Staatskrise: Muss sich die Regierung ein anderes Volk wählen? 3515098003, 9783515098007

Kein Zweifel: Unser Staat befindet sich in einer Krise. Demokratie, Rechtsstaat und Sozialstaat sind in höchster Gefahr.

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German Pages 206 [207] Year 2010

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Table of contents :
EDITORIAL
INHALT
VORWORT
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
EINLEITUNG
1. TEIL: KRISE DES STAATES
2. TEIL: STAAT UND GESELLSCHAFT
3. TEIL: BILDER DES STAATES
4. TEIL: SOUVERÄNE STAATEN
5. TEIL: RENAISSANCE DES STAATES
LITERATUR
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Staatskrise: Muss sich die Regierung ein anderes Volk wählen?
 3515098003, 9783515098007

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Rüdiger Voigt Staatskrise

Staatsdiskurse Herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 12

Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Anter, Leipzig Eun-Jeung Lee, Berlin Marcus Llanque, Augsburg Pierpaolo Portinaro, Turin Samuel Salzborn, Gießen Birgit Sauer, Wien Gary S. Schaal, Hamburg Virgilio Alfonso da Silva, São Paulo

Rüdiger Voigt

Staatskrise Muss sich die Regierung ein anderes Volk wählen?

Franz Steiner Verlag Stuttgart 2010

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09800-7 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2010 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Printed in Germany

EDITORIAL Der Staat des 21. Jahrhunderts steht in einem Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen Ordnung und Veränderung, zwischen Herrschaft und Demokratie. Er befindet sich zudem in einem Dilemma. Internationale Transaktionen reduzieren seine Souveränität nach außen, gesellschaftliche Partikularinteressen schränken seine Handlungsfähigkeit im Innern ein. Anliegen der Reihe Staatsdiskurse ist es, die Entwicklung des Staates zu beobachten und sein Verhältnis zu Recht, Macht und Politik zu analysieren. Hat der Staat angesichts der mit „Globalisierung“ bezeichneten Phänomene, im Hinblick auf die angestrebte europäische Integration und vor dem Hintergrund einer Parteipolitisierung des Staatsapparates ausgedient? Der Staat ist einerseits „arbeitender Staat“ (Lorenz von Stein), andererseits verkörpert er als „Idee“ (Hegel) die Gemeinschaft eines Staatsvolkes. Ohne ein Mindestmaß an kollektiver Identität lassen sich die Herausforderungen einer entgrenzten Welt nicht bewältigen. Hierzu bedarf es eines Staates, der als „organisierte Entscheidungs- und Wirkeinheit“ (Heller) Freiheit, Solidarität und Demokratie durch seine Rechtsordnung gewährleistet. Gefragt ist darüber hinaus die Republik, bestehend aus selbstbewussten Republikanern, die den Staat zu ihrer eigenen Angelegenheit machen. Der Staat seinerseits ist aufgefordert, seinen Bürgerinnen und Bürgern eine politische Partizipation zu ermöglichen, die den Namen verdient. Dies kann – idealtypisch – in der Form der „deliberativen Politik“ (Habermas), als Einbeziehung der Zivilgesellschaft in den Staat (Gramsci) oder als Gründung der Gemeinschaft auf die Gleichheit zwischen ihren Mitgliedern (Rancière) geschehen. Leitidee der Reihe Staatsdiskurse ist eine integrative Staatswissenschaft, die einem interdisziplinären Selbstverständnis folgt; sie verbindet politikwissenschaftliche, rechtswissenschaftliche, soziologische und philosophische Perspektiven. Dabei geht es um eine Analyse des Staates in allen seinen Facetten und Emanationen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des In- und Auslands sind zu einem offenen Diskurs aufgefordert und zur Veröffentlichung ihrer Ergebnisse in dieser Reihe eingeladen. Rüdiger Voigt

INHALT Vorwort ............................................................................................................................ 9 Abkürzungsverzeichnis .................................................................................................. 11

EINLEITUNG .............................................................................................................. 13 Staatskrise – Muss sich die Regierung ein anderes Volk wählen? ................................ 15

I. KRISE DES STAATES ........................................................................................... 53 Der Staat im freien Fall: Staat und Demokratie als Verlierer ........................................ 55 Krise des Staates – Chance zur Erneuerung ................................................................... 67

II. STAAT UND GESELLSCHAFT .......................................................................... 93 Staat und Religion. Ein schwieriges Verhältnis ............................................................. 95 Staat und Verfassung. Carl Schmitt in der Verfassungsdiskussion der Gegenwart ..... 121

III. BILDER DES STAATES ................................................................................... 141 Konträre Staatsbilder. Leviathan und Behemoth ......................................................... 143

IV. SOUVERÄNE STAATEN .................................................................................. 161 Souveränität und Krieg. Das Recht zur Letztentscheidung ......................................... 163

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Inhalt

V. RENAISSANCE DES STAATES ........................................................................ 189 Staatskrise: Ist der Staat noch zu retten? ...................................................................... 191

Literatur ........................................................................................................................ 201

VORWORT Lohnt es überhaupt, ein Buch über die Krise des Staates zu schreiben? Mit Krise assoziieren wir eine schwierige Zeit, die den Höhe- und möglicherweise auch den Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung darstellt. Kaum jemand kann allerdings daran zweifeln, dass wir uns heute in einer ernsten Krise befinden, die sich als Finanzkrise, Europakrise und Vertrauenskrise zeigt. Wer kann diese Krise meistern, die „Staatengemeinschaft“ (UNO), der Internationale Währungsfonds (IWF), die Europäische Union (EU) oder aber der gute, alte (National-) Staat? Dass häufig mehrere Akteure miteinander kooperieren, legt das Bonmot von Elmar Altvater nahe, der den Staat als „Dreigestirn“ aus Nationalstaat, Europäischer Union und Internationalem Währungsfonds bezeichnet hat.1 Die „Bewältigung“ der Griechenlandkrise scheint das auf den ersten Blick zu bestätigen. Dabei wirkten EU-Mitgliedstaaten, EU-Institutionen und IWF tatsächlich eng zusammen. Ist der Staat also ein längst überholtes Relikt aus einer anderen Zeit? Immerhin ist es fast 400 Jahre her, dass uns Thomas Hobbes mit seinem berühmten Leviathan den Weg zum modernen Staat gewiesen hat, der allerdings häufig als bloßer Herrschaftsapparat missverstanden wurde. Vor mehr als 220 Jahren wurde – im Zuge der Französischen Revolution – aus diesem von einem Monarchen geführten Territorialstaat der moderne Nationalstaat. Dadurch wurde die Staatsgewalt freilich nicht schwächer, vielmehr ist sie stärker geworden, weil jetzt Einheit und Unteilbarkeit hinzutraten.2 Wollte man den Zustand Deutschlands dem Bild entnehmen, das die gegenwärtige Bundesregierung zurzeit bietet, müsste man jedoch im wahrsten Sinne des Worts das Schlimmste befürchten, ja geradezu in Tränen ausbrechen (Heinrich Heine). Von einem starken Staat ist jedenfalls kaum etwas zu sehen, von Einheit und Unteilbarkeit kann nicht die Rede sein. Nicht nur die Parteien im Parlament sind zerstritten, sondern selbst die Koalitionäre der schwarz-gelben Regierung lassen keine Gelegenheit ungenutzt, den internen Streit nach außen zu tragen. Zudem erweist sich die Kleinstaaterei des deutschen Föderalismus als ernstes Reformhindernis. Ihre Folgen – u.a. ein katastrophales Bildungssystem – stehen jedermann vor Augen. Diese Form des Föderalismus hat sich längst überlebt. Daran kann jedoch – scheinbar – niemand etwas ändern. Die „Ewigkeitsklausel“ des Grundgesetzes (Art. 79 Abs. 3 GG) ist freilich nicht so strikt, wie es scheint. Sie hindert lediglich Bundestag und Bundesrat an einer grundlegenden Neuordnung des Verhältnisses von Bund und Ländern.

1 2

www.freitag.de/Wochenthema/1018-einepleite-K-unterhalten. Schmitt VL, S. 51; diese Formel findet sich in jeder französischen Verfassung, auch in der Fünften Republik.

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Vorwort

Der eigentliche Souverän ist jedoch das Volk, das sich jederzeit eine neue Verfassung geben kann. Sein pouvoir constituant ist unabhängig von dem jeweils gültigen Verfassungsgesetz und kann von diesem auch nicht beschränkt werden. Dass über diese Grundfrage der Volkssouveränität überhaupt kontrovers debattiert werden kann, zeigt anschaulich, wie weit wir uns inhaltlich von der Feststellung des Artikels 20 Abs. 2 des Grundgesetzes: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, entfernt haben. Das Bekenntnis zur Volkssouveränität ist zu einem bloßen Lippendienst geworden, der nur noch in der Formel der Gerichtsurteile „Im Namen des Volkes“ weiterexistiert. Ernsthafte Konsequenzen wollen die politischen Parteien daraus natürlich nicht ziehen. Denn das würde ihre einmalige Machtposition in Staat und Gesellschaft schmälern. Sie in ihre Schranken zu weisen und damit aus der Entartungsform Parteienstaat wieder eine echte Parteiendemokratie erstehen zu lassen, ist eines der Anliegen dieses Buches. In den folgenden sieben Essays gehe ich der Frage nach, welches Ausmaß die Staatskrise erreicht hat und ob daraus schon jetzt eine Demokratiekrise erwachsen ist. Befinden wir uns bereits im Stadium der „Postdemokratie“ (Jacques Rancière, Colin Crouch), oder liegt diese noch vor uns? Zur Beantwortung dieser Fragen analysiere ich die Finanzkrisen der Jahre 2008 und 2010, das Verhältnis von Staat und Parteien, Staat und Religion, Staat und Verfassung, die (konträren) Bilder des Staates sowie den Zusammenhang von Souveränität und Krieg. Letzteres liegt umso näher, als sich Deutschland in Afghanistan in einem schmutzigen Krieg befindet, in dem die Regierung, aber auch die Gesellschaft, die deutschen Soldaten weitgehend allein lassen. Aus ideologischen Gründen wurde der Krieg zu einem „Stabilisierungseinsatz“ schöngeredet. Noch immer sind die politisch Verantwortlichen nicht bereit, die Soldaten dieser Parlamentsarmee mit vollem Einsatz und allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterstützen oder aber die Soldaten aus einem Einsatz zurückzuziehen, der nicht der Verteidigung unserer existenziellen Interessen dient. Deutschland wird nicht am Hindukusch verteidigt! Auch die Zeichnung eines düsteren Bildes unseres politischen Systems hindert mich freilich nicht daran, einen Hoffnungsschimmer aufzuzeigen. In einem Forderungskatalog, der sich an Politiker, Journalisten und Bürger richtet, versuche ich, die Verantwortlichen zur Einsicht und – wenn möglich – zur Umkehr zu bewegen. Es ist zwar schon spät, noch ist es aber nicht zu spät!

Netphen, im August 2010

Rüdiger Voigt

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ADAC AEUV AMJ AP ARD ATTAC BAFin BGBl. BIP BKA BND BVerfGE DDR DITIB Diyanet EADS EG EGV EKD ELENA ETH EU EUV EuGH EWR FAZ G8 GG ggf. Gulag ICANN i.d.F.

Allgemeiner Deutscher Automobil-Club Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Ahmadiyya Muslim-Gemeinschaft (Ahmadiyya Muslim Jamaat) Associated Press Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands Vereinigung für die Besteuerung von Finanztransaktionen zum Nutzen der Bürger (Association pour une taxation des transactions financière pour l’aide aux citoyens) Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht Bundesgesetzblatt Bruttoinlandsprodukt Bundeskriminalamt Bundesnachrichtendienst Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Deutsche Demokratische Republik Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. (Diyanet Işleri Türk Islam Birliği) Amt für Religiöse Angelegenheiten in der Türkei (Diyanet Işleri Başkanliği) European Aeronautic Defence and Space Compagn Europäische Gemeinschaften Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (bis 30.11.2009) Rat der Evangelischen Kirche Deutschlands Elektronischer Entgeltnachweis Eidgenössische Technische Hochschule Europäische Union Vertrag zur Gründung der Europäischen Union Europäischer Gerichtshof Europäischer Wirtschaftsraum Frankfurter Allgemeine Zeitung Gruppe der 7 führenden Industrienationen plus Russland Grundgesetz gegebenenfalls Akronym für Hauptverwaltung der Besserungslager, Synonym für ein umfassendes Repressionssystem in der Sowjetunion Internet Corporation for Assigned Names and Numbers in der Fassung

12 ISAF ISGH i.S.v. i.V.m. IWF JZ NATO NGO No-Fligh-Zones NPD NSDAP NZZ OECD PDS PISA PR PVV RAF RFID SA SED SEK SRP Stamokap Staten-Generaal SWIFT UČK Umma UNESCO UNO u.U. USPD VO WASG WTO ZDF

Abkürzungsverzeichnis

International Security Assistance Force Internationaler Strafgerichtshof im Sinne von in Verbindung mit Internationaler Währungsfonds JuristenZeitung North Atlantic Treaty Organization, Nordatlantische Verteidigungsorganisation Non-Governmental Organisations, Nichtsstaatliche Organisationen Flugverbotszonen Nationaldemokratische Partei Deutschlands Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Neue Zürcher Zeitung Organisation for Economic Co-Operation and Development, Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Partei des Demokratischen Sozialismus, vorher SED Programme for International Student Assessment (OECD) Public Relations, Öffentlichkeitsarbeit Partij voor de Vrijheid, Partei für die Freiheit (Niederlande) Rote Armee Fraktion Radio Frequency Identification, Identifizierung mit Hilfe elektromagnetischer Wellen Sturm-Abteilung Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Spezialeinsatzkommando, Spezialeinheit der Polizei Sozialistische Reichspartei Staatsmonopolistischer Kapitalismus Generalstaaten, Parlament der Niederlande Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication Befreiungsarmee des Kosovo (Ushtria Çlirimtare e Kosovës) Gemeinschaft der Gläubigen (Islam) United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization United Nations Organization, Vereinte Nationen unter Umständen Unabhängige Sozialdemokratische Partei Verordnung Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit World Trade Organization, Welthandelsorganisation Zweites Deutsches Fernsehen

EINLEITUNG

STAATSKRISE Muss sich die Regierung ein anderes Volk wählen? Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes? 1

Staatskrise: Das Wort klingt nicht nur bedrohlich, der Zustand ist auch tatsächlich gefährlich. Und leider besteht kein Zweifel daran: Unser Staat befindet sich in einer Krise, aus der kein Weg hinauszuführen scheint. Allerdings müssen wir uns zunächst vergewissern, ob wir von demselben Staat sprechen, oder ob jeder von seiner eigenen Vorstellung vom Staat spricht. Ist der Hegelsche Staat gemeint, der als geschichtsteleologische „Idee“ die Gemeinschaft des Staatsvolkes verkörpert? Es liegt auf der Hand, dass dabei dem Volk als Souverän eine entscheidende Bedeutung zukommt. Oder geht es um den „arbeitenden Staat“ im Sinne Lorenz von Steins, letztlich also um Regierung und Verwaltung, wobei Parteipolitik eine eher untergeordnete Rolle spielt (oder spielen sollte)? Oder ist der heutige Staat – gerade umgekehrt – ein reiner Parteienstaat, d.h. jenseits der politischen Parteien gibt es nichts Staatliches? Das würde bedeuten, dass Hegels Staatsidee durch eine eher kurzfristige und jederzeit änderbare Parteiräson des Muddling through ersetzt würde: Wer gerade Mehrheiten stellt oder solche in Koalitionen herstellen kann, der ist auch mit dem Staat gleichzusetzen mit der Konsequenz, dass es einen schwarzen, roten oder grünen Staat geben würde. In dieser Version vereinnahmen die Parteien den Staat, seine Institutionen, Aufgaben und Verfahren. Der arbeitende Staat wird mit dem eigenen Personal ausgestattet, das der Partei bzw. dem Spitzenpolitiker verpflichtet ist, nicht aber der Nation. Nicht die höchste Qualifikation, sondern die größtmögliche Loyalität entscheiden in diesem Fall über die Besetzung von Spitzenpositionen. Die Staatseinnahmen und Amtsprivilegien dienen dann in erster Linie zur reibungslosen Durchsetzung der jeweils herrschenden Parteiräson, wozu natürlich vor allem der Machterhalt gehört. 1. FEHLENDE LÖSUNGSSTRATEGIE Auffällig ist allerdings, dass es keine Partei gibt, die eine Strategie zur Lösung der akuten Probleme parat hätte. Vielmehr wird sogar die Krise selbst als solche verkannt oder geleugnet. Man könnte durchaus von einer Vogel-Strauß-Politik sprechen: „Was ich nicht sehe, gibt es auch nicht“. Das grundsätzliche Versagen des Parteienstaates wird zu einem „Fehlstart“ oder einem „vorübergehenden Formtief“ herunter gespielt und schön geredet. Wie bei starken Rauchern heißt es: „Wir könnten ja jederzeit mit dem Entzug anfangen, wenn wir nur wollten!“ Das ist 1

Brecht 1997, S. 404.

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Einleitung

aber ein Irrtum: Macht ist eine Droge, die abhängig macht. Wer sie erst einmal genossen hat, der kann nicht von ihr lassen. Erschwerend kommt hinzu, dass es sich diesmal nicht nur um einen Reformstau handelt, wie es ihn bereits häufiger in Deutschland gegeben hat. Der ließe sich mit einigem guten Willen auflösen, wie die Regierung Gerhard Schröders mit ihrer Agenda 2010 gezeigt hat. 1.1 Mündige Bürger in einem demokratischen Staat Heute geht es jedoch um mehr als um eine Anpassung an die veränderten Rahmenbedingungen in einer globalisierten Welt. Diesmal geht es um uns selbst und um die Frage, unter welchen politischen Bedingungen wir künftig leben wollen. Geben wir uns mit einer „gelenkten Demokratie“ zufrieden, in der wir uns von anonymen Mächten unter Verweis auf die politische Korrektheit (political correctness) vorschreiben lassen, was wir zu denken, zu sagen und zu tun haben? Oder wollen wir als mündige Bürger in unserem eigenen Staat ernst genommen werden und eigenverantwortlich über unser Denken, Reden und Handeln entscheiden? Auch die für uns neue Situation, dass sich das Parteiensystem von einer stabilen Dreierkonstellation aus CDU/CSU, SPD und FDP über ein System aus vier Parteien (Bündnis 90/Die Grünen seit 1990) zu einem Fünfparteiensystem (Die Linke, als PDS mit zwei Direktmandaten seit 2002) entwickelt hat, ist nicht die Ursache, auch wenn das die Koalitionsbildung natürlich erschwert. Vielmehr haben die Ost-West-Konfrontation und die (zunächst vollständige, später partielle) Entmündigung Deutschlands uns den Blick für das Wesentliche verstellt. Die Probleme der gegenwärtigen Bundesregierung zeigen jedoch stellvertretend für die Regierungen anderer Länder (z.B. Italien), dass wir es im 21. Jahrhundert mit einer ernsten Systemkrise zu tun haben. Demokratie, Rechtsstaat und Sozialstaat sind in höchster Gefahr. 1.2 Anspruch und Wirklichkeit Der Spiegel kleidet das Dilemma mit der schwarz-gelben Regierung in die Überschrift „Aufhören!“ und zeigt auf dem Titelbild einen nachdenklichen Vizekanzler Guido Westerwelle und eine Bundeskanzlerin Angela Merkel mit tiefen Sorgenfalten.2 Michael Spreng, der sich als Politikberater von Unionspolitikern einen Namen gemacht hat, spricht gar von der „Zombie-Regierung“, also einer Regierung, die eigentlich schon tot ist und nur so aussieht, als ob sie noch lebte.3 Das Motto der Regierenden lautet: „Augen zu und durch!“

2 3

Der Spiegel, Nr. 24 vom 14.6.2010, Titelbild. http://www.sprengsatz.de/?p=3422, Zugriff am 20.6.2010.

Einleitung

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Zweckbündnis von Parteien Merkwürdigerweise wird die Staatskrise nämlich nicht zur Regierungskrise, obgleich das Auseinanderklaffen zwischen Anspruch und Wirklichkeit bei der CDU/CSU/FDP-Regierung besonders deutlich sichtbar wird. Sie war als bürgerliche Wunschkoalition angetreten, die Deutschland „zukunftstauglich“ machen wollte, entpuppte sich jedoch schon bald als ein Zweckbündnis aus Parteien, die ganz unterschiedliche Interessen (und Interessenten) vertreten. Dementsprechend herrscht in der Regierung ständiger Streit unter den Koalitionären. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen erschien die Große Koalition, die zunächst – vor allem von den Medien – als die allerschlechteste Lösung verteufelt worden war, im Nachhinein schon bald als geradezu ideale Konstellation. Frist bis zum Superwahljahr Dennoch bricht die Regierung trotz ständig neuer Katastrophenmeldungen nicht auseinander, die Krise wird einfach nicht zur Kenntnis genommen. Und das gute Abschneiden der deutschen Nationalmannschaft bei der Fußballweltmeisterschaft 2010, das zumindest die fußballbegeisterte Nation vor den Bildschirmen festhielt, half die schwere Zeit bis zur Sommerpause zu überbrücken. Der Abschied in die Sommerferien ist wie der ersehnte Gong in der 12. Runde nach einem schweren Boxkampf, bei dem der Gegner freilich in der eigenen „Ecke“ zu suchen ist. Das Kalkül der Regierenden ist: Im „Sommerloch“ passiert schon nichts, und im Herbst haben sich die Medien längst auf andere Themen „eingeschossen“, so dass mit einer weiteren „Galgenfrist“ zu rechnen ist. Diese Frist wird jedoch kaum länger als bis zu den Landtagswahlen des Superwahljahres 2011 anhalten: SachsenAnhalt (20. März), Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz (27. März), Bremen (22. Mai), Berlin und Mecklenburg-Vorpommern (4. September), dazu Kommunalwahlen in Hessen und Niedersachsen. 2. KLUFT ZWISCHEN POLITISCHER KLASSE UND VOLK Es wäre aber zu kurz gegriffen, wollte man die Regierung für die Situation allein verantwortlich machen. Sie trägt zwar eine gewisse Mitschuld, aber die Probleme liegen tiefer, ihre Ursachen reichen weiter zurück. Es ist vor allem die ständig wachsende Kluft zwischen der politischen Klasse („die da oben“) und dem Volk („wir hier unten“). Politik ist die Auswahl zwischen Alternativen. Den Regierenden obliegt es – im Interesse des Volkes, das sie gewählt hat und dem sie einen Eid geschworen haben,4 – aus den vorhandenen Handlungsmöglichkeiten die beste herauszufinden und umzusetzen. Wäre das politische Handeln tatsächlich alter4

Art. 64 Abs. 2 i.V.m. Art. 56 GG: „[…] meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, […]“.

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Einleitung

nativlos, wie in letzter Zeit von der Bundesregierung – wie ein altindisches Mantra – ständig wiederholt wird, dann brauchte man auch keine Politiker. Vielmehr wären dann Experten die geeigneteren Persönlichkeiten, um an der Spitze eines Staates zu stehen, den man dann freilich eher als Expertokratie bezeichnen könnte. Tatsächlich versteckt sich dahinter jedoch eine andere Kontroverse, nämlich die zwischen Gemeinwohl und Interessenvertretung. Wie ist das Verhältnis der Politik zum Staat, welcher Grundregel folgt sie dabei? Geht es in der Politik um das Finden eines Kompromisses zwischen gegensätzlichen Interessen im Sinne eines kleinsten gemeinsamen Nenners, möglichst unter Vermeiden von Widerständen, oder steht die bestmögliche Problemlösung zum Wohle Aller, jedenfalls aber der überwiegenden Mehrheit des Volkes, im Vordergrund? Man könnte auch von dem Widerspruch zwischen tatsächlich zu beobachtender Parteipolitik und wünschenswerter Staatspolitik im Sinne des Grundgesetzes sprechen. 2.1 Gemeinwohl versus Parteiräson Peter Graf Kielmansegg ist zuzustimmen, wenn er die Situation des Parteienstaates – mit Blick auf die Wahl des Bundespräsidenten – so beschreibt: Demokratien müssen damit leben, dass die Parteien die Parteiräson in der Regel mit dem Gemeinwohl gleichsetzen. Sie können nur darauf hoffen, dass die Spannung zwischen Parteiräson und Gemeinwohl nicht zu groß wird. […] Die Parteien wären gut beraten, diese Krise ernst zu nehmen. Sie sollten Chancen suchen, jedenfalls gelegentlich sichtbar zu machen, dass die Parteiräson nicht immer und überall das letzte Wort im Gemeinwesen hat. 5

Freilich möchte man mit Lenin antworten: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!“ Es ist zu optimistisch, auf die Einsichtsfähigkeit und die Umsetzungsmöglichkeiten der regierenden Parteifürsten zu hoffen. Vielmehr müssen die Parteien – durch institutionelle Vorkehrungen, deren Einhaltung dem Bundesverfassungsgericht obliegt, – daran gehindert werden, sich alle Bereiche des öffentlichen Lebens einzuverleiben. Es führt kein Weg daran vorbei: Die Parteienherrschaft muss zu Gunsten der Volkssouveränität unbedingt eingeschränkt, wenn nicht gebrochen werden! Dabei sind drei Ebenen zu beachten, die Ebene des Volkes als Souverän, der absoluten Vorrang genießt, die Ebene der Verfassung, die unbedingt einzuhalten ist, deren Bedingungen für die Änderung aber dringend einer Überprüfung unterzogen werden müssen und schließlich drittens die Ebene der Verfassungsgerichtsbarkeit – von Fall zu Fall ergänzt durch den Bundesrechnungshof. Auch die Medien könnten hierbei eine positive Rolle spielen, freilich müsste zunächst die Herrschaft der etablierten Parteien über die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten beendet werden. Durch Elemente einer direkten Demokratie kann das Volk seine verbriefte Souveränität (Art. 20 GG) ausüben, ohne auf Gedeih und Verderb auch an unfähi5

Peter Graf Kielmansegg, Die Bundesversammlung sei frei! In: FAZ 24.6.2010.

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ge (oder gar ungetreue) Treuhänder gebunden zu sein. Dazu gehört selbstverständlich die Volkswahl des Bundespräsidenten, aber auch die Möglichkeit eines Referendums bei Entscheidungen von gravierendem nationalem Interesse, wie die Übertragung von Souveränität auf supranationale Einrichtungen oder ein Finanztransfer in einem Umfang, der den Wohlstand künftiger Generationen bedroht („Euro-Rettung“). Die absolute Verfügungsmacht über den Staatshaushalt darf nicht länger in den Händen von Parteistrategen bleiben, die das formal zuständige Parlament jederzeit manipulieren können. Artikel 38 Abs. 1, Satz 2 des Grundgesetzes legt unmissverständlich fest, woran sich die Abgeordneten zu orientieren haben: Sie [die Abgeordneten des Deutschen Bundestages] sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.

Damit verträgt sich allerdings nicht, dass auch grundlegende Entscheidungen, die das deutsche Volk in seiner Gesamtheit betreffen und für seine Zukunft maßgeblich sind, von Parlamentsmehrheiten getroffen werden, die unter schwer durchschaubaren Zwängen stehen, die intern von Interessengruppen, extern von konkurrierenden Staaten oder Imperien ausgeübt werden. 2.2 Volk als Souverän Alle Macht geht vom Volke aus, heißt es in unserer Verfassung. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben, müsste es weiter heißen: Und dann kehrt sie vier Jahre lang nicht mehr dorthin zurück. Die Parteien, nicht die Bürger, sind die Gottheit des Grundgesetzes. 6

So viel Wahres auch an dieser Aussage ist, so falsch ist dennoch der letzte Satz. Der Parlamentarische Rat hatte zwar – in bewusster Abkehr von der Weimarer Reichsverfassung – den politischen Parteien ein Recht zur Mitwirkung an der politischen Willensbildung eingeräumt und sie in mancher Hinsicht privilegiert. Aber dahinter steckte kaum die Absicht, einen Parteienstaat zu errichten, vor dem etwa der spätere Bundesverfassungsrichter Gerhard Leibholz (1901–1982) stets gewarnt hatte.7 Der Übergang von der Parteiendemokratie, in der die Parteien lediglich Mittler zwischen Staat und Bürgern sind, zu einem Parteienstaat, in dem die Parteien die Herrschaft über das politische Leben vollständig sowie über das gesellschaftliche Leben zu weiten Teilen übernommen haben, hat sich erst später vollzogen. Heute müssen wir freilich davon ausgehen, dass die Parteien sich den Staat, insbesondere seine finanziellen, personellen und institutionellen Ressourcen, total unterworfen haben. Dazu musste aber zunächst sichergestellt werden, dass der Bundestag (im Zusammenwirken mit dem Bundesrat) die alleinige Quelle der Gesetzgebung sowie vor allem der Verfassungsgesetzgebung sei.

6 7

Steingart 2009, S. 100. Leibholz 1951, S. 1ff.

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Legitimation durch das Bundesverfassungsgericht Eine Volksgesetzgebung, wie sie die Weimarer Reichsverfassung in Artikel 73 vorgesehen hatte, hatte bereits der Parlamentarische Rat ausgeschlossen. Allenfalls die Interventionen des Bundesverfassungsgerichts wurden – zum Teil widerwillig – geduldet, weil das Gericht sich in hochbrisante politische Angelegenheiten eingemischt und sich damit sehr bald bei den Bürgern einen hervorragenden Ruf erarbeitet hatte. Für die Regierenden war damit jedoch – eher unverhofft und ungeplant – ein äußerst positiver Effekt verbunden. Mit seinen Entscheidungen erschloss das BVerfG eine wichtige Legitimationsquelle für das politische System und damit auch für die etablierten Parteien. Hat das Verfassungsgericht nämlich erst einmal eine den etablierten Parteien genehme Regelung (wie z.B. die Wahlkampffinanzierung oder die Fünf-Prozent-Klausel) für richtig befunden, dann kann kaum noch jemand hiergegen berechtigte Einwände erheben. Verstärkt wird das durch eine „geschlossene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“8 aus Rechtswissenschaftlern, Richtern und Rechtspolitikern, die unter sich ausmachen, wie das Grundgesetz ausgelegt werden muss. Diese Auslegung wird dann in Kommentaren zum Grundgesetz, in Monografien aller Art sowie in Aufsätzen und Urteilsbesprechungen in den wichtigsten Fachzeitschriften, aber auch in der seriösen Tagespresse, „zementiert“. Dabei gerät die Vorstellung der Volkssouveränität – zu Gunsten einer (behaupteten) „Verfassungssouveränität“ – ganz aus dem Blick. Arkanum der Volkssouveränität Vor allem deshalb muss die Regel des Artikels 79 Abs. 3 des Grundgesetzes auf der Basis der Volkssouveränität neu interpretiert und deutlich schärfer gefasst werden. Denn: Auch die Befugnis zur Änderung oder Revision von Verfassungsgesetzen […] ist, wie jede verfassungsgesetzliche Befugnis, eine gesetzlich geregelte Zuständigkeit, d.h. prinzipiell begrenzt. Sie kann den Rahmen der verfassungsgesetzlichen Regelung, auf der sie beruht, nicht sprengen.9

Verfassungsänderungen, die solche gravierenden Entscheidungen wie die Einführung des Euro erst möglich machen (z.B. Art. 23 Abs. 1, Satz 2 GG n.F.), dürfen nicht von einer Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat getroffen werden, sondern gehören zum Arkanum der Volkssouveränität, über das nur das Volk selbst – kraft seines pouvoir constituant – entscheiden kann. Krieg und Frieden sind solche Bereiche, aber auch die dauerhafte Übertragung von Souveränität. Es wird Zeit, dass das ständige Lamentieren über die Gefahren von Volksentschei8 9

Gegenbild zu Peter Häberles „offener Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“, vgl. Häberle 1998, siehe hierzu: Blankenburg/Treiber 1982, S. 9ff. Schmitt VL, S. 98, vgl. auch S. 102.

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dungen als das erkannt ist, was es ist: Einseitige Interessenpolitik zu Gunsten der herrschenden Parteien. Mit dem Reden von einer direkten „Mitwirkung der Bevölkerung“ wird der eigentliche Sachverhalt bewusst vernebelt und die Hierarchie verkehrt. Es sind die politischen Parteien, die bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken (Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG), nicht umgekehrt. Sie verfügen über keinerlei Befugnis, dem Souverän sein natürliches Recht zur politischen Willensbildung zu gewähren oder gar zu beschneiden. Das Bundesverfassungsgericht schließlich muss darüber wachen, dass nicht aus Gründen der politischen Opportunität wesentliche Grundsätze des Rechtsstaates faktisch außer Kraft gesetzt werden. Dabei muss es sich auf seine besondere Legitimation gestützt auch gegenüber dem Europäischen Gerichtshof positionieren. Dass dieser die Interessen aller EU-Mitgliedstaaten wahrnehmen wird und nicht dem deutschen Volk gegenüber rechenschaftspflichtig ist, liegt auf der Hand. Seine Existenz sowie die Kompetenzen, die sich der EuGH selbst zugeschrieben hat,10 entlassen das Bundesverfassungsgericht aber nicht aus seiner Verantwortung. 3. LEGALITÄT UND LEGITIMITÄT Damit gelangen wir zu der Kernfrage, ob eine Demokratie sich mit der bloßen Existenz demokratischer Institutionen und ihrem reibungslosen „Funktionieren“ begnügen kann, oder ob sie nicht grundsätzlich auf die Zustimmung und die Unterstützung des Volkes angewiesen ist. Letztlich geht es dabei also um das Verhältnis von Legalität und Legitimität. Während sich die Legalität in Form von Gesetzen, die von Parlamentsmehrheiten verabschiedet worden sind, zumindest formal aufrechterhalten lässt, ist die Legitimität politischen Handelns nur schwer auf diese Weise herzustellen. 3.1 Filter der politischen Korrektheit Das bestehende Legalitätssystem hat Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um seine Legitimität zu gewährleisten. Dazu gehört der Glaube an die Vernünftigkeit, Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit der Gesetze, der die Kongruenz von Recht und formalem Gesetz erst herbeiführt.11 Dieser Glaube ist freilich angesichts eklatanter Fehlleistungen nur schwer aufrecht zu erhalten, bei vielen Menschen ist er längst verloren gegangen. Selbst die Zweckmäßigkeit von Gesetzen ist oft zweifelhaft; dass sie gerecht oder gar vernünftig wären, wird man nur in den seltensten Fällen behaupten können. Zwar kann man mit einer ausgefeilten Propagandamaschinerie die Rahmenbedingungen für die Wahrnehmung von Politik festlegen und Protestaktionen durch den Filter der Politischen Korrektheit (politi10 Vgl. Höreth 2008. 11 Schmitt LuL, S. 23.

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cal correctness) kleinhalten, indem bestimmte Themen, Ausdrücke und Gesten zum Tabu erklärt werden. Damit lässt sich zwar die eigene Position – zumindest für einen gewissen Zeitraum – gegen jegliche Kritik immunisieren, eine aktive Zustimmung des Volkes für die eigene Politik erhält man damit aber nicht. 3.2 Beruf: Politiker Das aber bedeutet: 82 Millionen Deutsche werden politisch von einer Gruppe geführt, die keine 200.000 aktive Mitglieder umfasst und damit einem Anteil von knapp 0,3 Prozent der erwachsenen Bevölkerung entspricht. Der genetische Pool, aus dem das Land seine politische Elite rekrutiert, ist damit ähnlich eng gefasst wie zu Zeiten des Feudalstaates.12

Das Gespür für die Wünsche des Volkes fehlt den meisten Politikern. Sie sind überwiegend Berufspolitiker, die meist nur über wenig Lebenserfahrung außerhalb der Sitzungszimmer, Parteitage, Rats- und Parlamentssitzungen verfügen.13 Dass Politik längst zu einem (im Übrigen durchaus lukrativen) Beruf geworden ist, zeigt anschaulich die Karriere von Bundespräsident Christian Wulff. Von der Schüler-Union (Eintritt mit 16, Bundesvorsitzender mit 19 Jahren) führte seine politische Karriere über die Junge Union (Landesvorsitzender) und die CDU (Landesvorsitzender Niedersachsen, stellvertretender Bundesvorsitzender) zunächst ins Amt des Ministerpräsidenten von Niedersachsen und schließlich in das Amt des Bundespräsidenten. Politische Klasse Es sind aber nicht nur die volksfernen Politiker, die für die gegenwärtige Misere verantwortlich sind. Vielmehr ist es die gesamte politische Klasse,14 das sind Führungsgruppen in Parteien und Verbänden sowie oft selbsternannte Eliten in Kunst und Publizistik. Sie alle nehmen die gesellschaftlichen Probleme zumeist nicht zur Kenntnis, da sie jeden Kontakt zur Basis verloren haben. Zudem nehmen sie ihre Umwelt häufig durch einen (ideologischen) „Filter“ wahr, der sie zu falschen Schlussfolgerungen führt. Sie leiden regelmäßig unter Realitätsverlust, weil sie in den Sphären von Macht, Bedeutung und Aufmerksamkeit schweben und sich – bewusst oder unbewusst – hermetisch von der Außenwelt abriegeln. Allenfalls in home stories gewähren die Spitzenpolitiker ausgewählten bunten Blättern Einblick in ihre „heile Welt“. Da wird den Lesern mit „schönen Bildern“ die harmonische Ehe und Familie eines Bundesministers im heimischen Bayern vorgeführt (vorgegaukelt), während es in Berlin bereits „die Spatzen vom Dach pfeifen“, dass die Geliebte des Ministers gerade ein Kind von ihm erwartet. 12 Steingart 2009, S.99. 13 Wolfgang Böhmer, der Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, ist da eine lobenswerte Ausnahme. Der studierte und promovierte Mediziner war 31 Jahre lang als Arzt (zuletzt Chefarzt) tätig, bevor er „in die Politik“ ging. 14 Vgl. Mosca 1950.

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Probleme des „niederen Volkes“ werden vor allem von Spitzenpolitikern in aller Regel nur als mögliche Bedrohung der eigenen Machtposition wahrgenommen, wenn sich mangelnde Zustimmung oder sogar klare Ablehnung in Form von (fehlenden) Wählerstimmen bemerkbar machen. Es muss schon ein beträchtlicher „Problemdruck“ herrschen, ehe sich Politiker entschließen, tätig zu werden. Auch dann werden die Probleme freilich meist nicht gelöst, sondern lediglich bearbeitet und oft auch nur auf die lange Bank geschoben. Zudem gilt: Alle Politiker scheuen sich vor Polarisierung und Konflikten, weil sie Angst haben, die Mehrheitsfähigkeit zu verlieren. 15

Volksparteien und Klientelpolitik Darunter leidet allerdings nicht nur die Unterscheidbarkeit der Parteien („Profil“), vielmehr verlieren so beide großen Parteien auf die Dauer den Status von Volksparteien. Denn dann müssten sie für die Wähler (fast) aller gesellschaftlichen Schichten wählbar sein. Zwar müssen in einer Volkspartei alle Interessen repräsentiert sein, die Partei darf sich aber nicht in sog. Flügelkämpfen selbst blockieren oder sogar zerfleischen. Es ist also ein echtes Dilemma, in dem sich die Parteien befinden. Betreiben Sie allzu auffällig Klientelpolitik, wie gegenwärtig die FDP, dann stellen sie zwar möglicherweise die von ihnen Begünstigten (Hoteliers etc.) zufrieden, verärgern damit aber das Gros der Wähler. Versucht eine Partei, mit dem „Füllhorn“ milde Gaben an alle Wähler zu verteilen, wird ihr schnell der Vorwurf der unsoliden Finanzpolitik gemacht. Zudem ist der finanzielle Gewinn, der dem Einzelnen daraus erwächst, meist zu gering, um als wirklich positiv wahrgenommen zu werden. Wer sich hingegen gezielt der Nöte der „kleinen Leute“ annimmt, wird gern als Populist verschrieen. Besonders allergisch reagieren die etablierten Parteien auf sog. Rechtspopulisten, die – wie z.B. Geert Wilders in den Niederlanden – die Probleme mit der ungesteuerten Einwanderung von Menschen aus fremden Kulturkreisen deutlich ansprechen oder gar Moscheen- und Minarettverbote bzw. einen Einwanderungsstopp für Muslime fordern. Artikuliert sich der Unmut des Volkes allzu deutlich, dann wird abfällig von „Stammtisch“ gesprochen, der nicht ernst genommen werden könne. Bewusst werden dabei Assoziationen mit Bierseligkeit und Gefühlsduselei zur Diskreditierung derjenigen benutzt, die sich zu Wort melden, ohne dazu „autorisiert“ zu sein. Jede kritische Äußerung, die nicht den (selbst definierten) Anforderungen der intellektuellen Eliten entspricht, wird damit sogleich abgewertet.

15 Jürgen Rüttgers im Spiegel-Gespräch „Ich bin nicht verbittert“, in: Der Spiegel, Nr. 27 vom 7.7.2010, S. 21–22 [21].

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3.3 Macht als Droge Macht wirkt dabei auf die Angehörigen der politischen Klasse wie eine Droge, die bei ihrem Verlust Entzugserscheinungen hervorruft. Als schlimmste „Strafe“ erscheint daher der Abstieg in die Bedeutungslosigkeit, wenn man seinen Posten und damit die Möglichkeit zur Machtausübung verliert. Deshalb wird ein „echter“ Politiker niemals zurücktreten, schon gar nicht, (nur) weil er sich in seiner Ehre verletzt fühlt. Das Musterbeispiel eines solchen kritik- und anfeindungsresistenten Politikers war der ehemalige britische Premierminister Tony Blair (1997–2007), der nicht zufällig „Teflon-Tony“ genannt wurde, weil auch in der hitzigsten politischen Debatte alle Anwürfe an ihm abprallten, scheinbar ohne Spuren zu hinterlassen. Helmut Kohl war dafür berühmt, als Bundeskanzler alle Probleme „auszusitzen“, d.h. nicht zu bearbeiten, sondern solange abzuwarten, bis sie sich durch Zeitablauf von selbst „erledigt“ hatten. Angela Merkel wird ein ähnlicher Politikstil nachgesagt. Mit Verwunderung, Argwohn und manchmal auch mit Wut und Neid nehmen „Vollblut-Politiker“ den Rücktritt prominenter Persönlichkeiten („Bis hierhin und nicht weiter!“) zur Kenntnis.16 Die Zurückgetretenen wirken wegen ihres Vorbildcharakters plötzlich im sonst so gut funktionierenden System wie ärgerliche Fremdkörper, die das eigene Handeln als bloße Anpassung desavouieren. Die Brisanz ihres Rücktrittes muss also unter allen Umständen politisch „entschärft“ werden, indem dem Zurückgetretenen unlautere Motive oder bloße Existenzangst unterstellt werden. 4. LEGITIMITÄTSKRISE Alle Würde und Hoheit des Gesetzes hängt ausschließlich und unmittelbar, und zwar mit unmittelbar positiv-rechtlicher Bedeutung und Wirkung, an diesem Vertrauen auf die Gerechtigkeit und Vernunft des Gesetzgebers selbst und aller am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Instanzen.17

Es greift zu kurz, wenn die Legitimität der parlamentarischen Demokratie mit ihrer Legalität gleichgesetzt wird. Dass dem nicht so ist, zeigen schon die Urteilspraxis des Bundesverfassungsgerichts und die Reaktionen von Regierung und Opposition auf diese Urteile. Offensichtlich ist nicht jedes Gesetz, das die formalen Hürden der Gesetzgebungsmaschinerie genommen hat, auch legitim, in diesem Fall mit dem Grundgesetz vereinbar. Verwirft das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz als nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, schwenkt die Regierung in aller Regel rasch um und behauptet, diese Sicht des Verfassungsgerichts schon 16 Neben dem Rücktritt Horst Köhlers zählen dazu die Verzichterklärungen von Roland Koch und Jürgen Rüttgers sowie die Rücktrittsdrohung Karl-Theodor zu Guttenbergs vom 29. Mai 2009, als dieser wegen der Entscheidung der Bundesregierung, Opel eine Milliardenbürgschaft zur Verfügung zu stellen, der Bundeskanzlerin seinen Rücktritt vom Amt des Bundeswirtschaftsministers angeboten hatte. 17 Schmitt LuL, S. 23.

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immer vertreten zu haben. Auch die Opposition verkündet zumeist, dass ihr das Verfassungsgericht Recht gegeben habe. Darüber hinaus bedarf politisches Handeln, auch in Gesetzesform, aber auch grundsätzlich wenn nicht der expliziten Zustimmung, so doch zumindest der zustimmenden Hinnahme des Volkes. Eine Befreiung der Hotelbranche vom vollen Mehrwertsteuersatz ist ganz sicher legal, sobald dies in Gesetzesform geschieht. Dabei handelt es sich aber um eine nur dürftig verschleierte Klientelpolitik, die von den Bürgern auch als solche schon bald erkannt und als nicht legitim zurückgewiesen wird. Das Vertrauen in die Politik und die sie tragenden Parteien, vor allem in die Regierungsparteien, wird damit u.U. nachhaltig geschädigt. 4.1 Staatsverschuldung Ein lange vernachlässigtes Problem für die Legitimation politischen Handelns stellt die Staatsverschuldung dar. Sie wurde über Jahrzehnte als notwendiges Übel angesehen, weil anders der Staatshaushalt nicht zu finanzieren sei. John Maynard Keynes (1883–1946) hatte zwar empfohlen, dass der Staat im Sinne einer antizyklischen Konjunkturpolitik in Zeiten der Rezession bewusst Schulden aufnehmen und Ausgaben tätigen solle (deficit spending), um durch staatlich vergebene Aufträge die Nachfrage zu erhöhen und damit die Wirtschaft anzukurbeln. In Zeiten der Hochkonjunktur sollten diese Schulden seiner Ansicht nach aber nicht nur zurückgezahlt, sondern auch Rücklagen für künftige Konjunkturkrisen gebildet werden. Das Eigeninteresse der Parteien forderte allerdings eine ganz andere Politik, zu der Rückzahlungen ebenso wenig passten wie Rücklagen. Über Jahrzehnte wurde daher die Staatsverschuldung nicht zurückgeführt, sondern weiter erhöht. Nicht zuletzt aus dieser Einstellung heraus wurden die üppigen Rücklagen der gesetzlichen Rentenversicherung aufgelöst und nur noch eine sog. Nachhaltigkeitsrücklage (bis 2003: Schwankungsreserve) übrig gelassen.18 „Wohltaten“ auf Kredit Es waren also die politischen Parteien, die in ihrem eigenen Interesse mit Hilfe des Parlaments regelmäßig (kreditfinanzierte) Wahlgeschenke verteilten, mit denen sie die Zustimmung der Wähler erkaufen wollten. Artikel 113 Abs. 1 des Grundgesetzes zeigt, dass der Grundgesetzgeber sich über die Anfälligkeit der Parteien für eine solche Handlungsweise durchaus im Klaren war: (1) Gesetze, welche die von der Bundesregierung vorgeschlagenen Ausgaben des Haushaltsplanes erhöhen oder neue Ausgaben in sich schließen oder für die Zukunft mit sich bringen, bedürfen der Zustimmung der Bundesregierung. […] Die Bundesregierung kann verlangen, dass der Bundestag die Beschlussfassung über solche Gesetze aussetzt. In diesem Fall hat die

18 Im Jahre 2004 betrugen die vorhandenen Mittel in der Nachhaltigkeitsrücklage 5,0 Mrd. Euro, 1992 waren es noch 25,1 Mrd. Euro gewesen.

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Einleitung Bundesregierung innerhalb von sechs Wochen dem Bundestag eine Stellungnahme zuzuleiten. (2) Die Bundesregierung kann innerhalb von vier Wochen, nachdem der Bundestag das Gesetz beschlossen hat, verlangen, dass der Bundestag erneut Beschluss fasst.

In Deutschland und in anderen Staaten hat die Staatsverschuldung19 inzwischen jedoch eine Rekordmarke erreicht,20 und sie wächst mit geradezu beängstigender Geschwindigkeit weiter. Große Teile der den Wählern dargebrachten „Wohltaten“ werden seit Jahrzehnten mit immer neuen Krediten finanziert. Die daraus resultierende Zinslast belastet die nachfolgenden Generationen und schnürt zudem die Staatshaushalte ein. Der sog. Schuldendienst, Rückzahlung von Krediten, Umschuldungskosten und Zinszahlungen, ist inzwischen einer der größten Etatposten in den Haushalten von Bund und Ländern.21 Schuldenbremse Es war daher höchste Zeit, als zum 1. August 2009 – mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat – endlich das Grundgesetz geändert und die sog. Schuldenbremse eingeführt wurde. Artikel 115 Abs. 2 des Grundgesetzes lautet nunmehr: Einnahmen und Ausgaben sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen. Diesem Grundsatz ist entsprochen, wenn die Einnahmen aus Krediten 0,35 vom Hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt nicht überschreiten.

Die Ausnahme von der Regel wird freilich gleich mitgeliefert: Zusätzlich sind bei einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung die Auswirkungen auf den Haushalt im Auf- und Abschwung symmetrisch zu berücksichtigen. […] Im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, können diese Kreditobergrenzen auf Grund eines Beschlusses der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages überschritten werden. Der Beschluss ist mit einem Tilgungsplan zu verbinden. Die Rückführung der nach Satz 6 aufgenommenen Kredite hat binnen eines angemessenen Zeitraumes zu erfolgen.

Tatsächlich geht es bei dieser neuen Regelung aber nicht um eine zwangsweise Rückführung der aufgenommenen Kredite, wie etwa bei der Schweizer Schuldenbremse, sondern nur um eine (schrittweise) Reduktion der maximalen Höhe der Nettokreditaufnahme, also um eine Begrenzung der Aufnahme neuer Schulden. 19 Im Juli 2010 waren dies 1.690,4 Mrd. Euro und damit rund 71% des Bruttoinlandsprodukts, die Verschuldung wächst um 3.527 Euro pro Sekunde, www.steuerzahler.de/, abgerufen am 6.7.2010. 20 Dabei sind die Pensionsverpflichtungen gegenüber den Beamten nicht eingerechnet. 21 Die Zinslasten wurden im Bundeshaushalt 2010 mit 36,81 Mrd. Euro veranschlagt, das sind 12% der Gesamtausgaben (Quelle: Bundesfinanzministerium).

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Damit werden die Kriterien im Maastricht-Vertrag – maximale Nettokreditaufnahme von 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes – zwar verschärft, die bereits aufgehäuften Staatsschulden bleiben aber bestehen. Zudem ist die Verpflichtung der Länder zu der Begrenzung der Nettokreditaufnahme verfassungsrechtlich umstritten. Einige Länder hatten bereits im Bundesrat gegen die Grundgesetzänderung gestimmt. Die Länder könnten also – zumindest theoretisch – die Bemühungen des Bundes konterkarieren. Haushaltsstabilität und Risikogruppen Jede Veränderung der Bonität eines Staates führt zu einer Verschlechterung der Kreditbedingungen und erhöht damit die Zinsen. Der Euro, die einst hoch gelobte Hartwährung, hat gegenüber dem US-Dollar drastisch an Wert verloren. Die langfristige Haushaltsstabilität ist in 13 der 27 EU-Mitgliedstaaten gefährdet. EUWirtschaftskommissar Joaquin Almunia nennt diese Länder die „Hochrisikogruppe“. Haushaltsdefizite und Schuldenstände sind weit über die Grenzen des Stabilitätspakts hinausgeschossen.22 Aus der Eurozone gehören zu dieser Gruppe (wenn auch mit unterschiedlichem Risiko): Spanien, Niederlande, Griechenland, Irland, Slowakei, Slowenien, Malta und Zypern. Außerhalb der Eurozone kommen noch die EU-Mitglieder Großbritannien, Rumänien, Tschechien, Lettland und Litauen hinzu. Als weitgehend risikofrei gelten lediglich Finnland und Schweden, während die drei größten Euro-Volkswirtschaften Deutschland, Frankreich und Italien als Länder mit mittlerem Risiko eingestuft werden. Katastrophale Fehlentscheidungen der Europäischen Zentralbank, der EU-Kommission sowie der Staats- und Regierungschefs in der Griechenlandkrise haben dazu geführt, dass auch wirtschaftsstarke Staaten wie Deutschland in finanzielle Bedrängnis zu geraten drohen. Die wirtschaftsschwachen Staaten hängen ohnehin am Tropf der zahlungskräftigeren EU-Mitglieder. Trifft diese Krise wenigstens in Deutschland auf eine lebendige Demokratie, eine führungsstarke Regierung und eine solidarische Gesellschaft, die eine solche Krise gemeinsam meistern könnten? Gerade daran scheint es jedoch immer mehr zu fehlen. Die Demokratie läuft leer, die Regierung hat keinen Plan, die Gesellschaft ist in sich gespalten. Die Kluft zwischen den Superreichen und den ganz Armen wird tiefer, dazwischen wird die einst staatstragende Mittelschicht zerrieben. Nach den Untersuchungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin ist die deutsche Mittelschicht in einem längerfristigen und nahezu ungebremsten Schrumpfungsprozess begriffen.23 Eine starke Mittelschicht ist aber wichtig für den Erhalt der gesellschaftlichen Stabilität. Die Frage muss erlaubt sein, ob es sich bei dieser Entwicklung um absichtliche und zielgerichtete politi22 Nachhaltigkeitsbericht 2009. 23 Der Anteil der mittleren Einkommensbezieher, die 70 bis 150% des mittleren Haushaltseinkommens (zwischen 860 und 1.844 € für Singlehaushalte) zur Verfügung haben, ist in 10 Jahren von 64 auf 61,5% gefallen, vgl. FAZ vom 28.7.2010, S. 11.

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sche Aktivitäten handelt oder um bloßen Dilettantismus der Regierungsmitglieder und ein verfehltes Management der Regierungspolitik.24 4.2 Rücktritt des Bundespräsidenten Gezählt hat Gott die Tage deiner Herrschaft und macht ihr ein Ende (mene). Gewogen wurdest du auf der Waage und zu leicht befunden (tekel).25

Ausgerechnet in diesen turbulenten Zeiten befindet sich der Staat in einer Legitimationskrise, die sich zu einer permanenten Staatskrise auszuwachsen droht. Der Rücktritt von Bundespräsident Horst Köhler am 31. Mai 2010 ist geradezu ein Menetekel für die Staatskrise. Menetekel an der Wand Dieser Rücktritt ist zwar nur das äußere Zeichen für die Krise der real existierenden Demokratie in Deutschland. Aber dieses Zeichen wird von den Herrschenden – wie weiland von Nebukadnezar II. – nicht verstanden. Und dies, obgleich andere prominente Politiker ebenfalls das „sinkende Schiff“ verlassen haben. Friedrich Merz, Roland Koch, Jürgen Rüttgers und jetzt auch Ole von Beust haben der Politik den Rücken gekehrt. Köhler, der „Präsident des Volkes“, sah offensichtlich keinen Sinn mehr darin, als demokratisches Feigenblatt für eine politische Klasse herzuhalten, die längst jeden Bezug zu den Menschen „draußen im Lande“ verloren hat. Man darf vermuten, dass er als wahrer Patriot sein geliebtes Vaterland nicht in guten Händen sah. Während das Volk Horst Köhler große Zuneigung und noch größeres Vertrauen entgegenbrachte, weil er sich seiner Wünsche und seiner Enttäuschungen in besonderer Weise annahm,26 sahen ihn die etablierten Politiker mit einer Mischung aus Neid, Spott und Sorge. Ein Bundespräsident solle doch vor allem repräsentative Aufgaben erfüllen und den Menschen allenfalls die Politik der gegenwärtig Regierenden mit schönen Worten erklären, diese aber keinesfalls kritisieren. Charakterstärke oder Fahnenflucht Horst Köhlers Rücktritt erntete – nach einer kurzen Schockstarre – den Spott und die Verachtung der Medien, woran die Politik vermutlich nicht ganz unbeteiligt war, auch wenn sie sich im Hintergrund hielt. In Wirklichkeit sei der Rücktritt gar keine republikanische Tugend, sondern so etwas wie Fahnenflucht, wird behaup24 Vgl. den Spiegel-Artikel „Merkels Missmanager“, in dem auf die Fehler von Roland Pofalla, dem Chef des Bundeskanzleramtes, verwiesen wird, in: Der Spiegel, Nr. 28 vom 12.7.2010, S. 18–20. 25 Buch Daniel im Alten Testament. 26 Die Attacken der Kabarettisten (z.B. „Neues aus der Anstalt“) überschritten nicht selten die Grenzen des guten Geschmacks.

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tet. Als die EKD-Vorsitzende und Landesbischöfin Margot Käßmann am 24. Februar 2010 nach einer alkoholisierten Autofahrt von allen Ämtern zurücktrat, wurde sie wie eine Heldin gefeiert. Auch hier waren es freilich zunächst die Bürgerinnen und Bürger, die ihrer Sympathie mit der Theologin Ausdruck verliehen, die Medien schlossen sich dem erst später an. Als Frau Käßmann Weihnachten 2009 in einem Interview den baldigen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan forderte, hatte sie sich endgültig auf die Seite der Mehrheit des Volkes gestellt, die den Afghanistaneinsatz ablehnt. Der Bundesregierung gefiel diese Stellungnahme allerdings gar nicht, da sie der „offiziellen“ Sicht des Einsatzes diametral zuwiderlief. Es ist sicher kein Zufall, dass der Name Käßmann unmittelbar nach dem Rücktritt Köhlers von engagierten Bürgern als mögliche Kandidatin für die Nachfolge auftauchte. Dass sie von den Parteien niemals aufgestellt werden würde, musste allerdings jedem klar sein, der sich mit den (relativ durchsichtigen) Absichten der Parteien bei der Präsidentenwahl schon einmal näher beschäftigt hat. 4.3 Schwindendes Vertrauen in die politische Klasse Die Republik leidet am schwindenden Vertrauen der Bürger in die politische Klasse, die Menschen sehen nicht (mehr), was bei den oft überhasteten und nicht selten nur als symbolisch zu verstehenden Aktivitäten der Politiker für sie Positives herauskommen könnte. Die deutschen Parlamentarier wirken uninformiert und teilweise geradezu desinteressiert. Ihre außerparlamentarischen Aktivitäten scheinen ihnen wichtiger zu sein als das Mandat des Wählers. Auch die Verschleierung ihrer Nebentätigkeiten und Nebeneinkünfte hat nicht den gewünschten Effekt. Da (fast) jeder weiß, um welche Summen es hier geht, hat diese Taktik jedenfalls keine vertrauensbildende Wirkung. Transparenz als vertrauensbildende Maßnahme? In Großbritannien hatte die Offenlegung des privaten Umgangs der Unterhausabgeordneten mit öffentlichen Geldern gerade zu einem Skandal geführt. Die Machenschaften der britischen Parlamentarier sind für die Bürgerinnen und Bürger jederzeit einsehbar. Für Deutschland ist dieses Maß an Transparenz natürlich gänzlich undenkbar. Der Erfolg dieser Geheimhaltungstaktik ist aber keineswegs sicher, im Gegenteil: Es bleibt ein diffuses Unbehagen gegenüber Volksvertretern, die scheinbar im Luxus leben, während es machen ihrer Wähler ausgesprochen schlecht geht. Und dieses Unbehagen kann – wie das Beispiel der Wahlkampfspendenaffäre in Frankreich zeigt – schnell zu offener Rebellion führen.27 Der Rücktritt des Bundespräsidenten hat diese Krise nicht hervorgerufen, hat sie allerdings klar zutage treten lassen. Bei dieser Sachlage von Köhler als einem „Selbst-

27 Präsident Nicolas Sarkozy soll im Präsidentschaftswahlkampf 2007 Parteispenden von der L’Oréal-Milliardärin Liliane Bettencourt erhalten haben, vgl. Spiegel-Online vom 9.7.2010.

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mordattentäter“ (Wolfgang Herles) zu sprechen,28 ist schon eine erstaunliche Entgleisung. Muss der Bürger nicht den Eindruck haben, in diesem Berliner „Haifischbecken“ (Sigmar Gabriel) könne sich auch nur ein menschlicher Haifisch durchsetzen, für anständige Menschen sei dort kein Platz? Kandidaten der Kanzlerin In dieser Situation nominiert die Bundeskanzlerin einen freundlich, sympathisch, aber unscheinbar wirkenden Politiker zum Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten, den jede Mutter gern zu ihrem Schwiegersohn hätte. Es ist Christian Wulff, bis zu seiner Wahl Niedersächsischer Ministerpräsident. Allerdings wird zuvor die Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen – fast zwei Tage lang – in dem Glauben gelassen, sie sei die Kandidatin der Kanzlerin. Ihr Image wird dadurch nachhaltig beschädigt, als Politikerin hätte sie aber wissen müssen, dass man auf das Wort der Person an der Spitze nicht bauen darf. Als Konkurrentin um die Kanzlerschaft fällt diese Politikerin damit jedenfalls für die nächsten Jahre aus. In diesem Moment hat vermutlich jeder Beobachter verstanden, was mit „Berliner Haifischbecken“ gemeint ist. Mit Wulff als Bundespräsident wird Frau Merkel noch einen weiteren überaus lästigen Konkurrenten los, der ihr vielleicht die Bundeskanzlerschaft hätte streitig machen können. In ihren Augen vereint der ehemalige Ministerpräsident Niedersachsens alle Eigenschaften, die sie von einem Bundespräsidenten erwartet. Er ist nicht zu ehrgeizig (aber ehrgeizig genug, um eine zweite Amtszeit anzustreben), kennt den politischen Betrieb, weiß genau, was er nicht tun darf (der Bundeskanzlerin in die Quere kommen) und was er sagen soll (dem Volk die Politik der Bundesregierung „schmackhaft“ machen). PR-Manager der Nation? Die Kandidatin der SPD für die Bundespräsidentenwahlen 2004 und 2009 Gesine Schwan hatte – in Abgrenzung zu Horst Köhler – davon gesprochen, der Bundespräsident müsse den Menschen die Politik „erklären“: Der Bundespräsident also nicht nur als „Bundesnotar“, sondern auch als „Chefpädagoge“ oder als oberster „PR-Manager“ der Nation? Wulffs bereits zuvor gezeigte präsidiale Attitüde ließ ihn den Unionsstrategen als die Idealbesetzung erscheinen, bis sich SPD und GRÜNE in einem gelungenen Coup auf einen konservativen Kandidaten einigten, der vor allem die Sympathien der Medien genießt, dessen Ausstrahlung aber auch das Volk erreicht. Joachim Gauck gilt als ein im Kampf gegen die Diktatur erprobter, aufrechter Mann mit scharfem Intellekt, außergewöhnlicher rednerischer Begabung und menschlicher Wärme. Er hat eine Biografie, die ihn für dieses Amt – wenn man es denn ernst nehmen will – als geradezu prädestiniert erscheinen lässt. 28 http://www.heute.de/ZDFheute/inhalt/5/0,3672,8076549,00.html, Zugriff am 9.6.2010.

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4.4 Machtspiele in der Bundesversammlung [...], der spürt: Freiheit ist die zentrale politische Idee, der Sie sich zeit Ihres Lebens verpflichtet gefühlt haben und auch sicherlich weiterhin verpflichtet fühlen. […] Aber so erklärt sich in dieser Definition der unangreifbare Stellenwert, den Sie dem Menschen im Verhältnis von Staat und Bürger einräumen. Ich denke, wir sollten uns das auch immer wieder vergegenwärtigen. Wir sollten es als eine Chance begreifen, die Möglichkeiten ausschöpfen zu können, und nicht als eine Zumutung empfinden.29

Was zuvor wie das meisterhafte Strategiespiel einer kühlen Naturwissenschaftlerin wirkte, entpuppte sich plötzlich als kleinmütiger Machtpoker. Denn, wie es der Zufall will, hatte Frau Merkel Joachim Gauck gerade erst zu dessen 70. Geburtstag selbst als „Freiheitsdenker, Versöhner, Einheitsstifter und Demokratielehrer“ gepriesen. Der fatale Eindruck verstärkt sich bei den Bürgern und bei der Opposition, aber auch bei vielen Parteigängern der FDP und der Unionsparteien, dass dies offenbar nicht die Charaktereigenschaften sind, welche die Kanzlerin (und mit ihr die politische Klasse) von einem Bundespräsidenten erwartet. Abweichler oder mündige Bürger? Wulffs Wahl durch die Bundesversammlung schien reine Formsache zu sein, verfügte die schwarz-gelbe Koalition dort doch – nach ihrer eigenen Einschätzung – über eine komfortable Mehrheit. Denn selbstverständlich erwarten die Parteien von „ihren“ Wahlmännern und –frauen, dass sie die Person wählen würden („den Hut dort auf der Stange“, um mit Schillers Wilhelm Tell zu reden), die ihnen von den Parteioberen benannt wird. Den Gedanken, dass sich diese Menschen, vor allem die von den Landtagen Gewählten, auch ein eigenes Bild von den Kandidaten machen könnten, um auf dieser Grundlage selbständig ihre Wahl zu treffen, halten sie für abwegig. Er liegt zu fern von ihrer Vorstellungswelt. Stattdessen sprechen sie nach der Stimmenauszählung ganz ungeniert von „Abweichlern“, als handele es sich bei der Bundesversammlung um eine Abart des Zentralkomitees einer kommunistischen Partei. Das Gesetz über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung30 geht allerdings von einem ganz anderen Politikmodell aus. Selbstverständlich gilt das freie Mandat für die Mitglieder der Bundesversammlung: Die Mitglieder sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden.31

29 Festrede von Bundeskanzlerin Angela Merkel am 22. Januar 2010 zum 70. Geburtstag von Joachim Gauck, www.unpolitik.de/2010/06/05/merkel-ueber-gauck/, Zugriff am 8.7.2010. 30 BGBl. I, S. 230. 31 § 7 des Gesetzes über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung.

