politbüro über Verhandlungen mit Bonn hatten die Aussagen Andropows gegenüber Mielke und Wolf in Moskau Mitte November 1969 zusätzliches Gewicht für das MfS und für die Politik der SED. Bei dem Treffen wiederholte Andropow praktisch die Einschätzung Honeckers in der Sitzung des SED-Politbüros zur Regierung Brandt. Andropow erklärte: »Trotz einiger schön klingender Töne in der Erklärung Brandts ist die Absicht der Liquidierung der DDR zu erkennen.« Er forderte, dass »die bisherige Linie beibehalten werden muss« – eine Anspielung u. a. auf die Forderung der DDR auf völkerrechtliche Anerkennung durch die Bundes­ republik.46 Als die Partei- und Regierungsdelegation der DDR Anfang Dezember 1969 Moskau besuchte, stellte Breschnew die Position der Sowjetunion klar. Das einzige Gesprächsangebot, das die DDR an Bonn machen solle, betreffe einen bereits vorliegenden Vertragsentwurf der DDR zur Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten.47 Im Vertrag solle es aber um den Austausch von »Botschaften« gehen, nicht – wie im Entwurf – von »Missionen«. Noch mehr: Breschnew erklärte, »Wir [d. h. die UdSSR] sind dafür, für solche Methoden, die die Frage der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR vorher [d. h. vor deutsch-deutschen Verhandlungen] klärt.«48 Der Plan Ulbrichts, in einem Brief an Brandt Verhandlungen über ein Gewaltverzichtsabkommen anzubieten, wurde von Breschnew von der Tagesordnung gestrichen.49 Die harte Linie Honeckers wurde von Breschnew unterstützt und bewilligt. Trotzdem war es klar, dass Moskau sein eigenes Angebot an Bonn für Gewaltverzichtsverhandlungen weiterhin verfolgte. Die DDR dagegen durfte Bonn nur Verhandlungen über die völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik anbieten. Am 17. Dezember 1969 übersandte Ulbricht an Bundespräsident Gustav Heinemann das (von Moskau redigierte) Verhandlungsangebot Ostberlins an Bonn: einen Vertrag über die Aufnahme formeller diplomatischer Beziehungen und den Austausch von Botschaftern. Diese Vorgehensweise entsprach dem »Doppelspiel« Breschnews gegenüber Bonn. Die unannehmbare Forderung Ostberlins sollte sichern, dass Bonn Moskau Priorität in seinen Verhandlungen mit dem Osten einräumte, und Moskau konnte Zugeständnisse von Bonn erlangen, indem es die völkerrechtliche Anerkennung der DDR nicht als Ziel oder Vorbedingung von Verhandlungen stellte.50 45  Münkel: Kampagne, Spione geheime Kanäle, S. 44. 46  Aufzeichnung des Ministeriums für Staatssicherheit, S. 59. 47  Sarotte: Dealing with the Devil, S. 32 f. 48  Notizen des Politbüromitglieds Honecker über die Besprechung der Führung der SED mit der Führung der KPdSU, 2.12.1969. In: DzD VI/1, S. 95–98, hier 96. 49  Ebenda, Bl. 28. 50  Sarotte: Dealing with the Devil, S. 32 f.

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Es soll hier erwähnt werden, dass sich Moskau seit der Wahl Brandts, wenn nicht schon früher, gegen Verhandlungen zwischen Ostberlin und Bonn – auch über die völkerrechtliche Anerkennung der DDR – gestellt hatte. Ende September 1969 trug der sowjetische stellvertretende Außenminister Wladimir Semjonow dem ostdeutschen Außenminister Otto Winzer Moskaus Pläne vor. Moskau würde in bilaterale Verhandlungen mit Bonn über ein Gewaltverzichtsabkommen eintreten, worin es die gemeinsamen Forderungen aller Warschauer Vertragsstaaten nach Anerkennung des Status quo stellen würde. Die anderen östlichen Länder sollten dagegen auf bilaterale Verhandlungen mit der Bundesrepublik zugunsten des Vorschlags von multilateralen Verhandlungen über eine Europäische Sicherheitskonferenz (ESK) verzichten. Moskau würde darauf bestehen, dass die DDR als gleichberechtigter Staat an der ESK teilnahm, und die DDR würde auf diese Weise die De-facto-Anerkennung von allen westlichen Staaten – einschließlich der Bundesrepublik – erreichen. Mehr sei derzeit nicht möglich, so Semjonow. Die völkerrechtliche Anerkennung der DDR oder der bestehenden Grenze (z. B. der Oder-Neiße-Linie) würde zum Beispiel nicht auf der Tagesordnung der vorgesehenen ESK stehen. Die Vorteile einer solchen Vorgehensweise für die UdSSR waren offensichtlich. Sie hätte mit der Bundesrepublik ohne Störung durch die eigenen Verbündeten verhandeln können. Darüber hinaus hätte so eine Vorgehensweise bedeutet, dass der Westen das Recht Moskaus, im Namen seiner Verbündeten zu verhandeln bestätigte und damit Moskaus Hegemonie über Ostmitteleuropa.51 Diese Zielsetzung blieb aktuell während der eigentlichen KSZE-Verhandlungen in den Jahren 1973 bis 1975. Ein Vorschlag für die Tagesordnung einer Europäischen Sicherheitskonferenz (ESK), der den Vorstellungen Moskaus entsprach, wurde von den Außenministern der Warschauer-Pakt-Staaten auf einem Treffen Ende Oktober 1969 in Prag verkündet. Der Vorschlag, gerichtet an die NATO und die neutralen und nichtpaktgebundenen (N+N) Länder Europas, sah zwei Tagesordnungspunkte für die ESK vor: 1. Gewährleistung der europäischen Sicherheit und Verzicht auf Gewaltanwendung oder Gewaltandrohung in den gegenseitigen Beziehungen zwischen den europäischen Staaten. 2. Erweiterung der gleichberechtigten Handels-, Wirtschafts- und wissenschaftlich-technischen Beziehungen mit dem Ziel, die politische Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten zu entwickeln.52

51  Selvage: Der Warschauer Pakt und die europäische Sicherheitskonferenz, S. 237 f. 52  Erklärung der Konferenz der Außenminister der Mitgliedstaaten des Warschauer Vertrages am 30./31.10.1969 in Prag. In: Sicherheitskonferenz in Europa. Dokumentation (1972), S. 473 f.; vgl. Hanisch: Die DDR im KSZE-Prozess, S. 33 f.

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Der NATO-Rat reagierte im Dezember 1969 mit einem Gegenvorschlag (siehe 2.2 unten), der eine Erweiterung der Tagesordnung vorsah. Er stellte zudem den Abschluss bilateraler Verhandlungen zwischen Bonn und den Ländern Osteuropas als Vorbedingung.53 Moskaus Blockade gegen bilaterale Verhandlungen zwischen seinen Verbündeten und Bonn blieb nicht lange erhalten. Sie wurde nicht von der DDR durchbrochen, weil die zumindest ihre De-facto-Anerkennung bei einer ESK hätte herausholen können, sondern durch den ersten Sekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) Władysław Gomułka. Schon vor der Erklärung des NATO-Rates hatte er Moskau klargemacht, dass seine Regierung ihre eigenen Verhandlungen mit Bonn über Gewaltverzicht oder, aus seiner Sicht, Bonns Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als der Westgrenze Polens führen werde. Damit die angebliche Souveränität der DDR nicht bloßgestellt wurde, hätte Moskau bilateralen Verhandlungen zwischen Ostberlin und Bonn zumindest formell zustimmen müssen.54 Der von Moskau genehmigte Inhalt solcher Verhandlungen – d. h. über die völkerrechtliche Anerkennung der DDR – sollte aber, wie schon erwähnt, eine solche Möglichkeit ausschließen. Zu diesem Zeitpunkt, als Moskau unbedingt mit Bonn verhandeln, aber ernsthafte Gespräche zwischen Ostberlin und Bonn blockieren wollte, diente der geheime Kanal sowohl dem »Doppelspiel« Breschnews als auch der von Moskau gewollten Politik der Abgrenzung zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Lednew stellte bei seinem ersten Besuch als »geheimer Kanal« in Bonn klar, dass »die Sowjetunion es am liebsten sehen würde, wenn wir nur mit Moskau, nicht parallel dazu mit den anderen osteuropäischen Regierungen verhandelten«. Moskau hielte die völkerrechtliche Anerkennung der DDR für »unwesentlich« (im Gegensatz zu Bonns Aufgabe der Hallstein-Doktrin) und sei nicht besonders interessiert an Bonns Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze (Gomułkas Vorhaben).55 Andropow ließ Bahr und Brandt tendenziöse Informationen oder sogar gezielte Desinformationen durch den Kanal zukommen, um sie in einer von Moskau gewollten Richtung zu beeinflussen. Diese Vorgehensweise entsprach der Definition von »Einflussmaßnahmen« im KGB-Sprachgebrauch.56 Als Brandt 53  Siehe Erklärung der Mitgliedstaaten des Nordatlantischen Bündnisses vom 5.12.1969 zu Fragen der europäischen Sicherheit. In: Sicherheitskonferenz in Europa. Dokumentation (1972), S. 105–108. 54  Ebenda, Selvage: Der Warschauer Pakt, S. 239–244. 55  Brief von Conrad Ahlers an den Bundeskanzler, 17.12.1969; AdsD, Depositum Bahr, Ordner 434, V.L., 1969–1974, n. p. 56  Eine Hauptaufgabe der Desinformationsabteilungen der »Bruderorgane« war die Beeinflussung und Förderung von Personen im »Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet« (NSW), die die öffentliche Meinung oder die Politik im Sinne des Ostens beeinflussen konnten. Siehe Müller-Enbergs: Hauptverwaltung A, S. 171. Auf einem »politisch-operativen Weiterbildungslehrgang« zu »Informationsauswertung und aktive Maßnahmen« am 10.10.1989 erklärte der Leiter der für aktive Maßnahmen zuständigen HV A/X, Oberst Rolf Wagenbreth, dass solche Maßnahmen

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weiterhin nicht nur auf Verhandlungen mit Polen, sondern auch auf Gesprächen mit der DDR bestand, erklärte Lednew in einer Nachricht an Bahr, dass Ulbricht »im direkten Gespräch mit Bonn seine Forderungen auf volle völkerrechtliche Anerkennung durchzusetzen« versuche, »die nach Moskauer Meinung sicherlich einmal kommen müsse, jetzt jedoch von der Bundesregierung kaum zu verkraften sei«. Lednews Vorschlag lautete, »den Dialog mit Ostberlin jetzt bis an die Grenze des Einfrierens zu verzögern«, weil Ulbricht sonst Gelegenheit bekäme, »seine Maximalforderungen unter ständigen Appellen an seine Verbündeten zu wiederholen« und eine »Obstruktionspolitik« gegen die westdeutsch-sowjetischen Verhandlungen zu betreiben.57 Gromyko nahm in seinen Gesprächen mit Bahr auch Bezug auf die Forderung »Ulbrichts« nach völkerrechtlicher Anerkennung, um die (angeblich) vergleichsweise größere sowjetische Flexibilität und Kompromissbereitschaft herauszustellen.58 Weil Brandt trotz der Warnungen im geheimen Kanal und ultimativer, teilweise beleidigender Forderungen aus Ostberlin59 – mitverfasst von Moskau!60 – weiterhin auf Gesprächen mit der DDR bestand,61 kamen 1970 zwei Gipfelgespräche zwischen Brandt und Stoph in Erfurt und in Kassel zustande. Trotz bestimmter Abweichungen verhandelte Stoph entsprechend der von Moskau gewollten harten Linie, indem er auf beiden Treffen die völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik – wenn auch nur zögernd – forderte.62 Nach dem zweiten Treffen in Kassel schlug Stoph eine »Denkpause« in den Verhandlungen vor, die Breschnew noch mehr als die SED-Führung wollte.63 Brandt stimmte zu.

»Gespräche m[it] Politikern« und »die Übergabe v. Dokumenten« einbezogen und die »Diplomatie […] tangiert[en]«. Er sagte in diesem Zusammenhang auch, dass das »Gerücht« die »schnellste und billigste Zeitung der Welt« darstelle. Siehe die entsprechenden Notizen von einem MfS-Mitarbeiter in: BStU, MfS, BV Cbs, Abt. XV, Bd. 195, Bl. 32 f. 57  Brief von Robert Schmelzer aus der Chefredaktion der Frankfurter »Neue Presse« an Bahr, 26.1.1970; AdsD, Depositum Bahr, Ordner 84, Mappe 2, Persönliche Korrespondenz, 23.10.69–31.12.70, n. p. Schmelzer diente gelegentlich, so wie Zedtwitz von Arnim, als »Briefträger« für den geheimen Kanal. 58  Siehe z. B. Gespräch des Staatssekretärs Bahr, Bundeskanzleramt, mit dem sowjetischen Außenminister Gromyko in Moskau, 30.1.1970. In: AAPD 1970/I, S. 105–118, hier 117 und ihr weiteres Gespräch am 3.2.1970 in: ebenda, S. 144–157, hier 149. 59  Siehe das Schreiben von Stoph an Brandt, 11.2.1970. In: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen: Texte zur Deutschlandpolitik (TzDP), Bd. IV, S. 291–293. Stoph bestand in dem Brief auf Verhandlungen über völkerrechtliche Anerkennung anstatt des von Brandt gewollten Gewaltverzichts und schlug ultimativ als Termin für solche Verhandlungen den »19. oder 26. Februar 1969 um 11.00 Uhr im Hause des Ministerrates der Hauptstadt der DDR, Berlin« vor. 60  Siehe Inoffizielle Übersetzung, 26.1.1970; SAPMO BA, J IV 2/2.035-62, n. p. 61  Siehe Schreiben von Brandt an Stoph, 18.2.1970. In: TzDP IV, S. 294 f. 62  Zu den beiden Gipfelgesprächen siehe Sarotte: Dealing with the Devil, S. 42–51, 59–63; Wentker: Außenpolitik in engen Grenzen, S. 325–328. 63  Wentker: Außenpolitik in engen Grenzen, S. 325 f.

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Nach dem Erfurter Treffen hatte es Verdachtsmomente vonseiten Moskaus und des KGB gegeben, weil eine Menge von Ostdeutschen durch die Absperrung vor Brandts Hotel in Erfurt gebrochen war und den Bundeskanzler mit Rufen wie »Willy! Willy!« und »Willy Brandt ans Fenster!« begrüßt hatte. Lednew deutete im geheimen Kanal an, dass das MfS vielleicht auf diese Weise die Gespräche zwischen Moskau und Bonn hätte sabotieren wollen, indem die gefährlichen Auswirkungen von Brandts Ostpolitik zur Schau gestellt wurden.64 Später haben andere über eine mögliche Verschwörung Mielkes mit Honecker zugunsten seiner harten Linie und seinem Führungsanspruch im SED-Politbüro spekuliert. Es gibt aber keinen überzeugenden Beweis, dass Mielke und das MfS absichtlich versagten oder dass es eine entsprechende Verschwörung zwischen Mielke und Honecker gab.65 Obwohl das MfS die Operation »Konfrontation« zur Abschirmung des Brandt-Besuchs und der Verhandlungen vor der ostdeutschen Bevölkerung geleitet hatte, kam es nach internen Ermittlungen zu dem – eher gesichtswahrenden – Schluss, dass die Volkspolizei den Vorgaben des MfS – zum Beispiel zur Errichtung einer Bannmeile um das Hotel – nicht nachgekommen sei. So berichtete Mielke an Honecker in dessen Funktion als ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen.66 Obwohl eine Verschwörung zwischen Mielke und Honecker im Zusammenhang mit der Demonstration in Erfurt unbewiesen ist, schlug sich Mielke in dem Machtkampf innerhalb der SED-Führung auf die Seite Honeckers, indem er die von Moskau gewollte Linie der Abgrenzung gegenüber der Bundesrepublik unterstützte. Auf der 12. Tagung des ZK der SED, die nach den Moskauer Gesprächen der SED-Führung mit Breschnew stattfand, hielt Mielke am 13. Dezember 1969 eine Rede, in der er sich gegen die verhandlungsbereite Linie Ulbrichts stellte. Mielke warf der Brandt-Scheel-Regierung und vor allem der SPD-Führung unter Brandt vor, dass sie »den Sozialdemokratismus und Opportunismus als wichtige Waffe zur politisch-ideologischen Zersetzung vor allem mit dem Ziel der Organisierung einer schleichenden Konterrevolution benutzen« wolle. Die »revolutionäre Wachsamkeit gegenüber der Bonner Politik und Feindtätigkeit« sei, so Mielke, weiter zu erhöhen.67 Infolge des Sturzes Ulbrichts wurde Mielke mit der Unterstützung Honeckers im Juni 1971 zum Kandidaten des Politbüros 64  In einer Nachricht an Bahr äußerte Lednew seine »private Meinung« zu den Geschehnissen in Erfurt: »Man könnte nicht ganz ausschließen, dass Agenten der DDR unter einer an sich freundlich eingestellten Menge Brandt gegenüber zu der Pro-Brandt-Demonstration angestachelt haben, um Argumente für die Leute zu sammeln, die gegen die Gespräche sind. Es hätte in Moskau etwas überrascht, dass die DDR, die sich sonst so hervorragend auf Abschirmen von Gebäuden verstünde, diesmal das Hotel in Erfurt und den Weg dorthin so wenig hermetisch abgesichert habe.« Unter den »Leuten gegen die Gespräche« wurde Honecker erwähnt. Notiz, o. D.; AdsD, Depositum Bahr, Ordner 434, V.L., 1969–1974. Bahr leitete die Notiz an Brandt über den »Bundesminister« – offenbar Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes Horst Ehmke – weiter. 65  Vgl. Schönfelder, Jan; Erices, Rainer: Willy Brandt in Erfurt. Berlin 2010, S. 273 f. 66  Ebenda, S. 266–272. 67  Otto, Wilfriede: Erich Mielke. Biographie. Berlin 2000, S. 348.

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und 1976 zum Vollmitglied gewählt.68 Er holte damit langsam Andropow ein, der 1967 gleichzeitig mit seiner Ernennung zum KGB-Vorsitzenden zum Kandidaten und 1973 zum Vollmitglied des Politbüros der KPdSU ernannt worden war.

2.1.2 Zugeständnisse vor der KSZE: der Grundlagenvertrag Nach der Unterzeichnung der Ostverträge durch die Bundesrepublik hatte die Sowjetunion als nächsten Punkt auf ihrer entspannungspolitischen Tagesordnung die Einberufung einer europäischen Sicherheitskonferenz (ESK). Parallel dazu war Moskau bereit, die Verhandlungen der Vier Mächte (samt einem neuen geheimen Kanal zwischen Bahr und Walentin Falin vom sowjetischen Außenministerium) über ein Berlin-Abkommen weiterzuführen und gegebenenfalls abzuschließen. Wenn Bonn seine Blockade von diplomatischen Beziehungen zwischen Drittländern und der DDR (d. h. die Scheel-Doktrin) nicht vorher aufgeben würde, wie von Moskau längst gefordert, hätte die gleichberechtigte Teilnahme der DDR an der ESK und ihre De-facto-Anerkennung durch den Westen die Blockade zu Fall gebracht. Die weitere Verschiebung möglicher deutsch-deutscher Verhandlungen hätte der SED-Regierung unter Honecker geholfen, ihre – von Moskau gewollte – harte Linie bezüglich der völkerrechtlichen Anerkennung durch die Bundesrepublik aufrechtzuerhalten und die DDR von der Bundesrepublik abzugrenzen. Die Junktim-Politik der Bundesrepublik und des Westens im Allgemeinen vereitelte den Fahrplan Moskaus. Die Brandt-Regierung stellte als Junktim für die Ratifizierung der Ostverträge den Abschluss des Viermächteabkommens über Berlin.69 Noch wichtiger für diese Studie ist, dass Bonn, unterstützt von seinen Bündnispartnern in der NATO, den erfolgreichen Abschluss eines Abkommens zwischen Bundesrepublik und DDR zur Vorbedingung für die Einberufung einer ESK machte, die die gegenseitigen Beziehungen regeln würde.70 Anstelle der von Ostberlin geforderten völkerrechtlichen Anerkennung wollten Brandt und Bahr ihr Konzept von »zwei Staaten, eine Nation« durchsetzen. Das hieß, dass es zwischen der Bundesrepublik und der DDR als zwei Staaten deutscher Nation besondere Beziehungen geben sollte; die Möglichkeit einer Wiedervereinigung Deutschlands sollte offengelassen werden. Wie Bahr vorausgesehen hatte, wurde Moskau durch die Junktim-Politik praktisch dazu gezwungen, gegenüber seinem Verbündeten als »Stellvertreter Bonns« zu agieren und ihn zum Einlenken zu bringen, damit Moskau die Zugeständnisse Bonns an seine Adresse einbrin68  Vgl. ebenda, S. 352–354. 69  Sarotte: Dealing with the Devil, S. 97. 70  Die NATO-Staaten hatten auch im Mai 1969 die Klärung der Berlin-Frage und eines Modus Vivendi zwischen den beiden deutschen Staaten als Vorbedingung für die Konferenz gestellt. Siehe Erklärung der Mitgliedstaaten des Nordatlantischen Bündnisses vom 5.12.1969 zu Fragen der europäischen Sicherheit. In: Sicherheitskonferenz in Europa. Dokumentation (1972), S. 105–108.

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gen konnte.71 Moskau zwang Ostberlin, Zugeständnisse an Bonn zu machen, damit vom Westen das Viermächteabkommen über Berlin ratifiziert wurde. Die Honecker-Regierung gab auf dringenden Rat Moskaus ihren Versuch auf, durch ein Transitabkommen über Berlin die völkerrechtliche Anerkennung durch die Bundesrepublik zu erreichen. Am Ende musste sie sich mit dem Abschluss eines »Staatsvertrags« mit Bonn und einer jährlichen Pauschale für Visagebühren in Höhe von 234,9 Millionen DM für Reisen von der Bundesrepublik nach Westberlin begnügen.72 Noch wichtiger war, dass die UdSSR die Honecker-Regierung zwang, ihre von Moskau früher selbst geforderte harte Linie zu modifizieren und Zugeständnisse zu machen, damit ein deutsch-deutscher Vertrag abgeschlossen und der Weg für die Einberufung einer ESK frei gemacht werde. Ein Kompromiss im Sinne der Brandt-Regierung wurde erreicht. Im Grundlagenvertrag verpflichteten sich die DDR und die Bundesrepublik zu Gewaltverzicht, zur Achtung der gegenseitigen Grenzen und Anerkennung ihrer Unverletzlichkeit, Beschränkung der Hoheitsgewalt auf das eigene Staatsgebiet und zum Austausch von Ständigen Vertretern (anstatt des von SED und früher von Moskau gewollten Austausches von Botschaftern). Der Meinungsunterschied zwischen beiden Seiten in Fragen der Nation wurde in der Präambel des Vertrags festgehalten, und vor dessen Unterzeichnung übergab Bahr der ostdeutschen Seite den »Brief zur deutschen Einheit«, der bestätigte, dass der Vertrag nicht im Gegensatz zu den Bemühungen Bonns um die deutsche Einheit stand. Nicht nur Druck aus Moskau, sondern auch der Anreiz von finanziellen Vergünstigungen aus Bonn – zum Beispiel den »Swing« oder Überziehungskredit im innerdeutschen Handel auf eine Milliarde DM zugunsten der DDR zu erhöhen – trug zum Einlenken Honeckers bei. Der Vertrag wurde vor den Wahlen in der Bundesrepublik im November 1972 abgeschlossen und trug wahrscheinlich zum Wahlsieg der sozial-liberalen Koalition bei. Am 21. Dezember 1972 wurde der Vertrag unterzeichnet.73

2.1.3 Mielke, das MfS und der Grundlagenvertrag Seinem Amt und seiner Grundeinstellung entsprechend hatte Mielke offenbar im Februar 1972 die Unterstützung Moskaus für die völkerrechtliche Anerkennung der DDR in den künftigen Verhandlungen zwischen Ostberlin und Bonn eingefordert. In einer Rededisposition für ein Treffen mit der KGB-Führung stand die tendenziöse Frage: »Wie kann die Sowjetunion den Kampf der DDR 71  Wentker: Außenpolitik in engen Grenzen, S. 338. 72  Ebenda, S. 332–335. 73  Sarotte: Dealing with the Devil, S. 142–144; Wentker: Außenpolitik in engen Grenzen, S. 340–345.

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um die Gestaltung der Beziehungen zur BRD auf völkerrechtlicher Grundlage noch wirksamer unterstützen?«74 Die Disposition erklärte, die BRD weigere sich, die »Beziehungen DDR – BRD auf der Grundlage des Völkerrechts zu regeln und die DDR als souveränen Staat anzuerkennen«. Hierzu stand die pointierte Bemerkung: »MfS bekannt: BRD-Regierung beruft sich dabei sogar auf sowjetisch-westdeutschen Vertrag!« Hier wurde Staatssekretär Paul Frank, Berater von Außenminister Walter Scheel im Auswärtigen Amt als »Beweis« zitiert: »Wenn [die] BRD bereit gewesen wäre, die DDR als souveränen Staat anzuerkennen, hätte sie die Verhandlungen in Moskau nicht zu führen brauchen, denn gerade die Vermeidung der Anerkennung der DDR sei der Sinn dieses ›Experiments‹ gewesen«.75 Dies war ja das Problem für Ostberlin. Die implizite Kritik Mielkes an der Westpolitik Moskaus stand keineswegs in Konflikt mit der Linie Honeckers, der schon längst seine Vorbehalte gegen den Moskauer Vertrag in der sowjetischen Hauptstadt vorgetragen hatte.76 Als sich die SED-Führung unter dem Druck Moskaus gegenüber Bonn konzessionsbereiter zeigen musste, standen weder Mielke noch das MfS deutsch-deutschen Vereinbarungen im Wege. Ganz im Gegenteil: Das MfS spielte gewissenhaft seine Rolle als Dienstleister für die SED bzw. den KGB und die KPdSU. Der Chef-Unterhändler für die DDR, Staatssekretär Michael Kohl vom ostdeutschen Außenministerium, wurde vom MfS als IM »Koran« geführt. Er berichtete an das MfS nicht nur über den Verlauf der Verhandlungen, sondern auch über die Atmosphäre und über Bemerkungen Bahrs während der Pausen. Um die wichtigsten Informationen an die Partei- und Staatsführung weiterzureichen, nahm das MfS die Gespräche Kohls mit Bahr auch heimlich auf und verfasste entsprechende Gesprächsprotokolle. Zumindest ein weiterer IM begleitete Kohl bei den Verhandlungen und erstattete Bericht an das MfS.77 Mielke zeigte sich gegenüber den deutsch-deutschen Verträgen auch nach ihrem Abschluss skeptisch. In einer Rede auf einer Dienstkonferenz des MfS im November 1972 warnte er erneut vor der Gefahr des »Sozialdemokratismus« und benutzte damit einen stalinistischen Kampfbegriff aus den Jahren der Gleichschaltung der SED-Mitgliedschaft, der ebenso Ausdruck von Misstrauen des Machtapparates gegen die eigene Parteibasis war wie der Frontstellung gegen die bundesdeutsche SPD.78 Obwohl der Stasi-Chef sein Misstrauen gegenüber der Entspannungspolitik nie verlor, hatten sich die jeweiligen Gewichte von Außen74  Thesen (Probleme) für Gespräche des Gen. Minister mit führenden Vertretern der sowjetischen Sicherheitsorgane (Anfang Februar 1972), o. D.; BStU, MfS, ZAIG, Bd. 5134, Bl. 1–17, hier 13. 75  Ebenda, Bl. 12. 76  Sarotte: Dealing with the Devil, S. 71. 77  Ebenda, S. 89–92. 78  Mielke: Auswertung der 7. Tagung des ZK der SED und des Krim-Treffens führender Repräsentanten der sozialistischen Staaten (Dienstkonferenz am 16.11.1972); BStU, MfS, BdL/ Dok. Nr. 5700, Bl. 46.

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und Innenpolitik verändert. Jetzt – unmittelbar vor den Bundestagswahlen im November 1972 – erklärte Mielke zu den deutsch-deutschen Verträgen, die DDR habe sich auf Vereinbarungen eingelassen, »die noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wären und die keine andere Regierung in Bonn je bekommen hätte«.79 Als Begründung führte er an, »dass es für uns mit einer SPD/FDP-Regierung und dem von ihr gezeigten Realismus in bestimmten Fragen leichter ist, das zu erreichen, was wir wollen«. Was Mielke damit meinte, zeigt das folgende Zitat: »Sollte in Bonn eine CDU/CSU-Regierung gebildet werden, so würden zweifellos neue Schwierigkeiten bei der Durchsetzung unserer Friedens- und Entspannungspolitik in Europa« entstehen.80 Anders ausgedrückt bedeutete das: Der Erfolg sowjetischer Westpolitik mit ihrem Ziel einer europäischen Sicherheitskonferenz wäre gefährdet gewesen. Für die DDR hatte – vor allem wohl aus Sicht der SED – der Gewinn, den sie durch internationale Anerkennung erreichte, eine höhere Priorität als die eventuelle zusätzliche innere Gefährdung. Die stärkere Gewichtung der außenpolitischen Faktoren könnte auf die Vorgaben der Sowjetunion zurückzuführen sein. Es ist aber auch möglich, dass hier bereits ein Thema der folgenden Jahre anklang: dass Widersprüche zwischen den »imperialistischen« Staaten, zwischen einem kooperativen und einem konfrontativen Kurs auf westlicher Seite, im Interesse der eigenen Sicherheit hohe Aufmerksamkeit verdienten. In Mielkes Worten existierten Widersprüche zwischen »realistischer denkenden Kräfte[n] der Bourgeoisie« und verstärkten »Tendenzen der Reaktion, des politischen Abenteuertums, der Aggression«.81 In der ersten Hälfte der 1970er-Jahre war das noch nicht mit Befürchtungen hinsichtlich einer Eskalation internationaler Spannungen, die zu einem Dritten Weltkrieg führen würden, verbunden, aber für die Position der Warschauer-Pakt-Staaten in einem sich neu ordnenden Europa war die Beantwortung der Frage, welche Linie internationaler Politik sich durchsetzen würde, unzweifelhaft von erheblicher Bedeutung. In seiner Rede im November 1972 warnte Mielke vor »neue[n], zusätzliche[n] und komplizierte[n] Aufgaben«, die auf die Staatssicherheit infolge der deutsch-deutschen Verträge zukommen würden.82 Mielke erwähnte in diesem Zusammenhang ausführlich:

79  Ebenda, Bl. 45. 80  Hervorhebung im Text. Mielke: Auswertung der 7. Tagung des ZK, Bl. 46. Am 19.11.1972, also drei Tage später, fand (nach dem gescheiterten Misstrauensvotum im April 1972) die erste vorgezogene Bundestagswahl in der Geschichte der Bundesrepublik statt. 81  Mielke: Referat auf der Sitzung der Kreisleitung am 11.5.1972 (Entwurf); BStU, MfS, ZAIG Nr. 3903, Bl. 1–87, hier Bl. 46. 82  Mielke: Auswertung der 7. Tagung des ZK, Bl. 29. Die Verträge sind dokumentiert in: Münch, Ingo von (Hg.): Dokumente des geteilten Deutschland. Quellentexte zur Rechtslage des Deutschen Reiches, der Bundes­republik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, Bd. II: seit 1968. Stuttgart 1974, S. 247–346.

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Verbesserungen im grenzüberschreitenden Reise- und Besucherverkehr, Reisen in dringenden Familienangelegenheiten, Lösung von Problemen, »die sich aus der Trennung von Familien ergeben«, Transitverkehr, Einreisen von westdeutschen Bürgern, die Gewährung von Arbeitsmöglichkeiten für Journalisten, Abkommen zur Intensivierung von Handel, wissenschaftlichem Austausch, Post- und Fernmeldewesen bzw. der kulturellen Beziehungen.83

Was er damit meinte, wird deutlich, wenn man sich die bisherige Situation vergegenwärtigt, die nun geändert werden sollte. Gewiss war die DDR auch damals nicht annähernd so abgeschirmt wie etwa das heutige Nordkorea, aber die gesellschaftlichen Kontakte in den Westen waren doch sehr begrenzt. So durften zum Beispiel Bewohner Westberlins seit 1966 nicht nach Ostberlin reisen und in die übrige DDR nur im Falle dringender Familienangelegenheiten. Zudem gab es keine privaten Telefongespräche zwischen Ost- und Westberlin. Bundesbürgern war die Einreise nur wegen Familienbesuchen – und nicht etwa für den Tourismus – erlaubt.84 Die deutsch-deutschen Verträge ermöglichten nun sehr viel mehr Reisen aus dem Westen in die DDR und selbst in umgekehrte Richtung, von Osten nach Westen, konnten Reisen in »dringenden Familienangelegenheiten« genehmigt werden. Diese Möglichkeiten wurden auch genutzt. So stieg die Anzahl der Reisen aus der Bundesrepublik und Westberlin in die DDR 1971 bis 1976 von 1,2 auf etwa 7 Millionen. Im selben Zeitraum wuchs die Zahl der Westreisen von DDR-Bürgern unterhalb des Rentenalters von 11 000 (1972) auf 43 000.85 Die Transitstrecken zwischen der Bundesrepublik und Westberlin passierten 1971 etwa 8 Millionen Reisende, fünf Jahre später waren es 15 Millionen.86 Hinzu kam die Intensivierung des Post- und Fernmeldeverkehrs, der kulturellen Beziehungen usw. Journalisten aus dem Westen konnten nun in der DDR arbeiten und somit auch Informationen für ihre Reportagen sammeln. Aus Sicht der Staatssicherheit bedeutete all dies die Erweiterung von Ansatzpunkten für Spionageaktivitäten 83  Mielke: Auswertung der 7. Tagung (1972), Bl. 50–96. 84  Vgl. Bender, Peter: Die »Neue Ostpolitik« und ihre Folgen. Vom Mauerbau bis zur Vereinigung. 3., überarb. Aufl., München 1995, S. 189–193; DDR-Handbuch. Hg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Wissenschaftliche Leitung: Hartmut Zimmermann, 2 Bde. 3., überarb. u. erw. Aufl., Köln 1985, S. 634 f. 85  Zahlenangaben nach: Plück, Kurt: Innerdeutsche Beziehungen auf kommunaler und Verwaltungsebene. In: Wissenschaft, Kultur und Sport und ihre Rückwirkungen auf die Menschen im geteilten Deutschland. In: Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages). Hg. vom Deutschen Bundestag, Bd 5/3. Baden-Baden 1995, S. 2015–2064, hier 2024–2026. 86  Vgl. Bender: Die »Neue Ostpolitik«, S. 361.

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und ideologische Unterwanderung durch die Gegenseite. Solche Befürchtungen waren nicht ganz unbegründet,87 aber weit übertrieben. Hinzu kamen die schwer fassbaren mentalen Auswirkungen zunehmender Kontakte in den Westen. Mielke warnte: »Wir stehen insgesamt vor der schwierigen Aufgabe der ständigen Verfolgung der aus den vielfältigen und umfangreicher gewordenen Kontaktmöglichkeiten resultierenden negativen politisch-ideologischen Auswirkungen auf einen bestimmten Teil unserer Bürger.«88 Als Beispiel nannte er das Konsumgüterangebot: »Vergleiche des Warenangebots können [...] erhebliche negative ideologische Wirkungen auslösen.«89 Dem kann man kaum widersprechen. Zu denken ist auch an die Auffrischung verwandtschaftlicher Beziehungen, durch die das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den beiden deutschen Staaten gestärkt wurde. Entscheidende Dynamik erhielt dieser Prozess allerdings erst in den 1980er-Jahren.

2.2 SED, MfS und KSZE-Verhandlungen Der DDR-Staatssicherheitsminister wurde in den Jahren 1969 bis 1972 mehrfach in Moskau vorstellig. Er äußerte nicht nur über die bilateralen Verhandlungen Moskaus und Ostberlins mit Bonn Sorgen, sondern auch wegen der Reaktion des Westens auf den östlichen Vorschlag für eine europäische Sicherheitskonferenz (ESK). Dass der Westen auf einer Erweiterung der menschlichen Kontakte als Bestandteil einer ESK bestehen würde, war schon lange klar. Nachdem die Außenminister der Warschauer-Pakt-Staaten im Oktober 1969 ihren Vorschlag für eine ESK mit zwei Tagesordnungspunkten (Gewaltverzicht und Verbesserung der wirtschaftlichen bzw. wissenschaftlich-technischen Beziehungen) verkündet hatten, antwortete der NATO-Rat auf seiner Sitzung im Dezember 1969 mit einem Gegenvorschlag: dass eine künftige ESK sich auch mit der Fragen des kulturellen Austausches und »eine[r] größeren Freizügigkeit für Menschen, Ideen und Informationen zwischen den Ländern des Ostens und des Westens« beschäftigen müsse.90 Das war ein Vorschlag zur Erweiterung der Tagesordnung für eine solche Konferenz, der weit über die Absichten der Warschauer-Pakt-Staaten hinausging und in dem einerseits der künftige Prinzipienkatalog (Korb I) und andererseits die Vereinbarungen zur »menschlichen Dimension« (Korb III) in nuce angelegt waren. Als klar wurde, dass ein dritter 87  So nutzte der Bundesnachrichtendienst (BND) die Reisemöglichkeiten intensiv zur Militärspionage. Vgl. Wagner, Armin; Uhl, Matthias: BND contra Sowjetarmee. Westdeutsche Militärspionage in der DDR (= Militärgeschichte der DDR; 14). Berlin 2007. 88  Mielke: Auswertung der 7. Tagung des ZK, Bl. 86. 89  Ebenda, Bl. 79. 90  Erklärung der Mitgliedstaaten des Nordatlantischen Bündnisses vom 5.12.1969 zu Fragen der europäischen Sicherheit. In: Sicherheitskonferenz in Europa. Dokumentation (1972), S. 105–108.

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Tagesordnungspunkt eine harte Vorbedingung des Westens für ein Zustandekommen einer ESK war, verkündete Außenminister Andrei Gromyko auf einem Außenministertreffen des Warschauer Paktes im Juni 1970 die Bereitschaft Moskaus, einen dritten Punkt zu kulturellen Beziehungen hinzunehmen.91 In einem Memorandum, das von den Beteiligten verabschiedet wurde, wurde angeboten, dass der 2. Tagesordnungspunkt »erweitert werden könnte, einschließlich einer Bestimmung über die Entwicklung der kulturellen Beziehungen«.92 Mielke fürchtete die möglichen Auswirkungen dieser Zugeständnisse bei künftigen ESK-Verhandlungen. Eine Konzeption für seinen Besuch in Moskau Anfang 1972 beinhaltete die pointierte Frage: Wie schätzen die sowjetischen Genossen die Bestrebungen der BRD ein [...], die Konferenz im Sinne der politisch-ideologischen Diversion gegenüber den europäischen sozialistischen Staaten umzufunktionieren? [...] Wieweit kann man dem Westen tatsächlich entgegenkommen? Was sollte unterlassen werden, um den feindlichen Absichten nicht Vorschub zu leisten?93

Bei einem weiteren Treffen, wenige Wochen später, stellte Mielke die schon etwas drängendere Frage: »Wie muss auf die imperialistische Absicht reagiert werden, in den Mittelpunkt der gesamteuropäischen Konferenz solche Fragen zu stellen wie freier Austausch von Ideen, Informationen und Personen?« Auf dem Manuskript hatte Mielke in seiner charakteristischen Handschrift mit zwei Ausrufezeichen hinzugefügt: »PiD!!«94 PiD ist die Abkürzung für »politisch-ideologische Diversion«, eine Umschreibung für ideologische oder politische Unterwanderung. Andropows Antworten auf diese Fragen sind nicht überliefert. Zum Teil aber kann man Breschnews Ausführungen auf dem Krimtreffen der Staats- und Parteichefs der Warschauer-Pakt-Staaten im Juni 1972, dem letzten derartigen Treffen vor Beginn der Vorbereitungsphase der KSZE, als eine Antwort auf derartige Bedenken betrachten, die gewiss nicht nur der deutsche Stasi-Chef hatte. Breschnew betonte, das Zustandekommen der Konferenz sei ein Erfolg beharrlicher sowjetischer Politik. Sie sei eminent wichtig, um den Frieden in Europa 91  Gromyko erklärte: »Nach unserer Meinung könnte man zur Stärkung der Positionen der sozialistischen Länder dazu übergehen, einen Punkt über die Erweiterung der kulturellen Beziehungen in die Tagesordnung aufzunehmen.« Rede A. Gromykos auf dem Treffen der Außenminister der Warschauer-Pakt-Staaten am 21.6.1970; BArch, DY 30/3400, Bl. 36–47, hier 44. 92  Memorandum der Konferenz der Außenminister der Mitgliedstaaten des Warschauer Vertrags am 21./22.6.1970 in Budapest. In: Sicherheitskonferenz in Europa. Dokumentation (1972), S. 520–522. 93  Thesen (Probleme) für Gespräche des Gen. Minister mit führenden Vertretern der sowje­ tischen Sicherheitsorgane (Anfang Februar 1972); BStU, MfS, ZAIG Nr. 5134, Bl. 1–17. 94  Themen und Fragen für die Diskussion und Konsultation mit den leitenden Genossen des KfS [Komitees für Staatssicherheit (der UdSSR)], o. D. Aus einem Beiblatt (Bl. 1) geht hervor, dass es sich um die Vorbereitung der Reise einer MfS-Delegation unter Leitung Mielkes im April 1972 nach Moskau handelte. BStU, MfS, ZAIG Nr. 5135, Bl. 3–7.

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zu sichern. Dann ging er auch kurz auf die Position der NATO-Staaten ein. Sie würden zum zentralen Thema der Konferenz ihr »eigenes Programm« machen wollen: »Fragen der sogenannten ›Freizügigkeit von Menschen und Ideen‹, der ›Freiheit der Information‹ usw.«. Darauf werde man »klassenmäßig« antworten und die »Prinzipien der Souveränität« und der »Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten« betonen.95 Das klang so, als ob dieses Vorgehen der Gegenseite zwar lästig, aber nicht besonders beachtlich sei, denn man glaubte, die eigene Position auf allgemein anerkannte Grundsätze des Völkerrechts stützen zu können. So wie Mielke sah die SED-Führung die möglichen Nachteile der Verhandlungen über eine ESK, aber auch ihre möglichen Vorteile. Für sie war das Ergebnis der Verhandlungs- und Vertragskaskade der letzten Jahre mit dem Westen ambivalent. Einerseits hatte sie ihre weitgehende internationale Isolierung überwunden. Selbst für das Verhältnis zum anderen deutschen Staat war eine geregelte Form gefunden worden, die neue wirtschaftliche Möglichkeiten, allerdings auch politische Gefahren barg. Andererseits hatte sie die Erfahrung machen müssen, dass ihre Schutzmacht Sowjetunion sich zum Teil über ihre Interessen hinweggesetzt hatte. Sie hatte nicht auf der uneingeschränkten völkerrechtlichen Anerkennung der DDR beharrt und sogar den »Brief zur deutschen Einheit« widerspruchslos entgegengenommen. Die kleineren Bündnispartner im Warschauer Pakt wie Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei waren keine Hilfe gewesen, von Rumänien ganz zu schweigen. Die nun möglich gewordene Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa bot die Gelegenheit, das, was völkerrechtlich nicht zu erreichen gewesen war, zumindest symbolisch zu erlangen: als gleichberechtigter Mitspieler auf der Bühne der internationalen Politik akzeptiert zu werden, vielleicht sogar nachzuholen, was bisher nicht gelungen war und die Bundesrepublik mit ihrer Anerkennung zweiter Klasse zu isolieren. Zudem konnte eventuell mit anderen Partnern auf der westlichen Seite, die die staatliche Existenz der DDR nicht grundsätzlich infrage stellten, einiges erreicht werden, was im deutsch-deutschen Verhältnis gefährliche politische Implikationen hatte.96 Die SED-Führung hatte Grund zu der Hoffnung, dass ihre Verbündeten der DDR die

95  Stenogramm des Freundschaftstreffens führender Vertreter der kommunistischen und Arbeiterparteien, 31. Juli 1972, S. 17; SAPMO BA, DY 30, J IV 2/2A/1617. 96  Erich Honecker, der wenige Monate zuvor als neuer Parteichef berufen wurde, präsentierte im Juni 1971 auf dem VIII. Parteitag der SED ein Fünf-Punkte-Programm zu den Schwerpunkten künftiger Außenpolitik. Als erste Aufgabe bezeichnete es, hinzuarbeiten auf »die baldmögliche Einberufung einer europäischen Sicherheitskonferenz«. Die DDR, erklärte Honecker weiter, sei bereit, an einer solchen Konferenz »als gleichberechtigter Teilnehmer« mitzuwirken. Protokoll der Verhandlungen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 15 bis 19. Juni 1971, Berlin 1971, S. 54. Damit wurde das zentrale Anliegen der SED-Führung angesprochen, das sie auch mit der KSZE verband: aus der Isolation herauszufinden und als Staat völkerrechtlich anerkannt zu werden. Vgl. Bock, Siegfried: Die DDR im KSZE-Prozess. In: ders.; Muth, Ingrid; Schwiesau, Hermann (Hg.): DDR-Außenpolitik im Rückspiegel. Diplomaten im Gespräch (Politikwissenschaft; 106). Münster 2004, S. 102–117, hier 104.

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notwendige Unterstützung bei der KSZE geben würden, weil sie die notwendigen Opfer an Bonn für das Zustandekommen der KSZE gebracht hatte.97

2.2.1 Die Sowjetunion, die DDR und die KSZE-Verhandlungen, 1972 bis 1975 Schnell zeigte sich Moskau aber in Fragen der kulturellen Beziehungen und der »freieren Bewegung« in den KSZE-Verhandlungen konzessionsbereiter als die SED oder das MfS. Während der verschiedenen Phasen der Vor- bzw. Verhandlungen der KSZE machte die sowjetische Delegation maßgebliche Zugeständnisse ohne vorherige Genehmigung oder auch nur Konsultationen mit der DDR. Diese Konzessionen wurden in Bereichen gemacht, die die Sicherheit des SED-Regimes berührten – nicht nur in Fragen der »freieren Bewegung« oder (später) des III. Korbes, sondern auch der Menschenrechte und der friedlichen Änderung von Grenzen (einer Möglichkeit, die die Bundesrepublik unbedingt für eine künftige Wiedervereinigung Deutschlands offenlassen wollte). Konsultationen in Helsinki (22.11.1972–8.6.1973) Die ersten beiden größeren Zugeständnisse Moskaus an den Westen kamen während der »multilateralen Konsultationen« zur Vorbereitung einer KSZE in Dipoli außerhalb Helsinkis vom 22. November 1972 bis 8. Juni 1973. Am 15. Januar informierte Gromyko die Außenminister der anderen WP-Staaten über Moskaus Bereitschaft, einen dritten Tagesordnungspunkt »über die kulturelle Zusammenarbeit« aufzunehmen, »wobei die Entwicklung von Kontakten zwischen Organisationen und Menschen und die Verbreitung von Informationen einbezogen wird«.98 97  Außenminister Otto Winzer hatte zum Beispiel auf den Beitrag seiner Regierung für die Vorbereitung einer europäischen Sicherheitskonferenz bei einem Treffen der Außenminister des Warschauer-Paktes im Dezember 1971 nachdrücklich hingewiesen. Dabei erwähnte er die Zugeständnisse der DDR im Transitabkommen mit dem Senat von Berlin, durch den die Westberliner die Möglichkeit erhielten, 30 Tage pro Jahr besuchsweise in die DDR zu fahren. Siehe Rede von Otto Winzer auf dem Außenminister-Treffen in Warschau am 1.12.1971; SAPMO BA, DY 30-13868. Honecker klagte Jahre später gegenüber Gromyko, die Ostverträge seien schließlich »nicht auf Wunsch der DDR« abgeschlossen worden. Vgl. Altrichter, Helmut: »Entspannung nicht auf Kosten des Sozialismus«. Das Treffen Andrei Gromyko – Erich Honecker am 11./12. Mai 1978. In: VfZ 59 (2011) 1, S. 120–147, hier 126. 98  Gromyko rechtfertigte die neue Herangehensweise als eine (Gegen-)Offensive des Ostens: Am 15. Januar 1973 informierte der Außenminister die anderen WP-Staaten über Moskaus Bereitschaft, dem Westen weiter entgegenzukommen. Moskau sei zu dem Schluss gekommen, so Gromyko, es sei möglich, »eine offensivere Position bezüglich der Erörterung von Fragen der kulturellen Zusammenarbeit und von Kontakten zwischen den Menschen sowie der Ausweitung der Information auf der

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Trotz der Sorgen Ostberlins legte der sowjetische Delegationsleiter und Botschafter in Finnland, Wiktor Malzew, in der folgenden Woche, am 22. Januar 1973, auf den multilateralen Verhandlungen in Helsinki einen entsprechenden Vorschlag zur Tagesordnung vor, deren 3. Punkt »Ausweitung der kulturellen Zusammenarbeit, von Kontakten zwischen Organisationen und Menschen und der Verbreitung von Informationen« lautete.99 Damit wurde einer zentralen westlichen Forderung entsprochen, wobei allerdings völlig offen war, wie dieser Punkt inhaltlich ausgestaltet werden würde. In dem darauffolgenden Treffen der Arbeitsgruppe zu Korb III stellte Sorin in aller Deutlichkeit klar, dass menschliche Kontakte aus sowjetischer Sicht Teil der kulturellen Zusammenarbeit seien und nicht autonom behandelt werden dürften. Jegliche Aussage über größere Freizügigkeit sei eine unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten.100 So »delikate Probleme« wie die Heirat mit Ausländern und Familienzusammenführung könnten nur bilateral gelöst werden.101 Die 3. Sitzungsperiode endete deshalb am 6. April mit einem Stillstand bei Korb III, während die Verhandlungen über Korb I (Prinzipien) und II (Wirtschaft) vorangekommen waren. Das zweite größere Zugeständnis Moskaus kam am 17. Mai 1973. Die sowjetische Delegation in Helsinki machte einen neuen Vorschlag zur Präambel von Korb III, in dem nur noch ein allgemeiner Bezug auf den Prinzipienkatalog in Korb I enthalten war, ohne diesen konkret aufzuzählen.102 Bis dahin hatte sie und die anderen östlichen Delegationen darauf bestanden, dass in der Präambel gesamteuropäischen Konferenz einzunehmen«. Deshalb schlage man vor, einen dritten Tagesordnungspunkt ›über die kulturelle Zusammenarbeit‹ aufzunehmen, ›wobei die Entwicklung von Kontakten zwischen Organisationen und Menschen und die Verbreitung von Informationen einbezogen wird‹.« Rede Gromykos auf dem Außenministertreffen in Moskau am 15./16.1.1973; SAPMO BA, J IV 2/2A/1655, Bl. 42–50, hier 46. Er zitierte in diesem Zusammenhang eine Rede Breschnews zum 50. Jahrestag der Sowjetunion: »Man hört des Öfteren, im Westen messe man der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Kultur und insbesondere dem Austausch von Ideen, der Ausweitung der Information sowie Kontakten zwischen den Völkern Bedeutung bei. Gestatten Sie mir, hier ganz eindeutig zu erklären: Auch wir treten dafür ein. […] Wir sind für die Erweiterung des Touristenaustauschs. Wir sind für ausgedehnte Kontakte zwischen der Öffentlichkeit der verschiedenen Länder, für Begegnungen zwischen der Jugend, zwischen Vertretern verwandter Berufe, kollektive oder individuelle Reisen von Bürgern.« Siehe Rede L. Breschnews zum 50. Jahrestag der Bildung der UdSSR am 21.12.1972. In: ders.: Auf dem Wege Lenins. Reden und Aufsätze, Bd. 4. Berlin 1975, S. 48–109, hier 85. 99  Vgl. AdG, S. 17779; AAPD 1973, S. 66, Fn 23; Bender, Peter: Grünes Licht aus Moskau. In: Die Zeit v. 26.1.1973; Ferraris (Hg.): Report on a Negotation, S. 15; Hanisch: Die DDR im KSZE-Prozess, S. 53 f. 100  Vgl. Ferraris (Hg.): Report on a Negotation, S. 27 f. u. 54. 101  Vgl. DBPO III/II, S. 118, Fn 11. 102  Vgl. Ferraris (Hg.): Report on a Negotation, S. 33 u. 35; Hanisch: Die DDR im KSZEProzess, S. 62. Zuvor hatte noch ein Treffen der stellvertretenden Außenminister der Warschauer-Pakt-Staaten stattgefunden, bei dem Nikolai Rodionow die Anerkennung des Prinzips der »Unverletzlichkeit der Grenzen« als den bisher bedeutendsten Erfolg in den Konsultationen bezeichnete. Vgl. den Bericht der ungarischen Delegation: Report on the 21-22 May 1973 Meeting of the Warsaw Treaty Countries' Deputy Foreign Ministers. In: PHP Records of the Meetings of

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zu Korb III die Prinzipien der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, der Respektierung der Souveränität und der jeweiligen einzelstaatlichen Gesetzgebung ausdrücklich bekräftigt werden sollten. Diese Position war für die westlichen Staaten inakzeptabel, weil damit den Prinzipien unterschiedliche Bedeutung zugemessen worden wäre und alle konkreten Absichtserklärungen hinsichtlich kultureller Beziehungen und freierem Fluss von Informationen im Folgenden entwertet worden wären.103 Der Rückzug Moskaus kam erst, nachdem der US-amerikanische Nationale Sicherheitsberater und spätere Außenminister Henry Kissinger, der selbst nicht viel von der KSZE oder der Wirksamkeit des Prinzips der »freieren Bewegung« hielt, am 6. Mai Gromyko versichert hatte, dass »wir [d. h. die USA] auf menschliche Kontakte nicht mit dem Ziel zu sprechen kommen, die Sowjetunion in Verlegenheit zu bringen. Wir gehen sie konkret an, nicht als Mittel, um etwas Abstraktes zu erreichen. Wir werden sie als Verkörperung und Reflexion der Prinzipien behandeln, auf die wir uns geeinigt haben.« Gromyko hatte sich mit Kissingers Aussage zufrieden gegeben: »Das ist exakt so, wie wir es sehen.«104 Am 8. Juni 1973 war es schließlich so weit, dass man sich in Helsinki auf »Schlussempfehlungen« geeinigt hatte: Vorschläge für die Außenministerkonferenz Anfang Juli und ein strukturiertes Arbeitsprogramm für die Sitzungen der Kommissionen und Unterkommissionen ab September 1973. Im ersten Teil wurden zehn »Prinzipien« vorgeschlagen: 1. Souveräne Gleichheit, Achtung der der Souveränität innewohnenden Rechte, 2. Enthaltung von der Androhung oder Anwendung von Gewalt, 3. Unverletzlichkeit der Grenzen, 4. Territoriale Integrität der Staaten, 5. Friedliche Regelung von Streitfällen, 6. Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, 7. Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit, 8. Gleichberechtigung und Selbstbestimmungsrecht der Völker, 9. Zusammenarbeit zwischen den Staaten, 10. Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen nach Treu und Glauben.105 Diese Prinzipien seien »gleichermaßen und vorbehaltlos zu achten und anzuwenden«. the Deputy Foreign Ministers (15.4.2011). Vgl. unter Bezug auf ein Telegramm Elliotts v. 7.5.1973 DBPO III/II, S. 122, Fn 5. 103  Vgl. Ferraris (Hg.): Report on a Negotation, S. 29 f. 104  »Memorandum of Conversation« vom 6.5.1973. In: Selvage, Douglas (Hg.): FRUS 1969– 1976, Vol. XXXIX: European Security, 1969–1976, S. 452–464, hier 453, 460 f. 105  Schlussempfehlungen der Helsinki-Konsultationen, Helsinki 1973, S. 5 f.

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Bei dem am längsten und am heftigsten umstrittenen Korb III wurde nun in der Präambel nur noch allgemein auf den Prinzipienkatalog verwiesen. Etwas konkreter wurde es im Anschluss. Die Kommission zur »Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen« sollte u. a. folgende Fragen »einer wohlwollenden Prüfung und Regelung« unterziehen: –– »Begegnungen auf der Grundlage familiärer Bindungen; Familienzusammenführung; Eheschließungen zwischen Angehörigen verschiedener Staaten«, –– »Reisen aus persönlichen oder beruflichen Gründen«, –– »Verbesserung der Verbreitung und des Zuganges zu mündlicher, gedruckter, gefilmter und gesendeter Information sowie die Erweiterung des Informations­ austausches«, –– »Verbesserung der Bedingungen, unter denen Journalisten aus einem Teilnehmerstaat ihren Beruf in einem andern Teilnehmerstaat ausüben«.106 In der folgenden Woche konzedierte der sowjetische Delegationsleiter Lew Mendelewitsch in der Diskussion über die Prinzipien, dass die friedliche Vereinigung von Staaten und die Beseitigung von Grenzen möglich sein müssten und dass die Prinzipien der Beachtung der Menschenrechte und der Selbstbestimmung aufgenommen werden dürften.107 Die Konzession der westlichen Staaten, vor allem der Bundesrepublik, bestand darin, dass die Unverletzlichkeit der Grenzen als eigenes Prinzip und nicht als Unterpunkt des Gewaltverbots aufgeführt wurden. Das mag als bloßer Streit um Worte wirken, machte aber völkerrechtlich einen erheblichen Unterschied: Aus Sicht der Bundesrepublik sollten nur gewaltsame Grenzänderungen untersagt werden, die Warschauer-Pakt-Staaten aber hätten ursprünglich am liebsten jede Grenzänderung verboten. Die SED-Führung, die sich von der KSZE-Schlussakte einen endgültigen Verzicht auf eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten erhoffte, hätte sich nach dem damaligen Stand nicht auf dieses Dokument berufen können, um die Rede von der »offenen deutschen Frage« als »revanchistisch« zu denunzieren. Nach dem erfolgreichen Abschluss der Vorverhandlungen versammelten sich die Außenminister der Teilnehmerstaaten in Helsinki vom 4. bis 7. Juli 1973 für die 1. Phase der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Sie bestätigten die Schlussempfehlungen der Vorverhandlungen und trugen ihre Auslegungen des schon Erreichten in ihren Reden vor.108 106  Ebenda, S. 10 f. 107  Vgl. Ferraris (Hg.): Report on a Negotation, S. 33 u. 35; Hanisch: Die DDR im KSZEProzess, S. 62. 108  Für eine Zusammenfassung des Außenministertreffens siehe Hanisch: Die DDR im KSZE-Prozess, S. 63–69. Eine Dokumentation der Grundsatzerklärungen enthält: Volle, Hermann; Wagner, Wolfgang (Hg.): KSZE. Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in Beiträgen aus dem Europa-Archiv. Bonn 1976, S. 165–209; die ungekürzten Texte sind zu finden in: SAPMO BA, DY 30, IV B/2/20 610.

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2. Phase der KSZE: Verhandlungen in Genf, September 1973 bis Juni 1975 Auf Grundlage der Schlussempfehlungen von Helsinki und mit dem formellen Segen der Außenminister begannen die Verhandlungen der zweiten Phase der KSZE in Genf am 18. September 1973. Im Zusammenhang mit den Menschenrechten (Prinzip 7) betrachteten die westlichen Staaten es als großen Schritt vorwärts, dass auf einer internationalen Konferenz darüber verhandelt wurde und dass deren Beachtung als Faktor internationaler Sicherheit anerkannt wurde.109 Dagegen sahen die Warschauer-Pakt-Staaten darin durchaus zutreffend einen Versuch zur Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten, stellten aber das Prinzip selbst nicht mehr infrage, da sie der Thematisierung bereits in der Konsultationsphase zugestimmt hatten. Trotzdem wollte der Osten den Schwerpunkt der Genfer Verhandlungen auf den »Respekt für die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Grundlagen anderer Staaten«110 legen. Bei Korb III ging es aus westlicher Sicht darum, möglichst konkrete Vereinbarungen über die freiere Bewegung von Personen, Ideen und Informationen zu treffen, während die Warschauer-Pakt-Staaten nicht so konkret werden wollten, die Priorität auf den staatlich organisierten und kontrollierten Kultur- und Jugendaustausch legten und durch eine Präambel mit einzelstaatlichem Gesetzesvorbehalt die konkreten Festlegungen entkräften wollten.111 Über die größere Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Ost und West hinaus hatten manche westeuropäischen Staaten, darunter die Bundesrepublik, weitergehende Ziele, die dazu führten, dass auch die NATO-Staaten keine einheitliche Position verfochten: Sie hofften, mit den KSZE-Vereinbarungen zu einer inneren Liberalisierung beizutragen, während etwa Henry Kissinger »die Vorstellung, das Sowjetsystem durch ›Korb 3‹ zu transformieren«, für geradezu »absurd« hielt.112 Und selbst von Willy Brandt wird durch Egon Bahr im gleichen Zusammenhang kolportiert, er habe unwirsch bemerkt, »man könne die Kommunisten nicht am Grünen Tisch dazu bewegen, sich selbst abzuschaffen«.113 Wegen Streitigkeiten über die Tagesordnung der Verhandlungen, die mit der unterschiedlichen Interessenlage des Ostens und Westens zusammenhingen, begann erst ab Ende Februar/Anfang März 1974 die Diskussion über die Aus-

109  Vgl. Ferraris (Hg.): Report on a Negotation, S. 106. 110  Vgl. ebenda, S. 105 f. 111  Vgl. Vermerk von C. C. C. Tickell, Leiter des Western Organizations Department im britischen Außenministerium, zum Verhandlungsstand bei Korb III vom 15.3.1974. Als Anhang ist eine konzise Zusammenfassung der westlichen Vorschläge beigefügt. In: DBPO III/II, S. 250–253. 112  Schreiben von Kissinger vom 5.7.1974 an Brent Scowcroft, den stellvertretenden Referenten des Präsidenten für Fragen der Nationalen Sicherheit; FRUS 1969–1976, XXXIX, S. 685. 113  Bahr, Egon: Die deutsche Ostpolitik und der Weg nach Helsinki. In: OSCE Yearbook 2005. Hamburg 2005, S. 23–28, hier 24.

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arbeitung der Texte zu den einzelnen Prinzipien und zu Korb III.114 Zu einem ersten scharfen Konflikt kam es über das Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen und in Verbindung damit der Möglichkeit, sie auf friedlichem Weg zu ändern. Schließlich einigte man sich am 5. April darauf, dass beide Regelungen getrennt werden sollten: In Prinzip 3 wurde entsprechend der sowjetischen Forderung die Unverletzlichkeit der Grenzen ohne Einschränkung festgeschrieben. Davon getrennt sollte, wie von der Bundesrepublik verlangt, die Möglichkeit ihrer friedlichen Änderung benannt werden, offen blieb noch, an welcher Stelle innerhalb des Prinzipienkatalogs.115 Nachdem die Sowjetunion ihr wichtigstes Ziel wenn auch mit Einschränkungen erreicht hatte, gingen die Verhandlungen nur noch schleppend voran. Der stellvertretende Leiter der italienischen Delegation Luigi Ferraris spricht für die folgenden Monate von einer »Atmosphäre von Unnachgiebigkeit, Streit und Schwierigkeiten«.116 Washingtons westeuropäische Verbündete bestanden darauf, möglichst viele, konkrete und bindende Maßnahmen zu »freierer Bewegung« in Korb III zu erreichen, während Moskau und seine Verbündeten Korb III möglichst auf staatlich kontrollierte kulturelle Zusammenarbeit und offizielle Kontakte beschränken wollten. Ein Gambit von Gromyko und Kissinger, der wenig von dem »Basket III crap [Korb-III-Mist]«117 hielt, bis Mitte 1974 eine Vereinbarung über einen »Minimalkatalog« für Korb III zu erreichen, brachte nichts. Es stärkte im Gegenteil den Widerstand der Länder der Europäischen Gemeinschaften (EG), die den Supermächten nicht nachgeben wollten. Ein Schreiben Breschnews an die wichtigsten westlichen Regierungschefs Anfang März 1975 brachte auch wenig; er forderte, den Termin für das abschließende KSZE-Gipfeltreffen »bindend« auf Ende Juni festzulegen.118 Die Initiative Breschnews führte gerade bei Korb III keineswegs zu mehr Bewegung in den Verhandlungen – im Gegenteil. Die sowjetische Delegation, die wenigstens zum Teil aus geübten Diplomaten bestand, wusste, dass sie in diesem Bereich und ebenso bei den »vertrauensbildenden Maßnahmen« (Voranmeldung von militärischen Manövern) Konzessionen machen musste, um zu einem Abschluss zu kommen, aber vermutlich war ihr auch bewusst, dass sich ihre Position durch Breschnews Initiative verschlechtert hatte. Die westlichen Delegationen warteten auf sowjetische Zugeständnisse und spielten auf Zeit. 114  Nach einem Vierteljahr hatte der britische Botschafter Elliott Mitte Dezember 1973 aus Genf nach London gemeldet: »The real negotiation has yet to begin.« Mr. Elliott (Geneva) to Sir A. Douglas-Home, 15.12.1973. In: DBPO III/II, S. 213–222, hier 213. 115  Vgl. Ferraris (Hg.): Report, S. 114–122. 116  Ebenda, S. 122 f. 117  Siehe Memorandum of Conversation, 22.3.1974. In: Selvage, Douglas (Hg.): FRUS 1969–1976, Vol.  XXXIX: European Security, 1969–1976, S. 568–574, hier 573. Verfügbar online: https://history.state.gov/historicaldocuments/frus1969-76v39/pg_573. 118  Dokument in: AAPD 1975, S. 254 f.

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Ein Durchbruch gelang erst am 29. Mai 1975, als die Sowjetunion bilateral – anscheinend wieder ohne die vorherige Einbeziehung ihrer Verbündeten – in der Frage einer vom Westen vorgeschlagenen »Paketlösung« in Form einer »Global Initiative for Human Contacts and Information« einknickte. An diesem Abend trafen sich die KSZE-Vertreter der Vier Mächte in einem Nebenraum des Edelrestaurants Parc des Eaux Vives. Bis zu diesem Zeitpunkt lag noch keine Antwort aus Moskau vor. Von diesem Treffen gibt es zwei, bis auf einige Details übereinstimmende Zeitzeugenberichte: von dem britischen Verhandlungsführer für Korb III in Genf Michael Alexander und dem stellvertretenden US-Delegationsleiter John Maresca. Demnach begann das Gespräch wie geplant, auch Dubinin war erschienen. Kowaljow habe nervös und verbissen gewirkt. Mitten während des Hauptgangs sei er ans Telefon gerufen worden und habe danach aufgeregt mit Dubinin geflüstert. Wenig später tauchte ein weiterer Überraschungsgast auf, in der Hand ein zerknülltes Telegramm: Sergei Kondraschow, der KGB-Verbindungsmann zu Andropow. Er brachte die neuen Instruktionen aus Moskau. Die sowjetischen Teilnehmer zogen sich für einige Minuten zurück und diskutierten, dann eröffnete Kowaljow die nächste Gesprächsrunde, sprach noch einmal von einem »Ultimatum«, dem er den »flexiblen« Ansatz der Sowjets gegenüberstellte, und erklärte, sie seien bereit, Konzessionen zu machen, um Verhandlungen über die »global initiative« zu ermöglichen.119 Es war dann die Aufgabe von Dubinin, die entsprechenden Punkte zu verlesen.120 Die sowjetische Seite würde unter anderem grundsätzlich konzedieren: –– erweiterte Reisemöglichkeiten, –– Erleichterung von Familienzusammenführungen, –– Auslandskorrespondenten sollten nicht wegen der legitimen Ausübung ihrer beruflichen Aufgaben ausgewiesen werden, –– die Verbreitung von Informationen durch Radiosendungen sollte ausgeweitet werden (das war eine verklausulierte Absage an Störsender); die sowjetische Forderung, dass die Unterzeichnerstaaten für den Inhalt der ausgestrahlten Sendungen verantwortlich seien, wurde fallengelassen.121 119  Alexander, Michael: Managing the Cold War: A View from the Front Line. London 2005, S. 53 f. 120  In diesem Punkt widersprechen sich die Zeitzeugen. In ihren Jahre später verfassten Erinnerungen berichten zwar sowohl Maresca wie Alexander, dass Kowaljow die neue sowjetische Position vorgetragen habe. Ebenda, S. 54; Maresca, John J: To Helsinki: the Conference on Security and Cooperation in Europe, 1973–1975. Durham 1985, S. 151. Aber in einem Schreiben nach London, das er zwei Tage nach jenem bemerkenswerten Abend verfasste, berichtete Alexander mit einer gewissen Schadenfreude, dass Dubinin mit der für ihn »galling task« betraut worden sei, die sowjetischen Konzessionen bekanntzugeben. Schreiben von Alexander an Burns, 30.5.1975. In: DBPO III/II, S. 410–413. 121  Vgl. Maresca: To Helsinki, S. 151; Alexander: Managing the Cold War, S. 54; Anatoly Kovalev: Looking Back on the Helsinki Final Act. In: Transition 1 (1995) 11, S. 25.

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Bereits am folgenden Tag wurden die offiziellen Verhandlungen über Korb III wieder aufgenommen. Die sowjetische Delegation hatte die Zahl ihrer Abänderungsvorschläge zu dem westlichen Paketvorschlag von 46 auf 23 halbiert, und vor allem enthielten sie keine absolut inakzeptablen Forderungen mehr (wie die Einführung einer Rundfunkzensur im Westen). Die Verhandlungen schritten nun zügig voran.122 Auch bei den anderen offenen Punkten wie den vertrauensbildenden Maßnahmen zeichneten sich jetzt einvernehmliche Lösungen ab.123 John Maresca von der amerikanischen Delegation kommentiert das Ergebnis mit den Worten: »We were on our way to Helsinki!«124 Als Termin für die 3. Phase der KSZE, die nun auf höchster Ebene stattfinden würde, wurde die Zeit vom 30. Juli bis zum 1. August in Helsinki festgelegt. Es ergibt sich die Frage: Warum machte die Sowjetunion in den KSZE-­ Verhandlungen von 1972 bis 1975 – zumindest schriftliche – Zugeständnisse an den Westen in Form des Menschenrechtsprinzips (Prinzip 7), der menschlichen Kontakte im Korb III und der friedlichen Änderung der Grenzen? Es gab vier wesentliche Gründe, die schon angedeutet wurden: 1. Ohne diese hätte der Westen weder dem Zustandekommen einer europäischen Sicherheitskonferenz noch der daraus entstandenen KSZE-Schlussakte zugestimmt. Die Sowjetunion und die DDR hätten dann ihre größeren Ziele in den Körben I und II der Schlussakte nicht erreicht. 2. Breschnew betrachtete den erfolgreichen Abschluss einer europäischen Sicherheitskonferenz als die Krönung seiner Entspannungspolitik, deren Erfolg er, trotz seines sich verschlechternden Gesundheitszustandes, noch erleben wollte. Der Westen konnte den »erheblichen Zeitdruck«, unter den die UdSSR sich stellte, nutzen, um »echte Zugeständnisse der osteuropäischen Länder« zu erreichen.125 3. Der führende US-Außenpolitiker Henry Kissinger, der wie Präsident Richard Nixon einen möglichst schnellen Abschluss der Konferenz mit einem wenig gehaltvollen Schlussdokument erreichen wollte, überzeugte Gromyko und Breschnew, dass die USA die Zugeständnisse des Ostens nicht für die Einmischung in seine inneren Angelegenheiten nutzen würden.126 Obwohl dies die 122  Vgl. die Telegramme von Hildyard an Callaghan vom 7.6.1975 und von Burns an Tickell vom 12.6.1975. In: DBPO III/II, S. 413–418. 123  Zu den Verhandlungen über vertrauensbildende Maßnahmen (CBM) im 1. Halbjahr 1975 vgl. Fischer: Neutral Power, S. 298–307. 124  Maresca: To Helsinki, S. 152. 125  Vgl. Botschafter Krapf, Brüssel (NATO), an das Auswärtige Amt am 26.1.1973. In: AAPD 1973/1, Dok. Nr. 24, S. 133–138, hier 135, die Zitate ebenda. Vgl. auch Hanisch: Die DDR im KSZE-Prozess 1972–1985, S. 45. 126  Zu Kissingers Wahrnehmung der KSZE und seiner Rolle siehe Hanhimäki, Jussi M.: »They can write it in Swahili«: Kissinger, the Soviets, and the Helsinki Accords, 1973–75. In: Journal of Transatlantic Studies 1 (2003) 1, S. 37–58. Vgl. auch Suri, Jeremy: Henry Kissinger and the Reconceptualization of European Security, 1969–75: In: Wenger, Andreas; Mastny,

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prinzipielle Meinung Kissingers war,127 konnte er weder für die Länder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft noch – wie es sich herausstellte – für künftige US-Administrationen sprechen. 4. Moskau meinte, es habe genug Formulierungen in die KSZE-Schlussakte – insbesondere mit der souveränen Gleichheit und der Nichteinmischung im Prinzipienkatalog – eingebaut, damit der Osten die Zugeständnisse in Form des Menschenrechtsprinzips und des Korbes III beliebig auslegen bzw. ignorieren könnte.

2.2.2 Die DDR und die sowjetischen Zugeständnisse Wie im Falle der bilateralen Verhandlungen mit Bonn in den Jahren 1969 bis 1972 hatte die DDR während der KSZE-Verhandlungen nicht das Sagen. Die sowjetische Vormacht unter der Führung Breschnews hatte längst klargestellt, dass sie die entspannungspolitische Tagesordnung für den Osten bestimmte. Wann immer die DDR mit den Zugeständnissen der UdSSR in den KSZE-Verhandlungen nicht einverstanden war, konnte sie ihre Sorgen nur gegenüber Moskau zum Ausdruck bringen. Weil die DDR in vielen Fällen erst nachträglich von bedeutenden Konzessionen erfuhr, kann man nicht von echten Konsultationen der UdSSR mit der DDR – und vermutlich auch nicht mit den anderen kleineren Warschauer-Pakt-Staaten – sprechen. Zumindest im Fall des ersteren größeren Zugeständnisses Moskaus während des Vorbereitungstreffens in Helsinki – nämlich der Annahme eines dritten Tagesordnungspunktes über kulturelle Zusammenarbeit, die menschliche Kontakte miteinbeziehen würde – hatte Gromyko gegenüber Winzer eine solche Möglichkeit vor deren Verkündung auf dem Treffen der Außenminister des Warschauer Pakts am 16. Januar 1973 angedeutet.128 Auf dem Außenministertreffen wagte Winzer Vojtech; Nuenlist, Christian (Hg.): Origins of the European Security System. The Helsinki Process Revisited, 1965–75. Abingdon, New York 2008, S. 46–64; Morgan, Michael Cotey: North America, Atlanticism and the Making of the Helsinki Final Act. In: ebenda, S. 25–45. 127  So erklärte Kissinger 1973 in seiner Anhörung vor dem Kongress: »… despite some very painful aspects in the Sakharov case, and despite the inevitable sympathies produced by my origin for the plight of minority groups that are denied the right of free emigration, I can not in good conscience recommend as a principle of American foreign policy that our entire foreign policy should be made dependent on that particular aspect of domestic structure of the Soviet Union.« Nomination of Henry A. Kissinger. Hearings before the Committee on Foreign Relations, United States Senate, Ninety-third Congress, first session, on nomination of Henry A. Kissinger to be Secretary of State, U.S. GPO,Washington 1973, T. I, S. 40. 128  Bei einem Gespräch in Moskau hatte der sowjetische Außenminister erklärt, »um den Franzosen entgegenzukommen, sollten wir darauf eingehen, in den zweiten Tagesordnungspunkt nach Fragen der Kultur auch Fragen des Informationsaustausches aufzunehmen«, zudem sollte der 2. Tagesordnungspunkt »in zwei Punkte aufgegliedert« werden. Konsultation von Winzer mit

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nicht, den früheren Erklärungen Breschnews und Gromykos zu widersprechen. Stattdessen betonte er vor allem seine Zustimmung zu Breschnews Aussage, »dass bei dieser Zusammenarbeit die Souveränität, die Gesetze und Gepflogenheiten der einzelnen Länder strikt geachtet werden müssen«. In der DDR habe man bei der »Regelung des Reiseverkehrs mit der BRD und Westberlin« einschlägige Erfahrungen gemacht und festgestellt: »Daraus ergeben sich für uns komplizierte Probleme der ideologischen Auseinandersetzung.«129 Bei einem Treffen der Delegationsleiter der WP-Staaten in Helsinki am selben Tag erklärte der ostdeutsche Delegationsleiter und Leiter der DDR-Handelsvertretung in Helsinki, Botschafter Heinz Oelzner, dass Versuche der NATO-Staaten »sichtbar geworden [sind] und diese werden sich künftig sicherlich verstärken, die Konferenz entsprechend ihren eigenen Zielstellungen umzufunktionieren sowie die Bedeutung und die Autorität dieser Beratung zu vermindern«. Oelzner schlussfolgerte, dass »wir konsequent an unserer vereinbarten [d. h. harten] Linie festhalten, die sich in der Praxis bewährt hat«.130 Oelzners Kommentar kam als Antwort auf die Feststellung des sowjetischen Botschafters und Delegationsmitglieds Malzew: »Möglicherweise wird es notwendig sein, durch zusätzliche Schritte bzw. Vorschläge unsererseits die Konsultation voranzubringen.«131 Trotz der Sorgen Ostberlins machte Malzew das schon erwähnte Zugeständnis an den Westen am 22. Januar 1973 (siehe oben). Auf dem nächsten Treffen der Delegationsleiter des Ostens in Helsinki am 12. Februar hob Oelzner ganz loyal »die positive Wirkung der Vorschläge der Sowjetunion« in den Verhandlungen hervor.132 Anscheinend gab es keine Vorinformation der DDR oder der ostdeutschen Delegation, ehe Moskau bei dem Vorbereitungstreffen im Mai 1973 die nächste Reihe von Zugeständnissen an den Westen machte.133 Gromyko am 8.1.1973 in Moskau. In: DzD VI/3, 1973/1974, S. 3–11, hier 11; vgl. Hanisch: Die DDR im KSZE-Prozess, S. 52 f. 129  Rede des Genossen Winzer zum 2. Tagesordnungspunkt, 16.1.1972; SAPMO BA, J IV 2/2A/1655, Bl. 51–58, hier 56. 130  Krabatsch: Niederschrift über ein Treffen der Leiter der Vertretungen der Staaten des Warschauer Vertrages in Helsinki am 12. Januar 1973, 16.1.1973; PA AA, MfAA, C376/78, Bl. 62–66, hier 65 f. 131  Ebenda, Bl. 65. 132  Ingolf Hähnel, Botschaft der DDR in der Republik Finnland: Vermerk über eine Zusammenkunft der Botschafter der Warschauer Vertragsstaaten am 12.2.1973 in der Botschaft der ČSSR in Helsinki, 13.2.1973; PA AA, MfAA, C 376/78, Bl. 68–73, hier 71. 133  Hanisch: Die DDR im KSZE-Prozess, S. 60. Noch am 13. Mai 1973 hatte der stellvertretende Delegationsleiter der UdSSR die ostdeutsche Botschaft in Helsinki informiert, dass die sowjetische Delegation Instruktionen erhalten habe, »nicht von der Forderung nach Aufnahme der Prinzipien der Souveränität und Nichteinmischung in die Präambel des TOP 3 abzugehen«. Ingolf Hähnel: Vermerk zu einem Gespräch mit Gen. V. Sorin am 13.5.1973, 13.5.1973; PA AA, MfAA, C376/78, Bl. 94–96, hier 94. Es kann aber auch sein, dass zumindest der ostdeutsche Delegationsleiter Bock in die geplanten Zugeständnisse Moskaus eingeweiht wurde. Am 8. Mai berichtete die US-Botschaft in Bonn, dass Bock gegenüber dem bundesrepublikanischen Delega-

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Der Status der DDR war von vornherein bescheiden, weil sie auf einer internationalen Konferenz mit starker westlicher Präsenz zum ersten Mal beteiligt war. Wie sie von der sowjetischen Vormacht gesehen wurde, illustriert die folgende Episode. Bei der ersten Arbeitssitzung der Außenministerkonferenz am 3. Juli 1973 sollte Otto Winzer den Vorsitz innehaben. Damit dabei nichts schiefging, wurden DDR-Delegationsleiter Siegfried Bock und die Chefdolmetscherin Hannelore Trinks vorab in Moskau von Walerian Sorin und Lew Mendelewitsch eingewiesen. Der Ton, in dem das geschah, verrät einiges über das Verhältnis der sowjetischen Diplomaten zu ihren Bündnispartnern und speziell über das Bild, das sie von ihren DDR-Genossen hatten: Die Einführungsbemerkungen des Genossen Winzer als Vorsitzender der 1. Arbeits­ sitzung sollten sehr kurz sein. Die sowjetischen Genossen seien der Meinung, dass Genosse Winzer nicht länger als 1–2 Minuten sprechen sollte. Es sei gerade in diesem Zusammenhang wie überhaupt im gesamten Auftreten der DDR auf einer solchen Konferenz viel Vorsicht und Takt am Platz. […] Genosse Mendelewitsch bemerkte dazu, dass die Rede nicht in der Komintern gehalten werde.134

Winzer hat sich an diese Vorgabe gehalten und seines Amtes mit ausgesuchter Höflichkeit gewaltet.135 Trotz der Sorgen der sowjetischen Diplomaten über Winzers Rede hatte der ostdeutsche Außenminister selbst wenig Grund, irgendwelchen Streit auf der KSZE-Außenminister­konferenz anzustiften. Erst zwei Wochen zuvor war der Grundlagenvertrag in Kraft getreten, und in Helsinki traten DDR und BRD erstmals gemeinsam und gleichberechtigt auf einer internationalen Konferenz auf. Am ersten Tag trafen sich Walter Scheel und Otto Winzer in kleinem Kreis zu einem bilateralen Meinungsaustausch »in einer überraschend angenehmen und gelockerten Atmosphäre«. Es bestand Einigkeit, »die Konferenz nicht durch die Meinungsverschiedenheiten zwischen Bundesrepublik und DDR zu belasten«.136 tionsleiter Götz von Groll angedeutet habe, dass eine allgemeine Stellungnahme zu den Prinzipien in der Präambel zu Korb III möglicherweise angenommen werden könne. Siehe Telegramm 6566 von der amerikanischen Botschaft in Bonn an Department of State (1973BONN06566), 8.5.1973; CFPF, 1973–1979; RG 59, NARA, AAD. 134  MfAA/Abt. Grundsatz u. Planung: Vermerk über ein Gespräch mit Vertretern des MID am 27.6.1973 über Fragen der 1. Phase der Sicherheitskonferenz, 28.6.1973; PA AA, C 376/78, Bl. 97–102, hier 101; vgl. auch Hanisch: Die DDR im KSZE-Prozess, S. 65. 135  Vgl. Vorläufiges Wortprotokoll der 2. Sitzung in der Finlandia-Halle, Helsinki 3.7.1973; SAPMO BA, DY 30 IV B/2/20 610, S. 2/2-2/2a. 136  Schreiben von Ministerialdirektor van Well an Auswärtiges Amt, Helsinki 3.7.1973. In: AAPD 1973, S. 1121–1124; ebenso aus DDR-Sicht: Vermerk über ein Gespräch zwischen den Ministern für Auswärtige Angelegenheiten der DDR, Otto Winzer, und der BRD, Walter Scheel, am 3. 7.1973, Helsinki 3.7.1973, Protokollant: Dr. Bock; PA AA, C 376/78, Bl. 113–118. Obwohl Scheel gegenüber Winzer unterstrich, dass die Bundesrepublik die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands weiterhin für offen halte, ist die Einschätzung des Gesprächs bzw. der Aussagen Scheels zu den KSZE-Verhandlungen durch Oliver Bange etwas übertrieben. Er schreibt: »As the very first conversation between the foreign ministers of the two German states, Walter Scheel and

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Die Rede, die Otto Winzer als Repräsentant der DDR hielt, war zuvor vom Politbüro genehmigt worden.137 Er postulierte, dass »eine neue Ära der Entfaltung von Beziehungen der friedlichen Koexistenz« begonnen habe, betonte bei den Prinzipien vor allem »die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Achtung der territorialen Integrität« und äußerte in diesem Zusammenhang die Hoffnung, dass die »territorialen Realitäten« der Nachkriegszeit »durch die Sicherheitskonferenz ihre multilaterale Bestätigung finden«. Zu Korb III äußerte sich Winzer nur sehr vage: Entscheidend sei, dass die Zusammenarbeit »der Stärkung des Friedens, der Verständigung zwischen den Völkern und der geistigen Bereicherung« dienen müssten.138 Das waren Zitate aus Breschnews Rede ein halbes Jahr zuvor, die vor allem eines signalisierten: dass die Kontrolle durch Partei und Staat auf diesem Gebiet nicht aus der Hand gegeben werden sollte. Die DDR erwartete mehr, wie aus dem Abschlussbericht ihres Außenministeriums hervorgeht. Sie wertete die Konferenz als »Ausdruck der Wende vom ›Kalten Krieg‹ zur Entspannung und friedlichen Zusammenarbeit in Europa«, wobei jedoch »die NATO-Staaten die Bedeutung der Sicherheitskonferenz in den Augen der Öffentlichkeit herabmindern« wollten. Die beiden Punkte, bei denen sich verschärfte Auseinandersetzungen abzeichneten, die Frage von Grenzänderungen und Korb III, wurden in dem MfAA-Bericht nur kurz angesprochen: Bundesaußenminister Scheel habe »die unrealistische Position von der ›Einheit der Nation‹« vertreten, und die neun EG-Staaten wollten »die Souveränität der sozialistischen Staaten durch multilaterale Vereinbarungen über eine breite ›Freizügigkeit von Ideen und Personen‹« aushöhlen.139

Otto Winzer, indicated, in the long term nothing less than the existence of the GDR as a socialist state was at stake in the CSCE process.« Vgl. Bange: GDR in the Era of Détente, S. 70. 137  Die Bestätigung erfolgte am 28.6.1973 im Umlauf. Verglichen mit dem Wortprotokoll hat sich Winzer im Wesentlichen daran gehalten. Neben einigen Kürzungen ist der markanteste Unterschied, dass eine verdeckte Invektive gegen die Bundesrepublik weggelassen wurde. Arbeitsprotokoll der Politbürositzung am 26.6.1973; SAPMO BA, DY 30, J IV 2/2A/1694, Bl. 6, 114–132. 138  Rede von O. Winzer am 4.7.1973, 1973 in: Vorläufiges Wortprotokoll der 3. Sitzung in der Finlandia-Halle, Helsinki 4.7.1973; SAPMO BA, DY 30, IV B/2/20 610, S. 3/3-3/22. 139  Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten/Zentrum für Information und Dokumentation: Zum Verlauf und zu den Ergebnissen der 1. Phase der Europäischen Sicherheitskonferenz (Quelle: Delegation Helsinki), 9.7.1973, »Streng vertraulich«; BStU, MfS, SdM Nr. 2413, Bl. 194– 199; hs. Vermerk auf Bl. 194: »von MR-Sitzung [Ministerrats-Sitzung] am 11.7.73 mitgebracht«. Obwohl Scheel in seiner Rede Gewaltverzicht und das Grenzthema auch verband, betonte er ausdrücklich, dass es »das politische Ziel der Bundesrepublik Deutschland [ist], auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt«. Rede von W. Scheel vom 4.7.1973 in: Vorläufiges Wortprotokoll der 3. Sitzung in der Finlandia-Halle, Helsinki 4.7.1973; SAPMO BA, DY 30, IV B/2/20 610, S. 3/23–3/40.

