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German Pages 62 [68] Year 1916
Schriften der Wissenschaftlichen Gesellschaft Straßburg 26. Heft
Späte Vergeltung Aus der Geschichte der Theodicee Vortrag gehalten in der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Straßburg am 20. November 1915 von
Erich Klostermann
Achter und neunter Jahresbericht Erstattet von
Harry Breßlau
Straßburg K a r l J. T r ü b n e r 1916
Späte Vergeltung Aus der Geschichte der Theodicee Vortrag gehalten in der Wissenschaftlichen Gesellschaft zu Straßburg am 20. November 1915
von
Erich Klostermann
Straßburg K a r l J. T r ü b n e r 1916
Druck von M. DuMont Schauberg in Straßburg i. E.
Der im Folgenden ohne wesentliche Änderung abgedruckte Vortrag will lediglich zur Quellenkunde der antiken Theodicee etwas beisteuern, nicht mehr. Die Anmerkungen sollten bereits Bekanntes nach Möglichkeit nicht unnötigerweise wiederholen. Ich hoffe, daß das auch von den textkritischen Erwägungen wird gelten können, wenngleich hier die einschlägige Literatur schwer zu überblicken war. Parallelstellen sind angeführt, nicht um die schon in D.Wyttenbachs Sonderausgabe vom Jahr 1772 gesammelten Belege einfach zu vermehren, sondern wenn sie für das Verständnis des Textes oder die Frage nach der Einwirkung Plutarchs auf die altchristlichen Schriftsteller in Betracht zu kommen schienen. Straßburg i. E., 14. Februar 1916. E. Klostermann.
Gerade hundert Jahre sind verflossen, seit der Graf Joseph de Maistre, damals Gesandter Sardiniens am russischen Hof, ein Büchlein 'Über den Verzug der göttlichen Gerechtigkeit'1) in den Druck gab. Die ungeheuren Umwälzungen, die unser Erdteil in den Stürmen der Revolutionszeit erlebt und vor allem in den Kriegen des neuen Attila 2 ), Napoleons, sie hatten den überzeugten Katholiken im Glauben an eine Yernunft und Gerechtigkeit über den Dingen, an das Walten einer Vorsehung im Großen wie im Kleinen nur bestärken können. Davon legen die erst nach de Maistres Tod erschienenen 'Petersburger Abende'3) beredtes Zeugnis ab. Aber auch die genannte kleinere Schrift, die dieser 'Theoretiker der Vorsehung'4) noch selbst hatte herausgehen lassen, und zwar alsbald nach dem längst erwarteten Strafgericht über den Korsen. Es wird nicht zu kühn sein, in diesem zeitlichen Zusammentreffen mehr als einen bloßen Zufall zu vermuten5). ') Sur les délais de la justice divine, Paris 1816; benutzt nach der Ausgabe Oeuvres complètes V, 361 ff., Paris 1884. Das Schriftchen hatte namenlos erscheinen sollen, s. die Briefe Nr. 446 und 478 an den Grafen de ßlacas Oeuvres XIII, 245 und an den Marquis de Costa ebenda 394. ») S. Brief Nr. 357 note pour le comte de Front vom 8. Nov. 1812, Oeuvres XII, 295: il est impossible de savoir où se trouve ce moderne Attila. Anderwärts heißt Napoleon bei ihm le daemonium meridianum (Brief Nr. 342 = Oeuvres XII, 168), le plus fameux, le plus terrible el le plus heureux brigand qui ait peut-être jamais existé (Brief Nr. 354 = XII, 270), le monstre (ebenda 276), l'homme exécrable qui a causé ces effroyables malheurs s'il ne les a pas voulus expressément (Brief Nr. 358 = XII, 306). 3 ) Les soirées de St. Petersbourg ou entretien sur le gouvernement temporel de la Providence, Paris 1821. 4 ) Cogardan, Joseph de Maistre, Paris 1894, S. 145. Hier mag noch folgende Stelle aus de Maistres Brief an den Grafen de Vallaise vom 8. August 1815 (Nr. 419 = Oeuvres XIII, 111) stehen: on ne peut s'empêcher d'admirer, dans tout ce qui se passe, la précision de la justice invisible. La France s'est rendue coupable par la révolte et par l'orgueil effréné, elle est menée à l'excès de la servitude et de l'avilissement. Elle est venue insulter tous les Souverains et toutes les nations dans leurs capitales; les Souverains et leurs nations en corps s'emparent deux fois de suite de sa capitale. Bonaparte avait particulièrement foulé et insulté la Prusse ; c'est la Prusse qui lui donne le coup de grâce ; il était allé à Berlin prendre l'épée et le chapeau de Frédéric II, et il les avait envoyés brutalement à Paris. Les Prussiens lui prennent son chapeau et son épée à Jemappes, et les envoient justement à Berlin. Enfin, cette maudite famille voulait s'emparer de tous les Trônes, et toute la famille est dispersée comme prisonnière parmi toutes les nations de l'Europe, etc. Cette sorte d'Appuntino est véritablement singulière. 6
) Ähnlich schon Trench, Plutarch, London 1874, S. 148 Anm.