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Politik ist nicht alternativlos Es gibt in der Bundesversammlung keine Fraktionen und daher auch keinen „Fraktionszwang“. Politik ist eben doch nicht alternativlos, so lautet die Botschaft. Trotz massiver Versuche der Regierungsparteien, vor allem auf die von den Landtagen gewählten Wahlmänner und Wahlfrauen Einfluss zu nehmen (sie einzuschüchtern bzw. gar nicht erst zu wählen) – die Bundestagsabgeordneten galten irrtümlich als „sicher“ – wurde der Kandidat der Kanzlerin nicht in den ersten beiden Wahlgängen gewählt, in denen die absolute Mehrheit erforderlich ist. Nach der Wahl von Wulff im dritten Wahlgang scheint die Berliner Koalition – wenn auch mit Blessuren – vorerst „gerettet“ zu sein. Dennoch steht die Kanzlerin nach dieser „Hängepartie“ nicht gerade als strahlende Siegerin da. Jetzt muss eine Umdeutungsstrategie entworfen und mit Hilfe der „eigenen“ Medienvertreter durchgesetzt werden. Dass der Kandidat der Regierungsparteien erst im dritten Wahlgang gewählt wurde, war in Wirklichkeit gar keine Schlappe für die Kanzlerin, sondern Ausdruck einer „lebendigen Demokratie“. Das Volk, das den Umfragen zufolge nicht Wulff, sondern Gauck gewählt hätte, wurde auf diese Weise wieder „an die Demokratie herangeführt“. Nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit gratulieren sich die Politiker – gleich welcher Couleur –, dass der Parlamentarische Rat 1949 das Volk – wenn auch aus einer ganz anderen historischen Situation heraus – so wirkungsvoll entmachtet hat. Und dank einer „klugen“ Strategie wurde dieser demokratische „Webfehler“ des Grundgesetzes auch nicht korrigiert, als sich das deutsche Volk im Zuge der Wiedervereinigung als geradezu mustergültig demokratisch erwiesen hatte. 4.5 Volkswahl: Gefahr für die Demokratie? Wird über das Thema Volkswahl auch nur ansatzweise diskutiert, finden sich sogleich die öffentlichen Bedenkenträger ein und warnen vor einer direkten Wahl des Bundespräsidenten durch das Volk. Die Gefahren für die Demokratie seien unabsehbar. Was sich im Jahre 1949 möglicherweise noch einigermaßen plausibel mit Hindenburg und Hitler in der Weimarer Republik begründen ließ – die tadellos demokratische Haltung von Friedrich Ebert als erstem Reichspräsidenten wird dabei ohnehin gern unterschlagen –, wirkt heute – fast 80 Jahre nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler – jedoch geradezu anachronistisch. Begrenzung der Macht? Die Ausgestaltung des Amtes des Bundespräsidenten ist in seiner ganzen Kargheit nur als symbolische Bestrafung Hindenburgs zu verstehen. Denn nicht der Bundespräsident, sondern der Bundeskanzler ist heute der „starke Mann“. „Selbstverständlich“ ist der Bundespräsident nicht Oberbefehlshaber der Streitkräfte, wie dies Artikel 47 der Weimarer Reichsverfassung für den Reichspräsidenten vorsah. Wenn es sinnvoll erscheint, die maximale Amts- oder Wahlperiode – nach dem

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Vorbild des Präsidenten der USA – zu begrenzen, dann müsste das für den Bundeskanzler gelten, aber nicht für den Bundespräsidenten, der gemäß Artikel 54 Abs. 2 des Grundgesetzes nach fünfjähriger Amtszeit nur einmal wieder gewählt werden darf. Zu der Begrenzung der Macht des Bundeskanzlers trägt das komplizierte und vom Volk nicht verstandene Wahlverfahren in der Bundesversammlung jedenfalls nicht bei. Eher trifft das Gegenteil zu: Meist ist es der Bundeskanzler, der sich eine Person für dieses Amt aussucht, die den eigenen Interessen am meisten entspricht. Es stärkt also eher die Position des Bundeskanzlers. So hatte es Helmut Kohl mit Richard von Weizsäcker gehalten, den er mit „seiner“ Mehrheit am 23. Mai 1984 zum Bundespräsidenten wählen ließ. Als Weizsäcker sich später kritisch über die Parteien äußerte, wies Kohl ihn überdeutlich darauf hin, dass er es gewesen sei, der Weizsäcker in das Amt gebracht habe. Merkels Coup Angela Merkels Coup des Jahres 2004, zusammen mit dem FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle den IWF-Präsidenten Horst Köhler zum Bundespräsidenten zu machen,32 war vor allem deshalb von Interesse, weil ihr das aus der Rolle der Oppositionsführerin heraus gelang. Sie stützte sich dabei auf eine zahlenmäßige Mehrheit von CDU/CSU- und FDP-Stimmen in der Bundesversammlung. Dass sie gewissermaßen freihändig über die Stimmen der frei gewählten Bundestagsabgeordneten und der von den Landtagen gewählten Wahlmänner und –frauen verfügte, erschien der politischen Klasse angesichts der Parteiendominanz in allen öffentlichen Institutionen trotz anderslautender Vorschriften als selbstverständlich. Wenn überhaupt Kritik laut wurde, dann richtete sie sich eher gegen die „Mauschelei am Küchentisch“, die einen bis dahin unbekannten Kandidaten hervorbrachte, und nicht etwa gegen die Vereinnahmung demokratischer Rechte durch dazu nicht legitimierte Personen. Ausgestaltung des Präsidentenamtes Der Bundespräsident wird vom Bundesvolk auf Grund des gleichen, unmittelbaren, persönlichen, freien und geheimen Wahlrechtes der zum Nationalrat wahlberechtigten Männer und Frauen gewählt […].33

Umgekehrt wird die Behauptung, dass ein direkt gewählter Bundespräsident eine Gefahr für die politische Stabilität sein könnte, durch die österreichische Verfassungspraxis seit langem mit großem Erfolg widerlegt. Es trifft auch nicht zu, dass es lediglich die Alternative zwischen dem machtlosen deutschen Bundespräsidenten („Bundesnotar“) und dem allmächtigen US-Präsidenten („Wahlkönig“) gäbe, 32 Horst Köhler war der erste deutsche Präsident des Internationalen Währungsfonds (2000 bis 2004), seit 2007 ist IWF-Präsident der Franzose Dominique Strauss-Kahn. 33 Art. 60 Abs. 1 Bundes-Verfassungsgesetz (Österreich).

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wie Roman Herzog kürzlich in einem Interview behauptet hat. Vielmehr gibt es eine Vielzahl von Abstufungen in der Ausgestaltung des Präsidentenamtes, die durchaus auch ein Nebeneinander von volksgewähltem Bundespräsidenten und parlamentsgewähltem Bundeskanzler zulassen würde. Und oft gehen die Befugnisse des Staatspräsidenten auch in parlamentarischen Demokratien erheblich weiter. In einer gemäßigt repräsentativen Demokratie könnten auch das Parlament als Gesetzgeber, die Regierung als Leitungsgremium und das Volk als letzte Entscheidungsinstanz in Lebensfragen der Nation durchaus gedeihlich zusammenleben. 5. FINANZKRISE Daher sind wir nun mit der paradoxen Situation konfrontiert, daß Märkte liberalisierter und globaler sind als je zuvor, die globalen Institutionen jedoch, die ihre Folgen kontrollieren, drastische Machteinbußen hinnehmen mußten. Unter diesen Voraussetzungen kann die Möglichkeit einer weltweiten Finanzkatastrophe vom Ausmaß des Jahres 1929 nicht ausgeschlossen werden.34

Eine Finanzkrise (übrigens das Wort des Jahres 2008) ist – zumindest aus deutscher Sicht, die vom Höhepunkt der Inflation im Jahre 1923 geprägt ist, – der sichtbarste Ausdruck einer Staatskrise. Die damals grassierende Inflation, die schließlich dazu führte, dass ein US-Dollar 4,2 Billionen Papiermark wert war, ist für die Deutschen immer noch eine Horrorvorstellung. Sie fürchten auch jetzt wieder angesichts der enormen Staatsverschuldung einen Wertverfall ihres Geldes. Das ist umso verständlicher (und berechtigter), als die beiden großen Finanzkrisen der letzten Jahre keine Einzelerscheinungen sind, sondern sich immer mehr als bloßes Auf und Ab einer Dauerkrise des Finanzkapitalismus entpuppen.35 Sowohl die Krise des globalen Finanzsystems vom Herbst 2008, als – noch stärker – die Griechenlandkrise des Jahres 2010, die sich zu einer Eurokrise ausgewachsen hat, sind dafür symptomatisch. In beiden Fällen haben die Regierungen – im Namen, jedenfalls aber auf Kosten ihrer Steuerzahler, – Unsummen für die „Rettung“ von Banken, des Euros oder der europäischen Solidarität (die Begründungen wechseln ständig) ausgegeben. Damit haben sie die ohnehin schon gigantische Staatsverschuldung der Bundesrepublik Deutschland in geradezu abenteuerliche Höhen getrieben.36 Die Folgelasten sind unabsehbar, und schlimmer noch: die Folgen sind den Politikern nicht nur unbekannt, sie sind ihnen auch gleichgültig. Denn diese Folgen treffen schließlich die nachwachsende Generation und vor allem nicht sie selbst, sondern andere Politiker als die jetzt agierenden. Die längst überfällige Konsolidierung des Staatshaushalts trifft nun mit einem in seiner gesamten Höhe ebenfalls kaum ab34 Beck/Grande 2004, S. 311. 35 Vgl. Arnoldi 2009. 36 Die Staatsschulden Deutschlands (Bund, Länder und Kommunen) betragen Mitte 2010 1.750 Mrd. Euro, vgl. www.staatsverschuldung.de/schuldenuhr.htm, Zugriff am 19.05.2010.

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zuschätzenden Finanztransfer innerhalb der Eurozone zusammen, bei dem die Bundesrepublik Deutschland das wichtigste (hoffentlich nicht zum Schluss das einzige) Geberland ist. Schon verlangen sowohl das Europäische Parlament als auch der Internationale Währungsfonds eine Erhöhung der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel. Deutschland wird dabei wiederum nicht „ungeschoren“ davonkommen.37 Mehr oder weniger versteckte Steuererhöhungen erscheinen als unvermeidliche Konsequenz. 5.1 Unseriöse Rettungsaktionen Die Finanzminister der Euro-Staaten haben sich am 7. Juni 2010 auf einen sog. Rettungsschirm zur Absicherung kriselnder Mitgliedstaaten in Höhe von 750 Mrd. Euro geeinigt. Eine neue Zweckgesellschaft wird als Aktiengesellschaft nach luxemburgischen Recht Kredite in Höhe von bis zu 440 Mrd. Euro aufnehmen und an finanzschwache Länder weitergeben. Die Anleihen sollen durch diesen finanzpolitischen Trick ein optimales „Rating“ (also AAA, wie es für Deutschland gilt) erhalten, um die Kosten zu begrenzen, obgleich die Banken derartig hoch verschuldeten Ländern wie Griechenland natürlich niemals solche Kreditkonditionen einräumen würden. Jeder der beteiligten Staaten bürgt mit 120% des Anteils an der Gesellschaft. Deutschland steuert also nicht nur – wie behauptet – 123 Mrd. Euro bei, sondern bürgt für 148 Mrd. Euro.38 Und obwohl diese Summe fast der Hälfte des Bundeshaushalts entspricht, sind auch hier noch immer keine klaren Grenzen gesetzt. Sollte ein Geberland ausfallen (womit zu rechnen ist), dann wird dessen Anteil auf die verbleibenden Geberländer aufgeteilt. Die spannende Frage dürfte sein, wer zuletzt übrig bleibt und die gesamte Zeche zahlt. Darüber hinaus soll die EU-Kommission selbst Kredite bis zu 60 Mrd. Euro aufnehmen und an finanzschwache Länder weitergeben dürfen. Schrottpapiere Die Europäische Zentralbank nimmt Staatsanleihen von finanzschwachen Mitgliedsstaaten in ihr Portfolio, deren Wert zumindest zweifelhaft ist. Pessimisten sprechen von wertlosen „Schrottpapieren“, mit denen sich die betroffenen Länder aber problemlos Geld von der EZB leihen können. Damit wächst zumindest die Inflationsgefahr, wenn nicht Schlimmeres droht. Die Unabhängigkeit der EZB hat dadurch großen Schaden erlitten, dass sie zu dieser Aktion genötigt wurde. Aber auch damit ist das Ende der Belastungen keineswegs erreicht, vielmehr wird daraus aller Voraussicht nach eine permanente Einrichtung zum Finanztransfer aus deutschen Steuermitteln wie aus denen anderer Staaten des Nordens (z.B. der Niederlande) an die Länder des Südens. In diese Länder sind aber im Zuge des 37 Bedauerlicherweise münzt die Bundeskanzlerin diese Zahlungen nicht in Spitzenpositionen für deutsche Politiker bei EU und IWF um. 38 Siehe FAZ.NET vom 9. Juni 2010.

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bisher geltenden EU-Verteilungsplans bereits Milliarden geflossen, die – glaubt man den Ökonomen – jedoch eher geschadet als genützt haben. Denn aufgrund dieser Mittel und begünstigt durch die Niedrigzinspolitik der EZB sahen sich die Regierungen dieser Länder dazu ermuntert, höhere Schulden zu machen („Schuldenfalle“). Die Kredite flossen vor allem in den Konsum, um die (völlig überzogenen) Einkommenserwartungen der Bürger zu befriedigen.39 Damit ließen sich dann leichter Wahlen gewinnen. Zugleich haben diese Länder es versäumt, die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Volkswirtschaften so zu stärken, dass sie auf eigenen Füßen hätten stehen können. Beistandskredite ändern daran nach Ansicht der Ökonomen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft ebenso wenig wie eine stärkere Koordination der Wirtschaftspolitik auf europäischer Ebene („Wirtschaftsregierung“). Entzug des Stimmrechts In einem unbedachten Moment beklagte sich die Bundeskanzlerin, dass man den Wackelkandidaten nicht einmal das Stimmrecht entziehen könne. Gerade sie sind es paradoxerweise nämlich, die bei den Beratungen über ihre „Rettung“ das große Wort führen. Sollte Frau Merkel einen solchen Entzug des Stimmrechts tatsächlich ernsthaft fordern (und nicht einmal das ist sicher), stünde das Ergebnis natürlich aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Rat und den übrigen europäischen Gremien von vornherein fest. Es bliebe auch dann alles, wie es ist. Man muss sich nur für einen Moment vorstellen, man hätte als Privatmann Probleme, seine Kredite zu bedienen und würde dann Druck ausüben, dass nicht nur die Bank, der man das Geld schuldet, weitere Kredite gibt bzw. für diese bürgt, sondern viel schlimmer: eine (institutionelle) Mehrheit der Schuldner könnte auch noch über Höhe und Konditionen dieser Kredite und Bürgschaften – auch gegen die Stimme der Bank – entscheiden. Es liegt auf der Hand, dass sich keine Bank der Welt auf solche Konditionen einlassen würde. 5.2 Deutschlands Position in der Europäischen Union Der Bundeskanzlerin ist es – trotz wortreicher Behauptungen des Gegenteils – nicht gelungen, die starke Position Deutschlands auch in Entscheidungen umzumünzen, die dem Wohl des deutschen Volkes dienen. Vielleicht hätten ihre Berater ihr dazu das Folgende auf ihren Sprechzettel schreiben sollen: Was wäre die Europäische Währungsunion oder die Europäische Union ohne Deutschland? Beide würden ohne die deutsche Wirtschaftskraft und seine Position eines ewigen Nettozahlers binnen weniger Monate auseinanderbrechen. Die Finanzinvestoren würden alle europäischen Weichwährungen durch Spekulationen binnen weniger

39 Studie des Instituts für Weltwirtschaft, siehe www.ad-hoc-news.de/schuldenmechanik_in_der_eu-beklagt-/de/News/21458961, Zugriff am 8.7.2010.

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Wochen in die Knie zwingen und die finanzschwachen Mitglieder der Eurozone in den Staatsbankrott treiben. Auswärtsspiel der Bundeskanzlerin Eigentlich eine glänzende Ausgangsposition für eine deutsche Regierungschefin, um ihre politische Vision durchzusetzen, sollte man denken. Dennoch gelingt es der Bundeskanzlerin nicht, den Zugriff der weniger erfolgreichen EU-Mitglieder auf die deutschen Steuergelder abzuwehren. Zum einen hat sie offenbar gar keine politische Vision. Zum anderen fehlt es ihr offensichtlich an Selbstbewusstsein, Stehvermögen und – was noch wichtiger ist – an der erforderlichen Rückbindung an das eigene Volk einerseits und an dem nötigen Rückhalt in der Nation andererseits. Sie spielt gewissermaßen ein Auswärtsspiel ohne lautstarke Unterstützung von den mitgereisten Fans. Die Bundeskanzlerin scheint tatsächlich zu meinen, dass es ihr erlaubt sei, das (offensichtliche) Wohl des deutschen Volkes zu Gunsten irgendwelcher (nebulöser) „europäischer Interessen“ zurückzustellen. Deshalb nimmt sie es offenbar auch hin, dass der französische Staatspräsident die Führung bei einem Weg ins Ungewisse übernimmt (Sarkozy: „95% der französischen Vorstellungen konnten durchgesetzt werden“), dessen Lasten vor allem Deutschland zu tragen haben wird. Sarkozy gelingt damit das, was de Gaulle immer vergeblich versucht hat, die deutschen Geldquellen direkt für die Durchsetzung französischer Interessen anzuzapfen. Es fehlt eben ein Staatsmann wie Konrad Adenauer. Vielleicht sollte man einmal die Rentenkonditionen der Mitgliedstaaten der Eurozone vergleichen, um zu sehen, wofür die (u.a.) deutschen Rettungsmilliarden ausgegeben werden. Interessant dürfte es aber auch sein zu wissen, wie viel Geld von den EU-Mitteln direkt von der italienischen Mafia abgegriffen wurde oder wie hoch die Ausgaben für französische Prestigeobjekte wie die Force de Frappe oder den Flugzeugträger Charles de Gaulle (2001 in Dienst gestellt) sind. „Europäischer“ Champion Der missglückte Start der Bundeskanzlerin in ihrer ersten Amtszeit, sich vom französischen Präsidenten zum Einsatz deutscher Soldaten im Kongo40 – zur Wahrung der Großmachtinteressen Frankreichs – überreden zu lassen, scheint sich endlos fortzusetzen. Das gilt auch für die expansive Wirtschaftspolitik der Franzosen. In einem groß angelegten Coup schaffte sie es im Jahre 2004, mit der Fusion zunächst von Rhône-Poulenc mit der deutschen Hoechst AG zu der Firma Aventis und dann dem Zusammenschluss von Aventis mit Sanofi einen Marktführer in Europa (Champion) unter französischer Leitung aufzubauen.41 Zugleich war 40 Zur Sicherung der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 30. Juli 2006 im Kongo stellte Deutschland bis zu 780 Soldaten von der rund 2000 Mann starken Truppe unter EU-Führung. 41 Sanofi-Abventis hatte bei 97.000 Beschäftigten einen Umsatz von 29,3 Mrd. Euro (2009).

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es gelungen, den deutschen Konkurrenten Hoechst nicht nur loszuwerden, sondern seine Forschungs- und Entwicklungskapazitäten für die eigenen Zwecke nutzen zu können. Damit entstand gerade kein europäischer Großkonzern, von dem die Bundeskanzlerin träumt, vielmehr wurde bewusst ein französischer Pharmakonzern geschmiedet, der auch der deutschen Konkurrenz die Stirn bieten kann. Jetzt folgt offenbar der zweite Schritt, das allmähliche Austrocknen durch das „Einfrieren“ von Investitionen in zweitstelliger Millionenhöhe, die ursprünglich für den Standort Frankfurt vorgesehen waren.42 Während sich Sarkozy als „Schirmherr Afrikas“ feiern lässt, wobei selbstverständlich von der EU keine Rede ist, hängt die Bundeskanzlerin einem Wunschtraum von einem harmonischen Europa nach. Zu allem Überfluss fordert Sarkozy die ständige Mitgliedschaft Afrikas im UN-Sicherheitsrat, wohl wissend, dass Deutschland einen solchen Sitz seit Kohls Zeiten – vergeblich – anstrebt.43 Merkels europäische „Partner“ nutzen ihre Schwäche vor allem dazu, die tumben Deutschen – wie gewohnt – über den Tisch zu ziehen. 6. DEMOKRATIEKRISE Aber ist diese Finanzkrise tatsächlich zugleich auch eine Krise der Demokratie? Einiges spricht dafür, Anderes spricht dagegen. Beginnt man mit dem Letzteren, dann zeigt sich, dass – zumindest auf den ersten Blick – die demokratischen Institutionen auch in Notsituationen „funktioniert“ haben und weiter funktionieren. Bundesregierung, Bundesrat und Bundestag arbeiten und „produzieren“ dabei am laufenden Band Gesetze. Befinden wir uns damit aber vielleicht doch – dem äußeren Anschein zum Trotz – in einer Situation, in der zwar alle Institutionen der Demokratie weiterbestehen […], aber gleichzeitig die politische Energie aus ihnen entwichen ist,

wie Colin Crouch meint?44 Für diesen Befund lassen sich in der jüngsten Vergangenheit durchaus Belege finden. Sie betreffen vor allem das Zusammenwirken von Regierung und Parlament. 6.1 Mangelhafte Information Bundestag und Bundesrat haben in beiden Finanzkrisen, 2008 und 2010, im Schnelldurchlauf Gesetze beschlossen, die unabsehbare finanzielle Folgen haben werden. Die Abgeordneten waren nach eigener Aussage nur mangelhaft informiert. Auf nationaler Ebene war im Jahre 2008 wenigstens rechtzeitig geklärt 42 FAZ.NET vom 26.1.2007. 43 Auch Frankreich hat sich – ebenso wie Italien – stets gegen eine ständige Mitgliedschaft Deutschlands im Sicherheitsrat ausgesprochen. 44 Crouch 2008a, S. 134–135 [134].

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worden, dass die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) die Mittel für die „Rettung“ der deutschen Banken verwalten sollte. Damals wurde von Pessimisten (Optimisten?) geäußert, noch einmal würden staatliche Mittel für eine Rettungsaktion dieses Ausmaßes nicht zur Verfügung stehen. Die politischen Aktivitäten im Zusammenhang mit der Finanzkrise 2010 sprechen hingegen eine andere Sprache. Die Regierenden hatten aus der Krise nichts gelernt. Wieder wurden Milliardenbeträge aus Steuermitteln bereitgestellt, deren Rückzahlung höchst unwahrscheinlich ist. Schlimmer noch: Weder stand zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes die tatsächliche Höhe des deutschen Anteils am europäischen „Rettungsschirms“ endgültig fest, noch war die Frage geklärt, wie die Institution aussehen sollte, die das Geld verteilen sollte. Zeit für ausführliche Beratungen, gar für Anhörungen von Experten, blieb den Parlamentariern ohnehin nicht. Sie wurden auf das Maß zurückgestutzt, das ihnen nach Meinung der Parteistrategen zukommt, nämlich bloße Ja-Sager zu sein. 6.2 Exekutivische Gesetzgebung Giorgio Agamben nennt diese Vorgehensweise die „exekutivische Gesetzgebung“: De facto ist die fortschreitende Zersetzung der Legislativkraft des Parlaments, das sich heute oft darauf beschränkt, Anordnungen der Exekutive durch Erlasse mit Gesetzeskraft zu ratifizieren, […] zu einer gängigen Praxis geworden. 45

Ohnehin änderten sich im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zum sog. „Rettungsschirm“ Fakten, Zahlen und Begründungen im Sinne eines beweglichen Ziels (moving target) ständig. Dennoch hat der Bundestag – wie auch der Bundesrat – dem Ausstellen dieses ungedeckten Wechsels mehrheitlich zugestimmt, Bundespräsident Horst Köhler hat diese Gesetze noch vor seinem Rücktritt offenbar ohne die sonst übliche gründliche Prüfung am 22. Mai 2010 – er war am Abend zuvor von seiner Afghanistanreise zurückgekehrt – ausgefertigt. Der Druck auf alle Beteiligten muss ungeheuer stark gewesen sein. Immerhin wurde damit der Bundeskanzlerin erspart, den Gesetzentwurf mit der Vertrauensfrage zu verbinden und ggf. den Gesetzgebungsnotstand auszurufen. Der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler hat dazu eine parlamentarische Anfrage an die Bundesregierung gestellt. Mit Datum vom 8. Juni 2010 fragt Gauweiler an, ob „die Bundesregierung den Bundespräsidenten bedrängt oder gedrängt“ hat, das Gesetz „unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Afghanistan“ zu unterzeichnen und ob es zwischen Köhlers Landung und seiner Unterschrift „Kontakte zwischen Mitgliedern der Bundesregierung und dem Bundespräsiden-

45 Agamben 2004, S. 14 unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Carl Schmitts Politische Theologie.

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ten“ gab.46 Der Gedanke liegt nicht allzu fern, dass Köhler wegen solcher Pressionen von seinem Amt zurückgetreten ist. 6.3 Alternativlose Politik Aber das Erstaunlichste ist, dass das Volk in dieser Krise still gehalten hat und immer noch stillhält, obwohl ein deutliches Grummeln zu vernehmen ist. Die deutschen Bürgerinnen und Bürger gehen jedoch erst dann auf die Straße, wenn es um direkte finanzielle Einbußen als Folge von „Sparmaßnahmen“ der Regierung geht. Die „lammfrommen“ Deutschen halten es – im Gegensatz zu ihren Nachbarn – nur dann für erlaubt zu protestieren, wenn sich der Protest unter der „Schirmherrschaft“ der Gewerkschaften gegen zu niedrige Löhne, Stellenstreichungen oder Ähnliches richtet. Politischen Demonstrationen gegen den Transport von Atommüll (Castor) oder gar gegen die Treffen der mächtigsten Staatsund Regierungschefs begegnen die Deutschen im Allgemeinen mit Passivität oder sogar mit Misstrauen. Deutsche Gewerkschaften und griechische Arbeitnehmer Die Gewerkschaften rufen aber nicht etwa zum Generalstreik auf, weil ihren Mitgliedern Wohlstand in beträchtlichem Umfang entzogen wird. Im Gegenteil: Sie erklären sich mit den griechischen Arbeitnehmern solidarisch und lehnen das Sparprogramm, das den Griechen auferlegt wird, als ungerecht und unerfüllbar ab. Das mag durchaus zutreffen, allerdings ist kaum zu erwarten, dass Ministerpräsident Giorgos Papandreou diese Rosskur innenpolitisch überhaupt durchsetzen kann. Und die Frage, ob Griechenland die Kredite jemals wird zurückzahlen können, scheint längst mit einem klaren Nein beantwortet zu sein. Hinter der friedlichen Fassade der einvernehmlichen Beschlüsse in Berlin und Brüssel sieht es nämlich ganz anders aus. Die Griechen demonstrieren, die griechischen Gewerkschaften streiken. Gewalttätige Auseinandersetzungen auf den Straßen Athens lassen das Schlimmste befürchten. Da die Kreditausfälle der Banken durch Staatsbürgschaften abgesichert sind, werden die zu erwartenden Verluste selbstverständlich „sozialisiert“, das heißt vor allem die deutschen Steuerzahler haben dann die Zeche zu zahlen. Dagegen richten sich der gewerkschaftliche Protest allerdings offensichtlich nicht. Parlament als „Beschlussmaschine“ In Deutschland wird zum zweiten Mal ein Gesetz mit derart weitreichenden Konsequenzen – die damit verbundene Schuldenlast wird Deutschland noch Jahrzehnte belasten und seine Wirtschaftskraft wahrscheinlich dauerhaft schädigen – in ei46 blog.abgeordnetenwatch.de/tag/peter-gauweiler/, Zugriff am 2.7.2010.

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nem Schnellverfahren durch die Gremien „gepeitscht“. Kein Parlamentarier soll zur Besinnung kommen, bevor der ganze „Spuk“ vorbei ist. Für die Berücksichtigung von – auch ökonomischem – Sachverstand ist keine Zeit. Eine eiserne Fraktionsdisziplin, die mit „Exkommunizierung“ – d.h. mit der Nichtwiederaufstellung auf den vorderen Plätzen der Landesliste – droht, tritt an die Stelle eigener Entscheidungsfindung. Jede dieser durch das Parlament geschleusten Maßnahmen wird als „alternativlos“ bezeichnet, Widerstand ist zwecklos. Das Parlament scheint zu einer „Beschlussmaschine“ verkommen zu sein. Wenn die Alternativen fehlen, kann es auch keine politische Entscheidung geben. Dann ist Ja-Sagen oder Abnicken die einzig mögliche Handlungsform. Allerdings ist das kaum im Sinne einer Vorstellung von repräsentativer Demokratie, in der die Parlamentarier als Repräsentanten der Bürger und Bürgerinnen stellvertretend für diese handeln. 6.4 Zwischen Resignation und Wut Was sagen die Bürgerinnen und Bürger selbst dazu? Einerseits resignieren sie: „Was können wir hier unten schon gegen die da oben ausrichten?“, andererseits ballen sie in ohnmächtiger Wut die Faust in der Tasche. Wenn sie nicht „auf die Straße gehen“ wollen, können sie ihren Unmut allerdings kaum anders artikulieren als mit dem Stimmzettel. Die Parteien werden sich hüten, dem Volk direkte Mitwirkungsrechte einzuräumen. Sie haben sich in eine Position gebracht, in der jeder Wunsch nach einer grundlegenden Revision der Verfassung – z.B. in Richtung auf eine Stärkung plebiszitärer Elemente – fast schon als Hochverrat, jedenfalls aber als abwegig und mit dem Grundgesetz unvereinbar dargestellt wird.47 Verfassungsouveränität? Die etablierte Staatsrechtslehre hat dabei kräftig mitgeholfen, indem sie – in Anlehnung an Hans Kelsen – die Doktrin von der Verfassungssouveränität erfunden hat. Demnach wäre gar nicht das Volk – jedenfalls nicht das hier und heute vorhandene – der Souverän, der letztlich entscheidet. Vielmehr käme das Letztentscheidungsrecht dem Grundgesetz zu, das in einem bestimmten historischen Moment vom Parlamentarischen Rat verabschiedet, von den Alliierten – nach keineswegs unwesentlichen Änderungen – genehmigt und den Landtagen zur Entscheidung vorgelegt worden war. Niemand fühlte sich offenbar bemüßigt, etwa unmittelbar nach vollzogener Wiedervereinigung, diesen Makel, dass das Volk niemals über seine Verfassung abgestimmt hat, zu heilen. Ganz im Gegenteil: Es hätte nicht viel gefehlt, dann wäre auch Artikel 146 des Grundgesetzes von der selbst ernannten „Verfassungsgebenden Versammlung“ – Bundestag und Bundesrat hatten im Jahre 1991 eine Gemeinsame Verfassungskommission mit 64 Mitgliedern eingesetzt – ersatzlos gestrichen worden. 47 Peter Gauweiler ist einer der wenigen Abgeordneten, die eine Direktwahl des Bundespräsidenten fordern.

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Zeit gewinnen In dieser Situation Wahlen abzuhalten, ist hoch riskant, wie das Beispiel der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen vom 9. Mai 2010 gezeigt hat. Beide großen Parteien wurden „abgestraft“. Nur der unerschütterliche Glaube der Menschen an die politische Vernunft einer CDU-geführten Bundesregierung hat ein noch schlechteres Abschneiden der Partei der Kanzlerin verhindert. Immerhin hatte sie buchstäblich Alles versucht, um das Bekanntwerden der unangenehmen „Wahrheiten“ – vor allem die Umwandlung der Europäischen Union zu einer europäischen Transferunion betreffend – auf die Zeit nach der Wahl zu verschieben. Sie wollte sich im wahrsten Sinne des Wortes Zeit „kaufen“. Damit hatte sie jedoch nur teilweise Erfolg, denn die auf sie einwirkenden Kräfte wurden ungeduldig und ließen ihr nicht einmal eine Schamfrist. Dennoch sickerte – trotz der Bemühungen der BILD-Zeitung, die sich in dieser Zeit zur einzigen Opposition im Lande mauserte, – vergleichsweise wenig durch. Lediglich die FDP bekam bei der Landtagswahl die deutliche „Quittung“ für ihre unseriösen Versprechen (Stichwort: Steuersenkung). 6.5 Mangelnder Respekt vor dem Souverän Hätten die Menschen bereits am Wahltag gewusst, dass das gerade erst vom Parlament verabschiedete gigantische „Rettungspaket“ nur der „bescheidene“ erste Schritt auf dem Wege zu einem ganz großen finanziellen Aderlass Deutschlands und zu der dauerhaften Umgestaltung der Europäischen Union in eine Transferunion war, dann hätten sich vermutlich die Wähler in Nordrhein-Westfalen noch deutlicher gegen die amtierende Regierung in Berlin entschieden. Es verwundert daher auch nicht, dass von den etablierten Parteien sogleich der Vorschlag auf die politische Agenda gesetzt wurde, die Legislaturperiode des Bundestags von vier auf fünf Jahre zu verlängern.48 Dann könne man ungestört von den lästigen Wahlen (und vor allem von den Wählern) regieren. Der Anteil der „Zeitfenster für Sachpolitik“ würde sich erhöhen, weil man nicht ständig auf die empfindlichen Wähler Rücksicht nehmen müsse, denen schwierige Probleme und unangenehme Lösungen nur in homöopathischen Dosen zugemutet werden könnten. Es ist schon richtig, dass der gegenwärtige Zustand, in dem die Bundeskanzlerin einen großen Teil ihrer Arbeitskraft auf den Wahlkampf bei Landtags-, Bundestags- und Europaparlamentswahlen verwenden muss, reformbedürftig ist. Angesichts der minimalen Mitwirkungsmöglichkeiten des Volkes an den politischen Entscheidungen erscheint jedoch eine solche Zumutung, die Wahlmöglichkeiten durch Verlängerung der Legislaturperiode einzuschränken, wie ein Schlag ins Gesicht des Wählers. Sie zeigt vor allem den Mangel der Spitzenpolitiker an Gespür für die Stimmung im Volk, ganz zu schweigen von dem Respekt vor dem Souverän. Dieser wird – wie im Falle Nordrhein-Westfalens – nach der Wahl zwar nur 48 Die Legislaturperiode dauert in NRW und in den meisten anderen Bundesländern fünf Jahre.

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vorsichtig kritisiert, hinter vorgehaltener Hand heißt es jedoch: „Was für einen Unsinn haben sich die Leute denn da wieder zusammengewählt?“ Noch größer wird der Unmut der Parteien, wenn sich das Volk in einem Volksentscheid gegen die Regierungspolitik ausspricht, wie das in Hamburg am 18. Juli 2010 geschehen ist. Die Hamburger entschieden sich mehrheitlich gegen die Verlängerung der Grundschulzeit von vier auf sechs Jahre. Bürgermeister Ole von Beust trat – wenn auch möglicherweise aus anderen Gründen – zurück. 7. EUROPAKRISE Die Griechenland-Krise des Jahres 2010 hat viele Facetten, sie ist aber vor allem eine Bewährungsprobe für den europäischen sowie den internationalen Kosmopolitismus.49 Die Befürworter eines kosmopolitischen Europa fordern ein gegenseitiges Einstehen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, speziell der Eurozone, für einander. Das schließt den Transfer erheblicher Geldmittel ein, auch wenn der Lissabon-Vertrag dies ausdrücklich ausschließt. Einem Mitgliedsstaat wie Griechenland, der seit längerer Zeit kurz vor dem Staatsbankrott steht, müsse in der Not geholfen werden, so die Argumentation. Diese Not ist freilich selbst verschuldet, das Land hat seine Aufnahme in die Eurozone durch bewusstes Fälschen der statistischen Daten erschlichen, die Griechen haben jahrelang weit über ihre Verhältnisse gelebt. Da seine Bonität drastisch heruntergestuft worden ist, kann sich Griechenland – wenn überhaupt – nur noch zu einem sehr hohen Zinssatz frisches Geld am Markt beschaffen, um seine drängendsten Schulden zu bedienen. 7.1 Solidarität mit den Griechen? Was läge da näher, als auf die Mitgliedsstaaten der Eurozone zurückzugreifen, die besser (wenn auch nicht gut) gewirtschaftet haben. Sie stellen Griechenland Kredite zur Verfügung, die sie selbst zu einem Zinssatz aufnehmen, der ihrer eigenen Bonität entspricht. Diese Kredite geben sie dann mit einem kleinen Aufschlag für ihre eigenen Banken an die Griechen weiter. Die dafür erforderlichen Kreditbürgschaften der Staaten werden als lediglich formal bezeichnet, so dass es auch nicht auffällt, dass im Falle der fehlenden Rückzahlung die Finanzierung völlig ungesichert ist. Es wird nach der altbewährten Politikerregel verfahren. Bis zum Zeitpunkt der Entscheidung bzw. des Eintretens negativer Folgen heißt es: „Die Frage stellt sich (jetzt) nicht!“ Ist die Entscheidung gefallen bzw. sind die negativen Folgen eingetreten, gilt die Sprachregelung: „Das konnte ja niemand vorher wissen“ und schließlich: „Jetzt ist es ohnehin zu spät!“ Wie die Erfahrung lehrt, wird Deutschland als Bürge jedoch aller Voraussicht nach auf diesen Schulden „sitzen

49 Vgl. Beck/Grande 2004.

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bleiben“. Und dass konnte man bei nüchterner Betrachtung durchaus bereits zu einem Zeitpunkt wissen, zu dem es noch nicht zu spät für eine Alternative war. Anstrengungen der Deutschen Seit der Wiedervereinigung des Jahres 1990 hat Deutschland – in einzigartiger nationaler Solidarität (Stichwort: Solidaritätsbeitrag) – eine riesige finanzielle Anstrengung unternommen,50 um den Menschen in der ehemaligen DDR den Anschluss an das westliche Entwicklungs- und Wohlstandsniveau zu ermöglichen. Es wurden Autobahnen und Eisenbahntrassen gebaut, Häuser und Leitungsnetze mit der Folge saniert, dass dort schließlich nicht selten eine bessere Infrastruktur vorhanden war als in Westdeutschland. Das ließ sich offenbar nur mit der Aufnahme weiterer Kredite – und sei es in sog. Schattenhaushalten51 – realisieren. Dazu gehörte auch der Erblastentilgungsfonds für die DDR-Altschulden als Sondervermögen des Bundes, der am 1. Januar 1995 mit einem Anfangsschuldenstand von 326 Mrd. DM (umgerechnet 171,79 Mrd. Euro) errichtet wurde und auch heute nur formal getilgt, in Wahrheit aber lediglich umgeschuldet worden ist. Diese nationale Solidarität hatte freilich bereits in der alten Bundesrepublik Tradition. Mit dem Instrumentarium des (horizontalen und vertikalen) Länderfinanzausgleichs war über vier Jahrzehnte das Wohlstandgefälle zwischen den Bundesländern mit Hilfe großer Summen – mit mehr oder weniger Erfolg – auszugleichen versucht worden. Mit Hilfe eines staatlich durchgesetzten Sparprogramms von beachtlichen Ausmaßen (Stichwort: Agenda 2010) wurde in der Ära Schröder sodann die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft nachhaltig gestärkt. Die deutsche Exportkraft schien auf lange Zeit gesichert zu sein. Insbesondere die Arbeitnehmer, aber auch die Arbeitslosen mussten dafür in Deutschland schmerzhafte Einschnitte hinnehmen. Eine der unpopulärsten Maßnahmen war und ist dabei die „Rente mit 67“. Die SPD verlor in der Folge einen großen Teil nicht nur ihrer Wähler, sondern auch ihrer Mitglieder. Vergleich der Sozialsysteme Jetzt wird von den selbst ernannten Moralaposteln in Deutschland Solidarität der deutschen Arbeitnehmer mit den Griechen eingefordert. Das Renteneintrittsalter ist aber in Griechenland deutlich geringer als in Deutschland, dafür liegt das Ren-

50 Die Kostenschätzungen schwanken zwischen 171,8 Mrd. Euro (Bundeskanzlerin Angela Merkel am 28.01.2009) und 1,5 Billionen Euro (Klaus Schroeder, Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin, am 19.09.2004), vgl. www.fazz.net/s/Rub594835B672714A1DB1A121534F010EE1/Doc, Zugriff am 19.05.2010. 51 Vgl. Gesetz über die Errichtung eines Erblastentilgungsfonds i.d.F. vom 16.8.1999 (BGBl. I S. 1882).

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tenniveau deutlich höher.52 Den Nullrunden für deutsche Rentner stehen 3 bis 4%ige Rentenerhöhungen in Griechenland gegenüber. Das 14. Monatsgehalt für griechische Beamte, in Deutschland nur als sog. Urlaubsgeld in nostalgischer Erinnerung, steht zumindest jetzt auch für den (völlig überbesetzten) Öffentlichen Dienst in Griechenland zur Disposition. Bis zu 24% der griechischen Bevölkerung sind im Öffentlichen Dienst, viele von ihnen als sog. Argomisthoi, als Gehaltsempfänger ohne wirklichen Arbeitsbereich. Hinzu kommen noch die Beschäftigten in 700 weitgehend überflüssigen Staatsbetrieben, Ausschüssen etc. Auf diese Weise haben griechische Regierungen unterschiedlicher Couleur über Jahrzehnte hinweg einerseits das Beschäftigungsproblem zu lösen, andererseits durch Verteilung der Posten nach Parteizugehörigkeit ihre Machtbasis zu stärken versucht. Zur gleichen Zeit versucht Präsident Nicolas Sarkozy – gegen den erbitterten Widerstand der Franzosen – die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters von 60 auf 62 Jahre in Frankreich durchzusetzen. Ein Vergleich der Sozialsysteme in der EU würde sich also durchaus lohnen. 7.2 Transfergemeinschaft Deutschland soll und wird also Bürgschaften im Umfang von dreistelligen Milliardenbeträgen für Kredite an Griechenland und andere finanzschwache Länder übernehmen, um den Euro zu retten. Damit folgt es dem Rat guter „Freunde“: Jean-Claude Juncker, Chef der Eurozone, Jean-Claude Trichet, Chef der Europäischen Zentralbank, Dominique Strauss-Kahn, Chef des Internationalen Währungsfonds und potenzieller Präsidentschaftskandidat der französischen Sozialisten. Auch Timothy Geithner, Finanzminister der USA, setzt sich – im Interesse der Dollar-Stabilität – energisch für den finanziellen Einsatz Deutschlands ein. Der Griff in die Taschen der Steuerzahler wird der Bundesregierung allerdings auch sehr leicht gemacht. Den vier Wissenschaftlern und einem Politiker (Peter Gauweiler), die Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht erhoben haben,53 wird geradezu höhnisch entgegengehalten, natürlich habe der Bürger keinerlei Rechte an dem von ihm durch Steuern aufgebrachten Staatshaushalt. Das Parlament entscheide darüber als Repräsentant des Volkes – und sei es auch im Schnellverfahren. Vielleicht sollte die nächste Bundesregierung darauf hinarbeiten, dass sämtliche deutschen Steuereinnahmen direkt in den Haushalt der Europäischen Union fließen. Die Deutschen würden dann sicher ihren „gerechten“ Anteil an den EUEinnahmen erhalten. Die Regierenden wären den Ärger mit den Bürgern und ihren „Repräsentanten“, den Parlamentariern, endlich los. Wahrscheinlich würden die Regierungsfraktionen auch dieses Vorhaben – vor dem Hintergrund des „pas-

52 Bei Rentenbeginn vor dem 1.1.1991 liegt das Rentenniveau in Griechenland bei 80%, danach 70%, in Deutschland hingegen bei durchschnittlich 46%. 53 Weitere Kläger sind hinzugekommen.

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senden“ Katastrophenszenarios – mehrheitlich „abnicken“, wenn es ihnen die Fraktionsführung nahelegen würde. 7.3 Europa vor dem Scheitern Dass die Europäische Union nach dem Willen ihrer Staats- und Regierungschefs niemals ein Global Player mit eigenem Gewicht werden sollte, zeigte nichts deutlicher als die Bestellung des belgischen Politikers Herman van Rompuy zum Präsidenten des Europäischen Rates und Lady Catherine Ashton zur EUAußenbeauftragten. Der Lissabon-Vertrag hatte das neue Amt eines Präsidenten des Europäischen Rates geschaffen, der nun mit dem halbjährlich wechselnden Präsidenten des Rates der EU und dem Kommissionspräsidenten konkurriert. Seine Aufgabe wird eher im Moderieren und nicht so sehr im Führen der Europäischen Union liegen. Von der „einen Telefonnummer“, die Henry Kissinger einst als US-Außenminister gefordert hatte, ist die EU weit entfernt. Die beiden Neuen wurden von den Medien sogleich als „Mr. and Mrs. Nobody“ apostrophiert. Beide verfügen weder über außenpolitische Erfahrung, noch gar über Charisma. Einen Tony Blair als Präsidenten und einen Javier Solana als Außenminister hätten weder Nicolas Sarkozy noch Angela Merkel ertragen. Sie hätten der Europäischen Union allerdings auch ein internationales Forum eröffnet, das die nationalen Staats- und Regierungschefs in ihrer Bedeutung nachhaltig zurückgestuft hätte. 8. GLOBALE KRISE Die Krise ist nicht auf Europa oder gar auf einzelne Staaten beschränkt. Sie hat vielmehr fast die gesamte Welt – vielleicht mit Ausnahme Chinas – erfasst. Überall kämpfen Menschen um ihr Überleben und Staaten versuchen, die Voraussetzungen hierfür zu schaffen oder zu erhalten. 8.1 Globale Finanzkrise Die Finanzkrise beschränkt sich nicht nur auf das Finanzdesaster in Griechenland, ja nicht einmal auf Europa. Zum einen sind es die südeuropäischen Defizitländer. Wie Griechenland (12,7% des BIP) sind auch Irland (12,5%), Spanien (11,2%) und Portugal (8,0%) hoffnungslos überschuldet, schlimmer ist aber noch, dass Frankreich (8,3%) ähnlich hoch verschuldet ist, das immerhin 21,2% (Deutschland: 27,1%) zum Bruttoinlandprodukt der Euro-Zone beiträgt.54 Und dies alles vor dem Hintergrund der vertraglich festgeschriebenen europäischen Defizitgrenze von 3%. Die Staatsverschuldung nimmt weltweit immer schlimmere Ausmaße an.

54 Die größten Haushaltsdefizite in der Euro-Zone 2009, Quelle: EU-Kommission.

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Im internationalen Vergleich halten die USA die Spitzenposition (13.640 Mrd. US-$), gefolgt von Großbritannien (9.179 Mrd. US-$). An dritter Stelle steht Deutschland (5.250 Mrd. US-$), die vierte Position nimmt Frankreich (5.002 Mrd. US-$) ein. Das Haushaltsdefizit der USA wird im Jahre 2010 auf 1.750 Mrd. US$ bei einem Gesamthaushalt von rund 3.500 Mrd. US-$ geschätzt. Etwa 40% des gesamten Haushalts werden also durch Kreditaufnahme finanziert. China ist der größte Gläubiger der USA, es verfügt über Währungsreserven in Höhe von ca. 2,4 Billionen US-Dollar, kauft täglich eine Mrd. US-$ an und hält zugleich den Wert seiner eigenen Währung (zu) niedrig (geschätzt: 40%), um seine Exportchancen zu verbessern. Im Gegensatz zu Japan (227%), Italien (119%) und den USA (93%) beträgt das chinesische Haushaltsdefizit lediglich 21% des Bruttoinlandsprodukts.55 8.2 Amerika: Die angefochtene Supermacht Die USA sind nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums nicht (oder nur für kurze Zeit) zu der einzigen unangefochtenen Supermacht geworden, die an der Spitze der westlichen Demokratien eine schöne neue Welt errichtet, wie Francis Fukuyama gemeint hatte.56 Vielmehr hat die Bush-Ära mit ihrem unverhüllt aggressiven Imperialismus das „hässliche Gesicht“ Amerikas gezeigt. Plötzlich standen nicht mehr Freiheit und Menschenrechte als Synonyme für die Vereinigten Staaten, sondern Internierung (Guantánamo) und Folterungen (Waterboarding). Auch dem „Messias“ Obama gelingt es nicht, Amerikas guten Ruf wiederherzustellen. Zu allem „Unglück“ hat sich das Mächtegleichgewicht derartig verschoben, dass jede einseitige Unterordnung unter amerikanische Interessen heute weniger als Überlebens- als vielmehr als Selbstmordstrategie eines Staates erscheint. Neue Mächte sind auf der Bildfläche erschienen, die Amerika mehr oder weniger ebenbürtig entgegentreten. China ist dank einer ausgefeilten Strategie der kommunistischen Führung auf dem besten Wege zur Supermacht, wobei es geschickt Ökonomie und Politik im Sinne eines erfolgreichen Staatskapitalismus zu verbinden versteht. Wenn die USA mit den südkoreanischen Streitkräften ein Manöver durchführen, dann nehmen sie – im Gegensatz zu früher – jetzt auf China Rücksicht, indem sie mit ihrer Flotte nicht zu nahe an chinesisches Interessengebiet herankommen. Gleichzeitig wächst Indien als neue ernst zu nehmende Großmacht heran, und Russland ist keinesfalls aus dem Spiel, sondern bereitet – gestützt auf seinen Gasreichtum – gezielt seine Rückkehr als Global Player auf der Weltbühne vor.

55 Alle Zahlen für das Jahr 2010, mit 77% des Bruttoinlandsprodukts steht Deutschland an sechster Stelle nach Frankreich (84%) und Großbritannien (78%), FAZ 19.06.2010. 56 Fukuyama 1992.

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8.3 Gescheiterte und scheiternde Staaten Auf der anderen Seite zeigen gescheiterte Staaten, wie wenig damit zu rechnen ist, dass in solchen Fällen andere Institutionen erfolgreich einspringen und den Menschen zu einem menschenwürdigen Leben verhelfen können. Ganz im Gegenteil: Menschenrechte sind besonders dort schwer durchzusetzen, wo es an einer staatlichen Autorität fehlt, an die man sich wenden könnte. Warlords sind erfahrungsgemäß für solche Fragen nicht ansprechbar, sie haben andere Interessen. Neben den bereits gescheiterten Staaten wie etwa Somalia, wo die UNO erfolglos intervenierte, gibt es aber auch andere Staaten, die sich auf dem Weg ins totale Chaos befinden. Die Ursachen liegen oft in internen Problemen wie ethnischen Reibereien oder machtbedingten Rivalitäten zwischen konkurrierenden Stämmen oder „Führern“, sie resultieren aber oft genug auch aus Interventionen von ausländischen Mächten, die ihre eigenen geostrategischen bzw. geoökonomischen Interessen durchzusetzen versuchen. Seltene Metalle, Gold und Edelsteine oder Erdgas und Erdöl erweisen sich dann weniger als Segen als vielmehr als Fluch für das Land, in dem sie entdeckt werden. Besonders afrikanische Länder werden so zum Spielball der interessierten Mächte. 8.4 Kampf um Rohstoffe Während früher vor allem Großbritannien und Frankreich als Konkurrenten in Afrika auftraten, kämpft Sarkozy heute gegen andere Mächte um einen letzten Rest der alten französischen gloire, wenn er in Nizza eine Afrikakonferenz (25. Frankreich-Afrika-Gipfeltreffen) einberuft und für Afrika einen ständigen Sitz im UNSicherheitsrat fordert.57 Bewusst dehnt er seinen Führungsanspruch über die frankophoben Länder auf alle afrikanischen Staaten aus.58 In den Zeiten des kalten Krieges konkurrierten vor allem der von den USA geführte Westen und der Ostblock unter Führung der Sowjetunion um afrikanische Einflusszonen. Dabei spielte Kuba mit eigenen Soldaten unter dem Stichwort „revolutionäre Solidarität“ eine nicht geringe Rolle in einigen afrikanischen Staaten, wie zunächst in Algerien, später in Zaire und Angola, wo 30.000 kubanische Soldaten an dem Krieg teilnahmen. Heute ist es vor allem China, das mit seiner moralfreien Machtpolitik in Afrika immer mehr an Boden gewinnt und innerhalb des letzten Jahrzehnts bereits Milliarden investiert hat, um den Zugriff auf die afrikanischen Rohstoffe sicherzustellen. Aber auch Indien tritt in Afrika als eigenständiger Akteur, damit aber auch als Konkurrent französischer Interessen auf. 57 250 französische und afrikanische Wirtschaftsführer trafen sich unter dem Vorsitz Sarkozys am 1. und 2. Juni 2010 mit den Staats- und Regierungschefs von 51 afrikanischen Staaten an der Riviera. 58 Präsident Sarkozy hat am 24.5.2009 in Abu Dhabi einen Militärstützpunkt eingeweiht, die erste militärische Neugründung seit dem Ende der Kolonialzeit, um „vollumfänglich zur Stabilität dieser Region beizutragen, welche für das Gleichgewicht der Welt wesentlich ist“, http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/481775/index.do, Zugriff am 4.8.2010.

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Aber auch Deutschland ist von Rohstoffen abhängig, um seinen Wohlstand zu sichern. Vor allem Erdöl und Erdgas sind überlebenswichtig für die deutsche Industrieproduktion. Dazu kommt die Sicherheit der Versorgungsrouten für die Energieversorgung und Rohstoffzufuhr einerseits sowie für den Export deutscher Waren andererseits. Dass zu der Sicherung dieser Transportwege notfalls auch die Bundeswehr eingesetzt werden muss, ist spätestens seit dem Anti-Piraten-Einsatz der Bundesmarine („Operation Atalanta“) am Horn von Afrika klar. Horst Köhler, der sich vor allem in und für Afrika engagiert hatte, hat dies als Bundespräsident kurz vor seinem Rücktritt klar zum Ausdruck gebracht und ist dafür ungewöhnlich heftig attackiert worden. 8.5 Umstrittene Sicherheitspolitik Die heftige Reaktion in der deutschen Öffentlichkeit, die sich auch bereits gegen das Weißbuch der Bundesregierung von 2006 gerichtet hatte, ist umso erstaunlicher, als es sich dabei um Ziele handelt, die bereits in der Europäischen Sicherheitsstrategie definiert waren, die von dem Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) Javier Solana ausgearbeitet worden war. Unter dem Titel Ein sicheres Europa in einer besseren Welt wurde diese Strategie am 12. Dezember 2003 vom Europäischen Rat in Brüssel verabschiedet. Im Grunde war also allen Beteiligten schon lange klar, dass das Märchen von den Bundeswehrsoldaten als „bewaffneten Entwicklungshelfern“ keine reale Grundlage hatte. Dennoch wurde den Bürgern nach wie vor das Bild von dem humanitären Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan vorgegaukelt. Auch als die damalige Landesbischöfin Margot Käßmann Weihnachten 2009 den Abzug der deutschen Soldaten aus Afghanistaneinsatz forderte, denn: „Dieser Krieg ist so nicht zu rechtfertigen“,59 kam die längst überfällige Debatte nicht in Gang. Es liegt auf der Hand, dass die Bundeskanzlerin zunächst die Entscheidungen des amerikanischen Präsidenten abwartet. Eine offene Diskussion, deren Ergebnis sich womöglich nicht vorherbestimmen ließe, muss unter allen Umständen verhindert werden. 9. STATIONEN EINER KRISE In fünf Teilen will ich die Stationen der Krise unseres Gemeinwesens aus meiner Sicht darstellen und analysieren. Diese Sicht ist, wie der Leser/die Leserin schnell erkennen wird, nicht kosmopolitisch. Ich bin auch kein bedingungsloser Anhänger der europäischen Integration. Wie schon früher dargelegt, geht es mir um ein Europa der Vaterländer, in dem die deutsche Nation den Platz einnimmt, der ihr gebührt.60 Da es keinen europäischen Demos gibt, ist es das Volk in jedem einzelnen Staat, das als Souverän die Geschicke zu bestimmen hat. Das bedeutet zugleich 59 www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,668946,00.htmol, Zugriff am 4.7.2010. 60 Voigt 2003.

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aber auch, dass die wuchernde europäische Bürokratie auf ein erträgliches Maß zurückgeschraubt werden muss. Parkinson hatte schon in den 1950er Jahren Lehrsätze für die Bürokratie formuliert,61 die auch für die heutige EU-Verwaltung, darüber hinaus aber auch für die übrigen Institutionen gelten. Danach wächst die Bürokratie unabhängig von Umfang und Komplexität der Aufgaben, und neue Stellen ziehen nicht nur neue Stelleninhaber nach sich, sondern diese sorgen auch dafür, dass mehr Untergebene eingestellt werden. Das wird sich in nächster Zeit an dem neu einzurichtenden diplomatischen Dienst der EU zeigen. Nimmt man hinzu, dass in zahlreichen Erweiterungsrunden immer mehr Mitgliedsstaaten in die EG/EU aufgenommen wurden, die damit einen eigenen Anspruch auf Posten erhielten, dann kann man sich die Dynamik dieser Entwicklung vorstellen. Allein die Zahl von 27 Mitgliedstaaten (sowie als weitere Kandidatenländer: Kroatien, Mazedonien, Türkei) lässt bereits ahnen, in welchen Dimensionen sich die Bürokratievermehrung abspielt. 9.1 Chance zur Erneuerung? Die Analyse der Finanzkrisen vor allem der Jahre 2008 und 2010 bestätigt den Befund, dass wir auf den Staat nicht verzichten können,62 auch wenn uns seine Erscheinungsformen manchmal unheimlich geworden sind. So soll der Schutzstaat seine Bürger zwar vor bekannten und unbekannten Gefahren und Risiken schützen, er darf dabei jedoch die Freiheit der Menschen nicht zu stark einschränken. Eingriffe in private PCs und Online-Überwachung sind nur unter erschwerten Bedingungen hinnehmbar. Es muss schon ein konkreter Verdacht nachgewiesen werden können, dass der Überwachte eine Straftat begangen hat oder eine solche gerade vorbereitet. Dabei ist allerdings peinlich genau darauf zu achten, dass die Beweislast nicht umgekehrt wird: Staatsanwaltschaft bzw. Polizei haben dem Verdächtigten nachzuweisen, dass er sich strafbar gemacht hat, aber nicht der Verdächtigte muss glaubhaft machen, dass er die in Rede stehende Straftat nachweislich nicht begangen hat. Angesichts des weltweiten Kampfes gegen den (islamistischen) Terrorismus, der die Verantwortlichen zu immer neuen Abwehrmaßnahmen stimuliert, ist der Schutzstaat in Gefahr, zum Überwachungsstaat zu mutieren. Das bleibt natürlich auch für den Rechtsstaat nicht ohne Folgen. 9.2 Teilbereiche, Krisen und Reformen Auch die übrigen Teilbereiche: Rechtsstaat, Sozialstaat, Kulturstaat und demokratischer Staat, weisen Anzeichen einer Krise auf. Diese Krisen können aber andererseits auch etwas Positives bewirken. Sie können nämlich einen Umdenkungsprozess einleiten. Das ist auch dringend erforderlich, denn in Deutschland sind 61 Parkinson hatte das nach ihm benannte „Gesetz“ bereits 1930 am Beispiel der britischen Royal Navy erläutert. vgl Parkinson 2005. 62 Voigt 2009a.

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viele Bereiche dringend reformbedürftig: Demokratie, Parlamentarismus, Föderalismus, Parteiensystem, Rentensystem, Gesundheitssystem, Bildungssystem, um nur einige Beispiele anzuführen. Die Demokratie bedarf der Ergänzung und Belebung durch direkt demokratische Elemente, wie die Volkswahl des Bundespräsidenten und Volksentscheide bei Schicksalsfragen der Nation. Der Bundestag muss sich aus seiner Lethargie lösen, er darf eine „exekutivische Gesetzgebung“ (Giorgio Agamben), wie sie in letzter Zeit in Mode gekommen zu sein scheint, im eigenen Interesse nicht dulden. Der Föderalismus ist nicht mehr zeitgemäß, weil er zum einen in der Europäischen Union immer noch kleinteilige Entscheidungen trifft, die für die gesamte Nation so nicht akzeptabel sind.63 Zum anderen hat der Bundesrat durch die stattgefundene Parteipolitisierung seine eigentliche Aufgabe verloren, als Beratungsgremium zur Herstellung vollzugsfreundlicher Gesetze zu dienen. Die Parteien haben sich die Privilegien des Artikels 21 des Grundgesetzes zunutze gemacht, um sich – gegen die Intention der Verfassung – Staat und Gesellschaft einzuverleiben. Sie müssen auf ihre Funktion, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, wieder zurückgestutzt werden, auch wenn sie ihre Macht buchstäblich mit Zähnen und Klauen verteidigen werden. Rentensystem und Gesundheitssystem müssen – ohne Rücksicht auf die finanziellen Interessen der Beteiligten – nachhaltig saniert und das Bildungssystem, insbesondere an den Universitäten, wieder von der bloßen Verwertbarkeit (Ausbildung) auf eine grundlegende Bildung zurückgeführt werden. 9.3 Suche nach neuen Wegen Nach einer Analyse der Krise des Staates (1. Teil) sollen im Folgenden in weiteren Teilen das Verhältnis von Staat und Gesellschaft (2. Teil) am Beispiel von Religion und Verfassung behandelt sowie die konträren Bilder des Staates interpretiert werden. Gerade in einer Gesellschaft mit einem großen Anteil von Menschen mit einem anderen Glauben, wie z.B. Muslime, ist es von großer Bedeutung für den inneren Frieden, die Bereiche von Staat und Religion klar zu trennen. Während die gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen Staat und christlichen Religionen an manchen Stellen zu eng sind (Stichwort: Kirchensteuer), muss der Islam an den Staat erst herangeführt werden. Da eine Aufklärung in islamischen Ländern bisher nicht stattgefunden hat, muss nach neuen Wegen gesucht werden, um die Autorität des Staates auch gegenüber den muslimischen Mitbürgern sicherzustellen. Sodann geht es im 4. Teil um souveräne Staaten, das heißt um die Frage, wie souverän eigentlich eine Mittelmacht wie Deutschland ist, wenn sie nicht eigenverantwortlich über Krieg und Frieden, ja nicht einmal über die Stationierung ausländischer Streitkräfte auf deutschem Boden, entscheiden kann. Auf ein wesentli63 Art. 23 n.F. GG ist dringend reformbedürftig, er führt dazu, dass Deutschland sich in den EUGremien geradezu lächerlich macht, wenn plötzlich ein Landesminister als Verhandlungspartner die deutsche Seite vertritt.

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ches Element heutiger Souveränität, die Atombewaffnung, hat Deutschland – im Gegensatz etwa zu Großbritannien und Frankreich – ohnehin verzichtet. Abschließend geht es um eine mögliche Renaissance des Staates (5. Teil). Hier werden einige Forderungen an die Adresse von Politiker, Journalisten und Bürgern gestellt, die zu einer Wiederbelebung von Demokratie und Rechtsstaat führen könnten.

1. TEIL KRISE DES STAATES

DER STAAT IM FREIEN FALL Staat und Demokratie als Verlierer Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht, ich kann nicht mehr die Augen schließen, und meine heißen Tränen fließen.1

Der Staat des 21. Jahrhunderts hat mit dem des 20. Jahrhunderts und früherer Jahrhunderte nur noch den Namen gemeinsam. Als „Glanzstück europäischer Form und occidentalen Rationalismus“ hat er jedenfalls abgedankt.2 Vielmehr hat sich unser Staat – fast unbemerkt – so sehr verändert, dass er kaum noch wiederzuerkennen ist. Zwar scheint er äußerlich noch derselbe zu sein, aber im Innern haben Veränderungen stattgefunden, die kaum noch rückgängig zu machen sind. Vergleichbar mit den Vorgängen in der Geodynamik haben sich tektonische Verschiebungen in den Grundlagen ergeben, auf denen das politische System aufruht. Das betrifft das Verhältnis zwischen Volk und Regierung ebenso wie das zwischen Parlament und Parteien. Eine „gelenkte Demokratie“ ist an die Stelle einer offenen politischen Auseinandersetzung getreten. Man merkt es an den seltsam kraftlosen Debatten im Bundestag. Die Opposition findet nicht mehr im Parlament statt, sondern in kleinen Zirkeln von parteiinternen Widersachern, durch Aktionen besonders mutiger Privatleute und gelegentlich von den Medien (BILD-Zeitung). Zwischen hemmungsloser Anpassung der etablierten Parteien (und Fraktionen) bis zur Selbstverleugnung und der Ablehnung jeder Realpolitik durch die Linke um jeden Preis scheint es keinen Mittelweg zu geben. Das Element des Staatlichen, das durch die Verpflichtung auf das Gemeinwohl gekennzeichnet war, ist zu Gunsten einer „unheiligen Allianz“ von ökonomischen, parteipolitischen und egoistischen Interessen zurückgetreten. Die Gewinner dieses Vorgangs sind Banker, Fondsmanager und Politiker, die Verlierer sind Staat und Volk. Der auf der Volkssouveränität beruhende demokratische Rechts- und Sozialstaat ist in Gefahr. Eine parteipolitisch neutrale Verwaltung, die im Wesentlichen durch ihr Pflichtgefühl gesteuert wird, scheint im Zeichen einer allgemeinen Ökonomisierung („Verbetriebswirtschaftlichung“) staatlicher Einrichtungen nicht nur der Vergangenheit anzugehören, sondern sie wird sogar als etwas Lächerliches dargestellt. Der Wille des Volkes, des eigentlichen Souveräns moderner Staatlichkeit, wird als „Stammtisch-Gerede“ abgetan. Die politischen Parteien wissen natürlich stets besser als diese selbst, was gut für ihre Wähler ist. Die Parteiendemokratie befindet sich auf dem abschüssigen Weg zur „Erziehungsdiktatur“. Das Wort „Volk“ (den tragenden Begriff des Grundgesetzes) haben sie – auf dem Wege einer zunächst für die Medien erdachten Sprachregelung 1 2

Heinrich Heine, Nachtgedanken (1843). Schmitt BdP, S. 10.

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– längst durch die neutrale (oder sollte man sagen: nebulöse) Formulierung „Bevölkerung“ ersetzt. Deutschland ist zu der Floskel „dieses Land“ verkommen. Wer von seinem deutschen Vaterland spricht, macht sich verdächtig, wer gar sein Vaterland liebt, gilt als verrückt. Die „vaterlandslosen Gesellen“ sind längst nicht mehr – wie in der Kaiserzeit – nur die Sozialdemokraten, auch Christdemokraten und Konservative gehören häufig dazu. Dieser Begriff ist auch längst kein Schimpfwort mehr, sondern spiegelt nur die politische Realität. Über zu groß geratene Deutschlandfahnen, die über dem Reichstag wehen, darf man sich mokieren, über die andauernde Übervorteilung Deutschlands durch europäische Regelungen und Institutionen nicht.