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Die ostdeutsche Delegation zwischen Ostberlin und Moskau Die Rolle, die die DDR-Delegation bei den Genfer Verhandlungen spielen konnte, hing von zwei Grundfaktoren ab: von dem Spielraum, der ihr von der SED-Spitze etwa in den entsprechenden »Direktiven« eingeräumt wurde, und davon, wie sie in der Runde der anderen 34 Staaten und insbesondere unter den Warschauer-Pakt-Staaten aufgenommen wurde. Auf der einen Seite bekam sie von der SED-Führung praktisch keinen Spielraum eingeräumt, auf der anderen Seite drängte die sowjetische Delegation vor Ort auf mehr Flexibilität, insbesondere als Moskau sich kompromissbereit gegenüber dem Westen zeigte. Die entscheidende Person auf der DDR-Seite in den Verhandlungsphasen war Siegfried Bock, der Leiter der Hauptabteilung Grundsatz und Planung (HA G/P) im Außenministerium. In den Vorverhandlungen in Dipoli agierte er als stellvertretender Delegationsleiter und in Genf als Leiter der DDR-Delegation. Bock tendierte dazu, der Führung der sowjetischen Delegation zu folgen, und zeigte sich deshalb flexibler als die SED-Führung es vorsah. Während der 2. Phase wurden von der SED-Führung insgesamt vier Direktiven für die DDR-Delegation in Genf verabschiedet. Ihr politischer Inhalt war weitgehend identisch, gerade deshalb sind Differenzen aufschlussreich. War in der Direktive vom November 1972 noch verfügt worden, dass »abweichende Festlegungen« sofort der SED-Führung zur Genehmigung vorzulegen seien, so wurde diese Forderung in der ersten Direktive während der 2. Phase stillschweigend fallen gelassen. Sie war wiederum von Bock ausgearbeitet und am 21. August 1973, also kurz vor Beginn der Verhandlungsphase, vom Politbüro beschlossen worden.140 Die frühere Regelung hatte sich aus Sicht des Delegationsleiters als impraktikabel erwiesen und er konnte diese Änderung damals noch ohne größere Widerstände in Ostberlin durchsetzen.141 Ein Dauerthema in den Direktiven war, dass die DDR-Delegation »ihr inhaltliches und taktisches Vorgehen zu allen Fragen mit den Delegationen der UdSSR und der anderen Mitgliedstaaten des Warschauer Vertrages abzustimmen« habe.142 Das hat Bock durchaus gemacht. Der britische Botschafter berichtete zu Bock während der Konsultationsphase: »Er war der einzige osteuropäische Repräsentant, der an den Verhandlungen über wesentliche Fragen aktiv teilnahm und sein Verhältnis zu den Russen war eher das eines Teammitglieds als eines

140  Direktive für die Delegation der DDR während der zweiten Phase der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Anlage 1 zum Arbeitsprotokoll der Politbürositzung am 21.8.1973; DY 30/J IV 2/2A/1706, Bl. 15–19. 141  Das berichtete Siegfried Bock in einem Gespräch mit den Autoren am 15.9.2011. 142  Ebenda. Bl. 19. Ebenso in: Schlussfolgerungen für das weitere Auftreten der Delegation der DDR; Anlage zu dem Protokoll der Politbürositzung am 15.1.1974; SAPMO BA, DY 30/ J IV 2/2/1486, Bl. 54–59, hier 54.

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Befehlsempfängers.«143 Während der Verhandlungen in Genf übernahm die DDR-Delegation ihre von Moskau vorgesehene Rolle in der Arbeitsteilung unter den Warschauer-Pakt-Staaten. Der DDR war gemeinsam mit Ungarn die Zuständigkeit für Korb II (wirtschaftliche Zusammenarbeit) zugewiesen. Die Sowjetunion war Wortführerin für den Prinzipienkatalog, Polen und Bulgarien zuständig für Korb III und die Tschechoslowakei für die Nachfolgeinstitutionen der KSZE.144 Alle Dokumente, die zu den einzelnen Körben während der Außenministerkonferenz eingebracht wurden, waren im sowjetischen Außenministerium erarbeitet worden.145 Die Arbeitsteilung beschränkte sich in diesem Fall auf ein Spiel mit verteilten Rollen. Rumänien beteiligte sich daran nicht, sollte wohl auch gar nicht einbezogen werden. Der Gesandte Alfred Kühn, Mitglied der bundesdeutschen Delegation in Genf, berichtete, in der 2. Phase (ab September 1973) sei »die DDR ins Glied zurückgetreten« und habe sich eng an die jeweilige sowjetische Position angepasst.146 Die relative Selbstständigkeit Bocks vor Ort – zumindest bei seiner Übernahme sowjetischer Positionen – wurde von der SED-Spitze mit einer Direktive vom 23. April 1974 eingeschränkt. Hier wurde eine neue Tonlage angeschlagen. Nun hieß es: »Ergänzungen und Präzisierungen [an den von den Warschauer-Pakt-Staaten vorgelegten Entwürfen – d. A.] können in Abstimmung mit der Delegation der UdSSR nur dann vorgenommen werden, wenn dadurch die Interessen der sozialistischen Staatengemeinschaft nicht verletzt werden.«147 Impliziert war damit die Aussage, dass mit Positionsveränderungen der sowjetischen Delegation gegen die Interessen der Warschauer-Pakt-Staaten – gemeint war wohl vor allem die DDR – verstoßen werden könnte. Das war eine bemerkenswerte Neupositionierung, für die es einen realen Anlass gab. Wie erwähnt, hatte die sowjetische Delegation am 5. April dem Westen versprochen, einen Passus zur friedlichen Änderung der Grenzen irgendwo im Korb I hinzunehmen. Im Austausch hatte der Westen das 143  Bock »displayed an irrepressible intelligence and sophistication of manner […]. He was the only East European representative to take an active part in negotiations on questions of substance, and his relationship to the Russians was that of a member of a team rather than that of a subordinate.« Bericht des britischen Botschafters Elliott an Außenminister Douglas-Home vom 13.6.1973. In: DBPO III/II, S. 136–146, hier 143, vgl. auch ebenda, S. XV. 144  Vgl. Vermerk über ein Zusammentreffen der Außenminister der sozialistischen Länder im Anschluss an ein Abendessen in der sowjetischen Botschaft am 2.7.1973; PA AA, C 796/75, Bl. 2–6, hier 6. 145  Vgl. Direktive für die Delegation der DDR während der zweiten Phase der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Anlage 1 zum Arbeitsprotokoll der Politbürositzung am 21.8.1973; SAPMO BA, DY 30, J IV 2/2A/1706, Bl. 15–19, hier 15 f. 146  Gesandter Kühn an das Auswärtige Amt, 26.9.1974. In: AAPD 1974, S. 1233–1235. 147  Direktive für das weitere Auftreten der Delegation der DDR, Anlage zum Protokoll der Politbürositzung am 23.4.1974; SAPMO BA, DY 30, J IV 2/2/1501, Bl. 15–21, hier 16; ebenso in der Direktive für das weitere Auftreten der Delegation d. DDR während der 2. Phase der KSZE ab 2.9.1974; SAPMO BA, DY 30, J IV 2/2 1526, Bl. 75–81, hier 76.

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Festschreiben der Unverletzlichkeit der Grenzen ohne Einschränkung im Prinzip 3 zugestanden.148 Es blieb noch offen, unter welchem Prinzip und in welcher Form die friedliche Änderung der Grenzen fixiert würde, aber schon die Erwähnung an sich verstieß gegen die Interessen der DDR, die eine ausdrückliche Anerkennung ihrer Grenzen ohne irgendwelche Zugeständnisse, die eine Wiedervereinigung Deutschlands offenhielten, angestrebt hatte. Wahrscheinlich wegen dieser neuen Befehle aus Berlin konnte Kühn auch Folgendes zu Bock im September 1974 berichten: »Sein Wort soll nicht unerhebliches Gewicht in den Beratungen der WP-Delegationen [Warschauer-Pakt-Delegationen] haben.«149 Bei dem entscheidenden Kompromiss zu Korb III zwischen der Sowjetunion und den Westmächten im Mai 1975 haben die Vertreter der beiden deutschen Staaten keine Rolle gespielt. Immerhin aber waren ihre Repräsentanten informiert: Die bundesdeutsche Seite durch die Diskussionen in der NATO-Gruppe, der DDR-Delegationsleiter Bock zumindest durch einen Staatssekretär im britischen Foreign Office, der ihn angerufen hatte, um über die Paketlösung zu informieren.150 Der Kompromiss Moskaus brachte Bock in eine unangenehme Lage. Sowohl die Zugeständnisse in Korb III als auch in der Frage der »friedlichen Grenzänderung« verstießen aus Sicht der SED-Führung gegen die »Interessen der sozialistischen Staatengemeinschaft«. Die DDR-Delegation verfolgte deshalb eine Verzögerungstaktik, aber am Ende lenkte Bock unter sowjetischem Druck ein und genehmigte die Zugeständnisse, bevor er grünes Licht aus Ostberlin bekam. Später wurde er für diese Entscheidung von Honecker und Axen kritisiert, was zur Herabstufung von seinem Posten als Leiter der Hauptabteilung Grundsatz und Planung zum Botschafter im »feindlichen Brüderland« Rumänien beitrug.151 Das Beispiel von Bock diente künftigen ostdeutschen Delegationsleitern bei den Folgetreffen im KSZE-Prozess als Warnung, unbedingt und ausnahmslos den SED-Direktiven zu folgen.152 Das heißt, die ostdeutschen Delegationen galten als besonders inflexibel und wenig einflussreich und waren als Gesprächspartner nicht besonders gefragt.

148  Vgl. Ferraris (Hg.): Report, S. 114–122. 149  Gesandter Kühn an das Auswärtige Amt, 26.9.1974 in: AAPD 1974, S. 1233–1235. 150  Vgl. Sir J. Killick am 16.5.1975; DBPO III/II, S. 409, Fn 8. 151  Hanisch: Die DDR im KSZE-Prozess, S. 84 ff. Die Auseinandersetzungen, die das in Ostberlin auslöste, werden in einem Diskussionsbeitrag von Hermann Schwiesau geschildert, seinerzeit amtierender Leiter der Hauptabteilung Grundsatz/Planung im MfAA. In: Bock, Siegfried; Muth, Ingrid; Schwiesau, Hermann (Hg.): DDR-Außenpolitik im Rückspiegel. Diplomaten im Gespräch (Politikwissenschaft; 106). Münster 2004, S. 110 f.; vgl. auch Fischer: Neutral Power, S. 297. 152  Siehe z. B. Steglich; Leuschner: KSZE – Fossil oder Hoffnung? S. 41 ff.

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2.3 Der Einfluss des KGB und des MfS auf die Verhandlungen vor Ort Obwohl Andropow mehr und Mielke weniger Einfluss auf die Entspannungs­ politik ihrer jeweiligen Länder nahmen – wie sah es bei den KSZE-Verhandlungen vor Ort aus? Inwieweit nahmen die jeweiligen »Bruderorgane« Einfluss auf die KSZE-Verhandlungen? Andropow hat auf die Verhandlungstaktik der sowjetischen Delegation in Helsinki und Genf direkt Einfluss genommen. Wie er jedoch taktierte, können wir bisher nur vermuten, aber seine persönliche Zustimmung scheint für bedeutsame Zugeständnisse der sowjetischen Seite bei den KSZE-­ Verhandlungen notwendig gewesen und gelegentlich tatsächlich erfolgt zu sein. Das berichtet der damalige sowjetische Delegationsleiter Anatoli Kowaljow.153 Das scheint insbesondere der Fall gewesen zu sein, als der mutmaßliche KGB-­ Vertreter in der sowjetischen Delegation in Genf, der für Korb III zuständige Igor S. Rosanow, durch Sergei Kondraschow im Frühjahr 1974 ersetzt wurde.154 Kondraschow war ein erfahrener »Tschekist«. Seit 1947 hatte er in den sowjetischen Sicherheitsorganen gedient, ab 1951 in der Aufklärung. Er hatte u. a. als Leiter der für Deutschland zuständigen 2. Abteilung der I. Hauptverwaltung des KGB (1964–1967), Leiter des für Desinformation zuständigen Diensts »A« der I. Hauptverwaltung (1967–1968), stellvertretender Leiter der I. Hauptverwaltung für Aufklärung in Europa (1968–1972) agiert. Ab 1974 galt er als Chefberater bei der Leitung des KGB für Fragen der Aufklärung und Außenpolitik155 – d. h. als Andropows persönlicher Referent. Er war in dieser Funktion, als er in der sowjetischen Delegation platziert wurde. Er unterstützte die Entspannungspolitik Breschnews und seines Chefs Andropow und behauptete sogar, dass das Zustandekommen des »geheimen Kanals« zu Bahr auf seine Empfehlung an Andropow zurückging.156 Nach der Aussage Kondraschows wollte Andropow Rosanow ersetzen, weil dieser jedes Zugeständnis im Bereich der Menschenrechte oder der menschlichen Kontakte als »gefährliche Schwächung« der Sowjetmacht betrachtete. Unter anderem habe Rosanow den sowjetischen Delegationsleiter Kowaljow bei Andropow für das angebliche »Opfern der Lebensinteressen des Landes« angeschwärzt, weil 153  Vgl. Stuart Parrott: »We Have Started Something ...«. The Origins of the Helsinki Final Act. In: OSCE Newsletter 2 (1995) 8, S. 9–11. 154  Bagley, Tennent H.: Spymaster. Startling Cold War Revelations of a Soviet KGB Chief. New York 2013, S. 243 f. 155  Pawlikowicz, Leszek: Gry wywiadów. Aparat centralny 1. Zarządu Głównego KGB jako instrument realizacji globalnej strategii Kremla 1954–1991 [Spiele der Geheimdienste. Der Zentralapparat der I. Hauptverwaltung des KGB als Instrument der globalen Strategie des Kremls 1954–1991]. Warschau 2014, S. 132, 137. 156  Bagley: Spymaster, S. 110.

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Kowaljow mögliche Zugeständnisse mit dem US-amerikanischen Delegationsleiter diskutiert hatte. Kondraschow dagegen zeigte Bereitschaft, entsprechend seiner Vorgaben von Andropow, bestimmte Zugeständnisse im Namen des KGB zu genehmigen. Für Kowaljow diente Kondraschow als nützlicher Kanal, um bestimmte Vorschläge mit dem KGB zu eruieren.157 Alle Teilnehmer der sowjetischen Delegation wussten von der Macht Kondraschows als Hauptvertreter des KGB, und einige waren deshalb »irritiert«. Niemand aber wollte ihn herausfordern. Kondraschow erinnerte sich: »Sie wussten, dass meine Zustimmung für jeden Text – oder, besser gesagt, die Zustimmung des KGB – notwendig war.«158 Die Verbindung Kondraschows war ein offenes Geheimnis; die US-Delegation berichtete, dass er »im Allgemeinen als der leitende KGB-Vertreter in der [sowjetischen] Delegation betrachtet« wurde.159 Dass er für die US-Delegation als »leitender« Vertreter des KGB in der sowjetischen Delegation galt, deutet an, dass es – zumindest aus US-Sicht – weitere Vertreter des KGB in der sowjetischen Delegation gab. Das war offenbar auch der Fall; die anderen Ostblockländer – zum Beispiel die ČSSR160 und, wie unten dargelegt, die DDR – hatten zumindest einige IM bzw. Hauptamtliche Mitarbeiter ihrer jeweiligen Dienste in ihren Delegationen platziert. Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund, warum die sowjetische Führungsmacht bzw. das führende »Bruderorgan« nicht dasselbe getan haben sollten. Am Ende der KSZE-Verhandlungen war Andropow trotz allem mit der Arbeit Kondraschows zufrieden. Nach der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte wurde er von dem KGB-Chef mit dem »Orden der Völkerfreundschaft« ausgezeichnet und von Andropow als KGB-Vertreter für die sowjetischen Delegationen bei den KSZE-Nachfolgetreffen in Belgrad und Madrid ausgewählt.161 Kondraschow wurde zu einer der leitenden Gestalten in den KSZE-Nachfolgetreffen bis 1983. Andropows Unterstützung für Breschnews Entspannungspolitik, seine Einwilligung zu sowjetischen Zugeständnissen (zumindest auf dem Papier) in den KSZE-Verhandlungen und bestimmte Änderungen in der Vorgehensweise des KGB unter seiner Führung werden von Kondraschow, Keworkow und anderen zitiert, um ihn als weitsichtigen Intellektuellen und Reformer darzustellen, der von Repressalien gegen Dissidenten nichts gehalten hätte. Die Zugeständnisse der Sowjetunion bezüglich Menschenrechten und dem III. Korb im KSZE-Prozess hätten angeblich für Andropow als Grundlage gedient – wie später für Gorbat­ 157  Ebenda, S. 245. 158  Ebenda, S. 243–245. 159  Telegramm von der US-Vertretung in Genf an das State Department (1974GENEVA 06902), 12.11.1974; CFPF, 1973–1979; RG 59, NARA, AAD. 160  Siehe die Instruktionen an die verschiedenen IM und OibE der tschechoslowakischen Aufklärung in der Delegation der ČSSR in Genf in: Archiv bezpečnostních složek (ABS), Archivní číslo (A. č.) 81398/101. 161  Bagley: Spymaster, S. 245.

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schow in der Wirklichkeit (siehe Kapitel 10–13) –, um notwendige Reformen in der sowjetischen Gesellschaft einzuleiten.162 Diese Darstellung von Andropow als Reformer ignoriert nicht nur die vielen Verhaftungen von Dissidenten und den politischen Missbrauch der Psychiatrie während seiner Amtszeit als KGB-Vorsitzender, sondern auch seine entschiedene Opposition gegen die westliche Konzeption der Menschenrechte oder den »freien Fluss von Menschen, Information und Ideen«, auch während der KSZE-­ Verhandlungen. Er hatte – wie oben erwähnt – während der Genfer Verhandlungen gegenüber Kowaljow moniert, dass das sowjetische Außenministerium »Punkte« in den KSZE-Verhandlungen auf Kosten des KGB »sammelte«.163 Noch wichtiger: Wenn es um die notwendigen Zugeständnisse gegenüber dem Westen als Bestandteil des »package deals« im Frühjahr 1975 ging, war Kowaljow auf sich gestellt. Anfangs hatte er weder von Kondraschow noch von Andropow selbst Unterstützung. Kowaljow schrieb in seinen in wenigen Auszügen veröffentlichten Memoiren: Als die Genfer Verhandlungen sich einem Abschluss näherten, wurde es für mich unabweisbar, dass ohne Konzessionen in bestimmten konkreten Fragen in den Abschnitten über Information und [menschliche] Kontakte ein Konsens über das Schlussdokument insgesamt nicht zu erreichen war. Aber das waren komplizierte Fragen, […] Ideen, für die grünes Licht aus Moskau notwendig war. […] Spät am Abend trafen sich die Mitglieder der Delegation in meinem Büro. Ich erörterte ihnen meinen Plan, um wechselseitig akzeptable Lösungen für die letzten übriggeblie­ benen Fragen im Schlussdokument zu finden. Sofort nach dem Beginn des Treffens zeigte die Reaktion meiner Kollegen, dass sie weder psychologisch noch politisch für einen so drastischen Wandel bei manchen der Positionen vorbereitet waren, die sie bis zu diesem Abend mit solcher Festigkeit und Geschicklichkeit behauptet hatten. Sie waren auch besorgt, dass Moskau uns nicht verstehen würde. Zum ersten Mal während der ganzen Genfer Etappe fand die Stellungnahme des Delegationsleiters nicht die Unterstützung auch nur eines Delegationsmitglieds. […] Dubinin und Kondraschow sprachen sich am entschiedensten gegen meine Ideen aus. Um die Diskussion zu beenden, sagte ich, dass ich Moskau nur meine persönlichen Gedanken unterbreiten würde und nicht die Ideen der Delegation. Dann unterzeichnete ich in Anwesenheit meiner Kollegen das Telegramm.164

162  Siehe Bagley: Spymaster, S. 245 u. Fn 6; Keworkow: Der geheime Kanal, S. 122–124, 163–172. Vgl. auch Savranskaya, Svetlana: Human rights movement in the USSR after the signing of the Helsinki Final Act, and the reaction of Soviet authorities. In: Nuti, Leopoldo (Hg.): The Crisis of Détente in Europe: From Helsinki to Gorbachev, 1975–1985. London, New York 2009, S. 26–40. 163  Siehe oben 2.1. 164  Kovalev: Looking Back, S. 24 f.; vgl. auch Michail M. Narinski: L'Union soviétique et le problème des droits de l'homme dans la première moitié des années soixante-dix. In: Les droits de l'homme en Europe depuis 1945/Human Rights in Europe since 1945, hg. von Antoine Fleury, Carole Fink u. Lubor Jílek. Berlin u. a. 2002, S. 321–331, hier 330 f.

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Obwohl Andropow am Ende nachgegeben hat, äußerte er, wie oben dargestellt, seine Bedenken vor dem sowjetischen Politbüro. Das heißt, obwohl er aus geopolitischer, wirtschaftlicher und diplomatischer Sicht die Notwendigkeit solcher Zugeständnisse für den Erfolg der sowjetischen Entspannungspolitik verstand, war er als KGBChef entschieden gegen irgendeine Liberalisierung der sowjetischen Gesellschaft im Sinne westlicher Konzeptionen der Menschenrechte oder »freierer Bewegung«.

2.3.1 Das MfS und die Zusammensetzung der ostdeutschen Delegation Es ergibt sich die Frage: Gab es ein Pendant zu Kondraschow vonseiten des MfS in den KSZE-Delegationen der DDR in Helsinki und Genf? Der Beschlussentwurf für das SED-Politbüro für die Verhandlungen in Helsinki sah eine solche Möglichkeit vor. Die Zusammensetzung der DDR-Delegation wurde aufgelistet: Botschafter Heinz Oelzner, der Leiter der DDR-Handelsvertretung in Helsinki, Botschafter Siegfried Bock, der Leiter der Hauptabteilung Grundsatz und Planung (HA G/P) im MfAA, und Legationsrat Ernst Krabatsch, Mitarbeiter der HA G/P. Hinzugefügt war: »Ein Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit«. Letzteres war in dem von Honecker abgezeichneten Arbeitsprotokoll handschriftlich heftig durchgestrichen, um es unlesbar zu machen.165 Daraus folgt, dass die Teilnahme eines MfS-Mitarbeiters vorgesehen war, dieser Umstand jedoch nicht bekannt werden sollte und Honecker selbst auf diese zusätzliche Konspiration in einem ohnehin geheim gehaltenen Dokument gedrungen hat. In den DDR-Delegationen in Helsinki und Genf gab es einen leitenden Vertreter des MfS: Ingolf Hähnel alias OibE »Mungo«, den Residenten der HV A in Helsinki bzw. Genf während der KSZE-Verhandlungen.166 Hähnel, der zunächst unter der Legende als III. Sekretär der DDR-Botschaft in Helsinki agierte, wurde langsam zum Sachverständigen für die KSZE-Verhandlungen. Nach der Beendigung der Vorverhandlungen in Helsinki wurde er zu der DDR-Vertretung in Genf auf eine neue Stelle als III. Sekretär der dortigen Botschaft167 und insgeheim als Resident der HV A in Genf 168 abgeordnet. Hähnel diente in Genf 165  Arbeitsprotokoll des Politbüros vom 14.11.1972; SAPMO BA, DY 30, J IV 2/2A 1638, Bl. 60. 166  Zur Funktion Hähnels als Resident vgl. HV A/III, Oberleutnant Bähr: Bericht über mögliche Dekonspirationen und Querverbindungen im Verratsfall IM »Junker« (XV/29/75), 26.4.1979; BStU, MfS, GH 54/84, Bd. 2, Bl. 121–124. Ingolf Hähnel war 2. Sekretär der Delegation in Dipoli. Siehe Consultations de Helsinki sur la Question de la Conference e sur la Securite et la Cooperation en Europe.[sic!] Liste des Participants. Helsinki 1973, S. 3; OSCE Archives, Prag. 167  Siehe »Hähnel, Ingolf« in: BStU, MfS, HA II/Abt. 14-VSH. 168  Das ist u. a. mit folgendem Dokument zu belegen: HV A/III: Vorschlag zur Auszeichnung des IMS »Land« – XV/88/68 – vom 10.1.1974; BStU, MfS, AIM 14719/89, T. I, Bl. 92. Im Originaldokument sind Deckname und Registriernummer des »OibE-Residenten«, von dem dieser

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erneut als Mitglied der ostdeutschen KSZE-Delegation169 und agierte wieder als Berichterstatter für die IM und OibE der HV A aus der Delegation.170 Hähnel hatte ganz offensichtlich nicht den gleichen Stellenwert in der DDRDelegation wie Kondraschow in der sowjetischen. Inwieweit Hähnel irgendwelche Sonderbefehle von Mielke oder Wolf für die KSZE-Verhandlungen erhalten hat, ist unbekannt. Jedenfalls unterstützte das MfS als »Schild und Schwert der Partei« die harte Linie des SED-Politbüros gegen Zugeständnisse in den Bereichen der Menschenrechte, von Korb III und der friedlichen Änderung von Grenzen.171 Es gibt aber keine Beweise für Sonderbefehle vonseiten des MfS, weder im Falle der Verhandlungen in Helsinki und Genf noch für die Nachfolgetreffen der KSZE bis 1989. Hähnel musste wahrscheinlich unter seiner Deckung als Vertreter des MfAA gewissenhaft dieselbe Position vertreten wie die (anderen) DDR-Diplomaten in den KSZE-Verhandlungen, wie er es schon als Resident der HV A gegenüber den Regierungen Finnlands und der Schweiz tagtäglich tun musste.172 Die Rolle Hähnels in den DDR-Delegationen in Helsinki und Genf entsprach der Arbeit eines Residenten für legal abgedeckte Residenturen (LAR) der HV A in den Auslandsvertretungen der DDR. So wie ein Resident der HV A für die »Absicherung« der jeweiligen Auslandsvertretung der DDR und die Aufklärung der Politik des jeweiligen Landes bzw. anderer Länder im »Operationsgebiet« zuständig war,173 überwachte Hähnel die Absicherung der DDR-Delegationen in Helsinki und Genf und die Aufklärung der KSZE-Politik der anderen Teilnehmerstaaten vor Ort. Siegfried Bock erinnerte sich 2011 an Hähnel:

Vorschlag wegen guter »Informationsergebnisse im Rahmen der ESK« gemacht wurde, durch einen MfS-Mitarbeiter geschwärzt worden. Zu danken ist dem Landeskriminalamt Berlin, dessen Kompetenzzentrum Kriminaltechnik auf unsere Bitte im Rahmen der Amtshilfe den zugrunde liegenden Text wieder sichtbar gemacht hat. 169  Conference sur la Securite et la Cooperation en Europe (Phase II – Genève): Liste provisoire des participants, 20.9.1973; PA AA, ZR 2683/95. 170  Zwei Drittel aller Informationen über die KSZE, die 1973/74 aus der Schweiz von DDR-IM geliefert wurden, stammten von ihm. Berechnet nach: BStU, MfS, SIRA12, Meldungen zu »ESK« 1973/74. Siehe auch Tabelle 2 zu der Nutzung des Informationsangebots von Hähnel alias »Mungo« an die ostdeutsche Partei- und Staatsführung. Alle angeführten Tabellen finden sich als elektronisches Dokument (PDF) auf der Website des Verlags in der Titelanzeige https://www. vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/themen-entdecken/geschichte/zeitgeschichte-ab-1949/48886/ staatssicherheit-und-ksze-prozess und auf der Website des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen https://www.bstu.de/informationen-zur-stasi/publikationen/ ebenfalls bei der Anzeige des Einzeltitels. 171  Siehe Kapitel 2. 172  Zu den Residenten als »Diener zweier Herren« gegenüber HV A und MfAA siehe Berliner, Kurt: Der Resident. Ein Diplomat im Dienst der HV A erinnert sich. Berlin 2001, S. 156–164. 173  Vgl. Müller-Enbergs, Helmut (Hg.): Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil 2: Anleitungen für die Arbeit mit Agenten, Kundschaftern und Spionen in der Bundesrepublik Deutschland. 2. Aufl., Berlin 1998, S. 51.

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Und dort [in Helsinki und Genf] gab es einen offiziellen Vertreter des Ministeriums für Staatssicherheit, ein junger Mann, klug, gebildet, aber ich hatte immer den Eindruck, dass es ihm weniger um die substanziellen Aspekte der Konferenz ging, sondern dass er sich mehr als Resident gefühlt hat für das Umfeld, die Umgebung, für die Erweiterung der Auslandsaufklärungsmöglichkeiten seines Ministeriums. Also ich kann mich an kein Beispiel erinnern, wo der irgendwie in die inhaltliche Problematik eingegriffen hätte. Wenn der so etwas vorhatte, dann hat er das sicherlich über Berlin veranlasst, sein Ministerium informiert und was sie dann für Schritte unternommen haben, das entzieht sich meiner Kenntnis. Aber es entstand nie der Eindruck, wenigstens für mich und ich glaube auch für die anderen, die dort in unserer Delegation gearbeitet haben, dass hier von der Staatssicherheit auf die inhaltliche Gestaltung Einfluss genommen wurde.174

Im Hauptquartier der HV A in Ostberlin wurde die Akte von Hähnel (»Mungo«) von Peter Keller, dem für Finnland zuständigen Offizier des Referats 2 der Abteilung III (HV A/III/2), bis Herbst 1973 geführt.175 Die HV A/III war für die Tätigkeit der HV A im Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet (NSW) mit der Ausnahme der Bundesrepublik, Westberlin, Nordamerika, NATO und der Europäischen Gemeinschaften (EG) zuständig. Die HV A/III/2 überwachte die operative Arbeit der HV A in Österreich, der Schweiz, Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland, Portugal und Spanien.176 Nachdem Hähnel zur Auslandsvertretung der DDR in Genf wechselte, wurde seine Akte in Ostberlin von dem zuständigen Offizier der HV A/III/2 für die Schweiz, Oberleutnant Jürgen Gehrich (Aliasname von Jürgen Helbig), übernommen.177 Im Januar 1974 legte Gehrich den Objektvorgang (OVO) »Delphin« (Reg.-Nr. XV/2/74)178 für die Aufklärungsarbeit der HV A im Zusammenhang mit den Verhandlungen im KSZE-Prozess an. Die Führung des Vorgangs wurde sukzessiv von dem Offizier der HV A/III, der für das Gastgeberland des jeweiligen KSZE-Nachfolgetreffens zuständig war, übernommen. Derselbe Offizier war auch für die Führung der Akte des HV-A-Berichterstatters in der Delegation zuständig. Bei den Nachfolgetreffen war dieser Berichterstatter normalerweise nicht – wie im Fall Hähnel – der Resident der HV A vor Ort (siehe unten). Während der KSZE-Verhandlungen in Helsinki und Genf übernahm Hähnel die Führung eines bestimmten IM der für Sicherung des Außenministeriums 174  Interview der Autoren mit Siegfried Bock, 15.9.2011. Bock sagte weiter: »Ich sage, er war ein kluger Junge, er hat auch seine Grenzen gekannt. Ich habe andere erlebt, die mehr auf den Putz gehauen haben, als er das gemacht hat. […] Ingo Hähnel hat sich mehr um seine Dinge gekümmert in der Region, Auswahl der Delegation.« 175  Siehe BStU, MfS, HV A/MD/6, SIRA-TDB 21, ZV8251637. 176  Müller-Enbergs: Hauptverwaltung A, S. 73, 78. 177  Siehe BStU, MfS, HV A/MD/6, SIRA-TDB 21, ZV8251637. Zu Helbig/»Gehrich« siehe BStU, MfS, HA KuSch/AKG-KA HM »Gehrich, Jürgen«, Vermerk: »OibE DE III«, durchgekreuzt »Helbig«. 178  Siehe BStU, MfS, HV A/MD/6, SIRA-TDB 21, ZV8241883.

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zuständigen HA XX/1,179 eines wissenschaftlichen Mitarbeiters in der Hauptabteilung G/P, der in der Delegation in Helsinki als Berater und in Genf als stellvertretender Delegationsleiter diente. Er würde sich über die Jahre als wichtigste Vertrauensperson des MfS im MfAA im Zusammenhang mit dem KSZE-Prozess erweisen – nämlich: Ernst Krabatsch alias IMS »Land«.180 Auf Ernst Krabatsch (geb. 1940) war die HV A/III im Jahr 1967 aufmerksam geworden, als er Student an der Akademie für Staat und Recht in Potsdam-­ Babelsberg war, verbunden mit der Perspektive einer anschließenden Tätigkeit im Außenministerium. Am 20. März 1968 wurde er als inoffizieller Mitarbeiter angeworben181 und bereits im folgenden Jahr in der Abteilung Grundsatz und Planung des MfAA eingestellt. Doch die HV A III, die an ihm als Auslandsagenten interessiert war, stellte fest, dass er vorerst im Ostberliner Ministerium verbleiben würde. Deshalb wurde er 1969 an die für das MfAA zuständige Hauptabteilung XX/1 abgegeben.182 Dort wurde er »zur Personenaufklärung und Sicherung einer wichtigen Querschnittsabteilung im MfAA« eingesetzt und hatte sich um die »Aufdeckung und Beseitigung feindbegünstigender Bedingungen in seinem Arbeitsbereich« zu bemühen.183 Als festgelegt wurde, dass Krabatsch, der schon an den Konsultationen teilgenommen hatte, auch Mitglied der DDR-­Delegation 179  Für den Sicherungsbereich MfAA war in der Staatssicherheit bis Ende des Jahres 1974 die HA XX/1, dann die HA II verantwortlich. Durch Umstrukturierungen, mit denen auf den wachsenden Aufgabenbereich der HA II nach der Aufnahme einer Vielzahl diplomatischer Beziehungen in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre reagiert wurde, ist 1975 die HA II/14 gebildet worden, die sich ganz auf die Überwachung des Außenministeriums konzentrieren sollte. Sie stand von ihrer Gründung bis 1989 unter Leitung von Oberstleutnant Heinz Primus. Vgl. Befehl 16/74 über die Politisch-operative Sicherung der Vertretungen anderer Staaten, internationaler zwischenstaatlicher Organisationen und bevorrechteter Personen in der DDR vom 12.8.1974; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 1919; vgl. auch Braun; Eisenfeldt: Abteilung 1, S. 23; Labrenz-Weiß: Die Hauptabteilung II, S. 49 f. Vgl. auch Kaderakte Heinz Primus; BStU, MfS, KS 25146/90, Bl. 120–126. Nach dieser Akte könnte man annehmen, die HA II/14 sei erst 1977 gebildet worden, tatsächlich finden sich aber in IM-Akten der HA II Schriftstücke aus dem Jahr 1975, die bereits den Briefkopf »HA II/14« tragen. Vgl. etwa BStU, MfS, AIM 15869/89, Bd. II, Bl. 183 u. 216. 180  Vgl. Reg.-Nr.: XV/88/68 (IMS »Land«); BStU, MfS, AIM 14719/89, 2 Bde. Dass Krabatsch von Hähnel vor Ort geführt worden ist, ist u. a. mit folgendem Dokument zu belegen: HV A/III: Vorschlag zur Auszeichnung des IM»Land« – XV/88/68 – vom 10.1.1974; BStU, MfS, AIM 14719/89, T. I, Bl. 92. Im Originaldokument sind Deckname und Registriernummer des »OibE-Residenten«, von dem dieser Vorschlag wegen guter »Informationsergebnisse im Rahmen der ESK« gemacht wurde, durch einen MfS-Mitarbeiter geschwärzt worden. Zu danken ist dem Landeskriminalamt Berlin, dessen Kompetenzzentrum Kriminaltechnik auf unsere Bitte im Rahmen der Amtshilfe den zugrunde liegenden Text wieder sichtbar gemacht hat. 181  Reg.-Nr.: XV/88/68 (20.3.1968–29.11.1989); BStU, MfS, AIM 14719/89, Verpflichtungserklärung v. 20.3.1968; ebenda, Teil I, Bl. 78–80. 182  HV A/III/C/3506: Abschlussbericht »Land«, gez. Oberleutnant Walther, 19.12.1069 [sic!]; BStU, MfS, AIM 14719/89, Teil I, Bl. 81 f. 183  HA XX/1: Vorschlag zur Prämierung des IMS »Land«, gez. Hauptmann Müller, 26.6.1972; ebenda, Teil I, Bl. 88.

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für die 2. Phase der KSZE werden würde, erwachte das Interesse der HV A/III erneut und sie bat um »Nutzung bzw. Übernahme der Person für die Dauer seines Einsatzes in Genf«.184 Der Bitte wurde entsprochen und Krabatsch offenbar vor Ort von Hähnel geführt.185 Krabatschs geheimer Auftraggeber scheint mit seiner Arbeit zufrieden gewesen zu sein, denn bereits zehn Monate später beantragte Helbig alias Gehrich als der für die KSZE-Delegation zuständige Offizier in Ostberlin die Auszeichnung von »Land« mit einer Prämie. »Land« habe »stabile Abschöpfkontakte mit guten Informationsergebnissen geschaffen« und »wertvolle Hinweise zur methodischen Arbeit unter multilateralen Bedingungen erarbeitet«.186 Welche Substanz sich hinter diesen Worten verbarg, muss offen bleiben, weil die entsprechende Akte der HV A III (anders als die IM-Arbeitsakte der HA XX/1 bzw. später der HA II/14) nicht erhalten ist187 und in der HV-A-Datenbank SIRA für diesen Zeitraum ganze drei Informationen von »Land« verzeichnet sind.188 Das muss nicht heißen, dass »Land« nicht aktiv gewesen wäre. Nach den Richtlinien der HV A durfte der Resident (in diesem Fall Hähnel) Berichte von verschiedenen Quellen seiner Residentur zusammenfassen und unter eigener Registriernummer an die Zentrale in Berlin schicken.189 Ein weiterer Mitarbeiter der HA G/P, der als IM der HA XX/1 verpflichtet war und an sie über die Vorverhandlungen in Helsinki berichtete, war Hermann Schwiesau alias IM »Kreuz« (geb. 1937), der in der Delegation für das Vorbereitungstreffen in Helsinki teilnahm.190 Während der Genfer Verhandlungen, zu 184  Schreiben der HV A/III an die HA XX/1 vom 21.8.1973, gez. Oberstleutnant Täger; ebenda, Teil I, Bl. 91. 185  In 1979 schrieb Primus: »Für die gute Zusammenarbeit in der Phase der Vorbereitung und während der Durchführung der Europäischen Sicherheitskonferenz arbeitete der IM mit der HV A/III im Operationsgebiet inoffiziell zusammen und leistete eine wertvolle inoffizielle Tätigkeit.« Primus, Leiter der HA II/14, Vorschlag zur Auszeichnung, 1.11.1979; BStU, MfS, AIM 14719/89, Bd. I, Bl. 699 f. 186  HV A/III/3101 [Helbig alias Gehrich] Vorschlag zur Auszeichnung des IMS »Land« – XV/88/68 – 10.1.1974; BStU, MfS, AIM 14719/89, Teil I, Bl. 92. 187  Siehe BStU, MfS, AIM 14719/89. 188  Eine davon war eine Eingangsinformation, »Westliche Einschätzung zur Rolle und zu Problemen der EWG [Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft] ausgehend von der ESK« von 16.4.1974. Siehe BStU, MfS, HV A/MD/3, SIRA-TDB 12, SE7405464. »Land« leistete auch einen Beitrag zu zwei Ausgangsinformationen der HV A: »Haltung verschiedener Staaten zu den Verhandlungen der zweiten Phase der ESK« v. 22.2.1974 (ebenda, SA7400181) und »Auskunft über den Stand und die Aussichten der Europäischen Sicherheitskonferenz aus westlicher Sicht« v. 26.4.1974 (ebenda, SA7400863). Es handelte sich hier um zwei Einzelinformationen (EI), die an die ostdeutsche Partei- und Staatsführung gingen: EI 143/74 u. EI 330/74 (siehe Tabelle 2). 189  MfS, Durchführungsbestimmung zur Richtlinie 1/68 und 2/68, 1.8.1972. In: MüllerEnbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, Teil 2, S. 445–464, hier 463. 190  Reg.-Nr. XV/1320/69 (4.6.1969–21.12.1989), je nach staatlicher Funktion von der HA XX/1, der HV A/III und der HA II/14 geführt; BStU, MfS, AIM 16690/89, 3 Bde.

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denen Bock und Krabatsch delegiert waren, hatte er in Ostberlin als amtierender Hauptabteilungsleiter die Verantwortung zu tragen.191 Ob gewollt oder ungewollt spielte Schwiesau eine schwer abzuschätzende Rolle in der späteren Ablösung von Bock als dem führenden ostdeutschen Diplomaten im KSZE-Prozess. IM »Kreuz« äußerte sich ausgesprochen negativ über Bock, vor allem, weil er »Sicherheitsbedenken« gegen Mitarbeiter, deren Unterstützung er für seine Arbeit benötigte, ignoriere und wegen ihrer fachlichen Qualifikation auf ihrem Auslandseinsatz beharre.192 Schwiesau begleitete auch Axen und den stellvertretenden Außenminister Kurt Nier, als sie Honecker im Sommer 1975 besuchten und verlangten, dass er Breschnew anrufe und die Zusage Bocks zu der Formulierung von friedlichen Grenzänderungen zurücknehme. Bock hatte, wie erwähnt, seine Befugnisse überschritten. Stattdessen genehmigte Honecker die neue Formulierung, weil sonst die Abschlusskonferenz verzögert bzw. gefährdet werden könnte.193 Trotzdem vergaßen weder die führenden Außenpolitiker der DDR noch das MfS die Eigenmächtigkeiten von Bock. 1977 wurde er als Leiter der HA G/P durch Krabatsch abgelöst. Krabatsch, der seinerseits nur Positives über Bock berichtet hatte,194 übernahm seinen Platz als führender ostdeutscher Diplomat im KSZE-Prozess. Krabatsch, so wie früher Bock, entwarf Direktiven für die DDR-Delegation für verschiedene KSZE-Treffen, die dem SED-Politbüro oder dem Sekretariat des ZK zur Genehmigung vorgelegt wurden,195 agierte vor Ort als Delegationsleiter in Belgrad (1977–1978) und diente als offizielle Verbindungsperson zum MfS für Fragen des KSZE-Prozesses, insbesondere im Zusammenhang mit sowjetischen Zugeständnissen (siehe 6.4.1 u. 12.3 unten). Schwiesau wurde 1976 u. a. wegen seiner strikten Einhaltung der außenpolitischen Linie der DDR in den Jahren 1972 bis 1975 zum Botschafter der DDR in Finnland befördert. Während seines Auslandseinsatzes wurde er weiterhin als »Kreuz« – nun entsprechend seinem diplomatischen Rang als Gesellschaftlicher

191  Vgl. DDR-Außenpolitik. Ein Überblick. Daten, Fakten, Personen (III), hg. von Siegfried Bock, Ingrid Muth u. Hermann Schwiesau. Berlin 2010, S. 353. 192  Vgl. Bericht des IM »Kreuz« vom 30.4.1973; BStU, MfS, HA II Nr. 6097, unpag.; Berichte des IM »Kreuz« vom 15.8.1973 u. 21.8.1974; BStU, MfS, HA II 6092, unpag. 193  Wentker: Außenpolitik in engen Grenzen, S. 447. Vgl. den Bericht von Schwiesau in: Bock; Muth; Schwiesau: DDR Außenpolitik im Rückspiegel, S. 110 f. 194 IMS »Land« berichtete über Bock nach den Vorgesprächen in Finnland: Siegfried Bock habe in Helsinki »die inhaltliche Aufgabenstellung sehr gut realisiert«, »einen großen Eindruck gemacht« und keine »politischen Fehler« begangen. Treffbericht zu IMS »Land«, 10.4.1972; BStU, MfS, AIM 14719/89, Teil II, Bl. 21 f. 195  Siehe z. B. Vorlage für das Politbüro des ZK der SED: Teilnahme der DDR am Belgrader Treffen der Teilnehmerstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, o. D. (September 1977); SAPMO BA, DY 30, J IV 2/2A-2107, Bl. 95 ff.; Vorlage für das Sekretariat des ZK der SED: Zum gegenwärtigen Stand der Arbeit des Wiener KSZE-Folgetreffens im Menschenrechts- und humanitären Bereich, 16.3.1988; SAPMO BA, DY 30, J IV 2/3A-4565, Bl. 36 ff.

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Mitarbeiter für Sicherheit (GMS) – von der HV A/III/2 geführt.196 Wann immer IM des MfS im MfAA als Botschafter im Ausland eingesetzt wurden, wurden sie normalerweise vom MfS als GMS geführt, wahrscheinlich weil sie als staatsnah bekannt waren und nicht mehr zum Eindringen in »feindliche« Kreise benutzt werden konnten. Für die für GMS vorgesehenen Sicherungsaufgaben – zum Beispiel in einer Botschaft im Ausland – und für die vertrauensvolle Zusammenarbeit bei der Durchsetzung der Aufgaben des MfS – zum Beispiel bei der Platzierung von IM und OibE in Auslandsvertretungen – waren Botschafter besonders geeignet.197 Es gab wahrscheinlich auch Botschafter der DDR, die nicht früher für das MfS gearbeitet hatten, die vom MfS als GMS für ihren Auslandseinsatz rekrutiert wurden sowie Botschafter, die nicht als GMS dienten – zum Beispiel Siegfried Bock. Unter den weiteren IM und OibE in den DDR-Delegationen in der Frühphase des KSZE-Prozesses war der Zweitwichtigste nach Krabatsch, zumindest im Zusammenhang mit dem weiteren KSZE-Prozess, ein 24-jähriger politischer Mitarbeiter des Hauptabteilung Grundsatz und Planung, der erst im Vorjahr sein Studium am Institut für Internationale Beziehungen (Institut meschdunarodnych otnoscheni) in Moskau abgeschlossen hatte und als »Berater« der DDR-Delegation in Genf seinen ersten Auslandseinsatz hatte: Diplom-Staatswissenschaftler Hagen Krüger (geb. 1949), der seit 1970 in konspirativer Nebentätigkeit als IMS (Inoffizieller Mitarbeiter Sicherheit) »Steffen« zuerst für die Operativgruppe Moskau des MfS und ab September 1973 für die HV A III/1 tätig war.198 Krüger war in Ostberlin an Hauptsachbearbeiter Günter Walther von der HV A III angebunden, der einem der Leitung der HV A III direkt unterstellten Referat angehörte, das für die legal abgedeckten Residenturen (LAR) zuständig war.199 Vor Ort wurde er »direkt durch einen OibE-Residenten angeleitet«.200 196  Major Peter Keller, HV A/III/206, Abschlußbeurteilung GMS »Kreuz«, 12.10.1978; BStU, MfS, AIM 16690/89, Bl. 83–85; Oberleutnant Schulze, HA II/14, Auskunftsbericht, 3.2.1983; ebenda, Bl. 114–118, hier 118. 197  Siehe Engelmann u. a.: MfS-Lexikon. 2., erw. Aufl., Berlin 2012, S. 108; Gieseke, Jens: Der Mielke-Konzern. Die Geschichte der Stasi 1945–1990, S. 125. Die GMS dürften sogar nach Richtlinie des MfS »nicht zur direkten Bearbeitung feindlich-negativer Personen und Personenkreise sowie zur vorgangs- und personenbezogenen Arbeit im und nach dem Operationsgebiet eingesetzt werden«. Siehe Richtlinie 1/79 für die Arbeit mit Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) und Gesellschaftlichen Mitarbeitern für Sicherheit (GMS), 8.12.1979. In: Müller-Enbergs, Helmut: Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Richtlinien und Durchführungsbestimmungen. Berlin 1996, S. 305–373, hier 369. 198  BStU, MfS, KS II 313/87, Bl. 52; BStU, MfS, HA II, Bd. 8662, Bl. 41 f., 46 f. 199  Walther war Oberstleutnant Karl Nippe unterstellt, der wiederum dem stellvertretenden Leiter der HV A/III, Oberst Prosetzky, zugeordnet war. Nippe war seit 1974 Leiter des Referates HV A/III/9. Vgl. Telefonverzeichnis der HV A/III vom 1.11.1979; BStU, MfS, HV A, Bd. 768, Bl. 64–67; Müller-Enbergs: Hauptverwaltung A, S. 73 f. 200  HV A/III: Vorschlag zur Attestierung des Perspektivkaders Krüger, Hagen, 12.7.1974; BStU, MfS, KS II 313/87, Bl. 192–196.

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Dabei wird es sich um Ingolf Hähnel gehandelt haben. Das könnte auch erklären, dass er in den 22 Monaten seines Einsatzes bei der KSZE in Genf ganze zwei Berichte geliefert hat: Der Resident Hähnel hätte seine übergeordnete Position dadurch unterstrichen, dass er Krügers Berichte unter seinem eigenen Namen nach Ostberlin sandte. Zudem wurden Krüger wegen »altersmäßig begründeter Nachteile« noch »Hemmungen in der Kontaktarbeit« attestiert, wobei er jedoch trotzdem »erste relevante Arbeitsergebnisse erzielt habe«.201 Ein Kollege aus dem MfAA, der in untergeordneter Funktion ebenfalls zur DDR-Delegation gehörte, der IM »Matthes«, berichtete, Krüger sei »ein aufgeschlossener, sachlicher und hilfsbereiter Genosse«, der aber manchmal noch »jugendlich oberflächlich« agiere.202 Dennoch hat er sich in Genf offenbar so gut bewährt, dass er im Januar 1975 als hauptamtlicher Mitarbeiter im MfS eingestellt203 und in den folgenden Jahren bei den wichtigsten KSZE-Konferenzen als Offizier im besonderen Einsatz eingesetzt wurde. Nach seiner Rückkehr nach Ostberlin behielt er bis 1979 die Legende eines politischen Mitarbeiters der HA G/P.204 Im Jahr 1976 wurde er von der HV A/III an die Schule der HV A (Objekt S) für einen »politisch-operativen Grundlehrgang« delegiert. Seine bisherige Erfahrung wurde von der HV A/III zitiert: »Residenturarbeit«, »Ermittlungen«, »Länderanalyse« und »Personengruppenanalyse«.205 Durch das Training wurde er auf seinen nächsten Auslandseinsatz als Mitglied der DDR-Delegation bei dem KSZE-Nachfolgetreffen in Belgrad (1977–1978) vorbereitet. Künftige OibE der HV A/III, die in den verschiedenen KSZE-Delegationen im Auslands­einsatz tätig waren, machten ähnliche Erfahrungen wie Krüger: Sie wurden vor oder zwischen ihren Auslandseinsätzen unter Legende in die HA G/P eingeschleust.206 Es gab auch selbstverständlich noch andere IM und OibE in den Delegationen in Helsinki und Genf, die Hähnel als Resident unterstellt waren – zum Beispiel der II. Sekretär der DDR-Vertretung in Genf Herbert Brauneis, den Gehrich/Helbig im IM-Vorgang »Heber« (XV 113/67) führten;207 der Dolmetscher und Delegationsberater in Helsinki und Genf Roland Nützel, den Peter Krüger von der HV A/

201 Ebenda. 202  IM »Matthes« zu Hagen Krüger, 1.6.1974; BStU, MfS, HA II, Bd. 8662, Bl. 24. 203  Siehe Krüger, Hagen; BStU, MfS, HA KuSch/AKG-KA HM und seine Kaderakte: BStU, MfS, KS II 313/87. 204  Kurzbiographie, 25.1.1979; BStU, MfS, HA II, Bd. 8662, Bl. 41–44, hier 41 f.; Abt. Westeuropa, MfAA, Beurteilung des Genossen Hagen Krüger, 12.3.1986; ebenda, Bl. 46 f., hier 46. 205  Oberst Prosetzky, Leiter der HV A/III, an HV A, Objekt S, 15.6.1976; BStU, MfS, KS II, 313/87, Bl. 57–59. 206  Im Falle Krügers hieß es 1974, dass er »ohne direkte operative Einflussnahme« des MfS »in der Perspektive in einem Schwerpunktbereich der Hauptabteilung Grundsatz und Planung des MfAA tätig sein wird« [Horst] Maier, HV A/III, Vorschlag zur Attestierung des Perspektivkaders Krüger, Hagen, 12.7.1974; BStU, MfS, KS II 313/87, Bl. 192–196, hier 192. 207  Vgl. BStU, MfS, HV A/MD/6, SIRA-TDB 21, ZV8236920.

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III im IM-Vorgang »Konrad« führte208; der Delegationsberater Harry Menz alias OibE »Alfred« des Sektors Wissenschaft und Technik (SWT) der HV A.209

2.3.2 Der Beitrag der HV A, 1972 bis 1975: Aufklärung Die HV A hatte in der Konsultationsphase der KSZE von Mielke den Auftrag erhalten, »alle Pläne, Absichten, Vorstellungen und Maßnahmen des Westens, besonders der USA, der BRD und der NATO insgesamt, zu Problemen der europäi­schen Sicherheitskonferenz aufklären, analysieren und signalisieren« zu lassen.210 Wie ist sie dem nachgekommen? Nach den Angaben in Tabelle 2 schickte das MfS in diesem Zeitraum 55 Einzelinformationen zum KSZE-Prozess an die ostdeutsche Partei- und Staatsführung. 25 entstanden zur Zeit der Vorverhandlungen in Helsinki (Dipoli), 24 unmittelbar vor oder während der KSZE-Verhandlungen in Genf und 6 unmittelbar vor oder während des Gipfel­ treffens in Helsinki. Wer waren die Adressaten solcher Berichte? 37 der 55 Einzel­ informationen wurden an den KGB weitergeleitet. Die anderen »Bruder­organe« dagegen erhielten nur zwischen 11 (Polen) und 14 (Bulgarien) Berichte. Aus der Partei- und Staatsführung der DDR erhielt ZK-Sekretär Hermann Axen 54; der Außenminister (Otto Winzer und ab 1975 Oskar Fischer) 53; der Leiter der Abteilung Internationale Verbindungen Paul Markowski 48; Erich Honecker 36. Obwohl der Berichterstatter der HV A/III in den DDR-Delegationen in Dipoli und Genf, Ingolf Hähnel alias »Mungo« (XV 326/71), einen Beitrag zu 12 der 55 Einzelinformationen211 leistete, waren die Spitzenquellen für die Ausgangsinformationen der HV A verschiedene Bundesbürger, die für die HV A spionierten. Die wichtigste Quelle in diesem Zeitraum lieferte einen Beitrag zu 23 solchen Informationen der HV A – nämlich IM Dr. Hagen Blau alias »Merten« (Reg.-Nr. XV 6247/60), Vortragender Legationsrat im Bonner Auswärtigen Amt, der von November 1971 bis Juni 1975 in der bundesdeutschen Botschaft in London tätig war, zuerst als persönlicher Referent des Botschafters Karl Günter von Hase, dann im politischen Referat der Botschaft und dort für die britische Europapolitik und multilateralen Verhandlungen zuständig. Der 1935 geborene Hagen Blau war bereits während seines Studiums an der Freien Universität Berlin im Jahr 1959 von einem MfS-Mitarbeiter angeworben worden und hatte nach 208  Siehe RoHo, F16 u. F22, Reg.-Nr. XV 6068/60; vgl. ebenda, ZV 8239662. 209  Siehe RoHo, F16 u. F22, Reg.-Nr. XV/12487/60; BStU, MfS, HV A/MD/6, SIRA-TDB 21, ZV8209636; Menz, Harry in: BStU, MfS, HA KuSch/AKG-KA HM; Reg.-Nr. 12487/60 in: BStU, MfS, Abt. Fin/Abt. 6-BSK OibE bzw. Abt. Fin/Abt. 6-GKK HIM/OibE. 210  Erich Mielke: Auswertung der 7. Tagung des ZK der SED und des Krim-Treffens führender Repräsentanten der sozialistischen Staaten (Dienstkonferenz am 16.11.1972); BStU, MfS, BdL/ Dok. Nr. 5700, Bl. 28. 211  Siehe Tabelle 2.

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seinem Studien­abschluss 1961 relativ schnell Karriere gemacht.212 Er wurde von dem für das Ausspio­nieren des Auswärtigen Amtes zuständigen Referat 2 der HV A I geführt. Die in diesem Zeitraum zweitwichtigste Quelle für die HV A, mit einem Beitrag zu zehn EI, arbeitete auch für das Auswärtige Amt – nämlich der Vortragende Legationsrat Klaus von Raussendorff (geb. 1936) alias IM »Brede« (MfS 13864/60) der HV A I/2, der schon 1957 als Quelle für die HV A registriert worden war.213 »Brede« wurde offenbar nicht nur von der HV A, sondern auch vom KGB als Spitzenquelle geschätzt. Der ehemalige KGB-­A rchivar Wassili Mitrochin notierte aus KGB-Unterlagen, dass der bis 1967 amtierende KGB-Vorsitzende Wladimir Semitschastny die Übergabe von $ 1 000 an »Brede« durch die KGB-Vertretung in Karlshorst als Belohnung für seine hochwertigen Informationen genehmigt hatte.214 An dritter Stelle für die Aufklärung der HV A zur KSZE wurde in den Jahren 1972 bis 1975 mit Beiträgen zu fünf EI von dem für das Ausspähen der SPD zuständigen Referat 4 der Abteilung II der HV A (HV A/II/4) geführt: Rudolf Maerker (1927–1987) alias IM »Max« (XV 1628/68), der als Vorsitzender des SPD-Unterbezirks Bonn gute Beziehungen bis in die Parteispitze hatte.215 An vierter Stelle für Aufklärung im Zusammenhang mit der KSZE in denselben Jahren stand ein IM, der von der Leitung der HV A/XII geführt wurde und über die folgenden Jahren viele wertvolle Informationen zum KSZE-Prozess liefern würde: IM »Balkan« (XV 4059/70), den die HV A in Verbindung mit Veronika Osterried, einer Sekretärin im Bonner Auswärtigem Amt, brachte.216 Alle bisher genannten IM würden auch in den folgenden Jahren als Spitzenquellen der HV A für die westliche Politik im Zusammenhang mit dem KSZE-Prozess dienen. Die wichtigste Quelle für Ausgangsinformationen der HV A im KSZE-Prozess von 1972 bis 1989 lieferte zwischen 1972 und dem Gipfeltreffen in Helsinki im Jahr 1975 nur drei Informationen: Gabriele Gast (geb. 1943) alias IM »Gerald« (bzw. »Katja«, XV 378/68), der auch die Vorgänge IM »Gisela« (XV 34/69), IM 212  Vgl. Schwan, Heribert; Heindrichs, Helgard: Das Spinnennetz. Stasi-Agenten im Westen: Die geheimen Akten der Rosenholz-Datei. München 2005, S. 166–174. Laut SIRA-TDB 21 war Blaus erster Führungsoffizier der Mitarbeiter der Berliner Bezirksverwaltung des MfS Manfred Klemm; SIRA-TDB 21, ZV 8217879. 213  RoHo, F16 u. F22, Reg.-Nr. 13864/60; vgl. erstinstanzliches Urteil des OLG Düsseldorf gegen Markus Wolf vom 6.12.1993. In: Marxen, Klaus; Werle, Gerhard (Hg.): Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation, Bd. 4/1: Spionage. Berlin u. a. 2004, S. 38–41. 214  Siehe Mitrokhin Collection, Churchill Archives Centre, Churchill College, Cambridge University: Manuscript Extracts from KGB First Chief Directorate Files (nachfolgend als »Mitrokhin Collection, Cambridge University« bezeichnet): MITN 2/20/2, Socialist Countries-II, Bl. 16. 215  Zu »Max« siehe Knabe, Hubertus: Der diskrete Charme der DDR. Stasi und Westmedien. Ulm 2003, S. 216–223. 216  Siehe RoHo, F16 u. F22, Reg.-Nr. XV 4059/70; Müller-Enbergs: Hauptverwaltung A, S. 194.

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»Reinhard« (XV 3331/77) und »Denkmal« (XV 22/65) zugeordnet werden.217 Gast hatte sich 1968/69 während ihres Studiums bereit erklärt, für das MfS zu arbeiten. Nach Abschluss ihres Promotionsverfahrens 1972 wurde Dr. Gast beim Bundesnachrichtendienst (BND) eingestellt, wo sie ab April 1974 bis zu ihrer Festnahme im September 1990 – abgesehen von einer Abordnung in das Bundeskanzleramt vom Dezember 1968 bis Juni 1979 – in der Abteilung Auswertung tätig war. Für mehrere Jahre arbeitete sie im Referat »Politik der Sowjetunion« des BND, wo sie auch Zugang zu Geheimsachen in benachbarten Bereichen hatte. Im Februar 1983 wurde Gast zur Leiterin des Sachgebiets »Spitzenberichterstattung« im Lage-Referat befördert. Es war zuständig für die Ausgangsberichterstattung an das Bundeskanzleramt, verschiedene Minister und andere führende Persönlichkeiten der bundesdeutschen Politik. Die Informationen in diesen Bereichen kamen auch dem MfS zugute, und das war auch der Fall, als Gast im November 1987 als Leiterin des Sachgebiets »Sowjetische Blockpolitik« in das Referat »Politik der Sowjetunion« zurückkehrte.218 IM »Gerald« wurde für mehrere Jahre von der der HV A zugeordneten Abteilung XV der Bezirksverwaltung (BV) Karl-MarxStadt geführt. 1981 wurde sie von dem für den BND zuständigen Referat 1 in der Abteilung Äußere Abwehr (IX) der Aufklärung (HV A/IX/1) übernommen.219 Gast war offenbar die Spitzenquelle der Aufklärung im Zusammenhang mit dem KSZE-Prozess. Ein weiterer Zuträger, der in den Jahren 1975 bis 1976 nur wenig zur Aufklärung der ESK bzw. KSZE220 beitrug, sich aber in späteren Jahren zu einer sehr wichtigen Quelle entwickelte, war der westdeutsche Diplomat Ludwig Pauli alias IM »Adler« (MfS 15905/60), der auch von der für das AA zuständigen HV A I/2 geführt wurde. Pauli hat sich für die HV A als ein Top-Spion erwiesen.221 In späteren Jahren sollte er eine noch wichtigere Rolle in der Aufklärung der westlichen KSZE-Politik spielen. Offen muss bleiben, ob die Verhandlungsposition der DDR-Delegation oder der sowjetischen Delegation durch die geheimdienstlichen Berichte wesentlich gestärkt worden ist. Sie haben wahrscheinlich als Bestätigung von Informationen gedient, die auch auf legalen Wegen zu beschaffen waren, und hatten so eine gewisse Nützlichkeit, haben aber schwerlich ein ganz neues Licht auf die Verhandlungspositionen der Gegenseite geworfen.

217  Herbstritt, Georg: Bundesbürger im Dienst der DDR-Spionage: eine analytische Studie. Göttingen 2007, S. 63, Fn 174; Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, Teil 2, S. 45, Fn 134. 218  Marxen, Klaus; Werle, Gerhard (Hg.): Strafjustiz und DDR-Unrecht: Dokumentation, Bd. 4/2: Spionage. Berlin 2004, S. 986–992. 219  Herbstritt: Bundesbürger, S. 63, Fn 174. 220  Nämlich 2 Einzelinformationen. Siehe Tabelle 2. 221  Müller-Enbergs: Hauptverwaltung A, S. 51. Siehe auch Schwan; Heindrichs: Das Spinnennetz, S. 148–152, 164–166.

Gipfeltreffen in Helsinki und Aktion »Delphin«

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Der Austausch von Informationen mit den »Bruderorganen« hatte offenbar wenig für die HV A gebracht. Von den 55 Ausgangsinformationen der HV A mit Quellenangaben in SIRA machten nur sieben Gebrauch von Informationen der Staatssicherheitsdienste der anderen sozialistischen Länder. Die übrigen 48 Ausgangsinformationen basierten ausschließlich auf HV-A-eigenen Quellen. Im Januar 1974 erklärte der stellvertretende Leiter der für Auswertung zuständigen Abteilung VII der HV A (HV A/VII), die die Ausgangsinformationen für die Partei- und Staatsführung der DDR verfasste, warum dies offenbar der Fall sei. In einer Aufzeichnung für die für internationale Zusammenarbeit zuständige Abteilung X des MfS, die an das Prager Bruderorgan – immerhin der Spitzenreiter für brauchbare Informationen über die KSZE-Verhandlungen – weitergeleitet werden sollte, schrieb Bierbaum von »einigen Mängeln« in den Prager Informationen zur Europäischen Sicherheitskonferenz. Es gäbe keine allgemeinen Angaben, so Bierbaum, aus welchen Kreisen deren Angaben stammten; es wäre »nach unserer Auffassung auch möglich, sich auf interne, wichtige Fakten zu beschränken und damit den nachrichtendienstlichen Wert der Berichte zu erhöhen«; die »Übermittlungsdauer, die bis zu zwei Monate betragen kann,« solle mitberücksichtigt werden. Es sei deshalb nicht zweckmäßig, »solche Fakten zu übermitteln, die entweder sofort ausgewertet werden müssen bzw. die wenige Zeit später veröffentlicht werden«. Das Informationsangebot solle lieber auf »grundlegende Probleme« fokussieren, »die auch nach einem längeren Zeitraum noch von Interesse sind«.222

2.4 Gipfeltreffen in Helsinki und Aktion »Delphin« In Helsinki sollten sich vom 30. Juli bis zum 1. August 1975 nicht nur 35 europäische und nordamerikanische Staatsoberhäupter, sondern auch Mitarbeiter der Geheimdienste der meisten dieser Staaten treffen. Das bedeutete auch für das MfS eine echte Herausforderung. Am 19. Juli, einen Tag nach dem offiziellen Beschluss über den Termin des Gipfeltreffens, erteilte Erich Mielke eine umfassende Weisung zur Vorbereitung der Aktion »Delphin«.223 Als Ziele der Aktion wurden genannt: Es sei die Sicherheit der DDR-Delegation, der sie begleitenden Diplomaten, Experten und Journalisten zu gewährleisten und »Störaktionen« aufzuklären und zu verhindern. Zudem sollten die Konzeptionen und Reden der 222  Aufzeichnung von OSL Dr. Bierbaum, stellv. Leiter HV A/VII an Oberst Damm, Leiter der Abt. X, über Einschätzung der Informationsbeschaffung der Sicherheitsorgane der ČSSR zu Problemen der europäischen Sicherheitskonferenz (ESK), 18.1.1974; BStU, MfS, Abt. X, Bd. 2716, Bl. 5. Von den 7 Ausgangsinformationen der HV A in den Jahren 1972–1976, die Gebrauch von Angaben der »Bruderorgane« machten, nutzten 4 Angaben von der ČSSR (siehe Tabelle 2). 223  Schreiben Mielkes an die Leiter der Diensteinheiten, 19.7.1975; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 4785.

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anderen Staatsmänner ebenso wie Pläne für bilaterale Treffen ausspioniert und Reaktionen auf die Reden der Vertreter der Warschauer-Pakt-Staaten ermittelt werden. Außerdem sollte die Lage in Krisengebieten – gedacht wurde offenbar an Zypern und Portugal – im Blickfeld bleiben, um die DDR-Spitze gegebenenfalls rechtzeitig zu informieren. Darüber hinaus wurden alle Diensteinheiten angewiesen, ihren Beitrag dazu zu leisten, dass »feindlich-negative Handlungen im Innern der DDR« verhindert wurden und dass es an der Grenze zu keinen Ereignissen kam, die »hochgespielt« werden könnten – also zum Beispiel erfolgreiche oder auch tödlich beendete Fluchtversuche. Angeleitet wurden die Vorbereitungen in Berlin durch einen Einsatzstab »Delphin« im MfS und eine Arbeitsgruppe zur Vorbereitung der 3. Phase im MfAA unter Leitung des amtierenden Abteilungsleiters Grundsatz/Planung Hermann Schwiesau.224 Nach Helsinki reiste als Vorabkommando eine »operative Einsatzgruppe« des MfS und traf dort auf den Operativstab Helsinki unter Leitung von Botschaftsrat Hans-Joachim Kahlmeyer, der zugleich unter dem Decknamen »Werner Lange« in Hähnels Nachfolge als Resident der HV A agierte.225 Zwischen dem Operativstab in der DDR-Botschaft und dem KGB-Operativstab in der sowjetischen Botschaft war schon im Vormonat bei einem Treffen in Moskau enge Zusammenarbeit abgesprochen worden.226 Die »operative Einsatzgruppe« unter dem stellvertretenden Leiter der Haupt­ abteilung Personenschutz (HA PS) Oberstleutnant Gregor Colditz flog am 23. Juli nach Finnland. Mit von der Partie waren 16 Mitarbeiter der HA PS, vier Mitarbeiter der Abteilung 26 (Telefonüberwachung) und zwei der Abteilung Nachrichten. So waren zwei Drittel der insgesamt 33 Passagiere MfS-Mitarbeiter. Außerdem reisten noch fünf Mitarbeiter des Außenministeriums, zwei vom Rundfunk und drei vom Fernsehen der DDR an.227 An den beiden folgenden Tagen ließ sich Colditz von dem für die organisatorischen Fragen zuständigen Botschafter Esko Vaartela und von der finnischen Sicherheitspolizei (Suojelupoliisi, SUOPO) über die geplanten Maßnahmen informieren, die von der Überwachung des Luftraums über dem Kongressgebäude bis zu strikter Personenkontrolle reichten.228 Das Gros der Reisenden aus der DDR setzte sich am 25. Juli mit einem Sonderzug in Bewegung, der für die Fahrt nach Helsinki etwa 50 Stunden 224  Vgl. hs. Notiz, ohne Titel, o. D., 7 S.; BStU, MfS, HA PS, MF 254, unpag. 225  BStU, MfS, HA KuSch, AKG, KA HM »Kahlmeyer, Hans-Joachim«; BStU, MfS, HA II/14 VSH »Kahlmeyer, Hans-Joachim«; BStU, MfS, Roho F 16 u. 22, Reg.-Nr. XV 2059/73; BStU, MfS, SIRA TDB 21, ZV8205537; BStU, MfS, GH 56/84, Bd. 2, Bl. 121. 226  Schreiben des Leiters der HA PS, Gerhard Wolf, an Mielke »über die Konsultation mit dem Leiter der IX. Verwaltung [Personenschutz] in Moskau am 26.6.1975«; BStU, MfS, HA PS, MF 249, unpag. 227  Passagierliste für Sondermaschine Berlin – Helsinki am 23.7.1975; BStU, MfS, HA PS, MF 251, unpag. 228  Vgl. Gespräch Vaartela 24.7.1975, o. D., und Bericht über ein Gespräch bei der Suopo zu Sicherungsfragen für die 3. Phase der ESK, 25.7.1975, beide Dokumente: BStU, MfS, HA PS, MF 254, unpag.

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benötigte.229 Mit diesem Zug wurden außerdem aus Kostengründen der gesamte Proviant und beachtliche Mengen Bier transportiert. Der Zug diente in Helsinki als Übernachtungsplatz für die weniger bedeutenden Delegationsmitglieder und ihr Begleitpersonal.230 Honecker und seine Entourage folgten mit einer Sondermaschine am 29. Juli.231 In der Residenz des DDR-Botschafters in Finnland, der sie am Flughafen abgeholt hatte, wurde Honecker »im Namen aller Mitarbeiter« von Botschaftsrat Kahlmeyer empfangen.232 Insgesamt bestand die DDR-Delegation aus sechs Mitgliedern (Erich Honecker, Hermann Axen, Oskar Fischer, Siegfried Bock, Heinz Oelzner und Peter Steglich) und 36 akkreditierten »Beratern und Experten«.233 Sie waren zuvor von der Hauptabteilung II auf ihre Zuverlässigkeit überprüft worden. Von den 34 Überprüften wurden 30 bestätigt, bei dreien wurde ein Einsatz abgelehnt und bei einem wurde das MfAA aufgefordert, den Vorschlag selbst zu überprüfen, weil die vorgesehene Funktion von der Staatssicherheit als überflüssig angesehen wurde.234 In zwei Fällen wurden als Grund unerlaubte Westkontakte genannt. Weitere Gründe waren fahrlässiger Umgang mit Verschlusssachen; in einem weiteren Fall wurde »kein gutes Verhältnis zum MfS« als Begründung herangezogen. Den »Anregungen« wurde Folge geleistet – keine von diesen vier Personen, die alle für untergeordnete Aufgaben eingeplant gewesen waren, durfte nach Helsinki fahren.235 Begleitet wurde die Delegation von 66 MfS-Mitarbeitern, die meisten von der HA PS, aber auch von den bereits erwähnten Abteilungen 26 (Telefon) und Nachrichten.236 Daraus ergibt sich eine deutliche Mehrheit von MfS-Mitarbeitern, die allerdings nicht viel besagt: Auch bei den anderen Delegationen dürfte das quantitative Verhältnis zwischen zivilem und Sicherheitspersonal ähnlich gewesen sein. Von den schließlich 42 akkreditierten »zivilen« Teilnehmern waren fast die Hälfte, nämlich elf hauptamtliche und neun inoffizielle, Mitarbeiter der Staats­ sicherheit. Die IM kamen überwiegend aus der Protokoll- und der Presseabteilung des MfAA. Sieben der hauptamtlichen Mitarbeiter gehörten zum Personenschutz: 229  Personalliste nach Beförderungsmittel, o. D.; BStU, MfS, HA PS, MF 251, unpag. 230  Vgl. Plan der Einsatzzeiten und der Unterbringung der Einsatzkräfte, o. D., 2 S.; BStU, MfS, HA PS, MF 251, unpag. 231  Vgl. Passagierliste für Hauptmaschine Berlin – Helsinki am …, o. D.; BStU, MfS, HA PS, MF 251, unpag. 232  Ablaufplan für die Ankunft der Delegation der DDR am Dienstag, dem 29.7.1975, Helsinki 29.7.1975, 3 S.; BStU, MfS, HA PS, MF 252, unpag. 233  Conference sur la Securite et la Cooperation en Europe (Phase III – Helsinki 1975): Liste des participants, Helsinki 1975, S. 5 f.; Archives of the Organisation for Security and Cooperation in Europe (OSCE), Prag. 234  HA II: Vorläufige Aufstellung der Experten und technischen Mitarbeiter des MfAA für die Teilnahme an der 3. Phase der Sicherheitskonferenz in Helsinki, o. D.; BStU, MfS, HA II Nr. 41856, Bl. 81–91. 235  Das ergibt ein Vergleich der »Vorläufigen Aufstellung« mit der Teilnehmerliste der DDR. 236  Personenliste nach Beförderungsmittel, o. D., 6 S.; BStU, MfS, HA PS, MF 251, unpag.

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so hatten Honecker, Axen und Fischer Personenschützer als »persönliche Begleiter« zugeordnet.237 Außerdem waren der Leiter der Hauptabteilung Personenschutz, Günter Wolf, und sein Stellvertreter, Gregor Colditz, als »Berater« mit Zutritt zur Finlandia-Halle angemeldet.238 Anwesend waren auch einige Offiziere im besonderen Einsatz von der HV A III: Peter Grimm alias »Horst Münzer« und Hans-Joachim Kahlmeyer alias »Werner Lange« von der DDR-Botschaft,239 außerdem OibE Hagen Krüger alias »Steffen«, der bereits im Zusammenhang mit Genf erwähnt wurde und der zu Jahresbeginn vom inoffiziellen zum hauptamtlichen Mitarbeiter der HV A III avanciert war, legendiert als politischer Mitarbeiter der Hauptabteilung Grundsatz/Planung im MfAA.240 Zu erwähnen ist aber vor allem, dass auch Jürgen Helbig alias Gehrich aus Berlin kam, der für den gleichnamigen Objektvorgang »Delphin« der HV A zur Aufklärung des KSZE-Prozesses zuständig war (siehe oben 2.3).241 Wie war nun der Ertrag all dieser geheimdienstlichen Bemühungen? Irgendwelche Anschläge oder geheimdienstliche Ausforschungsversuche der Gegenseite wurden offenbar nicht vermeldet. Was gemeldet wurde, kann man nur als läppisch bezeichnen; es betraf aus Sicht der Stasi-Beobachter vor allem allzu große Kontaktfreudigkeit von Delegationsmitgliedern gegenüber ihren finnischen Kooperationspartnern.242 Eigene »Abschöpfungsversuche« scheiterten weitgehend daran, dass alle Anwesenden unter enormen Zeitdruck standen und deshalb zu scheinbar unverfänglichen Gesprächen am Rande keine Gelegenheit war.243 Um mögliche »Störaktionen« vorab aufzuklären, waren vom Operativstab in Helsinki Listen mit »operativ angefallenen Personen in Finnland« erstellt worden und eine Liste von »unerwünschten Personen«, die von den »Freunden«, also dem KGB, »den finnischen Organen genannt wurden« – ohne dass daraus jedoch irgendetwas Erkennbares gefolgt wäre.244 Man meinte zwar »Terroristen (BRD, Balten 237  Vgl. HA PS: Maßnahmeplan für die politisch-operative Sicherung und Betreuung der führenden Repräsentanten während des Aufenthaltes in Helsinki zur Teilnahme an der 3. Phase der Europäischen Sicherheitskonferenz, 17.7.1975, hs. »Delphin«, »Bestätigt: Mielke«, 5 S.; BStU, MfS, HA PS, MF 251, unpag. 238  Vgl. HA PS, Schreiben vom 22.7.1975, 1 S.; BStU, MfS, HA PS, MF 254, unpag. 239  Zu Grimm vgl. BStU, MfS, HA II 5538; BStU, MfS, Roho F16 u. F22; BStU, MfS, SIRA TDB 21, ZV8257237. 240  Vgl. BStU, MfS, HA II Nr. 8662; BStU, MfS, KS II 313/87, Bl. 51 f., 57–60; BStU, MfS, HA II/14-Dok.: »Krüger, Hagen«; BStU, MfS, HA KuSch/AKG-HM »Krüger, Hagen«. 241  Vgl. BStU, MfS, HA KuSch/AKG-KA HM »Gehrich, Jürgen«, Vermerk: »OibE DE III«, durchgekreuzt »Helbig«. 242  Vgl. Eigenes Informationsaufkommen und sonstige Feststellungen [Zuarbeit der HA PS für den Abschlussbericht zur Aktion »Delphin«], o. D., 9 S.; BStU, MfS, HA PS, MF 254, unpag. 243  Vgl. HA PS: Abschlussbericht Aktion »Delphin«, 3.8.1975, 5 S.; BStU, MfS, HA PS, MF 257, unpag. 244  »Operativ angefallene Personen in Finnland«, o. D.; BStU, MfS, HA PS, MF 251, unpag.; »Unerwünschte Personen, die von den Freunden den finnischen Organen genannt wurden«; BStU, MfS, HA PS, MF 252, unpag.

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u. a.)« identifiziert zu haben, aber »es kam zu keinen terroristischen Aktionen dieser Personen«.245 Außerdem wurden die Journalisten aus der Bundesrepublik aufgelistet, deren Kommen in Helsinki zu erwarten war.246 Eng war in diesen Tagen die Kooperation mit dem KGB, dessen höchstrangiger Vertreter in Helsinki der stellvertretende Leiter der I. Hauptverwaltung (Spionage) Boris S. Iwanow war.247 Die Sowjets hätten dem MfS »Hinweise auf Feindtätigkeit und die von ihnen gefertigten Informationen für den Generalsekretär des ZK der KPdSU, Gen[ossen] L. I. Breschnew, sowie Einzelinformationen« überlassen, und umgekehrt hätte die DDR-Staatssicherheit ihnen »alle Abwehrinformationen und politischen Informationen« überlassen, mit Ausnahme der Reaktionen auf die Rede Honeckers.248 Es gab anscheinend auch zwischen anderen östlichen Geheimpolizisten während der Konferenz einen regen Informationsaustausch. So begleitete der Leiter des Auswertungsreferats des polnischen Aufklärungsorgans Edward Sabik, den Ersten Sekretär Edward Gierek nach Helsinki und tauschte vor Ort Informationen mit Iwanow aus. Die Polen bekamen zwei Informationen des KGB, die für die Leitung der sowjetischen Delegation vorgesehen waren.249 Eine wesentliche Aufgabe für das MfS sollte die Belieferung von Delegationsleiter Honecker mit aktuellen Informationen sein. In dieser Beziehung wurde vermeldet, er sei mit 22 Informationen bedacht worden, von denen neun direkt in Helsinki gefertigt worden waren; drei weitere kamen aus Berlin mit der Unterschrift Mielkes, und elf Informationen, deren Weg offen bleibt, dienten der Vorbereitung bilateraler Gespräche.250 Von diesen Einzelinformationen wurden nur zwei in der SIRA-Datenbank der HV A verzeichnet, sodass ihr Titel überliefert ist. Es ging um »eine westdeutsche Einschätzung der Ergebnisse der KSZE zu Tagesordnungspunkt II sowie zur Haltung verschiedener Staaten hinsichtlich der 3. Phase der Konferenz« vom 29. Juli und um »einige Probleme der KSZE und die Lage in Portugal« vom 30. Juli 1975.251 Die Einzelinformation vom 29. Juli ist auch als Text erhalten: Es ging um Korb II (wirtschaftliche Beziehungen) und um die Positionen einzelner Staatschefs, mit denen Honecker zu bilateralen Gesprächen zusammentreffen würde.252 Über »geplante bilaterale Gespräche Schmidts und Genschers« und über »das beabsichtigte Auftreten verschiedener Staaten während der 3. Phase« war Honecker schon vor seinem Abflug informiert worden.253 245  HA PS: Abschlussbericht Aktion »Delphin«, S. 3. 246  In: BStU, MfS, HA PS, MF 252, unpag. 247  Conference sur la Securite et la Cooperation en Europe (Phase III – Helsinki 1975): Liste des participants, Helsinki 1975, S. 69; OSCE Archives, Prag. 248  HA PS: Abschlussbericht Aktion »Delphin«, S. 5. 249  Aufzeichnung von Colonel Jan Słowikowski, Leiter des Dept. I im polnischen Ministerium des Innern (MSW), 2.8.1975, in: IPN, BU 02011/1112, n. p., 2.8.1975, S. 7 f. 250  HA PS: Abschlussbericht Aktion »Delphin«, S. 2. 251  BStU, MfS, SIRA TDB 12, SA7502305 u. SA7502304. 252  BStU, MfS, RS Nr. 290, Bl. 176–179. 253  BStU, MfS, SIRA TDB 12, SA7502306 (28.7.1975) u. SA7502307 (27.7.1975).

