Sprung ins Wir: Die Neuerfindung von Gesellschaft aus systemischer Sicht 9783666404276, 9783525404270


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German Pages [296] Year 2010

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Sprung ins Wir: Die Neuerfindung von Gesellschaft aus systemischer Sicht
 9783666404276, 9783525404270

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V

Dietmar Hansch

Sprung ins Wir Die Neuerfindung von Gesellschaft aus systemischer Sicht

Mit 12 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40427-0 © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Layout, Gestaltung, Satz und Litho: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: l Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier

■ Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Kernaussagen auf einen Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil 1: Probleme und Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die Sigmoidkurve: Dynamik, Nichtlinearität, Emergenz und Dysemergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Selbstorganisation und Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Was uns antreibt: Grundlagen der Motivationspsychologie . . . . . . . . 1.4 Ego-Menschen versus Kulturmenschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Instrumentenflug: Grundlagen der Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . 1.6 Erbhandicaps: Primaten-Ego und Guckloch-Problem . . . . . . . . . . . . 1.7 Die Mechanismen des Zerfalls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.8 Die Abwärtsspirale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.9 Bedrohungsszenarios . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.10 Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.11 Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.12 Politik und Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.13 Massenmedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.14 Bildung und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.15 Die Ökonomie der Aufmerksamkeit: Von der Kulturzur Spektakelgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.16 Das Pareto-Prinzip oder die Eitelkeit und Vergeblichkeit alles irdischen Bemühens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.17 Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil 2: Persönliche Meisterschaft und Dritte Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Woher kann die Rettung kommen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Apokalyptische Reiter und die drei Hebelpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Das Schleimpilz-Prinzip – Wider den Ideologieund Totalitarismusvorwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Wissenschaft, Wahrheit und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Von den zwei Kulturen des Charles Percy Snow zur Dritten Kultur

30 35 41 47 48 56 58 61 72 81 84 86 92 95 104 108 110 117 118 120 124 127 132

6 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10 2.11 2.12 2.13 2.14 2.15 2.16 2.17 2.18 2.19 2.20 2.21 2.22 2.23 2.24 2.25

Inhalt

Die Naturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medizin und Biowissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Zukunft der Technologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Geisteswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sozialwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Komplexitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hirngespinste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Psychologie in der Dauerkrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein zusammenfassender Blick auf die Wissenschaften . . . . . . . . . . . . Das Weltbild der Dritten Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebenssinn und Glück in der Dritten Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ethik der Dritten Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Frage nach Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dritte Kultur und Zivilreligion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychische Veränderung, Psychosynergetik und persönliche Meisterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine zentrale Erkenntnis: Lebensglück aus inneren Quellen . . . . . . . Die Gemeinschaftsfähigkeit steigern: Konstruktivismus-Kompetenz und Ego-Souveränität . . . . . . . . . . . . Was ist persönliche Meisterschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Persönliche Meisterschaft als Haupthebel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildung: Zentralfach »Weltbild der Dritten Kultur und persönliche Meisterschaft« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

134 136 140 143 144 148 152 158 163 166 176 178 184 191 196 207 211 220 224 227

Teil 3: Gesellschaft und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 3.1 Dysemergenz: Wie die Geschichte mit uns Schlitten fährt . . . . . . . . 236 3.2 Soziale Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 3.3 Die Gesellschaft als sozialer Organismus: Wir bauen einen guten Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 3.4 Die glückliche Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 3.5 Bedingungsloses Grundeinkommen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 3.6 Die Zwei-Systeme-Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 3.7 Von der Marktwirtschaft zur elektronischen Regulationswirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 3.8 Evolution oder Revolution? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 3.9 Eine postmaterialistische Kultur der Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Erste konkrete Schritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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■ Vorwort

In der Krise, so heißt es, läge auch immer eine Chance. Dieser Satz erlebte im Rahmen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 eine lange nicht gekannte Konjunktur. Über Jahre war es den Mächtigen in Wirtschaft und Finanzwelt zum eigenen Vorteil gelungen, das neoliberale Denken populär zu machen. Die Politik wurde veranlasst, immer mehr staatliche Regulierungen abzubauen, um der vermeintlichen Weisheit der Märkte auf allen Ebenen mehr Raum zu verschaffen. Und so kam, was aus Sicht des Systemdenkens kommen musste: Unkontrollierte, unberechenbare und sich selbst verstärkende Eigendynamiken gewannen immer mehr an Kraft und schaukelten sich wechselseitig auf. Schließlich rissen sie sich aus ihren nur noch spärlichen Sicherungen und schleuderten wie die gefürchteten »loose canons« auf alten Kriegsschiffen mit zerstörerischer Gewalt über die schwankenden Decks der kenternden Börsen rund um den Globus. Die Folgen sind bekannt: Gewaltige finanzielle Werte wurden vernichtet, die Steuerzahler in die Pflicht genommen und schließlich die Realwirtschaft in die Rezession gerissen. Die wirklich Mächtigen der Finanzwelt, die all dies wesentlich mitverursacht und unverschämt daran verdient hatten, wurden indes nur marginal belangt. Zu Recht hat das große Empörung hervorgerufen. Weltweit und in allen Lagern wurden Stimmen laut, die mehr Kontrolle und Regulierung durch den Staat forderten, die nach Verstaatlichung riefen oder gar das kapitalistische System als solches in Frage stellten. Und auch vor der großen Krise gab es natürlich schon viele Gründe, am »System« zu zweifeln oder gar zu verzweifeln. Jene Mechanismen, die zur großen Krise geführt haben, spielen natürlich nicht nur im Weltfinanzsystem eine zerstörerische Rolle. Wir werden das alles ausführlich besprechen – hier nur in Stichworten: Wachstumsgrenzen auf vielen Ebenen treiben den kapitalistischen Verwertungsmechanismus zu Beschleunigung und Überdifferenzierung. Wir werden von einer überbordenden Vielzahl oft immer komplizierterer und unsinnigerer Produkte, Verfahren und Angebote überrollt. Gefördert auch durch die informationstechnische Vernetzung wächst so die Komplexität psychosozialer Systeme immens. Diese Komplexität entfaltet ein Eigenleben, eine immer stärkere Eigendynamik, die von den einzelnen Beteiligten immer weniger erkannt, verstanden, kontrolliert und gesteuert werden kann. So werden wir zunehmend

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Vorwort

vom System und seinen Zwängen versklavt. Der Einzelne wird zum Getriebenen, der unter chronischem Dysstress und Ohnmachtsgefühlen leidet. Die Überdifferenzierung untergräbt das Verbindende und Gemeinsame in der Gesellschaft. Die Eigendynamiken treiben den sterbenden sozialen Organismus auf allen Ebenen auseinander und führen letztendlich in die Degeneration, insbesondere auch in Sachen Bildung, Charakter, Persönlichkeit und Niveau. Ungerechtigkeiten und Konfliktpotenzial wachsen. Gigantische Ressourcen werden verschleudert, die Umweltzerstörung schreitet voran. Wie Sie der Buchrückseite wohl bereits entnommen haben, versuche ich mich im Hauptberuf als Arzt und Psychotherapeut. Immer mehr meiner Patienten kommen zu mir, weil sie gesund sind: Sie sind sensibel und engagiert. Deshalb lässt die zunehmend kranke Gesellschaft sie immer mehr leiden. Psychische Störungen nehmen zu, weil sich die psychosozialen Lebensbedingungen verschlechtern. Viele meiner engagierten Patienten leiden unter dem Eindruck, immer weniger bewirken zu können. Gern gebrauchte Bilder zur Schilderung ihres Weltempfindens sind Sisyphos oder das Hamsterrad. Und mich selbst bringt das natürlich in eine ähnliche Situation. Wie soll ich damit umgehen, wenn mir ein ausgebrannter Lehrer als Patient gegenüber sitzt, der mir erzählt, dass er von seinen Schülern mit körperlicher Gewalt bedroht wird? Oder Manager von Autozulieferern, deren Firmen gerade zermahlen werden zwischen Qualitätsdruck der Autofirmen und Preisdumping ausländischer Konkurrenten? Was kann man als Arzt und Psychotherapeut hier ausrichten? Der wahre Arzt müsste unter diesen Umständen eigentlich Politiker werden. Und so dachte ich, ich schreibe zumindest ein »politisches« Buch, gewissermaßen als offenen Brief an die Politik. Natürlich muss man mit dem »Infragestellen des Systems« sehr vorsichtig sein. Ist es womöglich auch hier so, dass unkontrollierte Eigendynamiken die Geschichte wie ein Pendel von einem Extrempol an den anderen treiben? Wir wurden Zeugen des Scheiterns der faschistischen und kommunistischen Diktaturen, jetzt erleben wir das Scheitern des Anarcholiberalismus. Droht nun womöglich die Öko-Diktatur? Wir sollten endlich lernen, den Weg der Mitte zu finden und zu halten. Das würde aber bedeuten: mehr Staat – ja –, aber vor allem besserer Staat. Wir müssen es schaffen, in kleinen Schritten ein lern- und reformfreudiges politischadministratives System zu konstituieren, das eine erheblich bessere demokratische Selbststeuerung der Gesellschaft ermöglicht. Es muss endlich verstanden werden, dass nicht einzelne Reformen das Thema sind, sondern die Reform der Reformfähigkeit. Sollte es gelingen, aus den Instabilitäten der großen Krise einen solchen qualitativen Um- und Aufbruch hervorgehen zu lassen, dann hätte sie sich tatsächlich zur großen Chance gewandelt. Die erste Aufgabe dieses neuen Systems wäre es, auf allen Ebenen der Gesellschaft Integrationsmomente zu schaffen bzw. zu stärken. Das Auseinanderdriften der Gesellschaft untergräbt ihre Konsens- und Kooperationsfähigkeit. Im Angesicht heraufziehender äußerer Pressionen und Bedrohungen,

Vorwort

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von der Ressourcenverknappung bis zur Klimakatastrophe, ist das eine fatale Entwicklung. Wie werden Menschen gemeinschaftsfähig und wie werden Gemeinschaften geschichtsmächtig? Können wir nicht doch irgendwie lernen, unser altes Primatenerbe der Gier nach Luxus und Status unter Kontrolle zu bekommen? Können wir nicht doch irgendwann lernen, besser zusammenzuarbeiten und unser gemeinsames Schicksal bewusster und geplanter zu gestalten? Das sind die zentralen Probleme, die wir in diesem Buch an der Wurzel packen wollen. Wir werden die Grundlagen und Mechanismen der Problementstehung analysieren und ein Bündel sehr konkreter und aufeinander abgestimmter Lösungsmaßnahmen erarbeiten. Abschließend versuchen wir uns an der Vision einer künftigen Kultur der Bildung und Weisheit, die eine elektronische Demokratie und eine automatisierte, bedarfsabhängig elektronisch regulierte Planwirtschaft zu Grundlage hat. Wenn es uns nicht bald gelingt, dem technischen Fortschritt auch einen wirklichen und nachhaltigen geistig-moralischen und sozialen Fortschritt an die Seite zu stellen, dann droht ein Zerfall von Gesellschaft und Kultur und ein soziales Szenario, wie es mit dem Begriff Brasilianisierung beschrieben wurde: schwerbewachte Luxusinseln der Reichen, umgeben von gesetzlosen Slums voller Elend und Gewalt. Der Weg der Mitte heißt, dass wir den Mut finden, die Fragen nach dem Neuen Menschen und der guten Gesellschaft wieder zu stellen. Und vor allem natürlich, dass wir beim Formulieren der Antworten die Lehren der Geschichte berücksichtigen. Wie ich versuchen werde zu zeigen, sind die Voraussetzungen und Chancen heute ganz andere als noch vor fünfzig Jahren. Alle Versuche, den Neuen Menschen mit der Reitpeitsche zu erzwingen, müssen scheitern – aber man kann Wege zu persönlicher Meisterschaft aufzeigen und verständlich machen, dass ein selbstbestimmtes Wählen und Gehen eines dieser Wege zur Steigerung des eigenes Glückes führt. Alle Versuche, den Menschen eine Ideologie zu oktroyieren, werden scheitern – aber man muss wenigstens ein kohärentes Weltbild als vorläufiges Orientierungsangebot formulieren, mit dem es gilt, sich kritisch auseinanderzusetzen. Alle Versuche, den am grünen Tisch ausgeheckten Plan einer guten Gesellschaft eins zu eins mit der Brechstange der Revolution in die Realität umzusetzen, werden scheitern – aber es müssen gezielt die Bedingungen der Möglichkeit einer kleinschrittigen Selbstorganisation der guten Gesellschaft geschaffen werden. Es geht nicht darum, die Vielfalt abzuschaffen. Aber wenn die Kräfte der Differenzierung überstark werden, dann muss man der überbordenden Vielfalt ein gleichrichtendes Feld unterlegen, um Differenzierung und Integration wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Ob wir all das können, weiß ich nicht, und ob wir es schaffen werden, noch weniger. Aber dass es möglich ist, dass das Potenzial dafür vorhanden ist, das will ich versuchen, in diesem Buch zu zeigen. Gibt es denn nicht schon viel zu viele Wie-rettet-man-Deutschland-und-dieWelt-Bücher? Was unterscheidet mein Herangehen von der Mehrzahl der vorlie-

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Vorwort

genden Ansätze? Etwas grob und ungerecht pauschalisierend könnte man diese Ansätze vielleicht in drei Kategorien einteilen. – Der ersten dieser Kategorien entstammen die Alles-hängt-mit-allem-zusammen-Bücher: Wenn alle Menschen die Verbundenheit aller Wesen und Erscheinungen des Universums ausreichend verinnerlichen würden, käme es zu einem breiten Bewusstseinswandel und alles würde sich zum Besseren wenden. Nun, manches, was in diesen Büchern steht, klingt gut und schön, aber aufs Ganze gesehen ist das alles zu diffus und zu wenig auf konkrete Maßnahmen ausgerichtet – abgesehen davon, dass man hier auch viel Falsches und sogar Gefährliches lesen kann. – Die zweite Kategorie sind die Experten-Bücher. Hier äußern sich Spezialisten bestimmter wissenschaftlicher Fachrichtungen sehr im Detail über Teilprobleme der Gesellschaft und fordern Einzelmaßnahmen: Die Steuerexperten fordern ein einfacheres Steuersystem, die Wirtschaftsexperten die Senkung der Lohnnebenkosten, die Bildungsexperten mehr Disziplin, die Moralexperten mehr Verantwortungsgefühl. So richtig und wichtig diese Ansätze im Einzelnen sind – aufs Ganze gesehen werden sie dem Systemcharakter unserer Welt nicht gerecht. Zum einen sind diese Spezialistenperspektiven meist zu feinkörnig und lassen nicht mehr erkennen, was für das reale Leben wirklich wichtig und wesentlich ist. Und zum anderen ist es, wie wir sehen werden, mit Einzelmaßnahmen nicht getan. – Unsere dritte Gruppe von Ansätzen schließlich könnten wir die Über-alleThemen-Bücher nennen. Hier häufen hochgebildete Autoren über allen großen Themen sehr geistreiche Reflexionen, Betrachtungen und Zitate auf. Das Problem ist nur: Die in diesen Häuflein vorfindlichen Aussagen sind, von Häuflein zu Häuflein betrachtet, überwiegend unverbunden, inkommensurabel oder gar widersprüchlich. Aus den Erörterungen des Leib-Seele-Problems etwa, so könnte man feststellen, würde eine Erkenntnistheorie folgen, die nicht zu den Reflexionen über Gott passt. Die Schwächen dieser drei Herangehensweisen werden von folgendem Gleichnis eingefangen. Vor vielen Jahren – ich kann die Quelle nicht mehr angeben – las ich davon, dass ein Hobbypilot aus der Vogelperspektive die Strukturen eines vorgeschichtlichen Ringwalls ausgemacht hatte, die den Bauern und Spaziergängern über Jahrhunderte verborgen geblieben waren. Sie stolperten aus der Nahperspektive über die Steinhaufen, ohne deren Zusammenhang und Bedeutung auch nur zu ahnen. Nun, unsere Esoteriker gehen so weit auf Distanz, bis sie auch den Mond und die Milchstraße noch in den Blick bekommen, um dann verzückt auszurufen »Es ist alles eins!« Die Experten studieren jahrzehntelang einen einzigen Steinhaufen und sind glücklich, wenn sie auch noch das letzte Sandkorn katalogisiert haben. Und unsere Über-alles-Schreiber wandern das ganze Gelände ab, aber sie beschreiben jeden Steinhaufen isoliert für sich und sind seelig, auch noch den letzten entdeckt zu haben.

Vorwort

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Was wir brauchen, ist das konstruktive Zueinander von Nah- und Fernperspektive: Ohne bestimmte Detailerkenntnisse aus der Nahperspektive kommen wir nicht weiter und ohne die Fernperspektive ist nicht zu entscheiden, welche Detailaspekte bedeutsam und einer Forschungsanstrengung wert sind. Ohne die Fernperspektive ist es insbesondere nicht möglich, die wirklich wesentlichen Momente in ihren Zusammenhängen abzubilden und zu einem kohärenten Gesamtbild zu ordnen. Warum ist ein solches Gesamtbild wichtig? Ja, ist es überhaupt möglich und sinnvoll? Ist denn nicht gerade »Postmoderne«? Haben uns nicht einige leichtfertige Intellektuelle zu erklären versucht, dass die Zeit der »großen Entwürfe« vorbei sei und wir uns mit der Zersplitterung der Welt endgültig abzufinden hätten? Nun, sofern es einem genügt zu unterhalten, geistreich zu scheinen oder auch nur nach dem Prinzip L’art pour l’art zu räsonieren, dann mag das Polieren von Gedankensplittern ausreichend sein. Wer aber aus drückendem Leid heraus den Anspruch nicht aufgeben kann, die Welt ein Stück besser zu machen, der ist auf kohärente Gesamtbilder angewiesen. Warum? Unsere Gesellschaft ist das, was man ein komplexes nichtlinear-dynamisches System nennt – wir werden all das noch ausführlich besprechen. »Nichtlinear« heißt unter anderem und in aller Kürze: Es gibt in diesem System viele Stellen, an denen man mit Veränderungen überhaupt nichts ausrichtet, und es gibt einige wenige Stellen – die sogenannten Hebelpunkte –, an denen man außerordentlich viel bewirken kann. Und das ist das Entscheidende. Die Entwicklung der Gesellschaft ist ein extrem breiter und träger Fluss. Wenn man überhaupt die Spur einer Chance haben will, die Grundrichtung dieses Flusses gezielt zu verändern, dann muss man alle Kräfte auf einige wenige, gut ausgewählte und in sich koordinierte Hebelmaßnahmen konzentrieren. Das ist der Ansatz, den ich mit meinem Buch konsequent verfolgen möchte, hierfür werde ich konkrete Vorschläge unterbreiten. Wir werden immer wieder weit auf Abstand gehen müssen und dabei die Gelegenheit nutzen, die wichtigsten Probleme von Leben und Gesellschaft einer grundsätzlichen kritischen Besprechung zu unterziehen – vom Sinn des Lebens über das Fortschrittspotenzial einzelner Wissenschaftsdisziplinen bis hin zur Frage nach einer Bürgerreligion. Es wird sich dabei zeigen, dass sich in vielen Bereichen Fehlentwicklungen haben ausbreiten können, die von Nahperspektiven-Experten, der breiten Öffentlichkeit und auch von vielen kritischen Journalisten unbemerkt geblieben sind. Ich behaupte, dass wir heute auf die wenigen wirklich wichtigen Fragen der Gestaltung des Lebens und der Gesellschaft Antworten geben können, die in einem Maß richtig und präzise sind, das für die Praxis ausreicht. Wie unser Ringwall-Gleichnis lehrt, ist das in erster Linie eine Frage des richtigen Abstandes, der angemessenen Körnigkeit in der Auflösung. Sollte dieses Buch Beachtung finden, dann werden natürlich die Nahperspektiven-Experten der verschiedenen Disziplinen an meinen Antwortvorschlägen unendlich viel auszusetzen haben. Dies könnte helfen, Detailfehler zu korrigieren, die der Text sicher in Fülle enthält.

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Vorwort

Aber das berührt nicht das Hauptanliegen meines Buches. Unser aller wahres Ziel ist es, unser persönliches Leben glücklicher und erfüllter zu gestalten und die Gesellschaft, in der wir leben, menschengemäßer und nachhaltig überlebensfähig zu machen. Und hierfür sollen meine Antwortvorschläge Orientierung und Hilfe bieten. Für diese Zielstellung gilt: ganzheitliche Kohärenz vor Übergenauigkeit im Detail (und vermutlich ist dies ein allgemein förderliches heuristisches Prinzip). Wer ein Gemälde genießen will, der sollte sich kein Operationsmikroskop vor die Augen schnallen. Möglicherweise fragen Sie sich längst, was ich mir eigentlich anmaße, ein Buch zu schreiben, das derart weit über den Tellerrand meiner Berufsdisziplin hinausreicht. Seit mehr als zwanzig Jahren beschäftige ich mich wissenschaftlich und praktisch mit den menschlichen Bedürfnissen und Emotionen, mit den Prinzipien der psychischen Veränderung, mit psychosomatischer Gesundheit und dafür förderlichen sozialen Bedingungen. Grundlagentheoretische Ausgangsbasis dafür waren von Anfang an Konzepte wie die folgenden: Theorien der Selbstorganisation und Evolution – insbesondere die Synergetik nach Hermann Haken, Theorie der komplexen adaptiven Systeme, andere Systemtheorien wie Kybernetik, Autopoiesis-Theorie und Radikaler Konstruktivismus, aber auch Ethologie und Evolutionspsychologie. So wurde ich früh zum Systemdenker, als der man ja immer versucht, die abstrakten Muster, die man in einem Bereich der Wirklichkeit findet, auf andere Bereiche zu übertragen. Ich konnte kaum anders, als mich über meine engeren beruflichen Themen hinaus zumindest im Groben mit sehr vielen Wissensbereichen zu beschäftigen, von den Wirtschaftswissenschaften über Politologie und Soziologie bis hin zur Philosophie. Komplexe Problemstellungen zu analysieren und auf den Punkt zu bringen, ist mir zur Leidenschaft geworden. Gesetzt, dass es ein Hauptziel von Politik und Gesellschaftsgestaltung sein sollte, eine möglichst große Zahl von Menschen glücklich zu machen, und dass psychologische Faktoren in allen Bereichen der Gesellschaft eine zunehmend beachtete Rolle spielen – Stichworte Neuroökonomie oder Sozialkapital –, dann wäre ich für mein Vorhaben ausreichend gerüstet. Es ist sinnvoll und berechtigt, aus einer Perspektive wie der meinen ein Buch zu den angesprochenen Themen zu schreiben. Gleichwohl bin ich mir des immensen Wagnisses bewusst, eine Art »Buch über alles« zu schreiben. Man wird nicht nur Fehler im Detail finden, auch in der einen oder anderen Grundsatzeinschätzung werde ich mich wohl irren. Wenn ich in 80 Prozent meiner Aussagen zu 80 Prozent richtig liege, wäre mein persönliches Ziel erreicht. Ganz bewusst wird sehr wenig zitiert. Eine differenzierte Auseinandersetzung allein mit den mir bekannten relevanten Ansätzen hätte bei der Breite der Thematik jeden Rahmen gesprengt. Natürlich gibt es zwangsläufig eine noch viel größere Anzahl mir unbekannter einschlägiger Autoren. Ein Buch wie dieses muss notwendig mehr den Charakter eines Essays tragen denn den eines vollständigen wissenschaftlichen Überblickswerkes.

Vorwort

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Aufs Ganze gesehen habe ich die Hoffnung, dass ich einer großen Zahl von Menschen, die unter den Verhältnissen ähnlich leiden wie ich, aus dem Herzen spreche. Auch wenn ich mich nicht scheuen werde, hier und dort harte Urteile zu fällen, so ist es doch mein größter Wunsch, mit diesem Buch zu den Bedingungen der Möglichkeit beizutragen, dass wir uns alle besser verstehen, dass wir wieder große Träume finden und lernen, bei ihrer Realisierung gedeihlich zusammenzuarbeiten. Ich glaube, dass unser Fortschritts- und Entwicklungspotenzial auf der Dimension Differenzierung/Individualismus auf vielen Ebenen weitgehend ausgeschöpft ist. Wenn wir Sehnsucht haben nach Sinnhaftigkeit, Fortschritt und Entwicklung, dann sollten wir in Dimensionen suchen, an die man Integration, Beziehung oder Lernen des Zusammenlebens schreiben könnte.

■ Die Kernaussagen auf einen Blick

Unser ganzes Universum und insbesondere die Gesellschaft, in der wir leben, ist ein komplexes, nichtlinear-dynamisches System. »System« heißt erst einmal, dass alles irgendwie mit allem zusammenhängt. Und mit nichtlinear sei zunächst verkürzt gemeint, dass die Stärke dieser Zusammenhänge nicht gleichmäßig verteilt ist: Es gibt Momente, die sehr stark zusammenhängen, und andere, die nur ganz schwach in Beziehung stehen. Dann gibt es Bereiche, die sich stark eigengetrieben verändern und entwickeln, und andere mit nur schwachen Eigendynamiken, die von den starken mitgerissen werden. Sofern solche stark treibenden Bereiche für die Mehrheit der Menschen negative Entwicklungen zeitigen, dann wollen wir die dafür verantwortlichen Momente als »Quellpunkte des Leids« bezeichnen. Ist es möglich, auf diese Momente einzuwirken, so dass sich die Entwicklung in positiver Richtung verändert, dann können aus den Quellpunkten des Leids »Hebelpunkte der Rettung« werden. Hochkomplexe, stark eigendynamische gesellschaftliche Entwicklungen lassen sich nur beeinflussen, wenn es gelingt, die Quellpunkte des Leids in Hebelpunkte zu verwandeln, indem man alle verfügbaren Kräfte auf entsprechende Hebelmaßnahmen konzentriert. An vielen Stellen (»Gießkannenprinzip«) und zögerlich nur mit halber Kraft (»Kleckern statt klotzen«) etwas zu verändern, sind sehr häufig gemachte Fehler, die oft nichts bewirken und kostbare Ressourcen verschleudern. Lassen Sie uns das durch ein etwas krudes, aber instruktives Gleichnis verdeutlichen – ich hoffe, Sie haben noch eine Schule durchlaufen, in der man das Fach Physik nicht einfach »abwählen« konnte. Dann werden Sie sich an folgenden Versuch erinnern: Man bohrt einen Draht durch ein Pergamentpapier, auf das dann Eisenfeilspäne gestreut werden. Wenn man nun ein elektrisches Feld erzeugt, indem man Strom durch den Draht leitet und dann sachte auf das Papier klopft, ordnen sich die Späne näherungsweise in Kreisen entsprechend den Feldlinien um den Leiter (s. Abbildung 1). Sie finden diese harmonische Ordnung so schön und wollen sie unbedingt erhalten. Doch zufällig kommen Sie an einen Schieberegler und schwächen das Feld ab. (Sie haben nicht aufgepasst und wissen gar nicht, welcher der vielen Regler auf dem Schaltpult für Ihren Draht zuständig ist.) Gleichzeitig springt die Zentralklimaanlage an und sorgt für Luftbewegung. Die Eisenfeilspäne drohen nun an vielen Stellen durcheinanderzugeraten. Welche Handlungsoptionen haben Sie? Sie könnten versuchen, mit Ihrem Kamm hurtig

Die Kernaussagen auf einen Blick

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Abbildung 1: Eisenfeilspäne, die sich im elektromagnetischen Feld eines stromführenden Leiters zu einem Ordnungsmuster konzentrischer Feldlinien formieren (Orear, 1982, S. 351)

die Feldlinien rundherum immer wieder gerade zu ziehen. Das wäre ermüdend und frustrierend. Und sobald die Klimaanlage noch eine Stufe höher schaltet, haben Sie keine Chance mehr. Viel besser wäre es, Sie würden auf Abstand gehen, die Zusammenhänge klären, den richtigen Regler finden und das Feld wieder verstärken. Dann fügen sich rundherum alle Späne ganz von allein in die richtige Ordnung, die Sie so lieben. Nun, so etwas wie das elektrische Feld für die Ordnung der Metallspäne gibt es für die gesellschaftliche Ordnung auch. Dieses Feld steht Phänomenen nahe, die man »Zeitgeist«, »öffentliche Meinung« oder »gesellschaftliches Klima« nennt. Es ist so ein Gefühl, so ein allgemeiner Eindruck, ob es mit einer Gesellschaft bergauf geht oder bergab. Ist dieses »Sinn-Verheißungs-Feld«, so wollen wir es nennen, stark, dann hat die Mehrheit der Menschen den Eindruck, dass es sinnvolle Ziele gibt, dass es mit der Erreichung dieser Ziele vorangeht, dass sich die Gesellschaft positiv ent-

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Die Kernaussagen auf einen Blick

wickelt und eine verheißungsvolle Zukunft hat, in der es einem selbst und den Kindeskindern besser gehen wird. In einem solchen Klima ist die Mehrzahl der Menschen bereit, um der Zukunft willen auf kurzfristigen Genuss zu verzichten und Eigeninteressen zugunsten des Gemeinwohls hintanzustellen. Je mehr das Sinn-Verheißungs-Feld aber zusammenbricht, desto kurzfristiger, lustbezogener und egoistischer orientieren sich die Menschen. Das Motto lautet nun »Nach mir die Sintflut« oder »Auf der Titanic hat die Kapelle auch bis zum Schluss gespielt«. Die Schüler wissen nicht mehr, warum sie lernen sollen, die Beamten werden korrupt und die Manager kassieren ab. In Analogie zu unserem Kamm können Sie nun eine Vielzahl von peripheren Einzelmaßnahmen ergreifen: Sie können den Rohrstock wieder in den Schulen tanzen lassen, anonyme Anti-KorruptionsTelefone einführen und die Abkassierer in Nadelstreifen vor Gericht zerren. Es wird alles nichts helfen. Zumeist sind es Strategien dieser Art, die von vielen Weltrettungsautoren und Politikern diskutiert werden. Stattdessen müssen wir das Gesamtsystem verstehen und die Regler finden, mit denen sich ein neues, starkes Sinn-Verheißungs-Feld für unsere Gesellschaft aufbauen lässt. Und das wären dann eben die gesuchten Hebelpunkte. Fassen wir nun zusammen, was bei dieser Suche herausgekommen ist. Der Leser mit Vorbildung mag diese Kernthesen gleich jetzt lesen, damit er entscheiden kann, ob das Buch ihm etwas Neues bietet. Anderenfalls könnte es sinnvoll sein, diese Thesen erst am Schluss zu lesen, da dann das Verständnis der zwangsläufig etwas verdichteten Aussagen leichter fällt. Von zentraler Bedeutung ist es, die zwei grundlegenden Antriebssysteme des Menschen zu differenzieren und in ihrer Funktionsspezifik zu verstehen. Das erste ist das System der Erbantriebe. Hier haben unter anderem unsere angeborenen Bedürfnisse nach Konsum und Status ihren Ursprung, die wir kurz und polemisch als Primaten-Ego bezeichnen wollen. Das zweite ist das System der Kulturantriebe. Allerdings ist uns hier nur das Potenzial zur Entwicklung geistigkultureller Bedürfnisse angeboren, nicht schon die Bedürfnisse selbst. Erst müssen wir uns ein Mindestmaß an kulturellen Inhalten aneignen und diese innerlich in eine harmonische Ordnung bringen, ehe das Bedürfnis erstarkt, diese Inhalte weiterzuentwickeln. Oberhalb einer bestimmten Schwelle können die Kulturantriebe dann bestimmend für das Leben eines Menschen werden – man kann leidenschaftlich für die Musik, für die Mathematik, die Philosophie oder für politische Ideen leben. Aus einem außengeleiteten Ego-Menschen ist nun ein innengeleiteter Kulturmensch geworden. Die Hauptmotoren des Kapitalismus sind unsere Erbantriebe, insbesondere die Gier nach Luxus und Status bzw. die Angst vor Verlust derselben. Und der Zentralmechanismus der bisherigen Gesellschaftsentwicklung besteht in der Wechselwirkung zwischen den folgenden beiden Faktoren: der Gier, die dem Primaten-Ego entspringt, und der Innovation im Bereich der Produktivkräfte, zuletzt vor allem befeuert durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Das Problem ist nun, dass beide Faktoren Wachstumsgrenzen unterliegen,

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die allmählich erreicht werden. Das Spektrum der angeborenen menschlichen Bedürfnisse ist beschränkt und die Möglichkeiten ihrer Befriedigung sind es auch. Gleichfalls unterliegt der wissenschaftlich-technische Fortschritt Grenzen. Auf vielen Ebenen läuft er bereits seit Jahren im Bereich sinkender Erträge. Es wird niemals möglich sein, unsere Gaumenbedürfnisse deutlich besser zu befriedigen, als heutige Supermärkte es tun. Ob Bekleidung, Reisen oder Wohnen – in allen grundlegenden Lebensbereichen reizen schon billige Massenangebote das genetisch festgelegte Spektrum des Genießens in hohem Maße aus. Die Vorfreude auf das nächste Golfmodell wird niemals die gleichen Antriebskräfte erzeugen, wie das Sparen auf den ersten VW Käfer es bei unseren Eltern tat. So ist es zwangsläufig, dass sich bei Menschen, die ihren psychischen Energiehaushalt überwiegend über den Konsum regulieren, Langeweile und Überdruss einstellen. Die Hauptmotoren des Kapitalismus beginnen zu stottern und auszufallen. Wie antwortet das System auf diese Situation? Nun, durch Überdifferenzierung, Überbeschleunigung, Überkommerzialisierung und Reiz-Primitivierung. Es wird immer schneller eine immer größere Fülle immer unsinnigerer Produkte auf den Markt geworfen, die immer unverschämter an immer primitivere Erbreize appellieren (vor allem in Sachen Sex und Gewalt). Dass dies natürlich mit einer Ressourcenverschwendung und Umweltzerstörung gewaltigen Ausmaßes einhergeht, sei hier nur kurz angemerkt. Immer weiter frisst sich die kapitalistische Verwertungsmaschine in die Gesellschaft hinein. Insbesondere im Medien-, Bildungs- und Kulturbereich führt die Kommerzialisierung zu dramatischen Abstürzen des Niveaus. Hier gilt: Wort schlägt Satz, Bild schlägt Wort, Gefühl schlägt Verstand. Es wird weniger gelesen und die neuen Medien transportieren immer weniger Wissen und immer mehr Informationsbruchstücke. Die nachwachsenden Generationen entwickeln sich – sehr prononciert formuliert – in Richtung flackerblickiger, lustsuchender, außenreizgetriggerter Reiz-Reaktions-Automaten. Sie haben nicht mehr die Zeit, durch innere Arbeit Eigensubstanz aufzubauen und starke, innengeleitete Kulturpersönlichkeiten mit ausgeprägtem Wirklichkeitssinn und hoher Urteilskraft zu werden. Überdifferenzierung und Zersplitterung vor allem im Bildungs- und Medienbereich, wachsender Individualismus, Mobilität, Multikulturalität und das Zerbröckeln traditioneller Integrationsinstanzen wie Religion und Kirche führen zum immer weitergehenden Verlust des Gemeinsamen und Verbindenden auf allen Ebenen der Gesellschaft. Geteiltes Wissen, gemeinsame Werte und Normen schwinden. Die Familien zerfallen, Arbeitnehmer werden zu Ich-AGs und Manager ziehen wie Söldner durch die Unternehmensruinen des Wirtschaftskriegs, auf der Suche nach der fettesten Beute. Überdifferenzierung, Beschleunigung in Verbindung mit einer immer dichteren informationstechnischen Vernetzung führen nun zu einer immensen Komplexitätssteigerung der psychosozialen Welt. Dies verschärft ein Problem, das wir als Guckloch-Problem bezeichnen wollen: Unser Bewusstseinsfenster ist sehr

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schmal – es wurde ja gezimmert zur Kontrolle von nur vier Gliedmaßen. Entsprechend sind wir unfähig, mehr als sieben Dingen gleichzeitig unsere Aufmerksamkeit zu schenken. Das schränkt natürlich unsere Fähigkeiten, mit komplexen Problemen umzugehen, dramatisch ein. Trotz aller Erkenntniswerkzeuge scheint es deshalb mehr als fraglich, ob wir auch nur die Spur einer Chance haben, ultrakomplexe natürliche Systeme wie das Gehirn oder das Immunsystem auch nur ahnungsweise zu verstehen. Entsprechend kommt die Forschung hier auch kaum vom Fleck, die meisten Debatten drehen sich mit immer neuen Begriffen in alten Kreisen. Und selbst am Erfassen artifizieller Komplexitäten wie dem politischen oder dem wirtschaftlichen System müssen wir scheitern. Auch hier drehen sich die meisten Debatten mit immer wieder neuen Begriffen in alten Kreisen: von Angebotspolitik zur Nachfragepolitik und wieder zurück, vom Liberalismus zum Protektionismus und wieder zurück. Jeder Akteur erfasst einen anderen einzelnen Wirkfaden in einem unendlich komplexen, kreiskausalen Wechselwirkungsknäuel und verabsolutiert seinen Ansatz. Entsprechend ist es kaum mehr möglich, zum Konsens in komplexen Fragen zu finden – ein beredtes Zeugnis dafür geben die abendlichen TV-Talkshows zu politischen Themen. Aber auch im Alltag führt die Engstirnigkeit, die aus dem Guckloch-Problem erwächst, oft zu Konflikten und Streit, zumeist in aufschaukelnder negativer Wechselwirkung mit selbstwertstabilisierenden Affekten aus dem Primanten-Ego. Oft raubt das der Auseinandersetzung den letzten Rest von Sachbezogenheit. Wir haben es hier mit zwei Erbhandicaps zu tun, die die gelingende Formierung von Kulturgemeinschaften extrem behindern, von der Familie über die Unternehmen bis hin zur internationalen Gemeinschaft. Durch unser enges Guckloch bleibt uns dann zumeist auch ein drittes wichtiges apokalyptisches Phänomen verborgen, das wir als Dysemergenz bezeichnen wollen. Das Ganze, so weiß die Systemtheorie, ist »mehr«, oder besser gesagt »anders«, als die Summe der Teile. Und je komplexer das Ganze wird, desto größer und schwerwiegender gerät auch dieses »mehr« oder »anders«. Das sind die »Eigendynamiken«, von denen bereits im Vorwort die Rede war. Dieses unberechenbare Entstehen von neuen ganzheitlichen Eigenschaften aus der komplexen Interaktion einer Vielzahl von Elementen heißt Emergenz. Und haben diese Eigenschaften unerwünschte, negative oder gar zerstörerische Wirkungen, dann wollen wir sie als Dysemergenz bezeichnen. Diese Dysemergenzen werden unter den Auspizien der Globalisierung immer stärker und haben immer zerstörerische soziale Wirkungen. Die gegenwärtige große Krise ist da nur der prominenteste Ausdruck. Ein wichtiges Phänomen der Dysemergenz ist das Versagen der Märkte infolge eines Vorrangigwerdens der Beachtung vor der Bewertung. Einerseits sinkt die autonome Urteilsfähigkeit breiter Bevölkerungskreise. Andererseits steigt die Zahl der materiellen und geistigen Produkte bzw. Angebote immer mehr, was den Entscheidungsdruck unter Zeitnot auf allen Ebenen vergrößert. So werden

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Produkte und Angebote immer weniger entsprechend einem begründeten Urteil ausgewählt, die Auswahl richtet sich stattdessen immer mehr nach dem Maß an Beachtung, das ein Produkt bzw. Angebot im Vorfeld schon auf sich gezogen hat. In der Hektik wird das Buch aus der Bestsellerliste gekauft, zusammenbrechend unter der Flut der Anträge wird das Forschungsvorhaben desjenigen Kollegen unbesehen durchgewunken, der schon bekannt und vielzitiert ist. Quantitative Faktoren gewinnen so die Oberhand vor qualitativen und Massenbeachtung ist nur durch Vereinfachung, Verkürzung oder gar Primitivierung der Inhalte und Reize erreichbar. Die Fähigkeit der Märkte, aus kollektiver Weisheit heraus Qualität zu gebären, sinkt. Stattdessen schaukeln sich Modewellen auf. Aus Kollektivintelligenz wird so Herdenblödheit. Kaum etwas könnte für eine Kultur zerstörerischer sein. Im Verbund mit anderen Faktoren der Dysemergenz führt dies außerdem dazu, dass die Gesellschaft auf allen Ebenen auseinandergetrieben wird: Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer, die Berühmten berühmter und die Vergessenen vergessener. Vor dem Hintergrund der ohnehin schwindenden Verbundenheit und Konsensfähigkeit schürt dies Konflikte und ein Umschalten auf brutale Ellbogenmentalität. Immer mehr Menschen leiden unter einem allgemeinen Dysstress- und Frustrationssyndrom, psychische Störungen nehmen zu, aber auch Drogenkonsum, Kriminalität und andere soziale Pathologien. In der Folge sinkt die kollektive Handlungsfähigkeit der Gesellschaft. Es ist kaum mehr möglich, grundlegende und notwendige Reformen umzusetzen, ohne dass dies zu starkem Widerstand bestimmter Gruppen führt, mit der Gefahr einer Spaltung der Gesellschaft oder ihres Zusammenbrechens qua Blockade lebenswichtiger sozialer Funktionen – man denke an die Streiks der Lokführer, Piloten oder Ärzte. Besonders fatal ist das im Angesicht herannahender äußerer Pressionen und Bedrohungen – Stichworte: Weltwirtschaftsrezession, Ressourcenverknappung, Terror, Klimakatastrophe. All das wird mit hoher Wahrscheinlichkeit Wohlstand kosten und Verteilungskonflikte auslösen. Die möglichen Folgen reichen bis zum Bürgerkrieg. Drei grobe Entwicklungsszenarios scheinen denkbar: Grundsätzlich hat das System wohl eine Neigung zu zyklischem Verhalten. Durch mehr oder weniger große Katastrophen in mehr oder weniger langen Abständen wird alles zerschlagen und die gesamte Entwicklung startet wieder bei Null. Zwischenhin scheinen aber auch längere Phasen einer polaren Stabilisierung möglich: wehrhafte Inseln der Reichen inmitten von Slums voller ohnmächtiger Elender (»Brasilianisierung«). Ich bin allerdings davon überzeugt und werde das in diesem Buch versuchen zu zeigen, dass wir grundsätzlich über das Potenzial verfügen, einen Ordnungsübergang in einen qualitativ anderen Betriebsmodus der Gesellschaft zu erreichen. Um Letzteres zu ermöglichen, müssen wir uns auf die drei Quellpunkte des

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Leids konzentrieren, die eben umrissen wurden: Primaten-Ego, Guckloch-Problem und Dysemergenz. Man kann zeigen, dass diese drei Quellmomente direkt oder indirekt zu einem Großteil der Menschheitsprobleme beitragen – bis hin zu sich aufschaukelnder Gewalt und Krieg. Ich schätze, dass sie für 80 Prozent aller Probleme zu 80 Prozent verantwortlich sind. Wenn es so etwas wie apokalyptische Reiter gibt, dann sind es diese drei. Setzt man spezifische Hebelmaßnahmen genau an diesen drei Punkten an und konzentriert man große gesellschaftliche Ressourcen darauf, dann könnte man meiner Überzeugung nach immens viel bewirken. Alle genannten Fehlentwicklungen und Missstände würden sich reduzieren – bis hin zu einem möglichen qualitativen Sprung in eine neue Gesellschaftsform. Über diese speziellen, gleich noch umrissenen Hebelmaßnahmen hinaus muss es generell auf vielen Ebenen um Dinge gehen wie: die Spreu vom Weizen trennen, sich auf das Wichtige und Wesentliche konzentrieren, Konsens erarbeiten, Integration und Konsolidierung statt Differenzierung, Qualität statt Quantität, Entschleunigung statt Beschleunigung, weniger statt mehr, Kreislauf statt Wachstum im materiellen Bereich, Tiefe statt Breite, leise statt laut, einen gemeinsamen Stock an Weisheit, Wissen und Kultur aufbauen, der über Generationen ganzheitlich weiterentwickelt wird. Was könnte das denn grundsätzlich heißen: »Ordnungsübergang in einen qualitativ anderen Betriebsmodus«? Nun, die Gesellschaft muss die Antriebsebene wechseln: Anstelle der Erbantriebe müssen die Kulturantriebe zu den Hauptmotoren der gesellschaftlichen Entwicklung werden. Dazu sind zwei Schwellen zu überschreiten: Beim Einzelnen muss die Ebene der Kulturantriebe so stark entwickelt werden, dass sie gegenüber den Erbantrieben die Führung übernimmt. Und die Mehrzahl der Gesellschaftsmitglieder muss in diesem Sinne vom Ego-Menschen zum Kulturmenschen reifen. Dann würde der materielle Konsum nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. In fernerer Zukunft könnte die Gesellschaft durch automatisierte Fabriken mit einer begrenzten Palette von Konsumgütern versorgt werden, die alle wichtigen Bedürfnisse nahezu perfekt befriedigen. Die Gier nach Status und Macht bzw. die Angst vor persönlicher Erniedrigung wären sehr stark reduziert – das würde Konsensfindung und Kooperation immens erleichtern. Die Menschen hätten es gelernt, ihre Ego-Impulse zu beherrschen und sie der gemeinsamen Sache unterzuordnen. Glück und Erfüllung würde die Mehrheit der Menschen nun suchen in Bereichen wie Wissenschaft, Technik, Kunst, Kultur, der Innerlichkeit, beispielsweise in Form von Meditation, Beziehung und Zusammenleben. Gemäß den Erkenntnissen der Glücksforschung wäre dies eine sehr viel zufriedenere Gesellschaft, die den Mechanismen der Lust-Gewöhnungs-Frust-Spirale weitgehend entkommen ist. Lassen Sie uns nun die drei Hebelmaßnahmen umreißen, die es erlauben, die Entwicklung in einer solchen Richtung umzulenken. Wir verfügen heute über alle Grundlagen, Techniken und pädagogischen Prinzipien, die erforderlich sind, um eine Mehrheit zumindest der heranwachsenden Menschen zur eigenmoti-

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vierten und selbstbestimmten Selbstentwicklung zu motivieren – mit folgenden drei Hauptzielen: 1. Erlangen von Souveränität im Umgang mit unseren Erbantrieben. Es geht darum, die evolutionspsychologischen Hintergründe unseres Primaten-Ego zu verstehen und insbesondere Einsicht dahinein zu erlangen, dass ein bedeutender Teil der dort entstehenden Gefühle und Verhaltensimpulse für die Formierung von Kulturgemeinschaften und den eigenen Glücksanspruch als Kulturwesen zerstörerisch ist. Man kann von einer höheren Ebene aus lernen, mit diesen Gefühlen und Impulsen so umzugehen, dass nicht förderliche eingegrenzt und förderliche verstärkt werden (»Kognitive Modulation« und »Kulturelle Aufhebung«). 2. Erlangen von Souveränität im Umgang mit unseren Erkenntniswerkzeugen, Einsicht in ihre Möglichkeiten und Grenzen. Hier gilt es insbesondere, sich des Guckloch-Problems bewusst zu werden: Ich sehe nur einen winzigen Ausschnitt des Ganzen und andere sehen andere Ausschnitte. Und weiter dann im Zusammenhang mit den Grundlagen moderner Erkenntnistheorie: Alle meine Sichtweisen und Konzepte sind Hypothesen und Konstrukte, die keine absolute Gültigkeit besitzen. Man kann lernen, zu den eigenen mentalen Modellen kritische Distanz auszubilden, mit ihnen kreativ zu spielen, die Modelle anderer mit einzubeziehen und im konstruktiven Dialog etwas Gemeinsames zu entwickeln. 3. Entwicklung einer ausreichenden Zahl starker Kulturantriebe. Es gibt kaum eine Einsicht, die für das Leben des Einzelnen und der Gesellschaft bedeutsamer sein könnte als die folgende: Glück und nachhaltige Lebenszufriedenheit speisen sich zu 80 Prozent aus inneren Quellen, die jeder aufbauen und kultivieren kann. Das ist uralte Menschheitserfahrung, die man in allen Weisheitstraditionen nachlesen kann. Man kann heute von festen Fundamenten aus sehr schlüssig argumentieren, warum das so ist. Und es gibt auch eine Vielzahl von Studien, die das belegen. Jeder kann einsehen und bewusst erfahren, wie flüchtig die äußeren Quellen des Glücks sind. Jeder kann einsehen und erfahren, wie innere Quellen von Glück entwickelbar sind und wie erfüllend und anhaltend die daraus resultierende Lebenszufriedenheit ist. Hier gilt es, förderliche Geisteshaltungen zu verinnerlichen und gezielt geistige Bedürfnisse auf der Basis der Aneignung und Einübung kultureller Schätze zu entwickeln. Das kann man lehren, lernen und trainieren. Diese und alle anderen Inhalte, die für ein gelingendes Selbstmanagement zentral sind, habe ich versucht im Konzept »Persönliche Meisterschaft« stimmig zu integrieren. Dies ist in eigenständigen Büchern ausführlich dargestellt und wird hier zumindest grob umrissen. Persönliche Meisterschaft ist nichts, was einem zufällt, dessen Erwerb sich nebenbei in ausreichender Weise mitereignet. Vielmehr bedarf dies einer speziellen Unterrichtung und eines langen Trainings. Am besten wäre es, jedem Heran-

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wachsenden die Freude an der bewussten Selbstentwicklung von Kindesbeinen an ins Herz zu pflanzen – die Entwicklung persönlicher Meisterschaft sollte zu einer universellen und lebenslangen Berufung werden. Im Gegensatz zum Fernen Osten gibt es bei uns kaum Traditionen einer solchen Kultur der Innerlichkeit. Zu jedem DVD-Recorder erhalten wir eine Bedienungsanleitung, nur nicht für unser Gehirn. Es ist gar keine Frage, dass dies in die Schulen gehört, und zwar an ganz zentraler Stelle. Wir brauchen ein Schulfach »Persönliche Meisterschaft«, das sich aus Ansätzen wie dem Fach »Lebenskunde – Ethik – Religion« in Brandenburg oder dem Fach »Glück« an der Heidelberger Willy-Hellpach-Schule herleiten könnte. Ich kann gar nicht oft genug betonen: All das ist nicht nur rational und transparent, sondern auch eigennützig. Es dient nachvollziehbar der Förderung des persönlichen Glücks. Weder geht es darum, sich für die Gesellschaft, für die Zukunft oder für Gott aufzuopfern. Das ist kein Wischiwaschi und keine Esoterik – man kann die hier zu vermittelnden Inhalte sehr präzise auf den Punkt bringen und begründen. Und es ist auch nicht Ideologie oder Indoktrination – immer steht die Aufforderung im Hintergrund, sich diese Inhalte kritisch anzueignen, wobei kreative Eigenwege erwünscht sind. Damit hätten wir also unsere erste Hebelmaßnahme: das Schulfach »Persönliche Meisterschaft«. Wie im Buch dargestellt wird, hätte das segensreiche Wirkungen weit über den in dieser Zusammenfassung diskutierten Kontext hinaus. In einen engen Zusammenhang damit ist unsere zweite Hebelmaßnahme zu stellen – sie zielt auf die Kompensation des Guckloch-Problems und hat darüber hinaus allgemein Integrationsfunktion: die Erarbeitung eines Weltbildes der Dritten Kultur sowie eines Kanons der wichtigsten Kulturschätze (der Begriff »Dritte Kultur« bezieht sich auf die Integration der naturwissenschaftlichen und der geisteswissenschaftlichen Kultur auf Basis des Systemdenkens). Wenn wir mit der Orientierung durch unsere kleinen Gucklöcher irgendeine Chance haben wollen, zueinander zu finden, dann müssen wir unserer immer komplexer werdenden Wirklichkeit ein gemeinsames Koordinatensystem unterlegen. Es muss sichergestellt werden, dass bestimmte weltbildrelevante Grundinhalte, Grundbegriffe, Normen und Essentials der Kultur allen Bürgern zur Kenntnis gebracht werden (womit nicht gesagt ist, dass sie sie auch akzeptieren und vertreten müssten). Schon in den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen darf sich der Trend der Zersplitterung und Spezialisierung nicht ungebremst fortsetzen – vielmehr sind Bemühungen um Integration, Konsens- und Kanonbildung angesagt. Und auch auf der Weltbildebene müssen wir uns dieser Anstrengung stellen. Ich glaube, dass es möglich ist, die Grundkonstituanten unserer Wirklichkeit grob in ein einigermaßen kohärentes Gesamtbild einzuordnen. Mit größter Wahrscheinlichkeit würde sich dieses Weltbild zwischen den folgenden Eckpfeilern bewegen: Das Grundparadigma ist die Evolution. Alles in unserem Universum bewegt und entwickelt sich. Auch und gerade die Strukturen

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unserer Erkenntnis. Aber: Unter anderem aufgrund der Festgelegtheit unserer Sinnesorgane gibt es prinzipielle Grenzen des Erkennens. Der Urgrund des Seins ist uns prinzipiell nicht zugänglich, weder die fortgeschrittenste Wissenschaft noch die esoterischste Erfahrung wird je die letzten Fragen der Existenz beantworten können. Dieser erkenntnisjenseitige Raum ist das Reich der Religion – Wissenschaft und Religion schließen sich nicht aus, sie ergänzen sich. Beide können auf ihre je irreduzible Weise beim Leben und Überleben hilfreich sein. Richtig verstanden, geraten sie sich gar nicht ins Gehege. Gewiss würden dem nicht alle zustimmen, aber etwas in der Art ließe sich wohl mehrheitsfähig machen. Und etwas in der Art müssen wir unseren Kindern und Jugendlichen in den Schulen anbieten: Es ist verwirrend, dort lediglich Theorien, Konzepte und Religionen in großer Zahl nebeneinander zu stellen. Wir müssen uns dazu durchringen, einen grundlegenden Ordnungsrahmen als einen Vorschlag anzubieten: Das ist die Sichtweise, die wir derzeit für die stimmigste ganzheitliche Deutung unserer Welt halten. Das ist für die nächsten sieben Jahre der staatlich anerkannte Vorschlag. Setzt euch kritisch damit auseinander, in sieben Jahren verhandeln wir neu. Hinzu käme ein Kanon an Kultur- und Weisheitswissen, der zu diesem Weltbild in Beziehung gesetzt werden kann. So hätten wir eine gemeinsame Bezugsbasis, die Konsensfindungen auf allen Ebenen der Gesellschaft erleichtern würde. Wir müssen also unser Schulfach »Persönliche Meisterschaft« zum Schulfach »Persönliche Meisterschaft und Weltbild der Dritten Kultur« erweitern. All das mag heute irgendwie realitätsfremd oder gar lächerlich klingen – aber wenn wir nicht Schritte in dieser Richtung gehen, werden wir als Kultur nicht überleben. Wir müssen eine Kommission, eine Art Rat der Weisen einberufen, der entsprechende stufenweise Konsensbildungsprozesse institutionalisiert. Aus zum Teil ähnlichen Erwägungen heraus wurde in Frankreich ein Identitätsministerium eingerichtet. Man muss einen Anfang machen – wie provisorisch der auch immer aussehen mag. Dann kann ein Entwicklungsprozess in Gang kommen, der über Korrekturen und Annäherungen in einem jahrelangen mehr oder weniger breiten Diskussionsprozess zu sehr viel besseren Resultaten führt. Meinen Startvorschlag für eine kohärente Gesamtschau der Welt werde ich in diesem Buch skizzieren. Es wird seit langem von führenden Denkern gesehen, dass die liberalen Demokratien von einem Sozialkapital zehren, dass von früheren Kulturen angespart wurde. Insbesondere unser Schulfach »Weltbild der Dritten Kultur und persönliche Meisterschaft« würde entscheidend dazu beitragen, dass die Voraussetzungen der Gemeinschaftsfähigkeit in den Tiefen der Gesellschaft, im Unbewussten der Menschen reproduziert werden. Nur unter dieser Voraussetzung kann sich die Gesellschaft Liberalität an ihrer Oberfläche leisten. Nur dann zeigt eine ausreichende Zahl von Menschen spontan ein ausreichendes Maß an gemeinschaftsförderlichem Verhalten. Sorgt eine Gesellschaft nicht für die Gesundheit ihres Innenskeletts, dann zerfällt sie entweder oder sie bekommt irgendwann von einem Diktator ein Außenskelett verpasst.

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Unsere ersten beiden Hebelmaßnahmen zielen auf Veränderungen an den Systemelementen. Aber ein System besteht nicht nur aus Elementen, sondern auch aus Strukturen. Veränderungen an den Elementen eröffnen Möglichkeitsräume für neue Strukturen. Aber es ist eine Dialektik – auch die Strukturen wirken auf die Elemente. Wir müssen mit unseren Hebeln auf beiden Ebenen ansetzen. Für die Maßnahmen eins und zwei – persönliche Meisterschaft und Weltbild der Dritten Kultur – liegen die Inhalte vor. Sofern sich ein realpolitischer Weg findet, wären sie im Prinzip innerhalb weniger Jahre umsetzbar. Für die jetzt zu skizzierende, auf die Strukturen zielende Hebelmaßnahme drei lassen sich konkrete und stabile Inhalte viel weniger gut angeben. Hier geht es eher darum, soziale Prozeduren zu institutionalisieren. Betrachtet man die Evolution von tierlichen Organismen, so stellt man fest, dass der Überlebenserfolg nicht in erster Linie auf die Verbesserung der Leistungen einzelner Arbeitsorgane zurückzuführen ist, sondern vielmehr auf die Verbesserung jenes Systems, dass das Zusammenspiel der Organe, die innere Regulation des Gesamtorganismus besorgt: das Nervensystem. Parallel zur Evolution der Arbeitsorgane wurden auch Struktur und Funktion der Regulationsorgane immer wieder an die neuen inneren und äußeren Bedingungen angepasst. Betrachtet man die Gesellschaft als einen »sozialen Organismus«, so müssten auch die gesellschaftlichen Regulationsorgane, das politisch-administrative-System, immer wieder systematisch weiterentwickelt und angepasst werden. Dass genau dies nicht erfolgt, ist die Ursache für den hier benannten dritten Quellpunkt des Leids, die immer wieder und immer weiter ausufernden sozialen Dysemergenzen. Nach dem Krieg wurde das politische System der Bundesrepublik aus gutem Grund auf Stabilität angelegt. Aber das konnte natürlich nur über eine begrenzte Zeitspanne gut gehen. Heute zeigen Selbstblockade und Lähmung in der Politik immer groteskere Züge, man denke nur an das monatelange Gefeilsche um Kleinstdetails wie die Pendlerpauschale. Mit welchen Hebelmaßnahmen wäre dem beizukommen? Nun, zunächst einmal muss man auf breiter Front lernen, dies nicht nur als ein Problem wahrzunehmen, sondern hierin das vielleicht relevanteste Problem überhaupt zu erkennen. Im nächsten Schritt ginge es darum, erst einmal eine Wissenschaft zu gründen, die sich diesem Problem auf eine angemessene Weise nähert. Zwar ist der Begriff Verwaltungswissenschaft in Deutschland bekannt, aber sie fristet ein Schattendasein und ist überwiegend juristisch geprägt, was heute nicht mehr als angemessen gelten kann. Hier stößt man auf groteske Fehlentwicklungen, die eben nur ins Auge springen, wenn man auf ganz große Distanz geht und sehr grundlegende Fragen stellt. Eine komplexitätstheoretisch fundierte, interdisziplinäre Verwaltungs- und Kooperationswissenschaft zu begründen und maximal zu fördern, wäre neben der Ermöglichung der kontrollierten Kernfusion eine der ganz zentralen Fragen des Überlebens unserer Gattung. Stattdessen wird die Hirnforschung zur Leitwissenschaft unserer Zeit ausgerufen. Zeitschriftenartikel, worüber auch immer,

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kommen kaum noch ohne fMRI-Bilder aus und werfen mit Worten wie »Amygdala« oder »frontoorbitaler Cortex« um sich. Streng genommen gibt es noch gar keine Wissenschaft vom Gehirn, weil es in Bezug auf komplexere Hirnfunktionen nichts gibt, was den Namen Theorie wirklich verdient. Genau besehen ist alles, was die Hirnforscher verkünden, entweder Frucht eines Versuch-undIrrtum-Lernens, bloßer Befund medizintechnischer Fortschritte oder Ergebnis psychologischer Forschung, das dann in vieldeutige neuronale Befunde hineininterpretiert wurde. Angesichts der immensen Medienpräsenz der Hirnforscher muss man es wohl einmal deutlich aussprechen: Der Beitrag der Beforschung des Gehirns im engeren Sinne zur Lösung wirklich lebensrelevanter Probleme liegt in der Nähe von Null. Und jeder, der etwas von Erkenntnistheorie und Komplexität versteht, der weiß, dass sich daran in den nächsten hundert Jahren mit größter Wahrscheinlichkeit nichts Wesentliches ändern wird. Wenn es je nackte Kaiser gab, dann sind es die modernen Hirnforscher. Allerdings ist es ihnen perfekt gelungen, ihre Adamskostüme zur lukrativen Modewelle aufzuschaukeln. Nichts gegen Bekleidungsmoden – nur wird in diesem Falle wertvolles Geld verschleudert und von den eigentlich wichtigen Fragen abgelenkt, zum Beispiel von der Etablierung einer freilich viel weniger medienwirksamen Verwaltungswissenschaft, die diesen Namen verdient und ihre zentrale Funktion erfüllt: ein systematisches und zentral ausgewertetes Organisationenlernen zu institutionalisieren und anzuleiten. Wir müssen lernen, entsprechend der Popper’schen Sozialtechnik der kleinen Schritte ein politisch-administratives System zu konstruieren, das Dysemergenzen in den Arbeitsbereichen der Gesellschaft erkennen und unter Kontrolle bringen kann und sich zugleich selbst so weiterentwickelt, dass es diese Funktion nachhaltig zu erfüllen vermag. Ganz sicher müsste ein solches politisch-administratives System sehr stark auf modernen Informations- und Kommunikationstechnologien basieren – Stichworte E-Governance und E-Democracy. Und die nächstliegende konkrete Aufgabe wäre dann sicher eine Föderalismusreform, die diesen Namen auch wirklich verdient. Mittel- und langfristig wird es dann darum gehen müssen, die Weichen vom kapitalistischen Konsumismus in Richtung einer postmaterialistischen Kulturgesellschaft zu stellen. Unter der Langzeitwirkung unserer drei Hebelmaßnahmen würden die Voraussetzungen dafür entstehen, dass ein solcher grundlegender Wechsel im Antriebsmodus der Gesellschaft gelingen kann. – Ein erster Grund für die Notwendigkeit dieses Schrittes wurde schon ausgeführt: Die Antriebskräfte des Kapitalismus erschöpfen sich. Unsere angeborenen Grundbedürfnisse sind heute bereits mit billigen Massenartikeln auf ausreichendem Niveau zu befriedigen. Wo die Mittel für sich bis ins Bizarre steigernden Luxus nicht zur Verfügung stehen, halten Gewöhnung, Langeweile und Überdruss Einzug. – Zweitens: Aufgrund von allgemeiner Ressourcenverknappung und Globalisierungsfolgen werden solche Luxusmittel für immer breitere Kreise immer

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weniger zur Verfügung stehen. Vieles spricht dafür, dass sich die Masse der Gesellschaft künftig im materiellen Lebensstandard wird drastisch zurückschrauben müssen. In dieser Situation müssen die Menschen befähigt werden, ihren psychischen Energiehaushalt über Kulturantriebe zu regulieren, wenn sie nicht depressiv werden wollen. – Drittens: Das Ende des Konsumismus wird weiterhin befördert durch die langfristige systemimmanente Tendenz des Kapitalismus, den Ast abzusägen, auf dem er sitzt. Konkurrenz erzwingt Rationalisierung. Rationalisierung befördert die Automatisierung, die schließlich bis auf wenige Reststellen in Forschung, Entwicklung und Dienstleistung die klassischen Arbeitsplätze vernichtet. Und Roboter kaufen keine Roboter. Grundsätzlich wäre es vorstellbar, dass eine Gesellschaft der Kunst, Kultur, Wissenschaft und Weisheit von automatisierten Fabriken ausreichend mit materiellen Lebensgrundlagen versorgt wird. – Viertens: All dies wird wohl auch ökologisch und klimapolitisch erzwungen werden. – Und fünftens schließlich: Es könnte auch unsere Chancen erhöhen, zu mehr Glück und Sinnerfüllung im Leben zu finden. Was heißt das nun? Revolution? Das ganz sicher nicht. Gewalt sät immer Primitivierung und nicht Bildung oder Kultur. Angesagt sind heute Evolution und organische Entwicklung: das Neue im Schoße des Alten wachsen lassen. Wir brauchen noch auf lange Sicht einen hochleistungsfähigen und international konkurrenzfähigen kapitalistischen Sektor, der in die Weltwirtschaft integriert bleibt und sich ihren Spielregeln unterwirft (soweit man diese nicht vielleicht doch per internationaler Absprache ändern kann). Aber wir sollten nicht versuchen, die immer größer werdende Zahl von Menschen, die wahrscheinlich aus diesem Sektor herausfallen wird, in dessen konsumistischer Kultur zu belassen. Das kann nur demütigen. Als Harz-IV-Empfänger kann man dem Porsche-Fahrer nur frustriert hinterherschauen und sich minderwertig fühlen. Wir müssen im Schoße des kapitalistischen Sektors der Gesellschaft einen Kultursektor wachsen lassen, in dem nicht versucht wird, ein Maximum an Konsumgütern zur Verfügung zu stellen, sondern ein Maximum an Bildungsmöglichkeiten sowie an Kultur- und Glücksgütern, verbunden mit einer Umwertung der Werte. Wenn es ginge, nach Möglichkeit und Belieben zwischen beiden Sektoren zu wechseln, wäre das eine andere Form der bedingungslosen Grundsicherung, wie sie von Götz Werner popularisiert wird. Wachsende Teile dieses Kultursektors könnten eine einzige große elektronische Fernuniversität werden und ein Hort der Ausbildung in persönlicher Meisterschaft. So würde der Kultursektor zudem eine Stätte der Weiterbildung sein, die genau das anbietet, was die kommende Wissenswirtschaft im kapitalistischen Sektor am dringendsten braucht. Auf Basis der Ausbildung in persönlicher Meisterschaft könnte es hier zudem gelingen, neue Formen und Qualitäten des menschlichen Zusammenlebens und

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Zusammenarbeitens zu etablieren, was sich auch auf die Leistungsfähigkeit des kapitalistischen Sektors positiv auswirken würde (Stichwort Teamfähigkeit). Inhalte wie die hier angesprochenen sollten nach breiter Diskussion in eine neue soziale Vision integriert werden, die sehr zum Neuaufbau eines starken Sinn-Verheißungs-Feldes beitragen könnte. Wir sollten versuchen, eine Modellgesellschaft zu werden, die einen Vorschlag macht, wie menschliches Zusammenleben in einer postmaterialistischen Ära glücken kann. Eine Gesellschaft, die ihren Sinn darin sieht, dem menschlichen Bewusstsein auf möglichst breiter Basis einen möglichst differenzierten und möglichst intensiven Selbstgenuss zu ermöglichen (und dies ist eben vor allem im Bereich sozialer und geistig-kultureller Bedürfnisse möglich). Und die dafür Sorge trägt, dass sich dieses sich selbst genießende Bewusstsein maximal in Raum und Zeit ausbreiten kann (was sehr langfristig beispielsweise auch Vorsorge hinsichtlich ultimativer kosmischer Bedrohungen einschließt – Stichwort Besiedelung des Mars). Das Motto lautet: Radikal denken – in kleinen Schritten handeln.

■ Teil 1: Probleme und Grundlagen

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Teil 1: Probleme und Grundlagen

1.1 Die Sigmoidkurve: Dynamik, Nichtlinearität, Emergenz und Dysemergenz Systematisch gesehen, schildert man ja zuerst das Problem, dann die Ursachen und schließlich die Lösung. Wir müssten also jetzt die einführend angestimmten Klagegesänge wieder aufnehmen und sie über viele Seiten fortsetzen. Aber das wäre ziemlich deprimierend und deshalb schlage ich vor, wir mischen die Punkte »Problem« und »Ursachen« ein wenig. So können wir zumindest zwischendurch einmal den Blick von den Missständen abwenden und zum Beispiel interessantes Grundlagenwissen einführen, an das wir dann später vertiefend anknüpfen können. Gehen wir einmal ganz weit auf Abstand und betrachten die Erde mit dem Astronautenblick. Da ist die bunte, wabernde dünne Schicht, die die Erde umgibt. Wir sehen die Meeresströmungen und Wellenmuster, die Dynamik der Wolkenformationen, wir ahnen das Gewimmel der Lebewesen unter den grünen Pflanzenteppichen. Wir sehen nachts die Lichter der großen Städte blinken und fast auch der dicken Verkehrsadern, die die Kontinente durchziehen. Gibt es zwischen den so unterschiedlichen Prozessen in diesem wabernden Ganzen irgendwelche Gemeinsamkeiten? Na ja, tun wir nicht überrascht – unter Gebildeten hat sich weithin herumgesprochen, dass es sie gibt. Zunächst einmal finden wir überall Dynamik, Nichtlinearität und Instabilität. Alles ist in einer sich beschleunigenden oder abbremsenden Bewegung – man nennt das nichtlineare Dynamik. Denken Sie einmal an die Heizung Ihres Hauses. Ist sie ausgeschaltet, bleibt die Temperatur im Haus einigermaßen stabil, wenn auch auf niedrigem Niveau. Auf höherem Niveau stabil bleibt die Temperatur dann, wenn die Heizung eingeschaltet ist und über einen Thermostaten verfügt. Ein solcher Regler etabliert, technisch gesprochen, eine negative Rückkoppelung: Steigt die Temperatur über den eingestellten Wert, wird die Heizung gedrosselt, fällt sie darunter, wird sie hochgefahren. Sollte der Regler kaputt sein, dann brummt die Heizung einfach mit gleicher Leistung und unabhängig von der Temperatur weiter. Jetzt kommt es zu einem linearen Anstieg der Temperatur: Die Temperaturkurve ist eine gerade ansteigende Linie über der Zeitachse. Pro Zeiteinheit steigt die Temperatur immer um den gleichen Betrag. Stellen Sie sich nun vor, dass ein inkompetenter Heizungstechniker – und davon wird es in den nächsten Jahren wohl immer mehr geben – die Systemelemente falsch verknüpft. Er polt den Thermostaten gerade andersherum: Wenn die Temperatur steigt, wird die Heizung nicht herunterreguliert, sondern noch weiter hochgefahren (technisch: positive Rückkoppelung). Nun steigt die Temperatur nicht mehr in Form einer geraden aufsteigenden Linie, sondern als sich immer stärker nach oben krümmende Kurve, das heißt, sie steigt nichtlinear. Pro Zeiteinheit wird der Temperaturzuwachs immer größer. Ist die Heizung auch noch ansonsten fehlerhaft gebaut, kann das durchaus zur Katastrophe führen und Ihr ganzes Haus brennt nieder. Nach einem Peak fällt die Temperaturkurve dann natürlich steil ab.