1. INSTRUMENTALISIERUNG DES STAATES Umgekehrt scheinen Bestechung und Bestechlichkeit nicht nur in der Wirtschaft (wo sie formal bekämpft werden), sondern auch in der Politik zu lässlichen Sünden geworden sein, die man – falls es gar nicht mehr anders geht – beichtet, Absolution einfordert und erhält, um sogleich mit dieser Praxis fortzufahren. Als Gegenstück dazu weigern sich die wirklich Reichen, Steuern für Leistungen zu zahlen, die man offensichtlich auch ohne Gegenleistung erhält. Und auch die Benachteiligten der Gesellschaft haben immer weniger Hemmungen, staatliche Unterstützungsleistungen mit Schwarzarbeit zu kombinieren. Die staatlichen Institutionen sind darüber hinaus zum Spielfeld von Politikern geworden, die sie nach ihren Wünschen mit ihrem Personal (als Gratifikation für treue Dienste) besetzen, für ihre Zwecke instrumentalisieren und – je nach Gusto – auf- oder abwerten und ggf. kaltstellen. Wichtig ist, dass auf diese Weise Abhängigkeits- oder wenigstens Loyalitätsbeziehungen hergestellt werden, die zum Machterhalt dienen. Sind etwa die Parteipolitiker mit dem Auftreten des Bundespräsidenten unzufrieden, dann denken sie bei der Neubesetzung zunächst an einen geschmeidigen Politik-Profi, der ihnen nicht hineinredet, sondern ganz im Gegenteil, ihre Machenschaften schönredet. Klappt das nicht, kommt schnell der Gedanke auf, dieses Amt sei doch „so überflüssig wie ein Kropf“. Und tatsächlich erweisen sich alle Ausdrucksformen des Staates, die sich nicht vollständig für eigene Zwecke instrumentalisieren lassen, für Parteipolitiker als überflüssig und störend. Das gilt für die Institution des Staatspräsidenten ebenso wie für unabhängige Gerichte, Staatsanwaltschaften oder Rechnungshöfe. Eine neutrale Staatsgewalt ist für sie kein Wert an sich, ganz im Gegenteil: sie ist für sie ein ständig störender Fremdkörper. Insofern müssen wir gar nicht erst den Blick über den Zaun auf das Italien des Silvio Berlusconi richten.

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2. TUGENDEN (IN) DER DEMOKRATIE Zwar ist dieser Befund nicht ganz neu, das Neue daran ist aber, mit welcher Selbstverständlichkeit dieser Zustand von allen Seiten – auch von der Wissenschaft – hingenommen wird. Das „Aufdecken“ von Missständen durch früher gefürchtete Fernsehmagazine wie Panorama lässt sich heute eher mit den Aktivitäten des Don Quichote vergleichen.3 Es ist ein Kampf gegen Windmühlen: Alles darf von den Journalisten (freilich im Rahmen der Political Correctness) „enthüllt“ werden, nur hat es eben keine Folgen. Was heute Kabarettisten etwa in der Sendung Neues aus der Anstalt über Spitzenpolitiker sagen, lässt nur den Menschen das Blut in den Adern gefrieren, die auch die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik miterlebt haben. Damals konnte die Fernsehübertragung eines Auftritts des Kabaretts „Münchner Lach- und Schießgesellschaft“ noch dazu führen, dass sich der Bayerische Rundfunk aus dem ARD-Programm ausklinkte. Heute ist das nur ein großer, aber folgenloser Spaß. An die Stelle demokratischen Engagements tritt blanker Zynismus. Politiker, Lobbyisten und Journalisten profitieren davon, die Bürger haben das Nachsehen. Charaktereigenschaften („Tugenden“) wie Ehrbarkeit, Anstand und Ehrlichkeit sind offenbar aus der Mode gekommen. Sie gelten nicht nur als etwas Altmodisches, was ältere Herrschaften, die in einer vergangenen Epoche aufgewachsen sind, immer noch – natürlich vergebens – hochhalten, sondern sie sind der Lächerlichkeit preisgegeben. Ein ehrlicher Kaufmann, ein ehrlicher Finder, ein ehrlicher Bankier – zum Totlachen. Was zählt, ist der persönliche Vorteil, ob in finanzieller oder politischer Münze. Davon ist zum einen das Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft betroffen, zum anderen das Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Nicht nur Platon und Aristoteles sowie später Cicero hatten jedoch auf die große Bedeutung von Tugenden wie der virtus für Republik und Demokratie hingewiesen, Machiavelli war es, der – im Gegensatz zu seinem schlechten Ruf (Machiavellismus) – die virtù als entscheidende Tugend eines Staatsmannes postuliert hatte. Das bedeutet freilich auch, für seine eigenen Überzeugungen zu kämpfen und notfalls persönliche Nachteile hinzunehmen. Ein unerschütterlicher Rechtsgehorsam sowie ein Gefühl für Fairness runden dieses Bild des idealen Staatsmannes (Staatsfrau) ab. Gerade dieser Geisteshaltung bedarf es nämlich in der Demokratie, die ohne Politiker, die wirklich in der Wolle gefärbte Demokraten sind, nicht überleben kann. Bloßes Taktieren hält zwar den Spitzenpolitiker für eine gewisse Zeit über Wasser (an der Macht), allerdings auf Kosten der Bürgerschaft.

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Cervantes 1605/1615.

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3. OHNMACHT DER BÜRGER – MACHT DER POLITIKER Dem steht jedoch die Ohnmacht der Bürger gegenüber, die sich besonders am Beispiel der Steuern zeigt. Steuern sind Geldleistungen, die der Staat zur Erzielung von Einnahmen von seinen Bürgern erhebt, ohne dass diese damit einen Anspruch auf individuelle Gegenleistung erhielten. Zu Zeiten der Reichsabgabenordnung war das auch nicht erforderlich,4 weil die Leistung vor allem von den Wohlhabenden aufgebracht wurde, und die Gegenleistung – zunächst durch den Wohlfahrtsstaat und dann durch den Sozialstaat – in Form staatlicher bzw. kommunaler Leistungen allen Bürgern zugutekam. Auch arme Familien konnten sich den Schwimmbadbesuch leisten, weil Eintrittspreise für die Schwimmbäder, die aus Steuermitteln errichtet worden waren, bewusst an den finanziellen Möglichkeiten der weniger Begüterten ausgerichtet waren. Niemand wäre auf die Idee gekommen, ein aus Steuermitteln für die Allgemeinheit gebautes Schwimmbad anschließend nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten zu betreiben und die Steuerbürger – nunmehr in ihrer Rolle als Konsumenten – ein zweites Mal kräftig zur Kasse zu bitten. Die unvernünftige deutsche Regelung, dass die Bürger der Gemeinde gegenüber Fremden nicht – wie etwa in der Schweiz – durch eine niedrigere Eintrittsgebühr „bevorzugt“ werden durften, führte in der Praxis zu ihrer Benachteiligung.5 3.1 Steuerzahlung als Ehrensache? Die Abgabenordnung war in den (längst vergangenen) Zeiten, in denen jeder Bürger selbstverständlich seine Steuern an den eigenen Staat entrichtete, eine sinnvolle Regelung. Seine Steuern ehrlich und gewissenhaft zu zahlen, war Ehrensache. Damals war es sogar üblich, das Wahlrecht – z.B. im (allerdings insgesamt ungerechten) preußischen Dreiklassenwahlrecht – an die Steuerleistung zu knüpfen.6 Es wäre interessant zu beobachten, wie sich eine solche Regelung im heutigen Deutschland auswirken würde. Sowohl am unteren wie am oberen Ende der Einkommensskala würden vermutlich breite Schichten von Nicht-Wahlberechtigten entstehen. Allerdings hat auch die Wahlberechtigung im Zeichen der „gelenkten Demokratie“ für viele Menschen an Wert verloren. Der Mangel an echten Alternativen bringt viele Wahlberechtigte dazu, gar nicht erst zur Wahl zu gehen. Es fragt sich, wann den Bürgern nach Schweizer Vorbild eine bußgeldbewehrte Wahlpflicht auferlegt wird. Um uns Deutsche vor einem Rückfall in den Nationalsozialismus zu bewahren, ist das Spektrum der zu wählenden Parteien deutlich eingeschränkt. Darüber hinaus hat die 5%-Klausel die etablierten Parteien jahr4 5 6

Die Reichsabgabenordnung wurde am 13. September 1919 beschlossen, ihre Spuren finden sich noch in der Abgabenordnung von 1977. Durch Ferien- und Sommerpässe versuchen manche Kommunen diese Ungerechtigkeit auszugleichen. So z.B. das preußische Drei-Klassen-Wahlrecht, das von 1849 bis 1918 für das Abgeordnetenhaus, die zweite Kammer des preußischen Landtags, galt.

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zehntelang vor dem Erstarken kleiner Parteien geschützt. Erst mit dem Auftreten der GRÜNEN und später der LINKEN wurde das Parteienspektrum schließlich erweitert. 3.2 Lafontaine: Liebling der Medien Mit der Wiedervereinigung kam eine ernst zu nehmende linke Partei hinzu, die aus der SED hervorgegangene PDS, die alsbald in den ostdeutschen Landtagen Wahlerfolge feierte und bald auch in einigen Landesregierungen vertreten war. Gleichzeitig bildete sich im Gefolge der Schröderschen Reformen (Agenda 2010) im Westen mit der WASG ein Bündnis aus enttäuschten Gewerkschaftern und Sozialdemokraten. Lafontaine war es dann, dem es gelang, aus diesen beiden gänzlich heterogenen Gruppierungen eine neue Partei zu kreieren, die Linke. Diesem Vorhaben kam es zugute, dass dieser neuen Bewegung, vor allem ihren Protagonisten Oskar Lafontaine und Gregor Gysi, in den Redaktionen von Zeitungen, Magazinen und Rundfunksendern große Sympathien entgegengebracht wurden. Wie günstig ist es doch für die Unionsparteien, dass sich „rechts“ von ihr nur Parteien tummeln, die auf Schritt und Tritt vom Verfassungsschutz überwacht werden und deren Demonstrationen von wohlmeinenden „Antifaschisten“ im Namen der Demonstrationsfreiheit gestört oder gar verhindert werden. Undenkbar, dass mit der gleichen „liebevollen Besorgtheit“ wie bei der LINKEN über die Parteitage von NPD, DVU oder Republikanern – oder gar ihrem Zusammenschluss – berichtet würde. Selbstverständlich werden keine rechten Parteifunktionäre zu Talkrunden ins Fernsehen eingeladen. So wünschenswert eine „streitbare“ Demokratie auch ist, die sich ihrer Feinde erwehrt, so sehr drängt sich dem Beobachter doch der Eindruck auf, dass sie auf dem linken Auge blind ist. 4. ENTMACHUNG DES PARLAMENTS Über die Bewilligung von Steuern und die Verwendung der Mittel entscheidet traditionell das Parlament. Dieses Recht haben sich frühere Volksvertretungen, die mehr oder weniger große Teile des Volkes repräsentiert haben, z.T. erst mühevoll erkämpfen müssen. Theoretisch gilt dieses Recht heute auch für den Bundestag, der für Deutschland – im Zusammenwirken mit dem Bundesrat – das Budgetbewilligungsrecht wahrnimmt. Damit könnte man durchaus zufrieden sein, wenn tatsächlich Parlamentarier zumindest die (wichtigsten) Entscheidungen treffen würden, die als Repräsentanten des Volkes handeln. In der real existierenden Demokratie sind es jedoch die Parteipolitiker in der Regierung – gestützt auf „ihre“ Finanzfachleute –, welche erfolgreich die Fäden ziehen. Da kaum ein Parlamentarier die schiere Fülle der Daten in einem Haushaltsplan übersehen kann, konzentrieren sich die meisten Abgeordneten auf Ausgabeposten, die ihren eigenen Wahlkreis betreffen. Im Übrigen betrachten sie das riesige Konvolut von Zahlenkolonnen eher mit misstrauischen Blicken und lassen sich nur allzu gern von den Vorgaben ihrer Fraktionsspitze leiten.

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Die Bürger interessieren sich in aller Regel auch nicht so sehr für die allgemeinen Zahlen (mit Ausnahme der Staatsschulden), sondern vor allem für die Posten, die sie selbst betreffen. Sie sind als Steuerzahler mit der Tatsache konfrontiert, dass sie – insbesondere als abhängig Beschäftigte – keinen Einfluss auf die Höhe ihrer Steuern haben, da diese von ihrem Arbeitgeber nach den geltenden Steuertabellen berechnet und direkt an das zuständige Finanzamt abgeführt werden. Anders als wohlhabende Bürger, deren Einkünfte zumeist schwerer zu kontrollieren sind, stehen ihnen nur theoretisch Steuerberater oder gar Steueranwälte zur Verfügung, die ihnen Wege zur Steuerersparnis aufzeigen könnten. Ihnen bleiben nur die kleinen Betrügereien gegenüber dem Finanzamt, die jedoch kaum als Ventil für ihre stille Wut ausreichen. Viele wirklich wohlhabende Menschen nutzen hingegen alle legalen (und nicht legalen) Möglichkeiten, um der lästigen Steuerpflicht zu entgehen. Große Summen von „Schwarzgeld“ lagern auf Nummernkonten in sog. „Steueroasen“. Selbst die einheimischen Banken haben – zumindest zeitweilig – aktiv bei dieser sog. „Steuerflucht“ geholfen. In letzter Zeit sind freilich immer wieder CDs mit den Daten von Deutschen aufgetaucht, die aus deutscher Sicht illegale Konten in der Schweiz und in Liechtenstein unterhalten. Einige dieser CDs sind vom deutschen Fiskus angekauft worden, der Umgang mit diesen Daten ist freilich äußerst umstritten. Darf der Staat sich auf unrechtmäßige Weise Zugang zu diesen Daten beschaffen? Ist es richtig, wenn bei rechtzeitiger Selbstanzeige keine Bestrafung erfolgt?7 Und: Werden tatsächlich alle „Steuersünder“ gleich behandelt? Oder sind getreu dem Motto aus George Orwells Fabel Animal Farm wieder einige „gleicher“ als die anderen. 5. SPENDIERHOSEN UND SCHECKBUCH-DIPLOMATIE Die deutschen Spitzenpolitiker auf allen politischen Ebenen haben sich angewöhnt, mit dem Geld der Steuerzahler, das sie treuhänderisch verwalten, sehr großzügig umzugehen. Im Übrigen geben die Politiker das Geld ja nicht aus, sondern sie „nehmen es“ lediglich „in die Hand“, um damit Gutes zu tun. Berühmtberüchtigt waren die weiten „Spendierhosen“ von Bundeskanzler Helmut Kohl. Jedes scheinbar unlösbare Problem löste er – vor allem auf europäischer Ebene – durch seine Scheckbuch-Diplomatie. Großbritanniens überaus energische Premierministerin Margret Thatcher verlangte 1984 eine Senkung der britischen EGBeiträge („I want my money back!“), weil „ihre“ Bauern nicht genügend von den Agrarsubventionen der EG profitierten, die Bundesrepublik Deutschland zahlte.8

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Durch insgesamt 22.415 Selbstanzeigen seit Februar 2010 sind Steuereinnahmen in Höhe von (geschätzt) 1,5 Mrd. Euro erzielt worden, Der Spiegel, Nr. 30 vom 26.7.2010, S. 58–61 [59]. Der sog. Britenrabatt entlastet Großbritannien erheblich, weil es einen großen Teil seiner Nettozahlungen wieder zurückbekommt. Im Haushalt 2010 sind dafür ca. 4,0 Mrd. Euro veranschlagt. Großbritannien zahlt daher nur 0,8 Mrd. Euro, das sind 0,08% des Bruttosozialprodukts (BSP).

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Wann immer die Verhandlungen über eine Erweiterung bzw. Vertiefung der EG ins Stocken gerieten, ein deutscher Scheck half das Problem zu lösen. Entsprechend hoch ist der deutsche Beitrag zur Finanzierung der Europäischen Union. Im Jahre 2007 betrug der EU-Finanzierungsanteil Deutschlands 19,8% (Gesamtsumme: 21,3 Mrd. Euro), der Frankreichs 15,7%, gefolgt von Italien (12,9%), Großbritannien (12,6%), der Finanzierungsanteil aller anderen EUMitglieder bewegt sich im einstelligen Prozentbereich.9 Wegen der beträchtlichen Aufstockung des EU-Finanzrahmens erhöhte sich der deutsche Beitragssatz von 0,33% (2004) auf 0,42% (2007–2013). Dieser Bruttobeitrag gibt aber nur bedingt Auskunft über die tatsächlichen Verhältnisse. Von ihren nach bestimmten Kriterien errechneten (Brutto-)Beiträgen erhalten die Einzahler nämlich eine gewisse Summe für bestimmte Zwecke (Strukturfonds etc.) zurück, die Differenz ist dann der Nettobeitrag. Deutschlands Nettobeitrag stieg für das Jahr 2008 von 7,4 Mrd. auf 8,8 Mrd. Euro.10 Demgegenüber zahlt Frankreich einen Nettobeitrag von 3,8 Mrd. Euro, Italien erhält zum Ausgleich von den eigentlich errechneten 4,1 Mrd. Euro 2 Mrd. Euro zurück, zahlt also tatsächlich nur 2,1 Mrd. Euro. Als Geberländer sind darüber hinaus nur noch die Niederlande (2,7 Mrd. Euro)11 und Schweden (1,5 Mrd. Euro) von Bedeutung. Hauptnutznießer ist Griechenland, das von der EU mit 351 Euro pro Einwohner (Gesamtsumme: 6,3 Mrd. Euro) ausgestattet wird. Es folgen Polen (4,4 Mrd. Euro), Spanien (2,8 Mrd. Euro) und Portugal (2,7 Mrd. Euro). 6. WÄHRUNGSUNION UND STAATSVERSCHULDUNG Besonders krass handelte Kohl, als er sich dem französischen Wunsch beugte, die Deutsche Mark zugunsten des Euro aufzugeben. Damit erkaufte er zwar die Zustimmung Frankreichs zur deutschen Wiedervereinigung, verstieß damit zugleich aber auch klar gegen den Wunsch der Mehrheit aller Deutschen. Auch die Herabwürdigung dieser Haltung der Deutschen als D-Mark-Patriotismus durch die allfällige Propaganda konnte diesen Widerspruch allenfalls verkleisterten, aber nicht zum Verschwinden bringen. Die Regierenden konnten „froh“ sein, dass sie in „weiser Voraussicht“ den Deutschen kein plebiszitäres Mitbestimmungsrecht im Grundgesetz eingeräumt hatten. Denn ein Referendum der Deutschen über die Ablösung der D-Mark durch den Euro hätte mit Sicherheit keine Mehrheit für die Befürworter erbracht.

9 Bericht des Bundesfinanzministeriums. 10 Handelsblatt vom 22.09.2009. 11 Die Niederlande zahlen mit 162 Euro pro Einwohner (2005) – nach Luxemburg (185 Euro pro Einwohner) – zudem den zweithöchsten Pro-Kopf-Beitrag sowie mit 0,52% (2005) den höchsten Anteil am BSP (Deutschland: 0,27%).

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Was blieb, war eine Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht. Der Vorstoß einiger Mutiger im Jahre 1987,12 die Abschaffung der D-Mark durch eine solche Beschwerde verhindern zu wollen, scheiterte jedoch erwartungsgemäß. Erst das Schnüren eines sog. Rettungspakts in dreistelliger Milliardenhöhe zur Stabilisierung zunächst Griechenlands, dann des Euros, brachte die Diskussion über die Schwächen der Währungsunion – vor allem eine unterschiedliche Wirtschaftskraft und eine andere Entwicklungsgeschwindigkeit – wieder in Gang. Ob sich die Entscheidungen von damals freilich jemals wieder rückgängig machen lassen, ist zumindest zweifelhaft, obgleich sich viele Menschen – nicht nur in Deutschland – die Rückkehr ihrer alten Währung wünschen würden.13 Die Kosten hierfür wären freilich immens. 6. WÄHRUNGSUNION UND STAATSVERSCHULDUNG Allen „Unkenrufen“ zum Trotz schien sich der Euro seit seiner Einführung zunächst zu bewähren, zumal der damalige Bundesfinanzminister Theo Waigel darauf bestanden hatte, dass strenge Stabilitätskriterien gelten sollten. Damit Deutschland nicht für die Schulden anderer Länder aufkommen müsste, wurde die sog. Bail-Out-Klausel im Maastrichter Vertrag festgeschrieben. Zudem sollte es keinem Land erlaubt sein, höhere Schulden zu machen, als 3% seines Bruttoinlandsprodukts entsprachen. Schon bald zeigte sich jedoch, dass auch Deutschland sich nicht immer an dieses Kriterium hielt, andere EU-Mitglieder hatten diese Regelung von vornherein nicht recht ernst genommen. Insbesondere Frankreich war strikt gegen jede Schuldenbegrenzung. Die Kommission zeigte sich machtlos angesichts des Egoismus vieler nationaler Regierungen. Die Staatsschulden nahmen in allen Staaten erheblich zu. Die Weltfinanzkrise des Jahres 2008 ließ dann freilich die Schwächen der Währungsunion – vor dem Hintergrund maßloser Staatsverschuldung – klarer zutage treten. Die Wirtschaftskraft der Mitgliedstaaten war einfach zu unterschiedlich. Daran konnte auch der Kapitaltransfer von den reicheren zu den ärmeren Ländern über Regionalfonds etc. auf Dauer nichts ändern. Die Währungsunion war von Politikern beschlossen worden, die ihre Berater im entscheidenden Moment „vor die Tür“ geschickt hatten und die Augen vor der Realität fest geschlossen hielten, die so gar nicht zu ihren „Träumen“ passen wollte. So gelang es Griechenland, sich durch Finanzmanipulationen „schön“ zu rechnen, um – zumindest scheinbar – die Kriterien für die Aufnahme in die Eurozone zu erfüllen. Schon damals hätte es keiner prophetischen Gaben bedurft, um das heutige Desaster vorauszusagen. Die wenigen Fachleute, die frühzeitig vor den Folgen warnten, wurden als „Unken“ verspottet und kalt gestellt. Jetzt ruiniert 12 Die Kläger waren Wilhelm Hankel, Wilhelm Nölling, Joachim Starbatty und Karl Albrecht Schachtschneider. Sie klagen jetzt erneut gegen den sog. Rettungsschirm, mit dem Deutschland Milliardenbeträge zur Stabilisierung des Euro aufzubringen hat. 13 Leon de Winter, Zurück zur EWG. Ein Plädoyer für die Abschaffung des Euro, in: Der Spiegel, Nr. 20/2010, S. 150–151.

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freilich der allenfalls hinausgezögerte Staatsbankrott Griechenlands das Ansehen des Euro und ließ seinen Wert auf einen historischen Tiefststand sinken; die Spekulanten beginnen sich auf den Euro einzuschießen. Zuvor werden sie allerdings erst Portugal und Spanien bedrängen. 7. ZWISCHEN PEST UND CHOLERA Die Handlungsalternative für die Bundesregierung erscheint freilich wie die Wahl zwischen Pest und Cholera. Ließe die Eurozone – und das heißt vor allem Deutschland – die Griechen im Stich, würde das nachhaltige Folgen für den Euro haben. Das Vertrauen in diese Währung, das seinen sichtbarsten Ausdruck in beträchtlichen Euro-Reserven der Araber und Chinesen gefunden hat, würde erheblich leiden. Gibt es dagegen ein Hilfsmittel, z.B. den Vertragsbruch? Unter dem Druck der anderen Mitgliedstaaten bürgt Deutschland zunächst für Milliardenkredite an Griechenland und schließlich für alle notleidenden Mitglieder der Eurozone. In der Folge dürfte es mit der Haushaltsdisziplin der anderen „unsicheren Kantonisten“ (PIIGS), Portugal, Irland, Italien, Spanien, vorbei sein. Warum soll man sich anstrengen, wenn Andere die Schulden übernehmen. Das gilt auch für Griechenland, dem so gewaltige Sparanstrengungen abverlangt werden, dass man getrost von einer „Rosskur“ sprechen kann. Anders als zu Kohls Zeiten, der in wirtschaftlich guten Zeiten seine Handlungen – weitgehend unwidersprochen – damit begründen konnte, er wolle einen neuen Krieg in Europa verhindern, sind die Deutschen diesmal äußerst misstrauisch. Weder ein heißer noch ein kalter Krieg stehen in Europa bevor, und einen Wirtschaftskrieg vermag sich niemand vorzustellen. Wenn in Deutschland das Geld für die Reparatur der Straßen fehlt, das Elterngeld für Hartz IV-Empfänger gestrichen wird, die Krankenversicherungsbeiträge steigen und die Renten alles andere als sicher sind, ist es unpopulär, den griechischen (oder spanischen, portugiesischen, italienischen, irischen) Staatshaushalt mit deutschen Steuermitteln zu sanieren. Zudem schließt der Lissabon-Vertrag dies ausdrücklich aus. Artikel 125 AEUV (ex-Artikel 103 EGV), Abs. 1, Satz 2, lautet: Ein Mitgliedstaat haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften […] eines anderen Mitgliedstaats und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein.14

8. FRANZÖSISCHES MITSPRACHERECHT Nach der Verabschiedung des riesigen „Rettungsschirms“ wird mit Nachdruck eine „echte, mutige Wirtschaftsregierung“ (Europäisches Parlament) für Europa gefordert. Strittig war lediglich, ob diese nur die 16 Staaten der Eurozone umfassen 14 Ebenso wenig haftet die Union als Ganzes für die Verbindlichkeiten ihrer Mitgliedstaaten.

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und permanent tagen (Position Frankreichs) oder alle 27 EU-Staats- und Regierungschefs einschließen und nur in Krisensituationen zusammentreten soll (Position Deutschlands). Wieder einmal war der Kerngedanke, andere Länder bestimmen über die deutsche Wirtschaftspolitik mit, alternativlos (als ob es im Wortschatz der Politiker kein Nein gebe). So richtig es einerseits ist, dass die wirtschaftspolitischen Entscheidungen der Mitglieder harmonisiert werden müssen, wenn die EU zu einer Haftungsgemeinschaft ausgebaut wird (aber gerade darin steckt das – vermeidbare – Risiko), so stutzig macht es andererseits, dass dabei der Eindruck entsteht, vor allem Frankreich wolle sich auf diesem Wege – gewissermaßen durch die Hintertür – ein Mitspracherecht bei dem stärksten ökonomischen Wettbewerber Deutschland verschaffen. Ganz nebenbei kann man bei dieser Gelegenheit auch noch der ungeliebten Europäischen Zentralbank die Selbständigkeit entziehen. 8.1 Am Kabinettstisch der Anderen Der zunächst harmlos erscheinende Vorschlag des französischen Präsidenten Nicholas Sarkozy, am Kabinettstisch der Deutschen solle ein Vertreter der Franzosen im Ministerrang mitwirken (und vice versa15) gewinnt vor diesem Hintergrund eine ganz besondere Bedeutung. Und in dieses Bild passt dann auch der Vorwurf der französischen Finanzministerin Christine Lagarde, Deutschland stärke durch zu niedrige Tarifabschlüsse die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft einseitig zu Lasten der anderen EU-Mitglieder (gemeint ist natürlich vor allem Frankreich), zugleich verlangt sie eine Änderung dieser Tarifpolitik. Damit spricht sie ein Thema an, das der EU tatsächlich „auf den Nägeln brennen“ müsste, denn die unterschiedliche Wettbewerbsfähigkeit der EU-Staaten ist in der globalen Finanzkrise der Jahre 2008/2009 besonders sichtbar geworden. Insbesondere die Mittelmeerländer haben die reichlich fließenden Mittel aus dem EUHaushalt (Regionalfonds etc.) nicht dazu verwendet, ihre Industriestrukturen zu stärken, sondern eher dazu, den Konsum anzukurbeln. Auf diese Weise ließ sich die Zustimmung der Bürger zu ihrer Führung erheblich leichter herbeiführen. Jetzt passen die – ohnehin eher bescheidenen – Sparanstrengungen der Deutschen nicht in das Konzept der französischen Strategen. Auch die französische Regierung gerät dadurch unter einen gewissen Zugzwang. Allerdings konnte die Bundesregierung immerhin zu weitreichenden finanziellen Zugeständnissen überredet werden. 8.2 Klage gegen den Rettungsschirm Mit dem Gesetz vom 21. Mai 2010 wurde die Bundesregierung vom Parlament (nicht vom Volk) ermächtigt, sich bis zu einem Betrag von 148 Mrd. Euro an dem sog. Rettungsschirm für den Euro zu beteiligen. Hätte man das Volk in einem Re15 Am 21. Juli 2010 nahm Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble als erster deutscher Minister an einer Sitzung des französischen Kabinetts teil.

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ferendum dazu befragt, hätte die Regierung ein Fiasko erlebt. Einen Eilantrag des CSU-Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler, durch eine Einstweilige Anordnung die Umsetzung des Gesetzes auszusetzen, hat das Bundesverfassungsgericht dennoch abgelehnt.16 Gauweiler, der im Bundestag gegen das Gesetz gestimmt hatte, wollte vor allem die „Umwandlung der europäischen Währungsunion in eine Haftungs- und Transferunion“ stoppen. Die Richter des Zweiten Senats begründeten ihre Entscheidung damit, dass auch ein nur vorübergehendes Aussetzen der deutschen Zusagen die Realisierbarkeit des Rettungspakets insgesamt in Frage stellen würde. Ein viel größeres Problem blieb dabei unausgesprochen: Wie vermeidet man es, dass sich der Europäische Gerichtshof einschaltet (bzw. eingeschaltet wird)? Und: Wie würde der EuGH letztlich entscheiden – vermutlich zu Gunsten der finanzschwachen EU-Mitglieder und zum Nachteil Deutschlands. Dabei zeigt sich wiederum, dass Institutionen wie die Europäische Kommission, der EuGH, aber auch das Europäische Parlament, eine Eigendynamik entwickeln, die schwer aufzuhalten ist. Es versteht sich von selbst, dass diese Institutionen keinerlei Rücksicht auf die Belange der deutschen oder der niederländischen Steuerzahler nehmen. 9. MYTHOS EUROPA Offenbar erscheint es inzwischen vielen Mitgliedsstaaten weniger wichtig, Deutschland – wie früher stets – als „wirtschaftliche Lokomotive“ zu nutzen, welche die anderen EU-Länder aus dem ökonomischen Tal herauszieht, als die verhassten Deutschen endlich auch wirtschaftlich klein zu kriegen. Wenn das so ist, dann drängt sich allerdings der Eindruck auf, die sog. Europäische Integration sei ein einziges großes Betrugsmanöver gegenüber den deutschen Bürgern gewesen. Ist es denkbar, dass sämtliche Bundesregierungen – ungeachtet ihrer parteipolitischen Zusammensetzung – ihre Wähler systematisch belogen haben? Waren Montanunion, Euratom, EWG, EG und schließlich EU stets in erster Linie Instrumente, nicht nur um die Deutschen außenpolitisch klein zu halten, sondern auch um ihre finanzielle Leistungsfähigkeit abzuschöpfen? War der Mythos der europäischen Einigung nur der Schleier, hinter dem sich – unsichtbar für das deutsche Volk – trefflich die eigene Interessenlage verbergen ließ? Dass die Bundesregierungen – gleich welcher Couleur – die politische Realität in Bezug auf Europa stets verschleiert haben, steht außer Frage. Bislang konnte man davon ausgehen, dass sie dabei – wie weiland Konrad Adenauer – das Wohl ihres Volkes im Auge hatten, aber trifft das heute noch zu?

16 Gauweilers Prozessbevollmächtigter ist Dietrich Murswiek.

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9.1 Hebung des Lebensstandards oder Kontrolle über Deutschland? Erinnern wir uns: Die Montanunion wurde 1952 zwar offiziell „zur Hebung des allgemeinen Lebensstandards in den Mitgliedstaaten“ Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Niederlande gegründet, tatsächlich ging es den französischen Initiatoren aber in erster Linie um Neutralisierung und Kontrolle der deutschen Schwerindustrie. Sowohl Charles de Gaulle als auch François Mitterrand haben stets darauf hingewiesen, dass die europäische Integration ein französisches Projekt sei. Euratom eignete sich vorzüglich dazu, jede deutsche Ambition auf eine eigene Atombewaffnung, die Frankreich freilich als selbstverständliches Recht für sich reklamierte und in Gestalt der Force de Frappe auch durchsetzte, von vornherein im Keim zu ersticken. Mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und schließlich mit EG und EU wurde es möglich, gewaltige Finanzströme von den erfolgreichen Volkswirtschaften (vor allem der deutschen „Konjunkturlokomotive“) in die südlichen Länder umzuleiten. Dort entstanden in der Tat jedenfalls dort blühende Landschaften, wo es gelang, Korruption und mafiose Strukturen klein zu halten. Solange Deutschland geteilt war und seine wichtigsten „Partner“ zugleich die Oberaufsicht über Gesamtdeutschland hatten, herrschte eitel Sonnenschein. Jede Bundesregierung sah in der weiteren Integration (Vertiefung und Erweiterung) eine Chance für die eigene Entwicklung. 9.2 Änderung der Geschäftsgrundlage Mit der Wiedervereinigung änderte sich freilich die Geschäftsgrundlage geradezu drastisch. Deutschland ist zwar nicht so stark wie vor dem Krieg, hat aber doch durch die Einbeziehung der DDR an Territorium und Bevölkerung signifikant an Bedeutung zugenommen. Nachdem die Bemühungen Frankreichs (und Großbritanniens), die Wiedervereinigung zu verhindern, gescheitert waren, musste nach anderen Wegen gesucht werden, die deutsche Machtposition einzugrenzen. Immerhin beherrschte die DM nicht nur den Balkan, sondern auch den überwiegenden Teil Mitteleuropas. Was lag näher, als die DM abzuschaffen bzw. in Gestalt des Euro zu vergemeinschaften. Zwar konnte die damalige Bundesregierung relativ harte Kriterien durchsetzen, um die Geldwertstabilität zu sichern. Dazu sollte vor allem die Europäische Zentralbank mit Sitz in Frankfurt dienen, die – nach dem Vorbild der Deutschen Bundesbank – unabhängig von politischen Weisungen sein sollte. Die Defizitquote, d.h. die Nettokreditaufnahme geteilt durch das Bruttoinlandsprodukt, wurde als Höchstgrenze der erlaubten Staatsverschuldung auf 3% festgelegt. Allerdings wurde diese Quote von vielen Mitgliederstaaten – u.a. auch Deutschland – mehrfach überschritten, ohne dass dies zu Sanktionen geführt hätte. Frankreich hatte diese Beschränkung der Staatsverschuldung ebenso wenig für sinnvoll gehalten wie die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank.

KRISE DES STAATES – CHANCE ZUR ERNEUERUNG? Der Staat als das Modell der politischen Einheit, der Staat als der Träger des erstaunlichsten aller Monopole, nämlich des Monopols der politischen Entscheidung, dieses Glanzstück europäischer Form und occidentalen Rationalismus, wird entthront.1

Der Staat wird von einem Thron gestoßen, den er – stellvertretend für den Monarchen alter Prägung – lange Zeit unbestritten eingenommen hatte. Die Einschätzung Carl Schmitts klingt auf den ersten Blick also ein wenig altmodisch. Ein Thron ist doch wohl nur für eine Monarchie typisch, nicht jedoch für eine Republik. Dennoch trifft diese Feststellung den Kern der Sache, wie sich etwa am Problem der Souveränität zeigen lässt. Sie wurde von Jean Bodin (1529–1596) während der Religionskonflikte in Frankreich dem Monarchen zugeschrieben, der (weit) über den Streitenden stehen sollte.2 Interessanterweise schrieb Schmitt den oben zitierten Satz im Jahre 1963, also lange vor der Kulturrevolution der 68er, die in Deutschland – im wahrsten Sinne des Wortes – alles umgekrempelt hat: den Staat, die Gesellschaft, die Arbeitswelt, das Bildungssystem, Ehe und Familie. Damals war der Begriff „staatliche Steuerung“ noch unbekannt, die Planungseuphorie der sozialliberalen Regierung von Willy Brandt gab es noch nicht, die später von einer tief reichenden Planungsskepsis abgelöst werden sollte. Der Ölpreisschock lag noch vor uns, Umwelt- und Klimaschutz waren noch kein Thema. Die Globalisierung war noch nicht in aller Munde. Die Reichen zahlten noch ordnungsgemäß Steuern, und von der Weltfinanzkrise des Jahres 2008 sowie der Eurokrise des Jahres 2010 konnte noch gar keine Rede sein. 1. HAT SICH DER STAAT ÜBERLEBT? Seitdem haben sich Politik und Gesellschaft grundlegend verändert. Und dennoch würde kein Staatsrechtslehrer heute mehr sagen: „der Staat wird entthront“. Vielmehr ist das Credo der meisten Staats- und Politikwissenschaftler, dass der Staat nicht mehr wichtig sei, dass er sich schlicht überlebt habe, ja, dass man ihn eigentlich gar nicht mehr brauche. Andere mächtige Akteure, wie multinationale Unternehmen, nichtstaatliche Organisationen (sog. NGOs) und transnationale Institutionen wie die Welthandelsorganisation (WTO), seien auf internationaler Ebene an die Stelle des Staates getreten. Im Innern sei hingegen die Zivilgesellschaft die eigentlich prägende Kraft. An die Stelle von staatlicher Steuerung sei Governance getreten, die auch ohne den Staat funktionieren könne.3 Das alles ist zwar nicht ganz falsch. Aber sehen wir uns auch einmal die andere Seite an. Da gibt es schwache und gescheiterte Staaten, wie etwa den Jemen 1 2 3

Schmitt BdP, Vorwort von 1963. S. 10. Bodin 1881–1886; vgl. Salzborn/Voigt (Hg.) 2010. Benz 2004.

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oder Somalia, deren Bürger sich nichts sehnlicher wünschen würden als einen starken Staat, der sie vor der Willkür der Warlords schützen könnte. Hier zeigt sich, dass der Staat weniger für die Reichen und Starken da ist, sondern dass ihn vor allem die Armen und Schwachen brauchen. In westlichen Ländern begegnet uns der Staat jedoch zunehmend in Gestalt von Parteipolitikern, die immer häufiger in den Verdacht geraten, eher die Interessen ihrer Sponsoren als die der Wähler zu vertreten. Der populäre Satz, dass die starken Schultern mehr tragen sollen als die schwachen Schultern, wird heute in geradezu skandalöser Weise in sein Gegenteil verkehrt. Die Forderung nach einer Erhöhung des Spitzensteuersatzes stößt beispielsweise auf den erbitterten Widerstand der Betroffenen und mehr noch ihrer parteipolitischen Sachwalter. Auf der anderen Seite fragt es sich, wer uns Bürger und Bürgerinnen eigentlich vor den finanziellen Transaktionen unserer eigenen Regierung beschützt, die den Steuerzahler noch über Jahrzehnte belasten werden? 2. FÜNF KRISEN DES STAATES Kein Zweifel: Am Beginn des 21. Jahrhunderts befindet sich der Staat westlicher Prägung in einer Krise, die viele Gesichter hat. Bevor wir uns mit dieser Krise des Staates beschäftigen können, gilt es jedoch zunächst, den Staat etwas näher zu umreißen. Was ist das eigentlich für ein Staat, mit dem wir es heute zu tun haben? Bestimmte politische Gruppierungen fordern „weniger Staat“, andere wollen „mehr Staat“. Reden sie eigentlich von demselben Staat? 2.1 Was ist der Staat? Gehen wir zunächst der Frage nach, was der Staat eigentlich ist. Max Weber hat uns folgende Definition gegeben: „Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwangs für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt“.4 Diese Definition enthält vor allem ein für unsere Überlegungen wichtiges und – wie wir sehen werden – unverzichtbares Merkmal von Staatlichkeit, das Monopol legitimer Gewalt. Allerdings kann sich dieses Gewaltmonopol auch gegen Demonstranten richten, die eine andere Politik fordern, wie das Beispiel Thailand zeigt. Denn auch und gerade in einer Demokratie sind es Parteipolitiker, die für den Staat und auf seine Autorität gestützt handeln, indem sie etwa die Polizei einsetzen. Dabei ist Selbstlosigkeit ein eher selten anzutreffendes Handlungsmotiv. Vielmehr geht es in erster Linie um die Erhaltung von Macht und die damit verbundenen Privilegien. Vor allem in Staaten ohne ausgeprägte zivilgesellschaftliche Gegenmacht neigen die Herrschenden überdies dazu, jedes In-Frage-Stellen

4

Weber 1972, S. 29 (Hervorhebungen im Original).

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ihrer Herrschaft als unzulässigen Angriff auf die Regierung anzusehen, der buchstäblich mit allen Mitteln abzuwehren ist. Um das Krisenpotenzial des Staates genauer erfassen zu können, muss aber weiter differenziert werden. Dabei kann man zwischen fünf Ausprägungen des Staates unterscheiden, nämlich dem Schutzstaat, dem Rechtsstaat, dem Sozialstaat, dem demokratischen Staat und schließlich dem Kulturstaat. Jede dieser Ausprägungen (Verfassungsrechtler sprechen von Staatszielbestimmungen) umfasst ein konkretes Aufgabenpaket.5 2.2 Fünf Teilbereiche des Staates Diese fünf Teilbereiche, die zugleich einen historischen Prozess der allmählichen Herausbildung des demokratischen Rechts-, Sozial- und Kulturstaates abbilden, werden gewissermaßen „überwölbt“ von der Kategorie „Nationalstaat“. Die Verbindung des Territorialstaates mit der Nation im Nationalstaat ist das Erfolgsmodell, das sich seit der Französischen Revolution von 1789 überall durchgesetzt hat. Das gilt natürlich in besonderem Maße für Europa, wo lediglich die „Nachzügler“ Italien und Deutschland erst Ende des 19. Jahrhunderts durch ihre nationale Einigung den Status eines Nationalstaates erreichten. Dieser „klassische“ Nationalstaat scheint im Zeichen der Globalisierung in eine Krise geraten zu sein. Sein Kernbestandteil ist die Souveränität, die seit der Französischen Revolution als Volkssouveränität verstanden wird. Diese Souveränität wird im Zeichen von Globalisierung und Europäisierung immer mehr in Frage stellt. Sie wird – zumindest teilweise – nicht nur auf internationale und supranationale Institutionen übertragen, sondern es fragt sich ganz grundsätzlich, ob die Staaten gegenüber dem globalen Finanzkapitalismus überhaupt noch über einen Handlungsspielraum verfügen, der den Namen Souveränität verdienen würde. Eine mögliche, wenn auch unzureichende Antwort auf diese Krise wird in der europäischen Integration gesehen. Aber auch die fortschreitende Integration bedeutet in erster Linie einen Souveränitätstransfer, der schon bald das Maß des Hinnehmbaren überschritten haben dürfte. Die daraus resultierende Legitimationskrise der vom nationalen Elektorat gewählten Regierenden wird auch in Deutschland nicht mehr von einer Europaeuphorie gemildert. Bevor wir uns jedoch näher mit der Krise des Nationalstaates befassen, wenden wir uns erst einmal den anderen fünf Teilbereichen des Staates zu. Schutzstaat Thomas Hobbes war es, der mit seinem berühmten Buch Leviathan 1651 den Grundstein für die Idee des Schutzstaates legte.6 Sein anthropologischer Ausgangspunkt war die Einsicht, dass der Mensch dem Menschen „ein Wolf“ ist – ein 5 6

Vgl. Benz 2001, S. 83. Hobbes 1992.

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Schelm, wer dabei an die Finanzjongleure denkt, die – z.B. in der globalen Finanzkrise des Jahres 2008 – aus purer Profitgier Hunderttausende von Kleinanlegern und Arbeitnehmern ins Unglück gestürzt haben. Um sich vor den überall drohenden Gefahren zu schützen, haben die Menschen – Hobbes zufolge – in einem Sicherungsvertrag alle Macht dem Staat übertragen und sich ihm ganz und gar untergeordnet. Im Gegenzug erwarten sie seinen wirksamen Schutz nach außen durch eine schlagkräftige Armee, Friedenssicherung im Innern durch ein staatliches Gewaltmonopol sowie die Sicherung der Lebensgrundlagen, z.B. indem die Menschen vor Natur- und Umweltkatastrophen geschützt werden. Diese Schutzrechte sind die wichtigste Legitimationsbasis für jeden Staat, auch für den modernen demokratischen Rechts-, Sozial- und Kulturstaat. Die Frage ist allerdings, was geschieht, wenn der Staat dieser Verpflichtung nicht mehr nachkommt. Rechtsstaat Die Verbindung von Staat und Recht hat eine ähnlich lange Geschichte. Zwar haben auch schon Aristoteles und später Cicero ähnliche Gedanken geäußert, 1690 fordert John Locke (1632–1704) dann jedoch ganz konkret eine rule of law in seinem Second Treatise of Government,7 Montesquieu (1689–1755) entwickelt daraus in seinem Esprit des lois 1748 die Justiz als dritte Gewalt.8 Und Thomas Paine (1737–1809) bereitet 1776 mit seiner Schrift Common Sense den Boden für die Aufnahme der rule of law in die amerikanische Verfassung.9 Politisch wirksam wird der Rechtsstaat – als Gegenstück zum Willkürstaat – in Europa jedoch erst im Gefolge der Französischen Revolution, als der französische König Ludwig XVI. gezwungen wird, sich selbst der Verfassung zu unterwerfen – übrigens ein unerhörter Vorgang aus damaliger Sicht. In der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 werden dann zum ersten Mal für Europa den Individuen unveräußerliche Rechte zugestanden. Da die Vertreter des französischen Volkes, als Nationalversammlung eingesetzt, erwogen haben, dass die Unkenntnis, das Vergessen oder die Verachtung der Menschenrechte die einzigen Ursachen des öffentlichen Unglücks und der Verderbtheit der Regierungen sind, haben sie beschlossen, die natürlichen, unveräußerlichen und heiligen Rechte der Menschen in einer feierlichen Erklärung darzulegen, damit diese Erklärung allen Mitgliedern der Gesellschaft beständig vor Augen ist und sie unablässig an ihre Rechte und Pflichten erinnert; damit die Handlungen der gesetzgebenden wie der ausübenden Gewalt in jedem Augenblick mit dem Endzweck jeder politischen Einrichtung verglichen werden können und dadurch mehr geachtet werden; damit die Ansprüche der Bürger, fortan auf einfache und unbestreitbare Grundsät-

7 8 9

Locke 1977. Montesquieu 1992. Paine 1982.

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ze begründet, sich immer auf die Erhaltung der Verfassung und das Allgemeinwohl richten mögen.10

In den französischen Revolutionsverfassungen wird die Gleichstellung aller Menschen postuliert, die ihres Standes wegen fortan weder bevorzugt noch benachteiligt werden dürfen. Zur praktischen Umsetzung fehlen vorerst jedoch in Kontinentaleuropa unabhängige Gerichte, die nicht mehr von Richtern dominiert werden, die ihr Amt geerbt oder gekauft haben. In Deutschland werden diese Gerichte auf Reichsebene Ende des 19. Jahrhunderts etabliert. Diesen Rechtsstaatsgedanken hat Hans Kelsen (1881–1973) später weiterentwickelt und den Staat als personifizierte Rechtsordnung bezeichnet.11 Gerade auch in Zeiten der Globalisierung brauchen die Menschen den Schutz des Rechtsstaates. Rechtsschutz gewährt aber vor allem der Staat, dessen Staatsbürger man ist. Wenn darüber hinaus Gerichte wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einen weitergehenden Schutz gewährleisten, ist das zwar durchaus wünschenswert, kann aber die nationale Gerichtsbarkeit nicht ersetzen. Sozialstaat Als Antwort auf die „soziale Frage“ werden im 19. Jahrhundert die ersten Elemente des Sozialstaats entwickelt: Invalidenversicherung, Rentenversicherung und Krankenversicherung. Es ist sicher kein Zufall, dass diese Maßnahmen zur sozialen Sicherung von Reichskanzler Otto von Bismarck (1815–1898) zu einer Zeit durchgesetzt werden, als die Sozialdemokratie immer mehr Anhänger gewinnt und schließlich durch das sog. Sozialistengesetz von 1878 bis 1890 verboten wird. Mit den neuen Sozialgesetzen ließ sich einerseits den Sozialdemokraten Wind aus den Segeln nehmen und andererseits die Zustimmung der Vertreter der katholischen Soziallehre – und damit das Zentrum – gewinnen. Es sollte aber noch bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts dauern, bis daraus – im Zeichen der sozialen Marktwirtschaft – ein geschlossenes System sozialer Teilhaberechte wurde. Aus der Fürsorge des Staates für seine arbeitsunfähigen, gebrechlichen und kranken Menschen sind einklagbare Rechte der Bürgerinnen und Bürger geworden. Es geht auch nicht mehr um Almosen für die Armen und Schwachen, sondern um die soziale Absicherung aller Bürgerinnen und Bürger im Alter, bei Arbeitsunfähigkeit und bei Krankheit Zumindest theoretisch ist damit auch eine gezielte Umverteilung des Reichtums von oben nach unten beabsichtigt. Die Realisierung dieses Ziel war freilich nur in einer relativ kurzen Zeitspanne möglich, die jetzt definitiv zu Ende ist. Bereits Ende der 1970er Jahre sprach Ralf Dahrendorf (1929–2009) vom „Ende des sozialdemokratischen Zeitalters“. Seit10 Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789, Präambel in deutscher Übersetzung. 11 Kelsen 1920.

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her sind nach und nach immer mehr feste (versicherungspflichtige) Beschäftigungsverhältnisse in Praktikumsplätze, 400-Euro-Jobs oder Leiharbeit verwandelt worden. Der damit einsetzende Siegeszug des Neoliberalismus hat freilich mehr zerstört als nur die Illusion, die Herstellung von sozialer Gerechtigkeit sei auch in einem kapitalistischen System möglich. Demokratischer Staat Die Wiege der Demokratie steht im Alten Griechenland. Für die moderne westliche Demokratie sind aber zwei Revolutionen im 19. Jahrhundert von herausragender Bedeutung, die Französische Revolution (1789) und die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten (1776). Während wir den Übergang von der Fürstensouveränität zur Volkssouveränität den französischen Revolutionären verdanken, sind es die aufständischen Siedler in der Neuen Welt, die den Grundsatz One man one vote auf ihre Fahnen geschrieben haben – auch wenn dies damals nicht für die Negersklaven gelten sollte. Demokratie bedeutet Volksherrschaft, im Wortsinne also Herrschaft durch das Volk. Dass dieser Anspruch in Massengesellschaften schwer zu realisieren ist, steht außer Frage, so dass nach Verfahren gesucht werden muss, um den Volkswillen in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung umzusetzen. Dazu gehört ein Wahlrecht, das allgemeine, gleiche und geheime Wahlen sicherstellt. Ob dieses Ziel besser auf dem Wege einer repräsentativen Demokratie, wie z.B. in Großbritannien, oder als direkte Demokratie nach dem Vorbild der Schweiz erreicht wird, bleibt zunächst offen. Der repräsentativen Demokratie wohnt allerdings eine Tendenz inne, die – anscheinend zwangsläufig – von der Parteiendemokratie zum Parteienstaat führt. In Abgrenzung zu der Weimarer Reichsverfassung hat sich der Parlamentarische Rat 1949 – vor dem Hintergrund nicht verarbeiteter traumatischer Erfahrungen – für eine strikt repräsentative Demokratie auf Bundesebene entschieden. Obgleich die Volkssouveränität in Artikel 20 des Grundgesetzes ausdrücklich festgestellt wird: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, ist demokratische Teilhabe auf nationaler Ebene nur in wenigen Ausnahmefällen (Art. 29 GG: Neugliederung des Bundesgebietes) vorgesehen. Im Namen des Volkes Demokratie ohne eine aktiv gelebte Volkssouveränität ist jedoch nicht akzeptabel, eine bloß passive Bezugnahme auf die Volkssouveränität („Im Namen des Volkes!“) reicht hierfür nicht aus. Daran wird sich jedes politische System messen lassen müssen, das für sich das Attribut „demokratisch“ in Anspruch nehmen will. Demokratie kann nicht nur in Institutionen (Parlament, Regierung, Gerichte etc.) und Verfahren (direkte oder indirekte Wahlen) bestehen, sondern hat auch und vor allem eine inhaltliche Komponente. So machen sich auch gewählte Politiker, die das Volk hintergehen bzw. zu seinem Nachteil handeln, eines politischen Verbrechens schuldig. Allerdings fehlt nicht nur es an einem Gericht, das für solche Ta-

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ten zuständig wäre, sondern es gibt auch keine Vorschriften im Strafgesetzbuch (StGB), die dafür in Betracht kämen. Dies ist freilich kein Wunder, da eine entsprechende Änderung des StGB ja durch die Politiker selbst – in ihrer Rolle als Parlamentarier – realisiert werden müsste. Dass daran kein Spitzenpolitiker interessiert ist, liegt auf der Hand. Statt sich an die eigene Nase zu fassen, zeigt er lieber mit mahnend erhobenem Finger auf die Regierungen anderer Länder, die – wie China und Russland beispielsweise – (z.T. deutliche) Mängel an Good Governance erkennen lassen. Kulturstaat Da der Mensch nicht ohne kulturelle Wurzeln leben kann, ist der Kulturstaat nicht nur ein angenehmer Luxus, den sich die reichen Gesellschaften der nördlichen Hemisphäre leisten.12 Vielmehr hat jeder Mensch Anspruch auf den Schutz und die Wahrung seines kulturellen Erbes. Unsere Kultur der Gegenwart, aber auch die der Vergangenheit, gehört unverzichtbar zum menschlichen Leben dazu. Dass sich dieser Grundsatz weltweit durchgesetzt hat, zeigt die UNESCO, die seit 1975 insgesamt mehr als 700 Kulturdenkmäler zum Weltkulturerbe erklärt hat. Zum Kulturstaat gehört aber nicht nur die Erhaltung der Denkmäler (einschließlich der Kirchen und Grabstätten), sondern auch die Pflege der lebendigen christlichabendländischen Kultur mit ihren schönen Künsten, ihrer Wissenschaft und ihrer Bildung. Museen und Philharmonien, Akademien, Universitäten und Schulen sind für einen Kulturstaat unverzichtbar. Während vor allem die wissenschaftliche Grundlagenforschung der Förderung durch den Staat bedarf, müssen Bildung und Erziehung für alle Bürgerinnen und Bürger gewährleistet sein. Ob dies kostenlos ist, oder ob Gebühren erhoben werden, ist wiederum streitig, wie das Beispiel der Semestergebühren an deutschen Hochschulen zeigt. Entscheidend ist allerdings, dass das deutsche Bildungssystem gebildete und gut ausgebildete Menschen hervorbringt, die den Anforderungen einer globalisierten Welt gewachsen sind. Dabei muss zumindest den gutwilligen Immigranten eine faire Chance eröffnet werden, sich erfolgreich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Deutschland braucht hervorragend qualifizierte Akademiker und andere Arbeitskräfte, die seinen Wohlstand durch Innovation und Qualität erwirtschaften helfen. Stets an der Spitze von Forschung und Technologie zu sein, ist für Deutschland nicht nur wichtig, sondern entscheidend für sein Überleben in der gnadenlosen Konkurrenz globalisierter Märkte. Dafür müssen alle nur denkbaren Anstrengungen – auch und gerade finanzieller Art – unternommen werden.

12 Vgl. Häberle (Hg.) 1982.

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3. KRISENHAFTE ENTWICKLUNG Mit dieser Bestandsaufnahme der fünf Teilbereiche des Staates könnten wir eigentlich ganz zufrieden sein. Warum dann aber von Krise sprechen? Das, was ich eben geschildert habe, sind doch durch die Bank positive Eigenschaften des Staates. 3.1 Ansatzpunkte für eine Krise Wo ist da der Ansatzpunkt für eine Krise dieses Staates? An einigen Stellen meiner Darlegungen habe ich bewusst Fragen offengelassen bzw. als noch unentschieden bezeichnet. Kreislauf der Geschichte Damit deuten sich bereits Probleme an, die sich gegenseitig aufschaukeln können. Das gilt für jeden dieser Teilbereiche des Staates, die – wie ein System kommunizierender Röhren – miteinander verbunden sind. Sie alle haben ihre positiven, aber auch ihre negativen Aspekte. Und wie ein Fluss oder ein See können sie „umkippen“, wenn sie die schiere Masse der schädlichen Einflüsse nicht mehr bewältigen können. Folgt man den Vorstellungen vom Kreislauf der Geschichte, der auf die Philosophen und Historiker der griechischen und römischen Antike zurückgeht, dann folgt auf die Hoch-Zeit eines politischen Systems irgendwann die Krise und dann der Abstieg. Sind wir jetzt an einem solchen Wendepunkt angekommen? Haben wir bereits den Höhepunkt überschritten und befinden uns bereits im Stadium der Postdemokratie?13 Was ist so schief gelaufen, dass die positiven Eigenschaften des Staates heute kaum noch wiederzuerkennen sind? Wann, warum und mit welchen Folgen hat sich dieser scheinbar paradiesische Zustand so drastisch verändert? Eine erste Antwort auf diese Fragen ist unter fünf Stichworten zu finden: Parteienfeudalismus, Ich-Orientierung, Skandalisierung, Globalisierung und Terrorismushysterie, die spätestens seit Ende der 1980er Jahre zu einem grundlegenden Wandel geführt haben. Nichts ist mehr so, wie es scheint bzw. vorgibt zu sein. Das gilt für die groben politischen Unterscheidungen wie „links“ und „rechts“ oder „progressiv“ und „konservativ“, das gilt auch für die politischen Parteien. Niedergang der Volksparteien Die beiden großen Volksparteien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Sozialdemokraten und Christdemokraten, haben sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts signifikant verändert. Man könnte durchaus auch von ihrem Niedergang sprechen. Die SPD ist unter Gerhard Schröder mit der Agenda 2010 – zumindest zeitweise – 13 Crouch 2008; Hirsch/Voigt (Hg.) 2009.

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eine wirtschaftspragmatische Partei geworden. Damit zielte sie auf die neue Mitte der unabhängigen, wohlhabenden Stadtbewohner. Das führte freilich nicht nur zum Verlust eines großen Teils der (alten) Mitglieder, sondern auf Grund katastrophaler Wahlergebnisse auch zu einer Umgestaltung des deutschen Parteiensystems. Die alte Spaltung zwischen SPD und USPD bzw. Spartakus oder Kommunisten lebt wieder auf, seit sich die PDS mit der WASG zu der Partei DIE LINKE vereinigt und Wahlerfolge vor allem bei Landtagswahlen errungen hat. Die CDU hat unter Angela Merkel ihren konservativen Kernbestand weitgehend eingebüßt und dafür neue sozialdemokratische und „grüne“ Inhalte aufgenommen. Sie zielt vor allem mit ihrer Familienpolitik ebenfalls auf eine neue Mitte der flexiblen Wähler. Damit hat sie sich zwar neue Optionen für Koalitionen eröffnet, ihr Wahlergebnis aber – z.B. in Nordrhein-Westfalen – nur knapp halten können. Neuere Umfragen gehen sogar davon aus, dass eine rot-grüne Koalition bei der nächsten Bundestagswahl eine Mehrheit gegenüber dem schwarz-gelben Regierungslager erringen könnte. 3.2 Parteienfeudalismus Die alten Gegner, die ‚indirekten‘ Gewalten von Kirche und Interessenorganisationen, sind in diesem Jahrhundert in moderner Gestalt als politische Parteien, Gewerkschaften, soziale Verbände, mit einem Wort als ‚Mächte der Gesellschaft‘ wiedererschienen. Sie haben sich auf dem Wege über das Parlament der Gesetzgebung und des Gesetzesstaates bemächtigt und konnten glauben, den Leviathan vor ihre Fahrzeuge gespannt zu haben. 14

Der Auftrag des Grundgesetzes in Artikel 21 des Grundgesetzes: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“, wird von den etablierten Parteien gründlich missverstanden. Sie lesen daraus: „Die Parteien nehmen die politische Willensbildung des Volkes vor“. Das ist aber nicht nur ein harmloses Missverständnis, vielmehr führt das dazu, dass die politischen Parteien sich – langsam aber sicher – nahezu alle Institutionen, nicht nur die staatlichen, sondern auch die gesellschaftlichen Einrichtungen angeeignet haben. Laokoon und die Schlangen Wie Laokoon einst von den Schlangen erdrosselt zu werden drohte, so umschlingen die Parteien den Staat. Sie entscheiden – meist nach Proporz- und Opportunitätserwägungen – über die Besetzung des Bundesverfassungsgerichts, der Rechnungshöfe des Bundes und der Länder, der Bundesbank und der Landesbanken, der Medienanstalten und der Rundfunkräte, der Spitzenpositionen bei Staatsanwaltschaft und Verwaltung. Oft werden lukrative Posten in Landesbanken, Landesunternehmen oder sogar in der EU-Kommission zur „Entsorgung“ verbrauchter oder missliebig gewordener Politiker missbraucht. Die Zahl derartiger „Ent14 Schmitt Leviathan, S. 116f.

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gleisungen“ ist groß, sie reicht von der Verwendung abgewählter Ministerpräsidenten (Reinhard Klimmt, Hans Eichel, Peer Steinbrück, alle SPD) als Bundesminister über die Besetzung wichtiger Posten in der EU-Kommission mit einem nicht mehr zeitgemäßen Ministerpräsidenten (Günther Oettinger, CDU) bis hin zu dem Kuhhandel, der einen nicht mehr gewollten Ministerpräsidenten in das Amt des Bundespräsidenten führt (Johannes Rau, SPD). Wo ist der Staat? Gleichzeitig wird die gesellschaftliche Mitwirkung zurückgedrängt und eine direkt demokratische Mitbestimmung auf Bundesebene gar nicht erst zugelassen. Inzwischen ist schwer zu erkennen, wo noch ein Rest nicht parteipolitisch gebundener Staatlichkeit übrig geblieben ist. Selbst das Amt des Bundespräsidenten, des höchsten Repräsentanten des Staates, ist zum Verhandlungsobjekt parteitaktischer „Spielchen“ geworden. Die Wahl durch die Bundesversammlung ist undurchsichtig und daher ein ideales Spielfeld für das Aushandeln von Koalitionen oder sonstigen politischen Vereinbarungen. Besonders spektakulär war der Coup von Angela Merkel und Guido Westerwelle, die den damaligen IWF-Präsidenten Horst Köhler zum künftigen Bundespräsidenten „ausguckten“. Aufgrund der Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung stand das Wahlergebnis bereits vorab fest. Ein ähnlicher Erfolg war dem Spitzenduo Merkel/Westerwelle allerdings bei der Wahl Christian Wulffs zum Bundespräsidenten nicht beschieden. Zu viel Frust hatte sich inzwischen bei einigen Wahlmännern und Wahlfrauen der Bundesversammlung aufgestaut. 3.3 Ich-Orientierung Die Menschen fühlen sich in einer kapitalistischen Gesellschaft, in der sich fast immer der wirtschaftlich und/oder politisch Stärkere durchsetzt, dazu gedrängt, sich ganz auf sich selbst zurückzuziehen. Ganz unchristlich heißt es: „Jeder ist sich selbst der Nächste!“ Und in Umkehrung des preußischen Leitmotivs gilt der Grundsatz „Mehr scheinen als sein“. Es reicht doch, wenn ich alles habe, was ich mir wünsche, wieso haben andere Menschen eigentlich auch Ansprüche und Bedürfnisse? Der rücksichtslose Egoismus tritt an die Stelle von Gemeinwohlorientierung, hemmungslose Selbstdarstellung ersetzt ein mit Bescheidenheit gepaartes Selbstbewusstsein. Es gilt die Devise: Wer nicht hundertprozentig von seiner eigenen Großartigkeit und überragenden Bedeutung überzeugt ist, kann auch keinen Anderen davon überzeugen. Der Prototyp des Menschen in der egozentrierten Gesellschaft ist der Einzelkämpfer männlichen oder weiblichen Geschlechts, der unabhängig und (möglichst) ungebunden ist. Genau dieses Menschenbild des an jedem Ort der Welt einsetzbaren und jederzeit verfügbaren Menschen passt am besten in den kapitalistischen Verwertungsprozess. Handy und Laptop sind zu den Kennzeichen dieses „neuen Menschen“ geworden. Emotionale Bindungen stören dabei nur, Ehen

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und Kinder werden dann in erster Linie als Karrierehemmnisse empfunden. Die Solidarität bleibt dabei notwendigerweise auf der Strecke. Ehen werden zu Lebensabschnittsgemeinschaften, Familien zu Patchwork-Zufälligkeiten, und die Kinder werden zu Konsumfetischisten erzogen, die den Eltern in erster Linie als Projektionsflächen für ihr Image dienen. 3.4 Skandalisierung Die Medien neigen dazu, politische Ereignisse zu personalisieren, zu emotionalisieren und zu skandalisieren. Die Dinge müssen „ein Gesicht“ bekommen. Dazu dient die sog. „episodische Rahmung“, bei der ein politisches Problem, z.B. Arbeitslosigkeit, − vor allem im Fernsehen – nicht mit nüchternen Fakten vorgestellt wird, sondern als anrührende Leidensgeschichte einer Familie Schmidt oder Meier, deren Leben dann in allen Einzelheiten gezeigt wird. Das verstellt jedoch oft den klaren Blick auf das Problem. Sündenbock-Syndrom Vor allem für spektakuläre politische Fehlentscheidungen (Skandale) wird von den Medien – oft im Einvernehmen mit der Politik – ein Sündenbock gesucht und gefunden, der dann stellvertretend für alle Schuldigen an den Pranger gestellt wird. Der Fall Zumwinkel gehört in diese Kategorie. Ein Dieb hatte dem Bundesnachrichtendienst eine CD mit Kundendaten verkauft, die er einer Liechtensteiner Bank gestohlen hatte. Dabei wurde einer breiten Öffentlichkeit bekannt, das zahllose reiche Deutsche ihr Geld nicht ordnungsgemäß in Deutschland versteuern, sondern auf sog. Schwarzgeldkonten im Ausland verstecken. Rein brisantes Thema, das leicht auf die Spitzenpolitiker zurückfallen konnte. Die Regierung brauchte also schnell einen Schuldigen, an dem ein Exempel statuiert werden konnte. Dies war der damalige Postchef Klaus Zumwinkel, der offenbar seinen Posten nicht freiwillig räumen wollte. Als er in den Verdacht der Steuerhinterziehung geriet, wurde er sogleich „zum Abschuss freigegeben“. Am 14. Februar 2008 gegen 7 Uhr morgens führte die Staatsanwaltschaft Bochum unter Führung der damaligen Staatsanwältin Margrit Lichtinghagen eine Razzia bei Zumwinkel durch, bei der die Medien bereits vorab informiert worden waren und so die ersten Fotos schießen konnten.15 Fortan hatte das Thema Steuerhinterziehung „ein Gesicht“16. Zumwinkel sah sich genötigt, nach Abschluss seines Gerichtsverfahrens ins Ausland zu gehen.