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Nach dem Abschluss der Aktion »Delphin« wurden die beteiligten MfS-Mitarbeiter mit Orden und Geldprämien belohnt. Der von Mielke deshalb am 8. August 1975 erteilte Befehl gibt einen Überblick zu den beteiligten Diensteinheiten und dazu, wer sich aus Sicht der Stasi-Spitze besondere Verdienste erworben hatte.254 Die höchste Auszeichnung, den »Kampforden für Verdienste um Volk und Vaterland«, erhielt in Silber Oberstleutnant »Werner Lange«, der Resident der HV A in Helsinki, und in Bronze Oberstleutnant Horst Meyer von der für die Residenturen zuständigen HV A/III.255 Ebenfalls mit (weniger hochwertigen) Orden wurden von den bereits erwähnten Akteuren bedacht: Oberleutnant Jürgen Helbig alias Gehrich (HV A/III) und Hauptmann Peter Keller, der in der HV A/III für die in Helsinki eingesetzten OibE und für einige IM zuständig war.256 Geldprämien erhielten u. a. der Leiter des Vorauskommandos der HA Personenschutz, Gregor Colditz, OibE »Steffen« und IMS Krabatsch alias »Land« von der HV A/III. Als »Land« Jahre später von der Hauptabteilung II für eine Auszeichnung mit der Verdienstmedaille in Silber vorgeschlagen wurde, wurde noch einmal hervorgehoben: »[…] Während der Durchführung der Europäischen Sicherheitskonferenz arbeitete der IM mit der HV A/III im Operationsgebiet inoffiziell zusammen und leistete eine wertvolle inoffizielle Tätigkeit.«257 Ob die Meldungen der HV A vor Ort Honecker bei seinem ersten Auftreten auf großer internationaler Bühne in Helsinki geholfen haben, bleibt offen. Die Ansprache im Plenum haben sie nicht mehr beeinflusst, denn die war schon zuvor vom Politbüro in Ostberlin abgesegnet worden.258 In seiner Rede postulierte Honecker, »dass der Inhalt der Dokumente der Konferenz mit den grundlegenden Interessen und außenpolitischen Zielen der Deutschen Demokratischen Republik übereinstimmt«.259 Konkreter wurde er nur mit der Aussage, dass »die 254  Minister für Staatssicherheit: Befehl Nr. K 3246/75, 8.8.1975; BStU, MfS, HA KuSch Nr. 1368, Bl. 368–371. Insgesamt wurden 106 MfS-Mitarbeiter namentlich und noch einige mehr im »Kollektiv« in Anerkennung »gewissenhafter Pflichterfüllung« ausgezeichnet. 84 von ihnen waren hauptamtliche Mitarbeiter: 33 von der HA Personenschutz, 31 von der HV A, 15 von der Abteilung Nachrichten, 2 von der Abteilung 26 (Telefon) und einer von der Abteilung M (Postkontrolle). Die 22 prämiierten inoffiziellen Mitarbeiter wurden durchweg von der HV A geführt. Sie verteilten sich ziemlich gleichmäßig auf die Abteilungen HV A/III (Residenturen), IX (Gegenspionage) und X (Desinformation). 255  Zu Horst Meyer alias Horst Maier vgl. BStU, MfS, HA KuSch/AKG-KA HM »Maier, Horst« bzw. Meyer, Horst. 256  Vgl. BStU, MfS, SIRA TDB 21, ZV8205537 (OibE »Werner Lange«), ZV8257237 (OibE »Gennrich« bzw. »Münzer«), ZV8251048 (IM »Bach«) und ZV8241652 (IM »Fischer«). 257  HA II/14: Vorschlag zur Auszeichnung, 1.11.1979, gez. Kratsch, Leiter der HA II, und Primus, Leiter der HA II/14; BStU, MfS AIM 14719/89, Teil I, Bl. 112. 258  Vgl. Protokoll der Politbürositzung am 28.7.1975; SAPMO BA, DY 30, J IV 2/2/1573; DY 30/J IV 2/2A/1901. 259  Text der Erklärung Honeckers am 30.7.1975 in: Volle, Hermann; Wagner, Wolfgang (Hg.): KSZE. Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in Beiträgen aus dem Europa-Archiv. Bonn 1976, S. 290–292.

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Achtung und Anerkennung des Prinzips der Unverletzlichkeit der Grenzen das Entscheidende« sei. Über die vor allem mit der Bundesrepublik strittigen Fragen wie die Möglichkeit »friedlicher Grenzveränderungen« und auch über Korb III verlor er kein Wort. In dieser Beziehung ging selbst Leonid Breschnew weiter, der das Treffen als Lehre aus zwei Weltkriegen, die von Europa ausgegangen waren, und als Abschluss der Nachkriegsperiode betrachtete. Er meinte, »das Ergebnis der Konferenz [bestehe] summa summarum darin, dass die internatio­ nale Entspannung in einem immer größeren Umfang mit konkretem materiellem Inhalt angereichert wird«.260 Nach seiner Auffassung war die »wichtigste« Schlussfolgerung: »Niemand darf versuchen, aufgrund der einen oder anderen außenpolitischen Erwägung anderen Völkern vorzuschreiben, wie sie ihre inneren Angelegenheiten zu ordnen haben.« Das war weder selbstkritisch gemeint noch als Absage an die nach ihm benannte Doktrin, sondern meinte die »Nichteinmischung« in die inneren Angelegenheiten (Prinzip 6), die als Bollwerk gegen westliche Forderungen nach Veränderungen betrachtet wurde, die aus Prinzip 7 (Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten) und aus Korb III abgeleitet wurden.261 Immerhin postulierte er auch, dass die Vereinbarungen »Probleme des alltäglichen Lebens berühren« und zur »Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen« beitragen würden, wenngleich diese Aussage sehr verschwommen blieb. Von vielen Anwesenden geteilt wurde vermutlich die These, dass sich die Konferenz für die Teilnehmer »als eine nützliche Schule der internationalen Politik, der Weltpolitik« erwiesen habe. Mit deutlich anderer Akzentsetzung würdigten westliche Staatsmänner das Konferenzergebnis. Es seien zwei Beispiele herausgegriffen: Helmut Schmidt und Gerald Ford. Der deutsche Bundeskanzler würdigte die Konferenz als wichtigen Schritt in der Entspannungspolitik, kam aber schnell auf das zentrale Anliegen der Bundesrepublik während der Verhandlungen zu sprechen, dass nämlich auch künftig zulässig sei, »auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt«. Er unterstrich auch die Notwendigkeit, die Bestimmungen im Korb III zu erfüllen: Über die Notwendigkeit menschlicher Begegnung, über Informationsaustausch sowie die Zusammenarbeit in Kultur und Bildung haben die Konferenzteilnehmer ausführlich gesprochen; die bisherigen Ergebnisse können in jenen Staaten, in denen die Freizügigkeit der Menschen und Meinungen selbstverständlich und auch ursächlich für die Vielfalt der Ideen und die Wohlfahrt der Länder ist, nicht voll befriedigen. Die Menschen müssen einstweilen mit dem vorliebnehmen, was angesichts der System­unterschiede und des noch bestehenden Misstrauens heute möglich ist. Aber sie haben den dringenden Wunsch nach Abbau der noch bestehenden Beschränkungen. Sie erwarten fühlbare Fortschritte im Zusammenleben der Menschen in Ost und West, mehr Reisen über die trennenden 260  Text der Erklärung Breschnews am 31.7.1975 in: ebenda, S. 301–304. 261  Vgl. Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Schlussakte, Helsinki 1975.

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Grenzen hinweg, bessere Arbeitsbedingungen für ausländische Journalisten, verstärkten Austausch von Jugendlichen und von Sportlern. Vertrauen setzt Begegnung voraus.262

Noch deutlicher wurde der amerikanische Präsident Gerald Ford, dessen Teilnahme an dem Gipfeltreffen im eigenen Land umstritten war. Er betonte, dass »Détente ein Entwicklungsprozess, nicht eine statische Bedingung« sei und ihr Erfolg von »neuen Verhaltensweisen« abhänge: »Die Völker Europas und auch das Volk Nordamerikas sind es gründlich müde, dass man sie zunächst mit Hoffnung speist und diese dann durch leere und unerfüllte Versprechen zerstört.«263 Es folgte eine Aussage, die durchaus als direkter Appell an die Menschen in Osteuropa verstanden werden konnte: Den Ländern des Ostens sagen wir: […] Wir werden keine Anstrengungen scheuen, um die Spannung zu vermindern und Probleme zwischen uns zu lösen. Aber es ist wichtig, das Sie die echte Hingabe des amerikanischen Volkes und seiner Regierung erkennen, Menschenrechte und Grundfreiheiten zu verteidigen und sich so auch dem Versprechen anzuschließen, das diese Konferenz eingegangen ist, mehr Freizügigkeit für die Menschen zu gewähren und größeren Informations- und Gedankenaustausch zu ermöglichen.

In dieser Positionsbestimmung deutete sich bereits die Spannung an, die in den folgenden Jahren zu einer erneuten Verschärfung des Ost-West-Konflikts führen sollte. Generell haben – wie schon von anderen Beobachtern festgestellt wurde – die Redebeiträge bei dem Gipfeltreffen noch einmal den grundsätzlichen Unterschied in der Interpretation der KSZE zwischen den Warschauer-Pakt-Staaten auf der einen und den westlichen (und den »neutralen«) Staaten auf der anderen Seite deutlich gemacht: Während die Warschauer-Pakt-Staaten als Grundlage für die Entspannungspolitik das Festhalten am Status quo der Nachkriegszeit betrachteten und entsprechend eher defensiv argumentierten, verstanden die westlichen Staaten sie als dynamischen Prozess, der neue Möglichkeiten zur Überwindung der Trennung des Kontinents auf gesellschaftlicher Ebene bot und nur unter dieser Bedingung von Dauer sein konnte.

2.5 Fazit Während Mielke sich von Anfang an gegen irgendwelche Konzessionen an den Westen in sowjetisch-westdeutschen, deutsch-deutschen oder den KSZE-Verhandlungen zugunsten einer Ost-West-Entspannung gestellt hatte, hatte Andropow die sowjetisch-westdeutschen und die KSZE-Verhandlungen – die letzteren 262  Text der Erklärung Schmidts am 30.7.1975 in: Volle; Wagner (Hg.): KSZE, S. 294–297. 263  Text der Erklärung Fords am 1.8.1975 in: ebenda, S. 310–314.

Fazit

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ungeachtet seiner Vorbehalte als KGB-Chef – gefordert und unterstützt. Trotz dieser Meinungsunterschiede über die sowjetische Entspannungspolitik stimmten Mielke und Andropow grundsätzlich überein, wenn es um die deutsch-deutschen Beziehungen in der Ära der Entspannungspolitik ging. Beide unterstützten die Linie Breschnews, dass die DDR sich von der Bundesrepublik abgrenzen müsse. Das hieß, dass beide in den Jahren 1969 bis 1971 die Linie Erich Honeckers gegen SED-Parteichef Walter Ulbricht unterstützten, als sich der Kampf um die Nachfolge Ulbrichts abspielte. Um den Kreis zu schließen: Honecker teilte seinerseits Mielkes kritische Einschätzung verschiedener sowjetischer Zugeständnisse auf Kosten der DDR und ihrer völkerrechtlichen Anerkennung an Bonn in den Jahren 1970 bis 1972. Noch mehr: Nur unter Druck von Moskau genehmigte er in den deutsch-deutschen Verhandlungen in den Jahren 1971/72 entsprechende Zugeständnisse an Bonn. Honecker lernte aber die Gegenleistungen Bonns in den deutsch-deutschen Verhandlungen in Form von wirtschaftlichen Vergünstigungen für die DDR zu schätzen. Er konnte sie zur Stabilisierung sowohl der wirtschaftlichen Lage als auch der politischen Lage in der DDR durch die Subventionierung des Lebensstandards der DDR-Bürger nutzen.264 Der wachsenden Tendenz Honeckers, Zugeständnisse an Bonn im humanitären Bereich im Austausch für verdeckte Wirtschaftshilfe von der Bundesrepublik zu machen, führte in späteren Jahren zur Distanzierung Honeckers von der von Moskau gewollten Politik der Abgrenzung. Er geriet deswegen immer mehr in Konflikt mit der sowjetischen Führung und einer neuen »Moskauer Fraktion« des SED-Politbüros, zu der Mielke gehörte.265 Das Gipfeltreffen in Helsinki bedeutete für die DDR-Führung per se einen Er­ folg, weil sie zum ersten Mal auf internationalem Parkett Anerkennung genoss. Welche Bedeutung den Vereinbarungen in der Schlussakte zukommen würde, zeig­te sich erst in den folgenden Jahren: Ob die Bekräftigung der Nachkriegs­grenzen (mit dem Vorbehalt hinsichtlich friedlicher, einvernehmlicher Grenz­änderungen) und die Vereinbarung gewisser Prinzipien der internationalen Beziehungen den Weg zu militärischer Entspannung öffnen würden oder ob die Verdichtung der zwischenstaatlichen menschlichen Kontakte stärkeres Gewicht haben würde, sollte sich erst in den nächsten Jahren zeigen und war auch von Faktoren abhängig, auf die der KSZE-Prozess keinen unmittelbaren Einfluss hatte.

264  Vgl. Wentker: Außenpolitik in engen Grenzen, S. 404 f.; Altrichter, Helmut: »Entspannung nicht auf Kosten des Sozialismus«. Das Treffen Andrei Gromyko – Erich Honecker am 11./12. Mai 1978. In: VfZ 59 (2011) 1, S. 121–147. 265  Vgl. Süß, Walter: Die Staatssicherheit im letzten Jahrzehnt der DDR. Geschichte der Staatssicherheit (BStU, MfS-Handbuch). Berlin 2009, S. 8–11; Hertle, Hans-Hermann; Jarausch, Konrad H.: Risse im Bruderbund: die Gespräche Honecker – Breschnew 1974 bis 1982. Berlin 2006, S. 188 f.; Kusmin, Iwan: Die Verschwörung gegen Honecker. In: DA 3/1995, S. 286–290.

3. Die Sowjetunion, die DDR und der Kampf um die Auslegung der KSZE-Schlussakte

Schon im November 1976 warnte Breschnew die Staats- und Parteiführer auf einer Sitzung des Politisch Beratenden Ausschusses des Warschauer Vertrags vor westlichen Plänen für die Belgrader KSZE-Nachfolgekonferenz. Er klagte über den »Lärm« im Westen »um die sogenannten menschlichen Kontakte« und erklärte: Man braucht nicht daran zu zweifeln, dass wir es u. a. im nächsten Jahr in Belgrad gerade mit einer solchen Einstellung zu tun bekommen; denn die Politiker des Wes­ tens machen keinen Hehl daraus, dass sie das dort vorgemerkte Treffen ausnutzen wollen, um den sozialistischen Ländern eine Art Rechnung für die angebliche Nichterfüllung der Schlussakte von Helsinki zu präsentieren. […] Eine Hauptrichtung in dieser feindlichen Kampagne ist die Frage des sogenannten 3. Korbes. Skrupellos verfälschen die bürgerlichen Massenmedien Geist und Buchstaben der Schlussakte von Helsinki und fordern von den sozialistischen Ländern demagogisch im Grunde genommen nicht mehr und nicht weniger als einen Verzicht auf wichtige Prinzipien unserer Gesellschafts- und Staatsordnung. Und das alles geschieht unter Berufung auf die Menschenrechte, auf Freiheit, Unabhängigkeit und dergleichen mehr.1

Breschnews Enttäuschung über die angebliche »Verfälschung« des Inhalts der Helsinki-Schlussakte durch den Westen ist teilweise damit zu erklären, dass Moskau seine eigenen Pläne für die Weiterentwicklung des Entspannungsprozesses fördern wollte: die »Ergänzung« der in der Schlussakte vereinbarten politischen Entspannung mit »militärischer Entspannung«, d. h. für den Osten vorteilhafte Rüstungskontroll- bzw. Abrüstungsvereinbarungen mit dem Westen (siehe 3.1). Dies war nicht nur die Linie für die sowjetische und deshalb auch die ostdeutsche Außenpolitik, sondern auch für die Auslandspropaganda – offiziell durch die östlichen Massenmedien und Propagandaorgane, inoffiziell durch kommunistische Frontorganisationen im Westen und verdeckt durch aktive Maßnahmen der östlichen »Bruderorgane«, wozu das MfS und insbesondere die HV A ihren Beitrag leisteten.

1  Rede Breschnews, 26.11.1976. In: PHP, Records of the Warsaw Pact Political Consultative Committee, http://www.php.isn.ethz.ch/collections/colltopic.cfm?lng=en&id=19359&navinfo= 14465, Bl. 1–26, hier 13, 23.

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Die Sowjetunion und ihre Verbündeten, darunter die DDR, konterten westliche Vorwürfe mit ihrer eigenen Auslegung der Schlussakte (siehe 3.2).2 Die SED bzw. das MfS meinten, sie könnten die Lage in der DDR unter Kontrolle halten. Diese Einschätzung ging nicht nur auf ihre etwas optimistische Lesung der Schlussakte und die Hochschätzung der eigenen Schritte infolge der bilateralen Vereinbarungen mit der Bundesrepublik zurück, sondern auch auf das Wachstum des MfS-Apparates in den Jahren der Entspannungspolitik. Ein wesentlicher Grund, warum die Rechnung Moskaus und Ostberlins nicht aufging, war der wachsende Aktivismus von Oppositionellen im Osten, ausgehend von der Sowjetunion, die öffentlich die Erfüllung des Prinzips 7 (Menschenrechte) und des Korbes III der Schlussakte (menschliche Kontakte) durch ihre jeweiligen Regierungen forderten (siehe unten 3.3). Ihre Kontaktaufnahme mit westlichen Journalisten, Politikern und Nichtregierungsorganisationen (NGO) führte zur Gründung eines transnationalen Helsinki-Netzwerkes, das öffentlichen und privaten Druck auf die Regierungen der Warschauer-Pakt-Staaten für die Erfüllung des Prinzips 7 und des Korbes III ausübte. Das MfS rühmte den Umstand, dass es in der DDR nicht wie in anderen sozialistischen Ländern – zum Beispiel der UdSSR, der ČSSR und Polen – zur Gründung einer Bürgerrechtsbewegung kam, als eigenes Verdienst, aber die Wahrheit war komplizierter (siehe unten 3.3.2) Die Wahl Jimmy Carters zum Präsidenten der Vereinigten Staaten im Jahr 1976 bedeutete, dass ein Verfechter der Menschenrechte und der Auslegung der Schlussakte durch das transnationale Helsinki-Netzwerk das höchste Amt der westlichen Führungsmacht übernahm. Er setzte als Ziel, die Entspannungspolitik zu »reformieren«, u. a. dadurch, dass konsequenter auf der Erfüllung des Menschenrechtsprinzips der Schlussakte durch den Osten beharrt würde (siehe unten 3.4). Die Sowjetunion trat in eine diplomatische Gegenoffensive ein, in der sie nicht ohne Erfolg versuchte, einen Keil zwischen die USA und ihre westlichen Verbündeten, insbesondere die Bundesrepublik und Frankreich, zu treiben. Für sie und andere westliche Länder hatte die Aufrechterhaltung der bestehenden Entspannungspolitik und der menschlichen Kontakte bzw. Erleichterungen im Korb III Priorität vor Carters Menschenrechtsoffensive gegen den Osten. Diese Gegenoffensive wurde durch Gegenpropaganda begleitet, die die Menschenrechtslage im Westen bzw. angebliche Verstöße des Westens gegen Prinzip 7 und Korb III der KSZE-Schlussakte angriff (siehe 3.5). Der KGB, das MfS und deren »Bruderorgane« unterstützten diese Kampagne, die hauptsächlich gegen die USA gerichtet wurde (siehe 3.5.1); auch die Bundesrepublik diente, wie üblich, als eine Hauptzielscheibe der Propaganda der SED und des MfS (siehe 3.5.2). 2  Zum Deutungskampf über die Auslegung der Schlussakte vgl. auch Domnitz: Hinwendung nach Europa, S. 140–214, 345–351.

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3.1 Die Sowjetunion, die KSZE und der Kampf um »militärische Entspannung« Der wirkliche Schwerpunkt sowjetischer Politik mit Blick auf die Schlussakte war nicht deren Implementierung, sondern ihre »Ergänzung«. Im engeren Sinne wollte die UdSSR die in der Schlussakte fixierte »politische« durch eine »militärische Entspannung« ergänzen, um die Entspannung »unumkehrbar« zu machen. Eigentlich war seit 1973 die Marschroute der Entspannungspolitik für die mit Moskau verbündeten kommunistischen Parteien, für die sozialistischen Länder und die mit dem Osten verbündeten »Weltfriedenskräfte« klar. Auf dem Weltkongress der Friedenskräfte 1973 in Moskau wurde verkündet, dass man über die »politische Entspannung« in Form eines für den Osten günstigen Abschlusses der KSZE zu einer »militärischen Entspannung« in Form von Rüstungskontrolle und Abrüstung im Westen kommen sollte.3 Dieser Ansatz wurde im Juni 1975 vor dem KSZE-Gipfeltreffen durch das Präsidium des von Moskau gesteuerten Weltfriedensrats (WFR) in einem »neuen Stockholmer Appell« bestätigt.4 In seiner Rede auf dem Gipfeltreffen in Helsinki verband Breschnew ausdrücklich die laufende sowjetische Kampagne für militärische Entspannung mit dem »Dokument über vertrauensbildende Maßnahmen [VBM] und bestimmte Aspekte der Sicherheit und Abrüstung« in der Schlussakte.5 Er sagte: »Die Konferenz hat eine Reihe wichtiger Vereinbarungen beschlossen, die die politische Entspannung durch die militärische ergänzen … Die Sowjetunion tritt konsequent dafür ein, dass die militärische Entspannung nach der Konferenz weiterentwickelt wird.«6 3  Kommuniqué des Weltkongresses der Friedenskräfte, Moskau, 25–31. Oktober 1973. In: Friedensrat der DDR (Hg.), Dokumente der Weltfriedensbewegung, Oktober 1962 bis Dezember 1974. Berlin 1976, S. 226. 4 Appell – Stockholm 1975, 2. Juni 1975; Tagung des Präsidiums des Weltfriedensrates, 31.5.–2.6.1975, Stockholm. In: Friedensrat der DDR (Hg.): Dokumente der Weltfriedensbewegung, 1975 bis 1979. Berlin 1980, S. 14 f. 5 In dem Dokument über vertrauensbildende Maßnahmen stand unter Punkt II »Fragen im Zusammenhang mit der Abrüstung«: »Die Teilnehmerstaaten anerkennen ihrer aller Interesse an Bemühungen zur Verminderung der militärischen Konfrontation und zur Förderung der Abrüstung, die darauf gerichtet sind, die politische Entspannung in Europa zu ergänzen und ihre Sicherheit zu stärken. Sie sind von der Notwendigkeit überzeugt, auf diesen Gebieten wirksame Maßnahmen zu ergreifen, die durch ihren Umfang und ihre Natur Schritte darstellen, um schließlich eine allgemeine und vollständige Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle zu erreichen und die zur Festigung des Friedens und der Sicherheit in der ganzen Welt führen sollen.« Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, 1.8.1975. In: Volle; Wagner (Hg.): KSZE, S. 247. 6  Text der Erklärung Breschnews am 31.7.1975 in: ebenda, S. 302.

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Nach der KSZE nutzte Moskau den Wortlaut des VBM-Dokuments – vor allem das »Interesse an Bemühungen zur Verminderung der militärischen Konfrontation und zur Förderung der Abrüstung«7 –, um westliche Militärmanöver, erhöhte Militärausgaben einzelner NATO-Mitgliedstaaten, Modernisierungen der NATO-Streitkräfte und westliche Ablehnung sowjetischer Abrüstungsvorschläge als Verstöße gegen die Schlussakte oder zumindest gegen ihren Geist zu verurteilen. Moskau und seine Verbündeten antworteten zum Beispiel nicht auf Einladungen der westlichen Staaten gemäß ihren KSZE-Verpflichtungen, Beob­achter zu NATO-Übungen im Herbst 1975 zu schicken. Stattdessen kritisierten sie die Manöver als Beweise für »imperialistische Aggressionsneigungen«.8 Die sowjetische Militärzeitschrift »Krasnaja Zvezda« [Roter Stern] behauptete, dass das Ziel der Manöver sei, »der von den KSZE-Ergebnissen beeindruckten westlichen Öffentlichkeit ein Gefühl der Unsicherheit hinsichtlich der Verlässlichkeit der Entspannung« zu vermitteln.9 In einer Rede vor den Sekretären der »Bruderparteien« für ideologische und internationale Fragen im Januar 1976 bekräftigte der Internationale Sekretär des ZK der KPdSU Boris Ponomarjow Moskaus Ziel, die »politische« Entspannung in der KSZE-Schlussakte mit der »militärischen« zu ergänzen, um die Entspannung »unumkehrbar« zu machen. Er trug die sowjetische Linie vor, wonach die Verteidigungsanstrengungen der NATO und insbesondere die Modernisierung deren Streitkräfte als Verstöße gegen »Helsinki« zu gelten hatten.10 Die NATO-Staaten hatten vor dem Hintergrund von deren militärischer Überlegenheit in Europa ein gegenteiliges Bild von den Rüstungsanstrengungen der UdSSR.11 Breschnew tat solche Einschätzungen auf dem XXV. Parteitag der KPdSU als die Erfindungen »einflussreicher Kräfte in den USA« ab: »Sie rücken die Politik der Sowjetunion in ein schie7  Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, 1.8.1975: In: ebenda, S. 245–248. 8  Wettig: Folgen, S. 28. 9  AAPD 1975/II, S. 1307, Fn 17. 10  Rede Ponomarjows vor der Beratung der Sekretäre für ideologische und internationale Fragen der Bruderparteien der sozialistischen Länder am 15./16.1.76 in Warschau. In: SAPMO BA, DY 30/11861, Bl. 37–71, hier 47. 11  Zum Beispiel schätzte eine gemeinsame Arbeitsgruppe des Auswärtigen Amtes und das Bundesverteidigungsministerium die sowjetische Militärpolitik nach der KSZE folgendermaßen ein: »Die Politik der Sowjetunion und des Warschauer Pakts wird auch nach der KSZE von folgenden Leitgedanken geprägt werden: – Herstellen der militärischen Überlegenheit des Warschauer Pakts durch Verstärkung und Modernisierung des eigenen militärischen Potenzials in Europa und Ausweitung der militärischen Präsenz der Sowjetunion in der Welt nach strategischen Gesichtspunkten, u. a. durch Schaffung neuer Stützpunkte. – Versuch der Festschreibung der militärischen Überlegenheit in Mitteleuropa in den Wiener Verhandlungen unter Umfunktionierung des vom Westen formulierten Prinzips der unverminderten Sicherheit. – Absicherung dieser Politik durch Propagierung internationaler Abrüstungs- und Rüstungskontrollbemühungen (Beispiele: Weltabrüstungskonferenz, Verbot der Entwicklung neuer Massenvernichtungswaffen).« Aufzeichnung der Arbeitsgruppe Auswärtiges Amt/Bundesministerium der Verteidigung, 10.2.1976. In: AAPD 1976/I: S. 196–212, hier 199.

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fes Licht und rufen unter Hinweis auf eine erfundene ›sowjetische Gefahr‹ zu einem neuen Anheizen des Wettrüstens in den USA und in der NATO auf.«12 Moskaus – oder zumindest Breschnews – Streben nach »militärischer Entspannung« war keine reine Propaganda. Nach Helsinki war Breschnew enttäuscht, dass Ford, Kissinger und »alle« amerikanischen Senatoren über die Notwendigkeit der Stärkung der amerikanischen Streitkräfte gesprochen hatten, damit – nach Breschnew – die USA »der Stärkste« bleibe.13 In seiner Rede in Helsinki hatte Breschnew Bezug auf die multilateralen Verhandlungen über konventionelle Abrüstung – über »Mutual and Balanced Force Reductions« (MBFR) – in Wien genommen, wo er auf einen Durchbruch hoffte. Die Verhandlungen dort, die parallel zu den KSZE-Verhandlungen seit 1973 liefen,14 waren zum Stillstand gekommen, als beide Seiten auf ihren jeweiligen Positionen beharrten: der Westen auf einem »common ceiling (gemeinsamen Dach)« oder eine Äquivalenz von konventionellen Waffen und Personal im Osten und im Westen und der Osten auf prozentual gleichen Reduktionen der jeweiligen Streitkräfte und Waffen. Das Ziel der vom Westen vorgeschlagenen asymmetrischen Reduktionen war, die konventionelle Überlegenheit der östlichen Streitkräfte in Europa zu beenden, während Moskau mit seinem Vorschlag versuchte, die konventionelle Übermacht des Ostens vertraglich festzuschreiben. Trotz der starren Haltungen beider Seiten nahm Breschnew die Verhandlungen ernst und überlegte an der Jahreswende 1975/76, ob er nicht doch einen neuen Vorschlag des Westens (»Option III«) in Wien annehmen sollte.15 Mit »Option III« offerierte der Westen den Rückzug von 1 000 atomaren Sprengköpfen, 54 nuklearfähigen F-14-Flugzeugen und 36 Pershing-Raketenstartgeräten im Gegenzug für die östliche Akzeptanz des ursprünglichen Vorschlags des Westens von 1973: dem Rückzug einer sowjetischen Panzerarmee aus fünf Divisionen im Austausch für den Rückzug von 29 000 amerikanischen Soldaten.16 Breschnew vereinfachte den Vorschlag in privaten Gesprächen mit seinen Beratern als Austausch von 1 000 nu­ klearen Sprengköpfen für 1 000 Panzer. Er nannte den Vorschlag »völlig unschul12  Breschnew: Rechenschaftsbericht, S. 27. 13 Chernyaev, Anatoly [Tschernjajew, Anatoli]: Tagebuch, 2.1.1976. In: Rossiskije Programmy Archiva Nazionalnoi Besopasnosti, http://www.gwu.edu/~nsarchiv/rus/text_files/Cher nyaev/1976.pdf. 14 US-Präsident Nixon hatte auf diese getrennten, multilateralen Verhandlungen (MBFR) als Vorbedingung für die Teilnahme und Genehmigung der USA für eine ESK bestanden. Seine Zielsetzung war, Forderungen aus dem US-Kongress nach einem Rückzug von US-Truppen aus Europa – d. h. einseitigen Reduzierungen – zuvorzukommen. Die NATO hatte dem Warschauer Pakt schon 1968 solche Verhandlungen in Antwort auf den östlichen Appell für eine ESK vorgeschlagen. Siehe Haftendorn, Helga: The Link between CSCE and MBFR. Two Sprouts from One Bulb. In: Wenger; Mastny; Nuenlist: Origins of the European Security System, S. 237–258. 15  Chernyaev: Tagebuch, 2.1.1976. In: Rossiskije Programmy Archiva Nazionalnoi Besopasnosti, http://www.gwu.edu/~nsarchiv/rus/text_files/Chernyaev/1976.pdf. 16  Keliher, John G.: The Negotiations on Mutual and Balanced Force Reductions: The Search for Arms Control in Europe. New York 1980, S. 101.

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dig« und behauptete, dass die Rückkehr von 1 000 veralteten Sprengköpfen und 1 000 Panzern »nichts« ändern, aber die Entspannung »gewinnen« würde. Trotzdem stimmte er den sowjetischen Militärs zu, den westlichen Vorschlag abzulehnen,17 und Moskau entgegnete mit einem eigenen Angebot: eine Verminderung der sowjetischen und amerikanischen Streitkräfte in Europa um 2 bis 3 Prozent als Zwischenetappe zu allgemeinen Reduzierungen.18 Nachdem der Westen den Vorschlag abgelehnt hatte, wurden die Wiener Verhandlungen zum Schauplatz einer fruchtlosen Debatte über Datentransfers und Zahlenvergleiche19 und blieben bis 1986 in der Sackgasse. Weil Moskau das Ziel einer »militärischen Entspannung« zu seinen Gunsten durch die Wiener Verhandlungen nicht erreichen konnte, fokussierte es auf die Mobilisierung »progressiver« und »Friedenskräfte« im Westen, um die »Ergänzung« der KSZE-Schlussakte durch Rüstungskontrolle und Abrüstung im Westen zu erreichen. Breschnew erklärte auf der Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien Europas im Juni 1976: »Es gilt, alles zu tun, damit die Volksmassen klar erkennen, dass ihre ureigensten Interessen eine tatkräftige Unterstützung der Initiativen und Aktionen zur Festigung des Friedens, der Sicherheit und Zusammenarbeit erfordern.«20 Die DDR wollte ihren eigenen Beitrag zu der sowjetischen Kampagne leisten. Nach dem Treffen der ZK-Sekretäre mit Ponomarjow genehmigte das SEDPolitbüro im Februar 1976 einen Maßnahmenkatalog zur Realisierung der KSZE. Dem Beispiel Moskaus folgend werde die DDR die »forcierte Aufrüstungspolitik der NATO-Staaten […] in geeigneter Weise als Verstoß gegen die Schlussakte« verurteilen. Das DDR-Komitee für europäische Sicherheit werde für die »allseitige Durchsetzung der Prinzipien der friedlichen Koexistenz« und für »Probleme der militärischen Entspannung und Abrüstung« in Zusammenarbeit mit der UdSSR aktiviert.21 Die »Bruderorgane«, KSZE und militärische Entspannung Bei dem von Moskau initiierten Kampf im Westen um die Ergänzung der »politischen« mit der »militärischen Entspannung« spielten nicht nur die westeuropäischen kommunistischen Parteien und die von Moskau gesteuerten Front17  Chernyaev: Tagebuch, 2.1.1976. 18 Aufzeichnung des Nationalen Sicherheitsberaters Brent Scowcroft an Präsident Ford, 19.2.1976. In: FRUS 1969–1976, XXXIX, S. 1088–1090. 19  Vgl. Haftendorn: The Link between CSCE and MBFR, S. 253 f.; Editorial Note, FRUS 1969–1976, XXXIX, S. 1090–1093. 20  Stenografische Niederschrift, 29–30.6.1976, Bl. 78 f. 21  Fischer, Axen, und Markowski, Vorlage für das Politbüro des ZK der SED, 10.2.1976. In: SAPMO BA, DY 30, J IV 2/2A-1956, Bl. 46–60, hier 52.

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organisationen des Weltfriedensrates eine wichtige Rolle, sondern auch die Abteilungen für aktive Maßnahmen der osteuropäischen Staatssicherheitsdienste. Schon während der Verhandlungen der KSZE in Genf hatten sie bei der vom KGB geleiteten Operation »SYNONYM« zusammengearbeitet, die auf einen erfolgreichen Abschluss der KSZE nach sowjetischen Vorstellungen zielte.22 Als die Genfer Verhandlungen langsam zum Schluss kamen, trug General Wladimir Petrowitsch Iwanow, Leiter des für aktive Maßnahmen zuständigen Dienstes »A« der I. Hauptverwaltung des KGB, seinen Amtskollegen in der Abteilung X der HV A (HV A/X) seine Überlegungen für die Zukunft vor. Der damals stellvertretende Leiter des Referats 1 der HV A/X Günther Bohnsack23 fasste die Kommentare Iwanows in seinen Erinnerungen folgendermaßen zusammen: Nachdem die Teilnahme der Amerikaner am Europatreffen [d. h. die KSZE] nicht zu verhindern war, müssen wir jetzt in Westeuropa alle frei verfügbaren Reserven gegen die USA und deren Vormachtanspruch mobilisieren. Die Friedensbewegung, die erkennbar an Bedeutung in Westeuropa gewinnt, muss vorrangig gegen die amerikanische Hochrüstung gelenkt werden. Zum anderen sollten wir über entsprechende Einflussagenten den kleineren NATO-Staaten deutlich machen, dass sie von den USA dominiert und zu größeren Rüstungslasten veranlasst werden. In Holland, Belgien, Dänemark und Norwegen haben wir bereits Vorsorge getroffen.24

Zugunsten der »militärischen Entspannung« habe der Dienst »A« der HV A/X vorgeschlagen, so Bohnsack, zwei neue Programme für aktive Maßnahmen zu entwickeln: die Objektvorgänge (OVO) »NORDLICHT« und MARS«. Der Deckname »NORDLICHT« habe sich auf die Konferenzstadt Helsinki bezogen. Sie hätte für die kleineren NATO-Staaten im Norden als Leitbild dienen sollen, die Abrüstung voranzutreiben. OVO »MARS« habe in Planung und Tätigkeit der HV A/X eine weit wichtigere Rolle spielen sollen; er habe die Stär22  Abteilung 36 der I. Hauptverwaltung (HV) des Föderativen Ministeriums des Innern (FMdI) der ČSSR, Aufzeichnung über die Verhandlungen mit der Aufklärung der DDR, 15.4.1974. In: Archiv der Sicherheitsdienste (Archiv bezpečnostních složek, ABS), Prag, Archivsignatur (Archivní číslo, A. č.) 81282/103, Bl. 82–90, hier 86. Über die allgemeine Rolle des KGB in der Koordinierung der aktiven Maßnahmen der kommunistischen »Bruderorgane« siehe Slávik, Martin: »Spolupráce rozvědky StB a KGB v oblasti aktivních opatření [Zusammenarbeit der Aufklärung der StB (tschechoslowakischen Staatssicherheit) und des KGB im Bereich der aktiven Maßnahmen]« in: Aktivity NKVD/KGB a její spolupráce s tajnými službami střední a východní Evropy 1945–1989 [Aktivitäten der NKWD/KGB und ihre Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten Mittel- und Osteuropas 1945–1989], Bd. II. Praha 2009, S. 175–184. 23  Siehe die Kaderkarteikarte (KKK) für Bohnsack, Günter, Jg. 1939; BStU, MfS, HA KuSch/ AKG-KA HM, und seine Mitarbeiter-Karte in: RoHo, F16. 24  Günter Bohnsack: Die Legende stirbt. Berlin 1997, S. 110. Zu dem relativen Wert der Erinnerungen von Bohnsack als Quelle siehe Christopher Nehring: »Eine etwas andere Rezension: Die Erinnerungen zweier Stasi-Offiziere im Lichte neuer Archivalien«. In: Journal for Intelligence, Propaganda and Security Studies 11:1 (2017), pp. 170 f.

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kung und Steuerung von Friedensbewegungen in Westeuropa und die Beeinflussung von westlichen Politikern zugunsten einer Politik der Abrüstung zum Ziel gehabt.25 Die Ausführungen Bohnsacks, dessen Referat HV A/X/1 für die Störung der Beziehungen der Bundesrepublik mit westlichen bzw. Entwicklungsländern damals zuständig war,26 werden zum Teil durch die Kartei der HV A bestätigt. Bohnsacks Referat legte beide OVO – »Nordlicht« und »Mars« – am 14. Oktober 1975 mit aufeinanderfolgenden Registriernummern in der Registratur der HV A an.27 Die Aussagen Bohnsacks werden auch indirekt von den Akten der tschecho­ slowakischen Staatssicherheit bestätigt. Schon vor Iwanows Anregung hatte sich die HV A/X offenbar selbst Gedanken über die Zukunft der Entspannung nach Helsinki gemacht. Bei einem Treffen mit der Leitung der für aktive Maßnahmen zuständigen Abteilung 36 der I. Hauptverwaltung des Föderativen Ministeriums des Innern (FMdI) der ČSSR am 18. April 1975 fassten der Abteilungsleiter der HV A/X, Rolf Wagenbreth, und sein Stellvertreter Oberstleutnant Hans Knaust ihre Pläne und Absichten während eines Meinungsaustausches über die Operation SYNONYM« zusammen. Die Abteilung 36 berichtete: Die deutschen Genossen erklärten ihre Vorgehensweise bei der Bearbeitung dieser Frage [der KSZE – d. A.]. Sie verbinden die KSZE-Verhandlungen mit Abrüstungsund Umweltfragen. Sie wollen insbesondere das letztere Problem, wie noch nie, im gesamten öffentlichen Leben der BRD zur Geltung bringen. […] Das Ziel sei, die Öffentlichkeit vor den Gefahren des Wettrüstens für die Umwelt zu warnen. Insbesondere möchten sie erreichen, dass Umweltschutz in den Köpfen der Menschen Vorrang vor Rüstung hat und dass Investitionen in diesem Bereich auf Kosten des Militärhaushalts stattfinden. Sie werden alle entsprechenden Beweise über die Zerstörung der Umwelt in der BRD insbesondere durch die DKP [Deutsche Kommunistische Partei] nutzen. Sie setzen sich auch als Ziel, dass die DKP eine ganze Volksbewegung anführt und die Massen besser beeinflusst. Ein wichtiger Aspekt der Abrüstungsfrage sei die intensive Arbeit gegen die NATO vor allem in kleineren Ländern, wo die Bürde der Militärausgaben unerträglich ist, und die nicht so eng mit dem amerikanischen Imperialismus verbunden sind wie Westdeutschland oder Britannien. Das sollte auf der Basis der jeweiligen sozialpoliti25  Bohnsack: Die Legende stirbt, S. 110. 26  Zu HV A/X/1 siehe Müller-Enbergs, Helmut: Hauptverwaltung A (HV A): Aufgaben – Strukturen – Quellen. Berlin 2011, S. 172. Online zugänglich unter: URN: http://nbn-resol­ving. de/urn:nbn:de:0292-97839421301580; https://www.bstu.de/informationen-zur-stasi/publikatio nen/publikation/hauptverwaltung-a-hv-a-1/ (letzter Zugriff: 1.11.2018). 27  Objektvorgang (OVO) »Nordlicht«, XV/1970/75, and OVO »MARS«, XV/1971/75. In: BStU, MfS, HV A/MD/6, System der Informations-Recherche der HV A (SIRA), Teildatenbank (TDB) 21, ZV8255225 and ZV8255226. Zum Gebrauch und zu den Grenzen von SIRA siehe Konopatzky, Stephan: Möglichkeiten und Grenzen der SIRA-Datenbanken. In: Herbst­ritt, Georg; Müller-Enbergs, Helmut (Hg.): Das Gesicht dem Westen zu ...: DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland. 2., korrig. Aufl., Bremen 2003, S. 112–132.

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schen Lage der einzelnen Länder gemacht werden. Sie machen bei der Propaganda gegen die NATO auch Gebrauch von den [westlichen] kommunistischen Parteien. […] Gegenwärtig legen sie ein Verzeichnis aller Organisationen in westeuropäischen Ländern an, die gegen die NATO eingestellt sind, ungeachtet ihrer politischen Farben. Sie seien bereit, die gesamte Auflistung uns zur Verfügung zu stellen und sie nach unserem Befund zu überarbeiten.28

Das Vehikel, wodurch die DKP »eine ganze Volksbewegung anführen« sollte, war offenbar das 1974 in der Bundesrepublik gegründete »Komitee für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit« (KOFAZ). Im Geist des Weltkongresses der Friedenskräfte in Moskau organisierte die DKP am 7. Dezember 1974 einen Kongress für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit in Bonn. Verschiedene DKP-nahe oder verbündete Organisationen nahmen daran teil – u. a. die Deutsche Friedensunion (DFU), die Vereinigte Deutsche Studentenschaft und die Internationale Liga von Frauen für Frieden und Freiheit. Als Folge des Kongresses wurde das KOFAZ gegründet. Es erklärte sich als »Bürgerinitiative, die das Ziel hat, für Frieden, Abrüstung in Ost und West, für die Beendigung des Wettrüstens, für Verständigung, Entspannung, Zusammenarbeit, friedliche Koexistenz, für die Verwirklichung der Schlussakte der Konferenz von Helsinki, für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und das Abrüstungsprogramm der Vereinten Nationen« zu arbeiten.29 Obwohl die Mitgliedschaft von KOFAZ sowohl aus nichtkommunistischen Friedensaktivisten als auch aus Kommunisten bestand, wurde KOFAZ von der DKP und anderen linken Gruppen oder Einzelpersonen mit Verbindungen zur DDR geführt und gesteuert. Fast alle Mitarbeiter seines Koordinationsbüros waren aktuelle oder ehemalige Mitglieder des WFR oder seines deutschen Zweiges, des Deutschen Friedensrates (DFR).30 Die HV A/X tat ihr Bestes in Zusammenarbeit mit der SED, um KOFAZ zu fördern und zu unterstützen. Auf einem Treffen mit der tschechoslowakischen Abteilung 36 am 20. Mai 1976 berichtete Knaust unter dem Tagesordnungspunkt »SYNONYM«, dass die ostdeutschen »Genossen« Vorbereitungen »auf eine öffentliche Versammlung prominenter Persönlichkeiten aus dem politischen und öffentlichen Leben Westdeutschlands« treffen, »um die Prinzipien der KSZE zu fördern«.31 Er nahm vermutlich damit Bezug auf die erste von KOFAZ 28  Abt. 36, I. HV, FMdI der ČSSR, Aufzeichnung über die Verhandlungen mit der Aufklärung der DDR, 18.4.1975. In: ABS, A. č. 81282/103, Bl. 156–158. 29  Arbeitsprinzipien des KOFAZ, zit. nach: Baron, Udo: Kalter Krieg und Heisser Frieden: Der Einfluss der SED und ihrer westdeutschen Verbündeten auf die Partei ›Die Grünen‹. Münster 2003, S. 60. 30  Ebenda, S. 43–55. 31  Oberst Jan Ostrovský, Ph.D., Abt. 36, I. HV, FMdI der ČSSR, Aufzeichnung über die Verhandlungen mit der Aufklärung der DDR, 18.6.1976. In: ABS, A. č. 81282/103, Bl. 213 f. »Jan Ostrovský« war einer der Decknamen des hauptamtlichen Mitarbeiters des FMdI, Jan Ondro-

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veranstaltete Großdemonstration in Bonn zwei Tage danach unter dem Motto, »Stoppt das Wettrüsten!« Unter den Rednern auf der Versammlung waren der Journalist Günter Wallraff, Uta Ranke-Heinemann, Theologin und Tochter des ehemaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann, und Pastor Martin Niemöller, ehemaliger KZ-Insasse und Symbol des christlichen Widerstands gegen die Nazis.32 Der Aufruf zu der Demonstration verband die KSZE mit der Notwendigkeit der Abrüstung im Westen: »Die Regierungen haben in Helsinki den Weg in eine neue friedliche Zukunft Europas beschritten. Wir appellieren: Nutzt die Möglichkeit der Entspannung, beginnt mit der Abrüstung!« Der Aufruf forderte »einen sofortigen Stopp des Wettrüstens«, »einen konstruktiven Beitrag« der Bundesrepublik »zu den Wiener Verhandlungen über die Kürzung von Rüstungen und Truppen in Mitteleuropa« (MBFR) und die Verwirklichung eines UNO-Beschlusses, wonach die Rüstungsausgaben um 10 Prozent zugunsten von Spenden an die Entwicklungsländer gesenkt werden sollten. Er setzte als Ziel einen Verzicht auf westdeutsche Militärprojekte wie den neuen Leopard-2-Panzer und die laufende Zusammenarbeit mit Großbritannien und Italien bei der Entwicklung von Mehrzweckkampfflugzeugen (der späteren Tornado-Klasse).33 Der Aufruf wurde nach der Demonstration von mehr als 20 000 westdeutschen Staatsbürgern unterschrieben.34 Die Gründung von KOFAZ und die darauffolgende Demonstration stellten einen Ausgangspunkt für die Neubelebung der DKP-nahen Friedensbewegung in der Bundesrepublik, zum Teil mithilfe der DDR, dar. Aber nicht alles war perfekt. In einem späteren Treffen bemerkten Wagenbreth und Knaust, dass sie, wie ihre Amtskollegen aus Prag, »verschiedene linksgerichtete Organisationen« für ihre Maßnahmen nutzten. Sie warnten aber davor, dass »zu auffällige Tätigkeit solcher Organisationen die Aufmerksamkeit der Abwehrorgane, die Agenten für Gegenspionage in solchen Organisationen haben, mit sich bringt«. Man müsste »mit solchen Realitäten rechnen, wenn man sie nutzt«.35 Das KOFAZ stand bereits unter Beobachtung des Bundesamts für Verfassungsschutz (Bf V), und es wurde danach in den Jahresberichten des Bf V als eine »DKP-beeinflusste Organisation« bezeichnet, die angeblich eine interne Bedrohung des demokratischen politischen Systems der Bundesrepublik darstelle.36 včák, geb. 1924. Tomek, Prokop: Československé bezpečnostní složky proti Rádiu Svobodná Evropa: »Objekt ALFA« [Die tschechoslowakischen Staatssicherheitsdienste contra Radio Free Europe: »Objekt ALFA«]. Praha 2006, S. 29, Fn 53. 32  Baron: Kalter Krieg, S. 60. 33  Aufruf zur Demonstration für Abrüstung am 22. Mai 1976 in Bonn. In: Blätter für deutsche und internationale Politik (BdiP) 2/1976, S. 231 f. 34  BdiP 2/1976, S. 704. 35  Objektvorgänge SYNONYM und ENZYM, Anlage zu Ostrovský, Aufzeichnung der Verhandlungen mit der Aufklärung der DDR, 11.7.1977. In: ABS, A. č. 81282/107, Bl. 20. 36  Vgl. Bundesministerium des Innern (BMI), Betrifft: Verfassungsschutz '76. Bonn 1977, S. 78.

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Zwei grundsätzliche Fragen zur Rolle der HV A bzw. der HV A/X in den Bemühungen der DDR und ihrer Verbündeten um »militärische Entspannung« infolge der KSZE sind noch ungeklärt. Erstens: Inwieweit spielte die HV A/X eine Schlüsselrolle in der Förderung und der versuchten Manipulation der westdeutschen Friedensbewegung? Waren zum Beispiel die Bemühungen der HV A/X bei der von KOFAZ organisierten Demonstration im Mai 1976 entscheidend, oder lagen ihrem Erfolg die Anstrengungen des WFR und seines westdeutschen Zweiges, des DFR, zugrunde; oder war es die Arbeit der DKP, die finanzielle und andere Unterstützung von der SED bekam; oder basierte der Erfolg auf der Fülle von westdeutschen kommunistischen und linksgerichteten Organisationen, die hinter KOFAZ standen; oder war seine Ursache ganz einfach die Anstrengung von KOFAZ selbst? Wenn man andere Hierarchien und Verbindungen in den Blick nimmt – zum Beispiel der Einfluss der KPdSU auf die SED, der Einfluss der SED auf das MfS und seine HV A und der Einfluss des KGB auf die HV A – entsteht ein komplexes Netz ineinandergreifender Instanzen. Es ist unwahrscheinlich, dass die zerstreuten Kontaktpersonen (KP) und inoffiziellen Mitarbeiter (IM) der HV A in KOFAZ und in anderen westlichen Organisationen die entscheidende Rolle in den Bemühungen der DDR zur Beeinflussung der westdeutschen Friedensbewegung spielten.37 Die HV A und das MfS im Allgemeinen sowie der KGB entwickelten ihre aktiven Maßnahmen zur Unterstützung der öffentlichen Propaganda der regierenden Staatspartei.38 Die mehrfache Subordination der HV A unter das MfS und unter die SED, international unter das KGB legt nahe, dass ihre Rolle bei der Planung – wenn auch nicht der Ausführung – der »Friedensoffensive« relativ begrenzt, aber nicht unwichtig war. Eine zweite, mit der ersten zusammenhängenden Frage bleibt ebenfalls ungeklärt: Welche aktiven Maßnahmen unternahm die HV A/X zur Unterstützung der westdeutschen Friedensbewegung und der Ziele des Warschauer Vertrags im KSZE-Prozess im Allgemeinen? Die bis jetzt – nach der Zerstörung bzw. Ablieferung der Akten der HV A – zugänglichen Quellen liefern wenig Einzelheiten. Ein zumindest seit dem Ende der DDR bekannter Aspekt der Tätigkeit der HV A/X war ihre finanzielle Unterstützung für verschiedene »legale Dächer« für Propaganda und Desinformation, wobei ihre OibE und IM bei der Beeinflussung des Inhalts und der Veröffentlichung verschiedener Materialien tätig waren. Das wichtigste »legale Dach« für die Aktivitäten der HV A/X mit Bezug 37  Kontaktpersonen (KP) waren Personen, mit denen die HV A regelmäßigen Kontakt unterhielt, die sie beeinflussen oder manipulieren wollte. KPs wussten nicht – mindestens nicht offiziell – dass sie Kontakt zur HV A oder zu einem ausländischen Geheimdienst hatten. IM wussten im Gegensatz zu KPs, dass sie für die HV A oder mindestens eine fremde Macht arbeiteten. Im Allgemeinen versuchten IM, die Befehle der HV A auszuführen. Siehe die Definitionen für beide in: Engelmann, Roger u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon: Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR. Berlin 2011, S. 158–162, 193 (Beiträge von Helmut Müller-Enbergs). 38  Marxen; Werle (Hg.): Strafjustiz und DDR-Unrecht, Bd. 4/1, S. 474 f.

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auf die westliche Friedensbewegung und den KSZE-Prozess war der Pahl-Rugenstein Verlag in Köln. Die DDR subventionierte ihn und seine Publikationen einschließlich seiner Monatshefte »Blätter für deutsche und internationale Politik« (BdiP). Diese und die anderen Bücher und Broschüren, die Pahl-Rugenstein veröffentlichte, tendierten zur außenpolitischen Linie Moskaus und Ostberlins. Die westdeutschen Verfassungsschützer bemerkten diese Tatsache und listeten Pahl-Rugenstein in ihren Jahresberichten unter kommunistisch-dominierter »Propaganda und Schulung« in Westdeutschland auf. Pahl-Rugenstein, vermerkte das Bf V, gehörte zu der von der DKP beeinflussten »Arbeitsgruppe sozialistischer und demokratischer Verleger und Buchhändler«, und unter seinen Autoren seien »zahlreiche Kommunisten und Funktionäre kommunistisch beeinflusster Organisationen«.39 Pahl-Rugenstein wollte einen eigenen Beitrag zur westdeutschen Friedensbewegung leisten. Der Verlag stellte dem KOFAZ einige Büros in seinem Verlagssitz mietfrei zur Verfügung und stellte zwei seiner leitenden Funktionäre, Achim Maske und Gunnar Matthiessen, als Lektoren ein.40 Pahl-Rugensteins »Blätter« veröffentlichten den Aufruf für die erste Großdemonstration des KOFAZ im Mai 1976 – »Stoppt das Wettrüsten!« – und danach die Vorträge von ausgewählten Rednern auf der Demonstration, deren Ansichten zu Moskaus Linie im WFR zur KSZE und Abrüstung passten.41 Vor dem Belgrader Treffen veröffentlichten die »Blätter« eine Reihe von Artikeln von Matthiessen42 und Maske43, die die Vorhaben des Warschauer Vertrags im Bereich der militärischen Entspannung auf dem Treffen unterstützten: einen Vertrag über den Nichtersteinsatz von Atomwaffen zwischen den NATO- und Warschauer Vertragsstaaten im Falle eines Kriegs und einen Vorschlag gegen die Erweiterung der bestehenden Militärbündnisse in Europa (siehe 5.6, unten). Obwohl das Hauptaugenmerk der aktiven Maßnahmen der HV A/X bezüglich des KSZE-Prozesses auf »MARS« und »militärischer Entspannung« lag, engagierte sie sich auch in anderen Aktionen mit einem engeren Bezug zur KSZE und ihrer Schlussakte. Zum Beispiel hatte die HV A/X 1976 eine Studie zu den »Vorbedingungen für die Anwendung der Prinzipien der KSZE zu Südostasien« in die Wege geleitet. Zu dieser Zeit wollte Moskau eine Konferenz über Sicher39  Siehe z. B. BMI, Betrifft: Verfassungsschutz '76, S. 88. 40  Baron: Kalter Krieg, S. 57. 41  Für die Texte des Appells siehe BdiP 2/1976, S. 231 f.; für die ausgewählten Reden siehe ebenda, S. 704–114. 42  Matthiessen: »Politische und militärische Entspannung: Entwicklung, ideologische Probleme und Ausblick«. In: BdiP 1/1977, S. 19–37. 43  Maske: »Militärische Entspannung als notwendige Konsequenz und Auftrag der KSZE«. In: BdiP 1/1976, S. 16–23; ders.: »Verzicht auf den Ersteinsatz von Kernwaffen? Zum Vertragsentwurf von Bukarest«. In: BdiP 12/1976, S. 1320–1322 und ders.: »Belgrad und die Entspannung«. In: BdiP 6/1977, S. 778–782.

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heit und Zusammenarbeit in Asien organisieren, ein Vorhaben, gegen das die USA, Japan und China opponierten.44 Darüber hinaus arbeitete die HV A/X mit ihren »Bruderorganen« zusammen, wann immer »entspannungsfeindliche Kräfte« im Westen die KSZE als »Aus­ verkauf« an den Osten bezeichneten oder angebliche östliche Verstöße gegen Prinzip 7 (Menschenrechte) oder Korb III (menschliche Kontakte) an­griffen. Vor dem Belgrader Treffen informierte Knaust seinen Amtskollegen in Prag, dass die HV A »zwei Publikationen zur Unterstützung der Beschlüsse der KSZE« nach östlicher Lesart vorbereite. Die erste sei mit dem Arbeitstitel »Europa und die deutsche Aggression 1900–1945« versehen worden und solle die Tragweite der KSZE für die Unterbindung künftiger Aggression in Europa unterstreichen. Eine zweite Publikation »Männer und Kräfte gegen die Entspannung« solle den ver­meintlichen Bemühungen der »Rechtskräfte in Westdeutschland« gewidmet werden, »Spannungen und Rüstungen in Europa aufrechtzuerhalten«.45 Es bleibt aber unklar, ob die beiden Publikationen erschienen sind.

3.2 Die sowjetische und die ostdeutsche Auslegung und Implementierung der KSZE-Schlussakte Offenbar in Vorbereitung auf ein Treffen der ZK-Sekretäre der »Bruderparteien« für internationale und ideologische Fragen in Moskau vom 25. bis 26. Januar 1976 verschickte das ZK der KPdSU etwa eine Woche zuvor eine Information »über die Notwendigkeit des verstärkten Kampfes gegen die antisowjetische Hetze« an diese Parteien.46 Auf dem Treffen warnte Ponomarjow vor einer allgemeinen »antisozialistischen Kampagne« der »bürgerlichen Propaganda« in Fragen »der Demokratie und der Freiheit der Persönlichkeit« oder von Korb III der KSZE-Schlussakte47 und sprach von zwei Hauptrichtungen dieser Kampagne. Zum einen gebe es »die regierenden Kreise der imperialistischen Staaten«, die »den Vormarsch des Sozialismus durch einen machtvollen ideologischen Gegenangriff zum Stehen bringen« möchten, »allerdings möglichst ohne dabei den Rahmen der erzielten Vereinbarungen zu übertreten, ohne die Chance für eine 44  Ostrovský: Aufzeichnung der Verhandlungen mit der Aufklärung der DDR, 18.6.1976. In: ABS, A. č. 81282/103, Bl. 213 f.; Aufzeichnung über die Gespräche zwischen Ford, dem japanischen Premierminister Takeo Miki und Kissinger, 5.8.1976. In: FRUS 1969–1976, XXXIX, S. 998 f. 45  Ostrovský, Aufzeichnung der Verhandlungen mit der Aufklärung der DDR, 18.6.1976, Bl. 222 f. 46  Information des ZK der KPdSU über die Notwendigkeit des verstärkten Kampfes gegen die antisowjetische Hetze, 18.1.1976; Anlage zum Arbeitsprotokoll des Politbüros vom 27.1.1976. In: SAPMO BA, DY 30, J IV 2/21-1946, Bl. 20–39. 47  Rede Ponomarjows auf der Beratung für internationale und ideologische Fragen zuständige Sekretäre der Zentralkomitees der Bruderparteien sozialistischer Länder, 25.1.1976; SAPMO BA, DY 30/11861, Bl. 37-71, hier 54.

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Fortsetzung des Entspannungsprozesses zu beeinträchtigen«. Diese »Hauptkräfte der imperialistischen Propa­ganda« seien »bestrebt, den sogenannten dritten Korb zur Hauptfrage zu erheben«. Ponomarjow zufolge arbeiteten sie »nicht zugunsten der Entspannung« und bemühen sich nicht »um eine Reduzierung der Rüstungen«. Ponomarjow meinte damit anscheinend Politiker wie Ford und Kissinger in den USA und Schmidt in der Bundesrepublik. Das State Department unter Kissinger konzentrierte sich hauptsächlich auf die Erfüllung des Korbes III durch Moskau und seine Verbündeten. Wann immer intern über Menschenrechte geredet wurde, ging es normalerweise um menschliche Kontakte und Informationen (Korrespondenten). In Fragen der Menschenrechte glaubten sowohl Kissinger48 wie auch Schmidt an »stille Diplomatie« – d. h., dass ihre Regierungen Einzelfälle über diplomatische Kanäle mit der UdSSR vertraulich besprechen könnten, öffentliche Konflikte mit dem Osten über die Menschenrechte im KSZE-Prozess aber besser zu vermeiden seien. Die zweite Hauptrichtung in der westlichen Kampagne, so Ponomarjow, stammte von »entspannungsfeindlichen Kräften«, die generell gegen die KSZE-Schlussakte opponierten (siehe unten 3.3).49 Um die erste angebliche »Hauptrichtung« zu kontern, propagierten die Sowjetunion und die anderen Warschauer-Pakt-Staaten in Propaganda und Diplomatie ihre entgegengesetzte Auslegung. Breschnew hatte schon in Helsinki die Grundsätze der sowjetischen Auslegung der KSZE-Schlussakte vorgetragen. Das Hauptergebnis sei, dass die »erforderliche politische Bilanz nach dem Zweiten Weltkrieg«50 gezogen worden sei – die Bestätigung der Unverletzlichkeit der europäischen Grenzen in Korb I der Schlussakte durch den Westen.51 Honecker stimmte Breschnew selbstverständlich zu. Er erklärte am 6. August 1975 in einem Interview mit dem »Neuen Deutschland«, die wichtigsten Ergebnisse der KSZE seien die Bestätigung der »souveränen Existenz und territorialen Integrität der Teilnehmerstaaten …, vor allem die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen. Das bedeutet zugleich die Fixierung der territorialen und politischen Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegsentwicklung in Europa.«52

48  Siehe z. B. die Kommentare Kissingers auf einer Pressekonferenz in Telegramm 3927 von der amerikanischen Botschaft in Ottawa (1975OTTAWA03927), 16.10.1975. In: CFPF, 1973– 1979; RG 59, NARA, AAD. 49  Rede Ponomarjows, 25.1.1976, Bl. 45. 50  Text der Erklärung Breschnews am 31.7.1975. In: Volle; Wagner (Hg.): KSZE, S. 301. 51  Gromyko bekräftigte auf einem Treffen der Außenminister der Staaten des Warschauer Vertrages im Dezember 1975: »Es ist klar, dass das Kernstück der für uns nützlichen Ergebnisse der Konferenz die multilaterale Verankerung der Positionen der sozialistischen Länder zu den territorialen Fragen darstellt.« Rede Gromykos auf der Beratung der Minister für Auswärtige Angelegenheiten der VRB, der UVR, der DDR, der VRP, der SRR, der UdSSR und der ČSSR, 16.12.1975. In: SAPMO BA, DY 30, J IV2/2A-1940, Bl. 100–121, hier 102. 52 Helsinki und wir: Interview des »Neuen Deutschlands« mit Erich Honecker. In: ND v. 6.8.1975, S. 3 f., hier 3.

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Genauso wichtig, aber im Westen weniger beachtet, war die Feststellung Breschnews in seiner Rede auf dem Gipfeltreffen von Helsinki, dass die Verabschiedung der Schlussakte durch die KSZE-Staaten die Übernahme der Leninschen »Prinzipien der friedlichen Koexistenz« als »Verhaltensnormen« in ihren Beziehungen untereinander bedeuten würde.53 Er nahm damit Bezug auf die zehn Prinzipien in Korb I, die für Moskau größeres Gewicht hatten, als die anderen Teile der Schlussakte. Breschnews Auslegung von Korb I nach der Doktrin der »friedlichen Koexistenz« hieß, dass sie nur begrenzte Anwendung finden sollte: nur für Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung. Sie galt nicht für die Beziehungen der sozialistischen Staaten untereinander; die Breschnew-Doktrin der begrenzten Souveränität und der »sozialistische Internationalismus« blieben nach sowjetischer Sicht für die Warschauer Vertragsstaaten erhalten.54 Die Prinzipien in Korb I galten auch nicht für »die durch die objektiven Gesetze der historischen Entwicklung erzeugten Prozesse des Klassen- und nationalen Befreiungskampfes«, wie Arbatow in einem Grundsatzartikel über die KSZE im September 1975 in der »Iswestija« klarstellte. Moskau habe keine »Verpflichtung« übernommen, »den sozialen ›Status quo‹ in der Welt zu garantieren«. Moskaus Unterstützung für nationale Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, die ohnehin außerhalb des Anwendungsbereichs der KSZE stattfanden, werde fortgesetzt, und eine solche Unterstützung könne nicht als »Einmischung in die inneren Angelegenheiten« anderer Länder interpretiert werden.55 (Obwohl Moskaus Aktivitäten in der Dritten Welt keine direkte Verbindung zur KSZE hatten, trugen sie vor allem in den USA zur Opposition gegen die Entspannungspolitik bei, was später Auswirkungen auf den KSZE-Prozess hatte.) Noch wichtiger für den weiteren KSZE-Prozess und die Entspannung im Allgemeinen war Moskaus Feststellung, dass der ideologische Kampf in Europa trotz der KSZE und der Annahme des Prinzips der »Nichteinmischung« fortgesetzt werde. Im Oktober 1975 wies Breschnew den französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d'Estaing zurück, als der sich auf einem Empfang in Moskau für »eine Entspannung in der ideologischen Auseinandersetzung« einsetzte. Breschnew erwiderte: »Die Mil53  Text der Erklärung Breschnews am 31.7.1975 in: Volle; Wagner (Hg.): KSZE, S. 302. 54  Vgl. Wettig, Gerhard: Argumentationslinien der UdSSR und der DDR im Blick auf die Verwirklichung ihrer KSZE-Verpflichtungen, Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien (BBOIS) 11/1977, S. 7 f. 55  Breschnew erklärte später den Führern der anderen Warschauer-Pakt-Staaten in Bezug auf die Aktivitäten Kubas (und indirekt der Sowjetunion) in Afrika: »Was ist das? Einmischung in die inneren Angelegenheiten, wie es die westliche Propaganda darzustellen versucht? Nein! Das ist die prinzipielle internationalistische Politik der Unterstützung der gerechten Sache der Völker, der Entgegenwirkung gegenüber dem Export der Konterrevolution, eine Politik, die würdig und uneigennützig ist.« Rede Breschnews vor dem PBA der WVO, 22.11.78, deutsche Fassung in: Mastny, Vojtech; Nuenlist, Christian; Locher, Anna; Selvage Douglas (Hg.): Parallel History Project on Cooperative Security, Collections, Warsaw Pact Records, Leaders (PHP, WP Leaders), S. 27, http://www.php.isn.ethz.ch/collections/colltopic.cfm?lng=en&id=19321&navinfo=14465.

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derung der internationalen Entspannung beseitigt auf keinen Fall den Kampf der Ideen. Dies ist eine objektive Tatsache.«56 Breschnews Klarstellung war nicht nur gegenüber den westlichen Ländern wichtig, sondern auch gegenüber den sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Parteien im Westen, deren Vertreter ab und zu über eine mögliche »ideologische Konvergenz« mit den KP redeten57 und gegenüber westeuropäischen kommunistischen Parteien, die sich im Geiste des Eurokommunismus hin und wieder für eine Demokratisierung oder die Achtung der Menschenrechte in Osteuropa einsetzten.58 Honecker teilte Breschnews Einschätzung. Er setzte die Annahme des Prinzipienkatalogs durch den Westen in Korb I mit einer Annahme der Prinzipien der friedlichen Koexistenz gleich.59 Die DDR hatte zusätzliche Gründe, diese Prinzipien zu unterstreichen: Die Beziehungen zwischen der kapitalistischen Bundesrepublik und der kommunistischen DDR – Staaten mit unterschiedlichen Gesellschaftssystemen – sollten nach der ostdeutschen Auslegung der KSZE-Schlussakte nach diesen Prinzipien gestaltet werden. Das hieß, dass die Bundesrepublik u. a. die Staatsbürgerschaft der DDR und die Zweistaatlichkeit Deutschlands anerkennen sollte. Nach ostdeutschem Standpunkt war eine Vereinigung bzw. eine Wiedervereinigung von Staaten mit unterschiedlichen sozialen Ordnungen unmöglich. Die östliche Bevorzugung der Prinzipien des Korbs I hieß aber auch, dass die anderen Teile der Schlussakte – vor allem die Absichtserklärungen in Korb III – nur nach diesen Grundsatzprinzipien in ihrer Leninschen Gestaltung zu verstehen und anzuwenden seien.60 Als Reaktion auf westliches Drängen auf östliche Erfüllung von Korb III hoben Moskau und seine Verbündeten Prinzip 6 »Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten« und etwas seltener Prinzip 1 »Souveräne Gleichheit, Achtung der der Souveränität innewohnenden Rechte« hervor.61 In einem Interview mit dem »ND« zur KSZE unterstrich Honecker »Nichteinmi56  AdG, S. 19777. Zum Besuch Giscards siehe auch Heyde, Veronika: Frankreich im KSZEProzess. Diplomatie im Namen der europäischen Sicherheit 1969–1983. Berlin, Boston 2017, S. 246–248. 57  Breschnew erklärte auf dem XXV. Parteikongress der KPdSU im Februar 1976: »Von einer ideologischen Annäherung des wissenschaftlichen Kommunismus an den Reformismus der So­ zialdemokraten kann absolut keine Rede sein.« Breschnew, L. I.: Rechenschaftsbericht des Zen­ tralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und die nächsten Aufgaben der Partei in der Innen- und Außenpolitik. Moskau 1976, S. 25. 58  Savranskaya, Svetlana: Human rights movement in the USSR after the signing of the Helsinki Final Act, and the reaction of Soviet authorities. In Nuti, Leopoldo (Hg.): The crisis of détente in Europe: from Helsinki to Gorbachev, 1975–1985. London, New York 1995, S. 32. 59  Honecker: Die wachsende Verantwortung sozialistischer Streitkräfte. In: ND v. 12.9.1975, S. 3 f., hier 4. 60  Breschnew: Rechenschaftsbericht, S. 25. 61 Siehe z. B. die Rede Gromykos vor den östlichen Außenministern, 16.12.1975, (siehe Fn 51), Bl. 103.

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schung« als das wichtigste Prinzip im Korb I.62 Die östliche Auslegung des Korbes III nach ihrer Interpretation der »Nichteinmischung« bedeutete praktisch eine Rückkehr zur sowjetischen Ausgangsposition vor den Genfer Verhandlungen: dass irgendwelche Kontakte oder Verbindungen über die Staatsgrenzen hinweg nur auf Basis völlig ungebundener Entscheidungen der einzelnen Länder oder auf Basis zwischenstaatlicher Verhandlungen stattfinden sollten.63 Ein zweites Prinzip im Korb I, das nach östlicher Lesart auch für die Auslegung des Korbes III maßgebend sein sollte, war Prinzip 9 »Zusammenarbeit zwischen den Staaten«. Nach diesem Prinzip würden die KSZE-Teilnehmerstaaten »sich bei der Entwicklung ihrer Zusammenarbeit als Gleiche bemühen, gegenseitiges Verständnis und Vertrauen, freundschaftliche und gutnachbarliche Beziehungen untereinander, internationalen Frieden, internationale Sicherheit und Gerechtigkeit zu fördern«.64 Moskau schlussfolgerte aus Prinzip 9, dass ausgetauschte Informationen und menschliche Kontakte dem Frieden und der Völkerverständigung dienen müssten; wenn nicht, konnten sie zensiert bzw. blockiert werden.65 Moskau ging noch einen Schritt weiter: Informationen und Kontakte, die dem Frieden und der Völkerverständigung nicht dienten, verstießen gegen die Schlussakte. Breschnew fasste den sowjetischen Standpunkt auf dem Treffen der Kommunistischen und Arbeiterparteien in Ostberlin im Juni 1976 zusammen: »… unsere Tore werden immer geschlossen sein für Druckerzeugnisse, die Krieg, Gewalt, Rassismus und Menschenhass propagieren. Umso mehr werden sie geschlossen sein für die Emissäre ausländischer Geheimdienste und der von ihnen aufgezogenen sowjetfeindlichen Emigrantenorganisationen.«66 Honecker hatte schon am 12. September 1975 zur Schlussakte erklärt: »Daher versteht sich auch von selbst, dass wir weder offene noch getarnte Versuche zulassen, unter der Flagge der ›Informationsfreiheit‹ und der ›menschlichen Kontakte‹ Spionage, Sabotage und ideologische Diversion in der DDR zu treiben und gegen unsere sozialistische Gesetzlichkeit zu verstoßen.«67 Der Osten verteidigte sich gegen westliche Klagen wegen der Nichterfüllung von Korb III nicht nur durch seine Auslegung von Korb I – d. h. Souveränität und souveräne Gleichheit, Nichteinmischung und Vereinbarkeit mit Frieden und Verständigung –, sondern auch durch Verweis darauf, dass es in den 62 Helsinki und wir. Interview des »Neuen Deutschlands« mit Erich Honecker. In: ND v. 6.8.1975, S. 3 f. 63  Wettig: Argumentationslinien, S. 12. 64  Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, 1.8.1975. In: Volle; Wagner (Hg.): KSZE, S. 242. 65  Wettig, Gerhard: Die Folgen der KSZE aus östlicher Sicht, BBOIS 7/1977, S. 17 f. 66  Stenografische Niederschrift der Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien Europas in Berlin, Hotel »Stadt Berlin«, am 29. und 30. Juni 1976, unkorrig. Fassung. In: SAPMO BA, DY 30/11824, Bl. 1–130, hier 68. 67  Honecker: Die wachsende Verantwortung, S. 3 f.

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einzelnen Teilen des Korbs III um »Absichten« gehe, die in der Zukunft zu erfüllen seien.68 Diese Perspektiven hingen aber mit der weiteren Entfaltung der Entspannung zusammen; wenn die Entspannung stecken bleiben würde, dann auch die menschlichen Kontakte und der Informationsaustausch zwischen Ost und West.69 Die beste Zusammenfassung der sowjetischen Auslegung der KSZE-Schluss­ akte und vor allem ihres Korbs III hatte Breschnew schon im Dezember 1972 vorgetragen, bevor die Genfer Verhandlungen überhaupt begonnen hatten. Der »Austausch von Ideen, die Ausweitung der Informationen sowie Kontakte zwischen den Völkern« im Osten und im Westen dürften ausgebaut werden, aber nur bei »Achtung der Souveränität, der Gesetze und Sitten jedes Landes« und unter der Bedingung, dass sie »der gegenseitigen geistigen Bereicherung der Völker, der Zunahme des Vertrauens zwischen ihnen, der Durchsetzung der Ideen des Friedens und der guten Nachbarschaft dienen« würden (siehe 1.2.1 oben).70 Nun las Moskau das Gleiche aus der Schlussakte heraus, als hätten die Genfer Verhandlungen überhaupt nicht stattgefunden und als hätte der Osten keine Zugeständnisse an den Westen gemacht. 3.2.1 Der Osten und Korb III: kulturelle Zusammenarbeit Der Osten reagierte auf westliche Kritik an der Nichterfüllung des Korbs III auf verschiedene Weise. Ein typisches Argument war, dass die westliche Fixierung auf die »Absichtserklärungen« in Korb III zu einer Vernachlässigung der anderen Teile der Schlussakte führe, vor allem in dem für den Osten viel wichtigeren Korb I. Für Gromyko hieß die Fokussierung des Westens auf Korb III, »zweitrangige Momente der Schlussakte hervorzukehren und damit ihrem wesentlichen politischen Inhalt Schaden zuzufügen«.71 Der Osten versuchte auch, den Spieß umzudrehen, indem er selbst dem Westen Menschenrechtsverletzungen vorwarf. Moskau und seine Verbündeten führten immer wieder neue Beispiele der eigentlichen oder angeblichen Nichterfüllung des Korbs III und des VII. Prinzips durch den Westen an, um die eigene bescheidene Bilanz zu rechtfertigen oder als vergleichbar besser darzustellen.72 68  Breschnew: Rechenschaftsbericht, S. 25. 69  Siehe z. B. Helsinki und wir. Interview des »Neuen Deutschlands« mit Erich Honecker. In: ND v. 6.8.1975, S. 3 f. 70  Rede L. Breschnews zum 50. Jahrestag der Bildung der UdSSR am 21.12.1972. In ders.: Auf dem Wege Lenins. Reden und Ausätze, Bd. 4. Berlin 1975, S. 48–109, hier 85. 71  Rede Gromykos, 16.12.1975 (siehe Fn 51), Bl. 103. 72  Nach dem US-Botschafter in Moskau Walter J. Stoessel gab es in den sowjetischen Massenmedien ein »steady drumbeat of nasty carping about Western CSCE implementation, interspersed with honorable mention of virtuous Soviet conduct«. Telegramm 2570 aus Moskau

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Ein ständiger Vorwurf des Ostens gegenüber dem Westen war seine angebliche Vernachlässigung der in Korb III vorgeschriebenen kulturellen Zusammenarbeit. Während der Westen auf Punkt 1 »Menschliche Kontakte« und Punkt 2 »Information« des Korbs III fokussierte, legten Moskau und seine Verbündeten ihren Schwerpunkt im Korb III auf Punkt 3 »Zusammenarbeit und Austausch im Bereich der Kultur«.73 Moskau und seine Verbündeten bereiteten statistische Aufzeichnungen über kulturelle Zusammenarbeit für das Belgrader Nachfolgetreffen vor, um ihre Beachtung des Korbes III exemplarisch zu beweisen.74 Das war auch die Strategie der DDR. Ein vom SED-Politbüro genehmigter Maßnahmenkatalog zur »Realisierung« der KSZE-Schlussakte enthielt einen pfiffigen Vorschlag für die ostdeutsche Buchhaltung zur KSZE, adressiert an das Kulturministerium: »Die Beteiligung an internationalen kulturellen und künstlerischen Veranstaltungen in den Teilnehmerstaaten durch Entsendung von Ensembles, Solisten, Ausstellungen usw. sowie internationale Höhepunkte des Kultur- und Kunstlebens in der DDR sind stärker als Beiträge zur Verwirklichung der Schlussakte zu popularisieren.«75 Diese Art von Buchhaltung blieb bis 1989 ein Teil der östlichen Taktik im KSZE-Prozess, und der Osten war in diesem Bereich in der Tat entgegenkommender als in den anderen Teilen des Korbs III.76 3.2.2 Die UdSSR und Korb III: Information und menschliche Kontakte Moskaus defensive Auslegung der Schlussakte bedeutete aber nicht, dass es keinerlei Bemühungen unternommen hätte, die Bestimmungen des Korbs III in den Bereichen der menschlichen Kontakte und der Information zu erfüllen. Die amerikanische Botschaft in Moskau analysierte die Lage am 19. Februar 1976 in einem Telegramm nach Washington. Die Sowjets schienen nach Helsinki von dem »Trommelfeuer westlicher Forderungen – privat und vor allem öffentlich – für die Implementierung der KSZE im Bereich der Menschenrechte, als (1976MOSCOW02570), 19.2.1976. In: Central Foreign Policy Files (CFPF), 1973–1979; Record Group (RG) 59, General Records of the Department of State; U.S. National Archives (NARA) at College Park, MD [herunterladen von Access to Archival Databases at www.archives.gov]. Henceforth; CFPF, 1973–1979; RG 59, NARA, AAD. 73  Siehe z. B. die Rede Breschnews in: Stenografische Niederschrift der Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien Europas, Bl. 66. 74  Telegramm 1674 aus Bern (1976BERN01674), 21.4.1976. In: CFPF, 1973–1976; RG 59, NARA, AAD. Washington fand die sowjetische Statistik seinerseits nicht überzeugend. Siehe Telegramm 177231 von Department of State (1976STATE177231), 17.7.1976; ebenda. 75  Fischer, Axen und Markowski, Vorlage für das Politbüro des ZK der SED, 10.2.1976. In: SAPMO BA, DY 30, J IV 2/2A-1956, Bl. 46–60, hier 56. 76  Alle waren aber nicht von diesen Statistiken überzeugt, nach denen der Osten mehr für die kulturelle Zusammenarbeit tat als der Westen. Siehe z. B. Telegramm 177231 von Department of State (1976STATE177231), 17.7.1976. In: CFPF, 1973–1976; RG 59, NARA, AAD.

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einen ›Prüfstein‹ ihrer damaligen und künftigen Absichten« überrascht worden zu sein. Sie hätten deshalb mit einer lauten Kampagne über ihre Auslegung der Schlussakte und angebliche westliche Verstöße reagiert. Obwohl diese defensive Haltung nun Bestandteil der sowjetischen KSZE-Politik geworden sei, hätten die Sowjets inzwischen begonnen, »offensiver« vorzugehen, indem sie konkrete Schritte zur Implementierung der Schlussakte vor, während und nach ihrem Parteikongress im Februar 1976 unternahmen.77 Westliche Diplomaten erfuhren Ende 1975, dass der stellvertretende Außenminister und KSZE-Verhandlungsleiter Kowaljow mit der Formulierung eines Implementierungsprogramms beauftragt wurde.78 Teil des von ihm verfassten Programms seien nicht nur Breschnews Konferenzvorschläge in Korb II,79 sondern auch neue, konkrete Schritte in Korb III. Im Bereich der »Information« erklärte Moskau seine Bereitschaft, die Arbeitsbedingungen für Journalisten schrittweise zu verbessern. Auf der Basis der Gegenseitigkeit und eines bilateralen Austausches von Vermerken gestattete Moskau ausländischen Journalisten einjährige Mehrfachvisa für Ein- und Ausreise.80 Zu den »menschlichen Kontakten« entschied Moskau, bilaterale Absprachen über Familienzusammenführung zu treffen, die Gebühren zur ständigen Ausreise aus der UdSSR um 25 Prozent zu verringern und die Wartezeiten für Visa zu verkürzen.81 Weitere Schritte zur Implementierung des Korbes III folgten im Jahr 1976. Am Vorabend des ersten Jahrestages des Gipfeltreffens in Helsinki verkündete Moskau, dass ausländische Korrespondenten sich für Interviews direkt an sowjetische Funktionäre wenden könnten, anstatt sie wie bisher über das Außenministerium zu beantragen.82 In den empfindlichen Bereichen der Kontakte und Begegnungen auf der Grundlage familiärer Bindungen, der Familienzusammenführung und der Eheschließung zwischen Bürgern verschiedener Staaten aber fand man wenig konkreten Fortschritt in sowjetischen Regierungserklärungen oder in der sowjetischen Presse. Trotzdem gab es ab und zu Fortschritte, die Moskau in diplomatischen Gesprächen als KSZE-Implementierung reklamieren konnte. So stieg 1976 die Anzahl von Familienbesu77  Telegramm 2570 aus Moskau (1976MOSCOW02570), 19.2.1976. In: CFPF, 1973–1976; RG 59, NARA, AAD. 78  Ebenda; Telegramm 18425 aus Moskau (1976MOSCOW18425), 27.12.1975. In: CFPF, 1973–1976; RG 59, NARA, AAD. 79  Telegramm 6899 aus Bonn (1976BONN06899), 23.4.1976. In: CFPF, 1973–1976; RG 59, NARA, AAD. 80 Telegramm 18425 aus Moskau (1976MOSCOW18425), 27.12.1975. In: CFPF, 1973– 1976; RG 59, NARA, AAD. Moskau genehmigte solche Visen für amerikanische und westdeutsche Journalisten in den letzten Monaten 1975. AAPD, 1975/II, S. 1308, Fn 20, u. S. 1606, Fn 23. 81  Telegramm 18425 aus Moskau (1975MOSCOW18425), 27.12.1975 u. Telegramm 6899 aus Bonn (1976BONN06899). 82  Telegramm 206955 von Department of State an die amerikanische Botschaft in Moskau u. a. (1976STATE206955), 19.8.1976. In: CFPF, 1973–1976; RG 59, NARA, AAD.

Sowjetische und ostdeutsche Auslegung der KSZE-Schlussakte«

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chen zwischen den USA und der UdSSR gegenüber dem Vorjahr um 40 Prozent,83 und die Schweiz konnte eine Erfolgsrate von 100 Prozent verbuchen – alle ihre 30 Fälle wurden von Moskau erledigt.84 Im Bereich der Ausreise ließ Moskau 1976 einige bekannte »Refuseniks« frei und gestattete ihnen die Ausreise.85 Die Anzahl sowjetischer Visen für ständige Ausreise nach den USA wurde 1976 im Vergleich zu 1975 verdoppelt, hauptsächlich wegen einer Ausreisewelle von Armeniern,86 und im Falle der Ausreise von deutschen Volkszugehörigen nach der Bundesrepublik verdreifachte sich die Zahl der sowjetischen Genehmigungen im ersten Halbjahr 1976. Der ehemalige westdeutsche Delegationsleiter in Genf, Götz von Groll, nun Legationsrat in Bonn, sagte einem amerikanischen Botschaftsangehörigen im Juli 1976, dass die sowjetische Implementierung des Korbes III »ziemlich zufriedenstellend« für Bonn sei.87 Die Zahl der Ausreisegenehmigungen für jüdische Emigranten nach Israel oder den Westen aber blieb im ersten Halbjahr 1976 auf dem gleichen Niveau wie 1975.88 Moskaus Schritte zur Erfüllung des Korbes III, obwohl vielleicht zufriedenstellend für Bonn, genügten den anderen NATO-Partnern nicht.89 Im Juli 1976 berichtete die amerikanische Botschaft in Moskau, dass nach dem Parteikongress das sowjetische Programm zur Implementierung der KSZE-Schlussakte »praktisch verschwunden« sei.90 Keine weiteren Schritte würden unternommen, und die sowjetische Presse konzentriere sich auf die »beispielhafte« Erfüllung der Schlussakte durch Moskau und die angeblich fehlende Implementierung des Westens. Moskau übertrieb auch seine eigenen Erfolge bei der Implementierung von Korb III. Ein Beispiel war die Einfuhr von Zeitungen aus anderen KSZE-Ländern. Moskau behauptete 1976, 18 zusätzliche Titel aus den KSZELändern in die UdSSR eingeführt zu haben, doch tatsächlich wurden sie in kleinen Mengen an Sammelpunkten für westliche Ausländer in der Sowjetunion verkauft.91

83 Ebenda. 84  Telegramm 2570 aus Moskau (1976MOSCOW02570), 19.2.1976. In: CFPF, 1973–1976; RG 59, NARA, AAD. 85 Ebenda. 86  Telegramm 206955 von Department of State, 19.8.1976. 87  Telegramm 11930 aus Bonn (1976BONN11930), 15.7.1976. In: CFPF, 1973–1976; RG 59, NARA, AAD. 88  Telegramm 181095 von Department of State (1976STATE181095), 22.7.1976. In: CFPF, 1973–1976; RG 59, NARA, AAD. 89 Telegramm 170622 von U.S. Department of State (1976STATE170622), 9.7.1976. In: CFPF, 1973–1976; RG 59, NARA, AAD. 90 Telegramm 12022 aus Moskau (1976MOSCOW12022), 29.7.1976. In: CFPF, 1973– 1976; RG 59, NARA, AAD. 91  Telegramm 177231 von Department of State (1976STATE177231), 17.7.1976. In: CFPF, 1973–1976; RG 59, NARA, AAD.