Die Sigmoidkurve: Dynamik, Nichtlinearität, Emergenz und Dysemergenz

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Nun, in unserer komplexen natürlichen Lebenswelt steht ja tatsächlich fast alles mit allem in Verbindung. Viele der sich hier ergebenden Wechselwirkungen sind so stark, dass sie Rückkoppelungsprozesse etablieren, die dann Entwicklungsdynamiken beeinflussen oder gar neue in Gang bringen. Stabilität infolge von negativer Rückkoppelung oder angenähert lineare Prozesse sind an besondere Bedingungen gebunden und weniger verbreitet. Wir finden sie in abgegrenzten Systemen wie Lebewesen, die speziell von der Evolution »konstruiert« wurden. Die Regulation Ihrer Körpertemperatur und Ihres Blutdruckes zum Beispiel wird durch Mechanismen bewirkt, die in der Grundstruktur durchaus Ihrer Heizungsregelung ähneln. Weitaus verbreiteter aber sind positive Rückkoppelungen und entsprechende nichtlineare Dynamiken. Wir finden sie auf allen Ebenen des Seins, sie spielen eine zentrale Rolle bei der Evolution des Universums, und zwar eine janusköpfige. Auf der einen Seite zeigen sie sich als zentrales und unverzichtbares Moment von Selbstorganisationsprozessen. Wie wir noch besprechen werden, ist Selbstorganisation der universelle kreative Mechanismus in Natur, Geist und Gesellschaft. Hierbei kommt das Neue oft sprunghaft in die Welt: qualitativer Sprung, Emergenz, Phasenübergang, Fulguration, Aha-Erlebnis oder Einfall sind Begriffe, die diesem Zusammenhang geprägt wurden. Treibsatz dieser Sprünge sind die in Rede stehenden, selbstverstärkenden positiven Rückkoppelungen. Natürlich werden diese Mechanismen gerade im menschlichen Gehirn, dem heißesten Kreativitäts-Autoklaven im Universum, ganz speziell genutzt: Die dynamischen funktionellen Musterbildungen innerhalb großer Nervenzellverbände haben einen hochgradig nichtlinearen Charakter. Die andere Seite des Januskopfes ist Ihr brennendes Haus. Nichtlineare Dynamiken können schnell aus dem Ruder laufen, Schranken durchbrechen und Zerstörungen anrichten. Begriffe aus diesem Kontext wären zum Beispiel Teufelskreis, Auf- oder Abwärtsspirale, Resonanzkatastrophe, Aufschaukelung, Dominoeffekt oder Kettenreaktion. Solche Effekte stellen sich oft als Funktionsstörung ein, wenn spontan und unbeabsichtigt zwischen bestimmten Ebenen Wechselwirkungen entstehen – und das passiert eben in einer immer vernetzteren Welt immer öfter. Man findet sie auf allen Ebenen des Seins – bei psychischen Störungen spielen sie eine zentrale Rolle, aber auch bei vielen gesellschaftlichen Fehlentwicklungen, vom Börsencrash bis zur immer weiter aufgehenden Schere zwischen Arm und Reich. Die letzen beiden Punkte werden wir unter »Instabilität und Volatilität« und »Matthäus-Effekt« noch genauer besprechen. Hier zeigt sich die alte Weisheit des ganzheitlich-systemischen Denkens: Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile. Wenn Elemente in großer Zahl miteinander in Wechselwirkung treten, dann entstehen unerwartet neue, ganzheitliche Prozesse, Eigenschaften und Qualitäten, die von den Elementen her nicht vorausberechenbar waren. Der moderne systemwissenschaftliche Oberbegriff für all das ist Emergenz. Auf der gesellschaftlichen Ebene sind solche Emergenzeffekte sehr oft mit negativen Auswirkungen verbunden. Hierfür wollen wir den Begriff

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Dysemergenz einführen, er wird uns auf den folgenden Seiten immer wieder begegnen.

Abbildung 2: Sigmoidkurve als prototypisches Verlaufsbild natürlicher nichtlinear-dynamischer Prozesse

Bleiben wir zunächst noch ein wenig auf Abstand. Bei komplexen Entwicklungsprozessen integrieren sich nichtlineare Dynamiken oft zum Bild einer Sigmoidkurve (s. Abbildung 2). Wenn man ein einzelnes Bild oder Symbol malen sollte, das ein Maximum vom Wesen unserer Welt in sich birgt, dann wäre es wohl dieses. Von Enzymreaktionen über Produktlebenszyklen bis hin zur innovativen Vitalität wissenschaftlicher Paradigmen oder ganzer Kulturen – all dies und noch viel mehr folgt oft ganz oder in Teilen der Dynamik der Sigmoidkurve. Viele Prozesse und Entwicklungen dümpeln am Anfang eine Zeitlang vor sich hin: Bei chemischen Reaktionen müssen sich erst Ausgangsstoffe anreichern, Produkte müssen auf dem Markt erst eine bestimmte Ausbreitung erfahren, die erste Million zusammenzubekommen, dauert am längsten, es muss erst eine überkritische Zahl an Ideen und Befunden beisammen sein, ehe man ein neues Wissenschaftsparadigma ernsthaft diskutiert. Wird dann eine bestimmte Schwelle überschritten, kommen selbstverstärkende Prozesse im Sinne positiver Rückkoppelungen in Gang: Die Umsatzrate der chemischen Reaktion wird durch autokatalytische Prozesse befeuert und steigt immer schneller, das Produkt wird nach dem Prinzip der Kettenreaktion von immer mehr Kunden weiterempfohlen und gerät zum Modeschlager, die erste Million zeugt nach dem Zinseszinz-Mechanismus immer schneller immer weitere Millionen, die neue Theorie wird von einem wissenschaftlichen Meinungsführer in einem wichtigen Journal besprochen und erlebt den Durchbruch. Bei den meisten Entwicklungen dieser Art kommt es dann aber irgendwann zu einer Abflachung der Wachstumskurve: Die Ausgangsstoffe unse-

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rer Reaktion werden rar und die Endsubstanz staut sich auf, unser Produkt fällt einem Wandel der Mode zum Opfer, für unseren Multimilliardär gibt es immer weniger lukrative Anlagemöglichkeiten bei fallenden Zinsen, und auch unser neues Wissenschaftsparadigma ist nach einigen Jahren oder Jahrzehnten ausgereizt – die meisten auf dieser Basis denkbaren Experimente sind gemacht, ein Zuwachs an grundlegend neuer Erkenntnis ist nicht mehr zu erwarten. Begriffe, die im Kontext solcher Abflachungen von Wachstums- und Entwicklungskurven auftauchen sind: Erschöpfung, Gewöhnung, Ausreizung oder abnehmender Grenznutzen – wir werden auf all dies noch zu sprechen kommen. Wenn man nicht aufpasst, geht die Abflachung der Kurve dann in einen nichtlinearen Absturz im Sinne einer selbstverstärkenden Abwärtsspirale über. Auch hochkomplexe Gesamtentwicklungen wie die Geschichte eines Unternehmens oder einer ganzen Kultur und Gesellschaft zeigen einen Trend zur Sigmoidkurve. In Analogie zu organischen Entwicklungen beschrieben Historiker wie Oswald Spengler oder Arnold Toynbee Kulturen in der Abfolge von Aufstieg, Blüte und Verfall. Wo Spengler noch Zwangsläufigkeit zu erkennen glaubte, sieht Toynbee lediglich ergebnisoffene Trends. Tatsächlich sind ja viele Kulturen und Reiche diesem Muster gefolgt, vom Britischen Empire bis zum Russischen Reich. Aber es gibt auch recht alte Unternehmen oder Kulturen, die bis heute eine vitale Aufwärtsentwicklung zeigen. Wie ist das mit unserem Bild von der Sigmoidkurve in Übereinstimmung zu bringen? Gilt sie hier nicht? Nun, im Prinzip gilt sie schon. Unternehmen oder Gesellschaften sind so komplex, dass ihre Gesamtentwicklung ja aus einer Überlagerung von Sigmoidkurven in unterschiedlichsten Bereichen resultiert. Wenn sich etwa die Verkaufskurven dreier Top-Produkte eines Unternehmens ihrem Ende zuneigen, dann kann das Gesamtunternehmen durchaus weiter wachsen, wenn rechtzeitig neue Produkte entwickelt wurden, deren Kurven nun in die Phase des selbstverstärkenden Wachstums kommen. Auf sich erschöpfende Sigmoidkurven können also neue Kurven aufgesetzt werden. Das gilt auch für Gesellschaften: Bedeutende Theoretiker sehen die Entwicklung der westlichen Industriegesellschaften getragen von der Aufeinanderfolge von Innovationswellen. Im Modell des russischen Ökonomen Nikolai D. Kondratieff etwa sieht die bisherige Abfolge so aus: Baumwolle/Dampfmaschine, Stahl/Eisenbahn, Chemie/Elektrotechnik, Petrochemie/Auto, Informationstechnik. Gibt es eine sechste Welle? Und wenn ja, noch eine siebte? Wovon hängt das ab? Nun, offenbar muss dreierlei in relevantem Ausmaß zusammenkommen: 1. Noch unbefriedigte, starke menschliche Bedürfnisse müssen vorhanden sein oder sich schaffen lassen. 2. Wissenschaft und Technik müssen zu Innovationen fähig sein, die sich in eine ausreichende Palette neuartiger Produkte umsetzen lassen, die die genannten Bedürfnisse auf ausreichende Weise befriedigen. 3. Die nationalen und globalen psychosozialen Strukturen müssen einen Grad an Ordnung und Koordinierbarkeit aufweisen, um diese immer komplexer werden Prozesse implementierbar zu machen.

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4. Die Biosphäre muss ausreichende Ressourcen und Regenerationskapazitäten zur Verfügung stellen, die die neu anschwellenden Produktions-, Konsumtions- und Abfallströme ermöglichen. Es liegt auf der Hand, dass jeder dieser vier Voraussetzungsräume Grenzen hat. Der Raum jener menschlichen Grundbedürfnisse, die sehr starke Motivationskräfte freizusetzen vermögen, ist durch die angeborenen Gehirnstrukturen begrenzt – wir werden gleich näher darauf eingehen. Auch für Wissenschaft und Technik ist das Phänomen des abnehmenden Grenznutzens bekannt: Mit zunehmender Entwicklung und Reifung einer Wissenschaft werden die großen Durchbrüche immer seltener und aufwändiger. Schon heute fühlen sich viele Menschen überfordert von der Fülle und Geschwindigkeit, mit der Neuerungen auf sie hereinprasseln. Ein Großteil der Funktionen von Gebrauchsgeräten werden nicht beherrscht und bleiben ungenutzt. Je komplexer technische Anlagen, Unternehmen und soziale Strukturen werden, desto größer das Risiko für Pleiten, Pech und Pannen. Auch hier gibt es Grenzen des Wachstums. Und dass die Kapazitäten der Biosphäre dem Wachstum Grenzen setzen, ist evident und ausdiskutiert. Kurzum: Seit nach der Aufklärung das Phänomen Innovation in Form von Wissenschaft und Technik quasi institutionalisiert wurde, verfügen die westlichen Gesellschaften über sehr potente Mittel, den Abfall ihrer Entwicklungskurven hinauszuzögern. Es kann gut sein, dass es noch weitere Innovationswellen geben wird. Als mögliche Quellgründe hierfür werden von Experten favorisiert: Biotechnologie, Nanotechnologie, neue Energietechniken (Kernfusion, regenerative Energien, Energieeffizienz) sowie der Bereich Psychosoziale Gesundheit. Gleichwohl wird das auf materiellen Konsum fokussierte Paradigma unserer Kultur an Grenzen stoßen und diese Grenzen rücken in Sichtweite. Die Gefahr eines gesellschaftlichen und kulturellen Verfalls ist entwicklungsimmanent. Wir müssen sensibel dafür sein. Es geht nicht einfach alles nur so weiter und ein allzu naiver Optimismus wäre gefährlich. Gerade wenn alles optimal läuft, ein »Höhepunkt« erreicht scheint, droht der Absturz in die Sigmafalle. Die Kurve unserer Gesamtentwicklung flacht gefährlich ab und nicht wenige Unterkurven sind bereits im Fallen begriffen, von der Geburtenrate über die Reallöhne bis hin zur Lesekompetenz unserer Kinder. Ehe wir dann hineinzoomen in das traurige Bild unserer umschlagenden Entwicklungskurve, um einige Detailmechanismen zu beleuchten, müssen wir ein paar Grundlagen erarbeiten.

Selbstorganisation und Evolution

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1.2 Selbstorganisation und Evolution »Panta rhei« – alles fließt –, wusste schon Heraklit. Tatsächlich ist alles in unserem Universum in Bewegung: Ständig entsteht neue Struktur und Ordnung, um dann irgendwann wieder zu zerfallen. Da gibt es relativ feste Strukturen, bei denen sich diese Veränderungen nur sehr langsam vollziehen, Stein, Metall, Holz oder Zahnsubstanz wären Beispiele hierfür. Und es gibt dynamische Strukturen, die gar keine materielle Identität besitzen. Wie die Form einer Welle sind sie relativ stabile Muster von ständigen materiellen und energetischen Austauschprozessen. Hierzu gehören die Strömungsmuster von Flüssigkeiten oder Gasen in den Gewässern oder der Atmosphäre, die Zackenformationen der Börsenkurse und natürlich die funktionellen Musterbildungen in den Nervenzellverbänden unseres Gehirns, von denen auch unsere psychischen Prozesse wie Wahrnehmen, Fühlen oder Denken »getragen« werden. Diese dynamischen Strukturen heißen synergetische Strukturen. Synergetik ist die Lehre vom Zusammenwirken, die von dem deutschen Physiker Hermann Haken begründet wurde. Sie beschreibt und modelliert mathematisch, wie durch Selbstorganisation im freien Wechselspiel der Kräfte synergetische Strukturen in komplexen Systemen entstehen. Selbstorganisation ist der universelle kreative Mechanismus in Natur, Psyche und Gesellschaft, sie ist gewissermaßen der Elementarprozess der Evolution. Schauen wir uns das doch einmal genauer an. Stellen Sie sich vor, Sie füllen Silikonöl in eine flache Glasschale und erhitzen sie von unten. Durch diese Energiezufuhr gerät die Flüssigkeit innerlich in Bewegung, es entstehen sogenannte Fluktuationen. Einige dieser Fluktuationen sind Keimformen gesamthafter Bewegungsmuster der Flüssigkeitsschicht, die die physikalische Aufgabe – den Wärmetransport von unten nach oben – mehr oder weniger gut lösen. Die Mustervarianten konkurrieren nun miteinander und die unter den gegebenen Randbedingungen geeignetste wird nichtlinear verstärkt, setzt sich durch und prägt sich schließlich der gesamten Flüssigkeitsschicht auf. Dieser letzte Akt wird in der Synergetik als Versklavung oder auch – politisch korrekter – als Konsensualisierung bezeichnet: Ein bestimmtes Ordnungsmuster wird so stark, dass auch die anderen Systembereiche in den von ihm vorgegebenen Takt gezwungen werden. Analoges spielt sich auf gesellschaftlicher Ebene ab, wenn der Druck durch eine Bekleidungsmode, eine bestimmte öffentliche Meinung oder durch einen bestimmten Standard wie VHS oder Windows so stark wird, dass man sich schließlich fügt. Doch zunächst zurück zur Molekülgesellschaft in unserer Flüssigkeit: Abbildung 3 zeigt von oben ein hexagonales Strömungsmuster, in dem sich Strömungsrollen wabenartig zusammenlagern. In der Mitte der Waben steigt die erwärmte Flüssigkeit auf, an den Rändern sinkt die abgekühlte Flüssigkeit nach unten. Wenn man die Wärmezufuhr weiter steigert, springt das System per Selbstorganisation in neue, andere ganzheitliche Muster – etwa in ein Streifenmuster – oder es zeigt sich deterministisches Chaos.

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Abbildung 3: Selbstorganisation eines hexagonalen Strömungsmusters in einer mit Silikonöl gefüllten Petrischale, die von unten erwärmt wird (»Bénard-Konvektion«) (Haken u. HakenKrell, 1997, S. 69)

Weil hier Momente von Variation und Selektion im Spiel sind, ist auch von »molekularem Darwinismus« gesprochen worden. Aber Produkte von Selbstorganisation und Evolution sind nicht das Ergebnis blinden Zufalls. Es sind auch Gesetze des Zusammenwirkens beteiligt: Unter ähnlichen Randbedingungen formieren sich immer wieder ähnliche Muster. Nicht umsonst ist das Hexagon so verbreitet in der Natur, vom Facettenauge bis zur Bienenwabe. Abbildung 4 zeigt, wie ein Spiralmuster von ganz unterschiedlichen materiellen Trägern formiert wird (die Formierung eines Schleimpilzes, eine chemische Reaktion und ein Spiralnebel). Unter bestimmten Bedingungen wird Materie offenbar auf eine ganz elementare Weise kreativ, kommunikativ und kooperativ. Und die Grundprinzipien dieser synergetischen Kreativität und Strukturbildung finden wir auf allen Ebenen des Seins wieder, von chemischen Molekülen über die Nervenzellen in unserem Gehirn bis zu Individuen in Gruppen oder Gesellschaften. Wie wird nun aus Selbstorganisation Evolution? Nun, es macht Sinn, von Evolution dann zu sprechen, wenn Mechanismen der Speicherung hinzutreten. Nichtlineare synergetische Dynamiken erzeugen als das kreative Moment neue Struktur und Information, die dann in festen Strukturen »eingefroren« wird als Ausgangspunkt für immer weitere überformende Schleifen der Strukturbildung. Als nicht ganz korrekte, aber instruktive Metapher könnten Sie sich die Entstehung eines Flusses vorstellen: Die Dynamik des fließenden Wassers löst krea-

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(b)

(c) Abbildung 4: Selbstorganisierte Spiralmuster in verschiedenen materiellen Trägersubstraten: ein kosmischer Spiralnebel (a), eine spezielle chemische Reaktion (b) und die Formierung eines Schleimpilzes aus einzelnen Zellen (c) (aus: Haken, 1995, S. 18; Haken, 1991, S. 135 u. 143)

tiv die physikalische Aufgabe, den kürzesten Weg zum Meer zu finden. Und zur Erinnerung gräbt sich das Wasser ein Bett. Trocknet es im Sommer einmal aus, muss es sich nach der Schneeschmelze nicht wieder neu Gedanken machen, wo es am besten langfließen sollte. Ganz ähnlich funktioniert das auf anderen Ebenen unseres evolvierenden Universums auch – lassen Sie uns drei davon kurz herausgreifen. Beginnen wir bei der Evolution der biologischen Arten, wie sie von Charles Darwin beschrieben wurde. Als Gesamtphänomen ist das natürlich ein extrem komplexer Prozess der in vielen Details noch nicht verstanden wird. Darwins Grundidee war: Individuen einer Art unterscheiden sich zumindest in Details und sind deshalb unterschiedlich fit bei der Sicherung des Überlebens. Die Fittesten haben mehr Nachkommen und entsprechend verbreiten sich deren Eigenschaften innerhalb der Art. Wie wir heute wissen, sind die wichtigsten Grundeigenschaften der Individuen in der DNS gespeichert und individuelle Unterschiede kommen

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zum Beispiel durch Neukombination der DNS bei der Fortpflanzung oder durch Mutationen zustande. Und wenn Individuen aufgrund irgendwie förderlicher Eigenschaften viele Nachkommen haben, dann reichert sich die DNS, die diese Eigenschaft »codiert«, im Genpool der Art an. Eine etwas umfassendere Sichtweise zeigt, dass die sich verändernden Fortpflanzungsraten unterschiedlicher Arten in einem komplexen Lebensraum von vielen vernetzten und rückgekoppelten Faktoren abhängen. Die hier entstehende Populationsdynamik ist eine synergetische Struktur, bei deren Ausbildung Nichtlinearität und Selbstorganisation eine zentrale Rolle spielen. Abbildung 5 vermittelt hiervon einen Eindruck – sie zeigt das Entstehen eines einfachen Schwingungsmusters durch eine Räuber-Beute-Wechselwirkung. Das Ergebnis dieser kreativen Populationsdynamiken ist dann das, was durch Veränderungen in den DNS-Speicherstrukturen der Genpools der Arten »eingefroren« wird. Die DNS ist gewissermaße das Bett des Artenflusses.

Abbildung 5: Selbstorganisation eines Schwingungsmusters in der Populationsdynamik eines einfachen Räuber-Beute-Systems (aus Haken, 1995, S. 98)

Eine zweite ganz wichtige Ebene ist die Evolution unserer mentalen Strukturen im Gehirn. Leider ist die Idee, das Gehirn sei nichts als ein Computer, immer noch nicht ausgestorben. Denn das Gehirn ist das ganze Gegenteil eines Computers, der wie alle Maschinen nach starren Regeln unter Normbedingungen identische Normprodukte erzeugt (z. B. immer gleiche Buchstaben beim Drücken der gleichen Tasten). Das Gehirn dagegen ist wahrscheinlich der heißeste Evolutionsautoklav im Universum. Hier findet eine ständige Neuschöpfung von Struktur und Information statt. Auch scheinbar gleiche Wahrnehmungen, Bewe-

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gungen oder Gedanken sind sich nur in bestimmten Aspekten ähnlich. Wenn Sie genau hinschauen, ist jede Äußerung Ihres Verhaltens eine einzigartige Neuschöpfung. Betrachten Sie nur einmal Abbildung 6. Ganz ähnlich wie bei unseren Flüssigkeitswaben tastet sich Ihr Sehsystem hier per Fluktuation an stabile Interpretationen des Reizes heran. Haben sich zufällig zwei, drei Elemente sinnvoll zusammengeschlossen, entsteht irgendwie ein Sog in Bezug auf übrige, passende Elemente und Sie sehen eine ganze Rosette.

Abbildung 6: Selbstorganisation und Versklavungsphänomen im Sehsystem (nach Stadler u. Kruse, 1990)

Richtig – dieser »Sog« ist wieder Ausdruck des besprochenen Versklavungsphänomens. Im Gegensatz zu den meisten sonstigen Alltagswahrnehmungen ist das Reizmuster von Abbildung 6 allerdings so perfide konstruiert, dass jede Interpretation schnell wieder instabil wird und das ganze Wabern von Neuem beginnt. Und in der Motorik oder beim Denken und Problemlösen ist es ganz ähnlich: Sie produzieren eine Fülle von Probierbewegungen oder Ideen, und durch Selektionsprozesse auf verschiedenen Ebenen stabilisieren sich dann die für die jeweilige Aufgabenlösung geeignetsten Varianten. Diese Prozesse werden von selbstorganisierten Synchronisations-Desynchronisations-Mustern in Ihrem Gehirn »getragen«. Dabei bilden die Nervenzellen eine riesige Ansammlung gekoppelter Oszillatoren. Durch Selbstorganisation kommt es gewissermaßen zur Bildung von flexibel »wabernden« Gruppen von Nervenzellen, die im Gleichtakt schwingen. So könnten zum Beispiel alle Nervenzellen, die mit einer bestimmten Frequenz im gleichen Rhythmus feuern, einen bestimmten Wahrnehmungsinhalt repräsentieren, Nervenzellen einer anderen Hirnregion, die ihrerseits im gleichen Takt feuern, einen dazugehörigen Gedanken tragen. Dass zum Beispiel der Wechsel von Mustern der Bewegungskoordination den

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Gesetzen der synergetischen Selbstorganisation folgt, konnte übrigens durch »harte Experimente« bewiesen werden (Haken, 1996). So bleibt also auch hier wieder zu sagen: Die dynamischen synergetischen Strukturen im Gehirn sind kreativ und erzeugen wie in einem ständig brodelnden Evolutionskochtopf neue Struktur und Information. Die Erzeugungsbedingungen der bewährten Strukturen werden dann in den festen Substanzen des Gehirns gespeichert, vor allem wohl durch die Bildung von Eiweißen, die die elektrischen Eigenschaften der sogenannten Synapsen verändern (Synapsen sind die Verbindungsknoten zwischen den Nervenzellen). Jetzt kann der perfekte Bewegungsablauf oder der geniale Lösungsgedanke mit explosionsartiger Geschwindigkeit wieder erzeugt werden, ohne erneut durch Fluktuationen »herausgemendelt« werden zu müssen. Die Matrix der Synapsenstärken ist das Bett unseres Gedanken- und Bewegungsflusses. Aus der Evolution psychoneuraler Strukturen im Gehirn des Einzelnen wird dann die soziokulturelle Evolution, wenn Gehirne in großer Zahl in Wechselwirkung treten. Diese Wechselwirkung kann auch indirekt vermittelt werden durch »dazwischengeschaltete« außerkörperliche Speicherstrukturen wie Bücher, Zeitungen, Festplatten, CDs oder materielle Produkte beliebiger Art. Dabei fungieren diese materiellen Speicherstrukturen nun als das Bett des Flusses der kulturellen Inhalte: von der Entwicklung der Musik oder der Automobile bis hin zu den Strudeln der philosophischen Diskurse. Auf vielen Ebenen der Gesellschaft etablieren sich dabei Austausch- und Kommunikationsprozesse, die den Charakter der synergetischen Selbstorganisation tragen. Denken Sie nur an eine Gruppendiskussion: Anfangs fluktuieren Meinungen und Gegenmeinungen hin und her. Eine bestimmte Auffassung stabilisiert sich dann überkritisch, weil drei gewichtige Sprecher hintereinander für sie eingetreten sind und plötzlich entsteht ein »Gruppendruck«, der alle übrigen zwingt, dieser Auffassung zuzustimmen. In größerem Maßstab entspricht dies dem Druck der öffentlichen Meinung, dem sich vielleicht Politiker vor medienwirksamen Entscheidungen ausgesetzt sehen oder dem Herdenzwang, den man spürt, wenn Modewellen in Sachen Bekleidung oder Wohnen über einen hinwegrollen. Ich langweile Sie inzwischen, wenn ich darauf hinweise, dass es sich hier wieder um unser Versklavungsphänomen handelt. Ganz zentrale Mechanismen sozialer Evolution tragen die Bezeichnungen Markt und Demokratie. Produkte und Politikkonzepte werden hier von verschiedenen Anbietern zur Wahl gestellt und durch Konsumenten bzw. Wähler einer Selektion unterworfen. Die Parallelen zur Darwin’schen Evolution sind überdeutlich. In Analogie zum Gen hat man die Tradierungseinheiten der Kulturevolution als Mem bezeichnet: besonders markante und einprägsame Ideen, Konzepte oder Produkte, die dann in der Kommunikation weitergegeben und neu kombiniert werden. Sie sollten das nicht für ein oberflächliches Analogiespiel halten. Wenn wir sagen, dass die synergetische Selbstorganisation der universelle und einzige

Was uns antreibt: Grundlagen der Motivationspsychologie

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Mechanismus der Kreativität in Natur, Psyche und Gesellschaft ist und es sich bei Markt und Demokratie um dessen zentrale soziale Manifestationsformen handelt, dann ist klar: Gesellschaften, die diese Mechanismen abschaffen, müssen zugrunde gehen, und zwar mit naturgesetzlicher Unausweichlichkeit. Exakt das ist den zentralistischen Planwirtschaftsdiktaturen des Ostblocks widerfahren. Und die Gründe liegen damit eben nicht an der schlechten politischen Umsetzung richtiger Konzepte, sondern an der Lebensuntüchtigkeit der Konzepte selbst.

1.3 Was uns antreibt: Grundlagen der Motivationspsychologie Damit sind in groben Strichen einige Grundmerkmale der Evolution unseres Universums skizziert. Was bedeutet das nun für unsere Gefühle und Motivationen? Wir wollen ja wissen, was Gesellschaften antreibt oder antreiben könnte. Dann müssen wir natürlich zuerst einmal wissen, was den Einzelnen antreibt oder antreiben könnte. Nun, Evolution fördert nicht nur in Sachen Körperbau und -funktion, sondern auch in Sachen Verhalten alles, was den Fortpflanzungserfolg steigert. Entsprechend sind positive Gefühle der Lohn für ein Verhalten, das entweder der Selbst- oder der Arterhaltung dient. Wer energiereiche Nährstoffe zu sich nimmt, erfährt Wohlgeschmack, wer sich anschickt, mit seinem Partner intim zu werden, hat die Chance auf einen Orgasmus. Es macht Sinn, im Bereich der menschlichen Emotion/Motivation grundsätzlich zwei Ebenen zu unterscheiden. Die erste, grundlegende Ebene wird von den Erbantrieben gebildet. Hier werden alle Verhaltensweisen reguliert, die unmittelbar für das biologische Leben und Überleben erforderlich sind. Es gibt eine ganze Reihe solcher Erbantriebe, die in der Literatur unterschiedlich eingeteilt und bezeichnet werden (vgl. Literatur zur Psychosynergetik: Hansch, 2009; zur Evolutionspsychologie: Buss, 2004; oder zur Ethologie: Eibl-Eibesfeldt, 1995). Für das Anliegen unseres Buches sind zunächst jene Antriebe von Bedeutung, die wir hier vereinfachend und summarisch als Konsumantriebe und Egoantriebe bezeichnen wollen. Konsumantriebe drängen uns nach Sinnesgenuss und immer neuen Reizen: gutes Essen und Spitzenweine, attraktive Sexualpartner, schöne, interessante und neue Gebrauchsgegenstände: Kleidung, Automobile, Uhren, Schuhe, Flachbildfernseher, Häuser im Süden mit Meerblick. Nicht in seinen Luxusvariationen, wohl aber in seinen Basisausführungen lässt sich all dies mit der Förderung des Überlebens und besseren Überlebenschancen für den Nachwuchs in Verbindung bringen. Unter Egoantrieben, oder kurz und provokativ dem »Primaten-Ego«, wollen wir einen Komplex von Antrieben verstehen, der uns nach hohem sozialen Status, nach Macht und Kontrolle streben lässt. Und natürlich nach allem, was damit zusammenhängt, insbesondere nach Statussymbolen: gewaltig klingende Funkti-

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onsbezeichnungen auf den Visitenkarten und das exklusive Wohnviertel darunter, das Foto, das einen mit Prominenten zeigt, teurer Schmuck, teure Uhren und Autos. Vielleicht erinnern Sie sich noch an diesen Werbespot, in dem ein Nadelstreifler einen Bekannten zu beeindrucken suchte, in dem er ihm Fotos von seinem Haus, seinem Ferrari, seiner Jacht usw. zeigte – nein, nicht zeigte –, er knallte sie ihm wie Trumpfkarten auf den Tisch. In den Hackordnungen unserer Vorfahren war hoher sozialer Status insbesondere für Männchen gleichbedeutend mit privilegiertem Zugriff auf Weibchen und entsprechend viele Nachkommen. Bis vor nicht allzu langer Zeit galt das auch für den Menschen noch in sehr direktem Sinne – der marokkanische Kaiser Mulai Ismail der Schreckliche soll an die 900 Kinder gehabt haben. Und auch heute ist es oft wohl nur die Verhütungspraxis, die die Zahlen hat drastisch kleiner werden lassen. Dieses unser Primaten-Ego spielt im Alltag eine große und oft zerstörerische Rolle. Es sorgt dafür, dass vieles von dem, was getan wird nicht um seiner selbst willen getan wird, sondern um das Selbstwertgefühl dessen zu steigern, der es tut: Wir sind stolz auf unsere Leistung und tief verletzt, wenn diese nicht angemessen gesehen wird. Wir setzen die Leistung anderer herab, um selbst relativ ein wenig nach oben zu rücken. Wir können die sachliche Berechtigung einer Kritik gar nicht sehen und auch nicht die fachlichen und menschlichen Wachstumschancen, die sie bietet. Stattdessen hassen wir den Angreifer und intrigieren gegen ihn. Wir verteidigen unseren Standpunkt, obwohl wir tief drinnen schon wissen, dass er falsch ist – wir müssen eben recht behalten. Wir behindern durch unser nichtssagendes Statement die Diskussion, es war eben wichtig, dass auch wir in Erscheinung getreten sind. Auf diese und noch viele andere Weise richtet das Primaten-Ego in Beziehungen, Familien, Firmen und in der Politik riesigen Schaden an. Kurz, in weiten Teilen des sozialen Lebens geht es unter allen hehren Bemäntelungen doch oft nur um Konsum, Geld, Sex, Macht und Popularität. Das sind die Hauptantriebskräfte der kapitalistischen Wohlstands- und Spektakel-»Kulturen«. Motivationen dieser Art bezeichnen wir als extrinsische Motivationen. Wenn jemand eine ungeliebte Arbeit tut, mit dem, Ziel Geld zu verdienen, dann liegt das eigentliche Motiv seines Tuns außerhalb, extern dieses Tuns. Vielleicht kann es etwas trösten, wenn wir nun die zweite Hauptebene der menschlichen Motivation betrachten – den Bereich der Kulturantriebe. Wie Sie wissen, ist ja der Grundbauplan unseres Gehirns schon vor Jahrhunderttausenden entstanden und hat sich wohl seither nicht erkennbar verändert. Zucker und die Attribute des anderen Geschlechts gab es auch damals schon – dass unsere Erbantriebe auf diese Reize ansprechen, ist also nicht weiter verwunderlich. Was es aber zu der Zeit, als unser Gehirn entstand, noch nicht gab, sind Dinge wie sinfonische Musik, Mathematik oder Philosophie. Und das verwundert nun schon. Es gibt doch nicht wenige Menschen, die auf diese Dinge nicht weniger leidenschaftlich reagieren wie auf knackige Hintern. Wie kann das sein? Wie kann es sein, dass unser Gehirn so intensiv auf Reize anspricht, wo es doch zur Zeit sei-

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ner Entstehung nichts gab, was diesen Reizen auch nur entfernt geähnelt hätte? Ich finde das eine extrem interessante und wichtige Frage (die, soweit ich sehe, in der Literatur bisher kaum in dieser Prägnanz gestellt wurde). Es ist eine der Hauptfragen, denen ich in meinen wissenschaftlichen Arbeiten nachgegangen bin. Hier sehr verkürzt das, was ich für die plausibelste Antwort halte: Die emotionalen Bewertungsmechanismen der erwähnten Erbantriebe beziehen sich auf statische Objekt- oder Zustandseigenschaften, für die bestimmte »Eckmerkmale« (Auslöser, Schlüsselreize) genetisch fixiert sind. So reagiert unser Ernährungsantrieb auf hohe Konzentrationen an Zucker und Fett, unser Sexualantrieb auf genau definierte Körpermerkmale des anderen Geschlechts, unser Egoantrieb auf Gesten der Bewunderung und Unterwerfung. Und das ist eben eine statische Bewertung: Wenn Sie ein Stück Würfelzucker ganz ruhig im Mund behalten, spüren Sie auch ohne zu lutschen den süßen Geschmack. Wenn Sie gerade keinen Intimpartner haben, na ja, sagen wir so: Dann ist ein Heft mit gewissen Fotos besser als nichts. Und als Kaiser können Sie jene kostbaren Augenblicke gar nicht genug in die Länge ziehen, in denen die Ihnen Untertanen angststarr vor Ihnen im Staub liegen. Grundlegend anders verhält es sich bei den Inhalten, die unsere Kulturantriebe ausmachen: Wenn Sie eine Sinfonie anhalten und nur noch das je zuletzt Gespielte als Gemisch von Dauertönen hören, bekommen Sie einen Tinnitus. Wenn Sie beim Lesen eines Gedichtes in der Mitte stoppen und nur noch auf das letzte Wort starren, fallen Sie von Wolke sieben herab und schlagen ganz hart auf den Boden. Wenn Sie aus dem Fluss einer genialen Tanzbewegung jäh auftauchen und in einer anstrengenden Pose erstarren, spüren Sie nur noch Ihre Rückenschmerzen. Ersichtlich knüpfen sich die emotionalen Bewertungsmechanismen unserer Kulturantriebe nicht an statische Objekt- oder Zustandseigenschaften, sondern an Prozessqualitäten. Wir genießen hier die hochgradige Ordnung und Harmonie im Fluss komplexer Tätigkeitsprozesse. In der Motorik gibt es für diese hohe dynamische Ordnung Begriffe wie gute Koordination oder Eleganz, in der Musik Konsonanz oder Harmonie und im Denken Konsistenz, Kohärenz, ganzheitliche Integriertheit oder Widerspruchsfreiheit. Und je höher die Ordnung und die Komplexität dieser Prozesse, desto intensiver und tiefer das Harmonieerleben. Oder etwas genauer, aber immer noch sehr vereinfacht: Je größer die Anzahl und die Güte der Passungen, die an einem Tätigkeitsprozess beteiligt sind, desto intensiver die begleitenden Stimmigkeitsgefühle (in speziellen theoretischen Arbeiten wird dies wissenschaftlich deutlich exakter gefasst: Hansch, 1988, 1997, 2004). Wo könnte dieses »Harmoniebewertungssystem« seinen evolutionären Ursprung haben? Nun, am ehesten in der Motorik, beim Bewegungslernen. Um ihre Willkürmotorik beherrschen zu lernen und komplexe Bewegungen einzuüben, brauchten die Affenjungen einen inneren Lehrmeister, der ihnen per Stimmigkeitsgefühl zeigt, was harmonische, kraftsparende Bewegungen sind, und der sie zu immerwährenden Bewegungsspielen motiviert. Die hier entstehende motori-

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sche Funktionslust treibt auch uns zum Skifahren oder zum Tanzen. Und bei uns Menschen greift dieses Harmoniebewertungssystem nun auch auf Prozesse der Wahrnehmung und des Denkens über. So wird aus der motorischen Funktionslust eine mentale Funktionslust. Die Erbgefühle, die aus unseren Erbantrieben entstehen, sind in ihrer Zahl begrenzt und haben eine spezifische Farbe im Erleben: Freude, Wut, Angst, Ekel, Stolz, Eifersucht oder Begehren. Im Gegensatz dazu ist unser HarmonieErleben allgemeinerer Natur: Unabhängig vom Gegenstand der Tätigkeit fühlt es sich ähnlich an. Zu jeder Musik gibt es einen Tanz, der perfekt dazu passt, und Wissenschaftler vergleichen schöne physikalisch-mathematische Theorien gern mit Sinfonien, in denen jede Note notwendig und am richtigen Platze ist. Aus unserem Harmonie-Bewertungssystem stammt das Schönheitsempfinden, die selbstzweckhafte Freude an gelingenden komplexen Tätigkeiten und auch umgreifendere Stimmigkeitsempfindungen wie Überzeugungen, Gewissensreinheit oder das Gefühl, eins mit sich zu sein. In Gegenüberstellung zu den Erbgefühlen sei diese Klasse von Emotionen als »Harmoniegefühle« bezeichnet. Ich will hier nicht weiter in die Tiefe gehen – Sie können das gern in meinen anderen Büchern nachlesen (z. B. Hansch, 2009). Im jetzigen Zusammenhang ist wichtig: Wir haben hier ein Bewertungssystem, das sehr grundlegende, »inhaltsneutrale« Prozesseigenschaften von Tätigkeitsabläufen emotional bewertet. Man kann harmonisch oder dysharmonisch tanzen, musizieren oder denken. Deshalb können dieser Bewertungsfunktion beliebige Inhalte auch kulturellen Ursprungs aufmoduliert werden. Und diese Inhalte werden dann um ihrer selbst willen innerlich gehandhabt, das Motiv liegt in ihnen selbst – deshalb heißen die hier entstehenden Motivationen intrinsische Motivationen. Das aus dem motorischen Lernen stammende Harmoniebewertungssystem bildet also die gesuchte motivationale Brücke zwischen Natur und Kultur. Auf seiner Grundlage können wir eine Leidenschaft entwickeln nicht nur für den Tanz, sondern auch für die Musik, die Mathematik, die Literatur oder die Philosophie, für Geschichte, Architektur, Modellbau oder sonstige komplexe Themen. Haben wir uns die entsprechenden Inhalte angeeignet und Meisterschaft im Umgang mit ihnen erworben, ist ein Kulturantrieb entstanden. Im Gegensatz zu den Erbantrieben sind Kulturantriebe nicht angeboren, sondern erlernt. Wie vollzieht sich das? Hier begegnet uns wieder unsere vertraute Sigmoidkurve (bzw. eine gestufte Sigmoid-Lernkurve als Zusammensetzung von Sigmoidkurven). Beim Erlernen komplexer Kulturtechniken gibt es fast immer am Anfang und oft auch zwischendrin »emotionale Durststrecken«. Aller Anfang ist schwer, weiß schon der Volksmund. Man muss sich Teilaspekte aneignen, deren Sinn man oft noch gar nicht erkennen kann, alles geht stockend und langsam. Es macht deshalb kaum Freude. Mit der Zeit aber finden sich immer mehr Teilmomente zu einem Gesamtbild zusammen. Man lernt, die Prozesse immer meisterlicher zu beherrschen. Nun kommen Freude und Leidenschaft auf. Es ist

Was uns antreibt: Grundlagen der Motivationspsychologie

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ein wenig wie beim Legen eines Puzzles: Am Anfang ist es mühevoll, am Ende aber entsteht ein starker Drang, das Bild zu vollenden. Beim Überschreiten einer bestimmten Schwelle an Komplexität und Meisterschaft kommen oft selbstverstärkende Prozesse in Gang: Die Zunahme von Komplexität und Meisterschaft verstärken die Leidenschaft, was zu weiter Übung und Ausweitung der Tätigkeit führt, wodurch Komplexität und Meisterschaft noch mehr gesteigert werden. So übt der Pianist noch mehr Stücke seines Lieblingskomponisten ein und der Physiker trachtet, die verschiedenen Teile seines Weltbildes durch das Auffinden einer Weltformel zu einer harmonischen Ganzheit zu vereinen. In diesem Sinne ist es durchaus gerechtfertigt, vom Entstehen von Kulturantrieben zu sprechen. Kulturantriebe können das Verhalten eines Menschen sehr viel stärker prägen als die Erbantriebe. Es gab und gibt Menschen, die ihr Leben ganz der Kunst, der Wissenschaft oder der Religion weihen und darüber fast verhungern. Ja sogar der »Überlebensinstinkt« kann dabei »überstimmt« werden – denken Sie an einen politischen Aktivisten, der sich in Lebensgefahr begibt für eine Überzeugung, das heißt für eine Idee, die hochkohärent in ein komplexes Weltbild eingewoben und damit »verinnerlicht« ist. Wie wir später noch ausführlicher besprechen werden, ist es für ein erfülltes Leben sehr viel aussichtsreicher, sich auf die Entwicklung von Kulturantrieben zu konzentrieren, als sich von Erbantrieben steuern zu lassen in Richtung einer Ansammlung von Luxus und Macht. Man kann im Laufe eines individuellen Lebens den Bereich der Kulturantriebe unbeschränkt weiterentwickeln und differenzieren: Man kann alte Kulturantriebe durch neue Inhalte erweitern oder in gänzlich neuen Feldern neue Antriebe entwickeln. Wenn eine Sigmoidkurve abflacht, gibt es immer Möglichkeiten und Wege, eine neue daraufzusetzen. Demgegenüber unterliegt die Freude an Luxusartikeln der Gewöhnung. Was immer es ist, der neue Sportwagen oder die höhere Dienststellung – bald verschaffen sie nicht mehr den gewünschten Kick. Dann muss man die Lust-Frust-Spirale eine Runde weiterdrehen. Zwar kann man hier Inhalte verfeinern, aber der Bereich der möglichen Inhalte unterliegt genetischen Beschränkungen. Aber dazu später mehr – im jetzigen Kontext ist zweierlei von Bedeutung: – Erstens: Der Erwerb komplexer Kulturtechniken ist nicht immer das reine Zuckerschlecken. Insbesondere am Anfang gibt es emotionale Durststrecken, auf denen Eigenschaften wie Selbstdisziplin, Fleiß, Frustrationstoleranz und Durchhaltevermögen gefragt sind. Und auch wenn es immer wieder einmal glückliche Konstellationen von hochbegabten Schülern und Lehrern geben wird, aus denen heraus sich alles zwanglos wie von allein ergibt – im normalen Schulalltag wird ein Mindestmaß an Disziplin gelobt und konsequent durchgesetzt werden müssen. Das wussten unsere Ahnen seit Jahrhunderten und man kann theoretisch im Detail begründen, warum daran keine Neuropädagogik je etwas wird ändern können. – Zweitens: In vieler Hinsicht zeigt Kulturerwerb individuell und gesellschaftlich die Eigenschaften eines Schwellenphänomens: Oberhalb eines kritischen

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Punktes kommt ein selbstverstärkender Prozess in Gang: Kulturerwerb und -entwicklung zeugen sich aus sich selbst fort. Unterhalb dieser Schwelle aber brechen alle sporadischen Bemühungen schnell wieder in sich zusammen. Auch in Sachen Erziehung und Bildung gilt also: klotzen und nicht kleckern. Bis zum Beweis des Gegenteils sollte gelten: Eine ausreichende Dosis an Erziehung vorausgesetzt, kann man aus der Mehrheit der Menschen kulturbestimmte Menschen machen: Menschen, die ihre angeborenen Impulse kennen und beherrschen, Menschen die sich von kulturellen und weitgehend vernunftgegründeten Werten und Normen leiten lassen, Menschen, die ihre Lebensenergie überwiegend aus Kulturantrieben beziehen. Und wenn dies so ist, dann sollte prinzipiell auch eine postkonsumistische Gesellschaft der Kultur und Weisheit im Bereich des fern Möglichen liegen. Das Durststrecken- und das Schwellenphänomen zusammen erklärt folgendes Diktum, das Manés Sperber zugeschrieben wird: »Glück ist eine Überwindungsprämie.« Eine Prämie für Überwindung und Entsagung, für zeitweiligen Spaßverzicht. Ich hab der bekannten Lust- und Leibfeindlichkeit der Kirche lange mit Unverständnis und Ablehnung gegenübergestanden. Heute sehe ich, dass dies zumindest in abgeschwächter Form wohl unverzichtbar ist. Hochkultur muss der Natur zu weiten Teilen in einem harten Ringen abgetrotzt werden. Und bis die hierfür nötigen Kulturantriebe stark genug sind, ist es wohl erforderlich, den Heranwachsenden von den stärksten Reizen seiner Erbantriebe abzuschirmen. Werden Kinder und Jugendliche von früh an in den Bann der stärksten Lustreize gezogen, wird das für das Überschreiten der Kulturschwelle extrem hinderlich sein (ich fürchte, dass die Dunkelziffer internet-sexsucht-gefährdeter Jugendlicher außerordentlich hoch ist). Glück als Überwindungsprämie, die Sigmoidkurve des Glücks – das sind die vielleicht wichtigsten Erfahrungsfiguren, die jedem Heranwachsenden zugänglich gemacht werden müssen. Sich über Wochen oder Monate schinden, und dann glückserfüllend den Durchbruch zur Meisterschaft erleben: einem brillanten Essay mit überwältigend schönen Argumentationsfiguren den letzen Schliff geben, ein schwieriges Stück auf dem Klavier oder der Geige endlich sicher variieren können, nach langem Brüten einen geometrischen Beweis finden, dessen platonische Prägnanz betört. Soviel fürs Erste zur Motivationspsychologie. Die Konzepte »Erbantrieb« und »Kulturantrieb« ermöglichen es uns, die zwei folgenden Prototypen von Menschen zu karikieren, die gewissermaßen die Extrempole eines Spektrums bilden, auf dem sich reale Menschen dann einordnen lassen. Natürlich bin mir der holzschnittartigen Grobheit der nun folgenden dualen Typologie wohl bewusst. Allein für den Zweck dieses Buches ist sie ausreichend. Darüber hinaus ist diese Einteilung beschreibend und nicht wertend gemeint. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass alle bewussten Wesen, gleich viel, nämlich unendlich viel wert sind. Deshalb gilt hier wie auch auf allen folgenden Seiten

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dieses Buches: Negativ und emotional klingende Adjektive werten allenfalls das Verhalten und nicht die Personen als solche.

1.4 Ego-Menschen versus Kulturmenschen Wenn es nicht gelingt, einen Menschen über die Kulturschwelle zu wuchten, dann bleiben bei ihm zeitlebens die Erbantriebe bestimmend. Wir sind am Pol des abhängigen, aussenbestimmten Ego-Menschen. Er gewinnt Lebenszufriedenheit und Selbstwertgefühl aus materiellem Konsum, aus der Stimulation durch Beziehungen und aus der Anerkennung durch andere Menschen. Eine solche Fixierung auf »äußeren Lohn« macht in der Tendenz abhängig: Diese Menschen müssen immer wieder etwas einkaufen, sie müssen ständig etwas unternehmen und brauchen Gesellschaft. Sie haben keine eigene Meinung, richten sich sehr nach anderen und sind in ihrem Selbstwerterleben sehr von der Wertschätzung durch das soziale Umfeld abhängig. Menschen dieses Typs können mit sich allein kaum etwas anfangen. Sie sind nicht gern allein und wenn, dann hängen sie am Handy, vor dem Fernseher oder Computer. Außenbestimmte Ego-Menschen sind innerlich leer, ihr Hauptinteresse gilt dem Sensation-Seeking und der Aufbesserung ihres Images in den Augen der anderen. Gelingt es hingegen einem Menschen, die Kulturschwelle zu durchbrechen, dann kommt, wie beschrieben, eine intrinsisch getriebene und selbstverstärkende Aneignung kultureller Inhalte in Gang. Es entstehen Kulturantriebe: Klavier- oder Schachspielen, Geschichte oder Kunst, Philosophie oder Literatur. Aus dem gelingenden Ausüben und Weiterentwickeln solchen komplexen Tuns können diese Menschen »inneren Lohn« gewinnen. Das macht sie relativ unabhängig von äußerer Stimulation. In jedem Gefängnis könnten sie überleben, sofern es über eine gute Bibliothek verfügt. Zeitweises Alleinsein ist für sie nicht nur kein Problem, sondern oft gesucht. Sie lesen, denken oder schreiben. Sie können Muße leben und es genießen, einfach nur das Weltgeschehen zu beobachten und dem Lauf der Gedanken in ihrer reichen Innenwelt nachzuhängen. Wenn ein Mensch dieses Typs sich kulturelle Inhalte aneignet, dann speichert er sie nicht nur irgendwo ab, sondern: Er verarbeitet sie, er verdaut sie, er wandelt sie in Eigensubstanz um. Die Inhalte unterschiedlicher Bereiche werden immer wieder verknüpft und kohärent abgeglichen. Es wächst ein stimmiges Weltbild mit verinnerlichten Werten und Überzeugungen. So erstarkt die innere Stimme, die immer deutlicher sagt, was richtig und was falsch ist (unter den Stichworten »inneres Wachstum« und »persönliche Meisterschaft« werden wir auf diese Prozesse noch zurückkommen). Aneignen impliziert aber auch: das Angeeignete lieben zu lernen. Es wächst eine umfassende Liebe zum Sein, die Welt und Selbst einschließt. Hierin kann dann ein unerschütterliches Selbstbewusstsein gründen, für das die Frage nach

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dem Selbstwert keine Bedeutung mehr hat. Diese Menschen agieren hochgradig autonom, sie scheren sich wenig darum, was andere tun, was gerade Mode ist oder was die Umwelt über sie denkt. Sie spüren Wert und Gegründetheit ihrer eigenen Urteile. Sie ahnen schon, worauf das Ganze hinausläuft: Während wir Menschen der zweiten Art dringend bräuchten, fördert unsere gegenwärtige Gesellschafts- und Medienrealität gerade den erstbeschriebenen Typus. Wir kommen darauf zurück – zunächst jedoch muss ich Ihren erkenntnistheoretischen Vorstellungen noch den Boden entziehen.

1.5 Instrumentenflug: Grundlagen der Erkenntnistheorie Bestimmte Grundtatsachen unserer Existenz scheinen derart sonnenklar, dass viele Menschen sie niemals hinterfragen: Die Welt da draußen vor meinen Augen, die ist doch objektiv und unabhängig von mir selbst gegeben. Die anderen Menschen, die sind doch wie ich, die haben Augen, Ohren und Nasen. Dann werden sie wohl auch die Welt da draußen genau so wahrnehmen und erleben wie ich – wie sollte es denn anders sein. Und die westliche Wissenschaft – kann sie nicht inzwischen alles in seine kleinsten Bestandteile aufspalten und kann sie mit ihren Teleskopen nicht Äonen von Lichtjahren weit ins All hinein schauen? Ist das, was diese Wissenschaft zu Tage bringt, nicht ewige und absolute Wahrheit? Und wenn diese Wissenschaft immaterielle Dinge wie Seele oder Gott nicht auffinden kann, dann existieren die wohl auch nicht. Schritt für Schritt zu verstehen, dass all dies Illusionen sind, habe ich als das spannendste intellektuelle Abenteuer meines bisherigen Lebens empfunden, aber auch als das schwierigste. Es sind vor allem zwei Denkschulen, die zentrale Hintergrundbeiträge dafür liefern: die evolutionäre Erkenntnistheorie und der Radikale Konstruktivismus. Die hiermit zusammenhängenden Probleme sind zum Teil sehr schwierig und komplex. Es braucht schon einige Monate oder gar Jahre intensiver Auseinandersetzung damit, ehe man das Gefühl hat, festen Grund unter den Füßen zu haben. Für die, die sich mit solchen Fragen noch nicht vertieft beschäftigt haben, will ich versuchen, das Ganze in Umrissen zu skizzieren und über Metaphern ahnungsvoll greifbar zu machen. Und natürlich wartet eine Fülle von Literatur darauf, konsultiert zu werden (in Hansch, 2004, finden Sie eine ausführliche und integrierte Darstellung dieser Themen samt weiterführender Literatur, etwas kürzer auch in Hansch, 2009). Zur evolutionären Erkenntnistheorie: Wie alle anderen Organe auch sind unsere Sinnes- und Erkenntnisorgane Produkt der Darwin’schen Evolution. Ihre Strukturen und Funktionen sind Anpassungen, die sich als überlebensförderlich

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erwiesen haben. In einer ersten, naiven Annäherung könnte man meinen, dass eine möglichst präzise und vollständige Abbildung der realen Außenwelt dem evolutionären Überleben dienlich wäre. Bei genauerem Hinsehen gilt das aber nur unter bestimmten Umständen und bis zu einem gewissen Grade. Bakterien und Insekten etwa sind, was Überlebenszeit der Art und Gesamtzahl der Individuen betrifft, weit erfolgreicher als wir Menschen. Und dabei haben sie gar keine oder im Vergleich zu uns nur rudimentäre Sinne. Adler dagegen verfügen über weitaus schärfere Augen und Hunde über viel feinere Nasen als wir. Darüber hinaus wissen wir, dass wir für bestimmte Aspekte der Realität keine Sinnesorgane haben, zum Beispiel für radioaktive Strahlung. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Realität eine Fülle weiterer Eigenschaften birgt, die uns unzugänglich sind, von denen wir nichts ahnen. Wir können nicht einmal sicher sein, ob die Realität nicht mehr Dimensionen aufweist als drei. Mathematisch kann man ja da allerlei interessante Spiele treiben. Stellen Sie sich vor, zweidimensionale Lebewesen, zum Beispiel bewegungsfähige Tintenkleckse, bewohnten die Oberfläche einer riesigen Kugel. Aus der Perspektive der Kleckse wäre ihre zweidimensionale Welt unendlich, sie würde ihren gesamten Vorstellungsraum ausfüllen. Es wäre für unsere Kleckswesen völlig undenkbar, dass über ihre Welt hinaus noch irgendetwas anderes existieren könnte. Nun, vielleicht sind wir dreidimensionale Lebewesen auf einer dreidimensionalen Kugel, die in eine 3+x-dimensionale Welt eingebettet ist. Es ist sehr schwer, sich das vorzustellen, aber mathematisch ist so etwas ohne Weiteres schlüssig konstruierbar. Wir können davon ausgehen, dass bestimmte »Eckdaten« der von den Sinnesorganen ins Gehirn transportierten Strukturen in irgendeinem Sinne übereinstimmen mit irgendwelchen überlebenswichtigen Aspekten der Realitätsnische, in der wir leben. Wie präzise aber diese Übereinstimmung ist und wieviel Prozent der Dimensionen und Eigenschaften der Gesamtrealität uns zugänglich sind, wissen wir nicht. Wir wissen es wirklich nicht, und es gibt auch prinzipiell keine Möglichkeit, das herauszufinden. Wir können aus der beschränkten Welt unserer Sinne nicht ausbrechen, um einen Vergleich mit der vollständigen Realität herzustellen. Wenn dies einem fiktiven, allwissenden Wesen möglich wäre – vielleicht würde es feststellen, das wir 60 Prozent der Welt erfassen, vielleicht sind es aber auch nur 10 Prozent oder 0,5 Prozent. Vielleicht leben wir in einer vergleichsweise winzigen und wenig aufregenden Nische eines unvorstellbar komplexen Universums und der Allwissende würde auf uns ähnlich mitleidig herabblicken wie wir auf das Bakterium in unserer Regentonne. Ganz in diesem Sinne findet etwa die renommierte Harvard-Physikerin Lisa Randall viele Argumente dafür, dass die von uns beobachtbare Welt nur eine von vielen Inseln innerhalb eines höherdimensionalen Raumes ist, in dem sich viele Universen quasi überlagern (Randall, 2006).

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Zum Radikalen Konstruktivismus: Wenn uns die Sinnesorgane also nur so etwas wie »überlebenswichtige Eckkonturen« der Realität vermitteln – wie entsteht dann der Reichtum unserer subjektiven Innenwelt? Nun, indem das Gehirn die Lücken konstruktiv ausfüllt, sie quasi ausmalt, so wie wir als Kinder die Strichfiguren unserer Malhefte mit Farbstiften füllten. Apropos Farben – tatsächlich beginnt die Konstruktion schon dort. Physikalisch gesehen, entspricht ja den Farbwechseln im Spektrum des Regenbogens ein Frequenzkontinuum elektromagnetischer Wellen. Das Gehirn konstruiert also aus allmählichen quantitativen Veränderungen deutliche qualitative Unterschiede. Der konstruktive Prozess setzt sich fort bei den Inhalten unserer Wahrnehmung. Ein Beispiel hatte uns ja schon Abbildung 6 gegeben: Die schwarzen Punkte sind die von den Sinnesorganen gelieferten Eckdaten. Aber für sich genommen ist diese Punktwolke ohne Sinn und Bedeutung. Erst das Gehirn konstruiert die Bedeutung nach bestimmten Kriterien wie Nähe, gemeinsame Linien- oder Kurvenbildung und Ähnlichem. Genau genommen müssten wir sagen: Es macht Vorschläge für mögliche Bedeutungen, es startet Interpretationsversuche, es bildet Hypothesen. Schon auf ganz elementaren Ebenen ist die Welt vieldeutig, es gibt nicht die eine, objektive oder gar wahre Bedeutung. Ausgewählt wird diejenige der hypothetischen Interpretationen, die am besten in den je aktualisierten Gesamtkontext passt. Über diese Ebene konstruierter Wahrnehmungen konstruieren wir dann in Schichten immer abstrakter werdende Begriffe, die in unterschiedlicher Form zu Aussagen, Konzepten, Modellen, Theorien organisiert werden. Auf der Ebene der Wahrnehmungen ist die konstruktive Freiheit noch relativ stark durch die Randbedingungen der Sinnesreize beschränkt: In Abbildung 6 können wir wohl große oder kleine Rosetten an unterschiedlicher Stelle sehen, aber keine Bäume oder Häuser. Je höher wir ins Reich der abstrakten Begriffe aufsteigen, desto indirekter werden diese Beschränkungen, desto mehr wächst die konstruktive Freiheit. Denken Sie nur daran, wie viele Theorien es über die menschliche Psyche gibt – fast so viele wie Wissenschaftler, die sich damit beschäftigen. Diese Sichtweise wird auch von neurobiologischen Befunden gestützt. Mehr als 95 Prozent aller Nervenzellen fungieren als sogenannte Interneurone. Diese Interneurone sind zwischen zwei andere Nervenzellen geschaltet und haben keinen direkten Kontakt zur Außenwelt. Nur weniger als fünf Prozent unserer Nervenzellen empfangen also über die Sinnesorgane Impulse aus der Außenwelt. Das Gehirn unterhält sich quasi überwiegend mit sich selbst. Wichtige Aspekte des bisher Gesagten werden vom sogenannten »Instrumentenflug-Gleichnis« eingefangen und auf das Anschaulichste vor Augen geführt. Wie Sie wissen, fliegen moderne Flugzeuge auch dann weiter, wenn sich die Piloten bei Nacht oder Nebel nicht mehr per Sicht durchs Kabinenfenster orientieren können. Das Cockpit enthält für all die Daten Instrumente und Anzeigen, die für einen sicheren Weiterflug erforderlich sind: Höhen- und Geschwindigkeitsmes-

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ser, Raumlage des Flugzeuges und Position in Bezug auf eine Karte, Radar für Hindernisse, Treibstoffanzeige etc. Ziel der Flugzeugkonstrukteure war es dabei, den Piloten zu ermöglichen, ohne Kursabweichungen, Kollisionen oder Bruchlandungen sicher weiterzufliegen. Und dafür genügen relativ wenige Zahlen und Symbole. Der Informationsgehalt dieser Zahlen und Symbole ist natürlich sehr viel geringer als die volle Sicht durchs Kabinenfenster. Stellen Sie sich vor, ein fensterloses Flugzeug würde sich jahrzehntelang auf einem ununterbrochenen, luftbetankten Instrumentenflug befinden. Die im Flugzeug geborenen Pilotengenerationen könnten sich überhaupt kein Bild mehr von der Außenwelt machen. Das Cockpit mit seinen Instrumentenanzeigen wäre die einzige Wirklichkeit, die sie kennen. Sie würden die Symbole und Anzeigen samt ihrer korrelierten Veränderungen in irgendeiner Weise versuchen, sinnvoll zu deuten. Dabei würden sie phantastische Vorstellungen zusammenkonstruieren, die mit der Realität außerhalb des Flugzeuges wenig zu tun hätten. Manche von ihnen würden sagen: Die Zahlen und Symbole samt unserer Vorstellungen über ihre Bedeutung – das ist alles, was es gibt. Hämisch würden einige besonders Schlaue in die Runde fragen: Oder hat jemand von euch je etwas anderes gesehen? Nun, ob Sie es glauben oder nicht – auch unsere Existenz im Universum gleicht einem solchen Instrumentenflug in einem Flugzeug, in das wir hineingeboren wurden und das wir nicht verlassen können. Das Flugzeug entspricht unserem Körper samt seinem Gehirn, die Instrumente stehen für unsere Sinnesorgane und das Cockpitinnere samt den Instrumentenanzeigen gleicht unserer subjektiven Wirklichkeit – jene Welt, die uns von unseren Sinnesorganen präsentiert wird und die wir gleich den eingeborenen Piloten für die einzige und vollständige Welt zu halten geneigt sind. Aber das ist ein Irrtum, eine Illusion, die sich uns im Alltag mit großer Macht aufdrängt. Unsere subjektive Wirklichkeit ist eingebettet in eine äußere Realität, die unendlich viel komplexer und reicher ist. Gleich den Flugzeugingenieuren hat die Evolution unsere Sinnesorgane nicht konstruiert, um uns diese Realität möglichst vollständig zu zeigen. Sie hat uns nur so viele Sinnesinstrumente eingebaut, wie zum Überleben in unserer speziellen Nische notwendig ist. Was glauben Sie, was passieren würde, wenn wir mehrere Dauerflieger gleichen Typs auf die Umlaufbahn setzten? Natürlich würde jede Crew eine eigene Deutungsgeschichte ihrer Cockpit-Wirklichkeit konstruieren. Und diese Weltbilder würden sich ganz sicher drastisch voneinander unterscheiden. Bei uns Menschen ist es genauso, und zumeist bemerken wir es gar nicht. Auch unsere subjektiven Wirklichkeiten unterscheiden sich zum Teil dramatisch voneinander. Wahrscheinlich beginnt das schon bei den Wahrnehmungen. Vielleicht haben auch Sie einen Bekannten, bei dem kürzlich eine leichte Form von »Farbenblindheit« diagnostiziert wurde, ohne dass er oder sein Umfeld etwas davon gemerkt hätten. Darüber hinaus unterscheiden sich Wahrnehmungen und Erfahrungen natürlich deshalb, weil Menschen in unterschiedlichen Kulturen, Fami-

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lien und Orten groß werden. Aber selbst wenn man am gleichen Ort ist, nimmt man unterschiedliche Dinge wahr. Kennen Sie die bekannte Geschichte von der Bergwanderung? Ein Bauingenieur, ein Biologe und ein Teenager machen eine Bergwanderung. Oben in der Hütte unterhalten sie sich und stellen fest: Jeder hat eine andere Wanderung gemacht. Der Bauingenieur hatte nur Augen für die Statik von Felsformationen und Hütten, der Biologe für die Fauna und Flora am Wegesrand und der Teenager für die vorbeikommenden jungen Mädchen. Unterschiede in Bildung und Ausbildung führen dann dazu, dass Menschen ganz unterschiedliche Begriffsnetze über die Wirklichkeit werfen. Für Theologen ist das Universum eine unerklärliche Schöpfung Gottes und für manche Physiker »nichts als« ein gigantischer Computer. Für den, der nur einen Hammer hat, wird alles in der Welt zu einem Nagel. Man sieht, was man weiß, bemerkte schon Goethe. Viele Bereiche des Lebens sind zudem derart komplex, dass man sie mit Begriffen abdecken muss, die man gar nicht scharf definieren kann (das betrifft z. B. »Krankheit« und »Gesundheit«). Oder es gilt eine Vielzahl von Konzepten und Theorien zugleich, in denen die gleichen Worte jeweils für ganz andere Inhalte und Bedeutungen stehen. Fragen Sie einmal Vertreter unterschiedlicher Psychotherapie-Schulen danach, was sie unter dem Begriff Neurose verstehen (für den einen gibt es gar keine Neurosen, für den anderen ist schon die Frage neurotisch). Man könnte hier noch viele Aspekte anfügen – worauf ich hinaus will, ist dies: Jeder von uns lebt in seiner eigenen Wirklichkeit und im Licht dieser subjektiven Wirklichkeit gewinnt alles einen sehr eigenen Farbton. Jeder von Ihnen liest gerade ein anderes Buch. In einer Firma arbeitet jeder Mitarbeiter in einem anderen Unternehmen, hört eine andere Rede des Vorstandsvorsitzenden. Und wenn Sie all Ihre Gedankenkraft und Ihren Mut zusammennehmen, erkennen Sie vielleicht, welch dramatische Implikation dies hat: Sie sind eingeschlossen – und allein. Und nicht nur Sie, auch ich, wir alle, jeder für sich. Die Wirklichkeit eines jeden von uns ist in Sachen Sinn und Bedeutung hermetisch in sich abgeschlossen. Bedeutung wird im Inneren aus dem Kontext erzeugt und den Außenreizen zugewiesen. Dies hatte schon Abbildung 6 gezeigt, und Abbildung 7 macht es noch deutlicher – es sind zwei Deutungen möglich: alte Frau oder junge Frau. Abbildung 8 demonstriert, dass das auch für Symbole gilt, auch für komplexere: Wenn ein Mann vom Fenster her seiner Frau zuruft: »Liebling, da brennt eine Bank!«, dann kann damit eine Parkbank gemeint sein oder ein Geldinstitut. Es wird aus dem Kontext verständlich – wohnt man am Stadtpark oder im Zentrum von Mainhattan. Auch bei Kommunikation wird also nicht Information oder Bedeutung ausgetauscht, wie immer noch vielerorts angenommen. Man regt sich vielmehr wechselseitig zu innerer Bedeutungserzeugung an. Und diese Bedeutung evolviert dann aus dem ureigenen und einmaligen Kontext der individuellen Wirklichkeit, in der sich die Eigenheiten von Wahrnehmung, Motivation, Denken, mit der individuellen Lern- und Erfahrungsgeschichte idiosynkratisch verweben. Und so

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Abbildung 7: Kippbild »Alte Frau – junge Frau«: zwei unterschiedliche Interpretationen ein und desselben Reizmusters (aus Haken u. Haken-Krell, 1992, S. 200)

ersteht bei jedem eine andere Bedeutung, wenn ihm in der Kommunikation Symbole an den Kopf geworfen werden. Stellen Sie sich einmal vor, in einem Seminar würde die wundervolle Beschreibung einer Landschaft aus einem Roman vorgelesen. Und dann sollen alle Seminarteilnehmer diese Landschaft malen. Sie können es ausprobieren, werden mir aber auch so glauben: Jeder malt eine andere Landschaft und bei den sich am meisten unterscheidenden Varianten würde vermutlich niemand spontan auf die Idee kommen, dass es sich eigentlich um dieselbe Landschaft handeln soll. Und wenn wir Begriffe wie Gerechtigkeit, Glück und Gleichberechtigung hören, dann sind die Bedeutungslandschaften, die wir innerlich malen, noch unterschiedlicher. Nur merken wir es nicht. Weil wir die nicht aufmalen können (in Form einer Art Mind-Map ginge das angenähert, aber das wäre sehr schwierig, aufwändig und unvollständig). Deshalb reden bei Talkshows und anderen Gelegenheiten die Leute auch zumeist aneinander vorbei, oft, ohne es zu bemerken. Unbemerktes Missverstehen ist im Alltag viel häufiger als Verstehen. Verstehen? Jetzt fragen Sie sich zu Recht: Ist denn dann Verstehen überhaupt möglich? Die Antwort: Nein, im Prinzip nicht. Streng genommen sind wir Menschen ziemlich einsame Wesen. Doch »im Prinzip« lässt ein Hintertürchen offen: Ideales, absolutes Verstehen ist nicht möglich, ein angenähertes Verstehen, das für viele Alltagszusammenhänge ausreicht, aber schon. Was ist Verstehen eigentlich? Dass ein Informations- und Bedeutungspakt heil beim Empfänger ankommt? Das eben gerade nicht. Das Paket ist leer. Es

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Abbildung 8: Symbole können mehrdeutig sein – die je adäquateste Interpretation ergibt sich aus dem Kontext

ist gar keine Bedeutung drin. Vielmehr muss das Symbolpaket genau die gleichen Prozesse der Bedeutungserzeugung und Verarbeitung im genau gleichen Kontext beim Empfänger auslösen, wie sie beim Sender zuvor auch abgelaufen sind. Das und nur das wäre Verstehen. Und idealerweise geht das natürlich nur bei Erkenntnissystemen, die einen identischen Aufbau aufweisen – wie bei Computern mit dem gleichen Betriebssystem. Je ähnlicher sich Menschen sind, desto besser können sie sich also verstehen. Die Evolution hat dafür gesorgt, dass unsere kommunikativen Betriebssysteme auf den basalen Ebenen sehr ähnlich sind: Wenn Fotos angst-, schmerz-, schreck- oder ekelverzerrte Gesichter zeigen, wird dies in allen Kulturen rund um den Erdball prompt verstanden. Diese Gleichschaltung im Bereich der Erbantriebe ermöglicht die Kommunikation der Primaten und die Verständigung zwischen Menschen auf elementarer Ebene. Durch die skizzierten Mechanismen geht diese Gleichheit auf den höheren, von Kultur, komplexer Begrifflichkeit und individuellen Erfahrungen geprägten Ebe-

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nen immer mehr verloren, so dass Verstehen immer schwieriger und schließlich unmöglich wird. Alles, woraus Ähnlichkeit oder Angleichung erwächst, wirkt dagegen förderlich für Verstehen und Verständigung: gleiches Geschlecht und Alter, gleicher Kulturkreis, gleiche Religion, gleiche soziale Schicht und gleicher Beruf und natürlich ganz besonders: längeres, wechselseitig korrigierendes Zusammenarbeiten und Zusammenleben. Sind diese anähnelnden soziokulturellen Wirkkräfte stark genug, ist ein für die Praxis ausreichendes Verstehen möglich. Schwächen sich diese integrierenden Kräfte ab und werden sie nicht durch neue ersetzt, kann einer Gesellschaft die Fähigkeit zur Verständigung abhanden kommen. Insbesondere darauf werden wir noch zurückkommen, das ist ja der Kern unseres Themas. Ein letzter Punkt: Bewusstsein und Erkenntnisvermögen sind wie gesagt ursprünglich zu dem Zweck entstanden, vier Gliedmaßen zu koordinieren. Gemäß dieser Anforderung wurde gewissermaßen die Kanalbreite unseres Bewusstseins bemessen: Wir können uns so um die sieben Dinge gleichzeitig vorstellen bzw. ihnen bewusste Aufmerksamkeit widmen. Es liegt auf der Hand, dass dies unsere Erkenntnismöglichkeiten dramatisch einschränkt. Niemand von uns ist dazu fähig, die schiere Fülle von wichtigen Einflussfaktoren auch nur annähernd zu erfassen, die bei komplexen biomedizinischen oder psychosozialen Problemen eine Rolle spielen. Und noch weniger sind wir fähig, die Momenteffekte und Langzeitwirkungen nachzuvollziehen, die sich aus dem komplexen Wechselspiel all dieser Faktoren ergeben. Wie durch ein enges Guckloch sieht jeder von uns nur einen sehr kleinen Ausschnitt des Ganzen. Und dieses Guckloch schränkt nicht nur unseren Blick auf die äußere Komplexität dramatisch ein, durch dieses enge Guckloch müssen wir dann auch noch unsere innere Komplexität kommunizieren. Wir können immer nur einen Gedankenfaden unseres inneren Gewebes langsam durch dieses Löchlein ziehen: Intuitiv steht mir der Inhalt dieses Buches als ein komplexes, quasi dreidimensionales, ganzheitliches Gedankengeflecht vor dem inneren Auge. Dennoch muss ich dieses Buch Zeile für Zeile schreiben und Sie müssen es Zeile für Zeile lesen. Es ist Ihnen nicht möglich, eine ganze Buchseite mit einem Blick zu erfassen. Und es würde Sie eine immense Mühe kosten, um ein wirklich dem meinen vergleichbares Gedankengeflecht vor Ihr inneres Auge zu bekommen. Dazu müssten Sie dieses Buch mehr als einmal lesen, sich seine Inhalte einprägen und auch noch meine anderen Bücher lesen. Sie müssten viele der Bücher lesen, die ich selbst von anderen Autoren gelesen hab. Aber vermutlich werden Sie dies nicht tun. Also werden Sie nur mit mehr oder weniger großen Einschränkungen verstehen, was ich eigentlich meine. Entsprechend muss ich mich auf eine Fülle kritischer Anwürfe einstellen, die oft und in beträchtlichem Maß auf Missverständnissen beruhen werden. Wir können jetzt die biologischen Bürden erkennen, die uns daran hindern, funktionierende Kulturgemeinschaften zu formieren. Lassen Sie uns das noch einmal zusammenfassen.