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Allerdings enthält das "Werkchen selbst keinen ausdrücklichen Hinweis auf die Zeitgeschichte6). Es kann das auch nicht wohl. Denn es besteht weniger aus eigenen Gedanken, als vielmehr in der freien "Wiedergabe eines der späteren Dialoge Plutarchs, in dem zwar nicht die ganze Frage nach der Vorsehung behandelt wird, wohl aber einer der hauptsächlichsten Einwände, die sich gegen die Annahme einer strafenden Gerechtigkeit erheben7). De Maistre hat diese Theodicee Plutarchs so außerordentlich hoch geschätzt, daß er auf eine zuerst geplante Umarbeitung, auf die Verschmelzung ihrer Sätze mit denen einer weiter entwickelten Metaphysik, d. h. der der katholischen Kirche, ausdrücklich verzichtete8). I. Es sei mir heute gestattet, zugleich an de Maistre und Plutarch anzuknüpfen und dabei das nicht ganz neue Unternehmen einer Inhaltsangabe des griechischen Dialogs voranzustellen. Dieser ist unter den philosophischen Schriften Plutarchs überliefert, den sogenannten Moralia, trägt die Überschrift 'Über die, welche erst spät von der Gottheit bestraft werden'9) und verläuft etwa folgendermaßen 10 ): (1) Ein Gespräch hat in Delphi stattgefunden zwischen Plutarch, seinem a ) Doch mag die Anmerkung zu de ser. num. vind. 552 f évioiç Y^p . . . oîov bruuoicoivoiç ÄTr£Xpi®|(JciTO To bai^öviov hierher gehören: car lorsque les nations sont devenues criminelles à ce point qui amène nécessairement les châtiments généraux, lorsque Dieu a résolu de les ramener à l'ordre par la punition; de les humilier, de les exterminer, de renverser les trônes ou de transporter les sceptres; pour exercer ces terribles vengeances presque toujours il emploie de grands coupables, des tyrans, des usurpateurs, des conquérants féroces qui se jouent de toutes les lois: rien ne leur résiste, parce qu'ils sont les exécuteurs d'un jugement divin; mais pendant que Vignorance humaine s'extasie sur leurs succès, on les voit disparaître subitement comme l'exécuteur, quand il a fini (Oeuvres V, 391). ') Man vergleiche Seneca dial. I, 1 , 1 : quaesisti a me, Luciii, quid ita, si Providentia mundus regeretur, multa bonis viris mala acciderent. hoc commodius in contextu operis redderetur, cum praeesse universis providentiam probaremus et interesse nobis deum; sed quoniam a toto particulam revelli placet et unam contradictionem manente lite intégra solvere, faciam rem non difficilem, causam deorum agam. Nur beschäftigt sich Seneca mit der ungleich öfter behandelten Frage des Unglücks der Guten, Plutarch aus triftigen Gründen mit dem noch größeren Rätsel des Glückes der Schlechten, vgl. Gréard, De la morale de Plutarque, Paris 1866, S. 298. 8
) S.Vorrede zu Sur les délais de la justice divine, Oeuvres V, 363f. ) T t e p i TÜJV OTTO TOO 0eiou ßpabiuu? TI|awpou|aévwv, im Lampriaskatalog: uepi ppotbéujç KoXaloi-iévujv ûtrô TOÖ öeiou — benutzt in der Ausgabe der Moralia von Bernardakis III, 417 ff., Leipzig 1891. Dyroffs Frage (Bursians JB 108, 23), ob der Titel nicht zu übersetzen sei 'Über diejenigen D i n g e , welche die Gottheit erst spät bestraft', damit der Titel auch c. 12 ff. decke (s. Anm. 36), würde auch Proklos (vgl. S. 9 ff.) abweisen, in dessen achter dubitatio das Thema lautet punitiones esse ex Providentia in peccantes etc. 1U ) Der alte, allerdings unbegründete Zweifel, ob am Anfang des plötzlich einsetzenden Dialogs nicht etwas Wesentliches verloren gegangen sei, wird durch Proklos kaum unterstützt. Wenigstens beginnt seine achte dubitatio fast genau da, wo das eigentliche Gespräch bei Plutarch anhebt (548c), s. Beilage 1. 9