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Sowjetunion, DDR und die KSZE-Schlussakte

Meist handelte es sich um Parteiblätter der westlichen KP oder andere linksgerichtete westliche Zeitungen, die »keine Lügen über die Sowjetunion« verbreiteten.92 3.2.3 Die DDR und Korb III: Information und menschliche Kontakte Wenn es um die Implementierung der Bestimmungen zu Information und menschlichen Kontakten ging, hatte die DDR – im Vergleich zur Sowjetunion – keine weiterreichenden Absichten.93 Viele der von Moskau verkündeten Schritte zur Implementierung der Schlussakte wurden von Ostberlin infolge des Viermächte-Abkommens über Berlin, des Grundlagenvertrags mit der Bundesrepublik und anderer deutsch-deutscher Abkommen schon längst praktiziert. Mielke sah aus MfS-Sicht auch keinen Bedarf für neue grundlegende Maßnahmen zur Erfüllung des Korbes III94 infolge der Ausarbeitung eines »umfassenden Grundlagenmaterials« durch die ZAIG im August 1975.95 Bei der Vorbereitung des Dokuments wurden die einzelnen Diensteinheiten des MfS angewiesen, auch »bedeutsame Festlegungen und Absichtserklärungen im Abschlussdokument« zu finden, »denen durch die DDR noch nicht in dem Umfange Rechnung getragen wird«.96 Zu Korb III fand das MfS in Bezug auf »Grenzüberschreitenden Verkehr und Tourismus«, dass die Empfehlungen in der 92 So kommentierte der sowjetische Sonderbotschafter Mendelewitsch die eingeführten Zeitungen gegenüber seinen schweizerischen Gesprächspartnern. Telegramm 6899 aus Bonn (1976BONN06899), 23.4.1976. In: CFPF, 1973–1976; RG 59, NARA, AAD. 93  Siehe z. B. Rede des Genossen Oskar Fischer auf der Beratung der Minister für Auswärtige Angelegenheiten der VRB, der UVR, der DDR, der VRP, der SRR, der UdSSR und der ČSSR am 15./16. Dezember 1975 in Moskau, o. D. In: SAPMO BA, DY 30, J IV 2/2A-1940, Bl. 128– 142, hier 138. 94  Als Außenminister Fischer im November 1975 Mielke um einen Kommentar zum Entwurf des Maßnahmenkatalogs zur »Realisierung« der KSZE bat, schlug der keine Änderungen aufgrund der Bestimmungen des Korbes III vor. Er schlug die Aufnahme einiger Passagen vor – u. a. einen Passus, dass Versuchen des Westens, die Schlussakte »im Sinne ihrer rechtswidrigen Ziele, Pläne und Absichten« bezüglich Westberlin auszulegen, »offensiv« zu begegnen sei; eines weiteren Passus zur »Entlarvung […] der diskriminierenden Handelspolitik der EG gegenüber den sozialistischen Staaten« als Verstoß gegen die Schlussakte; einer Empfehlung zur Koordination unter den RGW-Staaten bei industrieller Kooperation mit westlichen Staaten und eines gesonderten Punktes zur Vorbereitung der DDR mit der UdSSR und den anderen sozialistischen Staaten auf die Belgrader Nachfolgekonferenz. Brief von Mielke an Fischer, 17.11.1975; BStU, MfS, SdM, Bd. 1014, Bl. 54 f. Die Änderungsvorschläge, die Mielke ursprünglich von Markus Wolf bekam, wurden in die Vorlage mit aufgenommen und anschließend bestätigt. Siehe Bemerkungen zum Entwurf der Politbüro-Vorlage über die KSZE, 13.11.1975; BStU, MfS, ZAIG, Bd. 11702, Bl. 280–283 und Fischer, Axen und Markowski, Vorlage, 10.2.1976 (siehe Fn 75), Bl. 46–60. 95  Oberstleutnant Wilke, HA VI, Leiter Bereich Auswertung, Information u. Speicherführung, 18.8.1975. In: BStU, MfS, HA VI/20707, Bl. 178 f. hier 179. 96 Leiter, ZAIG, an die Leiter der Hauptabteilungen u. selbstständigen Abteilungen, 9.8.1975. In: ebenda, Bl. 176 f., hier 176.

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Schlussakte »im Wesentlichen durch das innerstaatliche Recht der DDR« schon realisiert worden seien.97 Das Gleiche gelte für »Familienzusammenführung und Eheschließung zwischen Bürgern verschiedener Staaten«. Auf diesem Gebiet habe die DDR »umfangreiche Vorleistungen erbracht, die über den Rahmen der in der Schlussakte der KSZE fixierten Absichten« hinausgingen.98 Das MfS konstatierte aber, dass es künftig Probleme für die DDR geben könne. Es gebe »bedeutsame Absichtserklärungen« in Korb III, denen in der DDR »noch nicht – oder noch nicht im erforderlichen Maße – Rechnung getragen wird bzw. getragen werden kann«.99 Im Bereich des »Grenzüberschreitenden Verkehrs und des Tourismus« dürften nach ostdeutschem Gesetz nur Rentner – d. h. keine DDR-Bürger im erwerbstätigen Alter – »zum Besuch von Verwandten nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin« reisen. Eine Ausnahme bildeten teilweise »dringende Familienangelegenheiten«, aber nur, wenn es um »Großeltern, Eltern, Kinder und Geschwister« des Antragstellers ging.100 Im Bereich der »Familienzusammenführung und Eheschließung zwischen Bürgern verschiedener Staaten« dürften DDR-Bürger nur zu »Familienmitgliedern« nach der Definition im Familiengesetzbuch der DDR übersiedeln – d. h. »Ehegatten zu Ehegatten, Eltern mit minderjährigen Kindern oder minderjährige Geschwister mit volljährigen Geschwistern, soweit die Eltern verstorben sind«.101 Darüber hinaus wurde keine Ausreise gestattet, wenn »Ehegatten, Eltern oder Kinder des Antragstellers die DDR nach dem 13.8.1961 ungesetzlich verlassen haben« sowie keine Einreise von Personen gestattet, die »die DDR nach dem 31.12.1971 ungesetzlich verlassen« haben.102 Entgegen den Empfehlungen der Schlussakte, genehmigte die DDR auch keine Übersiedlung zu »Familienangehörigen, die nach dem 31.12.1971 die DDR ungesetzlich verlassen haben«, selbst wenn der Antrag »dringenden Charakter« hatte, wie im Falle von »kranken oder alten Personen«.103 Dazu schrieb die ZAIG: Im Interesse der Gewährleistung einer hohen staatlichen Sicherheit der DDR, insbesondere der Vorbeugung und Verhinderung des ungesetzlichen Verlassens der DDR sowie unter Berücksichtigung dessen, dass die DDR bereits bedeutende Vorleistungen erbracht hat und eine erneute Veränderung eine weitere nicht unerhebliche Erhöhung der Ausreisen zur Folge hätte, sollten diese Festlegungen beibehalten werden.104 97  Ohne Autor und ohne Titel, Problemübersicht und Maßnahmenkatalog des MfS zur KSZE, Datierung: ca. Oktober 1975; vermutlich von der ZAIG oder eventuell auch (wegen des Fundorts) von der Rechtsstelle des MfS erstellt; unpag. Loseblattsammlung. In: BStU, MfS, RS Nr. 289, Bl. 97–332, hier 161. Im Folgenden als »MfS, Maßnahmenkatalog, ca. Okt. 1975« bezeichnet. 98  Ebenda, Bl. 210. 99  Ebenda, Bl. 100. 100  Ebenda, Bl. 191. 101  Ebenda, Bl. 211. 102  Ebenda, Bl. 225. 103  Ebenda, Bl. 226. 104  Ebenda, Bl. 225.

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Die ZAIG notierte in diesem Zusammenhang eine Tendenz unter Personen, »die in jüngster Zeit die DDR ungesetzlich verlassen haben und verstärkt versuchen, über die Übersiedlung/Familienzusammenführung ihre Ehegatten bzw. Kinder nachzuziehen«. Dieses Thema wurde bald unter dem Begriff »Zwangsadoptionen« aktuell (siehe unten 4.2.1). In solchen Fällen seien die »staatlichen Organe« der DDR nicht an »der Trennung der Familie« schuld, und weil »entsprechend der Schlussakte der KSZE« die Flüchtlinge in der DDR ansässig gewesen waren, stand »in diesen Fällen in erster Linie die Forderung nach Rückkehr an den ständigen Wohnsitz der Familie«.105 Entgegen Korb III lasse die DDR im Falle der Eheschließung einen Ehegatten nur dann in das nichtsozialistische Ausland übersiedeln, »wenn die Ehe mit Genehmigung der zuständigen Organe der DDR geschlossen wurde«.106 Nach Meinung des MfS sollte davon »unter Beachtung der Sicherheitserfordernisse nicht abgegangen werden, weil anderenfalls durch die Zulassung von ›Scheinehen‹ das ungesetzliche Verlassen der DDR begünstigt wurde«.107 Zur »Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Journalisten« hieß es: »Die getroffenen Festlegungen in der Schlussakte der KSZE gehen nicht über den Rahmen unserer gesetzlichen Bestimmungen auf diesem Gebiet hinaus.«108 Trotzdem notierte die ZAIG: »Die Verpflichtung der Teilnehmerstaaten, einem ausgewiesenen Journalisten die Gründe für diese Maßnahme mitzuteilen und auf Antrag seinen Fall zu überprüfen, ist in den Rechtsvorschriften der DDR nicht vorgesehen.« Das MfS sagte (allzu optimistisch) voraus: »Da die Gründe nicht in jedem Fall detailliert mitgeteilt werden müssen, kann diese Verpflichtung flexibel gehandhabt werden.«109 Im Allgemeinen gelte der Vorbehalt: Auf »die Genehmigung bestimmter journalistischer Vorhaben durch das MfAA kann nicht verzichtet werden, da sonst die journalistische Tätigkeit bei Organisationen und offiziellen Institutionen außer Kontrolle geraten würde«.110 Trotz der MfS-intern zugegebenen Unzulänglichkeiten der ostdeutschen Praxis in Bezug auf Information und menschliche Kontakte plante die SED keine größeren Änderungen wegen Korb III. Die SED würde Moskaus Beispiel folgend111 nur eine kleine Modifikation im Bereich der Information einleiten – nämlich die Prüfung »ob einige Beispiele für die Erhöhung der Menge sowie der 105  Ebenda, Bl. 226. 106  Ebenda, Bl. 213. 107  Ebenda, Bl. 214. 108  Ebenda, Bl. 267. 109  Ebenda, Bl. 270. 110  Ebenda, Bl. 271. 111  Auf der Beratung der ZK-Sekretäre im Januar 1976 hatte Ponomarjow verkündet, dass Moskau einen neuen »konsultativen Zwischenressortrat« gegründet habe, der zu entscheiden hat, »welche bürgerlichen Publikationen und in welchen Mengen importiert werden sollen«. Die Hauptaufgabe der neuen Körperschaft war aber nicht die Förderung eines solchen Austausches, sondern die »Vermeidung ideologischer Unkosten«. Rede Ponomarjows, 25.1.1976, Bl. 52 f.

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Anzahl von Titeln ausgewählter Zeitungen, die aus anderen Teilnehmerstaaten eingeführt werden, geschaffen werden können«.112 Der von MfS und SED-Politbüro genehmigte Maßnahmenkatalog zeigt, dass Ostberlin sich nicht zum Ziel gesetzt hatte, die Absichtserklärungen in Korb III der Schlussakte zu erfüllen, sondern die »Realisierung« der Schlussakte nach östlicher Lesart voranzutreiben. Für die SED war Korb III hauptsächlich eine Frage verbesserter Auslandspropaganda.113 In Bezug auf Korb III war die folgende Maßnahme im Katalog maßgebend: »Im Hinblick auf die Folgekonferenz 1977 in Belgrad ist ein aussagekräftiges Weißbuch zu erarbeiten, mit dem der Nachweis geführt wird, dass die DDR in Übereinstimmung mit der Schlussakte handelt und der Nachholbedarf bei den kapitalistischen Staaten liegt.«114 3.2.4 Organisatorische Anpassung des MfS Obwohl die SED und das MfS sich gegen die Verwirklichung der Menschenrechte bzw. die Ausweitung der menschlichen Kontakte im Sinne der westlichen Auslegung der KSZE-Schlussakte stellten, deutete Breschnew gegenüber Honecker im Juni 1975 an, dass die DDR in der Entspannungspolitik schon zu viel Entgegenkommen gegenüber Bonn gezeigt habe. Er tadelte Honecker für die wachsende Verschuldung der DDR gegenüber der Bundesrepublik115 und die »hohe Besucherzahl« von Personen aus der Bundesrepublik und Westberlin in der DDR – ungefähr 8 Millionen Personen seit der Unterzeichnung der bilateralen Verträge zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Breschnew erklärte: »In politischer Hinsicht werden nicht alle diese Menschen schlecht sein, aber es ist klar, dass der Gegner seine Agenten schickt.« Deshalb solle nach der KSZE bilateral konsultiert werden, so Breschnew, wie diese Besucherzahl einzudämmen sei.116 Honecker, der inzwischen die finanziellen und politischen Vorteile der begrenzten Öffnung der DDR gegenüber dem Westen zu schätzen lernte, widersprach: »Sobald wir irgendeine Einengung des Besucherverkehrs durchführen, geht um die ganze Welt das Geschrei, wir würden die getroffenen Vereinbarungen nicht einhalten.« Zudem könne die DDR, so Honecker, sich gut verteidigen: »Natürlich verkennen wir nicht, dass mit diesem Besucherverkehr 112  Fischer, Axen und Markowski, Vorlage, 10.2.1976 (siehe Fn 75), Bl. 58. 113  Im Maßnahmenkatalog des SED-Politbüros stand: »Die einschlägigen Empfehlungen der Schlussakte sind zur umfassenderen Verbreitung von Informationen über die DDR in kapitalistischen Staaten zu nutzen.« Fischer, Axen und Markowski, Vorlage, 10.2.1976, Bl. 57. 114  Ebenda, Bl. 59. 115  Bericht des Ersten Sekretärs Honecker vor dem Politbüro des Zentralkomitees der SED über das Gespräch mit dem Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU Breschnew am 17. Juni 1975 in Moskau (Auszug), 18.6.1975. In: DzD VI/4 (1975/1976), S. 211–222, hier 216. 116  Ebenda, S. 211 f.

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eine ganze Reihe Probleme auftreten. Soweit es sich hier um Agenturen handelt, habe es ja schon früher die Staatssicherheit gegeben, und die gebe es noch.«117 Honecker konnte auch deshalb so reden, weil das MfS seit den Anfängen der Entspannungspolitik ständig gewachsen war und dieses Wachstum nach dem Abschluss der KSZE weiterging. Es war natürlich auch ein Zeichen dafür, dass die SED Auswirkungen der KSZE oder der Entspannungspolitik im Allgemeinen im humanitären Bereich möglichst vermeiden bzw. bekämpfen wollte. In den Jahren 1970 bis 1979 wuchs die Zahl der hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS von 43 000 auf 72 000, d. h. um 67 Prozent.118 Die Zahl der inoffiziellen Mitarbeiter – bzw. der IM-Erfassungen des MfS – wuchs in denselben Jahren der Entspannungspolitik von 139 000 auf 170 000, um 22 Prozent. Zur Finanzierung dieses Wachstums wurde der Etat des MfS im selben Zeitraum von 1,3 auf 2,5 Milliarden Mark fast verdoppelt, mit dem stärksten Zuwachs in den Jahren 1975 bis 1976.119 Obwohl der größte Zuwachs in den zentralen bürokratischen Abteilungen des MfS wie der Hauptabteilung Kader und Schulung stattfand, kam die Expansion vornehmlich den operativen Diensteinheiten zugute, die mit den Auswirkungen der Westöffnung zu tun hatten. Die für Spionageabwehr zuständige Hauptabteilung II wuchs von 1970 bis 1979 um 250 Prozent. Sie war nicht nur für die Überwachung der (vorwiegend neuen) diplomatischen Missionen anderer Länder in der DDR zuständig, sondern auch der wachsenden Anzahl von westlichen Journalisten in der DDR. Wegen der erweiterten Spionagemöglichkeiten im Ausland infolge der Eröffnung neuer diplomatischer Missionen der DDR und ihrer Sicherung wurde in diesen Jahren der Personalbestand der Auslandsspionage, der HV A, verdoppelt. Starkes Wachstum erfuhr auch die Telefonüberwachung (Abteilung 26), die für die Absicherung des diplomatischen Funkverkehrs zuständige Abteilung Nachrichten sowie das Chiffrierwesen. Auch die ZAIG expandierte um 116 Prozent im Ministerium, aber mehr noch in den 1980er-Jahren.120 Weil das MfS gesteigerte Probleme mit Fluchten und Fluchthelfern (MfS: »kriminellen Menschenhändlerbanden«, KMHB) erwartete, wurde eine neue Diensteinheit des MfS, die Zentrale Koordinierungsgruppe (ZKG), von Mielke im Januar 1975 angekündigt und im Dezember 1975 gegründet. Ursprünglich verfügte sie über ungefähr 100 Mitarbeiter in der Zentrale und in den Bezirken, 117  Ebenda, S. 215. 118  Süß: Der KSZE-Prozess der 1970er Jahre und die DDR-Staatssicherheit, S. 333; vgl. Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter (BStU, MfS-Handbuch; 4/1), S. 98–101. 119  Süß: Der KSZE-Prozess der 1970er Jahre, S. 333; Gieseke, Jens: Die Hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Personalstruktur und Lebenswelt 1950–1989/90. Berlin 2000 (=Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten; 20), S. 558. 120  Süß: Der KSZE-Prozess der 1970er Jahre, S. 333; Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter (BStU, MfS-Handbuch; 4/1), Beilage.

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aber diese Zahl ist in den folgenden Jahren erheblich gewachsen.121 Ein wesentlicher Grund für das Wachstum war der steile Anstieg der Zahl von Antragstellern auf ständige Ausreise nach Westberlin und der Bundesrepublik, der als wichtigste Auswirkung der KSZE-Schlussakte auf die Gesellschaft in der DDR galt (siehe unten 4.2).

3.3 »Entspannungsfeindliche Kräfte«, östliche Dissidenten und die KSZE-Schlussakte Wie erwähnt, sprach Ponomarjow auf dem Treffen der ZK-Sekretäre der »Bruderparteien« für internationale und ideologische Fragen im Januar 1976 im Zusammenhang mit der KSZE-Schlussakte von einer zweiten »Hauptrichtung« in der »bürgerlichen Propaganda« in Fragen »der Demokratie und der Freiheit der Persönlichkeit«122: den »entspannungsfeindlichen Kräften«, den »extrem reaktionären, aggressiven Kreisen des Imperialismus […], die nicht abgeneigt sind, den Entspannungsprozess überhaupt umzustoßen und zum Kalten Krieg mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen zurückzukehren«.123 Die NATO sei eine solche »Kraft«, aber das Etikett galt für alle Kritiker der westlichen Entspannungspolitik. Ponomarjow nannte einige konkrete Beispiele in den USA: solche »eingefleischten Antikommunisten« wie den Vorsitzenden des Gewerkschafts-Dachverbands der USA der American Federation of Labor/Congress of Industrial Organizations (AFL-CIO) George Meaney und den US-Senator Henry »Scoop« Jackson von der Demokratischen Partei und schließlich »Vertreter des Militär-Industrie-Komplexes« wie US-Verteidigungsminister James Schlesinger. Hinsichtlich Meaney wurde von Moskau besonders übel vermerkt, dass er Alexander Solschenizyn, der kurz zuvor in die USA nach seiner Ausweisung nach der Bundesrepublik (März 1974)124 emigriert war, eingeladen hatte, vor Fords Abreise nach Helsinki eine Rede zu halten. Solschenizyn, den Ford – Kissingers Rat folgend – nicht in das Weiße Haus eingeladen hatte, kritisierte 121  Vgl. Süß: Der KSZE-Prozess der 1970er Jahre, S. 332 f.; Eisenfeld, Bernd: Die Zentrale Koordinierungsgruppe. Bekämpfung von Flucht und Übersiedlung. Berlin 1995. 122  Rede Ponomarjows, 25.1.1976 (siehe Fn 47), Bl. 50. 123  Ebenda, Bl. 45. 124  Das sowjetische Politbüro hatte offenbar die Entscheidung getroffen, Solschenizyn auszubürgern anstatt ihn zu verhaften, u. a. weil die erwartete Gegenreaktion im Westen einen erfolgreichen Abschluss der Genfer KSZE-Verhandlungen hätte gefährden können. Vgl. Auszug aus dem Protokoll des Politbüros der KPdSU, 7.1.1974. In: Korotkow, A.; Meltschin, S.; Stepanow, A. (Hg.): Akte Solschenizyn 1965–1977. Geheime Dokumente des Politbüros der KPdSU und des KGB. Berlin 1994, S. 344–358; Kovalev: Looking Back, S. 24 f. Über den »geheimen Kanal« zu Bahr hatte KGB-Generalmajor Keworkow die Ausreisemodalitäten Solschenizyns nach der Bundesrepublik geregelt. Siehe Schreiben von Andropow an Breschnew, 7.2.1974. In: Korotkow (Hg.): Akte Solschenizyn, S. 391–394; Bahr, Egon: Zu meiner Zeit. München 1996, S. 454.

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die KSZE im Allgemeinen und vor allem Moskaus Einmischungsverbot. Der russische Schriftsteller erklärte seinem amerikanischen Publikum: »Mischen Sie sich ein. Mischen Sie sich immer wieder ein, so oft Sie nur können.«125 Wie das Beispiel Solschenizyn und seines Unterstützers George Meaney zeigt, forderten die meisten Entspannungskritiker im Westen nicht nur die Erfüllung des Korbes III durch den Osten, sondern auch die Achtung der individuellen Menschenrechte gemäß Prinzip 7. Sie wiesen das vom Osten hoch gehaltene »Einmischungsverbot« in Prinzip 6 zurück. Die amerikanischen Entspannungskritiker thematisierten die Menschenrechte nicht nur in der Außenpolitik, sondern auch in innenpolitischen Ausein­an­ dersetzungen. Jackson, Meaney und die Demokraten im Kongress kritisierten die republikanische Ford-Administration und vor allem Kissinger, dass sie sich im KSZE-Prozess und generell nicht genug für die Menschenrechte in Ost­europa engagierten. Die Auseinandersetzung wurde mit dem Voranschreiten des Wahljahres 1976 noch verschärft. Die Kritik der »entspannungsfeindlichen Kräfte« – erklärte Mielke im März 1976 – »wirkt sich auch im bestimmten Ma­ße auf die Politik der Regierungen der imperialistischen Staaten aus«. Ford habe zum Beispiel in März 1976 verkündet, dass auf das Wort »Entspannung« verzich­tet werden solle: »Friede durch Stärke« sei die Politik seiner Regierung.126 Trotz der Opposition Kissingers und ungeachtet eigener Bedenken unterschrieb Ford am 3. Juni auch den Gesetzesentwurf zur Schaffung der Helsinki-Kommission des amerikanischen Kongresses, die sich für die Dissidenten und Menschenrechte in Osteuropa als Bestandteil des KSZE-Prozesses einsetzte.127 Über die Kommission entstand eines der frühesten und wichtigsten transnationalen Kontaktnetze nicht nur zwischen Menschenrechtsaktivisten in Ost und West, sondern auch zwischen Dissidenten und westlichen Entspannungskritikern. Der Grundsatz der Kommission, wonach die Ford-Administra­tion sich mit Bezug auf die KSZE-Schlussakte stärker für die Menschenrechte in Osteuropa einsetzen sollte, wurde 1976 in der Wahlkampagne des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Jimmy Carter, dank seines Beraters Zbigniew Brzezinski, als Kritik an Ford übernommen.

125  In einem Interview mit der »New York Times« im Juli 1975 bezeichnete Solschenizyn Fords Teilnahme an der Konferenz in Helsinki als »Verrat an den Völkern Osteuropas«. Information des KfS [KGB] über die feindliche Tätigkeit Solschenizyns und das nachlassende Inte­resse für seine Person im Ausland und in der UdSSR, 12.10.1976. In: Korotkow (Hg.): Akte Solschenizyn, S. 433–439, hier 436. Siehe auch Editorial Note. In: FRUS, 1969–1976, XXXIX, S. 921 f. 126  Vortrag Mielkes vor leitenden Kadern der SED, 29.3.1976. In: BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 5512, Bl. 2–44, hier 23. Mielke drückte fast Mitgefühl für den amerikanischen Präsidenten aus: Er befinde sich in »einer komplizierten innenpolitischen Lage«. Mielke, Referat auf der zentralen Parteiaktivtagung am 25. Juni 1976; BStU, MfS, ZAIG Nr. 7741, Bl. 3–157, hier 20. 127  Snyder: Human Rights Activism, S. 41–46.

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3.3.1 KSZE, Menschenrechtsaktivisten und »Helsinki-Gruppen« im Osten Ein noch größeres Ärgernis als die Tätigkeit der »entspannungsfeindlichen Kräfte« im Westen war für Moskau und seine Bündnispartner der wachsende Aktivismus von Oppositionellen im eigenen »Lager«, die sich auf die KSZESchlussakte beriefen, um die Einhaltung der Menschenrechte – darunter auch das Recht, das eigene Land zu verlassen – zu fordern. Auf dem Treffen der ZK-Sekretäre für internationale und ideologische Fragen behauptete Ponomarjow, dass solche Oppositionellen oder »sogenannte ›Dissidenten‹« eine Erfindung der »bürgerlichen Propagandazentren« seien.128 In Wahrheit aber war es umgekehrt: Es waren zunächst Dissidenten in der Sowjetunion, die den Wert der KSZE-Schlussakte für die Förderung der Menschenrechte sahen und davon westliche Politiker, Aktivisten und Journalisten überzeugten. Insbesondere Kritiker der Entspannungspolitik im Westen änderten dank den östlichen Dissidenten ihre Einstellung zur KSZE-Schlussakte: anstatt sie einfach abzulehnen, beriefen sie sich darauf, um die Einhaltung der Menschenrechte im Osten zu fordern. Vielleicht der wichtigste Verfechter der Förderung der Menschenrechte im KSZE-Prozess war der »Vater« der sowjetischen Atombombe Andrei Sacharow, der später zum Friedens- und Menschenrechtsaktivisten wurde. Er war einer jener Oppositionellen in der Sowjetunion, die seit den frühen 1970er-Jahren von ihrer Regierung gefordert hatten, die Menschenrechte gemäß der eigenen Verfassung zu verwirklichen. Nach vielen Rückschlägen für die Dissidenten in der UdSSR sah er in Prinzip 7 und Korb III der KSZE-Schlussakte neue Möglichkeiten, die sowjetische Regierung unter Druck zu setzen. Er appellierte an die anderen KSZE-Teilnehmerstaaten und die Weltmeinung, Moskau auf die Menschenrechtsbestimmungen der Schlussakte zu verpflichten. Nach seinem Verständnis und den UNO-Menschenrechtskonventionen galt als fundamentales Menschenrecht auch das Recht, das eigene Land zu verlassen. Seine Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis 1975, die die UdSSR streng kritisierte und ohne Erfolg blockieren wollte, brachten seine Ideen noch stärker in die internationale Öffentlichkeit.129 Nicht nur Sacharow war an der Menschenrechtsfront der KSZE aktiv. Im Jahr 1976 wurde von anderen sowjetischen Dissidenten die Moskauer HelsinkiGruppe gegründet. Sie machte es zu ihrer Aufgabe, die Einhaltung des Menschenrechtsprinzips und des Korbes III der Schlussakte durch die sowjetische 128  Rede Ponomarjows, 25.1.1976 (siehe Fn 47), Bl. 52. Siehe auch Information des ZK der KPdSU, 18.1.1976, Bl. 30. 129  Zu Sacharows Tätigkeit im Zusammenhang mit der KSZE siehe z. B. Vorwort an meine Leser im Ausland. In: Sacharow, Andrei: Mein Land und die Welt. Wien, München, Zürich 1975, S. 5 f.; ders.: Mein Leben. München, Zürich 1990, S. 479 ff.; Rubenstein, Joshua; Gribanov, Alexander (Hg.): The KGB File of Andrei Sakharov. New Haven, London 2005, S. 179 ff.

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Regierung zu kontrollieren und Berichte darüber an die sowjetische Regierung, die Weltpresse, westliche Staaten und NGO und an diplomatische Vertreter auf den KSZE-Nachfolgetreffen zu senden. Sie koordinierte ihre Tätigkeit mit anderen Helsinki-Gruppen in der UdSSR und mit Sacharow.130 Ähnliche Gruppen wurden in den anderen sozialistischen Ländern gegründet – zum Beispiel das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (Komitet Obrony Robotników oder KOR) und die Bewegung zur Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte (Ruch Obrony Praw Człowieka i Obywatela, ROPCiO) in Polen131 und Charta 77 in der Tschechoslowakei.132 Sie nahmen in ihren Appellen für die Einhaltung der Menschenrechte an ihre eigenen Regierungen und an den Westen auch Bezug auf die KSZE-Schlussakte. Obwohl die regierenden Parteien Osteuropas und ihre Staatssicherheitsdienste dem Westen später die Organisierung eines »politischen Untergrunds« in Form solcher Helsinki-Gruppen vorwarfen,133 sind sie im Osten selbstständig entstan130  Zu den sowjetischen Helsinki-Gruppen siehe Savranskaya: Human rights movement in the USSR, S. 26–40; Snyder, Sarah B.: Human Rights Activism and the End of the Cold War: A Transnational History of the Helsinki Network. New York 2011, S. 53 ff. 131  Zu KOR und ROPCiO siehe Dehnert, Gunter: »Eine neue Beschaffenheit der Lage«: Der KSZE-Prozess und die polnische Opposition 1975–1979. In: Altrichter, Helmut; Wentker, Hermann (Hg.): Der KSZE-Prozess. Vom Kalten Krieg zu einem Neuen Europa 1975 bis 1990. München 2011, S. 87–98; Lipski, Jan Jósef: KOR: Worker's Defense Committee in Poland, 1976–1981. Berkeley, Los Angeles, London 1985, S. 24–29, 166 f.; Kamiński, Łukasz; Waligóra, Grzegorz: Wstęp [Einleitung]. In: dies. (Hg.): Kryptonim »Gracze«: Służba bezpieczeństwa wobec Komitetu Obrony Robotników i Komitetu Samoobrony Społecznej »KOR« 1976–1981 [Deckname »Spieler«: Der Staatssicherheitsdienst im Bezug auf das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter und das Komitee für Gesellschaftliche Selbstverteidigung »KOR« 1976–1981], S. 27–50. Obwohl für die Gründung von KOR interne polnische Entwicklungen – u. a. der misslungene Versuch von Polens Erstem Sekretär, Edward Gierek, eine neue Verfassung mit einer Beschränkung der Menschenrechte und einem Bezug auf das »ewige Bündnis« mit der Sowjetunion einzuführen und vor allem die blutige Unterdrückung einer Streikwelle im Juni 1976 – ausschlaggebend waren, nahm KOR auch Bezug auf die Helsinki-Schlussakte, um Menschenrechtsverletzungen in Polen anzuprangern, und folgte in seinen Methoden, seiner Organisationsform und nicht zuletzt in der »bewusst offenen Handlungsweise und dem trockenen Stil« seiner Kommuniqués dem Modell der MHG. Dehnert: »Eine neue Beschaffenheit der Lage«, S. 93. 132  Zu der Gründung von Charta 77 siehe Skilling, H. Gordon: Charter 77 and Human Rights in Czechoslovakia. London 1981, S. 158 f.; Müller, Benjamin: Von der Konfrontation zum Dialog. Charta 77. Menschenrechte und »Samtene Revolution« in der Tschechoslowakei 1975– 1989. In: Altrichter; Wentker (Hg.): KSZE-Prozess, S. 99–110, hier 100 f.; Gründungsdeklaration der Charta 77, 1.1.1977. In: Tschiche, Wolfram (Projektleiter): Wendezeiten/Zeitenwende im Jahr 1989/90: Dissidenten als Zeitzeugen, http://wendezeiten.philopage.de/detail/Charta77. asp?bURL=de/extras.asp. 133  Siehe z. B. Mielke an die Leiter aller Diensteinheiten des MfS, Zusammenfassung von Hinweisen über Aktivitäten antisozialistischer, feindlich-negativer Kräfte in einigen Staaten der sozialistischen Gemeinschaft und über in diesem Zusammenhang erfolgte Reaktionen und Aktivitäten führender westlicher Kreise und einiger kommunistischer Parteien kapitalistischer Staaten, 14.3.1977. In: BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 6040, Bl. 1–58, hier 4.

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den. Erst später weckte diese oppositionelle Tätigkeit im Osten großes Interesse im Westen. Journalisten, Politiker und insbesondere Nichtregierungsorganisationen (NGO) im Westen nahmen die Appelle der östlichen Dissidenten auf und machten die westliche Öffentlichkeit und deren Regierungen damit bekannt. Es waren zum Beispiel die Dissidenten in der Sowjetunion, die den Anstoß zur Gründung der Helsinki-Kommission des US-Kongresses gegeben hatten, und nicht umgekehrt, wie die sowjetische Propaganda andeutete. Während eines Besuchs in Moskau im August 1975 hatte sich die US-Abgeordnete Millicent Fenwick, eine Republikanerin aus New Jersey, neben ihren Treffen mit Breschnew und anderen sowjetischen Regierungsvertretern auch mit sowjetischen Ausreisewilligen – vor allem jüdischen »Refuseniks«, deren Ausreiseanträge abgelehnt wurden – und einigen sowjetischen Dissidenten getroffen. Unter ihren Gesprächspartnern war Juri Orlow, der zusammen mit Walentin Turtschin und Andrei Twerdochlebow die sowjetische Sektion von Amnesty International gegründet hatte. Alle privaten Gesprächspartner Fenwicks drückten die Hoffnung aus, dass Prinzip 7 und Korb III ihnen früher oder später helfen könnten, an ihre Ziele zu kommen. Orlow empfahl Fenwick und über sie der amerikanischen Regierung, die Schlussakte als Druckmittel gegen Moskau zugunsten der Menschenrechte zu nutzen, indem sie Moskaus Implementierung der Schlussakte laufend kontrollierten.134 Früher hatten die Dissidenten die sowjetische Verfassung und die Allgemeine Menschenrechtserklärung der UNO zitiert, um ihre Aktivitäten zu rechtfertigen und Moskaus Nichtachtung der Menschenrechte anzuprangern. Nun hatten sie die KSZE-Schlussakte, deren Implementierung auf Nachfolgekonferenzen kontrolliert werden sollte. 3.3.2 Mielke, das MfS und die Gefahr einer »Dissidenten- und Bürgerrechtsbewegung« in der DDR Die Unterdrückung solcher grenzübergreifenden Kontakte wie im transnationalen Helsinki-Netzwerk war ein zentraler Bestandteil des Tagesgeschäfts des KGB und seiner »Bruderorgane«. Um mit der Herausforderung solcher Kontakte infolge der Entspannungspolitik zurechtzukommen, hatten die »Bruderorgane« unter Führung des KGB schon 1974 begonnen, regelmäßige multilaterale Beratungen über die Bekämpfung der entstehenden »politisch-ideologischen Diversion« (PiD) zu veranstalten.135 134  Snyder: Human Rights Activism and the End of the Cold War, S. 41. 135  Siehe Süß, Walter: Wandlungen der MfS-Repressionstaktik seit Mitte der siebziger Jahre im Kontext der Beratungen der Ostblock-Geheimdienste zur Bekämpfung der »ideologischen Diversion«. In: Ansorg, Leonore; Gehrke, Bernd; Klein, Thomas; Kneipp, Danuta (Hg.): »Das Land ist still – noch!« Herrschaftswandel und politische Gegnerschaft in der DDR (1971–1989), S. 111–134.

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Das MfS nahm die Vernetzung von nicht staatlichen Akteuren in Ost und West als potenzielle Drohung für die SED-Diktatur wahr. Am 14. März 1977 warnte Mielke die Diensteinheiten des MfS: Der »Imperialismus« beabsichtige, »eine breite ›innere Opposition‹, eine ›Dissidenten- und Bürgerrechtsbewegung‹, einen politischen Untergrund und von ihm ausgehende konterrevolutionäre Aktivitäten in den sozialistischen Staaten« zu inspirieren und organisieren.136 Dieses Vorgehen des »Gegners« ziele u. a. darauf ab, »in Vorbereitung und Durchführung des KSZE-Folgetreffens in Belgrad den Staaten der sozialistischen Gemeinschaft eine ›Verletzung‹ der in Helsinki erzielten Übereinkünfte vorzuwerfen, […] neue […] Vorschläge im sogenannten humanitären Bereich zu unterbreiten und damit die sozialistischen Staaten in diesen Fragen zu Zugeständnissen zu veranlassen«.137 Er nannte in diesem Zusammenhang die Helsinki-Gruppen in der UdSSR, die Charta 77 und das KOR. Obwohl es keine solche Gruppe in der DDR gab, warnte er vor der Möglichkeit einer Übertragung des Menschenrechtsaktivismus in den anderen Ostblockländern auf die DDR. Im Juli 1977 forderte Mielke von allen Diensteinheiten des MfS »das rechtzeitige Erkennen und die Verhinderung« aller solcher Versuche von Oppositionellen in der DDR, »mit ähnlichen Aktivitäten aufzutreten und wirksam zu werden« wie die Gruppen in den anderen sozialistischen Ländern.138 Das MfS fand bzw. erfand viele solche Bedrohungen innerhalb der DDR, weil es schon früh Kontakte zwischen Oppositionellen in der DDR und den neu ent­­ stan­denen »Dissidenten- und Bürgerrechtsbewegungen« in den anderen sozia­ listischen Ländern gab. Aus Abhörmaßnahmen erfuhr das MfS zum Beispiel, dass ein Aktivist der Aktion Sühnezeichen in der DDR, Ludwig Mehlhorn, umfangreiche Verbindungen zu oppositionell eingestellten Polen und Polinnen unterhält, illegale polnische Materialien erhielt, diese übersetzte und innerhalb der DDR verbreitete, eine ›illegale Kasse‹ zur Unterstützung von in Polen verfolgten Personen unterhielt, konspirative Kontakte zu Oppositionellen in mehreren Regionen der DDR aufgebaut und zudem Verbindungen nach West-Berlin, in die Bundesrepublik sowie zur bundesdeutschen Ständigen Vertretung in Ost-Berlin hatte.139

136  Mielke an die Leiter aller Diensteinheiten des MfS: Zusammenfassung von Hinweisen, 14.3.1977, Bl. 4. 137  Ebenda, Bl. 7 f. 138  Referat des Genossen Minister auf dem zentralen Führungsseminar über die weitere Vervollkommnung und Gewährleistung der Sicherheit der DDR durch vorbeugende Verhinderung und Bekämpfung des subversiven Missbrauchs des Einreiseverkehrs aus nichtsozialistischen Staaten und Westberlin, 6.7.1977. In: BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 6332, Bl. 1–149, hier 12 f. 139  Kowalczuk, Ilko Sascha: Im Blick des Staatssicherheitsdienstes – Ludwig Mehlhorn. In: Bickhardt, Stephan (Hg.): In der Wahrheit Leben: Texte von und über Ludwig Mehlhorn. Leipzig 2012, S. 214–241, hier 224.

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Die für Kirchen und Religionsgemeinschaften zuständige HA XX/4 leitete einen Operativen Vorgang (OV) »Mühle« gegen Mehlhorn und einige seiner Kontakte ein. MfS-intern wurde im April 1977 behauptet, dass die im OV »Mühle« bearbeiteten »Kräfte«, »besonders Jugendliche im Alter zwischen 20 und 30 Jahren« gegenwärtig dabei seien, »eine konspirative Untergrundtätigkeit zu organisieren und diese im Rahmen der sozialistischen Länder zu internationalisieren«.140 Im Sommer 1977 fand das MfS wieder eine potenzielle Bedrohung. Anfängliche Kontakte zwischen Oppositionellen in Jena und Naumburg, Charta 77 in der Tschechoslowakei und dem Westberliner »Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus« würden die Gefahr »einer Gruppenbildung zur Entfaltung einer sogenannten ›Bürgerrechtsbewegung‹« innerhalb der DDR, »analog der […] berüchtigten Charta 77«, darstellen.141 Eine Gruppe von katholischen und evangelischen Theologiestudenten aus dem Kreis Naumburg – von denen einige wegen verhafteter Freunde Kontakt mit dem Schutzkomitee aufnahmen – hatte sogar privat eine Art von Charta 77 aus christlicher Perspektive unter dem Titel, »Frieden und Gerechtigkeit Heute« verbreitet. Das Manifest wurde später als »Querfurter Papier« bekannt.142 Der eigentliche Auslöser oppositioneller Tätigkeit in der DDR im Sommer 1977 war aber nicht die Helsinki-Schlussakte, sondern die Ausbürgerung von Wolf Biermann im Herbst 1976 und die darauffolgende Welle von Verhaftungen der Personen, die dagegen protestiert hatten. Die Theologie-Studenten, die hinter dem Querfurter-Papier standen, hatten die Tätigkeit ihres verhafteten Freundes Günther Schau übernommen, der eine Dokumentation über die Verhaftungswelle nach der Ausbürgerung und die unmenschlichen Haftbedingungen in der DDR vorbereiten wollte. Schau hatte auch Kontakt zu Charta 77 aufgenommen und wurde in seinen Plan, an die Öffentlichkeit zu gehen, durch sie beeinflusst.143 Das in Westberlin unter dem Vorsitz von Hannes Schwenger ge140  Hauptangriffsrichtung »Mühle« (B), 22.4.1977. In: BStU, MfS, HA XX/4, Bd. 3234, Teil 2, Bl. 572–575, hier 574. 141  Zusammenfassender Bericht über die Feindorganisation »Schutzkomitee für Freiheit und Sozialismus«, o. D. In: BStU, MfS, ZKG Nr. 358, Bl. 2–14, hier 3. 142  Zu dem Querfurter Papier siehe u. a. Tautz, Lothar: Zeitzeugenbericht. In: ders. (Hg.): Friede und Gerechtigkeit heute: das »Querfurter Papier« – ein politisches Manifest für die Einhaltung der Menschenrechte in der DDR. Magdeburg 2002, S. 52–55; Neubert, Ehrhart: Das Querfurter Papier im Kontext der europäischen Menschenrechtsdebatte. In: ebenda, S. 25–40; MfS, ZAIG: Information Nr. 450/77 über eine geplante Unterschriftensammlung unter ein sogenanntes Querfurter Papier mit dem Titel »Frieden und Gerechtigkeit heute« durch kirchliche Kreise, 7.7.1977. In: DDR im Blick 1977, CD-ROM-Anlage. 143  Tautz, Lothar; Radeke, Christian: »Warte nicht auf bess're Zeiten …«. Oskar Brüsewitz, Wolf Biermann und die Protestbewegung in der DDR 1976–1977, S. 79–86, 101 f.; Tautz, Lothar: Opposition und Widerstand in der mitteldeutschen Provinz. Magdeburg 2004, S. 41, 53. Zu der Verhaftung Schaus siehe MfS, ZAIG: Information Nr. 193/77 über die Einleitung eines Er-

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gründete Schutzkomitee setzte als sein Ziel die Entlassung von allen, auch im Westen unbekannten DDR-Bürgern aus der Haft, die wegen ihrer Proteste gegen die Biermann-Ausbürgerung verurteilt worden waren.144 Trotz des engen Zusammenhangs mit dem Schicksal von Biermann, gab es vonseiten des MfS Grund zur Sorge wegen der potenziellen Gründung einer Menschen- und Bürgerrechtsbewegung in der DDR – zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Querfurter Papier. Die Theologiestudentin (und später Vikarin) Renate Groß-Ellmenreich, die wegen der Verhaftung ihrer Freunde in Jena infolge ihres Protests gegen die Biermann-Ausbürgerung Kontakt mit dem Schutzkomitee aufnahm, entschied auf Empfehlung von Schwenger, Kontakt mit Petr Uhl von Charta 77 aufzunehmen. Nach dieser Kontaktaufnahme überlegte sie die Möglichkeit, etwas Ähnliches wie Charta 77 in der DDR zu gründen.145 Im Gegensatz zur Tschechoslowakei, zu Polen und sogar der UdSSR kam es aber in den 1970er-Jahren nicht zur Gründung einer oppositionellen Gruppierung, die die Menschenrechte in der DDR u. a. auf Grundlage der KSZESchlussakte einforderte. Die Stasi rühmte sich gegenüber dem KGB, dies sei ihr Verdienst.146 Sie hatte mit Psychoterror (»Zersetzungsmaßnahmen«), Ausbürgerungen in die Bundesrepublik, gezielten Verhaftungen und ihren zum Teil erfolgreichen Forderungen nach innerkirchlichen Disziplinarmaßnahmen zur Einstellung der o. g. Aktivitäten beigetragen,147 die sie mit der »Internationalimittlungsverfahrens gegen den ehemaligen Vikar der evangelischen Landeskirche Sachsen, Günther Schau, 28.3.1977. In: DDR im Blick 1977, CD-ROM-Anlage. 144  Siehe: Warum ein Schutzkomitee in West-Berlin, Stellungnahme des VS-Vorsitzenden in Berlin, Dr. Hannes Schwenger, auf der Pressekonferenz am 10.12.1976. In: Das Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus in Selbstzeugnissen, Dokumenten, Briefen und im Zerrspiegel des MfS-Akten. In: Europäische Ideen 1995, Sonderheft, S. 7. Zu dem Schutzkomitee im Allgemeinen siehe ebenda; Scheer, Udo: Vision und Wirklichkeit. Die Opposition in Jena in den siebziger und achtziger Jahren. 2. Aufl., Berlin 1999, S. 171–183. 145  Ellmenreich, Renate: Begegnungen in Prag. In: Liebermann, Doris; Fuchs, Jürgen; Wallat, Vlasta (Hg.): Dissidenten, Präsidenten und Gemüsehändler: Tschechische und ostdeutsche Dissidenten 1968–1998. Essen 1998, S. 39 f.; Scheer: Vision und Wirklichkeit, S. 180 f. 146  Am 23. Mai 1978 erklärte der Leiter der für die Bekämpfung der »PiD« zuständigen HA XX des MfS Paul Kienberg gegenüber seinen Amtskollegen im KGB: »Der Gegner ist seinem erklärten Ziel, eine organisierte und aktionsfähige Bürger- und Menschenrechtsbewegung in der DDR ins Leben zu rufen, keinen Schritt näher gekommen.« Er nannte in diesem Zusammenhang das Schutzkomitee und die Kreise in der DDR, mit denen es Kontakt aufgenommen hatte. Siehe Ausführungen des Hauptabteilungsleiters im Ministerium für Staatssicherheit der DDR, Generalmajor Kienberg, auf der Beratung mit der V. Verwaltung des KGB (Auszug), Moskau, 23– 24. Mai 1978. In: DzD VI/5, S. 657–670, hier 658. 147 Siehe Mittig: Vorschlag für eine zeugenschaftliche Vernehmung des Radeke, Christian, des Tautz, Lothar (beide sind Studenten am katechistischen Oberseminar Naumburg) und der Lintzel, Martina, 1.9.1977. In: Tautz; Radeke: »Warte nicht auf bess're Zeiten«, S. 148 f.; HA XX/4, Bericht, 19.9.1977. In: ebenda, S. 161 f.; Scheer: Vision und Wirklichkeit, S. 185–197; Information, Quelle: PIM »Christoph«; erarbeitet: Major Jaeckel, 26.6.1978. In: Schutzkomitee,

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sierung« der Opposition in Osteuropa infolge der KSZE-Schlussakte in Verbindung gebracht hatte. Trotz der Behauptungen der Stasi gab es andere, sogar wichtigere, Gründe, warum keine »Helsinki-Gruppe« in der DDR entstanden ist. Die KSZE hatte zumindest vor 1985 wenig direkten Einfluss auf die Opposition in der DDR. Trotz einem recht aktiven Dialog über KSZE und Menschenrechte in einigen kirchlichen Kreisen,148 hatte die Opposition gar nicht vor, eine Art ostdeutscher »Helsinki-Gruppe« zu gründen. Ulrike Poppe schreibt zum Beispiel: »Die Oppositionellen in der DDR widmeten dem KSZE-Prozess nicht soviel Aufmerksamkeit wie die der anderen Ostblockstaaten.«149 Sie sammelten sich ab Ende der 1970er-Jahre vor allem in der unabhängigen Friedensbewegung als Reaktion auf die wachsende Militarisierung der DDR-Gesellschaft. Die Besonderheit der deutschen Teilung spielte dabei eine maßgebliche Rolle. Die Aktivitäten der westdeutschen Friedensbewegung waren in der DDR täglich zuhause im Westfernsehen zu sehen und die Kontakte zwischen der ost- und westdeutschen Friedensbewegung nahmen ständig zu. Ein wichtiger ideenpolitischer Unterschied zwischen der ostdeutschen Opposition und den neuen Gruppierungen in der Tschechoslowakei, Polen und der UdSSR war deren Verabschiedung von der Idee des Reformkommunismus. Oppositionelle in Polen und der Tschechoslowakei schlussfolgerten aus der Unterdrückung des »Prager Frühlings« 1968, dass Reformen durch die regierende kommunistische Partei unmöglich seien, weil sie automatisch zu einer militärischen Intervention des Warschauer Vertrags führen würden. Deshalb wollten sie eine zivile Gesellschaft außerhalb der Kontrolle des Parteistaats auf- bzw. ausbauen; die weitere Verwirklichung der Menschenrechte im Anschluss an die Helsinki-Schlussakte sollte zu diesem Prozess beitragen.150 Die ostdeutsche Opposition hielt dagegen immer noch einen Reformkommunismus für möglich. Man sieht das am Beispiel der damals bekanntesten Oppositionellen in der DDR, Robert Havemann und Wolf Biermann, deren Namen Mielke neben Sacharow und Solschenizyn im März 1976 als potenzielle »DissiS. 90–92. Zu Mehlhorn und den anderen im OV »Mühle« bearbeiteten Personen siehe Kowal­ czuk: Im Blick des Staatssicherheitsdienstes – Ludwig Mehlhorn, S. 226–230. 148  Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR. Berlin 2000, S. 262–267. 149  Poppe, Ulrike: »Der Weg ist das Ziel«. Zum Selbstverständnis und der politischen Rolle oppositioneller Gruppen der achtziger Jahre. In: dies.; Eckert, Rainer; Kowalczuk, Ilko Sascha (Hg.): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Berlin 1995, S. 244–272, hier 248. 150  Vgl. Vilímek, Tomáš: Oppositionists in the ČSSR and the GDR: Mutual Awareness, Exchanges of Ideas and Cooperation, 1968–1989. In: Brier, Robert (Hg.): Entangled Protest. Transnational Approaches tot he History of Dissent in Eastern Europe and the Soviet Union. Osnabrück 2013, S. 55–86, hier 66, 76 f., 82–84; Klein, Thomas: ›Frieden und Gerechtigkeit!‹ Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre. Köln 2007, S. 298.

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denten« erwähnte.151 Sie richteten ihre Aufmerksamkeit nicht auf Prinzip 7 oder Korb III der KSZE-Schlussakte. Für Havemann war das Wichtigste an der KSZE-Schlussakte ihr Verbot der Androhung oder Anwendung von Gewalt und deshalb ihre implizite Zurückweisung der Breschnew-Doktrin. In seinen im Jahr 1977 in der Bundesrepublik veröffentlichten »Berliner Schriften« verwies Havemann nur einmal in einem Nebensatz auf die KSZE und das nur vor dem Hintergrund der Berliner Konferenz der kommunistischen Parteien Europas: Auf der Berliner Konferenz Ende Juni 1976 einigten sich die versammelten Repräsentanten der europäischen kommunistischen Parteien, dass in Zukunft keine Partei das Recht beanspruchen könne, sich in die inneren Angelegenheiten einer anderen Partei einzumischen, und sie bekräftigten die Schlussakte der Konferenz von Helsinki, in der jede Anwendung und sogar jede Androhung von Gewalt gegen einen anderen Staat verurteilt wird. Damit ist der Überfall auf die ČSSR im Jahre 1968 auch von an diesem Überfall beteiligten Parteien verurteilt worden. Der Beschluss kommt einem feierlichen Versprechen gleich, dass sich dies oder Ähnliches nie wiederholen wird.152

Das hieß, das Wichtigste an der KSZE-Schlussakte war für Havemann, dass der Weg für einen reformierten Kommunismus in Osteuropa nun angeblich offen stand. Havemanns Interpretation von »Helsinki« und der Berliner Konferenz passte nicht zu jener Moskaus, das die Breschnew-Doktrin auch nach der KSZE aufrechterhielt, sondern eher zu den Positionen der »Eurokommunisten« der westeuropäischen KP, die sich für einen demokratischeren Kommunismus einsetzten. Zur Verärgerung Moskaus setzten sich die kommunistischen Parteien Frankreichs, Italiens und Spaniens für sowjetische Dissidenten und für die Menschenrechte im Ostblock ein und nahmen manchmal Bezug auf das Menschenrechtsprinzip der KSZE-Schlussakte.153 Havemann und die ihm nahestehenden Oppositionellen – unter anderem der Liedermacher Wolf Biermann – wurden von den Eurokommunisten inspiriert, weiter in der Richtung eines reformierten Kommunismus zu denken.154 Obwohl sie über die Eurokommunisten und die Berliner Konferenz indirekt von einer von Moskau abweichenden Auslegung der KSZE-Schlussakte beeinflusst wurden, nutzten sie im Gegensatz zu den sowje151  Vortrag Mielkes vor leitenden Kadern der SED, 29.3.1976, Bl. 28. 152  Der Sozialismus und die Freiheit: In Havemann, Robert: Berliner Schriften. Berlin 1977, S. 102–106, hier 104. 153  Savranskaya, Human Rights Movement in the USSR, S. 32. 154  Siehe z. B. Havemann: Der Sozialismus und die Freiheit, S. 104–106 und Sechstes Gespräch (mit Wolf Biermann). In: Havemann: Berliner Schriften, S. 82–85, hier 84 f.; Scheer, Udo: Vision und Wirklichkeit. Die Opposition in Jena in den siebziger und achtziger Jahren. 2. Aufl., Berlin 1999, S. 137 f. Siehe auch HA XX, Einschätzung über neue Erkenntnisse und Erfahrungen bei der Bekämpfung der politisch-ideologischen Diversion sowie das feindliche Wirken gegen die Bereiche der Kultur und Kunst der DDR, 17.4.1976. In: BStU, MfS, HA XX/AKG, Bd. 779, S. 381–405, hier 386 f.

»Reforming Detente«: Carter-Administration und Entspannungspolitik

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tischen Dissidenten die Schlussakte nicht als Basis oder direkten Bezugspunkt für ihre oppositionelle Tätigkeit. Trotz der unterschiedlichen Schwerpunktsetzung im Zusammenhang mit der KSZE-Schluss­akte, hatte der Helsinki-Prozess doch großen indirekten Einfluss auf Oppositionelle in der DDR. Wichtige Gestalten der ostdeutschen Opposition hatten schon Ende der 1970er-Jahre Kontakte mit den polnischen Helsinki-Gruppen KOR und ROPCiO und mit Charta 77 in der Tschechoslowakei – zum Beispiel Gerd Poppe, Wolfgang Templin und Ludwig Mehlhorn. Sie lernten über diese Kontakte die Strategie vom »Leben in der Wahrheit« kennen. Václav Havel von Charta 77 und Adam Michnik von KOR entwickelten ihre Strategien für eine zivile Gesellschaft, unabhängig vom kommunistischen Parteistaat, teilweise durch ihren Versuch, die Unterschriften ihrer jeweiligen Länder unter Korb III der Helsinki-Schlussakte beim Wort zu nehmen. Die Strategie des »Lebens in der Wahrheit« und die Idee des Aufbaus einer zivilen Gesellschaft außerhalb des kommunistischen Parteistaats wurden von der ostdeutschen Opposition schon früh übernommen, wenn auch ohne KSZE-Bezug.155 Vielleicht der wichtigste Grund, warum es am Ende der 1970er-Jahre keine »Helsinki-Gruppe« in der DDR gab und warum die Opposition in der DDR relativ schwächer in Erscheinung trat als in Polen und der ČSSR, war die DDR-eigene Bewegung für ständige Ausreise nach der Bundesrepublik und Westberlin. Solche Übersiedlungen schwächten das oppositionelle Potenzial in der DDR – eine Tatsache, die das MfS und die SED zu ihren Gunsten nutzten. Es war auch die Ausreisebewegung, die Prinzip 7 und Korb III der KSZE-Schlussakte zuerst für sich in Anspruch nahm, um Druck auf die SED-Regierung zur Genehmigung ihrer Übersiedlungsersuchen auszuüben (siehe unten 4.2).

3.4 »Reforming Détente«: Die Carter-Administration, die Menschenrechte und die Entspannungspolitik Auf einem Treffen der Außenminister des Warschauer Pakts in Moskau im April 1977 sprach Gromyko von der Notwendigkeit, sich auf ein »Gegengefecht« in Belgrad vorzubereiten.156 Der Grund für Gromykos Aufregung war die Menschenrechtskampagne des neu gewählten Präsidenten Jimmy Carter. Im ersten Vierteljahr 1977 hatte er öffentlich und wohlwollend auf einen Brief Sacharows zu Menschenrechtsfragen geantwortet und den aus sowjetischer Gefangen155  Poppe: »Der Weg ist das Ziel«, S. 258; Vilímek: Oppositionists in the ČSSR and the DDR, S. 65–68. 156  Rede Gromykos, Tagung des Komitees der Außenminister der Mitgliedstaaten des Warschauer Vertrags am 25. Mai 1977 in Moskau. In: SAPMO BA, DY 30, J IV 2/2A-2073, Bl. 46– 61, hier 54.

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schaft entlassenen Dissidenten Wladimir Bukowski im Weißen Haus empfangen. In öffentlichen Kommentaren hatte Carter Moskaus Verletzung der in der Schlussakte festgeschriebenen Menschenrechte kritisiert, die im amerikanischen Sprachgebrauch oft und irrtümlich mit Korb III gleichgesetzt wurden.157 In einem persönlichen Brief an Breschnew vom 14. Februar 1977 erklärte Carter: »Wir erwarten Zusammenarbeit in der Realisierung von weiteren Schritten zur Erfüllung der in Helsinki abgeschlossenen Übereinkünfte bezüglich der Menschenrechte.«158 Den Sieg Carters und seinen Einsatz für die Menschenrechte in der UdSSR und Osteuropa betrachteten die sowjetischen Dissidenten auch als einen Sieg für sich.159 Carters Menschenrechtspolitik entstand nicht nur aus persönlicher Überzeugung und persönlicher Erfahrung mit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, sie war auch Bestandteil einer Strategie zur Reform der Entspannungspolitik. Der Urheber dieser Konzeption war Carters Nationaler Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski. Er schrieb später in seinen Erinnerungen: »In den Menschenrechten sah ich eine Möglichkeit, die Sowjetunion ideologisch in die Defensive zu drängen.«160 Zu diesem Zweck arrangierte er eine wesentliche Haushaltserhöhung für Radio Free Europe und Radio Liberty, die den Bevölkerungen Osteuropas die Botschaft der Menschenrechte übermitteln sollten.161 Die Vorstellungen Carters und Brzezinskis von der Rolle der Menschenrechte im KSZE-Prozess wurden auch maßgeblich von der vom amerikanischen Kongress gegründeten Commission for Security and Cooperation in Europe beeinflusst. Während Kissinger und Ford die Macht dieser Kommission möglichst begrenzen wollten, spielte sie unter Carter eine zentrale Rolle in der KSZE-Politik der Vereinigten Staaten. Die Administration arbeitete eng mit ihr zusammen und Carter ernannte sogar einige ihrer Mitglieder und ihrer Mitarbeiter zu Mitgliedern der amerikanischen Delegation und deren Arbeitsstab in Belgrad. Im ersten Halbjahr 1977 bereitete die Kommission eigene »Munition« für das Treffen in Belgrad vor. Sie stellte nicht nur die Berichte der sowjetischen Helsinki-Gruppen zusammen, die sie über die amerikanische Botschaft in Moskau bekommen hatte. Sie hielt auch öffentliche Anhörungen zur Implementierung der Schlussakte. Unter ihren Zeugen waren Vertreter amerikanischer 157  Savranskaya: Human Rights Movement in the USSR, S. 35 f. 158  Brief Carters an Breschnew, 26.1.1977, Übersetzung aus dem Russischen ins Englische von Mark H. Doctoroff. In: Wilson Center Digital Archive, http://digitalarchive.wilsoncenter. org/document/112019. 159  Zit. nach: Savranskaya: Human Rights Movement, S. 36. 160  Brzezinski, Zbigniew: Power and Principle: Memoirs of the National Security Adviser, 1977–1981. New York 1983, S. 148–150. 161  Garthoff: Détente, S. 568–570; Vaughan, Patrick G.: Zbigniew Brzezinski and the Helsinki Final Act. In: Leopoldo Nuti (Hg.): The Crisis of Détente in Europe. From Helsinki to Gorbachev, 1975–1985. London, New York 2009, S. 11–25, hier 18.

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NGO, vor allem Emigranten- und jüdische Organisationen, die sich für Menschenrechtsaktivisten und Ausreisewillige (hauptsächlich »Refuseniks«) in Osteuropa einsetzten; Vertreter der sowjetischen Helsinki-Gruppen im westlichen Exil – zum Beispiel Ljudmila Alexejewa und Tomas Venclova; westliche Journalisten, die über die Implementierung des Korb III und des Prinzips 7 in Osteuropa aussagten – u. a. Lothar Loewe; Vertreter westlicher Massenmedien, die über die Menschenrechtslage in Osteuropa berichteten – u. a. von RFE/RL. Anders gesprochen, brachte die Kommission verschiedene Akteure des entstehenden transnationalen Helsinki-Netzwerkes zusammen, um ihre Vorhaben zu sammeln, damit die amerikanische Regierung sie in Belgrad vortragen konnte. Auf diese Weise wollte die Kommission Druck auf die östlichen Regierungen ausüben, das Menschenrechtsprinzip und die Festlegungen in Korb III der Schlussakte entsprechend westlicher Auslegung zu implementieren. Moskaus Spaltungstaktik, die Bundesrepublik und die USA Moskau reagierte auf Carters Thematisierung der Menschenrechte relativ schnell auf diplomatischer und auf publizistischer Ebene. Erstens bekräftigte Mos­kau er­ neut in einem Protest seines Botschafters in Washington Anatoli Dobrynin bei Außenminister Cyrus Vance im Februar 1977, dass es keinerlei Einmi­schung in seine inneren Angelegenheiten »unter dem Vorwand ›der Verteidigung der Men­ schenrechte‹« hinnehmen würde.162 Für den Fall, dass diese Botschaft noch nicht angekommen sein sollte, schickte Breschnew dieselbe Botschaft an Carter in einem persönlichen Brief am 25. Februar.163 Zweitens stellte Moskau klar, dass es kein Junktim zwischen einem SALT-IIAbkommen und sowjetischen Zugeständnissen in Menschenrechtsfragen zulassen würde. (Die sowjetische Führung fürchtete irrigerweise, dass Carter ein solches Junktim herstellen wollte.)164 Moskau ging so weit, auf ein Gegenjunktim gegenüber den USA und ihren Verbündeten anzuspielen: Moskau würde kein SALT-II-Abkommen abschließen, solange Washington seine Menschenrechtskampagne fortführt. Das war für Carter insofern ein empfindlicher Punkt, weil er eigentlich die Entspannungspolitik fortsetzen wollte – vor allem durch den erfolgreichen Abschluss eines zweiten SALT-Abkommens mit der Sowje­tunion.165 162  CPSU CC Protocol #46/10, Instruction to the Soviet Ambassador in Washington for his Conversation with Vance on the Question of »Human Rights«, 18.2.1977. In: Wilson Center, Digital Archive, http://digitalarchive.wilsoncenter.org/document/110034. 163  Brief Breschnews an Carter, 25.2.1977. In: Wilson Center, Digital Archive, http://digital archive.wilsoncenter.org/document/110446. 164  Dobrynin: In Confidence, S. 391. 165  Snyder: Human Rights Activism, S. 82–87; Raymond L. Garthoff, Détente and Confrontation: American-Soviet Relations from Nixon to Reagan. Washington 1985, S. 567–569.

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Unmittelbar nach einem Besuch von Vance in Moskau Ende März 1977 verkündete Gromyko Moskaus Ablehnung der amerikanischen SALT-Vorschläge und verband diese Position mit Carters Menschenrechtskampagne.166 Während des Besuchs, den Vance hauptsächlich für die Besprechung neuer amerikanischer Vorschläge zu SALT II nutzen wollte, erteilten ihm Breschnew und Gromyko eine Lektion. Anatoli Tschernjajew, damals stellvertretender Vorsitzender der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU, beschrieb in seinem Tagebuch das Treffen zwischen den drei Staatsmännern: Breschnew und Gromyko »unterbrachen ihn immer wieder, ›putzten‹ ihn eher grob wegen der Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten bezüglich der Menschenrechte herunter«.167 Vance redete später von einem »langen Papier« über das Thema, das Breschnew vorgetragen habe.168 Breschnew sprach von einer »Verzerrung« des Entspannungskonzepts durch die USA, um eine »Einmischung« in die inneren Angelegenheiten der sozialistischen Länder »unter dem falschen Vorwand einer Sorge um die Menschenrechte« zu rechtfertigen.169 Er erklärte Vance aus Moskauer Sicht den Unterschied zwischen zulässiger ideologischer Konkurrenz und unzulässiger »Einmischung« und »psychologischer Kriegsführung«.170 Breschnew zeigte sich besonders von dem »freundlichen Brief Carters an Sacharow« betroffen, der Sacharow »auf jeder Weise lobt usw., ermutigt und umarmt, ohne zu wissen, was Sacharow in der Sowjetunion macht, mit wem er in Verbindung steht«.171 Im Vorgriff auf die massive Gegenpropagandakampagne Moskaus in Menschenrechtsfragen (siehe unten 3.5) kritisierte Breschnew die Menschenrechtslage in den USA. Die USA-Verfassung garantiere weder die Gleichberechtigung der Frauen noch die Rechte auf Arbeit, Ausbildung und soziale Sicherheit. Rassendiskriminierung bleibe immer noch ein Problem in den USA, wie amtliche Statistiken über Armut und Arbeitslosigkeit in den USA zeigten.172 Breschnew zitierte auch den Fall der »Wilmington-Zehn«, einer Gruppe hauptsächlich afro amerikanischer Bürgerrechtler, die in Wilmington/North Carolina 1972 als angebliche Anstifter von Krawallen festgenommen wurden. Die Krawalle gingen tatsächlich von einer weißen Bürgerwehr und dem Ku-Klux-Klan aus, aber die »Zehn« wurden in einem fragwürdigen Prozess zu insgesamt 282 Jahren Haft 166  Vaughan: Zbigniew Brzezinski, S. 18. 167  Anatoly Chernyaev, Diary entry, 1 April 1977, Rossiskije Programmy Archiva Nazionalnoi Besopasnosti, http://www.gwu.edu/~nsarchiv/rus/Chernyaev.html. 168 Gesprächsaufzeichnung zwischen Vance und Vertretern der US-amerikanischen jüdischen Organisationen, 8.4.1977. In: Taylor, Melissa Jane (Hg.): FRUS 1977–1980, Vol. 6: Soviet Union (Washington 2013), S. 121–127, hier 122. 169 Gesprächsaufzeichnung von dem Treffen zwischen Vance, Breschnew und Gromyko, 28.3.1977. In: FRUS, 1977–1980, Vol. 6, S. 46–59, hier 49. 170  Ebenda, S. 50. 171  Ebenda, S. 57 f. 172 Ebenda.

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verurteilt. Breschnew nannte auch Fälle der illegalen Überwachung durch das FBI und die Postkontrolle durch die CIA als Beispiele für Menschenrechtsverletzungen in den USA. Breschnew und Gromyko deuteten auf diese Weise an, dass eine Weiterführung der Entspannungspolitik von der Aufgabe der »Einmischung« seitens der USA abhing.173 Drittens versuchte Moskau die Verbündeten der USA – hauptsächlich Frankreich und die Bundesrepublik – zu veranlassen, auf die USA Druck auszuüben, die Menschenrechtskampagne zu dämpfen oder besser noch zu beenden. Die Versuche Moskaus, zwischen Washington und seinen Verbündeten wegen der amerikanischen Menschenrechtspolitik einen Keil zu treiben, wurden zur ständigen Strategie Moskaus im KSZE-Prozess. In einer öffentlichen Rede in der Woche vor dem Besuch von Vance verglich Breschnew die Politik Washingtons mit der seiner Verbündeten: »In der Sowjetunion wird die Tatsache geschätzt, dass die Führer Frankreichs, der BRD, Italiens und Großbritanniens die Politik der Entspannung und die Politik der friedlichen Zusammenarbeit unterstützen.«174 Als Egon Bahr im Mai 1977 Moskau besuchte, wurde er von Gromyko informiert, dass die Stellungnahme Bonns zur Belgrader Nachfolgekonferenz in Moskau »hoch eingeschätzt« werde. Gromyko »möchte ganz eng mit der deutschen Seite zusammenwirken«. Wegen der neuen amerikanischen Regierung drückte Gromyko im Gegensatz dazu »Unsicherheit« und »Sorge« aus.175 Die Bemühungen Moskaus waren nicht vergeblich. Vor allem zwischen Carter auf der einen Seite und Bundeskanzler Schmidt und dem französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing auf der anderen gab es Meinungsunterschiede hinsichtlich der Behandlung von Menschenrechtsfragen. Obwohl über diese Differenzen in der westlichen Presse berichtet wurde, erfuhren Moskau und Ostberlin dank der Aufklärungsarbeit der HV A darüber Einzelheiten von der höchsten Ebene. Sie hörten zum Beispiel von der französischen Kritik an der amerikanischen Menschenrechtspolitik gegenüber Schmidt auf einem Gipfeltreffen der beiden Staatsmänner in Paris am 3. und 4. Februar 1977. Die französische Regierung habe keine »öffentliche Erklärungen […] zu den Auseinandersetzungen in den östlichen Staaten mit ›Dissidenten‹ und ›Bürgerrechtlern‹« vor, »da eine vorsichtige und geschmeidige Reaktion von Fall zu Fall erforderlich sei«.176 Über »Angaben aus französischen Regierungskreisen« erfuhren die öst173  Ebenda, S. 58. Zu den »Wilmington-Zehn« siehe Godwin, John L.: Black Wilmington and the North Carolina Way: Portrait of a Community in the Era of Civil Rights Protest. Lanham 2000, passim. 174 Breschnew, Rede auf dem XVI. Kongreß der Gewerkschaften der UdSSR (Auszug), 21.3.1977. In: Breschnew, Leonid I.: Für Frieden, Entspannung, Abrüstung. Frankfurt/M. 1980, S. 262–270, hier 265. 175  AAPD 1977/I, S. 638, Fn 7. 176  Zu den Ergebnissen des Treffens zwischen dem französischen Präsidenten Giscard d’Estaing und BRD-Kanzler Schmidt am 3./4.2.1977 in Paris, APUE 8/77, 21.2.1977. In: BStU,

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lichen Führer durch die HV A im März 1977: Paris sei gegen »massive westliche Forderungen auf der KSZE-Folgekonferenz in Belgrad«. Sie könnten die »Sowjetunion zu harten Maßnahmen im Innern provozieren«, die günstige, »langwierige« Entwicklungen als Folge von Korb III im Osten »bremsen« könnten. Die Sowjetunion würde eher »auf verhaltenen Druck hinter verschlossenen Türen (so in bilateralen Gesprächen)« reagieren, als auf öffentliche Kritik.177 SED und KGB erfuhren durch die HV A auch von Meinungsverschiedenheiten zwischen Schmidt und Carter – zum Beispiel über ein Gespräch zwischen Schmidt und Vance, der auf der Rückreise von seinem erfolglosen Besuch in Moskau am 31. März 1977 in Bonn einen Zwischenhalt einlegte. Obwohl Schmidt das Recht der USA zu Kritik der Menschenrechtslage in der UdSSR als Bestandteil des fortdauernden Streits der Ideologien nicht geleugnet habe, habe er doch klar gemacht, dass sich die Bundesrepublik »in der Menschenrechtsdiskussion, ungeachtet der mit den USA übereinstimmenden rechtstaatlichen Überzeugung, anders verhalten« werde. Schmidt habe die Erfolge der Bundesrepublik seit Helsinki bei der Ausreise von »über 60 000 Deutschen« aus Osteuropa und bei dem Besucherverkehr von der Bundesrepublik nach der DDR zitiert. Er habe angeblich auch behauptet, so die HV A, dass »der Besuch von etwa 8 Millionen BRD-Bürgern in der DDR 1976 [...] einen enormen Einfluss auf die DDR-Bevölkerung« gehabt hätte.178 Eigentlich untertrieb der HV A-Bericht die Härte von Schmidts Kritik an Carters Menschenrechtskampagne. Schmidt hatte seine Sorge ausgedrückt, dass diese die Entspannung zwischen Ost und West unterminiere und die daraus resultierenden Gewinne Westeuropas in seinen Beziehungen mit dem Osten aufs Spiel setze. Jener westdeutschen Gesprächsaufzeichnung zufolge, auf der der HV-A-Bericht vermutlich basierte, erklärte Schmidt gegenüber Vance: Was die verbalen Auseinandersetzungen über MR [Menschenrechte] angeht, so ist Deutschland in einer besonderen Lage. Seit Helsinki haben wir 80 000 Umsiedler erhalten. Diese Entwicklung wollen wir nicht gefährden. Deswegen ist unsere öffentliche Reaktion etwas anders als die amerikanische. Ich kann [Andrei] Amalrik und Bukowski nicht empfangen. Ich kann mich mit Breschnew nicht anlegen in dieser Sache. Auf der anderen Seite habe ich ihm 1974 sehr eindringlich zugeredet, BuMfS, HV A Nr. 83, Bl. 414–420, hier 417. AAPD 1977, S. 127 ff. Die Information kam vermutlich von »Brede« (MfS 13864/60). Siehe BRD – Frankreich, Konsultationen Schmidt – Giscard d’Estaing am 3./4.2. in Paris, 16.2.1977 (Eingangsdatum), SE 7703349. In: BStU, MfS, HV A/ MD/6, SIRA-TDB 12. Der Kommentar kam vom französischen Außenminister Louis de Guiringaud. Siehe AAPD 1977/I, S. 132, Fn 18. 177 Zur Taktik französischer Regierungskreise hinsichtlich der weiteren Behandlung der Menschenrechtsproblematik, AUE 12/77, 21.3.1977. In: BStU, MfS, HV A Nr. 83, Bl. 374–382, hier 378 f. 178  Erörterung der Menschenrechtsproblematik zwischen Schmidt und Vance am 31.3.1977 in Bonn, AUE 20/77, 16.5.1977. In: ebenda, Bl. 296–304, hier 299 f.

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kowski fortzulassen. Wir können nicht abstrakt über MR sprechen, denn wir haben Hunderttausende von Deutschstämmigen im Osten, die wir nicht gefährden möchten […] Als Folge der Vertragspolitik haben wir es erreicht, dass 1975 7 Millionen und 1976 8 Millionen Deutsche aus der Bundesrepublik in die DDR gereist sind. Das wollen wir auch nicht gefährden. Die Führung der DDR möchte natürlich diese Dinge reduzieren und sucht nach einem Vorwand dafür.179

Es ist unklar, warum die 80 000 Umsiedler in der westdeutschen Gesprächsaufzeichnung auf 60 000 in dem HV-A-Bericht geschrumpft sind. Interessanterweise wies Schmidt auf den großen Einfluss der westdeutschen Massenmedien auf die ostdeutsche Bevölkerung hin, was im HV-A-Bericht richtig wiedergegeben wurde, aber er hatte nichts über den angeblich »großen Einfluss« des westdeutschen Besucherverkehrs auf die ostdeutsche Bevölkerung gesagt.180 Es ist unklar, ob es sich hier um einen Fehler in der Zusammenfassung der HV A bzw. der ZAIG handelte oder ob das MfS indirekt Unzufriedenheit über den westdeutschen Besucherverkehr gegenüber der SED- oder der KGB-Führung andeuten wollte. Natürlich würde eine solche Information der sowjetischen Führung nicht gefallen, die Honecker weiter unter Druck setzte, sich schärfer abzugrenzen. Dennoch bekamen Ostberlin und Moskau von der HV A eine Bestätigung hinsichtlich der Meinungsverschiedenheiten auf höchster Ebene zwischen Washington, Paris und Bonn. Die Spaltungstaktik Moskaus begann, auf diplomatischer Ebene Wirkung zu zeigen. Auf einem Gipfeltreffen der G7 in London erklärte Schmidt gegenüber Carter persönlich: »Man soll nicht die Menschenrechte benutzen, um Systeme zu destabilisieren, sondern um die wirkliche Lage der Menschen zu verbessern.«181 Als Carter seine Überraschung über Moskaus Misstrauen ihm gegenüber und über die grobe Ablehnung seiner Vorschläge zu SALT II ausdrückte, erwiderte Giscard, dass das Problem sei, dass Carter »gegen den Kodex verstoßen habe«. Er habe die Sowjets öffentlich angegriffen, und es »würde einige Zeit dauern, bevor sie darüber hinwegkommen«.182 179  Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt und des Bundesministers Genscher mit dem amerikanischen Außenminister Vance, 31.3.1977. In: AAPD 1977/I, S. 413–431, hier 414. 180 Ebenda. 181  Weltwirtschaftsgipfel in London, 7.5.1977. In: AAPD 1977/I, S. 576–583, hier 583. 182  G7: London Summit (Callaghan note of quadripartite meeting), 9 May 1977, Margaret Thatcher Foundation, Large Scale Document Archive. Obwohl Schmidt und Giscard sehr deutliche Kritik an Carters Menschenrechtspolitik übten, ist es übertrieben zu behaupten: »In their private conversation with Carter, the French, German and British leaders made it even clearer that they thought Carter's human rights were a rather big-mouthed exercise in self-promotion.« Siehe Bange, Oliver: The FRG and the GDR and the Belgrade CSCE Conference (1977–78). In: Biland Žić, Vladimir; Dahlman, Dittmar; Kosanović, Milan (Hg.): From Helsinki to Belgrade. The First CSCE Follow-up Meeting and the Crisis of Détente. Bonn 2012, S. 225–254, hier 234.

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Die Kommentare Schmidts und Giscards zeigen in drei Punkten größere Unterschiede in Menschenrechtsfragen zwischen den USA und dem westdeutschen und dem französischen Verbündeten. Erstens stellten Frankreich und die Bundesrepublik infrage, dass der Westen mit öffentlicher Kritik gegen Menschenrechtsverletzungen des Ostens vorgehen konnte, ohne die Entspannung zwischen Ost und West zu gefährden. Nach ihrer Sichtweise war Carter schon zu weit gegangen. Zweitens bevorzugten sie in Menschenrechtsfällen »stille Di­ plomatie« statt öffentlicher Erklärungen. Moskau war auch dieser Meinung, obwohl es entsprechende vertrauliche diplomatische Interventionen ebenfalls als Einmischung zurückwies. Ein dritter großer Unterschied vor allem zwischen den USA und der Bundesrepublik bestand hinsichtlich der Prioritäten. Soll der Westen mit Nachdruck auf die Grundfreiheiten und Rechte des Individuums in seinem Heimatland (Prinzip 7 der KSZE-Schlussakte) drängen oder soll er »menschliche Erleichterungen« in der Form verbesserter Möglichkeiten für grenz­überschreitenden Verkehr und Familienzusammenführung (Korb III) Priorität einräumen?183 Bemerkungen Carters gegenüber Schmidt und Giscard zeigen, dass Moskaus diplomatische und politische Kampagne gewirkt hatte. Der amerikanische Präsident räumte gegenüber Schmidt ein, dass er sich bezüglich der sowjetischen Reaktion auf seine Menschenrechtskampagne verrechnet habe. Sie habe in den Verhandlungen über SALT II zur Verzögerung beigetragen. Nach dem Scheitern der Vance-Mission in Moskau begann die Carter Administration, nicht nur über ihre geplanten Änderungen bei SALT II nachzudenken, die Moskau ebenfalls empört hatten. Sie fing auch an, ihre öffentliche Kritik – vor allem vonseiten des Präsidenten – an sowjetischen Menschenrechtsverletzungen zu zügeln. Carter beantwortete einen zweiten Brief von Sacharow nicht und empfing die Frau des sowjetischen Dissidenten, MHG-Mitglieds und bekannten »Refusenik« Anatoli Schtscharanski nicht im Weißen Haus.184 Schmidt nutzte seine Intervention bei Carter in der Menschenrechtsfrage, um sich gegenüber Honecker und Breschnew als »guter Makler« zwischen Ost und West darzustellen. Am 16. Mai 1977 übermittelte Schmidt über Wolfgang Vogel an Honecker die Nachricht, dass er auf dem Londoner Treffen Carter für die 183  Fernschreiben, Botschafter Pauls, Brüssel (NATO), an das Auswärtige Amt, 18.3.1977. In: AAPD 1977/I, S. 347–351, hier 347 f. 184  Wiegrefe, Klaus: Das Zerwürfnis. Helmut Schmidt, Jimmy Carter und die Krise der deutsch-amerikanischen Beziehungen. Berlin 2005, S. 145. Als Jude hatte Schtscharanski 1973 einen Ausreiseantrag nach Israel gestellt und wurde 1975 von seiner Arbeitsstelle entlassen, aber seine Ausreise wurde ihm verweigert. Ab 1976 war er bei der MHG hauptsächlich in Ausreisefragen tätig und wurde schon früher für seine Teilnahme an Demonstrationen mit anderen »Refuseniks« zu 15 Tagen Gefängnis verurteilt. Siehe Chronicle of Current Events (CCE), Nr. 44 (1977), S. 114. In: A Chronicle of Current Events. For Human Rights and Freedom of Expression in the USSR, https://chronicle6883.files.wordpress.com/2013/10/nos-43-45-january-1979.pdf (letzter Zugriff: 13.11.2018).

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von der Bundesrepublik bevorzugte »stille Diplomatie« in Menschenrechtsfragen gewonnen habe. In der Zukunft werde Carter »sein Engagement in Sachen ›Menschenrechten‹ verändern und kürzer treten«. Schmidt erklärte: Erich Honecker solle Carter so verstehen, dass dieser nach Vietnam und Watergate mit seinem Engagement zur Frage der ›Menschenrechte‹ nach Art einer Selbstidentifikation zu 90 Prozent in der amerikanischen Öffentlichkeit Anklang gefunden habe. Und nur darauf sei es ihm angekommen. Um Sacharow und wie sie auch heißen mögen, sei es ihm überhaupt nicht gegangen. […] Präsident Carter habe sich von ihm berichten lassen, wie es die Bundesrepublik im Verhältnis der beiden deutschen Staaten mit den ›Menschenrechten‹ hält. Er sei von den Zahlen beeindruckt gewesen (Familienzusammenführungen) und habe sich gewundert, dass man so viel unter der Decke halten könnte. Er wolle daraus Lehren ziehen und sich noch eingehend aufklären lassen. Jedenfalls könne man wohl davon ausgehen, dass er in der spektakulären Weise, wie bisher, die Sowjetunion mit den ›Menschenrechten‹ nicht mehr behelligen würde.185

Die Änderung, so Schmidt, würde auch für das Belgrader Treffen gelten: »Für Belgrad habe er sich mit Präsident Carter darauf geeinigt, dass beide Delegationen in dem Willen hingingen, konstruktiv zu sein. Dies gelte vor allem für die 2. Etappe auf der Ebene der stellvertretenden Außenminister.«186 Schmidt informierte Breschnew auch, dass es ihm in London gelungen sei, »Präsident Carter davon zu überzeugen, wie unklug es wäre – im allgemeinen Interesse, nicht zuletzt aber auch im europäischen Interesse – die Frage der Menschenrechte zu scharf, absolut und damit unrealistisch zu behandeln. Es scheint, wenn man die letzte Zeit überblickt, dass diese Bemühungen nicht unfruchtbar gewesen sind«.187 In diesem Falle brauchten Moskau und Ostberlin keine geheimen Quellen, um über Meinungsunterschiede auf höchster Ebene im Westen informiert zu werden. Bis Ende Mai 1977 war die sowjetische Führung überzeugt, dass ihre Spaltungstaktik Carter zum Rückzug an der Menschenrechtsfront gezwungen hatte. Auf einem Treffen der Außenminister der Warschauer Vertragsstaaten am 25. Mai erklärte Gromyko: In der allerletzten Zeit wird spürbar, dass die Versuche dieses oder jenes, die Beziehungen zur Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern zu verschärfen, in Westeuropa eine Art Gegenwelle hervorrufen: Viele westeuropäische Politiker erkennen, wie es scheint, bereits, zu welchen Folgen derartige Versuche führen kön185  Information über das Gespräch des Rechtsanwalts Vogel mit Bundeskanzler Schmidt und dem Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion Wehner, Berlin (West), 16.5.1977. In: AAPD 1977/I, S. 151–165, hier 152 f. 186  Ebenda, S. 153. 187  Wiegrefe: Zerwürfnis, S. 146.