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1.6 Erbhandicaps: Primaten-Ego und Guckloch-Problem Gier und Primaten-Ego: Wie besprochen, hat uns die Evolution Konsum- und Egoantriebe ins Gehirn gepflanzt. Wir streben nach schnellem Genuss und nach Erhöhung unseres Ego in der sozialen Hierarchie. Letzteres wirkt als PrimatenEgo zerstörerisch auf Kulturgemeinschaften, die nur dann gelingen können, wenn sich die Egos bestimmten Gemeinschaftsprinzipien unterordnen (sachliche Gefordertheit, Fairness, Gerechtigkeit etc.). Viel zu oft brechen Eitelkeit und Machtstreben durch und zerstören Gemeinschaften auf allen Ebenen: von der Familie über Unternehmen bis hin zu politischen Prozessen. Die Konsumgier dagegen führt, gesteigert noch durch das Guckloch-Problem, in die »Falle des Kurzzeitdenkens«, wie der bekannte Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt das einmal genannt hat. Man maximiert Genuss und Lust im Hier und Jetzt, ohne räumliche und zeitliche Fernwirkungen ausreichend einzubeziehen. So werden Ressourcen verschleudert und Umwelten zerstört mit der Gefahr, künftigen Generationen die Lebensgrundlage zu entziehen. Guckloch- und Kanalengen-Problem: Natürliche und soziokulturelle Evolution haben dazu geführt, dass unsere Lebenswelt eine gewaltige Komplexität erreicht hat. Doch immer noch hat jeder von uns zur Orientierung in diesem unüberschaubaren Dschungel nur jenes kleine Bewusstseins-Guckloch zur Verfügung, das uns die Evolution zur Steuerung unserer vier Gliedmaßen »aufgekratzt« hat. Dies macht die Orientierung mühsam bis unmöglich. Jeder von uns sieht nur einen kleinen Ausschnitt des großen Ganzen, sei es nun unsere kulturelle Lebenswelt, das Wirtschaftssystem oder eine Wissenschaftsdisziplin – und oft überschneiden sich diese Ausschnitte nur wenig oder gar nicht. So kommt es, dass Ehepartner, Wirtschaftslenker oder Politiker in den meisten Fragen im Streit liegen: Jeder hängt das Problem an einer anderen Ecke auf und kommt zu anderen Lösungen. Neulich las ich in der Zeitung, dass die Chemiker auf einem großen Kongress darüber klagten, kaum mehr eine gemeinsame Sprache zu finden. Wenn das jetzt sogar in den vergleichsweise exakten Naturwissenschaften zum Problem wird, dann könnten die Aussichten trüber kaum sein. Erschwerend kommt hinzu: Wir können auch nur mühsam in linearen Einzel-Schritten durch dieses Guckloch hindurch kommunizieren. Dabei ist es leider unmöglich, direkt Bedeutung auszutauschen – wir stoßen uns lediglich indirekt zur wechselseitigen Bedeutungserzeugung an. Lehnen Sie sich doch einmal zurück und werden Sie ganz tief des Wahnsinns bewusst, der sich hier gerade vor Ihnen auftut. Das Ganze ist erbarmungswürdig umständlich und ineffektiv. Es ist viel schlimmer, als mit einem Schuh einen Nagel einschlagen zu wollen oder mit einer Suppenkelle gegen das Volllaufen eines Ozeanriesen zu kämpfen. Es ist postabsurd. Es kann nicht funktionieren. Jeder Ingenieur, der solch ein Kommunikationssystem bauen würde, käme auf direktem Wege in die Psychiatrie (wo auch heute noch niemand ihm helfen könnte).

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Es ist so hoffnungslos, dass auch das folgende Bild nur einen schwachen Abglanz bietet: Stellen Sie sich vor, Sie hätten eine riesige Karte auf dem Boden Ihres Lofts liegen, um mit Ihrer Freundin eine Autotour über tausende Kilometer zu planen. Sie können sich an diesem Abend nicht mehr sehen und so kramt Ihre Freundin eine ebensogroße Karte aus ihrer Kammer hervor. Nun versuchen Sie es per Telefon: »Geh doch einfach von der Mitte der Karte vierzig Zentimeter nach oben, da kreuzt doch eine Autobahn über den Fluss. Wo da ein Fluss ist?« Ach, wenn Sie doch einfach hinfahren und Ihre Karte mitbringen könnten – aber das ist ja nicht möglich (dies entspräche einem direkten Austausch von Bedeutung)! Was denken Sie wohl, wie es weitergeht? Na, die Autotour kommt niemals zustande. Sie zerstreiten sich hoffnungslos: »Wenn ich gewusst hätte, dass du so ein Dummkopf bist! Es kann doch nicht so schwer sein, von Wackerode zehn Zentimeter nach rechts zu gehen!« »Wo steht denn da Wackerode? Kannst du eigentlich lesen? Na, da wird mir ja manches klar!« Irgendwie kommt keiner von Ihnen auf die Idee, dass Sie unterschiedliche Karten haben könnten – aber genau das ist der Fall. Selbst mit gleichen Karten wäre es schwer, über das Telefon zu planen. Und mit verschiedenen Karten kann man sich nur zerstreiten … Unnatürliches Hineinsteigern in Wut und Rachsucht: … und sich am Ende womöglich die Köpfe einschlagen. Und genau das passiert allzu oft. Die meisten Menschen haben von der erbarmungswürdigen Dürftigkeit menschlicher Erkenntnis und Kommunikation keine Ahnung. Die Alltagsillusion, die sich fast unabweislich aufdrängt, sieht wie gesagt so aus: Andere Menschen sind doch im Grunde wie ich. Sie haben zwei Beine und einen Kopf. Dann werden sie wohl auch so funktionieren wie ich. Sie werden die eine, objektiv vorhandene Welt da draußen genau so sehen wie ich, sie werden darüber genau so denken und sie auch gefühlsmäßig genauso bewerten wie ich. Wir schließen immer von uns auf andere: Wir unterstellen ihnen nicht nur unsere eigene Sichtweise, sondern auch noch die Vielfalt unserer eigenen Reaktions- und Verhaltensoptionen. Und wenn sie dann nicht gemäß unseren Erwartungen handeln, dann sind sie böse, infam, egoistisch und wollen uns schaden. Und schon springt unsere Aggressionsbereitschaft an, die zu unseren Erbantrieben gehört. Wir werden ärgerlich und verschanzen uns. Die Kommunikation bricht zusammen und jeder phantasiert sich in eine schwarz-weiße Welt der zumeist falschen Unterstellungen hinein, in der der andere der Böse und man selbst der Gute ist. Alles, was geschieht, wird nun im Sinne dieser Verschwörungstheorie gedeutet. Schnell wird jetzt ein harmloses Ereignis zum Funken, der eines der vielen Pulverfässer zur Explosion bringt. Es entsteht Wut und es kommt zur Einengung der höheren Erkenntnisfunktionen (»Tunnelblick«), so dass die differenzierende, relativierende und mäßigende Vernunft nun gar keine Chance mehr hat. Eine sich selbst verstärkende Spirale von Wut und Rachsucht, von Aggression und Vergeltung kommt in Gang. Im nur dem Menschen eigenen Reflexionsraum des Bewusstseins steigern sich nun negative Gedanken und negative Gefühle bis zur Weißglut auf: Aus Wut wird

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unversöhnlicher Hass. So kommt es, dass der Mensch zu Formen von Grausamkeit und Bestialität getrieben werden kann, die man beim Tier noch nicht beobachtet hat. Dies sind Dispositionen, die auf immer Teil unserer Natur sein werden. Werden sie nicht von starken Kulturantrieben oberhalb der Kulturschwelle an die Kandare genommen, kann die dann nur dünne Schicht zivilisierten Verhaltens immer wieder aufreißen. Von der biologischen Hardware her sind wir also dafür gerüstet, in biologischen Hackordnungen nach dem Recht des Stärkeren das kurzfristige materielle Überleben zu sichern. Das funktioniert gut, dafür ist unsere Hardware gemacht. Dann hat sich in den Zwischenräumen, die dieses System lässt, die Kultur eingenistet und hat eine immense Eigendynamik gewonnen, woraus hochkomplexe Kulturgemeinschaften entstanden sind. Die Entwicklung unserer biologischen Hardware ist zu träge, um sich den nun entstehenden neuen Erfordernissen der bewussten Erkenntnis, Kommunikation und Kooperation anpassen zu können. Auf der Basis unserer alten biologischen Hardware aber funktionieren diese komplexen Kulturgemeinschaften nur sehr schlecht: Missverstehen, Konflikt, Streit, Krieg, Kurzfristdenken und blindwütige Ressourcenausbeutung bestimmen das Bild. Nur für kurze Zeiträume gelingt es der nur rudimentär ausgebildeten gesellschaftlichen Selbststeuerungsfähigkeit, die soziokulturelle Evolution in einem Bereich zu halten, in dem ein großes Glück für eine große Zahl realisiert werden kann. Schon bald läuft wieder alles aus dem Ruder: Im Zusammenhang mit dem Phänomen der Dysemergenz und entsprechenden Selbstverstärkungseffekten hat das System eine Tendenz, in Bereiche maximaler Spannung zwischen den unverrückbaren biologischen Verankerungen und den immer stärker überblähten Segeln der soziokulturellen Evolution hineinzutreiben, mit der Gefahr des Zerreißens und Kollabierens. Nur wenn wir ganz gezielt und massiv unsere biologischen Schwachstellen durch Erziehungsmaßnahmen soweit als möglich auszugleichen lernen und die vom nächsten Kapitel an besprochenen Phänomene der sozialen Dysemergenz einigermaßen in den Griff bekommen, haben wir eine Chance zum langfristigen Überleben.

1.7 Die Mechanismen des Zerfalls So, nun sind Sie einen langen Umweg mitgegangen. Wir werden all dies brauchen und zum Teil später noch ausbauen müssen, um gegenwärtige Entwicklungen zu verstehen. Jetzt müssen wir wieder hineinzoomen in das traurige Bild unserer umschlagenden Entwicklungskurve. Sie erinnern sich: Einfache dynamische Entwicklungen folgen zumeist dem Bild der Sigmoidkurve. Komplexe Entwicklungen sind aus einfachen Entwicklungen zusammengesetzt, wobei sich Sigmoidkurven zeitversetzt überlagern. Deshalb können sich komplexe Entwicklungen

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lange vital erhalten und es gibt immer nur Tendenzen und Wahrscheinlichkeiten für das Umkippen der Kurve. Aber irgendwann passiert es. Mit Sicherheit. Und wenn tausend falsche Propheten vorher Unrecht hatten. Irgendwann kommt einer, der Recht behält. Und dann muss man schnell handeln, um das Ganze wieder nach oben zu biegen. Konsumgier, Status- und Machtgier, Wut und Rachsucht – so hart es klingt, aber das sind wohl die Hauptantriebskräfte der bisherigen Menschheitsentwicklung. All das gab und gibt es natürlich schon bei unseren tierlichen Vorfahren, aber die Entwicklung zum Menschen kam erst in Gang, als die Weitergabe, Ansammlung und Weiterentwicklung individuell erworbener Kompetenzen sich in größerem Umfang durchsetzte. Auf der Basis genetisch fixierter Dispositionen im Gehirn war wohl einer der entscheidenden Schritte die Erfindung des Symbolgebrauchs in Form von Sprache und Schrift. Dies ließ dem Erkenntnis- und Erfindungsvermögen Flügel wachsen. Getrieben von der Gier wurden immer neue natürliche Energien nutzbar gemacht zur Produktion von Gütern, die Sinne und Erbbedürfnisse befriedigen. Zuerst wurden die Energien von Wind und Wasser, von Holzfeuer und Nutztieren erschlossen. In einer über Jahrtausende vor sich hindümpelnden Entwicklung wurden so aus Jäger- und Sammlerkulturen Agrargesellschaften. Unter Beteiligung historischer Zufälle kamen dann Ende des 18. Jahrhunderts in Europa einige Faktoren wie Klima und protestantische Arbeitsethik zusammen, die in positive Rückkoppelung gerieten und die Entwicklungskurve steil ansteigen ließen. In der industriellen und wissenschaftlich-technischen Revolution wurden die Energien von Kohle, Erdöl und Erdgas, die Elektrizität sowie chemische und nukleare Energien verfügbar gemacht. Die Erfindung wurde erfunden, Wissenschaft und Technik wurden in Form von Technischer Hochschule, Universität und Wissenschaftsbetrieb mit Zeitschriften und Kongressen institutionalisiert. Dies ermöglichte Innovationssigmoide, die sich dann zur aufschießenden Gesamtkurve der Industriegesellschaft überlagerten: Dampfmaschine und Textilindustrie, Stahlindustrie und Eisenbahn mit Durchsetzung der fabrikmäßigen Produktion, was zum Entstehen des Proletariats und der Durchsetzung der städtischen Lebensweise beitrug. Dann kam die Welle der Elektrotechnik und der Chemieindustrie und schließlich das Automobil mit Petrochemie und individuellem Massenverkehr. In den 1960er Jahren war in den Industrieländern circa jeder fünfte Arbeitsplatz direkt oder indirekt vom Automobil abhängig. Die nächste Innovationswelle brachte dann seit Anfang der 1970er Jahre einen qualitativen Wandel mit sich. Die Bruttosozialprodukte wachsen seither schneller als der Verbrauch an Primärenergie, der Strukturwandel ist nicht mehr energiegetrieben, sondern informations- und dienstleistungsgetrieben. Die Datenverarbeitungs- und Informationstechnik entfaltet sich in ihren vielen Facetten bis hin zu Computer und Internet. Es ist von der Informationsgesellschaft, sogar von der Wissensgesellschaft die Rede. Aber immer noch sind die eigentlichen Triebkräfte, die hinter all dem stehen, die Erbantriebe und nicht Kulturantriebe (deren

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Ausbildung viel zu gering und derzeit sogar eher rückläufig ist). Entsprechend ist ein Großteil dessen, was von der Informationstechnik produziert wird, auf die Befriedigung der basalsten Erbantriebe bezogen. So war und ist die Sexindustrie nicht nur eine der präsentesten und umsatzstärksten Sparten im Internet, sondern auch eine seiner stärksten technologischen Triebkräfte (Online-Bezahlsysteme, Management riesiger Bilddatenbanken etc.). Darüber hinaus wird Unterhaltung im weitesten Sinne angeboten: von Computerspielen, die großenteils die Aggressionsantriebe ansprechen, über Musik- und Videoclips bis hin zum sogenannten Edutainment. In einer Gesellschaft, die von Erbantrieben regiert wird, fördert die Informationstechnik eben gerade nicht die Selektion und Integration von Information zu Wissen, sondern deren Fragmentierung und simplifizierende Verbilderung – wir werden darauf zurückkommen. Bis heute hat die intrinsische Triebkraft des Kapitalismus, die Wechselwirkung zwischen Gier und Innovation, eine ungebrochene Vitalität bewiesen. Alle durch externe Faktoren wie politische Sackgassen oder Kriege bewirkten Einbrüche haben sie hernach nur umso kraftvoller wieder emporschießen lassen. Die Grenzen der Innovation waren noch nicht erreicht und zwischenzeitliche Not fachte die Gier nur umso stärker an. Doch nun mehren sich Zeichen und Gründe dafür, dass sich dieser Triebmechanismus bisheriger Gesellschaftsentwicklung intrinsisch zu erschöpfen beginnt. Schauen wir uns das genauer an und fokussieren wir nun auf Deutschland. Durch den Zweiten Weltkrieg wurde gewissermaßen wieder einmal auf den großen »Reset-Knopf« gedrückt. Es bestand große materielle Not. Die meisten Erbbedürfnisse blieben in hohem Maße unbefriedigt, vom Essen bis zum Wohnen. Das setzte immense Antriebskräfte frei. Katalysiert durch ein positives weltwirtschaftliches Umfeld, den Marshall-Plan, ein geschicktes Agieren der Politik, eine Flut wissenschaftlich-technischer Neuerungen und andere Faktoren kam es zum sogenannten Wirtschaftswunder: Das Wachstum stieg auf über 10 Prozent und blieb bis Anfang der 1970er Jahre auf vergleichsweise hohem Niveau. Von Jahr zu Jahr konnten immer mehr Menschen immer mehr drückende Bedürfnisse besser befriedigen: Es kam der erste Kühlschrank, dann das Auto und die Italienreise, schließlich das eigene Haus. Der Zeitgeist war schwanger mit Zukunftsverheißung: Anstrengung lohnt sich, es wird uns besser gehen und unseren Kindern noch besser. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt schien unbegrenzt. Es kamen immer neue Produkte auf den Markt, die die Grundbedürfnisse wirklich deutlich besser zu befriedigen vermochten: Aus dem klobigen Röhren-Radio wurde das Transistor-Koffer-Radio, aus dem Schwarz-Weiß-Fernseher wurde der Farbfernseher. Und auf Anschaffungen dieser Art musste man schon einige Zeit sparen, in der man von intensiver Vorfreude zehren konnte. Jedermann sah: Wissenschaft und Technik waren eine gute Sache. Nach Bildung zu streben, war selbstverständlich und durchgängig positiv besetzt. Man wollte studieren und Karriere machen. Wenn man im Fernsehen ein Fremdwort nicht verstand, dann war einem das peinlich und man holte das Fremdwörterbuch. Es

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galt eben noch die alte Arbeits- und Leistungsethik: sparsam sein, sich schinden, zuerst die Arbeit und dann das Vergnügen, bloß nicht faul sein und müßig gehen; Streben nach maximaler Leistung und Perfektion vom Dreher an der Maschine bis zur Hausfrau am Putzleder. Dem nicht übermäßig anspruchsvollen Gemüt lag der Sinn des Lebens offen zutage: etwas für die Kinder und Enkel aufbauen. Dieser Traum vom besseren Leben ließ sich nur in der Gemeinschaft verwirklichen. Entsprechend waren Gesellschaft und Staat positiv besetzt. Man interessierte sich für Politik, ging wählen oder war gar Mitglied einer großen Volkspartei. Und wenn jemand im öffentlichen Raum gegen soziale Normen verstieß, wurde er zurechtgewiesen. Wenn ein Lehrer einen seiner Schüler auf der Straße rauchen sah, dann unterband er das und der Bengel war heilfroh, wenn der Vater keinen Wind davon bekam. Immer mehr Menschen gingen über die Kulturschwelle: Es wurde viel gelesen, dem Buch wurde noch nicht von allzu vielen Unterhaltungsverführungen das Wasser abgegraben. Klavierunterricht und Theaterbesuche gehörten in immer breiteren Kreisen zum guten Ton. Wenn Menschen sich verstellten, dann versuchten sie, ein höheres Bildungs- und Kulturniveau vorzutäuschen. Und all dies waren Phänomene, die sich im Sinne einer Aufwärtsspirale positiv verstärkten. Dabei spielen wieder Versklavungseffekte eine zentrale Rolle. Eine Fülle positiver Einzelfaktoren aus den unterschiedlichsten Bereichen schaffen eine bestimmte gesellschaftliche Grundstimmung: Es geht in eine positive Richtung voran, die Zukunft wird besser sein als die Vergangenheit, es macht Sinn, sich ins Zeug zu legen. Man hat Kontrolle über das Schicksal. Ein solcher Zeitgeist ist alles durchdringend und schwer greifbar. Er hat etwas Feldähnliches an sich. Nennen wir also diese vielleicht wichtigste Facette des Zeitgeistes das SinnVerheißungs-Feld. Dieses Sinn-Verheißungs-Feld erwächst aus dem Zusammenwirken von Einzelphänomen und wirkt dann oberhalb einer bestimmten Schwelle im Sinne einer Versklavung verstärkend auf diese Phänomene zurück: Wenn viele Eltern wollen, dass ihre Kinder studieren, trägt das zu einem starken Sinn-Verheißungs-Feld bei. Und umgekehrt wird ein starkes Sinn-VerheißungsFeld unsichere Eltern dazu veranlassen, ihre Kinder im Zweifel doch auf das Gymnasium zu schicken. Durch diese Aufwärtsspirale ist Deutschland reich, sehr reich geworden. Das ist schön, es bringt aber auch Gefahren mit sich.

1.8 Die Abwärtsspirale Auch in der Akkumulation von Reichtum liegt eine positive Rückkoppelung: Je reicher jemand ist, desto wirksamere Mittel kann er sich verfügbar machen, die dafür sorgen, dass er noch reicher wird. Das beginnt beim Zinseszins-Mechanismus, geht über weitgreifendere und variablere Investitionsmöglichkeiten,

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finanzielle Puffer für zwischenzeitliche Dumpingpreise, Monopolpreise, PRund Lobbyarbeit, den Einkauf von Expertenwissen bis hin zu Bestechung und Einflussnahme auf die Gestaltung wirtschaftspolitischer Rahmenbedingungen. Das gilt national und auch international: Es sind die reichen Länder, die über die WTO und auf anderem Wege die Regeln des internationalen Waren- und Devisenhandels bestimmen. Mehr oder weniger bemäntelter Egoismus getrieben von den Ego- und Konsumantrieben plus selektive Wahrnehmungen (Guckloch-Problem) in Verbindung mit systemischen Mechanismen führen so dazu, dass die Reichen immer reicher werden. Und so kommt es, dass entgegen der eigentlichen Idee von Entwicklungshilfe seit vielen Jahren der Nettogeldfluss von den ärmeren Südländern an die reichen Nordländer fließt. Der Süden leistet derzeit jährlich rund 180 Milliarden Dollar an Zinszahlungen, also mehr als doppelt so viel, wie an Entwicklungshilfe in die umgekehrte Richtung geht (Radermacher, 2007). Schon die Autoren die Bibel wussten um solche Phänomene: Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, dass er Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen, was er hat – so heißt es im Matthäus-Evangelium. Der amerikanische Soziologe Robert Merton hat hierfür den Begriff Matthäus-Effekt geprägt. Wie sich zeigen wird, finden wir diesen Effekt auf vielen Ebenen. Als eines der reichsten Länder der Erde ist Deutschland seit Jahrzehnten zugleich einer der stärksten »Geldstaubsauger« der Welt, der über systemische Mechanismen wie den Matthäus-Effekt unverdienten Wohlstand global ansaugt. Diese Überfülle an Konsumgütern und Geld schuf Bedingungen, die auf vielen gesellschaftlichen Ebenen eine schleichende Entkoppelung von Wohlstand und Leistung erlaubten (was im Einzelfall ja auch gut und richtig ist): unkündbare Beamte, Frühruheständler, Erben, verwöhnte Kinder, Sozialhilfeempfänger, Firmen, die über Jahre von ihrem guten Ruf oder ihrer Monopolstellung zehrten – um nur einige Stichworte zu nennen. Man konnte es sich immer mehr leisten, ein klein wenig zu schludern, sich nicht mehr ganz so zu verausgaben, nur noch 80 Prozent zu geben statt 120. Es fiel nicht weiter auf, die Selbstverstärkungsmechanismen des Systems füllten die Lücke. Allmählich kam auch wieder die Freude am Spaß auf. Zudem vervielfältigten sich die Möglichkeiten, Spaß zu haben, qualitativ und quantitativ. So wurden die Menschen von Generation zu Generation ein wenig weniger perfektionistisch und ein wenig mehr lustorientiert. Hinzu gesellte sich ein Nachlassen der Antriebskräfte: Die nachwachsenden Generationen fanden alles Wichtige bereits in Fülle vor. Immer häufiger bestand und besteht Aussicht auf ein immer größeres Erbe. Die Grunderfahrung, ganz starke, wesentliche Bedürfnisse zu haben, einige Jahre hart zu arbeiten, und sich diese Bedürfnisse dann erfüllen zu können, wird immer seltener gemacht. Die Konsumgüter zur Befriedigung der realen Erbbedürfnisse sind ausgereift, perfekt, billig und allzeit verfügbar. Der Raum für wirkliche Innovationssprünge in andere Erfahrungsdimensionen wird immer enger. Sich alle Jahre wieder einen größeren und flacheren Fernseher zu leisten, ist gar nicht vergleichbar mit der Erfahrung,

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nach langem Sparen erstmals einen Fernseher anzuschaffen. Dieses Ausbleiben des wirklich Neuen in den letzten Jahren führt zunehmend zu Gewöhnung, ja zu Überdruss. In Verbindung mit weiteren Faktoren wie der Überalterung schwächt dies die motivationale Aufgeladenheit der gesamten Gesellschaft. Wir sind alt, müde und satt, so hat es Meinhard Miegel einmal sehr treffend formuliert. In vielen Bereichen bleiben die Versprechen der Wissenschaft unerfüllt: Schon Ende der 1970er Jahre begann sich die Weltraumfahrt mit ihren nach der Mondlandung großen Visionen leise und fast unbemerkt zu verabschieden. Desgleichen die Künstliche-Intelligenz-Forschung mit ihren vollmundigen Versprechen. Krebs, Rheuma oder Arteriosklerose sind heute nur wenig besser behandelbar als vor zehn Jahren, die Tuberkulose kehrt zurück und im Krankenhaus lauern Keime, die gegen fast alle Antibiotika resistent sind. Die Gentherapie funktioniert nicht und trotz hochgepriesener »moderner Hirnforschung« können die Schüler heute schlechter lesen und rechnen als vor zwanzig Jahren. Weder gibt es die Weltformel noch beherrschen wir die Kernkräfte zur Lösung der Energieprobleme. Die Wissenschaft hat in den letzten Jahren einen erheblichen Wirkungsund Ansehensverlust hinnehmen müssen. Wissenschaftsfeindlichkeit, Irrationalismus und neue religiöse Fundamentalismen machen sich breit. Diese und andere Faktoren haben über die Jahre allmählich zu einer Unterminierung der Arbeits- und Leistungsethik und der mit ihr verbundenen »Sekundärtugenden« geführt: Anstrengende Studiengänge wie Mathematik, Ingenieurwesen oder Physik werden immer seltener belegt. Die typischen Berufswünsche der Spaßgeneration lauten: Banker oder Moderator. Man will auf eine möglichst angenehme Weise schnell aufsteigen und Geld machen. Wenn heute in einer Fernsehsendung ein Fremdwort fällt, wird einfach weitergezappt. Wenn ein Schüler etwas nicht versteht, bilden Schüler, Eltern und leider nicht selten auch die auf Außenwirkung bedachte Schulleitung eine Front gegen den Lehrer: Sie haben es nicht eingängig genug erklärt, wenn sie die neuen Medien gut genug beherrschten, dann würde das alles Spaß machen und keine Anstrengung kosten. Aber ohne ein Mindestquantum an solchen Anstrengungen können komplexe und ganzheitliche kulturelle Inhalte und Techniken nicht wirklich erfasst und innerlich zu Leben erweckt werden. Ohne diese Anstrengung wird die zentrale Erfahrungsfigur der Kultur – Freude durch Erwerb von Meisterschaft, Glück als Überwindungsprämie – nicht mehr durchlebt. Immer mehr Menschen bleiben so unterhalb der Kulturschwelle. Bei immer mehr Menschen kommt ein sich selbst verstärkender Prozess des eigenständigen und lebenslangen Kulturerwerbs nicht mehr in Gang. In Verbindung mit anderen Faktoren führt dies zu sozialen, kulturellen, motivationalen, moralischen und intellektuellen Degenerationserscheinungen auf vielen Ebenen. Spezifische Fachkompetenzen, Selbststeuerungskompetenzen einschließlich Stressresistenz, aber auch so wichtige Momente wie Wirklichkeitssinn und Urteilskraft werden von Generation zu Generation weniger reproduziert. Auf gesellschaftlicher Ebene ereignet sich hier, was wir oft auch im Kleineren bei Familienunternehmen finden: Ein bis zwei Generationen hand-

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fester und fähiger Unternehmer bauen ein florierendes Unternehmen auf und die immer weniger anstrengungs- und immer mehr genussorientierten Folgegenerationen verspielen das Vermögen und fahren das Unternehmen an die Wand. Der Großvater kauft, der Vater baut, der Sohn verkauft, der Enkel geht betteln, sagt ein schottisches Sprichwort. Und zu diesen inneren Zerfallsprozessen gesellt sich dann noch wachsender Druck von außen: Druck auf die Löhne infolge der Globalisierung der Arbeitsmärkte, steigende Rohstoffpreise infolge der Ressourcenverknappung, Heranwachsen anderer Boomregionen, die dann zunehmend als selbstverstärkende Magneten des globalen Reichtums fungieren. Entsprechend hat sich das Wachstum seit den 1970er Jahren in Deutschland verlangsamt, ja ist sogar – je nach Definition und Rechnung – in einen Schrumpfungsprozess übergegangen. Auch die Nettolöhne sind in weiten Bereichen rückläufig. Seit Jahren und immer mehr muss in immer weiteren Bereichen gespart und geschrumpft werden, im Öffentlichen, in den Unternehmen und im Privaten. So wird es auf allen Ebenen immer schwieriger, etwas Neues in Gang zu setzen. All dies im Verbund hat zu einem Zusammenbrechen des Sinn-VerheißungsFeldes geführt: Es verbreitet sich das allgemeine Gefühl, dass die meisten Dinge trotz aller Anstrengungen stagnieren oder bergab gehen. Ratlosigkeit und Ohnmacht herrschen. Es wird vorgefühlt, dass die Zukunft schlechter aussehen könnte als die Gegenwart. Und nun kommt die Abwärtsspirale so richtig in Schwung. Gewinnen Menschen das Gefühl, dass es sich nicht mehr lohnt, sich für eine gemeinsame Zukunft anzustrengen, dann schalten sie in ihrem Verhalten erst recht um von Gemeinsinn auf Eigennutz, von Langfristdenken auf schnellen Spaß, unter Umständen von Rechtschaffenheit auf korrupte und andere kriminelle Verhaltensweisen oder sogar auf Depression und Suizid. Dies wird in der Tendenz natürlich wahrgenommen und verstärkt die weitere Negativierung des Sinn-Verheißungs-Feldes. Damit haben wir, so glaube ich, die Hauptmechanismen des Abstiegs mit ganz grobem Strich umrissen. Lassen Sie uns dieses Wirkgefüge nun noch in einigen Aspekten differenzieren und erweitern. In Kapitel 1.3 hatte ich Ihnen die beiden grundlegenden Ebenen der menschlichen Psyche vorgestellt: die Erbantriebe und die Kulturantriebe. Unterhalb einer bestimmten Schwelle der Kulturakkumulation bleiben die Menschen von den Erbantrieben bestimmt, oberhalb dieser Schwelle richten sie ihr Verhalten überwiegend an kulturellen Inhalten aus. In der konsumistischen Kultur des Kapitalismus bleibt die Mehrheit der Menschen unterhalb der Kulturschwelle. Die Mehrheit bleibt in ihrem psychischen Energiehaushalt also von den Erbantrieben, von den Konsum- und Egoantrieben abhängig. Diese unterliegen aber einer schnellen Gewöhnung: Neue Schuhe oder Uhren, neue Autos oder Häuser, was immer Sie nehmen, nach einer gewissen Zeit des Gebrauchs bringen sie den ursprünglichen Kick nicht mehr. Man hat sich daran gewöhnt und der Blick beginnt, nach dem Neuen zu tasten. Die Egoantriebe verleiten zudem zum

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Vergleich: Eigentlich hat man vielleicht noch Spaß an seinem Auto, aber sobald der Nachbar ein größeres hat, ist er einem verleidet. Man muss immer wieder neu, immer größer und irgendwie immer besser kaufen. So bleibt die Mehrheit außenreizbestimmt, braucht für ihr psychisches Gleichgewicht ein bestimmtes Quantum an neuartigen Außenreizen. Das Problem ist nur: Für alle basalen Bedürfnis- und Erlebnisbereiche sind die Möglichkeiten der Schaffung grundlegend neuer Reizkonstellationen inzwischen weitgehend ausgeschöpft. Was sich aus Zucker und Fett an konzentrierten Gaumenfreuden kreieren lässt, liegt in den Regalen unserer Supermärkte. Der Transportkomfort eines modernen Autos, Flugzeugs oder ICEs wird sich nicht mehr dramatisch toppen lassen. Im sexuellen Bereich gibt es weder Tabus, die noch gebrochen werden könnten, noch wären neue Praktiken vorstellbar, die biophysikalisch mit dem menschlichen Körper realisierbar wären und nicht Leib und Leben von Beteiligten gefährden würden. Mehr geben die angeborenen Dispositionen von Körper, Gehirn und Psyche einfach nicht her. Atemberaubend neue Dimensionen werden sich hier nicht mehr erschließen lassen. Außer es werden neue Rauschmittel entwickelt, die keine Gifte sind, oder es gelingt, Virtual-Reality-Maschinen direkt an die sensorischen Areale des Gehirns anzukoppeln. Wie wir noch besprechen werden, ist das aber eher unwahrscheinlich. Und: Wollen wir das? Macht das Sinn? Auch Wissenschaft und Technologie haben die gut zugänglichen Räume ihrer Entwicklung ausgeschritten und bewegen sich im Bereich sinkenden Grenznutzens: Jeder weitere wirklich große Fortschritt wird immer teurer und unwahrscheinlicher. Es wird noch ein paar kleinere und den einen oder anderen großen Durchbruch geben. Die eher kleine Elite der Wissensarbeiter hat sicher von Seiten der Informationstechnologien noch manche Erleichterung in Sachen Informationsmanagement zu erwarten. Aber eine vergleichbare Dynamik einer immer besseren Befriedigung realer, starker Massenbedürfnisse wie in der Nachkriegszeit wird es nicht mehr geben (außer es wird durch Katastrophen wieder der große Reset-Knopf gedrückt). Das bedeutet aber: Das Hauptantriebsaggregat des Kapitalismus beginnt zu stottern, seine intrinsische Kraftquelle beginnt zu versiegen. Die Märkte sind gesättigt. Die meisten Menschen in Europa haben die zur Befriedigung der basalen Bedürfnisse erforderlichen Güter in ausreichender Menge und Qualität. Und Luxusgüter können sich die neuen Armen nicht leisten, reizen aber auch die alten Reichen zunehmend weniger. Tendenziell sinkt deshalb die Nachfrage, das Wachstum geht zurück, um in immer mehr Bereichen in Schrumpfung überzugehen. Natürlich tragen auch die demografischen Faktoren Überalterung und Bevölkerungsrückgang immer mehr zu dieser Kontraktion bei. Wie versucht das System, dieser Falle zu entrinnen? Nun, zunächst einmal durch Überdifferenzierung und Beschleunigung. Das Getriebe des Kapitalismus beginnt heißzulaufen. Von Jahr zu Jahr gibt es mehr Produkte, mit denen versucht wird, die letzten Facetten der menschlichen Bedürfnisse anzusprechen

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bzw. ihnen künstliche Arabesken anzuheften. Was immer man nimmt, von den Kaffeesorten über Zahn- und andere Cremes bis hin Handytarifen – von allem gibt es von Jahr zu Jahr mehr und die meisten dieser überzieselierten Angebote werden von niemandem wirklich gebraucht. Bei nicht wenigen Produkten sind inzwischen die Kosten für Werbung und sonstige Maßnahmen der »Verkaufsförderung« höher als der eigentliche Warenwert. Viele Produkte werden bewusst weniger haltbar ausgelegt, von der Bekleidung bis hin zum Wohnen werden immer kürzer laufende Modewellen aufgeschaukelt. Kaum etwas wird mehr repariert. Es hat sich eine Wegwerfgesellschaft von gigantischen Ausmaßen etabliert, die mit einer ungeheuerlichen Ressourcenverschwendung und Umweltverschmutzung einhergeht. Neben diesen durch immer härtere Konkurrenz getriebenen Überdifferenzierungen und Beschleunigungen erleben wir eine zunehmende Vermarktlichung, die sich wie eine ätzende Säure in immer mehr Lebensbereiche hineinfrisst, insbesondere in die Bereiche Medien, Bildung und Wissenschaft. Das akkumulierende Kapital sucht nach Anlagemöglichkeiten und versucht, Tageszeitungen, Fernsehkanäle, Schulen und Universitäten in Geldvermehrungsmaschinen zu verwandeln. Dann muss man zur »Leistungsbewertung« aber quantitative Kennziffern wie Quote, Publikationszahlen, Drittmittelaufkommen oder Studentenzahlen einführen, die sich aus der Anerkennung durch große Menschengruppen herleiten (denn aus deren summierten Zahlungen resultiert ja am Ende der Gewinn). Jeder weiß, dass dies die Qualität, um die es eigentlich geht, nicht nur nicht erfasst, sondern sie sogar unterminiert. Journalisten, Lehrer und Professoren werden so in ihrer Existenz von der Massenzustimmung abhängig gemacht. Sie werden ihrem Publikum nun immer weniger Anspruchsvolles zumuten, sie werden immer seltener ihrem Gespür für riskante und ungewöhnliche Forschungsansätze folgen. Bildung degeneriert zu Infotainment und wird immer karger auf den Arbeitsmarkt zugeschnitten. Für Bildung im klassischen Sinne als Persönlichkeitsbildung, für spielerischen Erkenntnisdrang in entspannter Muße steht immer weniger Zeit und Geld zur Verfügung, aber auch an Verständnis und Interesse dafür mangelt es. Inzwischen gibt es regelrechte Pop-Wissenschaftler, die einen Bestseller nach dem anderen schreiben, aber kaum mehr eigene Wissenschaftsbeiträge leisten. Wir sehen eine egogetriebene Hyperdifferenzierung: Jeder Einzelne muss sich um seines Überlebens willen als Star aus eigenem Recht profilieren. Kleinste quantitative Differenzen werden zu qualitativen Revolutionen aufgeblasen oder sie werden gleich per Wissenschaftsbetrug frei erfunden. Die Medien spielen mit – auch sie sind ja auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, in immer kürzeren Abständen und immer marktschreierischer »Neues« zu verkünden. Und das in einer Entwicklungsphase, in der es immer seltener Neues gibt, das wirkliche Relevanz besitzt. Niemand ist mehr in der Lage, die ausufernde Fülle wissenschaftlicher Publikationen zu überblicken, zu integrieren und die Spreu vom Weizen zu trennen.

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Die Ausdünnung der Redaktionen in allen Medienbereichen führt dazu, dass es die PR-Abteilungen großer Unternehmen oder anderer Interessengruppen immer leichter haben, ihre Inhalte ungeprüft und mehr oder weniger versteckt unterzubringen. »Product Placement« oder »Celebrity Placement« grassieren. Das bedeutet, dass Firmen ihre Produkte werbewirksam in Spielfilmen oder auf dem Körper von »Prominenten« platzieren. Immer länger dauert es, Zeitschriften von Werbematerial freizupräparieren. Sachlich fundierte Informationen, die von Vermarktungsinteressen frei sind, werden immer seltener und schwerer erkennbar. Das gesamte Leben gerät allmählich zu einer einzigen Werbe- und Konsumveranstaltung. Und unterhalb der Gürtellinie des Medienkörpers geht es inzwischen richtig widerwärtig zu: kaum ein Tabu, das nicht immer schamloser gebrochen würde, keine Bizarrerie, die nicht noch zu steigern wäre. Von dümmlich-rüden Castingshows bis hin zu barbusigen Moderatorinnen ist alles dabei. Gar nicht zu reden von den Abgründen an Gewalt und Sex in der düsteren Welt der Computerspiele und des Internets. Die Einführung des Privatfernsehens, die Anbetung des Götzen Quote und der Verzicht auf Müllabfuhr und Polizei auf der Datenautobahn haben so eine Spirale der Reizübersteigerung, Reizprimitivierung und strukturellen Massenverdummung in Gang gebracht, deren psychosoziale Verheerungen sich erst mit Zeitverzögerung zeigen werden. Und wieder spielen positive Rückkoppelungen und Versklavungsphänomene eine zentrale Rolle: Je anspruchsloser die Masse, desto mehr senken die Medien, Kultur- und Bildungsträger das Niveau, was wiederum die Masse noch anspruchsloser werden lässt. Je mehr Lehrer an einer Schule einknicken und die Standards der Notenvergabe nach unten korrigieren, desto mehr geraten die letzten Aufrechten unter Druck. Eine von unverantwortlichen Spekulanten beherrschte Börse vermag in fünf Wochen Geldkapital zu verbrennen, das in fünf Generationen angespart wurde. Privatisierte Medien können in fünf Jahren Mentalkapital verspielen, dessen Aufbau fünf Jahrhunderte gebraucht hat. All dies – Überdifferenzierung, Komplexitätszunahme, Beschleunigung, Vermüllung aller Räume mit überflüssigen Produkten – führt zu einer wachsenden Überforderung der Menschen. Auf vielen Ebenen sind die Grenzen unserer mentalen Verarbeitungs- und Regenerationskapazitäten überschritten. Überblick und Orientierung gehen verloren, Frustration, Stress, psychische Störungen und körperliche Gesundheitsprobleme nehmen zu. Dysfunktionen, Fehler und Katastrophen werden häufiger. Wenn der informierte Verbraucher fehlt, verlieren die Märkte ihre regulierende Funktion – man kauft dann einfach nur noch die bekanntesten Marken und liest die Autoren der Bestseller-Listen. Damit wird dem Matthäus-Prinzip wieder Vorschub geleistet: Dem Reichen wird noch gegeben, dem Armen wird noch genommen. Ob in den Riesenbürokratien der öffentlichen oder gar europäischen Verwaltung oder in unseren Großunternehmen – eine Reform jagt die andere, die Koordination klappt immer schlechter, immer mehr der immer hektischeren Aktivitäten laufen ins Leere. Schluderei, Qualitäts-

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einbußen, Fehler überall. Von den letzen Elektronikgeräten, die ich mir gekauft habe, hat keines auf Anhieb perfekt funktioniert. In den Hotlines wird es immer schwieriger, schnell an den richtigen kompetenten Gesprächspartner zu geraten. Es wird immer aufwändiger, einfachste Lebensprozesse wie die Kündigung eines Abos zu einem guten Abschluss zu bringen. Wenn erst der in den Bildungseinrichtungen geduldete Kompetenzabbau bis an die Peripherie der Wertschöpfung durchsickert, dann wird niemand mehr darauf vertrauen können, dass die Bremsen funktionieren, wenn er das Auto aus der Werkstatt geholt hat. All dies führt in Verbindung mit weiteren Mechanismen dazu, dass sich über einem kleinen Sockel wirklich wertschöpfender gesellschaftlicher Arbeit ein immer größer werdender Schaumberg aufbläst, der aus nutzlosen, ressourcenverschwendenen Aktivitäten besteht, die nichts sind als L’art pour l’art: Berater, die Coaches ausbilden, die Führungskräfte beraten, die Change-ManagementProzesse fehlleiten, die vorher von anderen Führungskräften fehlgeleitet wurden, die ihrerseits von anderen von Experten beratenen Beratern beraten wurden. In den öffentlichen Verwaltungen jagt eine Evaluation und eine Reform die andere. Im politischen System wogt ein gigantischer Debattierzirkus von rechts nach links und wieder zurück, um zwei oder drei der vorhandenen Stellschrauben zwei oder drei Millimeter nach rechts zu drehen und dann wieder zurück. Das Gleiche zeigt sich im persönlichen Bereich: Auf alle Aktivitäten, die Menschen seit Jahrhunderten einigermaßen gelingend aus dem Bauch heraus abwickelten, stürzen sich Experten und Berater wie Heuschreckenschwärme, die dann oft per Verunsicherung der Menschen mehr Schaden als Nutzen stiften und vor allem Geld kosten. Das beginnt im Fitness-Center, wo man stundenlang in Aktivitäten wie »Stretching« eingewiesen wird, und endet bei vielfältigen Störungen und Erkrankungen in allen Erlebensbereichen, die von esoterischen Heilpraktikern, allen möglichen Gesundheitsexperten oder auch Ärzten im Verein mit der Pharmaindustrie erfunden werden. Weder muss man drei Liter Wasser am Tag trinken – unsere Nieren regulieren alle Aspekte des Flüssigkeitshaushalts in weiten Grenzen – noch spielt es für das Körpergewicht eine Rolle, ob man die Kalorien früh oder abends zu sich nimmt – das könnte eigentlich jeder von seinem Auto wissen: Ob man den Tank früh oder abends füllt, ändert an der damit möglichen maximalen Fahrstrecke nichts. Das gute alte Pareto-Prinzip zeigt sich immer deutlicher: 80 Prozent aller Wirkungen gehen von 20 Prozent der Ursachen aus. Mit anderen Worten: 80 Prozent aller Aktivitäten sind Nonsens. Und oft kann man im Vorfeld nicht einmal sagen, ob ein konkretes Vorhaben etwas bringt oder eben Nonsens ist. Und so irren Heerscharen von Akteuren durch den Nebel. Keiner steuert diese Prozesse und es ist die Frage, ob sie überhaupt steuerbar sind – im Rahmen der jetzigen Struktur des Systems wohl nicht. Und damit ist ein weiterer Punkt angesprochen. Die Institutionen von Politik und Verwaltung der Bundesrepublik Deutschland wurden nach dem Krieg vor allem auf ein Ziel hin ausgelegt: Dass sich wiederholen kann, was geschehen war,

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sollte so schwer wie möglich gemacht werden. Durch das Grundgesetz wurde die Macht auf viele Zentren verteilt, mit weitreichenden Möglichkeiten der Blockade. Veränderungen sind in höchstem Maße auf Konsens angewiesen. Deutschland hat daher eines der schwerfälligsten und reformträgsten Regierungssysteme der Welt. Es wurde nach dem Krieg als Provisorium innerhalb weniger Tage in einem Biergarten von einer Handvoll kluger Männer konzipiert und ist seither vor allem in zwei Richtungen weitergewuchert: 1. Der Konsenszwang hat zu immer neuen Tauschgeschäften mit Zuständigkeiten, Mitspracherechten und Privilegien zwischen immer neuen Interessengruppen geführt, mit der Folge, dass die selbstblockierenden Verschränkungen immer noch zugenommen haben: Klares, verantwortliches und effizientes Entscheiden und Regieren ist inzwischen kaum mehr möglich. 2. Insbesondere die starke Begrenzung direktdemokratischer Momente hat das Wirksamwerden des Matthäus-Prinzips auch im Bereich der Macht erleichtert: Dem schon Mächtigen wird noch Macht gegeben, dem Ohnmächtigen wird noch Macht genommen. Die politische Klasse hat der Versuchung nicht widerstehen können, ihre Macht auch zur Absicherung und zum Ausbau dieser Macht und der damit möglichen Privilegien zu nutzen. Die Parteien haben ihren Einfluss über Gebühr ausgeweitet, Misswirtschaft, Korruption und Ämterpatronage sind verbreitet. Schritt für Schritt wurde ein fairer politischer Wettbewerb erschwert oder ausgeschaltet. All dies hat der Funktionsfähigkeit und dem Ansehen des politischen Systems in den letzten Jahren und Jahrzehnten immens geschadet. Der Politikerberuf steht im Ansehen weit unten. Demokratie- und Politikverdrossenheit nehmen bedrohliche Formen an. Vor allem die Wahrnehmung dieser Entwicklungen hat entscheidend zur Abschwächung bzw. zum Zusammenbruch des Sinn-Verheißungs-Feldes beigetragen: Der Fisch stinkt vom Kopfe her, man kann sowieso nichts machen, nach mir die Sintflut, der Ehrliche ist der Dumme, raffe da wer kann und so lange es noch geht. Wenn selbst Bundeskanzler im Zusammenhang mit Parteispenden Recht und Gesetz beugen, in aller Öffentlichkeit dazu stehen und dann damit im Prinzip auch noch durchkommen … Man muss sich nicht wundern, wenn sich Delikte wie Steuerhinterziehung, Korruption auch in der Wirtschaft, Schleichwerbung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, Doping und seine Vertuschung in der Gesellschaft ausbreiten. So lange Deutschland noch als einer der globalen Wohlstandsattraktoren funktionierte und es möglich war, bei Problemen einfach immer mehr und immer neue Leistungen in alle Richtungen zu verteilen, fielen all diese Fehlentwicklungen nicht so auf und wurden leicht toleriert. Es lief auch noch leidlich, als es noch möglich war, immer neue Schulden zu machen. Doch nun nähern wir uns einem Punkt, an dem die Ressourcen definitiv schrumpfen, an dem man nicht mehr verteilen kann, sondern ordentlich etwas wegnehmen muss. Und diese Situation wird sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten wohl dramatisch verschärfen. Die hier heraufziehenden Verteilungskonflikte

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vorausschauend und einigermaßen fair und friedlich zu kanalisieren, ist unser Politik- und Verwaltungssystem nicht gerüstet. Wie man an den Streiks von Piloten, Ärzten und Lokführern gesehen hat, besteht die Gefahr, dass insbesondere Gruppen mit sozialem Erpressungspotenzial immer öfter auf offenen Konflikt umschalten. Schnell können sich in den Teufelskreisen von Ego- und Guckloch-Problem die Fronten verhärten: Wut, Hass, Sturheit, Gesichtwahren, Egoismus, Stolz und verzerrte Mikroperspektiven im Tunnelblick bestimmen dann das Geschehen und lassen Konflikte zum Schaden der Gemeinschaft bis hin zu Gewalt eskalieren. Begünstigt wird das auch entscheidend dadurch, dass im Zuge der Überdifferenzierung immer mehr Verbindendes und Gemeinsames verloren geht. Geteilte und die Herstellung von Konsens begünstigende Kulturgüter wie Religionen, Weltbilder, gemeinsame »Erzählungen« und Werte fasern sich auf oder gehen ganz verloren. Diskurs- und Konsensunfähigkeit wachsen, zunehmend wird das gesellschaftliche Klima von Gereiztheit, Misstrauen, Ellbogenmentalität und Brutalität bestimmt: von sittenwidrigen Absahnungspraktiken in manchen Führungsetagen bis hin zur wachsenden Gewalt unter Jugendlichen und Schülern. Die Gesellschaft driftet auseinander. Das gegenseitige Vertrauen und das Gefühl von Berechenbarkeit und Verlässlichkeit in Bezug auf von allen geteilte Werte und Regeln nehmen ab. Das stört private Beziehungen und das Gefühl des Heimischseins in einer Gesellschaft. Aber es mindert auch die ökonomische Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft: Vertragsbrüche, Betrügereien und Rechtsstreitigkeiten nehmen zu. Die sogenannten »Transaktionskosten« einer Volkswirtschaft steigen, was ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit mindert. Je trüber die Zukunftsaussichten wahrgenommen werden und je härter der Konkurrenzkampf um schrumpfende Ressourcen wird, desto tiefergehend bricht der alte, aggressive Primaten-Egoismus wieder auf, wie das folgende Sprichwort aus Somalia verdeutlicht: »Ich und Somalia gegen die Welt; ich und mein Clan gegen Somalia; ich und meine Familie gegen den Clan; ich und mein Bruder gegen die Familie; ich gegen meinen Bruder«. Tatsächlich schlägt das durch bis auf die Ebene der Familie: Über viele Jahre ist die Scheidungsrate angestiegen und verharrt auf einem Niveau über 50 Prozent, in vielen deutschen Großstädten ist der Singlehaushalt die häufigste Haushaltsform, in den Familien wird immer weniger geredet, immer seltener gemeinsam gegessen und immer mehr ferngesehen. Für den Einzelnen kommt also einiges zusammen: Überforderung durch Überdifferenzierung und Beschleunigung, Orientierungslosigkeit und Sinnleere, Verstummen relevanter gesellschaftlicher Diskurse über alternative Gesellschaftsmodelle, wachsender Leistungsdruck in den Betrieben, mehr Hektik, Stress und Frustration, Ohnmachtsgefühle, Pessimismus und Zukunftsangst wegen einer Vielzahl von sozialen Fehlentwicklungen, Zerreißen der sozialen Netze und Vereinsamung. Die Folge ist eine Zunahme psychischer Störungen: Suchterkrankungen, Angststörungen, Depressionen, Burnout. Aber auch ein Abdriften in Irrati-

Die Abwärtsspirale

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onalismen aller Art ist zu beobachten: vom religiösen Fundamentalismus bis hin zur Esoterik. Vor einiger Zeit hat eine deutsche Landesministerin vorgeschlagen, die Schöpfungslehre in den Biologieunterricht aufzunehmen. Ein dramatischeres Anzeichen für den Verfall konstruktiver Kräfte kann man sich kaum ausmalen (gottlob wurde dieses Ansinnen auch von kirchlicher Seite umgehend zurückgewiesen). Und all dem ist nun noch eine Grundströmung unterlegt, die die Fundamente bisherigen Wirtschaftens vielleicht am nachhaltigsten unterspülen wird, falls sie sich ungebrochen fortsetzen kann. Gerade in Informationstechnik, Industrierobotik und in vielen Bereichen der Fertigungstechnologie sind die Fortschrittsund Entwicklungspotenziale sowohl in Theorie als auch in der Umsetzungspraxis noch längst nicht ausgeschöpft. Die wachsende internationale Konkurrenz erzwingt, diese Potenziale weiter in Richtung Rationalisierung zu nutzen: Alle Tätigkeiten, die normierbar und standardisierbar sind, werden Maschinen übertragen. In der Industrie werden also nur höchstqualifizierte Arbeitsplätze in Management sowie in Forschung und Entwicklung überleben. Etwas arbeitsintensiver wird wohl der Dienstleistungsbereich und der Sozialbereich bleiben (obwohl in Japan ja bereits Pflegeroboter entwickelt werden bzw. im Einsatz sind). Setzt sich dies ungebrochen fort, würden eines Tages weitestgehend durchautomatisierte Fabriken alle notwendigen und sinnvollen Konsumgüter produzieren können. Die Zahl gesamtgesellschaftlich notwendiger Arbeitsplätze würde sich wohl drastisch verringern. Das würde die Grundlagen kapitalistischen Wirtschaftens ad absurdum führen: Roboter kaufen keine Autos und die Menschen könnten sie nicht mehr bezahlen. Die Roboter-Industrie müsste dann also irgendwie unentgeltlich ihre Produkte an die Menschen abgeben. Dann wären wir am Ende ja doch bei einer Art Kommunismus angekommen. Andererseits geht infolge der Überalterung auch die Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte zurück. Und aufgrund vielfältiger Bedrohungsszenarien von Klimakatastrophen über Rohstoff- und Energieverknappung bis hin zum Terrorismus weiß ja auch niemand, wie lange und wie weit sich diese Entwicklung noch ungestört fortsetzen kann. Wie auch immer: Derzeit und wohl auch in den nächsten Jahren noch wird die Freisetzung von Arbeitskräften und eine mehr oder weniger hohe Arbeitslosigkeit ein großes Problem für die Gesellschaft und insbesondere ihre Sozialkassen sein. Viele Millionen Arbeitslose, unqualifizierte Jugendliche und ein wachsendes Heer von alten Menschen werden aus dem bisher etablierten, normalen sozialen Leben herausfallen. Es werden ihnen die sozialen Takt- und Sinngeber für die Gestaltung ihres Lebens fehlen, es wird an Anknüpfungspunkten für Beziehungen mangeln und an den materiellen Mitteln zur vollen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Nur stark innengeleitete Menschen können in solch einer Situation des sozialen Alleingelassenwerdens einen eigenen Weg finden oder weitergehen, außengeleitete Menschen dagegen werden in großer Gefahr sein zu verkümmern, zu vereinsamen und zu zerbrechen. Aufs Ganze gesehen müssen wir also konstatieren: Der innere Zusammenhalt

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unserer Gesellschaft lockert sich. Die Differenzierung nimmt zu, die Integration ab. Das Gemeinsame, Verbindende, Geteilte schwindet. Gerade das aber ist es, was zur Erarbeitung von Konsens in Bezug auf Konflikte Voraussetzung ist – und damit auch Voraussetzung ist für geschlossenes kollektives Handeln in Bezug auf innere und äußere Probleme oder Bedrohungen. Kleine und große innergesellschaftliche Konflikte nehmen zu, werden nicht oder nur schlecht gelöst und bilden chronische soziale Entzündungsherde. Der psychosoziale Energieverlust durch innergesellschaftliche Reibung nimmt zu, die Effizienz gesellschaftlichen Handelns sinkt. Insbesondere vermindert sich die Fähigkeit unserer Gesellschaft, auf Bedrohungen mit kohärentem, gesamtgesellschaftlichem Handeln zu reagieren. Und das ist dramatisch und gefährlich, weil einige höchst reale Bedrohungen unabweislich am Horizont heraufziehen. Bedrohungen, deren Bewältigung gerade eine solche kollektive Handlungsfähigkeit in höchstem Maße erfordern würde. Die wichtigsten dieser Bedrohungen müssen wir zumindest nennen. Allzu ausführliche Erläuterungen will ich Ihnen aber ersparen. Es gibt dazu besser informierte Spezialliteratur und das Wichtigste wissen Sie ohnehin.

1.9 Bedrohungsszenarios Klimatisch-ökologische Bedrohungen: Es ist inzwischen in der Wissenschaft weitestgehend unbestritten, dass wir uns in einem Prozess der menschenverursachten Erderwärmung befinden (»Treibhauseffekt«). Dies hat Folgen, die sich in nicht sicher vorhersagbarem Maße noch steigern werden: häufigere und stärkere Wirbelstürme, Anstieg der Meeresspiegel, Abschmelzen von Eismassen und Auftauen von Permafrostböden, Versinken von Inseln und Landverluste in Küstenregionen, Überschwemmungen, Umspringen ganzer Betriebsmuster des Klimasystems durch positive Rückkoppelungen (vom Zusammenbruch des Golfstromes bis zum Amazonas-Waldsterben), Trockenheiten und Ausbreitung der Wüsten, extreme Verknappung sauberen Trinkwassers, Veränderungen von Flora und Fauna vom Aussterben von Arten bis zu Tierplagen und der Ausbreitung bisher lokaler oder ganz neuer Krankheitserreger, Massensterben von Menschen und Millionenheere von Flüchtlingen. Das hat es alles schon gegeben: Auslöser der Pest im 14. Jahrhundert war ein Klimawandel, der die Ratten aus den Wüsten Asiens vertrieb. Weitere bekannte Stichworte aus diesem Kontext sind: Luft- und Wasserverschmutzung, Umkippen von Gewässern und Meeren, Waldsterben, Ozonloch. Übrigens: Auch kosmische Bedrohungen dürfen nicht ganz vergessen werden. Das Aussterben der Saurier wird ja heute mit dem Einschlag eines gewaltigen Asteroiden in Verbindung gebracht. Die Zahl potenzieller Killer-Asteroiden wird auf circa 10.000 geschätzt und die Wahrscheinlichkeit

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für einen Treffer noch in diesem Jahrhundert auf 1:700. Nicht gerade Russisches Roulette, aber ernst zu nehmen allemal. In welcher Form genau Deutschland betroffen sein wird, lässt sich noch nicht genau sagen. Im besten Fall wird es Milliarden Euro kosten und zu erheblichen Wohlstandseinbußen führen. Im schlimmsten Fall erleben wir soziale Verwerfungen bis hin zu Krieg und Bürgerkrieg. Rohstoffverknappung: Die heute bekannten Vorkommen der wichtigen Rohstoffe wie Metalle und fossile Brennstoffe reichen deutlich weniger als hundert Jahre. Ein oft nicht geringer Prozentsatz der verarbeiteten Materialien entzieht sich durch Entropie-Verschleiß einer Wiederverwertung. Zugleich steigt die Nachfrage rasant, insbesondere wegen des Wirtschaftswachstums in neuen Boomregionen wie China und Indien. Zuerst werden die Preise explodieren und dann sind die Vorräte einfach aufgebraucht. Von besonderer Dramatik ist dies bei fossilen Energieträgern wie Erdöl. Die hier über Jahrmillionen »angesparte« Energie trägt auf vielfältigste Weise zu unserem Wohlstand bei, von der Heizung bis hin zu niedrigen Transportkosten, die exotische Produkte und Mehrwert durch internationale Arbeitsteilung erst ermöglichen. Auch weil der genaue Umfang der Vorräte nicht bekannt ist, weiß niemand wirklich, wie lange das Öl noch reicht. Die pessimistischsten der seriösen Schätzungen gehen davon aus, dass das Maximum der Ölförderung bereits erreicht ist und der Strom von nun an zu versiegen beginnt. Gleichzeitig steigt der Bedarf exponentiell. Die Preise werden ein Gleiches tun, zumindest auf lange Sicht. Natürlich kann eine Zeitlang an vielen Stellen auf Ersatzrohstoffe umgestellt werden. Das ändert aber nichts daran, dass all dies Milliarden Euro verschlingen wird, mit der Folge erheblicher Wohlstandseinbußen. Internationale Kriminalität: Die Umsätze der internationalen Kriminalität aus dem Handel mit Drogen, Waffen und Menschen steigen seit Jahrzehnten rasant. Mafiaähnliche Organisationen erstarken und breiten sich aus. Gewaltige Mengen illegalen Geldes werden über Geldwaschanlagen in die legalen Wirtschaftskreisläufe gepumpt. Schwerstverbrecher geben sich nach außen als seriöse Unternehmer. Sie kaufen sich in die legale Wirtschaft ein und nutzen Teilfunktionen von Unternehmen für illegale Zwecke. Verbrecher in Nadelstreifen integrieren sich in das öffentliche Leben und bringen gezielt einflussreiche Personen in ihre Abhängigkeit. Korruption breitet sich international aus. In einem gesellschaftlichen Klima der egoistischen und kurzfristigen Nutzenmaximierung in einem immer härteren Wettbewerb werden Führungskräfte immer anfälliger, in die Grauzone krimineller Praktiken zu rutschen: vom Insiderhandel bis hin zu Untreue, Betrug oder Diebstahl. Die Grenzen zwischen Wirtschaft, Politik und Organisierter Kriminalität verschwimmen. Unter Führung ihrer Regierung werden ganze Staaten zu kri-

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minellen Akteuren: Sie unterlaufen internationale Abkommen und Kontrollen, um an Massenvernichtungswaffen zu kommen, sie unterstützen Terrorgruppen, sie fördern Wirtschaftsspionage und Markenpiraterie. Es besteht die Gefahr, dass ganze Staaten von religiösen Fundamentalisten übernommen werden, die außerhalb aller Vernunft, aller Regeln und Gesetze agieren und den internationalen Terrorismus auf eine neue Stufe heben. Ein globales Klima der Übervölkerung, der Ressourcenverknappung und der Vernetzung fördert Verschärfungen an allen Fronten: im Drogenkrieg, im Terrorkrieg und im Wirtschaftskrieg. Hierdurch werden direkt gigantische Werte zerstört und indirekt Mittel für die Eindämmung gebunden. Weitere Wohlstandseinbußen sind die Folge. Verschiebung der wissenschaftlichen und ökonomischen Boomzonen nach Asien: Eine junge, lebens- und wohlstandshungrige Bevölkerung, die globale Verfügbarmachung von Information, Investitionen aus und Kooperationen mit westlichen Ländern und nicht zuletzt kulturelle Faktoren wie Fleiß und Leistungsbereitschaft haben neben weiteren Momenten dazu geführt, dass die Entwicklungsdynamik in Ländern wie China oder Indien in eine Phase der exponentiellen Selbstverstärkung getreten ist, vergleichbar mit der Wirtschaftswunderzeit in Europa nach dem Krieg. Zuerst entstand ein globaler Arbeitsmarkt: Wer zum geringsten Lohn bereit ist zu arbeiten, der bekommt den Job – und wenn die Güter wegen einiger Handarbeit Tausende von Seemeilen transportiert werden müssen. Mehr als 1,5 Milliarden neuer Arbeitskräfte drängen in den Weltarbeitsmarkt und aufgrund hoher Geburtenraten in den »Angreiferstaaten« werden es schnell mehr. Der Wert für einfache, anlernbare Arbeit konvergiert entsprechend gegen Null. Ganze Industrien mit wenig qualifizierter Arbeit wie etwa die Textilindustrie sind inzwischen aus Europa nach Fernost abgewandert. Die Möbelindustrie, die Stahlunternehmen, die Hersteller von Elektronikgeräten und neuerdings auch Pharmaindustrie und Gentechnik ziehen nach. Nicht nur verlagern westliche Firmen Arbeitsplätze und Fabriken nach Übersee, entsprechende heimische Konkurrenzunternehmen sind im Entstehen und werden zu Global Players. China ist dabei, Deutschland als Exportweltmeister abzulösen. In immer mehr Branchen geraten die Löhne in den westlichen Ländern unter Druck und sinken. Der rationalisierungsbedingte Arbeitsplatzabbau wird durch Globalisierungsverluste potenziert. In den letzten Jahren hat Deutschland circa 2000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze pro Tag verloren. China ist die Fabrik der Welt, Indien entwickelt sich zum globalen Dienstleistungszentum, von Telefon-Service-Hotlines über die Erledigung von Buchhaltung bis hin zur Auswertung von Röntgenbildern. Natürlich denkt in diesen Staaten niemand daran, sich auf Dauer mit gering qualifizierter Arbeit zu begnügen. Sie haben den Ehrgeiz, in jeder Hinsicht die Weltspitze zu erreichen, und all das nicht ohne nationalistische Untertöne. Entsprechend investieren sie in Bildung und Forschung. Der chinesische For-

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schungsetat liegt weltweit auf Rang drei hinter den USA und Japan, nicht eingerechnet die Ersparnisse durch Wirtschafsspionage und Produktpiraterie. 2006 verließen in China vier Millionen Menschen die Hochschulen, in Indien kommen weitere drei Millionen hinzu. Indien verfügt heute über 700.000 IT-Fachkräfte und damit über doppelt so viele wie Deutschland. Hinzu kommt, dass die Bevölkerungen dort deutlich jünger sind als in Europa – und Kreativität ist und bleibt an ihrer Wurzel auch ein biologisches Phänomen. Der Spiegel-Redakteur Gabor Steingart (2006) bringt es auf den Punkt, wenn er sagt, dass der nächste Einstein wohl ein Inder sein wird. Zumindest ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß. Und im Sinne des Matthäus-Prinzips beginnen diese neuen Boomregionen nun als Attraktoren für alles Attraktive zu wirken, was ihre Attraktivität nur noch weiter steigert: Investoren sowie kluge und kreative Köpfe aus aller Welt werden angezogen. Ihre neuen Metropolen wie Shanghai, Hongkong oder Singapur werden »hip«. So beginnt in Richtung dieser neuen Wachstumswellenberge auf alles und alle ein gewaltiger Sog zu wirken, der um sie herum tiefe Täler erzeugt: Machtund Wohlstandsverluste für die Regionen des Abstiegs in Europa und Amerika. Begriffe wie Niedriglohnsektor, Unterschicht, neue Armut oder Prekariat nisten sich fest ein im öffentlichen Diskurs. Es ist ein Weltkrieg um Wohlstand entbrannt, der wohl an Härte noch zunehmen wird. Und es wächst durchaus die Gefahr, dass diese Formulierung irgendwann ihren Metapherncharakter gänzlich verliert. Nationalismus und religiöse Fundamentalismen in Asien wachsen, es gibt eine Vielzahl traditioneller Feindschaften und neuer Konflikte, die Rüstungsausgaben steigen immens. Während weltweit die Rüstungsbudgets in den vergangenen zehn Jahren um circa drei Prozent wuchsen, wird aus Asien ein 23-prozentiger Anstieg gemeldet. Entlang sich verschärfender Konfliktlinien sind bilaterale Rüstungswettläufe im Gang: Süd- gegen Nordkorea, Pakistan gegen Indien, China gegen Taiwan, Malaysia gegen Singapur, China gegen Indien. Diplomatische Sicherungs- und Entspannungsmechanismen sind kaum etabliert. Weit mehr noch als die Asienkrise im Finanzsektor der Jahre 1997 und 1998 könnten kriegerische Auseindersetzungen hier die Weltwirtschaft in den Abgrund ziehen oder gar einen Dritten Weltkrieg entflammen. Demografische Bedrohungen: Die demografischen Bedrohungen haben wenigstens drei Facetten. Zum Ersten erwartet uns zumindest in den nächsten Jahrzehnten fortgesetztes globales Bevölkerungswachstum. Nach den derzeitigen Prognosen wird die Weltbevölkerung von jetzt circa 6,5 Milliarden Menschen auf circa 9 Milliarden im Jahre 2050 anwachsen und ab 2070 dann möglicherweise abfallen (auch hier haben wir es wieder mit unserer Sigmoidkurve zu tun). 90 Prozent davon ereignet sich in den armen Entwicklungsländern und wird dort die Funktionstüchtigkeit der ohnehin nur marginal ausgebildeten gesellschaftlichen Systeme gefährden. Dass diese »Bevölkerungsexplosion« alle hier angesprochenen Bedrohungsszenarien katalysiert und verschärft, muss ich nicht erläutern.