15 Frau Lichtinghagen verließ zum Jahresende 2008 den staatsanwaltschaftlichen Dienst und wurde Richterin am Amtsgericht Essen. 16 Es mag durchaus sein, dass auch noch bei weiteren Steuerhinterziehern Hausdurchsuchungen durchgeführt wurden, merkwürdigerweise ging es dabei allerdings eher unspektakulär zu.

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„Zum Abschuss frei gegeben“ Auf der anderen Seite zeigt der Fall von Karl-Theodor zu Guttenberg besonders deutlich, wie Personen des öffentlichen Lebens – ebenso wie Fußball- und Showstars – zunächst „hochgejubelt“ werden („großartiger Wirtschaftsminister“), um sie dann bei nächster Gelegenheit möglichst tief abstürzen zu lassen („unverantwortlicher Verteidigungsminister“). Vor allem bei Politikern gelingt das Letztere allerdings nur, wenn die betreffende Person ihre Protektion von höchster Stelle verliert und „zum Abschuss freigegeben“ wird. Auf diese Weise entledigen sich Spitzenpolitiker gern lästiger Konkurrenten. Zugleich dienen solche „Schauprozesse“ zur Entlastung der Spitzenpolitiker: „Seht her, wir haben den Schuldigen überführt, er wird seiner gerechten Strafe zugeführt! Nach weiteren Schuldigen braucht ihr jetzt nicht mehr zu suchen“. Solche Aktionen können aber auch zur ideologischen Selbstvergewisserung dienen. Was darf eine Person des öffentlichen Lebens sagen? Darf ein Bundespräsident z.B. in einem Interview etwas aussprechen, was im Weißbuch des Verteidigungsministeriums längst offizielle Regierungspolitik ist? 17 In meiner Einschätzung sind wir insgesamt auf dem Wege, in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe, mit dieser Außenhandelsabhängigkeit, auch wissen muss, dass im Zweifel im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interesen zu wahren – zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch negativ auf unsere Chancen zurückschlagen, bei und durch handel Arbeitsplätze und Einkommen zu sichern. 18

17 Im Weißbuch der Bundesregierung von 2006 heißt es: „Der Prozess der Globalisierung erfasst weltweit alle Staaten und Gesellschaften. Die Entfaltung und zunehmende Vernetzung internationaler Handels-, Investitions-, Reise-, Kommunikations- und Wissensströme eröffnet in erster Linie neue Chancen. Deutschland, dessen wirtschaftlicher Wohlstand vom Zugang zu Rohstoffen, Waren und Ideen abhängt, hat ein elementares Interesse an einem friedlichen Wettbewerb der Gedanken, an einem offenen Welthandelssystem und freien Transportwegen. […] Deutschland hat aufgrund seiner immer engeren Verflechtung in der Weltwirtschaft besonderes Interesse an internationaler Stabilität und ungehindertem Warenaustausch. […] Verwerfungen im internationalen Beziehungsgefüge, Störungen der Rohstoff- und Warenströme, beispielsweise durch zunehmende Piraterie, und Störungen der weltweiten Kommunikation bleiben in einer interdependenten Welt nicht ohne Auswirkungen auf die nationale Volkswirtschaft, Wohlstand und sozialen Frieden. […] Energiefragen werden künftig für die globale Sicherheit eine immer wichtigere Rolle spielen. […] Deutsche Sicherheitspolitik muss auch Entwicklungen in geografisch weit entfernten Regionen berücksichtigen, soweit sie unsere Interessen berühren. […] Deutsche Sicherheitspolitik beruht auf einem umfassenden Sicherheitsbegriff. Risiken und Bedrohungen muss mit einem abgestimmten Instrumentarium begegnet werden. Dazu gehören diplomatische, wirtschaftliche, entwicklungspolitische, polizeiliche und militärische Mittel, wenn geboten, auch bewaffnete Einsätze. Letztere sind mit Gefahren für Leib und Leben verbunden und können weit reichende politische Folgen nach sich ziehen“ (BMVg 2006). 18 Bundespräsident Horst Köhler auf dem Rückflug von Afghanistan nach Berlin gegenüber Deutschlandradio Kultur, 22.05.2010.

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Schattenboxen Diese Sätze sind möglicherweise etwas ungeschickt formuliert, sie rechtfertigen aber nicht die scharfen Angriffe auf den Bundespräsidenten. Dahinter steckt vielmehr eine Kontroverse, die nicht offen thematisiert wird: Soll Deutschland überhaupt seine nationalen Interessen artikulieren, womöglich durchzusetzen versuchen, und das im Notfall sogar mit Waffengewalt? Ein nicht geringer Teil der politischen Klasse würde diese Frage am liebsten mit einem klaren Nein beantworten. Da sie sich jedoch nicht traut, so ehrlich zu sein, findet ein ständiges „Schattenboxen“ statt. Hinter jeder Aufführung auf der vorderen Bühne (für das schaulustige Volk) findet auf der hinteren, vom Zuschauerraum aus nicht einzusehenden Bühne ein ganz anderes Stück statt. Manchmal erhascht auch der gewöhnliche Sterbliche einmal einen Blick auf das „wahre“ politische Leben, dann nämlich, wenn sich ein Journalist zu weit vorwagt, sei es, dass er nicht eingeweiht (gebrieft) war, was er berichten sollte, sei es, dass er nur in diesen Enthüllungen seine Chance für eine Karriere sah. Nur in solchen seltenen Sternstunden kommt dann heraus, was ein Präsident der Vereinigten Staaten (Richard Nixon) von seinen Wählern hält und mit welchen kriminellen Methoden (Einbruch in den Watergate Complex, um bei einem Psychiater belastendes Material über einen Widersacher zu stehlen) seine Wiederwahl betreibt.19 3.5 Globalisierung Das – in erster Linie virtuelle – Zusammenwachsen der Märkte in der gesamten Welt verändert nicht nur die Warenproduktion und die Konsumgewohnheiten („Mac-World“), sondern auch die Arbeitswelt und die kulturelle Identität der Menschen. Niedriglohn-Kultur Produkte, wie Nokia-Handys, können ebenso in Rumänien wie in Bochum produziert werden. Rumänische Niedriglöhne und Steuernachlässe verlocken die Unternehmen zur Verlagerung, die Subventionen der EU verstärken diesen Effekt noch. In Bochum bleiben 2000 Arbeitnehmer zurück, für die dann die Sozialkassen aufkommen müssen. Die „unheilige Allianz“ von Kommunikationstechnologie, Finanzkapitalismus und Casinomentalität bestimmt die Weltökonomie. Arbeiter sind zu einer „Ware“ geworden, die möglichst billig eingekauft und zu möglichst niedrigen Kosten – ggf. auch in sklavenähnlichen Verhältnissen – gehalten wird. Das Wohlstandsgefälle zwischen der z.T. krassen Armut in den Ländern der südlichen Hemisphäre und dem relativen Wohlstand in den Staaten des Nordens führt zu gigantischen Wanderungsbewegungen. Neben Wanderarbeitern – größtes Ar19

Die Reporter Bob Woodward und Carl Bernstein brachten 1972 mit ihrem Bericht in der Washington Post den Stein ins Rollen, sie erhielten dafür den renommierten Pulitzer-Preis.

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beitsexportland sind die Philippinen – gibt es ein riesiges Heer von illegalen Immigranten, die als billige, weil völlig rechtlose, Arbeitskräfte missbraucht werden können. Globaler Verdrängungswettbewerb Der globale Verdrängungswettbewerb der Länder, Regionen und Städte, die nur noch als Standorte wahrgenommenen werden, und der Arbeitskosten, Sozialstandards und Umweltauflagen ebenso wie Gesundheitsvorsorge, Verwaltungs- und Gerichtsverfahren umfasst, hat vor allem den Sozialstaat in Bedrängnis gebracht. Erschwerend kommt die mangelhafte, fehlende bzw. fehlerhafte Integration auch der Migranten hinzu, die sich legal im Einwanderungsland aufhalten. Hier fehlt es an einer gezielten Integrationspolitik, die bereits im Kindergarten ansetzt und vor allem die Schulen einbezieht. Auf der Grundlage einer soliden Schulbildung muss selbstverständlich auch das Universitätsstudium möglich sein. Am dringlichsten ist allerdings die Bereitstellung von Lehrstellen und Arbeitsplätzen. Bei relativ hoher Arbeitslosigkeit, schwacher Konjunktur und leerer Staatskasse ist das kein einfaches Unterfangen. Die Krise des internationalen Finanzsystems wird diese Probleme noch verschärfen, wenn die Rechnung für die Versäumnisse vergangener Jahre auf den Tisch kommt. Der Beinahe-Staatsbankrott Griechenlands, der nur mit gewaltigen Summen der EU-Mitgliedstaaten, allen voran Deutschland, abgewendet werden kann, wird die Fahrt in den Abgrund noch beschleunigen. 3.6 Terrorismushysterie Seitdem die Zwillingstürme des World Trade Center in New York am 11. September 2001 von al-Qaida mit Hilfe von gekaperten Flugzeugen zerstört worden sind, herrscht in den westlichen Ländern die pure Terrorismushysterie. Was damit zerstört worden ist, war nicht nur das Zentrum der westlichen Welt, sondern auch ein Symbol des Kapitalismus schlechthin. Panikattacken Zum ersten Mal sehen sich die Amerikaner auf ihrem Kontinent einer Gefahr ausgesetzt, der sie buchstäblich nichts entgegenzusetzen haben. Inzwischen löst jeder neue Anschlag eine weitere Panikwelle aus. Diese Angst wird von den Politikern in den USA, aber auch in Europa, dazu genutzt (man könnte auch sagen: geschürt und missbraucht), um immer weitergehende Einschränkungen der individuellen Handlungsfreiheit zu fordern und oft auch durchzusetzen. Da es sich bei dem globalen Terrorismus in erster Linie um eine Strategie islamistischer Netzwerke handelt, die westlichen Gesellschaften zu bedrohen, einzuschüchtern und zu destabilisieren, ist dagegen nur schwer anzukommen. Selbstmordattentäter entziehen sich zudem jeder Abschreckungsstrategie, weil sie ihren eigenen Tod bewusst einplanen, mit Todesdrohungen also nicht einzuschüchtern sind. Kriege in abgelegenen

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Regionen, wie z.B. in Afghanistan, lenken allenfalls zeitweilig von der eigentlichen Problematik ab. Das Beispiel Afghanistan zeigt aber auch, dass mit militärischen Mitteln die Probleme eines gescheiterten Staates nicht zu lösen sind. USPräsident Obama hat das offenbar erkannt und präferiert nun die Beteiligung moderater Talibanführer an einer neuen afghanischen Regierung. Zangenbewegung Der Kampf gegen den Terrorismus im Inland wie bei Auslandseinsätzen wirkt sich nachhaltig auf den Staat und seine Teilbereiche aus: Der Staat verliert gewissermaßen seine „Unschuld“. Der Schutzstaat gerät in das Visier der Terroristen, der Rechtsstaat leidet unter den Antiterrormaßnahmen der Regierung. Der Sozialstaat bricht unter der Last der Aufgaben zusammen, die ihm die Folgen der ungebremsten Globalisierung aufbürden. Der Kulturstaat gerät in eine Zangenbewegung: Auf der einen Seite befinden sich alle nicht angelsächsischen Kulturen in der Defensive gegenüber dem American Way of Life. Beispielhaft zeigt der Umbau der deutschen Universitäten zu zweitklassigen Lehranstalten, der unter dem Schlagwort „Bologna-Prozess“ durchgeführt wird, die negativen Folgen einer blinden Anpassung. Studienabschlüsse der Weltklasse, wie der des Dipl.-Ing., werden ohne Not aufgegeben.20 Auf der anderen Seite verschlingt der weltweite Krieg gegen den Terrorismus – kombiniert mit überdimensionierten „Rettungsmaßnahmen“ auf europäischer Ebene – so große Summen, dass für den Kulturbereich kaum noch etwas übrig bleibt. Das beginnt in den Kommunen, setzt sich aber über die Länder bis zum Bund fort. 4. KRISENHAFTE ENTWICKLUNG Sehen wir uns nun auf dieser Grundlage die krisenhafte Entwicklung des Staates und seiner Teilbereiche etwas genauer an. Dabei zeigt sich sogleich, dass einige Krisenphänomene auf alle Teilbereiche zutreffen, anderen hingegen nur auf wenige oder sogar nur auf einen Teilbereich. 4.1 Krise des Schutzstaates Der Schutzstaat, den die Menschen in der rauen Luft der Globalisierung dringender denn je brauchen, kann leicht zum Überwachungsstaat werden, wenn man den Schutzgedanken zu Lasten der Freiheit ins Maßlose steigert. Es fragt sich dann, wer oder was eigentlich geschützt werden soll. Ist es das politische System als 20 Die führenden neun deutschen Technischen Universitäten haben mit dem „Segen“ der Politik beschlossen, Studiengang und Titel des Dipl.-Ing. wieder einzuführen; lediglich die Technische Universität München hatte erfolgreich Widerstand geleistet und das Diplom für Ingenieure – trotz Verbots – beibehalten.

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Ganzes (Demokratie), sind es einzelne Institutionen, oder sind es die gegenwärtigen Amtsinhaber, Parteipolitiker, die den Verlust ihrer Machtposition befürchten. Die im Zuge der RAF-Hysterie der 1970er Jahre verordneten Einschränkungen von Freiheitsrechten waren möglicherweise in der damaligen Situation gerechtfertigt, heute sind sie es gewiss nicht mehr. Dennoch wurden sie nie zurückgenommen und gelten immer noch fort. Heute ist der transnationale Terrorismus der äußere Anlass oder zumindest der Vorwand für die Staatsschützer, grundsätzlich jedem Menschen zu misstrauen und ihn unter Generalverdacht zu stellen. Die technischen Möglichkeiten bieten hierfür heute Mittel an, von denen George Orwell noch keine Vorstellung hatte, als er sein Buch 1984 schrieb, in dem der totale Überwachungsstaat (Big brother is watching you!) geschildert wird. Konnte Orwells negative Vision in den Zeiten des Kalten Krieges noch als totalitärer Irrweg von Kommunisten (sowie von Faschisten und Nationalsozialisten) abgetan werden, so sind es heute auch die westlichen Demokratien, die den Big Brother-Virus nicht mehr loswerden können. Denn der weltweite Krieg gegen den Terrorismus ist auf Dauer angelegt, ein Ende ist nicht in Sicht. Angesichts immer neuer Horrormeldungen, die sogleich massive Verschärfungen der Sicherheitsvorkehrungen „erfordern“, stumpfen die Menschen allmählich ab. Fast jeder nimmt es resignierend hin, dass seine Auslandsüberweisungen über SWIFT den amerikanischen Behörden (FBI, CIA etc.) gemeldet werden. Es erscheint als symptomatisch, dass die EU-Gremien diesem Verfahren noch vor Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags zugestimmt haben. Denn man konnte kaum davon ausgehen, dass das Europäische Parlament, dessen Beteiligung nunmehr vorgeschrieben ist, dem zustimmen würde. Jetzt hat die EU – auf Initiative des Europäischen Parlaments – immerhin einen neuen Vertrag mit den USA ausgehandelt, der die Rechte der EU-Bürger zumindest formal besser schützt. U.a. schreibt das neue Abkommen vor, dass die Daten nur zur Bekämpfung des Terrorismus verwendet werden dürfen. Der EU-Vertreter kann jede Suchanfrage blockieren, die er für illegal erachtet. Ein US-Gesetz muss ein Recht auf Beschwerde vorsehen, das unabhängig von der Nationalität gilt. Ob das alles wirklich funktionieren wird, bleibt abzuwarten. Skepsis ist durchaus angebracht. Die von den Europäern bisher gemachten Erfahrungen mit den zahlreichen Auslands- und Inlandsgeheimdiensten der Amerikaner wirken nicht gerade ermutigend. Immerhin scheint innenpolitisch das elektronische Entgeltnachweis-Verfahren (ELENA), mit dem eine zentrale Speicherung von Arbeitnehmerdaten und die Nutzung durch staatliche Stellen ermöglicht werden sollte, vor allem aus Kostengründen „auf Eis gelegt“ zu sein. 4.2 Krise des Rechtsstaates Der Rechtsstaat ist ein überaus kostbares Gut, denn ohne ihn gibt es keine wirkliche Demokratie. Er kann jedoch ohne weiteres zum Gesetzgebungs- und Rechtswegestaat werden, der jede Initiative im Keim erstickt. Dann ist alles verboten, was nicht ausdrücklich erlaubt ist.

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Engagement für den Rechtsstaat? Die Verrechtlichung erfasst alle Lebensbereiche, und – ähnlich wie bei der Einführung neuer Steuern – wird selten eine Regelung wieder zurückgenommen. Wer könnte hier Abhilfe schaffen – natürlich die Politiker, wenn sie denn wollten. Da die rechtsstaatlichen Fesseln den Mächtigen aber ohnedies lästig sind, engagieren sie sich kaum jemals für den Rechtsstaat. Vielmehr sehen sie desinteressiert zu, wie das rechtsstaatliche Fundament unterminiert wird. Manchen ist es auch gar nicht so unlieb, wenn die negativen Effekte eskalieren, weil sie sich dann selbst großzügig von der Befolgung dieser „unsinnigen“, zumindest aber störenden Regeln frei stellen können. Der jüngste Bruch des Lissabon-Vertrages zeigt den leichtfertigen Umgang mit dem Recht. Das ausdrückliche Verbot, die Schulden eines anderen Mitgliedstaates zu übernehmen (Bailout-Klausel), wird leichter Hand beiseitegeschoben. Die vertraglich festgeschriebene Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank (EZB) wird mit einem Federstrich drastisch eingeschränkt. Die EZB wird genötigt, Staatsanleihen derjenigen Mitgliedstaten der Eurozone in ihr Portfolio zu nehmen, die ihre Schulden offensichtlich nicht bedienen können (sog. Schrottpapiere). Missachtung des Rechtsstaats Sucht man nach Beispielen für die krasse Missachtung des Rechtsstaats, dann braucht man nicht weit zu gehen. Der italienische Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi ist geradezu berüchtigt für seine Gesetze, mit denen er sich selbst – mit Hilfe einer ihm ergebenen Politikertruppe – Amnestie für die ihm zur Last gelegten Straftaten verschaffen will. Jetzt hat er seine Abneigung gegen die Richter damit auf die Spitze getrieben, dass er die Verfassungsrichter als „rot“ und „kommunistisch durchsetzt“ und schließlich sogar als „Taliban-Bande“ diskreditiert hat.21 Das italienische Verfassungsgericht hatte das sog. Immunitätsgesetz, das Berlusconi im Jahre 2008 durch das Parlament gebracht hatte, um den vier höchsten Staatsämtern, u.a. ihm selbst, juristische Unantastbarkeit zu verschaffen, als verfassungswidrig aufgehoben. Die gegen ihn anhängigen Strafverfahren wegen Steuervergehen, Korruption, Bestechung von Senatoren etc. können nun wieder aufgenommen werden. Der Versuch Berlusconis, sich und seinen Ministern per Gesetz das Recht zuzugestehen, auch ohne die Zustimmung des zuständigen Richters nicht im Gerichtssaal erscheinen zu müssen,22 hat jedoch offenbar Erfolg gehabt. Richterschelte fällt den Politikern aber auch bei uns umso leichter, als sie ja wissen, dass die Menschen kaum jemals bereit sind, die – scheinbar abstrakten – Errungenschaften des Rechtsstaates zu verteidigen. Sie kennen sie nicht oder wis-

21 Spiegel-Online, 26.02.2010. 22 Spiegel-Online, 20.05.2010.

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sen sie jedenfalls nicht zu schätzen. Zudem ist ihnen das Recht, vor allem aber die Denkweise der Juristen fremd. Umkehrung der Beweislast Oft hört man die Bemerkung, man selber lasse sich ja nichts zuschulden kommen, brauche daher den Schutz des Rechtsstaates auch nicht. Werden die Bürger aber – wie heute im Zeichen der Terrorismusabwehr – als das eigentliche Sicherheitsrisiko angesehen,23 dann werden ihre Aktivitäten mit Kameras überwacht, ihre Pässe am Flughafen eingescannt und ihre Handy-Gespräche gespeichert. Kombiniert mit der Erfassung von Autokennzeichen an beliebigen Durchgangsstraßen, der Ortung von Handys und der Auswertung von Nutzungsdaten von Kreditkarten kann man Bewegungsprofile erarbeiten, von denen selbst das Ministerium für Staatssicherheit (Stasi) der DDR nur hätte träumen können. Dieser Albtraum ist nun dabei, Wirklichkeit zu werden. Es ist vor allem die Umkehrung der Beweislast, die Sorgen macht. Denn wenn die Menschen erst einmal unter dem Generalverdacht stehen, irgendwann und irgendwo eine Straftat begangen zu haben oder auch nur begehen zu wollen, dann müssen sie nachweisen, dass sie nichts mit dem Gesuchten zu tun haben oder dass sie zur Tatzeit nachweislich an anderer Stelle (Alibi) waren. Bei politischen Großereignissen (Gipfeltreffen) kommt noch hinzu, dass Richter und Staatsanwälte allzu schnell bereit sind, die „üblichen Verdächtigen“ zunächst einmal aus dem Verkehr zu ziehen, um jede mögliche Gefährdung zu vermeiden. Ein solches Verfahren der „Vorbeugehaft“ ist eines Rechtsstaates jedoch nicht würdig. 4.3 Krise des Sozialstaates Der Sozialstaat soll die Sehnsucht der Menschen nach sozialer Gerechtigkeit stillen. Zwar kann durchaus darüber gestritten werden, was unter sozialer Gerechtigkeit zu verstehen ist. Die Menschen wissen aber genau, was sozial ungerecht ist, z.B. dass ihr Haus zwangsversteigert wird, wenn sie ihre Hypothekenzinsen nicht mehr bezahlen können, gleichzeitig jedoch die Verluste von Banken aus dem Ankauf „fauler“ Immobilienpapiere mit Milliardenbeträgen aus Steuergeldern ausgeglichen werden. Es steht natürlich außer Zweifel, dass nicht jeder etwas oder gar gleichviel bekommen kann, unabhängig davon, ob und wie viel und mit welcher Qualität er arbeitet bzw. sich anstrengt. Umgekehrt muss ein Arbeitnehmer von dem Lohn, den er für seine Arbeit erhält, aber auch leben können. Der wachsende Abbau von versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen zugunsten von Minijobs ist demgegenüber das krasse Gegenteil. Eines des hässlichsten Worte dieser Hartz IV-Ära ist „Aufstocker“. Gemeint ist ein Mensch, der von den Behörden Zusatzleistungen (früher: ergänzende Sozialhilfe) erbitten muss, weil sein Arbeitseinkommen unterhalb der Grundsicherung liegt. Niemand scheint sich Ge23 Voigt 2009, S. 101–116.

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danken darüber zu machen, wie sich ein solcher Mensch fühlt und was das für sein Selbstwertgefühl bedeutet. Neoliberales Effizienzdenken Der Sozialstaat, der „schon aus Legitimationsgründen“ für die soziale Sicherung sorgen muss,24 zeigt deutliche Symptome der Überforderung, auch wenn es bei der sozialen Gerechtigkeit nicht um Gleichmacherei geht. Als verlässlicher Schutzschild für die sozial Benachteiligten hat er abgedankt, seit der Neoliberalismus sich mit seinem Effizienzdenken durchgesetzt hat. Guido Westerwelle hat in diesem Zusammenhang von „spätrömischer Dekadenz“ gesprochen und damit vor allem gezeigt, dass ihm die Geschichte der Spätantike nur sehr lückenhaft präsent ist. Andere haben sich deutlicher ausgedrückt und von „Sozialschmarotzern“ gesprochen: „Es gibt kein Recht auf staatlich bezahlte Faulheit!“ Dabei bleibt jedoch zunächst unklar, ob alle Hartz IV-Empfänger gemeint sind oder nur diejenigen, die Leistungen zu Unrecht beziehen. Eine einfache Rechnung, die von einem (grob geschätzten) Anteil dieser Gruppe von zehn Prozent an der Gesamtzahl der Hartz IV-Empfänger ausgeht, kommt auf einen Schaden von jährlich 3,6 Mrd. Euro. Stellt man dem den Schaden gegenüber, der jährlich allein durch die Hinterziehung der Umsatzsteuer (Mehrwertsteuer) entsteht, dann ergibt sich daraus als Minimum die zehnfache Summe. Die Schätzungen reichen dabei von 30 Mrd. Euro (Steuergewerkschaft) bis 100 Mrd. Euro (so der ehemalige Bundesfinanzminister Steinbrück).25 Steuerhinterziehung – Die neue Freiheit? Die neue Freiheit bedeutet, dass die auch die ideellen Grenzen ohne Rücksicht auf die Folgen niedergerissen werden. Keine Begrenzung für Spekulationsgewisse und Managereinkünfte (einschließlich sog. Boni) nach oben, keine Begrenzung für Löhne und Renten nach unten. Gleichzeitig wird das Risiko von Fehlspekulationen und falschen Entscheidungen sozialisiert, während die Gewinne in private Taschen fließen. Die Veränderung der Gesellschaft macht sich in vielen Bereichen bemerkbar. Die Spitzenverdiener nutzen sog. Steuerschlupflöcher, um dem deutschen Fiskus zu entfliehen. Die Steuern für die abhängig Beschäftigten werden hingegen in voller Höhe bereits vom Arbeitgeber abgezogen und an das Finanzamt abgeführt, für diese Arbeitnehmer gibt es keine Schlupflöcher. Der zivile Ungehorsam der Hilflosen schlägt sich in kleinen Betrügereien nieder. Und vermehrt beschreiten die unzufriedenen Bürger einen anderen Weg, der den Regierenden gar keine Freude bereitet: sie wählen die so genannte Linke. Damit bereiten sie den Regierenden am meisten Kopfzerbrechen, weil damit die einfachen 24 Habermas 2008, S. 111. 25 Blog-zeit.de/herdentrieb/2010/01/009/wer-sind-die-sozailschmarotzer_1289, Zugriff am 11. 7. 2010.

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Rechenexempel bei der Bildung von Koalitionen erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht werden. Das Beispiel Nordrhein-Westfalen zeigt, dass in einem Fünf-Parteien-Parlament die Möglichkeiten zur Regierungsbildung stark eingeschränkt sind. Will man eine Große Koalition vermeiden, kommen nur noch sog. Ampelkoalitionen oder Minderheitsregierungen in Betracht. 4.4 Krise des demokratischen Staates Die Krise des demokratischen Staates hat viele Facetten und Erscheinungsformen. Neben einer Vertrauenskrise, die vor allem das Finanzsystem betrifft, gibt es eine Glaubwürdigkeitskrise der Politik. Einer Europakrise steht eine Sicherheitskrise gegenüber. Möglicherweise am schwersten zu beheben ist allerdings die Selbstverständniskrise, welche die Deutschen – freilich nicht erst seit heute – befallen hat. Wie stehen die Deutschen zu ihrem Vaterland? Ist das Zeigen der Deutschlandfahne nur bei (Fußball-) Weltmeisterschaften erlaubt, oder dürfen die Deutschen sich auch bei anderen Anlässen sichtbar zu ihrem Land bekennen? Vertrauenskrise Die Menschen haben das Vertrauen zu den früher besonders geachteten Bankiers als den „ehrlichen und ehrbaren Kaufleuten“ verloren, seit auch die Manager „seriöser“ Banken behaupten, sie hätten ihre Kunden ordnungsgemäß beraten, als sie ihnen (wertlose) Lehman-Papiere aufschwatzten. Die in Aussicht gestellten Gewinnmargen (teilweise 30%) hätten die Kleinanleger misstrauisch machen sollen, freilich sind auch erfahrene Großanleger darauf hereingefallen. Gerade den ungeübten Kleinanlegern war vermutlich nicht klar, dass es sich nicht um eine totsichere Anlage handelte, sondern dass sie das eingesetzte Geld auch verspielen konnten. Selten sind Menschen gutgläubiger als in Situationen, in denen hoher Profit winkt. Viele Deutsche haben auf diese Weise aber ihre Ersparnisse verloren und verstehen nicht, dass die Verantwortlichen ungeschoren davonkommen. Ja, dass sie sich – im Gegenteil – auch noch fette Gewinne in Form von Boni, Abfindungen und Aktienoptionen in die Taschen stecken. Das böse Wort von den „Banksters“ geht um.26 Auf der anderen Seite wurde – durch den Ankauf gestohlener Daten Liechtensteiner und Schweizer Banken – für jedermann sichtbar, dass reiche Deutsche – z.T. mit der Unterstützung deutscher Banken – massenhaft Steuerbetrug begangen haben, indem sie ihr Geld nicht versteuert, sondern am Finanzamt vorbei ins Ausland geschafft haben. Und vollends unverständlich ist es, dass diejenigen Steuerhinterzieher, die sich „rechtzeitig“ selbst anzeigen, vollkommen straffrei bleiben und lediglich die hinterzogenen Steuern nachzahlen müssen.

26 Chris Whalen, Managing Direktor des Risikospezialisten Institutional Risk Analysis, im Gespräch, FAZ vom 16.02.2010, S. 18.

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Glaubwürdigkeitskrise Zugleich hat die Glaubwürdigkeit der Politik nachhaltig gelitten, seitdem sich – immer sichtbarer – vollmundige Wahlversprechen als bloße „Luftnummern“ entpuppen. Der Politik wird nicht mehr zugetraut, auch nur die drängendsten Probleme der Gesellschaft lösen zu können. Angesichts einer Gesamtverschuldung von ca. 1,7 Billionen Euro und einer Neuverschuldung von etwa 80 Milliarden Euro allein für dieses Jahr sieht selbst der naivste Mensch ein, dass sich weitere Steuererleichterungen in zweistelliger Milliardenhöhe nicht finanzieren lassen. Selbst die FDP konnte sich schließlich dieser (simplen) Erkenntnis („MilchmädchenRechnung“) nicht verschließen. Notwendige Investitionen in die Zukunft unserer Kinder unterbleiben demgegenüber schon jetzt, der Geldmangel wird diese Tendenz der Unterfinanzierung des Bildungssystems noch verschärfen. Der Fehlstart der schwarz-gelben Bundesregierung hat die Menschen weiter verunsichert. Wobei das Wort „Fehlstart“ fälschlicherweise so klingt, als ob die Regierung demnächst wieder Tritt fassen würde. Das ginge freilich nur nach einem (geglückten) Neustart, den jedoch kaum jemand für wahrscheinlich hält. Jeder Politiker scheint nur seinen eigenen Vorteil und allenfalls noch den seiner Partei im Blick zu haben. Das Gemeinwohl, also das Wohl aller, bleibt dabei auf der Strecke. Hans-Jürgen Papier, der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hat von „Zuschauer-Demokratie“ gesprochen und das gemeint, was Andere längst Post-Demokratie nennen, nämlich das allmähliche Unterspülen der demokratischen Fundamente des Staates.27 Das Volk wird dabei in die Rolle eines bloßen Zuschauers beim Politiktheater gedrängt, der sich lediglich unterhalten lassen, aber nicht selbst eingreifen kann. Europakrise Die „Erfolgsgeschichte“ der europäischen Integration, die durch den Höhenflug des Euro eindrucksvoll bestätigt zu sein schien, hat einen deutlichen Dämpfer erhalten. Mit dem nur mühsam und allenfalls vorläufig abgewendeten Staatsbankrott Griechenlands wird deutlich, dass vor allem die Deutschen sich Illusionen über das Projekt Europa gemacht haben. Griechenland erhält in den nächsten drei Jahren Notfallkredite von den Staaten der Eurozone sowie vom Internationalen Wahrungsfonds. Diese Kredite soll Griechenland mit einer Verzinsung von 5% zurückzahlen. Gerade da liegt jedoch das Problem: Sollte sich die wirtschaftliche Lage in Griechenland nicht erheblich verbessern, sondern sogar verschlechtern (und dafür spricht Einiges), dann gibt es keine ordnungsgemäße Rückzahlung. Wenn etwas „Gras“ über die Sache „gewachsen“ ist, werden diese Kredite dann vermutlich in einem Schuldenmoratorium zunächst „gestreckt“ und schließlich ganz „gestrichen“. Den Schaden tragen die Steuerzahler allein, da sie (bzw. der Staat) ja die Bürgschaft für diese „faulen“ Kredite übernommen haben. 27 Vgl. Crouch 2009; Hirsch/Voigt (Hg.) 2009.

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In der Vergangenheit haben nicht nur die Griechen getrickst, um die strengen wirtschaftlichen Kriterien – scheinbar – zu erfüllen. Mit jeder Erweiterungsrunde ist vielmehr auch die Substanz der Europäischen Union (die sog. Aquis Communautaire) immer geringer („dünnflüssiger“) geworden. Es gibt ein massives Demokratiedefizit, und das betrifft nicht nur das Europäische Parlament. Anstelle der politisch Verantwortlichen sind es nämlich die hoch bezahlten Brüsseler Bürokraten und Richter des Europäischen Gerichtshofs, die für eine ständige Ausweitung der Kompetenzen – zu Lasten der nationalen Parlamente – sorgen. Da es einen europäischen „demos“ nicht gibt, bleibt das Volk bei der europäischen Integration gewissermaßen „draußen vor der Tür“. Nur in den Ländern, in denen ein Referendum vorgesehen ist, Kann das Volk seinen Willen zum Ausdruck bringen. Eine Vertiefung der Integration scheint nur um den Preis verstärkter Zentralisierung und Bürokratisierung zu haben zu sein. Spätestens mit dem Beitritt der Türkei – und damit von knapp 72 Millionen Muslimen – müssten wir den Gründungsmythos Europa wohl endgültig zu Grabe tragen.28 Sicherheitskrise Die wichtigste Legitimationsgrundlage für einen starken Staat ist der Schutz seiner Bürgerinnen und Bürger vor Gefahr. Im Innern sind die Menschen beunruhigt durch brutale Überfälle in der U-Bahn, Drogenhandel auf offener Straße, Mädchenhandel und Kindesmissbrauch. Lässt der Staat dies geschehen, wird er – nicht zu Unrecht – als hilflos und schwach angesehen. Seine – oft überzogenen – Abwehrmaßnahmen gegen die Aktivitäten von Terroristen werden hingegen immer kritischer beobachtet. Denn der Staat begegnet den tatsächlichen wie den eingebildeten Gefahren unter dem Stichwort „Abwehr des internationalen Terrorismus“ in erster Linie mit der lückenlosen Überwachung seiner Bürgerinnen und Bürger. Die online-Durchsuchung privater Computer zeigt das besonders deutlich. Dass vielen Politikern das Misstrauen gegen die eigenen Bürger geradezu als selbstverständlich erscheint, zeigt das Beispiel ELENA (elektronischer Entgeltnachweis), wo auch sensible Daten der Arbeitnehmer, wie Krankheitstage und Streikteilnahme, gespeichert werden sollten.29 Die verdachtslose Vorratsdatenspeicherung hat das Bundesverfassungsgericht zwar nicht verboten, aber doch unter Vorbehalt gestellt. Eingriffe in das Telekommunikationsgeheimnis sind nur dann verfassungsgemäß, „wenn sie legitimen Gemeinwohlzwecken dienen und im Übrigen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen“.30 Dieses Schutz im Inland wird allerdings dadurch unterlaufen, dass die amerikanischen Terrorfahnder immer mehr Daten von den Europäern 28 Für diesen Beitritt hat sich soeben der neue britische Premierminister David Cameron bei einem Türkeibesuch ausgesprochen. 29 Dieses Vorhaben ist allerdings aus Geldmangel aufgegeben worden. 30 BVerfG, 1 BvR 256/08 vom 2.3.2010 unter Bezugnahme insbesondere auf BVerfGE 100, 313 und 109, 279 (sowie weitere Entscheidungen, ständige Rechtsprechung).

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verlangen, die in die USA reisen wollen. Wie sie diese Daten verwenden, wem sie zugänglich gemacht und wie lange sie gespeichert werden, kann von Europa aus kaum wirkungsvoll nachgeprüft werden, obwohl das neue Abkommen der EU Nachprüfungs- und Klagemöglichkeiten vorsieht. Selbstverständniskrise Jedes Gemeinwesen muss über ein (Ideal-) Bild von sich selbst verfügen, an dem es seine Aktivitäten ausrichten kann. Das Selbstbild der Bundesrepublik Deutschland war bislang das einer friedensorientierten Nation, die – auch unter Hintanstellung ihrer eigenen nationalen Interessen – dem Frieden auf der Welt dienen wollte. Der Text der Präambel des Grundgesetzes von 1949 lässt hieran gar keinen Zweifel: Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, […] dem Frieden der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk […] dieses Grundgesetz der Bundesrepublik beschlossen.

Kann dieser Frieden nur mit Waffengewalt, oder wie die frühere EKD-Ratsvorsitzende Bischöfin Käßmann meinte, nur ohne Waffen realisiert werden? Der Konflikt in Afghanistan, der längst zu einem asymmetrischen Krieg eskaliert ist,31 lässt sich mit einem pazifistischen Selbstverständnis kaum vereinbaren, allerdings auch nicht lösen. Bundeswehrsoldaten agieren nicht mehr als bewaffnete Entwicklungshelfer, sondern als aktive Teilnehmer an einem Krieg, sie stehen vor der Entscheidung, den Feind zu töten müssen oder von ihm getötet werden. Das ist für viele Deutsche immer noch schwer vorstellbar und kaum zu akzeptieren. 4.5 Krise des Kulturstaates Der Kulturstaat steht und fällt mit der Bildung seiner Bürger und Bürgerinnen. Diese Bildung soll die jungen Menschen befähigen, „mündige Bürger“ zu werden. Die deutschen Schulen und Hochschulen haben aber ihren guten Ruf längst verloren. Nicht nur die PISA-Studien haben gezeigt, dass das Bildungssystem in Deutschland mittlerweile zu den Schlusslichtern in Europa gehört. Zudem hat die UNESCO festgestellt, dass die Chancengleichheit von Kindern mit Migrationshintergrund in deutschen Schulen nicht ausreichend gewahrt wird. Gleichzeitig sinkt das Bildungsniveau in beängstigendem Maße. Vor allem das Schul- und Vorschulsystem muss einer sorgfältigen Überprüfung unterzogen werden. Und es ist fraglich, ob die Abiturnote das geeignete Kriterium für den Zugang zu universitären Studiengängen ist. Soll wirklich jemand, der den Leistungskurs Mathematik „abgewählt“ hat, problemlos zum Mathematik- oder Physikstudium zugelassen werden? Auch wenn einige Länder bereits seit längerer Zeit ein Zentralabitur 31 Vgl. Voigt 2008.

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durchführen und andere Länder dies nunmehr eingeführt haben, fehlt es doch an einer deutschlandweiten Vergleichbarkeit des Abiturzeugnisses. Der künstlich am Leben gehaltene Bildungsföderalismus ist vor allem im Hochschulbereich kontraproduktiv. Reform der Reform Die Universitäten sind zudem durch den sog. Bologna-Prozess, den die Kultusminister der Länder verabredet haben, hoffnungslos blockiert. Mit ihm sollte Transparenz der Studiengänge, der Wechsel an eine andere europäische Universität und die Anerkennung von Abschlüssen erreicht werden. Tatsächlich muss jedoch ständig nachgebessert werden, ohne dass sich die Situation tatsächlich entschärfen würde. Die Studierenden sind von der schieren Stofffülle überfordert, die Lehrenden kommen zu kaum etwas Anderem mehr, als Modulhandbücher auszuarbeiten und akribisch zu befolgen. Die Abbrecherquote bei den neuen BachelorStudiengängen ist höher als sie in den alten Studiengängen war. Die Versprechen der Politiker, dass die deutschen Abschlüsse nach Abschluss des BolognaProzesses europaweit (wenn nicht weltweit) anerkannt würden, erweisen sich als hohle Worte. Es ist kaum zu verstehen, was die Bildungspolitiker dazu bewogen hat, eine sog. Reform in Gang zu setzen, deren Folgen für die Universitäten zum Zeitpunkt ihrer (zwangsweisen) Umsetzung nicht bekannt waren. Einleuchtender erscheint der Gedanke, dass es die Finanzpolitiker waren, die mit sechssemestrigen Bachelor-Studiengängen für alle und Master-Studiengänge für nur wenige Studierenden den Landeshaushalt entlasten wollten. Dieses Vorhaben wurde erst dadurch möglich, dass sich der Blick der Bildungsökonomen und -politiker auf eine bloße Verwertbarkeit (Emplyability) bestimmter Zertifikate verengt hat,32 Bildung wird so zur bloßen Ausbildung. Wer frühzeitig vor den Folgen warnte, wurde verlacht und nicht ernst genommen, wer nicht mitmachen wollte, wurde mit Mitteln des Disziplinarrechts dazu gezwungen. Dass gleichzeitig die finanzielle Attraktivität des Professorenberufs durch die W-Besoldung (insbesondere bei W 2) so krass abgewertet wurde, verschlimmert die Lage der Universitäten unnötig. Noch stehen hervorragend qualifizierte Wissenschaftler zur Verfügung, die sich bereits solange auf den Beruf des Hochschullehrers vorbereitet haben, dass sie kaum einen anderen Beruf wählen können/werden. Aber das wird sich sehr bald ändern, wenn jedermann klar ist, dass – bei gleichem Arbeitseinsatz – der Beruf des Anwalts, Steuerberaters, Arztes, Ingenieurs oder Informatikers deutlich lukrativer ist als der des Professors.

32 Hartmann/Geppert 2008, S. 12.

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5. AM SCHEIDEWEG Wir sind offenbar an einem Scheideweg angelangt, an dem noch nicht recht erkennbar ist, in welche Richtung es geht. Und niemand scheint einen Plan zu haben. Im schlimmsten Fall könnte es dazu kommen, dass der Staat den ihm verbliebenen Handlungsspielraum gegenüber den Gesetzmäßigkeiten und den Akteuren des globalen Finanzkapitalismus ganz oder zumindest weitgehend einbüßt. Im (aus meiner Sicht) besten Fall wäre es aber auch möglich, die souveräne Entscheidungsmacht des Staates soweit zu zurückzuerobern, dass der Staat dem Finanzsystem etwas entgegen zu setzen hätte. Dabei sollte man nicht vergessen, dass es die Staaten waren, welche die Bedingungen für hochspekulative Finanztransaktionen geschaffen haben. So hat z.B. erst die Regierung Schröder sog. Leerverkäufe zugelassen und den Hedgefonds den Weg bereitet. Verlust des Monopols Solche Regelungen ließen sich dann zurücknehmen, wenn es gelänge, den Einfluss der Interessenverbände auf die Parlamentarier – z.B. durch rigorose Inkompatibilitätsvorschriften und Offenlegungspflichten – zurückzudrängen. Langfristig muss der Parteienstaat wieder zu einem demokratischen Rechts-, Sozial- und Kulturstaat umgebaut werden. Damit verbunden ist einerseits eine Neudefinition der Rolle der politischen Parteien in Staat und Gesellschaft. Gemäß Artikel 21 des Grundgesetzes sollen sie selbstverständlich weiter an der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken, indem sie Wahlen organisieren, Personal rekrutieren etc. Sie dürfen aber nicht länger Monopolisten der politischen Willensbildung bleiben. Und vor allem muss den Parteien die Besetzung von Spitzenpositionen in Staat und Gesellschaft, die parteipolitische Neutralität und Unabhängigkeit voraussetzen, aus der Hand genommen werden. Es ist nicht einzusehen, warum die Richter des Bundesverfassungsgerichts – auf dem Umweg über Bundestag bzw. Bundesrat – von den etablierten Parteien – wenn auch im Konsens einer Zweidrittelmehrheit – bestimmt werden müssten. Ähnliches gilt für den Generalbundesanwalt und den Präsidenten des Bundesrechnungshofes. Der bei allen Parteien beliebten Praxis, mehr oder weniger verdiente Politiker in den Vorstand von Landesbanken zu schieben, kann am besten dadurch Einhalt geboten werden, dass man die Landesbanken abschafft. Staat als Akteur Erst wenn der Staat sich aus dem Würgegriff der Parteien befreit hat und dem Volk wieder den ihm als einzigem Souverän rechtmäßig zustehenden Platz eingeräumt hat, kann er auch wieder selbstbewusst auf europäischer wie internationaler Bühne agieren. Dazu gehört die Volkswahl des Bundespräsidenten ebenso wie die Einführung eines Referendums bei Entscheidungen von existentieller Bedeutung für die Nation. Das bedeutet freilich auch den Abschied von lieb gewordenen Kli-

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schees, die mit dem Scheitern der Weimarer Republik verknüpft werden. Berlin ist nicht Weimar! Es ist also müßig, stets die (viel zu wenigen) Debatten um die deutsche Verfassung mit Argumentationsfiguren zu belasten, die vorgeben, eine Situation zu analysieren, die fast 80 Jahre zurückliegt. Daraus Konsequenzen für ein Deutschland ziehen zu wollen, in dem zu Beginn des 21. Jahrhunderts ganz andere ökonomische, politische und soziale Voraussetzungen herrschen als die Weimarer Republik und zudem ganz andere Menschen leben, ist ganz einfach unangemessen.

2. TEIL STAAT UND GESELLSCHAFT

STAAT UND RELIGION Ein schwieriges Verhältnis Das Verhältnis von Staat und Religion zueinander ist für jedes Gemeinwesen von zentraler Bedeutung. Nur wenn beide Sphären ihren Alleinvertretungsanspruch zugunsten von Toleranz und gegenseitigem Respekt aufgeben, kann es zu einem gedeihlichen Miteinander kommen. In Europa war dieser Entwicklungsprozess bis zum 20. Jahrhundert relativ weit vorangekommen.1 Max Weber (1864–1920) hat von der Trennung der Wertsphären gesprochen, und Niklas Luhmann hat später (1927–1998) die Ausdifferenzierung der Gesellschaft als entscheidendes Entwicklungsmerkmal moderner Systeme konstatiert.2 Auf Staat und Religion bezogen bedeutet das, dass sich die Sphären von Religion und Wissenschaft, Religion und Wirtschaft, Religion und Politik, also auch von Religion und Staat, voneinander getrennt haben. Dieser Prozess scheint – zumindest in Europa – unumkehrbar zu sein. Für uns ist es jedenfalls kaum vorstellbar, dass sich die Differenzierung der Gesellschaft rückgängig machen ließe. Allerdings ist die Trennung in den meisten Staaten nicht so strikt, als dass Staat und Politik religionsfreie Räume wären. Umgekehrt kann die Religion durchaus politisch instrumentalisiert werden, z.B. um damit moralischen Druck auf staatliche Institutionen auszuüben. Die Kontroverse zwischen der Bundesjustizministerin Sabine LeutheusserSchnarrenberger und dem Vorsitzenden der Bischofskonferenz Robert Zollitsch im Februar 2010 zeigt die Probleme des Verhältnisses zwischen Staat und katholischer Kirche wie in einem Brennglas. Diese Kontroverse fand vor dem Hintergrund großer öffentlicher Aufregung über Fälle von sexuellem Missbrauch durch katholische Geistliche statt. Die Justizministerin sagte dazu in einem Tagesthemen-Interview, die katholische Kirche erwecke bislang nicht den Eindruck, dass sie bei Verdachtsfällen mit den Strafverfolgungsbehörden konstruktiv zusammenarbeiten wollte. Es ging dabei um die bis dahin übliche Praxis kirchlicher Behörden, solche Fälle intern nach kirchenrechtlichen Maßstäben zu behandeln und – wegen des zu erwartenden Imageschadens – weder die Staatsanwaltschaft noch die Öffentlichkeit bereits frühzeitig darüber zu informieren. Erzbischof Zollitsch reagierte mit einer scharfen Antwort: „Noch nie habe es eine ähnlich schwerwiegende Attacke auf die katholische Kirche gegeben“.3 Die Ministerin müsse sich schriftlich entschuldigen. Freilich kannte der Bischof zu diesem Zeitpunkt möglicherweise das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs4 und die Empörung der katholischen Laien darüber noch nicht. Wenig später hatte sich das Thema „offizielle 1 2 3 4

Lübbe 2003. Weber 1972, Luhmann 1998. Spiegel-online vom 23.2.2010. In seiner Predigt zum Abschluss des Priesterjahres am 11. Juni 2010 hat Papst Benedikt XII. „Gott und die betroffenen Menschen inständig um Vergebung“ gebeten.

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Entschuldigung“ jedenfalls erledigt, ohne dass die Ministerin hatte „zu Kreuze kriechen“ müssen. 1. SÄKULARISIERUNG DER HERRSCHAFT Bei „Staat“ und „Religion“ haben wir es mit zwei Begriffen zu tun, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Aber auch die Begriffe selbst changieren. Weder kann man zeit- und ortsunabhängig von dem Staat, noch von der Religion sprechen. Vielmehr muss zunächst geklärt werden, von welchem Staat und von welcher Religion die Rede sein soll. Dazu ist einerseits eine Ortsbestimmung vorzunehmen, andererseits der Zeitraum anzugeben, der hier gemeint ist. Im Folgenden soll es um Europa, insbesondere um Deutschland, gehen, die hier interessierende Zeitspanne betrifft die letzten fünfhundert Jahre. Letztlich geht dabei um die Frage nach dem Platz der Religion im öffentlichen Raum. 1.1 Europas Tradition Europa ist von einer christlich-abendländischen Tradition geprägt, die ein wesentlicher Bestandteil europäischer Identität ist. Allerdings ist diese Tradition theoretisch durch die Aufklärung und politisch-praktisch durch die Französische Revolution in Frage gestellt worden. Gerade in unserer Zeit ist das Verhältnis des Staates zur Religion problematisch. Zum einen sehen sich die christlichen Kirchen – z.B. in Deutschland – einem schier unaufhaltsamen Mitgliederschwund gegenüber, zum anderen nimmt die Zahl der Religionen in Deutschland und Europa ständig zu. Vor allem das Verhältnis der Muslime, der zahlenmäßig stärksten Gruppe der nichtchristlichen Gläubigen, zur Religion ist deutlich enger als das der Christen. Das Christentum steht bei unseren Überlegungen zwar im Mittelpunkt, daneben muss aber auch vom Islam und von Zivilreligionen die Rede sein. Hierbei geht es vor allem um die auf Jean-Jacques Rousseau (1712−1778) zurückgehende Zivilreligion, die im Denken vieler westlicher Intellektueller einen immer breiteren Raum einnimmt. Ihr Hauptbezugspunkt sind die Menschenrechte, denen eine quasi-religiöse Bedeutung zugemessen wird. Der britische Philosoph John Gray hat kürzlich auf den Zusammenhang mit dem Fortschrittsglauben hingewiesen: Das westliche Denken hat so etwas wie einen säkularen Monotheismus entwickelt. Die Idee des Fortschritts in der Geschichte ist der ins Säkulare gewendete Glaube an die Vorsehung im Judaismus.5

Demgegenüber spielen sog. Pseudoreligionen seit dem Untergang des Sowjetimperiums keine nennenswerte Rolle mehr. Als solche Pseudoreligionen könnte man die Ideologien der Kommunisten und der Nationalsozialisten bezeichnen. Hier 5

John Gray im Spiegel-Gespräch, Der Spiegel, Nr. 9 vom 1.3.2010, S. 136−140 [137].

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wird der religiöse Glaube an das Jenseits in den utopischen Glauben an das Ende der Geschichte umgewandelt.6 Bei gleichzeitigem Verbot bzw. Indienstnahme der Kirche haben Kommunismus und Nationalsozialismus in ihren Riten und Symbolen allerdings starke Anklänge an das Religiöse verarbeitet. 1.2 Emanzipation der Herrschaft Im Folgenden geht es um drei große Komplexe, einen historischen, einen verfassungsrechtlichen und einen politikwissenschaftlichen Komplex. Die historische Perspektive dieses Themas ist deshalb so wichtig, weil die Herausbildung des modernen okzidentalen Staates eng mit der Emanzipation der weltlichen Herrschaft aus der universalen Ekklesia verknüpft ist. Dieser Prozess der Säkularisierung7 begann mit dem Investiturstreit (1075−1122), wurde fortgesetzt mit Martin Luthers Thesenanschlag am 31. Oktober 1517 und mit den Religionskriegen, die auf die Reformation folgten.8 Er fand seinen vorläufigen Höhepunkt in der Französischen Revolution von 1789. In den islamischen Ländern fand ein vergleichbarer Prozess der Säkularisierung hingegen nicht statt.9 2. HOMOGENER GLAUBENSRAUM Die Expansion von Religionen durchläuft zumeist drei zeitlich aufeinander folgende Phasen: Durchsetzung, Ausbreitung, Konsolidierung. Zunächst geht es in der ersten Phase darum, die eigene Religion gegen Konkurrenten durchzusetzen. Dann werden die Grenzen des Glaubensgebietes – oft genug mit Feuer und Schwert – durch Missionierung so weit wie möglich ausgedehnt. Das gilt für Christentum und Islam gleichermaßen, wenn auch keineswegs immer gleichzeitig. Der nächste Schritt besteht dann in Konsolidierung und Arrondierung. Aus verstreuten Missionsstationen wird eine Kirche geformt, die als Institution Glaubensinhalte – oft in Form von Dogmen – festschreibt, eine mehr oder weniger strikte Hierarchie aufbaut und insbesondere die Auswahl des Spitzenpersonals regelt. Übergreifendes Ziel ist die Schaffung eines homogenen Glaubensraumes, der gegen fremde Einflüsse von außen immunisiert werden kann. Bei dem Kampf gegen fremde Religionen ging es in Europa und Asien auch immer darum, die Alleinherrschaft über diesen Raum zu erlangen, zu festigen und notfalls zu verteidigen.

6 7 8 9

Gray 2010, S. 140. Vgl. Lübbe 2003. Vgl. Böckenförde 1976. Vgl. Tibi 2002.

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2.1 Christliches Europa In den letzten 500 Jahren gab es zahlreiche Anstrengungen, das christliche Europa von islamischen Herrschaftsansprüchen zu befreien. Dazu gehört zum einen die Reconquista, mit der die Spanier im 15. Jahrhundert die Mauren endgültig von der iberischen Halbinsel vertrieben und die für das spanische Selbstverständnis noch immer eine bedeutende Rolle spielt. Als der letzte arabische Herrscher von Andalusien, Muhammad XII.,10 am 2. Januar 1492 vor den Heeren der katholischen Könige Ferdinand von Kastilien und Isabella von Aragon, kapituliert hatte, war die Wiedereroberung der iberischen Halbinsel abgeschlossen. Freilich war damit nicht etwa eine religiöse Liberalisierung verbunden. Ganz im Gegenteil wurden jetzt Andersgläubige erbarmungslos verfolgt. Das traf nicht zuletzt die Juden, die zur Zeit der Maurenherrschaft in ihrem Glauben relativ frei hatten leben können. Zum anderen ist es der Kampf gegen das Osmanische Reich, das im 16. Jahrhundert große Teile des Balkans erobert hatte. Erst die Balkankriege der Jahre 1912/1913 führten schließlich zum endgültigen Rückzug der Türken. Damit war Europa im Wesentlichen christlich, lediglich Albanien und Bosnien sowie der europäische Teil der Türkei blieben türkisch-islamisch. Das Ergebnis des griechischtürkischen Krieges (1918–1923) waren Umsiedlungen und Vertreibungen („ethnische Säuberung“) riesigen Ausmaßes. Im Vertrag von Lissabon wurde 1923 schließlich festgelegt, dass etwa 1,25 Mill. Griechen und ca. 500.000 Türken zwangsweise umgesiedelt wurden. Dabei wurde die Religionszugehörigkeit – sehr schematisch – zum Kriterium für die Volkszugehörigkeit gemacht. Orthodoxe Christen galten als Griechen, Muslime als Türken. Diese den tatsächlichen ethnischen Gegebenheiten teilweise krass zuwiderlaufenden Zuordnungen spielten später auch in den Konflikten auf dem Balkan eine wichtige Rolle. So betrachteten die sowohl die (katholischen) Kroaten, als auch die (orthodoxen) Serben die muslimischen Bosnier als „Türken“ und damit als Überbleibsel der türkischen Zwangsherrschaft über den Balkan. Auch im christlichen Europa hatten sich allerdings aus der einen „Mutter Kirche“ inzwischen zahlreiche christliche Denominationen entwickelt. Von einer Einheit der Christenheit konnte also auch im Europa des 20. Jahrhunderts nicht die Rede sein. Dennoch war die damalige Situation in keiner Weise mit der Lage zu vergleichen, in der sich Europa zum Beginn des 21. Jahrhundert befindet. 2.2 Wettstreit der Religionen Verfassungsrechtlich ist von entscheidender Bedeutung, welcher Platz der Religion grundsätzlich in einem Staat zugewiesen wird, welche Rolle die Kirchen in der Gesellschaft spielen und wie die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit vom Staat gewährleistet wird. Dazu gehört die Frage des Rechtsstatus von Kirchen, des Religionsunterrichts in den öffentlichen Schulen, der Ausbildung von Theologen und 10 Von den Christen wurde dieser Emir Boabdil genannt.

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Religionslehrern an den Universitäten, der seelsorgerischen Betreuung von Militär und Polizei sowie in den Haftanstalten bis hin zu der Erhebung von „Kirchensteuern“.11 Den Kirchen kann aber auch vorrangig (Stichwort: Subsidiaritätsprinzip) die Einrichtung und Betreuung von Kindergärten und das Betreiben von Bekenntnisschulen oder konfessionellen Hochschulen – meist unter nicht unerheblicher finanzieller Beteiligung des Staates – zugestanden werden. Dies alles spielt selbstverständlich auch aus politikwissenschaftlicher Perspektive eine maßgebliche Rolle. Hier kommt aber noch hinzu, dass mit der massenhaften Zuwanderung von Menschen mit anderer religiöser Orientierung nach Europa andere Konflikte, oft mit tagespolitischem Zündstoff, in den Vordergrund treten. Dabei geht es nicht nur um einen (edlen) Wettstreit zwischen den Religionen um Anhänger, sondern oft auch um einen (erbitterten) Kampf der Kulturen um die Vorherrschaft oder auch nur um das bloße Überleben. Die politikwissenschaftliche Perspektive muss daher um eine kultursoziologische Komponente erweitert werden, sollen nicht wesentliche Aspekte unberücksichtigt bleiben. 2.3 Wissenschaftlicher Zugriff auf das Thema Unserem Thema, dem Verhältnis von Staat und Religion, kann man sich also auf unterschiedliche Weise analytisch nähern. Zum einen kann es um eine staats- und verfassungsrechtliche Betrachtung gehen, hier stehen die Bestimmungen des Grundgesetzes und des Staatskirchenrechts im Vordergrund. Zum anderen kann die kultursoziologische Sicht im Vordergrund stehen, dann geht es vor allem um die Bedeutung der Religion für die Kultur einer Gesellschaft. Da es in den europäischen Gesellschaften freilich nicht nur eine Religion gibt, sondern eine Vielzahl von Religionen, Bekenntnissen, Weltanschauungen etc., muss eine Untersuchung dieser Vielfalt Rechnung tragen. Und drittens schließlich müsste sich eine politikwissenschaftliche Analyse mit den Auswirkungen religiöser Institutionen, Akteure und Aktivitäten auf die Politik beschäftigen. Dies alles hängt in vielfältiger Weise miteinander zusammen und spielt sich zudem vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung ab, ohne deren Kenntnis man die heutige Situation nicht verstehen kann. 3. HERAUSFORDERUNG ISLAM Im Mittelpunkt unserer Überlegungen steht damit auf der einen Seite der okzidentale Staat, so wie er sich in dieser Zeit – vor allem in den letzten 500 Jahren – herausgebildet hat.12 Er wurde zu der einheitlich allen anderen Gewalten überlegenen souveränen Staatsgewalt, der die Gesellschaft der rechtsgleichen Staatsbürger ge11 Im Jahre 2009 nahmen die Kirchen 9,3 Mrd. Euro (katholische Kirche: 4,9 Mrd. €, evangelische Kirche: 4,4 Mrd. €) an Kirchensteuern ein. 12 Reinhard 1999.

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genübersteht.13 Allerdings wird er in unseren Zeiten von zahlreichen Institutionen, Akteuren und Entwicklungen sowohl in seiner äußeren wie auch in seiner inneren Souveränität bedrängt.14 3.1 Bedrohung des christlichen Abendlandes? Neben dem klassischen Altertum war es das Christentum, das das Abendland in besonderer Weise geprägt hat. Diese christlich-abendländische Kultur wird freilich von mehreren Seiten bedroht. Zum einen sind es atheistische Tendenzen, die immer mehr Raum in der Gesellschaft einnehmen. Viele Menschen glauben nicht (mehr) an Gott, manche wenden sich verschiedenen Strömungen der Esoterik zu. Am bekanntesten sind sicher die Freimaurer, aber auch Rosenkreuzer, Theosophen und Anthroposophen spielen dabei eine nicht unbedeutende Rolle. So ist etwa die Anthroposophische Gesellschaft mit ihren auf Rudolf Steiner (1861–1925) zurückgehenden Waldorfschulen in vielen Städten präsent. Zum anderen sind – verursacht durch die massenhafte Zuwanderung von Menschen aus allen Teilen der Erde – andere Religionen hinzugekommen, die – teilweise immer nachdrücklicher – ihren Anteil am öffentlichen Leben fordern. Dabei sind es weniger die Buddhisten, Hinduisten oder Shintoisten, sie verhalten sich eher unauffällig und zurückhaltend. Demgegenüber kommt den Juden – vor allem aufgrund ihres bedeutenden Beitrags zur abendländischen Kultur – eine besondere Bedeutung in Deutschland und im übrigen Europa zu. Zahlenmäßig am stärksten und damit auch am auffälligsten ist der Islam, nimmt doch die bereits ungewöhnlich hohe Zahl der Muslime in Europa durch Zuwanderung und hohe Geburtenraten noch ständig zu. Auf den Staat bezogen ist dabei das größte Problem, dass der Islam – ungeachtet der Unterschiede im Einzelnen – dazu neigt, staatliche Souveränität und damit jede staatliche Autorität in weiten Bereichen nicht anzuerkennen, zurückzuweisen oder sogar die Durchsetzung zu verhindern.15 Der Umgang mit den Muslimen stellt – ungeachtet der z.T. großen Unterschiede zwischen Sunniten, Aleviten und Schiiten – die europäischen Gesellschaften zweifellos vor die größte Herausforderung. Zum einen handelt es sich um eine Religion, mit der sich im historischen Gedächtnis der Europäer, unter dem Stichwort „Türkenkriege“, eine negative Konnotation verbindet. 3.2 Toleranz versus Intoleranz Zum anderen schürt der weltweite Terrorismus von al-Qaida mit seinen vermummten Selbstmordattentätern und der Krieg gegen den islamistischen Terror Angst und Misstrauen gegen den Islam, der als „fremde Religion“ verstanden wird. Und schließlich kommt drittens eine gewisse Intoleranz vieler Muslime hin13 Böckenförde 1976, S. 42−64 [42]. 14 Salzborn/Voigt (Hg.) 2010. 15 Scheit 2010, S. 179–197.

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zu, die nicht bereit sind anzuerkennen, dass es neben ihrem eigenen Glauben auch andere legitime Glaubensrichtungen gibt. Vielmehr sind für diese oft eher „schlichten Gemüter“ Angehörige anderer Religionen oder Weltanschauungen „Ungläubige“, die vom rechten Weg des Glaubens abgekommen sind. Zudem halten viele Muslime ihre althergebrachten Sitten, die oft weniger durch den Koran gedeckt sind als vielmehr dem Brauchtum von Nomaden entstammen (Stichwort: Beschneidung der Mädchen) für unantastbar. Rüdiger Safranski schlägt in einem Spiegel-Essay eine griffige Trennung in heiße und kalte Religionen vor.16 Während der Islam Erlösung verkündet, haben die Christen im säkularisierten Europa den Glauben an das Jenseits verloren. Was läge da näher, als den islamistischen Fundamentalismus mit seinem Hang zu apokalyptischen Fantasien als heiße Religion zu charakterisieren. Demgegenüber ist der christliche Glaube, der einst den geistigen Zusammenhang des Abendlandes verbürgte, sichtbar abgekühlt. Für viele Menschen in den Aufnahmegesellschaften sind die große Zahl von Muslimen (3,1% der Gesamtbevölkerung in Deutschland), ihre Konzentration in bestimmten Stadtvierteln (Berlin-Kreuzberg, KölnEhrenfeld) und ihre hohe Geburtenrate beunruhigend. Der Bau von großen Moscheen, der Anblick verschleierter bzw. vermummter Frauen sowie Nachrichten über sog. Ehrenmorde verstärken dieses Gefühl noch. 4. MACHTKAMPF ZWISCHEN STAAT UND KIRCHE Seit dem hohen Mittelalter tobte der Kampf zwischen Imperium und Sacerdotium, Kaiser- und Papsttum, Reich und Kirche in Europa. Die nicht enden wollenden Machtkämpfe der beiden universalen Mächte ermutigten das Unabhängigkeitsstreben der partikularen Kräfte, der westeuropäischen Monarchien und der aufstrebenden Städte.17 Dieser Kampf begünstigte zudem die Entstehung von Territorialstaaten. 4.1 Reformation und Gegenreformation Der christliche Glaube erlangte in der Zeit der Reformation und Gegenreformation noch einmal zentrale Bedeutung für die Staatenbildung. Anstatt die Separation beider Sphären herbeizuführen, wurde die von Martin Luther (1483–1546), Ulrich Zwingli (1484–1531) und Jean Calvin (1509–1564) ausgelöste Reformation zunächst zum Katalysator der künftigen Politik, der Freund-Feind-Unterscheidung und der Gemeinschaftsbildung. Infolge der Kirchenspaltung wurde Europa im 16. und 17. Jahrhundert durch endlos scheinende konfessionelle Bürgerkriege erschüttert, die den Kontinent in Atem hielten und eine unvorstellbare Zahl von Opfern forderten. Diese Kriege fanden ihren traurigen Kulminationspunkt im Drei16 Safranski 2010. 17 Roth 2010, S. 23–41 [30].