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nen. Ja, auch in den USA beginnt man sozusagen, zu der Erkenntnis zu gelangen, dass es unmöglich ist, ernsthafte Anstrengungen zur Lösung der aktuellen internationalen Probleme mit der Einmischung in die inneren Angelegenheiten der sozialistischen Staaten zu verbinden. Mit anderen Worten, Propagandakampagnen hin Propagandakampagnen her, der Notwendigkeit jedoch, Seite an Seite mit der immer mehr erstarkenden sozialistischen Gemeinschaft zu leben und mit ihr Beziehungen auf einer soliden Grundlage zu unterhalten, können die kapitalistischen Länder nirgendwohin ausweichen.188

Trotz allem blieb die Menschenrechtspolitik Carters eine aktuelle Frage in den sowjetisch-ameri­kanischen Beziehungen. Nachdem die Carter-Administration ih­ren gesetzlich festgelegten Jahresbericht zu den Menschenrechten in den KSZEStaaten dem amerikanischen Kongress im Juni 1977 vorgelegt hatte und Vance die Lage in der Sowjetunion erneut kritisierte, drohte die »Prawda« mit ernsten Konsequenzen für die gegenseitigen Beziehungen, wenn die USA ihren Kurs zu Menschenrechtsfragen nicht änderten.189 Als Schmidt während seines Besuchs in Washington im Juli 1977 erneut seine Sorgen über die Menschenrechtspolitik ausdrückte, informierte ihn Carter, dass Moskaus vertraulicher Meinungswechsel mit Washington viel freundlicher geworden sei, als die harten, öffentlichen Erklärungen andeuteten.190 Moskau versuche seine Unzufriedenheit mit Washington zu übertreiben, so Carter, um Einfluss auf seine Verbündeten samt der Bundesrepublik zu nehmen.191 Obwohl auch Genscher auf eine derartige Taktik Moskaus in einer öffentlichen Erklärung zum Belgrader Treffen hinwies,192 war Schmidt nicht überzeugt. Kurz danach traf er sich überraschend mit Giscard für ein Krisengespräch darüber, wie die Entspannungspolitik zu retten sei. Zu dem Treffen gab es in der transatlantischen Presse Berichte, die zum wachsenden Zerwürfnis zwischen Carter und Schmidt beitrugen.193 Obwohl der KGB durch Desinformation den Keil zwischen den westlichen Staatsmännern tiefer treiben wollte,194 tat Andropow gegenüber Mielke im Juni 1977 so, als wäre er von den Meinungs­unterschieden zwischen Carter, Giscard 188  Rede Gromykos, Tagung des Komitees der Außenminister der Mitgliedstaaten des Warschauer Vertrags am 25. Mai 1977 in Moskau. In: SAPMO BA, DY 30, J IV 2/2A-2073, Bl. 46– 61, hier 48 f. 189  Wiegrefe: Zerwürfnis, S. 147. 190  Deutsch-amerikanisches Regierungsgespräch, 13.7.1977. In: AAPD 1977/II, Dok. 186, S. 950–959, hier 952. 191  Botschafter von Staden, Washington, an Bundeskanzler Schmidt, 18.7.1977. In: AAPD 1977/II, Dok. 197, S. 992–994, hier 993. 192  Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten, Brzezinski, in Washington, 13.7.1977. In: AAPD 1977/II, Dok. 188, S. 965–971, hier 966 f. 193  Wiegrefe: Zerwürfnis, S. 150. 194  Ostrovský, Abt. 36 der I. HV der FMdI der ČSSR, Auszug aus der Aufzeichnung von den Konsultationen zwischen den tschechoslowakischen und sowjetischen Geheimdiensten zur Frage

Gegenoffensive

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und Schmidt nicht besonders beeindruckt. Der allein entscheidende Faktor für die abweichenden Stellungnahmen Schmidts und Giscards in Menschenrechtsfragen sei die sowjetische Überlegenheit bei Mittelstreckenraketen in Europa: Natürlich sind Giscard und Schmidt nicht besser als Carter. Aber es besteht eine größere Gefahr für die Europäer, weil wir diese Länder mit unseren Mittelstreckenraketen erreichen können. Deshalb verstehen sie, dass sie in einem Krieg vernichtet werden können. Es gibt keinen Flecken in Europa, der abgegrenzt werden könnte. Zumindest erfolgt eine radioaktive Verseuchung. Eine solche Einstellung von Carter [zu Menschenrechten – d. A.] wird deshalb nicht nur durch USA-Kreise kritisiert, sondern auch von der BRD, Frankreich, England und auch Japan, die alle in einem thermonuklearen Krieg vernichtet werden können. Natürlich bleiben die USA für diese Staaten die größte Kraft, aber diese Staaten drücken auf die USA.195

Anfang 1977 hatte die Sowjetunion mit der Stationierung von neuen SS-20-Mittelstreckenraketen angefangen, die die veralteten und unzuverlässigen SS-4 und SS-5 ersetzen sollten. Bis 1979 wurden 90 der geplanten 333 Raketen installiert.196 Zumindest nach der Darstellung Andropows spielten sie eine zentrale Rolle in der weniger konfrontativen Politik der Verbündeten der USA gegenüber Moskau. Es würde sich aber herausstellen, dass die Stationierung die sowjetische Zielsetzung der »militärischen Entspannung« aufs Spiel setzte, als die NATO im Dezember 1979 mit ihrem Doppelbeschluss darauf reagierte (siehe unten 6.1).

3.5 Gegenoffensive: Die »Bruderparteien«, ihre Staatssicherheitsdienste und die Menschenrechte im Westen Die UdSSR reagierte auf Carters Menschenrechtskampagne nicht nur mit diplomatischen Schritten. Sie nutzte Carters Politik, um die Tätigkeit der Dissidenten als vom Westen gesteuert zu denunzieren. Carters Politik war deshalb für

der AM (gehalten vom 30.3.–1.4.1977), tschechisch, o. D. In: ABS, A. č. 81282/113, Bl. 113– 121, hier 114, 123. 195  Notiz über die Besprechung zwischen dem Genossen Minister und dem Vorsitzenden des KfS, Genossen Andropow am 25.6.1977, 10.00 bis 12.30 Uhr in Moskau, o. D. In: BStU, MfS, Abt X., Bd. 1858, Bl. 2–33, hier 8. 196  Wettig, Gerhard: Sowjetische Euroraketenrüstung und Auseinandersetzung mit den Reaktionen des Westens. Motivationen und Entscheidungen. In: Gassert, Philipp; Geiger, Tim; Wentker, Hermann (Hg.): Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive. München 2011, S. 49–64, hier 52 f.

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die sowjetischen Dissidenten »ein zweischneidiges Schwert«.197 Der KGB und die KPdSU nutzten die Menschenrechtspolitik Carters und das »Bündnis« zwischen ihm und den Helsinki-Gruppen in der UdSSR, um deren Unterdrückung öffentlich zu rechtfertigen.198 Orlow und Alexander Ginsburg von der Moskauer Helsinki-Gruppe wurden im Februar 1977 festgenommen, gefolgt von Schtscharanski am 15. März.199 Als weitere Reaktion auf die ideologische Offensive Carters entfachte die UdSSR in Zusammenarbeit mit den anderen sozialistischen Ländern eine breite Propagandakampagne gegen Menschenrechtsverletzungen in westlichen Ländern, um die Menschenrechtskampagne Washingtons zurückzuweisen und den Enthusiasmus des Westens für eine Konfrontation über solche Fragen in Belgrad zu drosseln. Wie die Menschenrechtskampagne der USA wurde diese Gegenkampagne des Ostens bis zum Ende der kommunistischen Regime 1989/1990 ein ständiges Element im KSZE-Prozess. Schon vor Carters Wahl und seinem Einsatz für sowjetische Dissidenten fühlte sich Moskau in der propagandistischen Defensive. Auf dem Gipfeltreffen des Warschauer Pakts im November 1976 unterstrich Breschnew die Notwendigkeit der Entwicklung eines »mächtigen ideologischen Apparats«, um u. a. der Offensive des Westens in Fragen von Korb III nach der KSZE zu begegnen. Da »die öffentliche Meinung ohne Übertreibung zu einer gewaltigen politischen Kraft geworden ist«, sei ein solcher Apparat »nicht minder wichtig«, so Breschnew, »als eine feste und stabile Verteidigung«. Konkrete Schritte zur Verbesserung der Propagandatätigkeit der sozialistischen Länder seien deshalb erforderlich.200 Die ZK-Sekretäre der »Bruderparteien« für Internationale und Ideologi­sche Fra­gen beschlossen auf ihrem Treffen im März 1977 unter der Führung Ponomarjows, eine »aktive und offensive propagandistische Tätigkeit« gegen Carters Menschenrechtspolitik zu entfachen.201 Vorgesehen wurden »koordi­nierte Maß­ nahmen auf dem Gebiet der Auslandspropaganda«, u. a. die Heraus­gabe von Dokumentationen, »die Fakten und Argumentationen über die konsequen­te Rea­lisierung der in Helsinki erzielten Vereinbarungen durch die sozialis­ti­schen Län­der enthalten«.202 Wie Breschnew schon angedeutet hatte, verstärkten auch die sozialistischen Länder ihre Anstrengungen, die sozialistische Menschenrechts­ kon­zeption international zu popularisieren. Die SED war der vielleicht größ­te Ver­fechter einer solchen ideologischen Gegenkampagne. Auf dem Treffen der 197  Savranskaya: Human Rights Movement, S. 35. 198  Ebenda, S. 37. 199  Ebenda, S. 36. 200  Rede Breschnews, 26.11.1976, Bl. 26 (siehe Fn 1). 201  Bericht der Delegation der SED über die Beratung der Sekretäre für ideologische und internationale Fragen der Zentralkomitees der Bruderparteien sozialistischer Länder in Sofia am 2. und 3. März 1977. In: BStU, MfS, SED-KL, Bd. 831, Bl. 7–36, hier 13. 202  Ebenda, Bl. 15.

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Ideo­logischen und Internationalen Sekretäre im März 1977 schlug sie vor, die »Bruderparteien« sollten verschiedene Argumentationen und Informationen zum Thema »Der Sozialismus verwirklicht die Freiheit und Menschenrechte, der Im­ perialismus ist der Feind jeglicher Freiheit für die Werktätigen« gemeinsam aus­ arbeiten. Die Materialien sollten, so die Delegation der SED, »in der ideologischen und auslandspropagandistischen Arbeit mit dem Ziel verwendet werden, durch eine koordinierte Aktion auch im Hinblick auf die Belgrader Konferenz, die gegnerische Kampagne über das angebliche Fehlen der Menschenrechte im Sozialismus zu durchkreuzen«.203 Es ist unklar, ob der SED-Vorschlag für eine multilaterale Zusammenarbeit jemals verwirklicht wurde. Auf jeden Fall blieb die ideologische Argumentation zum Vorrang von sozialen gegenüber individuellen Menschenrechten für die SED im Vordergrund.204 Nachdem Carter auf seiner Menschenrechtspolitik beharrte und Brzezinski den Haushalt von RFE/RL aufstockte, entschied Moskau, es seien offensivere Maßnahmen notwendig. In einem Schreiben an alle sowjetischen Auslandsvertretungen und alle kommunistischen »Bruderparteien« forderte Moskau am 19. Mai 1977 ein propagandistisches Gegengefecht.205 Das Konzept Carters und insbesondere Brzezinskis, dass westlicher Aktivismus in Menschenrechtsfragen Bestandteil des zulässigen »ideologischen Kampfes« zwischen Ost und West sei, sollte bekämpft werden. Der Menschen­rechts­aktivismus im Westen sei kein »ideologischer Kampf«, sondern »ideologische Diversion« und beinhalte »subversive Aktionen«, so das sowjetische Politbüro.206 Moskau hatte schon entsprechende Thesen für eine Propagandaschlacht ausgedacht: Die USA sei an der »Bildung und Unterstützung ungesetzlicher Organisationen in anderen Ländern«207 wie der Helsinki-Gruppen in der UdSSR schuldig,208 und die Dissidenten seien Spione und »Abtrünnige«, deren Thematisierung durch westliche Politiker und Journalisten an sich einen Verstoß gegen die Vereinbarungen von Helsinki darstelle.209 Die Ver203  Ebenda, Bl. 19 f. 204  So Honecker. Siehe z. B. Die nächsten Aufgaben der Partei: Referat des Generalsekretärs des ZK der SED, Genossen Erich Honecker, auf der Beratung des Sekretariats des Zentralkomitees mit den 1. Sekretären der Kreisleitungen der SED, 22.2.1977. In: BStU, MfS, HA IX, Bd. 16266, Bl. 367–382, hier 378. 205  Material des Politbüros des ZK der KPdSU an alle Botschafter der UdSSR, 26.5.1977. In: SAPMO BA, DY 30, J IV 2/2A, 2073, Bl. 12–33, hier 12. Honecker hatte die Information an alle Mitglieder des Politbüros am 27.5.1977 weitergeleitet (siehe ebenda). Sie wurde dann auf der Sitzung des Politbüros am 31.5.1977 besprochen, und Axen und Fischer wurden im Anschluss beauftragt, »eine Direktive für die Botschafter der DDR zum Standpunkt der DDR zu dieser Frage auszuarbeiten«. Protokoll Nr. 22 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED (Entwurf), 31.5.1977. In: ebenda, Bl. 5–7, hier 6. 206  Material des Politbüros des ZK der KPdSU, 26.5.1977, Bl. 13, 22 f. 207  Ebenda, Bl. 23. 208  Ebenda, Bl. 31. 209  Ebenda, Bl. 24, 27.

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haftung und Verurteilung derselben sei kein Beleg dafür, dass die UdSSR gegen die Menschenrechte und die KSZE-Schlussakte verstoße, sondern dass die USA die Souveränität der UdSSR und das Nichteinmischungsprinzip der Schlussakte verletzten, indem sie »kriminelle Elemente« im Innern der UdSSR unterstützten. Viel wirksamer war, wie das Beispiel Schmidts und Giscards schon gezeigt hat, ein zweites diplomatisches Argument und Propagandathema des sowjetischen Politbüros: Die Menschenrechtskampagne von Carter und anderen im Westen gefährde die Ost-West-Entspannung und alle ihre positiven Auswirkungen im wirtschaftlichen, im humanitären und in anderen Bereichen.210 Auf dem Treffen der ZK-Sekretäre für Internationale Fragen und Ideologie im März 1977 hatte Ponomarjow schon angedeutet, dass dieses Argument benutzt werden sollte, um den Keil zwischen den USA und ihren Verbündeten wegen Carters Menschenrechtspolitik tiefer zu treiben.211 Noch wichtiger für das MfS und seine »Bruderorgane« war, dass das Politbüro der KPdSU eine propagandistische Offensive in Menschenrechtsfragen gegen die westlichen Länder forderte. Die sowjetischen Auslandsvertretungen und die »Bruderparteien« sollten den Spieß umdrehen, indem sie die Menschenrechtslage im Westen und besonders in den USA entschieden verurteilten: Richten Sie bei der Entlarvung des pharisäerhaften Charakters der in manchen westlichen Ländern entfesselten Kampagne ›zum Schutze der Menschenrechte‹ die Aufmerksamkeit auf das Fehlen bzw. die grobe Verletzung dieser Rechte in kapitalistischen Ländern. So fehlt in der Verfassung der USA selbst eine formale Anerkennung des Rechts auf Arbeit, auf Bildung, auf soziale Sicherstellung. Bis heute ist die Gleichberechtigung der amerikanischen Frauen gesetzlich nicht garantiert. Im Zeitraum von 1960 bis 1974 überprüfte das FBI 500 000 Amerikaner, die ›subversiver Aktionen‹ beschuldigt wurden, obwohl diese Aktionen, nach Eingeständnis der Organe des USA-Kongresses, nicht über den Rahmen der gesetzlichen Tätigkeit hinausgingen. In den Jahren 1953 bis 1973 hat der CIA unrechtmäßig ca. 205 000 Briefe geöffnet.212

Die kommunistische Propaganda sollte sich auch die Tatsache zunutze machen, dass die USA weder die UNO-Menschenrechtskonventionen noch andere internationale Konventionen wie die über die Verhütung der Verbrechen der Apartheid und die Beseitigung aller Formen der Rassendiskriminierung ratifiziert hatten.213

210  Ebenda, Bl. 13. 211  Rede Ponomarjows, 3.3.1977, Bl. 90. 212  Material des Politbüros des ZK der KPdSU, 26.5.1977, Bl. 16. 213  Ebenda, Bl. 18.

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3.5.1 Aktive Maßnahmen: Der KGB, die »Bruderorgane« und die Menschenrechtsproblematik So wie das sowjetische Politbüro die Bruderparteien aufforderte, ihren eigenen Beitrag zur propagandistischen Zurückweisung der Menschenrechtsoffensive Carters zu leisten, forderte das KGB die »Bruderorgane« auf, entsprechende aktive Maßnahmen zu realisieren. Auf einem Treffen Ende März 1977 stimmten die zuständigen Abteilungen der tschechoslowakischen und der sowjetischen Staatssicherheit darin überein, gegen die Menschenrechtslage im Westen in die Offensive zu gehen. Sie vereinbarten »eine breite Kampagne« bezüglich der »Verletzungen von Menschenrechten in den kapitalistischen Ländern«, um günstige Bedingungen für das Treffen in Belgrad zu schaffen. An erster Stelle der geplanten Kampagne standen die USA, aber auch die Bundesrepublik (Stichwort »Berufsverbote«) und Großbritannien wurden erwähnt. Sie planten u. a. die »Organisierung von Brief- und Telefonkampagnen mit Forderungen und Anfragen« bezüglich der Menschenrechtslage im Westen an Carter und Vertreter anderer westlicher Länder.214 Nach den Gesprächen mit dem KGB arrangierte die tschechoslowakische Abteilung 36 zum Beispiel die Veröffentlichung eines Artikels über eine irakische Klage gegen britische Menschenrechtsverletzungen vor dem Gericht des Europarats im Parteiorgan »Rudé právo«. Auf Basis des Artikels sendete ein Nachrichtenprogramm im tschechoslowakischen Staatsfernsehen einen Bericht.215 In Dänemark plante der KGB eine potenziell noch wirksamere Maßnahme: die Förderung der Ausstellung »Amerikanische Bilder« des dänischen Fotografen Jacob Holdt und ihre Veröffentlichung in der Bundesrepublik, in Schweden und Großbritannien. Holdts Bilder, die das tagtägliche Leben in den Slums, Ghettos und Hinterhöfen der USA zeigten, lieferten vernichtende Zeugnisse der Armut in den USA. Für den KGB dienten sie als »Entlarvung der Menschenrechtsverletzungen in den USA«.216 Die HV A hatte offenbar auch 214  Ostrovský, Auszug aus der Aufzeichnung von den Konsultationen, o. D., Bl. 120 f. 215  Vorschlag zur Ablage im Archiv der I. Linie des FMdI einer Nebenakte für eine aktive Maßnahme, Deckname: DŮRAZ, 14.2.1978. In: ABS, A. č. 12686/108, Bl. 16. 216  Telegramm 907/PR von der Residentur des KGB in Kopenhagen an Genossen Sewerow [Gruschko] in Moskau, 8.12.1978. In: Andrew, Christopher; Gordievsky, Oleg (Hg.): More ›Instructions from the Centre‹: Top Secret Files on KGB Global Operations, 1975–1985. London 1992, S. 30. Holdt bestätigte nach dem Kollaps der UdSSR, dass er aus Neugierde Kontakt mit dem für die aktive Maßnahme zuständigen KGB-Offizier aufrechterhalten hatte. Trotzdem hat Holdt die geplante Veröffentlichung seiner Bilder durch sowjetische Dienststellen außerhalb Dänemarks blockiert. Dessen ungeachtet schrieb die KGB-Residentur in Dänemark die Ausstellungen und Veröffentlichungen Holdts sich als eigenes Verdienst zu, um ihr Image beim »Zentrum« aufzupolieren. Siehe Holdt, Jacob: Om at være KGB-agent: Jyllandspostens kommentar [Über einen KGB-Agenten: Kommentar in den Jyllands-Posten], 29.8.1995. In: http://www.ameri can-pictures.com/dansk/artikler/jp-agent.htm. Zu Holdt und seinen »Amerikanischen Bildern« siehe auch KGB’S Kontakt- og Agentnet i Danmark: Sagerne i PET’s Arkiv vedrørende Arne Her-

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dabei eine Rolle zu spielen. Ihr mutmaßlicher Romeo-Agent Jörg Meyer hatte schon 1977 Holdt bei der deutschen Übersetzung seiner Dia-Präsentation zu den »Amerikanischen Bildern« geholfen und arrangierte sogar nach seiner Verhaftung wegen Spionage in Dänemark 1978 zusammen mit Holdt eine Präsentation derselben in seinem Gefängnis.217 In Vorbereitung auf Belgrad verfassten die Residenturen des KGB in verschiedenen Ländern zahlreiche Briefe an die First Lady der USA Rosalynn Carter, in denen die Menschenrechtslage in den USA verurteilt wurde.218 Andropow berichtete 1978 an Breschnew, dass der KGB Briefe und Telegramme von Arbeiterkollektiven und einzelnen Staatsbürgern der UdSSR direkt an Carter und den US-Kongress gegen ihre Einmischung in die inneren Angelegenheiten der UdSSR in Menschenrechtsfragen organisiert hatte. Diese hätten angeblich eine für die UdSSR günstige Reaktion verursacht.219 Eine weitere aktive Maßnahme, die das KGB mit der tschechoslowakischen Abteilung 36 im April 1977 diskutierte, war die Gründung von »verschiedenen Ausschüssen und Organisationen zur Unterstützung der Realisierung der KSZE-Schlussakte« nach östlicher Lesart im Westen. Etwa zur gleichen Zeit beløv Petersen og Jørgen Dragsdahl [Die Kontakt- und Agentennetzwerke des KGB in Dänemark: Die Fälle von Arne Herløv Petersen und Jørgen Dragsdahl in dem Archiv von PET], PET-Kommisionens Beretning [Bericht der PET-Kommission], Bd. 13. Kopenhagen 2009, S. 40 bzw. Fn 92. Die PET-Kommission wurde 1999 vom dänischen Parlament gegründet, um die Geschichte des Politischen Aufklärungsdienstes (Politiets Efterretningstjeneste, PET) der dänischen Polizei hauptsächlich während des Kalten Krieges zu untersuchen. Zu Holdt siehe auch United States Information Agency, Soviet Active Measures in the »Post-Cold War« Era, 1988–1991. Washington 1992, http://intellit.muskingum.edu/russia_folder/pcw_era/sect_16b.htm. 217  Vgl. Wegener Friis, Thomas: »Auf der Grundlage glaubwürdiger und zuverlässiger Angaben«. Die nachrichtendienstliche Tätigkeit der DDR in Dänemark. In: Hecker-Stampehl, Jan (Hg.): Nordeuropa und die beiden deutschen Staaten 1949–1989. Aspekte einer Beziehungsgeschichte im Zeichen des Kalten Krieges. Leipzig, Bonn 2007, S. 45–74, hier 46 f.; Holdt, Jakob: Mine Venner: Jörg Meyer – Amerikanske Billeders bedste medarbejder [Meine Freunde: Jörg Meyer – bester Mitarbeiter von »Amerikanischen Bildern«], http://www.american-pic­tures. com/gallery/friends/Joerg.Meier.htm (letzter Zugriff: 8.10.2018). Während seiner Zeit in Dänemark unter dem Aliasnamen »Rudolf Samiec« wurde Meyer im IM-Vorgang »Wolfgang Schmidt« der HV A/XI geführt. BStU, MfS, RoHo, F16 u. F22, Reg.-Nr. I/848/67. Im Jahre 1978 lieferte »Wolfgang Schmidt« insgesamt 10 Informationen, hauptsächlich geheime Unterlagen über Energiepolitik und Atomenergie in Dänemark und der EG. Siehe Suche: "QUA.RGNR=*/848/67" in: BStU, MfS, HV A/MD/3, SIRA-TDB 12. 218  Der KGB-Überläufer Oleg Gordijewsky behauptete, dass die KGB-Residentur in Dänemark einen dänischen Politiker beeinflusste, einen solchen Brief an die First Lady zu schreiben. Ein hauptamtlicher Mitarbeiter wurde dann zum Heimatort der First Lady in den USA geschickt, um die Ankunft des Briefes zu bestätigen, damit die Residentur ihren Erfolg dem KGB-Hauptquartier berichten konnte. Gordiewski, Oleg; Andrew, Christopher, KGB: Die Geschichte seiner Auslandsoperationen von Lenin bis Gorbatschow. München 1992, S. 697. 219  Andropov an Breschnew, Bericht über die Arbeit des Komitees für Staatssicherheit im Jahre 1977, 27.3.1978. In: NSA EBB No. 191, The Moscow Helsinki Group 30th Anniversary: From the Secret Files, http://www.gwu.edu/~nsarchiv/NSAEBB/NSAEBB191/index.htm.

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auftragte er seine Residenturen im Ausland mit der Suche nach »Einzelpersonen und Gruppen in den USA und in anderen Ländern«, die »unzufrieden mit der Verweigerung ihrer Rechte« seien. In dem Telegramm wurde erklärt: Das Ziel ist, bei der Gründung eines privaten, internationalen Hilfsfonds in einem dritten Land zu helfen. Der Fonds könnte ›Fonds für die Opfer des Imperialismus und Kolonialismus‹ (oder ähnlich) genannt werden, und er wird von einem der progressiven Aktivisten geführt werden. Bei der Gründung des Fonds werden seine Ziele und Zielvorgaben verkündet, zusammen mit entsprechender Propaganda, um Geld aufzubringen, inklusive eines Appells an Einzelpersonen in kapitalistischen Ländern um Spenden.220

Es ist unklar, ob der KGB den vorgeschlagenen Hilfsfonds jemals gründete. Er wollte aber, dass die »Bruderorgane« ähnliche Organisationen gründeten. 1978 informierte die HV A/X ihre Prager Amtskollegen über Versuche, eine »›Gesellschaft für Menschenrechte in Europa‹ zu gründen«. (Anscheinend war die HV A von der westdeutschen »Feindorganisation« gleichen Namens besonders beeindruckt.) Das Ergebnis sei aber zu »klein« gewesen, weil es »zu viele ähnliche Organisationen« gebe, um »etwas Neues zu gründen«. Auf Anfrage des KGB versuchten die Prager »Tschekisten« ihrerseits, ein »Komitee für ein freies Amerika« zu gründen, dessen Mitglieder aus amerikanischen »Deserteuren von Vietnam und Emigranten aus den USA« bestehen sollten. Die geplante Operation (Deckname: »Enzym«) sah u. a. die »Gründung eines Presseorgans« vor. Pflichtbewusst unterstützten die »Genossen« der HV A/X das geplante Unternehmen, warnten die Prager »Tschekisten« jedoch, dass »nach ihren Erfahrungen« eine solche Operation in der Implementierungsphase ungefähr »500 000 DM jährlich« kosten würde.221 Obwohl die tschechoslowakische Abteilung 36 mit ihrer Planung fortfuhr,222 erklärte sie im Mai 1979, dass die Gründung des Komitees »verschoben« werde.223 Auf einem Treffen mit der Leitung der HV A/X im November 1979 sprach sie nur noch über die Nutzung von zwei oder drei »Dissidenten aus dem Westen, um die Kampagne über [westliche] Menschenrechtsverletzungen weiterzuentwickeln«.224 Der KGB aber gab die 220  Vasili Mitrokhin, On Human Rights, Folder 51, The Chekist Anthology, Mitrokhin Archive, Wilson Center Digital Archive, http://digitalarchive.wilsoncenter.org/document/110120 (letzter Zugriff: 1.11.2018). 221  Material zu Operation ENZYM, Anlage zu Ostrovský, Aufzeichnung über die Verhandlungen mit der Aufklärung der DDR, 22.6.1978. In: ABS, A. č. 81282/107, Bl. 85. 222  Ostrovský, Überblick über die Aufgaben, die aus dem Treffen (20.10.–1.11.1978) zwischen den Abteilungen AM der Aufklärungsdienste der ČSSR und DDR entstanden, o. D. In: ABS, A. č. 81282/107, Bl. 141. 223 Ostrovský, Aufzeichnung über die Verhandlungen mit der Aufklärung der DDR, 26.6.1979. In: ABS, A. č. 81282/107, Bl. 155–157. 224  Operation SYNONYM, Anlage zu Ostrovský, Aufzeichnung über die Verhandlungen mit der Aufklärung der DDR, 28.11.1979. In: ABS, A. č. 81282/107, Bl. 198 f.

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Idee eines »Komitees für ein freies Amerika« nicht auf. Im Juli 1981 berichtete der Leiter des Referats für aktive Maßnahmen des kubanischen Geheimdienstes über Konsultationen mit KGB und HV A bezüglich der Gründung eines solchen Komitees in der Bundesrepublik.225 Es ist zweifelhaft, dass das geplante Komitee von den »Bruderorganen« jemals gegründet wurde. Da die meisten Akten der HV A 1990 beseitigt wurden, kann die Rolle der HV A bzw. der HV A/X in der propagandistischen Gegenoffensive der sozialistischen Länder in Menschenrechtsfragen nicht vollständig rekonstruiert werden. Außer dem abgelehnten Vorschlag des KGB, eine »Gesellschaft für Menschenrechte in Europa« zu gründen, half die HV A/X ihren Amtskollegen in der I. Hauptverwaltung der bulgarischen Staatssicherheit in Vorbereitung auf das KSZE-Nachfolgetreffen in Belgrad bei aktiven Maßnahmen gegen die Türkei. Für die Aktion »Sturm-77« arrangierte die HV A/X zum Beispiel die Veröffentlichung eines kritischen Berichts im »Berliner Extra-Dienst« über die Lage der Kurden in der Türkei. Zur Weiterführung der Aktion übergab die HV A/X den bulgarischen »Genossen« nicht nur die Anschrift der Westberliner Zeitung, sondern auch jene von Amnesty International und ironischerweise der Gesellschaft für Menschenrechte in Frankfurt am Main. Die HV A/X bot weitere Hilfe an, sobald die bulgarische Aufklärung ihr übermittelt hatte, welche Organisationen und Personen in der Bundesrepublik die Kurden unterstützten.226 Die I. Hauptverwaltung der bulgarischen Staatssicherheit half ihrerseits der HV A bei ihrer Propagandakampagne gegen Menschenrechtsverletzungen in der Bundesrepublik als Bestandteil ihrer Operation »Horizont«, die sie gemeinsam mit dem KGB durchführte. Ihr Ziel sei, »in der Türkei, Griechenland, Italien, der BRD, Belgien und Ägypten die Anstrengungen der USA und NATO zur Erzeugung von Schwierigkeiten beim Entspannungsprozess zu diskreditieren«.227 Die bulgarische Residentur in Rom arrangierte zum Beispiel durch ihren »operativen Mitarbeiter ›Gerow‹« die Veröffentlichung eines Artikels mit dem Titel »Aufruf von Intellektuellen und Demokraten für Menschenrechte in West-Deutschland« in der ultralinken Zeitung »Quotidiano dei lavoratori« am 225  Für die Gespräche in Moskau, 20.7.1981. In: ABS, A. č. 81282/108, Bl. 271. 226  Protokoll über die Arbeitskonsultation auf der Linie aktive Maßnahmen mit der Aufklärung des Ministeriums des Innern (MdI) der VR Bulgarien vom 31.5.–2.6.1977 in Berlin, 7.6.1977; Archiv der Kommission zur Offenlegung der Dokumente und der Zugehörigkeit bulgarischer Bürger zur Staatssicherheit und zu den Nachrichtendiensten der Bulgarischen Volksarmee (CDDAABCSSISBNA-Arch-R), f. 9, op. 2, a. e. 542, Bl. 34–39; hier 37 und Plan der gemeinsamen bzw. abgestimmten aktiven Maßnahmen für 1977, o. D. In: CDDAABCSSISBNA-Arch-R, f. 9, op. 3, a. e. 210, Bl. 158–163, hier 161. Es handelte sich vermutlich um den folgenden Artikel, der von einem unbenannten Korrespondenten (»korr.«) verfasst wurde: Kurdischer National-Widerstand gründet Rat in der Türkei. In: Berliner Extra-Dienst v. 26.9.1977, S. 12 f. 227  I. HV der bulgarischen Staatssicherheit, Plan für die Arbeit auf der europäischen Linie im Jahre 1978 (bulgarisch), 14.12.1977; CDDAABCSSISBNA-Arch-R, f. 1, op. 10, a. e. 1322, Bl. 1–4, hier 1.

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1. April 1977. »Gerow« veröffentlichte im Rahmen der Operation »Horizont« zwei weitere Artikel in derselben Zeitung über »die Fragen des erfolgreichen Verlaufs des [KSZE-]Vorbereitungstreffens in Belgrad« aus östlicher Sicht; er inspirierte eine »Interpellation im italienischen Parlament für den Standpunkt der Regierung über die Fragen der Entspannung«, die in das Bulletin der Abgeordnetenkammer vom 20. April 1977 aufgenommen wurde; und er »führte in der Stadt Arezzo am 15. Juli 1977 eine Konferenz über die Fragen der Entspannung mit massenhafter Teilnahme und breiter Bekanntgabe« durch.228 Im Herbst 1977 stellte die HV A/X dem bulgarischen Geheimdienst Informationen »über die Stimmungen in Westeuropa gegen die BRD-Behörden in Verbindung mit den Gefangenen und der Verletzung der Menschenrechte« zur Verfügung. Sie sollten »von der bulgarischen Seite zur Aufhetzung [von] Anti-BRD-Stimmungen ausgenutzt werden«.229 Vermutlich ging es hier um die in Stammheim inhaftierten führenden Mitglieder der Roten Armee Fraktion. Die HV A bekam auch von anderen Bruderorganen Unterstützung bei ihren aktiven Maßnahmen wegen angeblicher Menschenrechtsverletzungen in der Bundesrepublik. In den Gesprächen zwischen den sowjetischen und den tschechoslowakischen Abteilungen für aktive Maßnahmen galt zum Beispiel die Propagandakampagne gegen »Berufsverbote« in der Bundesrepublik als gemeinsame Aufgabe aller »Bruderorgane«.230 3.5.2 Die Bundesrepublik im Visier der SED und der Stasi In der Propagandakampagne gegen Menschenrechtsverletzungen im Westen gab es Arbeitsteilung und Zusammenarbeit nicht nur zwischen den »Bruderorganen«, sondern auch zwischen den »Bruderparteien«. Die Tätigkeit der HV A/X und des MfS im Allgemeinen war Bestandteil einer breiteren Kampagne der SED für »Konterpropaganda« gegen die Bundesrepublik und Westberlin in Menschenrechts- und anderen Fragen. Bezugnehmend auf das »zwischen den Sekretären für internationale und ideologische Fragen auf der Warschauer Beratung vereinbarte Ziel, die ideologische Auseinandersetzung aktiver unmittelbar auf das Territorium des Gegners zu verlagern«, genehmigte das SED-Politbüro am 25. Januar 1977 einen »Maßnahmeplan zur Verstärkung der Konterpropaganda im nichtsozialistischen Ausland zur Entlarvung des Imperialismus der BRD und der von ihm ausgehenden Gefahren für Frieden und Entspannung«. 228  Leiter der Abteilung VIII der I. HV der bulgarischen Staatssicherheit, Auskunft über die Arbeit des operativen Arbeiters »GEROW« auf der Linie AM für die Periode Januar 1973 bis März 1978, 20.4.1978; CDDAABCSSISBNA-Arch-R, F. 1, op. 10, a. e. 1322, Bl. 12–14, hier 12 f. 229  Plan der gemeinsamen bzw. abgestimmten aktiven Maßnahmen für 1977, Bl. 162 f. 230  Ostrovský, Auszug aus der Aufzeichnung von den Konsultationen, o. D., Bl. 120 f.

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Zielstellung sei insbesondere, »die antikommunistische Hetzkampagne gegen die DDR zurückzudrängen«.231 Zu diesem Zweck wurde eine Arbeitsgruppe Konterpropaganda im ZK unter der Führung von Manfred Feist, dem Leiter der Abteilung Auslandsinformation und Schwager Erich Honeckers, gegründet. Sie wurde vom SED-Politbüro beauftragt, den »Nachweis zu führen, dass im imperialistischen System der BRD Freiheit, Demokratie und Menschenrechte rücksichtslos vergewaltigt werden«. Als Unterthemen schlug das SED-Politbüro u. a. vor: soziale Unsicherheit und die permanente Verletzung des Grundrechts auf Arbeit; Arbeitslosigkeit; soziale Benachteiligung von Frauen; Gastarbeiter als moderne Arbeitssklaven; Jugendarbeitslosigkeit und Berufsbildungsmisere […]; der ständige Verstoß gegen die ›Allgemeine Erklärung der Menschenrechte‹ der UNO; Berufsverbotspraxis, Gesinnungsschnüffelei; Manipulierung der öffentlichen Meinung durch die Medienkonzerne; Auseinandersetzung mit der Demagogie der ›Freizügigkeit‹.232

Das SED-Politbüro betonte drei Schwerpunkte: Erstens sollte »zur weiteren Entlarvung der antidemokratischen Berufsverbotspraxis« in der Bundesrepublik »eine breite Kampagne, besonders in West- und Nordeuropa« entfacht werden. Die SED sah u. a. vor, »die aus Anlass des 5. Jahrestages der Berufsverbote von progressiven Kräften in der BRD veröffentlichte Denkschrift sowie internationale Proteste« – zum Beispiel vor der Europäischen Kommission für Menschenrechte in Straßburg – »über die der DDR und den befreundeten Ländern zur Verfügung stehenden Kanäle an die Weltöffentlichkeit heranzutragen«. Taktisch sollte »eine Personifizierung der Kampagne […] durch Konzentration auf einige besonders herausragende Einzelfälle angestrebt werden«.233 So berichtete die DDR-Presse über den Fall der Lehrerin Silvia Gingold, die wegen ihrer aktiven Mitarbeit in der DKP im hessischen Neukirchen entlassen wurde. Gingold war Tochter deutsch-jüdischer Emigranten, die während des Zweiten Weltkrieges im französischen Widerstand gekämpft hatten. Nachdem sie 1976 auf ihre Wiedereinstellung klagte, lancierte die SED eine große Pressekampagne gegen das »Berufsverbot« als Verletzung der Menschenrechte und Verstoß gegen die KSZE-Schlussakte.234

231  Anlage zum Beschluss des Politbüros des Zentralkomitees der SED, 25.1.1977. In: DzD VI/5, S. 39–45, hier 39. 232  Ebenda, S. 39 f. 233  Ebenda, S. 42 f. 234  Siehe z. B. Berufsverbote – massiver Angriff auf demokratische Grundrechte: Ehemalige Widerstandskämpfer Westeuropas zum Gingold-Prozeß. In: ND v. 18.5.1976, S. 7; Internationaler Protest gegen Berufsverbote in BRD: Oldenburger Konferenz prangert Verletzung der Menschenrechte an. In: ND v. 14.11.1977, S. 1. Zum Fall Gingolds siehe auch Radikale: das Gemeine. In: Der Spiegel 20/1976 v. 17.5.1976, S. 58.

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Ein zweiter Schwerpunkt in der Propagandaoffensive gegen die Bundesrepublik waren reale und angebliche Verletzungen der Menschenrechte von »Gastarbeitern«. Die SED beabsichtigte, solche Verletzungen durch »fortschrittliche Parteien, Gewerkschaften u. a. Organisationen westeuropäischer Länder (Italien, Türkei, Griechenland)« in Form von »Dokumentationen und Beiträgen« öffentlich anzuprangern.235 Ein dritter Schwerpunkt, der zur allgemeinen Gegenoffensive der sozialistischen Länder passte, war die Unterstützung der Bundesrepublik für Regierungen auf der südlichen Erdhalbkugel, die ständig die Menschenrechte verletzten – zum Beispiel »die Unterstützung der rassistischen Regimes in Südafrika, Rhodesien und Namibia, die fortwährende Ignorierung der dazu gefassten UNO-Beschlüsse […]; araberfeindliche Politik durch Unterstützung des israelischen Aggressors; Zusammenarbeit mit reaktionären Regimes in Lateinamerika, vor allem mit der faschistischen Pinochet-Clique und mit Brasilien; die BRD als Waffenlieferant für reaktionäre Regimes«.236 In einem ersten Zwischenbericht der AG Konterpropaganda vom 11. April 1977 berichtete Feist, dass in der Bundesrepublik und in anderen europäischen Ländern Protestaktionen gegen »Berufsverbote« und »die Diskriminierung ausländischer Arbeiter« in der Bundesrepublik durchgeführt wurden. Entsprechende Proteste hätten auch in Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens »gegen neokolonialistische Praktiken des BRD-Imperialismus« stattgefunden.237 Die HV A/X und ihre Aktivitäten bei der Gegenkampagne zu Menschenrechten wurden offiziell oder inoffiziell in die AG Konterpropaganda integriert. Der Beschlussentwurf für das SED-Politbüro hatte den Referatsleiter der HV A/X, Rolf Wagenbreth, als Mitglied in der AG vorgesehen, aber sein Name wurde in der endgültigen Fassung gestrichen.238 Normalerweise wurden in Protokollen des SED-Politbüros die Namen von MfS-Mitarbeitern mit Ausnahme von Mielke oder zumindest ihre Zugehörigkeit zum MfS verschwiegen. Die vorgeschlagenen »Formen und Methoden« der Propagandaoffensive gegen die Bundesrepublik entsprachen der tagtäglichen Desinformationsarbeit der HV A/X 235  Anlage zum Beschluss des Politbüros des Zentralkomitees der SED, 25.1.1977, S. 43. 236  Ebenda, S. 39 f. Honecker erklärte persönlich auf einer Beratung des ZK mit den 1. Sekretären der Kreisleitungen der SED im Februar 1977: »Die um die Menschenrechte so besorgten imperialistischen Kreise scheuen sich nicht, die barbarischsten Verbrechen gutzuheißen, wenn sie zu Nutz und Frommen der Interessen des internationalen Monopolkapitals begangen werden, wo auch immer, wann auch immer. Sei es unter dem faschistischen Terror und Mörderregime in Chile, sei es im Zeichen des extremsten Rassismus wie in Südafrika und Rhodesien, sei es bei der Knechtung der nach nationaler Unabhängigkeit und sozialer Befreiung strebenden Völker Uruguays oder Paraguays. Dieselben imperialistischen Kräfte treiben Schindluder mit der Schlussakte von Helsinki […].« Honecker, Die nächsten Aufgaben der Partei, 25.2.1977. In: BStU, MfS, HA IX, Bd. 16266, Bl. 367–382, hier 378. 237  Anlage zum Beschluss des Politbüros des Zentralkomitees der SED, 25.1.1977, S. 42, Fn 4. 238  Ebenda, S. 38, Fn 7.

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Sowjetunion, DDR und die KSZE-Schlussakte

und der anderen Abteilungen für aktive Maßnahmen der »Bruderorgane«. Das SED-Politbüro sah die Lancierung von Kritik an der Menschenrechtslage im nichtsozialistischen Ausland vor, die erst danach in der offiziellen DDR-Propaganda benutzt wurde239 – eine typische Vorgehensweise für aktive Maßnahmen. Die vorgeschlagenen Methoden lassen vermuten, dass die HV A/X eine Rolle zu spielen hatte. Aber wie im Falle des KOFAZ (siehe oben 3.1) war diese Rolle nur Bestandteil eines breiteren, teilweise koordinierten Vorgehens mit der SED und der DKP und ihren Frontorganisationen in der DDR und der Bundesrepublik. Der Maßnahmenplan unterstrich zum Beispiel, dass die »gesellschaftlichen Organisationen der DDR […] verstärkt« in die Konterpropaganda einbezogen werden sollten, da sie »in bestimmten Fällen größere Möglichkeiten für eine scharf akzentuierte polemische Auseinandersetzung mit dem Imperialismus der BRD haben als offizielle Partei- und Staatsorgane«. Der Plan nannte in diesem Zusammenhang u. a. das Komitee zum Schutz der Menschenrechte der DDR, das Komitee antifaschistischer Widerstandskämpfer und den DDR-Friedensrat.240 Die eher mageren Nachweise für aktive Maßnahmen der HV A/X in Menschenrechtsfragen in der Kommunikation mit dem Prager und dem Sofioter Bruderorgan 1977/78 deuten darauf hin, dass die HV A nur eine begrenzte Rolle in der Gegenoffensive zu Menschenrechtsfragen spielte. Außer der bald verworfenen Planung für eine »Gesellschaft für Menschenrechte in Europa« und den Hilfsmaßnahmen für die bulgarische Staatssicherheit in ihrer Kampagne gegen Menschenrechtsverletzungen in der Türkei stellte die HV A/X vor dem Belgrader Treffen nur einen Katalog von angeblichen westdeutschen Verstößen gegen die KSZE-Schlussakte241 und ein »Arbeitsmaterial« über »Die Verletzung der Menschenrechte in den imperialistischen Ländern« zusammen.242 Honecker wollte eine Veröffentlichung zunächst vermeiden, »denn das würde heißen, Öl ins Feuer zu gießen«.243 Die HV A/X wollte auch bei der Propaganda-Aktion der 239  Ebenda, S. 41. 240 Ebenda. 241 ZAIG, Bereich 1, »Materialzusammenstellung zur Unterstützung der Delegation der DDR auf der KSZE-Folgekonferenz in Belgrad«, September 1977; BStU, MfS, ZAIG Nr. 30593, pp. 1–82. 242 In der Bibliothek des MfS befand sich eine Broschüre: Verletzung der Menschenrechte in imperialistischen Ländern: Dokumentation, Arbeitsmaterial, Oktober 1978. Die HV A machte auf dem Madrider Treffen Gebrauch von ihr (siehe unten). (BStU, Bibliothek, Katalog-Nr. 90/4530). Die Broschüre ist eine überarbeitete Fassung der Ausgabe von 1977, die vermutlich auch in der HV A/X entstand oder an sie zur Weiterleitung bzw. -nutzung ging. 243  Honecker erklärte gegenüber dem polnischen Parteiführer Gierek am 26.2.1977: »Unsere [weiter ungenannten – d. A.] Institute haben eine konkrete Dokumentation zur Verletzung der Menschenrechte in der BRD ausgearbeitet. Das Material liegt im Panzerschrank. Wir werden es jetzt nicht veröffentlichen, denn das würde heißen, Öl ins Feuer zu gießen.« Niederschrift der Gespräche zwischen den Genossen Erich Honecker und Edward Gierek, o. D. In: SAPMO BA, DY 30, J IV 2/2A-2047, Bl. 13–53, hier 47.

Fazit

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SED zum Gingold-Prozess Hilfe leisten, indem sie die potenzielle NS-Vergangenheit ihrer Widersacher erforschte, um diese dann öffentlich zu machen; aber dabei kam nichts heraus.244 Der von der DDR mitfinanzierte Pahl-Rugenstein Verlag veröffentlichte SED-genehme Artikel über die Menschenrechtslage im Westen in seinen »Blättern für deutsche und internationale Politik« (BdiP) – u. a. einen Artikel von Gerhard Stuby, der die vorgeschlagenen Themen der AG Konterpropaganda offenbar unbewusst wiedergab.245 Es gibt aber keinen Grund zu der Annahme, dass die HV A irgendwie hinter dem Artikel von Stuby bzw. den Beiträgen von anderen Autoren stand. Die wahrscheinlich beste Erklärung, warum die HV A/X anscheinend so wenig zur Gegenpropaganda zu Menschenrechten und den aktiven Maßnahmen zum Belgrader Treffen beitrug (Operation »Synonym«) kommt von der HV A/X selbst. Ihr stellvertretender Leiter Oberstleutnant Hans Knaust hatte seine Prager Amtskollegen schon im Juni 1976 informiert, dass die Forderungen der Friedensbewegung und die Abrüstung in Westeuropa von nun an höchste Priorität für die HV A hätten. Alle Aktionen der HV A/X bezüglich der KSZE würden künftig unter den Objektvorgang (OVO) »Mars« fallen. Die HV A/X hatte im Gegensatz zu ihrem Prager Bruderorgan die Operation »Synonym« hinter sich gelassen.246 Die Maßnahmen der HV A/X im Rahmen des Vorgangs »Mars« trugen jedoch ebenfalls zur Unterstützung der KSZE-Politik des Ostens auf dem Belgrader Treffen bei – vor allem die Vorschläge zur »militärischen Entspannung« und zur allgemeinen Friedensoffensive (siehe unten 5.6).

3.6 Fazit Nicht selten wird seit 1989 gefragt, wie die Sowjetunion und ihre Verbündeten dem Menschenrechtsprinzip und dem Korb III der KSZE-Schlussakte zustimmen konnten. Warum war es ihnen nicht klar, dass diese Zustimmung zu einer Lockerung ihrer Diktaturen, wenn nicht gar zu deren Untergang führen würde? Diese Fragestellung ist problematisch wegen ihres Anachronismus und ihrer zugrunde liegenden Annahme, dass die KSZE-Schlussakte alleine zum Untergang des »real existierenden Sozialismus« führte. Dieses Kapitel zeigt, dass Moskau einen Plan und eine bestimmte Marschrichtung hatte: die in der KSZE-Schlussakte verkörperte »politische Entspan244  Siehe die entsprechenden Recherchen der HA IX/11 für die HV A/X in: BStU, MfS, HA IX/11, SV 14/77, Bd. 1. 245  Stuby, Gerhard: Zum Thema KSZE und Menschenrechte. In: BdiP 2/1977, S. 132–135. 246  Ostrovský, Aufzeichnung der Verhandlungen mit der Aufklärung der DDR, 18.6.1976, Bl. 222 f.

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Sowjetunion, DDR und die KSZE-Schlussakte

nung« mit der »militärischen Entspannung« zu ergänzen. Vorteilhafte Vereinbarungen über Rüstungskontrolle und Abrüstung mit dem Westen würden zur Stabilisierung des Status quo in Europa beitragen. Konventionelle und strategische Parität mit dem Westen – oder vielleicht sogar Überlegenheit des Ostens – würde den Weg zu einem heißen Krieg zwischen Osten und Westen blockieren, sogar wenn prosowjetische nationale Befreiungsbewegungen die Macht in den Entwicklungsländern übernähmen und den endgültigen Sieg des »Sozialismus« besiegelten. Die »militärische Entspannung« würde zumindest aus Sicht Moskaus den politischen Status quo in Europa garantieren. Bis 1989 nutzte Moskau den KSZE-Prozess aus, um die »militärische Entspannung« in seinem Sinne voranzubringen. Sowohl Moskau als auch Ostberlin hofften, durch ihre tendenziöse, einseitige Auslegung der KSZE-Schlussakte grundsätzliche Änderungen in ihrer Innenpolitik in den Bereichen der menschlichen Kontakte, des freieren Zugangs zur Information oder der Menschenrechte zu vermeiden. Sie wurden in diesem Zusammenhang nicht nur von den westlichen Regierungen herausgefordert, die auf »menschliche Erleichterungen« entsprechend Korb III bestanden, sondern auch von Aktivisten im Osten wie Sacharow, die Helsinki-Gruppen in der Sow­jetunion, KOR und ROPCiO in Polen und Charta 77 in der ČSSR, die die Menschenrechte einforderten. Sie fingen an, sich gegenseitig zu unterstützen und Verbindungen zu westlichen NGO und Aktivisten aufzunehmen. Durch ihre Kontakte zueinander und zu westlichen Politikern, Journalisten und Massenmedien machten sie Druck auf ihre jeweiligen Regierungen, das Menschenrechtsprinzip und Korb III einzuhalten. Die Wahl Jimmy Carters zum US-Präsidenten 1976 und seine Parteinahme für die östlichen und westlichen Aktivisten in Fragen der Menschenrechtspolitik drohten, die Rechnung Moskaus zu torpedieren. Die Hauptaufgabe des KGB und des MfS bestand darin, solche grenzübergreifenden Kontakte zu unterbinden und die Aktivisten im Osten und im Westen mundtot zu machen – ob durch Verwarnungen und andere prophylaktische Maßnahmen, Psychoterror (»Zersetzung«) oder Verhaftungen. Die Sowjetunion bemühte sich nicht ohne Erfolg, einen Keil zwischen die USA, die auf die Menschenrechte im KSZE-Prozess fokussierten, und ihren westlichen Verbündeten, mit ihrer Fokussierung auf Korb III, zu treiben. Gleichzeitig entfachte die KPdSU eine Gegenpropaganda-Kampagne, die angebliche Menschenrechtsverletzungen im Westen und insbesondere in den USA anprangerte, wozu die SED bzw. die HV A ihren von Moskau erwünschten Beitrag leisteten. Als die USA und die UdSSR darum kämpften, ihre jeweiligen Interessen bezüglich der Menschenrechte bzw. der »militärischen Entspannung« durchzusetzen, fanden nicht nur die westeuropäischen Länder es schwierig, ihre Interessen geltend zu machen. Die DDR wollte den KSZE-Prozess zur Durchsetzung ihrer deutschlandpolitischen Interessen nutzen, aber Moskaus Schwerpunktlegung auf die »militärische Entspannung« und die Zurückweisung von Washing-

Fazit

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tons Menschenrechtspolitik machten diese Pläne zunichte, wie Kapitel 4 zeigt. Die SED war auf sich gestellt, wenn es um die sowjetische Vorgabe der »Abgrenzung« der DDR von der Bundesrepublik ging.

4. Die DDR, die deutsche Frage und der KSZE-Prozess

Die DDR erreichte als Ergebnis der östlichen Entspannungs- und KSZE-Politik von der Bundesrepublik und dem Westen nicht all das, was sie gerne erhalten hätte. Die Anerkennung der Unverletzlichkeit (oder De-facto-Anerkennung) der deutsch-deutschen Grenze war nicht das Gleiche wie die völkerrechtliche Anerkennung der Grenze, und die Anerkennung der DDR als einer von zwei Staaten deutscher Nation durch die Bundesrepublik war nicht dasselbe wie die völkerrechtliche Anerkennung der DDR als Ausland, d. h. als völlig unabhängiger Staat. Trotz des Verzichts der Bundesrepublik auf die Hallstein-Doktrin – d. h. den Alleinvertretungsanspruchs Bonns – beharrte sie im Innern und in den deutsch-deutschen Beziehungen auf der Idee einer einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit. Das hieß u. a., dass trotz der deutsch-deutschen Verträge immer noch jeder Ostdeutsche die bundesrepublikanische Staatsbürgerschaft beanspruchen konnte. Bei der Durchsetzung der vollen völkerrechtlichen Anerkennung der DDR wollte die SED im Sinne der sowjetischen Politik der Abgrenzung nicht auf sich allein gestellt sein, sondern die Hilfe seiner östlichen Verbündeten in Anspruch nehmen. Um die Zugeständnisse an den Westen in der Entspannungspolitik und im KSZE-Prozess wieder wettzumachen, versuchte das SED-Politbüro, seine Verbündeten bei der Einleitung einer eigenen Offensive im KSZE-Prozess zur vollen Anerkennung der Grenzen und der Staatsbürgerschaft der DDR zu gewinnen (siehe 4.1). Die geplante Offensive stieß aber in Moskau auf Widerstand, das seine Friedensoffensive im KSZE-Prozess nicht gefährden wollte. Verschiedene Fälle tödlichen Schusswaffengebrauchs an der deutsch-deutschen Grenze 1975/76 führten zu öffentlichen Polemiken, bei denen Ostberlin das »Grenzprinzip« und Bonn das Menschenrechtsprinzip der Schlussakte hervorhoben. Moskau wurde damit gezwungen, sich in der Propaganda auf die Seite seines ostdeutschen Verbündeten zu stellen. Aber das größte Problem für die DDR als Folge der KSZE-Schlussakte war der wachsende Druck von Antragstellern auf ständige Ausreise nach der Bundesrepublik und Westberlin, die sich zur Rechtfertigung ihrer Übersiedlungsersuchen auf die KSZE-Schlussakte beriefen. Obwohl das MfS eine Zunahme der Ausreiseanträge erwartet hatte, wurde es von Ausmaß und der Hartnäckigkeit vieler Antragsteller überrascht (siehe 4.2). Die Ausreiseproblematik überschattete bald das Problem der Fluchtversuche und insbesondere der Tätigkeit von Fluchthelfern (MfS: »kriminellen Menschenhändlerbanden« oder KMHB), mit denen das

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DDR, deutsche Frage und KSZE-Prozess

MfS nach der KSZE größere Probleme erwartet hatte. Schon Anfang 1976 versuchte das MfS, die Verantwortung für die entstehende Ausreisebewegung »entspannungsfeindlichen Kräften« in der Bundes­republik zuzuschieben (siehe 4.3). Insbesondere die Unionsparteien (CDU/CSU) und Organisationen von konservativen Menschenrechtlern, die ihnen nahestanden, unterstützten nicht nur die Ausreisewilligen in der DDR und die Dissidenten im Osten, sondern auch die Menschenrechtspolitik Carters. Die CDU/CSU nutzte ihre Auslegung der KSZE-Schlussakte bzgl. der Menschenrechte und menschlicher Kontakte in der innenpolitischen Auseinander­setzung mit der sozial-liberalen Regierung insbesondere im Wahlkampfjahr 1976. Obwohl die sowjetische und die ostdeutsche Partei- und Staatsführung und deshalb auch das MfS Schritte von eher begrenzter Wirkung unternahmen, um die SPD-FDP-Regierung an der Macht zu halten, machten die SED und das MfS auch die Beratungspraxis der Ständigen Vertretung (StäV) der Bundesregierung in Ostberlin für die Stärkung der Ausreisebewegung verantwortlich. Die SED-Regierung leitete deshalb im Januar 1977 eine eintägige Kontrolle vor der StäV ein, um Ostdeutsche von einem Besuch abzuschrecken (siehe 4.4). Diese Maßnahme sowie die Grenzzwischenfälle 1975/76 zeugten davon, dass es auf dem Belgrader Treffen wegen der deutschen Frage genügend Zündstoff gab. Das war aber weder im Interesse von Schmidt noch Honecker, die die eigenen Vorteile (wirtschaftlichen Begünstigungen bzw. menschlichen Erleichterungen) in den deutsch-deutschen Beziehungen aufrechterhalten wollten. Deshalb gab es eine informelle Vereinbarung zwischen den Staatsoberhäuptern, das deutsch-deutsche »Tischtuch« (Schmidt) in Belgrad nicht zu beschädigen (siehe 4.5). Diese Vereinbarung wurde auf dem Belgrader Treffen weitgehend eingehalten, obwohl während des Treffens verschiedene Erklärungen der beiden Seiten und Entwicklungen in den bilateralen Beziehungen zeitweilig zu Polemiken führten (siehe 4.6). Sowohl die Repressionsstrategie der SED und des MfS als auch der magere Inhalt des Abschlussdokuments des KSZE-Nachfolgetreffens in Belgrad1 trugen zu einem Rückgang der Ausreiseanträge bei (siehe 4.7). Honecker war besonders darüber zufrieden, dass es seit der Riesaer Petition (1976) keine größeren öffentlichen Demonstrationen von Ausreisewilligen gab. Bis 1979 stieg aber die Anzahl der Ausreiseanträge wieder an. Das MfS monierte vor allem den mangelhaften Einsatz des MdI und anderer Institutionen und Betriebe bei der »gesamtgesellschaftlichen« Aufgabe der Zurückdrängung von Übersiedlungsersuchen. Die Sowjetunion sah dagegen die fehlende Abgrenzung der DDR von der Bundesrepublik als Ursache für den Anstieg. Sie fürchtete eine weitere ideologische Aufweichung der DDR durch den wachsenden deutsch-deutschen Besucherverkehr. Mielke stellte sich in diesem Zusammenhang auf die Seite des »Moskauer Flügels« des SED-Politbüros, die die wachsende wirtschaftliche Abhängigkeit 1  Siehe unten 5.7.

DDR und »Grenzprinzip« in der Schlussakte

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der DDR von der Bundesrepublik und die damit verbundenen Zugeständnisse der DDR im humanitären Bereich kritisierte (siehe 4.8). Wie immer stellte sich Mielke gegen die Kompromisse in der Entspannungspolitik, die die innere Stabilität der DDR bedrohten und die Repressionstätigkeit des MfS erschwerten.

4.1 In die Offensive? Die DDR und das »Grenzprinzip« in der Schlussakte Die DDR unterstützte nach Helsinki nicht nur Moskaus Offensive für »militärische Entspannung«, sie wollte auch im eigenen Interesse in die Offensive gehen. Sie wollte auf ihren angeblichen Sieg in Korb I hinsichtlich der »Unverletzlichkeit der Grenzen« bauen, um näher an das Ziel einer vollen völkerrechtlichen Anerkennung der DDR und ihrer Staatsbürgerschaft durch die Bundesrepublik und den Westen im Allgemeinen zu kommen. Eine parteiinterne Information erklärte, warum »das Grenzprinzip« der Schlussakte von besonderem Interesse war: »Gegenüber den bilateralen Verträgen wird in dem Grenzprinzip auf der Sicherheitskonferenz noch deutlicher, dass es nicht nur um den Ausschluss der Gewaltanwendung, sondern jeglicher Forderungen und Handlungen geht, die darauf gerichtet sind, Grenzen anderer Staaten zu verletzen oder sich des Territoriums anderer Staaten zu bemächtigen.«2 Um das »Grenzprinzip« weiter zu stärken, spielte die DDR-Führung den Passus in der Schlussakte über die friedliche Änderung der Grenzen (Prinzip 1 »Souveräne Gleichheit, Achtung der Souveränität innewohnender Rechte«) herunter.3 Nach Helsinki nahm die Bundesrepublik dagegen darauf immer wieder Bezug, um die Aufrechterhaltung der Möglichkeit der deutschen Wiedervereinigung zu bekräftigen. Das MfAA berichtete an das SED-Politbüro, dass Bonn bestrebt sei, »die revanchistische ›Wiedervereinigungskonzeption‹ der BRD wieder verstärkt international in die Diskussion zu bringen«. Das größte Problem sei Außenminister Genscher, der »sich als Ver2  Zur Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, August 1975. In: BStU, MfS, ZAIG Nr. 11287, Bl. 8–21, hier 16. Das MfAA, die Abteilung Internationale Verbindungen und die Abteilung Agitation des ZK der SED wurden auf der Politbüro-Sitzung vom 5. August mit der Vorbereitung der parteiinternen Information beauftragt. Anlage Nr. 3 zum Protokoll vom 5. August 1975. In: SAPMO BA, DY 30, J IV 2/2-1575, Bl. 20–22, hier 20. 3  In seinem Interview mit dem »Neuen Deutschland« am 6. August 1975 erklärte Honecker: »Das Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen wird dadurch in keiner Weise berührt.« Da »Vereinbarungen über Grenzveränderungen zu den souveränen Rechten« jedes Staats gehörten, sei der Passus der »souveränen Gleichheit zugeordnet« und für die DDR deshalb »ohne praktische Bedeutung, als wir keinerlei Grenzprobleme mit unseren Nachbarn haben«. Indirekt griff er die Auslegung des Passus durch die Bundesrepublik an. »Sozialismus und Kapitalismus«, erklärte er, seien »niemals zu vereinigen.« Nach Honecker sei weder ein Recht noch eine Hoffnung auf eine Vereinigung Deutschlands aus dem Passus herauszulesen. Helsinki und wir. Interview des »Neuen Deutschlands« mit Erich Honecker. In: ND v. 6.8.1975, S. 3 f.

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DDR, deutsche Frage und KSZE-Prozess

fechter harter nationalistischer Positionen profilieren« wolle.4 Deshalb versuchte die DDR, Moskau und die anderen östlichen Verbündeten für ein »koordiniertes Vorgehen« gegenüber Bonn in Bezug auf Korb I der KSZE-Schlussakte zu gewinnen.5 Die vorgesehene Kampagne sollte durch ein offizielles Memorandum des MfAA eingeleitet werden, »das auf die Verurteilung und Überwindung der revanchistischen Politik der BRD gerichtet ist«. Das geplante Memorandum war Bestandteil des vom MfAA entworfenen Maßnahmenkatalogs zur Realisierung der KSZE-Schlussakte durch die DDR. Nach dem Entwurf war das ostdeutsche Ziel »die Durchsetzung des Verzichts der BRD und anderer westlicher Staaten auf alle revanchistischen Forderungen, Handlungen und Anschläge«.6 Außenminister Oskar Fischer beabsichtigte, das ostdeutsche Vorhaben auf dem Treffen der östlichen Außenminister in Moskau im Dezember 1975 zu beraten. Auf dem Treffen las Fischer einen Sündenkatalog Bonns nach Helsinki vor: »demonstrative Zunahme revanchistischer Forderungen« seitens der BRD; Genscher würde »in aller Welt« Propaganda machen wegen »des angeblichen Fortbestehens einer einheitlichen deutschen Nation und eines ›Rechts auf Vereinigung‹«; Bonns »annexionistische Staatsbürgerschaftsgesetzgebung und Praxis, die die Gesamtheit der Bürger der DDR und darüber hinaus auch Bürger anderer sozialistischer Staaten als ›deutsche Staatsangehörige‹ ausgibt«; Bonns Weigerung, »die Beziehungen zur DDR in die Außenpolitik einzuordnen«.7 Um diese Tätigkeit der Bundesrepublik zu bekämpfen, hatte Fischer dem sowjetischen Außenministerium Vorschläge Ostberlins für ein »koordiniertes Vorgehen« zugeleitet. Sie sahen u. a. vor, dass Ostberlins Verbündete sich für »die konsequente Verwirklichung der abgeschlossenen Verträge und Abkommen durch die BRD« einsetzen; »durch weitere bi- und multilaterale Abkommen die BRD fest an die Linie der friedlichen Koexistenz […] binden und sie zur uneingeschränkten Einhaltung der in der Schlussakte von Helsinki enthaltenen Prinzipien […] verpflichten«; »die revanchistische Wiedervereinigungs-Propaganda und die Anwendung der annexio­nistischen Staatsbürgerschaftsgesetzgebung und -praxis der BRD entschieden zurückweisen«; »die direkten Beziehungen […] zu Westberlin […] ausbauen« und »alle Versuche entschieden […] zurückweisen, das Vierseitige Abkommen, insbesondere seine Hauptbestimmung, wonach Westberlin kein Teil der BRD ist und nicht von ihr regiert werden darf, zu verletzen oder zu umgehen«.8 4  Beschluß des Politbüros des Zentralkomitees der SED, 4. November 1975, Dok. Nr. 122. In: DzD 1975/76, VI/4, S. 444–447, hier 445. 5  Vorschläge der DDR für das koordinierte Vorgehen, o. D. In: SAPMO BA, DY 30, J IV 2/2A-1940, Bl. 122–124. 6  MfAA, Entwurf der Politbürovorlage über »Maßnahmen, die sich für die DDR aus der Realisierung der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ergeben«, 4.11.1975. In: BStU, MfS, SdM Nr. 1014, Bl. 61–77, hier 65. 7  Rede des Genossen Oskar Fischer, 16.12.1975. In: SAPMO BA, DY 30, J IV 2/2A-1940, Bl. 128–142, hier 133 f. 8  Vorschläge der DDR für das koordinierte Vorgehen, o. D., Bl. 123.

DDR und »Grenzprinzip« in der Schlussakte

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Die geplante Kampagne Ostberlins gegen Bonn wegen Korb I stieß in Moskau auf Widerstand. Kennzeichnend dafür war die Tatsache, dass weder Gromyko noch Kowaljow – zuständig für KSZE – das ostdeutsche Memorandum in Empfang genommen haben. Es ging an den für Deutschland und Westberlin zuständigen Stellvertreter Gromykos, Nikolai Rodionow.9 Gromyko erklärte den versammelten Außenministern: »Es ist natürlich durchaus nicht nötig, mit westlichen Vertretern ständig über das Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen zu sprechen, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass es hier noch irgendwelche offenen, nicht gelösten Fragen gibt. Das betrifft auch die anderen vereinbarten Prinzipien.«10 Das vorgesehene Memorandum und die entsprechende Kampagne Ostberlins zur »Verurteilung und Überwindung der revanchistischen Politik der BRD« passten offensichtlich nicht zur KSZE-Politik Moskaus, die auf die »militärische Entspannung« fokussierte. Gromyko betonte, »dass die propagandistische Absicherung unserer Politik in den europäischen Fragen noch einen aktiveren und offensiveren, aber zugleich ruhigeren und geduldigeren Charakter tragen müsse«.11 Nach dem Außenministertreffen in Moskau entschied das SED-Politbüro, die geplante lautstarke Kampagne zur »Verurteilung und Überwindung der revanchistischen Politik der BRD« im KSZE-Prozess fallen zu lassen. Sogar das Ziel, »die Durchsetzung des Verzichts der BRD und anderer westlicher Staaten auf alle revanchistischen Forderungen, Handlungen und Anschläge«, wurde vom endgültigen Maßnahmenkatalog der DDR zur »Realisierung« der KSZE-Schlussakte gestrichen.12 Stattdessen entschied das SED-Politbüro die Ausarbeitung eines »langfristigen Plans der diplomatischen, politischen und propagandistischen Maßnahmen der Länder der sozialistischen Gemeinschaft zum Kampf für den Abbau der revanchistischen Gesetzgebung, Institutionen, Organisationen und Propaganda in der BRD«.13 Obwohl der Plan Bestandteil des Maßnahmenkatalogs des MfAA und des SED-Politbüros zur »Realisierung« der Schlussakte wurde, wurde er innerhalb des Warschauer Vertrags – nach der Anweisung Gromykos – nicht in direktem Zusammenhang mit dem KSZE-Prozess besprochen.14 9  Bericht über die Beratung der Minister für Auswärtige Angelegenheiten der VRB, der UVR, der DDR, der VRP, der SRR, der UdSSR und der CSSR am 15./16. Dezember 1975 in Moskau, 17.12.1975; SAPMO BA, DY 30, J IV 2/2A-1940, Bl. 90–99, hier 94. 10  Rede Gromykos, 16.12.1975 (siehe S. 112, Fn 51), Bl. 102. 11  Ebenda, Bl. 106. 12  MfAA, Entwurf der Politbürovorlage, 4.11.1975, Bl. 65. 13  Fischer, Axen und Markowski, Vorlage, 10.2.1976 (siehe S. 117, Fn 75), Bl. 51. Schon in Moskau hatte Fischer von »einer gemeinsamen langfristigen Aufgabe, den Revanchismus in der BRD […] weiter zurückzudrängen und abzubauen«, gesprochen. Rede Fischers, 16.12.1975, Bl. 139. 14  Es gab im Januar 1976 in Prag eine multilaterale Beratung der stellvertretenden Außenminister der Warschauer Vertragsstaaten zu den Westberlin betreffenden Fragen. In Vorbereitung des Treffens besprach Nier mit Rodionow Vorschläge über ein koordiniertes Vorgehen gegenüber der Bundesrepublik und Westberlin, die in Fischers Vorschlag vom Dezember 1975

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DDR, deutsche Frage und KSZE-Prozess

Trotz des Rückschlags auf dem Außenministertreffen blieb das »Grenzprinzip« weiter im Zentrum der Überlegungen der SED zur »Realisierung« der Schlussakte. Der vom SED-Politbüro am 24. Februar 1976 genehmigte Maßnahmenkatalog des MfAA erklärte: »Der besondere Schwerpunkt ist und bleibt die allseitige Durchsetzung aller sich aus den Prinzipien der Unverletzlichkeit der Grenzen und der Achtung der territorialen Integrität ergebenden Verpflichtungen.«15 Zu diesem Zweck sah der Maßnahmenkatalog u. a. vor: den Abschluss von Vereinbarungen mit kapitalistischen Staaten, die die »Gebiets- und Personalhoheit der DDR international festigen«; die Verwendung der Prinzipien der Schlussakte im ostdeutschen Sinne in der Arbeit der Grenz- und Verkehrskommissionen DDR– Bundesrepublik; die »kontinuierliche Ergänzung« einer im Ministerium für Nationale Verteidigung (MfNV) »geführten Dokumentation über Verletzungen der Staatsgrenze der DDR und ihrer territorialen Integrität«. Ziel des Letzteren sei, »den Nachweis der Nichteinhaltung der Schlussakte seitens der BRD und Westberlins zu führen«.16 Weil diese zusätzlichen Maßnahmen zur Förderung des »Grenzprinzips« bilateralen Charakter hatten, konnte Moskau nichts dagegen einwenden. Das Vorhaben der DDR, ihre »Gebiets- und Personalhoheit« in bilateralen Abkommen zu festigen,17 passte sogar zu Kowaljows Vorschlag während des Außenministertreffens, die Prinzipien der Schlussakte »in bi- und multilateralen Vereinbarungen mit kapitalistischen Staaten […] weiter durchzusetzen«.18 Grenzzwischenfälle: Menschenrechte vs. Grenzprinzip (Korb I) Obwohl Moskau den Streit zwischen Bonn und Ostberlin über den Charakter ihrer Grenzen und die DDR-Staatsbürgerschaft nicht mit dem KSZE-Prozess vermischen wollte, entfachte eine Reihe von Zwischenfällen an der deutsch-deutschen Grenze 1975/76 öffentliche Auseinandersetzungen zwischen den beiden deutschen Staaten, die auch die Auslegung der KSZE-Schlussakte betrafen. Moskau musste deshalb seine ostdeutschen Verbündeten und deren Auslegung von Korb I verteidigen. Das MfS behauptete schon im Oktober 1975, dass »seit dem Abschluss der KSZE […] fortgesetzte Provokationen, Grenzverletzungen und Grenzüberschreitungen von der BRD und Westberlin aus gegen die Staatsgrenze der DDR« stattgefunden hätten. Diese »feindlichen Aktivitäten« stünden »im Widerspruch zur enthalten waren. Bericht des stellvertretenden Außenministers der DDR Nier über die Konsultation mit dem sowjetischen stellvertretenden Außenminister Rodionow, 29./30.12.1975. In: DzD 1975/76, VI/4, S. 554–559. 15  Fischer, Axen und Markowski, Vorlage, 10.2.1976, Bl. 51. 16  Ebenda, Bl. 50 f. 17  Ebenda, Bl. 51. 18  Bericht über die Beratung der Minister für Auswärtige Angelegenheiten, 17.12.1975, Bl. 97.

DDR und »Grenzprinzip« in der Schlussakte

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Schlussakte der KSZE, insbesondere zu den Prinzipien der Unverletzlichkeit der Grenzen und territorialen Integrität der Staaten«. Schuld daran sei das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes 1975, »wonach die Staatsgrenze zwischen der DDR und der BRD den Charakter einer ›Ländergrenze im Sinne der Grenzen zwischen den einzelnen Bundesländern der BRD‹ habe«. Nach Meinung des MfS werde das Urteil von reaktionären, entspannungsfeindlichen Kräften der BRD, von Massenmedien, von Angehörigen des BGS [Bundesgrenzschutzes] und GZD [Grenzzolldienstes] und auch von anderen feindlich-negativen Elementen in der BRD u. a. zum Anlass genommen, die Völkerrechtsmäßigkeit der Staatsgrenze der DDR zu diskreditieren und daraus ableitend die Rechtmäßigkeit der zur Sicherung der Staatsgrenze getroffenen Maßnahmen der DDR […] sowie die Legitimität der Wahrnehmung der Hoheitsrechte der DDR überhaupt infrage zu stellen.

Hier wurde insbesondere die Tätigkeit der Zentralen Erfassungsstelle der Länderjustizverwaltungen in Salzgitter erwähnt.19 Darüber hinaus habe es »terroristische Gewaltakte und andere Anschläge auf die Grenzübergangsstellen der DDR« gegeben. Dazu zählten aus Sicht des MfS das Schmuggeln von Ostdeutschen über die Grenze durch Fluchthelfer (Stasi-Jargon: »kriminelle Menschenhändlerbanden« oder KMHB); das Beschießen von Grenzposten bzw. -truppen der DDR mit Kleinkaliber- und Luftdruckwaffen; »grenzunterquerende Tunnelvortriebe von Westberlin aus«; das Übertreten der Grenze durch BGS, GZD und Zivilpersonen aus dem Westen, manchmal im Zusammenhang mit demonstrativen Handlungen; »gezielte Angriffe gegen Grenzsicherungsmaßnahmen der DDR in den Massenmedien der BRD und Westberlins, verbunden mit zügelloser Hetze«.20 Das MfS kam zu dem Schluss, dass »der Gegner weiterhin an ungesetzlichen Grenzübertritten von DDR-Bürgern durch Überwindung der Grenzsicherungsanlagen interessiert« ist und dass »negative Elemente in der DDR im Zusammenhang mit den Ergebnissen der KSZE und deren gegnerischen Interpretationen auf eine Auflockerung der Sicherungsmaßnahmen an den Staatsgrenzen sowie in und an den Grenzgebieten und auf ein Nachlassen der Wachsamkeit der Grenzsicherungskräfte« spekulieren könnten.21 Das MfS leistete einen eigenen Beitrag zur Propagandakampagne der SED zur Durchsetzung des »Grenzprinzips«. Ein Anlass bot sich am 17. August 1975, als ein US-amerikanischer Vietnamkriegs-Veteran mittels eines Hubschraubers zwei 19  Ohne Autor und ohne Titel [Problemübersicht und Maßnahmenkatalog des MfS zur KSZE], Datierung: ca. Oktober 1975; vermutlich von der ZAIG oder eventuell auch (wegen des Fundorts) von der Rechtsstelle des MfS erstellt; unpag. Loseblattsammlung. In: BStU, MfS, RS Nr. 289, Bl. 97–332, hier 312. 20  Ebenda, Bl. 314. 21  Ebenda, Bl. 314 f.

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ostdeutsche Bürger aus der ČSSR in die Bundesrepublik verbrachte.22 Mielkes 1. Stellvertreter Bruno Beater zitierte den Fall in einem Schreiben an alle Dienst­ einheiten des MfS als ein Beispiel der »neuen Aktivitäten der Entspannungsgegner in ihrem Kampf gegen die Ergebnisse der KSZE«.23 Das MfS schickte Honecker vier Einzelinformationen zu dem Zwischenfall und zu dem darauffolgenden Gerichtsprozess in der ČSSR gegen den Piloten (in Abwesenheit), einen angeblichen Helfer und eine DDR-Bürgerin, die von dem Piloten in der ČSSR zurückgelassen werden musste.24 Die ersten drei Einzelinformationen gingen auch an den Leiter der Abteilung Agitation des ZK der SED Heinz Geggel zur propagandistischen Auswertung.25 Dieser Zwischenfall wurde Bestandteil nicht nur der ostdeutschen Propaganda und Buchhaltung zu angeblichen westlichen »Verletzungen« von Helsinki, er wurde auch von der ČSSR und der UdSSR für ihre Diplomatie und Propaganda benutzt.26 Die ZAIG schrieb von »einem koordinierten Vorgehen« zwischen den Massenmedien der ČSSR und der DDR bei der »Anprangerung der Grenzprovokation« und bei der »agitatorischen Auswertung des Prozesses« gegen den Piloten und seine Mitangeklagten.27 Das MfS hatte auch bei der Sammlung von »Beweismaterial« für den Prozess dem tschechoslowakischen »Bruderorgan« geholfen.28 Um Hoffnungen im Westen und unter der eigenen Bevölkerung auf eine Lockerung infolge der KSZE zu zerstreuen, hatte das MfS vor, das existierende

22  1. Stellvertreter Beater an die Leiter aller Diensteinheiten, 22.8.1975, MfS VVS-008788/75; BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 4786, Bl. 1–6, hier 1. 23  Ebenda, Bl. 2. 24  Alle in: BStU, MfS, ZAIG Nr. 2433: EI 587/75, Information über die Ausschleusung von Bürgern der DDR mittels Hubschrauber aus der ČSSR, 19.8.1975, Bl. 1–3; EI 589/75, Information über erste Ergebnisse der Untersuchung der Ausschleusung von Bürgern der DDR mittels Hubschrauber aus der ČSSR nach der BRD am 17.8.1975, Bl. 4–17; EI 638/75, Information über durchgeführte und vorgesehene Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Abschluss der Untersuchungen zur Aufklärung der Hintergründe der Grenzprovokationen vom 15. und 17.8.1975 in der ČSSR, 11.9.1975, Bl. 18–20; EI 739/75, Information über den Gerichtsprozess gegen die Teilnehmer an der Hubschrauberprovokation vom 15. und 17.8.1975 am Lipno-Stausee/ČSSR, 27.10.1975, Bl. 21–24. 25  Die ZAIG schrieb in einer der EI: »In Auswertung des verbrecherischen Aktes vom 17.8.1975 werden die in der letzten Zeit zunehmenden Provokationen u. a. terroristischen Anschläge auf die Staatsgrenze der DDR sowie die wiederholten Luftraumverletzungen beweiskräftig dokumentiert und stehen auf Anforderung zur Verfügung.« EI 589/75, Information über erste Ergebnisse, Bl. 17. 26  Savranskaya: Human rights movement, S. 32, Fn 19. Der Vorfall wurde auch in der amerikanischen Presse thematisiert, aber ohne KSZE-Bezug. Siehe z. B. A Daredevil Don Quixote Rides His Windmill Behind the Iron Curtain. In: People Magazine v. 9.8.1975, http://people. com/archive/a-daredevil-don-quixote-rides-his-windmill-behind-the-iron-curtain-vol-4-no-10 (letzter Zugriff: 1.11.2018). 27  EI 638/75, Information über durchgeführte und vorgesehene Maßnahmen, Bl. 20. 28  Ebenda, Bl. 19.

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Grenzregime umso konsequenter durchzusetzen29 – offenbar auch, wenn es um den Schießbefehl ging. Diese Einstellung erwies sich jedoch als problematisch für die KSZE-Politik der DDR. Eine Reihe von Zwischenfällen an der deutsch-deutschen Grenze im Jahr 1976 drohte sich propagandistisch gegen die DDR zu wenden. Anstatt die Weltöffentlichkeit auf die angeblichen Verletzungen des »Grenzprinzips« durch die Bundesrepublik und den Westen aufmerksam zu machen, gaben sie dem Westen Anlass, Verstöße gegen Prinzip 7 der Schlussakte durch die DDR anzuprangern. Am 1. Mai 1976 wurde Michael Gartenschläger an der innerdeutschen Grenze getötet, als er von westdeutscher Seite aus versuchte, eine ostdeutsche Selbstschussanlage vom Typ SM-70 zu demontieren. Früher hatte er schon zwei andere SM-70 abgebaut. Die erste hatte er an das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« gegeben, um eine öffentliche Behauptung von DDR-Außenminister Fischer zu widerlegen, dass es keine solchen Anlagen an der Grenze gebe. Für die SM-70 und seine Lebensgeschichte hatte er ein Honorar von 12 000 DM bekommen. Die zweite hatte er an Rainer Hildebrandt von der »Arbeitsgemeinschaft 13. August« für die Ausstellung im »Haus am Checkpoint Charlie« für 3 000 DM verkauft.30 Gartenschläger wurde an der Grenze ohne Vorwarnung erschossen und seine Leiche wurde in die DDR verschleppt, vermutlich um Beweise seiner Tötung zu zerstören. Seit Tagen hatte eine Einsatzkompanie des MfS mit dem Befehl »festzunehmen bzw. vernichten« auf ihn gewartet.31 Anfang Juli 1976 wurde ein Westdeutscher nach einem Grenzübertritt angeschossen und festgenommen, und kurz danach nahmen die DDR-Grenzbehörden drei andere Westdeutsche, dabei ein 6-jähriges Kind, fest. Nach den letzten Vorfällen gab Bundeskanzler Schmidt am 28. Juli eine öffentliche Erklärung ab, in der er die Vorgehensweise der ostdeutschen Grenzbehörde anprangerte: »Entspannung heißt auch, die Verhältnisse an der Grenze menschlich zu machen. Die Achtung der Menschenrechte ist ein wesentliches Element der Entspannungspolitik. Die Bundesregierung stützt ihre Politik auf die Charta der Vereinten Nationen und auf die Grundsätze der KSZE. Dies fordert sie auch von der 29  Ohne Titel und Autor [Problemübersicht und Maßnahmenkatalog des MfS zur KSZE], ca. Oktober 1975 (siehe Fn 21), Bl. 316. 30  Siehe [IMB »Peter Schäfer«], Ergänzung zu meinem Bericht über Gartenschläger, 29.4.1976; BStU, MfS, AIM 938/91, Bd. 10, Bl. 163–165; Abt. XXII, Operativ-Information Nr. 25/76 über Pläne und Aktivitäten der »Arbeitsgemeinschaft 13. August e. V.« im Zusammenhang mit dem Diebstahl von Geräten 501/Minen SM 70 an der Staatsgrenze West der DDR, 30.4.1976; ebenda, Bl. 168 f.; Abt. XXII, Operativ-Information Nr. 37/76 über feindliche Aktivitäten des Leiters der »Arbeitsgemeinschaft 13. August e. V.« im Zusammenhang mit der Grenzprovokation des Gartenschläger, 22.5.1976; BStU, MfS, AIM 1938/91, Bd. 11, Bl. 11; Major Kluge, Abt. XXII, Bericht über den am 22.5.1976 mit der Quelle »Peter Schäfer« in der Hauptstadt der DDR durchgeführten Treff, 23.5.1976; ebenda, Bl. 2–5. 31  Vgl. Marxen, Klaus; Wehrle, Gerhard (Hg.): Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation, Bd. 6: MfS-Straftaten. Berlin 2006, S. 472–475. Siehe auch DzD 1975/76, VI/4, S. 744, Fn 5.