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Die zweite Dimension betrifft die Überalterung in den europäischen Gesellschaften. Das ist in sich hochproblemastich und potenziert sich vor dem Hintergrund des hohen Jugendanteils der Bevölkerungen der Entwicklungsländer zur Gefahr (»Youth-Bulge«-Phänomen). Wie sattsam bekannt, reproduziert sich die deutsche Bevölkerung gleich vielen anderen Bevölkerungen der westlichen Länder seit langem nicht mehr auf einem bestandserhaltenden Niveau (die Geburtenrate liegt zwischen 1.4 und 1.2 Kindern pro Frau, zur Bestandserhaltung müsste sie bei 2.1 liegen). Dies wird unabwendbar in den nächsten Jahrzehnten zu einer Überalterung und zu einem Bevölkerungsrückgang in Deutschland führen. Während Deutschland 2000 zu einem Viertel aus Pensionären bestand, wird diese Gruppe im Jahre 2040 mehr als die Hälfte ausmachen. Die Gesamtbevölkerung wird in diesem Zeitraum um circa 10 Millionen abnehmen. Während 1980 ein Pensionär von vier Berufstätigen unterhalten wurde, werden das im Jahre 2050 1.2 Beschäftigte leisten müssen. Dies müsste wohl zu schwer zumutbaren Lohnabzügen auf der einen Seite führen und würde wohl doch nicht für auskömmliche Renten auf der anderen Seite reichen. Ob dies nun absolut unmöglich sein wird oder ob es unter allerlei Zusatzannahmen wie einer immensen Steigerung von Produktivität und Zuwanderung doch noch irgendwie wird gehen können – darüber streiten die Experten. Ob wir diese Produktivitätssteigerung angesichts des drohenden Mangels an jungen, kreativen, hoch motivierten und hoch qualifizierten Fachkräften wohl hinbekommen können, ist fraglich. Und ob wir eine Zuwanderung organisieren können, die ein solches Profil trägt, ist noch fraglicher. Wahrscheinlich hätte das Ganze ja schon vorgestern beginnen müssen, um noch rechtzeitig wirksam zu werden. Liest man Stellungnahmen von Experten, dann klingt bei den meisten durch: Der Tanker ist auf Kollisionskurs und sein Bremsweg ist weiter als das Hindernis entfernt ist. Doch diesmal ist das Hindernis leider nicht nur ein Eisberg. Es ist selbst ein entgegenkommender Tanker, der nicht bremst, sondern beschleunigt. Er wurde von den amerikanischen Geheimdiensten auf »Youth Bulge« getauft und als die größte strategische Bedrohung der westlichen Welt eingestuft. Es lässt sich wohl anhand geschichtlicher Fakten zeigen, dass Gesellschaften, in denen die 15–24-Jährigen mehr als 20 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, eine hochgradige Neigung zum Ausbruch von Gewalt entwickeln: Bürgerkrieg bis zum Genozid, Krieg, Terror. Nicht Hunger und Not sind es, die dazu antreiben, sondern die Primaten-Egos der jungen Männer. Während die erstgeborenen Söhne den Hof oder die Firma erben, finden die zweit-, dritt- und viertgeborenen in ihren Gesellschaften keine Positionen, die ihr Statusbedürfnis ausreichend befriedigen. Nicht um Brot geht es, sondern um dummen Stolz und sogenannte Ehre, und sei es die des »Märtyrers« im »heiligen Krieg«. Die Hauptwuchten dieser Youth Bulges rollen in den nächsten 10 bis 15 Jahren gegeneinander und/oder auf uns zu. Den implodierenden westlichen Gesellschaften stehen also explodierende arabische, afrikanische, asiatische und südamerikanische Gesellschaften gegenüber. Jedem zu Toleranz und Gewaltlosigkeit erzogenen einzigen Sohn der

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entwickelten Welt werden mindestens drei nachgeborene Söhne aus der weniger entwickelten Welt gegenüberstehen, die in ihrer Heimat weder gebraucht noch vermisst werden. All dies wird einen ultraleicht entflammbaren Treibsatz bilden, aus dem schnell Gewalt in allen individuellen und kollektiven Spielarten erwachsen kann. In dieser Sicht, die von renommierten Gelehrten wie Huntington oder Heinsohn (2008) vertreten wird, sind rassenbezogene, kulturelle, ideologische oder religiöse Differenzen oft nicht der primäre Grund, sondern eher die sekundäre Rechtfertigung für Terror, Völkermord und Krieg. Primär ist die Statusgier der sozial nicht integrierbaren männlichen Jugend, die sich dann ein ideologisches oder religiöses Deckmäntelchen zur Legitimation von Gewalt sucht oder zurechtschneidert. Das bedeutet aber: Phänomene wie Terror und heilige Kriege werden in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren noch zunehmen. Und: Interkulturelle und interreligiöse Dialogbemühungen werden die Sprengkraft dieser Bombe bestenfalls abmildern und eingrenzen können – völlig entschärfen aber werden sie sie nicht. Und die dritte Facette demografischer Bedrohungen ist schließlich, dass sich all dies ja auch innerhalb der Grenzen Europas und Deutschlands abzuspielen droht. Nach dem Mord an dem Regisseur und Publizisten Theo van Gogh im November 2004 ist in Holland der Glaube an die Möglichkeit harmonischer Multikulturalität schwer erschüttert worden. Rund eine Million der 16 Millionen Niederländer sind Muslime. Nach offiziellen Hochrechungen wird der Anteil der Muslime in Großstädten bis zum Jahr 2020 auf bis zu 50 Prozent anwachsen. In Frankreich haben sich in den Vorstädten von Paris und anderen Großstädten Migranten-Ghettos mit hohem Jugendlichen-Anteil gebildet. Wie bekannt, kam es nach Zusammenstößen Jugendlicher mit der Polizei bereits zweimal zu mehrtägigen und ausgedehnten Unruhen mit schweren Verwüstungen und Brandstiftung; neben immensen Sachschäden gab es viele Verletzte, einen Toten und zuletzt sogar Schusswaffeneinsatz von Seiten der Aufständischen. In mehreren französischen und deutschen Städten kam es zu Nachahmungsaktionen. Längst haben Stadtpolitiker in Deutschland explizit oder implizit akzeptiert, dass die Entstehung von Ausländervierteln mit Tendenz zur Ghettobildung in deutschen Großstädten nicht mehr aufzuhalten oder gar rückgängig zu machen ist. Es gibt inzwischen ganze Straßenzüge, in denen man kein Geschäft mehr mit deutschsprachigen Beschriftungen findet. Dieser Tage las ich im Spiegel, dass in den Berliner Ausländervierteln unter den männlichen Jugendlichen eine Art blutiges Kickboxen ohne alle Regeln zum Trendsport wird. Wo sonstige Chancen und Perspektiven fehlen, wird die Effektivierung körperlicher Gewaltausübung zur Hauptquelle von Selbstwertgefühl und Status. Hier reift ein ungeheures Konfliktpotenzial heran. Es würde Alpträume bescheren, sich die möglichen Konsequenzen farbecht auszumalen. Im schlimmsten Falle könnte das zur finalen Welle werden, die die implodierende westliche Hochkultur hinwegspült. Gegen die hier anschwellenden Kräfte die eigene Kultur

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langfristig zu behaupten und die dazu nötigen Prozesse einigermaßen friedlich zu kanalisieren, wird zu einer kaum zu bewältigenden Herausforderung werden. Interkulturelle und interreligiöse Dialoge werden dafür nicht ausreichen. Alles wird davon abhängen, ob man in den Ghettos genügend Bildung und Erziehung – auch zu Pluralität und Toleranz – organisieren kann, mit dem Ziel, die Migrantenkinder zu motivieren und zu befähigen, die qua Überalterung in unserer Gesellschaft freiwerdenden Stellen zu besetzen. Wir müssen unsere Kultur (wieder) so attraktiv machen, dass der »heilige Krieg« zur deutlich schlechteren Alternative wird. Wollte man all das ernsthaft in Angriff nehmen, dann würde es große Summen kosten und erheblich das schmälern, was wir heute als Wohlstand zu definieren gewohnt sind. Globale Dysemergenz, Volatilität, Instabilität und Chaos: Innerhalb der nationalen Wirtschaften und zwischen diesen im Rahmen der globalisierten Weltwirtschaft nehmen Vernetzung und Komplexität immer mehr zu. Der internationale Handel mit Gütern und Finanzprodukten differenziert sich und weitet sich aus. Die Arbeitsteilung differenziert sich. Überall werden Schranken und Bremsen abgebaut (»Markt- und Kapitalverkehrsliberalisierungen«). Inwieweit sich hieran im Ergebnis der laufenden großen Krise nachhaltig etwas ändern wird, steht dahin. Und das alles überlagert dann noch ein Netz immer schnellerer und weitreichenderer Informationsmedien. Auch ein ökonomischer Laie mit ein wenig Verständnis vom Verhalten komplexer dynamischer Systeme wird erkennen: Das kann nicht gut gehen. Eine undifferenzierte Globalisierung im Sinne einer ausschließlichen Liberalisierung muss eine Reihe potenziell verheerender Systemeffekte zur Folge haben. Von Staaten und internationalen Organisationen gesetzte Spielregeln und Rahmenbedingungen für das Wirtschaften haben den Sinn, allen Marktteilnehmern ausreichende Chancen bei der Teilnahme an einem fairen Wettbewerb zu sichern. Der Schwache muss dabei ein wenig geschützt und der Starke in seiner Macht beschnitten werden. Nur so kann das freie Spiel egoistischer Kräfte sich zur Förderung des Gemeinwohls auswirken. Werden nun undifferenziert alle Schranken und Bremsen aus dem System ausgebaut, beginnt der Matthäus-Effekt zu rasen: Die Starken werden immer stärker, werden alles beherrschende Mächte, die Schwachen werden hinweggefegt, neue Konkurrenten werden im Keim erstickt. Es gibt einige wenige Mega-Gewinner, und ein Riesenheer von Verlierern. Zur Logik dieses Spiels gehört, dass es gerade die Starken und die Profiteure sind, die versuchen, alle Schutzbarrieren zu schleifen. So wird wenig geschaffen und viel zerstört. Dieser Aspekt einer ungebremsten Globalisierung klang bereits an. Werden die Kräfte des Marktes also zu weitgehend entfesselt, zeigt dies zunehmend Eigenschaften und Wirkungen, die nicht erwünscht sind, die nichts mehr mit den Zwecken zu tun haben, für die er etabliert wurde. Das ist ein Beispiel für die Dysemergenz, für die Emergenz von unerwünschten, unsinnigen oder schädlichen Eigenschaften.

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Bei ungebremster Zunahme an Komplexität zeigen sich weitere dysemergente Systemeffekte – nennen wir sie Lawineneffekt und Dominoeffekt. Insbesondere durch die immer weitgreifenderen und schnelleren Kommunikationsmedien vermehren sich die Momente selbstverstärkender positiver Rückkoppelungen im Wirtschafts- und Finanzsystem. Bestimmte Trends wie Spekulationsblasen können dann derart schnell derart stark aufgeschaukelt werden, dass sie die Zerstörungskraft einer Lawine gewinnen. Nehmen wir an, dass irgendwie am Markt das Gerücht entsteht, ein bestimmtes Handelsgut sei derzeit relativ billig und es sei eine Preissteigerung zu erwarten. Während sich das Gerücht bereits rasend schnell verbreitet, beginnen die Ersten schon zu kaufen und die Preise ziehen leicht an. Nun beginnt sich das Gerücht, die Prophezeiung, selbst zu erfüllen. Immer mehr kaufen immer schneller und im Sinne unserer Sigmoidkuve schießen die Preise mit unbremsbarer Wucht nach oben. Wer nicht kauft, ist der Dumme, es setzt ein synergetischer Versklavungsdruck ein (»Herdentrieb«), alle werden zu Getriebenen. Die nun entstehenden relativen Preise lösen sich in absurder Weise vom realen Wert der Handelsgüter (Dysemergenz). Den Spekulanten ist das bewusst, vielen normalen Marktteilnehmern weniger. Sie wähnen sich immer reicher und nehmen immer mehr Kredit auf, wenn der relative Wert ihrer Häuser nach oben geht, sofern sich gerade wieder eine Immobilienbase hebt. Die Spekulanten wissen natürlich, dass die Sigmoidkurve irgendwann kippen und abstürzen muss: Irgendwann gibt es keine neuen Käufer mehr, dann flacht die Kurve ab, die Spekulanten wollen Kasse machen und die Mondpreise werden korrigiert. Und wieder einmal werden die Reichen noch reicher und Tausende verlieren Werte, für die sie vielleicht jahrzehntelang im Schweiße ihres Angesichts gearbeitet haben. Die Spekulanten lauern nur auf die ersten Anzeichen des Trendwechsels. Denn wenn sie den maximalen Gewinn mitnehmen wollen, dann müssen sie ganz schnell möglichst weit über dem Wert verkaufen, zu dem sie eingekauft haben. Irgendwo entsteht dann irgendwie zuerst das Gerücht, dass die Preise fallen. Immer mehr verkaufen, die Kurve kippt und nun beginnt der selbstverstärkende Prozess nach unten: Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer und die Spekulanten stoßen so schnell wie möglich ab, was möglich ist, mit dem Handy am Ohr noch auf der Toilette. Nun stürzen die Preise ins Bodenlose – und wieder weit unter den realen Wert. Wir haben dann eine Immobilienkrise, eine Währungskrise, eine geplatzte Internetblase oder eine Ölkrise. In vielen angrenzenden Wirtschaftsbereichen führt dies nun aufgrund der Vernetzung zu ähnlich überschießend-panischen Rettungs- und Absicherungsreaktionen oder zur Lähmung vieler Aktivitäten infolge von Verunsicherung. Dies ist dann der Dominoeffekt, der nationale Wirtschaften in die Rezession reißen oder gar eine Weltwirtschaftskrise auslösen kann. So wächst die Gefahr, dass sich immer unbedeutendere lokale Wirtschaftsereignisse derart aufschaukeln können, dass sie eine Weltwirtschaftskrise nach sich ziehen. Um noch einmal ein Bild zu bemühen: Der Lawineneffekt sorgt dafür, dass sich die Wellen auf dem Wirtschaftsozean immer schneller immer höher türmen, und der Dominoeffekt bewirkt, dass sich die Wellen wechselseitig

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immer weiter aufschaukeln, dass der Sog von Riesenwellen immer weiter greift. Und natürlich geraten dabei immer größere Schiffe in Gefahr zu kentern und zu sinken. Wenn nicht bald im Rahmen internationaler Abkommen mehr Schranken und Bremsen ins System eingebaut werden, besteht die Gefahr, dass die Welt in einem regelrechten Chaos versinkt – im Rahmen der noch laufenden großen Krise oder bei Gelegenheit der nächsten. Freilich darf das Pendel als Reaktion darauf auch nicht zu weit in Richtung Protektionismus durchschlagen – es geht darum, die gute Mitte zu finden und zu halten. Als rohstoffarmes Land und Exportweltmeister ist Deutschland in höchstem Maße in die Weltwirtschaft eingebunden und von ihrem Wohl und Wehe abhängig. Insbesondere für Deutschland brauen sich durch solche Instabilitäten also enorme potenzielle Gefahren zusammen, die – Sie kennen den Spruch – zu immensen Wohlstandseinbußen führen könnten. Im Nebeneffekt führt all das auch dazu, dass wirtschaftliche und damit auch noch mehr politische und sonstige soziale Entwicklungen immer schwerer bewertbar und prognostizierbar werden. Bei vielen Konflikten verlaufen die Fronten der Verursacher und Nutznießer derart im Zickzack und über Kreuz, dass kaum mehr jemand sagen kann, was richtig ist und was falsch, wer verantwortlich ist wofür, wer die Guten und wer die Bösen sind. In dieser Situation können viele Entscheidungen in Wirtschaft und Politik aus Prinzip nur ein Vabanque-Spiel sein: Läuft es gut, wird man von der Geschichte im Nachhinein zum Helden verklärt, hat man Pech und es geht daneben, war man ein Versager. Weitere Bedrohungen könnten genannt werden – ein Ersterben der letzten Kräfte im »Selbstfesselungsexperiment Europa« etwa –, aber irgendwo müssen wir einen Punkt setzen. All diese Riesenwellen rollen also unabweislich auf uns zu, auf einen Tanker, der am Auseinanderfallen ist, dessen Ruder nicht mehr auf das Steuer reagiert, der eine Führungscrew hat, die all dies nicht nachdrücklich und ehrlich genug thematisiert und zum Teil in Partylaune ist – vielleicht, weil man sich längst einen Platz in einem der wenigen Rettungsboote gesichert hat? Wenn alles so weiterläuft wie bisher und uns die Kraftentfaltung dieser gewaltigen Momente erst richtig trifft, wird dies die beschriebenen desintegrierenden Teufelskreise und Abwärtsspiralen erst richtig in Schwung bringen. Was uns dann droht, ist im besten Falle das, was von Lind, Beck, Radermacher und anderen als »Brasilianisierung« bezeichnet wird: Die Verarmung schreitet rasant fort und reißt immer größere Teile der Mittelschicht mit nach unten. Ghettos breiten sich aus, die von organisierten Verbrecherbanden beherrscht werden. Eine kleine Schicht Superreicher igelt sich in Festungen ein. Aber auch hier ist das Glück nicht mehr wirklich daheim: Dekadenz, Korruption, innerfamiliäre Gewalt, Sucht und Depression nisten sich ein. Überall in der Gesellschaft gehen Rechtsund Sozialstaatlichkeit, Kultur und Moral verloren. »Homo hominem lupus est«, wie schon Thomas Hobbes wusste. Und im schlimmsten Falle wird diese soziale Ödnis dann noch heimgesucht von Naturkatastrophen, Epidemien, Kriegen und

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Bürgerkriegen und geht womöglich in einem dezivilisierenden Chaos unter, das Assoziationen an Völkerwanderung oder den Dreißigjährigen Krieg wachrufen wird. Es sind ja einige Kinofilme gedreht worden, die versuchen, derartige Szenarien vorwegzunehmen. »Bellum omnium contra omnes«, um noch einmal Hobbes zu zitieren. Im Bisherigen habe ich versucht, in verschiedenen Erklärungsschleifen einige der zentralen Zusammenhänge und Mechanismen anzuleuchten, die innerhalb eines natürlich noch viel dichteren und vielfältigeren Wechselwirkungsgeflechts für die gegenwärtigen Entwicklungen hauptverantwortlich sind. Lassen Sie uns nun für die wichtigsten gesellschaftlichen Bereiche noch einige vertiefende Zustandsbeschreibungen anfügen.

1.10 Wirtschaft Leistungskraft und internationale Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft ist für das Schicksal unseres Landes von zentraler Bedeutung. Auch wenn es in praxi selten funktioniert, aber: Rohstoffreiche Länder wären im Prinzip und zur Not zu einer autarken Subsistenzwirtschaft in der Lage. Aus der Addition von Rohstoffen und menschlicher Arbeitskraft könnten alle für ein bescheidenes oder sogar gehobenes Überleben notwendigen Gebrauchswerte hervorgehen. Solche Länder müssten nicht in die Weltwirtschaft eingeklinkt sein. Allein, Deutschland gehört nicht zu diesen rohstoffreichen Ländern. Wenn wir überhaupt autark überleben könnten, dann wohl allenfalls auf mittelalterlichem Niveau. Deutschland muss seinen Wohlstand über die Realisierung von Tauschwert sichern: Es muss hochinnovative und deshalb heißbegehrte Produkte herstellen, um damit im Welthandel hohe Gewinnspannen zu erzielen. Dies erlaubt es, die nötigen Rohstoffe auf den Weltmärkten einzukaufen, sichert maximalen Wohlstand und hält die ganze Maschinierie am laufen. Die Gebrauchswerterzeugung in Subsistenzgesellschaften wäre ein lineares Phänomen: Ein bisschen mehr Anstrengung führt zu einem bisschen mehr Wohlstand und umgekehrt. Die Tauschwertrealisierung auf den Weltmärkten hingegen ist ein hochgradig nichtlineares Phänomen, das Züge eines Alles-oder-nichts-Prozesses hat: Die Marktführer fahren Höchstgewinne ein, die Abgeschlagenen müssen ihre Produkte zu Schleuderpreisen verramschen oder bleiben ganz auf ihm sitzen. Hier gilt, was schon Alice von der Roten Königin im Wunderland erfuhr: »Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du auch nur am gleichen Fleck bleiben willst.« Entweder wir bleiben in möglichst vielen Schlüsselbranchen Weltspitze oder wir verlieren den Anschluss und stürzen irgendwann ganz ab. Wie ist hier der Stand der Dinge? Nun, in vielen Bereichen gehobener Gebrauchsgüter wie Maschinen- und Fahrzeugbau nimmt Deutschland nach wie vor Spitzenpositionen ein. Auch im Bereich Bio- und Umwelttechnologie

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sind deutsche Mittelständler im internationalen Spitzenfeld vertreten. Schlecht sieht es dagegen aus im so wichtigen Bereich der Elektronikindustrie und der IT-Dienstleistungen: Weder Computer noch Handys, nicht einmal mehr Fernseher oder DVD-Recorder kommen aus deutschen Firmen von Weltrang. Und außer SAP gibt es auch bei Internet- und Softwarefirmen keine Global Player aus Deutschland. Aufs Ganze gesehen ist Deutschlands Position alles andere als befriedigend, wenn es um Spitzentechnik, -forschung und -ausbildung geht. Insbesondere die Investitionen in Forschung, Entwicklung, Ausbildung und Bildung sind in Deutschland deutlich zu gering. Unsere Schüler liegen im internationalen Vergleich nur im Mittelfeld, es gibt zu wenige Abiturienten und Studenten, deutsche Universitäten können mit internationalen Spitzeneinrichtungen nicht mithalten. Das Wort vom »Braindrain« macht die Runde – junge und talentierte Wissenschaftler, Techniker und sonstige Akademiker gehen ins Ausland. Die Patentbilanz – also das Verhältnis von eingekauften zu deutschen Patenten – ist seit langem negativ und verschlechtert sich weiter. Beim wichtigsten Rohstoff unserer Zeit, den innovativen Produktideen, sind wir vom Exporteur zum Importeur geworden. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis dies auf die Exportbilanz der Endprodukte durchschlägt. Wie geschildert, hat im Rahmen der Globalisierung die Konkurrenz über billige Arbeit vor allem in Asien, aber auch in Südamerika und Osteuropa wirtschaftliche Boomregionen entstehen lassen. Vor allem in Asien sind selbstverstärkende Eigendynamiken überschwellig geworden, die nach riesigen Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung nun den Aufbau von Hightech-Industrien ermöglichen. Viele amerikanische, europäische und deutsche Unternehmen geraten so unter wachsenden Wettbewerbsdruck. Die Binnenmärkte werden von einer unüberschaubaren Flut an Billigimporten überschwemmt. Und viele Märkte sind längst gesättigt. Man muss immer härter kämpfen, um auch nur seinen Platz zu halten. Dies hat einige positive und eine Vielzahl negativer Wirkungen. Es gehen Arbeitsplätze verloren und die Nettolöhne sinken seit mehr als zehn Jahren. Viele Luxusphänomene aus wirtschaftlich gemütlicheren Zeiten bleiben auf der Strecke: Unternehmenskultur, dauerhafte Bindungen zwischen Unternehmen und Mitarbeitern, Ethik, Mitmenschlichkeit, soziales und ökologisches Engagement. Alles wird auf Sparkurs, Effizienz, Flexibilität und Leistungsverdichtung getrimmt. Hektik und Stress wachsen. Es geht rauer zu. Die neuen Informationstechnologien erzwingen insbesondere bei Führungskräften ständige Erreichbarkeit oft bis in die Nacht hinein und Multitasking. Jungen Führungskräften fehlt es an Persönlichkeit und sozialer Kompetenz. Und den nachwachsenden Auszubildenden mangelt es nicht selten an elementaren Fähigkeiten wie Rechnen, Schreiben und Lesen. Ganz abgesehen davon, dass unter Arbeitsbedingungen, die von Druck und Angst gekennzeichnet sind, subtilere Kompetenzen blockieren und archaische Verhaltensmuster durchbrechen. Wie überall in der Gesellschaft ist auch am Arbeitsplatz eine Zunahme körperlicher Gewaltanwendung zu registrieren.

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Aber auch Burnout und Suizid infolge zu hohen Arbeitsdruckes und Mobbing nehmen zu. Soziale Teufelskreise von Misstrauen und Kontrolle, von wachsendem Problemdruck, psychischen Blockaden und sozialen Blockaden durch Hektik und Aktionismus schaukeln sich auf. Das Klima von Druck, Zukunftsangst und Pessimismus fördert Ellbogenmentalität und Kurzfristdenken: Mir das Meiste und nach mir die Sintflut. Amerikanische Praktiken eines Hire und Fire, Quartalsdenken auf Kosten der Nachhaltigkeit setzen sich durch. Die Macht auf kurzfristigen Gewinn orientierter Hedge- und anderer Fonds wächst. Kriminelle Praktiken breiten sich in der Wirtschaft aus – Korruption, Insolvenzverschleppung, Betrug, Insidergeschäfte, um nur einige Stichworte zu nennen. Und natürlich sind auch die Mondgehälter vieler Führungskräfte in diesem Kontext zu sehen. Wer die Macht hat, zu nehmen, der nimmt immer ungenierter, was er greifen kann. Ein Jahresgehalt von mehr als zehn Millionen Euro hat mit dem Leistungsprinzip nichts zu tun, und mit Fairness und Anstand schon gar nichts. Es gibt Studien, die sich auf Entscheidungen beziehen, bei denen der Vorstandsvorsitzende individueller Letztentscheider ist (z. B. bei Fusionen). Die Erfolgsquote liegt kaum über dem Niveau eines Zufallsentscheids. Unternehmenserfolg ist immer eine Kollektivleistung. Auch der Pförtner kann das Unternehmen retten, wenn er aufpasst, anstatt Zeitung zu lesen, und einem Wirtschaftsspion den Eintritt verwehrt. Das Schicksal eines Unternehmens auf den globalen Märkten ist so sehr von Unwägbarkeiten und Zufällen abhängig, dass die vermeintlich genialen strategischen Entscheidungen der großen Leader zumeist Konstrukte im Nachhinein sind, wenn es eben mit mehr oder weniger Glück gut gegangen ist. Geniale Einzelentscheidungen aber treffen auch Ingenieure oder Technologen, und mit viel Herzensbildung Menschen führen und motivieren – das macht mancher Meister nicht viel schlechter. Es ist durch nichts zu rechtfertigen, dass ein Vorstand 500 Mal mehr verdient. Im Gegenteil: So etwas untergräbt den sozialen Frieden und das Zusammengehörigkeitsgefühl im Unternehmen, es verletzt die Fairness und das gerade von den Führungskräften anderen verordnete Leistungsprinzip. Es entsteht also Schaden für das Unternehmen und seine Aktionäre. Studien haben gezeigt, dass Unternehmen, die über sehr lange Zeit erfolgreich sind, von Führungskräften geleitet werden, die sich durch eine besondere persönliche Bescheidenheit auszeichnen. Wenn ein angestellter Manager mehrstellige Millionenbeträge aus seinem Unternehmen mit nach Hause nimmt und gleichzeitig Stellen streicht – nichts könnte ihn mehr als gute Führungskraft disqualifizieren (Collins, 2003). Kurzum: Aufs Ganze gesehen zeigt die Wirtschaft in Deutschland Tendenzen zu einem Abstieg, der noch langsam ist und noch partiell. Einige wenige Unternehmen, die auf eine glückliche Marktsituation getroffen sind, profitieren von der Globalisierung. Ebenso eine kleine Schicht kreativer Höchstleister und Menschen, die schon in Machtpositionen sind: Wohlhabende und Angehörige jener Familien, aus denen sich traditionell die Führungseliten rekrutieren. Aber die Mehrheit der Unternehmen gerät unter immer stärkeren Wettbe-

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werbsdruck. Die Führung in Hightech-Bereichen wird immer öfter von Unternehmen aus den neuen Boomregionen übernommen. Wenn erst unser mäßiges Bildungssystem mit dem versiegenden Nachstrom an bildungsfähigen und bildungswilligen jungen Leuten zusammenkommt, könnte sich der Trend zu Unternehmenspleiten und Arbeitsplatzabbau bzw. -verlagerung verstärkt fortsetzen. Die Mehrheit der Arbeitnehmer und Menschen in Deutschland gehört so wohl zu den Globalisierungsverlierern: härtere Arbeit unter Bedingungen wachsender Unsicherheit zu niedrigerem Lohn mit steigenden Sozialabgaben. Oder gar keine Arbeit mehr bei Rückbau der Sozialleistungen. Leiharbeit, prekäre Existenzen zwischen Praktikum und Projekt machen sich breit, auch das im Angelsächsischen so genannte Moonlighting (Mehrfachbeschäftigung).

1.11 Gesellschaft Je weiter komplexe Entwicklungen ungesteuert voranschreiten, desto mehr besteht die Gefahr, dass selbstverstärkende Eigendynamiken lawinenartig an Schwung gewinnen und letzte Schranken durchbrechen. Dies gilt insbesondere für das wiederholt erwähnte Matthäus-Phänomen: Die Reichen werden reicher und die Armen ärmer. Über Jahrzehnte galt Deutschland als »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« mit geringen Klassenunterschieden bei breiter Mittelschicht. In den Nachkriegsjahrzehnten entwickelten sich die Einkommen der Höchst- und Geringverdiener in etwa parallel. In den letzten Jahren aber beginnen sich die Kurven immer schneller auseinanderzubewegen. Die Bezüge der unteren Schichten sind preisbereinigt seit 1992 um circa 13 Prozent gefallen, die Einkommen der Spitzenverdiener legten im selben Zeitraum um circa ein Drittel zu. Inzwischen verfügen die oberen 10 Prozent der Gesellschaft über circa 60 Prozent des Gesamtvermögens. In Unterschicht und Prekariat dagegen wächst die Verschuldung. Fast 8 Prozent der deutschen Privathaushalte sind bereits überschuldet. Jedes zehnte Kind in Deutschland gilt inzwischen als arm, Tendenz steigend. Diese Entwicklungen haben natürlich nichts mit Leistungsgerechtigkeit zu tun – vielmehr liegt ihre Ursache in den besprochenen systemischen Selbstverstärkungsmechanismen. Durch Zins und Zinseszins entsteht dort, wo schon viel Geld ist, immer schneller noch mehr Geld. Immer weniger erben immer mehr. Geld heiratet in Geld hinein. Die Eliten schotten sich ab und bilden Klüngel und Seilschaften. Einfluss und Macht werden genutzt, um Einfluss und Macht zu mehren: Etwa 80 Prozent der Top-Positionen in Wirtschaft und Politik sind von Leuten besetzt, deren Eltern ihrerseits schon solche Spitzenpositionen innehatten. Schon in den Schulen zeigt sich die abnehmende Durchlässigkeit unserer Gesellschaft von unten nach oben. Im Sinne einer »Brasilianisierung« beginnt sich die Gesellschaft in zwei Klassen zu polarisieren, was sich bereits in einer Zweiklassenmedizin niederschlägt:

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So ist der Anteil der Privatpatienten an den Organempfängern in der Transplantationsmedizin deutlich höher als ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung. All dies ist in höchstem Maße ungerecht und das wird auch so empfunden: Circa 85 Prozent der Bevölkerung finden, dass es ungerecht zugehe im Land. Es liegt auf der Hand, dass sich hier Konfliktpotenzial ansammelt. Der allgemeine Pegel an Stress und Ärger steigt – mit negativen Auswirkungen auf die Volksgesundheit. Aus Studien weiß man, dass die Menschen in Gesellschaften mit großen sozialen Unterschieden eine geringere Lebenserwartung haben als in egalitäreren Gesellschaften. Und all dies scheint nicht nur ungerecht, es ist auch gefährlich und immer schwerer verantwortbar. Immer öfter fallen Millionen- oder gar Milliardenvermögen an Erben, die in Scheinwelten aufgewachsen sind und niemals ihre Zurechnungsfähigkeit haben beweisen müssen. Darf eine so immense gesellschaftliche Gestaltungs- und gegebenenfalls auch Zerstörungsmacht in die Hände beliebiger Einzelner fallen ohne jede gesellschaftliche Kontrolle? Jeder Milliardär könnte sich mit großer Aussicht auf Erfolg die Verfügungsgewalt über Massenvernichtungswaffen verschaffen, wenn er es wollte. Wäre es nicht gut, wenn private Geldvermögen über einen bestimmten Betrag hinaus in Stiftungen eingebracht werden müssten, deren Tätigkeit unter einer minimalen behördlichen Kontrolle steht? Die Gesellschaft driftet nicht nur in der Vertikalen auseinander – in alle Richtungen und auf allen Ebenen lockern sich Bindungen und Gefüge. In 25 Prozent aller deutschen Familien gibt es keine gemeinsamen Malzeiten mehr. Es wird immer weniger miteinander gesprochen, immer mehr Menschen hängen immer länger vor dem Fernseher oder im Internet. Scheidung, Versingelung und Altersarmut grassieren. Die Mitgliederzahlen sozialer Organisationen aller Art sinken. Der Anteil der festangestellten Beschäftigten in Unternehmen ist rückläufig und auch deren Identifikation, Bindung und Bleibedauer sinkt. Aber auch die Bindung ans Territorium ist betroffen. Die allgemeine Mobilität wächst und gibt dem Matthäus-Effekt Raum: Attraktive zieht es in die attraktiven Regionen, unattraktive Regionen »bluten aus«. So kann in München niemand mehr die Mieten bezahlen und in vergreisenden neuen Bundesländern wie MecklenburgVorpommern können die Arztstellen nicht mehr besetzt werden. Es gibt unbewohnte Geisterdörfer und die Wölfe kehren zurück. Alles ehemals Feste wird flüchtig – es ist von der Verflüssigung der Moderne gesprochen worden. Tradierte und bewährte soziale Regeln, Werte, Normen und Tugenden verlieren an Verbreitung und Wirksamkeit. Wir sehen einen Verlust an »Sozialkapital«: Vertrauen, Anstand, Ehrlichkeit, Gemeinsinn, guter Wille, Mitgefühl und Solidarität. Beziehungen aller Art werden immer mehr unter ökonomischem Nutzenkalkül bewertet und gestaltet. Ellbogenmentalität, Betrug und Gewaltkriminalität breiten sich aus. Das hat zur Folge, dass die Gesellschaft nur dann einigermaßen fortexistieren kann, wenn sie ihre Sicherungssysteme ausbaut: Versicherungen, Gerichtsbar-

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keit, Polizei, Militär, Terrorbekämpfung, Gefängnisse, aber auch das Gesundheits- und Sozialwesen, das Verwahrloste und Suchtkranke, die Folgen von Kindesmisshandlungen oder Übergewicht auffangen muss. Letztlich hat auch die vielgehasste Regulierungswut hier ihre Wurzeln. All das kostet Wohlstand, wirkt sich auch auf das Funktionieren der Wirtschaft negativ aus und verschlechtert so unsere Zukunftschancen.

1.12 Politik und Verwaltung Nach dem Krieg, wir hatten es schon erwähnt, wurde aus damals guten Gründen das politische System in Deutschland auf eine übergroße Stabilität ausgelegt. Wo immer es ging, wurden Gegengewichte, Blockademöglichkeiten und Konsenszwänge eingeführt. Dann kamen Jahre und Jahrzehnte, in denen es zuerst reale Wachstumsfrüchte zu verteilen gab. Und auch als das Wachstum dann stagnierte, mochte man davon nicht lassen und verteilte die Früchte einfach auf Pump. Schon vor dem Einschlag der großen Krise betrug der offizielle Schuldenstand circa 1.5 Billionen Euro und die verdeckte Verschuldung wird auf das dreifache Volumen geschätzt. Der Konsenszwang führte zu einer unüberschaubaren Vielfalt von Kompromissen und Tauschgeschäften in Sachen Finanzierung und Mitspracherechte zwischen Bund, Ländern, Gemeinden und sonstigen Ebenen und Korporationen. In einem Klima des fast unbeschränkten Verteilenkönnens haben Heerscharen von Lobbyisten und Verbänden über Jahrzehnte mit den schweren Vorschlaghämmern der Gier und des Egoismus ohne Hemmung und Rücksicht auf den ehemals wohl einigermaßen sinnhaft konstruierten Staatsund Gesetzeskörper eingeschlagen. So ist ein entstellter Moloch entstanden, mit derart vielen Eindellungen und bizarren Ausdengelungen an Sonder- und Ausnahmeregelungen, Privilegien und Schlupflöchern, dass durchgehende Konturen nirgendwo mehr erkennbar sind. Die Kompliziertheit des deutschen Steuersystems ist Legion, das Gesundheits- und Sozialwesen ist so verkrustet und ineffizient, dass es bezüglich seiner Kosten Weltspitze ist, bezüglich seiner Leistung aber nur Mittelmaß, das deutsche Baurecht ist so verworren, dass selbst Experten kaum mehr sicher entscheiden können, ob man nun bauen darf oder nicht. Die Verwaltungsgerichte werden der aufgestauten Verfahrensflut nicht mehr Herr. Viele Millionen Euro an Investitionsgeldern liegen deshalb fest. Das Land ist so nur noch schwer regierbar und verwaltbar. Es gibt 140 Ministerien in 16 Ländern mit mehr als 5500 Referaten, deren Leiter ständig zu irgendwelchen Koordinierungstreffen unterwegs sind. An die Tausend solcher Länderrunden soll es geben, bis hin zu so etwas wie »AG Beratungsecken in Apotheken«. Und alle müssen zum Konsens finden. Sonst wird einfach im Bundesrat blockiert. Das Hin- und Hergeschachere muss am Ende jedes primär sinnvolle Konzept entstellen, im Sinne einer Dysemergenz schleichen sich Fehler ein mit

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oft unkalkulierbaren Folgen. »Was tatsächlich getan wird, hat keiner gewollt. Was geschieht, will keiner verantworten«, so formuliert es der Kölner Politikwissenschaftler Fritz Scharpf (zit. n. Darnstädt, 2004, S. 16). Am wenigsten kann noch schief gehen, wenn die Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat gegensätzlich sind. Dann nämlich erhebt sich das Parteiinteresse gänzlich über das Sachinteresse und die Blockade wird zum Dauerzustand. Allerdings wurden auf diese Weise viele Entscheidungen beerdigt, die sich eigentlich via Bundestag und Bundesregierung vom Volkssouverän hergeleitet hatten. Tatsächlich ist die »Massendemokratie«, wie wir sie kennen, in vieler Hinsicht ziemlich problematisch – sowohl in der Theorie als auch in der Praxis. Wenn nun die Bevölkerungsmehrheit durch ein ineffizientes Bildungswesen und Vermarktlichung der Medien systematisch verdummt und die gesellschaftlichen Probleme gleichzeitig immer komplexer werden, nähert sich das System der Funktionsuntüchtigkeit. Insbesondere Entscheidungen, die im Interesse der Zukunft Verzicht im Hier und Jetzt verlangen würden, sind nun prinzipiell nicht mehr durchsetzbar – Entscheidungen etwa für sehr viel mehr Investitionen, vor allem in Bildung und Forschung, Entscheidungen für mehr Generationengerechtigkeit durch Verzicht aufs Schuldenmachen oder Entscheidungen für mehr globale Gerechtigkeit, für den Schutz von Umwelt und Klima. Die Mehrheit der Bevölkerung wird eben leider immer noch überwiegend von Konsum- und Egoantrieben bestimmt – und mit Blick auf Entwicklungen der letzten Jahre müsste man sogar sagen: wieder in zunehmendem Maße. Das verhindert nicht nur viel Wichtiges und Positives, es macht auch verführbar für das Negative: Immer wieder haben es populistische Scharfmacher verstanden, die Massen bei ihren »primitiven Instinkten« zu packen, um zerstörerische soziale Bewegungen zu entfachen. Aus all diesen Gründen hegten schon die Väter des Grundgesetzes im Einvernehmen mit den Alliierten hohes Misstrauen gegenüber dem Volk. Sie brachten nicht nur viel Stabilität ins politische System der Bundesrepublik – sie verzichteten auch weitestgehend auf Elemente der direkten Demokratie. Allerdings hat sich dies als janusköpfig erwiesen: Es öffnet dem Matthäus-Effekt im politischen System Tür und Tor. Die Spieler können weitgehend unbehelligt die Spielregeln verändern. Die schon Mächtigen verändern das System so, dass ihnen der Machterhalt und -ausbau immer leichter wird. So ist eine politische Klasse entstanden, die sich zunehmend von der Bevölkerung abkapselt und oft in erster Linie ihren Eigeninteressen dient. Richard von Weizsäcker sagte einmal, Politiker seien Generalisten mit der einen Spezialkompetenz: Bekämpfung politischer Gegner. Neben anderen hat der Verwaltungswissenschaftler Hans Herbert von Arnim (2004) im Detail aufgezeigt, wie auf vielen Ebenen die politische Klasse die Spielregeln im Sinne ihres Eigeninteresses verändern konnte. Stichwort Politikfinanzierung: Es wurden die größtenteils illegalen Praktiken der Parteispenden nicht abgeschafft, obwohl das nach Einführung der staatlichen Parteienfinanzierung 1958 eigentlich so vorgesehen war. Diese Praktiken bewegen sich immer in der Grauzone zur Korruption und verzerren den politischen Wettbewerb, weil sie die

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großen, etablierten Parteien begünstigen. Stichwort Wahlrecht: Über das sinnvolle Maß hinaus haben sich die etablierten Parteien mit Prozenthürden, Sperrklauseln, ja sogar mit Parteineugründungsverboten gegen politische Konkurrenz abgesichert. Der Wähler hat kaum die Möglichkeit, einzelne Personen zu wählen oder abzuwählen. Über starre Listen können die Parteien ihnen genehme Kandidaten am Wähler vorbei in die Parlamente lancieren. Sogenannte »sichere Listenplätze« schaffen Sicherheit – vor dem Wähler. Nicht selten reisen auf diesen Plätzen Politiker, die als Direktkandidaten in ihrem Wahlkreis durchgefallen sind. Stichwort Ämterpatronage: Seit Jahrzehnten ist es Usus, Posten aller Art, von den Rundfunkanstalten über Richter- und Beamtenstellen bis hin zu einer Vielzahl anderer wichtiger Funktionen im öffentlichen Dienst, nach Parteibuch zu vergeben – und nicht nach Eignung und Kompetenz, wie es das Gesetz verlangt. Die Loyalität gilt nun nicht der Sache und dem Amt, sondern dem Parteipatron. Weite Teile des öffentlichen Dienstes wurden so durch die Parteien instrumentalisiert. In der Folge werden zum Beispiel bei der Vergabe von Krediten Parteigenossen bevorzugt oder Ermittlungsverfahren verlaufen irgendwie im Sande, wenn Parteifreunde betroffen sind. Wir berühren das nächste Stichwort: politische Korruption. Im Jahre 2008 kam Deutschland auf dem Korruptionsindex von Transparency International auf einen schäbigen 14. Platz. Es ist ein Skandal, dass Korruption für Abgeordnete immer noch kein Straftatbestand ist. Ich will Ihnen das Wortspiel nicht vorenthalten, das vom früheren Schatzmeister der SPD Friedrich Halstenberg kolportiert wird: »Wenn rauskommt, wie was reinkommt, komme ich wo rein, wo ich nicht mehr rauskomme« (zit. n. von Arnim, 2004, S. 188). Auch Korruption ist ein selbstverstärkender Prozess: Korruption macht erpressbar und damit anfällig für weitere Korruption. Und in einem entsprechenden Klima will dann irgendwann auch der letzte Ehrliche nicht der Dumme sein. Und als Letztes von vielen weiteren möglichen Stichworten sei genannt: Kontrolle der öffentlichen Meinung. Auf vielfältige Weise hat die politische Klasse ihre Möglichkeiten ausgebaut, die öffentliche Meinung in ihrem Sinne zu beeinflussen. Alle wichtigen Institutionen der politischen Meinungsbildung hat sie fest im Griff: die Bundes- und Landeszentralen für politische Bildung, die Parteistiftungen und viele Volkshochschulen, die öffentlich-rechtlichen Medien, schulische Lehrplaninhalte und nicht selten Schulleiterposten. Auch Meinungsführer und politische Experten an Universitäten, in Publizistik sowie in Kunst- und Kulturbetrieb zeigen sich als korrumpierbar durch Vergünstigungen, über die die politische Klasse gebietet: die Vergabe von Ämtern, Titeln, Orden, Preisen und Stipendien bis hin zur wohlwollenden persönlichen Nähe zur Macht. So kommt es, dass »Systemfragen« in der Öffentlichkeit kaum thematisiert werden. Aus Umfragen weiß man beispielsweise, dass eine große Mehrheit der Menschen Änderungen am Wahlrecht wünscht, etwa eine Direktwahl der Ministerpräsidenten. Breite Diskussion in den Medien – Fehlanzeige. Seit Jahren wird die öffentliche politische Debatte vom Hin- und Herwenden von Kleinstdetails beherrscht, während es derzeit eigentlich nur ein Thema von wirklicher Relevanz und Hebelwirkung

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geben dürfte: die Reform der Reformfähigkeit, die Reform von Föderalismus und politischem System. Wie Elisabeth Noelle-Neumann beschrieben hat, greifen hier auch Versklavungseffekte, die sie als »Schweigespirale« bezeichnet hat: Übersteigt der Eindruck, dass bestimmte Themen tabu sind, eine bestimmte Schwelle, wird es für den einzelnen Journalisten immer schwerer, die »political correctness« zu durchbrechen. All dies verhindert einen unbequemen, echten politischen Wettbewerb. Das ist komfortabel und beruhigend für die politische Klasse, aber es ist schädlich für die Gesellschaft. Nicht die Intelligentesten und Sachkompetentesten kommen zum Zuge, sondern verdiente Parteisoldaten, die in erster Linie Loyalität und Anpassungsbereitschaft unter Beweis gestellt haben. Wie oft wurden und werden selbst Ministerämter mit Politikern besetzt, die für das betreffende Ressort Sachkenntnis nicht einmal in homöopathischen Verdünnungsstufen mitbringen. Kompetenzdarstellungskompetenz in Verbindung mit Inkompetenzkompensationskompetenz müssen reichen, zumindest fürs Erste. Immer mehr verschränkt sich der Politikbetrieb mit der Medialisierung der Gesellschaft auf eine eher ungute Weise. Das Fernsehen und andere Medien eröffneten einen neuen, sich ausweitenden Raum, den die Politiker gezwungen waren und sind, zu besetzen. Doch die Eigengesetze dieser Medien wirken dann natürlich auf das Verhalten der Politik zurück. Medientechnik wird immer kleiner und billiger. Entsprechend sprießen die Zeitungen, Sender und Kanäle wie Pilze aus dem Boden. Die Konkurrenz verschärft sich dramatisch und die Qualitätsstandards sind im freien Fall. Die Medien lassen auch den letzten willigen Hinterbänkler zu Wort kommen und blasen dessen rhetorische Ungeschicklichkeiten zu Konflikten oder gar Machtproben auf. Die Medienbühne und damit die Verführung zur Selbstdarstellung wird immer größer. Wenn ein Politiker in die Medien will, dann findet er einen Weg. Hinzu kommt: Die Sachfragen werden immer komplizierter und die Eigendynamiken der Problementwicklungen lassen sich immer weniger beeinflussen. Auch viele Politiker verlieren den Überblick, bekommen zunehmend das Gefühl, selbst Ohnmächtige und Getriebene zu sein. Es verstärkt sich bei ihnen der Eindruck, dass auch die Menschen da draußen längst Überblick und Interesse verloren haben. Wenn aber sowieso alles verloren ist und man nichts dagegen machen kann, was bleibt dann noch Sinnvolles zu tun? Nun, nicht wenige beschränken sich darauf, Scheinpolitik zur Unterhaltung und Beruhigung des Volkes zu inszenieren und die eigenen Schäflein in Trockene zu bringen. So wird der Sog, sich als Person zu inszenieren, übermächtig. Man nutzt die Zeit als Politiker, um Bekanntheit zu erlangen. Und Bekanntheit ist die wertvollste Währung in der neuen Aufmerksamkeitsökonomie (s. Kapitel 1.15). Sie lässt sich in alle anderen Währungen tauschen: ein gutdotierter Posten in Wirtschaft oder Medienbetrieb, ein Bestseller, eine eigene Talkshow oder Rednerhonorare. Die Droge Popularität kommt auf den Markt, wird konsumiert und erzeugt Abhängige, denen öffentliche Geltung wichtiger wird als alles andere.

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Spitzenpolitiker lassen sich inzwischen durch Werbe- und PR-Agenturen betreuen. Berater und Lobbyisten befeuern ein buntes Eigenleben im »Raumschiff Berlin-Mitte«: Ständig werden Pseudoevents – Feste, Kongresse, Tagungen, Preisverleihungen aller Art – inszeniert, die nur stattfinden, damit sie stattfinden und es einen Grund gibt, in den Medien genannt zu werden. Tatsächlich gibt es bestürzende Untersuchungen, die zeigen, dass diejenigen Politiker die besten Wahlchancen haben, deren Namen am häufigsten in den Medien genannt werden (unabhängig davon, in welchem Kontext und mit welcher Bewertung). Politische Information wird zur Ware und zum Reiz und muss sich der Eigenlogik der Aufmerksamkeitsökonomie unterwerfen: Bild schlägt Wort, Gefühl schlägt Verstand, Skandal schlägt Argumentation, Person schlägt Sachverhalt (s. Kapitel 1.15). Nur ein Beispiel von vielen: Als Franz Müntefering die Rente mit 67 durchsetzte, nahm das Ausschlachten der persönlichen Differenzen zwischen Müntefering und Beck viel mehr Raum ein als das eigentliche Sachthema. Die logische Fortsetzung dieser Mechanismen ist das grassierende UmfrageUnwesen. Immer häufiger gibt es zu allem und jedem Umfragen und Rankings. Politiker starren auf die Ergebnisse von Sonntagsfrage und Kandidatenbeurteilungen wie das Kaninchen auf die Schlange. So werden sie zu Gefangenen des Systems, zu Getriebenen und Versklavten. Eigentlich müsste Frau Merkel sehr unpopuläre Entscheidungen durchsetzen, um ihrer Verpflichtung auf Gemeinwohl und Nachhaltigkeit gerecht zu werden. Dann würden aber ihre Beliebtheitswerte sinken und die ihrer Partei. Dies nun würde schnell ihre innerparteilichen Feinde auf den Plan rufen und zu ihrem Sturz führen. So oder anders herum: Die eigentlich nötigen Entscheidungen sind im bestehenden System nicht durchsetzbar. Politiker binden sich nicht mehr an politische Inhalte, mit denen sie bereit sind zu siegen oder unterzugehen. Sie richten ihr wechselndes Auftreten nach dem umerfragten wechselnden Massengeschmack oder bleiben bewusst diffus in ihren Aussagen, um einer möglichst breiten Masse als Projektionsfläche für deren Wünsche dienen zu können. Kaum einer brennt noch für soziale Visionen, viele geben desillusioniert auf und sorgen sich hauptsächlich um ihr eigenes Fortkommen in Sachen Macht, Geld und Ruhm. Auf vielfältige Weise instrumentalisieren sich Medien und Politik wechselseitig – mit destruktiven Folgen auf beiden Seiten. Kaum eine Politikerrunde hält mehr dicht, immer öfter sickern »vertrauliche« Informationen durch, um politischen Gegnern zu schaden. Sogar unter Kabinettskollegen wird es inzwischen üblich, sich wechselseitig durch vorherige Mobilisierung der öffentlichen Meinung zu erpressen. Die politischen Sitten verrohen zunehmend. Was findet der Beobachter der politischen Szene also, zumindest bis vor Beginn der großen Krise? Endlosen Hickhack um Kleinstdetails, sich im Kreis drehende Scheingefechte durch selektives Anleuchten komplexer Zusammenhänge, oppositionelle Reflexkritik, Selbstinszenierungen, macht- und parteipolische Rechthabereien, die leicht durchschaubar und oft widersprüchlich sind,

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Aufbauschen nebensächlicher persönlicher Differenzen und Konflikte, leere und wirkungslose Symbol- und Scheinhandlungen, Korrekturen von Korrekturen handwerklicher Fehler, Ausnahmen im Rahmen schon gewährter Ausnahmen, um auch noch der letzten unverschämten Lobbygruppe Genüge zu tun. Er beobachtet Entwicklungen, für die Begriffe wie Personalisierung, Emotionalisierung, Inszenierung, Boulevardisierung, Verflachung geprägt wurden. Nur eines findet er kaum: offene Diskussionen und mutige Vorschläge im Hinblick auf die wirklich relevanten Zukunftsprobleme. Natürlich geht es seit Beginn der großen Krise auch wieder um große Entscheidungen, die sich aber bisher überwiegend nur um die Größe von Geldsummen drehen. Inwieweit wirklich ausreichende Regulierungen der Finanzwirtschaft international vereinbart und auch nachhaltig durchgesetzt werden, steht in den Sternen. Entwürfe für eine Gesellschaft der Zukunft, die Mut machen, Sinn, Orientierung und Hoffnung vermitteln – Fehlanzeige. »Wachstum« oder »Wohlstand« sind keine motivierenden Visionen, und Schlagworte wie »soziale Gerechtigkeit« oder »Familie« genügen auch nicht. Die Politik hat den Anspruch aufgegeben, Gesellschaft und Zukunft wirklich kraftvoll gestalten zu wollen. Und auch die meisten Intellektuellen sind hier leider keine Hilfe mehr: Sie machen aus der Not des »Endes der großen Erzählungen« eine Tugend oder verkünden mit Fukuyama gleich das »Ende der Geschichte«. Das ist zumindest deutlich einfacher, als neue Visionen zu entwickeln. Wenn Helmut Schmidt sein bekanntes Bonmot wie folgt gemeint hätte, könnte ich ihm zustimmen: Wer jede Vision gleich morgen eins zu eins umsetzen will, sollte zum Arzt gehen, damit die Gesellschaft keinen Schaden nimmt. Aber: Wer gar keine Visionen hat, landet auch irgendwann beim Arzt – mit Depressionen. Und die Menschen erkennen oder spüren all dies: Die Irrelevanz und Wirkungslosigkeit des politischen Betriebs, die Ohnmacht gegenüber der Wucht sozialer Entwicklungen und auch die Egoismen der politischen Klasse. Auch die sowieso schon schrumpfende Fraktion der politisch Interessierten wendet sich zunehmend von der Politik ab. Spätestens seit dem Flick-Parteispenden-Skandal und der Affäre um den Gewerkschaftskonzern »Neue Heimat« befindet sich das Ansehen von Politikern und Politik im Sinkflug. »Politikverdrossenheit« avancierte 1992 zum Wort des Jahres. Die Beteiligungen bei allen Formen von Wahl sinken kontinuierlich. Und wer wählen geht, entscheidet immer wechselhafter nach immer irrationaleren Kriterien. Studien haben gezeigt, dass häufiger gewählt wird, wer weiter oben auf dem Wahlzettel steht. So entscheidet jemand, der das Gefühl hat: Es ist sowieso egal, die sind alle gleich. 2006 war es erstmals die Mehrheit der Deutschen, die starke Zweifel am Funktionieren von Demokratie und politischem System äußerte (ARD-Deutschlandtrend 11/06). Politik kann nicht mehr überzeugen und begeistern, nicht mehr mitreißen und bewegen. Das politische System zeigt nach innen schwere Funktionsmängel und hat nach außen seine Integrationskraft für die Gesellschaft verloren. Die Desintegrationstendenzen der Gesellschaft, die wir überall diagnostizieren mussten, sie

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zeigen sich gerade auch hier. Und das ist dramatisch, denn: Soziale Integration zu organisieren, ist die Hauptaufgabe des politischen Systems. Wenn die Politiker wissend und kompetent, ehrlich und authentisch wären, wenn einer Mehrheit von ihnen das Gemeinwohl wichtiger wäre als das Eigenwohl, dann müssten sie kollektiv aufstehen und sagen: »Leute, so können wir nicht arbeiten. Innerhalb der bestehenden Systemzwänge können wir nicht das tun, was wir tun müssen und wollen. Es braucht eine Reform des politischen Systems.« Wir werden darauf zurückkommen.

1.13 Massenmedien Massenmedien heißt heute nicht nur Medien für die Massen, sondern auch Medien in Massen. Große Geldmengen flottieren um den Globus auf der Suche nach Anlage- und Vermehrungsmöglichkeiten. Medientechnik wird immer billiger, kleiner und einfacher. In der materiell gesättigten Welt wird die Gier nach Beachtung, Prestige und Ruhm zum bestimmenden Antrieb. All dies führt dazu, dass Vermehrung und Vermarktlichung der Medien ein nie gekanntes Ausmaß angenommen haben, ja dass ein medialer Ego-Kapitalismus sich etabliert und dabei ist, den klassischen, pekuniären Konsumkapitalismus abzulösen (Franck, 2005). Die dadurch dramatisch sich verschärfende Konkurrenzsituation in und unter den Medien hat neben einigen positiven eine überbordende Fülle existenzieller Negativwirkungen. Ein erster Punkt: Vermarktlichung heißt immer auch, irgendetwas irgendwie messen müssen. Was kann man messen? Nun, so etwas wie Auflage, Verkaufszahlen, Quote oder Clicks, also die quantitative Verbreitung. Wie schon erwähnt, führt das in Sachen Anspruch und Qualität in eine Abwärtsspirale. Oder es führt, je nach Blickrichtung, in eine Eskalationsspirale in Sachen Schrillheit und Primitivierung. Um in dem Sturm aus Tönen und Bildern Aufmerksamkeit zu erregen, muss man auf immer stärkere Reize setzen, die auf immer basalere Erbantriebe rekurrieren: Sex, Gewalt, Blödelhumor, immer spektakulärere Szenen und Erniedrigung von Menschen coram publico. In Studien wurden Schüler gefragt, was sie für die häufigste Todesursache halten – die Antwort: Mord. Die Musik wird einer Dynamikkompression unterworfen – einfach gesagt: Die leisen Töne werden verstärkt, damit sie von der ersten Sekunde an mit nicht nachlassendem Druck auf die Ohren schlägt (wodurch aber die für subtiles Musikerleben wichtige Dynamik reduziert wird). In Filmen treten immer mehr genormte Schönheiten auf, die immer überzüchtetere Pointen in immer kürzeren Abständen zum Besten geben. Die Nachrichten-Sendungen selbst der öffentlichrechtlichen Sender degenerieren in Richtung Boulevard: Die Haftentlassung einer gewissen Hilton im ZDF, die Morddrohungen gegen einen gewissen Knut

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bei NTV oder der Unfall eines gewissen Küblböck in der ARD – sollten Sie mit diesen Namen nichts oder nichts mehr anfangen können, wäre das gut so. Man könnte diese Aufzählung fast beliebig verlängern. Ein zweiter Punkt: Kennen Sie den Clip, in dem sich irgendjemand mit zwei Fingern ein Auge zuhält und sagt: Mit dem Zweiten sieht man besser? Was für ein Eigenlob, was für eine Anmaßung. Wir entscheiden selbst, womit wir besser sehen. Und für so etwas zahlen wir dann noch Gebühren. Durch die Konkurrenz fühlen sich die Medien immer mehr zur Werbung in eigener Sache gedrängt. Ein Aspekt dessen ist die Tendenz, selbst recherchierte Nachrichten als »exklusiv« in den Vordergrund zu schieben, um auf die eigene »Leistung« und Bedeutung aufmerksam zu machen. Nur: Das Exklusive ist eben oft nicht das wirklich Wichtige. Nennen wir noch einen dritten Punkt: Der Drang, sich bei quotenträchtigen Themen wechselseitig zu überholen, führt zur Aufschaukelung von Modewellen. Da wir evolutionspsychologisch besonders auf Gefahrenwahrnehmung geprägt sind, handelt es sich oft um Negativthemen. Nicht selten kommt es zu gefährlichen Realitätsverzerrungen. Denken Sie an die BSE-Hysterie, die große Teile des Fleischereigewerbes an den Rand des Ruins gebracht hat. All dies führt zu einem Ansehensverlust von Medien und Journalisten in der Öffentlichkeit. Selbstkritischen Standesvertretern ist dies durchaus bewusst. Doch auch und gerade in der immer komplexer werdenden Medienwelt sind die Akteure immer weniger Gestalter und immer mehr Getriebene der systemischen Versklavungszwänge. Wenn ein Einzelner von dem immer schneller zu Tal rasenden Zug springt, bricht er sich das Genick. »Wer will mit der Entschleunigung anfangen?«, fragte ein Chefredakteur der Nachrichtenagentur dpa bei einer Medientagung, bei der es um die Qualitätsverluste infolge der Beschleunigung ging. Wie das Protokoll vermerkt, blieb eine Antwort aus (nach Bruns, 2007, S. 210). Damit nicht genug: Wie wir es für alle nicht, zu wenig oder schlecht regulierten sozialen Systeme gefunden hatten, konzentrieren sich bestimmte Machtpotenziale durch Selbstverstärkungsmechanismen in einem Maße, dass sie alle Schranken durchbrechen und die Systemfunktion (zer)stören. Wir hatten das Matthäus-Effekt genannt. Und natürlich finden wir den auch und gerade in der Medienszene. So sind einige wenige Journalisten derart prominent geworden, dass für sie ein eigener Begriff geprägt wurde: Alpha-Journalisten. Eigentlich sollten ja Journalisten zwischen Experten und Publikum vermitteln. Alpha-Journalisten aber inszenieren sich zunehmend selbst als besserwissende Super-Experten und beginnen einen nicht unwesentlichen Einfluss auszuüben. So gratulierte Friedrich Merz Sabine Christiansen zu ihrer 250. Sendung mit den Worten: »Diese Sendung bestimmt die politische Agenda in Deutschland mittlerweile mehr als der Deutsche Bundestag.« Während es den Alpha-Journalisten gut gelingt, ihre Prominenz in Reichtum umzumünzen, finden wir am anderen Ende ein wachsendes journalistisches Prekariat. Diese oft »freien« Journalisten leben am Existenzrand und sind immer mehr gezwungen, sich als PR-Söldner für fragwürdige

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Zwecke zu verdingen. Wie sehr es dabei auch um persönliche Bekanntheit geht, mag man an der traurigen Tatsache sehen, dass immer mehr Magazine auf den Namen ihrer Moderatoren umgetauft werden. Die Ausbeutung von Popularität schreitet voran und verliert immer mehr den Bezug zu Kompetenz und Leistung: Da moderiert ein und dieselbe Person Talkshows, Quizzsendungen, Kochrunden und Sportsendungen, Nachrichtensprecher etwa findet man immer häufiger in Talkshows oder sie haben ihre eigenen Talkshows, manche schreiben mit Unterstützung von Ghostwritern seichte Bestseller oder machen Werbung. Früher zählten bei Büchern Inhalt und Qualität, heute kommt es allein auf die Prominenz des Autors an, und wenn sie dem BigBrother-Container entspringt. Es ist mehr als unverschämt, wenn sich »Alpha-Moderatoren«, von denen jeder drei Formate hat, dann auch noch wechselseitig in ihre Sendungen einladen. Irgendwann wird sich dieses Karussell des Narzissmus vielleicht wirklich einmal so schnell drehen, dass einer von ihnen die Umlaufbahn erreicht und Bundespräsident wird. Mittlerweile gibt es Kulissenprominente im absoluten Sinn: Sie sind nur noch dafür berühmt, dass sie berühmt sind (nachdem sie irgendwann durch irgendeinen Zufall wie die Heirat mit einem Prominenten oder durch eine Entführung in die Medien geraten sind). Wir haben es hier mit regelrechten »Aufmerksamkeitsausbeutern« im neuen »mentalen Kapitalismus« zu tun (s. Kapitel 1.15). Auch auf anderen Ebenen setzen sich neue Vermarktungslogiken immer stringenter durch, zum Beispiel in Form des schon erwähnten »Produkt- und Celebrity-Placement«: Medien und Prominente werden von Auto-, Bekleidungsund anderen Firmen dafür bezahlt, dass sie deren Produkte tragen, benutzen oder vorführen (wobei der Anschein gewahrt wird, als hätte man sich in eigener Wahl für diese Produkte entschieden). Schleichwerbung und immer raffiniertere Manipulation sind fast allgegenwärtig. Die alleinerziehende Krankenschwester weiß nicht mehr, wovon sie ihrem Kind Schuhe kaufen soll, und die sowieso schon wohlhabende Prominenz wird dafür bezahlt, Luxusschuhe einer bestimmten Marke zu tragen. Entwicklungen dieser Art sind in jeder Hinsicht unterträglich und nicht hinnehmbar. Ein anderer Punkt ist die riesige Diskrepanz zwischen rasanter Technologieentwicklung und Inhaltsverarmung. Im Wettlauf und Kampfgeschrei um neue Hardwaretechnik, um neue Plattformen und Verbreitungswege, Netze und Standards geht die Frage nach neuen Inhalten völlig unter. Es gibt sie kaum noch. Die Destillatoren von wirklichem Wissen, von Kultur und Weisheit dümpeln vor sich hin oder sind abgeschaltet. Was in die sich weitenden Medienkanäle stattdessen eingespeist wird, sind Telenovelas, Big Brother, Reality-TV, Prominente und Pseudoprominente in Koch- oder Tanzwettbewerben, Gerichtsshows und Castingshows. Auch das Web 2.0 als Mitmachnetz, in dem die Nutzer zunehmend selbst die Inhalte generieren, ist im heutigen kulturellen Gesamtkontext sehr kritisch zu

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sehen. Da gibt es Plattformen für soziales Netzwerken zu sowohl beruflichen als auch privaten Zwecken. Das verführt zur Oberflächlichkeit: In Freundschaftsforen entbrennen oft Wettkämpfe um die Höchstzahl von »Freunden«, die dann schnell in die Hunderte oder gar Tausende gehen. Es gibt Bild- und Videoportale. Der Kampf um Aufmerksamkeit und Nischenprominenz führt hier dann zu Exzessen in Sachen Selbstdarstellung. Die meisten Blogs – eine Art Onlinetagebuch – interessieren niemanden und werden nie gelesen. Und die Beliebtesten handeln von Katzen und Ferienreisen. In »Wikis« wird Information zusammengetragen und gemeinsam bearbeitet. Leider ist hier oft nicht zwischen gesichertem Wissen, inkompetenter Meinungsäußerung oder gar bewusster, interessegeleiteter Desinformation zu unterscheiden. Und auch schrägen Schrott gibt es hier natürlich in Fülle, aber der ist ja als solcher zu erkennen. Die »Weisheit der Vielen«, auch »Schwarmintelligenz« genannt, ist leider nur in Bezug auf spezielle Probleme dem Expertenurteil systematisch überlegen (z. B. Schätzprobleme). Es gibt keine definierbare, endliche Zahl von Meinungsäußerungen zu physikalischen Themen, aus deren Zueinander etwa eine Relativitätstheorie emergieren könnte. Nun, vieles von all dem mag ja nicht direkt schädlich sein, sofern nicht die Menschenwürde verletzt wird oder gelogen und betrogen wird. Aber indirekt und im Gesamtkontext entsteht eben doch Schaden: Es potenziert die Informationsflut und verdeckt damit die wenigen, wirklich wichtigen Inhalte. Es bindet jene Aufmerksamkeit, die für diese wenigen, wirklich wichtigen Inhalte gebraucht würde. Und es verschwendet die Zeit, die für die innere Arbeit an der Persönlichkeitsbildung der Menschen nötig wäre. Medientechnologie kann Inhalt, Wissen und Kultur nicht ersetzen. Medientechnologie verstärkt lediglich wie ein Resonanzboden die Kulturtrends: Der Aufstieg einer erblühenden Kultur wird gefördert, der Abgang einer sterbenden Kultur wird beschleunigt. Insgesamt ist die moderne Medienwelt einer der Hauptfaktoren bei der Zersplitterung unserer Kultur. Die geeinte Fernsehnation – sie ist verloren. Früher konnte sich ein Lehrer auf das beziehen, was 80 Prozent seiner Schüler am Vorabend gesehen hatten. Heute ist Medienerziehung schwierig, weil jeder etwas anderes gesehen hat. Das Auseinanderfallen der Gesellschaft, die Entfremdung und Konsensunfähigkeit immer kleinerer Untergruppen wird durch all dies sehr gefördert.

1.14 Bildung und Kultur Bleiben wir gleich bei den Wirkungen, die die beschriebene Medienwelt auf Psyche, Bildung und Kultur ausübt. In Kapitel 1.3 hatten wir die zwei Hauptantriebsebenen der menschlichen Psyche beschrieben: die auf Dinge wie Sex, Status und Konsum ausgerichteten Erbantriebe und die Kulturantriebe in Form von »geis-

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tig-kulturellen Bedürfnissen«. Erstere sind angeboren und bei jedem Menschen über einfache Schlüsselreize schnell und stark aktivierbar. Bei Letzteren sind nur die Möglichkeiten für ihre Entwicklung angeboren. Und diese Entwicklung ist ein Schwellenphänomen: Wenn man sich kulturelle Inhalte einer hinreichenden Komplexität einverleibt und sie bis zu einem bestimmten Grad an Meisterschaft heraufgeübt hat, dann macht das Ganze aus sich heraus Freude und es entsteht der Drang, diesen Kulturantrieb noch weiter auszubauen. Bis zum Erreichen dieser Schwelle aber sind oft harte Arbeit, Lustverzicht und Selbstdisziplin gefragt. Ehe man das Geigenspiel genießen kann, muss man sich die Finger wund üben. Kulturantriebe vernetzen sich dann oft kohärent unter Verinnerlichung von Werten, Prinzipien und Überzeugungen, woraus eine hohe Urteilskraft erwächst. Das ist der Weg vom abhängigen, außenbestimmten Ego-Menschen zum autonomen, innenbestimmten Kulturmenschen. Auf diesem Weg muss der Heranwachsende bis zu einem gewissen Grad abgeschirmt werden vor Ablenkungen und Versuchungen durch allzu starke Erbreize. Erst wenn die innere Kultur die Schwelle zur Selbstverstärkung überschritten hat, findet die Persönlichkeit genügend Kraft, um ihre Weiterentwicklung gegen die Natur, gegen den »inneren Schweinehund« zu verteidigen. Dies ist der Sinn der Kulturinstitution »Kindheit und Jugend«, dies ist der Sinn, der hinter der »Lustund Leibfeindlichkeit« so vieler Religionen und konservativer Erziehungskonzepte steht (die gleichwohl sicher oft überzogen waren und sind). Und genau diese Abschirmung wird seit Jahren durch die sich entwickelnde Medienbarbarei in Stücke gefetzt. Der amerikanische Kulturkritiker Neil Postman sprach in diesem Kontext vom »Verschwinden der Kindheit«. Vermarktlichung der Medien heißt brutale Konkurrenz um die Aufmerksamkeit. Und das zwingt zum Rekurs auf immer stärkere Erbreize, zuletzt auf immer krassere Formen von Sex und Gewalt: im Fernsehen, im Internet, in den Handynetzen, auf den Werbeflächen des öffentlichen Raumes. Die Statistik zeigt eine drastische Zunahme der Sex- und Gewaltdarstellungen vor allem im privaten Fernsehen – und was man in den Schmuddelecken des Internet findet, ist an Widerlichkeit und Grausamkeit kaum noch zu überbieten. Selbst Erwachsene sollten so etwas nicht sehen müssen. Wer sich dem aussetzt, wird im schlimmsten Falle psychisch traumatisiert, im besten Falle wird er stark abstumpfen – wodurch selbstverständlich immer auch die Schwelle sinkt, selbst Gewalt auszuüben. Niemand kann heute mehr diesem Reizterror entgehen. Schon das Warten in einem Bushäuschen geht nicht ab, ohne dass man genötigt wird, in die Mündung einer plakatierten Pistole zu blicken oder dem blanken Hintern eines Models auf zwanzig Zentimeter nahekommt. Kinder und Jugendliche haben vollen oder nur wenig einschränkbaren Zugang zu all dem. Der durchschnittliche Jugendliche verbringt mehr als fünf Stunden am Tag vor dem Fernseher oder dem Computerbildschirm. Kürzlich wurde von einem spielsüchtigen Jugendlichen berichtet, der nach vielstündiger Dauersitzung vor dem PC ins Koma fiel und nur knapp gerettet werden konnte. Jugendliche laufen durch all dies Gefahr, zu flackerblickigen Reiz-

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Reaktions-Maschinen auf hektischer Dauersuche nach Thrill, Kick und Lust zu verkümmern. Was wäre wohl die wirksamste Methode, einen männlichen Jugendlichen vom Mathelernen oder Geigeüben abzuhalten? Man stellt Schreibtisch und Notenständer zwischen die Regale und Videokabinen eines Sex-Shops und sagt: »Guck da nicht hin, lern Mathe, spiel die Bartók-Sonate.« Das wäre doch verrückt, oder? Das wäre seelische Misshandlung und würde ganz sicher das Ziel erreichen: Es würde nichts gelernt, gar nichts. (Und wenn doch einer lernt, müsste der eigentlich auch irgendwie zum Arzt.) Aber exakt das ist die Situation, in die wir unsere Jugend bringen. Egal, was man für Hausaufgaben mit Hilfe des Internet macht – eine Tür bzw. einen Klick weiter öffnet sich ein Sex-Shop, größer und extremer als in jedem Bahnhofsviertel. Die Zahl internet-/sex-/spielsüchtiger Jugendlicher ist hoch, und wenn wir die Dunkelziffer kennten, würde wohl allgemeines Entsetzen ausbrechen. Es würde sich dann niemand mehr darüber wundern, dass die Leistungen der Schüler schlechter werden und die Jungs relativ gesehen schneller zurückfallen. (Bei Mädchen sind die Ablenkungsreize in der Tendenz andere, die auch nicht so imperativ wirksam sind: beispielsweise die »Quasselsucht« per Handy.) Die heutige Jugend bewegt sich in einer extremen, exzessiven Parallelwelt, zu der Eltern und Lehrer kaum einen Zugang haben. Entsprechend konvergieren die Einflüsse von Autorität und Erziehung gegen ein Minimum. Es braucht große Persönlichkeitsstärke, um sich gegen den Reizterror der Medien so abzugrenzen, dass genügend Raum für eine kohärente innere Entwicklung bleibt. Wer nicht die Chance bekommt, diese Stärke auszubilden, wird zur außengesteuerten Marionette konditioniert. Was sind die Folgen? Nun, es wird die Botschaft vermittelt: Konsum, Sex und Status machen dich glücklich, alle haben das und dir steht es auch zu. Markenfetischismus entwickelt versklavende Macht im Rahmen einer oberflächlichen Konsum-, Reiz-, Rausch-, Macho- und Imagekultur. Da das normale Leben den von den Medien aufgepeitschten Erregungspegel nicht halten kann, ist Frustration im grauen Alltag vorprogrammiert. Vor allem aber verschlechtern sich die schulischen Leistungen. Ein knappes Viertel aller deutschen Schüler sind nahezu Analphabeten – so hat es PISA zu Tage gebracht. Jeder vierte Auszubildende erfüllt nicht die mindesten Anforderungen in Sachen Rechnen, Schreiben und Lesen. Von so exotischen Dingen wie Anstand, Umgangsformen und sozialer Kompetenz einmal ganz abgesehen. Es geht noch weiter: Übergewicht und andere Essstörungen, Bewegungs- und Verhaltensstörungen wie ADHS greifen um sich. Die Bereitschaft und die Fähigkeit, sich Regeln unterzuordnen, schwinden. Selbstkontrolle und Befähigung zum Gratifikationsaufschub nehmen ab, Affektdurchbrüche und impulsives Handeln nehmen zu. Drogen- und Alkoholkonsum wachsen, insbesondere das Komatrinken grassiert. Und schließlich: Die Gewaltkriminalität unter Jugendlichen wächst dramatisch. Immer Jüngere schlangen immer brutaler zu. Immer häufiger finden sich auch Sexualdelikte unter Minderjährigen. All das vor einem Hintergrund-

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gemisch aus Dauerfrustration, Null-Bock-Mentalität, Perspektiv- und Orientierungslosigkeit bis hin zum Zelebrieren von Todessehnsucht und Suizidverabredungen im Internet. Die letztgenannten Tatbestände verweisen darauf, dass natürlich die Medien nur eine Teilursache sind, die sich einordnet in den allgemeinen Zusammenbruch dessen, was wir Sinn-Verheißungs-Feld genannt hatten. Wie wichtig dies ist und wie viel eine Umpolung hier bewirken könnte, zeigt der Fall des »schwererziehbaren Florian«, der nach dem Scheitern aller hiesigen Möglichkeiten in ein sibirisches Dorf geschickt wurde (was dann im hessischen Wahlkampf 2008 einiges Getöse verursacht hat). Einem Spiegel-Bericht (5/2008, S. 107) zufolge hat sich Florian mit viel Motivation an den Aufbau eines neuen, einfachen eigenen Lebens gemacht, bemüht sich in der Schule und integriert sich sozial. Warum? Nun, weil es dort sozialen Zusammenhalt gegen eine sehr unwirtliche Natur braucht, weil es zentrale unbefriedigte Bedürfnisse gibt und die Möglichkeit, sie durch harte Arbeit spürbar besser zu befriedigen. Weil man dort fühlt: Es geht aufwärts und es liegt in unserer Hand, die Zukunft noch positiver zu gestalten. Kurz: Das SinnVerheißungs-Feld ist positiv, ähnlich der Situation in Deutschland zur goldenen »Wirtschaftswunderzeit«. Sicher spielt auch eine Rolle, dass »Sibirien-Florian« als Exot eine gewisse Aufmerksamkeit genießt und seine Auskunftsfähigkeit bezüglich des Sehnsuchtslandes Deutschland geschätzt wird. Laut Spiegel würde er übrigens gern dort bleiben. Aber nicht Umgang mit Jugendkriminalität ist an dieser Stelle das eigentliche Thema, sondern Medien, Bildung und Kultur. Was ist hier noch wichtig? Nun, zum Beispiel die Frage: Welchen Einfluss haben die neuen Medien auf die Struktur unseres Denkens und welche Folgen hat das? Ein zeitgemäßes Denken sollte unter anderem folgenden Hauptanforderungen genügen: – Zum Ersten: Ich muss einmal selbst eine Holzleiste so lange gebogen haben, bis sie bricht, um ein Gefühl dafür zu entwickeln, welche Lasten etwa ein hölzernes Baugerüst tragen könnte. Jedes schlussfolgernde und sich ins Abstrakte hocharbeitende Denken braucht eine möglichst breite Basis aus authentischer Sinneserfahrung mit den materiellen Strukturen dieser Welt und dem eigenen Körper. Dieses primäre Begreifen der Welt ist durch nichts zu ersetzen. – Zweitens brauchen wir ein eigenständiges und kritisches Denken nach den Regeln von Logik, diskursiver Vernunft und Wissenschaft, das gewillt und fähig ist, den Geltungsgrad von Aussagen systematisch zu prüfen und zu begründen. – Drittens: Auf eine komplexer werdende Welt kann nur ein Denken reagieren, das seinerseits die Komplexität seiner mentalen Modelle erhöht, das also weitgreifende systemische Zusammenhänge und historische Entwicklungen rekonstruiert. Da auch ein solches Denken die Komplexität unserer Welt nicht im Ansatz zu erfassen vermag, werden wir zunehmend mit Widersprüchen oder gar unvereinbaren Gegensätzen konfrontiert.