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Bruder Timon, seinem Schwager Patrokleas und noch einem Amtsgenossen vom delphischen Konsistorium, Olympichos. Der einzige ernsthafte Gegner11) ist vorher ausgeschieden, nach einer wirren Flut heftiger Angriffe auf die Vorsehung, ohne eine Antwort abzuwarten. Die Zurückgebliebenen haben beschlossen, dennoch in die Erörterung der aufgeworfenen Streitfragen einzutreten. (2) Für Patrokleas bildet den Hauptanstoß die von den Dichtern längst gekennzeichnete erstaunliche Langsamkeit der Vorsehung im Bestrafen der Bösen: Apollon — 'Der zögert; ja, das ist einmal der Götter Brauch!' Dieses lange Ausbleiben einer offenkundigen Vergeltung12) kann nur üble Folgen haben. Es macht die Bösewichter noch dreister13) und ihre Opfer mutlos, während eine alsbald eintretende Abwehr weiteres Unrecht verhüten und den Geschädigten rechtzeitig Genugtuung gewähren würde. Statt dessen muß man sich allerdings Fragen stellen, wie die: was half denn die zwanzig Jahre nach dem Verrat über Aristokrates hereinbrechende Vergeltung seinen nicht mehr am Leben befindlichen messenischen Opfern ? Und so weiter. Und wie konnte Euripides meinen, mit seinem Wort von der Dike, die mit trägejn Fuße schleicht, eine Warnung auszusprechen u ) ? Eben das ist es ja doch, was die Bösen sich einreden, daß sie nämlich die erstrebten Früchte ihrer schlechten Taten jedenfalls, weil sofort, zu genießen bekommen, während die Sühne weit dahinten zurückbleibt. (3) Olympichos findet dieses Hinausschieben dazu angetan, den Glauben an eine Vorsehung überhaupt aufzuheben15). Bei verspätetem Eintreffen ll ) R. Hirzel, Der« Dialog II. 213, Leipzig 1895. Auch Seneca a. a. 0. hat übrigens nur mit einem Scheingegner zu tun, dial. I, 1, 4 suo ista tempori reserventur, eo quidem magis quod tu non dubitas de Providentia, sed quereris. 1 V Vgl. z. B. Clem. Recogn. 10, 49 sed dices: si iustum est punire malos, statim ut male agunt puniri debent. Laktanz de ira dei 20, 4 'statim debuit vindicare et pro merito quemque punire\ S. über dies Argument Wendland, Philos Schrift über die Vorsehung, Berlin 1892, S. 56 A. 1. '") Vgl. Laktanz de ira dei 18, 3 qui... ignoscit, is plane et illorum vitam perdit quorum audaciam nutrit ad facinora maioTa. li ) Gregor von Nazianz vereinigt zwei Stichworte aus Plutarchs c. 2, wenn er or. XVIII, 26 sagt iroWoi? yd TOI TIJDV XEXIMRIKÖTWV oiibd ütreprmepcx; äitr|vxricjev ri • dvxibocm; ovbl ö i r i a e ö i r o u ? rj BIKRI• TOÜTO br\ xö uouyriKÖv. Aber nach Elias Cretensis soll dies ein Pindarzitat sein; sein Kommentar sagt, nach dem lateinischen Text: ut Pindari verbis utar. Nauck hat das auch bei Suidas vorkommende Bruchstück als Adespoton 564 in den Tragicorum Graecorum Fragmenta 8 abgedruckt, in den Pindarausgaben scheint es zu fehlen. Im folgenden liest Wyttenbach richtig xaOxa 6' avixä roO? KOKOÖ? eköi; ¿axiv ¿auxoi? i n a K E X e u o luevou? Kai Trape'fT U( li VTa ? ¿ u i x e i p e t v (¿mxaipeiv ed. Bernardakis) TOI? irapavoiarmamv. ,6 ) Vgl. z. B. Clem. Recogn. 3, 40: hoc utique est quod nos incredulos facit, quia multi bene agentes male pereunt, et rursum multi impie agentes longi temporis vitam cum beatitudine finiunt. Über die Verbreitung des Arguments s. Wendland a. a. 0. 48 A. 7.