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ßigjährigen Krieg (1618−1648), der noch kein Staatenkrieg, sondern eher ein Staatsbildungskrieg war.18 Durch diesen Krieg erhielt das System der europäischen Staaten, das sog. Westfälische System, seine Konturen und seine endgültige Gestalt. Die Macht des Kaisers wurde zu Gunsten der Landesfürsten erheblich reduziert. Tatsächlich bildet die Reformation eine entscheidende Zäsur in der europäischen Geschichte. Nicht zuletzt wurde durch die Reformation die Hoffnung auf ein weltumspannendes christliches Reich endgültig zu Grabe getragen. Diese Idee fand zwar weiterhin Verfechter – bis hin zu den katholischen Gegenrevolutionären des 19. Jahrhunderts (Louis-Gabriel-Ambroise de Bonald [1754–1840], Joseph Marie de Maistre [1753–1821], Juan Donoso Cortès [1809–1853]) –, hatte aber keine Realisierungschance mehr. Die sich formierenden und differenzierenden Landeskirchen wurden von den Mächtigen Europas zur Stabilisierung ihrer Herrschaft und zur Legitimation ihrer dynastischen Interessen instrumentalisiert. Das jeweilige Glaubensbekenntnis diente zur Rechtfertigung der Machtentfaltung und der Verfolgung Andersgläubiger, die sich dem Diktat der Herrschenden nicht beugen wollten. 4.2 Erneuerung der Religion In der römischen Kirche und ihren Priestern, die stets nur ihre eigenen Interessen verfolgten, sah Niccoló Machiavelli (1469−1527) die Hauptverantwortlichen für den Niedergang und die Zersplitterung Italiens.19 Zu vergleichbaren Resultaten gelangte – wenn auch von einem anderen Ausgangspunkt und von ganz anderen Interessen getrieben – Machiavellis Zeitgenosse Martin Luther, der die Kritik an der Papstkirche radikalisierte und die Religion aus dem christlichen Glauben heraus erneuern wollte. Er begründete die Notwendigkeit einer prinzipiellen Trennung von Religion und Politik, um die Kirche aus dem Griff der weltlichen Herrscher aber auch des Papstes zu befreien. Dafür sollte umgekehrt die weltliche Politik dem Zugriff des Klerus entzogen sein. Im Gefolge der Reformation erlebte Europa im 16. und 17. Jahrhundert eine Welle blutiger Religionskriege, in denen sich die Christen gegenseitig abschlachteten. Dies wurde zur wichtigsten Erfahrungsgrundlage der frühneuzeitlichen Staatstheoretiker und forcierte die Suche nach einer friedensstiftenden Macht. Im Deutschen Reich wurde der Kampf zwischen den feindlichen Lagern 1555 im Augsburger Religionsfrieden durch einen Kompromiss zwischen Lutheranern und Katholiken gelöst, demzufolge die Kirche – gemäß der Formel cuius regio, eius religio („Wem das Land gehört, der bestimmt über die Religion“) – dem jeweiligen Landesherrn unterstehen sollte.20

18 Vgl. Burkhardt 1992, S. 26. 19 Machiavelli 2006. 20 Schmitt Leviathan, S. 89.

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4.3 Friedenssicherung als Ziel Zur Sicherung des Friedens ist nach Thomas Hobbes (1588−1679) ein Regiment erforderlich, in dem der weltliche Herrscher die geistlichen Würdenträger kontrolliert und über die Rechtmäßigkeit ihres Verhaltens wacht. Das Titelbild seines berühmtesten Buches Leviathan (1651) zeigt den Herrscher sowohl mit dem Schwert als auch mit dem Bischofsstab.21 Anstatt die Politik zu dominieren und ihre Richtlinien zu bestimmen, hat die Geistlichkeit in ihren Dienst zu treten und sich dem Ziel der Friedenssicherung unterzuordnen. Zugleich sollte jenes Zentralproblem gelöst werden, das seit der Freisetzung der unpolitischen Gesellschaft akut war: die Frage nämlich, wie aus einer Menge von Privateigentümern eine Gemeinschaft von Staatsbürgern werden kann, wie der egoistische, besitzindividualistisch orientierte Bourgeois zu einem gemeinwohlorientierten Citoyen werden kann. Der Staat sollte sich dabei den zentrifugalen Kräften der Gesellschaft entgegenstemmen und darüber hinaus ihre Integration bewirken. Ihm fiel die Aufgabe zu, die ökonomischen und rechtlichen, sozialen und politischen, nationalen und internationalen, religiösen und kulturellen Konflikte der Gesellschaft zu lösen. Der Staat bildete den Rahmen für die Entwicklung von Kapitalismus und moderner Kultur, war flexibel genug und ließ sich in verschiedenen Formen ausgestalten.22 Die Französische Revolution hatte aus dem bereits als solchem erfolgreichen Modell des Territorialstaates den Nationalstaat gemacht, den man durch widersprüchliche Zweckbestimmungen konkretisieren und mit den unterschiedlichsten Inhalten füllen konnte. Das wichtigste Ergebnis der Revolution in Bezug auf den Staat war jedoch die Intensivierung der Staatsgewalt.23 Der Nationalstaat erwies sich als das Erfolgsmodell – zumindest für die nächsten anderthalb Jahrhunderte –, das auch mit mehr oder weniger Erfolg in außereuropäische Länder exportiert wurde.24 Im Jahre 1803 hatte Napoleon die Grenzen Frankreichs rücksichtslos bis an den Rhein ausgedehnt und dabei deutsches Territorium vereinnahmt. Großzügig gestattete er den deutschen Reichständen, sich für den erlittenen Verlust durch Mediatisierung der Kirchen zu entschädigen. Vor allem die katholische Kirche verlor zahlreiche Erzbistümer, Bistümer, Kloster, Abteien und Stifte. Der Reichsdeputationshauptschluss, der als letztes bedeutendes Gesetz des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation vom Reichstag in Regensburg am 25. Februar 1803 verabschiedet wurde,25 sprach der katholischen und evangelischen Geistlichkeit eine finanzielle Entschädigung zu. Fortan sollten die Landesherren für die Ausstattung der Kirchengebäude, die Pensionen für die Geistlichen, für Gottes21 22 23 24

Vgl. das Kapitel „Konträre Staatsbilder“ in diesem Buch. Roth 2010, S. 23–41. Schmitt VL, S. 51. In Afrika muss man dieses Modell eher als gescheitert ansehen, während es in Lateinamerika nach wie vor gängige Praxis ist. 25 Gleichzeitig wurde das Heilige Römische Reich deutscher Nation aufgelöst.

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dienste, Unterrichts- und sonstige gemeinnützige Anstalten aufkommen. Erstaunlicherweise hat sich diese Regelung – über zahlreiche Systemwechsel hinweg – bis auf den heutigen Tag erhalten. Die Länder zahlen insgesamt etwa 460 Mill. Euro an die Kirchen.26 5. SPANNUNGSVERHÄLTNIS Das Verhältnis der Religionen zum Staat war und ist also stets spannungsreich, und dabei ist dieses Verhältnis ständigen, z.T. nachhaltigen Veränderungen unterworfen. Idealtypisch kann es auf drei verschiedene Arten gestaltet sein, als Theokratie, als Suprematie des Monarchen oder als mehr oder weniger strikte Trennung der Sphären. Dabei spielt es eine entscheidende Rolle, ob es sich um einen homogenen Glaubensraum handelt oder ob religiöse Vielfalt herrscht. (Bassam Tibi) 5.1 Islamische Republik Iran Traditional soll eine Herrschaft heißen, wenn ihre Legitimität sich stützt und geglaubt wird auf Grund der Heiligkeit altüberkommener („von jeher bestehender“) Ordnungen und Herrengewalten. Der Herr (oder: die mehreren Herren) sind kraft traditional überkommener Regel bestimmt. Gehorcht wird ihnen kraft der durch die Tradition ihnen zugewiesenen Eigenwürde. Der Herrschaftsverband ist, im einfachsten Fall, primär ein durch Erziehungsgemein27 schaft bestimmter Pietätsverband.

In bestimmten Epochen und Gesellschaften beansprucht die Religion den Vorrang vor dem Staat. Im Extremfall haben wir es dann mit einem Gottesstaat zu tun, einer Theokratie, deren Herrschaft allein religiös legitimiert ist. Von Webers drei Typen legitimer Herrschaft handelt es sich hier also um einen Fall von traditionaler Herrschaft. Die Legitimitätsgeltung beruht auf dem Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen und der Legitimität der durch sie zu Autorität Berufenen. Ein neuzeitliches Beispiel hierfür ist die 1979 gegründete Islamische Republik Iran, an deren Spitze – in der Nachfolge von Ayatollah Ruhollah Musawi Chomeini28 – der Oberste Rechtsgelehrte Sejed Ali Chamenei steht. Dazu heißt es im 5. Grundsatz der iranischen Verfassung: In der Islamischen Republik Iran steht während der Abwesenheit des entrückten 12. Imam – möge Gott, dass er baldigst kommt – der Führungsauftrag und die Führungsbefugnis in den Angelegenheiten der Islamischen Gemeinschaft dem gerechten, gottesfürchtigen, über die Erfordernisse der Zeit informierten, tapferen, zur Führung befähigten Rechtsgelehrten zu [...].

26 Vgl. Der Spiegel, Nr. 30 vom 26.7.2010, S. 30–33 [31]. 27 Weber 1972, S. 130 (Hervorhebungen im Original). 28 Siehe hierzu: Zapf 2010, S. 80f.

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Unter diesem „geistlichen Führer“ stehen also nicht nur der Präsident und der „Islamische Versammlungsrat“, das eigentliche Parlament und das Staatsministerium. Vielmehr gehören zu den verschiedenen Institutionen, denen ein Teil der Macht übertragen worden ist, auch der „Wächterrat“, die „Versammlung zur Erkennung der Systeminteressen“, der „Oberste Rat der nationalen Sicherheit“, der „Expertenrat“, das „Exekutivkomitee der Wahlen“ und die „zentrale Beobachtungskommission“. Neben den einzelnen Ministerien bestehen 23 „permanente Kommissionen“, namentlich die „für die revolutionären Institutionen“, „für die Untersuchung der Gesetze des Revolutionsrates“ usw.29 Eine eigene Religionspolizei wacht über die Einhaltung der Gesetze der Scharia.30 Man kann dahinter durchaus ein „System“ vermuten: die staatlichen Institutionen sollen grundsätzlich keine (uneingeschränkte) Souveränität ausüben können. Das Geflecht der Räte, Komitees und Kommissionen ist so unübersichtlich, dass es sich eher selbst blockiert als den „geistigen Führer“ in seiner Alleinherrschaft zu stören. 5.2 Church of England Das umgekehrte Modell liegt dann vor, wenn sich der Staat als Herr über die Religion versteht; in diesem Fall ist das weltliche Staatsoberhaupt zugleich der oberste Herr über die Kirche. So war beispielsweise der preußische König oberster Bischof (summus episcopus) und oberster Dienstherr der evangelischen Landeskirche. Ein besonders plastisches Beispiel hierfür ist das England Heinrichs VIII., der nach seinem Bruch mit dem Papst am 3. November 1534 durchgesetzt hatte, selbst Oberhaupt der Kirche (supreme head in earth of the Church of England) zu sein. Ihm ging es dabei vor allem um die Auflösung seiner Ehe mit Katherina von Aragón, um Anne Boleyn heiraten zu können.31 Heute ist die britische Königin nur noch formal Oberhaupt der Church of England. Vereinbarungen zwischen Kirche und Krone haben die dominierende Stellung des Monarchen inzwischen deutlich abgeschwächt. Und Schottland geht ohnehin seinen eigenen Weg. Darüber hinaus findet sich in Großbritannien – vor allem durch die Einwanderung aus den Kolonien – eine besonders breite Palette von religiösen Bekenntnissen, so dass die anglikanische Kirche mit 25 Mill. Mitgliedern keineswegs mehr die zentrale Rolle in der britischen Gesellschaft spielt. Weite Teile der britischen Gesellschaft sind inzwischen mehrheitlich islamisch oder hinduistisch geprägt.32

29 Vgl. Wahdat-Hagh 2003, S. 246ff. 30 Eine Religionspolizei gibt es auch in anderen islamischen Ländern, z.B. in Saudi-Arabien. Die dortige Bezeichnung der Religionspolizei als „Behörde für die Verbreitung von Tugendhaftigkeit und Verhinderung von Lastern“ (ca. 3.500 Mitglieder) erinnert an Orwells Neusprech, d.h. die Verkehrung der Begriffe zur politischen Steuerung der Kommunikation. 31 Weitere Scheidungen und Eheschließungen folgten. 32 2,7% (ca. 1,6 Mill.) der Briten sind Muslime, 1% (ca. 0,6 Mill.) sind Hindus.

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5.3 Trennung von Staat und Religion Und schließlich drittens können Staat und Religion verfassungssystematisch getrennt sein. Auch hierbei gibt es freilich vielfältige Abstufungen. Die strikteste Trennung besteht in den Vereinigten Staaten von Amerika, die ihre Ursprünge auf die sog. Pilgrim Fathers zurückführen, religiöse Sektierer, die wegen glaubensbedingter Verfolgung England hatten verlassen müssen.33 Die Amerikaner legen daher größten Wert auf absolute Religionsfreiheit. Traditionell können sich in den USA auch Sekten wie Scientology, deren Aktivitäten in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet werden, ungehindert entfalten. Umgekehrt erhalten in den Vereinigten Staaten allerdings auch die traditionellen Kirchen üblicherweise keine staatlichen Zuwendungen. Religion ist strikte Privatsache, auch wenn die im sog. Bible Belt34 vorherrschenden Evangelikalen einen großen Einfluss auf die amerikanische Politik – z.B. auf die Beziehungen zu Israel – haben. Das wurde besonders in der zweiten Amtszeit (2005–2009) von US-Präsident George W. Bush sichtbar, macht sich aber auch unter Obama bemerkbar. Und Religion, insbesondere die Einrichtung einer neuen Glaubensgemeinschaft, kann, wie viele Beispiele zeigen, in den USA ein durchaus lukratives Geschäft sein. Laizistisches Frankreich Seit der Französischen Revolution sieht die französische Verfassung ebenfalls eine strikte Trennung von Staat und Kirche vor. Artikel 1 der Verfassung der Fünften Republik lautet dementsprechend: Frankreich ist eine unteilbare, laizistische, demokratische und soziale Republik. […] Sie achtet jeden Glauben.

Laizismus gilt den meisten Franzosen als politisches Ideal, auch wenn es ein ausgeprägtes katholisches Privatschulsystem gibt, auf das niemand verzichten will. Sehr zum Ärger laizistischer Verbände hat Nicolas Sarkozy in seinem Buch Der Staat und die Religionen – noch als Innenminister – eine „offene und positive Laizität“ vorgeschlagen.35 Damit sollen die Religionen mehr in die Verantwortung genommen und Fundamentalismus verhindert werden. Der französische Einfluss zeigte sich auch in Europa. Als der Europäische Konvent im Jahre 2003 unter dem Vorsitz des früheren französischen Staatspräsidenten Valery Giscard-d’Estaing die – später allerdings u.a. am Votum der Franzosen gescheiterte – Verfassung für Europa beriet, war für die französische Seite selbstverständliche Voraussetzung, dass es einen Bezug auf Gott in der Verfas33 Sie segelten 1620 auf der Mayflower über den Atlantik und gründeten die Kolonie Plymouth im heutigen Massachusetts. 34 Das ist das Gebiet, das von Texas im Südwesten bis Kansas im Nordwesten, von Virginia im Nordosten bis Florida im Südosten reicht (frühere Südstaaten). 35 Sarkozy 2008.

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sung nicht geben dürfe. Deutsche, belgische und italienische Christdemokraten waren der gegenteiligen Auffassung. Die Präambel stellte daher einen Kompromiss dar, ihr Wortlaut klingt eher nach Zivilreligion. In dem Versuch, allen Seiten gerecht zu werden, lautet der Text wie folgt: Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen, Demokratie, Gleichheit, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben, […].

Christliches Deutschland Demgegenüber ist das Grundgesetz eindeutig auf christliche Werte hin orientiert. Die Bezugnahme auf Gott kommt in der Präambel folgendermaßen zum Ausdruck: Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, […] hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.

Auch in der Eidesformel wird die religiöse Beteuerung „So wahr mir Gott helfe“ – im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung – als „Normalfall“ angesehen.36 Zwar lehnt das Grundgesetz die Bildung von Staatskirchen grundsätzlich ab, räumt aber den etablierten Religionsgemeinschaften bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen den Status von Körperschaften des Öffentlichen Rechts ein, die auch Steuern erheben dürfen. Diese „Steuern“ zieht der Staat für die Religionsköperschaften ein. Das Bemerkenswerte daran ist, dass diese Regelungen nicht unmittelbar im Grundgesetz aufgeführt sind, sondern dass durch Artikel 140 des Grundgesetzes die entsprechenden Artikel der Weimarer Reichsverfassung zu Bestandteilen des Grundgesetzes erklärt werden. Ein Verfahren, das sich nur an dieser und keiner anderen Stelle des Grundgesetzes findet. Artikel 137 der Weimarer Reichsverfassung lautet: (1) Es besteht keine Staatskirche. (2) Die Freiheit der Vereinigung zu Religionsgemeinschaften wird gewährleistet. […] (4) Religionsgesellschaften erwerben die Rechtsfähigkeit nach den allgemeinen Vorschriften des bürgerlichen Rechts. (5) Die Religionsgesellschaften bleiben Körperschaften des öffentlichen Rechtes, soweit sie solche bisher waren. […] (6) Die Religionsgesellschaften, welche Körperschaften des öffentlichen Rechtes sind, sind berechtigt, auf Grund der bürgerlichen Steuerlisten nach Maßgabe der landesrechtlichen Bestimmungen Steuern zu erheben. […]

6. STAATLICHE NEUTRALITÄT – RELIGIÖSE INTOLERANZ Immer wieder geraten staatliche Regelungen mit religiösen Vorstellungen in Konflikt. Das ist verhältnismäßig unproblematisch, wenn es um die Regelung von 36 Art: 56 GG: „Der Eid kann auch ohne religiöse Beteuerung geleistet werden“; Art. 42 WRV: „Die Beifügung einer religiösen Beteuerung ist zulässig“.

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Feiertagen (Freitag für Muslime, Samstag für Juden, Sonntag für Christen) geht. Wesentlich gravierender ist die Umsetzung des fünften Gebotes, das grundsätzlich für alle Menschen gilt: „Du sollst nicht töten!“ Dies gilt auch im Falle eines Krieges, wenn jeder wehrfähige Mann eingezogen wird. Angehörige der Zeugen Jehovas verweigern daher – im Gegensatz zu Katholiken und Protestanten einerseits und Muslimen andererseits – aus religiöser Überzeugung jeden Dienst mit der Waffe.37 In den 1960er Jahren führte die Verweigerung regelmäßig zu Gerichtsverfahren und Verurteilungen wegen Verstoßes gegen das Wehrpflichtgesetz. Erst 1969 wurde mit § 15a des Zivildienstgesetzes die Möglichkeit geschaffen, anstelle des Wehrdienstes Zivildienst zu leisten. Gemäß Artikel 4 Abs. 3 des Grundgesetzes darf heute niemand gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst gezwungen werden. Im Falle der Verweigerung aus Gewissensgründen sieht Artikel 12a Abs. 2 des Grundgesetzes eine Ersatzdienstpflicht vor: Wer aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, kann zu einem Ersatzdienst verpflichtet werden. Die Dauer des Ersatzdienstes darf die Dauer des Wehrdienstes nicht übersteigen.

Der Ersatzdienst darf in keinem Zusammenhang mit den Verbänden der Streitkräfte und des Bundesgrenzschutzes (Bundespolizei) stehen. 6.1 Schulpflicht und Elternrecht Ein weiterer Konflikt zwischen staatlicher Neutralität und religiöser Intoleranz kann sich aus der staatlichen Schulpflicht ergeben. Während der Staat mit der allgemeinen Schulpflicht und mit der Verfolgung eigener Erziehungsziele seinen Erziehungsauftrag durchsetzt, schränkt er zugleich das Elternrecht seiner Bürgerinnen und Bürger ein (Art. 6 Abs. 2 GG). Denn ungeachtet des staatlichen Erziehungsauftrages bleibt es Sache der Eltern, ihren Kindern Überzeugungen in Glaubens- und Weltanschauungsfragen zu vermitteln. Der Staat muss also Neutralität und Toleranz gegenüber den erzieherischen Vorstellungen der Eltern aufbringen. Die Pflicht des Staates zur weltanschaulich-religiösen Neutralität bedeutet jedoch zugleich, dass die öffentlichen Schulen ein breites Spektrum von Meinungen und Auffassungen gewährleisten müssen.38 Die dem Staat gebotene religiös-weltanschauliche Neutralität ist nicht im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen. 39

37 Den Kriegsdienst verweigern auch die Mennoniten, die Quäker und die Angehörigen der Church of Brethren (USA). 38 BVerfG, 2 BvR 1693/04 vom 31.5.2006, Abs. Nr. 4, 8−10. 39 BVerfG, 2 BvR 1436/02 vom 24.9.2003.

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Neutralität des Staates Gefordert ist also eine meinungs- und wertpluralistische Ausrichtung der Schule. Dazu gehört auch die negative Religionsfreiheit. Im sog. Kruzifix-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht zum Ausdruck gebracht, dass niemandem gegen seinen Willen religiöse Symbole aufgezwungen werden dürfen.40 Ein Kreuz im Klassenzimmer oder im Gerichtssaal muss also entfernt werden, wenn es die Glaubensfreiheit von Minderheiten verletzt.41 Zwar haben die Eltern das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen (Art. 7 Abs. 2 GG), sie dürfen aber ihre Kinder nicht aus religiösen Gründen von der Schule fernhalten. Erlaubt sind hingegen christliche Bekenntnisschulen, jüdische Schulen und Waldorf-Schulen, die den Lehren Rudolf Steiners (1861−1925) folgen. Da eine entsprechende Regelung für Muslime fehlt, gibt es in Deutschland zahlreiche Koranschulen, die sich freilich selten oder nie den Grundwerten des Grundgesetzes verpflichtet fühlen. Kontroverse um das Weltbild Trotz der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates gibt es immer wieder Konflikte wegen der staatlichen Schulpflicht. Müssen wirklich alle Schüler dieser Schulpflicht Folge leisten, oder dürfen Eltern ihre Kinder auch zu Hause unterrichten? Vor kurzem wurde einem deutschen Elternpaar Asyl in den USA gewährt, das mit seinen fünf Kindern wegen der allgemeinen Schulpflicht aus Deutschland weggezogen ist. Ihren Asylantrag begründete die Familie damit, dass sie auf Grund ihres evangelikalen Glaubens verfolgt werde. Tatsächlich hatte es die Familie abgelehnt, ihre Kinder einer Erziehung in einer öffentlichen Schule „auszusetzen“, die ihrer engen Wertewelt nicht entsprach. Dabei geht es vor allem um einen Streit der Kreationisten mit den Darwinisten. Charles Darwins (1809– 1882) Evolutionslehre ist wissenschaftlich allgemein anerkannt und liegt dem Biologieunterricht in allen öffentlichen Schulen in Europa zugrunde. Danach wird die Entstehung der Arten als Ergebnis der Evolution erklärt. Demgegenüber geht der Kreationismus davon aus, dass die Bibel die tatsächliche Entstehung von Leben und Universum durch den unmittelbaren Eingriff eines Schöpfergottes beschreibt. Dabei beziehen sie sich auf den hebräischen Originaltext des Schöpfungsberichts im Buch Genesis: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“. 42 In den USA wird in einigen Schulen ein kreationistisches Weltbild vermittelt. Die baden-württembergische Polizei hatte die Kinder schließlich von zu Hause abgeholt und zur Schule gebracht. Eine Verfassungsbeschwerde der Eltern gegen die Verwarnung durch das Landgericht wegen Verstoßes gegen die Schul40 BVerfGE 93, 1. 41 Im Neubau des Düsseldorfer Amts- und Landgerichts wurde bewusst auf Kreuze in den Sitzungssälen verzichtet, FAZ vom 23.02.2010. 42 Kapitel 1, Die Erschaffung der Welt.

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pflicht wurde vom Bundesverfassungsgericht als unbegründet zurückgewiesen. Dabei führte das BVerfG aus: Die allgemeine Schulpflicht dient dem legitimen Ziel der Durchsetzung des staatlichen Erziehungsauftrags. Dieser Auftrag richtet sich nicht nur auf die Vermittlung von Wissen und die Erziehung zu einer selbstverantwortlichen Persönlichkeit. Er richtet sich auch auf die Heranbildung verantwortlicher Staatsbürger, die verantwortungsbewusst an den demokratischen Prozessen in einer pluralistischen Gesellschaft teilhaben. Die Offenheit für ein breites Spektrum von Meinungen und Auffassungen ist konstitutive Voraussetzung einer öffentlichen Schule in einem freiheitlich-demokratischen Gemeinwesen.43

Jetzt unterrichten die Eltern ihre Kinder in Tennessee selbst – mit (moralischer) Unterstützung der Home School Defense Association – privat zu Hause.44 6.2 Konkordate und Lehrfreiheit Seine Heiligkeit Papst Pius XI. und der Deutsche Reichspräsident, von dem gemeinsamen Wunsche geleitet, die zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich bestehenden freundschaftlichen Beziehungen zu festigen und zu fördern, gewillt, das Verhältnis zwischen der katholischen Kirche und dem Staat für den Gesamtbereich des Deutschen Reiches in einer beide Teile befriedigenden Weise dauernd zu regeln, haben beschlossen, eine feierliche Übereinkunft zu treffen, welche die mit einzelnen deutschen Ländern abgeschlossenen Konkordate ergänzen und auch für die übrigen Länder eine in den Grundsätzen einheitliche Behandlung der einschlägigen Fragen sichern soll.45

Es entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, dass es ausgerechnet die von Adolf Hitler geführte Reichsregierung war, die im Jahre 1933 das sog. Reichskonkordat mit dem Heiligen Stuhl abschloss. Im Jahre 1957 stellte das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich fest, dass das Reichskonkordat gemäß Artikel 123 des Grundgesetzes nach wie vor fortbestehe und die Bundesrepublik Deutschland binde.46 Freilich hatte das Grundgesetz inzwischen eine andere Kompetenzverteilung vorgenommen, so dass die Länder für viele Aspekte des Vertragsinhalts zuständig waren. Dementsprechend wurden nach dem Krieg Staatsverträge (Konkordate) zwischen den Bundesländern und dem Vatikan geschlossen. Darin ist u.a. die Ausbildung von katholischen Theologen und Religionslehrern an staatlichen Universitäten geregelt. Vom Staat finanzierte Lehrstühle für katholische Theologie werden von eigens ausgewählten Kommissionen (mit-)besetzt. Auch auf die Habilitation katholischer Theologen nimmt die Kirche Einfluss.47 Bei Ent43 BVerfG 2 BvR 1693/04 vom 20.6.2006. 44 Siegener Zeitung vom 28.1.2010. 45 Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich vom 12. September 1933, Gesetz zur Ausführung des Reichskonkordats vom selben Datum, RGBl. I, 625. 46 BVerfGE 6, 309. 47 Z.B. sieht § 6 der Habilitationsordnung des Fachbereichs Katholische Theologie der Universität Mainz vor, dass der Bewerber erst dann zur Habilitation zugelassen werden kann, wenn das Nihil obstat (Es steht nichts dagegen) des Bischofs von Mainz vorliegt.

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zug der Lehrerlaubnis durch die katholische Kirche, z.B. weil der Professor als Priester nun um die Erlaubnis zur Heirat nachsucht, muss die Stelle nachbesetzt werden. Da der bisherige Stelleninhaber Lebenszeitbeamter ist, kann er nicht entlassen, sondern muss in einen anderen (nichtreligiösen) Bereich versetzt werden. In ähnlicher Weise ist die Ausbildung von evangelischen Theologen und Religionslehrern an staatlichen Universitäten durch Vereinbarung mit der Landeskirche geregelt. Auch hier benötigen die Professoren eine kirchliche Lehrerlaubnis, die mit der Missio canonica, der Beauftragung mit Verkündungs- und Lehraufgaben durch die römisch-katholische Kirche, vergleichbar ist. Gegen diese Praktiken hat sich in letzter Zeit Widerstand formiert. So hat der Wissenschaftsrat kürzlich die katholische Kirche ersucht, sich zumindest aus Habilitationsverfahren zukünftig herauszuhalten. Neue Probleme sind durch die größere Eigenständigkeit der Universitäten im Zuge des Bologna-Prozesses entstanden. Die nunmehr vorgeschriebene Akkreditierung von Studiengängen gilt jedoch nicht für die bereits bestehenden katholischen und evangelischen Studiengänge des Vollstudiums. Vielmehr bleibt das Recht der Kirche, einen nicht akkreditierten Studiengang, der inhaltlich kirchlichen Vorschriften entspricht, aufrecht zu erhalten, davon unberührt. 6.3 Islamischer Religionsunterricht? Parallel zu der abnehmenden Zahl von Studierenden der christlichen Theologien nimmt die Bedeutung islamischer Studien zu. Der Wissenschaftsrat hat daher empfohlen, an zwei oder drei staatlichen Universitäten Einrichtungen für Islamische Studien zu schaffen. Gemeint sind damit nicht nur die Voraussetzungen, um Imame und islamische Religionslehrer auszubilden, sondern auch das Studium der islamischen Theologie. Die Frage ist natürlich, wer hier die religiöse Aufsicht – analog zur katholischen bzw. evangelischen Kirche bei den christlichen Theologien – übernehmen soll. Diese Aufgabe soll nach den Vorstellungen des Wissenschaftsrates der „Koordinationsrat der Muslime in Deutschland“ übernehmen, der allerdings nur etwa 15 Prozent der Muslime in Deutschland repräsentiert. Kontroverse um die Richtung Wie zu erwarten war, ist es bereits bei der Besetzung des Lehrstuhls für islamische Religionspädagogik sowie des Lehrstuhls für Islamtheologie am Centrum für religiöse Studien (CRS) der Universität Münster zu einer Kontroverse um die Kandidaten gekommen. Als Sven (Muhammad) Kalisch im Juli 2004 als Professor für die Religion des Islam an der Universität Münster die Ausbildung islamischer Religionslehrer übernahm,48 wurde er als einer der herausragenden Islamwissenschaftler Deutschlands angesehen. Wenige Jahre später fiel er jedoch von seinem Glauben ab. Seit zwei Jahren hatte Kalisch Zweifel an der Existenz des 48 Kalisch war als fünfzehnjähriger Jugendlicher zum Islam konvertiert.

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Propheten Mohammed und am Koran als Wort Gottes geäußert, was schließlich zu einem Eklat mit muslimischen Verbänden führte. Der Koordinationsrat beendete daraufhin im September 2008 seine Mitarbeit im Beirat des CRS. Wie kontrovers das Thema ist, zeigen die unterschiedlichen Reaktionen. Eine Gruppe von 22 Studenten forderte in einem Schreiben an den Rektor der Universität, dass Kalisch von der Lehrerausbildung abgezogen werden müsse. Andernfalls hätten sie keine Chance, später als Religionslehrer eingestellt und von muslimischen Eltern und Gemeinden anerkannt zu werden. Da die Universität Münster den Lebenszeitbeamten Kalisch nicht entlassen konnte,49 schuf sie – vergleichbar der bei katholischen Theologen üblichen Regelung – einen zusätzlichen Lehrstuhl für „Geistesgeschichte im Vorderen Orient in nachantiker Zeit“. Die Professorenstelle am CRS wird neu ausgeschrieben. Unterdessen haben sich 30 prominente Muslime, Wissenschaftler und Publizisten in einer Solidaritätserklärung hinter Kalisch gestellt und bedauern die Abkehr von der „ergebnisoffenen Wissenschaft“. Damit ließen die im Koordinationsrat vereinigten Verbände eine historische Chance verstreichen, mit einem Hoffnungsträger die Zukunft des Islam und der Gesellschaft in Deutschland mitzugestalten.

Islamkundelehrer und Imame In Frankfurt soll ein Bachelor-Studium der islamischen Theologie das Fundament für die Master-Ausbildung von Religionslehrern und Imamen legen. Bis dort islamische Religionslehrer in hinreichender Anzahl ausgebildet worden sind, was kaum vor dem Jahre 2020 der Fall sein wird, gehen die muslimischen Schüler und Schülerinnen in die Koranschulen (türkisch: Mektep, arabisch: Kuttab), in denen z.B. in den etwa 500 DITIB-Moschen vom türkischen Staat angestellte Imame unterrichten.50 Diese sprechen allerdings oft nur mangelhaft Deutsch und wechseln zudem häufig. Es wäre also höchste Zeit, mit einer Übergangslösung – etwa, indem man fertige Orientalisten zu Islamkundelehrern ausbildet, – die Zeit bis 2020 zu überbrücken. Problematisch ist es auch, dass es an deutschen Universitäten Stiftungsprofessuren gibt, die von der türkischen Religionsbehörde Diyanet51 finanziert werden. Ob hier die Freiheit von Lehre und Forschung gewährleistet werden kann, erscheint zumindest als fraglich. Überdies ist damit einer gegen die westlichen Werte und gegen die Integration in die Gastgesellschaft gerichteten Propaganda Tür und Tor geöffnet.

49 Kalisch soll überdies im Zentrum eines „Spendeskandals“ stehen, bei dem es um eine zu Unrecht eingenommene Spende in Höhe von 20.000 Euro gehen soll. 50 DITIB = Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. 51 Amt für Religiöse Angelegenheiten in der Türkei

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7. RELIGIÖSE PARALLELGESELLSCHAFTEN Sage den gläubigen Frauen, sie sollen den Blick niederschlagen und ihre Blöße und Zierde (ziynet) nicht zeigen, außer dem, was äußerlich sichtbar ist, und ihre Brüste bedecken mit ihren Bedeckungen (hmar). Und ihre Zierde niemandem zeigen außer ihren Ehemännern, ihren Vätern, Schwiegervätern, ihren Söhnen, Stiefsöhnen, ihren Brüdern, den Söhnen ihrer Brüder und ihrer Schwestern oder ihre Frauen oder männlichen Dienern, die Frauen nicht mehr begehren, und den Kindern, die noch kein Verlangen nach Frauen haben. 52

Die Allgemeinheit hat jedoch ein berechtigtes Interesse daran, der Entstehung von religiös oder weltanschaulich motivierten „Parallelgesellschaften“ entgegenzuwirken und Minderheiten zu integrieren. In der Ablehnung staatlicher Reglementierung treffen sich offenbar islamische Fanatiker und christliche Fundamentalisten. Religiöse Toleranz scheint sich weder in den islamischen Ländern noch in Europa dauerhaft durchzusetzen. 7.1 Ignoranz und Desinteresse Allerdings war es gegen Ende des 20. Jahrhunderts in vielen Ländern – so auch in Deutschland – üblich geworden, die zugewanderten Muslime weitgehend sich selbst zu überlassen bzw. ganz zu ignorieren. Wenn muslimische Ehemänner ihren oft aus Anatolien nachgeholten Ehefrauen verboten, die deutsche Sprache zu erlernen oder sie sogar in der Wohnung einsperrten und womöglich misshandelten, wurde eher weggeschaut. Durchsetzung westlicher Werte? Kaum jemand wäre auf die Idee gekommen, die grundgesetzliche Werteordnung in einem mehrheitlich türkisch besiedelten Stadtteil einer Großstadt – z.B. mit Hilfe der Polizei – durchsetzen zu wollen. Von solchen Stadtteilen hielt sich die Polizei ohnehin lieber fern. Allenfalls wurde die Schulpflicht – so gut es eben ging – auch für türkische Mädchen durchgesetzt. Da der Religionsunterricht an den Schulen zu dieser Zeit ausschließlich auf die christlichen Konfessionen ausgerichtet war, wurde die islamische Religionserziehung privaten Koranschulen überlassen, obgleich Experten deren Verfassungstreue – nicht immer zu Unrecht – in Zweifel zogen. Erst das Urteil einer Frankfurter Richterin, die die unverzügliche Scheidung einer in Deutschland geborenen Marokkanerin, die von ihrem Mann ständig misshandelt wurde, ablehnte, „weil die Züchtigung von Frauen im Koran schließlich vorgesehen sei (Sure 4,34)“, erregte die Gemüter.53 Zu ihrer Rechtfertigung wies sie die Klägerin obendrein darauf hin, dass für einen islamisch erzogenen Mann

52 Sure 24 an-Nur / Das Licht, Vers 31. 53 Das Urteil wurde später aufgehoben.

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das Leben einer Frau nach westlichen Kulturregeln bereits den Tatbestand der Ehrverletzung erfülle. Das war auch für die deutsche Öffentlichkeit zu viel. „Ehrenmorde“ Die traurige Konsequenz dieser Einstellung zeigt sich jedoch immer wieder in so genannten „Ehrenmorden“ an muslimischen Mädchen, die durch ihr westliches Verhalten „Schande“ über die Familie gebracht hatten und deshalb getötet wurden. Dabei erweist es sich für die deutschen Gerichte zumeist als äußerst schwierig, wenn nicht als unmöglich, die betroffenen Familien davon zu überzeugen, dass eine solche Tat strafbar und nach unseren Maßstäben verabscheuungswürdig ist. Denn „Ehrenmord“ und „Blutrache“ werden von der scharia insofern als gerechtfertigt angesehen, als es der in ihrer Ehre verletzten Familie zusteht, Vergeltung durch eines ihrer Mitglieder an dem ehrverletzenden Individuum zu üben. Diese kollektive Betroffenheit der Opferfamilie ist ein wesentliches Element der Blutrache54 Dabei gibt es keine andere Vergebung der Sünden als die durch das Schwert oder durch Geld. Nicht der Staat (daula), sondern die Gemeinschaft der Gläubigen, die umma, ist hier der zentrale Rechtsbegriff. Es liegt auf der Hand, dass es auf dieser Grundlage nur schwer möglich ist, die in Europa geltende westliche Rechtsordnung bei (gläubigen) Muslimen effektiv durchzusetzen. Dennoch muss der Staat alles daran setzen, das Recht gerade auch im Falle von „Ehrenmorden“ mit Konsequenz und einer gewissen Strenge durchzusetzen. 7.2 Moscheen und Minarette Bis zu dem Mord an dem niederländischen Filmemacher Theo van Gogh am 2. November 2004 durch Mohammed Boujeri schienen die Europäer jedoch eher indifferent gegenüber der andersartigen Staats- und Rechtsauffassung der zahlreicher werdenden Muslime in ihren Ländern zu sein. Sie tolerierten nicht nur den Bau von Moscheen, sondern – zumindest partiell – auch die Bildung islamischer Parallelgesellschaften. Einführung der Scharia? Das ging sogar soweit, dass nicht nur in den Niederlanden, sondern selbst in Großbritannien die Anwendung der scharia für Muslime durch einheimische Gerichte gefordert wurde. So haben sowohl der Erzbischof von Canterbury, als auch der höchste Richter (Lord Chief Justice) Großbritanniens55 die Anwendung von Teilen des islamischen Rechts bei der Schlichtung von zivilen Streitigkeiten für unvermeidlich bzw. für problemlos möglich erklärt.56 Relativ unproblematisch er54 Vgl. Baumeister 2007, S. 67. 55 Lord Phillips of Worth Matravers. 56 FAZ vom 5.7.2008, FAZ vom 8.7.2008.

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scheint auf den ersten Blick die Lösung von vertraglichen Auseinandersetzungen mit Hilfe der „Grundsätze des islamischen Rechts, oder irgendeines anderen religiösen Kontextes“. Sehr viel problematischer ist hingegen der zweite Vorschlag von Lord Phillips, Prinzipien der Scharia könnten auch in Heiratsvereinbarungen Geltung haben. Danach würde eine Muslimin erst dann nach einer Scheidung eine zweite Ehe eingehen können, „wenn sie auch nach den Prinzipien der Scharia geschieden worden ist“. Denn in diesem Fall würde nach deutschem Rechtsverständnis u.U. der Grundrechtsschutz der Frau verletzt. Die deutsche Zivilprozessordnung sieht zwar vor, dass deutsche Gerichte – z.B. in Scheidungssachen – ausländisches Recht anwenden, wenn beide Prozessparteien Ausländer sind.57 Freilich dürfen dabei die unveräußerlichen Rechte der Beteiligten nicht verletzt werden. Ende der Bescheidenheit? Diese übergroße Toleranz scheint nun nicht nur in ernster Gefahr zu sein, sondern geradezu in ihr Gegenteil umzuschlagen. Dabei spielen vor allem die sichtbaren Zeichen des Andersartigen eine entscheidende Rolle. Nach einer Phase der bescheidenen Zurückhaltung, in der die islamischen Gemeinden leer stehende Fabrikhallen als (provisorische) Moscheen anmieteten und die Gläubigen ihre Gebete in aller Stille abhielten, werden jetzt verstärkt Anträge zum Bau von repräsentativen Moscheen mit hohen Minaretten gestellt, die oft auch mit dem Geld der Saudis oder der Vereinigten Arabischen Emirate finanziert werden. Durch Spendensammlungen finanziert die in Indien entstandene AMJ58 ihr 100-MoscheenProjekt, das bereits 1989 aus der Taufe gehoben wurde und bis zum Jahre 2010 vollendet sein sollte. Jährlich werden fünf neue Moscheen gebaut, das Ziel wurde aber noch nicht erreicht. Insgesamt 206 Moscheen, 2.600 Bethäuser und zahlreiche „Hinterhofmoscheen“ zählte das Zentralinstitut Islam-Archiv für das Jahr 2008. Weitere 120 Moscheen sollen sich im Bau und zumindest in der Planung befinden. Es dauert wohl nicht mehr lange, bis uns der Muezzin sechsmal täglich zum Gebet ruft und der Straßenverkehr wegen der gläubigen Muslime zum Erliegen kommt, die sich – auf ihren Gebetsteppischen kniend − nach Mekka wenden. Gegen Widerstände aus der Bevölkerung, der katholischen Kirche, der örtlichen CDU sowie des jüdischen Schriftstellers Ralph Giordano wurde in KölnEhrenfeld im letzten Jahr der Bau einer Großmoschee mit Hilfe einer groß angelegten Medienkampagne durchgesetzt.59

57 Vgl. Prütting/Wieczorek/Schütze 2008. 58 AMJ = Ahmadiyya Muslim-Gemeinschaft. 59 Am 7. November 2009 fand die Grundsteinlegung statt.

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Minarett-Verbot in der Schweiz Der Eklat war jedoch da, als sich die Schweizer am 29. November 2009 in einem Referendum mehrheitlich (57,5%) für eine Verfassungsänderung ausgesprochen haben,60 die den Bau von Minaretten verbietet.61 Man könnte dies durchaus im Sinne Carl Schmitts als Ausdruck der „souveränen Diktatur“ des Volkes verstehen.62 Es bleibt abzuwarten, ob der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese Entscheidung für nicht vereinbar mit der Europäischen Konvention für Menschenrechte erklärt. Und es wird für den neutralen Beobachter besonders interessant sein zu beobachten, wie die einzige direkte Demokratie der Erde, die sich erst im September 2002 – fast 50 Jahre nach Gründung dieser Institution – zu einem UN-Beitritt entschließen konnte (von einem EU-Beitritt ganz zu schweigen63), auf ein solches Urteil und die damit verbundene Einschränkung der Volkssouveränität reagieren wird. 7.3 Kopftuch und Ganzkörperschleier Ein Symbol der Fremdheit, der gewollten Andersartigkeit, ja der Unterdrückung der Frau, ist für viele Nichtmuslime die Verschleierung der muslimischen Frau. Menschenrechtler gehen sogar noch weiter und bemängeln, dass die Frau dadurch nicht nur ihre Gesicht und ihre Identität verliere, sondern auch ihre Rechte und ihre Würde. In der Form des einfachen Schleiers (arabisch: hidschab) wird er traditionell von Frauen und jungen Mädchen getragen. In einigen islamischen Ländern ist hingegen der Ganzkörperschleier (arabisch: burka) – oft in Verbindung mit dem Niqab, einem Gesichtsschleier, – vorgeschrieben, und in Afghanistan sind die Frauen nicht nur vollständig verhüllt, sondern sie können nur durch ein engmaschiges Gitter hinausblicken. In Persien wird der Tschador getragen, ein großes, meist dunkles Tuch in Form eines Halbkreises, das von muslimischen Frauen als Umhang um Kopf und Körper gewunden wird und lediglich das Gesicht (oder Partien des Gesichtes) frei lässt. Da der Koran keine Hinweise auf ein Verschleierungsgebot enthält, sondern den Frauen nur aufgibt, ihre Reize nicht offen zur Schau zu stellen, tragen viele muslimische Frauen lediglich ein lockeres Kopftuch, andere verzichten ganz darauf.

60 Die Wahlbeteiligung war mit 54% für Schweizer Verhältnisse ungewöhnlich hoch. 61 Libyens Staatschef Ghaddafi hat daraufhin im Frühjahr 2010 propagandawirksam den „Heiligen Krieg“ gegen die Schweiz ausgerufen, wozu er allerdings nicht befugt war, da er kein hoher geistlicher Würdenträger ist. 62 Schmitt VL, S. 59. 63 Die Schweizer lehnten in einem Referendum am 6.12.1992 den Beitritt zum EWR ab, u.a. weil sie befürchteten, damit sei automatisch der Beitritt zu EU verbunden.

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Burka-Verbot In Frankreich lebt mit über fünf Millionen die größte muslimische Gemeinde in der Europäischen Union. Bereits seit 2004 ist das Tragen auffälliger religiöser Symbole, also auch des hidschab, in den staatlichen Schulen verboten. Kürzlich hat ein parteiübergreifender Parlamentsausschuss – auf Anraten von Staatspräsident Sarkozy – ein striktes Verbot der Burka empfohlen. Eine Burka zu tragen, widerspreche „den Werten der Republik“. Burka-Trägerinnen sollen davon ausgeschlossen werden, mit Bussen oder Bahnen zu fahren, Schulen, Krankenhäuser oder Behörden zu betreten. Das Verbotsgesetz wurde kürzlich von Nationalversammlung und Senat verabschiedet. Jetzt wird es noch vom Verfassungsrat geprüft. Aus rechtlichen Gründen soll das Gesetz allerdings nicht nur die Burka, sondern jegliche Vermummung in staatlichen Einrichtungen untersagen. Diese Initiative findet in der Bevölkerung offenbar breite Zustimmung. Fast zwei Drittel der Franzosen sprechen sich in einer Umfrage vom 25. Januar 2010 für ein Verbot der Burka in der gesamten Öffentlichkeit, also auch auf der Straße, aus. In Belgien ist das Verbot bereits in Kraft, und auch in Dänemark wird ein Burka-Verbot erwogen. Kopftuch in der Schule? In den Niederlanden hat der Islamkritiker Geert Wilders seine PVV (Partei für die Freiheit) bei den Parlamentswahlen am 7. Juni 2010 zur drittstärksten Kraft gemacht.64 Sein Wahlprogramm sieht ein Verbot des Kopftuchs im Staatsdienst sowie ein generelles Burka-Verbot in der Öffentlichkeit vor, radikale Moscheen sollen geschlossen, neue Moscheen und Koranschulen dürfen danach nicht mehr gebaut werden. In Deutschland ist vor allem das Tragen eines Kopftuchs in Schulen umstritten. Das Bundesverfassungsgericht hat dazu entschieden: Das Tragen eines Kopftuchs durch die Beschwerdeführerin in Schule und Unterricht fällt unter den Schutz der Glaubensfreiheit. […] Es kann ein Zeichen für als verpflichtend empfundene, religiös fundierte Bekleidungsregeln wie für Traditionen der Herkunftsgesellschaft sein. In jüngster Zeit wird in ihm verstärkt ein politisches Symbol des islamischen Fundamentalismus gesehen. Die Deutung des Kopftuchs kann jedoch nicht auf ein Zeichen gesellschaftlicher Unterdrückung der Frau verkürzt werden. 65

Es steht dem zuständigen Landesgesetzgeber frei, ein Verbot zu verhängen. Tatsächlich haben einige – wenn auch nicht alle – Bundesländer dies auch gesetzlich festgeschrieben. Verfassungsrechtlich ist es höchst problematisch, einerseits das Tragen auffälliger christlicher Symbole wie des Kreuzes oder des Habits von Nonnen und Mönchen in Schulen zu dulden, andererseits aber das Tragen musli64 Wilders PVV gewann 24 von 150 Sitzen im Parlament der Niederlande (Staten-Generaal). 65 BVerfG 2 BvR 1436/02 vom 24.9.2003.

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mischer Symbole zu verbieten. Anderseits stieß das Minarett-Verbot der Schweizer in Deutschland nicht nur auf öffentliche Empörung (die gab es auch), sondern auch auf mehr oder weniger leise Zustimmung der Deutschen. 8. KAMPF DER KULTUREN? Samuel Huntington hatte bereits 1993 in einem Aufsatz in der Zeitschrift Foreign Affairs – und fünf Jahre später in einem Buch – den bevorstehenden Clash of Civilizations prophezeit.66 Huntington sprach von großen Kulturkreisen,67 die aufeinander stoßen, weniger von Auseinandersetzungen innerhalb der westlichen Gesellschaften. Genau das scheint sich jedoch seit der Fatwa,68 mit der Ayatollah Chomeini am 14. Februar 1989 die Tötung des indisch-britischen Schriftstellers Salman Rushdie wegen seiner Satanischen Verse verlangt hatte, abzuspielen. In diesen Zusammenhang gehört auch das Attentatsversuchs eines islamistischen Gewalttäters im Januar dieses Jahres gegen den dänischen Karikaturenzeichner Kurt Westergaard,69 dessen Mohammed-Karikaturen zuerst in dänischen Zeitungen und später auch im Ausland abgedruckt wurden. In Anspielung auf die islamistischen Selbstmordattentäter wird darin u.a. Mohammeds Kopf als (Zeit-) Bombe mit glimmender Zündschnur dargestellt. Die Muslime empfanden und empfinden dies als unzulässige Kritik oder sogar als Verunglimpfung ihres Propheten. Bereits das Leugnen der Existenz Mohammeds wird von strenggläubigen Muslimen nicht akzeptiert. Damals hatte es Ausschreitungen fast in der gesamten islamischen Welt gegeben, bei denen nicht nur dänische Einrichtungen zerstört und Fahnen verbrannt wurden wurden. Ähnlich wie Rushdie hatte sich Westergaard ständigen Morddrohungen ausgesetzt gesehen. Umgekehrt ist die Toleranz der Muslime in ihrer Heimat gegenüber den Christen oft nur allzu begrenzt. So wird die Arbeit christlicher Konfessionen in den islamischen Ländern fast überall stark behindert, Kirchen verfallen, Theologen können nicht mehr ausgebildet werden. Von den ursprünglich etwa 2 Mill. Christen gibt es im Irak heute allenfalls noch 600.000, alle anderen sind geflohen. Noch krasser ist die Behinderung der Christen lediglich im atheistischen China. 9. BEKENNTNIS ZU DEUTSCHLAND Das Verhältnis zwischen Staat und Religion ist einem ständigen Wandel unterworfen, so wie der Staat selbst und auch die Religion sich ständig ändern. Als Folge der Reformation spaltete sich die christliche Kirche in einen katholischen und einen protestantischen Zweig, der sich weiter ausdifferenzierte. Bis in die ers66 67 68 69

Huntington 1996. In Anlehnung an Spengler 1979. Rechtsgutachten, das allerdings bei Sunniten umstritten ist. Siehe Spiegel-online vom 2. Januar 2010.

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te Hälfte des 20. Jahrhunderts herrschte in Europa allerdings noch eindeutig das Christentum vor. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist dieses jedoch vielfacher Konkurrenz ausgesetzt. Da ist zum einen die Tendenz zum Atheismus, zu esoterischen Pseudoreligionen, aber auch zu Zivilreligionen. Zum anderen ist der Islam – ungeachtet der Unterschiede zwischen Sunniten, Aleviten und Schiiten – im Vordringen. Wo früher ein reges christliches Gemeinschaftsleben blühte, herrscht heute oft gähnende Leere. Zudem sind sowohl die katholische wie die evangelische Kirche in Missbrauchsfälle verwickelt, die ihrem Ansehen schaden. Umgekehrt entfaltet sich an anderer Stelle ein islamisches Gemeinschaftsleben, das sich nicht mehr nur in stillen Gebeten äußert, sondern selbstbewusst nicht nur nach großen repräsentativen Moscheen ruft, sondern auch Anerkennung und Mitbestimmung in der Gesellschaft fordert. Gefahr für die christlich-abendländische Kultur? Vielen nichtmuslimischen Europäern ist diese Entwicklung unheimlich. Sie sehen die christlich-abendländische Kultur in Gefahr. Das Schweizer Minarett-Verbot, die Wahlerfolge des Islamgegners Geerd Wilders bei den niederländischen Parlamentswahlen im Jahre 2010 und das Burkaverbot in Frankreich weisen in diese Richtung. Viel wichtiger als Verbote sind hingegen klare Wertorientierungen, die sich nicht unbedingt in einer „Leitkultur“ manifestieren müssen. Sie sollten sich aber in dem eindeutigen Bekenntnis zu unserer demokratischen Rechtsordnung niederschlagen mit einem Staat, der auch seinen Erziehungsauftrag ernst nimmt. Dieser Auftrag verpflichtet den Staat neben der religionsbezogenen Neutralität dazu, auch für nichtchristliche Schüler und Schülerinnen – also vor allem für muslimische Jungen und Mädchen – einen den Wertvorstellungen des Grundgesetzes entsprechenden Religionsunterricht anzubieten. Bedauerlicherweise ist diese Aufgabe über mehr als drei Jahrzehnte sträflich vernachlässigt worden. Anstelle einer aktiv steuernden Einwanderungspolitik wurde unter dem Motto „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ eine kindische „Vogel-Strauß-Politik“ betrieben. Gleichzeitig wurde aber die völlig planlose Einwanderung einer großen Anzahl von Asylbewerbern hingenommen, die z.T. erfolglos Asyl beantragten,70 um dann – mehr oder weniger geduldet – auf Dauer in Deutschland zu bleiben. Verfassungstreue von allen Bürgern Von entscheidender Bedeutung ist allerdings, dass sich die Einwanderer zu ihrer neuen Heimat bekennen. Das muss auch für Muslime gelten, die traditionell nicht den Staat, sondern den Koran als Maßstab für ihr Handeln in der Glaubensgemeinschaft (umma) ansehen. Ein Verfassungsstaat wie Deutschland muss aber 70 Die Anerkennungsverfahren zogen sich z.T. über viele Jahre hin, auch rechtmäßige Abschiebungen wurden von selbsternannten Moralaposteln mit allen Mitteln verhindert.

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von allen Bürgern Verfassungstreue einfordern können, auch wenn sie einer anderen Religion zugehören. Dazu gehört die freiheitliche demokratische Grundordnung als Kernbestand des demokratischen Rechts-, Sozial- und Kulturstaates. Auf sie muss sich jeder Neubürger verpflichten lassen. Es versteht sich von selbst, dass sich damit die Unterdrückung und Misshandlung von Frauen, Zwangsehen oder gar sog. Ehrenmorde nicht vereinbaren lassen. Dass zu der notwendigen Integration die Kenntnis der deutschen Sprache erforderlich ist, bedarf kaum der besonderen Erwähnung. Migranten ohne solche Sprachkenntnisse sind geradezu dazu gezwungen, sich in Parallelgesellschaften zu organisieren und in „eigenen“ Stadteilen Zuflucht zu suchen, in denen sie „unbehelligt“ von der Kultur des Gastlandes leben können. Freilich ist Integration keine Einbahnstraße. Vielmehr müssen Staat und Gesellschaft alles nur Mögliche tun, um bessere Voraussetzungen für die Integration von Neubürgern zu schaffen.

STAAT UND VERFASSUNG Carl Schmitt in der Verfassungsdiskussion der Gegenwart Der verfassungsgebende Wille des Volkes ist ein unmittelbarer Wille. Er steht vor und über jedem verfassungsgesetzlichen Verfahren. Kein Verfassungsgesetz, auch keine Verfassung, kann eine verfassungsgebende Gewalt verleihen und die Form ihrer Betätigung vorschreiben.1

In einem Verfassungsstaat ist die Staatsgewalt an die Verfassung gebunden und durch sie beschränkt. Üblicherweise sorgt ein Verfassungsgericht für die Wahrung der Grundrechte. Das Grundgesetz legt in Artikel 1 Abs. 3 unmissverständlich fest, dass die Grundrechte nicht nur die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung, sondern auch die Gesetzgebung als „unmittelbar geltendes Recht“ binden. Nach Artikel 20 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes geht alle Staatsgewalt vom Volke aus und – so könnte man fortfahren – wird sodann von den drei genannten Gewalten in ihrem besonderen Aufgabenbereich ausgeübt. Da die Gesetzgebung Aufgabe vor allem des Bundestags (sowie des Bundesrates) ist, dessen Abgeordnete als Repräsentanten des Volkes angesehen werden, ergibt sich damit ein Widerspruch zu der Volkssouveränität. Von einer direkten Demokratie ist im Grundgesetz freilich nicht die Rede, vielmehr handelt es sich um eine sog. repräsentative Demokratie, bei der – zumindest in der Theorie – das Volk durch die von ihm gewählten Abgeordneten repräsentiert wird. Idealtypisch ist jeder Gesetzgebungsbeschluss des Parlaments eine Willensäußerung des Volkes. In der politischen Praxis zeigt sich jedoch, dass die Abgeordneten zunächst sich selbst und ihrem Wohlbefinden, dann dem Interessenverband, dem sie nahe stehen und schließlich der Partei, der sie angehören, verpflichtet fühlen. Das Volk kommt in Gestalt der Wähler erst dann wieder ins Spiel, wenn es um die Wiederwahl der Abgeordneten geht. Zudem kann von einer repräsentativen Auswahl der Abgeordneten oder gar von dem Parlament als einem „Spiegelbild“ aller Schichten des Volkes keine Rede sein. 1. PARADIGMENWANDEL IN DER STAATSRECHTSLEHRE Diesen Widerspruch hat Carl Schmitt (1888–1985) zugunsten der Volkssouveränität aufzulösen versucht. Mit seiner Verfassungslehre, die 1928 – also noch in der Weimarer Republik – entstand,2 hat er die Verfassungsdiskussion nachhaltig beeinflusst, nicht nur die der damaligen Zeit, sondern auch die der Gegenwart. Schmitts Verfassungslehre ist auch im deutschen Diskurs der Nachkriegszeit über „Staat“, „Volk“ und „Verfassung“ wirkmächtig geblieben. Dies gilt vor allem − wenn auch in einer liberal „eingehegten“ Weise − für die juristisch geprägte 1 2

Schmitt VL, S. 84; ähnlich Art. 28 der französischen Verfassung vom 24. Juni 1793. Schmitt VL.

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Staatstheorie. Darüber hinaus ist Schmitts Verfassungsverständnis aber auch von der Politikwissenschaft des In- und Auslandes aufgegriffen worden.3 Carl Schmitt zielte mit seiner Verfassungslehre auf nichts Geringeres als auf einen Paradigmenwechsel, also auf eine radikale Änderung des Blickwinkels, aus dem der Staat betrachtet wurde. War bis dahin die Staatslehre Georg Jellineks (1851–1911) maßgeblich gewesen, so legte Schmitt nunmehr das Schwergewicht der Analyse auf die Verfassung. Solche wissenschaftlichen Umbrüche finden zumeist in Zeiten der Krise statt; und die Weimarer Zeit war eine solche Epoche der geistigen, ökonomischen, politischen und sozialen Krise. Zumindest darin sind sich alle zeitgenössischen Beobachter einig. Der Anlass für jede Reflexion ist der problematisch gewordene Umgang mit alltäglichen Selbstverständlichkeiten. Oft setzt gerade der ungewohnte Blick auf bekannte Gegenstände neue Erkenntnispotenziale frei.4

Das galt im Jahre 1928, das gilt aber auch heute. Dabei zeigt sich allerdings auch stets, dass etablierte Erkenntnisse ein gewisses Beharrungsvermögen haben. Neue „Wahrheiten“, die den bisherigen Wissensstand in Frage stellen, haben es demgegenüber schwer. Ihre Verbreitung in einem Wissenschaftssystem ist an günstige Voraussetzungen geknüpft, und es ist keineswegs selbstverständlich, dass sie sich schließlich auch durchsetzen. Überwindung des Positivismus Im Vorwort der Verfassungslehre beschreibt Schmitt den für das Öffentliche Recht charakteristischen geistesgeschichtlichen Hintergrund im damaligen Deutschland: Eine bestimmte Auffassung von ‚Positivismus„ diente dazu, verfassungstheoretische Grundfragen aus dem Staatsrecht in die allgemeine Staatslehre zu verdrängen, wo sie zwischen Staatstheorien im allgemeinen und philosophischen, historischen und soziologischen Angele5 genheiten eine unklare Stelle fanden.

Damit knüpft Carl Schmitt vor allem an Paul Laband (1838–1918), Carl Friedrich von Gerber (1823–1891), aber auch an Richard Thoma (1874–1957) an, die den Staatsrechtspositivismus in Deutschland – zumindest zeitweilig – zur herrschendenden Lehre im Öffentlichen Recht gemacht haben. Diese positivistische Sicht gilt es zu überwinden. Carl Schmitt geht aber noch einen Schritt weiter, indem er auf etwas verweist, was wir heute nur noch vom Hörensagen kennen, nämlich ein „politisches und soziales Sicherheitsgefühl“, das noch in der Vorkriegszeit geherrscht habe, jetzt (1928) aber verloren gegangen sei. 3 4 5

Voigt (Hg.) 2007. Geulen 2005, S. 53. Schmitt VL, S. XI.

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Tatsächlich haben die Weltkriege mit ihren Gasangriffen an der Front und den Luftangriffen auf die Zivilbevölkerung das Sicherheitsgefühl vor allem der Europäer nachhaltig verändert.6 Holocaust, Gulag7 und atomare Massenvernichtungswaffen haben den Menschen weltweit das Gefühl gegeben, dass nichts und niemand mehr irgendwo sicher ist.8 Aber erst der Angriff der Qaida auf das World Trade Center am 11. September 2001 hat auch den Amerikanern, die sich immer für unangreifbar gehalten hatten, gezeigt, dass sie im eigenen Lande verwundbar sind. Darüber hinaus haben Protagonisten der „Postmoderne“, wie Jean-François Lyotard (1924–1998) oder Jean Baudrillard (1929–2007), diese Unsicherheit ins Philosophische überhöht.9 Sie haben uns gezeigt, dass man sich auf gar nichts mehr verlassen kann, weder in der Kunst noch in der Wissenschaft, weder in der Politik noch in der Geschichte. Insofern kann Carl Schmitt durchaus als Vordenker der Postmoderne, ja als „postmoderner Philosoph“, verstanden werden. Innovation in der Staatsrechtslehre Was war so neu und grundlegend an Carl Schmitts Verfassungslehre, dass sie gewissermaßen einschlug wie eine Bombe? Immerhin hatten berühmte „Staatslehren“ nicht minder berühmter Staatsrechtslehrer – angefangen von Georg Jellinek über Hans Kelsen (1881–1973) bis später dann zu Hermann Heller (1891–1933)10 – das Terrain zur Zeit von Schmitts Arbeiten an der Verfassungslehre doch scheinbar bereits abgesteckt. Schon gegen Ende der Kaiserzeit hatte Jelinek mit seiner Zwei-Seiten-Lehre dafür gesorgt, dass neben der staatsrechtlichen Seite auch die soziologisch-politikwissenschaftliche Seite des Staates beleuchtet wurde.11 Die Verfassung spielte dabei jedoch noch keine prominente Rolle, sie wurde, wie Schmitt sagt, „verdrängt“. Vielleicht lag es daran, dass die Reichsverfassung von 1871 noch keinen Grundrechtsteil enthielt, Schmitt spricht von „komplizierter Unfertigkeit“. Gemessen an heutigen Maßstäben wirkte diese Verfassungsurkunde eher wie ein „Rahmenvertrag“ für die Reichsgründung. Die Parallele zum Lissabon-Vertrag, der an die Stelle der eigentlich geplanten Verfassung der Europäischen Union getreten ist, drängt sich geradezu auf. 2. CARL SCHMITTS VERFASSUNGSLEHRE Neu war Schmitts Versuch, den systematischen Aufbau einer Verfassungstheorie voranzutreiben und das Gebiet der Verfassungslehre als „besonderen Zweig des 6 7

Vgl. Voigt 2008. Akronym für Hauptverwaltung der Besserungslager, Synonym für ein umfassendes Repressionssystem in der Sowjetunion. 8 Für die Deutschen kommt besonders die Inflationsangst hinzu. 9 Baudrillard 1983, Lyotard 1986. 10 Heller 1934. 11 Jellinek 1914, Anter (Hg.) 20.