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– Hier ist nun viertens gefragt: in Zwischentönen denken, Dinge mit Augenmaß in komplexe Kontexte einordnen, Kompromisse ausbalancieren, in einem flexiblen, dialektischen Denken mit Paradoxien spielen. Fördert unsere gegenwärtige Geistes- und Medienkultur nun diese essentiellen Denkqualitäten? Nein, im Gegenteil, sie konterkariert und untergräbt sie. Kinder und Jugendliche, die fünf oder mehr Stunden am Tag vor Bildschirmen sitzen, machen zu wenig authentische Erfahrungen mit Körper und Material. Sie werden zu wenig Intuition dafür entwickeln können, wie die reale Welt »tickt«. Die Vermarktlichung im Bildungsbereich zwingt Schulen, Lehrer und Professoren dazu, um Schüler und Studenten wie um Kunden zu werben. Man muss nun »ankommen« und gefallen. Oft gelingt dies nur unter Absenkung der Leistungsstandards. Aus Unterricht mit dem notwendigen Maß an Disziplin, Lernanstrengung und Lustverzicht wird nun Edutainment. Wie sonst schon überall finden wir auch hier einen Trend zur Verkürzung, Vereinfachung, Verbilderung und Emotionalisierung der Inhalte. Alles muss leicht fallen und Spaß machen. Überall in den Sphären von Bildung, Kultur und Wissenschaft grassiert die Verbruchstückung von Wissen zu Information(smüll), die Beschleunigung aller Prozesse und eine Überforderung durch Masse. Dies untergräbt aber gerade die Tiefe und Gründlichkeit der Auseinandersetzung mit den Inhalten, es untergräbt ein Denken in Zusammenhängen aus Begründungs- und Legitimationskontexten heraus. Surfer bewegen sich nun einmal an der Oberfläche. Bei vielen Informationen und Texten im Internet ist überhaupt nicht mehr nachvollziebar, wo sie herstammen und wie valide sie sind. Es wird immer nachlässiger zitiert oder überhaupt nicht mehr. Es wird plagiiert, es wird gefälscht und betrogen. Schüler und Studenten stückeln sich sogar Graduierungsarbeiten aus dem Internet zusammen. Die Satztorsi der SMS- und E-Mail-Sprache und immer weiterer Bereiche des Internet lassen die Aufstellung differenzierter Gedankenfiguren gar nicht mehr zu. Der sich auch hier verschärfende Kampf um die Aufmerksamkeit führt zu Übertreibungen und Zuspitzungen, zu Plakativität und Spektakelwissenschaft. Wie nützlich und sinnvoll moderne Medien bei richtigem Gebrauch auch sein mögen, ihre unreflektierte und ungesteuerte Einspeisung in die reißenden Strudel der kapitalistischen Verwertungslogik untergräbt die Grundkompetenzen, die allein eine Kultur tragen können. Sie erzeugt außengeleitete Imagemenschen ohne kohärente geistige Eigensubstanz und ohne Urteilskraft, bei denen die genannten Denkkompetenzen nur noch rudimentär ausgebildet sind. Die Entwicklung dieser Kompetenzen ist unlöslich gebunden an Schrift und Buch, zumindest bis auf Weiteres. Das Entscheidende ist: Lesen ist ein innengesteuerter Prozess. Man kann lange und komplexe Sätze drucken, weil der Leser es ist, der das Tempo bestimmt. Wenn er will und es nötig ist, kann er eine ganze Stunde lang über dem Sinn eines einzigen Satzes brüten. Komplexe Inhalte lassen sich deshalb prinzipiell nur per Schrift übermitteln. Und das am besten gedruckt

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auf Papier, weil das die besten Rahmenbedingungen für eine wirklich intensive, länger dauernde Auseinandersetzung und Aneignung schafft: Man kann es mit ins Bett oder den Lesesessel nehmen, ob seines geringen Gewichts lässt es sich lange mühelos vor Augen halten, Schärfe und Kontrast sind unübertroffen, man kann An- und Unterstreichungen vornehmen und Randbemerkungen schreiben, schnelles Durchblättern verschafft einen Überblick und ganzheitlichen Eindruck. All dies können bis auf Weiteres andere Medien nicht im Ansatz leisten. Neil Postman schreibt: »Von Erasmus im sechzehnten bis zu Elisabeth Eisenstein im zwanzigsten Jahrhundert ist so ziemlich jeder Gelehrte, der sich mit der Frage herumgeschlagen hat, was Lesen für die geistige Verfassung eines Menschen bedeutet, zu dem Schluss gekommen, dass es das rationale Denken befördert und dass der sequentielle, thesenartige Charakter des gedruckten Wortes […] den analytischen Umgang mit Wissen pflegt. Sich auf geschriebene Sätze einzulassen bedeutet, einer Sequenz von Gedanken zu folgen, was beträchtliche Fähigkeiten des Einordnens, Schlussfolgerns und Beurteilens erfordert. Es bedeutet, Lügen, Unstimmigkeiten und überzogene Verallgemeinerungen aufzudecken und Verstöße gegen die Logik und den gesunden Menschenverstand zu erkennen. Weiterhin bedeutet es, Ideen abzuwägen, Behauptungen zu vergleichen und miteinander zu konfrontieren und Verbindungen zwischen dieser und einer anderen Verallgemeinerung herzustellen« (Postman, 2001, S. 187). Und der Freiraum für all dies öffnet sich, weil man beim Lesen innehalten und beliebig lange eigenen Gedanken nachhängen kann, um dann den Textfaden wieder aufzunehmen. Man muss dem amerikanischen Medientheoretiker Marshall McLuhen in aller Schärfe recht geben, wenn er schreibt, man müsse »das Buch als eine kulturelle Therapie, als unverzichtbaren Bestandteil der gemeinschaftlichen Ernährung, als notwendig für die Aufrechterhaltung zivilisierter und nicht tribalistischer Werte« auffassen (zit. n. Postman, 2001, S. 189). Leider ist das Buch in unserer Kultur auf dem Rückzug. Bücher leiden an Magersucht in Inhalt und Umfang, entwickeln dafür bunt-bizarre Seitentriebe und in bestimmten Nischen sind sie am Aussterben. Einmal abgesehen vielleicht von Trivialliteratur und den Postillen des Boulevards wird von Jahr zu Jahr weniger gelesen in Deutschland. Die Auflagen und Abos anspruchsvoller Zeitungen und Zeitschriften sind im Langfristtrend sinkend. Die Aufrechterhaltung einer entwickelten Lesekultur also wäre das Allermindeste – besser noch wäre es, wenn dies durch eine Kultur des eigenen Schreibens ergänzt würde. Dies erst sorgt wirklich für eine relevante Akkumulation von Eigensubstanz, für das Wachstum eines stabilen und kohärenten Persönlichkeitskerns – wir werden darauf zu sprechen kommen. Übrigens macht sich der durch all dies bewirkte Verlust an analytischer Intelligenz bei breiten Bevölkerungskreisen durchaus bemerkbar. Abstruse Heilslehren, religiöse Fundamentalismen, von aller Vernunft und gesicherter Erfahrung losgelöste esoterische Anschauungssysteme breiten sich aus wie Lauffeuer: Astrologie, Engelsglauben, Bestellungen beim Universum, Rückführungen in frühere Leben,

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allerlei schamanistische Prozeduren, die von selbsternannten »Heilern« aller Art angeboten werden – die Liste ließe sich beliebig verlängern. Das Bedenkliche ist: Selbst akademisch gebildete Menschen in verantwortlichen Positionen zeigen sich vom Virus der Vernunfterweichung infiziert. So hat sich selbst in Kreisen der Schulmedizin die sogenannte Kinesiologie festgesetzt, eine Lehre, die auf haltlosen Spekulationen beruht und in Studien keinerlei Wirkungsnachweis erbracht hat. Richtig gefährlich wird es, wenn sich so etwas mit der »harten« Medizin zu verschränken beginnt. So habe ich in Deutschland universitär ausgebildete Kollegen erlebt, die die Wirksamkeit eines Medikamentes auf die folgende Weise zu testen suchten: Sie gaben dem Patienten ein Glasfläschchen mit dem Medikament darinnen in die Hand und ließen ihn den Arm ausstrecken. Nach Druck auf den Arm meinten sie an der Gegenreaktion der Muskulatur die individuelle Verträglichkeit der Arznei ablesen zu können (der sogenannte »Muskeltest«). Wer so etwas macht, hat nicht die leiseste Ahnung davon, wie ein Organismus funktioniert. Seinen bisher prominentesten und auch erschreckendsten Ausdruck fand dieses Einbrechen vormodernen Denkens in die Festen der aufgeklärten Vernunft dann in dem schon erwähnten Fall einer Landesministerin, die vorschlug, die Schöpfungslehre in den Biologieunterricht zu integrieren. Diese Vermischungen, diese Immunschwächen der aufgeklärten Vernunft sind viel gefährlicher, als Heerscharen von unbelehrbaren Kreationisten es sein könnten. Das geht an die Fundamente unserer Kultur, das lähmt jene Kräfte, die uns aus der Finsternis des Mittelalters herausgehoben haben. Allen sollte klar sein, dass wir dorthin auch wieder zurücksinken können. Werfen wir einen kurzen Blick auf die Realität unserer Bildungsinstitutionen. Über das bekannte Chaos in der oft unglücklichen Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern, über die Uneinheitlichkeit der Lehrpläne in den Ländern, über das Kuddelmuddel nicht zu Ende gedachter und einander viel zu schnell ablösender Reformen – über all das soll hier nicht geredet werden. Darüber kann man fast täglich in den Tageszeitungen Neues lesen. Was sonst an Wichtigem ins Auge sticht, ist die verengende Ausrichtung von Bildung an den Zweckrationalitäten von Karriere und Wirtschaft sowie eine Art Industrialisierung der Bildungsvermittlung. Das Eintrichtern von Fachwissen steht zu sehr im Vordergrund. Die Lehrpläne sind überfrachtet mit Detailinformationen, die ohne Bildungsrelevanz sind, bald veralten, zumeist aber schon lange vorher vergessen werden. Auf den versinkenden Restinseln ungebrochenen Lernwillens hetzen Schüler und Lehrer durch die Lehrpläne, um nur ja die nächsten Prüfungen und Tests zu bestehen. Für Muße, Reflexion, selbstzweckhafte Neugier, Aufbau von Eigensubstanz durch innengeleitetes Forschen, für die Entwicklung eines zweckfreien, ganzheitlich-tiefen Welt- und Selbstverständnisses, kurz, für Bildung im klassischen Sinne, bleibt zu wenig oder gar keine Zeit. Es bleibt zu wenig Zeit für die gezielte Förderung von Metakompetenzen wie Lernen lernen, kritisches, diskursives, dialektisch-systemisches Denken lernen, Selbstkompetenz, soziale Kompetenz, Kommunikation oder Teamfähigkeit.

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Traditionell betrachtet die deutsche Schule das Elternhaus als den primären Ort der Erziehung. Aus vielerlei Gründen findet dort aber Erziehung immer weniger statt. Ich habe beruflich viel mit Lehrern zu tun und höre immer öfter, dass viele Kinder daheim nicht einmal mehr satt werden. Es hilft nichts: Diese Lücke muss von den Schulen geschlossen werden. Gemessen am Bedarf wird an den Schulen viel zu wenig erzogen und auf eine grundlegende Weise für die Kinder gesorgt. Hierzu braucht es die Ganztagsschule. Das ist ja gottlob auf dem Weg, wenn auch zu spät und zu langsam. Eine schulähnliche Art des Lernens, nur noch mehr deformiert in Richtung einer regelrechten Industrialisierung der Wissensvermittlung für die engen Zwecke des industriellen Bedarfs, hält nun auch an den Universitäten Einzug. Das organische Wissensgeflecht eines Faches wird in Informierungsmodule entsprechend internationaler Norm zerlegt und am Fließband eines dreijährigen Bachelor-Studienganges implementiert. Leistungen werden entsprechend internationaler ECTS-Punkte bewertet. Der wissenschaftlich Interessierte ist gehalten, dann noch zwei Jahre zum Master draufzusatteln. Ob nach alledem binnen zwei Jahren noch eigenständige, originäre und hochkreative Forscherpersönlichkeiten bildbar sind? Das darf mit Recht bezweifelt werden. Übrigens schlagen natürlich die für die Schulen genannten Phänomene psychischer Verwahrlosung immer mehr auch auf die Studenten durch: Die stromlinienförmige Ausrichtung auf Karriere wächst, das politische und soziale Engagement sinkt, psychische Probleme wie Angststörungen nehmen zu und bis zu einem Drittel aller Studienanfänger kommt während des Studiums überall hin, nur nicht zu einem erfolgreichen Abschluss. Der Missbrauch von Psychostimulanzien grassiert. Ein grundsätzliches Wort zum Kulturbetrieb. Ich bin hier kein Experte und gebe zu, mir in den letzten Jahren zu wenig Zeit für die Schönen Künste genommen zu haben (in der Hoffnung, dies im letzten Lebensdrittel ausgleichen zu können). Ich will mich deshalb kurz fassen und mit Vorsicht formulieren. Mir scheint, dass der Kulturbetrieb durchaus in einer schwierigen Situation ist. Mit der Bildung schwindet auch das Interesse des breiten Publikums an klassischer Kultur. Immer mehr Sitze in den Theater- und Konzertsälen bleiben leer, die Einnahmen sinken. Zugleich zieht sich die öffentliche Hand aus der Kulturfinanzierung zurück. Dies zwingt auch die Kultur in die Vermarktlichung und in die Ökonomie der Aufmerksamkeit (s. Kapitel 1.15). Man muss sich dem Massengeschmack anpassen, auf schrille Reize setzen oder sich in die Abhängigkeit privater Sponsoren oder gar Investoren begeben. Und so finden wir auch im Bereich der Hochkultur zumindest punktuell Tendenzen der Boulevardisierung, mit bisweilen bizarren Entgleisungen. So berichtete ein Freund, der im Rahmen der Salzburger Festspiele auf der Pernerinsel einem Molière-Abend beigewohnt hatte, leicht angeekelt, dass sich dort ein Schauspieler ausgezogen und auf der Bühne onaniert habe. Immer öfter sind es die explodierenden Preise, die die Kunst(markt)Schlagzeilen bestimmen. Besonders deutlich wird dies an der Anekdote, die der der französische Berater Pascal Baudry berichtet: Vor einem Museum der Smith-

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sonian Institution in Washington habe er ein Transparent gesehen, auf dem ohne weitere Kommentare zu lesen stand: »Kommen Sie herein und schauen Sie sich unser Fünf-Millionen-Dollar-Bild an.« Auf die Hintergründe befragt, habe der am Eingang platzierte Wachmann geantwortet: »Niemand weiß, wer Leonardo da Vinci ist, aber alle wissen, was fünf Millionen Dollar bedeuten.« Darüber hinaus frage ich mich, inwieweit das Sigmoidkurvenproblem auch in Kunst und Kultur eine Rolle spielt. In Musik, Literatur und Theater gelten weithin die Klassiker als schwer erreichbare Giganten. Nun, zum einen hat diese Übergröße sicher mit dem Matthäus-Effekt zu tun: Die Nischen für berühmte Komponisten oder berühmte Dichter waren damals noch unbesetzt – entsprechend rasant, weitgreifend und überschießend konnte sich der Ruhm der Allerersten ausbreiten. Einmal Klassiker – immer Klassiker. Die Geschmacks- und Interpretationsfreiräume bei Kunst sind immer vergleichsweise weit – da ist es oft schwer zu entscheiden, ob der Kaiser Kleider trägt oder nicht, ja was überhaupt als Kleid zu gelten hat. Und wer will schon gern riskieren, sich als ein grober Klotz zu desavouieren, dem feinerer Kunstsinn wesensfremd ist. Das ist das Eine. Das Andere aber könnte sein: Evolutionstheoretisch gesprochen, waren ja damals wie gesagt die »Nischen« für Komponisten oder Dichter dünn »besiedelt« oder unbesetzt. Als die Klassiker ihre geistigen Werkzeuge ansetzten, lag das Gold noch dicht unter der Oberfläche. Nachfolgende Generationen mussten in immer abgelegeneren Regionen graben, um etwas Neues zu finden. Unter anderem heißt dies: nach Phasen der Ausschöpfung und Gewöhnung immer wieder die Beschränkungen traditioneller Kunstkonventionen sprengen, Tabus brechen, sich größere Freiheiten nehmen. Dies muss enden bei völlig chaotischen Struktur- und Gefühlsentladungen, in die jeder Betrachter seinen Sinn hineindeutet wie in den Kaffeesatz. Ganz sicher haben auch die Räume jener Klang- und Dichtfiguren, die den Menschen schnell und intensiv ansprechen, gewisse Grenzen. Und auch die Zahl der Grundprobleme und Grundthemen der menschlichen Liebes- und Leidensgeschichte ist endlich. Alle prägnanten Möglichkeiten der Darstellung sind dann irgendwann einmal von jemandem in herausragender Weise erbracht. Und dann wird es eben immer schwieriger, etwas zu schaffen, von dem es weder heißt »schon gehabt« oder »zu bizarr«. Könnte es sein, dass auch dies eine Rolle spielt bei der abnehmenden intrinsischen Attraktivität moderner Kunst, was dann eben das »Übernehmen« anderer Ebenen wie der kommerziellen begünstigt? Könnte es sein, dass auch das Zusammenbrechen des Sinn-Verheißungs-Feldes eine Rolle spielt beim Erlahmen der schöpferischen und rezeptiven Kräfte? Wie auch immer – die im Bereich Kunst und Kultur sind die Grenzen der Sigmafalle ganz sicher nicht so eng und unüberwindlich wie in anderen Bereichen (z. B. im Sport, wir sprechen das gleich noch kurz an). Ganz sicher aber wird irgendwann die Zeit der einfachen künstlerischen Wahrheiten an ein Ende kommen. Was dann bleibt, sind allein die Räume des Komplexeren, Tieferen und Subtileren. Aber mit Produkten aus diesen Räumen bei größeren Menschengruppen verbindende Reso-

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nanz zu finden, setzt voraus: hochgebildete Kulturmenschen, die Muße haben, sowie einen Kanon geteilten Kultur- und Weisheitswissens. Und damit sind wir wieder beim Kernanliegen dieses Buches. Apropos unüberwindliche Grenzen der Sigmafalle – ein Beispiel, wo das besonders zu Tage tritt, ist der Sport, den man früher ja auch der Kultur zugerechnet hat. Sportwissenschaftler können heute die Entwicklung der Rekorde in den einzelnen Disziplinen und ihr Konvergieren gegen absolute Leistungsgrenzen mathematisch modellieren. Schon jetzt werden neue Weltrekorde immer seltener, kosten immer mehr Trainingsaufwand, gegebenenfalls unter Doping, und verbessern die alte Leistung immer geringgradiger. In zwanzig Jahren soll bei etwa der Hälfte der olympischen Sportarten die Leistungsbreite zu 99,5 Prozent ausgeschöpft sein. Menschen und Medien mit Plus-Ultra-Mentalität werden da nicht mehr wirklich auf ihre Kosten kommen (aber vielleicht wird ja irgendwann der Verlierer wieder öffentlich Löwen zum Fraß vorgeworfen). Wie genau solche Berechnungen im Einzelnen auch immer sein mögen – Fakt ist: Die Entwicklung der sportlichen Leistungen folgt grundsätzlich einer sigmoidalen Dynamik. Und in irgendeiner Form spielt diese verwünschte Sigmakurve in allen Bereichen menschlicher Leistung eine Rolle. In immer mehr Bereichen werden wir uns vom Plus Ultra verabschieden müssen. Wir werden lernen müssen, den Sport und viele andere Dinge mit anderem Fokus und anderer innerer Haltung zu betreiben.

1.15 Die Ökonomie der Aufmerksamkeit: Von der Kultur- zur Spektakelgesellschaft Einige wichtige der angesprochenen Entwicklungen laufen im Konzept »Ökonomie der Aufmerksamkeit« zusammen, das in den letzen Jahren vor allem von Georg Franck (2005) ins Gespräch gebracht wurde. Vor dem Theoriehintergrund unseres Buches könnte man dieses Thema wie folgt entwickeln. In einer funktionierenden Kultur sollte das Bewerten weitgehend das Primat vor dem Beachten haben: autonome, innengeleitete Kulturmenschen mit Eigensubstanz und hoher Urteilskraft bewerten Produkte, Medienbeiträge, Kunstwerke oder wissenschaftliche Theorien. Dieses Bewerten entspringt überwiegend Kulturantrieben und verinnerlichten kulturellen Werten – die Kulturantriebe haben das Primat über die Erbantriebe. Gemäß den so entstehenden eigenständigen Urteilen wird die Beachtung zugeteilt und kommuniziert. Wenn diesen Menschen etwas missfällt, dann beachten sie es selbst dann nicht, wenn es Mode, hip, in oder sonst etwas sein sollte. Ihr eigenes Urteil steht ihnen höher als das Urteil anderer. So könnte sich das Wirtschaftssystem an eine Produktpalette heranmendeln, die den menschlichen Grundbedürfnissen im Allgemeinen optimal entspricht. Der Kulturbetrieb würde sich in seinen Hervorbringungen an

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immer wesensnähere Facetten dessen heranvariieren, was als »allgemeinmenschlich Schönes« zu bezeichnen wäre. Und die Wissenschaften schließlich könnten sich dem annähern, was man das »allgemeinmenschlich Gültige« nennen könnte. Für eine solche emergente Leistung kollektiver Intelligenz wären die Urteilskraft des Einzelnen und die Unabhängigkeit der individuellen Urteile entscheidende Voraussetzungen. Klassische Moden im Sinne nicht tiefer begründeter, ephemerer Eigendynamiken könnten sich in den wichtigen Kernbereichen eines solchen Kultursystems allenfalls im Ansatz entwickeln (Bekleidungsmoden darf und soll es natürlich weiter geben). Natürlich waren diese Funktionsbedingungen des Kultursystems nie in idealer Weise gegeben. Aber die im Vorfeld dargestellten Entwicklungen untergraben sie in einem Maße, das das ganze Funktionsregime in einen anderen, dysfunktionalen Modus hat umkippen lassen: Das Beachten rangiert nun vor dem Bewerten, die Erbantriebe haben die Dominanz über die Kulturantriebe zurückgewonnen. Welche Hauptmomente sind dafür verantwortlich? 1. Die Menschen sind immer weniger urteilsfähig: Insbesondere der Teufelskreis zwischen Vermarktlichung und Quotenorientierung der Medien einerseits und der Massenverdummung andererseits führt dazu, dass Eigensubstanz, Autonomie und Urteilsfähigkeit breiter Bevölkerungskreise schwinden. Es gibt immer mehr außengeleitete Egomenschen und immer weniger innengeleitete Kulturmenschen. 2. Die Menschen, auch die Kulturmenschen, sind immer weniger urteilswillig – einfach deshalb, weil man es nicht mehr schafft: Wenn es fünf Zahncremes gibt, dann probiert man gern alle einmal durch. Gibt es aber fünfzig, winkt man ab und greift nach der Marke, die man kennt oder die die Freundin empfohlen hat. Hat man als Kommissionsmitglied fünf Projektanträge zu beurteilen, studiert man sie genau – sind es fünfzig, liest man quer und die Zusammenfassung. Oder man befragt Prof. Dr. Yahoo W.W.W. Google zu den Antragstellern und gibt dem den Zuschlag, der schon über eine hohe Beachtung und Reputation verfügt. Und so ist es überall. Überdifferenzierung, Beschleunigung, Überflutetwerden durch Masse und immer neue Anforderungen – all das überfordert die meisten Menschen immer mehr. Man ist einfach gezwungen, immer öfter nach einfachen Oberflächenkriterien irgendwie und möglichst schnell zu entscheiden, ohne sich ein wirklich fundiertes eigenes Urteil bilden zu können. 3. Die Dinge sind immer schwerer beurteilbar. Viele materielle und geistige Produkte, aber auch die Probleme, die zur Entscheidung anstehen, werden immer komplexer. Was steckt hinter diesem oder jenem Ökosiegel? Was ist von diesem oder jenem Finanzprodukt zu halten? Für oder gegen Ökosprit oder Atomkraft? Hat die Homöopathie etwas mit der Quantenphysik zu tun oder ist das Humbug? Wer hat in diesem oder jenem ethnischen oder politischen Konflikt mehr Recht? Wen soll man wie unterstützen? Oft sind über Fragen dieser Art selbst die Experten zerstritten. Und manchmal sind sie vielleicht gar

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nicht klar und einfach entscheidbar. Wie soll man sich da selbst eine fundierte Meinung bilden? Und woher die Zeit dafür nehmen? 4. Dass sich das Beachten vor das Bewerten schiebt, hängt auch damit zusammen, wie brutal inzwischen Beachtung regelrecht erzwungen wird, insbesondere von der Werbung in Medien und öffentlichem Raum. Wenn ich den Fernseher kurz vor der Tagesschau anmache, drücke ich als Erstes panisch auf den Ton-weg-Knopf, weil ich die Werbung unmittelbar davor nicht mehr ertragen kann. Ich erlebe das inzwischen wie eine Art »chinesische Tropfenfolter« und finde es ungeheuerlich, dass ich dafür auch noch Gebühren zahle. Ich möchte nicht riskieren, altersdement den Werbeslogan einer bestimmten Bausparkasse ständig vor mich herzubrabbeln, weil es demütigenderweise gerade dieser Satz ist, der sich am tiefsten in mein Gehirn hineingefressen hat. Ich warte nur darauf, dass in irgendeinem Durchgang Werbeaufkleber auf mich niederregnen, die sich unlöslich auf meine Kleidung kleben. Ein Alptraum wäre: Man wird gekidnappt und bekommt Werbung auf die Stirn tätowiert. All dies und vielleicht noch andere Faktoren führen dazu, dass die Wertzumessungen immer weniger aus fundiertem Urteilen erfolgen, sondern sich ergeben aus dem Grad, in dem eine Sache Aufmerksamkeit zu erregen vermag, und/oder der Menge an Beachtung, die diese Sache schon akkumuliert hat. Für Letzteres werden inzwischen institutionalisierte Hilfestellungen angeboten, wodurch natürlich ein immenser Selbstverstärkungsmechanismus für diese Entwicklung etabliert wird: Bestsellerlisten existieren nicht nur in Bezug auf Bücher, sondern zum Beispiel im Internet auch in Bezug auf andere Produkte, es gibt Quotenveröffentlichungen und Zitationsindexe in der Wissenschaft. Immer mehr richten sich immer mehr nach der Mehrheit. In der Entscheidungsnot greift man zum Spektakulären oder schon Prominenten. Es ist klar, dass dies die Klugheit der Märkte außer Kraft setzt. Aus kollektiver Intelligenz, auch »Schwarmintelligenz« genannt, wird Herdendummheit. Denn: Ob ein Produkt in dieser verselbständigten Eigendynamik des Aufmerksamkeits- und Prestigegewinns reüssiert, hängt oft nur wenig oder gar nicht von seinem Gebrauchswert ab. Eine Fülle von eigentlich unwichtigen und zufälligen außersachlichen Nebenfaktoren wird entscheidend: Selbstvermarktungsfähigkeit und -bereitschaft des/der Produzenten beginnend schon bei Körpergröße und Aussehen, die Fähigkeit und Bereitschaft, Kulissen des Scheins aufzublasen bis an oder über die Grenze von Lüge und Betrug, die individuelle Peinlichkeitsgrenze, was Spektakeleffekte angeht, persönliche Loyalitäten und Netzwerke, die familiäre Herkunft in Sachen Geld und Status, das zufällige Ansprechen eines prominenten Megamultiplikators oder zufällige Beziehungen zu einem solchen, Zufallsfluktuationen auf den (Medien-)Märkten, die von der eigentlichen wissenschaftlichen Kreativität unabhängige soldatische Härte bezüglich der oft als sinnentleert empfundenen Fließbandpublikations- und Antragstellprozeduren und vieles andere mehr. Am Ende steht ein bizarr-hysterisches Rennen um Aufmerksamkeit und Bekanntheit zu jedem Preis, und sei es, in einem Dschungelcamp in Kakerlaken zu baden.

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Der Geld- und Konsumkapitalismus, der an die Konsumantriebe ankoppelt, stößt an seine Grenzen, er dreht leer und läuft heiß. Wie in einer Überlastungsreaktion schaltet das System um auf einen vereinfachten Notfallmodus. Es weicht in die neuen Räume aus, die die neuen Medien eröffnen: Ein Statuskapitalismus etabliert sich, der an die Egoantriebe anknüpft. Georg Franck hat interessante Parallelen der Verwertungsmechanismen der neuen Währung Prestige zum klassischen Geld aufgezeigt und nennt das »mentalen Kapitalismus« (Franck, 2005). In unserem Kontext ist wichtig, dass die Zerstörungskraft dieses Mentalkapitalismus weitaus größer ist als die des Industriekapitalismus. Die Diktatur des Spektakels zerstört die Kultur. Sie führt zu einer regressiven Degeneration der Selektions- und Bewertungskriterien. Der Beachtungswert spiegelt die eigentlichen, die Kultur- und selbst die Gebrauchswerte immer weniger wieder. Die Märkte werden dumm und mit ihnen auch die Konsumenten. Komplexe kulturelle Inhalte werden zerschreddert. Über Jahrhunderte gesponnene, filigrane Legitimationsfäden der Gültigkeit zerreißen. Die Trümmer der Kultur werden auf ihren Erregungswert taxiert, hinsichtlich aller anderen Aspekte werden sie gleichgemacht. Der Mentalkapitalismus schmilzt die alten Schätze der Kultur ein und amalgamiert sie mit neumodischem Unfug, um sie in Form von glitzernden Erregungsbarren weiter zu verkaufen. Ihr eigentlicher, in Jahrtausenden gewachsener Wert geht so auf immer verloren. Und mit der Kultur zerstört die Diktatur des Spektakels auch das Individuum. Während der Industriekapitalismus an den Konsumantrieben der Menschen ansetzte, überzüchtet der Aufmerksamkeitskapitalismus ihre Egoantriebe. Doch das Ego steht viel mehr im Zentrum des psychischen Apparates als die Konsumantriebe. Starke deformierende Kräfte, die das Ego angreifen, sind deshalb zerstörerischer für die Persönlichkeit. Kaufsucht ist leichter zu therapieren als Narzissmus. In seiner paradoxen Form kann dieser Narzissmus sogar im wörtlichen Sinne selbstzerstörerisch werden. Neben tiefer und chronischer Frustration und religiösem Wahn ist er die Haupttriebkraft bei Phänomenen wie Terrorismus oder den sich häufenden Schulmassakern: Wenn gar nichts mehr geht, dann wenigstens einmal in die Schlagzeilen kommen, und sei es als (Selbst-)Zerstörer. Und insgesamt ist es natürlich fatal, dass der Aufmerksamkeitskapitalismus massenhaft mentale Energie bindet, die dann für Sinnvolles und Nützliches nicht mehr zur Verfügung steht. Der Einzelne bräuchte diese Energie, um die Persönlichkeitsvoraussetzungen für ein erfülltes Leben zu entwickeln, und die Gesellschaft bräuchte diese Energie, um langfristig die Voraussetzungen ihres Überlebens zu sichern.

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1.16 Das Pareto-Prinzip oder die Eitelkeit und Vergeblichkeit alles irdischen Bemühens Viele meiner Klienten und Freunde berichten mir, über die letzten Jahrzehnte die folgenden Tendenz wahrzunehmen: Man kann als Einzelner oder auch als Gruppe immer weniger bewirken, es ist immer mehr Kraftaufwand nötig, um etwas die gleiche Strecke voranzubringen, und immer öfter kommt etwas ganz anderes heraus, als man ursprünglich angezielt hatte. Vieles von dem, was ich tue, bewirkt nichts und geht ins Leere. Und auch mein Eindruck ist: Es gibt eine Fülle von gesellschaftlichen Aktivitäten, die irgendwie richtig scheinen, aber nichts Wichtiges und Wesentliches bewirken. Und es gibt eine anschwellende Flut überflüssigen Redens und Tuns, das nichts anderes will und kann als oberflächlich zu erregen oder einfach nur dem ziellos-erratischen Agieren schon funktionsbeeinträchtigter Hirne entspringt. Wir haben es nicht mehr in der Hand. Wir sind alle Getriebene. Die Geschichte fährt mit uns Schlitten, und das eben leider bergab. Gefühle von Ohnmacht breiten sich aus: Alles irdische Bemühen ist am Ende doch eitel und vergeblich. Es handelt sich dabei um eine Summenerfahrung, die sich aus verschiedenen Quellen und Ursachen auf verschiedenen Ebenen speist – die wichtigsten könnten sein: 1. Emergenz/Dysemergenz: Das Ganze ist mehr, oder besser gesagt anders, als die Summe der Teile. Je größer die Summe der Teile wird, das heißt, je komplexer das Ganze gerät, desto mehr fällt auch dieses »anders« ins Gewicht. Komplexe Systeme entwickeln Eigendynamiken, zeigen Eigensinn. Deshalb galt immer und gilt bis heute: Geschichte ist zwar stets das Resultat menschlicher Handlungen, nicht aber menschlicher Absichten. Und der Eigensinn sozialer Prozesse nimmt auf allen Ebenen zu, bis hinauf zum Regierungshandeln: Die Klage über die zunehmende Einflusslosigkeit nationaler Regierungen im Zeitalter der Globalisierung ist Legion. Soziale Prozesse sind immer schwerer zu beeinflussen und sie laufen immer öfter und immer weiter aus dem Ruder. 2. Staatsnotwendige Illusionen: Immer schon gab es Wirklichkeitsbereiche, auf die der Mensch keinen Einfluss hatte und hat. Hierfür haben sich differenzierte symbolische Handlungssysteme entwickelt, die zumindest eine Placebo-Wirkung haben: Sie reduzieren die Angst und suggerieren Handlungssicherheit. Kulte und Religionen gehören hier hin, viele luftige Konstrukte der Geistes- und Sozialwissenschaften, auch der Naturwissenschaften, wo sie an ihre Grenzen kommen, und schließlich moderne Rituale, wie sie von Ärzten, Managern oder Politikern ausgeführt werden. Der Schamane tanzt, als ob dies Regen bringen könnte, der Politiker spricht seine Formeln, als ob er damit Wachstum und Arbeitsplätze herbeizaubern könnte. Freiheit und Schuld – gibt es das wirklich? Das Justizsystem tut einfach so, als ob es sie gäbe, weil die Gesellschaft sonst wohl nicht funktionieren würde. Wie unsere gesamte Lebenswelt von solchen praktischen Fiktionen durchsetzt ist, hat schon Hans

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Vaihinger in seiner »Philosophie des Als Ob« von 1911 aufgezeigt. In einer Welt, die immer unkontrollierbarer wird, degradiert sich ein immer größerer Teil allen Handelns zu leerem Als-ob-Handeln. Freilich werden die riesigen Diskrepanzen zwischen Schein und Sein immer deutlicher, womit natürlich ein Verlust an Placebo-Wirkung einhergeht. 3. Das Pareto-Prinzip: Um die Jahrhunderwende beschäftigte sich der italienische Ökonom Vilfredo Pareto mit der Verteilung des Reichtums in England und fand, dass 20 Prozent der Menschen circa 80 Prozent des Reichtums besaßen. Dadurch sensibilisiert, entdeckte er ähnliche Ungleichverteilungen überall in der Welt: In einer Wohnung weisen 20 Prozent des Teppichs 80 Prozent der Gesamtabnutzung auf. 20 Prozent der eingesetzten Zeit bringt 80 Prozent der Ergebnisse. In einem durchschnittlichen Haushalt verursachen 20 Prozent der Kostenpositionen 80 Prozent der Kosten. In einem Unternehmen werden 80 Prozent des Umsatzes mit 20 Prozent der Kunden erzielt. 80 Prozent eines Textes werden mit 20 Prozent der Wörter bestritten (z. B. der, die, das). In 20 Prozent aller Wohnansiedlungen leben 80 Prozent aller Menschen. 20 Prozent aller medizinischen Maßnahmen erbringen 80 Prozent der Heilerfolge etc. Man kann dies mathematisch modellieren, aber die Hintergründe, das Wesen dieser Erscheinung ist nicht völlig geklärt. Ganz grundsätzlich hängt es wohl mit dem nichtlinearen Grundcharakter aller Prozesse in unserer Welt zusammen – wir waren einführend darauf zu sprechen gekommen. Auch unsere Sigmoidkurve spiegelt ja diese Ungleichverteilung: In den flachen Anfangs- und Endbereichen bringt viel Aufwand wenig Wirkung – im steilen Mittelteil dagegen viel. Wenn circa 80 Prozent aller Aufwände und Anstrengungen, die wir an den unterschiedlichsten Fronten betreiben, für die Katz sind, dann liegt das offenbar ein Stück weit in der Natur der Dinge. Vielleicht kann von diesem Gedanken eine tröstende Wirkung ausgehen. Noch weiter ins Positive gewendet könnte man sagen: Es gilt, die 20 Prozent aller Maßnahmen zu finden, die hochwirksam sind, und an diesen Hebelpunkten alle Kraft anzusetzen. 4. Die Sigmoidkurve: Wir leben in einer sehr entwickelten, reifen Kultur und Gesellschaft. Die Sigmoidkurven vieler Prozesse und Unterprozesse laufen im oberen, sich abflachenden Bereich. Gesättigte Märkte, ausgereizte Räume in Kultur und Wissenschaft, Schrumpfung und Sparzwänge überall – natürlich gehen die meisten Dinge da schwerer. 5. Störung, Zerfall und ineffizientes Reparaturverhalten: Viele Bereiche der Gesellschaft geraten unter wachsenden Druck, viele Systeme laufen am Rande der Dekompensation, und mancherorts zerfallen sie bereits. Auch das führt natürlich dazu, dass viele Aktivitäten keine Wirkung mehr haben. Wenn vor Jahren noch Motivierungsmaßnahmen einen umsatzsteigernden Effekt hatten, so bleibt dieser heute aus, weil alle schon am Limit arbeiten. Wenn früher ein Lehrergespräch mit den Eltern noch Besserung brachte, hat das heute keinen Einfluss auf das Verhalten mehr. Wenn E-Mails im Spam untergehen, können

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sie nichts mehr bewirken, und auch nicht der Anruf, der aus der Warteschleife nicht mehr herausfindet. Und die Fülle wirkungsloser Leerlaufaktivitäten wird dann oft noch vermehrt durch hektisches, ineffizientes Reparaturverhalten, das die eben genannten Probleme beheben soll. So jagt eine halbherzig umgesetzte Maßnahme und Reform die andere, und alles wird nur noch schlimmer. Kontrollen, Evaluationen, Quantifizierungen und neue Vorschriften können als äußeres Korsett den inneren Zerfall nicht kompensieren. Die Verflechtung dieser und womöglich weiterer Faktoren bewirkt, dass der kleine, harte Sockel an real wertschöpfender Arbeit dahinschmilzt und sich auflöst in eine Schaumkrone an überflüssigen und im Grunde schmarotzenden Leerlaufaktivitäten.

1.17 Gesundheit Kommen wir nun zum letzten Punkt unserer Zustandsbeschreibungen, der Gesundheit, wobei wir überwiegend auf die psychische Gesundheit fokussieren wollen. Auch wenn die Diagnostik psychischer Leiden natürlich deutlich weniger objektivierbar ist als sagen wir das Feststellen von Knochenbrüchen, so ist doch die Tatsache unbestreitbar, das psychische Störungen in den letzten Jahren und Jahrzehnten deutlich zugenommen haben. Selbst deutsche Krankenkassen nennen den Anstieg dramatisch, und diese haben ja nun wahrlich kein Interesse an ungerechtfertigten Diagnosen, denn sie müssen dafür zahlen. Bei Angst und Depressionen ist der Anstieg am stärksten, gefolgt von Essstörungen und Suchterkrankungen. Parallel dazu stieg auch die Zahl der psychotherapeutischen Behandlungen in den letzten Jahren dramatisch an. Nach Schätzungen der WHO werden psychische Störungen bis 2020 zur zweithäufigsten Todesursache in den westlichen Ländern avancieren (nach den kardiovaskulären Erkrankungen). Was sind die Ursachen hierfür? Konsultiert man die Lehrbücher der akademischen Psychotherapie, stellt man fest, dass der Fokus sehr auf Defiziten des Individuums liegt und soziale Faktoren eher selten direkt benannt werden. Das schiebt aber die »Schuld« zu sehr dem Einzelnen zu, was ihn nur noch weiter kränkt, und es lähmt Psychologie und Psychotherapie als sozialkritische Kräfte, die dringend gebraucht würden. Hierzu passen die Widerstände, die sich der Etablierung des »Burnout-Syndroms« als anerkannte Diagnose entgegenstellen. Denn das Burnout-Konzept bezieht Fehlbelastungen und Überlastungen durch die Umwelt mit ein. Und ohne diese kann man den erwähnten Anstieg psychischer Störungen einfach nicht erklären. Der Einzelne ist eine Zelle in einem sozialen Organismus. Und das Gift einer sterbenden Gesellschaft muss auch das Individuum schädigen, nicht anders als bei biologischen Organismen und ihren Zellen. Etwas provokativ könnte man durchaus sagen: Wer den bis hierher

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geschilderten belastenden sozialen Einflüssen voll ausgesetzt ist und dabei nicht krank wird, der kann nicht gesund sein. Jeder von uns hat individuelle Eigenheiten, die in bestimmtem Kontext als »Schwächen« in Erscheinung treten können. Dazu gehören genetisch bedingte Besonderheiten psychischer Teilfunktionen: eine Neigung zum Schwarz-WeißDenken, einen Hang zum negativen Grübeln, überschießend starke Gefühle, die eine vernünftige Selbstregulation und insbesondere den Lustaufschub erschweren, hohe Introvertiertheit oder extreme Gewissenhaftigkeit und geringe psychophysische Stabilität. Hinzu kommen dann womöglich ungute oder gar traumatische Erziehungseinflüsse in Kindheit und Jugend, die unter anderem zu unfunktionalen Verhaltensmustern oder Lebenseinstellungen führen können. Und schließlich pfropfen sich dem eventuell noch Pleiten, Pech und Fehlentwicklungen späterer Jahre auf, beispielsweise: Jemand gibt über lange Zeit eigene Interessen und Hobbys auf, weil er sich überangepasst an den falschen Lebenspartner klammert oder der Beziehungskrieg über Jahre alle Kräfte bindet. Aus der Summe und Verknüpfung solcher unguter Dispositionen ergibt sich dann die jeweilige individuelle Belastbarkeit in Bezug auf Umweltstressoren. Bei einigen wenigen Menschen sind die inneren Probleme so groß, dass sie früh schon und ohne besondere äußere Belastungen eine psychische Störung ausbilden, wenige andere sind so robust, dass sie auch den Tod noch überleben. Für die meisten aber gilt: Unter Normalbedingungen schlagen sie sich ganz gut durch, wenn aber der Stresspegel einen individuellen kritischen Punkt übersteigt, kommt es zur Dekompensation, aus der heraus sich eine psychische Störung entwickeln kann. Der Stress entsteht durch Dinge wie die Fehlpassung zwischen dem individuellen Muster der Stärken und Schwächen und dem Anforderungsprofil der Lebensnische; die Unmöglichkeit, die Nische zu wechseln (z. B. bei schlechter Arbeitsmarktlage oder im goldenen Käfig der Verbeamtung); objektive berufliche und/oder private Überlastung sowie ungünstige gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Lassen Sie uns die im Vorfeld schon angesprochenen gesellschaftlichen Krankmacher noch einmal zusammenfassen und ergänzen: 1. Die Entfremdung von der Natur: Wie im Zusammenhang mit den Erbantrieben besprochen, wurde unser »psychischer Apparat« vor Jahrzehntausenden in Anpassung an die damaligen Lebenserfordernisse unserer Vorfahren evolutiv »konstruiert«. Wir sind ausgelegt für ein naturnahes Leben in kleinen sozialen Gemeinschaften bis zu 150 Leuten, wo jeder jeden kennt und jeder in jeder Lebensphase einen festen Platz mit klaren Aufgaben in Familie und Gesellung hat. Gespenster mit Namen wie Einsamkeit oder Nutzlosigkeit gab es nicht und große soziale Unterschiede auch nicht. Die Erbbedürfnisse waren so in die wogenden Zeitläufte eingebunden, dass sie ständig gespannt und entspannt wurden: Es gab Notzeiten, in denen gehungert wurde, gefolgt von Zeiten der Fülle. Es gab Zeiten der Gefahr und des Rettens oder des Gerettetwerdens, und im sozialen Leben wurde ständig »Gute Zeiten,

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schlechte Zeiten« aufgeführt. Und diese Dynamik ist es, die wesentlich zu psychischer Gesundheit oder gar Glück beitrug: Glück ist Bewegung von Minus nach Plus. Und dies hat sich im dicken, sicheren Bauch der westlichen Wohlstandsgesellschaften geändert. Viele Menschen leben in der Tendenz ein relativ monotones Leben, in dem ein Tag ist wie der andere. Einige der Erbbedürfnisse können ständig auf höchstem Niveau befriedigt werden: alles, was mit Ernährung und sicherer Behausung zusammenhängt beispielsweise, auch die Sexualität, nimmt man die virtuellen Befriedigungsmöglichkeiten hinzu. Hier kommt es zu Gewöhnung, Langeweile und Überdruss. Andere Erbbedürfnisse bleiben dagegen dauerhaft unbefriedigt und verkümmern, es trifft viele soziale Bedürfnisse, so greift die Vereinsamung infolge des Zerreißens der sozialen Netze um sich. Einen notdürftigen virtuellen Ersatz für die fehlende Dynamik bilden Kulturprothesen: Kriminal- und Abenteuerliteratur bzw. -filme, Bungee-Jumping oder World of Warcraft. Und immerwährend sitzt die bei unseren Steinzeitvorfahren in dieser Größe unbekannte Kluft zwischen Arm und Reich wie ein Dorn im Fleisch und sorgt für böses Blut. Diese bei vielen Menschen recht weitgehende Entfremdung von unserer Natur bildet einen mehr oder weniger chronisch-latenten Basisstressor, der der Entstehung psychischer Leiden quasi den Boden bereitet. Im modernen Lebenskontext wird aus dem System unserer Erbantriebe einfach weniger »psychische Energie« herausgemolken als unter den wechselhaften Lebensbedingungen unserer Vorfahren. 2. Durch die konsumistische Kultur, verschärft noch durch den Aufmerksamkeitskapitalismus der neuen Medien, werden die Menschen zu außenbestimmten Lustsuchern abgerichtet. Sie lernen: Das Glück kommt von außen in Form von Sinnesreizen und Konsum. Das schafft Abhängigkeiten, und Abhängigkeiten sind Vorstufen psychischer Störungen. Durch die Scheinwelten der Medien werden zugleich unrealistische Erwartungen geweckt, die vom realen Leben nur enttäuscht werden können. Darüber hinaus gibt es direkt schädigende Medieneinflüsse wie die Darstellung von Gewalt. 3. Eine wichtige Schattenseite unserer außenorientierten Konsumkultur ist das Fehlen einer Kultur der Innerlichkeit: Es gibt in unserer Kultur keine Institutionen, die die Menschen lehren, Glück und Zufriedenheit aus der Kultivierung innerer Quellen zu schöpfen, Selbstkompetenz und persönliche Meisterschaft werden nirgendwo in ausreichendem Maße vermittelt. Für jeden DVD-Player gibt es eine Bedienungsanleitung, nur nicht für das eigene Gehirn. 4. Wesentlich infolge des Globalisierungsdruckes kommt es in immer weiteren Bereichen der Gesellschaft zu Sparzwängen, Stellenabbau und Leistungsverdichtung an den Arbeitsplätzen. Das Klima wird rauer, Ellbogenmentalität macht sich breit, es gibt viel Druck und wenig Anerkennung. Firmen und Arbeitsplätze sind in Gefahr. Studien haben gezeigt, dass die Sorge vor Arbeitsplatzverlust das Risiko, an Angst oder Depression zu erkranken, um circa den Faktor vier steigert. Es kommt zu signifikanten und dauerhaften

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Erhöhungen der Herzfrequenz, des Blutdruckes und des Kortisolspiegels (ein »Stresshormon«). 5. Die besondere Negativqualität dieser Bedrohungen entsteht daraus, dass sie oft diffus sind und man deshalb wenig oder gar nichts dagegen tun kann. Und das betrifft eben nicht nur die Sicherheit des Arbeitsplatzes – wir hatten für viele gesellschaftliche Prozesse konstatiert, dass sie immer unberechenbarer, schwerer steuerbar werden und immer öfter und immer weiter aus dem Ruder laufen. Wir sind immer weniger Gestalter und immer mehr Getriebene. Man fühlt sich ohnmächtig und ausgeliefert. Fachlich spricht man von einem Verlust an Selbstwirksamkeit. Und Selbstwirksamkeit ist einer der wichtigsten psychosomatischen Gesundheitsfaktoren. 6. Alles Vorgenannte trägt bei zum Zusammenbruch dessen, was wir Sinn-Verheißungs-Feld genannt hatten: die allgemeine Zeitgeiststimmung, dass es sinnerfüllende gesellschaftliche Ziele gibt und man es in der Hand hat, diesen Zielen näher zu kommen. Es ist nicht nur so, dass immer mehr Menschen das Gefühl haben, es nicht mehr in der Hand zu haben – es gehen auch die sinnerfüllenden Ziele verloren. Zuerst scheiterten die »großen Weltentwürfe« – von den religiösen Weltbildern bis zu sozialen Utopien wie dem Kommunismus. Und nun sind auch die kleinen Weltentwürfe dabei, sich zu desavouieren: Wohlstand, soziale Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit oder Demokratie. Ein Skandal jagt den anderen und macht deutlich, wie marode diese Konstrukte inzwischen sind, dass es sich am Ende womöglich nur um »staatsnotwendige Fiktionen« handeln könnte. Was bleibt, ist ein »existenzielles Vakuum« an Sinnleere und Orientierungslosigkeit, das schon Viktor E. Frankl zu besseren Zeiten als zentrale Ursache für psychische Störungen erkannte. Und vielleicht kann man noch anfügen: Die Erschöpfung vieler Systeme in der Sigmafalle, die Ausreizung der meisten Entfaltungsräume – all das bewirkt, dass eines immer seltener wird: das einfache Neue, das wirklich durchschlagend ist, das fasziniert und neue, attraktive Sinnhorizonte eröffnet. Das Neue im Komplexen und Subtilen zu suchen, haben aber zu viele Menschen nicht in ausreichendem Maß gelernt. 7. Eine individualistische Ego- und Imagekultur mit Anbetung von Jugend und Gesundheit, der die sinnvollen äußeren Ziele ausgehen, lädt zu übermäßiger Selbstbespiegelung ein, einschließlich einer ängstlichen Selbstbeobachtung in Bezug auf Vorboten von Krankheiten. Aus Studien weiß man, dass gesunde Menschen an circa 80 Tagen im Jahr irgendwelche funktionellen Wehwehchen haben: Kopf- oder Rückenschmerzen, Herzstolpern, Durchfall oder Schlafstörungen. Wer hart an äußeren Zielen arbeitet, der bemerkt all dies gar nicht, weil der Fokus seiner Aufmerksamkeit nach draußen gerichtet ist. Wenn aber in der Auferksamkeits- und Egokultur das eigene Image zum Fokus der Hauptsorge wird, dann ändert sich dies durchgreifend. All die normalen kleinen Funktionsstörungen werden bemerkt und durch eine Vielfalt von Teufelskreisen zum Leiden aufgeschaukelt. Das führt dazu, dass über »ordentliche«

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psychische Störungen wie Depression, Angst oder Burnout hinaus eine Vielfalt von ephemeren Modeleiden grassiert – stellvertretend seien genannt: das Multiple-Persönlichkeits-Syndrom, Müdigkeitssyndrom, Eisenhans-Syndrom (das Leiden an Gefühlskälte) oder gar das Karaoke-Syndrom (das zwanghafte Verlangen, einen Star zu imitieren). Es kommt jeden Monat ein neues Syndrom hinzu. 8. Die Zersplitterung der Gesellschaft auf vielen Ebenen führt zum Verlust des Verbindenden, zum Absterben der Gemeinschaftsfähigkeit und zum Zerfallen der Gemeinschaft. Was bleibt, ist ein Gefühl des atomistischen Verlorenseins in einer verlorenen Welt, ein Gefühl der maximal entfremdeten, existenziellen Vereinzelung. Und das ist etwas anderes, Schlimmeres als Einsamkeit. Während in letzterem Zustand die Hoffnung lebt, dass es gemeinschaftsfähige Menschen gibt, die man nur aufsuchen oder finden müsse, ist in ersterem Zustand auch diese Hoffnung erstorben. Es gibt keine Brücke, zu niemandem. Wenn die kulturellen Unterschiede zu groß werden und die Teufelskreise der Verzweiflung in Gang kommen, können tatsächlich selbst jene angeborenen Gemeinschaftsbefähigungen blockieren, die schon den Primaten gegeben sind. Immer mehr Menschen haben im Falle von Stress und Leid niemanden mehr, mit dem sie offen und angstfrei darüber sprechen können, von dem sie sich verstanden und angenommen fühlen. Stress, Ohnmacht und Vereinzelung – das ist der giftigste Cocktail, den man sich im psychosomatischen Bereich vorstellen kann (außer vielleicht einer permanenten Folge von Scheinhinrichtungen). So müssen wir am Ende konstatieren, dass wir nicht nur einer Entfremdung von der Natur unterliegen, sondern auch einer Entfremdung von der Gesellschaft. Immer mehr Menschen träumen von Auszeit, Auswanderung oder Ausstieg, und immer mehr tun das auch (wenn auch oft nicht mit dem gewünschten Erfolg). Die Folge all dessen ist zunächst, was wir Chronisches Dysstress- und Frustrationssyndrom (CDFS) nennen könnten: Überdruss, Gereiztheit, Aggressivität, inneres Getriebensein, zwischenzeitliche traurige oder ängstliche Verstimmungen, Antriebslosigkeit und Erschöpfung, Gefühle der Leere und Sinnlosigkeit, Schlafstörungen, sozialer Rückzug, Abschottung nach außen – so einige der Hauptsymptome, die in individuell unterschiedlichen Mustern vorkommen. Es ist natürlich schwer, das CDFS quantitativ zu definieren – je nach Kriterien und Studie klagen ein Viertel bis die Hälfte aller Werktätigen über zu hohe Stressbelastung, Tendenz steigend. Die Konsequenzen können sehr vielfältig sein: körperliche Erkrankungen, insbesondere Bluthochdruck und Herzerkrankungen; die Folgeschäden inadäquater Versuche der Stressbewältigung in Gestalt von Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeit, Übergewicht infolge von Frustessen; Kurzschlusshandlungen wie Amokläufe oder Suizid unter Einschluss der Familie; Abschottung gegenüber allen Problemen, die nicht für das eigene Überleben rele-

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vant sind – sei es nun die nächste Wahl oder ein aufkeimender Verdacht wegen Kindesmisshandlung in der Nachbarschaft. Und natürlich kann das CDFS eine Vorstufe der meisten schweren psychischen Störungen sein, die sich allmählich daraus entwickeln oder nach besonders schweren neuerlichen Tiefschlägen akut werden – und immer besteht die Gefahr des Ingangkommens von Teufelskreisen. Es bleibt abzuwarten, wie sich all dies entwickelt, wenn die unter der gegenwärtigen Medienbarbarei aufgewachsenen Kinder und Jugendlichen ins Erwachsenenalter kommen. Der Kontrast, den man als Psychotherapeut dieser Tage erlebt, könnte größer nicht sein: Ein typisches Problem 50-jähriger Patienten ist es, dass sie, umgetrieben und gestresst von ihrem immer weniger stillbaren Perfektionismus, nachts nicht mehr schlafen können. Ein typisches Problem 15-jähriger Patienten ist es, dass sie morgens nicht wach werden für den Tag, dass sie nicht genügend Selbststeuerungsfähigkeit besitzen, zu einer festgelegten Zeit aus dem Bett zu kommen. Womöglich steht uns eine Welle regelrechter psychosozialer Verwahrlosung ins Haus, gefolgt von einer Welle körperlicher Erkrankungen infolge selbstzerstörerischen Gesundheitsverhaltens (Über- und Fehlernährung, körperliche Folgen des Drogenkonsums). Damit soll unsere kulturkritische Zeitdiagnose abgeschlossen sein. Ich habe versucht, die zentralen Entwicklungen und Zustände zunächst mit endoskopischen Spiralbewegungen in ihrem Geflecht von Wechselwirkungen anzuleuchten, um die wichtigsten von ihnen hernach noch in ein differenzierenderes Licht zu stellen. Auf Ebene des Individuums haben wir gefunden: Unser Primaten-Ego stellt immer wieder den persönlichen Status- und Prestigegewinn über den Dienst an der Sache oder der Gemeinschaft. Das Guckloch-Problem führt dazu, dass wir uns immer wieder im Wechselwirkungsdickicht unserer hyperkomplexen Lebens- und Denkwelt verirren. Beides zusammen bewirkt eine Vielfalt egozentrisch-egoistischer Perspektiven, die nur schwer zur Deckung zu bringen sind. Konsensfindung in Bezug auf die komplexen Probleme unserer Zeit ist deshalb extrem schwierig und selten. Missverständnisse, Konflikt und Streit beherrschen die Szene, gleich, ob man in die Familien, in die Unternehmen oder auf die kulturellen oder politischen Bühnen blickt. Unsere biologische Hardware ist auf die Etablierung von Hackordnungen nach dem Recht des Stärkeren ausgelegt. Für die Formierung gelingender Kulturgemeinschaften sind wir von Natur aus nicht vorbereitet. Und potenziert wird das nun durch die Probleme auf Ebene der Gesellschaft: Sigmafalle und Dysemergenz. Zu schwach regulierte soziale Systeme entwickeln selbstverstärkende Eigendynamiken, die integrative Momente unterminieren und die Gesellschaft auseinandertreiben. Das erhöht die »innere Reibung« mit Folge von Energie- und Wohlstandsverlusten. Vor allem aber schwächt es die kollektive Handlungsfähigkeit in Bezug auf innere und äußere Bedrohungen. Die Brasilianisierung wird zu einem wahrscheinlichen Zukunftsszenario. Die Zeit drängt – lassen Sie uns deshalb den Fokus in Richtung Lösung bewegen.

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Teil 2: Persönliche Meisterschaft und Dritte Kultur

2.1 Woher kann die Rettung kommen? Aufschwung und Wachstum?: Naturgemäß muss das Wirtschaftswachstum bei reifen Gesellschaften in der Sigmafalle zurückgehen, unter Umständen bis hinein in den negativen Bereich. Und selbst wenn wir noch längere und stärkere Wachstumsperioden vor uns hätten: Es würde die Verschärfung einiger Probleme hinauszögern, die anderer Probleme aber beschleunigen. Lösen würde es nichts. Andere Einzelmaßnahmen?: Steuerreform, Mindestlohn, höhere Renten, Förderung alternativer Energien, Tempolimit, Erbschaftssteuer und was nicht alles im gegenwärtigen Politbetrieb diskutiert wird – all das mag irgendwie richtig und gut sein, aber ausreichende Antworten auf die Herausforderungen der Zeit sind das nicht. Läuterung des Einzelnen?: Immer wieder wird verbal oder per Buch von Politikern oder Prominenten an den Einzelnen appelliert: Es wird mehr Selbstverantwortung, mehr Flexibilität, mehr Wertebewusstsein oder mehr Vorbildverhalten eingefordert. Wie dargestellt, unterliegt der Einzelne in hohem Maße systemischen Einflüssen oder gar Zwängen. Moralische Appelle bewirken deshalb wenig bis nichts. Systemrevolution?: In Form von gewaltsamen Umstürzen hatten wir das schon. Die Geschichte lehrt: Das läuft meist aus dem Ruder. Und keiner hat einen wirklichen Plan für das Neue. Zu wissen, wogegen man ist, genügt nicht. Zumeist entsteht mehr Schaden als Nutzen. Also: Finger weg! Neues Bewusstsein im New Age?: Erinnern Sie sich noch? »Wendezeit«, »Zeitalter des Wassermanns« oder »New Age« – hat das noch gar nicht angefangen, läuft es noch oder ist das inzwischen durch? Wie immer auch, derzeit ist davon kaum etwas zu spüren. Allenfalls führt die Vermehrung der Esoterik-Anhänger zu einer immer unverschämteren Vermarktlichung auch dieser Szene. Teilweise mag die New-Age-Bewegung positive Effekte gehabt haben und haben: Förderung eines ökologischen Bewusstseins, Konsumkritik und Fokussierung auf postmaterielle Werte etwa. Überwogen wird dies aber von der Gefahr einer Unterminierung der aufgeklärten Vernunft. Hier einige Facetten, die für das esoterische Paradigma prägend sind: die fehlende Bereitschaft, Aussagen hinsichtlich ihrer Gültigkeit zu differenzieren, das heißt Tatsachen von bloßen Behauptungen oder Meinungen zu unterscheiden; das Anerkennen eindrücklicher subjektiver Einzelerfahrungen oder Offenbarungserlebnisse als Gültigkeitskriterium für Allgemeinaussagen; die Behauptung von Tatsachen und Zusammenhängen, die nicht bestehen bzw. keine Wirkrelevanz besitzen; die willkürliche Konstruktion von Scheinlehren, oft unter missbräuchlicher Nutzung wissenschaftlicher Begriffe und Konzepte (»Energie«, Quantenphysik); die Behauptung, mit reiner

Woher kann die Rettung kommen?

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Gedankenkraft materielle Prozesse beeinflussen zu können; die Behauptung, im Geist Raum und Zeit überbrücken zu können; die Behauptung, direkt mit einer Sphäre höherer Wahrheit oder geistiger Wesen kommunizieren zu können. Diese Dinge halten schon einer kritischen und logisch sauberen Prüfung auf Basis der Alltagserfahrung nicht stand. Trotzdem sind nicht wenige wissenschaftlichen Studien gemacht worden – nirgendwo konnten die von der Esoterik behaupteten Zusammenhänge wirklich dingfest gemacht werden. Auch ich bin mir der Grenzen von Vernunft und Wissenschaft sehr bewusst. Die Wissenschaft hat oft geirrt, viele ihrer vollmundigen Versprechungen nicht eingehalten und wahrscheinlich wird sich der wissenschaftliche Fortschritt deutlich verlangsamen. Aber diese Einsicht darf nicht dazu verleiten, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Teilirrtümer der Wissenschaft führen nicht dazu, dass beliebige Behauptungen ihrer Opponenten automatisch wahr würden. Kritische Vernunft und wissenschaftliche Methode bleiben auf immer der einzige Weg zu gültigem Wissen, das es uns erlaubt, einen Teil der Naturkräfte unseren Zwecken dienstbar zu machen. Das Gerede vom Bewusstseinswandel hilft nicht weiter. Und Schlagworte wie Ganzheitlichkeit oder diffuse Konzepte, die darauf hinauslaufen, dass alles irgendwie mit allem zusammenhängt, sind auch nicht hilfreicher. Welche konkreten Inhalte sollen das neue Bewusstsein füllen? Wie sind sie abgeleitet und begründet? Wie sollen sie in die Köpfe kommen? Und wie soll all dies die Welt retten? Selbst wenn man ein paar Millionen bewusstseinsgewandelte gute Menschen auf einer großen Insel aussetzen würde – was würde wohl passieren? Würden sie nicht doch irgendwelche Hierarchien bilden, weil anders das Leben nicht zu organisieren ist? Wären es nicht wieder die relativ Machtorientiertesten, die an die Spitze kämen? Würden nicht doch Missverständnis und Streit zu grassieren beginnen? Kämen nicht doch Eigendynamiken, Teufelskreise und andere Phänomene der Dysemergenz in Gang? Würde all dies unsere guten Menschen nicht allmählich zu ganz gewöhnlichen Menschen rücktransformieren? Kurzum: Was New Age an Positivem zu bieten hat, genügt nicht. Und zusätzlich hat es noch eine Menge Brandgefährliches im Gepäck. Gott und Religion?: Als Reaktion auf Kulturverfall und Orientierungskrise wie auch als Reaktion auf den islamistischen Terrorismus ist seit einigen Jahren eine Rückkehr von Gott und Religion zu verzeichnen, auch und gerade in den westlichen Ländern in Form des Christentums. Ein nicht unbeträchtlicher Teil dieser Bewegung allerdings fließt in voraufgeklärte Formen der Religion zurück: Die Europäische Wertestudie von 2003 fand, dass der Glaube an einen persönlichen, leibhaftigen Gott zunimmt. Der Kreationismus und andere Fundamentalismen breiten sich aus. Auch das untergräbt natürlich jene Kräfte, die uns aus der Finsternis des Mittelalters herausgehoben haben: kritische Vernunft und wissenschaftliche Methode als Geltungsmaßstab. Mir scheint all das weniger ein positives Zugehen auf die Religion zu sein als eine Flucht zurück zur Religion. Allem

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einfachen Zurück haftet viel Problematisches an – es hat sich in der Geschichte zumeist mit Dogmatismus und Repression verbinden müssen, um am Ende doch zu scheitern. Religion ist nur dann gut, wenn wir sie als etwas Positives neuformulieren können, das uns überzeugt und anzieht. Sie ist schlecht, wenn sie als finstere Fluchtburg dient, in die wir hineingetrieben werden durch das Grauen vor einer sinnlosen, chaotischen und zerfallenden Welt. Die traditionellen Religionen müssen aufgehoben werden in einem Weltbild der Dritten Kultur, in dem Wissenschaft, Kultur und Religion zur Synthese finden – wir werden darauf eingehen. »Es muss sich alles ändern, damit alles so bleibt, wie es ist«: Letztlich wird sich auch die Religion dieser wahrhaft universalen Wahrheit nicht entziehen können, die der italienische Schriftsteller Tomasi di Lampedusa so treffend auf den Punkt gebracht hat. Wissenschaft und Technologie?: Ich bin ein großer Freund und Anhänger der Wissenschaft. Von hier werden wir für unser Rettungsprojekt ganz wichtige Beiträge beziehen. Deshalb müssen wir uns mit den Möglichkeiten und Grenzen von Wissenschaft und Technologie gleich noch ausführlicher in einem Extrakapitel befassen. Gleichwohl ist festzustellen: Die entscheidenden und ausreichenden Lösungsmomente sind von der Wissenschaft nicht zu erwarten, zumindest nicht von der Art von Wissenschaft, wie wir sie heute betreiben. Und von Technik und Technologie gleich gar nicht. Es gilt, was schon Henry David Thoreau einst hellsichtig bemerkte: »All unsere Erfindungen sind nichts als verbesserte Mittel zu einem nicht verbesserten Zweck« (zit. n. Postman, 2001, S. 18). Woher aber sollen sie nun kommen, die »entscheidenden und ausreichenden Lösungsmomente«? Nun, wenn man es kurz und schlagwortartig benennen sollte, klänge es erst einmal nicht dramatisch neu oder spektakulär: Die Basis kann nur eine kritische, systemkompetente Vernunft sein, die allen wesentlichen Facetten des Lebens einen angemessenen Platz zuordnet und komplexe Veränderungen über einen maximalen Krafteinsatz an Hebelpunkten versucht, ferner: Diskurs, Konsensbildungs- und andere Integrationsmechanismen, Erziehung, innere Arbeit und soziales Experimentieren. Gehen wir näher heran.