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DDR.«32 Die Erwähnung des Menschenrechtsprinzips der KSZE-Schlussakte durch Schmidt veranlasste die DDR, die Bundesrepublik der Nichteinhaltung der Prinzipien der Unverletzlichkeit der Grenzen und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten zu beschuldigen. Das »Neue Deutschland« warf der Bundesregierung vor, sie erteile all jenen Absolution […], die seit Jahr und Tag dabei sind, Provokationen zu inszenieren, Geist und Buchstaben der zwischen der DDR und der BRD abgeschlossenen Verträge und der Schlussakte von Helsinki zu verletzen.[…] Es diene nicht der Entspannung an der Grenze, wenn unter dem Schutz von Angehörigen des Bundesgrenzschutzes und der bundesrepublikanischen Polizei Demonstrationen, Wallfahrten, Fackelzüge und Schulausflüge zur Staatsgrenze der DDR veranstaltet werden, um die Menschen systematisch gegen die DDR aufzuhetzen und über Lautsprecher Drohungen und Schmähungen gegen die DDR auszustoßen. Dies alles erinnert zu sehr an die bekannte ›Heim-ins-Reich‹-Kampagne unseligen Angedenkens, als dass man es übersehen dürfte.33

Honecker erklärte gegenüber Breschnew bei ihrem Treffen auf der Krim im August 1976, dass der Kommentar wegen der »nationalistischen Welle« in der Bundesrepublik notwendig gewesen sei.34 Breschnew stimmte ihm zu.35 Schmidts Erklärung hatte Moskau sogar zu einer öffentlichen Stellungnahme zugunsten seines Verbündeten gezwungen. Die »Prawda« hatte Schmidts Erklärung kommentiert: In allen diesen Fällen unternahm die DDR als souveräner Staat die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Unantastbarkeit ihrer Grenze. […] Die Bestimmung über die Unantastbarkeit der Grenzen ist ein Eckpfeiler der europäischen Sicherheit. Sie nimmt einen hervorragenden Platz sowohl in dem Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD als auch in der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ein.36

Auf dem Krimtreffen kritisierten Breschnew und Honecker insbesondere Genscher, der die Schaffung eines internationalen Gerichtshofes für Menschenrechte bei der UNO vorgeschlagen hat. Beide gingen so weit, Genscher als »einen richtigen SS-Typen« zu verleumden.37

32  AdG, 2004, S. 20396. 33  Zu den Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland. In: ND v. 10.8.1976, S. 3. 34  Treffen des Generalsekretärs des Zentralkomitees der SED Honecker mit dem Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU Breschnew (Auszug), 19.8.1976, Dok. Nr. 218. In: DzD 1975/76, VI/4: S. 758–761, hier 759. 35  Ebenda, S. 760. 36  AdG, 2004, S. 20396. 37  Treffen des Generalsekretärs des Zentralkomitees der SED Honecker, S. 760.

DDR und »Grenzprinzip« in der Schlussakte

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Trotz ihrer gemeinsamen Einschätzung der westdeutschen Politik bzw. ihrer Politiker schnitt Breschnew ein heikles Thema an: das frühere Versprechen Honeckers, die Einreise von Besuchern aus der Bundesrepublik in die DDR anzukurbeln: »Erich, ich habe Dir einmal gesagt: Die DDR hat 17 Millionen Bürger. Es kommen eine Menge Leute in die DDR. Die treiben Agitation für den Kapitalismus. Der Kreissekretär der Partei kann nicht alles wissen, was da gesagt wird, auch Genosse Mielke nicht.« Honecker gab zu, dass durchschnittlich 8 Millio­nen Besucher jährlich in die DDR kamen.38 Trotzdem verschob er eine Entscheidung, indem er sie von der »feindlichen« Kampagne der Bundesrepublik abhängig machte: »Man musste in der BRD erkennen, dass sich die Möglichkeiten zum Eindringen in die DDR einengen, wenn die DDR-feindlichen Kampagnen weitergeführt werden. Im Kommentar des ›ND‹ haben wir gesagt, dass wir uns überlegen müssen, ob angesichts der Hetze eine solche Freizügigkeit für Besucher künftig überhaupt noch möglich sein wird.«39 In der Tat wollte Honecker aber solche Maßnahmen nicht ergreifen, da er wusste, dass der wachsende Zustrom von Geld aus der Bundesrepublik – das für die ostdeutsche Wirtschaft notwendig war – von der Genehmigung solcher Besuche abhing. In der Ära Honecker wurde die DDR zunehmend abhängig von Krediten und anderen Geldern aus der Bundesrepublik zur Stabilisierung ihrer Wirtschaft und zur Erhöhung des Lebensstandards ihrer Bevölkerung – ein Schlüssel zum Machterhalt.40 Privat hatte Honecker Schmidt sogar das Gegenteil von dem ausrichten lassen, was er gegenüber Breschnew behauptete: Die »Zuspitzung« in den deutsch-deutschen Beziehungen und sogar die Erklärung im »ND« müssten »damit erklärt werden […], dass er [Honecker] sich im Urlaub befunden habe«.41 Die Sowjetunion, die auch um gute wirtschaftliche und politische Beziehungen mit der Bundesrepu­ blik bemüht war, deutete durch ihren vom KGB organisierten »geheimen Kanal« über Egon Bahr zum Bundeskanzler an, dass Breschnew sich Honecker gegenüber dafür eingesetzt habe, künftige Grenzzwischenfälle mit Schießereien zu vermeiden, indem besser ausgebildete Grenzeinheiten eingesetzt würden.42 So wie in der Ära der Ostverträge trieb Moskau ein Doppelspiel gegenüber Bonn, und ironischerweise nun auch Honecker, der damals Walter Ulbrichts Versuche, das Gleiche zu machen, in Moskau genutzt hatte, um seinen Förderer zu stürzen. 38  Ebenda, S. 758. 39  Ebenda, S. 761. 40  Wentker, Hermann: Außenpolitik in engen Grenzen. Die DDR im internationalen System 1949–1989. München 2007, S. 391. Wentker schreibt, dass die Außenpolitik der DDR in der Ära Honecker zwischen ihrer Abhängigkeit von Moskau und der vor allem wirtschaftlichen Sogwirkung der Bundesrepublik changieren musste. 41  Fernschreiben des Leiters der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland Gaus über das Gespräch mit dem Generalsekretär des Zentralkomitees der SED Honecker, 12.8.1976, Dok. Nr. 210. In: DzD 1975/76, VI/4, S. 742–745, hier 744. 42  Vermerk des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit Bahr für Bundeskanzler Schmidt, 8.9.1976, Dok. Nr. 226. In: DzD 1975/76, VI/4, S. 787 f., hier 787.

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4.2 Die KSZE und die Ausreisebewegung in der DDR Vielleicht der wichtigste Grund, warum Oppositionelle in der DDR fast keinen Gebrauch vom Prinzip 7 und Korb III der KSZE-Schlussakte machten, war die Tatsache, dass eine andere, teils konkurrierende Strömung in der DDR sie zunehmend in Anspruch nahm: die wachsende Bewegung von Antragstellern auf ständige Ausreise nach der Bundesrepublik und Westberlin. Die Opposition in der DDR betrachtete die wachsende Anzahl von Übersiedlungsersuchen nach der Helsinki-Schlussakte als eine Schwächung ihres Potenzials, die Verhältnisse in der DDR zu ändern. Das MfS nützte seinerseits Zwangsübersiedlungen aus, um genau das zu erreichen. Trotzdem stellte die Ausreisebewegung die ernsteste Bedrohung der Stabilität der DDR im Rahmen des Helsinki-Prozesses dar. Bernd Eisenfeld schreibt, dass »die Ausreisewilligen der DDR durch die KSZE-Beschlüsse einen erheblichen Auftrieb [erhielten], der sich nicht nur im sprunghaften Anstieg der Antragsteller, sondern auch in der ausdrücklichen Bezugnahme auf die KSZE-Konferenz äußerte«. Die statistischen Daten der Zentralen Koordinierungsgruppe (ZKG) des MfS weisen aus, dass die Anzahl der Übersiedlungsersuchen arbeitsfähiger Erwachsener und Kinder von 12 652 im Jahr 1975 auf 19 521 im Jahr 1976 anstieg.43 Das MfS stellte in seiner Problemübersicht zur KSZE schon im Oktober 1975 fest: Seit der Veröffentlichung der Schlussakte der KSZE treten Bürger der DDR, die Anträge auf Übersiedlung, Familienzusammenführung oder Eheschließung mit Bürgern nichtsozialistischer Staaten und Westberlin gestellt haben bzw. stellen, im zunehmenden Maße dahingehend in Erscheinung, dass sie – und in zum Teil provokatorischer Form – eine ›zügigere‹ Bearbeitung ihrer Anträge unter Bezugnahme auf die Schluss­ akte der KSZE fordern und die Einschaltung zentraler staatlicher Organe der DDR, der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR bzw. Pressestellen der BRD und Westberlins in die Lösung ihrer Anliegen androhen.44

Darüber hinaus sei die »überwiegende Mehrzahl der Antragsteller auf Übersiedlung« nach der KSZE »im arbeitsfähigen Alter« und könne »keine den innerstaatlichen Rechtsvorschriften der DDR entsprechenden echten humanitären Gründe für ihre Übersiedlungsabsicht« vorlegen.45 Im Januar 1976 schlug der 1. Sekretär 43  Eisenfeld, Bernd: Die Ausreisebewegung – eine Erscheinungsform widerständigen Verhaltens. In Poppe, Ulrike; Eckert, Rainer; Kowalczuk, Ilko-Sascha (Hg.): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung: Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR. Berlin 1995, S. 192–223, hier 211. 44  Ohne Titel und Autor [Problemübersicht und Maßnahmenkatalog des MfS zur KSZE], ca. Oktober 1975, Bl. 228 (siehe Fn 21). 45  Ebenda. Im Allgemeinen ließ die DDR ostdeutsche Rentner ohne Probleme nach der Bundesrepublik und Westberlin übersiedeln. Von den 41 700 Rentnern, die zwischen 1972 und

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der SED-Bezirksleitung Dresden, Hans Modrow, in einem Schreiben an Honecker Alarm. Im Bezirk Dresden hätten sich 1975 die Anträge auf Übersiedlung auf das Zweieinhalbfache gegenüber 1974 und damit auf »rund 1 000« erhöht. Auch Antragsteller für kurzfristige Besuche in der Bundesrepublik wären mündiger geworden. Nach einer Ablehnung hätte es »rund 900« Beschwerden im Bezirk Dresden gegeben. In den darauffolgenden persönlichen Aussprachen bringen etwa 60 Prozent der betreffenen Bürger die bekannten Passsagen der Schlussakte von Helsinki und der UNO-Deklaration46 vor, fordern ›freie Reisemöglichkeiten‹ zu Verwandten und drohen, sich an die UNO, die BRDVertretung, an die BRD-Presse usw. zu wenden, keine gesellschaftliche Arbeit mehr zu machen, nicht mehr an der Wahl teilzunehmen bzw. ihre Übersiedlung zu betreiben.47

Anfangs wollte das MfS der Welle von Übersiedlungsersuchen entgegenwirken, indem es die Bearbeitung solcher Anträge durch die Organe für innere Angelegenheiten weiter »qualifiziert« – u. a. tiefgründigere Erforschung der Motive für solche Ersuchen, damit der Tendenz auf Übersiedlungen gekontert werden konnte, und in Fällen der Eheschließung die Überredung des Ehepartners in einem nichtsozialistischen Lande zur Übersiedlung nach der DDR.48 Dies galt als implizite Kritik an das Ministerium des Innern (MdI), das nach der KSZE an dem Ministerratbeschluss vom 16. Mai 1973 über Fragen des Reiseverkehrs, von Ausreisen und Eheschließung und seine eigenen internen Richtlinien von 1971 immer noch festhielte. Nach diesen Regelungen dürften die Übersiedlungsersuchen von beharrlichen Personen mit negativen Einstellungen genehmigt werden, um »politischen Schaden« von der DDR abzuwenden.49 Das heißt, dass genau die Demonstrativhandlungen, die das MfS bekämpfen wollte, oft vom MdI durch eine Ausreisegenehmigung belohnt wurden. Die Anzahl der genehmigten Ausreiseanträge für erwerbstätige Personen und ihre Kinder wurde im KSZE-Jahr 1975 (7 600) im Vergleich zu 1974 (3 400) verdoppelt. Trotz neuer staatlicher Maßnahmen zur Bekämpfung der Ausreise (siehe 4.2.3) blieb die Anzahl der genehmigten Anträge für Erwerbstätige und Kinder 1976 relativ hoch (5 400).50 den 31. Mai 1976 Übersiedlungsersuchen stellten, erlaubten die ostdeutschen Behörden 41 159 die DDR zu verlassen. Vgl. Politisch-operative Lage auf dem Gebiet der Antragstellung und Genehmigung von Übersiedlungen von Bürgern der DDR nach nichtsozialistischen Staaten bzw. Westberlin, Anlage 2 zu Hinweisen für das Gespräch mit dem Vorsitzenden des KfS, Genossen Andropow, Juli 1976. In: BStU, MfS, ZAIG Nr. 5153, S. 2–23, hier 22. 46  Universal Declaration of Human Rights, 20.12.1948. 47  Schreiben des 1. Sekretärs der SED-Bezirksleitung Dresden Modrow an den Ersten Sekretär des Zentralkomitees der SED Honecker (Auszug), 22.1.1976, Dok. Nr. 164. In: DzD VI/4, S. 579–581, hier 579 f. 48  Ohne Titel und Autor [Problemübersicht und Maßnahmenkatalog des MfS zur KSZE], ca. Oktober 1975, Bl. 231. 49  Hanisch: DDR im KSZE-Prozess, S. 151 f. 50  Ebenda, S. 150 f.

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Innenminister Friedrich Dickel war das Problem bewusst. Schon im November 1975 schlug er Mielke die Vorbereitung einer Information für Honecker über die Ausreiseproblematik vor. Mielke wartete aber bis zum 29. Dezember, bevor er Dickel antwortete und eine solche Information grundsätzlich genehmigte. Die Information sollte in Zusammenarbeit mit dem MfS vorbereitet werden. Mielke war jedoch mit dem MdI-Entwurf der Information, den er erst Ende Januar 1976 bekam, unzufrieden. Ein Grund dafür war: Er enthalte keine Vorschläge, wie die Ausreisebewegung »zurückgedrängt« werden konnte.51 Dieser Einwand war sogar sachlich zutreffend. Beater weigerte sich, eine Einzelinformation der ZAIG vom 28. Januar 1976 zum selben Thema52 an die Partei- und Staatsführung weiterzuleiten, weil darin ebenfalls keine Lösungsvorschläge enthalten waren.53 Im Februar 1976 bereitete die ZAIG eine umfassende Information zur Ausreiseproblematik auf der Grundlage ihrer früheren Einzelinformation vor. Die neue Fassung enthielt nun Vorschläge, »die geeignet sein könnten, dem gegnerischen Vorgehen entgegenzuwirken und den Umfang der Antragstellungen kontinuierlich zurückzudrängen«.54 Obwohl Beater auch die überarbeitete Information nicht an die Partei- und Staatsführung weiterleitete, bedeutete das nicht, dass es zwischen der ZAIG und der Leitung des MfS grundsätzliche Meinungsunterschiede über Dringlichkeit und Wichtigkeit der Ausreiseproblematik gegeben hätte.55 Mielke machte sich die meisten Vorschläge in der Information in einer Rede auf der zentralen Parteiaktivtagung des MfS am 25. Juni 1976 zu eigen.56 So wie die ZAIG in ihrer Information forderte Mielke in der Rede eine 51  Ebenda, S. 149 f. 52  Information Nr. 77/76 über massive gegnerische Interventionen zur Erzwingung von Genehmigungen zur Übersiedlung von Bürgern der DDR nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin, o. D. In: Suckut, Siegfried (Hg.): Die DDR im Blick der Stasi. Die geheimen Berichte an die SED-Führung 1976. Köln 2009, S. 84–87. 53  Suckut (Hg.): DDR im Blick 1976, S. 39 f. 54  Information Nr. 104/76 über massive gegnerische Interventionen in innere Angelegenheiten der DDR im Zusammenhang mit der Übersiedlung von Bürgern der DDR nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin. In: ebenda, S. 94–102, hier 98. 55  Vgl. Suckut (Hg.): DDR im Blick 1976, S. 40. 56  Es gab nur 3 wesentliche Vorschläge in der Einzelinformation der ZAIG von Februar 1976, die Mielke in seiner Rede von Juni 1976 nicht erwähnte. Erstens hatte sich die ZAIG für eine konsequentere Anwendung von Reisesperren gegen »aus der DDR nach nichtsozialistischen Staaten und nach Westberlin übergesiedelten Personen« stark gemacht. Solche Besucher aus dem Westen hätten andere in der DDR zur Stellung von Übersiedlungsersuchen motivieren können (siehe Information Nr. 104/76, S. 98). Mielke hatte aber letzten Endes auch gegen diesen Vorschlag nichts einzuwenden (siehe Referat des Gen. Minister auf der zentralen Dienstkonferenz, 27.9.1976. In: BStU, MfS, ZAIG Nr. 8671, Bl. 3–91, hier 85). Ein zweiter Vorschlag der ZAIG war überflüssig – nämlich, dass »den zunehmend massiven Einmischungsversuchen in die inneren Angelegenheiten der DDR seitens reaktionärer Kräfte der BRD und Westberlins« zugunsten von Ausreisewilligen »in geeigneter Form und zu geeigneten Zeitpunkten auf politischem und diplomatischem Wege entgegengewirkt werden« sollte (siehe Information Nr. 104/76, S. 98). Solche Schritte wurden von dem MfAA auf Anweisung des ZK der SED unternommen (siehe

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weitere Qualifizierung der Arbeit des MdI und der nachgeordneten Abteilungen Innere Angelegenheiten bei der Bearbeitung von Übersiedlungsanträgen.57 Die Zurückdrängung der Welle von Ausreiseanträgen sei, so Mielke, eine »gesamtgesellschaftliche Aufgabe«. Die zuständigen »Organe, Betriebe, Kombinate und Einrichtung sowie die gesellschaftlichen Organisationen und Kräfte« sollten auch gegen die Stellung solcher Anträge und auf ihre Rücknahme hinarbeiten.58 Mielke wiederholte auch die Empfehlung der ZAIG, dass »vorhandene Konfliktsituationen«, die zu einer Antragstellung geführt hatten oder führen könnten, so weit wie möglich ausgeräumt werden sollten.59 In einer Rede vor leitenden Kadern der SED am 29. März 1976 war Mielke noch kritischer als die ZAIG: »In einer Reihe von Fällen ist das Verhalten dieser Personen [Ausreiseantragsteller – d. A.] eindeutig auf bürokratische und herzlose Maßnahmen staatlicher Organe zurückzuführen, die sie damit erst dem gegnerischen Einfluss in die Arme treiben bzw. zu solchen außergewöhnlichen Handlungen veranlassen.«60 Diese »Individualisierung« der Verantwortung für Ausreiseanträge im Fehlverhalten einzelner »herzloser« Bürokraten war nichts Neues. Dieselbe diskursive Taktik wurde von der SED in den 1950er-Jahren benutzt, um »Republikflucht« teilweise zu erklären. Das heißt, Fehler von einzelnen Bürokraten, nicht im politischen und ökonomischen System der DDR als Ganzes, erklärten die hohe Anzahl von Emigranten nach dem Westen. Die zweite diskursive Strategie zur Erklärung der hohen Anzahl von Flüchtlingen aus der DDR in den 1950er-Jahunten). Ein dritter Vorschlag der ZAIG von Februar 1977 wurde nie Bestandteil der Politik der DDR in Ausreisefragen: die Rückerstattung der »entstandenen Aufwendungen in angemessener Höhe« für ihre »Ausbildung und erworbene Qualifikation (insbesondere bezogen auf Hoch- und Fachschulkader)« in der DDR (siehe Information Nr. 104/76, S. 100). Die ZAIG hatte schon im Oktober 1975 dieselbe Empfehlung gemacht (siehe ohne Titel und Autor [Problemübersicht und Maßnahmenkatalog des MfS zur KSZE], ca. Oktober 1975, Bl. 236). Es bleibt unklar, ob der Vorschlag, der sowjetischen Regelungen vor allem in Bezug auf jüdische Ausreisewillige entsprach, von der Leitung des MfS einfach ignoriert wurde oder von anderer Stelle verworfen wurde. Anscheinend hat die ZAIG nicht gewusst, dass die Ausbildungssteuer sogar innerhalb der sowjetischen Führung umstritten war und dass Breschnew den KGB zwang, die interne Regelung im Jahr 1973 nicht zu vollziehen, um die Nixon-Administration gegenüber den Kritikern ihrer Entspannungspolitik, vor allem Senator Jackson, zu unterstützen. Die Geste kam aber zu spät; das Jackson-Vanik Amendment, das die Meistbegünstigung für sowjetischen Handel mit den USA von der sowjetischen Emigrationspolitik abhängig machte, wurde vom amerikanischen Kongress verabschiedet. Vgl. Zubok: A Failed Empire, S. 232–234. 57  Information Nr. 104/76, S. 100; Mielke, Referat auf der zentralen Parteiaktivtagung am 25. Juni 1976. In: BStU, MfS, ZAIG Nr. 7741, Bl. 3–157, hier 142. 58  Information Nr. 104/76, S. 99; Mielke, Referat, 25.6.1976, Bl. 139. 59  Information Nr. 104/76, S. 99; Mielke, Referat, 25.6.1976, Bl. 140 f. Die ZAIG hatte in ihrer Information zum Beispiel »ungeklärte Wohnungsverhältnisse« als einen Grund für Übersiedlungsersuchen genannt. 60  Vortrag des Kandidaten des Politbüros des ZK der SED und Ministers für Staatssicherheit, Genossen Generaloberst Erich Mielke, im Vortragszyklus für leitende Kader der Partei, 29.3.1976. In: BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 5512, Bl. 2–45, hier 44.

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ren wurde auch im Falle der Ausreisewilligen der 1970er- und 1980er-Jahre von MfS und SED angewandt – nämlich die Abwerbung von Arbeitskräften durch die Bundesrepublik.61 Dennoch bestätigte Mielke in seiner Rede vom Juni den Anfang eines repressiveren Kurses gegen die Ausreisewilligen. Er meinte, wie die ZAIG,62 dass es »in bestimmten Fällen« »durchaus notwendig sein« könnte, »mit strafrechtlichen und anderen Mitteln« gegen Antragsteller vorzugehen, die »Angriffe gegen die Staatsgrenze der DDR« unternahmen, die »Anträge auf Übersiedlung mit provokatorischem bzw. hetzerischem Inhalt« stellten oder eine »Verbindungsaufnahme mit Organen und Einrichtungen, Persönlichkeiten und anderen einflussreichen Kräften außerhalb der DDR« versuchten. Mielke erklärte weiter: »Gegenwärtig werden zu diesen gesamten Problemen [d. h. Übersiedlungsersuchen] entsprechende Untersuchungen geführt und Vorschläge für weiterführende Entscheidungen vorbereitet.«63 Bis diese Entscheidungen getroffen waren, konnte das MfS auf einer besseren Qualifizierung der Arbeit der Abteilungen Innere Angelegenheiten bei der Bearbeitung von Übersiedlungsanträgen bestehen; es konnte bei der Ausräumung von »Konfliktsituationen«, die zur Stellung solcher Anträge führten, helfen; es konnte seinen geheimpolizeilichen Einfluss in Betrieben und gesellschaftlichen Organisationen einsetzen, damit Ausreisewillige keinen Antrag stellten bzw. ihn zurücknahmen und einen repressiveren Kurs gegen Antragsteller einschlagen, die gegen das Strafrecht verstießen.64 4.2.1 Die Gefahr grenzübergreifender Kontakte (1): Die Ausreisewilligen und die westdeutschen Massenmedien Mielke nannte als zweiten Grund für seine Ablehnung der MdI-Information zur Ausreiseproblematik, sie habe auf die Rolle der »gegnerischen Diversion und Kontaktpolitik bzw. -tätigkeit« bei einer wachsenden Zahl von Ausreiseanträgen zu wenig Rücksicht genommen.65 Obwohl Mielke und die ZAIG intern zugaben, dass die ostdeutsche Politik und die Lebensbedingungen in der DDR eine Rolle beim Anstieg der Übersiedlungsersuchen spielten, hatte das MfS als wahren Schuldigen dafür die Ständige Vertretung der Bundesrepublik ausfindig gemacht, die solche Anträge fördern würde. Dazu kämen »verschiedene durch Massenmedien der BRD und Westberlins breit angelegte Verleumdungs- und 61  Melis, Damian van; Bispinck, Henrik (Hg.): »Republikflucht«: Flucht und Abwanderung aus der SBZ/DDR 1945 bis 1961. München 2006, S. 112–117. 62  Information Nr. 104/76, S. 99. 63  Mielke, Referat, 25.6.1976, Bl. 144. 64  Ebenda, Bl. 139–142, 144. 65  Ebenda, S. 149 f.

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Hetzkampagnen gegen die DDR« und verschiedene »Feindorganisationen« in der Bundesrepublik, die wie die GfM versuchten, sich durch »Druck« und »andere politische Erpressungsversuche […] in die inneren Angelegenheiten der DDR einzumischen und Einfluss auf die Genehmigungspraxis der staatlichen Organe der DDR bei Ausreisen bzw. Übersiedlungsersuchen […] auszuüben«.66 Im Falle der »Einmischung« der Bundesregierung und ihrer Ständigen Vertretung bei Übersiedlungsersuchen war die Beweisführung des MfS ziemlich schwach. Die ZAIG berichtete im Oktober 1975: »Seit Ende 1974 übergab die StäV der BRD in der DDR an das MfAA der DDR 330 ›Gesprächsnotizen‹ zu Problemen der Übersiedlung/Familienzusammenführung von DDR-Bürgern in die BRD. Diese ›Gesprächsnotizen‹ erwecken den Eindruck, dass grundsätzlich der BRD-Partner als Ersuchender in Erscheinung tritt.«67 Tatsächlich wollten die Regierung Schmidt und die Ständige Vertretung ihrer Verpflichtung gegenüber westdeutschen Bürgen und ihren Familienangehörigen im Osten in Fragen der Familienzusammenführung nachkommen; sie warnten Ausreisewillige außerhalb des Rahmens der Familienzusammenführung deshalb, dass die Chancen für eine Übersiedlung »sehr gering« seien.68 Wichtiger für die Regierung Schmidt war eine Erweiterung der Möglichkeiten für kurzfristige Reisen zwischen der Bundesrepublik und der DDR, vor allem in dringenden Familienangelegenheiten. Das war ein Hauptthema in den Gesprächen zwischen den beiden deutschen Staaten nach Helsinki. Reiseerleichterungen seitens der DDR wurden durch verschiedene ökonomische Begünstigungen vonseiten der BRD belohnt.69 Dagegen trugen die Massenmedien der Bundesrepublik und Westberlins deutlich zur öffentlichen Wahrnehmung der Ausreiseproblematik in der Bundesrepublik und auch in der DDR bei. Die Korrespondenten von Medien der Bundesrepublik und Westberlins in der DDR spielten eine zentrale Rolle bei der transnationalen Vermittlung von Informationen über Einzelfälle von Ausreisewilligen oder über jene ihrer Verwandten im Westen, die demonstrative Handlungen begingen. Zwangsadoptionen und der Fall Jörg Mettke Zum ersten großen Zusammenstoß zwischen den ostdeutschen Behörden und westdeutschen Massenmedien und Journalisten in Ausreisefragen kam es im Dezember 1975, als der »Spiegel« einen Artikel über »Zwangsadoptionen« in der DDR veröffentlichte. In diesem wurde über Kinder berichtet, die von ostdeut66  Ohne Titel und Autor [Problemübersicht und Maßnahmenkatalog des MfS zur KSZE], ca. Oktober 1975, Bl. 229 (siehe Fn 21). 67  Ebenda, Bl. 228–230. 68  Vermerk des Ministerialrats an der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland Hoesch, 24.5.1976, Dok. Nr. 180. In: DzD VI/4, S. 642–644, hier 644. 69  Siehe unten 4.4.

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schen Behörden zur Adoption freigegeben wurden, nachdem deren Eltern nach missglückter »Republikflucht« im Gefängnis landeten oder die Grenze erfolgreich – aber ohne ihre Kinder – überwunden hatten. Viele solche in die Bundesrepublik übergesiedelten Eltern hatten vergeblich versucht, ihre schon zur Adoption freigegebenen Kinder über die Familienzusammenführung nachzuholen. Der »Spiegel« behauptete, dass diese Praxis »einen Rückfall in den Kalten Krieg« darstelle, da solche Kinder von ihren Eltern früher nur bis zum Ende ihrer Gefängnisstrafe getrennt wurden.70 Die Hauptabteilung Information und Dokumentation im DDR-Außenministerium, die von dem MfS-Offizier im besonderen Einsatz Rudolf Nitsche geleitet wurde,71 betrachtete den Artikel und die darauffolgende Berichterstattung über Zwangsadoptionen in den westdeutschen Massenmedien als »Hetzkampagne«. Dahinter stünden »entspannungsfeindliche Kräfte« in der Bundesrepublik, »vor allem rechteste Kräfte in CDU/CSU«, die die erfolgreiche Fortführung des Entspannungsprozesses und den Abschluss neuer Vereinbarungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR »torpedieren« wollten.72 Begründet wurde dieser Verdacht mit der plötzlichen Weigerung des bayrischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel (CSU), den Ständigen Vertreter der DDR in der Bundesrepublik Michael Kohl zu seinem Antrittsbesuch zu empfangen, weil der sich geweigert hatte, den Inhalt des »Spiegel«-Artikels zu dementieren.73 Goppel schrieb in einem Brief an Kohl, dass solche »Zwangsadoptionen« eine »Ungeheuerlichkeit« darstellten, die »die zivilisierte Welt seit Himmler nicht mehr erlebt hat«.74 Der stellvertretende DDR-Außenminister Nier protestierte gegenüber Gaus: »Die Behandlung, die Kohl widerfahren sei, widerspreche nicht nur internationalen Prinzipien, sondern auch den vereinbarten Grundlagen der Beziehungen.« Darüber hinaus seien die »Verleumdungen« gegen die ostdeutsche First Lady Margot Honecker in dem »Spiegel«-Artikel »aufmerksam registriert worden«.75 Der Artikel mache das von ihr geführte Volksbildungsministerium für die »Zwangsadoptionen« verantwortlich und enthalte ein Bild von ihr mit dem Untertitel »brachiale staatliche Vergeltung«.76 Zu den eigentlichen Adoptionsfällen sagte Nier:

70  Nie Wiedersehen. In: Der Spiegel 51/75 v. 15.12.1975, S. 36–38. 71  Vgl. seine Autobiographie: Rudolf Nitsche: Als Diplomat im besonderen Einsatz. Eine DDR-Biographie. Schkeuditz 1994 und BStU, MfS, KS 335/84 zu OibE »Siegbert« (Reg-Nr. XV 10957/61). 72  MfAA, Hauptabteilung Information und Dokumentation, Information Nr. 130/XII, 18.12.1975. In: BStU, MfS, HA II, Bd. 41856, Bl. 108 f., hier 108. 73  DzD VI/4, S. 543, Fn 2. 74  DDR: »Die Kinder fest verwurzeln«. In: Der Spiegel 52/75 v. 22.12.1975, S. 19–26, hier 19. 75  Fernschreiben des Leiters der Ständigen Vertretung, 18.1.1975, S. 546. 76  Nie Wiedersehen. In: Der Spiegel 51/75 v. 15.12.1975, S. 38.

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Wenn Eltern beim Versuch der Republikflucht das Leben ihrer Kinder aufs Spiel setzen, oder wenn sie die DDR illegal verlassen, ohne sich um die Kinder zu kümmern, so liege darin eine schwere Verletzung ihrer elterlichen Pflichten. Bei einem solchen Verhalten könnten die Gerichte auf der Grundlage gesetzlicher Bestimmungen den Eltern das Erziehungsrecht entziehen.77

Einige Tage nach dem »Spiegel«-Artikel verwies die DDR Jörg Mettke, der angeblich über die Adoptionsfälle berichtet hatte, des Landes. Er war der erste Korrespondent eines westlichen Landes, der nach der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von seinem Gastland ausgewiesen wurde.78 Zur Routine wurden solche Ausweisungen für die DDR bis ins Jahr 1989 bei westdeutschen Journalisten, die nach Einschätzung der ostdeutschen Behörden in ihrer Berichterstattung über die Opposition in der DDR, über Ausreisefragen oder andere heikle Themen zu weit gegangen waren. Diese Praxis entfachte zwischen der DDR und der Bundesrepublik einen neuen Konflikt über die Auslegung der KSZE-Schlussakte. Obwohl die Bundesregierung, im Gegensatz zu ihren konservativen Kritikern, die Ablehnung von Ausreiseanträgen außerhalb der Familienzusammenführung durch die DDR nicht als Missachtung der KSZE-Schlussakte betrachtete, galt die Vorgehensweise der DDR bei der Ausweisung westdeutscher Korrespondenten als ein solcher Verstoß. Gaus protestierte gegen die Ausweisung Mettkes bei Nier. Weil Mettke – entgegen der Behauptung der DDR – an dem Artikel nicht mitgearbeitet habe, sei die Ausweisung ein Verstoß gegen das Übereinkommen zwischen der DDR und der Bundesrepublik über die Arbeitsmöglichkeiten für Journalisten. Darüber hinaus sehe »die Bundesregierung in der Ausweisung von Mettke einen Verstoß gegen die Schlussakte von Helsinki. Darin sei u. a. festgelegt, dass Journalisten im Falle einer Ausweisung über die Gründe für diese Maßnahme unterrichtet würden und einen Antrag auf Überprüfung stellen könnten.« Die Bundesregierung bitte die DDR deshalb, die Ausweisung aufzuheben. Gaus erklärte: »Der in der KSZE-Schlussakte vorgezeichnete Weg sei am besten geeignet, zu einer Lösung dieses Falles zu kommen.«79 Das heißt, wenn die DDR auf der Ausweisung Mettkes bestehe, sollte sie zumindest der in der KSZE-Schlussakte vorgesehenen Prozedur folgen. Die Bundesrepublik stellte damit die internen Behaup77  Fernschreiben des Leiters der Ständigen Vertretung, 18.1.1975, S. 545. 78  Simonitsch, Pierre: Im Hintergrund: Nagelprobe für die Schlussakte. In: Frankfurter Rundschau v. 18.12.1975; BStU, MfS, ZAIG Nr. 9486, Bd. 1, Bl. 62. 79  Fernschreiben des Leiters der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland Gaus über das Gespräch mit dem stellvertretenden Außenminister der DDR Nier, 18.12.1975, Dok. Nr. 154. In: DzD VI/4, S. 543–548, hier 544. In Teil III der KSZE-Schlussakte steht unter der Überschrift »Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Journalisten«: »Wenn ein akkreditierter Journalist ausgewiesen wird, wird er über die Gründe für diese Maßnahme unterrichtet werden und kann einen Antrag auf Überprüfung seines Falles stellen.«

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tungen des MfS in seinem Maßnahmenkatalog zur KSZE infrage: dass bei der Ausweisung von Korrespondenten »die Gründe nicht in jedem Fall detailliert mitgeteilt werden müssen« und dass die entsprechende »Verpflichtung flexibel gehandhabt werden« könnte.80 Nier wies den Protest von Gaus zurück. Mettke habe bei dem Artikel des »Spiegels« zumindest »mitgewirkt«. Weil er die DDR deshalb »verleumdet« habe, sei er entsprechend der Journalistenverordnung der DDR von 21. Februar 1973 auszuweisen. Auf die Auslegung der KSZE-Schlussakte durch die Bundesrepublik entgegnete Nier: »Der Hinweis auf die KSZE-Schlussakte gehe fehl. In dieser werde gesagt, [dass] die Rechtsordnung aller Teilnehmerstaaten, also auch der DDR, zu respektieren und eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten unzulässig sei.« Nier fasste zusammen: »Eine Überprüfung der Entscheidung sei nicht möglich.«81 Das hieß noch einmal, dass die Absichtserklärungen in Korb III nach der Auslegung der Warschauer Vertragsstaaten dem Prinzip der »Nichteinmischung« in Korb I untergeordnet und deshalb praktisch gegenstandslos waren. Ein zweiter Protest von Gaus bei Nier im Januar 1976 blieb erfolglos. Beide Seiten zitierten und veröffentlichten ihre unterschiedlichen Auslegungen der KSZE-Schlussakte noch einmal.82 Sie gewannen aber beide den Eindruck, dass die andere Seite die Lage nicht verschärfen bzw. die Frage he­runterspielen wollte.83 Das MfS hatte einen eigenen Beitrag zur Ausweisung Mettkes geleistet. Die für Westkorrespondenten zuständige HA II/13 hatte Mettke schon lange im Visier. Bereits vor seiner Akkreditierung war die HA II/13 wegen eines Interviews Mettkes mit Biermann im Jahr 1973 misstrauisch.84 Der »Spiegel« selbst war Zielscheibe des MfS, auch wegen seiner Berichterstattung über die KSZE. Die HA II/13 notierte: »Aufgrunde der falschen und widersprüchlichen Berichterstattung des Nachrichtenmagazins ›Der Spiegel‹ über die KSZE in Helsinki, insbesondere deren abschließende Phase, führten Mitarbeiter des MfAA, Abt. Journalistische Beziehungen, bereits am 13.8.1975 eine kritische Aussprache mit Mettke durch.« Er wurde verwarnt, »dass bei Fortführung einer dem Geist von Helsinki widersprechenden Berichterstattung […] der ›Spiegel‹ mit möglichen Konsequenzen seitens der DDR zu rechnen habe«.85 Mettke berichtete, die 80  MfS, Maßnahmenkatalog, ca. Okt. 1975, Bl. 270 (siehe Fn 19). 81  Fernschreiben von Gaus, 18.12.1975, S. 544 f. 82  Gaus nennt Journalisten-Ausweisung Verstoß gegen Helsinki-Erklärung. In: Tagesspiegel v. 19.12.1975; BStU, MfS, ZAIG Nr. 9486, Bd. 1, Bl. 53 f. 83  Fernschreiben des stellvertretenden Leiters der Ständigen Vertretung der Bundesrepu­ blik Deutschland Bräutigam über das Gespräch mit dem Abteilungsleiter im Außenministerium der DDR Seidel, 22.12.1975, Dok. Nr. 156. In. DzD VI/4, S. 551–553, hier 553; Vermerk des Abteilungsleiters im Außenministerium der DDR Seidel über das Gespräch mit dem Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland Gaus, 16.1.1976, Dok. Nr. 160: In: DzD VI/4, S. 569–572, hier 569. 84  HA II/13, Information, 12.10.1976; BStU, MfS, HA II/13, Bd. 1409, Bl. 146–153, hier 147. 85  Ebenda, Bl. 148 f.

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beiden MfAA-Mitarbeiter hätten dem Nachrichtenmagazin vorgeworfen, es versuche, »›Keile‹ zwischen DDR und UdSSR zu treiben […], aber auch zwischen SED-Führung und DDR-Bürger[n]«.86 Trotz des öffentlichen Konflikts über Zwangsadoptionen und der Ausweisung Mettkes gab es hinter den Kulissen seitens der Bundesrepublik und der DDR Versuche, Lösungen für einige Fälle zu finden. Nachdem er die Adoptionspraxis der DDR zuerst verteidigt hatte, behauptete Nier gegenüber Gaus, dass »mehr als 1 000 Kinder […] in der letzten Zeit in die Bundesrepublik überführt« worden seien, und »darunter seien auch Kinder von Eltern, die in der DDR verurteilt und dann in die Bundesrepublik entlassen worden seien«.87 Der ostdeutsche Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, der seit 1963 in humanitären Fällen zwischen der Bundesrepublik und der DDR vermittelte und bei dem »Freikauf« ostdeutscher Gefangener durch die Bundesrepublik eine zentrale Rolle spielte, versicherte im Dezember 1975 seiner Kontaktperson im Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (BMB), dass es in der »Rechtsprechung nicht mehr zu Zwangs­ adoptionen kommen« werde, »auch wenn die diesbezüglichen gesetzlichen Bestimmungen nicht geändert werden«.88 In mindestens einem der in Westdeutschland publizierten Fälle wurden durch Vogels Bemühungen die Kinder mit ihren Eltern wieder zusammengeführt.89 Einige andere bekannt gewordene Fälle wurden nicht gelöst. Das MfS verhinderte zum Beispiel die Übersiedlung von Ota und Jeannette Grübel, deren Eltern Otto und Bärbel nach einem Fluchtversuch im Mai 1975 von der Bundesrepublik freigekauft wurden.90 Außenminister Oskar Fischer hatte Mielke im Dezember 1976 im Namen Honeckers darum gebeten, den Fall noch einmal zu überprüfen, nachdem der »Spiegel« ihn in einem neuen Artikel zu Zwangsadoptionen erwähnt hatte.91 Die Antwort kam im Januar 1977 in Form einer Einzelinformation der ZAIG an das Außenministerium. Das MfS betrachtete die öffentlichen Bemühungen des Ehepaars Grübel um eine Zusammenführung mit ihren Kindern im Herbst 1976 als Propaganda im Kontext des laufenden Bun86  Hausmitteilung. In: Der Spiegel 34/75 v. 18.8.1975, S. 3. »Der Spiegel« hatte berichtet, dass sich Breschnew im Gespräch mit Ex-Bundeskanzler Willy Brandt negativ über Honecker und dessen Rolle im Spionagefall Günter Guillaume geäußert habe. Vgl. »Auch hier heißen Sie Willy!«. In: Der Spiegel 29/1975 v. 14.7.1975, S. 17–24, hier 17. Danach hatte er einen Bericht über die Unzufriedenheit von DDR-Bürgern mit dem Ostsee-Tourismus veröffentlicht. Vgl. »Wohnen wie Honecker«. In: Der Spiegel 30/1975 v. 21.7.1975, S. 82–84. 87  Fernschreiben des Leiters der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland Gaus über das Gespräch mit dem stellvertretenden Außenminister der DDR Nier, 18.12.1975, Dok. Nr. 154. In: DzD VI/4, S. 543–548, hier 545. 88  DzD VI/4, S. 552, Fn 5. 89  Zwangsadoptionen: Meister im Weggucken. In: Der Spiegel 23/1991 v. 3.6.1991, S. 112 f., hier 113. 90  Ebenda, S. 112. 91  Brief Fischer an Mielke, 15.12.1976; BStU, MfS, ZAIG Nr. 2693, S. 9 f.

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destagswahlkampfs und als Erpressung der DDR, statt als einen verzweifelten Versuch, die Kinder freizubekommen. Das MfS informierte das MfAA im Januar 1977, dass sich das Ehepaar Grübel während des Wahlkampfs »mit einem ›offenen Brief‹ an den BRD-Kanzler Schmidt und die antikommunistische ›Gesellschaft für Menschenrechte‹« gewandt habe. Der Bericht des MfS schloss mit der Empfehlung, dass die Kinder bei ihren Adoptiveltern in der DDR bleiben sollten.92 Das Ehepaar Grübel sah erst 1990 ihre inzwischen erwachsenen Kinder wieder. Beide konnten »sich an ihre leiblichen Eltern nicht mehr erinnern«.93 Gerhard Löwenthal und die »Hilferufe von drüben« Einen Wendepunkt für die Bedrohungswahrnehmung des MfS bezüglich der transnationalen Kontakte von Ausreisewilligen brachte am 21. Januar 1976 ein Beitrag des Fernsehjournalisten Gerhard Löwenthal in dem von ihm co-moderierten »ZDF-Magazin« unter dem Titel »Hilferufe von drüben«. In dem Beitrag nannte Löwenthal Namen und Adressen von 65 Ostdeutschen, die Ausreiseanträge gestellt hatten und abschlägig beschieden worden waren. Sie alle hätten, Löwenthal zufolge, mit der Bitte um Unterstützung an das ZDF geschrieben und die Veröffentlichung ihrer Namen und Adressen genehmigt. Löwenthal bat seine Zuhörer um Unterstützung für diese Anliegen bei den ostdeutschen Behörden.94 Die ZAIG reagierte auf die Sendung mit der Vorbereitung ihrer ersten Einzelinformation zur Ausreiseproblematik für die ostdeutsche Partei- und Staatsführung »über massive gegnerische Interventionen zur Erzwingung von Genehmigungen zur Übersiedlung von Bürgern der DDR nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin«.95 Die Information sollte u. a. dazu dienen, die Verantwortung für die steigende Zahl von Ausreiseanträgen »entspannungsfeindlichen Kräften« in der Bundesrepublik zuzuschieben. Die Information wurde aber von Beater, wie oben (siehe 4.2) erwähnt, zugunsten einer allgemeineren Darstellung abgelehnt. In der Information stellte die ZAIG den Fernsehbericht von Löwen­ thal, dem »Mitbegründer und Sprecher des ›Bundes Freies Deutschland‹ [BFD] in Westberlin« und angeblichen »›Einfluss-Agenten‹ des BND im ZDF«, als Beispiel eines Trends dar, dass »Massenmedien der BRD und Westberlins zuneh92  MfS, EI 16/77, Information über feindliche Aktivitäten und in der Öffentlichkeit wirkende Kräfte sowie den tatsächlichen Sachverhalt im Zusammenhang mit der angeblichen Zwangsadoption der Kinder der ehemaligen DDR-Bürger Grübel, Otto und Grübel, Bärbel, 11.1.1977. In: Bispinck, Henrik (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi. Die geheimen Berichte an die SED-Führung 1977. Köln 2012, CD-ROM-Anlage. Außerhalb des MfS ging die Information nur an die stellvertretenden Außenminister Krolikowski und Nier. 93  Zwangsadoptionen: Meister im Weggucken. In: Der Spiegel 23/1991 v. 3.6.1991, S. 113. 94  Berufliches. In: Der Spiegel 10/76 v. 1.3.1976, S. 172. 95  Information Nr. 77/76, o. D., S. 84–87.

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mend als ›Interessenvertreter‹ derartiger Antragsteller in Erscheinung« träten. Solche »massiven gegnerischen Einmischungsversuche« von westdeutschen Medien und westdeutschen Behörden zeigten »konkrete Auswirkungen«. Antragsteller drohten zunehmend an, sich an die westdeutschen und Westberliner Massenmedien oder an internationale Organisationen zu wenden, falls ihre Übersiedlungsersuchen nicht zügig und positiv bearbeitet würden. Das Ziel sei, »auf diese Art und Weise Druck auf die zuständigen staatlichen Organe der DDR auszuüben«. Die ZAIG warnte vor den Plänen des ZDF, weitere Namen und Adressen von ostdeutschen Ausreisewilligen zu veröffentlichen.96 Während das MfS eine Kampagne von Maßnahmen zur Diskreditierung von Löwenthal lancierte97, stieß er auch auf Kritik und Opposition in der Bundesrepublik. Ein ostdeutscher Übersiedler zeigte ihn wegen »politischer Verdächtigung« (§ 241a, Abs. 2 StGB) an, weil sein Bericht die Sicherheit der genannten Ausreisewilligen aus politischen Gründen gefährdet habe.98 Als Günter Gaus von Plänen des ZDF hörte, im März 1976 ein vollständiges 45-minütiges Programm Löwenthals mit Namen und Adressen von Ausreisewilligen unter dem Titel »Hilferufe von drüben« auszustrahlen, warnte er den Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen Egon Franke, dass dies »die Familienzusammenführung und die Regelung anderer humanitärer Fragen mit der DDR erheblich belasten« würde. Er bat Franke nicht zum ersten Mal, »zu prüfen, auf welche Weise die Ausstrahlung der Sendung verhindert werden kann«. Er schlug vor, bei der Leitung des ZDF zu intervenieren, und wenn das nichts bringen würde, sollte das Ministerium eine Stellungnahme abgeben. Er schrieb: »Wir sollten auf jeden Fall ganz deutlich machen, dass die scheinbar humanitäre Aktion, die mit dieser Sendung vollbracht werden soll, gegenteilige, direkt gegen die Interessen vieler Betroffener gerichtete Folgen haben wird.«99 Franke versuchte vergeblich, die Sendung zu verhindern, und erntete dafür Kritik von konservativen Menschenrechtsaktivisten in der CDU/CSU.100 Trotz seiner Kritik und der anderer sozial­demokratischer Politiker blieb »Hilferufe von drüben« bis ins Jahr 1980 Bestandteil des ZDF-Magazins.

96  Ebenda, S. 84 f. 97  Löwenthal, Gerhard; Kamphausen, Helmut; Clausen, Claus P.: Hilferufe von drüben. Eine Dokumentation wider das Vergessen. 3. Aufl., Lippstadt 2002, S. 277–300. 98  Berufliches. In: Der Spiegel 10/76 v. 1.3.1976, S. 172. 99  Fernschreiben des Leiters der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland Gaus an den Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen Franke, 18.3.1976. In: DzD 1975/76, VI/4, S. 632 f. 100  Ebenda, S. 632, Fn 2; siehe die Kommentare von Werner Marx und Claus Jäger in: Deutscher Bundestag, 233. Sitzung, 7. Wahlperiode, S. 16270 f.

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4.2.2 Die Gefahr grenzübergreifender Kontakte (2): Die Riesa-Petition Die ostdeutsche Ausreisebewegung und die Bedrohungsperzeption des MfS und der SED gelangten im August 1976 an einen Wendepunkt, als 33 Ausreiseantragsteller aus 16 Familien im sächsischen Riesa eine »Petition zur völligen Erlangung der Menschenrechte« unterzeichneten. Sie warfen der DDR vor, nicht nur gegen die KSZE-Schlussakte, sondern auch gegen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und die Verfassung der DDR verstoßen zu haben, indem sie ihnen die Ausreise verweigerte. Die Petition ging nicht nur an die DDR-Behörden, sondern auch an die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen und »die hohen Vertreter der KSZE-Teilnehmerstaaten«. Mielke informierte Honecker persönlich, dass der Verfasser der Petition, Dr. med. Karl-Heinz Nitschke, deren Übergabe an »einschlägige Feind- und andere Organisationen« in der Bundesrepublik organisiert habe – unter anderem die konservative Gesellschaft für Menschenrechte (GfM). Die Petition sei bereits in der westdeutschen Presse veröffentlicht worden und »wird zum Anlass einer Hetz- und Verleumdungskampagne gegen die DDR genommen«.101 Die organisatorische Tätigkeit Nitschkes und ihre transnationale Vernetzung mit westlichen NGO und Massenmedien trug zur wachsenden Bedrohungsperzeption des MfS und der SED bei und führte zu Honeckers Warnung vor einer »sogenannten Bürgerrechtsbewegung« von Ausreisewilligen mit Unterstützung aus dem Westen. Kennzeichnend für die besondere Lage der DDR im Vergleich zur UdSSR war: Während die sowjetischen Helsinki-Gruppen auf die KSZE-Schlussakte und die UNO-Menschenrechts­konvention verwiesen, um Druck auf die Regierung zur Achtung individueller Menschenrechte auszuüben, waren es im Falle der DDR die Ausreisewilligen, die sich öffentlich auf die gleichen Dokumente beriefen, um Druck auf die Regierung zugunsten ihrer Übersiedlungsersuchen auszuüben. Zur Durchsetzung ihrer Ziele waren auch sie bereit, sich wie die Moskauer Helsinki-Gruppe an westliche Regierungen, westliche NGO und die westlichen Massenmedien zu wenden. Im Gegensatz dazu war eine solche Berufung auf die Helsinki-Schlussakte bei ostdeutschen Oppositionellen, die in der DDR bleiben wollten, zu dieser Zeit relativ selten und die Einschaltung westlicher bzw. westdeutscher Massenmedien war für sie keine Selbstverständlichkeit. Für das MfS ergab sich die besondere Gefahr im Falle der Riesa-Petition aus der Tatsache, dass Personen in der DDR öffentlichkeitswirksam vorgingen und Gebrauch von westdeutschen »Feindorganisationen« und Journalisten machten. Es drohte ein Bündnis von »feindlichen« Kräften innerhalb und außerhalb der DDR. 101  Information Nr. 624/76 über die bisherigen Ergebnisse der Untersuchungen zu einer feindlich-negativen Konzentration von Bürgern der DDR, die im Zusammenhang mit ihrer Antragstellung auf Übersiedlung nach der BRD eine »Petition zur Erlangung der vollen Menschenrechte« unterzeichneten, 7.9.1976. In: Suckut (Hg.): DDR im Blick 1976, S. 209–212, hier 209 f.

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Das MfS reagierte schnell: Nitschke wurde am 20. August 1976 vom MfS festgenommen und im Januar 1977 u. a. wegen Nachrichtenübermittlung (§ 98 StGB) und staatsfeindlicher Hetze (§ 106 StGB) angeklagt. Andere Mitunterzeichner der Petition wurden ebenfalls verhört und festgenommen.102 Unter den »Nachrichten«, die Nitschke übermittelt hatte, waren die oben genannte Petition, Berichte über seine persönliche Lage, Kopien von Briefen und Entscheidungen von ostdeutschen Behörden gegen seine Ausreise sowie Passfotos von sich, seiner Frau und seiner Tochter. Er schickte sie hauptsächlich über seine Schwester in Westdeutschland an die GfM, Gerhard Löwenthal und andere vom MfS bekämpfte »Feindorganisationen«.103 Er sandte auch eine »Erklärung über [die] Verletzung der Menschenrechte durch DDR-Behörden« an UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim, den US-amerikanischen Senator Henry Jackson, die Ständige Vertretung, Amnesty International (Gruppe Österreich) und weitere westliche Menschenrechtsorganisationen.104 Die Staatsanwaltschaft Dresden erklärte: »Jede diesen Institutionen zugegangene Nachricht wird zur wüsten Hetze gegen die DDR genutzt.« Sie zitierte insbesondere die Aktivitäten der GfM zur Unterstützung Nitschkes – zum Beispiel eine Demonstration in Bonn in Mai 1976, »in deren Rahmen ein sogenannter ›Hungerstreik‹ und eine Unterschriftensammlung organisiert und Hetzflugblätter verteilt worden sind«105 und Nitschkes Petition als Flugblatt verbreitet worden sei.106 Nitschkes Schreiben an Löwenthal würde von diesem »zur Verstärkung seiner Hetz- und Wühltätigkeit gegen die DDR benutzt«. Die Staatsanwaltschaft Dresden schrieb in ihrer Anklageschrift: »Insbesondere wurde die dem ›ZDF-Magazin‹ zugegangene ›Petition‹ genutzt, um damit die angebliche Existenz einer sich organisierenden ›Opposition‹ in der DDR zu beweisen und die DDR der Verletzung der Menschenrechte zu bezichtigen.«107 Die Bemühungen Nitschkes und seiner Mitunterzeichner um Übersiedlung weiteten sich auch zu einem neuen Konflikt über einen bundesdeutschen Korrespondenten aus. Am 8. September funkte der Stellvertreter Operativ in Dresden, Oberst Paul Bormann, an Mielke in Berlin, dass der ARD-Fernsehjournalist Lothar Loewe nach Riesa gereist sei.108 Loewe war schon lange im Visier der Stasi. Vor seiner Akkreditierung im Dezember 1974 hatte sich die HA II zusammen mit dem MfAA dagegen gestellt, dem zuzustimmen, da die HV A Loewe als 102  Raschka, Johannes: Zwischen Überwachung und Repression – Politische Verfolgung in der DDR 1971 bis 1989. Opladen 2001, S. 102; Förster: Leiter der Abteilung I des Staatsanwaltes des Bezirkes Dresden, Anklageschrift gegen Dr. med. Karl-Heinz Nitschke, 28.1.1977. In: BStU, MfS, AU 2452/77, Bd. VIII, Bl. 304–335, hier 304. 103  Förster: Anklageschrift, 28.1.1977, Bl. 305–307. 104  Ebenda, Bl. 310. 105  Ebenda, Bl. 318. 106  Ebenda, Bl. 322. 107  Ebenda, Bl. 325. 108  Telegram, Oberst Bormann, Stellv. Operativ, Dresden, an MfS Berlin, der Minister, Generaloberst Mielke, 8.9.1976. In: BStU, MfS, AOPK 1499/84, Bd. 2, Bl. 181 f., hier 181.

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CDU-nah einstufte. Nachdem die SED seine Akkreditierung trotzdem genehmigt hatte, leitete die HA II/13 eine operative Personenkontrolle (OPK) »Alster« gegen ihn ein. Unzufrieden mit seiner Berichterstattung aus der DDR blockierte das MfS Loewes Antrag auf ein Interview mit Honecker während des KSZE-Gipfels in Helsinki und dokumentierte fortlaufend seine angeblichen Verstöße gegen die Journalistenverordnung.109 Im August 1975 wurde er von Günther Wehmann zu einem Gespräch in der Abteilung Journalistische Beziehungen (JB) des MfAA vorgeladen und wegen »Vergehen gegen die Rechtsordnung der DDR bzw. der Verletzung der Verhaltensnormen im Gastland« verwarnt. Der vom MfAA geführte Sündenkatalog Loewes enthielt u. a.: »provokatorische Fragestellung auf der internationalen Pressekonferenz anlässlich der Ostseewoche 1975, ob angesichts der KSZE die DDR nunmehr die Störungen gegen den RIAS einzustellen beabsichtigt«, und »freches, provokatorisches Verhalten am Telefon gegenüber Mitarbeitern der Abt. JB des MfAA«.110 Loewe schien im August 1976 zu erneutem »provokatorischen Auftreten« bereit. Aus Riesa berichtete Bormann, dass sich Loewe mit Nitschkes Frau Dagmar in Riesa getroffen und ihre Genehmigung bekommen habe, eine Sendung über den Fall in ihrem Haus zu drehen, wobei sie und andere Unterzeichner der Petition vor der Kamera interviewt würden. Nach der Weiterleitung von Bormanns Bericht an die Untersuchungsabteilung des MfS, die HA IX,111 wurden Frau Nitschke und einige andere Unterzeichner der Petition am folgenden Tag wegen Loewes Vorhaben vom MfS vernommen. Vermutlich war das Ziel ihre Einschüchterung und die Verhinderung von Loewes geplantem Interview. Loewe selbst wurde auf Vorschlag des MfS wegen seines Vorhabens von der Abteilung Journalistische Beziehungen (JB) des MfAA verwarnt.112 Viele der Mitarbeiter dieser Abteilung, mit denen Loewe und andere westliche Journalisten zu tun hatten, waren in IM- oder OibE-Vorgängen der HV A/X/4 109  Hannes Schwenger, Beobachtung rund um die Uhr – Die ständig akkreditierten ARD-Korrespondenten. In: Staadt, Jochen; Voigt, Tobias; Wolle, Stefan (Hg.): Operation Fernsehen: Die Stasi und die Medien in Ost und West. Göttingen 2008, S. 199–273, hier 201– 204. Während des Gipfeltreffens der KSZE in Helsinki hätte ein ADN-Journalist (IM »Peter«, XV/8286/73 der HA XX/7) einen »intensiveren Kontakt« mit ihm entwickeln und ihn entsprechend abschöpfen sollen. Während des Helsinki Gipfeltreffens wurde die Leitung »Peters« an den für die Aktion »Delphin« zuständigen Offizier, Major Rolf Rabe alias Richter, Referatsleiter der HV A/X/3, übertragen. Aufzeichnung Rabes an Major Reuter, HA XX/7, 28. August 1975. In: BStU, MfS, AIM 8418/91, Beifg. 1, Bl. 152. 110  Aussprache in der Abteilung Journalistische Beziehungen, 15.8.1975. In: BStU, MfS, AOPK 1499/84, Bd. 2, S. 116–177, hier 116. 111  Telegram, Oberst Bormann, Stellv. Operativ, Dresden, an MfS Berlin, der Minister, Generaloberst Mielke, 8.9.1976. In: BStU, MfS, AOPK 1499/84, Bd. 2, Bl. 181 f. 112  Vorschlag zur Reaktion auf das Vorhaben des ARD-Korrespondenten Löwe zur Durchführung eines Interviews mit Personen, die mit dem Strafverfahren gegen Dr. Nitschke in Zusammenhang stehen, 9.9.1976. In: BStU, MfS, AOPK 1499/84, Bd. 3, S. 2–4.

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geführt.113 Am 9. September wurde Loewe von Günther Wehmann aus der Abteilung JB, der im IM-Vorgang »Stoltera« geführt wurde, für ein Gespräch ins Pressezentrum bestellt. Wehmanns Vorgesetzter, Dr. Werner Claus (als OibE »Christoph« erfasst),114 warnte Loewe im Namen des MfAA, dass sein Vorhaben, mit »gewissen Personen« in Riesa Interviews zu führen, einen Verstoß gegen die Strafprozessordnung der DDR darstelle. Die Personen seien Zeugen in einem laufenden Verfahren (d. h. gegen Dr. Nitschke), und solche Interviews könnten als Zeugenbeeinflussung oder Behinderung der Staatsorgane bei ihren Untersuchungen betrachtet werden. Ein solcher Verstoß könne nach der Journalistenverordnung zu Loewes Ausweisung aus der DDR führen.115 Der Leiter der Abteilung Journalistische Beziehungen Wolfgang Meyer, der von der HV A/X/4 im IM-Vorgang »Hoffmann« geführt wurde und mutmaßlich als OibE der HV A/X116 agierte, leitete einen Bericht über die Aussprache mit Loewe direkt an Mielkes Büro.117 Die Aussprache mit Claus und Wehmann brachte Loewe zu dem Entschluss, weder Frau Nitschke noch die anderen Unterzeichner vor der Kamera zu interviewen. Trotzdem wurde Loewes Bericht über die »Petition zur vollen Erlangung der Menschenrechte« vor Nitschkes Haus gedreht und im Fernsehprogramm des Senders Freies Berlin »Kontraste« am 23. September in der Bundesrepublik ausgestrahlt. Auch Zuschauer in der DDR sahen diesen Fernsehbeitrag.118 Die HA II des MfS, deren Referat 13 für die »operative Kontrolle« westlicher Korres­ 113  Sowohl die in diesem Absatz genannten IM und OibE – »Stoltera«, »Christoph« und »Hoffmann« – als auch OibE »Peter« wurden von der HV A/X/4 geführt und ab Oktober 1976 von Leutnant Gisela Schmidt von der HV A/X/4. MfS, HV A/MD/6, SIRA-TDB 21: ZV8208285, ZV8260543, ZV8216388 u. ZV8216388. Zu Gisela Schmidt siehe BStU, MfS, HA KuSch/ AKG-KA HM. Rolf Muth von der Abteilung JB wurde im OibE-Vorgang »Peter« von der HV A/X/4 geführt. BStU, MfS, HA KuSch/AKG-KA HM; BStU, MfS, Abt. Fin./Abt. 6-BSK OibE; RoHo F16, Reg. Nr. XV/269/68; RoHo F22, Reg. Nr. XV/269/68; MfS, HV A/MD/6, SIRA-TDB 21, ZV8252142; BStU, MfS, HA II/Abt. 14-DOK. 114  RoHo F16, Reg. Nr. XV/401/73; RoHo F22, Reg. Nr. XV/401/73; MfS, HV A/ MD/6, SIRA-TDB 21, ZV8260543. Claus wurde von 1960 bis 1973 als IM der HV A/I erfasst. Siehe RoHo F16, Reg. Nr. XV/15289/60; RoHo F22, Reg. Nr. XV/15289/60. Siehe auch die Karte für Claus in der VSH-Karteikarte der HA II/14: BStU, MfS, HA II/Abt. 14 VSH. Nach SIRA-TDB 21 wurde Dr. Werner Claus von der HV A/X/4 ab dem 10.5.1973 in einer OibE-Akte (Personennebenakte, PNA) »Christoph« (XV/401/73) geführt. Die IM-Akte »Christoph« (Reg.-Nr. XV/15829/60) wurde am 15.1.1973 archiviert. 115  Loewe, Lothar: »Abends kommt der Klassenfeind«. Als Fernsehkorrespondent in der DDR (IV). In: Der Spiegel 36/1977 v. 29.8.1977, S. 128–140, hier 135. 116  Zu Meyer und IM-Vorgang »Christoph« siehe RoHo F16 u. F22, Reg.-Nr. XV/4392/61. Meyer wurde in der Kartei der HA II/14 als »OibE der HV A X« bezeichnet. Meyer, Wolfgang; BStU, MfS, HA II, Abt. 14-VSH. In der Kartei der Hauptamtlichen Mitarbeiter gibt es aber keine entsprechende Erfassung von Meyer als hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS. 117  Vermerk von Wolfgang Meyer, HA Presse, MfAA, 10.9.1976. In: BStU, MfS, HA IX, Bd. 5160, Bl. 1 f. 118  Loewe, Lothar: »Abends kommt der Klassenfeind«. Als Fernsehkorrespondent in der DDR (IV). In: Der Spiegel 36/1977 v. 29.8.1977, S. 136 f.

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pondenten zuständig war, behauptete MfS-intern, dass Loewe – »ein potenzieller Vertreter des Antikommunismus und treuer Gefolgsmann der westdeutschen CDU/CSU« – seine eigene Ausweisung provozieren wollte, um den laufenden Bundestagswahlkampf in Westdeutschland zugunsten der CDU/CSU zu beeinflussen.119 Obwohl es keinen Beweis für diese Behauptung gab, wartete die DDR bis nach den Bundestagswahlen am 3. Oktober 1976, um Loewe zu belangen. Zum Vorfall in Riesa fertigte die ZAIG eine Einzelinformation für den ZK-Sekretär für Agitation und Propaganda Werner Lamberz, der auch für die Westpresse zuständig war. Sie warnte am Beispiel von Loewes Berichterstattung aus Riesa, dass westdeutsche Korrespondenten ihre Arbeitsmöglichkeiten nach der DDR-Journalistenverordnung »ausnutzten und missbrauchten«, um »subversive Aktivitäten gegen die DDR« zu organisieren. Die ZAIG warf den Korrespondenten vor, dass sie Kontakt mit ostdeutschen Ausreisewilligen aufnahmen, nicht nur um sie in ihrem Übersiedlungswunsch zu stärken, sondern auch, um weitere Personen zur Stellung von Ausreiseanträgen zu beeinflussen. Durch die Veröffentlichung der Interviews in westlichen Massenmedien hätten die westlichen Korrespondenten »eine bestimmte Massenwirksamkeit« erreichen wollen.120 Obwohl westdeutsche Journalisten – dem ZAIG-Bericht zum Trotz – wohl nur über die Ausreiseproblematik berichteten, konnte ihre Tätigkeit – gewollt oder ungewollt – zum Anwachsen der Übersiedlungsersuchen beitragen, da ihre Berichte auch in weiten Teilen der DDR zu empfangen waren. Nach den Bundestagswahlen versuchten die DDR-Behörden, den Fall Loewe endlich abzuschließen. Am 27. Oktober 1976 lud Wolfgang Meyer Loewes Chef, den Intendanten des Norddeutschen Rundfunks (NDR) Martin Neuffer, für ein Gespräch in sein Büro ein. Er verlas eine lange Liste der angeblichen Verstöße Loewes gegen die Journalistenverordnung. Meyer schlug vor, dass Loewe sofort abberufen werde; die DDR würde unverzüglich seinen Nachfolger von der ARD akkreditieren. Auf diese Weise versuchte die DDR eine Ausweisung Loewes während der Koalitionsverhandlungen in Bonn – u. a. über die Deutschlandpolitik – zu vermeiden. Eine solche Lösung hätte auch öffentlichen Streit zwischen der DDR und der Bundesrepublik über die Auslegung von Korb III vermieden. Nier schlug in einem Gespräch mit Gaus am selben Tag die gleiche »elegante Lösung« vor. Sowohl Neuffer als auch Gaus wiesen den Vorschlag zurück.121

119  HA II, Information über die verstärkte provokatorische Tätigkeit des akkreditierten Fernseh-Korrespondenten der ARD in der DDR, Loewe, Lothar, 13.9.1976. In: BStU, MfS, AOPK 1499/84, Bd. 3, Bl. 9–14, hier 13. 120  Information Nr. 691/76 über gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR gerichtete Aktivitäten einer Reihe in der DDR akkreditierter BRD-Korrespondenten, 5.10.1976. In: Suckut (Hg.): DDR im Blick 1976, S. 237–244, hier 237–239. 121  Loewe, Lothar: »Abends kommt der Klassenfeind«. Als Fernsehkorrespondent in der DDR (V). In: Der Spiegel 37/1977 v. 5.9.1977, S. 156–172, hier 156 f.

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Nachdem Anfang Dezember 1976 die Regierungserklärung Helmut Schmidts wenig Positives im ostdeutschen Sinne gebracht hatte, gab es einen letzten Zwischenfall zwischen Loewe und den Machthabern in Ostberlin. Nach einem Autounfall seiner Frau, hinter dem er eine Stasi-Machenschaft vermutete, machte er am 21. Dezember 1976 seine berühmte Bemerkung im westdeutschen Fernsehen: »Hier in der DDR weiß jedes Kind, dass die Grenztruppen den strikten Befehl haben, auf Menschen wie auf Hasen zu schießen.« Überdies bemerkte er: »Die Zahl der Verhaftungen aus politischen Gründen nimmt im ganzen Land zu. Ausreiseanträge von DDR-Bürgern werden immer häufiger in drohender Form abgelehnt.« Am folgenden Tag wurde Loewe von Wehmann zu einem Gespräch mit Meyer ins Außenministerium bestellt.122 Alles nahm den gleichen Lauf wie ein Jahr zuvor bei Mettke. Meyer widerrief Loewes Akkreditierung wegen »Verleumdung des Staates und Volkes« der DDR und gab ihm 48 Stunden, »das Territorium der DDR zu verlassen«.123 Gaus protestierte bei Nier gegen die Ausweisung Loewes und erklärte, sie wie auch die fehlende Bereitschaft der DDR, einen Antrag auf Überprüfung der Entscheidung entgegenzunehmen, seien Verstöße gegen den III. Korb der Helsinki-Schlussakte. Nier erwiderte, dass die DDR als souveräner Staat eine solche Entscheidung treffen dürfe, und dass Loewes Tätigkeit eine »Einmischung in die inneren Angelegenheiten« der DDR darstelle und deshalb ein Verstoß gegen die KSZE-Schlussakte sei. Die Bundesrepublik erhob nach Loewes Ausweisung erneut Protest und die DDR wies ihn wieder zurück.124 Karl-Heinz Nitschke musste bis 1977 auf den Abschluss seines Falles warten. Das MfS hatte vor, gegen ihn einen Schauprozess zu veranstalten, um in den eigenen Reihen die Wachsamkeit gegenüber der neuen Strategie des »Gegners« zu erhöhen, der durch »die Behauptung der Verletzung von Menschenrechten« versuche, »Bürger der DDR zu ungerechtfertigten provokativen Forderungen zu inspirieren«.125 Es kam aber am Ende nicht zu dem vom MfS gewollten Prozess. Offenbar auf der Grundlage einer Entscheidung Honeckers wurden sowohl Nitschke als auch einige oppositionelle »Klienten« des Schutzkomitees (siehe oben 3.3.2) im September 1977 aus der Haft nach Westberlin entlassen bzw. abgeschoben. Der Grund dieser Entscheidung lag nahe – nämlich, der entsprechenden Kampagne in der westdeutschen und der Westberliner Presse ein Ende zu bereiten und potenzielle Kritik an der DDR auf der KSZE-Nachfolgekonferenz in Bel-

122  Ebenda, S. 172. 123  DzD VI/4, S. 994, Fn 4. 124  Ebenda, S. 994–1000. 125  Vorschlag [vermutlich der Staatssicherheit] zur Durchführung eines Prozesses vor dem 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Dresden vom 2.2.1977, zit. nach: Raschka: Zwischen Überwachung und Repression, S. 103.

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grad zu vermeiden.126 Honecker wollte Polemiken zwischen der DDR und der Bundesrepublik auf dem Belgrader Treffen möglichst vermeiden (siehe unten 4.5). 4.2.3 Das MfS und die Verschärfung der Bekämpfung von Ausreiseversuchen mittels des Strafrechts, 1976 bis 1977 Die Riesa-Petition war ein Wendepunkt in der Bedrohungswahrnehmung der Ausreisebewegung durch das MfS und die SED. Mielke zog für das MfS auf einer Dienstkonferenz am 27. September 1976 Konsequenzen: »Gegen hartnäckige Feinde müssen wir dabei mit aller Härte und Konsequenz vorgehen. Aber das muss rechtzeitig und auf entsprechenden operativen Materialien erfolgen und nicht erst – wie es beispielsweise in Riesa der Fall war –, wenn bereits größerer politischer Schaden entstanden ist.«127 In seiner Rede präsentierte Mielke dem MfS eine neue Kategorie von »Feinden«: die »hartnäckigen« Antragsteller128 auf ständige Ausreise. Im Gegensatz zu anderen, die einfach ihre Anträge stellten, nahmen die »Hartnäckigen« Kontakte zu Regierungsstellen, NGO und Massenmedien im Westen auf oder versuchten, Gruppen mit anderen Antragstellern zur Durchsetzung ihres gemeinsamen Anliegens zu bilden.129 Mielke erklärte: »Solche Personen sind unter strenger operativer Kontrolle zu halten und bei Vorliegen entsprechender Voraussetzungen in operativen Vorgängen zu bearbeiten.«130 Die Bezeichnung »hartnäckiger Antragsteller« blieb Teil des MfS-Wortschatzes bis zum Untergang der DDR.131 Obwohl Mielke noch einmal die Notwendigkeit der »Ausräumung« von »begünstigenden Bedingungen« für Übersiedlungsersuchen erwähnte und seine Kritik an »überspitztem dogmatischen Verhalten« gegenüber Ausreisewilligen durch bestimmte Partei- und Staatsfunktionäre wiederholte,132 stellte er klar, dass es sich bei den Ausreiseantragstellern im Allgemeinen »um feindlich-negative Kräfte handle, die […] sich mehr oder weniger als Feinde offenbaren und unter Berufung auf völkerrechtliche Dokumente, unter anderem Korb III der KSZE, gegen 126  »DDR« schiebt fünf prominente Kritiker in den Westen ab. In: Die Welt v. 29.8.1977. Nitschke wurde nachträglich auf die Liste der Freilassungen über den Häftlingsfreikauf vom 14.9.1977 gesetzt. Siehe die Notiz »H III/77 NT«; BStU, MfS, HA IX, Bd. 23403, Bl. 97–103, hier 101. 127  Referat des Gen. Minister auf der zentralen Dienstkonferenz, 27.9.1976. In: BStU, MfS, ZAIG Nr. 8671, Bl. 3–91, hier 76. 128  Mielke nannte sie in seiner Rede, »hartnäckige Feinde«. Ebenda, Bl. 76. 129  Ebenda, Bl. 75 f.; Hanisch: DDR im KSZE-Prozess, S. 235. 130  Referat des Gen. Minister, 27.9.1976, Bl. 76. 131  Hanisch: DDR im KSZE-Prozess, S. 235, 241, 247, 300; Eisenfeld, Bernd: Flucht und Ausreise – Macht und Ohnmacht. In: Kuhrt, Eberhard (Hg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft. Opladen 1999, S. 381–405, hier 387. 132  Referat des Gen. Minister, 27.9.1976, Bl. 78 f.

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unsere Staats- und Gesellschaftsordnung vorgehen«.133 Der Schwerpunkt von Mielkes Rede lag auf der Notwendigkeit repressiveren Vorgehens gegen alle Ausreiseantragsteller. Das MfS, so Mielke, hatte entsprechende Entwürfe für »zentrale Entscheidungen« der Partei- und Staatsführung vorbereitet.134 Diese Entwürfe wurden von der ZAIG in Konsultation mit der HA VII (Überwachung des MdI), der HA IX (Untersuchung) und der ZKG (Flucht, Übersiedlung) in Form eines Befehlsentwurfs Mielkes und eines Vorschlages über weitere Maßnahmen anderer Partei- und Staatsorgane – hauptsächlich im Bereich Inneres – gefertigt.135 Ein zentraler Bestandteil der Entwürfe war die Verschärfung der Rechtslage gegen Ausreisebemühungen und vor allem die Unterdrückung von hartnäckigen Antragstellern mit grenzüberschreitenden Kontakten. Am 26. Oktober traf Honecker die »zentrale Entscheidung«, auf die das MfS gewartet hatte. In seinem Telegramm an die 1. Sekretäre der SED-Bezirksleitungen, in dem er vor der Gefahr einer von »revanchistischen Kreisen« organisierten »sog. Bürgerrechtsbewegung« in Form der Ausreisebewegung warnte, kündete er ein repressiveres Vorgehen gegen Antragsteller auf ständige Ausreise an. Honecker befahl den »zuständigen Organen«, alle Anträge abzulehnen, die sich auf die »Schlussakte von Helsinki« beriefen, und die Antragsteller »auf das Ungesetzliche ihrer Handlung hinzuweisen«. Er fügte hinzu: »Es versteht sich von selbst, dass jeder, der es nicht unterlässt, Verleumdungen gegenüber dem Staat zu verbreiten, den Gesetzen der Republik zuwiderhandelt.« 136 Einen Tag nach Honeckers Telegramm richtete Mielke ein Schreiben an die Leiter aller Diensteinheiten zur Umsetzung von Honeckers Entscheidung. Mielke ging in seinem Schreiben noch weiter als der SED-Generalsekretär. Die Erwähnung der KSZE-Schluss­a kte oder anderer »Begründungen« sollte ebenso zur Ablehnung von Ausreiseanträgen führen wie andere, von der Staatsmacht als aufsässig empfundene Verhaltensweisen: der Vorwurf gegen die DDR, sie würde »völkerrechtliche Verpflichtungen oder innerstaatliche Rechtvorschriften« missachten, die Verwendung »anderer feindlicher ›Argumentation‹«, die Einschaltung von »Personen, Institutionen oder Organisationen, die von außen gegen die DDR wirksam werden«, das Zeigen eines »feindlich-negativen oder renitenten« Verhaltens oder die Androhung von »Straftaten, feindlich-negativen Demonstrativhandlungen bzw. anderer die DDR schädigender Handlungen«.137

133  Ebenda, Bl. 70. 134  Referat des Gen. Minister, 27.9.1976, Bl. 69. 135  Generalleutnant Dr. Wolfgang Irmler, Leiter ZAIG, an Mielke, 18.3.1977. In: BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 4802, S. 1 f., hier 1. 136  Anlage Nr. 2 zum Protokoll Nr. 22/76 vom 26.10.1976 [Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees]. In: SAPMO BA, DY 30, J IV 2/2-1641, Bl. 14. 137  Schreiben von Mielke an die Leiter aller Diensteinheiten, 27.10.1976. In: BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 3705, Bl. 1–3, hier 1.

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Honeckers Telegramm diente auch als Signal für das MfS, dass es nun einen Teil der Vorschläge der ZAIG zu Ausreisefragen durchsetzen konnte: den Teil zur Verschärfung der Rechtslage gegen Ausreisebemühungen. Diese Aspekte der Entwürfe waren Thema in Beratungen der Untersuchungsabteilung (HA IX) des MfS mit dem Generalstaatsanwalt der DDR Josef Streit und »anderen zuständigen leitenden Mitarbeitern der zentralen Justizorgane«. Über diese Kontakte erarbeiteten das MfS und Streit eine gemeinsame Linie,138 und am 26. Oktober 1976 ließ Streit die daraus resultierenden Empfehlungen über den Leiter der ZK-Abteilung für Staats- und Rechtsfragen Klaus Sorgenicht Honecker zukommen,139 der sie am 3. November 1976 genehmigte.140 Am 15. November 1976 gab Innenminister Dickel entsprechende Leitlinien an die Deutsche Volkspolizei (DVP) weiter.141 Darin standen Empfehlungen, welche Bestimmungen des Strafgesetzbuches (StGB) der DDR gegen Ausreisewillige anzuwenden sind, die Kontakte zum Westen aufnahmen: »Nachrichtenübermittlung« (§ 98) wegen der Weiterleitung von Informationen über ihre Fälle an westliche Behörden oder nicht staatliche Akteure; »staatsfeindliche Verbindungsaufnahme« (§ 100) wegen ihre Kontaktaufnahme zu diesem Zweck; »staatsfeindliche Hetze« (§ 106) wegen Weiterleitung von DDR-kritischen Informationen zu ihren Fällen an »Publikationsorgane, die einen Kampf gegen die DDR führen« – d. h. westlicher Rundfunk und Fernsehen.142 Im Allgemeinen sollten auch Demonstrativhandlungen bestraft werden: »In anderen Fällen der Diskriminierung und vor allem des provokatorischen Auftretens in der Öffentlichkeit [sollen] die Tatbestände der Staatsverleumdung [§ 220], der Zusammenrottung [§ 217], des Widerstandes gegen staatliche Maßnahmen [§ 212] und der Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit [§ 214]« überprüft werden, so Dickel.143 Die vom MfS initiierte Verschärfung der Rechtsanwendung gegen Ausreisewillige zeigte schnell Wirkung. Die Ständige Vertretung der Bundesrepublik stellte Ende November 1976 fest, dass die »Zahl der ablehnenden Bescheide« für Ausreiseanträge in den letzten Wochen »erheblich zugenommen« habe und dass erneute Anträge nach einer Ablehnung von den ostdeutschen Behörden nicht mehr angenommen würden. Antragsteller würden u. a. gewarnt, dass »die wie138  Vermerk von Oberst Dr. Fister, Leiter, HA IX, 1.11.1976. In: BStU, MfS, HA IX, Bd. 1983, Bl. 17. 139  Brief, Streit an Sorgenicht, 26.10.1976. In: ebenda, Bl. 19–22. 140  Aufzeichnung Sorgenichts an Honecker, 29.10.1976. In: BStU, MfS, ZAIG Nr. 7304, Bl. 1–4. 141  Schreiben des Ministers des Innern und Chefs der Deutschen Volkspolizei, 15.11.1976. In: Lochen, Hans-Hermann; Meyer-Seitz, Christian (Hg.): Die geheimen Anweisungen zur Diskriminierung Ausreisewilliger. Dokumente der Stasi und des Ministeriums des Innern. Köln 1992, S. 361–368. 142  Ebenda, S. 365 f.; Raschka, Johannes: Justizpolitik im SED-Staat. Anpassung und Wandel des Strafrechts während der Amtszeit Honeckers. Köln, Weimar, Wien, 2000, S. 97. 143  Schreiben des Ministers des Innern, 15.11.1976, S. 366.

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derholte Antragstellung […] ungesetzlich« sei und dass »kein Rechtsanspruch auf Ausreise« bestehe. Sanktionen gegen Antragsteller seien verschärft worden. Die StäV konstatierte: »Während bisher nachteilige Auswirkungen für die Antragsteller regelmäßig erst im Verlauf des Ausreiseverfahrens eintraten, wird jetzt häufig schon die Wiederholung des Ausreiseantrages selbst mit Repressalien bedroht.«144 Es würde öfter »auf die Möglichkeit einer Strafverfolgung bzw. Inhaftierung hingewiesen«. »Häufig« seien »unbestimmte Drohungen (›Sie müssen die Konsequenzen tragen‹)« ausgesprochen worden. In Einzelfällen würden »die Einweisung in eine psychiatrische Anstalt und die Entziehung des Sorgerechtes für die Kinder angedroht«.145 Es gebe nun auch Druck auf Antragsteller, ihre »Ausreiseanträge – zum Teil durch schriftliche Erklärung – ausdrücklich zurückzunehmen«. In solchen Fällen würden manchmal »Vergünstigungen in Aussicht gestellt (Wohnraumbeschaffung, Verbesserungen am Arbeitsplatz), die allerdings nicht immer eingehalten werden«.146 Am wichtigsten war nach dem Bericht der Ständigen Vertretung für die ostdeutschen Behörden die Vermeidung von öffentlichkeitswirksamen Handlungen: Besucher [der StäV] berichteten wiederholt davon, dass sie während oder im unmittelbaren Anschluss an eine Vorsprache bei der zuständigen Verwaltungsbehörde von Beamten des MfS oder der Kriminalpolizei zu oftmals vielstündigen Vernehmungen abgeholt worden seien. Neben persönlichen Verhältnissen der Antragsteller seien auch Westkontakte, Beziehungen zu westlichen Massenmedien und Besuche in der StäV Gegenstand der Befragung gewesen. Mehreren Besuchern wurde ausdrücklich auferlegt, sich nicht mit Massenmedien in Verbindung zu setzen oder Angaben über den Stand des Verfahrens in den Westen gelangen zu lassen. […] Der Ständigen Vertretung sind in der letzten Zeit zwölf Festnahmen von Ausreisewilligen bekannt geworden. Dabei handelt es sich zumeist um Antragsteller, die Demonstrationsakte begangen, geplant oder angekündigt hatten, oder um Personen, die der Gruppenbildung verdächtigt wurden (sogenannte Rädelsführer). In einigen Fällen wurden Festnahmen offenbar auf Aussagen in der Begründung von Ausreiseanträgen gestützt, die als Staatsverleumdung oder Hetze qualifiziert wurden.147

Das MfS konnte die restlichen Empfehlungen der ZAIG in Sachen Ausreise durchsetzen, nachdem Honecker Anfang 1977 dem MfS befahl, eine Arbeitsgruppe MfS – MdI zu gründen und anzuleiten, die weitere Maßnahmen zur »Unterbindung rechtswidriger Versuche von Bürgern der DDR, die Übersiedlung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin zu erreichen«, für das

144  Vorlage des Ministerialrats Hoesch an den Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland Gaus, 29.11.1976, Dok. Nr. 260. In: DzD VI/4, S. 890–892, hier 890. 145  Ebenda, S. 890 f. 146  Ebenda, S. 891. 147 Ebenda.