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öffentlichen Rechts“ in Deutschland zu etablieren. Dafür sieht er Ende der 1920er Jahre die Zeit für gekommen: Immerhin ist die Weimarer Verfassung bereits seit fast einem Jahrzehnt in Kraft. Schmitt unterscheidet drei Bedeutungen der „absoluten Verfassung“: (1) Verfassung als der „konkrete Gesamtzusammenhang politischer Einheit und sozialer Ordnung eines bestimmten Staates“.12 Das geht auf Aristoteles zurück, der den Staat (genauer: die polis) als eine Ordnung des natürlich gegebenen Zusammenlebens von Menschen einer Stadt oder eines Gebietes definiert hat. Die Verfassung ist hier die „Form der Formen“ oder wie der von Schmitt zitierte Isokrates sagt: „Die Verfassung ist die Seele der Polis“. (2) Verfassung als eine „besondere Art politischer und sozialer Ordnung“. 13 Hier geht es um Verfassung als Form der Herrschaft. Nach der klassischen Einteilung ist der Staat also entweder eine Monarchie, eine Aristokratie oder eine Demokratie. Vorerst nur für die Weimarer Republik ist wichtig an diesem Aspekt: Durch eine erfolgreiche Revolution (1918) kann eine neue Verfassung als neue Ordnung etabliert werden. Für die Bundesrepublik Deutschland sind die Verhältnisse hingegen viel komplizierter. Am Ende der NS-Herrschaft stand keine Revolution, sondern bedingungslose Kapitulation und militärische Besetzung. (3) Verfassung als „Prinzip des dynamischen Werdens der politischen Einheit, des Vorgangs stets erneuerter Bildung und Entstehung dieser Einheit aus einer zugrundeliegenden oder im Grunde wirkenden Kraft und Energie“.14 Die politische Einheit muss sich täglich bilden, oder – um mit Rudolf Smend (1882– 1975) zu sprechen – der Staat muss sich als geistige Wirklichkeit integrieren und als eine solche anschaulich und erlebbar werden.15 Herman Heller nennt das eine „täglich aufs Neue stattfindende Volksabstimmung“.16 Dieser letzte Aspekt, bei dem Smend auch die Bedeutung staatlicher Symbolik für die Demokratie erkannt hat, wird heute im Zeichen der unbewältigten Integrationsprobleme immer wichtiger. Es ist schließlich im höchsten Maße alarmierend, (1) Wenn zum einen viele Menschen mit Migrationshintergrund signifikant geringere Bildungs- und Aufstiegschancen haben als andere Bevölkerungsgruppen. (2) Wenn sich zugleich ein großer Teil dieser in Deutschland lebenden Menschen nicht gesellschaftlich integriert, sondern sich – ganz im Gegenteil – sprachlich, religiös und kulturell isoliert. 12 13 14 15 16

Schmitt VL, S. 4. Schmitt VL, 4f. Schmitt VL, S. 5f. (Hervorhebungen im Original). Smend 1994. Heller 1992, S. 430ff. (Hervorhebungen im Original).

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(3) Wenn drittens schließlich ein immer größer werdender Teil der wahlberechtigten Bevölkerung in Deutschland nicht zur Wahl geht, weil er den etablierten Parteien die Lösung der Probleme nicht mehr zutraut. Sollte die der politischen Einheit zugrunde liegende Kraft und Energie – zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung – erschöpft sein? Rosa Luxemburg (1871– 1919) war es, die von dem „Fußtritt der Geschichte“ gesprochen hat, der erst der Verfassung den nötigen Schwung verleihe.17 Der Kernsatz der Leipziger Montagsdemonstrationen „Wir sind das Volk!“ findet offenbar in Deutschland kein Echo mehr. Der beschwörende Appell von Angela Merkel im Bundestagswahlkampf 2009 „Wir haben die Kraft“ – geschmückt mit dem Porträt der Bundeskanzlerin – ist gerade umgekehrt sichtbarer Ausdruck der Kraftlosigkeit der Regierenden. Die Zeiten, in denen wenigstens über Partei- und Regierungsprogramme gestritten wurde, scheinen schon solange vergangen zu sein, dass mancher sich kaum noch daran erinnern kann. Der Wahlspruch der Deutschen: „Einigkeit und Recht und Freiheit“, der den Rand der Fünf-Mark-Stücke zierte, ist mit der Umstellung auf den Euro gleich mit verloren gegangen. Auch der Text der dritten Strophe des Deutschlandliedes scheint allmählich in Vergessenheit zu geraten. Fußballspieler der deutschen Nationalmannschaft, die nicht in Deutschland geboren sind, lehnen es rund heraus ab, bei Siegerehrungen die deutsche Nationalhymne mit zu singen. 2.1 Verfassung als geschlossenes Normensystem Verfassung im absoluten Sinne kann auch ein „einheitliches, geschlossenes System höchster und letzter Normen“, eine „grundgesetzliche Regelung“ sein. Damit nimmt Carl Schmitt das vorweg, was heute zu den juristischen Selbstverständlichkeiten gehört, nämlich den Grundgedanken der Normenpyramide: Alle anderen Gesetze und Normen müssen auf diese eine Norm zurückgeführt werden können.18

Es verwundert daher nicht, dass besonders in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik gerade dieser Teil der Schmittschen Verfassungslehre von den deutschen Staatsrechtslehrern fast ausnahmslos positiv bewertet und rezipiert wurde.19 Bereits an dieser Stelle weist Schmitt aber die Antwort der „Liberalen des bürgerlichen Rechtsstaats“, zu denen er auch Hans Kelsen rechnet, zurück, nämlich dass weder der Monarch, noch das Volk, sondern die Verfassung souverän sei. Diese Ansicht vermag Schmitt nicht zu teilen. Heute könnte man freilich die Befugnis des Bundesverfassungsgerichts zur alleinigen Letztinterpretation des Grundgeset-

17 Luxemburg 2006. 18 Schmitt VL, S. 7. 19 Voigt/Luthardt 1986, S. 135–155.

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zes durchaus in diese Richtung deuten. Carl Schmitt kommt jedoch sogleich zur Sache: In Wahrheit gilt eine Verfassung, weil sie von einer verfassungsgebenden Gewalt (d.h. Macht oder Autorität) ausgeht und durch deren Willen gesetzt ist. 20

Damit wird freilich ein (versteckter) Dissens zu einem großen Teil der heutigen Staatsrechtslehrer sichtbar. Zwar wird Artikel 20 Grundgesetz selbstverständlich akzeptiert: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, aber doch wohl eher als eine Art „Lippenbekenntnis“. Die zentrale Frage ist vielmehr heute: Wer verfügt gegenwärtig – verfassungsrechtlich betrachtet – über die Verfassung gebende Gewalt in Deutschland: Volk, Parlament oder Verfassungsgericht? 2.2 Verfassung als existentielle Entscheidung Carl Schmitt legt größten Wert darauf, dass die Verfassung gebende Versammlung und das Parlament „qualitativ verschieden“ sind, denn andernfalls könnte ein Parlament ja alle folgenden Parlamente binden. Das jedoch hält Schmitt für widersinnig und ungerecht. Es muss eine grundlegende Entscheidung von einer Verfassungsversammlung getroffen werden, die direkt vom Volk legitimiert ist. Der Souverän verfügt über das Monopol der Letztentscheidung, denn darin liegt das Wesen der Souveränität des Staates. Die Souveränität des Staates besteht nicht im Monopol des Zwangs oder der Beherrschung, sondern in der Entscheidung. Gerade dieser Ausspruch zeigt Schmitt bereits als Dezisionisten, ein Etikett, das er sich später freilich noch deutlicher und nachhaltiger „verdienen“ wird.21 Pouvoir constituant Die Weimarer Verfassung gilt, weil das deutsche Volk „sich diese Verfassung gegeben“ hat.22 Carl Schmitt bekennt sich damit – implizit – zu der Volkssouveränität im Sinne des Theoretikers der Französischen Revolution Abbé Emmanuel Joseph de Sieyès (1748–1836).23 Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930–) zieht daraus für das Grundgesetz denselben Schluss, nämlich dass als Träger der Verfassung gebenden Gewalt nur das Volk in Betracht kommt. Als pouvoir constituant, der der rechtlichen Voraussetzung vorausliegt, ist die Verfassung gebende Gewalt des Volkes nicht durch die Verfassung selbst rechtlich normierbar und in ihren Äußerungsformen festlegbar“. Ihr originärer Charakter ermöglicht es ihr, „sich – gerade als politische Größe – Äußerungsformen selbst zu suchen und zu schaffen.24

20 21 22 23 24

Schmitt VL, S. 9. Voigt (Hg.) 2007. Schmitt VL, S. 10. Sieyès 1981, Thiele (Hg.) 2010. Böckenförde 1991 (Hervorhebung im Original).

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Es bedarf – nach Schmitt – immer eines handlungsfähigen Subjekts – in der Demokratie natürlich des Volkes –, das seinen Willen zum Ausdruck bringt: Eine solche Verfassung ist eine bewußte Entscheidung, welche die politische Einheit durch 25 den Träger der verfassunggebenden Gewalt für sich selber trifft und sich selber gibt.

Die Tragweite einer solchen existentiellen Entscheidung wird bei der Gründung neuer Staaten (Unabhängigkeitserklärungen) wie bei fundamentalen politischen Umwälzungen (Revolutionen, Kriege etc.) besonders deutlich, beschränkt sich aber keinesfalls auf diese. Bedeutung der Präambel Schmitt greift damit einer späteren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vor, nämlich der vom 31. Juli 1973 zum Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, wenn er – gegen die damals herrschende Meinung – postuliert: Der Vorspruch der Weimarer Verfassung enthält die authentische Erklärung des deutschen Volkes, daß es mit vollem Bewußtsein als Träger der verfassunggebenden Gewalt entscheiden will.26

Im politischen Streit um den sog. Grundlagenvertrag vom Jahre 1972, der die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR auf eine neue rechtliche Grundlage stellen sollte, standen sich die sozial-liberale Regierungskoalition aus SPD und FDP auf der einen und die CDU/CSU-Opposition auf der anderen Seite unversöhnlich gegenüber. In dem Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht kam – sehr zum Ärger der Regierung – nun plötzlich die Präambel des Grundgesetzes zum Tragen. Diese war aber von der Staatsrechtslehre stets als „unverbindliche Erklärung“ gewertet worden, die lediglich den „Geist des Verfassungswerkes“ kennzeichnen solle. Das Bundesverfassungsgericht argumentierte jedoch: Dem Vorspruch des Grundgesetzes kommt nicht nur politische Bedeutung zu, es hat auch rechtlichen Gehalt. Das für die Politik bindende Fazit hieß: Die Wiedervereinigung ist ein verfassungsrechtliches Gebot.27

Wie lautete diese Präambel in der Fassung von 1949, und legte sie wirklich die „existentiellen Werte“ im Sinne Carl Schmitts fest? Der Text der Präambel von 1949 lautete:

25 Schmitt VL, S. 21 (Hervorhebungen im Original). 26 Schmitt VL, S. 25. 27 BVerfGE 36, 1.

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Staat und Verfassung Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk in den Ländern Baden usw. [es folgt eine Aufzählung der westdeutschen Länder], um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben, kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik beschlossen.

3. EXISTENTIELLE WERTE Drei „existentielle Werte“ – im Sinne Schmitts – sind es, die mit der Verabschiedung des Grundgesetzes festgelegt wurden: deutsche Einheit, europäische Integration und Weltfrieden. 3.1 Wiedervereinigungsauftrag des Grundgesetzes Jede politische Einheit sucht sich vor allem in ihrer Existenz zu erhalten, sie schützt „ihre Existenz, ihre Integrität, ihre Sicherheit und ihre Verfassung“, wie wir bereits von Baruch de Spinoza (1632–1677) gelernt haben. Die Bewahrung der nationalen und staatlichen Einheit gilt also zunächst der Existenzsicherung und – in der besonderen Situation der Teilung – auch dem Wunsch nach Wiedervereinigung Deutschlands: Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden, heißt es in der Präambel von 1949.

Deutsche Vereinigung Damit wird jede Bundesregierung unmittelbar an das Ziel der Wiedervereinigung gebunden. Zudem postuliert das Bundesverfassungsgericht die Teilidentität der Bundesrepublik mit dem Deutschen Reich,28 eine Entscheidung, die – 16 Jahre später – bei der Wiedervereinigung noch eine große Rolle spielen wird. Die deutsche Vereinigung findet dann tatsächlich 45 Jahre nach Kriegsende und 41 Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland statt. Sie gliedert das „Beitrittsgebiet“ (die DDR) gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes (alte Fassung) in die Bundesrepublik ein. Im Zwei-Plus-Vier-Vertrag werden die alten alliierten Souveränitätsvorbehalte abgelöst,29 freilich nicht ohne den Deutschen bindende Verpflichtungen aufzuerlegen.

28 BVerfG 36, 1. 29 Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland vom 12. September 1990, dabei handelt es sich um einen Staatsvertrag zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland sowie der Französischen Republik, den Vereinigten Staaten von Amerika, dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (Zwei-plus-Vier-Vertrag).

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Das vereinte Deutschland hat keinerlei Gebietsansprüche gegen andere Staaten und wird solche auch in Zukunft nicht erheben.30

Zu den gravierenden Verpflichtungen gehört neben dem völkerrechtlich wirksamen Verzicht auf die Ostgebiete, die (drastische) Reduzierung der deutschen Streitkräfte und die Zustimmung zu einer europäischen Währungsunion, mit der die so außerordentlich erfolgreiche D-Mark verschwinden und dem Euro Platz machen soll. Die daraus resultierenden gravierenden Probleme werden erst jetzt – fast ein Jahrzehnt nach Einführung des Euro – sichtbar. Befugnis zum Verfassungswechsel Die Frage ist dabei stets, wieweit die Befugnis von Bundestag und Bundesrat bei der Änderung des Grundgesetzes geht. Carl Schmitt hat dazu in seiner Verfassungslehre Eindeutiges formuliert: Die grundlegenden politischen Entscheidungen der Verfassung sind Angelegenheiten der verfassungsgebenden Gewalt des deutschen Volkes und gehören nicht zur Zuständigkeit der für verfassungsgesetzliche Änderungen und Revisionen zuständigen Instanzen. Solche Änderungen bewirken einen Verfassungswechsel, nicht eine Verfassungsrevision. 31

Im Hinblick darauf fragt es sich natürlich, ob die Änderung des Grundgesetzes, mit der in den Jahren 1955/1956 die Wiederbewaffnung ermöglicht wurde, nicht eine der grundlegenden politischen Entscheidungen des Verfassungsgebers, nämlich die pazifistische Orientierung des Grundgesetzes, betraf. Sollte das zutreffen, dann hätte in der Tat damals – in den fünfziger Jahren – eine nicht zuständige Instanz einen Verfassungswechsel (und eben keine erlaubte Verfassungsrevision) vorgenommen. 3.2 Integrationsauftrag des Grundgesetzes Die zweite Zielbestimmung ist nicht so selbstverständlich wie der Einheitsgedanke. Denn die Integration in ein vereintes Europa kann in letzter Konsequenz zur Selbstaufgabe Deutschlands als souveräner Nationalstaat führen. Jeder Staat aber ist in erster Linie um die Wahrung seiner Souveränität bemüht, wie gerade das Verhalten der Neumitglieder der Europäischen Union, Polen und Tschechien, gezeigt hat. Sie haben in der Zeit der bipolaren Ordnung solange auf ihre nationale Souveränität verzichten müssen, dass es ihnen jetzt besonders schwer fällt, zugunsten der Europäischen Union auf Teile dieser vor zwanzig Jahren wiedergewonnenen Souveränität zu verzichten. Aber auch die „Altmitglieder“ Frankreich – und später Großbritannien – haben starke Vorbehalte gegen eine Souveränitätsübertragung auf europäische Einrichtungen. Und für die „Großen Drei“ – USA, 30 Artikel 1, Abs. 3 des Zwei-plus-Vier-Vertrages. 31 Schmitt VL, S. 105.

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China, Russland – ist es ohnehin selbstverständlich, dass sie nicht auf wesentliche Teile ihrer Souveränität verzichten. Für die Bundesrepublik Deutschland stellte sich das Problem – zumindest bis zur Wiedervereinigung – anders dar. Sie konnte nur im Rahmen einer Einbindung in eine westeuropäische Gemeinschaft (Montanunion, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Europäische Gemeinschaft) und in die transatlantische NATO – unter dem Schutzschild der USA – ihren Platz im Konzert der Nationen wiederzugewinnen hoffen. Souveränitätsverluste auf Dauer schienen dabei unvermeidlich zu sein. Kaum hatte die Bundesrepublik ihre Souveränität aus der Hand der alliierten Besatzungsmächte auch nur teilweise wiedererhalten, wurde diese in nicht geringem Maße auf andere – übernationale – Instanzen übertragen. Heute definiert das Bundesverfassungsgericht das Souveränitätsverständnis des Grundgesetzes – in Abkehr von überkommenen Souveränitätsvorstellungen – ganz anders, nämlich als „völkerrechtlich geordnete und gebundene Freiheit“. Hermann Heller hätte übrigens einer solchen Einengung des Souveränitätsbegriffs vehement widersprochen, es entspricht eher dem Souveränitätsverständnis Hans Kelsens. 3.3 Friedensauftrag des Grundgesetzes Die europäische Integration war eine der Konsequenzen aus dem Armageddon des Zweiten Weltkriegs. Die andere Schlussfolgerung war ein klares Bekenntnis zum Frieden in der Welt, das dem tief empfundenen Friedensbedürfnis der Deutschen – übrigens in West und Ost – entsprach. Konsequenterweise war das Grundgesetz daher ganz und gar pazifistisch orientiert. Freilich fehlte ein dem Artikel 9 der japanischen Verfassung entsprechender endgültiger Verzicht auf eigenes Militär. Dort heißt es, dass sich das japanische Volk für immer von der „Kriegführung als einem Ausdruck souveränen Handelns“ lossagt.32 Bis zur Aufnahme in die NATO, die dem Wunsch der Amerikaner und der Verschärfung der Spannungen in Europa nach dem Koreakrieg entsprach, verzichtete die Bundesrepublik auf jede Form von Streitkräften. Bis 1949 standen die Deutschen ohnehin unter Kuratel der Besatzungsmächte. Erst durch eine heiß umkämpfte Grundgesetzänderung wurde am 19. März 1956 der Weg frei gemacht für eine eigene Bundeswehr, deren Auftrag allerdings nicht der Kampf, sondern vielmehr die Verhinderung des Krieges war. Die Formel von der „völkerrechtlich geordneten und gebundenen Freiheit“ ist freilich nicht nur so dahingesagt, sie hat vielmehr weitreichende Konsequenzen. Zwar hat Deutschland seit der Wiedervereinigung wieder die Kommandogewalt über die eigenen Streitkräfte. In seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag verwirft das Bundesverfassungsgericht aber ausdrücklich das noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts uneingeschränkt geltende Recht zur Kriegsführung. Demgegenüber stellt die 32 Dessen ungeachtet unterhält Japan sog. Selbstverteidigungskräfte, die „normalen“ Streitkräften in nichts nachstehen.

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UN-Charta in Artikel 51 das Recht jeder Nation jedenfalls zum Verteidigungskrieg fest. Und Carl Schmitt hat das Jus ad bellum stets als selbstverständliche und unverzichtbare Ingredienz der Souveränität bezeichnet. Der Dissens mit Schmitt wird vollends deutlich, wenn das Gericht fortfährt: Das Grundgesetz schreibt demgegenüber die Friedenswahrung und die Überwindung des selbstzerstörerischen europäischen Staatenantagonismus als überragende politische Ziele der Bundesrepublik fest. Souveräne Staatlichkeit steht danach für einen befriedeten Raum und die darin gewährleistete Ordnung auf der Grundlage individueller Freiheit und kollektiver Selbstbestimmung.33

4. ANWENDUNG DER SCHMITTSCHEN KATEGORIEN An zwei Bereichen lässt sich – noch konkreter – zeigen, in wieweit Schmittsche Kategorien zum Verständnis von aktuellen Verfassungsproblemen beitragen können, nämlich einerseits an dem Problemfeld Europa und andererseits an dem Problemfeld Sicherheit. In beiden Bereichen besteht ein mehr oder weniger starker Dissens zwischen dem Bundesverfassungsgericht auf der einen und den Fraktionen der etablierten Parteien im Deutschen Bundestag auf der anderen Seite.34 Wieder einmal wird dem Bundesverfassungsgericht vorgeworfen, politisch zu urteilen. Auch hier kann uns eine Erkenntnis Carl Schmitts aus der Verfassungslehre weiterhelfen. Obgleich es 1928 noch gar kein deutsches Verfassungsgericht gab, schreibt er: Aber ein derartiger, alle verfassungsgesetzlichen Auslegungsstreitigkeiten entscheidender Gerichtshof wäre in Wahrheit eine hochpolitische Instanz, weil er auch – und vor allem – diejenigen Zweifel und Meinungsverschiedenheiten zu entscheiden hätte, die sich aus den Besonderheiten der dilatorischen Formelkompromisse ergeben und in Wahrheit die durch den Kompromiß hinausgeschobene sachliche Entscheidung treffen würde. 35

In der Tat: Klarer könnte man es auch heute nicht ausdrücken. Viele Gesetze beruhen auf Kompromissen der beteiligten Fraktionen. Oft wird darin eine notwendige Entscheidung lediglich auf eine Formel gebracht und anschließend sogleich auf einen späteren Zeitpunkt vertagt („dilatorischer Formelkompromiss“).36 Die sog. Gesundheitsreform des Jahres 2010 ist geradezu ein Lehrstück für diese Art der Gesetzgebung. Unter diesem Blickwinkel sind zwei Urteile des Bundesverfassungsgerichts von besonderem Interesse, einerseits das Urteil des Zweiten Senats zum Lissabon-Vertrag, andererseits die Entscheidung des Ersten Senats zum Telekommunikationsgesetz und zur EU-Richtlinie vom 21. Dezember 2007.

33 BVerfGE 123, 267. 34 Die LINKE hat dabei eine deutlich andere Position, sie ist europakritisch und pazifistisch orientiert. 35 Schmitt VL, S. 118. 36 Schmitt VL, S. 32.

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4.1 Problemfeld Europa Am Anfang steht ein großer Plan, nämlich eine Verfassung für Europa. Ein Konvent, dem kein Geringerer als der ehemalige französische Staatspräsident Giscard d‟Estaing vorsteht, erarbeitet einen – durchaus passablen – Entwurf einer europäischen Verfassung, der jedoch beim Volk „mit Pauken und Trompeten“ durchfällt. Am 29. Mai 2005 scheitert eine Volksabstimmung über die EU-Verfassung in Frankreich und am 1. Juni desselben Jahres in den Niederlanden. Damit ist die Idee einer Verfassung für Europa „gestorben“. Es gibt allerdings auch kein „europäisches Volk“ (meist „demos“ genannt), das – nach Carl Schmitt – als „politische Einheit vorhanden sein und vorausgesetzt werden [muss], wenn es Subjekt einer verfassungsgebenden Gewalt sein soll“.37 Ein fauler Kompromiss Als letzte (Auffang-) Lösung erscheint ein Kompromiss, der Lissabon-Vertrag, der lediglich die bislang getrennten Verträge über Europäische Gemeinschaft und Europäische Union zusammenführen soll. Wichtigste Aufgabe des Vertragswerks ist es jedoch, die Handlungsfähigkeit der EU wieder herzustellen. Es müssen Mechanismen gefunden werden, damit die Union der 27 Mitglieder politisch nicht zum absoluten Stillstand verurteilt ist. Es liegt auf der Hand, dass mit der Einführung von Mehrheitsentscheidungen und dem Verlust wichtiger Posten politischer Zündstoff von hoher Brisanz verbunden ist. Wo immer das Volk über den Lissabon-Vertrag abzustimmen hat, ist das – aus europäischer Sicht – mit einer „Zitterpartie“ verbunden. Die Iren stimmen erst beim zweiten Anlauf im Oktober 2009 mit Ja, die Präsidenten Polens und Tschechiens haben ihre Unterschrift so lange wie möglich verzögert, um weitere Vorteile für ihre Länder herauszuschlagen. In Deutschland ist eine Volksabstimmung nicht vorgesehen, obgleich es sich durchaus um eine der grundlegenden politischen Entscheidungen des Verfassungsgebers handelt. Im Wege der Verfassungsbeschwerde hat der CSUBundestagsabgeordnete Peter Gauweiler daher – zusammen mit Anderen – den Lissabon-Vertrag, genauer gesagt: das deutsche Zustimmungsgesetz zu dem Vertrag, vor das Bundesverfassungsgericht gebracht. Gauweiler bezog sich nicht auf Carl Schmitt, vielmehr wurde von den Antragstellern eine Verletzung des Artikel 38 Grundgesetz gerügt, der ihnen als wahlberechtigten Deutschen das subjektive Recht gewähre, an der Wahl des Deutschen Bundestages teilzunehmen, dadurch an der Legitimation der Staatsgewalt auf Bundesebene mitzuwirken und ihre Ausübung zu beeinflussen.

37 Schmitt VL, S. 51.

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Verletzung des Demokratieprinzips? Tatsächlich wird ein „schweres Geschütz“ aufgefahren, moniert wird nämlich die Verletzung des Demokratieprinzips, es fehle die demokratische Legitimation. Bereits mehrfach hatte das Bundesverfassungsgericht – vor allem in der Person des Verfassungsrichters Udo Di Fabio – den Abgeordneten die „Leviten gelesen“, weil sie EU-Verordnungen ohne genauere Prüfung hatten passieren lassen. Streitpunkt war damals der Europäische Haftbefehl.38 Sie hätten damit ihr Recht (und ihre Pflicht) nicht wahrgenommen, an der Legitimation der Staatsgewalt mitzuwirken. Jetzt geht es allerdings um die in Artikel 23 Grundgesetz (neue Fassung) enthaltene Ermächtigung des Bundes, „durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte“ auf die Europäische Union zu übertragen. Durch das neue (Begleit-) Gesetz sollten für diesen Fall die Rechte des Parlaments – zumindest vorgeblich – gestärkt werden. Identität der Verfassung Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Gesetz für teilweise verfassungswidrig befunden.39 In seiner Begründung argumentiert es hier mit der „Identität der Verfassung“, die es aus Artikel 79 Abs. 3 Grundgesetz ableitet. Diese Entscheidung wird allerdings erst verständlich, wenn man die Schmittsche Trennung von Verfassung als „die grundlegenden politischen Entscheidungen über die Existenzform eines Volkes“ und Verfassungsgesetz als „die zu ihrer Ausführung ergangenen generellen verfassungsgesetzlichen Normierungen“, zugrundlegt. Zu Artikel 76 Weimarer Verfassung („Die Verfassung kann im Wege der Gesetzgebung geändert werden“) schreibt Schmitt: Daß ‚die Verfassung„ geändert werden kann, soll nicht besagen, daß die grundlegenden politischen Entscheidungen, welche die Substanz der Verfassung ausmachen, vom Parlament jederzeit beseitigt und durch irgendwelche anderen ersetzt werden können.40

Auch für Artikel 79 des Grundgesetzes muss also gelten: Eine durch verfassungsgesetzliche Normierung erteilte Befugnis, ‚die Verfassung zu ändern„, bedeutet, daß einzelne oder mehrere verfassungsgesetzliche Regelungen ersetzt werden können, aber nur unter der Voraussetzung, daß Identität und Kontinuität der Verfassung als eines Ganzen gewahrt bleiben.41

38 39 40 41

BVerfGE 123, 267. Siehe hierzu auch: van Ooyen 2008. Schmitt VL, S. 26. Schmitt VL, S. 103.

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Recht des Volkes Kann also niemand die Verfassung grundlegend ändern? Für Carl Schmitt ist Träger der Souveränität nicht die Verfassung, sondern das Volk, dieses gibt sich eine Verfassung. Das heißt für ihn, dass das Volk (aber auch nur dieses) sich als Träger des pouvoir constituant jederzeit eine neue Verfassung geben oder diese – auch in wesentlichen Punkten – ändern kann.42 Denn auch der Erlass einer Verfassung kann – Schmitt zufolge – die Verfassung gebende Gewalt des Volkes nicht „erschöpfen, absorbieren oder konsumieren“.43 Bereits die französische Verfassung vom 24. Juni 1793 stellt das in ihrem Artikel 28 deutlich heraus: Ein Volk hat immer das Recht, seine Verfassung zu revidieren, zu reformieren und zu ändern.

Dass dieser (eigentlich selbstverständliche) Grundsatz auch für die Zeit nach der Wiedervereinigung gelten sollte, war unter den Abgeordneten des Bundestages allerdings keineswegs unumstritten. Artikel 146 des Grundgesetzes bringt das Wesentliche jedoch schließlich klar zum Ausdruck, er hat allerdings – folgt man Schmitt – lediglich deklamatorische, allenfalls symbolische Bedeutung. Dort heißt es jetzt: Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.

4.2 Problemfeld Sicherheit Ganz in der Tradition der (französischen) Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom Jahre 1789 gewährleistet das Grundgesetz Grundrechte, die – zumindest in ihrem Wesensgehalt – nicht eingeschränkt werden dürfen (Art. 19 Abs. 2 GG). Es sind in erster Linie Abwehrrechte gegenüber dem Staat, welche die Freiheit des Einzelnen schützen und bewahren sollen. Der Terrorismus – erst der interne der RAF, dann der globale der Qaida – verändert diese Sicht jedoch nachhaltig. Ein schier unüberbrückbarer Widerspruch zwischen Freiheit und Sicherheit tritt zutage. Vor allem im Kampf gegen den Terrorismus werden die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger auch in Deutschland immer stärker eingeschränkt. Der globale Krieg gegen den Terrorismus bildet die Grundlage, auf der immer neue Bedrohungsszenarien entworfen und Gegenmaßnahmen ersonnen werden. Etwas überpointiert könnte man sagen: Der präventive Sicherheitsstaat […] verschafft sich über immer neu geschürte Kriminalitäts44 und Terrorpaniken eine halbwegs stabile politische Legitimation.

42 Schmitt VL, S. 105. 43 Schmitt VL, S. 77. 44 Hartmann/Geppert 2008, S. 16.

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„Salamitaktik“ der Politiker Tatsächlich wird die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger in einer Weise eingeschränkt, die den Beobachter zumindest in Staunen versetzt. Selbst der private Rechner (PC) mit seinen persönlichen Daten und dem privaten Email-Verkehr stellt dabei kein Tabu mehr da. Rechtsstaatliche Schranken beim Einsatz sog. Trojaner erscheinen aus der Sicht der Betroffenen aber als äußerst fragil. Die dabei gern von Seiten der Politik angewandte Methode könnte man umgangssprachlich mit „Salamitaktik“ beschreiben. Zuerst wird eine weitreichende Forderung, wie z.B. die umstandslose Online-Durchsuchung oder die verdachtslose Vorratsspeicherung, erhoben, die zumeist auf den Widerstand der Öffentlichkeit und ggf. des Bundesverfassungsgerichtes stößt. Dann wird eine etwas weniger weitreichende Formulierung gesetzlich festgeschrieben, nur, um dann – in einem dritten Schritt – bei nächster Gelegenheit eine weitere und meist auch weitergehende Forderung zu erheben. Das Bundesverfassungsgericht hat die „heimliche Infiltration eines informationstechnischen Systems“, also z.B. das Eindringen in einen privaten PC durch einen „Trojaner“, nur dann als verfassungsrechtlich zulässig befunden, wenn „tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für ein überwiegend wichtiges Rechtsgut bestehen“.45 Neben Leib, Leben und Freiheit der Person werden als überragend wichtig definiert: „[…] solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen oder den Bestand des Staates oder die Grundlagen der Existenz der Menschen berührt“. Zugleich wird jede Maßnahme dieser Art unter den „Vorbehalt richterlicher Anordnung“ gestellt. Im Koalitionsvertrag der CDU/CSU/FDP-Regierung wird konkretisiert, dass diese Anordnung nur von einem Bundesrichter getroffen werden kann. Kernbestand an unveräußerlichen Rechten Das klingt sehr gut, ist aber möglicherweise noch nicht das Ende der Geschichte. Denn wenn das Bundesverfassungsgericht die Regelung verwirft, dann wird zwar „nachgebessert“. Die politische Intention bleibt hingegen zumeist unverändert.46 Der Rechtsstaat wird damit einer ständigen Bewährungsprobe ausgesetzt, die mittel- bis langfristig darüber entscheiden könnte, ob den Menschen zumindest in den Demokratien nach westlichem Muster ein Kernbestand an unveräußerlichen Freiheitsrechten erhalten bleibt, oder ob sämtliche Rechte der Abwehr wirklicher, eingebildeter oder behaupteter Gefahren geopfert werden. Befinden sich damit die westlichen Gesellschaften bereits in einem „permanenten Ausnahmezustand“, wie der italienische Rechtsphilosoph Giorgio Agamben – im Anschluss an Carl

45 BVerfG, 15.02.2006, 1 BvR 357/05. 46 Auch wenn Innenminister Thomas de Maiziere etwas „konzilianter“ zu sein scheint als sein Vorgänger Wolfgang Schäuble.

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Schmitt – meint?47 Schmitt selbst hat diese Situation, die er in der Weimarer Republik aus eigener Anschauung kannte, als Ausnahmezustand definiert und postuliert, dass dieser sich jeder rechtlichen Regelung entziehe. Sein Charakteristikum sei es ja gerade, dass er gewissermaßen „außerhalb der Rechtsordnung“ stattfinde. Es sei daher auch nur wenig sinnvoll, diesen Fall in der Verfassung regeln zu wollen. Schmitt schreibt dazu: Die Verfassung ist unantastbar, die Verfassungsgesetze dagegen können während des Ausnahmezustands suspendiert und durch Maßnahmen des Ausnahmezustandes durchbrochen werden.48 Und er fährt fort: Das alles berührt die grundlegenden politischen Entscheidungen und die Substanz der Verfassung nicht, sondern steht gerade im Dienste der Aufrechterhaltung und der Herstellung dieser Verfassung.49

An diesem Punkt trifft sich Carl Schmitt übrigens mit dem großen Verteidiger der römischen Republik Marcus Tullius Cicero, der eine (zeitweilige) Diktatur zur Wiederherstellung des republikanischen Ordnung für gerechtfertigt hält.50 5. STAAT, VOLK UND VERFASSUNG Der zentrale Dissens zwischen Carl Schmitt einerseits sowie der etablierten Staatsrechtslehre und der heutigen Politikwissenschaft andererseits ist die Frage der Souveränität.51 Für Schmitt kommen nur Monarch oder Volk als Träger der Souveränität in Betracht, seit der Französischen Revolution ist es nur noch das Volk. Nur der Nation, also einem Volk mit dem bewussten Willen zur politischen Existenz, kommen Souveränität und verfassungsgebende Gewalt zu. Schmitt schreibt: Die „okkulte Vorstellung“ einer verfassungsgebenden Gewalt der Verfassung „verschleiert“ demgegenüber Schmitt zufolge die eigentlich entscheidende Frage nur. Staatsrechtslehrer und Politologen stört dabei der antiplurale und parteienfeindliche Zug des Schmittschen Gedankenguts.52 Zudem macht es eine solche Definition der Souveränität schwerer (wenn nicht sogar unmöglich), durch bloßen Parlamentsbeschluss – und sei es vielleicht auch mit Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat – große Teile deutscher Entscheidungshoheit auf demokratisch nur unzureichend legitimierte Institutionen zu übertragen. Das er-

47 48 49 50 51 52

Agamben 2002. Schmitt VL, S. 26 (Hervorhebungen im Original). Schmitt VL, S. 27 (Hervorhebungen im Original). Cicero 2001. Vgl. Salzborn/Voigt (Hg.) 2010. Van Ooyen 2008.

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scheint jedoch Vielen als ein so erstrebenswertes Ziel, dass demgegenüber das Souveränitätsproblem verblasst. 5.1 Status politischer Einheit Wichtigste Aufgaben des demokratischen Staates sind nach heutigem Verständnis die Gewährleistung der Bürger- und Menschenrechte sowie die Sicherung der physischen Existenz des Volkes. Es ist das „Volk”, das sich durch die Entscheidung überhaupt erst als kollektive Einheit und damit als politisch existente Nation konstituiert. Der Staat ist nicht nur der „streng kontrollierte Diener der Gesellschaft“.53 Er ist auch nicht bloß die Summe der Institutionen und Rechtsregeln oder gar die Herrschaft von Parteien, er ist vielmehr „ein bestimmter Status eines Volkes, und zwar der Status politischer Einheit”. Denn das „Volk” ist – unabhängig von der konkreten Form – immer als vorgegebene Ganzheit existent, es wird nur nach dem jeweils verschiedenen „politischen Formprinzip” der „Identität” und der „Repräsentation” unterschiedlich realisiert. Von hieraus erschließt sich Schmitts Begriff der Verfassung und der (Volks-) Souveränität. Die Verfassung regelt bei Schmitt bloß die konkrete Existenzform der politischen Einheit und hat ihren Geltungsgrund in deren souveränem Willen zur Dezision. Und vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, als wie gravierend der Lissabon-Vertrag denjenigen erscheinen muss, die darin – mit Schmitt – eine „existentielle Grundentscheidung“ sehen, die ohne direkte Mitwirkung des Volkes als pouvoir constituant keine Legitimität erlangen kann. 5.2 Verfassungsgericht als „permanente gesetzgebende Versammlung“? Die verfassungspolitische Realität sieht in vielen Ländern der Welt jedoch ganz anders aus. Oft stehen dem Volk als Verfassungsgeber nur äußerst eingeschränkte Möglichkeiten zur Verfügung, die von der herrschenden Verfassungslehre zudem oft genug „gegen Null“ gerechnet werden. Die Rolle von permanenten gesetzgebenden Versammlungen haben in vielen Staaten westlichen Typs die Verfassungsgerichte übernommen. Allerdings sollte auch dabei nicht verkannt werden, dass jede Verfassungsgerichtsentscheidung der Anerkennung der der Verfassung „Unterworfenen“ bedarf, sonst kann die Verfassung ihren Geltungsanspruch im Konfliktfall nicht einlösen.54 Natürlich ist im pluralen Staat westlichen Typs eine identitäre Einheitsbildung kaum noch möglich, so dass sich die Frage stellt, für wen der Staat durch seine Organe eigentlich handelt bzw. zu handeln befugt ist, d.h. letztlich über welche Legitimationsbasis er verfügt. Muss man daraus – resignierend – den Schluss ziehen, dass der Gedanke der Souveränität mit dem modernen Verfassungsstaat unvereinbar ist: „Kann es im Verfassungsstaat keinen Sou-

53 Schmitt VL, S. 125. 54 Böckenförde 1976.

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verän geben?“, wie Martin Kriele in seinem bekannten Lehrbuch fragt.55 Und gilt das auch dann, wenn es sich um die Souveränität des Volkes handelt? 5.3 Volkssouveränität Um diese Frage zu beantworten, muss man zwischen der Volkssouveränität als politischem Begriff und als Rechtsbegriff unterscheiden. Als politischer Begriff meint sie zunächst nur die einfache – etwa von Hannah Arendt (1906–1975) in ihrer Vita activa herausgestellte – Tatsache, dass Menschen die revolutionäre Macht haben, sich zu verbünden, Staaten zu stürzen und sich eine Verfassung zu geben.56 Als Rechtsbegriff meint Volkssouveränität das Legitimationsmodell der Rückführung staatlicher Herrschaft auf das staatsbürgerlich erfasste, rechtlich formierte Volk. Souveränität ist deshalb – wie Böckenförde ausführt – ein „Grenzbegriff“ des Verfassungsrechts: der Umschlag von Macht in Recht. 57 Schmitt formuliert dazu in der Verfassungslehre: Was als politische Größe existiert, ist, juristisch betrachtet, wert, dass es existiert.58

Nicht der „Mythos“ revolutionärer Volkssouveränität kennzeichnet demnach Carl Schmitts Verfassungstheorie, sondern die aus der juristischen Teilnehmerperspektive entworfene Suche nach den politischen Bedingungen und Gründen von Verfassungen und nach der Legitimität von Herrschaft. 5.4 Dilatorischer Formelkompromiss Manchen gilt Carl Schmitt als Staatsdenker, der im 20. Jahrhundert eine ähnlich große Bedeutung hat wie Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert. Tatsächlich hat er sich selbst gern in der Rolle eines modernen Hobbes und als dessen „Erben“ gesehen.59 Schmitts Werk überspannt einen großen Zeitraum von der Endphase des Kaiserreichs über die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus bis zu den Anfängen der alten Bundesrepublik. Gerade diese Epoche deutscher Geschichte ist von gewaltigen Zäsuren charakterisiert, die sich in Systemumbrüchen manifestiert haben. In seinen Schriften hat Schmitt die verschiedensten Themen behandelt, mal als Geschichtsphilosoph, mal als Politikwissenschaftler, mal als Staatsrechtslehrer. Als Rechtswissenschaftler hat er den Bogen gespannt vom Strafrecht über das Staats- und Verfassungsrecht bis hin zum Völkerrecht. Quasi nebenbei hat er dabei die Philosophie der romanischen Länder für die deutsche Staatswissenschaft erschlossen. Die plastische Kraft vieler Begriffe Schmitts – das Beispiel „dilatorischer Formelkompromiss“ wurde bereits genannt – erklärt ihre Übernah55 56 57 58 59

Kriele 2003. Arendt 2007. Böckenförde 1976. Schmitt VL, S. 76. Voigt (Hg.) 2009b.

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me. Zum Teil kommt die Rezeption auch aus dem faszinierenden Kontrast zwischen den scharfsinnigen dezisionistischen Thesen Schmitts auf der einen und der liberalen, manchmal allzu individualistischen politischen Kultur in den westlichen Industriegesellschaften auf der anderen Seite. Immer wieder gab es in Deutschland und anderswo auf der Welt „Wellen“ einer Carl-Schmitt-Renaissance. Zunächst wurde er weniger intensiv in den USA, umso mehr aber in Lateinamerika, Südeuropa und Südostasien rezipiert. Das lag nicht zuletzt auch an seinen Arbeiten zu Ausnahmezustand und Diktatur, die besonders zu der politischen Entwicklung in manchen Ländern in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg passte.60 Seine Schriften zum Großraum hatten hingegen vor allem in der Bush-Ära „Konjunktur“, denn der Großraum erschien vielen Intellektuellen – gerade auch in Lateinamerika – als Gegengewicht gegen das US-amerikanische Imperium.61 Mit dem letzten Heft der Zeitschrift Telos des Jahres 2009 wird nun jedoch deutlich, wie intensiv sich insbesondere linke Autoren und Autorinnen auch in den USA mit Carl Schmitt auseinander setzen.62 5.5 Verfassung als politischer Kompromiss Von aktueller, aber auch von überzeitlicher Bedeutung ist nicht zuletzt Carl Schmitts Auffassung, dass Verfassungskompromisse funktional nicht stabil sind, sondern alternative Auslegungen und Konsequenzen entzünden. Er zeigt dies in der Weimarer Zeit beispielhaft an dem Verfassungskompromiss zwischen den politischen Ideenkreisen des Liberalismus und der Demokratie. In Legalität und Legitimität vertritt er 1932 die These, dass die Weimarer Verfassung als Kompromissbildung die verfassungsgeschichtliche Tendenz in sich trägt, das liberalistische Legalitätssystem des „parlamentarischen Gesetzgebungsstaates“ dadurch abzubauen, dass sie „außerordentliche“ demokratische Gesetzgeber installiert.63 Das ist sicher bedenkenswert. Schmitt ist es aber auch, der darauf aufmerksam macht, dass Verfassungskompromisse „Einbruchstellen“ markieren, die eine eigene geschichtliche Dynamik entfalten. Schon in der Schrift Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus von 1923 gibt er dafür auch eine geschichtsphilosophische Begründung.64 Der Zug der Zeit führt vom Liberalismus zur Demokratie. Schmitt diagnostiziert dies am politischen Zwang des Liberalismus zum Verfassungskompromiss, er prognostiziert aber auch dessen Abbau in Richtung auf einen neuen, plebiszitär legitimierten Caesarismus. Man kann es sich einfach machen und den Blick nach Bolivien (Evo Morales) oder nach Venezuela (Hugo Chavez) richten, als Europäer muss man sich aber auch gewissermaßen „an die eigene Nase fassen“, wenn man die Machenschaften 60 61 62 63 64

Voigt (Hg.) 2007. Voigt (Hg.) 2008a. Telos-Sonderheft. Schmitt LuL. Schmitt, Parlamentarismus.

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eines Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi in Italien, aber auch das wenig staatsmännische Verhalten eines Staatspräsidenten Nikolas Sarkozy in Frankreich kritisch analysiert.

3. TEIL BILDER DES STAATES

KONTRÄRE STAATSBILDER Leviathan und Behemoth Ein Bild, das lebhaft und nachhaltig in Erinnerung bleiben soll, muss ausdrucksstark ein und uns nur oft genug begegnen. 1

Bilder beeinflussen uns Menschen bekanntlich sehr viel stärker und direkter als das geschriebene Wort. Während der geschriebene Text unseren Verstand anspricht, erreichen Bilder unsere Gefühle, man könnte auch sagen: unsere Herzen. Um etwas besser verstehen zu können, machen wir uns ein Bild von einer Einrichtung, einem Vorgang oder einem Ereignis. In der Mediengesellschaft nehmen darauf freilich die Massenmedien, allen voran das Fernsehen, entscheidenden Einfluss. Bei der episodischen Rahmung sind ihre dramaturgischen Werkzeuge: Emotionalisierung, Personalisierung und Dramatisierung. Obwohl zuvor bereits amerikanische Zeitungen von der Folterung irakischer Gefangener in dem Gefängnis Abu Ghuraib durch US-Soldaten berichtet hatten,2 sorgten erst die Folterfotos vom Mai 2004 für weltweite Empörung. Amerika zeigte sein „hässliches Gesicht“, als es die Folterpraxis des Diktators Saddam Hussein fortsetzte, dessen Diktatur es mit dem Krieg gegen den Irak gerade hatte beenden wollen. Da das Bild vom Staat ein wichtiges Instrument für die Regierenden ist, ihr eigenes Handeln mit dem Nimbus des Gemeinwohls, des über den Einzelinteressen Stehenden, zu versehen, verwenden sie einen großen Teil ihrer Aufmerksamkeit auf die positive Gestaltung dieses Bildes und ihrer eigenen Verbundenheit mit diesem. Zur Selbstdarstellung nutzen sie Presse- und Informationsämter mit einem riesigen Stab von Experten, die auf der Klaviatur von Propaganda, Manipulation und Beeinflussung zu spielen verstehen. Die Frage scheint also von zentraler Bedeutung zu sein: Welches Bild machen wir uns vom Staat? In der Gestalt von schwer bewaffneten Soldaten oder mit Schutzwesten, Helmen und Maschinenpistolen ausgerüsteten SEK-Polizisten3 begegnet uns der stählerne, martialische Staat. Auf der anderen Seite des Spektrums nimmt der für die Armen, Waisen und Gebrechlichen sorgende „Vater Staat“ eine beschützende Position ein. Er ist dabei zugleich der weiche, gefühlvolle, mitleidende, „mütterliche“ Staat. Dazwischen gibt es jedoch eine Fülle von Zwischentönen, die jeder für sich genommen, allerdings noch kein vollständiges Bild vom Staat liefern. Überhaupt bleibt die Vorstellung vom Staat in unserer Zeit merkwürdig nebulös und verschwommen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass uns der Staat kaum noch in seiner ursprünglichen Form begegnet. Der Parteienstaat heutiger Prägung tendiert vielmehr dazu, sich durch Personen repräsentieren zu lassen, die nur auf 1 2 3

Reiche 2000, S. 10–19 [10]. Der Gefängniskomplex Abu Ghuraib in der Nähe der Hauptstadt Bagdad war schon zu Zeiten Saddam Husseins wegen seiner Folterpraktiken und Hinrichtungen berüchtigt. SEK = Spezialeinsatzkommando der Polizei.

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Konträre Staatsbilder

den ersten Blick Staatsdiener sind, sich auf den zweiten Blick aber schnell als Parteipolitiker entpuppen, die vor allem an sich und an ihre Partei und weniger an den Staat denken. 1. STAATSBILDER Unter diesem Gesichtspunkt ist die Frage nach Entstehung und Entwicklung des Staatsbildes von großem Interesse. Das wirkmächtigste Bild in der Staatstheorie ist zweifellos über die Jahrhunderte hinweg der Leviathan. Noch bekannter als das Buch Leviathan selbst ist das Bild. Es ist zum Sinnbild einer Staatsgewalt geworden, die den Menschen zwar Schutz bietet, aber nur um den Preis der Unterwerfung. In den Zeiten einer Fixierung zumindest der westlichen Gesellschaften auf individuelle Freiheit kann dies nur als negativ verstanden werden. Es fragt sich allerdings, ob Thomas Hobbes (1588−1679), der englische Gelehrte des 17. Jahrhunderts, mit dieser Interpretation nicht gründlich missverstanden würde. Kaum ein anderes Buch ist von Philosophen, Politikern und Theologen so heftig, kontrovers und lang anhaltend diskutiert worden wie der Leviathan.4 An seiner Staatstheorie scheiden sich die Geister: Größter Bewunderung steht tiefste Ablehnung gegenüber. 1.1 Mythos Staat Knapp 300 Jahre später gibt Carl Schmitt (1888–1985) hierfür eine plausible Erklärung. Schmitt hat selbst einen politischen Mythos des Staates geschaffen, eine deutungs- und wirkungsmächtige Erzählung vom Anfang und Ende des neuzeitlichen Staates. In seiner bekannten Studie Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes schreibt er: In der langen, an bunten Bildern und Symbolen […] reichen Geschichte der politischen Theorien, ist dieser Leviathan das stärkste und mächtigste Bild. Es sprengt den Rahmen jeder nur gedanklichen Theorie oder Konstruktion.5

Leviathan als Aushängeschild Tatsächlich kann Thomas Hobbes, der Begründer der modernen Staatsphilosophie, den Staat nicht denken, ohne sich ein Bild von ihm zu machen. Er hat über Jahre optische Studien betrieben, so dass man bei seinem Leviathan durchaus von gezielten visuellen Strategien sprechen kann. Und er hat viele Nachahmer und Interpreten gefunden, die teils den Leviathan als bloßes Aushängeschild ohne echten inhaltlichen Bezug verwendet haben, teils den ursprünglichen Titelkupfer des Jah-

4 5

Hobbes 1992. Schmitt Leviathan, S. 9.

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res 1651 in den folgenden Buchausgaben oft willkürlich verändert haben.6 Der Leviathan, jenes Seeungeheuer aus dem Buch Hiob, ist durch Hobbes berühmt geworden. Dabei gerät aber oft in Vergessenheit, dass Hobbes – freilich in einem anderen Werk und in einem anderen politischen Zusammenhang – auch das Landungeheuer Behemoth beschrieben hat.7 In der jüdischen Eschatologie ist der Behemoth das männliche Ungeheuer, das das Land beherrscht und Gegenspieler des die See beherrschenden weiblichen Leviathan. Beide Ungeheuer bekämpfen sich in dem Versuch, eine Schreckensherrschaft zu errichten, werden allerdings – je nach Interpretation und Deutung des Mythos – von Gott getötet oder töten sich gegenseitig.8

Alles Irdisch-Menschliche ist endlich Mit dem Tod beider sei der „Tag der Gerechtigkeit gekommen“. Sterblichkeit meint, dass der Staat wie alles Irdisch-Menschliche endlich ist. Er kann geschwächt werden und – so die traumatische Grunderfahrung von Hobbes − im Bürgerkrieg auch untergehen: Aus den in der Darstellung oft an Nilpferd, Elefant oder Wasserbüffel und Schlange, Drachen oder Krokodil erinnernden Fantasiegestalten Behemoth und Leviathan, die man sich auf Grund ihrer Größe und Stärke auch durchaus als Dinosaurier vorstellen kann, ist bei Hobbes der berühmte ‚sterbliche Gott‘ geworden.9

Das Titelblatt des Leviathan aus dem Jahre 1651 zeigt den Leviathan, den Hobbesschen Friedensstaat. Es macht seine politische Grundfunktion der Friedensstiftung anschaulich, zeigt das Verhältnis des Staates zur Gesellschaft und zu seinen Bürgern. Der Name des Leviathan, schreibt Carl Schmitt 1938, gehört nun einmal zu den mythischen Namen, die sich nicht ungestraft zitieren lassen, und sein Bild ist so stark, dass es, auch nur an die Wand gemalt, seinen eigenen Wirkungslauf nimmt. 10

1.2 Kulturelle Erinnerung In ihrem Buch Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung hebt Alaida Assmann einen für unsere Überlegungen wichtigen Punkt hervor. Er verbindet den Leviathan mit der Gegenwart und mit der Zukunft: Die Verwirklichung politischer Ziele braucht ihre Vision, die revolutionäre Stoßkraft ihren schlagkräftigen Mythos. Danach erscheint die negative Gegenwart als Interim zwischen einer 6 7 8 9 10

Siehe Bredekamp 2003. Hobbes 1999. Neumann 1942. Salzborn 2009, S. 143–164 [143]. Schmitt Leviathan, S. 79.

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Konträre Staatsbilder großen Vergangenheit und einer ebenso großen Zukunft, zu denen Erinnerung und Hoffnung die Verbindung halten.11

Bei dem Leviathan geht es auch und gerade um einen Mythos. Mythen verfügen über ein komprimiertes Darstellungs- bzw. Sprachniveau, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einer symbolischen Einheit verdichtet werden. Das hintergründige Ziel fast aller politischen Mythen ist die Versöhnung der Gegensätze und die Konstituierung eines Systems von Vermittlungsoptionen. Die unverstandene, abstrakte Wirklichkeit wird durch Symbolisierung in ein eindeutig und klar erscheinendes Bild übersetzt, die gesellschaftlichen Widersprüche werden in Verzauberung und Faszination aufgelöst.12 Das Symbol nimmt den gestalthaften Bezug von Zeichen und Bezeichnetem auf und bringt damit den Sinn des Gemeinten wie im Gleichnis zur Anschauung. Im Unterschied zu Allegorie, Abbild, Emblem usw. ist es begrifflich nicht auszuschöpfen, da in ihm eine Vielfalt von tieferen Zusammenhängen gefasst ist. In seinem Leviathan-Buch erinnert Carl Schmitt zunächst an den mythischen „Sinn“ des Symbols: Vieldeutige Deutbarkeit und Wandelbarkeit gehören zum Wesen mythischer Bilder; fortwährende Metamorphosen, in nova mutatae formae, sind sogar sichere Zeichen ihrer Lebendigkeit und Wirksamkeit.13

Carl Schmitts Studie konzentriert sich ganz auf das „Symbol“. Den politischen Mythos beschreibt er als eine „eigenmächtige, geschichtliche Kraft“. Als Ansatz zur politischen Ikonologie wird Carl Schmitts Leviathan-Buch deshalb heute von vielen Experten sehr geschätzt. In einem zweiten Schritt sucht Carl Schmitt nachzuweisen, dass Hobbes’ Versuch, Grenzen der rationalen Staatskonstruktion durch das Symbol zu überspielen, grundsätzlich gescheitert sei und die mythischen Kräfte ins Gegenteil umgeschlagen seien. Der „Sinn“ des Symbols bei Hobbes sei die Herstellung politischer Einheit. Gerade das sei Hobbes jedoch offensichtlich misslungen.14 2.3 Gigant in der Weltlandschaft Was lässt sich nun aus dem Frontispiz des Leviathan, also jener zweiten, dem Titel gegenüber liegenden Seite, herauslesen? In seiner oberen Hälfte zeigt dieses Bildarrangement eine Weltlandschaft, die vom Oberkörper eines bis zum Himmel sich erstreckenden Riesen überragt wird. Der Gigant trägt eine Krone, in der Rechten hält er ein erhobenes Schwert, und die Linke umgreift einen Bischofsstab.15 Damit wird deutlich, was Hobbes meint, wenn er seinen Leviathan mit dem 11 12 13 14 15

Assmann/Dietrich 1998. Salzborn 2009, S. 143–164. Schmitt Leviathan, S. 13. Vgl. aber: Voigt (Hg.) 2009. Bredekamp 2003.

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Untertitel versieht: The Matter, Forme and Power of A Commonwealth Ecclesiasticall and Civil. Es geht ihm also nicht nur um die weltliche, sondern auch um die geistliche Macht. Die Insignien dieses Riesen reichen bis in den am oberen Bildrand stehenden Vers aus dem Buch Hiob des Alten Testaments, mit dem die erhabene Kraft des Seeungeheuers Leviathan beschrieben wird: Non est potestas Super Terram quae Comparetur ei (Keine Macht ist auf Erden, die ihm zu vergleichen ist).16

Fürstengestalt aus Menschenleibern Der Körper der riesigen Fürstengestalt ist aus Menschen gebildet, die alle ihr Gesicht in die Richtung seines Hauptes wenden, so wie Sonnenblumen ihre Köpfe immer in die Sonne drehen. Die Menschen schützen den Leib des Leviathan wie ein Harnisch, ein Schuppenpanzer; und sie sind zugleich dieser Leib selbst, dessen Verhalten und Bewegungen von dem Willen des Fürsten ohne alles Widerstreben regiert werden. Hobbes selbst schreibt dazu: Die Souveränität stellt darin eine künstliche Seele dar, die dem ganzen Körper Leben und Bewegung gibt; die Beamten und andere Bedienstete der Jurisdisktion und Exekutive künstliche Gelenke, Belohnung und Strafe, die mit dem Sitz der Souveränität verknüpft sind und durch die jedes Gelenk und Glied zur Verrichtung seines Dienstes veranlaßt wird, sind die Nerven, die in dem natürlichen Körper die gleiche Aufgabe erfüllen.17

Im Titelbild des Leviathan ist die rechte Hand des Riesen seitlich vorgestreckt, so dass der Knauf des Schwertes bis über die Hügelkette des Mittelgrundes reicht und damit den Schatten verstärkt, der sich über ihre nach links abfallenden Ausläufer legt. Die linke Hand, deren Schatten in einem unregelmäßigen Streifen von der Hüfte des Riesen bis zum rechten Stadtrand läuft, streckt den Bischofstab so weit nach vorn, dass dieser noch über die Stadt des Vordergrundes hinausreicht.18 Von der Spitze des Schwertes bis zum Ende des Bischofsstabes überspannt er den Raum vom entfernten Himmel bis zur Nähe des Mittelgrundes. Die seitlichen Bildreihen der unteren Hälften nehmen die Gegenüberstellung des Schwertes und des Bischofstabes auf, indem die linken Felder der weltlichen und die rechten Felder der kirchlichen Macht gewidmet sind. Arcana imperii Die Felder sind auch horizontal zu verbinden: Die Burg entspricht der Kirche, die Krone der Mitra, die Kanone dem Exkommunikationsblitz, die Kampfzeichen den Waffen der Logik und die Schlacht der Disputation. Carl Schmitt schreibt dazu: 16 Hiob 41, 24. 17 Hobbes 1992. 18 Bredekamp 2003.

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Konträre Staatsbilder Den Festungen und Kanonen entsprechen auf der anderen Seite Einrichtungen und intellektuelle Methoden, deren Kampfwert nicht geringer ist. […] Die große Erkenntnis, daß Begriffe und Distinktionen politische Waffen, und zwar spezifisch Waffen ‚indirekter‘ Gewalten sind, wird auf diese Weise gleich auf der ersten Seite des Buches anschaulich gemacht.19

In der Bildkomposition rahmen die Felder ein Mittelfeld ein, das durch einen Vorhang verhüllt ist. Carl Schmitt hat diesen Vorhang als Sinnbild der arcana imperii gedeutet, des Erfordernisses, über Machtmittel Stillschweigen zu bewahren, sie zu verbergen und zu verhüllen. Dieses Bild passt durchaus auch auf die heutige Politik des Verschweigens, Vertuschens und Verdrehens. Durch den Zusammenhang zwischen den äußeren Bildreihen, die an die Seiten von Altarflügeln erinnern, und einem verhüllten Kernbereich ergibt sich eine dreiflügelige Anlage, die einem Triptychon ähnelt. Schon dieser Wechsel zwischen dem visionären Leviathan, dem durch Verhüllung hervorgehobenen Text und den Wirkungsfeldern verdeutlicht, welche Finesse Hobbes – gemeinsam mit dem Kupferstecher Wenceslaus Hollar – aufgewendet hat, um das bildhafte Denkvermögen seines Lesers herauszufordern. Vier Bilder des Leviathan Nach Carl Schmitts Auffassung gibt es in dem Buch von Hobbes nicht nur ein Bild vom Leviathan. Er knüpft dabei an die Kosmologien Platons und der Stoa an, auf die das Bild vom Gemeinwesen als einem ‚großen Tier‘ zurückgeht, wenn er die von irrationalen Affekten bewegte Menge ein vielköpfiges und ‚buntes Tier‘ nennt. Es handelt sich – Schmitt zufolge – also nicht um ein Bild, sondern um vier Bilder:20 − einen großen Menschen, − ein großes Tier, − eine durch Menschenkunst und Menschenwitz zustande gekommene große Maschine und − den sterblichen Gott (deus mortalis). Damit scheint eine mythische Totalität von Gott, Mensch, Tier und Maschine erreicht zu sein. Der Gigant hat seinen Namen vom alttestamentlichen Leviathan, den Gott vor dem zweifelnden Hiob in einem Unwetter erscheinen lässt, um seine eigene, unermessliche Macht zu offenbaren.

19 Schmitt Leviathan, S. 26. 20 Schmitt Leviathan, S. 31, 76, 124.

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3. VISUELLE ARGUMENTE Wenn Aussagen in Bildern, nicht in Worten präsentiert werden, nennt Otto Neurath (1882–1945), der große Wiener Pionier der Visualisierungen, dies ein visuelles Argument. Bilder erzählen, sie sprechen zum Betrachter.21 Das Frontispiz des Leviathan zeigt dabei deutlich, dass es auch bei Bildzeichen – wie in der Verbalsprache – nicht um die Repräsentation von Wirklichkeit, sondern um die Konstruktion von Bedeutung geht. Hinter den Bildern können sich also ganze Interpretationssysteme verbergen. Bildhafte Darstellungen müssen von jedem Betrachter eigens decodiert und übersetzt werden. Das kann freilich in unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlichem Erfolg geschehen, und es kann dabei auch durchaus zu Missverständnissen und Fehldeutungen kommen. 3.1 „Harte“ und „weiche“ Instrumentarien Eine Ursache hierfür ist, dass zwischen den „harten“ institutionellen Arrangements auf der einen und dem „weichen“ Instrumentarium von Metaphern, Narrativen und Fiktionen auf der anderen Seite in beiden Richtungen ein beständiger Austausch im Gange ist. In einer Langzeitperspektive (longue durée) hat man es mit gegenläufigen Bewegungsrichtungen zu tun, nach denen sich Metaphern in Begriffe und Begriffe in Metaphern verwandeln.22 Dabei spielt der Zeitgeist eine wesentliche Rolle. Es liegt auf der Hand, dass das Bild des Leviathan vor fast 400 Jahren, also zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, anders gedeutet worden ist als etwa vor hundert Jahren, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Und in unserem digitalen Zeitalter werden wir derart mit Bildern überflutet, dass wir ein ganz eigenes Verhältnis zu Bildern entwickelt haben. Und auch hier unterscheiden sich wiederum die Generationen. Es kommt hinzu, dass Hobbes, wie alle großen Denker seiner Zeit, „Sinn für esoterische Verhüllungen“ hatte.23 Mit anderen Worten: Hobbes wollte gar nicht alles offen aussprechen. Er selbst hat von sich gesagt, dass er mitunter ‚Ouvertüren‘ mache, seine wirklichen Gedanken aber nur zur Hälfte enthülle, und dass er so handle wie „Leute, die für einen Augenblick ein Fenster öffnen, um es aus Furcht vor dem Sturm rasch wieder zu schließen“. 3.2 Fehlschlag eines Symbols? Carl Schmitt ist der Ansicht, dass schon durch die politische Instrumentalisierung das Symbol zum „Fehlschlag“ werde:

21 Neurath 1991. 22 Koschorke et al. 2007, S. 57. 23 Schmitt Leviathan, S. 43f.

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Konträre Staatsbilder Hobbes glaubte, sich dieses Bildes als eines eindrucksvollen Symbols zu seinem Zweck zu bedienen, und bemerkte nicht, daß er in Wirklichkeit die unsichtbaren Kräfte eines alten, vieldeutigen Mythos auf den Plan rief. 24

Wie kommt Carl Schmitt darauf, dass das im Bild des Leviathan verkörperte Symbol fehlgeschlagen sei? Zur Beantwortung dieser Frage lässt sich Otto Neuraths Bildstatistik nach Wiener Methode nutzen. 1933 schreibt Neurath dazu: Ein Bild, das nach den Regeln der Wiener Methode hergestellt ist, zeigt auf den ersten Blick das Wichtigste am Gegenstand; offensichtliche Unterschiede müssen sofort ins Auge fallen. Auf den zweiten Blick sollte es möglich sein, die wichtigeren Einzelheiten zu sehen und auf den dritten Blick, was es an Einzelheiten sonst noch geben mag. Ein Bild, das beim vierten und fünften Blick noch weitere Informationen gibt, ist, vom Standpunkt der Wiener Schule, als pädagogisch ungeeignet zu verwerfen.25

Ob Hobbes tatsächlich pädagogisch tätig werden wollte, ist fraglich. Das Titelbild aus dem Jahre 1651 ist aber in jedem Fall uneindeutig. Man benötigt durchaus noch einen vierten oder fünften Blick, um den Sinngehalt ganz verstehen zu können. Und je weiter der zeitliche Abstand zwischen Bild und Betrachter, desto mehr wächst diese Uneindeutigkeit. 3.3 Wirkliches und Imaginäres Als rational denkende Menschen streben wir nach der Erkenntnis der „Wahrheit“; wir wollen wissen, wie es wirklich ist oder gewesen ist. Der naturwissenschaftlich geschulte Mensch will möglichst objektive Erklärungen, die sich beweisen lassen. Aber ist das jemals von Erfolg gekrönt? In seinem Essay Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne hat Friedrich Nietzsche (1844–1900) 1873 die auch für uns Heutige entscheidende Frage gestellt: „Was ist Wahrheit?“ Und er gibt auch gleich eine für ihn typische und zugleich äußerst modern erscheinende – gewissermaßen postmoderne – Antwort: […] die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.26

Dahinter wird zunächst eine Unterscheidung sichtbar, die für uns wichtig ist, nämlich die zwischen dem Wirklichen und dem Imaginären. Das Wirkliche lässt sich als die Welt der unentrinnbaren Tatsachen verstehen, das Imaginäre ist hingegen der Bereich der Vorstellungen von der Welt.27 Nietzsche befindet sich hier – so merkwürdig uns das zunächst auch vorkommen mag – in einer Traditionslinie mit Immanuel Kant, auch wenn er gewissermaßen die Gegenposition vertritt. 24 25 26 27

Schmitt Leviathan, S. 123. Neurath 1991. Nietzsche 1980. Frank et al. 2002, S. 73.