2.2 Apokalyptische Reiter und die drei Hebelpunkte Wie besprochen ist die Gesellschaft, ja die gesamte Ökosphäre, als ein komplexes dynamisches System zu betrachten, das sich aus einer hierarchischen Verschachtelung von Teilsystemen konstituiert. Die Evolution eines solchen Systems ist von Wechselwirkungen, Versklavungseffekten und nichtlinearen Eigendynamiken geprägt. Direkt am Oberflächendefekt ansetzende isolierte Reparaturmaßnahmen bringen deshalb zumeist keine nachhaltige Wirkung. Von den feldartigen

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Versklavungskräften des Systems werden sie fortgewischt, sobald der Krafteinsatz nachlässt. Es gilt deshalb, durch eine Analyse der Wirkungszusammenhänge zu versuchen, die Quellpunkte der problematischen Entwicklungen aufzufinden. Diese Quellpunkte sind dann zugleich die Hebelpunkte, auf die alle verfügbaren Korrekturkräfte zu konzentrieren sind. Nur so besteht eine Chance, die Systementwicklung in einen anderen Grundmodus springen zu lassen, der dann gewissermaßen die Feldkräfte anders ausrichtet. Im ersten Teil des Buches hatten wir versucht, uns an wahrscheinliche Quellpunkte der Problementwicklungen heranzutasten – kurz: Primaten-Ego, Guckloch-Problem und Dysemergenz. Wenn man so will, sind das die drei apokalyptischen Reiter des Menschheitsschicksals. Hieraus ergeben sich nun drei Hebelmöglichkeiten, die ich im Folgenden beschreiben möchte. Schaffung und Stärkung von Integrationsmomenten – Das Weltbild der Dritten Kultur und ein Kanon der Weisheit: Wir müssen auf allen Ebenen die Momente Integration, Konsens- und Kanonbildung stärken. Die Jagd nach dem punktuell Neuen wird immer weniger effektiv. Einen Großteil des Wissbaren und Wichtigen wissen wir. Neue Kraft kann nur erwachsen aus: Sichtung der Bestände, Prüfung von Relevanz und Gültigkeit, Konsensfindung, Integration zu komplexeren mentalen Modellen. Dies gilt für einzelne Wissenschaften wie die Psychologie oder die Ökonomie. Und es gilt für die Ebene von Weltbild und Kultur. Mit Paradigmen wie System, Selbstorganisation und Evolution haben wir eine Basis, auf der sich die klassische Spaltung unserer Kultur in Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft in Richtung einer ganzheitlichen Dritten Kultur überwinden lässt. Da in diesem Kontext zugleich die prinzipiellen Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis deutlich werden, verbleibt auch Raum für Gott und Religion. Ich werde später in groben Strichen einen Vorschlag für so ein Weltbild skizzieren. Es sollte Fragen der Grundorientierung in der Welt beantworten und ethische Grundregeln für ein gedeihliches Miteinander ableiten und begründen. Es sollte eine Vision vom Neuen Menschen und der guten, glücklichen Gesellschaft ableitbar machen, die realistisch ist, Zukunftshoffnung weckt und zum Handeln mobilisiert. Hieraus kann ein positives Sinn-Verheißungs-Feld erwachsen. Was wir brauchen, ist ein gesamtgesellschaftlicher Diskurs zu solchen Fragen und einen daran anschließenden institutionalisierten Konsensbildungsprozess, an dessen Ende ein solches Weltbild steht, in Verbindung mit einem Kanon der wichtigsten Schätze unserer Kultur. Ein Hauptzweck dieser Bemühungen wäre: Wir bekämen so das dringend benötigte Orientierungswissen, das den Schülern in unseren Schulen schwerpunktmäßig zu vermitteln wäre. Mir ist natürlich klar, wie schwierig und kompliziert ein solcher Konsensbildungsprozess wäre. Dass so etwas aber möglich ist, zeigt der stufenweise internationale Konsensbildungsprozess zur Klimaproblematik, der im Vorfeld des Koyoto-Protokolls durchgepaukt wurde (von inhaltlich näher liegenden Beispielen ist mir nichts bekannt – vielleicht gibt es sie). Und auf den nun schon wie ein Damoklesschwert über uns

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schwebenden Ideologie-/Totalitarismusvorwurf gehe ich gleich noch gesondert ein. Einführung eines Schulfaches Selbstmanagement und Lebensgestaltung (»Persönliche Meisterschaft«): Teil des dargestellten systemisch-evolutionistischen Weltbildes ist ein entsprechendes Menschenbild. Und in diesem Kontext verfügen wir über einen umfangreichen Grundstock an weitgehend gesichertem und potenziell konsensfähigem Wissen zum Thema »Selbstmanagement und Lebenskunst«, das der Alltagserfahrung, den Religionen, alten Weisheitslehren und den modernen Wissenschaften entstammt. Unter dem Label »Persönliche Meisterschaft« habe ich das ausführlich in meinen Büchern ausgearbeitet. Neben anderen wäre dies ein Vorschlag, der in einen entsprechenden Konsensbildungsprozess eingehen könnte – ich werde später noch mehr ins Detail gehen. An dieser Stelle seien drei besonders wichtige Punkte genannt: – Lebensweisheit und moderne Wissenschaft zeigen und begründen: Lebenszufriedenheit und Glück hängen nur zu maximal 20 Prozent von äußeren Umständen ab. Reichtum und Status tragen also nur wenig zu wirklicher Lebenserfüllung bei. Sich von den Konsum- und Egoantrieben bestimmen zu lassen, führt ins Unglück. Glück entspringt inneren Quellen, die man entdecken und entwickeln kann (u. a. Kulturantriebe). Dies kann und muss man Menschen einsichtig machen. Und man muss ihnen Anfangserfahrungen ermöglichen, dass dies auch tatsächlich funktioniert. – Man kann lernen, die von den Erbantrieben ausgehenden Gefühle zu verändern und weitgehend zu kontrollieren. Förderliche Gefühle wie Freude, Liebe oder Mitgefühl gilt es zu steigern, destruktive Gefühle wie Gier, Angst, Wut, Eifersucht oder Stolz gilt es abzuschwächen. Hierbei hilft Einsicht in die evolutionspsychologischen Hintergründe dieser Gefühle und das Einüben förderlicher Geisteshaltungen. – Vor dem Hintergrund von Konstruktivismus, Primaten-Ego und GucklochProblem werden Kommunikation und Kooperation zu sehr komplizierten und schwierigen Prozessen. Es ist unbedingt notwendig, diese Hintergründe zu verstehen und Grundkompetenzen gezielt einzuüben. Ich bin der festen Überzeugung, dass es unbedingt notwendig ist, diese und weitere Inhalte in einem zentralen Schulfach unseren Kindern und Jugendlichen theoretisch und praktisch zu vermitteln. So sind ihre Chancen am größten, auf dem Weg vom außengeleiteten, abhängigen Egomenschen zum innengeleiteten, autonomen Kulturmenschen so weit als möglich voranzukommen. Die Fülle an Positivwirkungen, die dies für den Einzelnen und die Gesellschaft hätte, wird noch zu besprechen sein. Ich halte das Schulfach »Persönliche Meisterschaft« für diejenige Einzelmaßnahme, von der die größte Hebelwirkung ausgehen würde. Wenn ich nur eine einzige Maßnahme benennen dürfte, der ich bei wirkmächtiger Umsetzung das größte Potenzial zur »Rettung der Welt« beimessen würde, dann wäre es diese.

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Die beiden angesprochenen Hebelmaßnahmen würden die Schwachstellen Primaten-Ego und Guckloch-Problem kompensieren. Punkt eins würde die Informationsflut reduzieren, die Übersicht erleichtern und Orientierungsmarken setzen. Weil ein entsprechender Kanon von einer Mehrheit der Menschen geteilt würde, würde es Verstehen und Kommunikation sehr erleichtern oder überhaupt erst wieder ermöglichen. Punkt zwei zielt vorrangig auf die Überwindung des Primaten-Egos, aber auch auf einen bewussten Umgang mit dem Guckloch-Problem. Was bleibt, ist die soziale Dysemergenz, die wir mit unserem dritten Paket von Hebelmaßnahmen angehen. Reform des politischen Systems, mutigere und systematischere Gestaltung gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse, institutionalisiertes Organisationenlernen: Wenn es schwierig wird, sind wir es gewohnt, einfach nur härter zu spielen. Viel zu selten kommen wir auf die Idee, die Spielregeln zu ändern. Wir müssen lernen, die Regeln des Zusammenlebens und die gesellschaftlichen Strukturen so zu gestalten, dass die Systeme bei den Zwecken bleiben, für die sie gemacht wurden. Die besprochenen negativen Eigendynamiken müssen in irgendeiner Form schon im Vorfeld verhindert oder schneller bemerkt und eingegrenzt werden. Wir müssen lernen, Geschichte in einen institutionalisierten sozialen Lernprozess umwandeln. Bisher wird viel zu wenig mit unterschiedlichen sozialen Strukturen experimentiert und die Erfahrungen werden nicht systematisch ausgewertet. Es geht darum, Gesellschaft in einen sozialen Organismus umwandeln, der über innere Regulationsstrukturen verfügt, die nicht irgendwie historisch gewuchert sind, sondern aus Optimierungsprozessen hervorgegangen sind. Gerade die moderne Informationstechnologie eröffnet hier neue Perspektiven. In Analogie zum Organismus könnte man an eine Art elektronisches Nervensystem der Gesellschaft denken – Stichworte: E-Governance oder E-Democracy. Wir hatten ja kurz besprochen, unter welchen Bedingungen das Grundgesetz entstanden ist. Die inneren und äußeren Rahmenbedingungen haben sich seither drastisch gewandelt, das Grundgesetz aber ist immer noch dasselbe. Die Föderalismusreform ist auf halbem Wege stecken geblieben. Es harrt eine Fülle von Maßnahmen der Umsetzung, die von Experten empfohlen werden – genannt sei hier nur die Einführung des Mehrheitswahlrechts. Wir brauchen handlungsfähige Mehrheiten, die dazu in der Lage sind, konsequent ganzheitlichere Reformkonzepte umzusetzen, die Steuer-, Sozial- und Gesundheitssystem aufeinander abgestimmt erfassen. Man könnte in verschiedenen Behörden und Bundesländern bewusst und systematisch mit verschiedenen Verwaltungsstrukturen experimentieren, die Ergebnisse monitoren und zentral auswerten. Das wäre institutionalisiertes soziales Lernen. Es gibt erkennbare langfristige Trends, die gravierende gesellschaftliche Veränderungen erzwingen werden – so oder so. Es wäre Aufgabe der Parteien, mögliche Reformreaktionen hierauf in Form konkreter Gesellschaftsentwürfe

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auszuarbeiten und eine breite Diskussion darüber zu entfachen. Stattdessen werden die Parteiprogramme bewusst immer diffuser und allgemeiner abgefasst, um möglichst vielen potentiellen Wählern als Projektionsfläche ihrer Wünsche zu dienen. In prächaotischen Zeiten wie den unseren ist nicht weniger, sondern deutlich mehr Gestaltungswille gefordert, will man dem Chaos entgehen. Vielleicht ist dieser letzte Punkt der schwierigste und offenste von unseren drei Hebelmaßnahmen. Ein paar Schritte wären absehbar, aber dann begänne Neuland. Aber Geschichte ist immer offen, gleich ob selbst gestaltet oder erlitten. Bei manchem sensiblen und geschichtskundigen Leser werden längst die Alarmglocken schrillen – der Ideologie- und Totalitarismusvorwurf steht im Raum. Ich bin mir dieser Problematik und der mit ihr verbundenen Gefahren wohl bewusst, um so mehr, als ich die ersten 28 Jahre meines Lebens in der DDR verbracht habe, zuletzt in deutlichem Dissens mit »dem System«. Ehe wir unsere Hebelmaßnahmen im Detail durchdeklinieren, sei aber kurz auf den Ideologieverdacht eingegangen, einfach, weil das so wichtig ist.

2.3 Das Schleimpilz-Prinzip – Wider den Ideologieund Totalitarismusvorwurf Gesellschaften lassen sich wie alle Systeme auf der Dimension Differenzierung/ Integration einordnen. Das Extrem am Pol Integration bilden die autoritären oder gar totalitären Diktaturen. Das andere Extrem sind die zerfallenden Staaten in Afrika oder Lateinamerika, in denen ein permanentes Chaos bürgerkriegsähnlicher Zustände herrscht. In der Nachkriegszeit waren die meisten westlichen Gesellschaften vielleicht im guten Mittelbereich dieses Spektrums einzuordnen: Integrationsinstitutionen wie die Kirchen und die Familien waren intakter und wirkmächtiger als heute, die Lebenswelt insgesamt war homogener, die differenzierenden Kräfte noch nicht so stark. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten aber erstarkten die differenzierenden Momente, während die integrierenden Kräfte gleichzeitig erlahmten. Und so bewegen sich die westlichen Gesellschaften seither kontinuierlich auf den Pol der Differenzierung zu. Und inzwischen sind sie auf diesem Weg viel weiter gekommen, als gut ist. Dass dies so lange ohne nennenswerten Widerstand zugelassen wird, liegt sicher auch an dem, was im Kontext von Begriffen wie »Ende der großen Erzählungen« oder »Postmoderne« steht. Nach dem blutigen Scheitern von Faschismus und Kommunismus ist eine starke Skepsis gegenüber umfassenden und mit geschichtsdeterministischen Heilsversprechungen durchwirkten Theoriengebäuden entstanden. Ganzheitliche Weltentwürfe, die den Menschen mit einem absoluten Wahrheitsanspruch oktroyiert werden, konkurrierende Vorstellungen diffamieren und der Absicherung politischer Herrschaft dienen, werden unter dem Begriff »Ideologie« zu Recht kritisiert und bekämpft. Doch aus der Not am einen

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Extrempol sprang man in die Not am anderen Extrempol und machte daraus eine Tugend mit dem Namen Postmoderne: Die fortschreitende Zersplitterung der Welt wurde zur hinzunehmenden, wenn nicht wünschbaren, in jedem Falle aber unumkehrbaren Tatsache erklärt. Doch nun müssen wir feststellen, dass die Welt, die so entsteht, uns nicht glücklich, sondern krank macht und ins Chaos führt. Neil Postman schrieb in Bezug auf das »Ende der großen Erzählungen«: »Marx dachte an solche Erzählungen, wenn er von Ideologien sprach. Freud nannte sie Illusionen. Gleichwohl. Das Wichtigste an Erzählungen ist, dass die Menschen nicht ohne sie leben können.« So ist es. Kann es nicht doch einen Mittelweg geben zwischen Diktatur und anarchischem Individualismus, zwischen totalitärer Ideologie und geistig-kultureller Zersplitterung? Haben wir hier nicht wieder diese fatale »übersteuernde« Pendelbewegung, die wir in so vielen Bereichen finden? Es muss diesen Mittelweg geben und wir müssen lernen, ihn zu halten. Wir müssen lernen, die selbstverstärkenden Dynamiken des Pendelns zwischen den Extremen zu erkennen und zu unterbrechen. Wir müssen weg vom Schwarz-Weiß-Denken, vom Entweder-oder: libertärindividualistische Demokratie oder Diktatur. Das eigentlich interessante und lebensfähige sind die Graustufen dazwischen. Wir müssen lernen, dass der Integrationsgrad einer Gesellschaft ein dynamischer und hochbedeutsamer Parameter ist, den es politisch zu regulieren und der Situation anzupassen gilt. Worum es dabei geht, macht uns schon der Schleimpilz Dictyostelium discoideum vor: Unter nährstoffreichen Umgebungsbedingungen lebt er als Vielzeller. Seine Zellen schwimmen als Amöben herum, fressen und vermehren sich. Sobald aber Nahrungsknappheit eintritt, passiert Folgendes: Getragen von Mechanismen der Selbstorganisation finden sich die Zellen zusammen und formieren einen vielzelligen Organismus, eine Art Schnecke. Zum einen kann dieser Vielzellerhaushalt effizienter wirtschaften und mehr sparen. Und zum Zweiten ist die Schnecke sehr viel mobiler und kann sich schneller in nährstoffreichere Regionen bewegen. Sind diese gefunden, macht jede Amöbe wieder das Ihre. Was ist die Voraussetzung dafür, dass das funktioniert? Nun, jede Zelle muss ein Bild des Ganzen in sich tragen und dieses Bild muss bei allen Zellen gleich sein. Sie ahnen es schon: Dieses Bild ist gewissermaßen im Zellkern jeder Zelle in Form eines Satzes gleicher Gene auf der DNA abgelegt. Nur deshalb können die Zellen ganzheitlich-koordiniert auf chemische und andere Signale reagieren. In Analogie hierzu braucht eine Gesellschaft »kulturelle DNA«, um als Gemeinschaft handlungsfähig zu sein, insbesondere in Notzeiten. Und diese kulturelle DNA wird gebildet von gemeinsamen Werten, Normen, Grundvorstellungen und Lebensformen im Rahmen von allen geteilter Weltbilder bzw. »großer Erzählungen«. Kultur, so bemerkte schon Wittgenstein, ist eine Ordensregel, oder genauer gesagt: ein Satz von Ordensregeln. Unsere Gesellschaft ist in der Nachkriegszeit in sehr nährstoffreiche Gewässer getrieben. Dies hat eine übermäßige

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Individualisierung ermöglicht und dass darüber die Kultur-DNA nicht gepflegt wurde und nun zu zerfallen droht, fiel gar nicht groß auf. Seit einigen Jahren aber treiben wir immer weiter ins Eismeer. Statt gesellschaftlichem Zusammenrücken und Kooperation finden wir nun Konflikt, Konsensunfähigkit und anschwellende Verteilungskämpfe. Deshalb lautet das wichtigste Gebot der Zeit: Stärkung und Schaffung integrierender Momente auf allen Ebenen. Dem sollten unsere Hebelmaßnahmen dienen. Natürlich – es gibt keinen Weg aus der Gefahr ohne Gefahr. Es gilt aus der Geschichte zu lernen. Man muss sehr wachsam sein, dass das Pendel nicht wieder in Richtung Ideologie und Diktatur ausschlägt. Es gilt Sicherungen einzubauen. Welche Sicherungen sind unseren Vorschlägen bereits immanent? 1. Ein richtig verstandenes systemisch-evolutionistisches Weltbild ist wesensmäßig weitgehend inert gegenüber ideologischen Anfechtungen, denn: Evolution bedeutet Wandel, Wandel auch der Erkenntnisstrukturen. Das einzige Dogma ist, dass es keine Dogmen geben kann. 2. Alle Inhalte sollen aus institutionalisierten Konsensbildungsprozessen hervorgehen, die von einer möglichst breiten Basis starten. Dies soll eine möglichst weitgehende Annäherung an das sicherstellen, was man als »Wahrheit unserer Kultur« bezeichnen könnte, die einen Teil dessen enthält, was die »Wahrheit des Menschen in seiner Welt« ausmacht. Und es soll sicherstellen, dass die Ergebnisse nicht zu sehr von partikularen Gruppeninteressen verzerrt werden. 3. Im Sinne von Punkt 1 sind diese Konsensbildungsprozesse entweder institutionalisiert kontinuierlich fortzusetzen oder in regelmäßigen Abständen zu wiederholen (vielleicht alle fünf bis zehn Jahre). 4. Alle Ergebnisse gelten als Vorschläge, als die zur jeweiligen Zeit wahrscheinlichsten Hypothesen: Dies ist das Welt- und Menschenbild, das die Mehrheit der Menschen unserer Kultur derzeit für das geeignetste hält. Es wird aus unserer Sicht den bekannten Tatsachen am besten gerecht und wir haben Argumente und Hinweise dafür, dass es insgesamt für den Einzelnen und die Gemeinschaft am förderlichsten ist. Niemals wird gesagt: Das ist die ganze, absolute, universale und letztgültige Wahrheit. So und nicht anders ist es und genau so habt ihr es wiederzugeben. Vielmehr lautet die Botschaft: Setzt euch kritisch damit auseinander. Wenn ihr partiell zu anderen Sichtweisen kommt, ist das sehr gut. Jeder Mensch ist ein wenig anders und wenn er sich die Welt wirklich aneignet, dann muss er auch in Teilen immer zu einer eigenen Wahrheit kommen. Selbst wenn ihr zu gänzlich anderen Sichtweisen finden solltet, wäre das euer Recht. Und natürlich sollte man auch die Welt- und Menschenbilder anderer Kulturen kursorisch vor- und dagegenstellen. Als »Wahrheitskriterium« könnte dann das Prinzip von Lessings Ringparabel vorgeschlagen werden: Die relativ größte Wahrheit liegt dort, wo der Einzelne und die Gemeinschaft am besten gedeihen. Es ist von zentraler Bedeutung, dass wir unsere Kinder und Jugendlichen

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nicht allein lassen mit einer Fülle alternativer und gleich gültiger Weltentwürfe. Denn was gleich gültig ist, macht gleichgültig. Wir müssen einen Vorschlag, ein Angebot machen: Das ist es, wofür wir stehen im Rahmen eines freundschaftlichen und friedlichen Wettstreits der Kulturen. 5. In Bezug auf unsere Hebelmaßnahme 3 heißt aus der Geschichte lernen: Es gilt, in den lebenswichtigen Bereichen der Gesellschaft einen funktionierenden Wettbewerb zu erhalten. Wie einführend im Zusammenhang mit Evolution und Selbstorganisation dargestellt: Das freie Spiel der Kräfte im Zusammenwirken von Variation und Selektion ist der universelle kreative Mechanismus in Natur, Psyche und Gesellschaft. In der Gesellschaft begegnet er uns in Form von Markt und Demokratie. Zwar gilt es, die Glut dieser Mechanismen in geplante Systeme einzubetten und einzufrieden, niemals aber darf man sie völlig austreten. Planwirtschaft ohne allen Wettbewerb und ohne alle Demokratie führt in die Stagnation – das ist die Hauptlehre aus dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus. Es geht nicht pauschal um mehr oder weniger Staat, es geht um die richtige Form von Staat an der richtigen Stelle. 6. Es gibt keinen Geschichtsdeterminismus und keine großen Führer, die als Erfüllungsgehilfen des Weltgeistes legitimiert wären, über Leichen zu gehen. Auch wenn das nicht immer absolut und uneingeschränkt gelten kann, so sind und bleiben Freiheit und Glück des Einzelnen doch oberster Wert und Grundprinzip. Wie alle Evolution ist Geschichte prinzipiell offen. Sie ist nicht festgelegt im Sinne eherner Geschichtsgesetze, aber es ist auch nicht zu jeder Zeit alles möglich. Es ist etwas dazwischen: Es gibt Möglichkeitsfelder, die sich mit dem Fortschreiten der Zeit erweitern oder verengen, die irgendwann ganz verschwinden und neuen Platz machen. Wir können sie nutzen oder sie vorbeiziehen lassen. Und innerhalb dieser Möglichkeitsfelder können sich prinzipielle Entwicklungen auf im Detail unterschiedliche Weise manifestieren. Nachdem wir somit die Minenfelder Ideologie/Totalitarismus hoffentlich ohne schlimme Verletzungen hinter uns gebracht haben, wollen wir gleich im Dauerlauf den nur wenig weniger gefährlichen Dschungel durchqueren, der mit den Themen Wahrheit und Wert schon angesprochen war.

2.4 Wissenschaft, Wahrheit und Kultur Zentrale Fragen der menschlichen Existenz sind: Was ist wie weit gültig? Gibt es so etwas wie Wahrheit? Wozu leben wir überhaupt? Was macht das Leben wertvoll? Wie universell sind Werte? Welche Rechte und Pflichten haben wir? Gibt es Normen, die absolute Geltung haben? Im Zuge der Zersplitterung der Weltbilder mit dem Aufkommen der Postmoderne hat sich alles Feststehende verflüssigt, wurde alles ehedem Gültige desa-

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vouiert, relativiert und zerredet. Die Aufklärung erschlug den absoluten Gott und konnte dann die absoluten Versprechen ihres überschießenden Wissenschaftsglaubens auch nicht halten. Ein lauwarmer Relativismus machte sich breit: Wenn nichts mehr wirklich gilt, dann geht irgendwie alles. Immer mehr wird diese scheinbare Befreiung als Zerstörung wahrgenommen und aufzuhalten gesucht durch eine Wiederbelebung der fundamentalistischen Götter. Auch hier gilt: Der Weg der Mitte ist der richtige. Es gibt nichts wirklich Absolutes, aber es ist auch nicht alles gleich relativ. Vielmehr sollten sich Systeme abgestufter Gültigkeiten begründen lassen. Wie stellt sich das Wahrheitsproblem vor dem Hintergrund der einführend skizzierten erkenntnistheoretischen Grundpositionen dar? Wir hatten konstatiert: Unser Weltbildapparat mit unseren Sinnesorganen ist wie alle anderen Organe unseres Körpers nach dem Prinzip einer zum Überleben ausreichenden Anpassung entstanden. Er liefert uns keine vollständigen und in jeder Hinsicht genauen Abbildungen der äußeren Realität. Er spiegelt lediglich einige überlebensrelevante Eckkonturen dieser Realität mit eben ausreichender Genauigkeit in unser Gehirn hinein. Mit größter Wahrscheinlichkeit weist die äußere Realität sehr viel mehr Dimensionen, Phänomene und Eigenschaften auf, als auf der »psychischen Benutzeroberfläche« unseres Gehirns erscheinen. So kennen wir es aus den Malheften der Kinder: Der Raum zwischen diesen Eckkonturen wird dann von den konstruktiven Mechanismen des Gehirn mit Bedeutung ausgemalt, gemäß den Prinzipien innerer Stimmigkeit. Dabei ist die so entstehende Sphäre der subjektiven Wirklichkeit bedeutungsdicht: Bedeutung kann weder hinein noch heraus. Auch Kommunikation ist kein direkter Austausch von Bedeutung, vielmehr regen sich die Kommunikationspartner wechselseitig zu koordinierten internen Bedeutungserzeugungen an. Soweit hatten wir uns die Dinge bereits erarbeitet. Wenn wir all dies in ein Bild fassen wollten, könnte das wie folgt aussehen: Stellen wir uns vor, unser erkennendes Ich sei ein kleiner Kobold, der unentrinnbar in einer Milchglaskugel lebt. Im Inneren dieser Kugel sind von der Außenwelt nur die ganz wichtigen Grobkonturen zu erkennen. (Das entspricht den »Eckdaten«, die uns die Sinnesorgane liefern. Das Innere der Milchglaskugel steht also für die subjektive Wirklichkeit, die wir von Sinnen und Gehirn konstruiert bekommen.) Ein gütiges Schicksal hat unserem Kobold Buntpapier und eine Schere verschafft. Vor lauter Langeweile ist er auf ein Spiel verfallen: Er schneidet aus dem Buntpapier Figuren derart aus, dass er sie möglichst passend zwischen die Konturen auf die Kugelinnenseite kleben kann. Dabei verfolgt er zwei Ziele: Zum einen sollen sich die Puzzleteile gut an die Konturen der Realität anformen, zum anderen sollen sie aber auch untereinander lückenlos zueinander passen und auch noch ein schönes Muster ergeben. (Diese Puzzlesteine stehen für die von uns bewusst konstruierten Bausteine unserer begrifflichen Erkenntnis, für Konzepte, Modelle und Theorien.) In diesem Bild deutet sich auch an, wie wir vor dem inzwischen erarbeite-

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ten Hintergrund Wahrheit definieren könnten. Es dürfte klar geworden sein: Eine »absolute« Wahrheit im Sinne einer vollständigen Übereinstimmung von Erkenntnis und Realität kann es nicht geben. Und selbst wenn es sie gäbe, wir hätten keine Möglichkeit ihr Vorliegen festzustellen, weil uns die Realität als solche nicht zugänglich ist. Die einzige »Wahrheit«, die wir uns erarbeiten können, ist eine relative Wahrheit im Sinne von Hypothesen, die mehr oder weniger plausibel, logisch stimmig und praktisch nützlich sind. Und auch zur Feststellung dieser relativen Wahrheit gibt es kein einzelnes und absolutes Kriterium. Die relative Gültigkeit jedes komplexeren Erkenntnisproduktes wird zumeist im Lichte von vier Kriterien abgeschätzt werden müssen: – Korrespondenz: Übereinstimmung mit den uns zugänglichen Sinnesdaten. – Konsistenz: Freiheit von logischen Widersprüchen, innere Stimmigkeit und – man höre und staune – auch Schönheit. Wie anderenorts ausführlich dargestellt, haben ästhetische Empfindungen tatsächlich eine wichtige Leitfunktion beim kreativen Denken – wir nennen sie hier »Intuitionen« (Hansch, 1997, 2004, 2009). – Nützlichkeit: erfolgreiche Nutzbarkeit zur Lösung innerer oder äußerer Probleme. – Konsens: Je mehr Menschen unabhängig voneinander zu gleichen Beobachtungen, Empfindungen und Denkresultaten kommen, je mehr Menschen bei der Einschätzung komplexer Sachverhalte zu sehr ähnlichen Urteilen finden, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass diesen Resultaten etwas zugrunde liegt, das von allgemeiner Verbreitung und Bedeutung ist, das allgemeinmenschlichen Grundlagen aufruht. Natürlich werden diese vier Kriterien in Abhängigkeit von Art und Komplexität des Erkenntnisproduktes jeweils ein unterschiedliches Gewicht haben. Bei der Beurteilung einer physikalischen Theorie stünden sicher die Kriterien eins und zwei im Vordergrund. Hätten wir ein neues Arzneimittel zu prüfen, würden wir uns in erster Linie auf Kriterium drei stützen, nach dem Motto: Was heilt, ist wahr. Bei der Bewertung eines psychotherapeutischen Konzeptes hätten die Kriterien zwei und drei vorrangige Geltung. Je mehr Menschen all dies reproduzieren könnten, desto höher wäre der Geltungsgrad. Und der »Wahrheitsgehalt« von Kunstwerken schließlich unterläge dann fast ausschließlich den Kriterien zwei und vier. Prinzipiell können diese Kriterien auch für den Geltungsgrad hochkomplexer Kultur- und Erkenntnisprodukte wie Weltbilder und Religionen in Anschlag gebracht werden. Welt- und Menschenbilder müssen mit den feststellbaren Tatsachen übereinstimmen oder dürfen ihnen zumindest nicht widersprechen. Sie müssen logisch in sich widerspruchsfrei sein. Sie sollten die relevanten Gegebenheiten der Welt, des Menschen und des Lebens in einen sinnstiftenden, prägnanten und schönen Gesamtzusammenhang stellen. Sie sollten für große Men-

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schengruppen nachvollziehbar und überzeugend, das heißt konsensfähig sein. Und schließlich hätte ihnen Nützlichkeit zuzukommen in folgendem Sinne: Sie sollten das Gedeihen des Einzelnen und des Gemeinwesens maximal fördern. Sie sollten einen Rahmen bilden, in dem eine möglichst große Zahl von Menschen ihre allgemeinmenschlichen, spezifisch-individuellen und sozialen Potenziale maximal entwickeln kann. Hierzu gehören: Gesundheit, Glück, gelingende Lebensprojekte, Entwickeln und differenziertes Genießen komplexer kultureller Werke, Fortschritt in Wissenschaft und ökologisch verträglicher Technik und Technologie, ein Maximum an Tiefe und Breite des Verstehens, Weisheit, Spiritualität und Liebe zum Sein, Mitmenschlichkeit, gegenseitiges Verstehen, Solidarität und Liebe in menschlichen Beziehungen, gelingendes, wechselseitig bereicherndes Zusammenwirken auf verschiedenen Ebenen – von der Familie über Unternehmen bis hin zu gesellschaftlichen Organisationen, Beiträge zur Rettung der Ökosphäre und der Artenvielfalt, Absicherung und Verbreiterung der Existenzgrundlagen des Menschen in Raum und Zeit. Im Grunde ist dies das Wahrheitskonzept der Lessing’schen Ringparabel, ein an Weisheit und Schönheit kaum zu überbietendes Zeugnis der Aufklärung – wir werden darauf zurückkommen. Natürlich ist all dies schwer zu objektivieren oder gar zu messen. Gleichwohl besteht eine Chance, dass unter bestimmten, gleich zu benennenden Bedingungen die Evolution einer Kultur in bestimmte ausgezeichnete Zustände strebt, die bestimmten Kombinationsmustern der genannten Kriterien entsprechen. Und käme dann noch ein friedlicher Wettbewerb verschiedener Kulturen hinzu, könnte sich die Menschheit vielleicht sogar einigen wenigen optimumnahen Regelsystemen des Lebens und Zusammenlebens annähern. In diesen Kultursystemen würde sich dann so etwas wie die »Wahrheit der Conditio humana« niederschlagen. In Teilbereichen gibt es solche Prozesse ja bereits, man denke an die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen oder an das Projekt Weltethos, das von dem Tübinger Theologen Hans Küng initiiert wurde. Das mag alles langwierig, kompliziert und von Rückschlägen begleitet sein – aber es ist auch nicht so, dass gar nichts Greifbares dabei herauskäme. Prinzipien wie die folgenden scheinen sehr weit verbreitet und potenziell konsensfähig: Gewaltlosigkeit, Solidarität, Toleranz, Freiheit, Gleichheit und Gleichberechtigung sowie das Prinzip der Gegenseitigkeit (Goldene Regel: »Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu.« Oder in den Worten Kants: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.«). Ein Teil dieser und weiterer Prinzipien und Regeln beruhen auf angeborenen Dispositionen. So ist zum Beispiel eine grundlegende Neigung zu Gegenseitigkeit (»Reziprozität«) angeboren – entsprechend findet man sie schon im Verhalten höherer Tiere (»reziproker Altruismus«). Was sind nun Voraussetzungen oder zumindest förderliche Bedingungen für die Formierung gelingender Kulturgemeinschaften – für die Formierung von Kulturgemeinschaften, in denen Menschen sich aufgehoben und geborgen füh-

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len, die Sinn und Orientierung vermitteln, die wechselseitiges Verstehen und konsensuelles Handeln ermöglichen, in denen Weltbilder und Normensysteme fortentwickelt werden, mit der sich eine Mehrheit identifizieren kann und die in Teilen von Minderheiten zumindest toleriert werden können? 1. Ein Satz gemeinsamer Gene: Dies stellt sicher, dass die Gehirne der Menschen in ihrem Grundbauplan sehr ähnlich sind. Nur auf dieser Grundlage können sich auch die psychischen Grundfunktionen so ähneln, dass wechselseitiges Verstehen möglich wird. Warum ich diesen Punkt erwähne? Weil dies ein kaum genannter, aber wichtiger Grund dafür ist, dass Veränderungen des genetischen Bauplans tabu sein müssen – wir werden darauf zurückkommen. 2. Ein Satz gemeinsamer Meme (»Kultur-DNA«): Jede Kultur muss sich explizit in einem Konsensbildungsprozess auf ein Weltbild, einen Kulturkanon und grundlegende Werte und Normen einigen. Dies ist – nicht als Dogma, sonderen als Vorschlag in Entwicklung – allen Schülern in der Schule zu vermitteln. Nur wenn die Entwicklungswege der Menschen ein Minimum an gemeinsamen Startpunkten haben, besteht eine Chance, dass sie in unserer zersplitternden Welt miteinander im Gespräch und kooperationsfähig bleiben können. 3. Die Vermittlung persönlicher Meisterschaft in den Schulen: Nur so kann in ausreichendem Maße ein souveräner Umgang mit dem Primaten-Ego und dem Guckloch-Problem eingeübt und Kommunikationskompetenz erworben werden. Nur so können die Menschen ausreichend Autonomie und Urteilskraft erlangen, damit die Mechanismen der Kollektivintelligenz greifen. 4. Ausbau bestehender und Entwicklung neuer auch institutionalisierter Kulturtechniken des Diskurses und der Konsensfindung unter Nutzung der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien: Dies gilt für den Austausch innerhalb einer Kultur, aber auch für den Austausch zwischen den Kulturen. So wird Kulturevolution zu einem Sedimentationsprozess des überindividuell Gültigen, das dem Individuellen in zirkulären Prozessen dann immer wieder als Grundlage dient, sich weiter hinaufzusteigern. In diesem weiten Sinne von Wahrheit gibt es ganz sicher auch eine Wahrheit der Kultur. Und natürlich ist die Fähigkeit einer Kultur, diese Wahrheit zur Auskristallisation zu bringen, ein zentraler Aspekt ihrer allgemeinen Gesundung. Deshalb gibt es breite Überschneidungen zu unseren drei Hebelmaßnahmen zur Rettung unserer Kultur. Also: Weder ist etwas absolut noch ist alles gleich gültig. Es gibt dazwischen eine bestimmte Zahl relativer Optima, denen wir uns annähern können, wenn wir systematisch gemeinsam suchen und uns dabei gut organisieren. Wir dürfen diese Hoffnung und diesen Anspruch niemals aufgeben. Jetzt ist es an der Zeit, die Wissenschaften daraufhin abzuklopfen, was sie zu diesem Projekt beitragen könnten.

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2.5 Von den zwei Kulturen des Charles Percy Snow zur Dritten Kultur Wissenschaft versucht, die Tatsachen unserer Erfahrung zu ordnen, zu systematisieren und über Begriffe in sinnvolle Zusammenhänge zu bringen. Es gibt äußerlich-praktische Zwecke: den Lauf der Dinge manipulieren und prognostizieren. Es gibt innerlich-ästhetische Zwecke: die Schaffung einer inneren Ordnung, die das Gefühl von Verstehen und Sicherheit vermittelt. Die ersten Formen von Wissenschaft gingen von den Erfahrungstatsachen des Alltags aus und hatten ihren Schwerpunkt in der Arbeit an und mit Begriffen: die vorfindlichen inneren oder äußeren Tatsachen beschreiben und kategorisieren; sie noch einmal feiner und trennschärfer fassen, als die Vorgänger es getan hatten; interpretieren, deuten und über mögliche Zusammenhänge spekulieren; und nicht selten: sich allmählich in abgehobenen, begrifflichen Scheinwelten verlieren und spitzfindige Kontroversen über Scheinprobleme ausfechten (»Was war zuerst da – die Henne oder das Ei?«). Die antike Philosophie weitete sich in diesem Zuge zu dem, was wir heute die Geisteswissenschaften nennen: Philosophie, Theologie, Rechtswissenschaft, Sprachwissenschaften oder Geschichtswissenschaft. Fächer wie Soziologie, Politologie oder Ökonomie werden oft als Sozialwissenschaften gesondert abgegrenzt. Die Psychologie gilt einmal als Geistes- und einmal als Naturwissenschaft. Auch Schubladen mit den Schildern Kulturwissenschaften und Humanwissenschaften wurden eingerichtet. Durch Galileo Galilei war im 16. Jahrhundert eine neue Art, Wissenschaft zu betreiben, nachhaltig eingeführt worden: das quantitative Experiment. Hier werden Arrangements ersonnen, in denen man unter Kontrolle aller sonstigen Bedingungen Einzelfaktoren variieren kann, um aus den Wirkungen auf Kausalbeziehungen zu schließen. Diese werden dann zu Modellen vereinigt und nach Möglichkeit mathematisch formuliert. Hieraus gingen die Naturwissenschaften hervor: unter anderem Physik, Chemie, Biologie. Im Gegensatz zu den Geisteswissenschaften gibt es hier keine Begriffs-, Konzept- und Modellbildungen, die nicht in sehr direktem Zusammenhang zu experimentellen oder anderen Beobachtungstatsachen stehen. Alles, was hier behauptet wird, muss in irgendeiner Weise einer Prüfung auf Gültigkeit zugänglich sein. Aussagen oder Theorien, die nicht zumindest widerlegbar sind, gelten in diesem Kontext nicht als Wissenschaft. Im Anschluss an einen berühmten Aufsatz des britischen Wissenschaftstheoretikers Charles Percy Snow aus dem Jahre 1959 hat es sich vor diesem Hintergrund eingebürgert, von zwei unterschiedlichen und schwer vereinbaren Kulturen zu sprechen: von der geisteswissenschaftlich-literarischen Kultur und der naturwissenschaftlichen Kultur. Und immer noch gibt es zwischen beiden Lagern Animositäten: Die Geisteswissenschaftler meinen, dass man das wirklich Wichtige nicht messen und zählen könne, und sind stolz darauf, über die Grundrechenarten hinaus des Mathematischen unkundig zu sein. Und die Naturwis-

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senschaftler hören sich das spekulative Geschwafel der Geisteswissenschaftler gar nicht erst an. Aus den Naturwissenschaften ist dann eine Denktradition erwachsen, die man als die Systemwissenschaften bezeichnen könnte: Kybernetik, Synergetik, Selbstorganisations- und Evolutionstheorie, Chaostheorie, Ökosystemforschung, um einige wichtige Stichworte zu nennen. Diese Ansätze schlagen Brücken zwischen den beiden klassischen Kulturen: Wie am Buchanfang schon umrissen, gelten etwa grundlegende Prinzipien der Evolution sowohl im naturwissenschaftlichen Bereich als auch im geisteswissenschaftlichen Bereich. Immer mehr ehemals genuin geisteswissenschafliche Probleme werden durch diese gewissermaßen von unten heraufwachsenden systemwissenschaftlichen Ansätze erfolgreich bearbeitet. Jüngst wird sogar in der Germanistik versucht, die Evolutionspsychologie als Grundlage heranzuziehen. So beginnt sich die Kluft zwischen den Kulturen allmählich zu schließen – der amerikanische Wissenschaftspublizist John Brockman (1996) und andere sprechen bereits von einer Dritten Kultur. Ich schließe mich dieser Sichtweise an und würde mich freuen, wenn meine eigenen Arbeiten auch die Ehre fänden, hier eingeordnet zu werden. Ganz generell muss man sich klar machen: In jeder Zeit gibt es drei Klassen wissenschaftlicher Probleme. Zum Ersten Probleme, die mit den Mitteln der Zeit lösbar sind: So waren im 17. Jahrhundert die Fernrohrtechnik und die Mathematik so weit gediehen, dass Isaak Newton das Rätsel der Himmelsmechanik lösen konnte. Zum Zweiten gibt es Probleme, die mit den Mitteln der Zeit noch nicht lösbar sind: An einen Atomreaktor zum Beispiel war zu Zeiten Newtons noch nicht zu denken. Und schließlich gibt es drittens (wissenschaftliche) Probleme, die für den Menschen prinzipiell nicht lösbar sind, zu keiner Zeit und unter keinen Umständen. Jedem von uns ist klar, dass ein Frosch niemals die Erkenntnis- und Manipulationsmittel hätte, um an eine von der Decke hängende Banane zu gelangen. Der Schimpanse dagegen kann das: Er baut einen Turm aus Kisten und steigt darauf. Aber natürlich ist uns allen klar, dass der Schimpanse niemals und unter keinen Umständen die Relativitätstheorie begreifen kann. Und welche Hybris müsste uns reiten, wenn wir nicht einräumten: In ähnlicher Weise muss es auch für uns Menschen Probleme geben, die weit jenseits unseres Begriffsvermögens liegen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass einige der berühmten IgnoramusIgnorabimus-Probleme des Emil Du Bois-Reymond dazu gehören: das Problem des Bewusstseins, der Willensfreiheit oder das Leib-Seele-Problem. Natürlich gibt es zwischen den genannten drei Problemklassen alle Formen von Zwischenstufen – wir werden gleich einige konkrete Beispiele besprechen.

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2.6 Die Naturwissenschaften Immer noch sind die Wissenschaftsseiten der großen Tageszeitungen mit irgendetwas bedruckt. Immer noch gibt es Wissenschaftler, die Riesenversprechungen machen: von der Heilung aller Krankheiten per Gentherapie bis zum Gedankenlesen mit MRT. Immer noch werden solche Themen von den Wissenschaftsjournalisten aufgeblasen. Natürlich: Im Zeitalter der Aufmerksamkeitsökonomie müssen die Wissenschaftler Schaum schlagen, um Geldgeber zu beeindrucken, und die Chancen auf Medienpopularität sind allzu verführerisch. Und die Journalisten brauchen den bunten Schaum, um ihre Auflagen und Quoten zu steigern. So kann dem etwas oberflächlichen Betrachter leicht verborgen bleiben, dass die hier ausgestellten Schecks auf die Zukunft immer öfter ungedeckt sind. Seit vielen Jahren bewegen sich immer mehr Wissenschaftsdisziplinen im oberen, abflachenden Bereich ihrer Sigmakurve, im Bereich sinkender Grenzerträge: Große Fortschritte werden immer seltener und immer teurer. »Die Geschwindigkeit des wissenschaftlichen Fortschritts verlangsamt sich ganz zweifellos«, sagt etwa der Physik-Nobelpreisträger Sheldon Glashow. Oder sein Nobel-Kollege Leo Kadanoff: »Die Wahrheit ist, dass es keine wissenschaftliche Errungenschaft gegeben hat, deren Tragweite mit der Quantenmechanik, der Relativitätstheorie oder der DNA-Doppelhelix vergleichbar gewesen wäre. In den letzten Jahrzehnten ist nichts dergleichen geschehen« (zit. n. Horgan, 2000, S. 52 u. 107). Wo liegen im Bereich der Naturwissenschaften und insbesondere der Physik die Ursachen dafür? Nun, zunächst einmal ist klar, dass man grundlegende Entdeckungen nur einmal machen kann. Irgendwann ist alles registriert, was in den uns gut zugänglichen Räumen des Mesokosmos so herumsteht. Sodann scheint vielen wissenschaftlichen Konzepten ein selbstbegrenzendes Moment innezuwohnen, immer öfter sind es Unmöglichkeiten, die von der Wissenschaft entdeckt werden: Die Logik führte über das Unvollständigkeitstheorem des Kurt Gödel zu der Erkenntnis, dass alle widerspruchsfreien logischen Systeme Aussagen enthalten, von denen man prinzipiell nicht sagen kann, ob sie richtig oder falsch sind. Einsteins Relativitätstheorie zeigt, dass der Geschwindigkeit des Informationsaustauschs mit der Lichtgeschwindigkeit Grenzen gesetzt sind. Die Quantentheorie führt den allwissenden Laplace’schen Dämon ad absurdum: Niemals kann man Ort und Geschwindigkeit aller Teilchen des Universums zu einem bestimmten Zeitpunkt wissen. Und schließlich zeigte die Chaostheorie, dass der Vorausberechenbarkeit komplexer Entwicklungsprozesse prinzipiell enge Grenzen gesetzt sind. Letzteres hat für die Thematik unseres Buches eine besondere Brisanz und wir werden ausführlicher darauf zurückkommen müssen. Wie die Muskeln der Olympioniken unterliegen auch die menschlichen Gehirne in ihrer Leistungsfähigkeit organischen Grenzen. Die Integration formaler Theoriesysteme, etwa der Relativitätstheorie und der Quantentheorie, ist ein

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singulärer mentaler Kraftakt (Gedankenblitz, Aha-Erlebnis). Man kann ihn nicht kumulativ erbringen wie die Kartierung des menschlichen Genoms. Je komplexer die zu integrierenden Teiltheorien werden, desto unwahrscheinlicher wird es, dass sich ein menschliches Gehirn findet, das fähig ist, den nächsten Integrationsschritt zu vollziehen. Und sollten diesen Schritt nicht genügend andere Gehirne zumindest nachvollziehen können, droht die Psychiatrie. Da ist es ganz wie mit den Weltrekorden im Sport: Irgendwann ist einfach Schluss. Aus prinzipiellen Gründen ist Wissenschaft nicht in der Lage, letzte Welterklärungen zu liefern. Unser Kobold kann nicht heraus aus seiner Milchglaskugel. Zudem könnte es sein, dass die Sehnsucht der Physiker nach Sachen wie einer Weltformel oder einer Grand Unified Theory mehr über die Natur des Kobolds aussagt als über die Realität hinter dem Milchglas. Bisher jedenfalls stellen sich kosmologischen Letzttheorien wie der Superstringtheorie unüberwindliche theoretische und praktische Schwierigkeiten in den Weg. Unser Sinn für Einfachheit, Symmetrie und Schönheit hilft uns wie eine Krücke in bestimmten Nischen des Universums voran, aber es spiegelt möglicherweise nicht das Wesen des äußeren Universums wider. Die Prinzipien unserer inneren Benutzeroberfläche und die Prinzipien der äußeren Realität sind wahrscheinlich höchstgradig inkommensurabel. Die Intensität unseres Gefühls, dass es eine einfache und schöne Letzterklärung geben müsse, korreliert in keinster Weise mit der Wahrscheinlichkeit einer realen Entsprechung. Der englische Biologe John B. S. Haldane bemerkte einmal: »Das Universum ist nicht nur seltsamer, als wir uns vorstellen, sondern sogar seltsamer, als wir uns vorstellen können.« Nun, ich fürchte, es ist viel, viel seltsamer, als wir uns auch nur entfernt vorstellen können. Und schließlich ist Wissenschaft ein Unternehmen, das unlöslich hineinverwoben ist in die Gesamtentwicklung der Gesellschaft. Drei Ebenen seien hier kurz angesprochen. – Zum Ersten wird Grundlagenforschung immer teurer, Geldgeber sind immer mehr an kurzfristigem Nutzen interessiert und aus vielerlei berechtigten und unberechtigten Gründen sinkt das Ansehen der Wissenschaft in der Bevölkerung. Hieraus erwächst eine Tendenz der Mittelkürzung. Ein einschneidendes Jahr war hier sicher 1993, als in den USA die Gelder für zwei Großprojekte der Grundlagenforschung gestrichen wurden: für den Superconducting Supercollider (ein gigantischer Teilchenbeschleuniger) und für das SETI-Programm der NASA (die Suche nach Radiosignalen von außerirdischer Intelligenz). Kurz, wissenschaftlicher Fortschritt verlangsamt sich, weil die Gesellschaft immer weniger bereit ist, die wachsenden Kosten dafür zu tragen. – Zum Zweiten wirken sich natürlich die gesamtkulturellen Trends auch im Wissenschaftsbetrieb aus: wachsende Konkurrenz bis zur existenziellen Gefährdung, Überhitzung, Bürokratisierung, Aufmerksamkeitsökonomie und Spektakelkultur sowie Verfall von Standards und Normen. Die spielerische Entfaltung ausschließlich sachbezogener wissenschaftlicher Kreativität im

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entspannten Feld ist heute nur noch in wenigen Nischen möglich. In weiten Bereichen greift eine resigniert-ironische Als-ob-Wissenschaft um sich, der es zuvorderst um persönliche Profilierung und Geld geht, nicht selten im Kampf um die nackte Existenz. Auf der Sachebene wird immer öfter geschludert bis hin zu bewusstem Betrug. – Und drittens schließlich kumulieren die Schäden und Probleme, die sich aus dem Verbund unreflektiert eingesetzter Technik im Verbund mit aus dem Ruder laufenden sozialen Prozessen ergeben. Der Druck auf die Wissenschaft, ihre Ressourcen für Feuerwehr- und Reparaturaufträge einzusetzen, wird immer größer: Wie kann man das Ozonloch schließen oder das CO2 extrahieren? Wie kann man sicher Atommüll entsorgen oder umweltverträgliche Antriebe für Autos entwickeln? Es wird vermutlich nicht zu umgehen sein, dass sich die Wissenschaft Aufgaben dieser Art in Zukunft noch stärker annimmt als bisher. Im Sinne des Prinzips der Hebelwirkung könnte es zum Beispiel sinnvoll sein, nationale und internationale Forschung noch mehr auf zentrale Überlebensprobleme zu fokussieren und kooperativ zu bündeln, beispielsweise auf eine umweltschonende und unerschöpfliche Energiegewinnung per kontrollierter Kernfusion.

2.7 Medizin und Biowissenschaften Naturwissenschaften wie die Physik oder die Chemie beschäftigen sich mit Prozessen der sehr langsam evolvierenden Ebenen unseres Universums (Kosmogenese). Es gelingt ihnen deshalb gut, Regularitäten und Gesetze aufzufinden, die gemessen an menschlichen Zeitmaßstäben unveränderlich und stabil sind. Die Möglichkeiten für Reproduzierbarkeit, Manipulierbarkeit und Prognostizierbarkeit der Prozesse sind deshalb hier am größten. Medizin und Biowissenschaften erfassen dagegen Ebenen unseres Universums, deren Evolution auf sehr viel kleineren Raum-Zeit-Skalen abläuft (Phylogenese, Ontogenese, Akualgenese sowie ökosystemische und soziale Prozesse). Wir finden hier eine Mischung aus relativ stabilen Ebenen, wie den Strukturen des Körperbaus der Organismen, mit Ebenen, auf denen hochkomplexe und schnell veränderliche Prozesse ablaufen: Stoffwechselvorgänge, Erregungsmuster in Gehirn und Nervensystem oder Veränderungen in der Artenverteilung im Ökosystem. Für komplexe dynamische Prozesse dieser Art sind die Möglichkeiten von Reproduzierbarkeit, Manipulierbarkeit und Prognostizierbarkeit drastisch eingeschränkt. Wie die Chaostheorie zeigt, gibt es hier prinzipielle Grenzen, die auch mit Mathematik und Computer nicht überwindbar sind. Das schmale Fenster des menschlichen Bewusstseins ist hier mit einer überbordenden Komplexität konfrontiert, die es nicht bewältigen kann. Zu den genannten Grenzen des wissenschaftlichen Fortschritts tritt nun eine weitere, die

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Komplexitätsbarriere. Niemals werden wir die Prozesse der genetischen Regulation, des Immunsystems oder des Nervensystems vollständig verstehen. So zeigt sich für Erfolge und Fortschritte der Medizin ein gemischtes Bild: Dort, wo sich die Komplexität von Krankheitsprozessen in einfachen mechanischen Problemen niederschlägt oder so weit bündelt, dass man sie umgreifen kann, sind durchschlagende Erfolge möglich: Die Stoffwechselkomplexität, die letztursächlich zur Gallensteinbildung führt, kann niemand verstehen oder nachhaltig positiv beeinflussen – aber den Gallenstein mit einem Endoskop herausholen, wenn er einen Gang verschließt, das kann man. Die Krebsentstehung kann niemand verhindern, aber den Tumor herausschneiden, das ist möglich. Die Entstehung der Zuckerkrankheit zu verhindern, gelingt nicht, aber das Insulinmolekül zu ersetzen, ist möglich. Die Arthrose aufzuhalten, scheitert, aber ein künstliches Gelenk kann man einbauen. In viele Bereichen führt diese gemischte Situation zu sehr gemischten Forschungsergebnissen: Es ist sehr schwierig, die überbordende Vielfalt aller beteiligten Faktoren wissenschaftlich unter Kontrolle zu halten. Hinzu kommen viele verzerrende Störeinflüsse, zum Beispiel kommerzielle Interessen, und Einschränkungen, zum Beispiel ethischer Natur. Die Ergebnisse von Studien und Heilversuchen sind deshalb oft sehr widersprüchlich. Nicht selten werden sie im Abstand von Jahren revidiert und wieder bestätigt. Erst ist Kaffee ungesund, weil er den Blutdruck steigert, dann ist er gesund, weil er dem Krebs vorbeugt. Erst ist jegliches Übergewicht lebensverkürzend, dann ist leichtes Übergewicht lebensverlängernd. Jahrelang werden Antidepressiva in den Himmel gelobt, dann zeigen Studien, dass ihre Wirksamkeit kaum über der von Placebo liegt. Hektik, Schluderei und Betrug sind verbreitet. Viele diagnostische oder therapeutische Maßnahmen sind in den letzten Jahren übereilt eingeführt worden und mussten dann modifiziert oder zurückgenommen werden, weil sie schweren Schaden angerichtet hatten. Immer öfter erliegt der medizinisch-industrielle Komplex aus wirtschaftlichem Interesse der Versuchung, harmlose Normabweichungen oder Befindlichkeitsstörungen zu Krankheiten aufzubauschen und dadurch dann erst wirklich Leiden bei den Menschen zu erzeugen. Aufs Ganze gesehen, hat sich auch der medizinische Fortschritt verlangsamt und bewegt sich im Bereich sinkender Grenzerträge. Die letzten fundamentalen Neuerungen wie die Einführung der Narkose oder der Antibiotika liegen Jahrzehnte zurück. Im Bereich chronischer Alterserkrankungen wie Krebs, Atherosklerose oder rheumatische Erkrankungen gibt es seit Jahrzehnten nur Klein- und Kleinstfortschritte (die natürlich für die Betroffenen wichtig sind). Die Medizin ist ein klassischer Bereich, in dem das Pareto-Prinzip gilt: 20 Prozent aller medizinischen Probleme kann man gut lösen, 80 Prozent gar nicht oder nur schlecht. 20 Prozent aller medizinischen Maßnahmen haben eine hohe Wirkung, 80 Prozent bringen nicht viel oder schaden gar. Vor dem Hintergrund einstmals vollmundiger Versprechungen, dass im Jahre 2000 das Krebsproblem gelöst sein würde, muss man auch die Versprechungen

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von Gentechnik und Gentherapie sehr skeptisch sehen. Wieder wird die Komplexitätsbarriere extrem unterschätzt und vielfach wird gar nicht verstanden, worum es geht. So kann man sogar im Brockhaus in Bezug auf das Humangenomprojekt Dinge lesen wie »Ziel war es, den biologischen Bauplan des Menschen, sein Erbgut oder Genom, systematisch und vollständig zu entschlüsseln«. Nun, das Genom enthält überhaupt keinen Bauplan. Die Metapher Bauplan suggeriert: Aufbau, Platz und Funktion einer jeden Körperzelle des Organismus werden exakt beschrieben. Aber hiervon ist das, was im Genom steckt, abgrundtief wesensverschieden. Das Genom enthält nur die Startbedingungen für den Prozess, in dem diese Information erst erzeugt wird. Dieser Prozess heißt Morphogenese und nutzt die schöpferische Kraft der Selbstorganisation (etwas genauer in Hansch, 2004). Der Unterschied entspricht etwa dem zwischen einem Tonfilm, der eine bestimmte Reise vollständig dokumentiert, und dem kurzen Ausdruck eines Routenplaners (»B 28 bis Ulm, dann auf B 10 Richtung Stuttgart«). Und die Morphogenese ist nun eben wieder ein extrem komplexer Prozess, in dem die meisten gesunden und kranken Körpermerkmale von vielen Genen im Zusammenwirken abhängig sind und von einer Vielzahl weiterer Randbedingungen, die quasi erst unterwegs entstehen. Deshalb ist zu erwarten, dass die Gentherapie nur bei jener relativ kleinen Zahl von Krankheiten eine Chance auf durchschlagende Erfolge hat, die von einem oder ganz wenigen Genen abhängen. Von zentraler Bedeutung ist: allenfalls Reparaturmaßnahmen in Bezug auf eindeutige Defekte zulassen, Hände weg von allen Versuchen, den »Bauplan« des Menschen zu verbessern. Wie schon gesagt, funktioniert das Genom und die daraus folgende Morphogenese als System: Vieles hängt mit vielem zusammen und beeinflusst sich wechselseitig. Schon ein Versuch, die Muskelkraft zu steigern, könnte als »Nebenwirkung« zu Veränderungen im Bauplan des Gehirns und damit der psychischen Funktionen führen. Wie geschildert, würde das die Möglichkeiten von Kommunikation und Verstehen untergraben. Wenn die Menschheit damit begänne, in Subgruppen mit unterschiedlich aufgebauten oder getunten Gehirnen zu zerfallen, wäre alles zu spät. Das wäre, als würden Computer mit verschiedenen Betriebssystemen versuchen, ein Netzwerk zu bilden. Im Übrigen wäre es auch ethisch unvertretbar: Niemand wüsste beim Herumexperimentieren mit dem cerebralen Genom, ob er nicht ungewollt und unbemerkt Wesen erschafft, die unsäglich leiden, das aber nicht zu kommunizieren vermögen (analog zum Locked-in-Syndrom). Und schon bei scheinbar harmlosen Varianten wäre Vorsicht geboten. Würden Sie eine Pille nehmen, die vorgibt, Ihr Gedächtnis zu verbessern? Ich würde eine solche Pille nicht nehmen, obwohl ich mein schlechtes Gedächtnis für Details schon oft verflucht habe. Ich glaube, dass ich ein gewisses Talent habe, Muster und Zusammenhänge zu sehen. Würde diese Fähigkeit nicht womöglich durch ein schärferes Gedächnis für Details beeinträchtigt? Würde ich vor lauter Bäumen den Wald dann nicht mehr erkennen? Mir wäre dieses Experiment zu riskant.

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Und die Unsterblichkeitspille? Würden Sie die gern einwerfen? Ich kann uns allen nur wünschen, dass es sie nie geben wird. Ganz abgesehen davon, dass das den Motor der Evolution anhalten würde – es hätte wohl schlimme Konsequenzen für die psychische Gesundheit. Für mich selbst würde ich fürchten, nie mehr aus dem Bett zu kommen. Erstens hätte ich ja für alles unendlich viel Zeit, und zweitens hätte ich unendlich viel Angst, weil ich ja nun auf einmal unendlich viel zu verlieren hätte. Aus jeder Autofahrt und jeder Grippe würde nun ein unendliches und uneingehbares Risiko erwachsen – hätte man früher ein paar Jahrzehnte zu verlieren gehabt, wären es nun ein paar Jahrmillionen. Im Übrigen wird jede Gestalt erst zur guten Gestalt, wenn sie sich schließt. Also: Hände weg von riskanten, überflüssigen Spielereien. Aufs Ganze gesehen müssen wir sagen: Alle wissenschaftlichen, technischen und technologischen Fortschritte werden an der grundsätzlichen Pareto-Situation in der Medizin nichts ändern. Immer werden circa 80 Prozent der Probleme nur schlecht lösbar sein, immer werden circa 80 Prozent allen ärztlichen Bemühens ins Leere laufen. Möglicherweise werden die Erfolge durch neue Gefahren aufgewogen, je tiefer wir in die Komplexität bioökologischer Systeme eingreifen – man denke nur an multiresistente und extrem aggressive Krankheitserreger, die durch Antibiotika-Missbrauch gezüchtet werden, die uns aus gentechnischen Militärlaboren anspringen oder per Xenotransplantation von anderen Arten zu uns einwandern. Wo lägen die Hauptpotenziale für künftige Fortschritte? Wohl vor allem dort, wo die sicher noch erheblichen Fortschritte der Medizintechnik an jenen Stellen angreifen können, an denen sich die Komplexität von Krankheitsprozessen zu einfachen Problemen bündelt. Und im Bereich der Forschungsorganisation: Großforschung mit mehr nationaler und internationaler Koordination und Zusammenarbeit. Eine Studie mit zehntausend Probanden ist viel aussagekräftiger als tausend Studien mit zehn Probanden. Das allergrößte Potenzial liegt aber an ganz anderer Stelle, es liegt im Bereich der drei in Kapitel 2.2 skizzierten psychosozialen Hebelmaßnahmen, ob Sie es nun glauben oder nicht. In unserem Schulfach »Persönliche Meisterschaft« würde es auch um Themen wie Gesundheitsmanagement, Sport und gesunde Ernährung gehen. Und auch alle sonstigen Inhalte würden die psychosomatische Stabilität steigern. Die anderen beiden Maßnahmen trügen zum Aufbau eines positiven Sinn-Verheißungs-Feldes bei und würden die Kultur insgesamt gesunden lassen. Dies würde quasi nebenbei die gesundheitliche Situation der Menschen um Dimensionen mehr verbessern, als jede Reparatur-Medizin nach heutigem Zuschnitt es könnte, selbst bei unbegrenzten Ressourcen. Kein grundlegend neuer Gedanke? Weiß Gott nicht.

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2.8 Die Zukunft der Technologien Im Bereich der mehr naturwissenschaftlich-technischen Technologien sind die Komplexitätsbarrieren deutlich niedriger als im Bereich Medizin und Biowissenschaften. Entsprechend ist hier auch weiterhin mit Fortschritt zu rechnen und wahrscheinlich punktuell auch noch mit »dramatischen Durchbrüchen«. Hier die Technologiefelder, die von Experten als besonders zukunftsträchtig eingestuft werden: Informations- und Kommunikationstechnologien, Biotechnologien, Nanotechnologien, Neurotechnologien, Energie- und Umwelttechnologien. Folgende grundlegende Trends sind erkennbar bzw. werden prognostiziert: Miniaturisierung und Dematerialisierung, steigende Komplexität technischer Systeme, zunehmende Durchdringung von technischen Systemen mit Informations- und Kommunikationstechnologien, zunehmende Verschränkung von Biologischem und Technischem, zunehmende Integration aller Technologien. Auf wichtige Aspekte der Informationstechnologien werde ich gleich noch eingehen. Für alle anderen Bereiche mögen diese überwiegend als bekannt vorauszusetzenden Stichworte genügen (ausführliche Darstellung z. B. Steinmüller, 2006). Für all diese Bereiche gilt: Sie werden auf vielen Ebenen Erleichterungen und Komfortsteigerungen bringen. Vor allem wäre zu hoffen, dass sie zu umwelt- und ressourcenschonenden Produktions- und Lebensweisen beitragen. Aber: Für unsere Selbstverwirklichung, für ein glückliches und erfülltes Leben, für das Ausschöpfen, Steigern und Erweitern der menschlichen Erlebnis- und Entfaltungspotenziale wird all dies keine wirklich große Bedeutung haben. Für unser Glück brauchen wir nicht nur nicht mehr Geld, wir brauchen auch nicht mehr Technologie. Technologieentwicklungen mit Relevanz für unser Wirklichkeitserleben, für unsere psychomentalen Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten sind aus meiner Sicht lediglich im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien zu erwarten. Die Rechner werden sicher noch einige Steigerungsschübe ihrer Rechengeschwindigkeit erleben. Die Speicher und Übertragungskapazitäten werden sich noch eine Zeitlang vergrößern. Dies könnte die Simulationsmöglichkeiten für komplexe Prozesse noch einmal deutlich verbessern. Vielleicht wird es unter Nutzung der Komplexitätstheorie irgendwann doch noch gelingen, wirklich brauchbare Modelle des Immunsystems, der Wirtschaft oder von Ökosystemen zu entwickeln. Großes Potenzial liegt sicher auch noch im Bereich der Schnittstellen – von der Kommunikation über Sprache bis hin zur Verbesserung der Virtual-RealityMöglichkeiten. Es wäre schon toll, wenn der Geschichtslehrer mit der Klasse einen VR-Rundgang durchs alte Rom unternehmen könnte, bei dem die Schüler mit virtuellen Römern ins Gespräch kommen könnten. Überhaupt sind die Möglichkeiten im Bereich Lern- und Trainingssoftware sicher noch längst nicht ausgeschöpft und es werden sich neue auftun. Gesonderte Erwähnung verdient hier das Thema Training von Systemkompetenz: virtuelle Erfahrungen machen im Management komplexer dynamischer Systeme.

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Dies ist insbesondere für Führungskräfte von zentraler Wichtigkeit und wir werden darauf zurückkommen. Einen Vorgeschmack hierauf bekommen etwa Nutzer des Computerspiels Sim City, die sich zum Beispiel als Bürgermeister virtueller Megastädte zu bewähren haben. Auch der bekannte Systemdenker Frederick Vester hat entsprechende Trainingssoftware entwickelt (Ecopolicy). Ein nächster zentraler Punkt ist das Informations- und Wissensmanagement: Wie kann man sicherstellen, dass jeder Mensch an jedem Ort zu jeder Zeit Zugriff auf die für ihn wirklich relevanten Informationen hat? Wichtig ist dabei vor allem die Bewertung, Organisation und Integration von Wissen, die Verbesserung der Suchprogramme und das Löschen von Informationsmüll. Das derzeitige Internet genügt einer solchen Vision sicher noch lange nicht. Und schließlich könnte in der Entwicklung und Verbesserung von Kooperationssoftware ein gewaltiges Potenzial zur Rettung der Welt liegen. Wie kann man die Kommunikation und Kooperation einer großen Zahl von Menschen in wirtschaftlichen und staatlichen Organisationen maximal effizient gestalten – bis hin zu E-Governance und E-Democracy? Auch eine geeignete Hard- und Softwarebasierung der in diesem Buch so viel beschworenen »institutionalisierten Konsensbildungsprozesse« gehört hier hinein. Und schließlich freut sich jeder von uns zu Recht auf lernfähige Assistenten und Roboter für einfache Aufgaben, angefangen beim Staubsaugen bis hin zu Informationsrecherchen im Internet. Ob es je darüber hinausgehen wird im Sinne einer wirklichen künstlichen Intelligenz, steht in den Sternen. Ähnlich der Lösung des Krebsproblems ist dies ja eines der jahrzehntealten uneingelösten Versprechen der Nachkriegs-Wissenschaftseuphorie. Und es ist durchaus die Frage, ob wir uns das überhaupt wünschen sollten. Die immense Komplexität des Gehirns mit seinen 1013 dicht vernetzten Neuronen spielt bei seiner Leistungsfähigkeit eben doch eine entscheidende Rolle und ist von technischen Informationsverarbeitungssystemen nicht im Ansatz erreicht. Die damit verbundene gewaltige Leistungslücke zeigt sich schon auf so basalen Ebenen wie der Motorik: Wir sind Lichtjahre entfernt vom Bau eines Roboters, der so schnell, geschmeidig und sicher eine Geröllhalde hinunterspringen könnte, wie jede dumme Bergziege es zuwege bringt, im Halbschlaf noch und im Halbdunkel. Darüber hinaus birgt das KI-Thema mindestens zwei schwer auflösbare Paradoxien. Zum Ersten kann ein System niemals ein vollständiges Modell seiner selbst enthalten. Anders gesagt: Wenn wir schon das Organ der natürlichen Intelligenz, unser Gehirn, nicht im Ansatz begreifen, dann würden wir auch mögliche technische Systeme ob ihrer immensen Komplexität nicht verstehen, die eine dem Menschen ähnliche oder höhere Intelligenzleistung erbringen. Zum Zweiten: Intelligenz geht nicht ohne Kreativität, und wahre Kreativität ist spontan, unberechenbar und unkontrollierbar, sie ist autonom und verfolgt eigene Ziele. Wahre künstliche Intelligenz würde sich entwickeln können müssen, sie würde nicht lange ein Werkzeug des Menschen sein wollen. Möglicherweise könnte das für uns sogar gefährlich werden. Wer weiß, ob wir nicht von

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höherer Warte aus gesehen aus dem Buch der Natur gestrichen gehören. Streichen wir besser die Künstliche Intelligenz aus der Liste der Weltrettungsthemen. Ein verwandtes Thema ist die Superintelligenz: Wenn sich Millionen von Menschen über das Internet verbinden, könnte dann nicht hieraus eine Art übergeordneter Kollektivintelligenz emergieren? Oder: Könnten wir den Wissensspeicher Internet nicht so konfigurieren, dass wir uns daran anschließen und das Ganze so ist, als würde sich unser eigenes Gedächtnis direkt erweitern? Nun, beides kann aus prinzipiellen Gründen nicht funktionieren, niemals. Das Internet und die technische Informationsspeicherung sind grenzoffene Summenphänomene. Bei Summen kann man Elemente dazutun oder wegnehmen, ohne dass sich an den anderen Elementen etwas verändert. Wenn Sie im Internet sind und tausend neue Nutzer dazukommen, merken Sie das gar nicht. Wenn bei Wikipedia ein Eintrag dazukommt, ändert das an den anderen Einträgen nichts (mit Ausnahme vielleicht einiger weniger Stellen, die für die grobmaschige Verlinkung zuständig sind). Unser Gehirn, unsere innere Wirklichkeit und unser Gedächtnis sind unendlich viel höher integriert. Sie sind keine Summen, sondern semantisch geschlossene, ganzheitliche Systeme. Jede Veränderung an einer Stelle hat kleine und koordinierte Veränderungen an fast allen anderen Stellen zur Folge (bei optischen Täuschungen z. B. sieht man, wie die Wahrnehmung einer Figur durch ihr Umfeld beeinflusst wird). Im Gehirn steht jede neuronale Gruppe mit fast allen anderen in Verbindung. Das Gehirn ist ein assoziativer Informationsspeicher, in dem alles in viele Untermerkmale zerlegt und auf allen Ebenen miteinander vernetzt wird. An welchem Faden man auch zu ziehen beginnt, man gelangt schließlich zum ganzen Muster. Diese extreme Vernetzung aller Teilmomente führt zum zirkulären Aufeinanderbezogensein aller Inhalte und damit letztlich zu jener semantischen Abgeschlossenheit unserer Wirklichkeit, die wir schon mehrfach angesprochen hatten. Und diese ganzheitlichen assoziativen Wirklichkeiten kann man nicht einfach beliebig miteinander zusammenschalten oder an technische Summenspeicher andocken. Selbst wenn das technisch möglich wäre: Es würde nur bei ganzheitlich-assoziativer Gesamtintegration Sinn machen. Und das nun würde bedeuten, dass sich bei allen alles ändert. Keiner wäre mehr derselbe, alle Beteiligten verlören ihre Identität. Der Einzelne wäre dann nur noch ein unselbständiges Teilmoment einer Megadenkmaschine. Als Dauerzustand wäre das völlig absurd und sinnlos, wir würden unseren individuellen Glücksanspruch aufgeben. Und als Übergangszustand wäre es genauso sinnlos: Was das globale Mega-Brain im integrierten Zustand gedacht, gerechnet und aufgeschrieben hätte – keiner von uns würde das nach dem Auseinanderfallen noch verstehen. Auch im Internet bleiben alle Beteiligten Gott sei Dank und auf immer Individuen, und das bedeutet, dass wir durch das kleine Guckloch kommunizieren müssen, dass wir uns nur dann manchmal verstehen, wenn wir viel kulturelle DNA teilen und dass hundert oder eine Million Leute auf diese holprige Weise nicht gleichzeitig miteinander kommunizieren können. Intelligenz im engeren

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Sinne bleibt also auf immer individuell. Wir können nur dem Individuum die Denkergebnisse anderer Individuen besser zugänglich machen (Informationsund Wissensmanagement) und nach- und nebeneinander an kollektiven Inhalten arbeiten (Kooperations- und Konsensbildungssoftware). Und das ist nur sinnvoll möglich, wenn alle Beteiligten über eine gemeinsame Basis an geteiltem Wissen verfügen (kulturelle DNA). Die gegenwärtige chaotische Praxis des Internet trägt aber gerade zur Zersplitterung dieser Basis bei. Es fördert deshalb nicht die Schwarmintelligenz, sondern die Herdenverdummung. Auf immer wird die effektivste Form von Kollektivintelligenz so aussehen wie schon vor zweihundert Jahren: Fünf bis zehn hochkreative Menschen setzen sich zusammen und diskutieren miteinander. Aus prinzipiellen systemischen Gründen kann sich daran niemals etwas ändern. Förderliche Bedingungen wären: Diese Menschen verfügen über ein hohes Maß an persönlicher Meisterschaft, das heißt, sie haben ihr Primaten-Ego und das Guckloch-Problem einigermaßen im Griff. Sie kennen sich gut und sind in ihre Vorstellungswelten und Sprachen wechselseitig ausreichend eingedacht. Stärken und Schwächen im Team ergänzen sich gut. Das ist wiederum nicht ganz neu? Eben. In summa: Die Zukunft des Menschen liegt nicht in den Technologien. Zumindest nicht in naturwissenschaftlich-technischen Technologien. Allenfalls könnte man sagen: Die Zukunft liegt in sozialen Technologien. Wir brauchen ein Bildungswesen, in dem eine Mehrheit lernt, die Gier ihres Primaten-Ego einzugrenzen. Wir müssen die Kooperation und die soziale Integration erlernen. Wir müssen lernen, soziale Organismen zu bauen, in denen sich das vom Einzelnen authentisch Gewollte und das gesellschaftlich Geforderte möglichst weitgehend überschneidet. Wenn dies nicht gelingt, werden die technischen Technologien wenig nutzen, weil alle Einsparungen und Effizienzsteigerungen vom giergetriebenen Wachstum aufgefressen werden oder im sozialen Chaos untergehen, das aus Engstirnigkeit und Dysemergenz erwächst. Wenn wir aber in den psychosozialen Technologien Fortschritte machen, dann brauchten wir die technischen Technologien im Prinzip gar nicht – wir könnten den ökologischen Kollaps durch Verringerung der Bevölkerungszahl und durch Beschränkung abwenden.