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Sekretariat des ZK vorbereiten sollte.148 Am 16. Februar 1977 genehmigte das ZK-Sekretariat unter Honeckers Vorsitz einen von der Arbeitsgruppe verfassten Beschluss, dem Mielke, Dickel, Fischer und die ZK-Abteilungen für Sicherheits- bzw. Staats- und Rechtsfragen zugestimmt hatten,149 und am 8. März genehmigte Stoph eine etwas ausführlichere Fassung als Verfügung Nr. 34/77 des Vorsitzenden des Ministerrats.150 Sowohl der Beschluss des ZK-Sekretariats als auch Stophs Verfügung kodifizierten das vom MfS beförderte und vom MdI bereits eingeleitete Prozedere in Ausreisefällen.151 Zugleich sollte festgestellt werden, ob bestimmte Probleme zu dem Ausreiseantrag – zum Beispiel eine Wohnungsnotlage – geführt hatten. Wenn das zutraf, konnten Schritte eingeleitet werden, um den Antragsteller für die DDR zurückzugewinnen.152 Antragsteller, die Kontakt mit dem Westen aufnahmen oder sonst drohten, öffentlichkeitswirksam zu werden, sollten dagegen vor rechtlichen Konsequenzen gewarnt werden.153 Wenn dies nicht wirkte, seien »strafrechtliche, arbeitsrechtliche und alle anderen Mittel des sozialistischen Rechts konsequent und differenziert anzuwenden«.154 Arbeitsrechtlich konnten Antragsteller gekündigt werden, wenn sie »Leitungsaufgaben zu erfüllen haben, in ihrer Tätigkeit Verantwortung für die Erziehung ihnen anvertrauter Kinder und Jugendlicher tragen oder an volkswirtschaftlich wichtigen Produktionsanlagen arbeiten«.155 Diese Entscheidung kam persönlich von Honecker156 und ignorierte den Vorbehalt von Mielke und vermutlich auch noch anderen, Kündigungen für Personen nur in sicherheitsrelevanten Bereichen vorzunehmen. Im Allgemeinen würden Kündigungen, so Mielke, die Verbindung des Antragstellers zur DDR-Gesellschaft weiter schwächen und eine mögliche »Rückgewinnung« für die DDR verhindern.157 Die strafrechtlichen Konsequenzen für hartnäckige Antragsteller blieben bis dahin die gleichen, die im Herbst 1976 eingeführt bzw. geklärt oder bestätigt worden waren. Aber im Frühling 1977 kam es zu einer weiteren Verschärfung. 148  Mielkes Büro lieferte den fertigen Entwurf an Honecker am 11. Februar weiter. Siehe den Eintrag im Postausgangsbuch des SdM, 11.2.1977. In: BStU, MfS, SdM Nr. 543, S. 160. 149  Protokoll Nr. 15 der Sitzung des Sekretariats des ZK am 16. Februar 1977; SAPMO BA, DY 30, J IV 2/3A-2940, S. 1–11, hier 2 f. und Anlage, Vorlage für das Sekretariat des ZK, o. D.; ebenda, S. 12–17, hier 12 f. 150  Verfügung Nr. 34/77 des Vorsitzenden des Ministerrates, 8.3.1977. In: Lochen; MeyerSeitz (Hg.): Die geheimen Anweisungen, S. 44–51. 151  Vorlage für das Sekretariat des ZK, 16.2.1977, S. 15; Verfügung Nr. 34/77, S. 45. 152  Raschka: Justizpolitik im SED-Staat, S. 98. 153  Vorlage für das Sekretariat des ZK, 16.2.1977, S. 15 f.; Verfügung Nr. 34/77, S. 45 f. 154  Vorlage für das Sekretariat des ZK, 16.2.1977, S. 16; Verfügung Nr. 34/77, S. 46. 155  Verfügung Nr. 34/77, S. 49. 156  Siehe die handschriftlichen Korrekturen und Kommentare Honeckers in: Aufzeichnung Sorgenichts an Honecker, 29.10.1976, Bl. 4. 157  Hanisch: DDR im KSZE-Prozess, S. 159.

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Parallel zur Diskussion im ZK-Sekretariat zur »Unterbindung« der Welle von Übersiedlungsersuchen im Februar 1977 fanden Diskussionen über den Entwurf des 2. Strafrechtsänderungsgesetzes (StÄG) statt. Der Entwurf wurde bis März von den Ministerien der Justiz und des Innern, dem MfS, der Generalstaatsanwaltschaft und den ZK-Abteilungen für Staats- und Rechtsfragen sowie Sicherheitsfragen im März abgestimmt und von Honecker am 17. März an die anderen Mitglieder des Politbüros verteilt. Sie genehmigten den Entwurf schon am folgenden Tag »im Umlauf«.158 Ein Teil der Änderungen im 2. StÄG basierte auf der von der MfS-MdI-Arbeitsgruppe ausgearbeiteten Vorlage für das ZK-Sekretariat zu Ausreisefragen.159 In § 106 des StGB (Staatsfeindliche Hetze) wurde »Publikationsorgane« durch »Organisationen, Einrichtungen oder Personen«, die »einen Kampf gegen die DDR führen«, ersetzt. Antragsteller oder Oppositionelle konnten nun zum Beispiel auf Basis ihrer Kontakte zu einem einzelnen Journalisten verurteilt werden, ohne dass der SED-Staat beweisen musste, dass eine westliche Zeitschrift oder ein Radio- bzw. Fernsehsender »einen Kampf gegen die DDR« führte.160 Es war deshalb nicht überraschend, dass es im Jahr 1977 dreimal mehr Verurteilungen (208 Fälle) wegen Staatsfeindlicher Hetze als im Jahr 1976 (66 Fälle) gab.161 Änderungen wurden auch in § 214 (Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit) vorgenommen, damit »provokative Auftritte« von Ausreisewilligen gegenüber Mitarbeitern der Abteilung Inneres leichter bestraft werden konnten. § 220 (Staatsverleumdung) wurde in Öffentliche Herabwürdigung umbenannt, damit öffentliche Auftritte oder Demonstrationen von Ausreisewilligen leichter verfolgt werden konnten.162 Eine Empfehlung zur Verschärfung der Rechtslage lehnte Honecker in der Vorlage zum 2. StÄG ab: eine Umbenennung von § 221 Herabwürdigung ausländischer Persönlichkeiten in Störung der internationalen Beziehungen, verbunden mit einer entsprechenden Änderung dessen Inhalts. Der geänderte Paragraf hätte dazu dienen sollen, die DDR wirksamer vor »Diskriminierung durch Verbreiten falscher Nachrichten im Ausland« zu schützen, die »geeignet sind, den Interessen der DDR zu schaden«, und um »insbesondere den Veröffentlichungen durch westliche Massenmedien« entgegenzuwirken. Vermutlich fürchtete Honecker in den Monaten vor dem Belgrader Treffen und neuen Verhandlungen mit der Bundesregierung, zusätzliche Gründe für internationale Kritik an der DDR zu liefern.163 Er genehmigte den neuen Paragrafen aber später mit kleinen Änderungen als Bestandteil des 3. StÄG von 1979 – u. a. mussten die übermittelten Nachrichten nicht mehr »falsch« sein.164 Bis dahin mussten die Justiz158  Raschka: Justizpolitik im SED-Staat, S. 101 f. 159  Ebenda, S. 107. 160  Ebenda, S. 111. 161  Ebenda, S. 106. 162  Ebenda, S. 111. 163  Ebenda, S. 111 f. 164  Ebenda, S. 112, 174.

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organe der DDR und das MfS sich mit einer Verschärfung der Auslegung der §§ 100 (Staatsfeindliche Verbindungen) und hauptsächlich 98 (Sammlung von Nachrichten) begnügen. Das Oberste Gericht der DDR entschied, dass es in diesen Paragrafen nicht (mehr) um den nachrichtendienstlichen Charakter der Nachrichten ging, sondern um »die von der betreffenden feindlichen Stellen konkret ausgeübte Art der gegen uns [die DDR] gerichteten Tätigkeit«.165 Auf einer Konferenz der Justiz- und Sicherheitsorgane am 22. April 1977 rechtfertigte der stellvertretende Justizminister Stephan Supranowitz die Änderung im 2. StÄG: Die »aggressiven Einmischungsversuche« von »einflussreichen imperialistischen Kräften« in der DDR »unter dem Deckmantel der Menschenrechte« seien »auch mit strafrechtlichen Mitteln entschieden zurückzuweisen«.166 Ironischerweise wurde der Befehlsentwurf der ZAIG von Oktober 1976, dessen Inhalt in der langen Kette von Schreiben, Anweisungen und Verfügungen zu Ausreisefragen von Oktober 1976 bis Februar 1977 praktisch übernommen und umgesetzt wurde, von Mielke erst am Ende derselben langen Entscheidungskette am 13. März 1977 als Befehl 6/77 genehmigt. Der Inhalt des Befehls entsprach selbstverständlich Dickels Schreiben von November 1976 und Stophs Verfügung Nr. 34/77.167 Er präzisierte darüber hinaus den Beitrag der einzelnen MfSDienst­einheiten zur Unterstützung der anderen staatlichen Organe mit geheimpolizeilichen und -dienstlichen Mitteln bei der »Vorbeugung, Verhinderung und Bekämpfung feindlich-negativer Handlungen« im Zusammenhang mit »rechtswidrigen« Übersiedlungsersuchen.168 Dass die ZKG »die erforderlichen anleitenden und koordinierenden Aufgaben bekam«, die Ausreisebewegung zu bekämpfen, zeigt, dass die Ausreisebewegung begann, in der Bedrohungswahrnehmung des MfS den »kriminellen Menschenhandel« zu überschatten.169 Vielleicht war das wichtigste Ergebnis der neuen Bemühungen des MfS, dass alle Übersiedlungsersuchen von Menschen im arbeitsfähigen Alter, die nicht pflegebedürftig waren, von nun an als »rechtswidrig« zu betrachten waren. Der Beschluss des ZK-Sekretariats erklärte: »In den Rechtsvorschriften der DDR ist ein Recht zur Übersiedlung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin nicht 165  Ebenda, S. 112 f. 166  Ebenda, S. 114. 167  Generalleutnant Dr. Irmler, Leiter ZAIG, an Mielke, 18.3.1977, S. 1 f. 168  Mielke, Befehl Nr. 6/77 zur Vorbeugung, Verhinderung und Bekämpfung feindlich-negativer Handlungen im Zusammenhang mit rechtswidrigen Versuchen von Bürgern der DDR, die Übersiedlung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin zu erreichen, sowie zur Unterbindung dieser rechtswidrigen Versuche, 18.3.1977. In: Lochen; Meyer-Seitz (Hg.): Die geheimen Anweisungen, S. 23–40. 169  Eisenfeld, Bernd: Die Ausreisebewegung – eine Erscheinungsform widerständigen Verhaltens. In: Poppe, Ulrike; Eckert, Rainer; Kowalczuk, Ilko-Sascha (Hg.): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung: Formen des Widerstands und der Opposition in der DDR. Berlin 1995, S. 192–223, hier 212.

»Entspannungsfeindliche Kräfte« in der Bundesrepublik

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vorgesehen.«170 Es gab nur wenige Ausnahmen – zum Beispiel für Familien­ zusammenführung und für Eheschließungen mit Staatsbürgern anderer Staaten –, die im Voraus von DDR-Behörden genehmigt wurden. Darüber hinaus wurde der Ministerrat beauftragt, das »einheitliche, abgestimmte Vorgehen aller staats- und wirtschaftsleitenden Organe, Betriebe, Kombinate und Einrichtungen sowie gesellschaftlichen Organisationen« zu sichern, damit die Ausreisewilligen dazu bewegt werden konnten, ihren Übersiedlungsantrag zurückzuziehen oder – noch besser – gar nicht erst zu stellen.171 Nach Mielke war das Ziel von Stophs Verfügung (und deshalb auch der Vorlage der MfS-MdI-Arbeitsgruppe für das Sekretariat des ZK), dass die »Unterbindung« von »rechtswidrigen« Übersiedlungsersuchen als »gesamtgesellschaftliches Anliegen« betrachtet wurde.172 Nach Einschätzung der ZAIG lief in der Bundesrepublik eine »Kampagne, die DDR zu verleumden und ihr im Hinblick auf die KSZE-Folgekonferenz in Belgrad zu unterstellen, durch eine ›restriktive Politik‹ und ›fortgesetzte Verstöße‹ gegen ›geltende Verträge und geltendes Recht‹ den Entspannungsprozess ›vorsätzlich zu stören‹«. Diese »Kampagne« wurde offenbar durch den Erfolg des MfS, den SED-Staat auf ein härteres Vorgehen gegen Ausreiseantragsteller zu orientieren, sogar verstärkt. Das Durchsickern von Stophs Verfügung an die westdeutsche Presse brachte, so die ZAIG, einen »neuen Höhepunkt dieser Kampagne der gegnerischen Massenmedien«.173 Der »Spiegel« berichtete zum Beispiel über die Verfügung, dass sie »eindeutig gegen die Prinzipien« der von der DDR »unterzeichneten KSZE-Schlussakte« verstößt.174 Der SED-Staat würde nun versuchen, die Schmidt-Regierung durch politischen Druck dazu zu bewegen, sich gegen die angebliche »Kampagne« der westdeutschen Medien und die Flut von Ausreiseanträgen zu stellen.

4.3 Das MfS und »entspannungsfeindliche Kräfte« in der Bundesrepublik Nach »Helsinki« befanden sich die SED und das MfS in einem Kampf nicht nur gegen eine wachsende Anzahl von Antragstellern, sondern auch gegen westliche Stellen, die ihr Vorhaben unterstützten – zum Beispiel die Ministerien und Auslandsvertretungen der Bundesrepublik und westdeutsche Politiker. Noch schlim170  Vorlage für das Sekretariat des ZK, 16.2.1977, S. 5. 171  Ebenda, S. 17. 172  Mielke, Befehl Nr. 6/77, S. 33. 173  MfS, ZAIG, Hinweise auf Aktivitäten des Gegners, Bürger der DDR zu inspirieren und zu beeinflussen, rechtswidrige Ersuchen auf Übersiedlung in die BRD zu stellen, 16.5.1977. In: BStU, MfS, AG XVII, Bd. 64, Bl. 42–47, hier 42. 174  Neue Linie. In: Der Spiegel 22/77 v. 25.5.1977, S. 52 f., hier 53. Der Artikel wurde von der ZAIG zitiert: ebenda, Bl. 43.

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mer für den Ruf der DDR waren die Aktivitäten verschiedener westdeutscher Nichtregierungsorganisationen, die das Los von Antragstellern publizierten und benutzten, um die DDR zu diskreditieren und vor der interna­tionalen Öffentlichkeit wegen Menschenrechtsverletzungen – besonders vor und während KSZETreffen – anzuklagen. Bis zum Ende der DDR führte das MfS einen regelrechten Kampf gegen solche Organisationen wie die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGfM), den Verein »Hilferufe von drüben e. V.« und die »Arbeitsgemeinschaft 13. August.«175 Diese Organisationen galten aus Sicht des MfS, ebenso wie die Unionsparteien CDU und CSU, von denen sie zum Teil initiiert waren, als »entspannungsfeindliche Kräfte«. Die CDU/CSU war die einzige große politische Partei in Westeuropa, die gegen die KSZE-Schlussakte gestimmt hatte.176 Nach ihrer Unterzeichnung setzte sich die CDU/CSU für eine offensivere Auslegung des Prinzips 7 und des Korbes III gegenüber dem Osten und vor allem der DDR ein. Das MfS vermerkte schon im Oktober 1975, dass die CDU/CSU die Schmidt-Regierung auffordere, ein weitreichendes Programm der deutsch-deutschen Kontakte auf der Basis von Korb III auszuarbeiten,177 und dass sie auch beabsichtige, »alle ›Verstöße‹ der DDR gegen das Schlussdokument der KSZE« zu »erfassen«.178 Das war nicht nur eine Frage der Außenpolitik. Die CDU/CSU und ihr Kanzlerkandidat Helmut Kohl versuchten sich in der Bundestagswahl 1976 gegenüber den Regierungsparteien in Fragen der Menschenrechte in Osteuropa und der menschlichen Kontakte zu profilieren.179 175  Zu GfM/IGfM vgl. Wüst, Jürgen: Menschenrechtsarbeit im Zwielicht: zwischen Staatssicherheit und Antifaschismus. Bonn 1999. Zu Hvd siehe Löwenthal, Gerhard; Kamphausen, Helmut; Clausen, Claus P.: Hilferufe von drüben: eine Dokumentation wider das Vergessen. 3. Aufl., Holzgerlingen 2002. 176  Schlotter, Peter: Die KSZE im Ost-West-Konflikt: Wirkung einer internationalen Institution. Frankfurt/M. 1999, S. 53, Fn 15. Siehe auch Schaefer, Bernd: »Europe must not become Greater Finland«: Opponents of the CSCE – the German CDU/CSU and China. In: Wenger; Mastny; Nuenlist (Hg.): Origins of the European Security System, S. 124–141, hier 124. 177  MfS, ZAIG, Hinweise auf erste Reaktionen westlicher Massenmedien zu den Ergebnissen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, August 1975. In: BStU, MfS, HA VI, Bd. 20707, Bl. 47–54, hier 53. 178  Ohne Titel und Autor [Problemübersicht und Maßnahmenkatalog des MfS zur KSZE], ca. Oktober 1975 (siehe Fn 21), Bl. 303. 179  Telegramm 6149 aus Bonn (1976BONN06149), 12.4.1976 und Telegramm 13143 aus Bonn (1976 BONN13143), 5.8.1976. In: CFPF, 1973–1979; RG 59, NARA, AAD. Der Pressedienst der CDU/CSU, Union in Deutschland (UiD), erklärte z. B. 1977: »Die SPD/FDP diskutiert und protestiert bei jeder Gelegenheit über die Verletzung der Menschenrechte in Südamerika, Afrika oder im westlichen Europa, wie z. B. in Spanien. Gegenüber den kommunistischen Staaten Osteuropas hält man sich auffallend zurück. Statt Menschenrechtsverletzungen anzuprangern, wo immer sie sich abspielen, vertritt die SPD/FDP gegenüber den kommunistischen Staaten eine Politik des Wohlverhaltens.« Für die Menschenrechte muss kämpfen, wer sie nicht verlieren will. In: UiD-Dokumentation 5/77, Konrad-Adenauer-Stiftung, Publikationen, http:// www.kas.de/wf/doc/kas_25740-544-1-30.pdf?110902100738, S. 1–8, hier 7.

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Sowohl Breschnew und Honecker als auch Mielke180 waren längst überzeugt, dass ein Sieg der SPD/FDP-Regierungskoalition in den westdeutschen Wahlen 1976 eine Notwendigkeit war, um die Gewinne in der Entspannungspolitik zu bewahren und die militärische Entspannung voranzubringen. Die Sowjetunion, die DDR und ihre jeweiligen Geheimdienste wollten entsprechende Schritte unternehmen, um der sozialliberalen Koalition Wahlhilfe zu leisten. Der KGB hatte den osteuropäischen »Bruderorganen« schon im Jahr 1974 klargemacht, dass sie alle einen Beitrag zum Wahlsieg der SPD/FDP-Koalition und zur Aufrechterhaltung bzw. Weiterentwicklung ihrer Ost- und Entspannungspolitik zu leisten hatten. Der KGB leitete eine gemeinsame Kampagne von aktiven Maßnahmen der Aufklärungsorgane ein: die Operation »Rubikon«. Sie sollte dem von Breschnew persönlich gesetzten Ziel181 dienen, dass die Bundesrepublik den Rubikon zur Entspannungs- und Abrüstungspolitik endgültig überschreitet. Bestandteile dessen waren die Fortsetzung der SPD/FDP-Regierung und die gleichzeitige Schwächung und Beeinflussung der CDU/CSU, damit bei Macht­übernahme der Entspannungskurs fortgesetzt würde.182 Im Mai 1976 informierte der stellvertretende Leiter der Desinformationsabteilung (X) der HV A seinen tschechoslowakischen Amtskollegen über einige aktive Maßnahmen der HV A/X zur Beeinflussung der westdeutschen Wahlkampagne zugunsten der Regierung Schmidt: die Gründung von linksorientierten Wählerinitiativen gegen die CDU/CSU in einigen Bundesländern und die Veröffentlichung eines Buchs mit dem Titel »Schwarzbuch: Strauß, Kohl & Co«.183 Das Buch, 180  Stenografische Niederschrift der Verhandlungen der Partei- und Staatsdelegationen der DDR und der UdSSR in Moskau, 6.10.1975. In: Hertle; Jarausch (Hg.): Risse im Bruderbund, S. 90–112., hier 103; Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit dem Generalsekretär des ZK der KPdSU, Breschnew, in Moskau, 30.10.1974. In: AAPD 1974/II, S. 1379–1395, hier 1391. Ausführungen Erich Honeckers anlässlich des Treffens mit Leonid I. Breschnew in Moskau, 17.6.1975; SAPMO BA, DY 30/2377, Bl. 26–40, hier 35. Mielke, Referat auf der Dienstversammlung in der Bezirksverwaltung Rostock zur Entbindung des Genossen Generalmajor Kraus und zum Einsatz des Genossen Oberst Mittag in die Funktion des Leiters der Bezirksverwaltung, 27.6.1974. In: BStU, MfS, SdM, Bd. 1293, Bl. 1–34, hier 30 f. 181  Breschnew hatte auf einer Beratung des PBA des Warschauer Vertrags im April 1974 als Ziel für die sozialistischen Länder gegenüber der Bundesrepublik gesetzt: »die Schaffung eines Systems von Verpflichtungen, von realistischen politischen und ökonomischen Beziehungen, das auf der einer Seite zu einer Konsolidierung der positiven Tendenzen der gegenwärtigen Außenpolitik der westdeutschen Regierung führen und auf der anderen Seite garantieren wird, dass sogar wenn es eine Wende in der Innenpolitik der BRD gibt, das Land nicht zu einer Atmosphäre des ›Kalten Krieges‹ zurückkehren würde«. Rede Breschnews (englische Übersetzung), 17.4.1974. In: PHP, WP Leaders, http://www.php.isn.ethz.ch/collections/colltopic.cfm? lng=en&id=29639&navinfo=14465, S. 1–20, hier 7 f. 182  Ostrovský, Abt. 36 der I. HV des FMdI der ČSSR: Aufzeichnung der Verhandlungen mit der Aufklärung der DDR (tschechisch), 18.11.1974. In: ABS, A. č. 81282/103, Bl. 123–135, hier 127–129. Zu der Zielsetzung der HV A, die Bundestagswahlen von 1976 zu beeinflussen, vgl. auch [Herbstritt:] Der Deutsche Bundestag 1949 bis 1989, S. 26 f. 183  Operation RUBICON, Anlage zu Ostrovský, Aufzeichnung der Verhandlungen mit der Aufklärung der DDR (tschechisch), 18.6.1976. In: ABS, A. č. 81282/103, Bl. 218 f.

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das im September 1976 vom Presseausschuss Demokratische Initiative (PDI) unter Mitarbeit von Bernt Engelmann herausgegeben wurde,184 begann auf dem 10. Platz in der »Spiegel«-Bestsellerliste für Sachbücher185 und erreichte kurz nach den Bundestagswahlen am 5. Oktober den 6. Platz.186 Es fokussierte auf verschiedene politische Skandale in und um die führenden Persönlichkeiten der CDU/CSU und die braune Vergangenheit einiger leitender Parteifunktionäre.187 Das Buch enthielt auch Fotos, aber nicht die von der HV A/X gewünschten Porträts von führenden Christdemokraten in NS-Uniform.188 Während die tschecho­slowakische Abteilung 36 diese Fotos anscheinend nicht liefern konnte, gab sie entsprechende Informationen über die NS-Vergangenheit einzelner Christdemokraten an die HV A/X weiter.189 Die HV A/X versorgte ihrerseits die »Bruderorgane« mit Thesen zur Unterstützung des Wahlkampfes der SPD/FDP-Koalition, die an ihre Residenturen im Westen weitergeleitet wurden.190 Der stellvertretende Minister für Staatssicherheit und Leiter der HV A Markus Wolf behauptete nach den westdeutschen Wahlen, dass die aktiven Maßnahmen der HV A und der »Bruderorgane« zum Wahlsieg der Regierungskoalition beigetragen hätten. Trotzdem bereiteten die Wahlergebnisse Wolf Sorge, weil die »Rechtskräfte«191 der CDU/CSU ihr zweitbestes Wahlergebnis in der Geschichte der Bundesrepublik erreicht hatten. Die Regierungsmehrheit schrumpfte von 50 auf 10 Sitze.192 Kohl übernahm den Fraktionsvorsitz der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, um eine mögliche Regierungsübernahme vor den nächsten Bundestagswahlen vorzubereiten. Schmidt wäre seinerseits überrascht gewesen, zu hören, dass die HV A bzw. die DDR auf irgendeine Weise zu seinem knappen Wahlsieg beigetragen hatten.193 Er hatte die Sowjets durch den »geheimen Kanal« über Bahr und Lednew am Wahltag gewarnt, dass die Schießereien und andere Zwischenfälle an der deutsch-deut184  PDI; Engelmann: Schwarzbuch: Strauß, Kohl & Co. Köln 1976. 185  Bestseller. In: Der Spiegel 38/76 v. 13.9.1976, S. 182. 186  Bestseller. In: Der Spiegel 42/76 v. 11.10.1976, S. 222. 187  PDI; Engelmann: Schwarzbuch. 188  Ostrovský, Aufzeichnung, 18.11.1974, Bl. 129 f. 189  Operation RUBICON, Bl. 218 f. 190  Abt. 36, I. HV, FMdI der ČSSR, Verlauf der Zusammenarbeit mit der Aufklärung der DDR im Jahre 1975 auf dem Gebiet der AM, o. D. In: ABS, A. č. 81282/103, Bl. 250–252, hier 250; Aktenvermerk über die Ergebnisse der Arbeitskonsultation in der Zeit vom 4. bis 6.5.1976 in Berlin, 6.5.1976. In: CDDAABCSSISBNA-Arch-R, f. 9, op. 2, a. e. 542,, Bl. 232– 236, hier 236. 191  Operation RUBICON, o. D. In: ABS, A. č. 81282/103, Bl. 263–265, hier 263. 192  Bundeswahlleiter, Wahl zum 8. Deutschen Bundestag am 3. Oktober 1976, https:// www.bundeswahlleiter.de/bundestagswahlen/1976.html (letzter Zugriff: 1.11.2018), und Bundeswahlleiter, Wahl zum 7. Deutschen Bundestag am 19. November 1972, https://www.bun deswahlleiter.de/bundestagswahlen/1972.html. (letzter Zugriff: 1.11.2018) 193  Schmidt war über einen Kommentar des SED-Politbüro-Mitglieds Joachim Herrmann gegenüber Gaus erstaunt, dass die DDR durch ihre Politik vor und während der Wahlkampagne der Regierungskoalition habe helfen wollen. Fernschreiben Gaus, 15.10.1976. In: DzD, VI/4, S. 834–837, hier 836 u. Fn 8.

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schen Grenze im Sommer 1976 (siehe oben 4.1.) »für den Bestand der Bundesregierung lebensgefährlich« gewesen seien.194 In der Antwort auf Schmidts Regierungserklärung versicherte Kohl seinerseits, dass die CDU/CSU ihren »Kampf um die Menschenrechte« gegenüber der DDR und im KSZE-Prozess fortführen werde.195 Sie nutzte zunehmend das Vorbild der immer konfrontativer werdenden Menschenrechtspolitik der USA gegenüber Osteuropa vor allem im KSZE-Prozess als Gegenpol, um die »stille Diplomatie« der Schmidt-Regierung in Menschenrechtsfragen zu kritisieren.196 Die ZAIG warnte vor dem Druck der CDU/CSU auf die Schmidt-Regie­rung, eine »offene Konfrontationspolitik« in Menschenrechts- und Ausreisefragen zu betreiben, auch mit Blick auf die Belgrader Nachfolgekonferenz der KSZE.197 Vielleicht noch wichtiger für den KSZE-Prozess und seine Auswirkungen war die schon erwähnte Reihe neuer NGO, die aus CDU/CSU-nahen Kreisen entstanden und sich für Menschenrechte und Dissidenten in Osteuropa einsetzten. Sie nahmen Kontakt mit östlichen Oppositionellen und ihren anderen Unterstützern im Westen – u. a. osteuropäischen Emigrantenorganisationen – auf. Im Jahr 1974 wurde zum Beispiel im schweizerischen Luzern die Euro päische Konferenz für Menschenrechte und Selbstbestimmung (EKMS) gegründet, in der westdeutsche Christdemokraten eine wichtige Rolle spielten. Auf dem Gründungstreffen der EKMS sprachen nicht nur Solschenizyn198 und der tschechische Emigrant und Dissident Ludék Pachman, der der CDU/CSU nahestand, sondern auch Cornelia Gerstenmaier, Tochter des ehemaligen christdemokratischen Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier. Die Redner warnten vor westlichen Zugeständnissen bei den KSZE-Verhandlungen in Fragen der Menschenrechte und der Selbstbestimmung.199 Die 1977 gegründete Deutsche Sek194  Vermerk des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit Bahr, 8.10.1976. In: ebenda, S. 824. 195  Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht, 6. Sitzung, 8. Wahlperiode, 17.12.1976, S. 65. 196  Siehe z. B. die Kommentare von Strauß, Dr. Werner Marx (CDU) und Rainer Barzel (CDU) in: ebenda, S. 97, 111. 197  Ausarbeitung der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (Auszug), 15.12.1976. In: DzD VI/4, S. 940–964, hier 942, 944 f. 198  Mielke hatte es übel genommen, dass Moskau Solschenizyn 1974 nach der Bundesrepublik ausreisen ließ. Im März 1974 erklärte er gegenüber dem Leiter der Untersuchungsabteilung des KGB Generalleutnant Alexander Fjodorowitsch Wolkow: »Nehmen wir Solschenizyn. Wenn Sie denken, das ist Ihr Fall, so sage ich, jetzt ist das viel mehr unser Fall, denn bei uns ist er jetzt näher dran.« Es würden »durch seine Äußerungen die ›Feinde‹ außerhalb der Sowjetunion organisiert. Sie werden sich um ihn scharen, das heißt, es gibt neue Zentren [der ideologischen Diversion – d. A.], oder bestehende Zentren werden verstärkt. Deshalb muss man überlegen, wie man das gemeinsam bekämpft […].« Siehe Niederschrift über den Empfang einer Delegation der Linie Untersuchung des KfS unter Leitung des Genossen Generalleutnant Wolkow beim Genossen Minister am 8.3.1974; BStU, MfS, HA IX Nr. 10252, Bl. 380–392, hier 386 f. 199  Verwirklichung der Menschenrechte gefordert. In: Die Welt v. 5.3.1974; Zur Gründung eines weiteren antisowjetischen und antikommunistischen Zentrums in Westeuropa, o. D. In:

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tion der EKMS war praktisch eine Erfindung der stärksten Entspannungskritiker in der CDU/CSU-Bundes­tagsfraktion. Dr. Claus Jäger (CDU) war Vorstandsmitglied der EKMS und Vorsitzender der Deutschen Sektion, sein Stellvertreter Hans Graf Huyn (CSU) diente zugleich als Vizepräsident der EKMS.200 Unter den CDU/CSU-nahen Menschenrechtsorganisationen war die Gesellschaft für Menschenrechte e. V. (GfM) mit Sitz im Frankfurt am Main am aktivsten. Die GfM wurde 1972 durch Aktivisten des »Rußländischen Solidaristenbundes des Arbeitenden Volkes« (Narodno-Trudowoi Sojus, NTS) gegründet. Der NTS, der 1930 aus der antibolschewistischen, »weißen« Emigration Russlands entstand, hatte während des Zweiten Weltkrieges auf der Seite Nazideutschlands gegen die Sowjetunion gekämpft und in den frühen 1950er-Jahren die Amerikaner bei ihrer »Befreiungspolitik« gegenüber Osteuropa unterstützt, vor allem im Bereich der Propaganda und der verdeckten Operationen der CIA.201 Im Jahr 1973 übernahm Cornelia Gerstenmaier den Vorsitz der GfM und brachte nicht nur ihre Verbindungen zur CDU/ CSU mit, sondern auch zu den sowjetischen Exilkreisen um die Zeitschrift »Kontinent«, die die Dissidenten in der UdSSR unterstützten. Sie wurde damit die vielleicht aktivste westdeutsche Verfechterin für die Dissidenten und die Menschenrechte in Osteuropa. Sie spielte eine wichtige Rolle nicht nur bei »Kontinent«, in der EKMS und in der GfM.202 Im Allgemeinen standen die GfM und Gerstenmaier im Zentrum der Netzwerke in der Bundesrepublik zwischen konservativen Menschenrechtsaktivisten, osteuropäischen Emigrantenorganisationen und östlichen Dissidenten.203 Die GfM sowie die CDU/CSU waren auf den Nachfolgetreffen im KSZEProzess immer präsent, ob von der SPD/FDP-Regierung oder dem jeweiligen Gastgeberland erwünscht oder nicht. Ihr Einfluss auf die KSZE-Politik war bis zum Regierungswechsel 1982 aber begrenzt, insbesondere im Unterschied zur KSZE-Kommission des US-Kongresses, deren Mitglieder und Stabsmitarbeiter neben Vertretern der Exekutive in der KSZE-Delegation der USA saßen. Das MfS versuchte nicht nur solche Einflussnahme der Unionsparteien und ihrer Verbündeten auf den KSZE-Prozess im Voraus »aufzuklären« und vor Ort zu vereiteln, sondern auch die Organisationen der konservativen Menschenrechtler zwischen den Treffen zu unterwandern, zu »zersetzen« und mundtot zu machen.204 BStU, MfS, ZAIG Nr. 30272, Bl. 46–46. 200  Claus Einar Langen: Menschenrechte und Illusionen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) v. 16.1.1978. 201  Vgl. Stöver, Bernd: Die Befreiung vom Kommunismus. Amerikanische Liberation Policy im Kalten Krieg 1947–1991. Köln, Weimar, Wien, 2002, S. 318–321, 325–328. 202  Wüst: Menschenrechtsarbeit,S. 56 f., 63 f. 203  CWIHP Digital Archive, Mitrokhin Archive, On Human Rights, Folder 51, Chekist Anthology, Bl. 2–5, http://legacy.wilsoncenter.org/va2/index.cfm?topic_id=1409&fuseaction=home.document&identifier=740F90FB-9845-5C1D-568D0733C66602DD&sort=collection&item=Mitrokhin Archive. 204  Siehe unten 5.3, 6.5.5.

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4.4 Die DDR, die Bundesrepublik und die Ausreiseproblematik im Vorfeld des Belgrader Treffens Im Gegensatz zur CDU/CSU und GfM schien es für die Bundesregierung zwingend, dass es sinnlos sei, in den deutsch-deutschen Verhandlungen ein allgemeines Recht auf Ausreise einzufordern, weil sie damit die Entspannungspolitik mit der UdSSR und der DDR und die bereits erreichten »menschlichen Erleichterungen« für Ost- und Westdeutsche gefährden würde. Die DDR hätte allgemeiner Reisefreiheit nicht zustimmen können, da dann jeder Ostdeutsche seinen von der Bundesrepublik verbürgten Anspruch auf bundesdeutsche Staatsbürgerschaft hätte wahrnehmen können. Das hätte eine Massenflucht auslösen und die DDR mit unkalkulierbaren Folgen fundamental destabilisieren können. Deshalb konnte die Bundesregierung zum Beispiel die Riesa-Petition nicht unterstützen, wie damals die GfM und mindestens ein Teil der christdemokratischen Opposition. Wie erwähnt, stellte die Bundesregierung auch infrage, ob der öffentliche Einsatz von GfM, Gerhard Löwenthal und anderen konservativen Aktivisten den betroffenen Ausreisewilligen wirklich half. Ihre Kampagnen drohten nach Einschätzung der Bundesregierung zudem, »menschliche Erleichterungen« wie die Familienzusammenführung und den Besucherverkehr zwischen der Bundesrepublik und der DDR zu beeinträchtigen, die von Verhandlungen mit der DDR abhingen. Helmut Schmidts entspannungspolitische Ziele gegenüber der DDR wurden aus Sicht seiner Regierung nicht nur von der Menschenrechtskampagne Carters, sondern auch von der Unterstützung konservativer Menschenrechtsaktivisten in der Bundesrepublik für Ausreisewillige in der DDR bedroht. Günter Gaus hatte Schmidt schon im Oktober 1976 aus Ostberlin gewarnt, dass »die erste schwierige Frage im Umgang mit der DDR-Führung nach der Bundestagswahl« die »Flucht« der Ausreiseantragsteller »in die westdeutsche Öffentlichkeit« sein werde, deren versuchte »Kontaktaufnahme mit westdeutschen Medien, um so – irrigerweise – die Ausreisechancen zu erhöhen«. Er schrieb an Schmidt und Franke Anfang Oktober: »Wie schon gelegentlich in Bonn vorgetragen, wird die DDR vermutlich recht bald die Forderung an uns stellen, mit ihr gemeinsam die Flut der Ausreiseanträge einzudämmen …« Er fuhr fort: Mit Gewissheit lässt sich aber schon jetzt sagen, dass die DDR […] einen weiteren öffentlichen Druck auf vermehrte Ausreise mithilfe der westdeutschen Medien beantworten wird durch Gegendruck, zulasten der praktisch hilflosen Antragsteller. Dies heißt, wir werden auch nach dem Wahltag aus humanitären Gründen alles aufbieten müssen, um öffentliche Diskussionen über Repressionen gegen Ausreisewillige in der DDR nach Möglichkeit zu unterbinden. Nach allen hier vorliegenden Erkenntnissen ist allenfalls bei herausragenden Einzelfällen durch die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik eine positive Lösung zu erzielen; in den vielen Tausend anderen Fällen von Namenlosen, die nur für

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DDR, deutsche Frage und KSZE-Prozess

die eine Sendung im ZDF-Magazin oder eine Meldung in der ›Springer‹-Presse einen Namen für einen Tag erhalten, ist jede öffentliche Behandlung des Problems nachteilig.205

Wie Gaus voraussah, warf der Kandidat des Politbüros und Chefredakteur des »Neuen Deutschlands« Joachim Herrmann nach der Bundestagswahl der Bundesrepublik in einem Gespräch mit Gaus eine »Kampagne gegen die DDR« vor. Ein Bestandteil davon seien »die Berichte der westdeutschen Massenmedien über ›100 000 bis 200 000 Ausreiseanträge aus der DDR‹«. Eine weitere Normalisierung der deutsch-deutschen Beziehungen hänge »von einer Beendigung der derzeitigen Stimmungsmache in der Bundesrepublik« ab.206 Herrmann kritisierte zudem die Offenhaltung der deutschen Frage in der Tagespolitik der Bundesregierung, vor allem in den öffentlichen Reden Genschers.207 In Bezug auf den KSZE-Prozess warnte er Gaus: Auf der Belgrader Konferenz werde es keine Fortschritte geben, sondern eher Rückschläge, wenn man in Belgrad nicht davon ausgehe, dass ›alle drei Körbe von Helsinki gleichrangig zu sehen sind‹. Die Bundesrepublik werde international Schiffbruch erleiden, wenn sie weiterhin versuche, Korb III in den Vordergrund zu rücken und die Prinzipien und Korb I (Herrmann: ›Also die Grenzfrage, den Charakter der Grenze‹) im Sinne von Karlsruhe zu deuten.208

Obwohl Franke sich über Löwenthals ZDF-Magazin öffentlich kritisch äußerte, war die Bundesregierung im Allgemeinen nicht bereit, vor allem wenn es um die Tätigkeit der Ständigen Vertretung ging, mit der DDR gemeinsame Sache bei der Zurückdrängung der Ausreiseanträge von DDR-Bürgern zu machen. Die Frage wurde schon im Mai 1976 von Rechtsanwalt Vogel aufgeworfen. Wenn die Bundesregierung und ihre Ständige Vertretung nichts unternähmen, um die Zahl der Antragsteller »gemeinsam zu bremsen«, wäre die DDR gezwungen, so Vogel, »Maßnahmen gegen freien Zugang zur StäV« zu »überlegen«.209 Die Ständige Vertretung verwarf Vogels Vorschlag für »gemeinsames Bremsen«. Nach ihrer Meinung musste »die Verantwortung für Tatsache und Umfang etwaiger Restriktionen […] bei der DDR liegen«.210 Sonst würde(n), 205  Aufzeichnung des Staatssekretärs Gaus für Bundeskanzler Schmidt und den Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen Franke, 1.10.1976, Dok. Nr. 232. In: DzD VI/4, S. 809–814, hier 811. 206  Fernschreiben des Leiters der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland Gaus über das Gespräch mit dem Kandidaten des Politbüros des Zentralkomitees der SED Herrmann, 15.10.1976, Dok. Nr. 239; AAPD 1975/76, VI/4: S. 834–837, hier 834. 207 Ebenda. 208  Ebenda, S. 836 f. 209  Vermerk des Ministerialdirigenten im Bundeskanzleramt Stern, Bonn, 25. Januar 1977. In: DzD VI/5, S. 35–38, hier 35. 210  Vermerk des Ministerialrats an der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland Hoesch, 31.5.1976, Dok. Nr. 185. In: DzD VI/4, S. 658.

Die Ausreiseproblematik im Vorfeld des Belgrader Treffens

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– in der Öffentlichkeit der Eindruck einer ›Komplizenschaft‹ der Bundesregierung entstehen, – die Bundesregierung ihrer Schutzpflicht für die westdeutschen Angehörigen nicht gerecht, – die Bundesregierung sich zu menschenrechtlichen Grundsätzen in Widerspruch setzen, – Prinzipien der Schlussakte von Helsinki (Verschlechterungsverbot) preisgegeben werden.211

Als Reaktion auf die fehlende Unterstützung der Bundesregierung bei der Zurückdrängung von Ausreiseanträgen leitete die DDR am 11. Januar 1977 eine besondere Maßnahme gegen die Ständige Vertretung der Bundesrepublik ein. Die Volkspolizei errichtete vor deren Eingang einen Posten und kontrollierte ostdeutsche Bürger, die sie besuchen wollten. Die meisten wurden mit der Warnung abgewiesen, dass der Zugang zur StäV von den ostdeutschen Behörden genehmigungspflichtig sei.212 Als Gaus noch am gleichen Tag im MfAA gegen die Maßnahme protestierte, reagierte Seidel »mit einer massiven Anklage gegen die Beratungspraxis der Ständigen Vertretung bei DDR-Besuchern«.213 Er warf der Ständigen Vertretung u. a. vor, dass sie DDR-Besucher auffordere, »immer neue Ausreiseanträge zu stellen, jede Arbeitsaufnahme zu verweigern, nach der Verbüßung einer Haft die Annahme von DDR-Ausweisen abzulehnen« und die StäV »über jede neue Entwicklung in ihrem jeweiligen Fall zu unterrichten«. Außerdem hätten Mitarbeiter der Ständigen Vertretung »DDR-Besucher aufgefordert, sich mit ihren Problemen an [westliche] Korrespondenten zu wenden«. Gaus fasste die Vorwürfe Seidels zusammen: »Gestützt auf die Bonner Behauptung vom Fortbestehen einer deutschen Staatsangehörigkeit versuchten wir [die Ständige Vertretung], DDR-Besucher der StäV in einer Weise zu beraten, die eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR sei und unsere Besucher zu einem gesetz- und ordnungswidrigen Verhalten veranlasse.« Seidel verurteilte die angebliche Einmischung der Ständigen Vertretung als Verstoß gegen die Wiener Konvention für diplomatische Vertretungen,214 und das »Neue Deutschland« legte zwei Tage später mit dem Vorwurf nach, es handle sich um einen Verstoß gegen das Nichteinmischungsprinzip der KSZE-Schlussakte.215 Das MfS hat in dem 211 Ebenda. 212  Bräutigam, Hans Otto: Ständige Vertretung. Meine Jahre in Ost-Berlin. Hamburg 2009, S. 180. 213  Fernschreiben des Leiters der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland Gaus über das Gespräch mit dem Abteilungsleiter im Außenministerium der DDR Seidel, 11.1.1977. In: DzD VI/5, S. 5–8, hier 5. 214  Ebenda, S. 5. Siehe Artikel 41, Ziffer 1 in: Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen, 18.4.1961. Verfügbar online: Die Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen, Justiz-Online, http://www.datenbanken.justiz.nrw.de/ir_htm/frame_wued_18-04-1961.htm. 215  Vom Kopf auf die Füße gestellt. In: ND v. 13.1.1977, S. 4.

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DDR, deutsche Frage und KSZE-Prozess

Zwischenfall anscheinend auch eine Rolle gespielt: Seidels Erklärung stimmte teilweise wortwörtlich mit einer Einschätzung der Tätigkeit der Ständigen Vertretung überein, die die für diplomatische Vertretungen zuständige Hauptabteilung II des MfS verfasst hatte.216 Gaus dementierte seinerseits die Behauptungen Seidels und protestierte gegen die Blockade der Ständigen Vertretung. Ein Gesprächsprotokoll fasste den Kommentar von Gaus zusammen: »Mit dieser Verschlechterung der geübten Praxis verstoße die DDR schließlich auch gegen die Schlussakte von Helsinki, in der sich die Unterzeichnerstaaten dahin verständigt hätten, dass Kontakte auf individueller und kollektiver, privater oder offizieller Grundlage zwischen Personen, Institutionen und Organisationen erleichtert werden sollten.«217 Es gab aber Schwachstellen in der rechtlichen Argumentation von Gaus, die innerhalb des Auswärtigen Amtes erkannt wurden. Ministerialdirigent Andreas Meyer-Landrut schrieb an Genscher am 11. Januar 1977, dass sich »rechtlich gesehen weder aus dem Grundlagenvertrag noch aus dem Protokoll über die Errichtung der Ständigen Vertretungen ›bilaterale Ansprüche gegenüber der DDR auf Beibehaltung der bisherigen Praxis herleiten‹« ließen. Auch nach der Wiener Konvention hätten »diplo­matische Vertretungen nur einen Anspruch darauf, mit ihren eigenen Staatsange­hörigen ungehindert zu verkehren«. Während der KSZE-Verhandlungen in Genf sei zwar »das Thema des ungehinderten Zugangs von Staatsangehörigen des Gastlandes zu Vertretungen anderer Teilnehmerstaaten [...] von westlicher Seite angesprochen worden, förmliche Regelungen wurden jedoch nicht getroffen«.218 Obwohl die DDR ihre Kontrollen und deren rechtliche Grundlage weiterhin verteidigte, hob sie die Maßnahme vor der Ständigen Vertretung nach einem Tag wieder auf. Sie verlegte die Kontrollposten auf die Straßen im Umfeld der StäV, und statt die Besucher vor ihrem Eintritt zu kontrollieren, nahmen die Volkspolizisten deren Personalien nach ihrem Besuch auf.219 Die DDR warnte aber: Wenn die Ständige Vertretung ihre Beratung von DDR-Bürgern nicht einstelle, könne die DDR »auf die Praxis zurückgreifen, die bekanntlich seitens der UdSSR gegenüber ausländischen Vertretungen in Moskau gehandhabt wird«220 – d. h. Kontrollposten vor jedem amtlichen und Wohngebäude, inklusive Botschaften, die Besucher und Bewohner registrierten.221 Es war deshalb keine Überraschung, dass Bonn gemeinsam mit den westlichen Verbündeten auf dem Belgrader Treffen den Vorschlag von Genf über 216  DzD VI/5, S. 6, Fn 4. 217  Fernschreiben Gaus, 11.1.1977, S. 7. 218  DzD VI/5, S. 7, Fn 11. 219  Bräutigam: Ständige Vertretung, S. 181 f. 220  So drohte der Leiter der ostdeutschen StäV in Bonn, Michael Kohl. Siehe Sondierungsgespräch des Staatsministers beim Bundeskanzler, Wischnewski, mit dem Leiter der Ständigen Vertretung der DDR Kohl, Bonn, 2.9.1977. In: DzD VI/5, S. 291–317, hier 298. 221  DzD VI/5, S. 298, Fn 37.

Honecker, Schmidt und das Belgrader Treffen

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ungehinderten Zugang zu auslän­dischen Missionen wieder aufnahm.222 Erwartungsgemäß lehnte der Osten den Vorschlag ab.

4.5 Honecker, Schmidt und das Belgrader Treffen Die eintägige Kontrolle vor der Ständigen Vertretung sowie die Zwischenfälle an der Grenze im Sommer 1976 zeugten davon, dass es in den deutsch-deutschen Beziehungen genügend Zündstoff für offene Konflikte auf dem Belgrader Treffen gab. Honecker warnte im Februar 1977 vor dieser Möglichkeit in einem Interview mit der »Saarbrücker Zeitung«. Das Interview wurde von der ostdeutschen Partei- und Staatsführung zu deren Stellungnahme zum bevorstehenden Belgrader Treffen deklariert und propagiert. Honecker erklärte in dem Interview zum KSZE-Treffen: »Wenn freilich die Bundesrepublik Deutschland das Bedürfnis haben sollte, mit Vorwürfen aufzuwarten, so wäre das von der Sache her nur zu bedauern. In diesem Falle würden wir entsprechend antworten.«223 Nach der Ausreisebewegung, die für Honecker der heikelste Punkt in den deutsch-deutschen Beziehungen darstellte, fragte der Interviewer gleich zu Beginn. Diese Tatsache zeigt, was zu diesem Zeitraum in der westdeutschen Presse bei dem Thema DDR und KSZE-Prozess vorrangig war. Zuerst weigerte sich Honecker, auf die Frage direkt zu antworten. Er erwiderte mit der Gegenfrage, ob der Inhalt der Schlussakte, »eines ausgezeichneten Dokuments«, in Westdeutschland überhaupt bekannt sei: »Bei uns wurde die Schlussakte in mehr als 2 Millionen Exemplaren im Wortlaut verbreitet, in der Bundesrepublik aber nur in einer kleinen Auflage, die nicht einmal ausreichen dürfte, um den Bedarf der Archive zu decken.« Die DDR sei »für die Verwirklichung der Schlussakte als Ganzes«224 – d. h. nicht nur Korb III, und er erinnerte die westdeutschen Leser daran, dass »das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten« in der Schlussakte »ausdrücklich […] bekräftigt«225 wurde. Mit anderen Worten: Die meisten Ausreiseanträge hätten durch die Schlussakte keine Rechtfertigung; die Bundesrepublik sei statt auf die Schlussakte als Ganzes zu sehr auf den Korb III fokussiert; und die Be-

222  CSCE/BM/49, Freiheit des Kontakts mit ausländischen Missionen und Kultureinrichtungen, 11.11.1977 (Vorschlag eingebracht von der EG). In: Volle, Hermann; Wagner, Wolfgang (Hg.): Das Belgrader KSZE-Folgetreffen: der Fortgang des Entspannungsprozesses in Europa. Bonn 1978, S. 291. 223  Interview des stellvertretenden Chefredakteurs der »Saarbrücker Zeitung«, Erich Voltmer, mit Erich Honecker, Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Vorsitzender des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik, 17.2.1977. In: BStU, MfS, HA II Nr. 40497, Bl. 79–109, hier 95 f. 224  Ebenda, Bl. 82. 225  Ebenda, Bl. 84.

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DDR, deutsche Frage und KSZE-Prozess

mühungen um die Ausreisewilligen in der Bundesrepu­blik stellten eine von der Schlussakte verbotene Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR dar. Bevor Honecker die Frage zu den Ausreiseantragstellern beantwortete, zog er eine positive Bilanz hinsichtlich der »Entwicklung des Besucherverkehrs zwischen beiden deutschen Staaten seit der Konferenz in Helsinki«. Von der DDR würde mehr getan, »als man angesichts der feindseligen Haltung der Bundesrepublik gegenüber der Deutschen Demokratischen Republik vielleicht verantworten« könne. Honecker zitierte Statistiken, wonach im Jahr 1976 3,5 Millionen Bundesbürger die DDR und 1,1 Millionen Ostdeutsche die Bundesrepublik besucht hatten. Gleichzeitig warnte er, »dass die ständige feindselige Propaganda gegen die DDR die Entscheidungsfreude der zuständigen Staatsorgane [der DDR] nicht gerade fördert«.226 Erst nach seiner Darstellung der angeblichen Unzulässigkeit der meisten Ausreiseanträge und der Völkerrechtswidrigkeit ihrer Unterstützung durch die Bundesrepublik und nach seiner Drohung, den Besucherverkehr einzuschränken, kam Honecker auf die ursprüngliche Frage zu den Ausreiseanträgen zurück: Nun zur Frage, ob es zutrifft, dass zahlreiche Bürger der Deutschen Demokratischen Republik seit Unterzeichnung der Absichtserklärung von Helsinki Auswanderungsanträge gestellt haben. Solche Anträge gab es schon immer. […] Ich weiß jedoch nicht, warum Sie sich so dafür einsetzen, dass Bürger der Deutschen Demokratischen Republik in die Bundesrepublik Deutschland auswandern. […] Wir sind für Familienzusammenführung, aber nicht für Familienauseinanderreißung. Bei der Kampagne in der Bundesrepublik Deutschland gegen die Deutsche Demokratische Republik werden märchenhafte Zahlen über Auswanderungsanträge genannt. Hierbei geht es doch wohl weniger um die Menschen als vielmehr um den Versuch der Abwerbung von Fachkräften der Deutschen Demokratischen Republik, obwohl die Bundesrepublik, wie jedem bekannt ist, über ein großes Arbeitslosenheer verfügt.227

Im Zusammenhang mit dem Ausreiseproblem gab es in der im »Neuen Deutschland« veröffentlichten Fassung des Honecker-Interviews einige interessante Änderungen im Vergleich zur Fassung in der »Saarbrücker Zeitung«. In der ursprünglichen Fassung hatte Honecker eine Anzahl von 10 000 genehmigten Ausreiseanträgen bestätigt und sich beschwert, dass die westdeutsche Presse nur über abgelehnte Anträge berichte. Das Interview wurde zudem im »ND« durch einen Satz über »Familien-Auseinanderreißen« anstatt Familienzusammenführung ergänzt. Ausreisewillige haben durch Honeckers ursprüngliche Kommentare offenbar nicht ermuntert werden sollen.228 226  Ebenda, Bl. 82 f. 227  Ebenda, Bl. 83 f. 228  Telegramm der amerikanischen Botschaft in Berlin an die Department of State (1977BERLIN05385), 24.2.1977; CFPF, 1973–1979; RG 59, NARA, AAD.

Honecker, Schmidt und das Belgrader Treffen

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Honeckers Interview wurde in der Bundesregierung nicht so negativ eingeschätzt, wie es der Ton einiger seiner Bemerkungen zu den deutsch-deutschen Beziehungen vermuten lassen würde. »Trotz polemischer Formulierungen«, schätzte Gaus Honeckers Interview als »Ausdruck der Bereitschaft des SED-Generalsekretärs […], den deutsch-deutschen Dialog wieder aufzunehmen«.229 Dieser Dialog werde aber in nächster Zeit auf wirtschaftliche Fragen beschränkt bleiben, weil »im humanitären Bereich […] keine größeren Verbesserungen zu erwarten« seien.230 Das gelte auch für die Bewegungsfreiheit von westlichen Journalisten; Honecker habe den Standpunkt der DDR bekräftigt, obwohl seine Bemerkung zu Loewe – er »habe ›den Bogen einfach überspannt‹« – auf ihn, Günter Gaus, »wie eine atmosphärische Deeskalation« gewirkt habe.231 Bemerkenswert war in dem Interview ein Hinweis Honeckers auf das Interesse der DDR an westlichen Devisen, das er in Verbindung mit dem Besucherverkehr und anderen humanitären Fragen brachte – etwas, was Moskau nicht befriedigt hätte. Dies änderte aber nichts an Gaus’ Beurteilung, dass keine größeren humanitären Verbesserungen von der DDR zu erwarten seien, »da die von ihm [Honecker] genannte Kondition – aktive Devisenbilanz der DDR – auf lange Sicht nicht erreicht werden wird«.232 Einen Lichtblick habe es im Bereich der Familienzusammenführung gegeben. Honecker habe indirekt angedeutet, dass »die DDR bereit ist, die in den letzten Jahren erreichten Zahlen zu halten«. In diesem Zusammenhang werde aber die wachsende Anzahl von Ausreiseanträgen außerhalb der Familienzusammenführung problema­tisch. Wenn die »DDR-Führung durch scharfe interne administrative Maßnahmen […] den Antragsdruck« nicht mindern könne oder wenn sie sich »von ›Kampagnen‹ aus der Bundes­republik gestört fühle«, könnte die Familienzusammenführung, so Gaus, »tangiert werden«.233 Für Gaus schien es positiv, den Dialog mit der DDR fortzuführen, um das schon Erreichte im humanitären Bereich möglichst zu bewahren. Bundeskanzler Schmidt entschied sich seinerseits in einem Telefongespräch mit Honecker am 20. März 1977, positiv zu Honeckers Interview Stellung zu nehmen. Er schrieb in einem Vermerk: Ich bezog mich auf die ›guten Gespräche‹, die wir in Helsinki gehabt haben, und fügte hinzu, dass ich mit Aufmerksamkeit das Interview von E. H[onecker] in der ›Saarbrücker Zeitung‹ vom 19.2.1977 gelesen habe. Darin seien etliche Punkte enthalten, denen ich voll zustimmen könne und die ich genauso habe sagen können. Ich stimme mit ihm überein, dass in den Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten die Vernunft die Überhand behalten solle; dass die bestehenden Verträge eine 229  Fernschreiben des Leiters der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland Gaus an Bundeskanzler Schmidt, 22.2.1977. In: DzD VI/5, S. 67–71, hier 67. 230  Ebenda, S. 68. 231  Ebenda, S. 70. 232  Ebenda, S. 68 u. 68, Fn 3. 233  Ebenda, S. 68.

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DDR, deutsche Frage und KSZE-Prozess

gute Grundlage für die Fortentwicklung der Beziehungen seien; die Schlussakte von Helsinki müsse als Ganzes verwirklicht werden. Mit allen diesen Feststellungen im Saarbrücker Interview stimme ich überein.234

Seit Helsinki, so Schmidt, seien »manche Dinge gut vorangekommen«.235 Schmidt nutzte aber das Telefongespräch, um Honecker darauf hinzuweisen, »dass gerade in den letzten Wochen auch einige Belastungen im Verhältnis zwischen beiden Staaten eingetreten seien«. Schmidt nannte u. a. die Kontrolle vor der Ständigen Vertretung, »die seit Herbst 1976 zunehmende Zahl von Einreiseverweigerungen bei Reisen in die DDR« und »die Einführung von Gebühren für Kraftfahrzeuge bei Reisen von Westberlin nach Ostberlin«.236 Weder die Frage der Ausreiseanträge noch die der Familienzusammenführung thematisierte Schmidt. Nach dem Gesprächsvermerk Honeckers schnitt Schmidt das Thema der angeblichen Kampagne der westdeutschen Presse zur Ausreise nur indirekt an. Schmidt erklärte nach dem ostdeut­schen Vermerk: »Was ich hier nicht beeinflussen kann, das wissen Sie, das ist die Presse vom ›Spiegel‹ bis zur ›Springer-Presse‹. Und alles, was dazwischen liegt.«237 Honecker erwiderte indirekt zur Frage der Ausreise in Bezug auf die ostdeutsche Kontrolle vor der StäV: »Auch hier entstünde kein Problem, wenn die Ständige Vertretung den DDR-Standpunkt beachte. Dies gelte insbesondere für die Beratung von Bürgern der DDR durch die Ständige Vertretung.«238 Honecker wollte aber auch einen Akzent auf das Positive legen. Er sehe »in der Gesamtbetrachtung der beiderseitigen Beziehungen […] eine positive Entwicklung seit Helsinki«. Er zitierte den deutsch-deutschen Transitverkehr, den telefonischen Selbstwählverkehr, den kleinen Grenzverkehr, die Ausweitung des Handels, die Erneuerung der Autobahn zwischen der Bundesrepublik und Westberlin und sogar »die zunehmende Zahl der Familienzusammenführungen«. Nach einem internen Bericht im DDR-Staatsrat seien 1976 etwa 15 000 Fälle erledigt worden, so Honecker. Im Allgemeinen wolle er »die Grundlinie, wie sie in dem Interview in der Saarbrücker Zeitung dargestellt sei, beibehalten«. Er versicherte Schmidt, dass »keine neuen Belastungen von ihrer Seite zu erwarten seien«.239

234  Vermerk des Bundeskanzlers Schmidt über das Telefongespräch mit dem Generalsekretär des Zentralkomitees der SED Honecker, 20.3.1977. In: DzD VI/5, S. 94–97, hier 95. Siehe auch Telefongespräch des Generalsekretärs des Zentralkomitees der SED Honecker mit Bundeskanzler Schmidt, 20.3.1977; ebenda, S. 97–103, hier 99. 235 Ebenda. 236 Ebenda. 237  Telefongespräch Honeckers, 20.3.1977, S. 101. 238  Ebenda, S. 99 f.; Vermerk Schmidts, 20.3.1977, S. 96. 239  Vermerk Schmidts, 20.3.1977, S. 95 f. Siehe auch Telefongespräch Honeckers, 20.3.1977, S. 99 f.

Honecker, Schmidt und das Belgrader Treffen

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Ende Juni 1977 nahm Schmidt erneut Kontakt zu Honecker auf, um – diesmal schriftlich – für eine möglichst schnelle Aufnahme von »offiziellen Sondierungen zwischen unseren beiden Regierungen« zu plädieren.240 Schmidts Bezugnahme in dem Schreiben auf das schon begonnene Vorbereitungstreffen zum KSZE-Folgetreffen in Belgrad bestätigte seine Prioritätensetzung auf deutsch-deutsche Verhandlungen für die Regelung von bilateralen Fragen. In Bezug auf die vorgesehenen Sondierungen schrieb Schmidt: Im Übrigen bin ich der Auffassung, dass – unabhängig davon, ob Sie oder ich in dem einen oder anderen Falle nein sagen müssen – dafür Sorge getragen sein muss, dass das Tischtuch zwischen uns nicht beschädigt wird. Gerade jetzt, während der Belgrader KSZE-Nachfolgekonferenz, sollten unsere beiden Staaten, die es aus vielerlei Ursachen sicher besonders schwer haben, darum bemüht sein, ein gutes Beispiel zu setzen.241

Schmidts Bild von einem deutsch-deutschen »Tischtuch« löste »eine humorvolle, aber angenehme Reaktion« von Honecker aus.242 Am 2. August 1977 schrieb der SED-Generalsekretär an Schmidt, dass er »voll und ganz« seine Auffassung zur Nichtbeschädigung des »Tischtuchs« teile. Die DDR sei gleichfalls bereit, »ein gutes Beispiel« während des Belgrader Treffens zu geben. Honecker schrieb: »Es wäre zweckmäßig, unseren Delegationen [in Belgrad] entsprechende Instruktionen zu geben.«243 Die Bundesrepublik und die DDR entschieden, ihre Probleme unter dem Dach der KSZE bilateral auszufechten. Am 12. August begannen entsprechende Sondierungen zwischen Michael Kohl, Leiter der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn, und Staatssekretär Hans-Jürgen Wischnewski vom Bundeskanzleramt. Kohl bestätigte seinerseits das Dachkonzept Schmidts. Er sagte: »Auch die DDR sei der Auffassung, dass das heutige Gespräch im Blickfeld von Helsinki zu sehen sei.« Er fügte aber hinzu: Die DDR sei allerdings der Meinung, dass normale Beziehungen der Staaten unter­ einander die Grundlage dafür schüfen, dass man zu mehr Erleichterungen für die Menschen kommen könne. […] Dies könne aber nur auf der Grundlage der allgemein gültigen Normen des Völkerrechts geschehen, insbesondere der Prinzipien der souverä­nen Gleichheit der Staaten, der Unverletzlichkeit der Grenzen und der Nichtein­mischung in ihre inneren Angelegenheiten.244 240  Schreiben des Bundeskanzlers Schmidt an den Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR Honecker, 28.6.1977. In: DzD VI/5, S. 219– 221, hier 219. 241  Schreiben Schmidts, 28.6.1977, S. 221. 242  So Michael Kohl. Sondierungsgespräch des Staatsministers beim Bundeskanzler, Wischnewski, mit dem Leiter der Ständigen Vertretung der DDR Kohl, 12.8.1977. In: DzD VI/5, S. 254–274, hier 274. 243  Schreiben des Generalsekretärs des Zentralkomitees der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR Honecker an Bundeskanzler Schmidt, 2.8.1977. In: DzD VI/5, S. 250– 252, hier 251. 244  Sondierungsgespräch Wischnewskis mit Kohl, 12.8.1977, S. 260.

212

DDR, deutsche Frage und KSZE-Prozess

Beide Seiten blieben trotz des gemeinsamen »Tischtuchs« bei ihrer jeweiligen Auslegung der KSZE-Schlussakte. Obwohl Kohl »eine konstruktivere Haltung« von der westdeutschen Delegation in Belgrad erwartete, würdigte er die »Position des Bundeskanzlers in seinen Gesprächen mit [US-Präsident Jimmy] Carter«, wovon »offenbar ein mäßigender Einfluss […] ausgegangen sei«.245 Das heißt, Schmidt hatte versucht, die lautstarke amerikanische Menschenrechtskampagne im KSZE-Prozess zu mildern, und trotz Kohls Beschwerde vermied die westdeutsche Delegation im Allgemeinen polemische Auseinandersetzungen mit der ostdeutschen Delegation in Belgrad. Dank des MfS wusste Honecker relativ sicher, dass Schmidt seinem Wort treu sein würde und polemische Auseinandersetzungen mit der DDR in Belgrad ausschließen wollte. Schon am 17. Januar 1977 berichtete das MfS in einer Informationsübersicht für Honecker,246 wahrscheinlich auf der Basis eines Berichts ihrer hochrangigen Quelle in der SPD, IM »Max«247: Führende BRD-Regierungskreise gehen davon aus, dass die KSZE-Folgekonferenz nicht zu einem Tribunal über Verletzungen oder Nichtbeachtung der Schlussakte von Helsinki gemacht werden sollte, da auf dieser Basis keine Fortschritte möglich seien. Es gehe vielmehr darum, konkrete Vorschläge zu unterbreiten, durch deren Realisierung die bisher registrierten angeblichen Verletzungen und Missachtungen der KSZESchlussakte in Zukunft ausgeschlossen würden. Man könne an sog[enannte] positive Regelungen mit anderen sozialistischen Ländern (Volksrepublik Polen, Ungarischer Volksrepublik) anknüpfen und diese auch bezüglich der DDR durchzusetzen suchen. Zu diesem Zweck sollen Studien u. a. zu Fragen der Familienzusammenführung und des Kultur- und Informationsaustausches erarbeitet werden. Bundeskanzler Schmidt sei der Auffassung, eine Diskussion der Beziehungen DDR – BRD auf der KSZE-Folgekonferenz in Belgrad könne zu einer Isolierung sowohl der BRD als auch der DDR führen. Er vertrete den Standpunkt, dass diese Probleme bilateral gelöst werden sollten.

Die Versuche der Bundesrepublik, gemeinsam mit ihren westlichen Verbündeten Vorschläge zur Korrektur »angeblicher Verletzungen« der Schlussakte auf dem Treffen einzubringen, erklärt, warum Michael Kohl einerseits über die westdeutsche Delegation klagte, andererseits aber Zufriedenheit mit Schmidts allgemeiner Einstellung zum KSZE-Prozess ausdrückte. Genscher sei aus ostdeutscher Sicht problematischer; das MfS berichtete, dass er trotz seiner eher gemäßigten Haltung zum Belgrader Treffen »nicht völlig auf die Darstellung von aus seiner Sicht 245  Ebenda, S. 261. 246  AUE Nr. 3/77, 17.1.1977. In: BStU, MfS, HV A Nr. 83, Teil 3, Bl. 464–468, hier 465. 247  Am 13.1.1977 lieferte IM »Max«, XV/1628/68, den einzigen in SIRA aufgezeichneten und dem Thema entsprechenden Bericht: »Auffassungen und Widersprüche in Kreisen der Bundesregierung und des PV der SPD zur KSZE-Folgekonferenz«. Der Bericht wurde mit einer »II« bewertet. BStU, MfS, HV A/MD/3, SIRA-TDB 12, SE7700323. Zu »Max« siehe oben 3.2.2.

Das deutsch-deutsche Verhältnis in Belgrad

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negativen Aspekten der Verwirklichung der Schlussakte verzichten« wolle.248 Der Staats­sicherheitsdienst konnte Honecker aber versichern, dass die Bundesrepublik für das Belgrader Treffen keine scharfe Polemik gegen die DDR vorbereite.

4.6 Das deutsch-deutsche Verhältnis in Belgrad Obwohl Schmidt und Honecker vereinbart hatten, das deutsch-deutsche »Tischtuch« in Belgrad nicht zu beschädigen, konnte die DDR nicht sicher sein, dass es keine Änderung in den westdeutschen Plänen für das KSZE-Treffen geben würde. Das war besonders der Fall, weil Genscher sich und seine Partei gegenüber der SPD deutschlandpolitisch profilieren wollte.249 Das hieß in Bezug auf Belgrad, den westdeutschen Standpunkt zur friedlichen Änderung von Grenzen zu bekräftigen und Kritik an der DDR in den Bereichen der Menschenrechte und der menschlichen Kontakte keinesfalls auszuschließen.250 Deshalb musste die ostdeutsche Delegation auf mögliche Polemiken vorbereitet sein, auch wenn sie das sonst vermeiden wollte. Die Hauptabteilung Grundsatz und Planung des MfAA bereitete offenbar in Zusammenarbeit mit einer 1972 gegründeten Interministeriellen Arbeitsgruppe zu Fragen der Europäischen Sicherheitskonferenz entsprechende Argumentationsmaterialien für die ostdeutsche Delegation251 vor. Das MfAA bzw. die interministerielle Arbeitsgruppe hätten auch auf Materialien des MfS252 zurückgreifen können (siehe unten 5.2), aber es ist unklar, ob das erfolgte. Sie hätten vermutlich die Argumentationen des MfS nicht gebraucht, weil in Belgrad das deutsch-deutsche »Tischtuch« weitgehend unbeschädigt blieb. Es gab aber einige Flecken in Form von Auseinandersetzungen zwischen den beiden Staaten auf dem Treffen, insbesondere am Anfang und in den letzten zwei Monaten. Staatssekretär Günther van Well wiederholte in seiner Eröffnungsrede für die Bundesrepublik am 5. Oktober 1977 den westdeutschen Standpunkt zur friedlichen Änderung von Grenzen, unterstrich das Interesse der Bundesrepu248  AUE Nr. 3/77, 17.1.1977, Bl. 465. 249  Wolf nannte Genscher als einen der »Befürworter einer restriktiven Politik gegenüber den sozialistischen Ländern und der DDR«. Es sei deshalb »notwendig«, gegen seine Versuche entgegenzutreten, »sich als Vorreiter einer solchen Politik zu profilieren.« Diskussionsrede des Genossen Wolf, PO [Parteiorganisation] A [Aufklärung], auf der Kreisleitungssitzung am 13. Januar 1977; BStU, MfS, HA IX, Bd. 16266, Bl. 429–438, hier 437. 250  Auffassungen der BRD-Regierung zur KSZE-Folgekonferenz. In: AUE 3/77, 17.1.1977; BStU, MfS, HV A, Bd. 83, Bl. 460–465, hier 465. 251  HA G/P, Maßnahmen zur Vorbereitung des Belgrader Treffens, o. D.; PA AA, MfAA, ZR 2742/95, n. p. Die Rolle dieser Arbeitsgruppe bleibt etwas im Dunkeln, aber sie habe fachspezifische Zuarbeiten zur europäischen Sicherheit bzw. KSZE vorbereiten sollen. Hanisch: Die DDR im KSZE-Prozess 1972–1985, S. 12. 252  ZAIG/1, Materialzusammenstellung zur Unterstützung der Delegation der DDR auf der KSZE-Folgekonferenz in Belgrad, September 1977. In: BStU, MfS, ZAIG, Bd. 30593, Bl. 1–80.

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blik an weiteren Fortschritten im Bereich der menschlichen Kontakte und setzte sich für eine Erweiterung der Arbeitsmöglichkeiten von Journalisten ein.253 Der stellvertretende Delegationsleiter Krabatsch reagierte in seiner Eröffnungsrede, indem er entsprechend seinen Instruktionen254 das Interview Honeckers für die »Saarbrücker Zeitung« zur Souveränität der DDR zitierte. Er erklärte: »Die Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland können und müssen auf den Prinzipien der friedlichen Koexistenz beruhen. Dazu gehören in erster Linie die strikte Achtung der Souveränität und territorialen Integrität, die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten und die Unverletzlichkeit der Grenzen.«255 Das Wortgefecht ging auf der Plenarsitzung in der ersten Woche des Hauptreffens weiter, als über Korb III diskutiert wurde. Der Vertreter der Bundesrepublik betonte am 13. Oktober »besonders stark« die Familienzusammenführung als westdeutsches Anliegen und kritisierte »die erschütternde Bilanz ungelöster Fälle«. Entgegen verschiedenen »Pressemeldungen und Äußerungen auf dem Belgrader Treffen« ginge es der Bundesrepublik nicht um die »Abwerbung von Arbeitskräften«, sondern um »humanitäre Motive«. Ohne die DDR namentlich zu nennen, kritisierte er »hohe Visagebühren (1–2 Monatsgehälter)« für Familienbesuche, »lange Wartezeiten, hohe Zölle für Geschenksendungen, Zwangsmindestumtausch« und die »Pflicht zur Hotelreservierung«. Er thematisierte darüber hinaus den »Informationszugang in einigen Ländern« und »nannte Fälle der Ausweisung von Journalisten, die ihren Beruf entsprechend [der] SA [Schlussakte] ausgeübt hätten und keine Möglichkeit zur Rechtfertigung erhalten hätten, sowie der selektiven Einreiseerlaubnis für Journalisten«.256 Delegationsleiter Krabatsch reagierte am 14. Oktober, indem er die Behauptungen und Äußerungen Honeckers in seinem Interview mit der »Saarbrücker Zeitung« fast wörtlich wiederholt – u. a., dass die DDR »für die Entwicklung des Besucherverkehrs, der Kontakte […] mehr getan, als man angesichts der Haltung gewisser Kreise vielleicht verantworten kann«. In Antwort auf die Kritik der westdeutschen Delegation erklärte Krabatsch: »Wenn man dem einen oder anderen Redner folgt, gewinnt man mitunter den Eindruck, es gehe da-

253  Erklärung des Vertreters der Bundesrepublik Deutschland, Günther van Well, 5.10.1977. In: Wagner; Volle (Hg.): Das Belgrader KSZE-Folgetreffen, S. 96–101, hier 96, 98 f. 254  Direktive für das Auftreten der Delegation der DDR auf dem Belgrader Treffen der Teilnehmerstaaten der KSZE, Anlage 2 zu: Anlage 14 zum PB-Protokoll Nr. 30/77 vom 27.9.1977; SAPMO BA, DY 30, J IV 2/2-1695, Bl. 174–180, hier 177. 255  Erklärung des Vertreters der Deutschen Demokratischen Republik, Ernst Krabatsch (Auszüge), 7.10.1977. In: ebenda, S. 124–126, hier 125. 256  Belgrader Treffen, Plenum ab 10.10.–31.10.1977: Reden – Zusammenfassungen; PA AA, MfAA, ZR 2755/95, n. p.

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rum, eine Ausreisebewegung zu organisieren. Das ist aber doch nicht Sinn und Ziel der Schlussakte.«257 Der ostdeutsche Vertreter listete wie die anderen Vertreter des Ostens eine Reihe von Statistiken über die Verwirklichung des III. Korbes der Schlussakte im kulturellen Bereich, Kontakte ostdeutscher Organisationen zu Vereinen in den anderen Teilnehmerstaaten, auf. Zur Ausweisung von Journalisten erinnerte er die Zuhörer an die östliche Auslegung des Korbes III zu Fragen der Information, dass »die Verbreitung von Informationen […] zur Verständigung zwischen den Völkern beitragen« müsse.258 Der schärfste Wortwechsel zwischen der west- und der ostdeutschen Delegation auf dem Belgrader Treffen fand Mitte Januar 1978 statt. Anlass war die Schließung des Ostberliner Büros des Nachrichtenmagazins »Der Spiegel« am 10. Januar nach der Veröffentlichung eines von Hermann von Berg 259 verfassten »Manifests des Bundes demokratischer Kommunisten Deutschlands« und die Ablehnung der Einreise Helmut Kohls nach Ostberlin durch ostdeutsche Behörden. Nach der Schließung des »Spiegel«-Büros war alles ähnlich verlaufen wie nach der Ausweisung Mettkes und Loewes. Die Bundesrepublik hatte dagegen als Verstoß gegen die KSZE-Schlussakte protestiert, und die DDR wies diese Auslegung der Schlussakte durch die Bundesrepublik zurück und verwies auf ihre Journalistenverord­nung und ihre souveräne Entscheidung.260 Der Vertreter der Bundesrepublik in Belgrad reagierte sowohl auf die Schließung des »Spiegel«-Büros als auch die Einreiseverweigerung für Kohl in einer Rede auf der Plenarsitzung am 17. Januar. Er »bedauerte« bestimmte »Rückschläge« in den Arbeitsbedingungen für Journalisten und verwies darauf, dass »einem Publikationsorgan die Mögl[ichkeit] der Berichterstattung in einem TS [Teilnehmerstaat] genommen wurde«. Er vermerkte auch »mit Besorgnis wiederholte Einrei257  Siehe die 6-seitige Rede des DDR-Vertreters am 14.10.1977 in: Belgrader Treffen, Plenum ab 10.10.–31.10.1977: Reden – Zusammenfassungen. In: PA AA, MfAA, ZR 2755/95, S. 4 f. 258 Ebenda. 259  Von Berg, der nach dem Rücktritt von seiner früheren politischen bzw. geheimdienstlichen Tätigkeit als Professor an der Humboldt-Universität gearbeitet hatte, wurde im Januar 1978 vom MfS verhaftet, für 3 Monate verhört und dann entlassen. Trotz strenger Überwachung durch das MfS übermittelte er zwei kritische Bücher über den Marxismus 1985 an einen Kölner Verlag und stellte im selben Jahr einen Ausreiseantrag. Er wurde wieder vom MfS verhört, mit Haft bedroht und von seiner damaligen Stelle entlassen. Nach der Intervention einiger westdeutscher Politiker – darunter einiger Gesprächspartner aus seinen Jahren als IM »Günther« – wurde von Berg 1986 aus der DDR-Staatsbürgerschaft entlassen und in die Bundesrepublik ausgewiesen. Siehe von Berg, Hermann. In: Müller-Enbergs, Helmut; Wielgohs, Jan; Hoffmann, Dieter; Herbst, Andreas; Kirschey-Feix, Ingrid (Hg.): Wer war wer in der DDR? 5. Aufl., Berlin 2010, verfügbar online: http://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-in-derddr-%2363%3B-1424.html?ID=210. 260  Fernschreiben des Leiters der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland Gaus über das Gespräch mit dem Abteilungsleiter im Außenministerium der DDR Seidel, 10.1.1978. In: DzD VI/5, S. 477–479.

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severweigerungen für BRD-Bürger durch einen TS, offensichtl[ich] aufgrund von deren polit[ischen] Anschauungen«.261 Obwohl der westdeutsche Vertreter die DDR nicht namentlich genannt hatte, stellte der ostdeutsche Vertreter klar, dass es um die DDR ging. Zur Schließung des »Spiegel«-Büros stellte der DDR-Vertreter die ostdeutsche Position offensiv dar: Was die Arbeitsbedingungen für ausländische Journalisten betrifft, ist die Sache in der Schlussakte eindeutig geregelt. Wenn jemand glaubt, sei es ein Journalist, sei es ein Nachrichtenmagazin, sich zum Wortführer des psychologischen Krieges machen zu müssen, muss er sich auf die Konsequenzen einrichten. In einem anderen Land akkreditiert zu sein, ist kein angeborenes Recht, es wird auch nicht auf Lebenszeiten zuerkannt. […] Ich darf ihn [den westdeutschen Vertreter] daran erinnern, dass die Schlussakte von Arbeitsbedingungen für Journalisten spricht. Nicht für Fälscher und Verleumder. Und gerade die Schlussakte stellt auch die Tätigkeit der Journalisten ausdrücklich unter die großen Ziele der Festigung des Friedens, der Völkerverständigung und der geistigen Bereicherung der menschlichen Persönlichkeit.262

Zu der Verweigerung der Einreise von Helmut Kohl kommentierte er: »Was die Einreisepraxis der DDR betrifft, so möchte ich jetzt kein Seminar für konsularische oder Rechtsfragen abhalten. […] Jeder weiß – und es steht ebenso in der Schlussakte –, dass das Regime der Ein- und Ausreise der Souveränität und Rechtshoheit der Staaten untersteht. Nur sie entscheiden, wer ihr Territorium betritt.«263 Er warnte: Wenn der Vertreter der Bundesrepublik »erneut zur Zeit der ›Falldiskussion‹ auf dem Belgrader Treffen zurückkehren will«, besitze die DDR-Delegation »genügend Material dafür« und würde »in jedem Fall davon Gebrauch machen, wenn die Notwendigkeit dafür besteht«.264 Es gab aber keine weitergehenden Polemiken zwischen den west- und ostdeutschen Delegationen in Belgrad. Deshalb war es eine Übertreibung, als Krabatsch in dem von ihm entworfenen Bericht an das SED-Polit­büro »über Verlauf und Ergebnisse des Belgrader Treffens« die Aggressivität der westdeutschen Delegation und den angeblichen Kampf zwischen ihr und den ostdeutschen Vertretern in Belgrad hervorhob: Die BRD unterstützte nachdrücklich das provokatorische Auftreten der USA. Sie bekräftigte ihre revanchistische Konzeption des ›Offenhaltens der deutschen Frage‹ in Verbindung mit der Forderung nach mehr ›Freizügigkeit‹. Die wurde von der Delegation der DDR in gebührender Form zurückgewiesen. Die Delegation der BRD trug mehrfach Angriffe gegen die DDR im Zusammenhang mit der Ein- und Aus-

261  Belgrader Treffen, Reden, Plenum am 17.1.1978; PA AA, MfAA, ZR 2755/95, n. p. 262  Rede der DDR-Delegation, 17.1.1978; PA AA, MfAA, ZR 2755/95, 4 S., hier 3 f. 263  Ebenda, S. 3. 264  Ebenda, S. 2.