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3.4 Ende der Gutenberg-Galaxis In seiner Kritik der Urteilskraft von 1790 hält Immanuel Kant (1724–1804) – aus dem Geist der Aufklärung heraus – ein Plädoyer für das Wiederaufleben des alttestamentarischen Bilderverbots. Nach Kants Ansicht würde es eher nötig sein, den Schwung einer unbegrenzten Einbildungskraft zu mäßigen, um ihn nicht bis zum Enthusiasm(us) steigen zu lassen, als, aus Furcht vor Kraftlosigkeit dieser Ideen, für sie in Bildern und kindischem Apparat Hülfe zu suchen.28

Kant hat den öffentlichen Gebrauch der Vernunft auf den Gebrauch von Schriften beschränkt. Buchdruck und Schulpflicht haben zu Beginn des 19. Jahrhunderts jedoch eine Lesekultur erzeugt, deren kulturell homogenisierende Wirkung nicht verkannt werden sollte. Medienwissenschaftler nennen diese Zeit gern ironisch die „Gutenberg-Galaxis“. Aus dieser „guten alten Zeit“ haben wir uns freilich inzwischen weitgehend verabschiedet bzw. verabschieden müssen. Walter Benjamin (1892–1940) hat 1928 in seinem Buch Einbahnstraße sogar das Ende des Buches vorhergesagt: Und ehe ein Zeitgenosse dazu kommt, ein Buch aufzuschlagen, ist über seine Augen ein so dichtes Gestöber von wandelbaren, farbigen, streitenden Lettern niedergegangen, dass die Chancen seines Eindringens in die archaische Stille des Buches gering geworden sind. 29

In diesem Dialog zwischen Abwesenden soll noch einmal Carl Schmitt zu Wort kommen: Das metaphysische Manko allen technisch-ökonomischen Denkens liegt ja darin, dass es über keine Bildlichkeit, keine Form, keine Symbolik, das heißt aber: über keine Bindung an eine transzendent verpflichtende Unsichtbarkeit verfügt. Es kennt nur die zutiefst defizitäre ‚Realpräsenz der Dinge‘.30

4. STAAT ALS POLITISCHER KÖRPER Gilt also die Aussage von William Shakespeare (1564–1616) nach wie vor, wenn er den Dänenprinz Hamlet sagen lässt: „Es gibt mehr Ding‘ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt, Horatio!?31 Unter Staatsfiktionen kann man sich durchaus „Denkfiguren des politischen Gemeinwesens“ vorstellen. Solche Denkfiguren können verbaler, aber auch bildlicher Natur sein. Mir geht es hier um die Bildsprache, was nur scheinbar und nur auf den ersten Blick ein Paradox ist. Denn, um noch einmal Otto Neurath zu zitieren: Bilder sprechen zum Betrachter. 28 29 30 31

Kant 2008. Benjamin 2001. Schmitt Leviathan, S. 79. William Shakespeare: Hamlet, Prince of Denmark, 1601.

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4.1 Nation und Mythos Ausgangspunkt unserer Überlegungen könnte der Gedanke sein, dass politische Körper wie Staat, Volk oder Nation konstruierte Phänomene sind. Damit wird unterstellt, dass es sich um imaginierte, also vorgestellte, in der realen Welt so nicht existierende Gebilde handele. Immagined Communities Benedict Anderson (1936) hat diesen Gedanken mit seinem Buch Imagined Communities in die Diskussion eingeführt.32 Dafür wählt Anderson das Beispiel Indonesien, das erst seit sechzig Jahren als unabhängiger Staat existiert, aus zahlreichen Ethnien besteht und sich dennoch als Nation versteht. Im Titel der deutschen Übersetzung Die Erfindung der Nation wird freilich der Akzent zu sehr in Richtung auf ein bewusstes Tun verschoben. Tatsächlich müssen jedoch – zumindest bei einer intellektuellen Elite, meist auch in Märchen, Volksliedern und Sagen – Vorstellungen von Einheit und Ganzheit bereits existieren. Über deren Vermittlung können dann die Beteiligten zu einem Eigenbild und ggf. auch zu einer organisatorischen Form dieses Eigenbildes, wie einem Staat, finden. Dieser Prozess kann durch Mythenbildung bewusst gefördert werden. Politische Mythen sind Gründungserzählungen, die einen bestimmten Sinngehalt narrativ festhalten und rituell darstellen. Damit dienen sie der Orientierung, der Motivierung und der Identitätsbildung des politischen Verbandes. Zu denken ist etwa an die Schlacht auf dem Amselfeld von 1389 und ihre Bedeutung für das Selbstverständnis der Serben – gerade im Hinblick auf den Kosovo. Die Schlacht unter der Führung des Fürsten Lazar gilt als der Inbegriff des serbischen Kampfes gegen die Osmanen.33 Gefeiert wird nicht der Sieg (es war eine Niederlage), sondern der todesmutige Kampf gegen die Unterdrücker. Vorstellung von einer „indonesischen Nation“ Eine Nation kann allerdings nicht willkürlich, also quasi aus dem Nichts heraus, kreiert werden. Es findet aber ein beständiger Austausch zwischen dem „weichen“ Instrumentarium von Metaphern und Fiktionen auf der einen und den „harten“ institutionellen Arrangements auf der anderen Seite statt. Das heißt, die erzählten Modelle und Denkfiguren wirken schöpferisch auf den politischen Prozess zurück. Betrachten wir noch einmal den Fall Indonesien: Kaum einer der 199 Millionen Indonesier kann sich heute noch an eine Zeit erinnern, in der es diesen Staat, der aus zahllosen Inseln auf einem Gebiet von fast 2 Millionen Quadratkilometern 32 Anderson 1996. 33 Die Schlacht auf dem Amselfeld fand am 15. Juni 1389 im heutigen Kosovo statt. Dabei standen sich auf der einen Seite serbische und bosnische Truppen, auf der anderen Seite das Heer der Osmanen gegenüber. Vermutlich endete die Schlacht mit einem Unentschieden.

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besteht, nicht gegeben hat. Sie sind alle mit der Vorstellung von einer „indonesischen Nation“ aufgewachsen. Das ändert freilich nichts daran, dass die indonesische Transmigrationspolitik (Zwangsumsiedlung von mehr als acht Millionen Menschen) in den betroffenen Landesteilen auf z.T. erbitterten Widerstand stößt. Soweit reichte der (künstliche) Nationsgedanke offenbar nicht. Von den dichter besiedelten Inseln (Java, Sumatra) wurden Indonesier u.a. in der Provinz Kalimantan auf Borneo angesiedelt. Die etwa vier Millionen Dayak, die Ureinwohner Borneos, wehrten sich erbittert gegen die Eindringlinge, wobei es – nach Angaben der Gesellschaft für bedrohte Völker sowohl 1996 als auch 1999 in Westkalimantan zu Pogromen kam.34 4.2 Konstruktionen des politischen Körpers Eine besondere Rolle spielt in unserem Zusammenhang die Metapher des sozialen Körpers, deren Wirkungsgeschichte sich von Platon und Paulus bis hin zur Biopolitik des 20. Jahrhunderts, bis zu Michel Foucault (1926–1984) und Giorgio Agamben (1942–), erstreckt.35 Die Franzosen sprechen nicht zufällig vom Staat als einem Corps Politique, einem politischen Körper. Und die Engländer haben den Weg bereitet für ein abstraktes, depersonalisiertes Staatsverständnis, indem sie die Rechtsfigur von den zwei Körpern des Königs entwickelt haben, dem body natural auf der einen und dem body politic auf der anderen Seite. In ihrem Buch Der fiktive Staat untersuchen Albrecht Koschorke (1958–) und seine MitarbeiterInnen „Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas“. Sie kommen dabei zu dem Schluss: Metaphern für das ‚Ganze‘ eines Gemeinwesens sind also Hypotyposen, Versinnlichungen eines Begriffs, die mit rhetorischen Mitteln vor Augen stellen, was anders nicht gesehen werden kann.36

Immanuel Kant hat das unter dem Begriff „symbolische Hypotypose“ zu veranschaulichen versucht: So wird ein monarchischer Staat durch einen beseelten Körper, wenn er nach inneren Volksgesetzen, durch eine bloße Maschine aber (wie etwa eine Handmühle), wenn er durch einen einzelnen absoluten Willen beherrscht wird, in beiden Fällen aber nur symbolisch vorgestellt. Denn, zwischen einem despotischen Staate und einer Handmühle ist zwar keine Ähnlichkeit; wohl aber zwischen der Regel, über beide und ihre Kausalität zu reflektieren.37

Was die im Sinne Kants „symbolische“ Hypotypose leistet, ist die „Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz anderen Begriff, dem vielleicht nie eine Anschauung korrespondieren kann“. Es ist die pro34 35 36 37

http://www.gfbv.de/inhaltsDok.php?id=288, Zugriff am 4.8.2010. Foucault 2005, Agamben 2002. Koschorke et al. 2007. Kant 2008, S. 296.

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duktive Einbildungskraft, die zwischen Sinnlichkeit und Verstand vermittelt. Genau dies ist mit dem Leviathan geschehen, er steht für den Staat, von dem man andernfalls sich kein Bild machen könnte. Als Mischwesen aus Ungeheuer und Gott verkörpert der Souverän im Bild des Leviathan den Staat. 5. GRAMMATIK DES SOZIALEN KÖRPERS Aus der Lektüre von Fabeln, Theaterstücken, politischen Manifesten und gelehrten Büchern, aber eben auch aus Titelbildern, Zeichnungen und Gemälden, können erste Bausteine zu einer Grammatik des sozialen Körpers und seiner imaginären Fabrikation zusammengetragen werden. Ist der menschliche Körper selbst gleichsam das ursprüngliche Vorbild auch noch des abstraktesten logischen Begriffs der Ganzheit, so leistet die Metapher des sozialen Körpers die Übertragung eben jener vom menschlichen Körper abgezogenen Bestimmungen auf den Staat.38

5.1 Dimensionen des Körperbegriffs Dabei lassen sich drei Dimensionen des Körperbegriffs unterscheiden: (1) Die Beschaffenheit des auf das Kollektiv angewandten Körperbildes, (2) Das Verhältnis des individuellen Körpers zu dem ihn umschließenden Kollektivleib, und (3) Die Verkörperung des Gemeinwesens durch einen privilegierten Einzelnen, also durch eine Herrscherpersönlichkeit. Das hier zugrunde liegende Konzept der Person orientiert sich an der theatralischen Herkunft des Wortes im Griechischen und Lateinischen. Der Begriff persona verkörperte nämlich ursprünglich eine im griechischen Theater von den Schauspielern verwendete Maske. Heute wird er aber auch in der Psychologie und im Bereich der Mensch-Computer-Interaktion verwendet. Der menschliche Organismus wird bei Hobbes als ein Modell einerseits für das arbeitsteilige Zusammenwirken der ungleichen Glieder, andererseits für ihre unauflösliche Einheit, ohne die der Körper als Ganzer nicht überleben könnte, verstanden. Die Bedeutung des Bildes vom Leviathan reicht jedoch weiter. Zum einen beschreibt Hobbes Funktionen staatlichen Handelns in Analogie zu den entsprechenden Organfunktionen des menschlichen Körpers. So dienen etwa die Spione als die Augen. Die Geldzirkulation dient als der Blutkreislauf des politischen Körpers, ein Bild, das uns heute angesichts der globalen Finanzkrise, erstaunlich aktuell vorkommen muss. Zum anderen spiegeln sich die Menschen, die den Staat durch Vertrag erzeugen, in ihrem Artefakt selbst − und das heißt: ihr menschliches Wesen mit seinen Leidenschaften, seiner Machtgier, auch seiner Vernunft. 38 Koschorke et al. 2007, S. 60.

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5.2 Das Ganze und seine Teile Ein Gegenstand − bspw. ein mechanisches Uhrwerk, das zu Hobbesʾ Zeit den innovativsten Stand der Maschinentechnik repräsentierte − wird wissenschaftlich erschlossen, indem das Ganze in seine Teile zerlegt und aus diesen wieder zusammengesetzt und dadurch in seinem Funktionieren durchsichtig gemacht wird. Auf den Staat als Untersuchungsgegenstand bezogen bedeutet dies: Der Staat wird in seine Elemente − die Individuen − zerlegt, was in friedlichen Zeiten eher als Denkoperation gemeint ist, im Bürgerkrieg mit seinen unterschiedlichen, einander bekämpfenden Bürgerkriegsparteien, aber auch Wirklichkeit werden kann. Später wird der Staat aus den Individuen wieder zusammengesetzt, wenn die politischen Verhältnisse eine Versöhnung der Gegner zulassen. Betrachten wir unter diesem Gesichtspunkt noch einmal den Leviathan: Der Einzelkörper tritt in die Körperschaft ein, er fügt sich mit einer Menge anderer Einzelner zu einer überindividuellen Einheit zusammen, und das ist in der Regel mit seiner tiefgreifenden Umwandlung verbunden, es formiert sich zu einem ‚Gebilde höherer Ordnung‘.

Genau das symbolisiert das Bild vom Leviathan als dem menschlichen Riesen, der aus über dreihundert Menschen besteht: Obwohl seine rechte Hand nur einen Durchmesser von 12 mm aufweist, birgt sie eine Ansammlung von Menschen, die mit zwei schemenhaft sich abzeichnenden Gestalten des Daumenballens beginnt. Die dicht an dicht gedrängten Personen füllen beide Gliedmaßen sowie auch den gesamten Rumpf aus, um erst im Halsbereich, in der verschatteten Zone unterhalb des Kinns zu verschwinden.39

Der Blick, den die Menschen von allen Standorten aus auf den Kopf des Riesen richten, kehrt über dessen Augen zum Betrachter zurück, der die Froschperspektive der Rückenfiguren nachzuvollziehen sucht und zugleich auf Augenhöhe des Souveräns von diesem direkt angesprochen wird. 6. FURCHT DER MENSCHEN – SCHUTZ DURCH DEN LEVIATHAN Der widersprüchliche Charakter des Staatskörpers, Produkt der Menschen zu sein, die sich ihm zugleich unterwerfen, äußert sich bereits im Wechselspiel der Blickformen zwischen den Bürgern, dem Leviathan und dem Betrachter. Die riesige Erscheinung des Leviathan erweckt Furcht, ihr Name steigert ihren angstauslösenden Charakter. In Martin Luthers Tischreden z.B. ist der Leviathan der Fürst dieser Welt, dem Gott erlaubt, die Menschen zu verwirren, den er aber gleichzeitig bändigt und „mit dem er zu seiner Belustigung täglich drei Stunden spielt“. Auch 39 Bredekamp 2003.

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bei Jean Bodin behält der Leviathan die alte dämonische Bedeutung. In seiner Dämonomanie heißt es: Leviathan, das ist der Teufel, dessen Macht auf Erden Niemand widerstehen kann […]; von ihm wird gemeldet, daß er sich nicht mit dem Leibe begnüge, sondern auch den Seelen nachstelle, weshalb man mit ihm keinen Vertrag schließen kann.40

6.1 Unterwerfungsvertrag Merkwürdiger Weise ist Hobbesʾ Leviathan zwar eine Riesengestalt, aber kein Monstrum. Mit ihm kann man durchaus einen Vertrag schließen, allerdings nur einen Unterwerfungsvertrag. Hobbes erfindet hierzu den Gründungsmythos des Gesellschaftsvertrages, bei dem die versammelten Menschen ihre „gesamte Macht und Stärke auf einen Menschen“ übertragen. Er schreibt dazu: Hierin liegt das Wesen des Staates, der, um eine Definition zu geben, eine Person ist, bei der sich jeder einzelne einer großen Menge durch gegenseitigen Vertrag eines jeden mit jedem zum Autor ihrer Handlungen gemacht hat, zu dem Zweck, daß sie die Stärke und Hilfsmittel aller so, wie sie es für zweckmäßig hält, für den Frieden und die gemeinsame Verteidigung einsetzt.41

Das Interessante daran ist, dass es für dieses Szenario keinerlei empirische Beweise gibt. Im Gegenteil: Es entspricht nirgendwo den juristischen Realitäten, weder im England des 17. Jahrhunderts, das durch den Bürgerkrieg zwischen Krone und Parlament geprägt ist, noch im Deutschen Reich, dessen Staatsdenker an Konstruktionen einer gemischten Herrschaftsgewalt laborieren.42 Offenbar wollte Hobbes keinen Zweifel daran lassen, dass die Angst den Ausgangs- und Zielpunkt aller seiner Überlegungen ausmacht. Denn im Urzustand herrscht – nach Hobbes – der Kampf Aller gegen Alle. Das unausweichliche Ergebnis ist ein endloser Krieg, in dem „ein Mann mit Recht angreift und ein anderer mit Recht Widerstand leistet“, wie Hobbes in seinen Elements of Law bereits 1640 feststellt. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Daher besteht die „permanente Furcht und Gefahr des gewaltsamen Todes; und das Leben des Menschen ist einsam, armselig, widerwärtig, tierisch und kurz“, wie Hobbes sagt. Als Instrument der Notwehr muss dieser Organismus Angst auslösen, um seine Schutzfunktion erfüllen zu können. Gerade daraus ergibt sich aber auch ein zentraler Kritikpunkt: Wer schützt die Menschen davor, dass der Staatsriese die Gewalt in Wirklichkeit gar nicht unterbindet, sondern willkürlich monopolisiert und für eigene Zwecke einsetzt? Auch diese Frage verbirgt sich hinter dem Bild des Leviathan.

40 Bodin 2003. 41 Hobbes 1992. 42 Koschorke et al. 2007, S. 109f.

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6.2 Merkzeichen Das Frontispiz des Leviathan erfüllt aber noch eine andere Funktion, auf die Hobbes großen Wert legt, nämlich die des „Merkzeichens“. Um seine zivilisatorischen Möglichkeiten einlösen zu können, benötigt das Gedächtnis mentale Bilder. Das Gedächtnis arbeitet assoziativ. Freilich darf es sich bei den „mentalen Bildern“ nicht um virtuelle Fantasieprodukte handeln, sondern sie müssen in der Realität tatsächlich vorhanden sein. Ohne Körper kann es für Hobbes kein substantielles Denken und ohne Abbild kein nutzbares Bild des Gedächtnisses geben, das in die Bilderwelt der Mnemosyne (der Muse der Erinnerung) aufgenommen werden kann. In seiner Schrift De Corpore (Über den Körper), die zu seinen wichtigsten Werken gehört, stellt Hobbes 1655 sinnliche Erinnerungszeichen an den Anfang aller Gedankenordnung: Solche Erinnerungszeichen wollen wir Merkzeichen nennen und darunter sinnlich wahrnehmbare Dinge verstehen, die wir willkürlich gewählt haben, um durch ihre sinnliche Empfindung Gedanken in unserem Geist zu erwecken, die denen ähnlich sind, um derentwillen wir sie zu Hilfe genommen haben.43

6.3 Ambivalenz von Ordnung und Chaos Die Funktion solcher Merkzeichen erfüllt das Frontispiz des Leviathan in besonderem Maße, weil es den Staatsriesen nicht nur dem Gedächtnis des Einzelnen zur Verfügung stellt, sondern auch den Charakter allgemeiner Zeichen anzunehmen vermag. Leviathan: Zeichen für den Staat Um ihre Wirkung entfalten zu können, müssen die Erinnerungszeichen nämlich Gemeingut Vieler, möglichst Aller sein. Das Bild des Leviathan hat diesen Schritt vollzogen. Es ist ein Zeichen für den Staat geworden, das jederzeit von innen her die Handlungen steuert. Damit hat das Bild vom Leviathan einen handlungsrelevanten Charakter erhalten. Das gilt auf der anderen Seite des Spektrums auch für den Behemoth. Unter diesem Titel gibt Hobbes im Jahre 1679 „eine geschichtliche Darstellung der presbyterianischen und puritanischen Revolution von 1640−1660.44 […] Der Behemoth ist […] ein Symbol der durch religiösen Fanatismus und Sektierertum hervorgerufenen Anarchie, die während der puritanischen Revolution das englische Gemeinwesen zerstörte“.45 Leviathan und Behemoth sind bei Hobbes Symbole der Ambivalenz und zwar der Ambivalenz von Ordnung und Chaos.46 43 44 45 46

Hobbes 1997. Hobbes 1999. Schmitt Leviathan, S. 33f. Salzborn 2009, S. 143–164.

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Behemoth: Zeichen für den Unstaat Franz Neumann (1900–1954) hat im Jahre 1942 diesen Gedanken in seiner Studie Behemoth. Structure and Practice of National Socialism wieder aufgegriffen und auf den Nationalsozialismus angewandt. Er hat sich dabei vor allem mit der Hobbes-Interpretation Carl Schmitts auseinandergesetzt.47 Dabei denkt Neumann die mythologische Dimension von Leviathan und Behemoth weiter, die Schmitt zu bekämpfen versucht hatte. Sein Fazit: Da wir glauben, daß der Nationalsozialismus ein Unstaat ist […], ein Chaos, eine Herrschaft der Gesetzlosigkeit und der Anarchie, welche die Rechte wie die Würde des Menschen ‚verschlungen‘ hat und dabei ist, die Welt durch die Obergewalt über riesige Landmassen in ein Chaos zu verwandeln, scheint uns der der richtige Name für das nationalsozialistische Sys48 tem: Der Behemoth.

Doch zurück zum Leviathan: Bezieht man diesen Gedanken auf die internationale Ebene (die Hobbes durchaus im Blick hatte), dann erreicht hier das Bild vom Leviathan in seiner Mischung von großem Tier und großer Maschine ‚den höchsten Grad mythischer Wirkungskraft‘. 7. BILDERSPRACHE ODER HIRNMUSIK Bereits im 16. Jahrhundert wurden erste Vorstellungen von der Wirkungsweise des Auges entwickelt. Leonardo da Vinci (1452–1519) hat dazu nicht nur eine Zeichnung angefertigt, sondern seine Erklärung auch auf eine Formel gebracht: Das Auge hat eine einzige Zentrallinie und alle Dinge, welche durch diese Linie zum Auge gelangen, werden gut gesehen.

In der ersten deutschen Enzyklopädie zeigt der Freiburger Abt Gregor Reisch (1470–1525) uns im Jahre 1517 eine idealisierte Darstellung der äußeren Sinne (visus, auditus, olfactus, gustus) und der Hirnzellen, mit denen sie direkt und indirekt verbunden sind.49 Den Hirnzellen sind die Seelenvermögen zugeordnet, zu denen einerseits Anschauungs- und Vorstellungsvermögen, andererseits Denkund Urteilsvermögen gehören. Hundert Jahre später hat der Basler Kupferstecher Matthäus Merian (1593–1650) mentale Bilder im Jahre 1619 in seinem Schnitt durch das Gehirn in den inneren Kammern vermutet.

47 Vgl. Salzborn 2009, S. 143–164. 48 Neumann 1944. 49 Srbik 1941.

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7.1 Kenntnis des menschlichen Gehirns Die moderne Hirnforschung hat diesen Gedanken weiterentwickelt und verortet die Bildersprache nunmehr in der rechten Gehirnhälfte. Heute steht für die Forscher die Frage im Vordergrund, ob und wie mit Hilfe der Computertechnik künstliche Intelligenz geschaffen werden kann. Dabei geht es um den Aufbau künstlicher neuronaler Netze. Das setzt freilich eine genaue Kenntnis des menschlichen Gehirns voraus. Menschen können bekanntlich in Sekundenbruchteilen komplizierte Signale und Bilder oder Tonfolgen erkennen und inhaltlich interpretieren. Die Wahrnehmungspsychologie liefert uns hierzu eine für unsere Überlegungen zentrale Erkenntnis: Alle unsere Gedanken, Erinnerungen, Bilder usw. sind weder als „Bilder“ noch als Zahlen oder Bits, sondern durch zeitliche Rhythmen in unserem Gehirn codiert. Was sich in unserem Gehirn tatsächlich abspielt, muss man sich als eine Art „Hirnmusik“ vorstellen, als Rhythmen, Überlagerungen von Rhythmen und Phasen relativ zu diesen Rhythmen. 7.2 Hobbes als „Hellseher“? Es wäre sicher reizvoll, der Frage nachzugehen, welche „Musik“ wir hören, wenn wir das Bild des Leviathan betrachten. Das muss freilich einer späteren Überlegung vorbehalten bleiben. Festzuhalten bleibt hier jedoch, dass uns das Bild des Riesen Leviathan, der halb Mensch und halb Gott ist, nicht mehr loslässt. Der Leviathan ist zum Sinnbild jenes Staates geworden, der für die Garantie der Sicherheit von den Menschen deren totale Unterwerfung einfordert. Über welch’ hellseherische Fähigkeiten muss ein Staatsdenker wie Hobbes verfügt haben, wenn er uns – vor 350 Jahren – bereits den Schlüssel zum Verständnis unserer heutigen Lage geben konnte? Werden unsere Bürgerrechte – z.B. durch heimliche Durchsuchung unseres PCs, durch Rasterfahndung, Vorratsdatenspeicherung und Video-Überwachung – nicht ständig eingeschränkt? Die Begründungen wechseln: War es vorgestern der Sowjetimperialismus und gestern die organisierte Kriminalität, so ist es heute der Terrorismus. Und was kommt morgen? Das Ergebnis ist immer das gleiche: Im aufopferungsvollen Kampf des Leviathan für die Freiheit geben wir, die Menschen, ein Freiheitsrecht nach dem anderen auf. Martin Heidegger (1889–1976), ein „Meister aus Deutschland“,50 wie ihn Rüdiger Safranski nennt, sagt dazu: Nicht daß der Mensch sich von den bisherigen Bindungen zu sich selbst befreit, ist das Entscheidende, sondern daß das Wesen des Menschen überhaupt sich wandelt, indem der Mensch zum Subjekt wird. […]51

Der Grundvorgang der Neuzeit ist die Eroberung der Welt als Bild.

50 Safranski 2006. 51 Heidegger 2006.

4. TEIL SOUVERÄNE STAATEN

SOUVERÄNITÄT UND KRIEG1 Das Recht zur Letztentscheidung Die Vereinten Nationen setzen sich folgende Ziele: (1) den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen […]. 2 Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. 3

Der Widerspruch zwischen dem Anspruch einer Weltorganisation, insbesondere der Siegermächte eines Weltkrieges, den Weltfrieden zu gewährleisten, einerseits und der Souveränität der Staaten andererseits, war allerdings nicht neu, als die Vereinten Nationen am 26. Juni 1945 in San Francisco gegründet wurden. Vielmehr hatte sich auch der Völkerbund bereits mit diesem Problem befasst und versucht, „wenigstens einzelne Arten des Krieges“ auszurotten und ihre „Wiederkehr durch die vereinte Menschheit“ zu verhindern. Damit sollte „die erste wirkliche Schranke“ gegen die Souveränität und damit gegen die „Willkür der Staaten“ errichtet werden.4 1. WIEDER KRIEG5 Das Gleichgewicht des Schreckens, d.h. die Möglichkeit der beiden Supermächte, mit ihren Atomwaffen den Feind gleich mehrfach vernichten zu können, verhinderte den „heißen Krieg“ in Europa für einige Jahrzehnte. Allerdings fanden durchaus blutige „Stellvertreterkriege“ auf anderen Erdteilen, wie z.B. der Koreakrieg (1950–1953) oder der Vietnamkrieg (1964–1974) in Asien, statt. Nach dem Ende der bipolaren Ordnung Ende der 1980er Jahre ist der Krieg nun jedoch auch 1 2 3

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5

In einer ersten Fassung erschienen in: Salzborn/Voigt (Hg.) 2010, S. 127–146. Artikel 1 der Charta der Vereinten Nationen. Artikel 51 der UN-Charta, wo es weiter heißt: „Maßnahmen, die ein Mitglied in Ausübung dieses Selbstverteidigungsrechts trifft, sind dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen; sie berühren in keiner Weise dessen auf dieser Charta beruhende Befugnis und Pflicht, jederzeit die Maßnahmen zu treffen, die er zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit für erforderlich hält“. Botschaft des Schweizer Bundesrates an die Schweizerische Bundesversammlung betreffend die Frage des Beitrittes der Schweiz zum Völkerbund vom 4. August 1919, in: Maschke (Hg.) 2005, S. 305−310 [307]. So der Titel des Buches von Karl Otto Hondrich, Hondrich 2002.

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in Europa, ja selbst für uns Deutsche, wieder möglich geworden.6 Der Kampfeinsatz der Bundeswehr in Afghanistan, der gegenwärtig die Gemüter bewegt, 7 hat dabei eine längere Vorgeschichte.8 An dem Zweiten Golfkrieg, den die Vereinigten Staaten und Großbritannien unter UN-Mandat 1990/91 gegen den Irak führten,9 nahm Deutschland – aus verfassungsrechtlichen Bedenken – nicht teil.10 Am Somaliakrieg, der ebenfalls unter UN-Mandat in den Jahren 1992 bis 1995 stattfand, war die Bundeswehr jedoch bereits – wenn auch mit wenig Erfolg – beteiligt. Das Bundesverfassungsgericht hatte am 12. Juli 1944 den Einsatz out of area, also außerhalb des NATO-Bündnisgebietes, gebilligt.11 In Europa selbst fand in Bosnien und Herzegowina von 1992 bis 1995 ein Bürgerkrieg statt, der auch durch den Einsatz von UN-Truppen nicht zu verhindern war. Besonders der Völkermord bei Srebrenica im Juli 1995, der unter den Augen niederländischer Blauhelmsoldaten stattfand, stieß in der Öffentlichkeit auf Entsetzen und Abscheu. Ein UN-Tribunal in Den Haag verurteilte einige der Beteiligten als Kriegsverbrecher. Problematisch war der Kosovokrieg, der ohne UN-Mandat stattfand. Eine von den USA angeführte NATO-Truppe kämpfte im Frühjahr 1999 gegen die Bundesrepublik Jugoslawien,12 der Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Kosovaren vorgeworfen wurden. Die rot-grüne Bundesregierung bemühte sich, die Beteiligung der Bundeswehr an dem NATO-Einsatz, in dem auch von deutschen Tornados serbische Städte bombardiert wurden, durch höchst zweifelhafte Vorwürfe (Hufeisenplan) gegen die Serben zu rechtfertigen. Das Ergebnis dieses Krieges war die Errichtung einer Provinz Kosovo unter UN-Verwaltung durch die Sicherheitsrats-Resolution 1244. Damit wurde diese Provinz zunächst vorläufig, später endgültig der Souveränität Serbiens entzogen. Am 17. Februar 2008 proklamierte das kosovarische Parlament – gegen den erklärten Willen Serbiens und Russlands – die Unabhängigkeit der Republik Kosovo. 69 UN-Mitgliedstaaten haben diese Unabhängigkeit bislang anerkannt.13 Dadurch wurde ein Präzedenzfall für künftige Separationsbestrebungen – z.B. in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion – geschaffen, der mit Sicherheit zu weiteren (möglicherweise kriegerischen) Ausei6 7 8

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Vgl. Voigt 2008. Siehe hierzu: BVerfGE 188, 244. Deutschland beteiligt sich – laut www.bundeswehr.de – mit der Bundeswehr zurzeit mit rund 6.800 Soldaten (davon allein 4.590 in Afghanistan bzw. Uzbekistan) an Einsätzen im Ausland. Die USA setzten 575.000 Soldaten ein, Großbritannien 53.462, außerdem waren neben westlichen Kontingenten auch Soldaten aus der arabisch-muslimischen Welt (Türkei, Ägypten, Syrien etc.) in größerer Zahl beteiligt. Allerdings übernahm Deutschland – ähnlich wie Japan – einen großen Teil der Kosten, von den Gesamtkosten in Höhe von ca. 61,1 Mrd. US-Dollar bezahlte Deutschland 17,9 Mrd., 36 Mrd. US-Dollar wurden von Kuweit, Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten beglichen. BVerfGE 90, 286. Der Kosovokrieg dauerte vom 24. März bis zum 10. Juni 1999. Ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs hat auf serbische Initiative ein (rechtlich nicht bindendes) Gutachten dazu erstellt, in dem er zu dem Ergebnis kommt, dass die Unabhängigkeitserklärung nicht gegen das Völkerrecht verstoße.

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nandersetzungen führen wird. Der Sicherung des Weltfriedens diente diese Aktion jedenfalls nicht. 2. DOPPELTER SOUVERÄNITÄTSBEGRIFF Krieg und Souveränität stehen in einem unauflöslichen Zusammenhang miteinander. Für die äußere Souveränität gilt, dass sie nicht vom Jus ad bellum zu trennen ist, ohne ihren Sinn zu verlieren. Wer einen Anderen um Erlaubnis fragen muss, ob er einen Krieg beginnen, führen oder beenden darf, ist nicht souverän. Denn Souveränität bedeutet das Recht zur Letztentscheidung sowohl nach innen wie nach außen. Es handelt sich also um einen doppelten Souveränitätsbegriff als Faktor sowohl der innerstaatlichen als auch der zwischenstaatlichen Ordnung.14 Souverän ist nur, wer allein und letztverbindlich über Krieg und Frieden entscheidet. Dazu gehört auch die Entscheidung über Stärke, Ausrüstung und Bewaffnung der eigenen Streitkräfte sowie über die Stationierung fremder Truppen, militärischer Infrastruktur und Waffensysteme auf dem eigenen Territorium, im Luftraum und im Seegebiet.15 Das gilt umso mehr für den Einsatz der eigenen Soldaten in einem bewaffneten Konflikt, ungeachtet seiner völkerrechtlichen Qualität als Krieg. 2.1 Deutschland im Dilemma Daraus ergibt sich für Deutschland in der besonderen Situation als Mitglied der NATO – z.B. in Afghanistan – ein Dilemma, das nur schwer zu lösen ist. Einerseits sieht sich die Bundesregierung genötigt, im Rahmen ihrer Verpflichtungen gegenüber der NATO und den USA Soldaten für die ISAF-Truppen zur Verfügung zu stellen.16 Die deutsche Souveränität ist hierbei – mehr oder weniger freiwillig – deutlich eingeschränkt, wenn überhaupt vorhanden. Andererseits hat das Bundesverfassungsgericht schon bei früheren Gelegenheiten festgestellt, dass es der Bundestag ist, der über den Einsatz der Bundeswehr zu entscheiden hat („Parlamentsarmee“). Das Grundgesetz hat die Entscheidung über Krieg und Frieden dem Deutschen Bundestag als Repräsentationsorgan des Volkes anvertraut. […] Das Bundesverfassungsgericht hat aus dem Gesamtzusammenhang wehrverfassungsrechtlicher Vorschriften des Grundgesetzes und vor dem Hintergrund der deutschen Verfassungstradition seit 1918 dem Grundgesetz ein allgemeines Prinzip entnommen, nach dem jeder Einsatz bewaffneter Streitkräfte der konstituti14 Von dem Ulrich Haltern meint, dass auf ihm mehr Gewicht laste, als er zu tragen in der Lage sei, Haltern 2007, S. 9. 15 Am 23.10.1954 wurde mit dem „Vertrag über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland“ eine Rechtsgrundlage für den Aufenthalt der Stationierungsstreitkräfte (ehemalige Besatzungsmächte) in Westdeutschland geschaffen. Der Aufenthaltsvertrag gilt auch nach Abschluss des Zwei-Plus-Vier-Vertrages („Ersatz-Friedensvertrag“) weiter. 16 ISAF = International Security Assistance Force.

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Souveränität und Krieg ven, grundsätzlich vorherigen Zustimmung des Deutschen Bundestags bedarf (BVerfGE 90, 286, 381ff.). Die auf die Streitkräfte bezogenen Regelungen des Grundgesetzes sind darauf angelegt, die Bundeswehr nicht als Machtpotential allein der Exekutive zu überlassen, sondern sie als ‚Parlamentsheer‘ in die demokratisch rechtsstaatliche Verfassungsordnung einzufügen […].17

Das Parlament, nicht die Regierung, legt fest, wie viele Soldaten mit welchem Auftrag im Ausland eingesetzt werden dürfen.18 Auf diesem Umweg erlangt Deutschland zumindest einen Teil seiner Souveränität zurück. Die Bundesregierung muss und kann die Forderungen der Bündnis-„Partner“ nicht bedingungslos erfüllen. Allerdings ziehen dann die USA daraus im Afghanistankonflikt die (nachvollziehbare) Konsequenz, dass sie in dem deutscher „Zuständigkeit“ unterliegenden Norden – wenn auch nicht im Auftrag der ISAF – mit eigenen Truppen operieren.19 Dieses Souveränitätsdilemma ist solange nicht lösbar, wie sich Deutschland nicht dazu entschließt, eine klar konturierte eigenständige und selbstbewusste Position zu vertreten, die einem souveränen Staat angemessen wäre. 2.2 Völkerrechtlich gebundene Freiheit Freilich hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag ausdrücklich das Recht zur Kriegsführung für Deutschland verworfen und stattdessen die Friedenswahrung und die „Überwindung des zerstörerischen europäischen Staatenantagonismus“ postuliert. Das Grundgesetz löst sich von einer selbstgenügsamen und selbstherrlichen Vorstellung souveräner Staatlichkeit und kehrt zu einer Sicht auf die Einzelstaatsgewalt zurück, die Souveränität als ‚völkerrechtlich geordnete und gebundene Freiheit‘ auffasst. […] Es bricht mit allen Formen des politischen Machiavellismus und einer rigiden Souveränitätsvorstellung, die noch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Recht zur Kriegsführung – auch als Angriffskrieg – 20 für ein selbstverständliches Recht des souveränen Staates hielt […].

Vor diesem Hintergrund erscheint es als plausibel, dass der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan nicht mit dem eigenen, nationalen Recht, solche Militärinterventionen durchzuführen, gerechtfertigt wird, sondern mit einer Resolution des UN-Sicherheitsrates.21

17 Urteil des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Mai 2008, 2 BvE 2/08. 18 Der Einsatz der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebietes („out of area“) war bis zum Urteil des BVerfG nur im Rahmen des Bündnisfalles der NATO und nach Zustimmung des Bundestages möglich. 19 Die Bundeswehr, die seit Dezember 2001 an dem ISAF-Einsatz teilnimmt, hat 2006 die Führung im Regionalkommando Nord (Regional Command North) übernommen. 20 Urteil des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009, 2 BvE 1/03. 21 Dies ist in erster Linie die Resolution Nr. 1386 vom 20. Dezember 2001.

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2.3 Kombattanten und Nichtkombattanten Problematisch wird es dann, wenn bei Kampfhandlungen, die von deutschen Offizieren befehligt werden, Menschen getötet werden, die keine Kombattanten sind. In einem nichtinternationalen bewaffneten Konflikt, in dem die eine Seite nicht aus Soldaten, sondern aus Talibankämpfern besteht, die sich allenfalls als Partisanen einstufen lassen, ist die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten fast unmöglich. Nach dem humanitären Völkerrecht sind nur Kombattanten – unabhängig von der Rechtmäßigkeit des Konflikts – zu Kriegshandlungen berechtigt, und auch nur gegen sie darf militärisch vorgegangen werden. Zwar hat die afghanische Bevölkerung grundsätzlich den NichtkombattantenStatus, sie gehört damit zu dem durch das Völkerrecht geschützten Personenkreis. Andererseits bewegen sich die Talibankämpfer nicht nur unbehelligt zwischen den Zivilisten, sondern es gibt auch Männer, die offiziell Zivilisten, heimlich aber Talibankämpfer sind. Und schließlich gibt es eine mehr oder weniger offen ausgesprochene Unterstützung in der Zivilbevölkerung für die Kämpfer, die gegen die ausländischen „Usurpatoren“ vorgehen. Dazu gehört dann auch, dass man sich im Schutz der Dunkelheit z.B. mit Benzin eindeckt, wenn die Taliban wieder einmal ein ISAF-Tankfahrzeug entführt haben. Besonders unübersichtlich ist die Lage zumeist bei Luftangriffen, bei denen die potenziellen Opfer vorab nicht hinreichend genau identifiziert werden können. Als am 3. September 2009 zwei deutsche Tanklastzüge von den Taliban in ihre Gewalt gebracht wurden, ordnete der deutsche Befehlshaber Oberst Klein die Bombardierung der Tanklastzüge durch amerikanische Bomber an. Dabei kam – neben den beteiligten Talibankämpfern – eine nicht genau zu ermittelnde Zahl von Zivilpersonen (die Schätzungen schwanken zwischen 30 und 140) ums Leben. Der Angriff wurde nicht nur von den deutschen Medien, sondern auch von dem damaligen amerikanischen Oberbefehlshaber General McChrystal einhellig verurteilt. Die rechtliche Beurteilung des Falles durch den Generalbundesanwalt ergab jedoch, dass das Verfahren gegen Oberst Klein und Hauptfeldwebel Wilhelm am 16. April 2010 gemäß Artikel 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurde, „weil im Ergebnis weder die Vorschriften des Völkerstrafgesetzbuches noch die Bestimmungen des Strafgesetzbuches erfüllt sind“.22 Dennoch will die Bundesregierung – ohne Anerkennung einer Rechtspflicht – Entschädigungen an Opfer zahlen, die ihnen von Anwälten benannt worden waren.23

22 www.generalbundesanwalt.de/de/showpress.php?themenid=12&newsid=360, Zugriff am 11. 6.2010. 23 Das Verteidigungsministeriums hat die Gespräche mit dem in Bremen ansässigen afghanischen Anwalt Karim Popal, der nach eigenen Angaben 79 Opfer vertritt, u.a wegen ständig steigender Forderungen (bis zu 8,2 Mill. € sowie ein Honorar von 220.000 €), abgebrochen und die Angelegenheit selbst in die Hand nehmen, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,688765,00.html, Zugriff am 4.8.2010.

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3. WESTFÄLISCHES SYSTEM Niemals aber – auch nicht gegenüber Dritten – kann sich der politische Körper oder Souverän, der das eigene Sein ja nur aus der Heiligkeit des Vertrages empfängt, zu etwas verpflichten, was gegen diesen ursprünglichen Akt verstößt, etwa einen Teil seiner selbst zu veräußern oder sich einem anderen Souverän zu unterwerfen. Den Akt verletzten, dem er seine Existenz verdankt, hieße sich selbst vernichten, und aus nichts folgt nichts. 24

Die Souveränität hat sowohl in der politischen Praxis als auch in der theoretischen Aufarbeitung eine lange Geschichte. Gemeinhin gilt Jean Bodin als „Vater“ des Souveränitätsbegriffs. Mit seiner Schrift Les six livres de la République (Sechs Bücher über den Staat) hat er bereits 1575 die Souveränität als höchste Gewalt (summa potestas) des Monarchen beschrieben: Souverän ist, wer allen Untertanen das Gesetz vorschreiben kann, über Krieg und Frieden entscheidet, die Beamten und Magistrate im Lande ernennt, Steuern erhebt, von ihnen befreit, wen er will, und zum Tode Verurteilte begnadigt.25

Dabei ging es in erster Linie (aber nicht nur) um die innere Souveränität; durch die Stärkung der Position des Königs wollte Bodin den Bürgerkrieg zwischen Katholiken und Hugenotten beenden.26 Mehr als ein halbes Jahrhundert vor Bodin hat aber bereits Niccolò Machiavelli in seinem Buch Dell’Arte della Guerra (Über die Kunst des Krieges),27 das zwischen 1519 und 1520 entstanden ist, davor gewarnt, die Verteidigung der Republik nach außen Condottieri (Kriegsunternehmern) zu überlassen, die Söldner anwerben und die Kriegsführung für sich so ertragreich wie möglich gestalten. Ein Fürst, der sich auf sie verlasse, sei nie sicher. Stattdessen plädierte Machiavelli für eine aus Bauernsöhnen gebildete Bürgermiliz, die besser den Erfordernissen eines starken und selbständigen Staates entspreche. 3.1 Gleichwertigkeit der Staaten Für die äußere Souveränität war vor allem der Westfälische Frieden von 1648 von zentraler Bedeutung. Mit ihm wurde die Souveränität der europäischen Fürsten und mit ihr auch das Recht zum Krieg (Jus ad bellum) anerkannt. Fortan beruhte das europäische Staatensystem, das Westfälische System, auf dem Prinzip der „Gleichheit“, besser gesagt: der Gleichwertigkeit der Staaten. Jeder Fürst, auch der Herrscher eines kleinen Landes, konnte – z.B. aus dynastischen Gründen – einem anderen Fürsten den Krieg erklären. Denn zur fürstlichen Souveränität gehörte selbstverständlich das Recht, Krieg zu führen. Es entstand ein Gleichgewicht der Flächenstaaten auf dem europäischen Kontinent, das zugleich Voraussetzung 24 25 26 27

Rousseau 2008, S. 32; Kersting 2003, S. 81–116. Bodin 1981, S. 285f. (Buch 1, Kap. 10). Bodins Buch erschien vier Jahre nach der blutigen Bartholomäusnacht vom 24. August 1572. Machiavelli 2006, S. 710−856.

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für die Anerkennung eines gemeinsamen Rechts, des Jus Publicum Europaeum, war, das eine Sphäre des Friedens und der Ordnung gewährleistete. 28 Souveräne Staaten als geschlossene Machtgebilde mit einheitlicher zentraler Regierung und Verwaltung waren die geeigneten Träger dieses europäischen Völkerrechts. Tatsächlich richtete sich dieses Prinzip gegenseitiger Anerkennung als gleichwertig vor allem gegen den hegemonialen Anspruch einer Großmacht, in der damaligen politischen Praxis also gegen England als Träger des britischen maritimen Empire. 3.2 Jus ad bellum Im Jahre 1651 – drei Jahre nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges – hielt Thomas Hobbes in seinem Leviathan, der im Innern den Krieg eines jeden gegen jeden (bellum omnia contra omnes) zu einem Ende bringen sollte, das Recht des Souveräns zum Krieg gegen andere Souveräne für selbstverständlich. 29 Denn die Abgrenzung nach außen war aus seiner Perspektive die unverzichtbare Voraussetzung für den inneren Frieden. Wichtigstes Herrschaftsinstrument neben den staatlichen Bürokratien wurden die stehenden Heere, die nach dem Dreißigjährigen Krieg institutionalisiert wurden. Von nun an wurden Kriege nicht mehr mit Hilfe von Söldnern, Landsknechten und Kriegsunternehmern oder von Bürgermilizen geführt, sondern von staatlichen Armeen, die aus Steuermitteln finanziert wurden.30 Dabei bedeutete die Existenz stehender Heere, deren Unterhaltung teuer war, dass sie auch – zumindest von Zeit zu Zeit – eingesetzt werden mussten. Die Neigung, Kriege zu führen, nahm damit tendenziell zu, zumal sich der bewaffnete Konflikt nach Erreichen der Kriegsziele jederzeit mit Hilfe eines Friedensvertrages beilegen ließ. Drei Kriterien bestimmten solche Staatenkriege: (1) ‚Krieg im Rechtssinne‘ ist jeder Krieg, der von souveränen Trägern der höchsten Gewalt (summa potestas) geführt wird. (2) Jeder Krieg, der zwischen ‚rechtmäßigen Feinden‘, also souveränen Fürsten, geführt wird, ist ein ‚gerechter Krieg‘.31 (3) Die Entscheidung darüber, ob ein gerechter Grund (iusta causa) vorliegt oder nicht, trifft ausschließlich der staatliche Souverän. Damit galten fortan nur noch die von Hugo Grotius genannten formalen Kriterien für einen „gerechten Krieg“: förmliche Kriegserklärung, Antwort auf eine Rechtsverletzung des Gegners, Beendigung durch Friedensschluss.32 Hingegen waren die von Thomas von Aquin genannten theologischen Kriterien endgültig obsolet geworden.33 28 29 30 31 32 33

Schmitt Nomos, S. 68f.; Voigt 2005. Hobbes 1992. Voigt 2008. Vgl. hierzu: Walzer 1982. Grotius 1950. Aquin 1980.

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3.3 Clausewitz und der Krieg Im 19. Jahrhunderts definierte Carl von Clausewitz den Krieg in seinem hinterlassenen Werk Vom Kriege folgendermaßen: Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen. […] Gewalt […] ist also das Mittel, dem Feinde unseren Willen aufzudringen 34 […].

Das eigentliche Ziel des Krieges ist nach Clausewitz, den Feind wehrlos (man möchte ergänzen: und gefügig) zu machen. Genau darum ging es damals und geht es auch in jedem modernen Krieg, wie immer dieser bezeichnet wird. Es ist also kein Wunder, dass vor allem an den US-amerikanischen Militärakademien Clausewitz zur Pflichtlektüre gehört und dass prominente Militärstrategen wie der frühere Generalstabschef (und spätere Außenminister) Colin Powell als Anhänger der Clausewitz-Doktrin gelten. In Europa, speziell in Deutschland, geht man freilich mit diesen Erkenntnissen weit weniger ungezwungen um. So wurde der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr von den Bundesregierungen unterschiedlicher Couleur jahrelang zu einer Hilfsaktion heruntergespielt, bei der Soldaten der Bundeswehr – wider alle Vernunft – zu einer Art bewaffneter Entwicklungshelfer stilisiert wurden. Auf diese Weise hoffte man das schmutzige K-Wort zu vermeiden, also den bewaffneten Konflikt in Afghanistan als Krieg bezeichnen zu müssen.35 Das half zwar, den Bundeswehreinsatz innenpolitisch durchzusetzen, hatte aber für alle Beteiligten – vor allem für die Soldaten und ihre Angehörigen − z.T. äußerst negative Konsequenzen. 4. KRIEGSERKLÄRUNG UND VERTEIDIGUNGSFALL Wenn souverän nur derjenige ist, der allein und letztverbindlich über Krieg und Frieden entscheidet, dann müsste sich an der Verfassung eines Staates relativ leicht ablesen lassen, wer der Souverän ist. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass die europäische Verfassungsgeschichte in erster Linie eine Geschichte der Diversifizierung, etappenweise aber auch der Zentralisierung36 von Machtbefugnissen ist. Für das Grundgesetz trifft der Grundsatz der Diversifizierung (und Dislozierung) in besonderem Maße zu, hier sind die Gewalten so kunstvoll auf Bund und Länder, Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat verteilt, dass ein rasches und einheitliches Handeln des Staates als kaum noch möglich erscheint. Der machtvolle Monarch, den Bodin im Blick hatte, wurde insbesondere im Gefolge der Französischen Revolution zunächst zu einem an die Verfassung gebundenen konstitutionellen Monarchen, um später entweder durch einen Präsiden34 Clausewitz 2000, S. 27. 35 Voigt 2008. 36 So etwa im Nationalsozialismus.

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ten ersetzt und/oder auf eine rein repräsentative Funktion zurückgestutzt zu werden. In England fand die Teilung der Gewalten, die Montesquieu 1748 zu seiner Schrift de L’esprit de Lois (Über den Geist der Gesetze) inspiriert hat,37 bereits zu einem früheren Zeitpunkt statt.38 Das Ergebnis ist aber überall in Europa ähnlich: Zu Beginn des 21. Jahrhunderts gibt es nirgends – auch nicht im Frankreich der Fünften Republik39 – eine Person, die allein über Krieg und Frieden entscheiden kann. Es sind vielmehr zumeist zahlreiche Institutionen, deren Zusammenwirken die Verfassung bei dieser schwierigen Entscheidung verlangt. Es kommt hinzu, dass vor allem der NATO-Vertrag die meisten europäischen Staaten dabei an Abstimmungsmechanismen bindet, die Kriegsentscheidungen im Alleingang ohnehin weitgehend unmöglich machen. 4.1 Zuordnung der Souveränität Betrachtet man die deutschen Verfassungen in ihrer historischen Abfolge von 1871 bis 1949, dann wird deutlich, dass die Souveränität zunächst in Gestalt des Kaisers personalisiert war, dann jedoch mehr und mehr institutionalisiert wurde.40 Die hervorgehobene Stellung des deutschen Kaisers als souveränes Staatsoberhaupt zeigt sich u.a. in Artikel 11 der Reichsverfassung:41 Der Kaiser hat das Reich völkerrechtlich zu vertreten, im Namen des Reichs Krieg zu erklären und Frieden zu schließen.

Reichspräsident als Oberbefehlshaber Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg, dem Kieler Matrosenaufstand, dem Abdanken des Kaisers und dem Ausrufen der Republik war es die Verfassungsinstitution des direkt vom Volk gewählten Reichspräsidenten, auf die sich die Souveränität hätte beziehen können.42 Der Reichspräsident hatte den Oberbefehl über die gesamte Wehrmacht des Reichs (Art. 47 WRV). Nur er war befugt, notfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht die öffentliche Sicherheit und Ordnung wieder herzustellen (Art. 48 Abs. 2 WRV). Schon hier zeigen sich aber die Einschränkungen der präsidialen Macht, denn der Reichspräsident hatte von diesen Maß37 Montesquieu 1986. 38 Der Beginn einer Machtteilung ließe sich auf das Jahr 1215 datieren, als die Magna Charta zunächst dem Adel und später auch den Bürgern Rechte gegenüber der Krone einräumte. 39 Dieser ist allerdings Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Art. 15 der Verfassung vom 4.10.1958. 40 Die Zeit des Nationalsozialismus (1933−1945) und die Zeit des Besatzungsregimes (1945−1949) gehören freilich nicht in diese Kategorie. 41 Zur Erklärung des Krieges im Namen des Reichs ist allerdings gemäß Art. 11 Abs. 2 RVerf die Zustimmung des Bundesrates erforderlich, es sei denn, dass ein Angriff auf das Bundesgebiet oder dessen Küsten erfolgt. Die Kriegserklärung selbst bedurfte der Gegenzeichnung des Reichskanzlers, der damit die politische Verantwortung übernahm. 42 Vgl. hierzu Schmitt HdV.

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nahmen nicht nur unverzüglich den Reichstag zu unterrichten, sondern diese Maßnahmen waren auch auf Verlangen des Reichstags außer Kraft zu setzen. Und noch wichtiger: „Kriegserklärung und Friedensschluß erfolgen durch Reichsgesetz“, mit anderen Worten durch das Parlament. Pazifismus und Wiederbewaffnung Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kam für Westdeutschland eine Phase des absoluten Pazifismus, der einerseits von den alliierten Siegermächten verordnet, andererseits aber auch von den meisten Deutschen für richtig gehalten wurde. Die deutsche Souveränität war ohnehin – auch nach Gründung der alten Bundesrepublik aus den drei westlichen Besatzungszonen und selbst nach Abschluss des Deutschlandvertrages von 195243 – durch zahllose Vorbehaltsrechte der Alliierten auf ein Mindestmaß reduziert. Erst durch die Wiederbewaffnung, die auf Betreiben der Amerikaner in den Jahren 1956/1957 die Bundeswehr entstehen ließ, wurde die Frage des Einsatzes von Streitkräften wieder akut. Verteidigungsfall Das Grundgesetz wurde um den Abschnitt Xa „Verteidigungsfall“ ergänzt: Die Feststellung, daß das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht (Verteidigungsfall), trifft der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates (Art. 115a GG).

Erforderlich sind erstens ein Antrag der Bundesregierung und zweitens Beschlüsse des Bundestages mit einer Zweitdrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen, mindestens jedoch der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages (Art. 115a Abs. 1 GG) sowie des Bundesrates. Offenbar ist der Vorgang als langfristiger Prozess gedacht gewesen, denn der Bundespräsident hat die Feststellung des Verteidigungsfalles im Normalfall im Bundesgesetzblatt, nur in „Eilfällen“ in anderer Weise zu verkünden. Am Ende einer langen (und daher völlig realitätsfernen) Prozedur kann dann der Bundespräsident völkerrechtliche Erklärungen über das Bestehen des Verteidigungsfalles – wiederum aber nur mit Zustimmung des Bundestages – abgeben. Über das Abgeben einer eigenen oder das Annehmen einer fremden Kriegserklärung gibt das Grundgesetz keine Auskunft. Die Befehls- und Kommandogewalt steht in Friedenszeiten dem Verteidigungsminister zu, sie geht erst im Verteidigungsfall auf den Bundeskanzler über (Art. 115b GG). Allerdings blieb dies bis zur Wiedervereinigung graue Theorie, denn die Bundesrepublik konnte nur über den Teil der Bundeswehr frei verfügen, der mit Heereseinheiten 43 Der Vertrag über die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten trat in leicht modifizierter Form am 5. Mai 1955 in Kraft. Er war wegen der Einräumung einer gewissen (Teil-)Souveränität die Voraussetzung für die Wiederbewaffnung.

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der Territorialverteidigung diente, während Luftwaffe und Marine vollständig in die Befehlsstruktur der NATO eingebunden waren. 4.2 Parlamentsentscheidung und Legitimität Nach dem Ende des Kalten Krieges hätte es sich angeboten, die Chance der Wiedervereinigung auch für eine neue Verfassung zu nutzen, die gemäß Artikel 146 (a.F.) des Grundgesetzes „von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen“ worden wäre. Diese Möglichkeit wurde jedoch vertan, vor allem aus Angst des parteipolitischen Establishments, damit könnten sich auch die Machtverhältnisse in Deutschland ändern. Revision der Wehrverfassung Eine Revision der „Wehrverfassung“, die anstelle des – immer unwahrscheinlicher werdenden – großen Verteidigungsfalles den Wirkungsbereich der Bundeswehr den neuen Anforderungen entsprechend gestaltet hätte, unterblieb also ebenfalls. Das im Hinblick z.B. auf Auslandseinsätze der Bundeswehr völlig unzureichende Grundgesetz musste daher im Wege einer Verfassungsentwicklung Stück für Stück durch das Bundesverfassungsgericht auch um den Preis ergänzt werden, dass der Geist des alten (pazifistisch grundierten) Grundgesetzes häufig stark überstrapaziert, wenn nicht in sein Gegenteil verkehrt wurde. Nach der Interpretation des Bundesverfassungsgerichts entscheiden über den Einsatz der Streitkräfte in bewaffneten Konflikten weder der Bundespräsident noch der Bundeskanzler. Es ist vielmehr der Bundestag, der mehrheitlich die Entscheidung über den Einsatz der „Parlamentsarmee“ trifft. Das ist offensichtlich eine Verbeugung vor der Volkssouveränität, deren Repräsentant – jedenfalls der Idee nach – der Bundestag ist. Dass manche Bestimmungen der Wehrverfassung, wie etwa die strikte Trennung von Streitkräften und Wehrverwaltung (Art. 98 a und b GG) reformbedürftig sind, ist längst klar. Man kann nur hoffen, dass die sog. Weise-Kommission44 zur Reform der Bundeswehr hierzu mutige Vorschläge unterbreiten wird, die dann von der Politik vielleicht auch umgesetzt werden. Der enorme Sparzwang könnte hier seine heilsame Wirkung entfalten. Ohne Zustimmung des Volkes Die Entscheidungen des Bundestages sind mit Sicherheit legal, aber sind sie auch legitim? Dabei geht es um die Frage, ob das Parlament bei seinen Entscheidungen über Krieg und Frieden auch die Zustimmung des Volkes genießt. Spätestens seit den Massenprotesten in Großbritannien gegen die von Premierminister Tony Blair 44 Die Kommission ist nach ihrem Vorsitzenden, Frank-Jürgen Weise, benannt, dem Chef der Bundesagentur für Arbeit. Weise hat als Zeitoffizier an der Universität der Bundeswehr Hamburg Betriebswirtschaft studiert und ist Oberst der Reserve.

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forcierte und vom Unterhaus mehrheitlich beschlossene Teilnahme am Irakkrieg von 2003 ist das jedoch fraglich. Auch in Deutschland ist die Mehrheit des Volkes gegen den vom Bundestag beschlossenen Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Dennoch beschließt der Bundestag regelmäßig mit Mehrheit die Verlängerung des deutschen Militäreinsatzes. Obgleich auch in Deutschland gelegentlich Friedensdemonstrationen stattfinden,45 müssen Regierung und Abgeordnete nicht damit rechnen, z.B. durch Mandatsverlust abgestraft zu werden. Zu tief ist bei den Deutschen das Gefühl verankert, dass der Bundeskanzler/die Bundeskanzlerin schon irgendwie wissen müssten, was sie tun und dass „wir hier unten“ gegen „die da oben“ ohnehin nichts machen können. Unmut wird allenfalls am Stammtisch geäußert, bleibt jedoch politisch folgenlos. Es scheint auch die Alternative zu fehlen, so dass man sich mit dem Regierungspersonal begnügen muss, das nun einmal da ist. 5. VERBOT DES ANGRIFFSKRIEGES Seit dem Ersten Weltkrieg, der den Menschen brutal die Schrecken des totalen Krieges vor Augen führte, wuchs der Wunsch nach einem Verschwinden des Krieges. „Nie wieder Krieg!“ lautete die Formel der Pazifisten, die sich aber in einer Welt, die auf den rücksichtlosen Gebrauch von Gewalt zur Durchsetzung des eigenen Vorteils gerichtet war (und ist), nicht durchsetzen konnten. 5.1 Gründung des Völkerbundes Die Gründung des Völkerbundes schien zumindest einen ersten Schritt in die richtige Richtung zu bedeuten. Vor allem in den Artikeln 13 und 16 der VölkerbundSatzung kommt der Wunsch der Initiatoren des Völkerbundes zum Ausdruck, den Krieg wenn nicht zu verbieten, so dich zumindest einzugrenzen. Zwar wurde der Angriffskrieg grundsätzlich verboten, das „unantastbare Recht zur Selbstverteidigung“ jedes Staates blieb davon aber unberührt. Diejenigen, die die Entscheidung über Krieg und Frieden auf eine völkerrechtliche Grundlage stellen wollten, setzten sich allerdings dem Verdacht aus, lediglich die Souveränität der kleineren Staaten beschränken zu wollen. Denn umgekehrt bestanden die Großmächte darauf, die eigene Souveränität ungeschmälert beizubehalten. Dieses Dilemma zwischen dem Wunsch nach einer stärkeren Verrechtlichung auf der einen Seite und dem strikten Willen der Großmächte, ihre Souveränitätsrechte in vollem Umfang behalten zu wollen, beherrscht die völkerrechtliche Debatte bis heute. So sieht der Atombombensperrvertrag zwar grundsätzlich vor, dass auch die Atommächte ihre

45 Am Samstag, dem 20. Februar 2010, demonstrierten etwa 1.500 Demonstranten in Berlin gegen den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr und anderer Armeen, siehe: http://www.zeit.de/ newsticker/2010/2/20/iptc-bdt-20100219-951-23959348xml, Zugriff am 21.02.2010.

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Arsenale abrüsten sollen, tatsächlich geht es aber in der Debatte fast immer nur darum, kleinere Staaten daran zu hindern, ebenfalls Atommächte zu werden. In seiner Botschaft an die Schweizerische Bundesversammlung betreffend die Frage des Beitritts der Schweiz zum Völkerbund vom 4. August 1919 führt der Schweizer Bundesrat, die Regierung der Schweiz, Folgendes aus: Der erste Kerngedanke des Völkerbundvertrages ist der, dass gewisse Arten von Kriegen verboten sein sollen und daß der Staat, der sie dennoch führt, der Feind aller Glieder des Völkerbundes ist und von allen bekämpft wird. Der Krieg als äußerstes Mittel zur Wahrung staatlicher Interessen ist nicht verboten […]. Verboten sind nur die Kriege, die als besonders gefährlich für den allgemeinen Frieden betrachtet werden – nämlich die Überfallkriege −, und sodann die Kriege, die geführt werden, obwohl die Gegenpartei sich innert nützlicher Frist einem Schiedsspruch oder einem einstimmigen Vorschlag des Rates unterzogen hat. […]

5.2 Ächtung des Krieges Tatsächlich trat die Schweiz 1920 dem Völkerbund bei. Im Briand-Kellogg-Pakt vom 27. August 1928 wurde der Krieg dann endgültig als „Mittel der Lösung internationaler Streitfälle“ geächtet.46 Die Hohen Vertragschließenden Parteien erklären feierlich im Namen ihrer Völker, daß sie den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten (Art. I des Vertrags).

Die folgenden Jahrzehnte zeigen allerdings, dass auch hier „rechtliche Erzählungen und politische Praxis nicht parallel“ laufen. Dabei muss man stets im Auge behalten, dass Fortschrittserzählungen die Vergangenheit auf der Basis der heutigen Ambitionen (man könnte auch sagen: Wunschvorstellungen) rekonstruieren.47 Nicht einmal Europa ließ sich auf diese Weise befrieden, von der übrigen Welt ganz zu schweigen. Die Wünsche der Idealisten nach allgemeiner Abrüstung wurden machtpolitisch umgesetzt und damit in ihr Gegenteil verkehrt. Nicht die hochgerüsteten Siegermächte mussten abrüsten, sondern dem geschlagenen Deutschland wurde auferlegt, seine Streitkräfte auf 100.000 Mann zu reduzieren und – zwangsweise – auf alle wirksamen modernen Waffen zu verzichten. Dabei ging es nicht darum, die Welt grundsätzlich friedlicher zu machen, sondern in erster Linie darum, einen ehedem machtvollen geopolitischen Gegenspieler und ökonomisch starken Konkurrenten auf den Weltmärkten auszuschalten. Mit dieser Abwertung Deutschlands durch einen Friedens„vertrag“, der wegen seines Zwangscharakters, seiner Einseitigkeit, seiner Ungerechtigkeit und der drastischen Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker alles andere als ein Vertrag war, der ja auf „übereinstimmenden Willenserklärungen“ der Vertrags46 Das Deutsche Reich war Vertragspartei des „Vertrags über die Ächtung des Krieges“ (RGBl. 1929 II S. 29), insgesamt sind 64 Staaten Parteien dieses Vertrags. 47 Haltern 2005, S. 3, 7; Grimm 2009.