2.9 Die Geisteswissenschaften Die Geisteswissenschaften der klassischen Provenienz sind in gewissen Grenzen wichtig und notwendig – von der Sprachkultur bis hin zur Geschichtsschreibung. Ihre Fortschritts- und Innovationspotenziale scheinen allerdings in weiten Bereichen ausgereizt und entscheidende Beiträge zur Rettung der Welt sind von hier wohl eher nicht zu erwarten. In Bezug auf viele relevante Probleme ist die klassisch-geisteswissenschaftliche Methode der reaktiven Reflexion und interpretierenden Auslegung heute veraltet

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– die Berührungsflächen zu Realität und Erfahrung sind einfach zu gering. Als Fortschrittsrichtung öffnet sich hier nur die Ausweitung und Verfeinerung der sprachlichen Differenzierung und Kategorisierung. Im Gegensatz zur Kunst aber ist Sprache in der Wissenschaft kein Selbstzweck. Die Ausweitung der Sprachdifferenzierung führt irgendwann an den Punkt, wo eine gewaltige Begriffsmaschine mehr Energie braucht, sich selbst zu tragen, als für die Bewältigung von äußeren Problemen zur Verfügung steht. Das erste Stadium ist eine hinderliche sprachliche Überdifferenzierung. Im Wechselspiel von schleichendem Realitätsverlust und wissenschaftsinternen Zwängen zu Profilierung und anderem gerät die sprachliche Auflösung viel feinkörniger, als es zur Problemlösung angemessen wäre. Man will eigentlich ein Gemälde ästhetisch beurteilen, schnallt sich aber ein Mikroskop vor die Augen. Schnell geraten dann die eigentlichen Zwecke aus dem Blickfeld und werden vergessen. Und dann verliert man sich im zweiten Schritt in weltleeren begrifflichen Luftschlössern, in deren Spiegelsälen nur noch losgelöste Sprachfiguren miteinander fechten, immer im Kreis herum. War das Ei zuerst da oder die Henne? Wieviele Engel passen auf eine Nadelspitze? Eine Frage ist nicht schon deshalb einer ernsthaften Beantwortungsanstrengung wert, weil die Sprache ihre Formulierung zulässt. Dabei kommt es dann bisweilen zu regelrechten Geistesverirrungen, die die Grenze zum Unsinn überschreiten. Berühmt geworden ist der »große postmoderne Schwindel«, der 1997 von dem amerikanischen Physiker Alan Sokal initiiert wurde. Er reichte bei der angesehenen Zeitschrift Social Text einen langen Aufsatz ein, der nichts anderes sein sollte und war als hochkompliziert formulierter blanker Unfug. Der Artikel wurde ohne Widerspruch abgedruckt. Entweder war es den Redakteuren nicht aufgefallen oder sie hielten den Text aus Gleichgültigkeit nur für eine andere, gleich gültige Form des nicht enden wollenden Geschwätzes der Postmoderne (vgl. Sokal u. Bricmont, 1999). Eine der künftigen Hauptaufgaben der klassischen Geisteswissenschaften wäre aus meiner Sicht: Bestände sichten, systematisieren und zusammenzubündeln, um sie vorzubereiten für das rettende Umladen auf die Arche der Dritten Kultur. Dort könnten die wichtigsten Denkfiguren der Geistesgeschichte in einer modernen Sprache reformuliert und im Hegel’schen Sinne aufgehoben werden.

2.10 Die Sozialwissenschaften Und nun folgen wir den fließenden Übergängen hin zu den Sozialwissenschaften, darunter die Volkswirtschaftslehre, Politologie, Soziologie und Sozialpsychologie. Die Evolutionspyramide von den Biowissenschaften weiter aufsteigend kommen wir nun in Bereiche, in denen die Evolution auf noch viel kleineren Raum-Zeit-Skalen rast, als sie dies etwa im Reiche Darwins tut. Arten wechseln in Jahrmillionen, Diabetes entsteht in Jahren, Börsenkurse aber schwanken im

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Sekundentakt. Je weiter wir in den Psychosozialbereich kommen, desto mehr tritt zur Komplexitätsbarriere noch die Chaotizitätsbarriere. Wer Aktienkurse vorhersagen will, der muss Mutmaßungen darüber anstellen, was Markteilnehmer über die Mutmaßungen anderer Markteilnehmer mutmaßen. Er muss voraussehen, welcher Zentralbankchef wann einen Schlaganfall bekommt, wie der Militärputsch in einem Ölland ausgeht, wo die nächste Grippeepidemie aus dem Ruder läuft oder in welchen Großkonzernen Korruptionsaffären schwelen. Wir haben es hier mit hochkomplexer, schneller nichtlinearer Dynamik am Rande des Chaos zu tun. Aus prinzipiellen und unüberwindbaren Gründen sind der Reproduzierbarkeit, Manipulierbarkeit und Prognostizierbarkeit dieser Prozesse sehr enge Grenzen gesetzt. Die aus der Physik überkommenen, sehr anspruchsvollen Kriterien von Wissenschaftlichkeit können hier also prinzipiell nicht erfüllt werden. Zumindest dann nicht, wenn man sich mit der Wirklichkeit auseinandersetzen will. Wer es vorzieht, der Wirklichkeit eine Scheinwelt zu überblenden, in der zum Beispiel hundertprozentig informierte Marktteilnehmer ökonomisch streng rationale Entscheidungen treffen und perfekte Märkte stabile Gleichgewichte erreichen, der kann mit strengen mathematischen Methoden trefflich Als-ob-Wissenschaft betreiben – er wird dabei aber an den eigentlich wichtigen Fragen vorbeiforschen. Das gesamte Feld der Geistes-, Psycho- und Sozialwissenschaften zersplittert immer mehr in Klein- und Kleinstansätze, die kaum mehr jemand überblickt, die schwer kompatibel sind, deren Vertreter sich kaum mehr verständigen oder gar einigen können. Oft ist das Vorgehen fast ausschließlich beschreibend und kategorisierend. Nicht selten wird versucht, die gesamte Gesellschaft in all ihren Teilprozessen durch den Wolf eines einzigen, zumeist sehr abstrakten Prinzips zu drehen: Erlebnisgesellschaft, Risikogesellschaft oder Multioptionsgesellschaft. Es wird zu wenig interdisziplinär gearbeitet und ebenenübergreifend nach systemischen Wirkzusammenhängen und den eigentlichen Triebkräften von Entwicklung gefahndet. Das liegt auch an alten, immer noch wirksamen Vorurteilen gegenüber den Naturwissenschaften, insbesondere der Biologie. Es wird nicht gesehen, dass die Biologie die Möglichkeitsfelder der Kulturentwicklung begrenzt und genetische Dispositionen die Realisierungsformen und -häufigkeiten innerhalb dieser Felder beeinflussen wie Magnetwirkungen aus der Tiefe (ohne Eigenlogiken der kulturellen Ebene zu auszuschließen). Es wird nicht gesehen, dass die wirklichen Triebkräfte auch von gesellschaftlicher Entwicklung ihren Ursprung im biologischen und psychologischen Bereich nehmen. So werden mit höchster Akribie die Getriebe vermessen, Motor und Kupplungen aber bleiben außen vor. Jeder Wissenschaftler sieht durch sein kleines Guckloch nur Einzelaspekte eines hyperkomplexen Wirkgefüges, die er dann übergeneralisierend konzeptualisiert, nicht selten verabsolutiert und dann in Stellung bringt gegen andere Theorien, die andere Einzelaspekte verabsolutieren. Und so kommt es dann zu Konstellationen wie im Spiegel-Streitgespräch zwischen den beiden Top-Ökonomen Hans-Werner Sinn und Manfred Bofinger

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(Der Spiegel 50/2004, S. 94). Unter dem Titel »Es ist genau anders herum« vertritt Sinn die These, dass die Löhne in Deutschland fallen müssten, und Bofinger begründet, warum sie zu steigen hätten. So etwas ist natürlich fatal. Ein Wissenschaftstheoretiker müsste einer Disziplin, die keine Mittel hat, zwischen so grundlegenden Kontradiktionen zu entscheiden, den Status einer Wissenschaft absprechen. Als ich dieses Gespräch las, entstand bei mir die Frage: Kann man Probleme dieser Art überhaupt so absolut und qualitativ-pauschal lösen? Müssen Antworten, die der Komplexität und nichtlinear-systemischen Natur des Wirtschaftssystems gerecht werden, nicht eine Struktur aufweisen, die vielleicht der folgenden Aussage ähnelt: »Unter den gegebenen Rahmenbedingungen ist es in dieser und jener Branche sinnvoll, die Löhne bis zu folgender Grenze zu erhöhen, wenn gleichzeitig noch dieser und jener Parameter in folgender Weise verändert wird: …« Ich fragte mich, ob man so etwas nicht per Computersimulation herausbekommen könnte (und vielleicht nur auf diese Weise). Als ich dann Prof. Dr. Yahoo W.W.W. Google hinsichtlich »Wirtschaft Computer Simulation« befragte, fand ich nur relativ wenige Treffer zu volkswirtschaftlichen Teilproblemen. Wenn man heute das Klimasystem im Computer modelliert und sich anschickt, das komplette Gehirn im Rechner nachzubauen (»Blue Brain Project« an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne) – könnte man nicht auch einmal versuchen, eine gesamte Volkswirtschaft vereinfacht, aber ganzheitlich zu modellieren? Aufs Ganze gesehen muss man leider konstatieren: Der derzeitige Stand und die Leistungsfähigkeit der Sozialwissenschaften sind nicht annähernd befriedigend. Gleichwohl darf dieser Patient nicht aufgegeben werden. Wir würden seine potenziellen Beiträge für unser Rettungsprojekt dringend brauchen. Ich weiß, dass ich nicht im Ansatz den Überblick habe, definitive Therapieanweisungen zu geben. Nehmen Sie es als vorsichtige Vorschläge eines randständigen Beobachters: Über die in diesem Buch immer wieder gestellte Forderung nach Integration und Kanonbildung hinaus hätte ich die Hoffnung, dass spätestens nach weiteren Geschwindigkeitsschüben in der Rechentechnik komplexe Computersimulationen sozialer Prozesse möglich werden, in Bereichen wie Volks- und Betriebswirtschaftslehre, Verwaltungs- oder Politikwissenschaft. Wir können von den Sozialwissenschaften keine deterministischen Gesetze wie bei der Himmelsmechanik erwarten. Aber gut begründete und differenzierte Wenn-dann- und Wahrscheinlichkeitsaussagen sollten schon möglich sein. Auch könnte man hoffen, dass Computersimulationen dabei helfen, sich an optimale soziale Regulationsstrukturen heranzutasten, die die besprochenen Phänomene der Dysemergenz möglichst effektiv begrenzen (z. B. in Bezug auf das Wahlrecht und andere Aspekte des politischen Systems, in Bezug auf Verwaltungsstrukturen). Und damit ist ein nächster Punkt angedeutet: Die Sozialwissenschaften sollten sich deutlich weniger deskriptiv und sehr viel mehr normativ definieren. Wir brauchen keine exzessiven Beschreibungen aller zufällig-ephemeren sozialen und

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kulturellen Blütentriebe. Weder interessiert uns eine Kulturgeschichte des Gartenzwergs unter besonderer Beachtung von lila Zipfelmützen noch ist es wichtig, die Bedeutung des Trachtenjankers in Gebieten zu untersuchen, in denen er nicht getragen wird. Viel wichtiger wäre es, alle Kräfte auf Fragen wie diese zu bündeln: Welche Rahmenbedingungen und Strukturen einer Gesellschaft sind dem Gedeihen des Einzelnen und der Gemeinschaft am förderlichsten? Dies müsste interdisziplinär angegangen werden, von der Ethologie über die Ethnologie bis hin zu Psychologie und Medizin, wobei sich als Rahmenparadigma die allgemeine System- und Evolutionstheorie anbietet (auch »Komplexitätstheorie« – s. nächstes Kapitel). Ein kluger Mann sagte einmal: Die bester Form, die Zukunft vorherzusagen, ist, sie zu gestalten. Dies sei den Sozialwissenschaftlern als Motto ins Stammbuch geschrieben. In diesen Kontext gehört auch die Misere der Experten und Spezialisten. In Medien und Bevölkerung genießen Experten aus dem Biopsychosozial-Bereich meist zu Unrecht, öfter aber auch mit gutem Grund einen schlechten Ruf. Zu oft haben sie sich in wichtigen Fragen öffentlich geirrt, nicht selten mit katastrophalen Folgen. Auch in vielen Studien schneiden Experten häufig schlecht ab, gleich, ob es um Psychologen, Fond-Manager, Pathologen oder Ökonomen geht. Ihre Urteile sind oft falsch und untereinander widersprüchlich. Zudem überschätzen die meisten Experten ihre Expertise: Sie glauben mehr und sicherer zu wissen, als es tatsächlich der Fall ist. Und vor allem: Wenn es um die Einschätzung nicht allzu spezieller Phänomene geht, schneiden Laien oft nicht schlechter oder sogar besser ab. So gibt es Studien, die zeigen, dass Laien das Verhalten anderer Menschen oft besser prognostizieren, als studierte Psychologen es tun. Und Unternehmensvorstände erweisen sich bei zentralen Entscheidungen wie Unternehmensfusionen als nicht treffsicherer als ein Münzwurf es wäre. Warum ist das so? Nun, wie beschrieben handelt es sich hier um Wirklichkeitsbereiche, die durch eine extrem hohe und schnell veränderliche Komplexität am Rande des Chaos gekennzeichnet sind. Es gibt in all diesen Bereichen eine Vielzahl von theoretischen Konzepten, von denen kein einziges diese Komplexität wirklich einfangen könnte und sichere Prognosen erlaubte. Insbesondere jüngere, wenig erfahrene Experten sind immer in der Gefahr, zu sehr an einem solchen Einzelkonzept zu hängen, das womöglich insgesamt nicht einmal das passendste ist. Das führt zu selektiver und verzerrter Wahrnehmung, zu falschen Einschätzungen und falschen Entscheidungen auf der Ebene konzeptuell eingeengter Rationalität. Wie wir noch besprechen werden, ist aber das »Entscheidungsorgan« für hochkomplexe und zum Teil unbestimmte Probleme die Gesamtpersönlichkeit mit all ihren zu »Bauchgefühlen« und »gesundem Menschenverstand« verdichteten Erfahrungen. Und ausschließlich auf dieser Basis entscheiden Laien ganz unbefangen und unverzerrt – was den lebenserfahrenen Laien dann oft besser macht als den jungen und/oder engstirnigen Experten. Natürlich müssen wir anstreben, dass beides zusammenkommt: Führungskräfte für komplexe Lebensbereiche müssen reiche, reife und gut integrierte Persönlichkeiten sein, die dann zusätzlich

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noch souverän und flexibel über die Werkzeugkästen des Expertentums verfügen. Auch deshalb brauchen wir eine Ausbildung in persönlicher Meisterschaft an den Schulen, aber auch für Manager und Politiker. Und was die Misere der Experten noch potenziert, ist schlicht und einfach die Überforderung des Einzelnen und der Institutionen durch Beschleunigung, Überdifferenzierung, Informationsflut und steigenden Anforderungsdruck an allen Fronten. Im Informationsmüll geht das wenige Richtige und Wichtige unter, in der Hektik ist sauberes und gründliches Arbeiten kaum mehr möglich.

2.11 Die Komplexitätstheorie Seit Jahrhunderten war das Vorgehen der Wissenschaft überwiegend zergliedernd-reduktionistisch: Die Untersuchungsobjekte wurden in ihre Teile zerlegt und man meinte, das Ganze verstanden zu haben, wenn diese Teile erschöpfend erforscht waren. Einsame Rufer in der Wüste – zum Beispiel die Gestaltpsychologen zu Beginn des vorigen Jahrhunderts – wiesen immer wieder darauf hin, dass das ein Irrtum ist: Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile. Seit Ende der 1960er Jahre wandten sich dann auch Teile der Naturwissenschaft einer mehr ganzheitlich-synthetischen Herangehensweise zu. Vorreiter waren hier die Pioniere der Selbstorganisation Ilya Prigogine mit seiner Theorie der dissipativen Strukturen und Hermann Haken mit der Synergetik (Lehre vom Zusammenwirken). Es wurde untersucht, wie sich innerhalb komplexer Systeme durch das Zusammenwirken von Elementen und Teilen übergeordnete Strukturen bilden können – und zwar aus dem freien Spiel innerer Kräfte heraus, ohne äußeren Eingriff von Schöpfern oder Designern. Dabei erwies sich die Universalität des Prinzips der Wechselwirkung von Variation/Fluktuation (das Zufallsmoment) und Selektion (ein Moment der Notwendigkeit). Hinzu kommen weitere Prinzipien und Gesetze des Zusammenwirkens, die sich in weiten Teilen mathematisch formulieren lassen. Schon hier zeigen sich prinzipielle Grenzen der Berechenbarkeit: Es gibt immer wieder Situationen, wo das System instabil auf der Kippe steht und zwei gleichwertige Entwicklungswege möglich sind: Hier entscheidet der reine Zufall und das ist eben nicht vorausberechenbar. Diese zumindest teilweise Unberechenbarkeit ist ein irreduzibles Moment aller Kreativität. Und die Selbstorganisation hat sich als der universelle kreative Mechanismus auf allen Ebenen unseres Universums erwiesen. Es gab wichtige Erweiterungen dieser theoretischen Ansätze – populär wurde die Theorie des deterministischen Chaos. Hier offenbarten sich weitere Grenzen der Berechenbarkeit. Unter bestimmten Bedingungen sind die Entwicklungsverläufe komplexer Prozesse stark abhängig von kleinsten Unterschieden in der Ausgangssituation, die sich in vielen Fällen der Zugänglichkeit und Messbarkeit entziehen. Populär geworden ist das unter dem Schlagwort Schmetterlingseffekt:

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Der Flügelschlag eines Schmetterlings auf Sumatra kann gewissermaßen darüber entscheiden, dass sich einige Zeit später in Westeuropa die Großwetterlage verändert. Und in ähnlicher Weise kann eben der Schlaganfall eines Zentralbankchefs das Moment sein, das bestimmt, ob die Weltwirtschaft in eine Rezession rutscht oder nicht. Deshalb sind in der Meteorologie oder der Volkswirtschaft, aber auch in der Psychologie oder Politologie Langfristprognosen aus prinzipiellen Gründen unmöglich. Auf der Ebene unseres Weltbildes aber erlaubte all dies die Verallgemeinerung des Konzepts »Evolution«. Auf allen Stufen des Seins bilden und entwickeln sich komplexe Strukturen nach ähnlichen Prinzipien. Durch synergetische Selbstorganisation formieren sich dynamische Muster und Strukturen, deren Entstehungsbedingungen dann auf unterschiedliche Weise in festen Strukturen »eingefroren« und damit »gespeichert« werden, so dass Aufbauprozesse in Richtung einer Verschachtelung immer komplexerer Strukturen und Systeme möglich werden. Der Physik-Nobelpreisträger Gerd Binnig (1990) prägte in diesem Kontext den Begriff fraktale Evolution (Fraktale sind Verschachtelungen immer wieder ähnlicher Strukturelemente). Abbildung 9 zeigt die wichtigsten Ebenen der Evolution unseres Universums. Die immense Bedeutung solcher integrierender Sichtweisen wurde von vielen herausragenden Wissenschaftlern erkannt. Einige von ihnen, darunter ein paar der klügsten Köpfe unserer Zeit, gründeten im Jahre 1984 im amerikanischen New Mexico das Santa-Fe-Institut. Hier wurden und werden die genannten Ansätze unter dem Label Komplexitätstheorie ausgebaut. Eine zentrale Rolle spielt hier das Konzept des komplexen adaptiven Systems. Der Informatiker John Holland sagte hierzu in einem Vortrag: »Viele unserer schwierigsten langfristigen Probleme – Außenhandelsdefizite, Nachhaltigkeit, AIDS, genetische Defekte, psychische Gesundheit, Computerviren – beziehen sich auf bestimmte Systeme von außerordentlich hoher Komplexität. Die Systeme, die mit diesen Problemen behaftet sind – Volkswirtschaften, ökologische Systeme, Immunsysteme, Embryonen, Nervensysteme, Computernetze –, scheinen so mannigfaltig wie die Probleme zu sein. Doch der Schein trügt: All diese Systeme weisen weitgehend die gleichen Grundmerkmale auf, so dass wir sie am Santa-Fe-Institut unter dem einheitlichen Oberbegriff der komplexen adaptiven Systeme zusammenfassen. Das ist mehr als nur ein terminologischer Kunstgriff. Es bringt unsere Intuition zum Ausdruck, dass es allgemeingültige Prinzipien gibt, die das Verhalten aller komplexen adaptiven Systeme steuern – Prinzipien, die Lösungswege für die damit verbundenen Probleme aufzeigen. Ein Großteil unserer Arbeiten zielt darauf ab, diese Intuition in gesicherte Erkenntnis zu überführen« (zit. n. Horgan, 2000, S. 314). Komplexe adaptive Systeme lernen zum Zwecke der Selbsterhaltung. Die per Selbstorganisation erzeugte Struktur und Information wird nun nicht mehr einfach nur ungerichtet gespeichert wie bei der Evolution im Allgemeinen. Vielmehr entstehen interne Mechanismen, die dafür sorgen, dass die Information in

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soziokulturelle Evolution Aktualgenese (Verhalten)

Ontogenese Morphogenese

Phylogenese

Kosmogenese

Abbildung 9: Das Bild der fraktalen Evolution – unsere Welt als Verschachtelung selbstähnlicher Sphären der Evolution: Entwicklung der physikochemischen Strukturen unseres Kosmos (Kosmogenese); stammesgeschichtliche Entwicklung der Baupläne der biologischen Arten (Phylogenese); immer wieder neue Materialisierung je eines dieser Baupläne beim Heranwachsen des Individuums (Morphogenese); erfahrungsgeprägte Modifikation von Psyche, Gehirn und Körper im Laufe der Individualentwicklung (Ontogenese); die selbstorganisierte Formierung neuer Strukturen im Hier und Jetzt, insbesondere in Form von Verhalten im Gehirn (Aktualgenese); die Wechselwirkung zwischen Gehirnen und außerkörperlichen Speicherstrukturen in Form von Produkten aller Art, insbesondere aber in Form von spezialisierten Informationsspeichern wie Bücher, CDs und Festplatten (soziokulturelle Evolution)

einem dem eigenen Überleben förderlichen Sinne selektiert und organisiert wird. Beispiele für komplexe adaptive Systeme sind Zellen oder Organismen. Auch gesunde Kulturen und Gesellschaften funktionieren wie komplexe adaptive Systeme. Unsere Gesellschaft muss es erst wieder lernen, sich zu einem solchen System zu integrieren. Dazu beizutragen, ist ja gerade das Hauptziel dieses Buches. In den 1990er Jahren waren Komplexitätstheorie und das Santa-Fe-Institut groß in Mode. In fast allen Zweigen der Psychosozialwissenschaften wurden diese Ansätze wo nicht ernsthaft aufgegriffen, so doch zumindest diskutiert. Neben der Fachliteratur entstand auch eine Reihe faszinierender populärwissenschaftlicher Bücher (u. a. Waldrop, 1992; Gell-Mann, 1994; Kaufman, 1996; Johnson, 1997). Und, natürlich, es wurden große und überzogene Verheißungen ausgerufen. Als deutlich wurde, dass viele dieser Versprechen, die unter anderem auch die Simulation volkswirtschaftlicher Prozesse betrafen, sehr viel schwerer einzulösen

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waren als gedacht, machte sich eine gewisse Ernüchterung breit und es wurde wieder stiller um diese Denkrichtung. Zum einen ist das ein Stück weit das übliche Schicksal neuer Denkansätze. Aber es könnte natürlich sein, dass auch die Komplexitätstheorie die von ihr selbst aufgezeigten Grenzen der Berechenbarkeit nicht allzu weit überschreiten kann, dass Evolution eben im exakten Sinne mathematischer Modelle und numerischer Simulationen unvorhersagbar bleibt, prinzipiell und auf immer (und ich fürchte, so wird es sein). Wenn dieser Fall also eintreten sollte, dann gilt trotzdem: Die Schaffung bzw. Weiterentwicklung einer allgemeinen Theorie der Evolution komplexer adaptiver Systeme ist und bleibt die zentrale theoretische Herausforderung unseres Jahrhunderts. Auch wenn uns diese Theorie »nur« qualitative Begriffe, Konzepte und Metaphern zur Verfügung stellen sollte, die es uns erlauben, die komplexen Prozesse unserer Lebenswelt ahnungsvoll zu verstehen und ihre Möglichkeitsfelder intuitiv abzuschätzen, dann wäre das schon viel. Das ist die Basis von »Systemkompetenz«, einer wichtigen Teildisziplin persönlicher Meisterschaft, die insbesondere für Führungskräfte von zentraler Bedeutung ist. Ich hoffe, dass auch dieses Buch einen Vorgeschmack darauf gibt, wie nützlich diese Konzepte für ein Verständnis unserer Welt sind. Vieles spricht dafür, dass wir es hier mit den fortschrittlichsten und adäquatesten Sichtweisen zu tun haben, die für die Etablierung eines neuen Weltbildes taugen. Dieses neue ganzheitliche, systemisch-evolutionistische Weltbild ist adäquater als die alten religiösen Weltbilder, als das reduktionistisch-mechanistische Weltbild der klassischen Physik und auch adäquater als die diffusen Weltbilder von Esoterik oder New Age. Wenn es eine Chance auf die »Einheit des Wissens« (Wilson, 1998) in einer »Dritten Kultur« (Brockman, 1996) gibt, dann liegt sie hier, wenn die Psychosozialwissenschaften den Prozess ihrer fortschreitenden Zerfaserung beenden und eine Zukunft haben wollen, dann müssen sie hier ansetzen. Die zentralen Fragen, auf die hin sich die unterschiedlichen Disziplinen der Psychosozialwissenschaften vor dem Hintergrund von allgemeiner Evolutions- und Komplexitätstheorie interdisziplinär zu integrieren haben, sind die folgenden: Wie ist psychische Veränderung möglich? Welche Veränderungen sind für die Formierung gelingender Kulturgemeinschaften förderlich und wie können sie erreicht werden? Wie sehen mögliche Strukturen von Gesellschaften aus, in denen sich der Einzelne maximal in Richtung Lebenserfüllung entfalten kann, ohne die Rechte anderer Zeitgenossen und nachfolgender Generationen zu verletzen und die zugleich das Langzeitüberleben der Schöpfung ausreichend sicherstellen? Welche realpolitischen Wege gibt es, eine dieser Gesellschaftsstrukturen aufzubauen? Und die Disziplinen, die sich hier angesprochen fühlen sollten, sind unter anderem die folgenden: Soziobiologie, Verhaltensgenetik, Evolutionspsychologie, Psychologie, Ethnologie, Hirnforschung, Soziologie, Ökonomie, Politologie. Wenden wir uns nun noch etwas genauer dem Themenbereich Hirnforschung/

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Psychologie zu – das Gehirn ist natürlich ein Paradebeispiel für ein komplexes adaptives System.

2.12 Hirngespinste Über Jahrhunderte waren es Maschinenmetaphern, mit denen sich die Menschen die Funktion des Gehirns zu erklären versuchten. In Analogie zu Uhren, Orgeln und mechanischen Wasserspielen stellte sich schon René Descartes im 17. Jahrhundert den Menschen und sein Gehirn als einen komplizierten mechanisch-hydraulischen Automaten vor. Dann galt das Gehirn als Telefonzentrale und schließlich – in weiten Bereichen auch noch heute – als Computer. Wie an anderer Stelle ausführlich kritisiert, ist diese Sicht grundfalsch (Hansch, 1997). Gehirn und Computer sind tief wesensverschieden. Das Wesen des Gehirns liegt in seiner sofortigen, spontanen Anpassungsfähigkeit und Kreativität in ständig sich verändernden Situationen. Streng betrachtet, gleicht deshalb keine Verhaltensäußerung der anderen: jede Wahrnehmung, jeder Gedanke und jede Bewegung ist eine einzigartige Struktur, die es im Einzelnen so noch nie gab und auch nie wieder geben wird. Mit einem präzisen Verhalten entlang festgelegter Regeln tut sich das Gehirn dagegen extrem schwer: Für die meisten Menschen ist Kopfrechnen oder gar richtige Mathematik ein Graus. Bei Maschinen, Automaten und Computern liegen die Dinge exakt anders herum: Ihr Wesen ist es, unter genormten Bedingungen regelbasiert Normprodukte zu liefern. Unter sich wandelnden Bedingungen aber brechen sie schnell zusammen – manchmal sogar im direkten Wortsinn, wenn Sie an die hoffnungslosen Versuche von Robotern denken, Fußball zu spielen. Wenn das Gehirn aber keine Maschine und auch kein Computer ist – welche Metapher wäre angemessener, wie kann man sein Wesen greifen? Nun, die entscheidende weiterführende Frage ist die: Gibt es irgendwo außerhalb des Gehirns Phänomene oder Dinge, die zumindest in Teilen oder Vorformen die wesenskonstituierenden Eigenschaften des Gehirns zeigen? Und wenn ja: Könnten diese Phänomene auch im Gehirn eine Rolle spielen? Die Antwort lautet zweimal Ja. Die gesuchten Phänomene sind die von Prigogine und Haken beschriebenen dissipativen bzw. synergetischen Strukturen – ich hatte dies zu Beginn des Buches knapp umrissen. Synergetische Strukturen sind in höchstem Maße anpassungsfähig und auf eine elementare Weise per Selbstorganisation kreativ. Sehr früh haben der bekannte Entwicklungspsychologe Jean Piaget und der deutsche Physikochemiker und Nobelpreisträger Manfred Eigen auf die faszinierenden Übereinstimmungen zu psychoneuralen Prozessen hingewiesen. Weiterführende Arbeiten hierzu erfolgten durch Hermann Haken und die Psychologen Michael Stadler und Peter Kruse. Ich habe in einem meiner Bücher die Bezüge zwischen synergetischen Strukturen und geistigen Prozessen sehr detailliert ausgearbeitet

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(Hansch, 1997; auch 1988; kurz und populär Hansch u. Haken, 2004a). In einigen Schlüsselexperimenten konnte gezeigt werden, dass es in instabilen Phasen von Verhaltensprozessen zu stochastischen Fluktuationen kommt und dass die Entwicklung des Verhaltens den Prinzipien der synergetischen Selbstorganisation folgt. Übrigens ist damit auch der Beweis erbracht, dass es im Gehirn »echten Zufall« gibt und dass er bei der Kreativität des Gehirns eine zentrale Rolle spielt. Hierzu erschienen zwei bahnbrechende Monographien: von dem amerikanischen Physiologen Scott Kelso (1995) und von Hermann Haken (1996). Auch die gesamte wichtige und fruchtbare Arbeitsrichtung der künstlichen neuronalen Netze ist in diesen Kontext einer Selbstorganisationstheorie des Gehirns einzuordnen – aber ich will hier nicht zu sehr ins Detail gehen. Anknüpfend an die alte und bedeutende Tradition der Gestaltpsychologie, die das Selbstorganisationsdenken in der Psychologie vorweggenommen hatte, wurde dieses Paradigma dann auch sehr fruchtbar auf der Ebene psychologischer und psychotherapeutischer Theoriebildungen angewendet. Der bedeutende Psychotherapieforscher Klaus Grawe griff bei seinen Theoriebildungen auf die Konzepte der Synergetik nach Haken zurück, ebenso die Protagonisten der systemischen Therapie. Auch meine Konzepte von Psychosynergetik und persönlicher Meisterschaft sind hier einzuordnen (Hansch u. Haken, 2004b). Nun, auch hier gelten natürlich die genannten prinzipiellen Beschränkungen für exakte Prognose- und Beeinflussungsmöglichkeiten. Newton’sche Gesetze des menschlichen Verhaltens haben weder die Psychosynergetik noch die Selbstorganisationstheorie des Gehirns zu bieten. Aber: Wie keine andere neurowissenschaftliche Forschungsrichtung führten diese Arbeiten heran an den Wesenskern unseres Gehirns als Teil des kreativen Universums. Es handelt sich um Befunde von hoher Weltbildrelevanz: Sie zeigen die Einheit des Seins als evolutiven Gesamtprozess im Sinne von Komplexitätstheorie und Dritter Kultur. Und: Es werden Muster aufgezeigt, die verbinden. Dies erleichtert die Bildung abgeleiteter ganzheitlicher Modelle des Psychischen als Voraussetzung für ein begründetes Handeln in der Praxis (als Lehrer, Psychotherapeut, Manager oder Politiker). Alle an diesen Projekten Beteiligten hatten bis in die 1990er Jahre hinein gehofft, dass nun ein echter Paradigmenwechsel in den Neuro- und Psychosozialwissenschaften anstünde, dass wir nun einen Durchbruch schaffen könnten, hin auf Forschungen, die für das Alltagsleben wirklich bedeutsam sein könnten. Nun, der tiefgehende Paradigmenwechsel blieb aus, er wurde weggewischt durch eine unerwartet aufbrausende, oberflächliche Modewelle: die sogenannten bildgebenden Verfahren, insbesondere die funktionelle Magnetresonanztomografie. Das sind die inzwischen stadtbekannten Hirnquerschnitte, in die eine Handvoll größerer bunter Flecken hineingemalt ist. Sie sollen zeigen, dass in den mehr in Richtung rot/gelb gehenden Bereichen die Durchblutung des Gehirns ein klein wenig höher ist als in den umliegenden Teilen. Dann wird unterstellt, dass die geistige Aufgabe, die der Proband bei Aufnahme ausgeführt hat, auch in diesem Bereich höchster Aktivierung »abgearbeitet« wird. Und schließlich heißt es

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oft, dass damit »entschlüsselt« sei, wie das Gehirn in Bezug auf diese geistige Aufgabe arbeitet. Man kann dann »Gedanken lesen«, der »neuronale Code« ist geknackt – was immer das sein soll – und überhaupt: Ab jetzt steht uns eine grandiose Zukunft bevor. Gegen diese Art von Pop- und Spektakelwissenschaft hatte die Selbstorganisationstheorie des Gehirns keine Chance – sie ist kompliziert, arbeitet mit eigenen Begriffen und abstrakten Modellen, die oft anspruchsvolle Mathematik beinhalten. Und: Sie muss sich aus theorieimmanenten Gründen den engen Grenzen in Sachen Reproduzierbarkeit, Manipulierbarkeit und Prognostizierbarkeit komplexen Verhaltens stellen, diese benennen und anerkennen. Und das ist eine Bedrohung für den etablierten Wissenschaftsbetrieb, der genau von diesen drei Momenten lebt. Bunte Bilder sind da natürlich ungefährlicher, einfacher und faszinierender, für die Medien, die Öffentlichkeit und auch für Kommissionen, die eilig über die Vergabe von Forschungsgeldern zu befinden haben. Eben noch war man dabei, dem Generator des Werdens direkt unter die Motorhaube zu blicken, und im nächsten Moment stürzt man zurück ins cartesianische Zeitalter. Das Gehirn als hydraulische Maschine: Dort, wo viel Blut strömt, drehen die Mühlräder des Denkens und Fühlens am schnellsten. Wieder wird eine Scheinwirklichkeit über die eigentlichen Probleme geblendet, die man mit streng wissenschaftlichen Methoden beforschen kann. Doch was geliefert wird, sind Korrelationen, die in den meisten Fällen wenig relevant sind. Was heißt wenig relevant? Nun, indem ich die Sätze dieses Buches außerordentlich langsam aus mir hervorquäle, kann ich regelrecht spüren, wie in meinem Unbewussten die jahrzehntelangen Erfahrungen komprimiert werden, die ich im Umgang mit diesen Themen habe. Das ist ein immens komplexer Prozess, an dem manchmal der ganze Körper beteiligt zu sein scheint (auf meinem Schreibtisch steht eine Bronzereplik des Denkers von Rodin). Wer nur einen Moment nachdenkt, sieht sofort: Von dieser Komplexität kann nichts, aber auch gar nichts in Bildern enthalten sein, mit fünf oder zehn bunten Klecksen. Was könnte man verstehen, wenn man einen Computer mit einer Wärmebildkamera anschauen würde? Man fände einen roten Fleck, wo der Prozessor sitzt. Das Entscheidende aber, die Funktionsprinzipien, nach denen der Prozessor arbeitet, oder gar die komplexen Prozesse, die im Beobachtungsmoment ablaufen – all das bliebe vollständig verborgen. Nicht einmal über die besondere Bedeutung des Prozessors erfährt man etwas: Denn dort, wo sich der Lüftermotor dreht oder das Netzteil schwitzt, zeigen sich ebenfalls rote Flecke. Was habe ich zweitens an »Korrelationen« auszusetzen? Nun, es ist ja nachgerade definierend für ein System, dass man Funktion und Bedeutung eines Teils erst dann verstanden hat, wenn man Funktion und Bedeutung auch aller anderen Teile verstanden hat. So lange das nicht gegeben ist, sind alle festgestellten Regularitäten bloße Korrelationen ohne jede Aussage über Wirkungs- oder Kausalbeziehungen. So kann man statistisch exakt beweisen, dass Kinder mit größeren Füßen auch besser lesen können. Nach der Logik viele populärer Hirnforschungsdarstellungen

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müsste man hieraus schließen können: Die Lesefähigkeit sitzt in den Füßen. Das ist natürlich absurd – Kinder mit größeren Füßen sind einfach nur eine Schulklasse weiter. Aber es ist nicht weniger problematisch zu sagen, dass ein bestimmter Denkprozess, der freie Wille oder Gott an einer bestimmten Stelle im Gehirn »sitzen«, nur weil dort die Durchblutung ein paar Prozent höher ist als drumherum. Seriöse Hirnforscher sehen das übrigens ähnlich. So sorgt sich der Sprecher des Brainimaging Centers der Universität Freiburg Ludger Tebartz van Elst in einem Zeitartikel, dass die heutigen Hirnforscher in fünfzig Jahren so verspottet werden könnten wie heute die Phrenologen des 19. Jahrhunderts. Die Hirnforschung ist größtenteils ein riesiges, von niemandem mehr überschaubares, erdrückendes Gebirge unverstandener, unscharfer, zusammenhangsloser und oft widersprüchlicher Befunde, in die das Wissen aus der Alltagspsychologie oder aus der psychologischen oder physiologischen Forschung hineinprojiziert wird, so wie man Gesichter in Wolken hineinsehen kann. Nicht selten spürt man dabei die alten Maschinenmetaphern mitschwingen. In Büchern populärer Autoren werden dann die alten Denkfiguren der Psychologie in Hirnsprache nachgestellt und dabei grotesk verunstaltet: Da tauchen dann komplizierte Namen von Gehirnkernen, Leitungsbahnen oder Transmittern auf, ohne dass hieraus der geringste Zugewinn an Erkenntnis entstünde. Da heißt es etwa: Um diesen negativen limbischen Impuls zu unterdrücken, aktivieren Sie nun Ihre präfrontale Region und wirken Sie über den oberen Pfad hemmend auf Ihre Amygdala ein! Gemeint ist einfach: Regen Sie sich ab! Wer elegantes, schlüssiges und prägnantes wissenschaftlichen Denken gewohnt ist, kann da nur die Nase rümpfen. Was würden Sie wohl mit einem Ernährungsberater machen, der die ganze Zeit von den Veränderungen der Durchblutung in Leber und Darm redet? Oder von einem IT-Berater, der Ihnen empfiehlt: »Vergessen Sie Windows und diese ganzen intuitiven Benutzeroberflächen. Das ist doch Kinderkram! Lassen Sie uns wieder mit DOS-Befehlen jonglieren! Das ist eine Herausforderung für Männer! (Und da kenne ich mich auch aus.)« Beide würden Sie zum Teufel jagen. Wie konnte es den Hirnforschern gelingen, sich so wichtig zu machen, dass viele Menschen ihnen genau das unwidersprochen durchgehen lassen? Seit Jahren nutze ich jede Gelegenheit, um den großen Hirnforschern die folgende Aufgabe zu stellen: Nennen Sie mir bitte eine Erkenntnis, die für die Gestaltung unseres Alltagslebens Bedeutung hat, die genuin aus der Hirnforschung entstanden ist und nicht schon vorher im Pool unseres psychologischen Wissens enthalten war. Keine der bisherigen Antworten hat einer kritischen Nachfrage standgehalten. Nur um einmal deutlich zu machen, was die Hirnforschung eigentlich längst geliefert haben müsste, wenn man sie an den Versprechungen ihrer populären Vorreiter misst: Nehmen wir an, meine Freundin ist sauer auf mich und ich fürchte, sie wird sich von mir trennen. Dann halte ich ihr nachts einen Hirnscanner an den Kopf und mein Computer druckt mir exakte Verhal-

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tensanweisungen aus, die man aus psychologischem Wissen allein nicht hätte gewinnen können und die mich mit geringstem ökonomischem Aufwand ans Ziel bringen: Lade sie drei Tage hintereinander in ein Fischrestaurant ein (das steigert die Konzentration des Botenstoffs X im Kerngebiet Y) und kaufe ihr am vierten Tag die blauen Pumps, die ihr vorige Woche so gefallen hatten (das hebt allgemein den Botenstoff Z so weit an, dass das System in eine instabile Zone kommt), am Tage fünf im Zeitfenster zwischen 16 und 20 Uhr ist es dann soweit: Gib bei dem Problem, über das gestritten wurde, nach. Dann kommt es zu einem nachhaltigen Stimmungsumschwung hinsichtlich der Beziehung von negativ zu positiv (das Umstimmungsgespräch bei gutem Wetter eher in der ersten Hälfte des Zeitfensters führen und bei schlechtem in der zweiten Hälfte). Nur etwas in dieser Art hieße: »Erkenntnismehrwert genuin von der Hirnebene her«. Und nur unter dieser Voraussetzung wäre es gerechtfertigt, diesen unsäglichen Hirnsprech in unser Alltagsdenken einzubeziehen. Alles andere resultiert aus arger erkenntnistheoretischer Naivität oder ist versuchter Etikettenschwindel aus niederen marketingtechnischen Beweggründen. Doch erstens: Das Gehirn ist viel zu komplex, als dass wir je eine Chance hätten, auf einen solchen Level der Erkenntnis zu kommen. Und: Psychoneurale Evolution ist so unvorhersagbar wie das Wetter. Meine Freundin bräuchte nur inzwischen ein paar noch schönere Pumps gesehen haben, und alles wäre Makulatur (was weiß ich denn, wann sie wieder in welchen Schuhgeschäften herumstromert). Zweitens: Wenn es solche Möglichkeiten gäbe – ich würde sie nicht nutzen. Ich muss Ihnen nicht erklären, warum. Sollte auch nur die Hälfte der Hirnverheißungen eintreffen – gottlob werden es allerhöchstens 20 Prozent sein, nach dem guten alten Pareto –, dann würden sich ethische Probleme noch ganz anderer Dimension auftürmen, die nicht zu überblicken und nicht zu entscheiden wären. In dem Buch »Schöne neue NeuroWelt« von Rüdiger Vaas (2008) wird das sehr differenziert diskutiert. Wir würden in prinzipiell unlösbare Dilemmata hineingeraten. Die meisten denkbaren Verbesserungen des Gehirns sind bei genauerer Betrachtung weder sinnvoll noch wünschenswert. Wie bisherige Erfahrungen zeigen und der Systemcharakter des Gehirns nahelegt, ziehen alle Eingriffe ein breites Spektrum an Nebenwirkungen nach sich. Zudem trägt die neurowissenschaftliche Arbeitsweise in hohem Maße den Charakter eines Versuch-und-Irrtum-Lernens, um nicht zu sagen, eines blinden Herumprobierens. Zum Zwecke der Linderung schweren Leids kann das in Kauf genommen werden, nicht aber für ein Gehirn-Tuning. Im Bereich der Reparatur von Defekten mit umgrenzten, relativ einfachen Ursachen sind Durchbrüche zu erwarten, die sich für viele Patienten als Segen erweisen werden. Das Cochlea-Implantat gibt es bereits und es scheint aussichtsreich, irgendwann auch Blinden, Gelähmten oder Alzheimer-Erkrankten in Grenzen helfen zu können. In Bezug auf die wirklich komplexen Aspekte der Hirnfunktion aber sind wir

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heute definitiv nicht weiter als vor fünfzig Jahren. Und mit Blick auf die erläuterten prinzipiellen Grenzen des Erkennens scheint es wahrscheinlich, dass wir auch in hundert Jahren nicht weiter sein werden. Bewusstsein und freier Wille? Es gibt derzeit nicht einen einzigen neurobiologischen Befund, der für diese Fragen von gesicherter Relevanz wäre. Ignoramus et ignorabimus. Und der begnadete Lehrer unterrichtet heute nicht anders, als er es vor fünfzig Jahren tat und wie er es hoffentlich in fünfzig Jahren noch tun wird. Auch und gerade hier gibt es natürlich das Scheuklappenphänomen des Expertentums. Ein Beispiel ist das Buch »Geist im Netz« von Manfred Spitzer (2000). Spitzers Sicht auf das Gehirn ist geprägt und teilweise eingeengt durch die Arbeit mit bestimmten Typen künstlicher neuronaler Netze. Prinzipiell geht dieser Ansatz in die richtige Richtung, doch die beschriebenen Netze realisieren nur eine sehr einfache Form des Lernens, die beim Menschen eine grundlegende, aber nicht die entscheidende Rolle spielt: Herausfilterung des Typischen durch Aufsummierung vieler kleiner Erfahrungsschritte. Je mehr Herzinfarkt-EKGs ein Notarzt gesehen hat, desto schneller und sicherer wird sein diagnostischer Blick. (Im Grunde ist das eine komplexere Form des guten alten Konditionierungslernens der Behavioristen.) Entsprechend lautet Spitzers Gebrauchsanweisung fürs Gehirn am Ende seines Buches: »Guckt euch möglichst viele gute Beispiele an!« Doch das Spitzer’sche Beispiellernen ist eine sehr träge, primitive Form des Lernens, die auch am Rande oder außerhalb des Bewusstseins ablaufen kann, und sich schon bei einfachen Lebewesen findet. Im Fokus des Bewusstseins aber zeigen sich psychische Prozesse sehr agil, schnell wechselnd und flüssig. Einsicht entsteht nicht allmählich wie beim langsamen Scharfstellen eines Fernrohrs. Vielmehr erleben wir sie als ein unerwartetes und plötzliches Ereignis, als eine sprunghafte, grundlegende und ganzheitliche Umorganisation unserer Sicht auf eine bestimmte Sache, die dadurch vom Problem zur Lösung wird. Dies geht einher mit einem Aha-Erlebnis: Wir werden der abstrakten Schönheit idealer Prinzipien gewahr. Im Rahmen der Selbstorganisationstheorie des Gehirns könnte man solche Phänomene übrigens als Phasensprung einer synergetischen Struktur deuten (d. h. eines funktionellen neuronalen Musters; vgl. Hansch, 2004). All das wird durch die Lerntheorie von Spitzer nicht erfasst. In seinem Buch kommt das so wichtige und irreduzible Konzept Einsicht nicht vor. Mag das Konditionieren und Beispiellernen auch die Basis von allem sein, so ist das bewusste Einsichtlernen doch ein qualitativ anderer und höherer Vorgang. Einsicht im engeren Sinne kann man nicht gewinnen durch das Anschauen noch so vieler Beispiele. Einsicht erwächst vielmehr aus gründlichem und langem Nachdenken über ein und dasselbe Problem, aus langem Herumprobieren an ein und demselben Material. Einsicht erwächst aus dem reflektierenden Dialog mit dem Lehrer, der an einer Stelle tiefer bohrt und an einer anderen den Kontext erweitert, der durch geschicktes Fragen immer neue, besser integrierende Umsprünge

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der inneren Wissensorganisation beim Schüler erreicht. Ein Medizinstudent, der die Hintergründe des EKG verstanden und eine einzige Strichzeichnung eines Infarkt-EKG gesehen hat, wird 90 Prozent aller Infarkte erkennen. Die Lerntheorie Spitzers wäre als Teil eines Ganzen gut und richtig. Sie verfehlt aber das Wesen menschlichen Lernens und sie wird damit falsch, wenn man sie verabsolutiert. Für diese Überlegungen Ausreichendes über das Einsichtlernen kann man übrigens schon in den Werken des großen Gestaltpsychologen Wolfgang Köhler nachlesen – beispielsweise in den »Intelligenzprüfungen an Menschenaffen« aus dem Jahre 1914. Doch eigentlich sollte schon die unvoreingenommene Selbstbeobachtung von Einsichtsprozessen genügen. Offenbar können konzeptionelle Einengungen und Verzerrungen sogar die unmittelbare Selbstwahrnehmung deutlich verfälschen. Dem, der einen Hammer hat, wird eben alles in der Welt zu einem Nagel – und am Ende fühlt er sich womöglich selbst als solcher. Auf großen und kleinen Bahnen laufen sie eben immer im Kreis herum, die Modewellen der Psychosozialwissenschaften. Irgendwann wird auch Wolfgang Köhler wieder erreicht sein. Und dann beginnt vielleicht alles von vorn. Seit Jahrzehnten bewegt sie sich im Kreis herum, die Karawane der Neuropsychosozialforscher, mit auf Gucklochweite verengten Scheuklappen. Ich habe nichts gegen seriöse Hirnforschung in Bezug auf realistische und relevante Fragestellungen. Aber ich habe etwas gegen die Boulevardisierung der Wissenschaft, gegen Als-ob-Spektakel und L’art pour l’art. Das verschwendet Aufmerksamkeit und Ressourcen, die wir für anderes brauchen, als Gedankenlesegeräte zu bauen. Anstatt das Jahrhundert des Gehirns auszurufen, hätte man ein Jahrhundert der Menschlichkeit, der Konsenssuche oder der Kooperation proklamieren sollen. Mit größter Wahrscheinlichkeit wird uns die Hirnforschung bei unserem Weltrettungsprojekt also nicht wesentlich weiterhelfen können. Wie steht es mit der Psychologie?

2.13 Die Psychologie in der Dauerkrise Um es gleich vorwegzunehmen: Von der Psychologie ist deutlich mehr zu erwarten als von der Hirnforschung. Aber als Freund und Liebhaber der Psychologie springen einem die alten großen Probleme des Faches um so schmerzlicher ins Auge. Aufs Ganze gesehen zeigt auch die Psychologie ein immer mehr zersplitterndes Bild, in dem unüberschaubare Mengen an Daten und Befunden unverbunden und oft unverbindbar nebeneinanderstehen oder sich sogar widersprechen. Keiner hat mehr den Überblick, immer schwerer wird die Verständigung über die Grenzen der Subdisziplinen hinweg. Immer noch wird das Bild bestimmt von Moden und Schulen, die nicht selten mit ihren Schöpfern verbleichen. Ein kumu-

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lativer Erkenntnisgewinn wie etwa in der Physik im Sinne eines allgemeinen und akzeptierten Wissenskanons, im Sinne zumindest einer groben, ganzheitlichen Rahmentheorie des Forschungsgegenstandes – all das scheint nach wie vor weit entfernt. Seit Jahrzehnten gibt es eine Fülle von nicht absolut entscheidbaren Debatten, die die relative Gewichtung bestimmter Faktoren im hyperkomplexen Wirkgefüge des Psychischen betreffen: Gene versus Kultur, Individuum versus Gesellschaft, Rationalität versus Emotionalität, bewusst versus unbewusst, geisteswissenschaftlicher versus naturwissenschaftlicher Ansatz. Natürlich führen neue Forschungsergebnisse hier immer wieder zu leichten quantitativen Verschiebungen, die dann von egogetriebenen Wissenschaftlern immer wieder zu grundlegenden Revolutionen hochgespielt werden. Das Meiste hiervon ist aber alter Wein in neuen Schläuchen. Seit Jahrzehnten wogt die Debatte hin und her und im Kreis herum. Die Diskrepanz zwischen der Komplexität der psychosozialen Sphäre und der Enge unseres Gucklochs ist einfach zu gewaltig. Die Forschergruppen irren mit eng gestellten Schießbrillen auf der Nase – mit Lochblende zum Fokussieren auf den Zielpunkt – durch einen hochkomplexen Dschungel und merken gar nicht, dass sie im Kreis laufen und vor ihnen schon andere Forschergruppen ihre fast verwehten Spuren hinterlassen haben. Das ist nicht als Vorwurf von oben herab gemeint. Auch ich selbst habe schon wiederholt die folgende Erfahrung gemacht: Ich beschäftige mich einige Wochen mit einem bestimmten Problem, finde eine Lösung und bringe sie hocherfreut zu Papier. Einige Zeit später stoße ich auf alte Papiere oder Bücher und stelle erstaunt fest, dass ich den entscheidenden Lösungsgedanken viele Jahre früher schon einmal in leicht anderem Kontext aufgeschrieben oder ihn gar bei einem anderen Autor gelesen hatte. Auch die Denkfigur von der ewigen Wiederkehr des Friedrich Nietzsche kehrt offenbar immer wieder (heute würden wir freilich sagen: die Wiederkehr des Ähnlichen, des Selbstähnlichen – unsere Welt ist fraktal). In den kleinen Subdisziplinen der Psychologie werden dann oft oberflächennahe Kleintheorien entwickelt, die sich auf umgrenzte Phänomene unter genormten und alltagsfernen Bedingungen beziehen. Doch damit hat das Ganze dann eben für die eigentlich wichtigen Alltagsprobleme kaum mehr Gültigkeit. In diesem Kontext wird oft der Vorwurf des Primats der Methoden vor den Sachfragen artikuliert: Es wird häufig mit streng wissenschaftlichen Methoden an den eigentlich wichtigen Problemen vorbeigeforscht. Auch hier besteht eine Tendenz, den komplexen menschlichen Realitäten besser beforschbare Scheinwirklichkeiten zu überblenden: So untersuchten die Behavioristen eher die Psychologie der Ratte und die Kognitivisten eher die Psychologie des Computers als die des Menschen. Typisch ist es ferner, dass man Einzelfaktoren definiert – etwa Optimismus, Selbstwirksamkeit oder Widerstandsfähigkeit – und die Bedeutung dieser Faktoren dann isoliert voneinander in verschiedenen Zusammenhängen untersucht. Für komplexere, mehr ganzheitliche Modelle sei es zu früh. Nur: In der Praxis

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wären solche Modelle eben hilfreicher, weil der Lehrer oder der Psychotherapeut es eben mit ganzen Menschen zu tun hat. Und schließlich: Was bei psychologischer Forschung herauskommt – wir haben es oft schon vorher gewusst. Nur selten kommt wirklich Unerwartetes zutage, das dann Bestand hat und auch Nutzen stiftet. Zumindest große und relevante Ergebnisse psychologischer Forschung waren zumeist schon im Schatz unseres alltagspsychologischen Wissens enthalten, beginnend bei alten Weisheitslehren. Und ist das einmal nicht der Fall, ist Vorsicht geboten. Zu oft schon haben in die irre gehende psychologische Theorien Menschen ins Unglück geführt – insbesondere im Bereich der Psychotherapie: Da wurden Menschen Missbräuche oder multiple Persönlichkeiten eingeredet oder Traumaopfern die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung. Und wie man die Welle der Ritalin-Behandlungen hyperaktiver Kinder in fünfzig Jahren beurteilen wird, steht dahin. Vor dem Hintergrund dieser und anderer Probleme ist alle Jahre wieder von der Krise der Psychologie die Rede. So zitiere ich nachfolgend aus einem Buch zur Krise der Psychologie von 1994, in dem ein Psychologe einen Krisenartikel eines Kollegen aus 1987 zitiert, in dem dieser ein Zitat aus der Mainzer Zeitung von 1959 zitiert, das einem Heidelberger Krisenkongress aus dem gleichen Jahre gewidmet ist: »Was bei ihrer [der Psychologen] Heringsseelenanatomie und psychologischer Spindkontrolle herauskommt, haben wir entweder – im günstigsten Fall – schon vorher gewusst, oder es ist dummes Zeug« (zit. n. Bergold, 1994, S. 29). Dabei ist die Intention dieses wiederholten Zitierens immer die gleiche: So, wie in dem Zeitungsbeitrag geschrieben, ist es im Prinzip noch heute. Ein aktuelles Beispiel aus der Süddeutschen Zeitung: Es wird von »neuen wissenschaftlichen Untersuchungen« berichtet, dass es einen Zusammenhang zwischen finanzieller Risikobereitschaft und sexueller Stimulation gäbe. »Junge Männer, denen erotische Bilder gezeigt wurden, waren eher zu riskanten Geschäften bereit, als bei Bildern mit bedrohlichen oder neutralen Motiven.« Nach Schilderung der Einzelheiten schließt der Artikel: »Der Harvard-Ökonom Terry Burnham ist davon nicht überrascht. Das stehe doch schon alles in einem berühmten Zitat aus dem Film ›Scarface‹: ›In diesem Land musst du erst Geld machen. Und wenn du Geld hast, hast du Macht. Und wenn du die Macht hast, dann bekommst du die Frauen‹« (Süddeutsche Zeitung, Nr. 84, 10. 4. 2008, S. 25). Man kann die menschliche Psyche mit einer Art Benutzeroberfläche des Gehirns vergleichen. Und Benutzeroberflächen haben es so an sich, dass sie bewusst einfach gestaltet werden – so hält es der Programmierer, und so hat es die Evolution gehalten. Auf unserer psychischen Benutzeroberfläche gibt es wohl nicht viel mehr als ein Dutzend relevanter Knöpfe und Schalter – wir werden darauf zurückkommen. Und die begrenzte Zahl der hier möglichen Schalterstellungen ist in der Menschheitsgeschichte schon lange erschöpfend durchprobiert worden. Die wichtigsten und wirksamen Grundregeln für den Umgang mit sich selbst und anderen Menschen finden sich schon bei Buddha, bei den Stoikern oder in antiken Rhetorik-Handbüchern. Mit allergrößter Wahrscheinlichkeit

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gilt: 90 Prozent von dem, was zu Themen wie Erziehung, Lernen, Lehren, Selbstmanagement, Kommunikation, Konfliktmanagement, Team- oder Mitarbeiterführung wirklich wichtig und wirksam ist, wissen wir. Vielleicht wird man noch den einen oder anderen didaktischen Kunstgriff finden, vor allem unter Nutzung der neuen Medien, aber grundlegend Neues ist zu diesen Themenfeldern nicht mehr zu erwarten. In Bezug auf die wichtigen Probleme unseres Alltags gilt: Das Psychische ist viel einfacher als gemeinhin geglaubt, und das Gehirn ist viel komplizierter, als das öffentliche Bewusstsein es sich auch nur vorstellen kann. Etwas zugespitzt: Die Grundfunktionen der Psyche sind so einfach, dass wir alles wissen, was wir wissen können – die sie tragenden Gehirnfunktionen aber sind so kompliziert, dass wir nie mehr wissen werden als nichts. Wenngleich auch die Psychologie uns wahrscheinlich nichts grundlegend Neues bescheren wird, so kann sie uns zumindest helfen, die Spreu vom Weizen zu trennen. Denn durch das Universum der Populärpsychologie und der Therapieszene treibt derart viel Schrott, dass man das Richtige und Wichtige dazwischen oft kaum mehr wahrzunehmen vermag. Das Brauchbare herauszufiltern, in einer modernen Sprache zu formulieren, es zu integrieren und in den Kontext eines systemisch-evolutionistischen Weltbildes zu stellen, das könnte eine wichtige Aufgabe der Psychologie sein. Das ist auch die Grundintention der von mir entwickelten Psychosynergetik, die mehr auf praktische Anwendungen orientiert ist, und es gehört auch zu den Grundintention des empirisch ausgerichteten Forschungsprogramms der Evolutionspsychologie. Wissenschaft funktioniert nur, wenn es in ihrem Gegenstandsbereich etwas Stabiles und Bleibendes gibt, dessen immer besserer Modellierung und Beschreibung sie sich annähern kann. In den Sozialwissenschaften, so hatten wir gesehen, ist das sehr schwierig. Kulturen und Gesellschaften sind oberflächlich sehr different und einem sich beschleunigenden Wandel unterworfen. Deshalb sind viele Sozialwissenschaftler der Versuchung erlegen, sich in ausufernden Beschreibungen zu verlieren. Das Stabile und Bleibende, um das es in den Sozialwissenschaften gehen sollte, ist noch gar nicht vorhanden, es muss im Rahmen eines komplexitätstheoretischen Paradigmas aus dem vorfindlichen Chaos herausdestilliert werden und ins Fiktive und Normative verlängert werden: mögliche Formen und Strukturen von Gesellschaft, die für den Einzelnen und die Gemeinschaft am gedeihlichsten sind. Die Psychologie ist da in einer etwas besseren Lage: Hier gibt es durchaus Stabiles und Bleibendes: die ererbten Verhaltensneigungen des Menschen. Der Grundbauplan unseres Gehirns ist bei allen Menschen sehr ähnlich und seit Jahrtausenden wenig veränderlich. Er wurde vor Jahrhunderttausenden in der Steinzeit geformt in Anpassung an die Überlebensaufgaben, die sich unseren Vorfahren in ihrer damaligen Umwelt stellten. Zur Bewältigung dieser Aufgaben entstanden im Gehirn Funktionsmodule, die sinnvoll aufeinander abgestimmt körperliche Reaktionen, Emotionen und Verhaltensneigungen erzeugen. Sie

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werden im Rahmen der Evolutionspsychologie als evolutionäre psychologische Module oder kurz EP-Module bezeichnet. Die in Kapitel 1.3 angesprochenen Erbantriebe sind solche EP-Module: Egoantriebe und Konsumantriebe hatten wir erwähnt, weitere Beispiele wären unter anderem: Sexualantrieb, Eifersuchtsantrieb, Nahrungsantrieb, Ekelantrieb, Fürsorgeantrieb. Wie schon angeklungen, muss das zu Riesenproblemen führen: Die kulturelle Evolution rollt viel schneller als die Darwin’sche Evolution und führt zu einem radikalen Wandel unserer Lebensbedingungen und Überlebensprobleme. Viele EP-Mechanismen sind unter heutigen Lebensbedingungen problematisch, kontraproduktiv oder sogar zerstörerisch. Auf höheren, geistig-seelisch-kulturellen Ebenen gut etablierte Beziehungen werden durch Seitensprünge oder Eifersucht zerstört, der unter Bedingungen des Nahrungsmangels entstandene Nahrungsantrieb ist ohne Bremse und führt heute zu Übergewicht, wir ekeln uns vor Speichel, aber nicht vor Alkohol etc. Auf die schon angesprochenen zerstörerischen Wirkungen unserer Ego- und Machtantriebe werden wir noch genauer eingehen. Wenn es ein sinnvolles und machbares theoretisches Großprojekt im Bereich der Psychologie gibt, dann ist es aus meiner Sicht dies: die evolutionistische Rekonstruktion der menschlichen Psyche als ein ganzheitliches System aufeinander abgestimmter EP-Module und die möglichst genaue Beschreibung der Funktionseigenschaften dieses Systems. Wenn es einen Zielpunkt für die notwendigen und überfälligen Konsens- und Kanonbildungsprozesse in der Psychologie gibt, dann ist es dieser. Im Sinne der Dritten Kultur nimmt ein solches Konzept eines EP-Modulsystems eine vermittelnde und beidseits befruchtende Position zwischen der naturwissenschaftlichen Hirnforschung und der geisteswissenschaftlich interpretierenden Psychologie ein. Für die Hirnforschung kann diese Zwischenebene zu fruchtbaren Fragestellungen anregen. Für die interpretierende Psychologie sorgt sie für neue Deutungsmöglichkeiten auf der Basis abgeleiteter und wissenschaftlich begründeter Verhaltensdispositionen. Natürlich kann man auch auf der Basis von EP-Mechanismen das Verhalten eines bestimmten Menschen nicht mit absoluter Sicherheit erklären und vorhersagen. Wie Magnetfelder aus der Tiefe erzeugen EP-Module beim Menschen lediglich mehr oder weniger starke Verhaltensneigungen – Möglichkeits- und Wahrscheinlichkeitsfelder für die Verhaltensevolution. Und in die endgültige Formung des Verhaltens gehen auch noch andere Faktoren ein (u. a. die Impulse aus den Kulturantrieben sowie Umgebungsreize). Gleichwohl ist das Wissen um diese EP-Module sehr hilfreich bei der Deutung menschlichen Verhaltens in Selbstmanagement und Psychotherapie: Wenn jemand gegen Autoritäten rebelliert, muss man ihm nun nicht mehr unbedingt stereotyp das berühmte »Vaterproblem« einreden. Es kann auch sein, dass er einfach angeborenermaßen einen besonders starken Egoantrieb hat. Und ein Eifersüchtiger muss in der Kindheit nicht unbedingt unter schwerster Geschwisterrivalität gelitten haben. Auch Eifersucht war evolutionär sinnvoll und entspringt einem entsprechendem EP-Modul – schon die Papageien zeigen Eifersucht. Eine weitere wichtige Neuorientierung in der Psychologie ist die von den ame-

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rikanischen Psychologen Martin Seligman (2003) und Mihaly Csikszentmihalyi (1993) Mitte der 1990er Jahre angestoßene Positive Psychologie. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Psychologie vorwiegend mit der Erforschung menschlicher Konflikte, Störungen und Defekte beschäftigt. Nun sei es an der Zeit, den Fokus mehr auf die positiven Aspekte zu legen, auf Stärken, Talente und Tugenden, auf Ressourcen wie Optimismus, Geborgenheit, Vertrauen, Verzeihen, Solidarität oder gar Glück. Wie kann man diese positiven Momente theoretisch konzipieren, wie kann man sie entwickeln und fördern? Die Positive Psychologie wäre aus meiner Sicht grundsätzlich mit der Evolutionspsychologie kompatibel und könnte sich durchaus auf der systemisch-evolutionistischen Gesamtplattform der Dritten Kultur ansiedeln. In Teilen findet sich eine solche Synthese auch in der von mir entwickelten Psychosynergetik, in der es ja ganz wesentlich um die Entwicklung der positiven Potenziale des Menschen geht. Mir scheint, dass gerade in der Psychologie eine der wichtigsten Aufgaben darin besteht, von Differenzierung auf Integration umzuschalten. Nicht immer neue Halden signifikanter Daten aufhäufen, sondern die Bestände sichten, und an einem ganzheitlichen Wissenskanon im genannten Sinne arbeiten, der darauf ausgerichtet ist, uns in Bereichen wie Selbstmanagement, Pädagogik oder Psychotherapie ganz praktisch zu helfen. Wie wäre es mit einer Art Wikipedia für Psychologie-Professoren? Und bis zur Vorstellung eines brauchbaren Ergebnisses sollte ein Daten-Produktions-Moratorium verhängt werden.

2.14 Ein zusammenfassender Blick auf die Wissenschaften Ohne allen Zweifel: Die Wissenschaften können als eine der größten Errungenschaften der Menschheitskultur gelten. Sie verhalfen der menschlichen Vernunft zu voller Entfaltung. Sie haben über die Aufklärung in die Moderne geführt und auf diesem Wege ganz entscheidend zur Durchsetzung von Demokratie, Menschenrechten, Rechtstaatlichkeit und anderen Essenzen moderner Zivilisation beigetragen. Naturwissenschaft und Technik machten uns Naturkräfte verfügbar und schufen gewaltige Produktionsmittel, die uns das Leben immens erleichtern. Medizin und Medizintechnik konnten wichtige Krankheiten heilen und das Leiden an anderen erheblich lindern. In vieler Hinsicht ist unser Leben so länger, komfortabler und interessanter geworden. Dass wir Umwelt- und Klimaprobleme haben, dass es Kriegs- und Vernichtungstechnologien gibt, dass Wissenschaft und Technik mit jedem Problem, das sie lösen, drei neue in die Welt zu bringen scheinen – all das ist nicht die Schuld von Wissenschaft und Technik. Die Ursache ist vielmehr, dass sich unsere psychosozialen Fähigkeiten, insbesondere unsere Kompetenzen zur Beeinflussung und Gestaltung komplexer sozialer Prozesse, nicht verbessert haben.

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Allerdings gelangen in den letzten Jahrzehnten immer mehr Wissenschaftsdisziplinen in die Sigmafalle, das heißt in den Bereich sinkender Erträge. Punktuelle neue Entdeckungen mit großer Durchschlagskraft und Breitenwirkung werden unwahrscheinlicher und immer teurer. Auch für die einfachen Bereiche der Welt sinken die Chancen auf große vereinheitlichende Theorien mit mathematischer Prognosekraft – für ihre komplexen Bereiche sind sie prinzipiell unmöglich. Mit dem Eingriff in komplexe natürliche Systeme sollten wir deshalb extrem vorsichtig und zurückhaltend sein, das gilt insbesondere für Biotechnologien, Gentechnik und Hirnforschung. Dies könnte nur ein Versuch-und-Irrtum-Lernen mit großen Verlusten sein. Und unsere Chancen, die Neben- und Fernwirkungen wie auch die ethischen Probleme realistisch abzuschätzen und in den Griff zu bekommen, ohne noch größere Dysemergenzen aufzuschaukeln, sind sehr gering. Weil das mit prinzipiellen Erkenntnisgrenzen zu tun hat, wird sich daran auch niemals etwas ändern. Technologischen Fortschritt in einfacheren Bereichen wird es weiter geben, allerdings mit Tendenz zur Verlangsamung und abnehmender Wirkung in Sachen Lebenserleichterung und Erlebniswert. Am ehesten könnten Großforschungseinrichtungen und mehr internationale Kooperation noch Potenziale freisetzen. Es scheint sinnvoll, die Ressourcen auf die dringenden Überlebensprobleme und wichtige Hebelmomente zu konzentrieren: Umwelt- und Energietechnologien, bestimmte medizinische Themen. Eine Ausnahme bilden die Informationstechnologien – hier ist nach wie vor mit großen Fortschritten zu rechnen und auch noch mit durchschlagenden Wirkungen auf unser Welterleben und die Entfaltung unserer mentalen Potenziale. Hochproblematisch ist die Situation dagegen im hochkomplexen psychosozialen Feld, im Bereich der Geistes-, Psycho- und Sozialwissenschaften. Seit Jahrzehnten forschen die Sozialwissenschaften. Und trotzdem bricht unsere Gesellschaft auseinander, trotzdem fallen die Ergebnisse unserer Hilfsbemühungen im Kosovo oder in Afghanistan sehr bescheiden aus. Seit Jahrzehnten forschen die Ökonomen. Und trotzdem sind sie in zentralen Fragen nicht einig, trotzdem platzen immer wieder Dotcom- und Immobilienblasen mit dramatischen Folgen. Seit Jahrzehnten forschen die Pädagogischen Hochschulen. Und trotzdem können die Schüler immer schlechter lesen, schreiben und rechnen, trotzdem gab und gibt es PISA. Seit Jahrzehnten forschen die Politologen. Und trotzdem zeigt das politische System gravierende Fehlentwicklungen, trotzdem gehen immer weniger Menschen zur Wahl. Seit Jahrzehnten gibt es Klinische Psychologie und Psychotherapieforschung. Und trotzdem ist der Wirkungsanteil spezifischer Psychotherapietechniken am Gesamtresultat gering, und trotzdem nehmen die psychischen Störungen in der Gesellschaft zu. Seit Jahrzehnten gibt es die Arbeits- und Organisationspsychologie, Berater machen sich wichtig und Business-Schulen verdienen kräftig Geld. Und trotzdem werden immer mehr Führungskräfte als Absahner und Steuerhinterzieher geoutet, und trotzdem nehmen die Klagen der Mitarbeiter über die Führungsqualitäten ihrer Vorgesetzten zu. Und so weiter und so fort.