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reiseproblematik sowie den Arbeitsbedingungen ausländischer Journalisten vor, die ebenfalls zurückgewiesen wurden.265

Hinter den Kulissen gab es zwischen Schmidt und Honecker auch darin Übereinstimmung, dass die zwei genannten »Verschärfungen« die Gesamtbeziehungen Bundesrepublik – DDR nicht beeinträchtigen sollten. So hatten sie sich in einem Telefongespräch am selben Tag verständigt, als ihre Vertreter in Belgrad miteinander polemisierten.266 In Antwort auf einen Brief Schmidts stimmte Honecker der Diskussion einer Reihe gemeinsamer Verkehrs- und Energieprojekte auf bilateraler Basis zu. Über den Reiseverkehr könnte man auch sprechen, so Honecker, obwohl bestimmte Themen (z. B. Alter der Reisenden von der DDR nach der Bundesrepublik) ausgeklammert werden müssten. Honecker sagte: »Die Entwicklung dieser Dinge hänge vom Gesamtklima ab.«267

4.7 Die Unterdrückung der Ausreisebewegung und ihre Grenzen 1976 bis 1979 Weil die meisten Ausreisewilligen die KSZE-Schlussakte als Rechtfertigung für ihre Übersiedlungsersuchen betrachteten, hatte das SED-Regime während des KSZE-Nachfolgetreffens in Belgrad einen drastischen Anstieg solcher Anträge erwartet. Dazu kam es aber nicht. Von 1976 bis 1978 war sogar ein kontinuierlicher Rückwärtstrend zu verzeichnen. Die Zahl der Erstanträge auf Ausreise sank von 1976 bis 1977 um 19 Prozent. Nach der Veröffentlichung des inhaltsarmen Schlussdokuments des Belgrader Treffens im »Neuen Deutschland« fiel die Anzahl der Anträge noch weiter. Von 1977 bis 1978 registrierte das Ministerium des Innern (MdI) einen Rückgang von Übersiedlungsersuchen um 46,2 Prozent. Die Zahl der Erstanträge fiel noch weiter, von etwa 2 600 im Jahr 1977 auf 1 300 im Jahr 1978.268 Ein weiteres Indiz des Abflauens der Ausreisebewegung in den Jahren 1976 bis 1978 waren die sinkenden Besucherzahlen in

265  Fischer und Mahlow: Vorlage für das Politbüro des ZK der SED, Bericht über Verlauf und Ergebnisse des Belgrader Treffens, 10.3.1978; SAPMO BA, DY 30, J IV 2/2A-2139, Bl. 42–50, hier 45 f. 266  Telefongespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit dem Generalsekretär des Zentralkomitees der SED Honecker, 18.1.1978. In: DzD VI/5, S. 493–496, hier 493, 495. 267  Ebenda, S. 494. 268  Hanisch: DDR im KSZE-Prozess, S. 233. Vgl. auch Eisenfeld: Die Ausreisebewegung – eine Erscheinungsform widerständigen Verhaltens, S. 211 f.; Lochen, Hans-Hermann; MeyerSeitz, Christian: Die geheimen Anweisungen zur Diskriminierung Ausreisewilliger: Dokumente der Stasi und des Ministeriums des Innern. Köln 1992, passim.

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DDR, deutsche Frage und KSZE-Prozess

der Ständigen Vertretung (StäV) der Bundesrepublik in Ostberlin. Nach einer hohen Anzahl 1976 sanken sie auf circa 5 000 1977, 2 800 1978 und 2 000 1979.269 Die Repressionsstrategie des SED-Regimes, bei deren Formulierung das MfS eine wesentliche Rolle gespielt hatte, verfehlte ihre Wirkung nicht.270 Der Leiter der StäV der Bundesrepublik Gaus malte ein düsteres Bild von der Lage der Ausreiseantragsteller 1980 in einem Schreiben an das Bundeskanzleramt. Ihre Anträge seien schnell, rigoros und endgültig abgelehnt. Darauf folgten Gespräche mit ihnen im Betrieb, bei den örtlichen Behörden und »manchmal auch bei der Kriminalpolizei oder beim Staatssicherheitsdienst«. Gaus schrieb: »Scharf wird hervorgehoben, dass es ein Recht auf Ausreise nicht gebe.«271 Obwohl »Verständnis für die persönlichen Probleme des Ausreisewilligen« vereinzelt ausgedrückt würde, verhielten sich die ostdeutschen Behörden überwiegend »repressiv bis hin zu Brutalität«. Wenn der Antragsteller weiterhin auf seine Ausreise beharrte, würde er ausdrücklich vor der Einschaltung von westlichen Medien und Institutionen gewarnt und ihm würde mit »strafrechtlichen und arbeitsrechtlichen Konsequenzen gedroht«. Eltern würden mit Nachteilen für die Kinder in Ausbildung und Fortkommen und »hin und wieder mit dem Entzug des Erziehungsrechtes« gedroht. Häufig würde der Ausreisewillige »auf einen minderbewerteten und schlechter bezahlten Arbeitsplatz« versetzt, und wenn er kündigt, werde es fast unmöglich, »eine neue angemessene Beschäftigung zu finden«. Besuchsreisen in den Westen seien – »auch in dringenden Familienangelegenheiten – für Ausreisewillige so gut wie ausgeschlossen«. Nicht selten würde Ausreisewilligen der Personalausweis abgenommen und durch ein »provisiorisches Personaldokument (sog. PM 12)« ersetzt, mit dem Reisen auch in das sozialistische Ausland unmöglich sei.272 Die Arbeit des MfS wurde indirekt von Gaus erwähnt: Viele Ausreisewilligen berichten von Eingriffen in ihren Post- und Telefonverkehr, von der Überwachung ihrer Wohnung und der Observierung ihrer Person und ihres Verwandten- und Bekanntenkreises. Schriftliche und fernmündliche Kontakte zu westlichen Verwandten werden vielfach unterbunden. Westliche Verwandte und Bekannte von Ausreisewilligen müssen mit Einreiseverboten rechnen.273

Solche Maßnahmen »in ihrer Gesamtheit oder in unterschiedlichen Kombinatio­ nen« führten »oft zu schweren gesundheitlichen Schäden und Nevenkrisen«. Es gäbe auch mehrere Fälle von Inhaftierungen und Verurteilungen von Ausreisewilligen im Zusammenhang mit »weitergehendem Verhalten der Ausreisewilli269  Ebenda, S. 234. Siehe auch Schreiben des Leiters der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland Gaus an den Staatsminister beim Bundeskanzler, Huonker, 20.8.1980. In: DzD 1979–1980, S. 625–630, hier 630. 270  Ebenda, S. 234. Siehe auch Schreiben von Gaus an Huonker, 20.8.1980, S. 629. 271  Schreiben von Gaus an Huonker, 20.8.1980, S. 626. 272  Ebenda, S. 627. 273  Ebenda, S. 628.

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gen« – zum Beispiel »gemeinsame Protestaktionen, öffentliche Demonstrationen, demonstrative Arbeitsniederlegung, Verbindungsaufnahme zu westlichen Institutionen und Medien, politisch-polemische Begründung von Ausreiseanträgen)«.274 Gaus fasste zusammen: Die vielfältigen Schwierigkeiten, die jedem drohen, der einen Ausreiseantrag stellt, sind in der DDR inzwischen allgemein bekannt. Dies hat zu einem deutlichen Rückgang der aktiven Ausreisebestrebungen geführt. […] Der Antragsteller von heute ist in der Regel ein öffentlich diskriminierter und sozial verfemter Einzelgänger, dessen Lage auf andere Bürger nicht erstrebenswert, sondern abschreckend wirken muss. Nicht zuletzt diese veränderte Optik dürfte bewirkt haben, dass die Regierung die Situation im Bereich der Ausreiseprobleme weitgehend stabilisiert halten kann.275

Die Einschätzung von Gaus schien den Erfolg der Repressionsstrategie der SED und MfS zu bestätigen. Weniger erfreulich für SED und MfS war die Tatsache, dass Gaus seinen Bericht im Zusammenhang mit der »Berichterstattung zur KSZE-Implementierung in der DDR« verfasste.276 Die Bundesregierung würde auf dem Madrider Treffen, wie in Belgrad, versuchen ins Abschlussdokument einen Absatz einzubringen, dass Repressionsmaßnahmen gegen Ausreiseantragsteller einzustellen seien, auch wenn die Bundesregierung außerhalb der Familienzusammenführung kein Recht auf Übersiedlung postulierte. Trotz dieses eher außenpolitischen Problems war Honecker seinerseits mit dem Rückgang der Ausreiseanträge zufrieden. Dass es keine größeren, öffentlichkeitswirksamen Demonstrationen seit der Riesa-Petition gegeben hatte, zeigte, so Honecker, dass die DDR die Drohung einer vom Westen organisierten Helsinki-Gruppe oder »Bürgerrechtsbewegung« erfolgreich im Keim erstickt habe.277 Das stand zum Beispiel im Gegensatz zu der Lage in Polen, wo nach der Einschätzung der SED die nicht erfolgte Unterdrückung von KOR und anderen Gruppen, die sich auf die KSZE-Schlussakte beriefen, zur SolidarnośćBewegung und der daraus entstandenen Gefahr für das kommunistische Regime Polens geführt hatte. Ein Mitglied des polnischen Politbüros, das über die Lage in Polen nach der Legalisierung von Solidarność in Ostberlin berichten sollte, bekam im September 1980 von Honecker zu hören: In der VR [Volksrepublik] Polen arbeiteten einige ›Komitees‹ zeitweise fast legal. Sie konnten aber erst mit den wachsenden Mängeln im Lande zum Angriff übergehen. 274 Ebenda. 275  Ebenda, S. 629 f. 276  Ebenda, S. 625. 277  Ausführungen des Genossen Erich Honecker im Gespräch mit Genossen Andrzej Żabiński, Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei am 13. September 1980; SAPMO BA, DY 30/2477, Bl. 53–69, hier 61.

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Auch in der DDR gibt es solche Kräfte. Nach der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki ist in Riesa ein solches Komitee zum Schutz der Menschenrechte entstanden. Die Rädelsführer haben wir festgenommen und abgeurteilt, mit anderen gesprochen und sie von ihren Fehlern überzeugt. Das Westfernsehen hat wochenlang Informationen gesendet, wonach dieser oder jener Bürger der DDR aus dieser oder jener Stadt zum Sturz der Regierung aufrief, und hat proklamiert, dass 200 000 Bürger der DDR in die BRD ausreisen wollen. Der Aufruf zum Umsturz wurde also ganz offen verbreitet. […] Löwenthal hat damals in einer Sendung des BRD-Fernsehen Akten über wirklich oder angeblich verhaftete DDR-Bürger gezeigt und versucht, einen großen Rummel zu veranstalten. Das war seine letzte Sendung aus der DDR.278

Mit anderen Worten: Die DDR hatte im Gegensatz zu Polen die nach dem Abschluss der KSZE-Schlussakte entstandene Bedrohung einer angeblich vom Westen gesteuerten »Bürgerrechtsbewegung« in Form der Ausreisebewegung gemeistert. Die Aussage Honeckers war aber verfrüht. Sie traf zu, wenn es um größere, öffentlichkeitswirksame Aktionen von Ausreisewilligen in der DDR ging. Die Aufklärung und Verhinderung solcher Demonstrationen gehörte selbstverständlich zu den Aufgaben der Staatssicherheit, die seit der Riesa-Petition gegenüber Antragstellern besonders wachsam geworden war. 1977 meldete das MfS Versuche unter Ausreisewilligen in mehreren Bezirken, sich zusammenzuschließen, aber diese seien, so die ZKG, vom MfS »wirkungsvoll« verunsichert, »zersetzt« und zerschlagen worden. 1978 hieß es nur, dass Ausreiseantragsteller weiterhin bestrebt seien, sich »mit Gleichgesinnten zusammenzuschließen«, aber hauptsächlich um sich zu beraten und ihre Vorgehensweise gegenüber den ostdeutschen Behörden abzustimmen. Für das Jahr 1979 konnte die ZKG berichten, dass die Absicht des »Gegners« vereitelt worden sei, »staatsfeindliche Gruppen« unter Ausreisewilligen zu »formieren«.279 Trotz der Prahlerei Honeckers gegenüber den Polen und der Berichterstattung Gaus’ nach Bonn blieb die Ausreisebewegung für das SED-Regime bis zu ihrem Untergang im Jahr 1989 ein Problem. Obwohl die Anzahl der Erstanträge auf ständige Ausreise von 1976 bis 1978 zurückging, gab es immer noch das Pro­blem der hartnäckigen Antragsteller, die ihr Übersiedlungsersuchen wiederholt geltend machten. Trotz aller Repressionsmaßnahmen genehmigte die DDR weiterhin Ausreiseanträge von solchen Personen, um deren negativen Einfluss auf andere DDR-Bürger zu verringern. 1977 drosselte das SED-Regime die genehmigten Anträge auf etwa 3 500, aber bis 1979 stieg die Zahl wieder auf 5 400 an.280 Im Ge-

278  Ausführungen Honeckers im Gespräch mit Żabiński, Bl. 61. 279  Hanisch: DDR im KSZE-Prozess 1972–1985, S. 237. 280  Ebenda, S. 234; Eisenfeld: Die Zentrale Koordinierungsgruppe, S. 50.

Die Unterdrückung der Ausreisebewegung und ihre Grenzen 1976 bis 1979

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gensatz zu anderen Ausreisewilligen zitierten solche hartnäckigen Antragsteller oft das Belgrader KSZE-Treffen als rechtliche Grundlage für ihre Ausreisewünsche.281 Zu einem größeren Problem für das SED-Regime wurden die sogenannten »Rückverbindungen« von Antragstellern, deren Übersiedlung nach der Bundesrepublik aus »politisch-operativen« Gründen genehmigt worden war. Diese Übersiedler hielten sehr oft den Kontakt zu ostdeutschen Bekannten und Verwandten aufrecht und in nicht wenigen Fällen ermutigten sie sie zu ihren Ausreisewünschen. Kurzfristig hatten die genehmigten Ausreisen in den Jahren 1976 bis 1979 zu einem Rückgang bei den Übersiedlungsanträgen beigetragen, aber das MfS bemerkte schon 1979, dass solche genehmigten Ausreisen langfristig zu einem Wachstum bei Übersiedlungsersuchen führten. Auf Anregung des MfS wurden deshalb 1979 in mehreren Fällen die Personalausweise von Antragstellern zurückgezogen und durch den PM 12 ersetzt. Zumindest konnte das MfS auf diese Weise Treffen zwischen erfolgreichen und neuen Antragstellern im sozialistischen Ausland vermeiden.282 Der Rückgang der Ausreiseanträge war auch nur von kurzer Dauer. Im Jahr vor dem Madrider Treffen 1979 stieg die Anzahl der Ausreiseanträge auf 9 200. Das führte dazu, dass Mielke sein eigenes Ministerium kritisierte, weil es angeblich bei der Umsetzung seines Befehls 6/77 nachgelassen hatte. Er forderte das Ministerium auf, die Antragsteller in operativen Vorgängen (OV) und operativen Personenkontrollen (OPK) zu bearbeiten, um Demonstrativhandlungen zu verhindern. Inoffizielle Mitarbeiter sollten konsequenter eingesetzt werden, damit auf Übersiedlungsabsichten möglichst früh reagiert werden konnte.283 Das MfS warf anderen Regierungsstellen vor, die Verfügung 34/77 des Ministerrates nicht konsequent genug zu implementieren. Das gelte besonders für die Betriebe und die Räte des Innern der Bezirke, die sich die »gesamtgesellschaftliche Aufgabe« der Zurückdrängung von Ausreiseanträgen nicht zu eigen gemacht hätten. Zu oft betrachteten sie das als alleinige Aufgabe der Staatssicherheit und versuchten, unangenehme Gespräche mit Arbeitnehmern bzw. Antragstellern zu vermeiden.284 Mielke war auch mit dem »politisch-operativen Zusammenwirken« mit Polizei und Innenministerium bei der »Zurückdrängung« der Ausreisebewegung unzufrieden. Im Dezember 1979 erließ er deshalb eine Dienstanweisung, die die Einflussnahme des MfS auf das MdI stärken sollte.285 Die Schritte von Mielke zeigten, dass das MfS die Ausreisebewegung nicht allein »zurückdrängen« konnte. Nicht nur andere Staatsorgane bzw. Betriebe mussten tätig werden, viel hing zudem von der Politik der Staats- und Par281  Hanisch: DDR im KSZE-Prozess 1972–1985, S. 235. 282  Ebenda, S. 238; Eisenfeld: Die Ausreisebewegung, S. 213. 283  Ebenda, S. 242, 244. 284  Ebenda, S. 240, 246–248. 285  Ebenda, S. 245.

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DDR, deutsche Frage und KSZE-Prozess

teiführung bzw. der Politik der Sowjetunion gegenüber der Bundesrepublik ab, auch im KSZE-Prozess.

4.8 Moskau, Mielke und der »Moskauer Flügel« des SED-Politbüros Obwohl die Ausreisebewegung die größte Herausforderung für die DDR infolge der KSZE-Schlussakte war, wurde sie im Verhältnis des MfS mit den »Bruderorganen« nur selten und kurz zum Gesprächsthema.286 Das war im Fall der kleineren sozialistischen Länder verständlich. Ihnen gegenüber wollte das MfS Klage über die »Internationalisierung« der Menschenrechtsbewegung führen und sich als Vorbild für die anderen Staatssicherheitsdienste profilieren. Der begrenzte Erfolg des MfS in Bezug auf die Ausreisebewegung passte nicht in dieses Bild. Gegenüber dem KGB war das MfS offener. Es thematisierte die Ausreisebewegung als Problem infolge der Helsinki-Schlussakte.287 Interessanterweise vertieften die Vertreter des KGB das Thema nicht, obwohl es Vergleichsmomente mit jüdischen und anderen Ausreisewilligen – u. a. Volksdeutschen – in der UdSSR gab. Die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung westdeutscher »Feindorganisationen« wie der GfM, die sowohl die ostdeutsche Ausreisebewegung als auch sowjetische Dissidenten unterstützte, führte zwischen MfS und KGB nicht zu ausführlichen Gesprächen über das Thema Ausreise.288 Der KGB war trotzdem besorgt: Er meldete die wachsende Anzahl von Ausreiseanträgen an die sowjetische Führung.289 Der Grund, warum es nicht zu vertieften Gesprächen kam, war offenbar die Tatsache, dass die sowjetische Partei- und Staatsführung aus ihrer Sicht die entsprechende Lösung der Ausreiseproblematik bzw. aller Probleme in den deutsch-deut286  Ausnahmsweise erklärte der stellvertretende Minister für Staatssicherheit Rudi Mittig auf der PiD-Beratung in Moskau im April 1980: »Nach wie vor halten die Versuche zum ungesetzlichen Verlassen der DDR an. Bestimmte feindlich-negative Kräfte setzen ihre Bestrebungen fort, im Zusammenwirken mit feindlichen Zentren, Organisationen und Kräften bzw. akkreditierten Korrespondenten eine Übersiedlung in nichtsozialistische Staaten und nach Westberlin zu erzwingen und zu diesem Zweck auf staatliche Organe mit provokativ-demonstrativen Handlungen Druck auszuüben.« Ausführungen des Leiters der Delegation des MfS auf der multilateralen Beratung der Bruderorgane zu Problemen der Bekämpfung der ideologischen Diversion, o. D.; BStU, MfS, ZAIG, Bd. 5166, Bl. 2–49, hier 15. 287  Siehe z. B. Erstfassung, Niederschrift zum Empfang der sowjetischen Delegation durch den Genossen Minister am 26.5.1978; BStU, MfS, HA IX, Bd. 10252, Bl. 141–151, hier 144. 288  Siehe z. B. HA XX, Beratung mit sowjetischen Tschekisten in der Zeit vom 19.4. bis 24.4.1976 im Gästehaus des MfS Oberseestraße in der Hauptstadt der DDR, Berlin, 29.4.1976. In: BStU, MfS, HA XX/AKG, Bd. 779, Bl. 117–172, hier 124; Mitrokhin Archive: On Human Rights, Folder 51, Chekist Anthology; Wilson Center Digital Archive, http://digitalarchive.wilson center.org/document/110120, Bl. 3 f. 289  Siehe Mitrokhin Collection, Cambridge University, MITN 2/19/1, Socialist Countries-I (Part I), Item 270.

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schen Beziehungen Honecker schon längst vorgeschlagen hatte: eine Politik der konsequenten Abgrenzung der DDR von der Bundesrepublik. Wie in seinem früheren Gespräch mit Honecker auf der Krim im Jahr 1976 (siehe oben 4.1), warnte Breschnew Honecker 1977 am selben Ort vor der Schmidt-Regierung: »[A]uf Pläne zur Untergrabung der sozialistischen Position der DDR werden sie nicht verzichten. Aus diesem Grunde wollen sie mit der DDR reden über Erleichterung menschlicher Kontakte, die Erweiterung bestehender Kontakte. Praktisch verfolgen sie das Ziel, die DDR näher an die BRD heranzuziehen.«290 Breschnew thematisierte erneut die Frage der jährlich 8 Millionen Besucher aus der Bundesrepublik in der DDR und befragte Honecker zu den Annäherungsversuchen der Bundesrepublik an die DDR: »Wie gedenkst Du darauf zu reagieren?«291 Leider enthielt Honeckers Niederschrift von dem Gespräch keine Antwort von seiner Seite. Nach dem Besuch Breschnews in Bonn im April 1978 reiste Gromyko im Anschluss nach Ostberlin, um Honecker vor falschen Schlussfolgerungen besonders in Bezug auf die deutsch-deutschen Beziehungen zu warnen.292 Noch nachdrücklicher als Breschnew ermahnte Gromyko das ostdeutsche Staatsoberhaupt wegen der wachsenden Beziehungen zwischen DDR und Bundesrepublik und der immer größeren Verschuldung der DDR im Westen. Gromyko nannte u. a. »jährlich etwa 8 Millionen Besucher aus der BRD in der DDR«, »35 Millionen Telefongespräche zwischen Bürgern beider Staaten« und »30 Millionen Päckchen im Verkehr zwischen beiden Staaten«.293 Der sowjetische Außenminister thematisierte sogar die wachsende Anzahl von Ausreiseanträgen. Er habe »freundschaftlich« darüber sprechen wollen, »da er weiß, dass auch Genosse Honecker über diese Fragen besorgt ist«.294 Gromyko schlug der DDR einen Abbau der Verschuldung vor, Schritte zur Reduzierung des Besucherstroms aus dem Westen (z. B. durch eine Erhöhung von Visagebühren), die Liquidierung aller Überreste »innerdeutscher Beziehungen« und engere Konsultationen zwischen Moskau und Ostberlin über die deutsch-deutschen Beziehungen.295 Honeckers Antwort auf die sowjetischen Beschuldigungen bezüglich der deutsch-deutschen Beziehungen war einfach: »Die Lage in der DDR ist stabil.« Er stellte die Bedenken von Gromyko infrage bzw. spielte sie herunter. Die westliche Presse habe zum Beispiel von über 200 000 Übersiedlungsersuchen geschrieben; in Wahrheit, so Honecker, gebe es nur circa 2 000 solcher Anträ-

290  Niederschrift über ein Treffen des Genossen E. Honecker mit Genossen L. I. Breschnew am 19. Juli 1977 auf der Krim. In: Hertle; Jarausch (Hg.): Risse im Bruderbund, S. 136– 145, hier 141. 291  Ebenda, S. 141 f. 292  Altrichter, Helmut: »Entspannung nicht auf Kosten des Sozialismus«. Das Treffen Andrei Gromyko – Erich Honecker am 11./12. Mai 1978. In: VfZ 59 (2011) 1, S. 121–147, hier 121 f. 293  Ebenda, S. 123 f. 294  Ebenda, S. 132. 295  Ebenda, S. 124.

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ge.296 Die Zahl zu diesem Zeitpunkt war tatsächlich über 20 000.297 Honecker erklärte, die DDR werde sich wirtschaftlich von der Bundesrepublik nicht abhängig machen. Das SED-Politbüro werde sogar ein Programm vorschlagen, um die Verschuldung der DDR abzubauen, aber das sähe größere Importe aus der UdSSR vor, die nach Honeckers Wissen von der UdSSR nicht genehmigt würden – zum Beispiel Edelmetalle und Getreide.298 Trotz der Beteuerungen Honeckers gegenüber den Sowjets unterzeichnete die DDR am 16. November 1978 eine Verkehrsvereinbarung mit der Bundesrepublik, die verschiedene Pauschalzahlungen der Bundesrepublik an die DDR in Milliardenhöhe im Gegenzug für die Verbesserung der Infrastruktur für den Verkehr zwischen der Bundesrepublik und der DDR vorsah. Im Oktober 1978 hatte Honecker Helmut Schmidt in einem Telefongespräch versprochen, humanitäre Fragen – u. a. Familienzusammenführungen und Reisen in dringenden Familienangelegenheiten – »großzügiger« zu behandeln.299 Gromyko, der von Außenminister Fischer über die Vereinbarung erst informiert wurde, nachdem sie ausgehandelt war, erklärte: »Das ist eine Schweinerei. Das ist immer so bei Euch. Immer setzt Ihr uns unter Druck. Wir lassen uns nicht erpressen. So kann man mit uns nicht verfahren.«300 Ein Zeichen des Misstrauens Moskaus gegenüber der Deutschlandpolitik Honeckers war die Tatsache, dass der geheime Kanal des KGB ausdrücklich vor einem Treffen von Schmidt mit Honecker vor einem geplanten – aber wegen des Doppelbeschlusses verschobenen – Treffen Schmidts mit Breschnew warnte.301 Der geheime Kanal Andropows diente damit noch einmal der sowjetischen Zielsetzung, die Abgrenzung der DDR von der Bundesrepublik zu fördern. Im Jahr 1979 gab es eine umgekehrte Konstellation. Nachdem Breschnew Honeckers Wunsch zugestimmt hatte, Schmidt in die DDR einzuladen, legte Gromyko plötzlich Anfang Dezember 1979 ein Veto ein. Obwohl die DDR an der Idee eines solchen Treffens festhalten dürfe, so Gromyko, sei ein Besuch zu diesem Zeitpunkt ein einseitiges »Geschenk« an Bonn, »im Sinne des Durch-

296  Ebenda, S. 143. Siehe auch Hanisch: DDR im KSZE-Prozess, S. 226 f. 297  Eisenfeld: Flucht und Ausreise, S. 385; Hanisch: DDR im KSZE-Prozess, S. 227. 298  Hanisch: DDR im KSZE-Prozess, S. 227. 299  Ebenda, S. 227 f. 300  Seidel: Berlin-Bonner Balance, S. 226; Wentker: Außenpolitik in engen Grenzen, S. 405. 301  Lednew und Keworkow unterrichteten Bahr am Rande des SPD-Parteitages im Dezember 1979, dass keine Treffen Schmidts mit Breschnew oder Honecker in der nächsten Zeit stattfinden würden. Bahr schrieb nieder: »Man sei natürlich über alles informiert, was Du mit H[onecker] besprochen hast und wird nicht zulassen – das gilt auch für H. –, wenn der Eindruck entstünde, als ob Du mit H. zusammentreffen könntest, solange es keinen Termin mit Br[eschnew] gibt. Man wolle uns nicht von den Amerikanern trennen, aber wir könnten auch die DDR nicht von der Position der Sowjetunion trennen.« In: DzD, 1979–1980, S. 259, Fn 11.

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bringens des NATO-[Doppel]Beschlusses«302 – damals das prioritäre Angriffsziel der sowjetischen Außenpolitik.303 Nach der Verabschiedung des Doppelbeschlusses im Dezember 1979 wollte Moskau der Bundesrepublik im Allgemeinen die Stirn bieten. Auf einem Treffen der ZK-Sekretäre der »Bruderparteien« für internationale und ideologische Fragen im Februar 1980 bestand Ponomarjow auf einer Isolierung der Bundesrepublik wegen Schmidts Rolle bei dem Zustandekommen des NATO-Doppelbeschlusses. Er stellte an Moskaus Verbündete die Forderung, alle politischen Kontakte nicht nur zu den USA, sondern auch zur Bundesrepublik einzustellen. Im Falle der Bundesrepublik solle man abwarten, bis die Schmidt-Regierung »konkrete Schritte für die Entspannung« unternehme.304 Die sozialistischen Länder hätten ihrerseits besser daran getan, nicht in wirtschaftliche Abhängigkeit zur kapitalistischen Welt zu geraten und die Zusammenarbeit und Integration innerhalb des östlichen Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) voranzubringen.305 Die Forderung Ponomarjows traf auf Widerstand von praktisch allen anwesenden Vertretern der »Bruderparteien«.306 Die Abhängigkeit des Ostens und besonders Moskaus Verbündeter von wirtschaftlichen Beziehungen mit dem Westen machte eine Politik der Isolierung der Bundesrepublik nur schwer und begrenzt durchführbar. Der Internationale Sekretär der ungarischen Partei András Gyenes unterstrich in seiner Rede die Notwendigkeit der »Aufrechterhaltung der politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Beziehungen mit den westeuropäischen Ländern« – d. h., auch mit der Bundesrepublik.307 Der für Ideologie zuständige Sekretär der polnischen Partei Andrzej Werblan machte in seiner Rede ähnliche Andeutungen.308 302  Protokoll über das Gespräch des Generalsekretärs des Zentralkomitees der SED Honecker mit dem Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU und Außenminister der UdSSR Gromyko (Auszug). In: DzD, 1979–1980, S. 311–325, hier 316. 303  Report by the Minister of Foreign Affairs (Petûr Toshev Mladenov) to the Politburo of the CC of the Bulgarian Communist Party, 27.5.1980, S. 4, English translation. In: Mastny u. a. (Hg.): PHP, WP Leaders, http://www.php.isn.ethz.ch/lory1.ethz.ch/collections/colltopic cee9.html?lng=en&id=18294&navinfo=14465. Siehe auch Rede des Ersten Sekretärs des ZK der KPdSU Breschnew, 15.5.1980. In: ebenda, http://www.php.isn.ethz.ch/lory1.ethz.ch/collections/ colltopic3004.html?lng=en&id=18308&navinfo=14465 (20 Bl.), hier 11 304  Rede Ponomarjows, 26.2.1980; AAN, KC PZPR, XIA/620, Bl. 16–45, hier 31 f. 305  Ebenda, Bl. 32 f. 306  Tschernjajew: Tagebuch, 3.3.1980; Rossiskije Programmy Archiva Nazionalnoi Besopasnosti, http://www.gwu.edu/~nsarchiv/rus/Chernyaev.html. Nur der Vertreter der ČSSR gab sich kämpferisch auf der Seite Moskaus gegen irgendwelche Flexibilität gegenüber der Bonner Regierung. Siehe Gyula Horn, Report on the meeting of the foreign secretaries of the closely cooperating socialist countries in Moscow, 29.2.1980; Wilson Center Digital Archive, http:// digitalarchive.wilsoncenter.org/document/112495. 307 Ebenda. 308  TEZY wystąpienia tow. A. Werblana w Moskwie w dniu 26.II.1980r. [Thesen für die Rede Gen. A. Werblan in Moskau am 26.2.1980]; AAN, KC PZPR, XIA/620, Bl. 5–15, hier 11.

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Der ebenfalls anwesende Hermann Axen war schon im Januar 1980 auf Anweisung Honeckers nach Moskau gereist, um gegenüber Ponomarjow und dem ZK-Sekretär für Ideologie Michail Suslow trotz des NATO-Doppelbeschlusses für den geplanten Besuch Schmidts in der DDR zu plädieren,309 aber der Vorschlag wurde von Moskau zurückgewiesen.310 Auf dem multilateralen Treffen betonte Axen erneut die Notwendigkeit, die entspannungsfreundliche Schmidt-Regierung im Bundestagswahljahr 1980 an der Macht zu halten.311 Der Subtext seiner Bemerkungen war klar – d. h., Honecker hoffte immer noch auf Moskaus Zustimmung für einen Besuch Schmidts in der DDR.312 Mit der Ausnahme von Polen, das am wirtschaftlichen Abgrund stand,313 konnte Moskau sich gegenüber seinen Verbündeten vorläufig durchsetzen. Ungarn stornierte für die erste Jahreshälfte 1980 geplante politische Treffen mit westdeutschen Regierungsvertretern, aber ließ Bonn wissen, dass die Entscheidung unter Druck Moskaus entstand, um irgendwelche negativen Folgen für die westdeutsch-ungarischen Beziehungen zu vermeiden.314 Honecker verfolgte eine ähnliche Taktik. Er hatte schon in einem Schreiben an Schmidt erklärt,315 das Wolfgang Vogel als sein persönlicher Emissär dem Bundeskanzler Ende

309  Siehe auch Vermerk des Mitglieds des Politbüros des Zentralkomitees der SED Axen über das Gespräch mit dem Mitglied des Politbüros des Zentralkomitees der KPdSU Suslow und dem Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU Ponomarjow, 23.1.1980. In: DzD 1979– 1980, S. 387–390, hier 388. 310  DzD 1979–1980, S. 390, Fn 16. 311  Horn, Report on the meeting of the foreign secretaries, 29.2.1980. 312  Ebenda. Der bulgarische Vertreter machte auch zweideutige Ausführungen über »die Notwendigkeit der Aktivierung unserer vorhandenen Beziehungen, um die politischen Kreise Westeuropas positiv zu beeinflussen«. Ebenda. 313  In einem bilateralen Gespräch mit Ponomarjow hatte Werblan unverblümt erklärt, dass die polnische Regierung in ihren Beziehungen mit dem Westen trotz Afghanistan alles, was geplant war, durchführen würde: Staatsbesuche in Frankreich, der Bundesrepublik und den USA; Ausstellungen und kommerziellen Austausch; Verhandlungen über westliche Kredite und Getreidebeschaffung. Tschernjajew: Tagebuch, 26.2.1980; Rossiskije Programmy Archiva Nazionalnoi Besopasnosti, http://www.gwu.edu/~nsarchiv/rus/Chernyaev.html. Siehe auch Deutsch-polnisches Regierungsgespräch, 25.4.1980. In: AAPD 1980/I, S. 677–686, hier 682; AAPD 1980/I, S. 686, Fn 31; AAPD 1980/II, S. 1274, Fn 13; Gespräch des Staatssekretärs im Bundeskanzleramt Schüler mit dem polnischen Botschafter Chyliński, 22.8.1980. In: AAPD 1980/II, S. 1269– 1274, hier 1269 u. 1269, Fn 2. 314  Partial Record of a Meeting between the Prime Minister and the Chancellor of the Federal Republic of Germany, Herr Schmidt, at No. 10 Downing Street on Monday, 25.2.1980; National Archives, London, Prime Minister's Office Files (PREM) 19/136, 8 Bl., hier 1. Schmidt informierte die britische Prämierministerin Margaret Thatcher, dass Budapest den geplanten Besuch ihres Außenministers in Bonn nur nach einer Drohung Moskaus mit einer Drosselung seiner Energie-Lieferungen an Ungarn abgesagt hätte. Siehe auch AAPD 1980/I, S. 187, Fn 59. 315  Nachricht des Vorsitzenden des Staatsrats der DDR Honecker an Bundeskanzler Schmidt, o. D. In: DzD, 1979–1980, S. 400 f.

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Januar in Bonn überbrachte,316 dass die Bündnisverpflichtungen beider Seiten unvermeidlich zu der Absage – oder eigentlich der Verschiebung – des geplanten Besuchs von Schmidt in der DDR führen müssen. Honecker wolle trotzdem telefonisch, brieflich und über Vogel mit dem Bundeskanzler in Kontakt bleiben.317 Honecker deutete auch relativ direkt an, dass das sonst immer verschleierte Junktim zwischen humanitären Fragen und westdeutscher Finanzhilfe für die DDR aufrechterhalten würde. Honecker schrieb, dass die Verhandlungen des stellvertretenden Ministers für Außenhandel und Mitglieds der Wirtschaftskommission des ZK der SED Alexander Schalck-Golodkowski mit Gaus über Großbauprojekte im deutsch-deutschen Transitverkehr und für die Stromversorgung Westberlins – alles D-Mark-Finanzquellen für die DDR – weitergeführt und zum erfolgreichen Abschluss gebracht werden sollen. Im nächsten Satz des Schreibens stand: »So sollen ferner die humanitären Angelegenheiten etwa wie bisher gehandhabt werden. Eine erste Liste über Familienzusammenführungen mit 531 Personen hat E. H[onecker] soeben bestätigt.«318 Im April 1980 reiste Mittag zur Hannover-Messe und traf sich dort im Auftrag Honeckers mit Schmidt. Mittag ging noch weiter als Honecker in seiner Botschaft an Schmidt. Honecker werde, so Mittag, an der Idee des Besuchs vor allem wegen der »besonderen Verantwortung« beider deutschen Staaten »für die Sicherung des Friedens« festhalten.319 Die Mission Mittags provozierte die Hardliner im SED-Politbüro, die einen »Moskau-Flügel« bildeten.320 Sie opponierten gegen die Wirtschaftspolitik Honeckers und Mittags, die auf zunehmender Verschuldung gegenüber der Bundesrepublik basierte, um den Lebensstandard und die Sozialpolitik in der DDR aufrechtzuerhalten. Diese Politik führte unvermeidlich zu Zugeständnissen an die Bundesrepublik – zum Beispiel in humanitären Fragen – und zur Distanzierung der DDR von der angestrebten Linie Moskaus in den deutsch-deutschen Beziehungen, d. h. der Abgrenzung. Zu diesem Flügel gehörten Ministerpräsident Stoph, sein 1. Stellvertreter, Werner Krolikowski, und Alfred Neumann. Krolikowski zählte auch Mielke zu dem Moskauer Flügel, weil er seine Meinung zu Mittag und der Westpolitik Honeckers teilte. Krolikowski, Stoph und Mielke hinterbrachten ihre Kritik nach Moskau, aber keiner wagte Honecker im Politbüro offen zu widersprechen.321 Offenbar hatte Andropow Mielke und Wolf im 316  Über das Treffen siehe Vermerk des Staatsministers Huonker über Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Rechtsanwalt Vogel, 28.1.1980. In: DzD, 1979–1980, S. 396–400. 317  Nachricht Honeckers an Schmidt, o. D., S. 400. 318 Ebenda. 319  Siebs: Die Außenpolitik der DDR, S. 184. 320  Vgl. Süß: Die Staatssicherheit im letzten Jahrzehnt der DDR, S. 8–11. 321  Amos, Heike: Die SED-Deutschlandpolitik 1961 bis 1989. Ziele, Aktivitäten und Konflikte. Göttingen 2015, S. 347. Mielke erklärte 1992 in einem Interview mit dem »Spiegel«, als er in Untersuchungshaft saß wegen des Mordes an zwei Polizisten im Jahr 1931: »Es gab keine Fraktion. Allerdings gab es einige Mitglieder des Politbüros, die mit Honeckers Politik und mit seinem Führungsstil unzufrieden waren.« Er sagte weiter: »Probleme bereitete uns die Öffnung

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Februar 1980 vor dem Kurs der Annäherung an die Bundesrepublik gewarnt, und Mielke hatte danach – wenn nicht schon früher – gegen den geplanten und von Honecker gewollten Besuch Schmidts in der DDR opponiert.322 Die Spannungen innerhalb des SED-Politbüros erreichten nach dem jährlichen Krim-Treffen zwischen Honecker und Breschnew im August 1980 einen neuen Höhepunkt. Obwohl es mit Breschnew auf dem Treffen wegen der Wirtschaftspolitik der DDR und der deutsch-deutschen Beziehungen zu erheblichen Konflikten gekommen war, trug Honecker dem SED-Polit­büro nur einen kurzen mündlichen Bericht vor.323 Unter anderem verschwieg er Breschnews schon früher erhobene Forderung, Mittag aus der SED-Führung zu entlassen.324 Später behauptete Honecker in einem Gespräch mit dem designierten DDR-Botschafter in Moskau, Egon Winkelmann, zu dem Treffen: »70 Prozent von dem, was Leonid Iljitsch Breschnew vorgelesen hat, ist eine Verzerrung der Politik der DDR.« Honecker sprach von »großen Lügen in Bezug auf die Westorientierung der DDR«.325 Trotzdem änderte Honecker zeitweilig seinen Kurs. Kurz nach dem Treffen mit Breschnew am 11. August 1980 wurde der geplante Besuch Schmidts am Ende des Monats unbefristet verschoben. Für beide Seiten diente u. a. die angebliche Gefahr eines Übergreifens der Streikbewegung in Polen auf die DDR als Ausrede. Am 9. Oktober verkündete die DDR eine Erhöhung der Mindestumtauschsätze pro Besuchertag von 13 auf 25 DM, die nun auch für Rentner gelten würde.326 Am 13. Oktober stellte Honecker in einer öffentlichen Rede in Gera eine Reihe von Forderungen an die Bundesrepublik, die in Richtung einer völkerrechtlichen Anerkennung der DDR gingen – u. a. die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft, die Umwandlung der Ständigen Vertretungen in Botschaften, die Auflösung der Erfassungsstelle für Gewaltverbrechen der DDR in Salzgitter und die Festlegung der Elbgrenze auf der Strommitte. Der schein-

nach Westen, für die Honecker eintrat. Mir war klar, dass die ständige Zunahme von Besuchen aus der BRD – von Politikern ebenso wie Privaten – zersetzend wirken musste.« Vgl. »Ich sterbe in diesem Kasten.« Der frühere Stasi-Chef Erich Mielke über Erich Honecker und den Untergang des SED-Regimes. In: Der Spiegel v. 31.8.1992, S. 38–53, hier 41. 322  Wolf: Spionagechef, S. 324–329. Im Archiv des BStU wurde bislang kein Protokoll von dem Besuch in Moskau im Februar 1980 gefunden. 323  Hertle; Jarausch (Hg.): Risse im Bruderbund, S. 188 f. Stoph hatte schon im August 1978 den sowjetischen Botschafter Abrassimow vor der »subversiven« Politik Honeckers und Mittags gewarnt; diese Warnung wurde vom KGB festgehalten. Honecker tue, als wäre er loyal zur Sowjetunion und der sozialistischen Gemeinschaft, so Stoph, aber er versuche, »eine unabhängige und souveräne DDR, verkörpert durch seine eigene Person«, zu erreichen. Mitrokhin Collection, Cambridge University: MITN 2/20/2, Socialist Countries II, Item 120. 324  Wentker: Außenpolitik in engen Grenzen, S. 425. 325  Hertle; Jarausch (Hg.): Risse im Bruderbund, S. 195. 326  Wentker: Außenpolitik in engen Grenzen, S. 423.

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bare Kurswechsel traf in Moskau auf Zustimmung, selbst bei dem sonst skeptischen Gromyko.327 Mielke war nicht überzeugt. Er informierte am 13. November 1980 Stoph in einem Gespräch: »Wenn jetzt EH [Honecker] richtige Forderungen superscharf gegenüber der BRD vertritt, so ist dies nicht auf die Breschnew-Kritik von der Krim zurückzuführen. EH sind die Ereignisse in Polen in die Knochen gefahren. Er hat Angst, dass es in der DDR auch zu Schwierigkeiten kommt; er fürchtet den Einfluss der BRD!«328 Seit dem Krimtreffen mit Breschnew habe sich Honecker »im positiven Sinne überhaupt nicht verändert«. Beweis dafür sei das Gespräch Honeckers mit Gaus am 3. November. Mielke erklärte weiter: Die Niederschrift, die EH über dieses Gespräch im PB [Politbüro] verteilt hat, enthält nicht die ganze Wahrheit. Er habe weitere Äußerungen zu G. Gaus getan, die gegen die Interessen der Sowjetunion und DDR sind und Bonn begünstigen. […] EH hat Gaus gesagt, dass er hoffe, dass es mit den deutsch-deutschen Beziehungen bald wieder weitergehen kann wie zuvor!329

Die Feststellung Mielkes entsprach im Großen und Ganzen der Wahrheit. Im Gegensatz zu der Niederschrift, die Honecker an das SED-Politbüro verteilte, berichtete Gaus von seinem Gespräch an das Bundeskanzleramt in Bonn, dass Honecker bestrebt sei, »die Ernsthaftigkeit seiner Vorwürfe (vor allem in ›gesamtdeutscher‹ Hinsicht) aufrechtzuerhalten, ohne die Tür zu einem gemäßigten, pragmatischen Verhalten gänzlich zuzuschlagen«. Honecker habe behauptet, seine »Rede in Gera dürfe nicht falsch interpretiert werden, sie sei ›nicht als Rückwärtsgang‹ gedacht. Unsere Seite möge dabei auch bedenken, dass eine Ansprache vor einem Parteiaktiv bestimmte Tonlagen erfordere.« In der Bundesrepublik sei das Negative zu stark »dramatisiert« worden, und »manches, was zwischen den beiden deutschen Staaten möglich gewesen wäre, sei wegen unserer [westdeutschen] Medien ›in den Eimer gegangen‹«.330 Nach der Notiz von Krolikowski beschwerte sich Stoph, dass Mielke den anderen Politbüro-Mitgliedern solche Informationen nicht weitergebe. Sie gingen nur an Honecker. Mielke erwiderte, dass »dies sehr schwer sei, da EH festlege, wer noch informiert werden 327  Hertle; Jarausch (Hg.): Risse im Bruderbund, S. 196 f. 328  Notiz von Werner Krolikowski über ein Gespräch zwischen Willi Stoph und Erich Mielke am 13. November 1980. In: Przyblyski, Peter: Tatort Politbüro. Die Akte Honecker. Hamburg 1992, S. 345–348, hier 346. 329  Ebenda, S. 345. 330  Bericht des Leiters der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland Gaus an das Bundeskanzleramt über das Gespräch mit dem Generalsekretär des Zentralkomitees der SED Honecker, 3.11.1980. In: DzD VI/6, S. 744–753, hier 746. Vgl. zu dem ostdeutschen Protokoll des Gesprächs, das Honecker an die Mitglieder des SED-Politbüros verteilte: Protokoll des Staatssekretärs Herrmann über das Gespräch des Generalsekretärs des Zentralkomitees der SED Honecker mit dem Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland Gaus, 3.11.1980; ebenda, S. 753–764.

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darf«.331 In anderen Worten hatte Mielke trotz allem vor Honecker immer noch Angst. Die Angst war offenbar gegenseitig. Mielke meinte, Honecker würde »eine Reihe Genossen aus dem PB lieber heute als morgen entfernen« – darunter Stoph und sich selbst – aber er könne das nicht. Hier wurde offenbar angedeutet, dass Moskau eine solche Änderung nicht zulassen würde.332 Obwohl Mielke nicht alle Politbüromitglieder über Honeckers Abweichungen in den deutsch-deutschen Beziehungen informierte, leitete er entsprechende Informationen an den Leiter der KGB-Vertretung in Karlshorst Generaloberst Wassili T. Schumilow weiter. Das war bei einem ausführlichen Protokoll (offenbar von westdeutscher Seite) über Mittags Gespräch mit Schmidt im April 1980 der Fall.333 Er übergab an Schumilow auch Gaus' Niederschrift von seinem Gespräch mit Honecker; diese Information wurde als »Streng Geheim! Persönlich!« verzeichnet.334 Krolikowski, der die Notiz von dem Gespräch Stoph – Mielke nach Moskau weitergab,335 ging weiter als Mielke. Einer internen KGB-Information zufolge thematisierte Krolikowski in einem Gespräch mit einem Referenten des ZK der KPdSU während seines Urlaubs in Kiew im Juni 1981 die »schwierige Lage« im SED-Politbüro. Moskau könne Honecker nur »retten« und ihn »zwingen, eine ehrliche Politik zu verfolgen«, wenn Mittag aus der Partei- und Staatsführung entlassen werde. Krolikowski und Gleichgesinnte könnten das nicht allein schaffen, weil Honecker, der im Politbüro noch über eine Mehrheit verfügte, sie einfach hinauswerfen könnte. Krolikowski schlug vor, dass das KPdSU-Politbüro einen Brief an das SED-Politbüro schicken solle, ähnlich dem früheren Brief Moskaus an das PVAP-Politbüro im Zusammenhang mit der Lage in Polen. Der Brief sollte eine Kursänderung vorschlagen und vermutlich auch die Ablösung Mittags.336 Ein Brief aus Moskau traf nicht ein, aber bei seinem Treffen mit Honecker auf der Krim im August 1981 beklagte sich Breschnew erneut über die »wunden Punkte« zwischen Moskau und Ostberlin wegen der Verschuldung der DDR und den deutsch-deutschen Beziehungen.337 Außer Mielke und Krolikowski, der zumindest indirekt für den KGB als Quelle für die deutsch-deutschen Beziehungen und die Wirtschaftslage in der DDR diente, hatte der KGB eine Kontaktperson »Murt« im SED-Politbüro, die 331  Notiz von Werner Krolikowski, S. 346. 332  Ebenda, S. 345 f. 333  Siehe Lfd.-Nr. 312 vom 22.4.1980 in dem Postausgangsbuch des SdM für »Freunde-Informationen«; BStU, MfS, SdM, Bd. 551, Bl. 388. Auch weitergeleitet war eine allgemeine Information über Mittags Besuch und ein Protokoll von einem Gespräch Mittags mit Egon Bahr. 334  Siehe Lfd.-Nr. 562 vom 7.11.1980 in dem Postausgangsbuch des SdM für »Freunde-Informationen«; BStU, MfS, SdM, Bd. 551, Bl. 388. 335  Hertle, Hans-Hermann: Die DDR an die Sowjetunion verkaufen? Stasi-Analysen zum ökonomischen Niedergang der DDR. In: DA 42 (2009) 3, S. 476–495, hier 479. 336  Mitrokhin Collection, Cambridge University: MITN 2/20/2, Socialist Countries-II, Item 261. 337  Hertle; Jarausch: Risse im Bruderbund, S. 197 ff.

Fazit

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ähnliche Informationen lieferte,338 und die KGB-Vertretung in Karlshorst hatte zumindest seit 1974 eine für eine Operation »Lutsch [Strahl]« zuständige Abteilung, die insgeheim Informationen über die wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Lage in der DDR sammelte, zusammen mit Auskünften über »Angriffe« des Imperialismus gegen die DDR.339 Gleichzeitig agierte von 1975 bis 1981 eine illegale Residentur der sowjetischen Aufklärung in der DDR, die in den Akten mit der Tarnbezeichnung »Firma« bezeichnet wird. Diese illegale Residentur sammelte unter Deckung der Industrie- und Handelskammer der UdSSR in der DDR Informationen über die »politischen und operativen Verhältnisse« in der DDR und über die »Entwicklung bilateraler Beziehungen zwischen der DDR und der BRD in allen Richtungen«. Sogar die KGB-Vertretung in Karlshorst wusste nichts von der Existenz der »Firma«, die direkt von der Leitung der I. Hauptverwaltung des KGB in Moskau gesteuert wurde.340 Unabhängig vom MfS und der Partei- und Staatsführung der SED führte der KGB seine eigenen Quellen in der DDR und in den anderen Ostblockländern.

4.9 Fazit Die Partei- und Staatsführung der DDR wollte die Unterstützung ihrer Verbündeten gewinnen, um den KSZE-Prozess für die weitere Anerkennung der DDR, ihrer Grenzen und ihrer Staatsbürgerschaft zu nutzen. Diese Hoffnung wurde von der UdSSR zerstört, die den KSZE-Prozess auf die »Ergänzung« der politischen Entspannung durch die »militärische Entspannung« fokussieren wollte. Eine wachsende Bewegung von Antragstellern auf ständige Ausreise innerhalb der DDR, die sich auf die KSZE-Schlussakte berief und Gebrauch von der Bonner Konzeption der einheitlichen deutschen Staatsbürgerschaft machte, bedrohte die innere Stabilität der SED-Diktatur. Durch eine Repressionswelle drängten die SED und das MfS die Ausreiseantragsteller zwischen 1977 und 1979 zeitweilig zurück. Sowohl die Ausreisebewegung als auch die Blockierung der geplanten Offensive der SED zum »Grenzprinzip« der Schlussakte enttäuschten Hoffnungen der SED-Führung, der KSZE-Prozess könne künftig etwas zur Stabilisierung ihrer Diktatur beitragen. Das Beste, was Honecker erreichen konnte, war 338  Mitrokhin Collection, Cambridge University: MITN 2/19/1, Socialist Countries-I (Part I), Items 320, 342, 344. 339  Christopher Andrew u. Wassili Mitrochin: Das Schwarzbuch des KGB. Moskaus Kampf gegen den Westen. Berlin 1999, S. 376 f. Ausführlicher dazu Mitrokhin Collection, Cambridge University: MITN 3/4, Agents, Item 264. Schon im Jahr 1967 gründete die KGB-Vertretung in Karlshorst zwei »illegale Residenturen« mit den Decknamen »Arsenal-1« und »Arsenal-2«, die ähnliche Informationen sammeln und entsprechende Agenten in der DDR rekrutieren sollten. Ebenda, Item 278. 340  Mitrokhin Collection, Cambridge University: MITN 2/18, General, Item 47.

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DDR, deutsche Frage und KSZE-Prozess

ein Versprechen von Bundeskanzler Schmidt, das deutsch-deutsche »Tischtuch« auf dem Belgrader Treffen nicht zu beschädigen. Das »Gentleman's Agreement« wurde von der Bundesrepublik und der DDR weitgehend eingehalten, und zur großen Erleichterung der SED-Führung endete das Belgrader Treffen wegen des Konflikts zwischen den USA und der UdSSR über Menschenrechte contra »militärische Entspannung« mit einem wenig gehaltvollen Schlussdokument. Die Sowjetunion sah ihrerseits keine Notwendigkeit, das »Grenzprinzip« im KSZE-Prozess weiter zu thematisieren, weil Breschnew schon längst die Moskauer Lösung für die Bekämpfung der Ausreisebewegung bzw. irgendeiner Destabilisierung der DDR durch die Entspannungspolitik propagiert hatte: die konsequente Abgrenzung der DDR von der Bundesrepublik u. a. durch die Verringerung der Besuchsreisen von Westdeutschen und Westberlinern in der DDR. Weil Honecker wegen der wachsenden wirtschaftlichen Abhängigkeit der DDR von der Bundesrepublik zögerte, stellte sich die Moskauer Fraktion im SED-Politbüro, darunter auch Mielke, gegen die wachsenden wirtschaftlichen Beziehungen und Privatkontakte zwischen der DDR und dem Westen. Entsprechend der Rolle des MfS als »Kampfeinheit der ruhmreichen sowjetischen Tscheka« schickte Mielke insgeheim kompromittierende Berichte an die KGB-Vertretung in Karlshorst über deutsch-deutsche Verhandlungen und die Westpolitik Honeckers und Mittags – hauptsächlich westdeutsche Unterlagen mit Aussagen, die in der offiziellen Berichterstattung Honeckers an das SED-Politbüro und an Moskau fehlten. Die Verkündung der Geraer Forderungen durch Honecker im Oktober 1980 kam Moskau bzw. der Moskauer Fraktion entgegen, aber die privaten Botschaften Honeckers an Bonn stellten klar, dass er die entstandene Lage in den deutsch-deutschen Beziehungen verbessern oder zumindest aufrechterhalten wollte. Interessanterweise war es aber weder Honecker noch Mittag, die die nächsten Konzessionen an den Westen machten, die der seit Helsinki entstandenen Ausreisebewegung in der DDR neuen Auftrieb geben würden, sondern die Sowjetunion auf dem Madrider Nachfolgetreffen der KSZE (siehe 6.). Diese Zugeständnisse würden zusammen mit der bilateralen Verständigung Honeckers mit Bonn der Ausreisebewegung neuen Auftrieb geben und das MfS bei deren Zurückdrängung an die Grenzen seiner Fähigkeiten bringen (siehe 7.).

5. Das Belgrader Treffen (1977–1978): Menschenrechte, Korb III, Friedensoffensive

Das Nachfolgetreffen der KSZE wurde im Oktober 1977 in Belgrad eröffnet. Die östlichen Außenministerien, darunter das sowjetische und das ostdeutsche, waren am Zug, natürlich unter Anleitung der regierenden kommunistischen Parteien. Die »Bruderorgane« wie das MfS waren vorwiegend hinter den Kulissen tätig. Das MfS erbrachte seinen verdeckten Beitrag zur östlichen Diplomatie auf dem Treffen durch Einflussnahme auf die Zusammensetzung der ostdeutschen Delegation (siehe 5.2.1); durch geheimdienstliche Informationen an die Partei- und Staatsführung über die unterschiedlichen Taktiken, Ziele und Strategien der westlichen und N+N-Länder für das Treffen (siehe 5.2.2); durch aktive Maßnahmen als Beitrag zu der begleitenden Friedensoffensive des Ostens während des Treffens, darunter der Kampagne gegen die Neutronenbombe (siehe 5.6). Vielleicht der größte Beitrag des MfS zu den diplomatischen Bemühungen des Ostens bei dem Treffen lag aber in seiner Bekämpfung von transnationalen Akteuren während des Treffens (siehe 5.3). Am Ende konnte der Osten in Belgrad nur einen defensiven Erfolg erringen. Es gelang, eine gesonderte Bestätigung oder Weiterführung des Menschenrechtsprinzips oder neue Konzessionen in Korb III im Schlussdokument des Treffens zu vermeiden. Die Carter Administration konnte aber ebenfalls behaupten, einen Erfolg erzielt zu haben, indem sie mit Unterstützung des entstandenen transnationalen Helsinki-Netzwerkes die Menschenrechte zu einem Dauerthema des KSZE-Prozesses machte. Dieser Erfolg kam teilweise auf Kosten einer Vertiefung des Zerwürfnisses zwischen der Carter Administration und der Regierung Schmidt zustande, die auf östliche Zugeständnisse im Korb III gehofft hatten. Die DDR konnte als Erfolg verbuchen, dass keine neuen Konzessionen an den Westen gemacht wurden, die von Ausreisewilligen und einheimischen Aktivisten bzw. westlichen Akteuren im transnationalen Helsinki-Netzwerk gegen sie genutzt werden konnten.

5.1 Vorbereitungen: Die Sowjetunion, der Warschauer Pakt und die DDR Auf drei Treffen stimmten die Staaten des Warschauer Vertrags unter Führung der Sowjetunion ihre Positionen, Pläne und Taktiken für das Belgrader Treffen ab: ein Treffen der stellvertretenden Außenminister im Juli 1976 in Moskau, eine Sitzung der Partei- und Staatsführer im Politischen Beratenden Ausschuss

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Das Belgrader Treffen (1977–1978)

im November 1976 in Bukarest und eine Sitzung der Außenminister im Mai 1977 in Moskau. Am Ende wurde eine klare, hauptsächlich defensive politische Linie von Moskau vorgegeben, die die östlichen Länder – mit Ausnahme des eigenwilligen Rumänien – bis zum Ende des Belgrader Treffens im März 1978 verfolgten. Gromyko fasste auf dem Treffen der Außenminister in Mai 1977 zusammen: »Es ist klar, dass in Belgrad keinerlei Versuche zugelassen werden dürfen, die Schlussakte zu revidieren, ihren Inhalt zu entstellen und ihr irgendeine einseitige Interpretierung zu geben.« Es ging Gromyko hier um den Aktivismus zu Menschenrechtsfragen und zu Korb III im Westen. Aus dieser defensiven Zielsetzung entwickelte Moskau Taktiken und Zwischenziele für Belgrad. Erstens wollte Moskau die Wichtigkeit des Belgrader Treffens herunterspielen. Es besitze eine rein konsultative Funktion, so Gromyko, und könne praktisch nur Empfehlungen verabschieden, weil es auf einer niedrigeren Ebene – den stellvertretenden Außenministern – stattfinden würde, als die ursprüngliche KSZE. Zweitens unterstrich Gromyko: »Wenn es irgendeines Schlussdokumentes [zum Belgrader Treffen] bedarf, dann muss dieses kurz, sparsam sein.«1 In einem solchen Schlussdokument würde es keinen Platz für detailliertere oder weitergehende Vorschläge geben, insbesondere nicht zu den Menschenrechten oder zu Korb III. Diese Ziele waren keine Reaktion auf die Menschenrechtskampagne Carters, denn beide wurden schon auf der Sitzung der stellvertretenden Außenminister unter Kowaljow im Juni 1976 genehmigt.2 Ein drittes von Gromyko vorgetragenes Ziel hatte vielleicht etwas mit Carters Menschenrechtskampagne zu tun: Inhalt und Dauer des Belgrader Treffens durch eine entsprechende Tagesordnung zu begrenzen, damit der Westen kein »Tribunal« gegen den Osten abhalten konnte. Auf dem Vorbereitungstreffen in Belgrad vom 15. Juni bis 5. August 1977 versuchten die östlichen Vertreter dieses Ziel zu erreichen. Um irgendwelche öffentliche Propaganda vonseiten westlicher Delegationen bzw. NGO möglichst abzuwenden, sollten die Tagungen des Nachfolgetreffens, so Gromyko, »geschlossenen Charakter tragen«. Darüber hinaus sollte der Meinungsaustausch über die Implementierung der Schlussakte ausschließlich auf »positive Erfahrungen« begrenzt werden, damit Kritiker der östlichen Implementierungsbilanz zur Ordnung gerufen werden konnten.3 Die beiden in der Schlussakte vorgesehenen Themen für einen »vertieften Meinungsaustausch«, die Implementierung der Schlussakte durch die Teilnehmerstaaten und die weitere Vertiefung der gegenseitigen Beziehungen, sollten unter einem einzigen 1  Rede Gromykos, Tagung des Komitees der Außenminister der Mitgliedstaaten des Warschauer Vertrags am 25. Mai 1977 in Moskau; SAPMO BA, DY 30, J IV 2/2A-2073, Bl. 46–61, hier 59. 2  Zur Beratung der Stellvertreter der Außenminister der Mitgliedstaaten des Warschauer Vertrages am 21. und 22.7.1976 in Sofia, o. D.; PA AA, MfAA, HA G/P, G-A 23, Bl. 27–31, hier 27 f. 3  Rede Gromykos, 25.5.1977, Bl. 55–59.

Vorbereitungen: Sowjetunion, Warschauer Pakt und DDR

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Tagesordnungspunkt behandelt werden.4 Wenn die anderen Teilnehmerstaaten diesem östlichen Vorschlag gefolgt wären, hätte sich der Osten fast ausschließlich auf seine neuen Vorschläge fokussieren und dem Westen vorwerfen können, dass seine Kritik an der östlichen Implementierungsbilanz wertvolle Zeit vergeude, die besser für die Diskussion neuer Vorschläge verwendet würde. Am Ende konnte der Osten aber seine Ziele auf dem Vorbereitungstreffen nicht vollständig durchsetzen. Nach langwierigen Verhandlungen, die Moskau durch die Drohung zuspitzte, das Vorbereitungstreffen zu verlassen, wurde eine Tagesordnung vereinbart. Die Tagungen des Treffens blieben geschlossen, und der Osten konnte eine »weitgehend eindeutige Festlegung von Zwischen- und Endterminen« durchsetzen,5 aber nur indem er einer Verlängerung des Treffens bis Mitte Februar 1978 und einer getrennten Diskussion der beiden Tagesordnungspunkte – Implementierungsdebatte und Diskussion von neuen Vorschlägen – zustimmte. Er musste auch zugestehen, dass die Konferenz erst nach der Vorbereitung eines Schlussdokuments und der Festlegung des Termins und des Orts der nächsten Nachfolgekonferenz beendet würde. Moskau verlor deshalb einen wertvollen Hebel: dass es einer weiteren multilateralen Konferenz nicht zustimmen würde, falls ihm der Verlauf des Belgrader Treffens missfiel.6 Gromyko hatte aber schon im Mai 1977 die Linie für eine mögliche Auseinandersetzung über Menschenrechte und menschliche Kontakte auf dem Haupttreffen vorgegeben: Es ist nicht die Aufgabe, auf unserer Tagung davon zu sprechen, wie gegenstandslos jede Art von Spekulationen in Bezug auf die Verletzungen des Prinzips der Menschenrechte im Sozialismus ist oder davon, wie unmenschlich die kapitalistische Ordnung ist. Aber wenn es sich als notwendig erweist, in Belgrad darüber zu sprechen, dann werden unsere Vertreter in der Lage sein, das zu tun. […] Gestützt auf die Bestimmungen der Schlussakte werden wir in der Frage der Menschenrechte nicht nur einfach eine Abfuhr erteilen, sondern wir führen und werden eine Offensive in dieser Frage führen.7

Die sozialistischen Länder hätten, so Gromyko, genügend »Munition«, um ein »Gegengefecht«8 zu liefern, und sie hätten sich entsprechend vorzubereiten. Trotz der überwiegend defensiven Zielstellung Moskaus und im Anschluss seiner Verbündeten hoffte Moskau immer noch, das Belgrader Treffen und den KSZE-Prozess im Allgemeinen für die größeren Ziele seiner Entspannungspolitik ausnutzen zu können: »die politische Entspannung durch die militärische zu

4  Hanisch: Die DDR im KSZE-Prozess 1972–1985, S. 197 f. 5  Ebenda, S. 198 f. 6 Ebenda. 7  Rede Gromykos, 25.5.1977, Bl. 53 f. 8  Ebenda, Bl. 54.

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Das Belgrader Treffen (1977–1978)

ergänzen«.9 Zu diesem Zweck brachte die UdSSR mit der Unterstützung ihrer Verbündeten ein Programm für militärische Entspannung in Belgrad ein (siehe 5.6 unten). Die UdSSR und ihre Verbündeten hatten auch die vage Hoffnung, das Belgrader Treffen zugunsten ihrer wirtschaftlichen Interessen zu nutzen. In einem anderen Bereich, dem Korb II, wollte Moskau ebenfalls Fortschritte machen. Breschnew erklärte auf dem Treffen der Parteiführer in Bukarest: »Für die sozialistischen Länder […] bedeutet die Entspannung die Möglichkeit, die Probleme des sozialistischen und kommunistischen Aufbaus und der Hebung des Lebensniveaus unserer Völker noch schneller und sicherer zu lösen.«10 Ein Vorschlag Breschnews vom 9. Dezember 1975 lag immer noch auf dem Tisch: »gesamteuropäische Kongresse oder zwischenstaatliche Konferenzen über Fragen der Zusammenarbeit im Bereich des Umweltschutzes, der Entwicklung des Verkehrs und der Energiewirtschaft« abzuhalten.11 Im Westen wurde Breschnews Vorschlag teilweise als Ablenkungsmanöver von der Nichterfüllung des Korbs III durch den Osten interpretiert.12 Dennoch ließen die westlichen Länder die Möglichkeit offen, dass die Konferenzvorschläge in Belgrad diskutiert werden konnten. Die USA und die Bundesrepublik meinten, dass der einen oder anderen Konferenz im Austausch gegen östliche Zugeständnisse vor allem in Korb III zugestimmt werden könnte.13 Das war ein besonderes Anliegen der Bundesrepublik bzw. eine besondere Befürchtung der DDR. Beide Staaten beobachteten deshalb die sowjetische Verhandlungstaktik in Belgrad mit Argusaugen (siehe unten 5.5).

9  Auf dem Treffen der stellvertretenden Außenminister im Juli 1976 hatte Kowaljow wenig zu militärischen Themen im Zusammenhang mit Belgrad gesagt – nur, dass »die Ankündigung größerer militärischer Bewegungen, die Herabsetzung der in Helsinki vereinbarten Parameter […] nach sowjetischer Ansicht in Belgrad nicht zugelassen werden« solle und dass »eine Erörterung von Fragen der Abrüstung und Rüstungsbegrenzungen, die bereits in anderen Abrüstungsgremien behandelt werden, auszuschließen« sei. Zur Beratung der Stellvertreter der Außenminister der Mitgliedstaaten des Warschauer Vertrages am 21. und 22.7.1976 in Sofia, Bl. 28. 10  Rede Breschnews, 26.11.1976. In: PHP, Records of the Warsaw Pact Political Consultative Committee, http://www.php.isn.ethz.ch/collections/colltopic.cfm?lng=en&id=19359&nav info=14465, Bl. 1–26, hier 4. 11  Wettig: Argumentationslinien, S. 22. 12  Der US-Botschafter in Moskau, Walter J. Stoessel, schrieb zum Beispiel an Washington: »This is a ›big concept‹ of the kind the Soviets like, and an incarnation of their preference for Basket II cooperation over Basket III implementation.« Telegramm von Stoessel an das Department of State (1976MOSCOW02570), 19.2.1976; CFPF, 1973–1979; RG 59, NARA, AAD. 13  Fernschreiben, Ministerialdirektor van Well an Ministerialdirektor Kinkel, z. Z. Tel Aviv, 16.3.1977. In: AAPD 1977, S. 324–332, hier 327.

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5.2 Das MfS und die Vorbereitung der DDR auf das Belgrader Treffen Auf der Sitzung der SED-Kreisleitung des MfS am 13. Januar 1977 erklärte der stellvertretende Minister für Staatssicherheit und Leiter der HV A Markus Wolf, dass die »1. und aktuellste Aufgabe« des MfS nach der Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer Vertrags und dem 4. Plenum des ZK der SED die »Vorbereitung der Belgrader Konferenz« sei. Wolf warnte, der »Gegner untersucht genau unsere Außen- und Innenpolitik, sammelt Material, das gegen [die] sozialistischen Länder verwendet werden soll« und versucht, die »Konferenz zu einer Überprüfungskonferenz zu machen, wie die sozialistischen Länder die Schlussakte Korb III realisiert haben«. Deshalb müsse die DDR »wohlvorbereitet« nach Belgrad gehen, und dazu müsse das MfS seinen »Beitrag leisten«! Auf der einen Seite behauptete er, die Bilanz der DDR bei der Realisierung der Schlussakte sei positiv.14 Die HV A/X plante die Veröffentlichung eines »Weißbuchs« auf Deutsch, Englisch und Französisch mit Einzelheiten über die Realisierung der KSZE-Schlussakte durch die DDR. Ursprünglich sollte das »Weißbuch« unter den ausländischen Delegationen in Belgrad verteilt werden, doch am Ende wurde entschieden, dass es nur begrenzt und gezielt eingesetzt werden sollte.15 Die vom MfAA geführte innerministerielle Arbeitsgruppe zur KSZE hätte ebenfalls bis Mai 1977 ein solches »Weißbuch« für die Herausgabe vorbereiten sollen.16 Vermutlich waren das »Weißbuch« der Arbeitsgruppe und die von der HV A geplante Veröffentlichung identisch. Auf der anderen Seite musste die DDR in Belgrad darauf vorbereitet sein, so Wolf, den »Gegner mit einer ganzen Reihe von Verstößen gegen das Kernstück der Schlussakte zu konfrontieren (Achtung der Souveränität der beteiligten Staaten, Nichteinmischung, Achtung der Unantastbarkeit der Grenzen, Missbrauch der Verträge anstelle von Entspannung)«. Eine der zwei Hauptaufgaben des MfS für Belgrad sei, so Wolf, ein »beweiskräftiger Nachweis [der] Verletzung [von] Helsinki durch imperialistische Staaten, insbesondere [die] BRD«.17 Zu diesem Zweck stellte die ZAIG Materialien auf der Basis einer Anfrage an alle Diensteinheiten des MfS zusammen.18 Offenbar fragte der KGB nicht nur die HV A/X, sondern auch die Abteilung Agitation des MfS nach Materialien über 14  Diskussionsrede des Genossen Wolf, PO [Parteiorganisation] A [Aufklärung], auf der Kreisleitungssitzung, 13.1.1977. In: BStU, MfS, HA IX, Bd. 16266, Bl. 429–438, hier 429 f. 15  Brief vom MfS (vermutlich HV A/X), 26.11.1977. In: ABS, A. č. 81282/107, Bl. 36. 16  MfAA, HA Grundsatz und Planung (G/P), Maßnahmen zur Vorbereitung des Belgrader Treffens, o. D. In: PA AA, MfAA, ZR 2742/95, Bl. 1–5, hier 1. 17  Diskussionsrede Wolfs, 13.1.1977, Bl. 430. 18  ZAIG/1, Materialzusammenstellung zur Unterstützung der Delegation der DDR auf der KSZE-Folgekonferenz in Belgrad, September 1977. In: BStU, MfS, ZAIG, Bd. 30593, Bl. 1–80.

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Das Belgrader Treffen (1977–1978)

Menschenrechtsverletzungen in der Bundesrepublik. Bis März 1977 sollte Letztere an ihren KGB-Verbindungsoffizier entsprechende Publikationen aus der Bundesrepublik zu den folgenden Themen liefern: das »Emigrantendasein« von sowjetischen Juden, Wolgadeutschen und deutschstämmigen Spätaussiedlern aus Polen in der Bundesrepublik, »Berufsverbote«, die Lage von »Gastarbeitern«, die Bedingungen in psychiatrischen Kliniken in der Bundesrepublik sowie die Nutzung der chemischen Keule (Reizgas) gegen Demonstranten durch die Polizei bei der Räumungsaktion auf der Reaktorbaustelle Brokdorf in Hamburg Ende Oktober 1976.19 Obwohl Moskau die von der DDR gewollte Offensive des Ostens gegen die Bundesrepublik über das »Grenzprinzip« der Schlussakte und Bonns Weigerung, die DDR völkerrechtlich anzuerkennen, blockiert hatte (siehe oben 4.3), lieferte die ZAIG für die ostdeutsche Delegation in Belgrad Argumente zu beiden Themen. Das entsprach der von Moskau abgesegneten Politik des SED-Politbüros, dass die DDR ein Recht habe, beide Fragen im KSZE-Prozess selbstständig aufzuwerfen (siehe oben 4.1). An erster Stelle des Materials standen angebliche »Verletzungen des Prinzips der Unverletzlichkeit der Grenzen« durch die Bundesrepublik. Zu diesem Punkt lieferte das MfS Auflistungen einer Reihe von »Verletzungen« der deutsch-deutschen Grenze durch die Bundesrepublik – u. a. Beschädigung der Grenzanlagen der DDR durch Stein- und Flaschenwürfe und Schießen (hauptsächlich mit Leuchtpistolen) von westdeutschen Grenzern sowie Grenzübertritte von diesen und von Hubschraubern der Bundeswehr.20 Die ZAIG sah auch eine Thematisierung der »Missachtung der Personalhoheit der DDR durch die BRD« vor, da die Bundesrepublik DDR-Bürgern ihre Staatsbürgerschaft auf Antrag automatisch erteilte. Diese Praxis, die auf der Annahme einer gesamtdeutschen Staatsbürgerschaft basierte, galt der ZAIG als Verstoß gegen das Prinzip der souveränen Gleichheit in der Schlussakte.21 Die teilweise Tolerierung von Fluchthelfern durch die Bundesrepublik wurde ebenfalls als Verstoß gegen dieses Prinzip betrachtet, und die ZAIG listete für die ostdeutsche Delegation eine Reihe von Einzelfällen auf.22 Angebliche Verstöße des Westens, nicht nur der Bundesrepublik, gegen Korb II der Schlussakte in Form von Handelshindernissen – zum Beispiel das COCOM-Embargo gegen Exporte von bestimmten Technologien – wurden ebenfalls aufgelistet.23 Wegen der laufenden Konflikte zwischen Osten und Westen über Menschenrechte und menschliche Kontakte war der zweite Teil des Materials der ZAIG 19  Hs. Notizen eines Mitarbeiters der Abteilung Agitation des MfS, 18.2.1977; BStU, MfS, ZAIG, Bd. 34651, Bl. 165 f. Zu der Abteilung Agitation siehe Engelmann; Joestel: ZAIG, S. 9, 41 ff. 20  ZAIG/1, Materialzusammenstellung, Bl. 4–20. 21  Ebenda, Bl. 43. 22  Ebenda, Bl. 50–61. 23  Ebenda, Bl. 65–72.

Vorbereitung der DDR auf das Belgrader Treffen

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für die DDR-Delegation zur angeblichen »Verletzung des Prinzips der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten« durch die Bundesrepublik besonders wichtig. Praktisch die ganze Tätigkeit des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen (BMB) stellte nach der ZAIG eine Verletzung dieses Prinzips dar. Die Bezeichnung des Ministeriums allein stand schon im Widerspruch nicht nur »zu den Prinzipien des Völkerrechts und abgeschlossenen bilateralen Verträgen«, sondern auch zu dem Prinzip der souveränen Gleichheit.24 Noch wichtiger: Die ZAIG bezeichnete praktisch alle transnationalen Kontakte von Ausreisewilligen und Menschenrechtsaktivisten in Ost und West als gesetzes­ widrig und als Verstöße gegen das Nichteinmischungsprinzip der Schlussakte: Ein ernster Verstoß gegen das Prinzip der Nichteinmischung […] besteht darin, dass Teilnehmerstaaten […] die Existenz und Tätigkeit solcher Einrichtungen, Organisationen und Gruppen dulden, fördern und ermuntern, die unter der Flagge des Kampfes für die Durchsetzung der Schlussakte von Helsinki und anderer völkerrechtlicher Vereinbarungen und unter groben Entstellungen von Wortlaut und Sinn dieser Dokumente zielgerichtete Machenschaften zur Verwirklichung nachrichtendienstlicher Interessen und anderer auf die Untergrabung und Störung der inneren Ordnung der DDR gerichteter Pläne entfalten.25

In diesem Zusammenhang nannte die ZAIG u. a. die GfM, »die eng mit der hinlänglich bekannten geheimdienstlich gesteuerten Spionage- und Terrororganisation NTS zusammenwirkt«; »eine Gruppe entspannungsfeindlicher Kräfte« um Löwenthal, »die vor allem die Sendung ›ZDF-Magazin‹ für ihre Ziele einsetzt« und die Journalisten des Axel-Springer-Inlandsdienstes.26 Unter den angeblichen Beweisen der nachrichtendienstlichen Tätigkeit der genannten Organisationen seien zu nennen: ihre »Anwendung konspirativer nachrichtendienstlicher Methoden wie Code und Deckadressen«, ihre Abschöpfung von »Informationen, die im staatlichen Interesse der DDR geheimzuhalten sind«, und das Übermitteln von »Materialien und Instruktionen zur Organisierung strafbarer Handlungen und anderer rechtswidriger Tätigkeit«. Es ging hier anscheinend vor allem um Ausreisewillige. Auskünfte über ihre Fälle und die Reaktionen der DDR-Behörde galten als »geheimzuhaltende« Informationen, die teilweise konspirativ über die Grenze nach der Bundesrepublik übermittelt wurden. Informationen und Hinweise von nicht staatlichen Akteuren auf der westdeutschen Seite der Grenzen über die Stellung von Ausreiseanträgen galten als Instruktionen »zur Organisierung strafbarer Handlungen«. Nicht nur die Aufnahme solcher transnationalen Kontakte sei als Verstoß gegen das Nichteinmischungsprinzip zu betrachten, so die ZAIG, sondern auch die Versuche nicht staatlicher Akteure im Osten und 24  Ebenda, Bl. 21. 25  Ebenda, Bl. 22. 26  Ebenda, Bl. 22 f.

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Das Belgrader Treffen (1977–1978)

im Westen, über Drittstaaten und durch den KSZE-Prozess die ostdeutschen Behörden in Richtung größerer Freizügigkeit von Menschen und besserer Achtung der Menschenrechte zu beeinflussen.27 Nicht nur westliche NGO und einzelne Menschenrechtsaktivisten hätten nach der ZAIG gegen das Nichteinmischungsprinzip verstoßen. Die westdeutschen Sender Deutschlandfunk, Deutsche Welle und ZDF wurden gleichermaßen solcher »völkerrechtswidrigen Tätigkeit« beschuldigt.28 Sie strahlten nicht nur Sendungen und Interviews aus, die die Zweistaatlichkeit Deutschlands nach Auslegung der SED infrage stellten.29 Sie hätten auch die Formierung von »Bürgerrechtsbewegungen« in der DDR und im Osten im Allgemeinen vermutlich durch ihre positive Berichterstattung unterstützt.30 5.2.1 Das MfS und die Zusammensetzung der ostdeutschen Delegation Das MfS leistete nicht nur zur Vorbereitung der ostdeutschen Delegation für das Belgrader Treffen einen Beitrag, sondern auch zu ihrer Zusammensetzung, hauptsächlich durch Sicherheitsüberprüfungen und die Platzierung von OibE und IM in der Delegation. Der wichtigste Beitrag des MfS bei der Zusammensetzung der Delegation für Belgrad betraf die Auswahl des Delegationsleiters. Obwohl DDR-Außenminister Oskar Fischer seine eigenen Gründe gehabt haben könnte, Siegfried Bock von der Nachfolgekonferenz fernzuhalten, machte das MfS seine Missbilligung erneut geltend. Bock wurde nicht nach Belgrad, sondern als ostdeutscher Botschafter nach Bukarest gesandt (siehe oben 2.3.1). Die Leitung der DDR-Delegation auf dem Belgrader Treffen wurde von einer Vertrauensperson des MfS, Ernst Krabatsch (IMS »Land«), übernommen. Außer Krabatsch wurden drei weitere Veteranen der Genfer Verhandlungen vom SED-Politbüro für die ostdeutsche Delegation in Belgrad ernannt: Hans-Jürgen Ebert und Hagen Krüger vom MfAA und Karl Müller vom Ministerium für Außenhandel (MAH). Zwei weitere Delegationsmitglieder vom MfNV wurden vom Politbüro genehmigt: Rolf Felber, Delegationsmitglied beim Gipfeltreffen in Helsinki, und ein neuer ostdeutscher Vertreter im KSZE-Prozess, Fritz Behnecke.31 Obwohl Felber kein offizielles Mitglied der ostdeutschen Delegation in 27  Ebenda, Bl. 25. 28  Ebenda, Bl. 31. 29  Ebenda, Bl. 31–38. 30  Ebenda, Bl. 40 f. 31  Anlage Nr. 14 zum [Politbüro-]Protokoll Nr. 39/77 vom 27.9.1977. In: SAPMO BA, DY 30, J IV 2/2-1695, Bl. 172–180, hier 173. Nach Anweisung des Politbüros hätte der stellvertretende Außenminister Herbert Krolikowski die Delegation geleitet, wenn die Sowjetunion die Leitung ihrem stellvertretenden Außenminister übergeben hätte. Am Ende nahmen die stellvertretenden Außenminister nur an bestimmten Plenarsitzungen teil. Krabatsch war deshalb

Vorbereitung der DDR auf das Belgrader Treffen

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Genf gewesen war, hatte er 1973 in der Kommission I für Völkerrechtsfragen als Bocks Stellvertreter mindestens kurzfristig gedient.32 Die Delegationsmitglieder vom MfNV, Felber und Behnecke, nahmen nur an der Nachfolgekonferenz und nicht an dem Vorbereitungstreffen teil.33 Das MfS war in der Delegation in Belgrad sehr gut vertreten. Zu der Delegation gehörten nicht nur Krabatsch (IMS »Land«) und Krüger (OibE »Steffen«, Leutnant der HV A/III und ab 1.2.1978 Oberleutnant). Als 1. Sekretär der ostdeutschen Delegation für das Vorbereitungstreffen34 und als Experte in der Delegation für die Nachfolgekonferenz35 diente Hauptmann (ab 1.2.1978 Major) Harry Richter (OibE »Walter«),36 bis dahin ein stellvertretender Referatsleiter der HV A/III.37 Ein viertes Delegationsmitglied, Karlheinz Heisig, I. Sekretär der DDR-Botschaft in Belgrad, wurde von der HV A/III als IM »Turm« registriert.38 Die MfS-Präsenz in der Delegation wurde während der Nachfolgekonferenz gestärkt, als Felber am 4. Januar 1978 von der Abteilung MfNV der HA I als IMS »Egon« verpflichtet wurde.39 Schon vor dem Ende der Genfer Verhandlungen übernahm Hähnel seine neue Stelle als Resident der HV A in Rom,40 und 1976 übergab Helbig alias »Gehrich« als Delegationsleiter für das Vorbereitungstreffen (15.6.–5.8.1977) und die Nachfolgekonferenz (4.10.1977–9.3.1978) akkreditiert. Siehe die Delegationslisten für das Belgrader Treffen in den OSCE Archives, Prag vom 18.7.1977, 4.10.1977 u. 20.1.1978. 32  Hauptmann Benthien, HA I, Abt. Mf NV, Werbungsvorschlag, 7.11.1973. In: BStU, MfS, AIM 2020/87, Bd. I, Teil I, Bl. 210 f., hier 210. 33  Delegations a la Reunion, Belgrade 1977, Reunion Preparatoire, 18.7.1977; OSCE Archives, Prag. 34 Ebenda. 35  Delegations a la Reunion de Belgrade 1977, 4.10.1977; Delegations a la Reunion de Belgrade 1977, 20.1.1978; OSCE Archives, Prag. 36  RoHo F16, Reg. Nr. XV/3879/63; RoHo F22, Reg. Nr. XV/3879/63. 37  Richter, Harry, geb. 24.10.1935. In: BStU, MfS, HA KuSch/AKG, KA HM. 38  RoHo F16, Reg. Nr. XV/356/73; RoHo F22, Reg. Nr. XV/356/73. 39  Rolf Felber, Verpflichtung, 4.1.1978. In: BStU, MfS, AIM 2020/87, Bd. I, Teil I, Bl. 242. 40  Es bleibt unklar, welche diplomatische Deckung Hähnel in der römischen Botschaft der DDR hatte. In der entsprechenden Kartei des MfS wurde er als »IM« in der Botschaft von Mai 1975 bis April 1978 bezeichnet. BStU, MfS, HA II/Abt. 14-VSH. Es gibt mehrere Indizien, dass er wie früher in Genf Resident der HV A war. Nach den Richtlinien der HV A durfte der Resident Berichte von verschiedenen Quellen seiner Residentur zusammenfassen und unter eigener Registriernummer an die Zentrale in Berlin schicken. Siehe MfS, Durchführungsbestimmung zur Richtlinie 1/68 und 2/68, 1.8.1972. In: Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, Teil 2, S. 445–464, hier 463. In zwei unter Hähnels Registriernummer aufgefundenen Informationen wurden Informationen von anderen IM und Kontaktpersonen in Italien zusammengefasst. Siehe HV A/III/7-06, Interne Information über das italienische »Zentrum für sozial-ökonomische Untersuchungen« als Mitorganisator des für Ende November 1977 in Rom geplanten »Sacharow-Hearings«, 28.9.1977; BStU, MfS, HA XX, Bd. 1819, Bl. 3–5 und HV A/III/706, Interne Information zum »Sacharow-Tribunal«, 5.10.1977; ebenda, Bl. 7–9. In dem Zeitraum (Mai 1975 bis März 1978) als Hähnel in der römischen Botschaft der DDR tätig war, bekam die HV A/VII insgesamt 201 Eingangsinformationen von der HV A/III mit dem Länderhinweis »Italien«. (Suche: LHW="ITA" und EDT>"19750501" und EDT"19790101" UND EDT"19790101" UND EDT