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parteien hätte beruhen müssen, war bereits der Grundstein für künftige Kriege in Europa gelegt. Unerfüllbare Reparationsforderungen der Sieger sowie absolut inpraktikable Grenzregelungen trugen das Ihre dazu bei. 6. INTHRONISATION EINER WELTREGIERUNG Von allen juristischen Begriffen ist der Begriff der Souveränität am meisten von aktuellen Interessen beherrscht.48

Nach Kriegsende wurden die Vereinten Nationen auf der Basis der „souveränen Gleichheit aller Mitglieder“ (Art. 2 UN-Charta) gegründet, ihr Hauptquartier wurde nicht zufällig in New York errichtet. Die Gründungskonferenz fand im Frühjahr 1945 in San Francisco statt. Die Charta der Vereinten Nationen wurde von den Vertretern von fünfzig Nationen unterzeichnet, Polen hinterlegte seine Ratifizierungsurkunde wenig später als 51. Mitglied der UNO. Am 24. Oktober 1945 trat die Charta in Kraft. 6.1 Sieger des Zweiten Weltkriegs Die Vereinigten Staaten stellten mit der Institutionalisierung des UNO ihre überragende Bedeutung für den Ausgang des Zweiten Weltkrieges auch nach außen zur Schau. Sie waren nicht nur der politische, sondern vor allem auch der ökonomische Sieger des Krieges. Mit dem Sicherheitsrat verschafften sich die Siegermächte dieses Krieges ein Gremium, mit dem sie fortan gemeinsam die Welt regieren wollten. Als ständige Mitglieder mit absolutem Vetorecht wurden sie als die einzigen noch verbliebenen souveränen Mächte akkreditiert. Für Großbritannien schien das selbstverständlich, hatte es doch selbst einst imperiale Macht besessen. Das Vizekönigtum Indien, die „Perle“ der britischen Kolonien, wurde erst im Sommer 1947 in die Unabhängigkeit entlassen.49 Das geschlagene Frankreich musste hingegen zäh und erbittert um diesen Status kämpfen. Die Sowjetunion, die bei der Gründung des Völkerbundes noch hatte abseits stehen müssen, sah sich nun – nach ihren großen militärischen Erfolgen im Zweiten Weltkrieg – bei der Gründung der UNO in der ersten Reihe. Nationalchina hatte sich als Gegengewicht zu Japan bewährt und wurde – vor allem von den USA – als Alliierter angesehen.50 Alle anderen Staaten hatten sich mit dem Status von Mitgliedern zweiter Ordnung zu begnügen oder wurden – wie die Verlierermächte – gar nicht 48 Schmitt PTh, S. 25. 49 Auf dem indischen Subkontinent wurde neben Indien Pakistan (heute: Pakistan und Bangladesh) ein unabhängiger Staat. Ceylon wurde unter dem Namen Sri Lanka am 4.2.1948 unabhängig. 50 Erst am 25. Oktober 1971 beschloss die UN-Generalversammlung – auf Initiative der USA – die „Wiederherstellung der Rechte der Volksrepublik China in den Vereinten Nationen“, Taiwan wurde – sang- und klanglos – in der UNO durch Rotchina ersetzt.

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erst in die UNO aufgenommen. So wurde Japan erst 1956 Mitglied der UNO, die beiden damaligen deutschen Staaten, die alte Bundesrepublik und die DDR, blockierten sich zunächst gegenseitig und wurden dann – als Kompromisslösung – 1973 beide als von der „Völkergemeinschaft“ anerkannte souveräne Staaten Mitglieder der UNO.51 6.2 Weltfriede, internationale Sicherheit und Gerechtigkeit Alle Mitglieder der UNO haben sich dazu verpflichtet, ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so beizulegen, dass „der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden“ (Art. 2 Ziff. 3 UNCharta). Der UN-Charta lag ein Konzept der Souveränität zugrunde, das den Schutz der schwachen und armen gegenüber den mächtigeren Staaten dienen und damit den internationalen Frieden bewahren sollte.52 Die Mitglieder sollen auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt im Verhältnis untereinander verzichten (Ziff. 4). Es liegt auf der Hand, dass es Sanktionsmöglichkeiten für den Fall geben muss, dass einzelne Mitglieder dieser Verpflichtung nicht nachkommen. Und es ist ebenso offensichtlich, dass gegenüber den Supermächten und ihren Mündeln Sanktionen nicht durchsetzbar sind. Die machtpolitisch bedeutsamste Frage ist allerdings, wer darüber entscheidet, wann der Weltfriede oder die internationale Sicherheit gefährdet sind, was unter Gerechtigkeit zu verstehen ist und ob im konkreten Fall eine unzulässige Androhung oder Anwendung von Gewalt vorliegt. Wird die internationale Sicherheit zwar durch das Streben des Irans nach einer Atombombe gefährdet, durch den Besitz von Atombomben Indiens, Israels und Pakistans aber nicht, die den Atomwaffensperrvertrag nicht unterschrieben haben? 6.3 UN-Sicherheitsrat Hier kommt wiederum die bevorrechtige Position der Mitglieder mit Vetorecht zum Tragen. Der Sicherheitsrat stellt fest, ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt (Art. 39 UN-Charta).

Diese Feststellung kann – mit der erforderlichen Mehrheit – nur dann getroffen werden, wenn keines der ständigen Mitglieder sein Veto einlegt, die Entscheidung also nicht den eigenen Interessen dieses Sicherheitsrat-Mitglieds widerspricht.

51 Seit 2001, verstärkt seit 2005 (60. Jahrestag der UNO) fordert Japan, ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates zu werden. Eine Reform des Sicherheitsrates, bei der auch Deutschland sich Hoffnung auf eine bessere Position machte, wird immer wieder versprochen, liegt aber nicht im Interesse der Vetomächte. 52 Hilger 2005, S. 57.

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Neben zahllosen Vetos der Sowjetunion,53 die von der „westlichen Welt“ stets als ungerechtfertigt zurückgewiesen wurden, ist bemerkenswert, dass die USA jede Verurteilung Israels wegen der Verletzung von UN-Resolutionen durch ihr Veto verhindert haben. Hinzu kommt, dass die verschiedenen US-Regierungen immer wieder mehr oder minder autoritäre Regime im Nahen Osten gestützt haben und so langfristige außenpolitische Intentionen zugunsten kurzfristiger strategischen Interessen verworfen haben. Diese Haltung der Vereinigten Staaten hat erheblich zu der unsicheren Lage im Nahen Osten beigetragen. Denn auch nach dem Ende der bipolaren Welt fehlt es nun an einem „ehrlichen Makler“, der die verfeindeten Parteien beide gleichermaßen zur Aufgabe von Extrempositionen bewegen könnte. Diese Aufgabe soll das sog. Nahost-Quartett übernehmen, dem die UNO, die EU, Russland, USA und Großbritannien angehören. Sondergesandter des Quartetts ist seit Juni 2007 der ehemalige britische Premierminister Tony Blair. Aber nur auf der Grundlage der Feststellung nach Artikel 39 UN-Charta kann der UN-Sicherheitsrat gewaltlose oder aber militärische Sanktionen beschließen. Meist begnügt sich die UNO – z.B. im Konflikt um die Golanhöhen – hingegen mit der Entsendung sog. Blauhelm-Soldaten, die eine Art Puffer zwischen den Streitparteien bilden sollen.54 Die anfänglich harte Haltung Obamas gegenüber der israelischen Regierung unter Benjamin Netanjahu scheint – vor allem aus innenpolitischen Gesichtspunkten – wiederum von der gewohnten proisraelischen Außenpolitik der USA abgelöst worden zu sein. 7. ABGESTUFTE SOUVERÄNITÄT Bereits bei der Konstruktion der UNO wurde in der Zusammensetzung des Sicherheitsrates eine abgestufte Souveränität erkennbar. Nur die fünf Vetomächte verfügen über die volle Souveränität, alle anderen Staaten müssen sich mit einer Souveränität von geringerer Qualität zufriedengeben. Mit dem Abwurf der beiden Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima55 und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 erlangten die USA jedoch eine neue Stufe der Souveränität, da sie sich – zunächst allein – im Besitz der Atombombe befanden. Nur sie konnten über den Einsatz dieser Massenvernichtungswaffe entscheiden. Erst vier Jahre später gelang es der Sowjetunion – nicht zuletzt durch Spionage – ihre erste Atombombe zu testen, Großbritannien folgte 1952, Frankreich 1960 und China 1964. Heute sind der Besitz von Atomwaffen und die Entscheidung über ihren Einsatz Essentialien einer vollständigen Souveränität. 53 Bis 2005 hat die UdSSR/Russland 118mal sein Veto eingelegt, die USA 74mal, vgl. Voigt 2005, S. 202. 54 Daneben gibt es weitere Einsatzformen der UNO, die hier jedoch nicht weiter ausgeführt werden sollen. 55 Am 6. August 2010 nahm – 65 Jahre nach dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima – erstmals ein US-Botschafter (John Roos) an den Gedenkfeiern teil, ebenso nahmen UNGeneralsekretär Ban Ki Moon und Vertreter Großbritanniens und Frankreichs teil.

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7.1 Souveränität der Atommächte Nur die fünf offiziellen und allenfalls noch die vermutlich vier faktischen Atommächte (Indien, Israel, Nordkorea, Pakistan) erfüllen (zumindest) diese Voraussetzung für eine vollwertige Souveränität. Es liegt auf der Hand, dass auch andere Staaten, wie z.B. Iran oder Saudi-Arabien, nach der Atombombe streben. In Japan führten die nuklearen Katastrophen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zu der Ablehnung jeder Atombewaffnung. Ebenso wie Japan hat sich Deutschland als Nichtkernwaffenstaat in dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (Atomwaffensperrvertrag) vom 1. Juli 1968 dazu verpflichtet Kernwaffen und sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen, Kernwaffen und sonstige Kernsprengkörper weder herzustellen noch sonstwie zu erwerben und keine Unterstützung zur Herstellung von Kernwaffen und sonstigen Kernsprengkörpern zu suchen oder anzunehmen. 56

Wie bereits beim Sicherheitsrat waren es wiederum die „beati possidentes“, diejenigen also, die sich bereits im Besitz der Atombombe befanden, denen es gelang, die meisten anderen Staaten von diesem Besitz, und damit von der vollen Souveränität, auszuschließen. Dabei nutzen die Atommächte geschickt die Angst der Menschen vor der atomaren Vernichtung für ihre eigenen, selbstsüchtigen Ziele: […] In Anbetracht der Verwüstung, die ein Atomkrieg über die ganze Menschheit bringen würde, und angesichts der hieraus folgenden Notwendigkeit, alle Anstrengungen zur Abwendung der Gefahr eines solchen Krieges zu unternehmen und Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit der Völker zu ergreifen, […]

verpflichten sich die Kernwaffenstaaten dazu, die Kernwaffen nicht weiterzugeben (als ob sie daran ein Interesse haben könnten), während die Nichtkernwaffenstaaten sich dazu verpflichten mussten, keine Kernwaffen anzustreben. 7.2 Nukleare Zweiklassengesellschaft Vor allem die USA haben die Perpetuierung dieser nuklearen „Zweiklassengesellschaft“ stets mit einer ungeheuren Dreistigkeit betrieben. Mit Barack Obama bekennt sich jetzt zum ersten Mal ein US-Präsident zu der Vision einer Welt ohne Atombomben. Ob er dieses Ziel gegen den erbitterten Widerstand des USKongresses jemals durchsetzen könnte, steht freilich auf einem anderen Blatt. Solange die alte atomare Ordnung weiterbesteht, ist dieser Verzicht jedoch vor allem für die Staaten, die über die erforderliche Atomtechnik – z.B. aus der nichtmilitärischen Nutzung der Kernenergie – verfügen und kurzfristig dazu in der Lage wären, Atomwaffen zu produzieren, problematisch. Sie bleiben Staaten zweiter Ordnung und sind durch die Nuklearmächte jederzeit erpressbar. Zudem sind die sog. friedliche und die militärische Nutzung von Kernenergie nicht immer trennscharf 56 Für die Bundesrepublik Deutschland trat dieser Vertrag am 2. Mai 1975 in Kraft.

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auseinanderzuhalten, wie sich am Beispiel Iran zeigt. Die Anreicherung von Uran gilt aber gewissermaßen als Lackmustest für die mehr oder weniger friedlichen Absichten einer potenziellen Atommacht.57 Aus diesem Grund wurde die Internationale Atomenergie-Kommission mit Sitz in Wien errichtet, um die Einhaltung des Vertrages kontrollieren zu können. In einem Zusatzprotokoll haben die Vertragsparteien einer Erweiterung ihrer Informationspflichten zugestimmt, die nun auch Forschung und Industrie einschließt.58 Auch der Iran hat dieses Zusatzprotokoll – nach anfänglichem Zögern – im Jahre 2003 unterzeichnet, ohne daraus allerdings die von der „westlichen Welt“ gewünschten Konsequenzen zu ziehen. 8. SONDERROLLE DER IMPERIEN Imperien führen grundsätzlich Krieg, wann und wo immer sie wollen. Sie verstehen sich als Schöpfer und Garanten einer Ordnung, fühlen sich hingegen nicht in diese Ordnung eingebunden.59 Carl Schmitt hat dieses Grundprinzip des modernen Imperialismus bereits 1932 in einem Aufsatz auf den Punkt gebracht: Es ist nicht denkbar, daß eine Großmacht, und noch weniger, daß eine imperialistische Weltmacht sich juristisch auf einen Codex von festen Normen und Begriffen festlegt, den ein außenstehender Fremder gegen sie selber handhaben dürfte. 60

Imperien lassen sich also in ihrer Souveränität, Kriege aufgrund eigener Entscheidung zu führen, auch durch internationale Vereinbarungen, denen sie beigetreten sind, nicht wirkungsvoll beschränken. Allenfalls ersinnen sie zu ihrer Rechtfertigung Rechtsformeln, politische Konstruktionen oder Denkschablonen, die es ihnen ermöglichen, die von ihnen geführten Kriege immer als „gerecht“ erscheinen zu lassen. Neben dem Schutz eigener Staatsbürger kommen dafür Formeln wie „Verhinderung einer humanitären Katastrophe“, „(Wieder-)Herstellung der Demokratie“, „Befreiung von Unterdrückten“ etc. in Betracht. Die Propaganda muss dann ein Übriges tun, um diese Sicht weltweit zu verbreiten und wenn möglich auch in der Weltöffentlichkeit durchzusetzen. Dass es bei allen seinen Aktionen stets eine gerechte Sache vertritt, ist für das Imperium Amerika selbstverständlich. Schon Präsident Thomas Jefferson (1801−1809) hatte klargestellt, dass Amerika die Interessen der Welt wahrnehme, wenn es die eigenen Ziele verfolge. Die Vereinigten Staaten führen bevorzugt „moralische Kriege“ gegen einen Feind, der seiner menschlichen Züge entkleidet wird. George W. Bush hatte mit seiner Formel von der „Achse des Bösen“ den Bezug zur göttlichen Ordnung (America is God’s own country), die durch das Böse in Gefahr gerät, unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. 57 Zur Verwendung in einer Atombombe muss das Uran zu 80% mit U235 angereichert werden. 58 Die Angst vor einer Industriespionage durch die Atommächte scheint zumindest nicht ganz unbegründet zu sein. 59 Münkler 2005, S. 8. 60 Schmitt 1932/33, in: Maschke (Hg.) 2005, S. 349−377 [355].

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8.1 Internationale Strafgerichtsbarkeit Am deutlichsten zeigt sich Amerikas fester Entschluss, seine Souveränität, Kriege aufgrund eigener Entscheidung zu führen, nicht aufzugeben, an seiner Haltung zu dem Statut von Rom. Damit wurde ein Internationaler Strafgerichtshof geschaffen, der die Ad-Hoc-Tribunale ablösen sollte. Diese Ad-Hoc-Tribunale wurden im Jahre 1993 für das frühere Jugoslawien (ICTY) und im Jahre 1995 für Ruanda (ICTR) eingerichtet. Die USA saßen zwar – vergleichbar der Situation bei der Beratung der Volkerbundsatzung – mit am Verhandlungstisch, um das Statut möglichst weit abzuschwächen, beigetreten sind sie aber nicht.61 Am 17. Juli 1998 wurde im Statut von Rom beschlossen, in Den Haag einen ständigen Internationalen Strafgerichtshof (ISGH) einzurichten, der Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und bestimmte Kriegsverbrechen aburteilen kann.62 Wie weit die Souveränität der Unterzeichnerstaaten dabei eingeschränkt wurde, zeigt sich am Beispiel Deutschlands, das sogleich den Artikel 16 Abs. 2 des Grundgesetzes änderte, der bis dahin (aus gutem Grund) festgelegt hatte: „Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden“, also auch nicht ein vor den ISGH zitierter deutscher Staatsbürger. Für die USA hatte zwar Präsident Bill Clinton selbst den Vertrag unterschrieben, der Kongress verweigerte aber die Ratifizierung. Später (1998) zog Clintons Nachfolger, George W. Busch, die Unterschrift sogar ganz zurück. Stattdessen schlossen die USA mit 38, meist kleineren und armen Staaten bilaterale Verträge, in denen diese zusichern mussten, US-Staatsbürger in keinem Fall an den Internationalen Strafgerichtshof auszuliefern. Die USA stimmen zudem keinem UNOEinsatz zu, in dem nicht ihren eigenen Soldaten Immunität gegenüber dem ISGH zugesichert wird. 8.2 Verteidigung imperialer Interessen Mit dem vom Kongress im Jahre 2002 verabschiedeten und von US-Präsident Bush in Kraft gesetzten American Service-Members’ Protection Act sollen die Mitglieder der Regierung der USA, des US-Militärs und anderer Stellen vor der Strafverfolgung durch den Internationalen Strafgerichtshof geschützt werden. Zugleich soll – erklärtermaßen – mit diesem Gesetz, das auch The Hague Invasion Act genannt wird, die Position des Internationalen Strafgerichtshofs geschwächt werden. Zudem wurde der Präsident ermächtigt (man könnte auch sagen: verpflichtet), alle „notwendigen Mittel“, einschließlich militärischer Invasionen, einzusetzen, um vor dem ISGH angeklagte US-Bürger aus dem Gewahrsam des Gerichts zu befreien. Als Nichtvertragspartei betrachten sich die USA durch das Sta-

61 Deller/Makhijani/Burroughs (Hg), 2004, S. 22f. 62 Das Statut ist am 1. Juli 2002 mit der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde in New York in Kraft getreten.

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tut von Rom als nicht gebunden und sind nicht bereit, die Rechtsprechung des ISGH ihre eigenen Staatsangehörigen betreffend anzuerkennen. Einseitige Bindung Eine der Passagen dieses Gesetzes ist von besonderem Interesse, zeigt sie doch die einseitige Sicht Amerikas auf das internationale Recht. Wer gegen die amerikanischen Interessen handelt, wird auch dann durch einen internationalen Vertrag als gebunden betrachtet, wenn er diesem gar nicht beigetreten ist (Beispiel: Indien und Pakistan63). Schließt die sog. Staatengemeinschaft jedoch einen Vertrag, der den Interessen der Vereinigten Staaten nicht entspricht, sind sie selbstverständlich durch diesen Vertrag nicht gebunden (Beispiel: Statut von Rom).64 Es ist ein fundamentaler Grundsatz des internationalen Rechts, dass ein Vertrag nur die Vertragsparteien bindet und dass er keine Verpflichtungen für Nichtvertragsparteien ohne deren Zustimmung, sich dadurch binden zu lassen, schaffen kann. (Title II, Sec. 2002)

Die Frage ist allerdings, ob das Statut von Rom auf die Dauer nicht doch gewohnheitsrechtliche Auswirkungen auf die USA haben könnte. Denn wer sich einem Vertrag, den die Mehrheit der Staaten als zwingendes Recht empfindet, nicht unterwerfen will, muss nachdrücklich und dauerhaft deutlich machen, dass er nicht gebunden sein will.65 Eine bloße einseitige Erklärung dürfte dafür kaum ausreichen. Coalition of the willing Dass die US-amerikanische Haltung aber nicht nur theoretische Bedeutung hat, sondern auch ganz konkrete praktische Konsequenzen haben kann, zeigte sich am Irakkrieg des Jahres 2003. Die Vereinigten Staaten griffen – gemeinsam mit einigen Verbündeten (coalition of the willing) – den Irak an, wobei es vordergründig um die Vertreibung des Diktators Saddam Hussein und die Errichtung einer vorbildlichen Demokratie im Nahen Osten ging, tatsächlich aber vor allem geostrategische und geoökonomische Ziele (Erdöl) im Vordergrund standen. Ein halbherziger Versuch der USA, mit gefälschten „Beweisen“ den UN-Sicherheitsrat zu ei-

63 Beide Staaten sind im Besitz von Atomwaffen, haben den Atomwaffensperrvertrag aber nicht unterschrieben. 64 Neben China und Russland haben auch die USA den am 1.8.2010 in Kraft getretenen völkerrechtlichen Vertrag über das Verbot des Einsatzes, der Herstellung der Weitergabe von Streubomben (Clustermunition) nicht unterzeichnet, das von 36 Staaten und dem Vatikanstaat ratifiziert sowie von 70 weiteren Staaten unterschrieben worden ist. 65 China handelt in einigen Fällen so.

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ner Zustimmung zu dem Irakangriff zu bewegen, scheiterte trotz massiver Einschüchterungsversuche gegen nichtständige Mitglieder des Sicherheitsrates.66 Die USA begannen den Krieg also ohne den erforderlichen Beschluss des Sicherheitsrates, so dass es sich bei strikter Auslegung des Rechts dabei um einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg handelte,67 gegen den wiederum der UNSicherheitsrat hätte einschreiten müssen. Dass er dies nicht tat, zeigte deutlich die Schwäche dieser „Weltregierung“ – gegen die mächtigste Militärmacht der Welt ließ sich das Völkerrecht nicht durchsetzen. Vor allem die (alt-) europäischen Befürworter einer Beschränkung der Souveränität zugunsten einer internationalen Friedensordnung mussten hinnehmen, dass sie mit ihrer Naivität die imperiale Expansionspolitik der USA nicht angemessen analysieren konnten.68 9. VERDRÄNGUNG DES SOUVERÄNITÄTSBEGRIFFS […] so wird auch mit der Überwindung des Dogmas der Souveränität des Einzelstaates die Existenz einer objektiven, von aller ‚Anerkennung‘ unabhängigen, über den Einzelstaaten stehenden Völker-, richtiger Weltrechtsordnung, einer civitas maxima sich durchsetzen. 69

Im Gefolge Hans Kelsens ist vor allem von französischen Philosophen die Verdrängung der Souveränität gefordert worden, so bei Jacques Derrida, 70 Michel Foucault etc. Sie sahen bzw. sehen in der Souveränität die Wurzel des Übels. Hans Kelsen hatte bereits 1920 in seiner Schrift Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts gefordert (S. 320): Der Souveränitätsbegriff muß radikal verdrängt werden. 9.1 Rechtssouveränität und Weltsouveränität Bekanntlich sah Kelsen den Staat als Rechtsordnung, an deren Spitze die Verfassung als Grundnorm steht.71 Die höchste Kompetenz kommt dann nicht Menschen (Monarch oder Politikern) zu, sondern nur der souveränen Ordnung selbst in der Einheit des Normensystems. Die Vorstellung von einem persönlichen Befehlsrecht hielt er für den eigentlichen Irrtum der Lehre von der Staatssouveränität.72 Kelsen konnte sich dabei auf den niederländischen Rechtsgelehrten Hans Krabbe berufen, der bereits im Jahre 1906 die Lehre von der Rechtssouveränität entwi66 Allerdings verlor US-Außenminister Colin Powell dabei viel von seinem bis dahin hohen Ansehen auch im Ausland. 67 Dies legt das Urteil des 2. Wehrdienstsenats des Bundesverwaltungsgericht in Sachen Degradierung Major Pfaff vom 21. Juni 2005 nahe, ohne es freilich auszusprechen, BVerwG 2WD 12.04. 68 Staack/Voigt (Hg.) 2004. 69 Kelsen 1920, S. 320. 70 Derrida 1991. 71 Vgl. Brunkhorst/Voigt (Hg.) 2008. 72 Schmitt PTh, S. 36.

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ckelt hatte. In der Herrschaft der Normen, denen die Menschen freiwillig Gehorsam leisten, offenbart sich für ihn die moderne Staatsidee. Krabbes Credo lautete: Die Lehre von der Rechtssouveränität ist, je nachdem man es nehmen will, entweder die Beschreibung eines wirklich bestehenden Zustandes oder ein Postulat, nach dessen Verwirklichung gestrebt werden soll.73

Damit wird auch das Dilemma der heutigen Situation deutlich. Während die eine Seite davon ausgeht, dass es sich um einen bestehenden Zustand handele, versteht die andere Seite darunter lediglich ein Postulat, das möglicherweise sogar sehr weit von seiner Realisierung entfernt ist. Das hat jedoch weitgehende Konsequenzen für das Recht des Staates, Krieg zu führen. Gibt es nämlich eine globale Rechtsordnung, dann müsste dem Nationalstaat die Souveränität aberkannt und dem internationalen Recht oder sogar einer Weltorganisation zuerkannt werden. Diese von Kelsen vertretene Vorstellung lehnte Hermann Heller kategorisch ab.74 Er hatte dabei vor allem den Begriff World Sovereignty, den Robert Lansing, USAußenminister unter Präsident Woodrow Wilson (1913–1921), im Jahre 1921 entwickelt hatte, im Blick. Obwohl Lansing die politischen Probleme bei der Verwirklichung dieser Idee in der heutigen Welt durchaus sah, war er trotzdem davon überzeugt, dass „die Vereinigung der physischen Stärke aller Menschen in der Welt die kollektive Macht der Menschheit repräsentiert“75. Aus dieser Weltsouveränität folgte für Lansing die Notwendigkeit eines Weltstaates, der freilich in weiter Ferne lag (und liegt). 9.2 Ablehnung der Souveränität als Herrschaftsmonopol Diese Sicht hatte aber auch innerstaatliche Konsequenzen, vor allem die Verfassung, in diesem Fall die Weimarer Reichsverfassung, betreffend. Hugo Preuß (1860–1925), der als „Vater“ dieser Verfassung gilt, sah – unter Bezugnahme auf Otto von Gierkes Genossenschaftstheorie – die Souveränität als Residuum des Obrigkeitsstaates an und lehnte sie daher gänzlich ab. Seiner Ansicht nach brauchte der genossenschaftlich organisierte Staat kein Herrschaftsmonopol und daher auch keine Souveränität.76 Aber was tritt an deren Stelle, wenn es um Frieden und Fortschritt geht? Ulrich Haltern zählt als „Fortschrittserzählungen“ des Völkerrechts die Deutungsangebote auf, die das Problem vorgeblich lösen: − internationale Gemeinschaft, − internationales Verfassungsrecht,

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Krabbe 1906, S. 39. Heller 1992, S. 31ff. Lansing 1921, S. 55ff. (58). Preuß 1908, S. 236.

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− Weltinnenrecht und − Weltverfassung.77 Sie sind jedoch letztlich bloße Worthülsen oder „Papiertiger“, da sie im Ernstfall zumeist versagen. Der Staat Israel hat daraus eine nachvollziehbare Konsequenz gezogen. Er wäre längst von der Landkarte verschwunden, wenn sich die israelische Regierung auf die „Staatengemeinschaft“ verlassen hätte. Israel nimmt daher sein Schicksal in die eigene Hand und führt Krieg, wann immer es das für richtig hält. Als kleines Land kann es sich dies aber nur deshalb leisten, weil es der Unterstützung der USA und weiterer Länder, u.a. Deutschlands, sicher sein kann. 10. EINGRIFF IN DIE SOUVERÄNITÄT Eingriffe in die Souveränität eines Staates werden dann als gerechtfertigt angesehen, wenn sie dem Schutz von Menschen dienen sollen, die sich in einer außergewöhnlichen und schwerwiegenden Notlage befinden. Eine humanitäre Intervention wäre also z.B. nur dann zulässig, wenn das Leben oder die körperliche Unversehrtheit von Menschen bedroht ist oder schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen vorliegen bzw. zu befürchten sind. Die Grenze zu einem Krieg aus egoistischen Motiven verschwimmt allerdings leicht, wenn argumentiert wird, die Unterdrückung der Zivilbevölkerung stelle zugleich eine Bedrohung des Weltfriedens dar. Zu erwartende Menschenrechtsverletzungen dienen dann eher als „Deckmäntelchen“ für machtpolitisch motivierte Interventionen.78 Als Beispiel hierfür kann die UN-Resolution 688 gelten, welche die USA und Großbritannien ermächtigten, im Irak Flugverbotszonen einzurichten. Die irakischen Bodenstreitkräfte hatten sich daraufhin aus einem großen Teil des nördlichen Territoriums zurückzuziehen, bereits das Erfassen von Kampflugzeugen der Alliierten mit Radarstrahlen wurde zum Anlass von Luftangriffen auf die irakischen Radarstationen genommen. Formal war dieser Eingriff in die Souveränität des Irak – trotz des irakischen Protests – allerdings von der UN-Charta gedeckt, da vom UN-Sicherheitsrat eine Gefährdung des Weltfriedens festgestellt worden war, und die Wahrung des Weltfriedens gehört zu den wichtigsten Aufgaben der UNO. 10.1 Humanitäre Interventionen Problematisch ist eine militärische Intervention mit humanitärer Begründung aber immer dann, wenn eines der drei humanitären Prinzipien verletzt ist: Humanität, Neutralität, Unparteilichkeit. Es liegt auf der Hand, dass ein Genozid, wie beispielsweise der 1994 in Ruanda, unter allen Umständen hätte verhindert werden müssen. Hier versäumte es die UNO freilich, rechtzeitig einzugreifen. Eine Inter77 Haltern 2007; Grimm 2009. 78 Vgl. Ross 1999, S. 43.

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vention ist im Sinne einer „Nothilfe“ dann zulässig, wenn anders der Schutz für eine bedrohte Bevölkerungsgruppe nicht gewährleistet werden kann. Dabei müssen allerdings Neutralität und Unparteilichkeit strikt gewahrt bleiben. Ein negatives Beispiel ist hier der Kosovokrieg, den eine von den USA angeführte Koalition – unter Einschluss Deutschlands – im Jahre 1999 ohne UNOMandat gegen die Bundesrepublik Jugoslawien in der Provinz Kosovo geführt hat.79 Abgesehen von den gefälschten Beweisen („Hufeisen-Plan“) zur Begründung des Krieges wegen der Unmenschlichkeit der Serben verhielten sich die Alliierten auch nach Beendigung des Krieges weder neutral noch unparteilich. Vielmehr stützten sich die USA auf die UČK, die Untergrundorganisation der albanischen Kosovaren, und versorgten diese einseitig mit Waffen. Ein grundlegender Bruch mit der bisher üblichen Doktrin von der Unverletzlichkeit der Nachkriegsgrenzen bestand schließlich jedoch darin, dass der Kosovo – gegen den ausdrücklichen Willen Serbiens – von den westlichen Staaten als unabhängiger Staat anerkannt worden ist. Damit wurde nicht nur Russland, das sich traditionell als Schutzmacht Serbiens versteht, vor den Kopf gestoßen, sondern auch andere Minderheiten in Europa zur Abspaltung geradezu ermuntert. 10.2 Souveränitätsübernahme durch die UNO Weniger Probleme ergeben sich – jedenfalls auf den ersten Blick – dann, wenn es sich um einen gescheiterten Staat wie Somalia handelt, denn dieser verfügt offensichtlich nicht über staatliche Souveränität. Am 3. Dezember 1992 beschloss der UN-Sicherheitsrat in der Resolution 794 eine militärische Intervention in Somalia. Dabei ging es zunächst vor allem um die durch UN-Soldaten gesicherte Verteilung von Hilfsgütern. Die Begründung des Sicherheitsrates legte das Schwergewicht allerdings auf Gewalttätigkeit und Gewaltandrohung: […] – mit dem Ausdruck höchster Beunruhigung angesichts der anhaltenden Berichte über weitverbreitete Verletzungen des humanitären Völkerrechts in Somalia, insbesondere über Gewalttätigkeit und Gewaltandrohungen gegen das rechtmäßig an den unparteiischen humanitären Hilfsmaßnahmen mitwirkende Personal […].80

Durch den Mord an 24 pakistanischen UN-Soldaten, für den der Kriegsherr (warlord) Mohammed Farah Aidid, einer der beiden Chefs der Aufständischen, persönlich verantwortlich gemacht wurde, eskalierte die Situation. Unter Führung der USA intervenierte eine multinationale UN-Streitmacht – unter Einschluss der Bundeswehr – im Mai 1993 in Somalia. Diese Mission kostete insgesamt etwa 5 Milliarden Dollar: als die UN-Soldaten 1995 Somalia verließen, war die Lage der Menschen jedoch eher schlimmer geworden. Den 131 gefallenen UN-Soldaten stand der Tod von mehreren tausend Somalis, unter ihnen zahlreiche Frauen und Kinder, gegenüber. Die USA verließen das Schlachtfeld vorzeitig, als die johlende 79 Vgl. Tenbergen 2002, S. 193−220. 80 Zitiert nach: Europa-Archiv, Folge 9/1993, S. D 185ff.

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Menge am 3. Oktober 1993 tote US-Soldaten durch die Straßen Mogadischus schleifte.81 Für die Bundeswehr zeigte sich, dass sie einem solchen Auslandseinsatz (noch) gar nicht gewachsen war. Mit der Resolution 794 hatte sich die UNO in die inneren Angelegenheiten eines bis dahin als souverän geltenden Mitgliedstaates eingemischt, der Sicherheitsrat hatte die Zuständigkeit für die Ausübung der inneren Gewalt und für die Wiederherstellung von Recht und Ordnung in Somalia übernommen. Erstmals in der Geschichte der UNO wurde so ein direkter Zusammenhang zwischen friedensbewahrenden und friedensschaffenden Maßnahmen hergestellt. Die damit verbundene Neuinterpretation des Völkerrechts, insbesondere des Kapitels VII der UN-Charta, hat nachhaltige Folgen für die Souveränität kleinerer Staaten. 11. PROBLEME EINER MITTELMACHT Das synallagmatische82 Verhältnis von Souveränität und Krieg ist durch das Nachkriegs-Völkerrecht einseitig zu Lasten der kleineren Staaten aufgehoben worden. Sie haben sich sowohl der UN-Charta als auch dem Atomwaffensperrvertrag unterworfen. Weder über Krieg und Frieden, noch über Besitz von oder Verzicht auf Atomwaffen können sie selbständig entscheiden. 11. Reservatio mentalis der Weltmächte Die Weltmächte, allen voran die Vereinigten Staaten von Amerika, achten peinlich genau darauf, dass die mittleren und kleineren Staaten die internationalen Verpflichtungen auch einhalten. Freilich ist dies nicht im Sinne der Gleichberechtigung der Staaten – wie noch im Westfälischen System – gedacht, sondern als Über- und Unterordnungsverhältnis. Denn die Weltmächte USA, China, Russland haben sich bei Abschluss dieser Verträge im Wege einer „reservatio mentalis“, eines inneren Vorbehalts, ein Exitrecht vorbehalten. Die Beschränkungen gelten im Ernstfall selbstverständlich nicht für sie, sondern nur für die anderen Staaten, die allenfalls als semi-souverän betrachtet werden. Michael Moore hat das in seinem Buch Stupid White Men auf die satirische Formel gebracht: Belgische UNOTruppen sorgen in Amerika für die Einhaltung der Menschenrechte.83 11.2 Deutschlands Optionen Soll eine Mittelmacht wie Deutschland angesichts dieser Situation eigensinnig auf dem letzten Rest der verbliebenen Souveränität bestehen? Dazu könnte die Ent81 Siehe hierzu den US-amerikanischen Kriegsfilm „Black Hawk Down – Kein Mann bleibt zurück“ aus dem Jahre 2001. 82 Im juristischen Kontext ist dies das Gegenseitigkeitsverhältnis zweier Leistungen in einem Vertrag. 83 Moore 2003.

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scheidung gehören, die eigenen Truppen aus einem Krieg (Afghanistan) zurückzuziehen, in dem vitale deutsche Interessen nicht auf dem Spiel stehen. Oder soll sie sich nicht doch lieber in die Rolle des Mitglieds einer supranationalen Organisation mit einem gewissen, wenn auch beschränkten Mitbestimmungsrecht finden? Das hätte den Vorteil für die Bundesregierung, sich innenpolitisch stets auf Vertragspflichten (UN-Sicherheitsratsresolutionen, EU-Ratsentscheidungen etc.) zurückziehen zu können. Oder soll sie sich auf Dauer in die Rolle eines halbsouveränen Mündels eines großen Imperiums flüchten? Das würde bedeuten, dass die USA weitgehend die deutsche Außenpolitik, vor allem aber die Militärpolitik, bestimmen. Dabei fragt es sich natürlich, ob die beiden letzteren Rollen von Deutschland nicht stets nebeneinander zu spielen sind. Angesichts des deutschen Engagements in Europa und der Allianz mit Frankreich wirft das allerdings die Frage auf, ob sich diese beiden Optionen überhaupt miteinander vereinbaren lassen.

5. TEIL RENAISSANCE DES STAATES

STAATSKRISE Ist der Staat noch zu retten? Es ist eine der vielen französischen Paradoxien, dass die Franzosen ihrem Staat bei der Formung der Gesellschaft und bei der Gestaltung des Wirtschaftslebens viel zutrauen, aber den Politikern, die diese Aufgaben ausführen müssen, nicht über den Weg trauen. Eine Mehrheit plädiert für größeren Staatseinfluss, aber eine noch größere Mehrheit hält diejenigen, die diesen Einfluss ausüben sollen, für „eher korrupt“. 1

Plastischer könnte man das große Missverständnis der deutschen Staatsdiskussion gar nicht zum Ausdruck bringen, als dies der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Günther Nonnenmacher in seinem Leitartikel tut. In Wahrheit ist es gar kein Widerspruch, sich mehr Einfluss eines unparteiischen Staates zu wünschen, auch wenn die Parteipolitiker diesem Anspruch natürlich nicht gerecht werden können. Nonnenmacher selbst unterliegt diesem Missverständnis, das darin besteht, dass der Parteienstaat alternativlos sei und es einen anderen Staat nicht geben könne. In Anlehnung an den Ausspruch eines Regierenden Bürgermeisters möchte man – allerdings durchaus mit einem ironischen Hintergedanken – ausrufen: „Wir haben einen Parteienstaat, und das ist gut so!“. Dabei wird jedoch allzu leicht übersehen, dass dieser Parteienstaat, in dem sich die Parteien zu den Herren über das Volk, den eigentlichen Souverän, aufgeschwungen haben, eine Entartungsform der vom Grundgesetz intendierten Parteiendemokratie ist. Der Staat erschöpft sich eben gerade nicht in den Aktionen von Parteipolitikern, die in aller Regel ihre eigenen Ziele verfolgen und sich dabei als „Staatsmänner“ feiern lassen. Aufgabe des Staates ist es vielmehr, das Wohl aller Bürgerinnen und Bürger zu vertreten, nicht die Wünsche der Anhänger einer Partei oder einer Parteienkoalition oder gar die Interessen ihrer Sponsoren. Das Misstrauen der Menschen richtet sich gegen Politiker, die den Staat als Beute, finanzielle Vorteile als „Pfründen“ und die Wähler als „Stimmvieh“ betrachten. Sie wünschen sich stattdessen einen nicht interessengebundenen Staat. Dass der Parteienstaat in eine schwerwiegende Krise geraten ist, könnte freilich auch sein Gutes haben. Denn die Krise ist einer der Wege, auf denen die Demokratie wiederbelebt werden kann, wenn durch diese Krise ein erneutes politisches Engagement hervorgerufen wird.2 Vertrauen und Respekt, die „naive Wähler“ den Politikern früher – meist unverdient – entgegen gebracht haben, sind freilich nicht leicht zurück zu gewinnen. Vom Standpunkt eines „mündigen Bürgers“ lassen sich allerdings durchaus einige wichtige Forderungen formulieren, die sich an die Politiker, an die Journalisten, aber auch an uns Bürger und Bürgerinnen richten.

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Günther Nonnenmacher: „Sarkozy auf dem Tiefpunkt“, in: FAZ vom 16. Juli 2010, S. 1. Crouch 2008, S. 20.

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1. FORDERUNGEN AN DIE POLITIKER An die Adresse der Politiker gerichtet ist vor allem ein anderer Umgang mit dem demokratischen Rechtsstaat und dem „mündigen Bürger“ anzumahnen. Auch Spitzenpolitiker sind in der sog. Parteiendemokratie stets Parteipolitiker. Ihnen sollte aber ins Stammbuch geschrieben werden, dass Parteiräson und Gemeinwohl im Regelfall gerade nicht dasselbe sind. Sie sollten ihren Eid durchaus ernst nehmen, mit dem sie sich – in der Regel mit der religiösen Beteuerung „so wahr mir Gott helfe“ – verpflichtet haben, die eigene „Kraft dem Wohle des deutschen Volkes (zu) widmen, seinen Nutzen (zu) mehren, Schaden von ihm ab(zu)wenden“.3 Vor allem Respekt vor Menschen und Institutionen ist notwendige Voraussetzung für einen demokratischen Rechtsstaat. Die staatlichen Institutionen sind nicht dazu geschaffen worden, dem Machtstreben und der Eitelkeit von Politikern zu dienen. Eine gewisse „Demut“, die nicht unbedingt religiös motiviert sein muss, würde manchem Politiker gut zu Gesicht stehen. Die Abgehobenheit der politischen Klasse wird überdies zur unerträglichen Arroganz, wenn das Volk als Souverän nicht mehr ernst genommen, sondern als „Stammtisch“ verspottet und herabgewürdigt wird. 1.1 Republik Der Staat ist eine öffentliche Angelegenheit (res publica), über die nicht nur (oft selbst ernannte) Eliten hinter verschlossenen Türen entscheiden dürfen. Die Wahl des des Bundespräsidenten zeigt, wie sehr sich die real existierende Demokratie von ihrem Anspruch entfernt hat. Ein „Demokratielehrer“ wie Joachim Gauck schien den Regierenden inakzeptabel und unwählbar, denn er hätte sich ohne Zweifel mit der Autorität seiner Persönlichkeit und seiner Biografie in die Politik eingemischt. Auch dieses höchste Amt im Staat ist jedoch Spielball parteitaktischer Überlegungen und des Abschiebens von Konkurrenten bzw. der Absicherung der eigenen Machtposition. Über wichtige Probleme wie die Wahl des Bundespräsidenten muss aber nicht nur öffentlich diskutiert werden können, sondern die damit verbundene Meinungsbildung muss auch Folgen für die Politik haben. Das Mindeste ist eine Freigabe der Stimmabgabe in der Bundesversammlung, denn die Ausübung eines „Fraktionszwanges“ ist verfassungsrechtlich äußerst bedenklich. Besser wäre hingegen die Direktwahl des Bundespräsidenten durch den Souverän, allerdings verabscheuen die Parteipolitiker nichts mehr als das. Das Volk muss zudem in wesentlichen Angelegenheiten (Krieg, Souveränitätsübertragung, Zuwanderung) in einem Referendum um seine Zustimmung gebeten werden.4 Da die Parteipolitiker mit Mehrheiten über Bundestag und Bun-

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Art. 64 Abs. 2 i.V.m. Art. 56 GG. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hat sich kürzlich in den Stuttgarter Nachrichten für Volksentscheide ausgesprochen, die dazu beitrügen, dass mehr Menschen an wichtigen Ent-

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desrat „verfügen“ und damit die erforderliche Zweitdrittelmehrheit zur Änderung des Grundgesetzes jederzeit verhindern können, kann ihnen jedes bisschen Mitbestimmung des Volkes nur abgetrotzt und abgerungen werden. Das Volk sollte sich aber dessen bewusst werden, dass es sich als Souverän jederzeit eine neue Verfassung geben kann, ganz gleich, welche Einschränkungen für diese pouvoir constituant von Wissenschaftlern – sehr zur Freude der Politiker – konstruiert werden. Ungeachtet der Tatsache, dass keine Verfassung die Verfassung gebende Gewalt des Volkes einschränken kann, steht der Weg hierfür auch nach dem Grundgesetz jederzeit offen: Dieses Grundgesetz […] verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist. (Art. 146)

1.2 Treuhänder Friedrich der Große (1740–1786), der alle Macht eines absoluten Monarchen in seiner Person vereinigte, hat sich nicht nur als „ersten Diener“ seines Staates bezeichnet, sondern auch so gehandelt. Diese dienende Funktion der Spitzenpolitiker scheint aus der Mode gekommen zu sein. Das ändert aber nichts daran, dass Politiker Treuhänder der Bürger sind. Sie haben die Macht, die ihnen widerruflich auf Zeit übertragen wird, im Interesse des Volkes auszuüben. Den Staat, seine Institutionen und Privilegien dürfen sie nicht länger als ihren Besitz betrachten, den es zu nutzen gilt, solange man an der Regierung ist. Dienstwagen und hohe Gehälter symbolisieren die Bedeutung des Amtes und sollen die Funktionsfähigkeit der Institution sicherstellen, sie sind nicht als willkommene „Pfründe“ und als Insignien der eigenen Bedeutung zu betrachten. Jede „Selbstbedienungsmentalität“ von Mandatsträgern und Amtsinhabern ist von Übel. Die „harten Bänke der Opposition“ sind geradezu zu einem Synonym für erfolglose Politik geworden, die keine weichen Sessel für die Politiker bereithält. Allerdings muss gerade auch die Aufgabe der parlamentarischen Opposition ernst genommen werden, wenn der Anspruch des Parlaments, Repräsentant des Souveräns, des Volkes, zu sein, aufrecht erhalten werden soll. 1.3 Machtverzicht Der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat 1992 den Parteien eine gewisse Machtversessenheit vorgeworfen.5 Die Verfassung muss klar zum Ausdruck bringen, dass die Parteien sich nicht in alle Bereiche der Gesellschaft hineindrängen dürfen. Offenbar reicht Artikel 21 des Grundgesetzes dafür nicht aus,

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scheidungen beteiligt würden (2.8.2010); man wird abwarten müssen, wie Gabriel sich in dieser Sache verhalten wird, wenn er an die Regierung kommen sollte. Weizsäcker 1992.

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er verführt vielmehr zu Allmachtsfantasien der Parteien. Sie betrachten alle Positionen in Staat und Gesellschaft, die mit Macht, Einfluss und Geld verbunden sind, als ihr Eigentum. Dazu dient auch die „freihändige“ Vergabe lukrativer Positionen an besonders loyale Parteigänger. Dieser sog. Filz wurde früher vor allem den Sozialdemokraten („roter Filz“) angelastet, hat sich inzwischen aber auch auf die Union („schwarzer Filz“) und alle übrigen Parteien ausgedehnt. Die Besetzung der wichtigsten Positionen im Staat muss deshalb einer gerichtlichten Nachprüfung nach objektivierbaren Kriterien unterliegen. Die gerichtliche Entscheidung muss schließlich auch gegen den Willen der Parteipolitiker durchsetzbar sein und das Fehlverhalten muss Konsequenzen für den betroffenen Politiker zur Folge haben. Sog. package deals, d.h. die Besetzung ganz unterschiedlicher Ämter (z.B. Bundesverfassungsrichter, Generalbundeanwalt, Präsident des Bundesrechnungshofs), unter Proporzgesichtspunkten, müssen unmöglich gemacht werden. 1.4 Respekt Der fehlende Respekt der Politiker vor dem Volk, das sie gewählt hat, muss wieder hergestellt werden. Das isländische Volk hat hierfür ein Beispiel gegeben, als es die korrupte Regierung mitten in den Bankenkrise am 23. Februar 2009 aus dem Amt gejagt hat. Der „mündige Bürger“ erwartet eine gut durchdachte, nachhaltig wirksame und auch finanzierbare Politik von der Regierung, er möchte nicht mit unrealistischen Wahlversprechen „für dumm verkauft“ werden. Tatsächlich ist der sog. „Mann auf der Straße“ viel eher bereit, sich Sparzwängen zu unterwerfen, wenn er den Eindruck hat, dass die Politiker ehrlich zu ihm sind (und nicht ständig ihre eigenen Bezüge erhöhen). Dazu gehört freilich auch die Durchsetzung des staatlichen Steueranspruchs gegenüber solchen Reichen, die ihr Geld lieber in Liechtenstein „verstecken“. Weder das Versprechen noch gar die Befriedigung unbezahlbarer Ansprüche auf Kosten nachfolgender Generationen durch Schuldenmachen beeindrucken den Bürger. „Wahlversprechen“ sind längst als das erkannt, was aus ihnen unmittelbar nach der Wahl zu werden pflegt, nämlich „wohltuende“ Lügen, die den Bürger in Sicherheit wiegen sollen. Eine solche unehrliche Politik muss unterbunden werden. 1.5 Rechenschaftspflicht Politiker müssen dazu verpflichtet werden, öffentlich Rechenschaft gegenüber ihren Wählern abzulegen. Das betrifft in erster Linie ihre Arbeit, ihr Abstimm- und Entscheidungsverhalten bei politisch brisanten Themen. Die USA könnten hier mit ihrer Kontrolle der Kongressmitglieder durch ihre Wähler ein Vorbild sein. Dazu gehört aber auch die Offenlegung aller Nebentätigkeiten und Nebeneinnahmen – nicht nur gegenüber dem Bundestagspräsidenten. Warum sollte sich nicht jedermann – z.B. über das Internet – ein Bild von „seinem“ Abgeordneten machen können. Die Wähler müssen – besonders vor einer anstehenden Wahl – zumindest wissen, wer welche Interessen und Interessenten im Bundestag vertritt. Auch

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wenn das Verbot von Nebentätigkeiten (Inkompatibilitätsregelung) als illusorisch erscheint, wünschenswert wäre es schon. Die Umstellung auf ein Persönlichkeitswahlrecht nach britischem Vorbild könnte hierzu die notwendigen Voraussetzungen schaffen. Während beim Verhältniswahlrecht Parteigremien weitgehend allein über die Chancen eines Kandidaten entscheiden, – z.B. über einen „sicheren“ Platz auf der Landesliste – in das Parlament einzurücken, muss sich beim Persönlichkeitswahlrecht der Kandidat seinen potenziellen Wählern direkt stellen. Das schmälert zugleich den Einfluss der Parteien. 2. FORDERUNGEN AN DIE JOURNALISTEN In einer Mediengesellschaft haben die Journalisten eine besondere Verantwortung gegenüber den Menschen. Der mündige Bürger ist davon abhängig, sich auf der Grundlage einer Vielfalt von Informationen eine eigene Meinung bilden zu können. Es liegt auf der Hand, dass es für Politik und Wirtschaft äußerst verlockend ist, diese Meinungsbildung zu eigenen Gunsten zu beeinflussen. Journalisten können zusammen mit Politikern ein Meinungskartell bilden, das wie ein Informationsfilter wirkt. Nur die Informationen gelangen an prominenter Stelle in die Medien, die als „genehm“ erscheinen. Alle anderen Informationen werden zwar nicht offen unterdrückt, aber möglichst auf die hinteren Plätze abgedrängt. Daher müssen die Journalisten bei ihrer Arbeit bestimmten Anforderungen genügen wie Objektivität, Bescheidenheit und Unbestechlichkeit. 2.1 Objektivität Die in Fernsehsendern oder bei Printmedien tätigen Journalisten müssen zumindest versuchen, ihre Zuschauer, Zuhörer oder Leser objektiv zu informieren. Das ist offensichtlich schwierig, denn eigene Vorurteile, sowie die unterschiedlichsten wirtschaftlichen und politischen Interessen wirken auf die journalistische Arbeit ein. Zudem muss jeder Journalist darauf achten, das Interesse seiner Zuschauer, Zuhörer bzw. Leser zu wecken. Dennoch darf der Anspruch auf größtmögliche Objektivität nicht gegenüber den Forderungen der Parteien, der Anzeigenkunden oder der Lobbyisten aufgegeben werden. Es geht darum, den „mündigen Bürger“ dazu in die Lage zu versetzen, sich selbst eine politische Meinung zu bilden. Nur daraus lassen sich auch die Privilegien der Journalisten, z.B. die Pressefreiheit, rechtfertigen. 2.2 Bescheidenheit Die Journalisten sollten sich von der Vorstellung verabschieden, dass das, was sie in ihren Medien darstellen, die (einzig mögliche) Wahrheit ist. Das gilt besonders im Bereich des politischen Journalismus, bei dem viele Journalisten dazu neigen, Politiker und deren Aktionen nicht nur darzustellen und zu analysieren, sondern ihre eigenen politischen Vorstellungen als verbindlich zu postulieren. Dabei lau-

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fen sie allerdings Gefahr, sich in einer Falle zu verfangen, die sie selbst aufgestellt haben. Tatsächlich ist Wirklichkeit das natürliche, aber zumeist langweilige Geschehen. Erst durch Auswählen, Hervorheben, Betonen, Zurechtschneiden etc. wird von den Medien die mediale Wirklichkeit „hergestellt“. Wenn diese Vorgänge nicht offengelegt werden, nehmen die Bürger den Schein für die Realität. Damit wird ihnen aber die Möglichkeit genommen, nüchtern das Medienangebot zu prüfen, um dann Alternativen zu vergleichen und eigene Schlussfolgerungen zu ziehen. Es liegt auf der Hand, welche politische Bedeutung den Journalisten aus dieser Sicht zuwächst. Sie können unendlich „wertvoll“ für die Regierenden sein, wenn sie deren Sicht der Dinge verbreiten, sie können aber auch zum Störenfried für die Regierenden werden, wenn sie sich selbst in der Rolle einer Art Fundamentalopposition sehen. 2.3 Unbestechlichkeit Da die Medien die Wahrnehmung der Menschen durch ihre Art der Darstellung (Framing) steuern können, ist es von entscheidender Bedeutung, dass sich die Journalisten nicht bestechen lassen, weder durch Geld noch durch Einfluss, durch Posten oder Privilegien. Wer die Medien auf seiner Seite hat, verfügt über einen uneinholbaren Vorsprung vor seinen Konkurrenten. Politiker und Journalisten leben in einer Art Symbiose, der Politiker braucht die Medien, um bekannt zu werden und seine „Botschaft“ zu verbreiten, der (politische) Journalist braucht die Politiker, um frühzeitig an Informationen zu gelangen, mit denen er journalistische Erfolge (Erhöhung der Auflage, Einschaltquote etc.) erzielen kann, die seine Karriere befördern. Harry Pross, der Doyen der Kommunikationswissenschaft, hat das einmal mit der mittelalterlichen Kooperation von Adel und Geistlichkeit verglichen und dabei hervorgehoben, dass nur Angehörige der gleichen Machtstufe miteinander kommunizieren (also Intendanten mit Ministerpräsidenten, einfache Korrespondenten mit normalen Abgeordneten), die unteren Ränge sind bei den Gesprächen der Mächtigen hingegen regelmäßig ausgeschlossen. 3. FORDERUNGEN AN DIE BÜRGER Letztlich kommt es aber in einem demokratischen Staat in erster Linie auf uns Bürger und Bürgerinnen an. Wir müssen danach streben, als „mündige Bürger“ mit aller uns möglichen Zivilcourage die Republik zu verteidigen. Das ist oft schwierig, weil man leicht aus seiner Gemeinschaft in Beruf, Verein oder Nachbarschaft ausgegrenzt werden kann, wenn man „wider den Stachel löckt“.6 Da es bedeutend einfacher ist, sich konform zu verhalten, tun das auch die meisten braven Bürgerinnen und Bürger. In Deutschland kommt hinzu, dass es eher als nega-

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Lukas 26/14.

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tiv angesehen wird, wenn man sich gegen den „Staat“ (in aller Regel sind die Politiker gemeint) auflehnt. 3.1 Mündige Bürger Die Demokratie lebt von politisch mündigen Bürgern und Bürgerinnen. Das bedeutet, dass wir uns nicht „für dumm verkaufen“ lassen dürfen. Es empfiehlt sich, zunächst einmal allen allzu wohlgefälligen Nachrichten zu misstrauen. Dazu müssen wir uns aber intensiv mit der Politik beschäftigen, alle verfügbaren Informationen aufnehmen und zu einem eigenen Urteil zu verarbeiten versuchen. Die Frage ist allerdings, was man dann mit diesen Erkenntnissen anfangen soll. Die Geschichte von Michael Kohlhaas, von Heinrich von Kleist zur Novelle verarbeitet, ist nicht zufällig eine historische Figur (Hans Kohlhase), die im 16. Jahrhundert in Cölln, einem Teil des späteren Berlins, lebte. Dessen erfolglose Klage, Selbstjustiz in Form eines Racheakts und seine späte Einsicht zeigen den Menschen, dass es keinen Sinn hat, sich gegen die Mächtigen aufzulehnen. Ein solches Verhalten ist heute ebenso wenig zu empfehlen wie damals. Stattdessen kann man politische Gesprächskreise organisieren, sich in den Parteien zu Wort melden oder notfalls auf die Straße gehen. Der einfachste Weg, seinen Unmut zu dokumentieren, ist freilich der Wahlakt. Allerdings sind hier die Protestmöglichkeiten äußerst begrenzt. 3.2 Zivilcourage Es ist oft unangenehm, eine andere Meinung zu vertreten als die der Mehrheit. Wer „mit dem Strom schwimmt“, lebt zwar bequem, er schadet aber der Demokratie. Schon Apostel Paulus hatte an die römischen Christen geschrieben: Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott, wo aber Ordnung ist, die ist von Gott verordnet. Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt., der widerstrebt Gottes Ordnung; die ihr aber widerstreben, ziehen sich selbst das Urteil zu.7

In der früheren DDR hatte das gerade unter evangelischen Christen zu heftigen Diskussionen geführt. Sollte man den Apostel so verstehen, dass es die Christenpflicht gebiete, auch der DDR-Obrigkeit zu gehorchen? Der Unterschied zu unserer heutigen Situation liegt auf der Hand. Damals ging es um den Gehorsam gegenüber einem Unrechtsstaat, heute handelt es sich um die Ausübung eines verbrieften Grundrechts auf Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) in einer Demokratie. Dennoch bedarf es auch hier einer gehörigen Portion Selbstvertrauen und persönlichen Mutes, um gegen Fehlentscheidungen der Regierung unter Einsatz der eigenen Reputation anzugehen. Eine lebendige Demokratie braucht aber die – gern auch 7

Römer 13, 1–7.

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kontroverse – Diskussion und den persönlichen Einsatz. Eine Ohne-michGesellschaft kann möglicherweise überleben, aber kaum als demokratische Gemeinschaft. 3.3 Empathie Das menschliche Zusammenleben setzt ein gewisses Maß an Einfühlungsvermögen voraus. Sich in die Lage des Anderen zu versetzen, ist die Voraussetzung für das Verständnis des Mitmenschen. Allerdings scheint das Nicht-zurKenntnisnehmen der Probleme anderer Menschen in der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft das „Gebot der Stunde“ zu sein. Fast jeder Mensch – Frauen so wie Männer – ist heute so sehr mit dem Erwerb, der Erhaltung und dem Ausbau seiner beruflichen Position beschäftigt, dass er keine Zeit für Andere hat. Angesichts dieser menschlichen Kälte in der Gesellschaft ist es sicher kein Zufall, dass die Zahl der psychischen Erkrankungen in Deutschland rapide angestiegen ist. Der Vorwurf fehlender Empathie richtet sich natürlich auch an die Politiker, für die erschwerend hinzukommt, dass sie durch das „Fegefeuer“ der Kandidatenkür gegangen sind, wo wenig bis gar keine Rücksicht auf die Befindlichkeit des Bewerbers genommen wird. Sie folgen eher den Anweisungen ihrer PR-Berater als ihrem eigenen Gefühl, wenn sie in ein Katastrophengebiet reisen, um den Menschen „Trost zu spenden“. Solche Bilder kommen bei den Zuschauern gut an, umgekehrt erzeugt es Unmut, wenn sich ein Spitzenpolitiker nicht am Ort des Geschehens zeigt. Das ließ z.B. die hohen Zustimmungswerte von US-Präsident George W. Bush rapide sinken, als dieser sich nicht um die Opfer der Katastrophe von New Orleans kümmerte. Zumindest der Bürger braucht als Mensch das Mitleid seiner Mitmenschen, aber auch die Fähigkeit zum Mitleiden. 3.4 Solidarität Gegen ökonomische, politische oder mediale Macht kann sich der Einzelne kaum erfolgreich zur Wehr setzen. Erforderlich ist daher die Bündelung gemeinsamer Interessen, um auch den Schwächeren Gehör zu verschaffen. Für die Arbeiterbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts war es selbstverständlich, dass nur eine starke Gewerkschaft den Arbeitern Recht und Einkommen verschaffen konnte. Tatsächlich haben die deutschen Gewerkschaften den Arbeitnehmern – aber auch sich selbst – z.T. geradezu erstaunliche Rechte erkämpft. Diese Epoche scheint jedoch zu Ende zu gehen und einer Zeit der Individualisierung Platz zu machen. In einer Gesellschaft, die der Vereinzelung der Menschen Vorschub leistet, kommt die Solidarität naturgemäß zu kurz. Wer in dem Anderen stets den Konkurrenten sieht, kann sich kaum für dessen Belange einsetzen. Die schwindenden Mitgliederzahlen der Gewerkschaften zeigen einen schleichenden Prozess der Entsolidarisierung nicht nur unter den Arbeitnehmern, dieser Trend hat vielmehr nahezu die gesamte Bevölkerung erfasst.

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3.5 Republikaner Wir verdanken es vor allem der friedlichen Revolution in der damaligen DDR, dass wir in unserem wiedervereinigten Vaterland in Frieden und Freiheit leben können. Die Montagsdemonstranten haben den Repressalien der Staatsmacht Stand gehalten. Diese friedliche und von Seiten der Demonstranten gewaltlose Revolution hat ein schwerbewaffnetes Regime hinweg gefegt. Dazu gehörte viel Mut und Selbstvertrauen der Menschen. Mit dem Schlachtruf „Wir sind das Volk“ haben sie die Volkssouveränität eingefordert, die ihnen die Diktatur der SED in ihrer selbst zugewiesenen Eigenschaft als „Avantgarde der Arbeiterschaft“ verweigern wollte. Dieses mutige Handeln8 der Demonstranten ist im wiedervereinigten Deutschland schnell verdrängt worden und wird allenfalls zu den passenden Festtagen – selbstverständlich in politisch korrekter und selektierter Form – wieder partiell zum Vorschein gebracht. Damit lässt sich aus dem Mythos der DDR-Bürger, die nach der im Grundgesetz verbürgten Freiheit strebten, ein politisches Ritual zur Systemstabilisierung machen. Denn wenn Menschen so erpicht darauf sind, sich unter den Schutz der „besten aller deutschen Verfassungen“ zu begeben, dann kann man doch – schon im Interesse der Montagsdemonstranten – das Grundgesetz auf keinen Fall ändern wollen. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben! Diese strategischen Überlegungen in der alten Bundesrepublik trafen insofern auf einen fruchtbaren Nährboden, als es uns Westdeutschen immer irgendwie peinlich war, was da in Leipzig und an anderen Orten der DDR passiert war. War es den Deutschen überhaupt gestattet, gegen die „gottgegebenen“ Verhältnisse zu revoltieren, die von den Siegermächten dekretiert worden waren? Dankenswerter Weise ergab sich eine systemkonforme Rechtfertigung aus der Doktrin von der Peristroika, mit der Michail Gorbatschow 1985/86 damit begonnen hatte, das bisherige System der Sowjetunion zu modernisieren. Gorbatschows berühmter Satz „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, den er den Genossen zum 40. Geburtstag der DDR (6. Oktober 1989) ins Stammbuch geschrieben haben soll,9 schien den Weg für eine Neuordnung frei zu machen. Plötzlich erschien der Widerstand gegen die erstarrte DDR-Führung auch den „Segen“ des Großen Bruders Sowjetunion zu haben. Die westdeutschen Eliten nahmen – mit wenigen Ausnahmen – die deutsche Revolution lediglich hin, ohne sie mental zu unterstützen. Im Gegenteil: es war ja gewissermaßen keine „legitime“ Revolution, da sie die Nachkriegsordnung in Frage stellte. 8

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Immerhin verfügte die sowjetische Führung über ein riesiges Truppenkontingent in der DDR, deren Mannschaftsstärke 1963 noch 386.000 Soldaten betragen hatte, später aber etwas reduziert wurde. Allein 7.500 Panzer standen der Roten Armee in der DDR zur Verfügung. Tatsächlich ist dieser Satz in diesem Wortlaut von Gorbatschow vermutlich nie gesagt worden.

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Staatskrise – Ist der Staat noch zu retten?

Wir sind das Volk! Der Gedanke daran, dass man sich der Bewegung „Wir sind das Volk“ im Westen hätten anschließen können, um eine Verfassung zu erstreiten, welche die Volkssouveränität durch direkte Beteiligung des Volkes an der politischen Willensbildung wieder zur Geltung verhelfen würde, erschien uns zunächst als etwas Fremdes und Unheimliches. Helmut Kohl hatte zwar das (schmale) Zeitfenster beherzt genutzt, die deutsche Wiedervereinigung zu realisieren. Dafür ist ihm – trotz mancher anderen Verfehlungen – der Dank des Vaterlandes gewiss. Eine revolutionäre Bewegung in der alten Republik wäre in seinen Augen jedoch kontraproduktiv gewesen und hätte die Wiedervereinigung gefährdet. Diese Gelegenheit wurde also verpasst. Dennoch sollte die friedliche Revolution in der DDR uns alle daran erinnern, dass die Freiheit von mutigen Republikanern verteidigt werden muss, sonst geht sie unter. Demokratie ist nicht zum Nulltarif zu haben.

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