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wird die Strafe eben gar nicht mehr als solche empfunden, sondern lediglich als ein zufälliges Mißgeschick. So hat sie denn auch nicht den Erfolg Reue und Besserung hervorzurufen. Dem Straucheln eines Pferdes abhelfen kann nur sofortiger Peitschenhieb. Nicht anders beim Menschen. Also ist ein Nutzen der nach dem Sprüchwort langsam mahlenden Mühlen der Götter beim besten Willen nicht abzusehen. (4) Ehe Timon die Schwierigkeiten noch vermehren kann, nimmt die Hauptperson des Gespräches, Plutarch selbst, zu einer ersten Entgegnung das Wort. Voraus schickt er eine Mahnung zur skeptischen Behutsamkeit in solchen letzten Fragen, wie sie dem Philosophen akademischer Schule geziemt.16) Mitzusprechen hat überall doch nur der Sachverständige. So auf dem Gebiet der Musik, wer musikalisch gebildet ist, oder auf militärischem, wer schon einen Feldzug mitgemacht hat. Auch darf kein Laie dem behandelnden Arzt Vorhaltungen über den Augenblick machen, in dem geschnitten oder gebrannt werden sollte17). Noch weniger wird ein Sterblicher in das göttliche Strafverfahren hineinreden. Vielmehr wird er sich mit der Vermutung bescheiden, daß Gott wahrscheinlich am besten Zeit und Art der Strafen weiß, durch die eine kranke Seele zu heilen ist — er, der einem Pindar gerade als der Schöpfer der Gerechtigkeit für den 'Erzkünstler' gilt. Nun bleiben ja schon die Gründe und Absichten menschlicher Gesetzgebung oft genug dunkel. Man fragt sich vergebens, warum in Sparta die Ephoren ein Schnurrbartverbot erlassen mußten, und warum nach Solon jeder im öffentlichen Leben Partei ergreifen sollte, bei Strafe der Ehrlosigkeit, und anderes mehr. Darf es da wundernehmen, wenn wir die Gründe nicht anzugeben vermögen, aus denen die Götter den einen Sünder früh bestrafen, den andern spät? (5) Mit solchen Ausführungen wäre nun freilich die Frage nur niedergeschlagen, nicht beantwortet. Plutarch fühlt das sehr wohl. Er will sie auch nicht als einen Versuch angesehen wissen, der eigentlichen Erörterung aus dem Wege zu gehen. In dieser aber wird nun zunächst an Piatons Vorstellung angeknüpft, nach dem Gott als Muster jeglicher Vollkommenheit mitten in einem Weltall dasteht, das sich erst durch Teilnahme an seinem Wesen zum Kosmos gestaltet hat. Auch der Mensch, der Gott zu folgen vermag, erlangt die Tugend durch ein Ihmähnlichwerden. Unser Sehvermögen ist uns — ebenfalls nach Piaton — dazu verliehen, daß unsere 16
) Vgl. J. Schroeter, Plutarchs Stellung zur Skepsis, Greifswald 1911, S. 26.
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) 549f lies: IIJ? upörepov OÖK IT£|U6V d \ \ ' ücrrepov oüb' £KCIU