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Jahrzehntelange Psychosozialforschung hat an der Art, wie wir lernen und lehren, wie wir mit uns selbst und mit unseren Mitmenschen umgehen, kaum etwas geändert (und wo doch, war es nicht immer zum Guten und wurde oft rückkorrigiert). Vieles wird hier von vielen Menschen intuitiv einfach richtig gemacht, solange sie nicht von Experten beraten und verunsichert werden. Die wichtigen und wirksamen Grundprinzipien für diese Bereiche sind zumeist seit langem bekannt. Der Impact jahrzehntelanger Psychosozialforschung auf die wichtigen Aspekte unseres Lebens liegt wohl nicht weit von Null. Überwiegend L’art pour l’art. Ein großes Schaumgebirge auf einem kleinen Sockel wirklich wertschöpfender gesellschaftlicher Aktivitäten. Freilich – all das ist nicht überwiegend die individuelle Schuld der Psychosozialwissenschaftler. Vieles hat mit den besprochenen prinzipiellen Erkennbarkeitsgrenzen zu tun, die diesen Forschungsbereich in besonderem Maße kennzeichnen, anderes mit unseren prinzipiellen Schwierigkeiten bei Kommunikation, Kooperation und Integration. Manches geht auf gesamtgesellschaftliche Prozesse und Probleme zurück. Und es gibt die systemischen Zwänge, in die man im Laufe seiner Karriere hineingerät. Aber einmal muss man innehalten und Bilanz ziehen. Und diese Bilanz ist eben wirklich ziemlich schlecht. Wie lange können wir uns eine solche Ineffizienz im Angesicht der heraufziehenden Bedrohungen noch leisten? Es muss sich etwas ändern. An der Art, wie man diese Wissenschaften betreibt, an der Art, wie sie in die Gesellschaft implementiert sind. Ein wichtiger Weg könnte in der Institutionalisierung von Prozessen der Konsens- und Kanonbildung liegen, vor dem Hintergrund von Komplexitätstheorie und Dritter Kultur. Sodann hätte eine interdisziplinäre Integration und Fokussierung auf die praxisrelevanten Hebelprobleme zu erfolgen: Welche Eigenschaften braucht das Individuum, um für den Aufbau komplexer Kulturgemeinschaften besser tauglich zu sein? Wie kann man den Einzelnen dorthin bringen? Wie müssen Gesellschaften aussehen, die dem Individuum und der Gemeinschaft ein optimales Gedeihen ermöglichen? Welche realpolitischen Wege hin zu einer solchen Gesellschaft gibt es? Ein wichtiger Teil der Lösung müsste nach meiner Überzeugung »Persönliche Meisterschaft einschließlich der Entwicklung von Systemkompetenz« heißen. Das zentrale Instrument zur Bewältigung psychosozialer Komplexität ist die Gesamtpersönlichkeit mit ihren intuitiven Reaktionen, die man in ihrer Treffsicherheit gezielt fördern kann. Im Rahmen der Entwicklung persönlicher Meisterschaft können sowohl das Ego-Problem als auch das Guckloch-Problem speziell kompensiert werden. Solche Traditionslinien persönlicher Meisterschaft müssten in funktionierenden Kulturgemeinschaften eine zentrale Rolle spielen. Nicht das Assessment-Center ist der richtige Weg zur Personalauswahl, sondern das persönliche Gespräch mit einer Führungskraft, die in einer solchen Traditionslinie der Meisterschaft steht. Auf dieser Basis ließe sich dann auch viel konstruktiver mit verschiedenen sozialen Organisationsformen experimentieren.

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Doch bevor wir das vertiefen, sei zunächst versucht, vor dem Hintergrund alles bisher Besprochenen die Skizze eines ganzheitlichen systemisch-evolutionistischen Weltbildes zu entwickeln. Die Details der nun folgenden, zwangsläufig sehr komprimierten Darstellung sind nicht Voraussetzung zum Verständnis der Folgekapitel und können bei Bedarf an anderer Stelle ausführlich nachgelesen werden (Hansch, 2004).

2.15 Das Weltbild der Dritten Kultur Als archimedischer Punkt der für uns Menschen maximalen Gewissheit taugt nach wie vor der Ansatz von Descartes: Cogito, ergo sum. Ich denke, also bin ich. In irgendeiner Form nehme ich mich wahr, also eignet mir irgendeine Form von Existenz. Wenn irgendetwas höchstgradig gewiss sein kann, dann ist es dies. Im nächsten Schritt wird mir klar: Meine Erlebenswirklichkeit teilt sich in zwei grundsätzliche Bereiche: Da gibt es meine Innenwelt und meinen Körper, über die ich irgendeine Form von Kontrolle habe. Ich kann denken, was ich will, mir vorstellen, was ich will und tun, was ich will. Und dann gibt es die Umwelt meines Körpers, über die ich keine Kontrolle habe, außer ich verändere etwas mit meiner Muskelkraft. Alle mir bekannten Versuche, unter kontrollierten Bedingungen zu zeigen, dass man mit reiner Gedankenkraft etwas in der Außenwelt bewegen könne, sind gescheitert. Die Umwelt teilt sich nun ihrerseits wieder in zwei Bereiche: Es gibt belebte und unbelebte Dinge. Und unter den belebten gibt es solche, die mir vom äußeren Erscheinungsbild und Verhalten her sehr ähnlich sind. Ich nenne sie Mitmenschen. Mit einigen kann ich reden und wenn ich sie nach bestimmten Erfahrungen in ihrer Innenwelt frage, dann antworten sie so, wie auch ich antworten würde. Es liegt also sehr nahe, dass sie mir nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich ähnlich sind: Sie sind selbstbewusste und autonom handelnde Wesen wie ich auch. Natürlich ist das längst nicht so gewiss wie meine eigene innere Erfahrung. Rein theoretisch könnte es sein, dass es nur mich selbst wirklich gibt und meine gesamte Erfahrungswelt einschließlich aller vermeintlichen Mitmenschen so etwas wie ein Traum, eine Halluzination oder eine Simulation ist. Und umgekehrt: Vorausgesetzt, dass es Sie tatsächlich gibt, dann könnten Sie Ihrerseits nicht sicher sein, dass es mich und die anderen Mitmenschen wirklich gibt. Dies ist die philosophische Position des Solipsismus. Zwar kann man den Solipsismus nicht zwingend widerlegen, aber man kann zeigen, dass er eine ziemlich komplizierte und in vieler Hinsicht unplausible Annahme ist. Einfacher, plausibler und damit viel wahrscheinlicher ist: Ich, Sie und alle anderen Mitmenschen, wir alle existieren tatsächlich als bewusste und autonome Wesen. Und damit ist auch evident: Wir existieren in einer gemeinsamen Welt, die ihrerseits unabhängig von uns existiert. Es gibt eine gemeinsame, äußere Realität, von der bestimmte »Aspekte« in irgendeiner Weise in unsere Erfahrungswelt hineingespiegelt werden.

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Im nächsten Schritt erkennen wir: Alles in unserer Innen- und Außenwelt ist Veränderungen unterworfen, einige Aspekte wandeln sich langsamer in der Zeit, andere schneller. Entscheidend ist: Innerhalb und zwischen diesen Veränderungsprozessen gibt es Regelmäßigkeiten: Bestimmte Erscheinungen sind regelmäßig mit anderen Erscheinungen verbunden, bestimmte Ereignisse haben regelmäßig andere Ereignisse zur Folge. Das erlaubt die Bildung von Begriffen und das Formulieren von Gesetzmäßigkeiten. Diese Fäden von Begriffen und Gesetzen verknüpfen wir dann immer dichter zu einem Netzwerk, das sich am Ende zirkulär um uns schließt. Und aus diesem Kontext heraus erwächst die Bedeutung, die die Erscheinungen für uns haben. Zur Verdeutlichung sei noch einmal die Betrachtung von Abbildung 8 empfohlen. Und auch an unsere Metapher vom Kobold in der Milchglaskugel sei erinnert, die insbesondere verdeutlicht, dass die Sphäre unseres Erkennens bedeutungsdicht ist: Weder kann Bedeutung hinein noch kann sie heraus (Kapitel 1.5 und 2.4). Allem Neuen können wir nur von innen heraus Bedeutung zuweisen aus dem Kontext unserer Lern- und Erfahrungsgeschichte, die in der Begriffssphäre, die uns umgibt, ihren Niederschlag gefunden hat. Dabei tritt jeder Einzelne von uns mit anderen in Kommunikation, bei der man sich wechselseitig zu inneren Bedeutungserzeugungen anregt. Wir können aber auch Medien wie Bücher auf uns wirken lassen, deren Sprachstrukturen versuchen, unseren inneren Bedeutungserzeugungen bestimmte neue Pfade zu eröffnen. Für diese Prozesse haben wir Namen wie Lernen oder Erkenntnis. (Die Extraktion von Invarianz aus dem Strom des Seins in Form von Begriffssystemen – das ist Erkenntnis im engeren Sinne, und nur das.) Wenn dieser Erkenntnisgewinn dabei festgelegten, strengen Regeln folgt, nennen wir das Wissenschaft. Was hat die Menschheit nun auf ihrem Erkenntnisweg erfahren über die Grundstruktur unserer Welt? Nun, wie schon erläutert, nennen wir den Gesamtprozess des Wandels Evolution und seine Einzelschritte Selbstorganisation. Der Blick auf das Große und Ganze hat gezeigt, dass sich unser Universum in einem Prozess der Expansion befindet: Die Galaxien streben mit immer größerer Geschwindigkeit auseinander. Wenn man das mit den Gesetzen und Gleichungen, die aus dem uns zugänglichen Weltbereich extrahiert wurden, in der Zeit zurückrechnet, dann ergibt sich Folgendes: Vor circa 14 Milliarden Jahren müsste das Universum quasi explosionsartig aus einem Zustand hervorgegangen sein, in dem alles Existierende bei unvorstellbar hoher Dichte und Temperatur auf extrem kleinem Raum vereint war. Nach diesem »Urknall« kam es dann zur heute noch anhaltenden Expansion von Raum und Materie. Die damit verbundene Abkühlung führte zu einem allmählichen Auskristallisieren der heute vorfindlichen stofflichen Materie in Form der Atome der uns bekannten Elemente. Man kann sich das ein bisschen vorstellen wie die Bildung von Eiskristallen beim Übergang von Regen in Schneeregen. Der Fachbegriff hierfür ist »konservative Selbstorganisation«: Die Materie wird immer träger und ordnet sich schließlich zu Strukturen mit minimaler freier Energie. Aufgrund der Gravitationskräfte kam es dann zur Zusammenballung

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großer Materieklumpen, von denen sich die größten durch Kompression wieder erhitzten. So entstanden kühle Planeten und heiße Sterne. Und das ist die Konstellation, die dann auch die dissipative bzw. synergetische Selbstorganisation möglich macht, die auf der Erde zur Entstehung von Leben, Geist, Kultur und Gesellschaft geführt hat. Von der Sonne bekommt die Erde potenziell ordnungsstiftende hochwertige Energie. Gleichzeitig kann sie entwertete Energie (»Unordnung«, Entropie) in den kalten Weltraum abstrahlen. Die Entropiebilanz ist also negativ und damit wird die Bildung von Ordnung, Struktur und Information auf der Erde physikalisch möglich (durch diese Offenheit des Systems ist quasi der zweite Hauptsatz der Wärmelehre außer Kraft gesetzt). Zu Beginn des Buches hatten wir ja den Elementarvorgang der synergetischen Selbstorganisation am Beispiel der Bénard-Konvektion schon skizziert: Nach Erwärmung von unten bilden sich in Flüssigkeitsschichten spontan unterschiedliche Formen von Strömungsmustern aus, Wabenmuster beispielsweise oder Rollenformationen. Dabei spielen Zufallsfluktuationen, Selektionsprozesse durch die Randbedingungen, Mechanismen der Selbstverstärkung sowie die synergetischen Gesetze des Zusammenwirkens eine Rolle. Aus dem Zusammenspiel einer Vielzahl von Elementen entstehen so neue Strukturen mit neuen, emergenten Eigenschaften auf einer übergeordneten Ebene. Nach diesen Prinzipien haben sich aller Wahrscheinlichkeit nach im Urmeer unter Beteiligung vieler förderlicher Faktoren wie Blitzeinschläge, Lavaströme oder heiße Quellen am Meeresgrund organische Moleküle, insbesondere Aminosäuren und Nukleinsäuren gebildet. Hieraus entstehen dann organische Makround Kettenmoleküle und schließlich ganze Netzwerke von ihnen, die zu Katalyse und Selbstreproduktion in der Lage waren (Hyperzyklen nach Manfred Eigen). Auf dieser neuen Ebene nähert sich die Selbstorganisation dann schon ihrer klassisch-biologischen Form als Wechselspiel zwischen Mutation und Selektion. Nach primitiven und instabilen Grenzbildungen zur Umwelt in Form von Koazervaten oder Mikrosphären mögen dann Vorformen einzelliger Lebewesen entstanden sein. Eine Vielzahl von Experimenten und theoretischen Überlegungen haben gezeigt, dass die Entstehung von Leben nach einem solchen Grundszenario zumindest im Bereich des Möglichen liegt. Einzeller integrierten sich schließlich zu Vielzellern mit innerer Arbeitsteilung in Form von Organen und Organsystemen. Eines dieser Organsysteme übernimmt die Regulation der inneren Prozesse sowie die Regulation der Wechselwirkung mit der Umwelt: das Nervensystem mit immer leistungsfähigeren Gehirnen. Dies machte dann auch immer komplexere Formen des sozialen Lebens möglich – nach Entstehung von Sprache und Schrift eingebettet in die rasant evolvierenden Strukturen der Kultur. Die Evolution erbaut nun also zunehmend komplexe Verschachtelungen aus festen und synergetischen Strukturen. Die synergetischen Strukturen regulieren und tragen hochflexibel die Standardfunktionen – den intrazellulären Stoffwechsel etwa. Und sie erzeugen per Selbstorganisation neue Struktur und Information

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– beispielsweise bei Rekombinationsvorgängen im Genom oder bei Aha-Erlebnissen im Gehirn. Die festen Strukturen tragen, stabilisieren und kompartmentieren das Ganze – beispielsweise in Form von Zell- und Organwänden. Quasi in Form eines Sediments der synergetischen Selbstorganisation fungieren diese festen Strukturen zugleich als Speicher neuer Struktur und Information – beispielsweise in Form von Gensequenzen oder Leitfähigkeitsveränderungen der Synapsen im Gehirn (Gedächtnisbildung). So entstehen ständig neue Stufen auf der Evolutionspyramide als Ausgangspunkt für die nächsten Schritte. Das Ganze funktioniert nach den Prinzipien der Holarchie, einer Hierarchie aus Holonen: Holone sind Teilsysteme, die nach innen Ganzheiten sind und nach außen Teile. In jedem Holon gibt es Prozesse, die autonom und eigengesetzlich sind, und es gibt Prozesse, die indirekt oder sogar direkt von außen beeinflusst werden können. Indirekt-unspezifische Beeinflussungen sind zwischen allen Ebenen möglich, direkt-spezifische in der Regel nur von oben nach unten entlang vorinstallierter Wege. So kann zum Beispiel eine Krebserkrankung völlig autonom in jeder Zelle aufgrund eines genetischen Malheurs entstehen. Sie hat dann keinesfalls irgendetwas mit einem spezifischen psychischen Konflikt zu tun und kann auch nicht durch Psychotherapie direkt geheilt werden. Ebenso können ominöse »Energien« aller Provenienz keine direkte Heilwirkung ausüben (wenn es solche Phänomene überhaupt gibt, dann handelt es sich um weniger differenzierte und damit in der Holarchie tiefer stehende Phänomene). Direkt-spezifisch heilen kann nur das Immunsystem mit den dafür vorgesehenen körpereigenen Waffen (und allenfalls noch exakt auf die betreffenden Zellen zugeschnittene Chemotherapeutika). Wenn überhaupt, dann können Psychotherapie und sonstige alternative Heilmethoden hier allenfalls indirekt einen positiven Einfluss haben (etwa vermittelt über eine Stärkung des Immunsystems). Diese Grundprinzipien gelten überall in unserem fraktal evolvierenden Universum – auch in Organisationen zum Beispiel können nur Vorgesetzte direktspezifische Anweisungen erteilen, während die Mitarbeiter ihren Chef allenfalls indirekt-unspezifisch zu beeinflussen vermögen. Eine Möglichkeit, das Gesamtbild unseres fraktal evolvierenden Universums zu skizzieren, wurde in Abbildung 9 schon vorgestellt. Die großen und langsamen Sphären der Evolution bilden die Randbedingungen für die eingeschachtelten kleineren und schnelleren Evolutionsstufen. Das interessanteste Gebilde in diesem Kontext ist sicher das menschliche Gehirn. Wenn wir unser Gehirn auf Abbildung 9 projizieren, ergibt sich – siehe Abbildung 10 – Folgendes: Auf der Ebene der Phylogenese/Morphogenese liegen die besprochenen EP-Module (u. a. die Erbantriebe): Hierbei handelt es sich um »fest verdrahtete« Funktionssysteme, deren »Bauplan« in der Stammesgeschichte »gezeichnet« wurde und der dann in der Morphogenese aus den Genen heraus immer wieder neu materielle Gestalt annimmt. Auf der Ebene der Ontogenese, der Individualentwicklung liegen die besprochenen Kulturantriebe: Sie konstituieren sich aus Wissen und Können, das im individuellen Lernen einverleibt und zu hohen Graden an Ord-

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soziokulturelle Evolution

Gehirn

Aktualgenese (Verhalten)

Kulturantriebe

Ontogenese

Fluss der Bewegungen Wahrnehmungen und Gedanken

Morphogenese

Phylogenese

Erbantriebe und andere EP-Module

Kosmogenese

Abbildung 10: Abbildung des Schemas der fraktalen Evolution (Abbildung 9) auf wichtige Strukturen von Gehirn und Psyche

nung und Harmonie heraufgeübt und im »Synapsengedächtnis« verfestigt wurde. Und die Ebene der Aktualgenese ist das Brodeln der psychoneuralen Evolution im Hier und Jetzt: Auf einfacher Stufe wird uns das zum Beispiel in Anbetracht von Abbildung 6 bewusst, auf höheren Ebenen erleben wir es zum Beispiel als »Ideenmutagenese«(eine Fülle von Eingebungen wird auf Richtigkeit geprüft). Auf vielen Ebenen entstehen also durch psychoneurale Selbstorganisation Muster, die dann auf Tauglichkeit und Stimmigkeit geprüft werden. Auf niederen Ebenen erfolgt diese Selektion unbewusst, auf den höchsten unter Beteiligung von rationalen Kriterien, Gefühlen und Bewusstsein. Vor diesem Hintergrund erkennt also das Erkennen nicht nur die Außenwelt als einen Evolutionsprozess, es erkennt auch sein eigenes Funktionieren als einen Evolutionsprozess, es erkennt sich selbst als integralen Bestandteil der Evolution des Universums, die Evolution wird sich ihrer selbst bewusst. Man kann gut begründen, warum der evolutiven Funktionslogik folgende drei Tendenzen wesensinhärent sind: Beschleunigung, Komplexitätszunahme und Selbstmodellierung (Hansch, 2004). Dies spricht zum einen für eine monistische Weltsicht: Es gibt Prinzipien, die auf allen Ebenen des Seins wiederkehren und sie zu einem Ganzen verbinden. Zum anderen erkennt das Erkennen damit seine eigenen Grenzen. 1. Die EP-Module sind wie alle anderen Organe auch oft unvollkommene und kompromisslerische Anpassungen, die gerade ausreichen, das Überleben zu sichern. Wir können nicht davon ausgehen, dass sie uns eine vollständige und genaue Abbildung der äußeren Realität liefern. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ist uns ein mehr oder weniger großer Teil der Eigenschaften und Dimensionen der Realität nicht zugänglich. Unser Weltbildapparat spiegelt nur einige überlebensrelevante Eckdaten in unser Gehirn hinein.

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2. Wie die Diskussion der Abbildung 6 schon gezeigt hatte: Die Bedeutung konstruieren wir von innen heraus zwischen diese Eckdaten. Immer ist das eine Hypothese, oft gibt es alternative Deutungen, die nahezu gleichwertig sind. Abbildung 7 zeigt, wie das gleiche »Eckdaten-Raster« mit ganz unterschiedlichem Sinn- und Bedeutungserleben verbunden sein kann. Daraus folgt: Die Beziehung zwischen der äußeren Realität und den Bedeutungskonstrukten unserer Innenwelt wird nichts von einem Abbild mit Ähnlichkeitscharakter haben, wie wir das aus unserer Innenwelt kennen (etwa zwischen einem Star und seiner Puppe im Wachsfigurenkabinett). Die Realität ist nicht schlechthin seltsam, sie ist viel seltsamer, als wir uns auch nur entfernt vorstellen könnten. 3. Wie insbesondere die Metapher vom Kobold in der Milchglaskugel zeigt: Die Sphäre unserer Bedeutungskonstruktionen ist zyklisch in sich geschlossen (»selbstreferenziell«) und damit bedeutungsdicht: Weder mit Büchern noch mit anderen Menschen können wir Bedeutung austauschen. Und das gälte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch für höhere Wesen oder Sphären, sofern es sie geben sollte – wir kommen darauf zurück. Die Schritte, deren Erklärung uns am schwersten zu fallen scheint, sind sicher der Sprung ins Leben einerseits und die Entzündung der Bewusstseinsflamme andererseits. Nun, bei Leben und auch Geist handelt es sich von ihrem Wesen her um anpassungsfähige und kreative dynamische Muster, die sich unter Zufuhr von hochwertiger Energie selbst reproduzieren – das ist die irrduzible Essenz dieser Phänomene. Und wie geschildert, ist Materie schon unter einfachsten physikalischen Rahmenbedingungen zu solchen Musterbildungen in Form von synergetischen Strukturen in der Lage. Man muss nur eine Flüssigkeitsschicht von unten erwärmen, und schon hat man in Form der beschriebenen Bénard-Zellen das Zentralelement, aus dem sich Lebens- und geistige Prozesse zusammensetzen, freilich unter hochkomplexen Rahmenbedingungen. Wie schon angesprochen und anderenorts ausführlich dargestellt, zeigen schon solche einfachen synergetischen Strukturen zumindest in Vorformen ganz zentrale Qualitäten, die dem Leben und dem Geist zu eigen sind (u. a. Sensibilität, Anpassungsfähigkeit, Kreativität, Gedächtnis; vgl. Hansch, 1997, 2004). Damit hätten wir schon einmal eine wichtige Einsicht, die den Nachvollzug der genannten Schritte sehr erleichtert. Was die Lebensentstehung angeht: Wie schon angedeutet, ist es in Experimenten gelungen, in einer simulierten Uratmosphäre alle wichtigen Grundbausteine für den Aufbau von Biosubstanzen entstehen zu lassen. Und viel mehr als das Aufzeigen solcher prinzipiellen Möglichkeiten ist wahrscheinlich auch nicht drin. Geschichte ergibt sich aus dem Zueinander von Gesetzmäßigkeiten und »eingefrorenen« Zufällen. So komplexe Gesamtentwicklungen sind also in ihrem konkreten Verlauf niemals zwingend und deshalb auch nicht exakt reproduzierbar. Im Nachhinein lässt sich prinzipiell nicht mehr rekonstruieren, was genau und im Einzelnen geschehen ist.

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Was das Aufkommen von Bewusstsein angeht, sollten wir uns Folgendes vor Augen halten: Wir hatten gesagt, dass das Ganze mehr und anders ist als die Summe der Teile. Und je komplexer das Ganze ist, desto gravierender fällt dieses »mehr« und »anders« aus. Wenn man sich nun überlegt, dass es sich bei unserem Gehirn um das mit weitem Abstand komplexeste Phänomen im uns zugänglichen Universum handelt, dann darf man prinzipiell schon einmal mit wirklich verblüffenden Emergenzsprüngen rechnen. Und ein sehr wichtiger Umstand bleibt bei der ganzen Diskussion um die großen Fragen des Gehirns wie Bewusstsein und Freiheit zumeist unbeachtet: Alle aufgezählten Grenzen von Erkenntnis gelten ja auch in Bezug auf die Erforschung des Gehirns. Das, was der Hirnforscher untersucht, ist ja nicht das reale Gehirn an sich. Er kann ja nur erforschen, was ihm der Weltbildapparat seines eigenen Gehirns von anderen Gehirnen zeigt. Und wenn uns mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Großteil der Eigenschaften und Dimensionen der Realität verborgen bleiben, dann gilt das natürlich auch für unsere realen Gehirne. Niemand kann ausschließen, dass Gegebenheiten wie das Bewusstsein an irgendwelche, beispielsweise feldartige Phänomene gebunden sind, für die wir weder Sinnesorgane noch Messgeräte haben. Jeder sieht sofort, dass auch der Einstein unter den Regenwürmern nicht die geringste Chance hat, auch nur die Gesetze des freien Falls zu verstehen – wir selbst aber wähnen uns immer im Besitz all dessen, was man braucht, um die letzten Fragen zu klären. Diese Hybris entbehrt natürlich jeder Grundlage. Lassen Sie uns nun noch kurz auf die Gretchenfrage aller Weltanschauung eingehen: Was ist primär – Materie oder Geist? Ist Geist, wie wir ihn von uns selbst kennen, ein spätes Produkt hochentwickelter Materie? Oder sedimentiert Materie irgendwie aus einem irgendwie universellen Geist aus (»Involution« oder Schöpfung), um dann im Prozess der Evolution irgendwie wieder zu ihm zurückoder heimzukehren? Nun, zunächst ist wichtig, dass wir die Begriffe »Materie« und »Geist« nicht im Sinne von völlig disparaten letzten Dingen an sich ontologisieren. Beide sind zunächst einmal nicht mehr als grundlegende Darstellungsweisen auf der Benutzeroberfläche unseres Gehirns, Konstruktionsprinzipien für grundlegende Bereiche in unserer Wirklichkeit. Wir wissen nur, dass sich diese Prinzipien offenbar ausreichend im evolutiven Überlebenskampf bewährt haben: Für die Darstellung der Außenwelt (Materie = res extensa) haben sich drei bzw. vier Dimensionen als praktikabel erwiesen, für die Darstellung unserer Innenwelt (Geist = res cogitans) waren offenbar null bzw. eine Dimension ausreichend (je nach dem, ob man die Zeit als eigene Dimension fassen will). Vor diesem Hintergrund können wir dann sagen: Alles, was wir im Rahmen unserer Wirklichkeit erkennen können, spricht zunächst für Variante eins. Geist ist ein Produkt hochkomplexer materieller Prozesse. Oder zumindest: Geistige Leistungen sind gebunden an komplexe materielle Trägerstrukturen. Und: Je komplexer diese Trägerstrukturen sind, desto komplexer sind auch die geistigen Leistungen. Wir wissen: Alkohol, Narkosemittel oder Hirnverletzungen bzw. -degenerationen führen zu umschriebenen oder globalen Ausfällen von geisti-

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gen Leistungen und/oder Bewusstsein. Wir können die Evolutionsreihe der Nervensysteme parallelisieren mit der Entwicklungsreihe der geistigen Leistungen: Bakterien wissen nichts, Regenwürmer können schmecken, riechen und Temperaturen wahrnehmen, Frösche schnalzen mit ihren langen Zungen nach kleinen schwarzen Pappscheibchen, die sich mit der Geschwindigkeit einer Fliege vor ihren Augen bewegen, Primaten haben ein komplexes Sozialverhalten und können bildhaft denken, und was wir Menschen können, wissen Sie selbst. Auch wenn wir es im Einzelnen vielleicht nie werden vollständig nachvollziehen können – es ist durchaus möglich, dass die Evolution der Nervensysteme die Entstehung von Bewusstsein und Geist im Wesentlichen erklärt. Nun zur zweiten der genannten weltanschaulichen Grundpositionen, nach der der Geist vor der Materie das Primat habe: Die Welt sei eine Aussedimentierung oder Schöpfung eines umfassenden und überlegenen Geistes oder Gottes. Nun ja, das Problem damit ist zunächst: Dieser Geist oder Gott ist in unserer Wirklichkeit bisher nicht direkt und zweifelsfrei in Erscheinung getreten. Der Gott der Wissenschaft hat es seinen Priestern erlaubt, Sonnenfinsternisse vorauszusagen und seine Existenz und Kraft damit unter Beweis gestellt. Von allen anderen Göttern fehlen solche Machtbeweise bisher, obwohl sie es eigentlich ganz leicht haben sollten – wir werden beim Thema Religion darauf zurückkommen. Alle bisher berichteten Wunder haben sich als zweifelhaft erwiesen. Alle sonstigen Hinweise, zum Beispiel in Form vielfältigster religiöser oder spiritueller Erfahrung, kann man auch anders und einfacher erklären. Sofern jemand bei mystischen Erlebnissen nicht in den Besitz von normalerweise unverfügbarem Wissen kommt – beispielsweise in Form der Lottozahlen –, ist die einfachste und wahrscheinlichste Erklärung, dass es sich um bloße Produktionen des eigenen Gehirns handelt (wie bei Halluzinationen, die auf ganz unterschiedliche Weise ausgelöst werden können). Wenn es also keine direkten Belege für sie gibt – wie entstehen dann solche idealistischen, esoterischen oder religiösen Weltbilder? Nun, ihr Ursprung liegt weit zurück in einer Zeit, als die Menschen von Evolution und Wissenschaft noch nichts wussten. Ihre einzige Erfahrung mit der Schaffung von etwas Neuem war ihr eigenes Handeln: das Fertigen eines Speeres oder einer Tonfigur. Und so lag der einfachste Analogieschluss wohl in der Annahme, dass die ganze Welt in einem ähnlichen Fertigungsprozess entstanden sein müsse, freilich dann ausgehend von einem überirdischen Wesen. Sodann bieten sich natürlich starke Wünsche als Väter solcher Gedanken an – beispielsweise der Wunsch nach Sicherheit und Letzterklärung. Nur, unser Weltbildapparat ermöglicht uns leider keinen anderen Erklärungsmodus als den: Erklären heißt, nachzuvollziehen, wie eine Wirkung aus dem Zusammenspiel von Ursachen entlang bestimmter Gesetze entsteht. Aber jede Ursache ist natürlich ihrerseits wieder die Wirkung anderer Ursachen. So führt der uns einzig denkmögliche Modus des Erklärens in einen unendlichen Regress. Einen solchen unendlichen Regress hat man für nicht akzeptabel erklärt und

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daraus sogar einen Gottesbeweis gemacht: Es müsse einen unbewegten Beweger, eine unverursachte Ursache geben, und die sei Gott. Das ist natürlich nicht zwingend. Wenn Gott nicht erschaffen wurde, dann existiert er also ewig. Dann könnte aber auch eine selbstorganisationsfähige Materie ewig existieren und sich in einem immerwährenden Wandlungsprozess gefallen. Aber es geht ja nicht nur um einfache Ursachenketten mit oder ohne Anfang. Unsere Erfahrung sagt uns durchgängig: Das Komplexe entsteht aus dem Einfachen und das Komplexe zeigt differenziertere Funktionen und Leistungen als das Einfache. Das ist so bei natürlichen Systemen, aber auch bei den menschlichen: Jede Maschine muss aus Einzelteilen zusammengebaut werden und je komplexer sie ist, desto mehr Leistung bringt sie auch. Noch nie haben wir gesehen, dass ein undifferenziertes, strukturloses Phänomen irgendwelche intelligenzartigen Leistungen gezeigt hätte. Entsprechend wäre Gott für uns nicht als ein diffus wabernder heiliger Geist vorstellbar. Als Verursacher einer komplexen Schöpfung könnten wir Gott nicht anders denken als ein ebenfalls extrem komplexes und differenziertes Wesen. Aber als solches müsste es eben seinerseits irgendwie entstanden oder zusammengebaut worden sein – entweder von einem Mechanismus wie der Evolution oder von einem seinerseits noch komplexeren Schöpfer. Es bleibt also dabei: In dem einzigen unserem Verstand möglichen Modus der Erklärung ist Gott im Sinne einer Letztbegründung nicht widerspruchsfrei darstellbar. Wir müssen wohl akzeptieren: Für das Überleben unserer Vorfahren waren philosophische Letztbegründungen nicht relevant. Deshalb ist unser Denkapparat so begrenzt, dass er zur Erkenntnis der letzten Dinge nicht fähig ist. Was uns zwingend oder unvorstellbar erscheint, ist wahrscheinlich so begrenzt und spezifisch menschlich, wie es den spezifischen Begrenzungen des Frosches entspricht, auf eine grobe Fliegenattrappe zwingend mit einem Zungenschuss zu reagieren. Einfach aus dem Nichts heraus eine letzte und umfassende Instanz zu behaupten, ist jedenfalls ein intellektuell schäbiger Taschenspielertrick. Und auch dem Wunsch nach Trost könnten Vaterehren für ein esoterischreligiöses Weltbild zukommen. Irgendwie in den Schoß des Großen Geistes zurückzukehren, das hört sich warm und heimelig an. Doch was könnte in diesem Kontext mit »Geist« gemeint sein? Alles, was wir mit diesem Begriff assoziieren, kennen wir nur aus dem eigenen Erleben. Und dieses Erleben ist unlöslich an unseren Körper, an unser Gehirn und seine Sinnesorgane gebunden. Kognitionswissenschaftler und Roboterbauer haben dieses »Embodiment« des Geistes in den letzten Jahren in immer höherem Maße anerkennen und einbeziehen müssen. Es gibt keinen unverkörperten Geist an sich, der in abstrakten Algorithmen aufgeht. Was zum Beispiel im Zusammenhang mit Nahtoderlebnissen immer wieder berichtet wird, erscheint aus dieser Perspektive als extrem unplausibel: Man könne aus seinem Köper heraustreten und die Szenerie beispielsweise in einem Schwebezustand von oben her betrachten. Die Art, wie wir sehen und wahrnehmen, wird natürlich weitestgehend von Aufbau und Funktion unserer Augen und unseres

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Sehsystems geprägt. Wenn sich eine Art wahrnehmungsfähiges Bewusstseinsfeld, in dem unsere Identität weiterhin irgendwie gespeichert wäre, vom Körper ablösen könnte, dann müsste sich Wahrnehmung in diesem Zustand ganz anders anfühlen. Wahrscheinlich wäre man zunächst verwirrt, und müsste »Sehen« erst wieder neu lernen. Wenn man auch ohne Augen sehen kann, warum gibt es dann eigentlich welche? Allein diese Überlegungen legen nahe, dass es sich bei diesen Schilderungen außerkörperlicher Erfahrungen um naive Deutungen halluzinatorischer Erlebnisse handelt. Geist kann also nur als spezifisch menschlich verkörperter Geist gedacht und imaginiert werden. Eine andere sinnvolle Füllung des Geist-Begriffes gibt es nicht. Aber ein solcher Begriff kann ja eigentlich nicht gemeint sein im Rahmen esoterisch-religiöser Weltbilder. Ein Geist wie der unsere könnte ja die Welt nicht erschaffen. Es müsste also irgendwie ein ganz anderer Geist sein. Aber diese Andersartigkeit wird nie exakt beschrieben, vielmehr werden nur sehr diffuse Bestimmungen geliefert: Dieser Geist sei das Eine, das Ganze, er sei überall und nirgends, er sei allwissend, allmächtig, allgütig. Es handelt sich also eigentlich um eine große Begriffsschublade, in die man einfach alles hineinverschiebt, was man nicht erklären kann. Und zusätzlich projiziert man uneingestanden noch Eigenschaften hinein, die man vom eigenen Geist her kennt und die man wünscht, dass der Urgrund der Welt sie auch hätte. Und weil sich das dann so vertraut und verwandt anfühlt, imaginiert man mit, das man dann so wie man ist dorthin heimkehren könne, unter Erhalt all dessen, was einem lieb und teuer ist. Nur sind das eben alles Unterstellungen, die sich sachlich aus den Tatsachen der Wirklichkeit nicht rechtfertigen lassen. Von hier aus gesehen, stellt es sich eher so dar: Lieb und teuer sind uns unsere Individualität, unsere Erinnerungen, unsere Beziehungen. Nun spricht aber Einiges dafür, dass sich all dies konstituiert aus der Individualität der Muster, die unser hochdifferenziertes Trägersubstrat ausgebildet hat und unterhält. Geht diese Differenzierung verloren, gleich ob durch Zerfall oder im Nirvana, verschwindet auch das, was uns lieb und teuer ist. Ob es im Off dunkel ist oder ob ein homogenes weißes Licht strahlt, ist doch eigentlich egal. Den Begriff Geist zur Kennzeichnung des Urgrundes der Welt zu benutzen, ist also ein erkenntnistheoretisch naives Missgeschick oder bewusster Etikettenschwindel. Kurzum: Wenn wir innerhalb unserer Wirklichkeit, das heißt innerhalb der Milchglaskugel unseres Kobolds, verbleiben und wenn wir die Prinzipien von Vernunft, Logik und Erfahrungsgegründetheit in Amt und Würden halten wollen, dann müssen wir sagen: Evolutionismus und Materialismus bieten diejenige Weltsicht, die mit den Fakten am verträglichsten und in sich am stimmigsten ist. Und wenn man Vernunft und Logik aus ihren in der Wirklichkeit bewährten und angemessenen Ämtern entlassen will, muss man sich über die Konsequenzen klar sein: Dann kann jeder Beliebiges behaupten, dann kann man Richtiges nicht mehr von Humbug unterscheiden, dann ist der Rückfall ins Mittelalter nahe. Allerdings ist ja deutlich geworden, dass im Weltbild der Dritten Kultur kein

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kruder, mechanistischer Materialismus vertreten wird. Materie ist hier nicht mehr einfach toter Lehm. Vielmehr zeigt sie sich unter definierten Bedingungen zur Selbstorganisation fähig und entwickelt in Vorformen Eigenschaften von Leben und Geist. Die alte ontologische Kluft zwischen Materie und Geist wird so überbrückt. Das ermöglicht es uns, bei dem in der Wissenschaft bewährten Grundmuster der Erklärung zu verbleiben: Das Komplexe und Leistungsfähige entsteht aus dem Einfachen und weniger Leistungsfähigen. Und hier scheint mir der eigentlich entscheidende Punkt in der Differenz zwischen materialistischen und idealistischen Weltbildern zu liegen. Und es kommt hinzu: All das gilt nur für das Innere der Milchglaskugel, für unsere Wirklichkeit, für die vom Gehirn konstruierte Benutzeroberfläche, mit der wir uns durchs Universum navigieren. Aber das ist natürlich nicht das ganze Bild. Auch wenn wir keinen Zugang dazu haben – wir wissen, dass es hinter dem Milchglas irgendetwas geben muss. Vielleicht gibt es ja eine Möglichkeit, den nachvollziehbaren Intentionen, die esoterisch-religiösen Weltbildern zugrunde liegen, doch noch irgendwie gerecht zu werden. Irgendwie müssen wir dieses »Irgendetwas« in unsere Gesamtschau der Welt einbeziehen. Verbleiben wir aber zunächst noch innerhalb unserer Milchglaskugel namens Wirklichkeit.

2.16 Lebenssinn und Glück in der Dritten Kultur Können wir, ohne die Milchglaskugel unserer Wirklichkeit zu transzendieren, eine brauchbare Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens geben? Ich denke schon. Eine ganz verbreitete Denkfigur des Alltags besagt ja: Sinn hat eine Sache dann, wenn sie in einem übergeordneten System einen Zweck erfüllt, eine Funktion hat. So kann man offenbar ein ordentliches Stück Sinn beziehen über den Dienst an einer Familie, an einer Firma oder an der Gesellschaft. Doch wozu das? Welchen Sinn hat die Gesellschaft, die Menschheit oder das Leben auf der Erde als ganzes? Sollen wir die Milchstraße fegen und schwarze Löcher zuschütten? Innerhalb unserer Wirklichkeit können wir offenbar keinen höheren Sinn dingfest machen. Dieser Anlauf führt also zuletzt ins Leere. Oder doch nicht? Machen wir doch aus der Not eine Tugend und sagen: Das Leben ist Selbstzweck. Leben kann Freude machen, und das ist doch ein Wert in sich. Der Sinn des Lebens ist es, dass der Einzelne glücklich wird, ja dass möglichst viele Menschen ihr Glück finden. Und Familie, Firma und Gesellschaft sind dazu da, dies bei jeweils allen Beteiligten zu fördern. Etwas anspruchsvoller formuliert: Der Sinn des Lebens liegt in der Selbstbefähigung des Bewusstseins zu einem immer differenzierteren und intensiveren Selbstgenuss, und weiter dann in der Verbreitung dieses sich selbst genießenden Bewusstseins in Raum und Zeit. Den Leser dieses Buches wird es nicht enttäuschen, wenn ich hinzufüge:

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Natürlich ist mit »Selbstgenuss« nicht nur und nicht in erster Linie das Ausleben »primitiver« Lust, das Befriedigen von Erbbedürfnissen im Sinne des besprochenen äußeren Lohns gemeint (Luxus, Sex, Macht etc.). Tiefen, nachhaltigen und ganzheitlich erfüllenden Lebensgenuss spenden allein die Kulturantriebe in Form inneren Lohns (geistig-kulturelle Bedürfnisse). Man kann die Quellen des Selbstgenusses auch noch einmal in Form von Werten anders ordnen. Es gibt Werte, deren Ausleben überwiegend nur dem Einzelnen nutzt (»Individualwerte«). Aber es gibt eben auch Werte, die sich auf die Förderung der Gemeinschaft beziehen (»Gemeinschaftswerte«). Für alle diese Werte gibt es angeborene Dispositionen, die sich mit kulturellen Inhalten verbinden oder gar von ihnen dominiert werden: 1. Freude, Lust, Genuss: Gutes Essen, Sinneslust, Naturerlebnisse – all das bedarf keiner weiteren Erläuterung. 2. Mitmenschlichkeit und Liebe in der Gemeinschaft und in Beziehungen: Dies kann tief befriedigend und erfüllend sein und muss ebenfalls nicht weiter ausgeführt werden. 3. Fairness und Gerechtigkeit: Wie gleich noch ausgeführt werden wird, gibt es einen angeborenen Reziprozitätsantrieb, der dann ergänzt wird durch bewusst eingesehene und in Kulturantrieben verinnerlichte Moralprinzipien. Man kann sich darin genießen, diesen Werten oder Prinzipien treu zu sein. Wenn es im sozialen Ringen gelingt, diesen Prinzipien zum Durchbruch zu verhelfen, dann wird das als tief befriedigend erlebt. Oft ist dies Thema in Literatur und Film und kann einem hier die Tränen in die Augen treiben. 4. Wahrheit und Wahrhaftigkeit: Hier gilt Ähnliches wie für Punkt drei. 5. Schönheit und ichlose Liebe zum Sein: Das Vermögen, hoch geordnete Strukturen und Prozesse als schön empfinden zu können, ist angeboren. Problemlos kann jeder einfache Kunst genießen und nach gewissen Mühen der Aneignung auch komplexere. Man kann die Ästhetik im Alltag genießen und lernen, die Literatur, die Mathematik oder die Philosophie zu lieben. Menschen, die mit sich selbst ins Reine gekommen sind, wenden ihre Aufmerksamkeit zunehmend von ihrem Inneren ab und lenken sie in einem ästhetischen Verhältnis auf das äußere Sein. Sie gewinnen ein positives, ästhetisch-liebendes Verhältnis zu allen Formen des Seins. Eine solche Existenz in Gelassenheit, Weisheit und umfassender Liebe ist die höchste Form des Selbstgenusses. Vor diesem Hintergrund läuft die Selbstverwirklichung eines jeden dann auf sehr individuellen Wegen in Abhängigkeit von Neigungen, Talenten. biographischen Zufällen und Chancen – und erreicht hoffentlich das Ziel einer überwiegenden Lebenszufriedenheit. Und unter nochmals anderen Gliederungsgesichtspunkten kann man hierbei drei Stufen des Glücks unterscheiden. – Die erste könnten wir nennen: das einfache Glück im Sein. Gemeint ist die Fähigkeit loszulassen, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind, und alle Genussmöglichkeiten im Hier und Jetzt auszuschöpfen.

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– Die zweite Glücksstufe könnten wir nennen: das Glück in der Gemeinschaft. Viele Facetten des Glücks werden durch das Erleben in der Gemeinschaft gesteigert oder entstehen erst durch sie – sei es nun in der Familie, im Freundeskreis oder in einem Team Gleichgesinnter. – Und die dritte Stufe schließlich ist das Glück des gelungenen Lebenswerks: etwas Bleibendes schaffen, das für andere Menschen und kommende Generationen nützlich ist. Es ist ein wichtiger Aspekt von Lebenskunst zu lernen, zur Not auch auf Stufe eins eine grundlegende Zufriedenheit zu erlangen, um im Bemühen um die Stufen zwei und drei nicht zu verkrampfen. Stufe drei – ein für künftige Generationen nützliches Lebenswerk – verweist uns auf einen weiteren Aspekt der Bestimmung des Lebenssinns. Es gilt, die Flamme des sich selbst genießenden Bewusstseins weiter zu tragen in Raum und Zeit. Materie soll sich auf möglichst breiter Basis und möglichst lange ihrer selbst bewusst und selbstgenussfähig werden. Im Grunde lautet der hierin liegende Auftrag: Vermehrt euch, macht Planeten bewohnbar und besiedelt die Milchstraße. Sie lachen? Nein, in der Tendenz meine ich das durchaus ernst – das ist der immanente Auftrag unserer Existenz. Wenn wir wieder lernen, so groß zu denken, dann vergessen wir vielleicht den einen oder anderen lächerlichen Streit hienieden. Und eines Tages wird es ja soweit sein, dass wieder irgendein großer Komet Kurs auf die Erde nimmt. Der Frage des Langzeitüberlebens unserer Art gebührt die allererste Priorität. Und das ist eine gigantische Aufgabe, die wir nur mit vereinten Kräften bewältigen können. Hierfür müssen wir lernen, weitaus besser zu kooperieren als bisher, und dazu braucht es bestimmte Regeln.

2.17 Die Ethik der Dritten Kultur Jedes Holon einer Holarchie ist prinzipiell und auf immer in der Situation, den folgenden Grundwiderspruch in jedem Moment immer wieder neu auswiegen zu müssen: Autonomie versus Integration. Immer gilt es, zwischen den Anforderungen des eigenen Überlebens und den Einpassungserfordernissen des Obersystems gute Kompromisse zu finden. Das gilt für die Zelle, das Organ, es gilt für die Ameise im Ameisenstaat, für den Menschen in seinem Unternehmen, es gilt für das Unternehmen selbst und den Staat in der Weltgesellschaft. Immer wieder und auf allen Ebenen war dieser Seiltanz zwischen Individualität und Integration in die Gemeinschaft eine evolutionär sehr stabile Strategie. Entsprechend sind unsere tierlichen Vorfahren sehr soziale Wesen. Die Gemeinschaft hat sich als sehr hilfreich für das Überleben des Einzelnen und der Art erwiesen, vorausgesetzt, dass sich bestimmte Gemeinschaftsregeln durchsetzen und erhalten können. Gerade das sichere Ausbalancieren dieser Momente gehört zu jenen »überle-

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bensrelevanten Aufgaben«, für deren Bewältigung sich im Laufe der Phylogenese ein System von EP-Modulen hat entwickeln müssen, das unter bestimmten Auslösebedingungen entsprechende Verhaltensneigungen erzeugt, vermittelt über Emotionen und Motivationen. Und entsprechend dem genannten Grundwiderspruch muss es dabei zwei grundlegende Verhaltenssysteme geben: eines, das die Durchsetzung der Eigeninteressen sicherstellt, und eines, das auf die Integration in die Gemeinschaft und die Durchsetzung der Gemeinschaftsregeln gerichtet ist. Das Erste hatten wir bisher unter dem Label »Egoantriebe« (oder auch Primaten-Ego) geführt. Es drängt darauf, um eine möglichst hohe Stellung in der sozialen Hierarchie zu kämpfen, es drängt zur Ausübung von Macht und Kontrolle. In Austauschbeziehungen hält es dazu an, zumindest ein klein wenig mit zweierlei Maß zu messen. Im Groben und nach Außen die Prinzipien von Fairness und Gerechtigkeit wahren, aber doch versuchen, ein klein wenig mehr zu bekommen, als einem eigentlich zusteht (und wenn es keiner merkt, auch einmal deutlich mehr). Unter Extrembedingungen wird aus all dem dann der »Überlebenstrieb«, der manch einen dazu befähigt, buchstäblich über Leichen zu gehen. Das zweite System drängt auf Integration in die Gemeinschaft und auf die Durchsetzung bestimmter Gemeinschaftswerte. Diese Gemeinschaftsregeln haben sich durch bestimmte Mechanismen im evolutionären Prozess herausgemendelt – nur wenn ihre weitgehende Durchsetzung gelingt, überwiegen die Vorteile des Sozialen seine Kosten. Wichtige Werte, die hier hochgehalten werden, heißen Schadensvermeidung, Respekt vor Erstbesitz unabhängig von Stärke sowie Reziprozität im Austausch. Zur Durchsetzung all dessen ist schon bei unseren tierlichen Vorfahren ein hochdifferenziertes System moralischer und sozialer Gefühle und Verhaltensneigungen entstanden: – Stolz, Wut, Gier, Neid, Schadenfreude, Macht- und Kontrolllust im Bereich der Egoantriebe. – Zur Schadensvermeidung: Mitgefühl, Sorge und Hilfsbereitschaft bis hin zum Spenden von Trost bei Schimpansen (es wird z. B. der Arm um die Schulter gelegt). Man weiß von einem Schimpansenmännchen, das beim Versuch, ein fremdes Junges zu retten, selbst ums Leben kam. Es wurde beobachtet, wie Flusspferde Antilopen vor dem Ertrinken oder vor Krokodilen retten und ihnen anschließend ihre Wunden lecken. – In Sachen Austausch: Respekt vor der Erstinbesitznahme. Schon bei Schmetterlingen wird das Erstbesetzen eines Sonnenplätzchens selbst von stärkeren Tieren akzeptiert. Und auch bei den Schimpansen geht das Alpha-Männchen leer aus, wenn es nichts zur Jagd beigetragen hat. Sodann erfolgt der Austausch von Gütern und Leistungen nach Gegenseitigkeit und Gleichwertigkeit. Gefühle von Vertrauen, Freude und Dankbarkeit sind hier im Spiel. Egoisten und Betrüger werden bestraft. Schon bei den Raben werden Diebe sogar von Dritten mit Schnabelhieben bedacht. Vorformen von Empörung und Zorn

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mögen hier beteiligt sein. Bei Schimpansen sogar eine Art »Einschnappen«: Wird der eine bei gleicher Leistung mit einer Traube, ein anderer aber nur mit einer Gurkenscheibe belohnt, so wirft Letzterer mit Nachdruck die Gurke zu Boden. Aber auch für Schuldempfinden und Scham gibt es Hinweise. Schimpansen, denen man ein Zeichen für »Sorry« beigebracht hatte, benutzten es adäquat. Und Papageien sagen es sogar, beispielsweise wenn sie ihren Pfleger gebissen haben. Wir wissen natürlich nicht, wie es sich anfühlt, ein Papagei zu sein. Lange Zeit wurde es von Wissenschaftlern abgelehnt, über die Gefühle bei Tieren zu spekulieren. Aber Evolution ist über weite Strecken doch von Kontinuität und allmählichem Wandel geprägt. Und zumindest bei Schimpansen finden sich in vergleichbaren Situationen alle wesentlichen »moralischen« Reaktionen in Verbindung mit Mimik, Verhalten und Physiologie (z. B. Schamesröte), die wir auch von uns selbst kennen. Es wäre albern, nicht zu unterstellen, dass hier in Vorformen jene Gefühle empfunden werden, die wir von uns selber kennen. Moral ist also zu wesentlichen Teilen angeboren. Auch tierliche Gemeinschaften funktionieren besser, wenn Besitz geachtet wird, wenn man instinktiv Schaden vermeidet und sich beisteht, wenn Austausch nach Fairnessprinzipien wie Reziprozität und Äquivalenz erfolgt. Evolutionsbiologen können Mechanismen plausibel machen, die solche Regelsysteme in der Evolution durchsetzten (Verwandtschaftsselektion, reziproker Altruismus, Gruppenselektion, »guter Ruf« als Vorteil bei der sexuellen Selektion u. a.). In dem Buch »Das Ende des Bösen« von Rolf Degen (2007) wird der aktuelle Stand dieser Debatten gut lesbar zusammengefasst. Menschen und Tiere sind also nicht von Natur aus schlecht. Es braucht weder Kultur noch Gott zum Gutsein. Gerade auch zur Überraschung der Ökonomen zeigte sich, dass der Mensch durchaus nicht der klassische Homo oeconomicus ist, der kalt berechnend auf seinen maximalen Vorteil aus ist. Der Wunsch nach Reziprozität ist tief in unseren Gefühlsmechanismen verankert. In vielen Experimenten zeigte sich bei der Mehrheit der Menschen die Tendenz, die Regeln der Fairness zumindest im groben auch dann einzuhalten, wenn man ungestraft mit einem großen Vorteil davonkommen könnte. Aber es gibt doch das Böse? Der Titel von Herrn Degen ist doch eine Übertreibung, oder nicht? Nun ja, das »kristallin Böse«, das heißt, dass Menschen ohne Not bewusst Böses tun – zum Beispiel anderen Menschen ohne jedes Mitgefühl Schmerzen zufügen –, ist ziemlich selten. Das findet man eigentlich nur bei Psychopathen, bei denen Anomalien im Gehirn eine wichtige Rolle spielen (circa drei Prozent der Männer und ein Prozent der Frauen gehört in diese Gruppe, mehr als 70 Prozent aller schweren Gewaltverbrechen gehen auf das Konto dieser Kranken). Das alltägliche Böse ist dagegen zumeist ein »emergentes Böses« (»Dysemergenz«), das heißt, es eskaliert aus selbstverstärkenden Systemeffekten und wurde

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eigentlich so von niemandem gewollt. Bei keinem der Einzelschritte, die eine Vielzahl von Beteiligten bewusst gesetzt hatten, waren die schlussendlichen Konsequenzen abzusehen. Der Hauptquell des Bösen ist schon im Grundkonzept von natürlicher Evolution angelegt: Unser fraktal evolvierendes Universum wächst in Schichten wie eine Zwiebel, Neues kann immer nur auf Altes aufgesattelt werden. Da müssen Spannungen und Friktionen entstehen. Dies könnte nur vermieden werden, wenn die Welt immer wieder neu ganzheitlich-harmonisch konzipiert und auf einen Schlag in die Existenz geworfen würde. So aber kommt es zu Spannungen zwischen alten und neuen Schichten, die schlechte Kompromisse erzwingen und immer in Gefahr sind, sich explosiv in »Existenzbeben« zu entladen. Die wachsende Komplexität macht zudem zwischen immer neuen Ebenen positive Rückkoppelungen möglich, so dass selbstverstärkende Aufschaukelungen immer leichter entstehen können. Unser schmaler Bewusstseins- und Kommunikationskanal ist für das Steuern von vier Gliedmaßen gemacht. Dann kam das begriffliche Denken, und die schwer kommunizierbaren Eigenwelten in den Köpfen der Menschen explodierten. Das Missverständnis kam in die Welt und wurde unsichtbar, weil es sich horizontfüllend vergrößerte. In ein und derselben Welt handeln müssen, aber subjektiv in ganz unterschiedlichen Welten zu leben, das konnte nicht gut gehen. Unser Primaten-Ego ist gemacht für die Etablierung von Hierarchien nach dem Prinzip der Stärke. Für die Formierung gelingender Kulturgemeinschaften, die gemeinsam an einem überindividuellen Sachwerk weben sollten, ist es zerstörerisch. Unsere Aggressionsantriebe sind so stark, weil sie einst auch gegen Säbelzahntiger wehrhaft machen mussten. Von fundamentalistischen Ideologien, die den Gegner entmenschlichen, fehlausgerichtet, kann gar Völkermord aus ihnen erwachsen. Hinzu kommen intrapsychische Mechanismen der Selbstverstärkung: Als die Gefühlsmechanismen entstanden, war das Denken noch nicht erfunden. Als dieses dann aber dazukam, konnten sich auf einmal negative Gefühle und negatives Denken auf unvorhergesehene Weise wechselseitig verstärken: So wurde aus Wut unversöhnlicher Hass. Das Hinzutreten der Kultur machte soziale Selbstverstärkungsmechanismen möglich: »Erbfeinde« kann es bei den Schimpansen nicht geben – sie haben weder Sprache noch Schrift zur Gedächtnisverlängerung und Aufsummierung von Schuldkonten. Und schließlich gibt es Dysemergenz aus sozialer Komplexität. Ein klassisches Beispiel ist das »Hineinrutschen« Europas in den Ersten Weltkrieg: Keine der beteiligten Mächte hatte einen solchen Krieg wirklich gewollt. Jeder machte sich Illusionen darüber, was im anderen vorging. Jeder glaubte, dass der andere zum nächsten eskalierenden Schritt nicht willens oder fähig sein würde. Dumme Zufälle kamen hinzu, zum Beispiel war Sommer und wichtige Entscheider schlicht in den Ferien. Die Bündnisverflechtungen führten zum Dominoeffekt. Und ohne den Ersten hätte es wohl auch den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben.

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Auch das in Kapitel 1.8 dargestellte Zusammenbrechen des Sinn-Verheißungs-Feldes in unserer Gesellschaft ist ein solches Phänomen der Dysemergenz: Je mehr Anhaltspunkte für den Zerfall der Gesellschaft es gibt, desto mehr Menschen schalten um vom Verhaltenssystem »Soziale Integration« auf das Verhaltenssystem »Sicherung der Eigeninteressen«. Je mehr Menschen das aber tun, desto schneller zerfällt die Gesellschaft nun tatsächlich. So kommt eine selbstverstärkende Abwärtsspirale in Gang. Wenn Menschen in anonymen Großgesellschaften ohne vertrauensvolle Bindungen dann richtig unter Druck kommen und in Existenzangst geraten, kann die Ellbogenmentalität tatsächlich sehr rabiate Züge annehmen. Grundsätzlich aber gilt: Nur selten tun Menschen bewusst Böses, selten werden negative Gefühle so stark aufgeschaukelt, dass die Selbstkontrolle verloren geht. Zumeist tun sie das, was sie beim gegebenen Informationsstand und unter den gegebenen Auslösebedingungen für gut und richtig halten, und das wirklich Böse entsteht als emergentes Phänomen. Das Böse ist also nicht hauptsächlich ein personales Böses, es entspringt nicht überwiegend vermeintlich finster-geheimnisvollen Tiefen unserer Natur. Ja, es gibt problematische Seiten unserer Natur, die unter ungünstigen Entwicklungsund Auslösebedingungen sehr viel Böses bewirken können. Aber überwiegend ist unsere Natur gut – als hochsoziale Wesen sind wir personal auf faire Kooperation eingerichtet. Und es kommt ein Weiteres hinzu: Wie beschrieben, werden unsere Erbantriebe von Kulturantrieben überlagert, in denen kulturelle Inhalte gespeichert und motivational verinnerlicht sind. Das Spannende ist: Wenn kluge Menschen darüber nachdenken, welche Grundregeln es für ein gedeihliches Zusammenleben der Menschen geben sollte, dann kommen sie in den wichtigsten Punkten zu sehr ähnlichen Resultaten wie die Evolution. So spiegelt sich das Prinzip der äquivalenten Reziprozität in der sogenannten Goldenen Regel wieder, die in vielen Weisheitslehren und Religionen formuliert wurde. Im Matthäus-Evangelium etwa lesen wir: »Alles, was ihr für euch von den Menschen erwartet, das tut auch ihnen.« Und: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Auch die Philosophen fanden zu diesem Prinzip. Berühmt ist Kants kategorischer Imperativ: »Handele so, dass die Maxime deines Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« Von dem amerikanischen Philosophen John Rawls stammt eine modernisierte und verfeinerte Version. Wenn Menschen darüber nachdenken oder verhandeln, wie die Spielregeln in einer guten Gesellschaft auszusehen hätten, dann sollten sie immer so tun, als trügen sie den »Schleier des Nichtwissens«: Sie wissen nicht, in welcher konkreten Form menschlicher Existenz sie in dieser Gesellschaft zu leben hätten, sie wissen nichts über ihre soziale Stellung, ihr Alter, ihr Geschlecht, ihre Begabungen. Man wäre hierdurch zum annähernden Ausbalancieren aller Interessen gezwungen. Nach Rawls würde dies zu zwei Grundsätzen führen: Der erste garantiert allen Bürgern die gleichen politischen und bürgerlichen Grundfreiheiten. Der zweite fordert Chancengleichheit und verlangt, dass hieraus entstehende

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soziale oder wirtschaftliche Ungleichheiten gesellschaftlich so kanalisiert werden, dass sie sich zum Vorteil auch der Schlechtestgestellten auswirken. Die Rawls’sche Theorie der Gerechtigkeit ist umfassend, kohärent und ziemlich überzeugend. Nicht umsonst wurde sie zur einflussreichsten politischen Theorie der Gegenwart erklärt. Es gibt die begründete Hoffnung, dass sich in dieser oder ähnlicher Weise mit den Mitteln der Vernunft Prinzipien und soziale Regelwerke ableiten lassen, die eine Chance auf weitestgehenden Konsens haben. Man kann die Folgerichtigkeit und Prägnanz solcher Prinzipien als schön empfinden. Ihnen zu folgen, wird dann zur inneren Notwendigkeit. Auch wenn das sicher förderlich sein kann – um das Böse aus der Welt zu schaffen, braucht es nicht unbedingt Gott und Religion. Von zentraler Bedeutung ist zum Ersten die Erziehung zu und das Erlernen von persönlicher Meisterschaft. Wir müssen um Wesen und Funktionsweise unserer angeborenen (moralischen) Gefühle wissen und lernen, sie in uns selbst wahrzunehmen. Die negative Seite dieses Gefühlssystems passt nicht mehr in unseren von Vernunft und Kultur geprägten Lebenskontext. Wir können lernen, diese Gefühle zu erziehen und einzugrenzen (kognitive Modulation), wir können moralische Prinzipien verstehen und verinnerlichen, die diese negativen Gefühle im Verein mit den positiven angeborenen Gefühlen überstimmen (kulturelle Aufhebung). Zum Zweiten müssen wir im institutionalisierten sozialen Lernen erreichen, gesellschaftliche Dysemergenzen einzugrenzen und unter Kontrolle zu halten. Die gute Hälfte unserer Natur, die Vernunft und ihre Empfänglichkeit für moralische Prinzipien sowie unsere hoffentlich entwickelbare Fähigkeit zu systematischem Institutionenlernen – mit all dem im Verbund hätten wir vielleicht doch eine Chance, das Böse unter der Sonne einzugrenzen und zu besiegen. Eines sei auch an dieser Stelle noch einmal betont: In Kritik am autistischen Individualismus unserer Zeit ist in diesem Buch viel die Rede von Konsens, Integration, mehr Gemeinschaft und mehr Staat (an der richtigen Stelle). Damit wird aber nicht dem historisch desavourierten Kollektivismus das Wort geredet. Der Kontrapunkt zum primitiv-lustbezogenen Individualismus des Ego-Menschen ist nicht der Kollektivismus, sondern der entwickelte Individualismus des Kulturmenschen, der sich auf vielen Dimensionen nur gemeinschaftsbezogen verwirklichen kann. Die höchsten Werte bleiben dabei aber Freiheit, Würde und Glück des Einzelnen. Dies folgt weitestgehend schon aus unserer abgeleiteten Sinnbestimmung des Lebens als selbstzweckhaftem Selbstgenuss des Bewusstseins. Primär ist das Glück des Einzelnen. Eine Gesellschaft, in der sich alle wechselseitig füreinander aufopfern, aber keiner glücklich ist, wäre eine ziemlich sinnlose Veranstaltung. Der erste Egoist, der aussteigt und nur an sich denkt, wäre ein Revolutionär im guten Sinne. Das Gleiche gilt für eine Gesellschaft, in der alle verbissen um den Erhalt bestimmter Werte, Normen oder Ideale kämpfen und darüber ihr persönliches Glück vergessen. Sich im Notfall für andere oder für Werte und Prinzipien zu opfern, ist sehr ehrenvoll und jedem erlaubt – aber es ist keine Verpflichtung und es entsteht keine Schuld, wenn man die Kraft dazu nicht

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findet. Ebenso hat kein Staat das Recht, von seinen Bürgern das Opfer ihres persönlichen Glücksanspruchs zu fordern, etwa um des Kollektivs, der Gesellschaft oder einer imaginären »leuchtenden Zukunft« willen. Aber es ist die Pflicht des Staates, Entwicklungs- und Lebensbedingungen zu schaffen, die bei den Einzelnen die Ausbildung von Potenzialen fördern, auf deren Grundlage sie dann fähig sind, in Freiheit ein ausreichendes Maß an Gemeinschaft und Zukunftsorientierung zu leben. Und nur darum geht es in diesem Buch.

2.18 Die Frage nach Gott Die Frage nach Gott ist natürlich in erster Linie ein Problem der Begriffsbestimmung. Wird ein Gott imaginiert, der als weißhaariger alter Mann in den Wolken thront, wird dem sicher nur eine Minderheit der gebildeten Menschen zustimmen. Wird Gott dagegen mit dem Sein identifiziert, könnte seine Existenz von niemandem geleugnet werden. Brauchen wir Gott eigentlich? Zur Etablierung von Moral wäre er offenbar entbehrlich, wie wir eben gesehen haben. Sprechen andere Gründe dafür, eine Gottesvorstellung beizubehalten? Und wenn ja, wie wäre diese Vorstellung näher zu bestimmen? Nun, offen gestanden, für mich ist das gar keine Frage. Gott steht doch vor uns. Riesig und unübersehbar. Das ganze Sein dieser bizarren und überbordenden Welt ist doch ein einziges großes Geheimnis. Das dürre Spinnennetz wissenschaftlicher Konzepte, das wir über die Welt gespannt haben, ändert daran überhaupt nichts, wird doch von ihm nur verschwindend wenig abgedeckt. Wenn ich zwei Magnete gegeneinanderhalte und diese unsichtbare Kraft spüre, dann staune ich immer wieder aufs Neue. Die physikalischen Formeln, die diese Kräfte beschreiben, ändern daran gar nichts. Die Physik beschäftigt sich nicht mit der Realität, sondern nur mit Regularitäten zwischen Ereignissen, so hat es der Physik-Nobelpreisträger Eugene Wigner einmal formuliert. Durch das Milchglas unserer Erkenntnissphäre schimmern nur wenige Grundkonturen der äußeren Realität. Das sinngebende Ausmalen der großen Zwischenräume erfolgt vollständig von innen heraus als unser eigenes hypothetisches Konstrukt. Und zwischen der Realität und diesen Konstrukten besteht mit größter Wahrscheinlichkeit nicht einmal eine Beziehung, die auch nur entfernt das Prädikat »Ähnlichkeit« verdiente. Die »Dinge an sich« in der äußeren Realität sind uns prinzipiell nicht zugänglich. Wir wissen über das Sein an sich, über seine Herkunft, seinen Urgrund und seine Zukunft nichts, gar nichts. Und wir werden nie etwas darüber wissen. Ignoramus et ignorabimus. Warum verlernen denn die meisten Menschen irgendwann das Staunen? Warum gibt es denn Menschen, die meinen, dass wir das Meiste über die Welt schon wüssten, dass die Welt durch die Wissenschaft entzaubert sei? Nun, zum

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einen sind sie wohl erkenntnistheoretisch ein wenig naiv – sie haben sich über das Wesen von Erkenntnis und ihr Verhältnis zur Realität nur wenig Gedanken gemacht. Sie nehmen die Landkarte für das Land, das Land verschwindet gänzlich hinter der Landkarte. Sie sehen nicht mehr die Wirklichkeit in ihrer immer wieder neuen Einzigartigkeit, sondern nur noch das grobe Raster der übergestülpten Begriffe und Kategorien: »Ein Baum wie jeder andere!« »Ein typischer Amerikaner!« »Ja, so sind sie, die Politiker, du brauchst gar nicht weiterzureden.« Und dann kommt die Gewöhnung. Wenn schließlich irgendwann auch die Landkarte nicht mehr fortgezeichnet wird, dann erstarrt die Weltsicht völlig und die Welt erscheint so selbstverständlich und gleich bleibend alltäglich, dass alles Fragen und Staunen in Routine erstirbt. Machen wir uns die Gefahr solcher Entwicklungen immer wieder bewusst und arbeiten wir dagegen an. Schließen Sie immer einmal kurz die Augen und wenn Sie sie wieder öffnen, dann stellen Sie sich vor, Sie sähen die Welt zum ersten Mal. Versuchen Sie einmal, die gewohnten Schablonen des Sehens abzulegen. Dann wird Ihnen wieder bewusst werden, wie verrückt, merkwürdig und bizarr die Welt eigentlich ist, in der wir leben. Wenn wir uns in der Mitte des Netzes unserer Begriffe, Konzepte und Erklärungen aufhalten, dann entsteht ein Gefühl des Verstandenhabens. Aber es ist ein trügerisches Gefühl, denn die Ränder unserer Theorienetze schließen sich zirkulär oder enden im Nichts: Hilft uns die Urknalltheorie wirklich dabei, den Ursprung unseres Universums zu begreifen? Nein, das tut sie nicht. Sie ist nichts als der Endpunkt eines Formel-Formalismus, der weit außerhalb des Bereiches liegt, für den unsere Verstehensmechanismen gemacht sind. Die Kluft zwischen dem, was ist, und dem, was wir wirklich verstehen und erklären können, ist riesengroß. Sie ist derart groß, dass wir sie bei der Konstruktion unseres Weltbildes nicht ignorieren können. Sie muss einen Platz haben, und dieser Platz muss einen Namen bekommen: Gott. Doch was können wir aussagen über Gott? Können wir uns irgendeine Vorstellung von ihm machen? Könnte der Gedanke an einen vielleicht auch nur ganz entfernt menschenähnlichen, intelligenten Schöpfer angemessen sein, wie ihn uns die meisten historischen Religionen nahelegen? Schließen Sie doch einfach noch einmal die Augen. Und wenn Sie sie wieder öffnen, versuchen Sie, die Welt möglichst vorurteilsfrei zu betrachten: Da fliegen ohne Sinn und Funktion riesige Steinklumpen durch den Raum, auf denen bizarre Wesen ziemlich unbeholfen herumstaksen und sich mit sich selbst beschäftigen. Betrachtet man sie genauer, dann findet man jede Menge Mängel und Widersinnigkeiten. Da sind Hüftgelenke und Wirbelsäule zu schwach ausgelegt für den aufrechten Gang, was Arthrosen und Bandscheibenvorfälle macht, da ist die Netzhaut falsch herum ins Auge eingebaut, Männer haben Brustwarzen wie trockene Wüstenbrunnen. Jeder von uns schleppt einige Kilo Lebermasse mit sich herum, die nicht gebraucht wird. Und wenn jemand, der sich schon einmal verschluckt hat, auf die Idee kommt, die Schöpfung sei das Ergebnis des Ent-

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wurfs eines in unserem Sinne intelligenten Schöpfers, dann kann man das wohl nur durch Erstarrung und Gewöhnung im obigen Sinne erklären: Man ist es seit Kindertagen gewohnt, sich immer einmal wieder zu verschlucken, man denkt einfach nicht mehr darüber nach. Wenn man es aber doch tut, wird klar: Jeden Ingenieur, der bei einem Wesen wie uns Luft- und Speiseröhre völlig sinnlos über Kreuz legt, würde man sofort zum Alkoholtest schicken. Wenn damit aber die Vorstellung eines intelligenten Schöpfers extrem unplausibel wird, dann rücken alle historischen Schöpfungsmythen und Gottesvorstellungen in weite Ferne. Zusätzlich bürgt ihre Vielzahl und Widersprüchlichkeit dafür, dass es sich um kontingente Produkte menschlicher Phantasie handelt. Natürlich muss man grundsätzlich einräumen: Wenn wir nichts wirklich wissen, wenn sich aus unserer Perspektive im strengen Sinne nichts beweisen lässt, dann könnte es natürlich im Prinzip so sein, dass hinter irgendeiner der Religionen eine tatsächliche Offenbarung steckt und von ihr absolute Wahrheiten verkündet werden. Aber wenn es eine Offenbarung gäbe, dann wäre es Gott auch möglich, seine Existenz unzweifelhaft für alle zu beweisen. Das ist bis heute nicht geschehen. Also können wir uns nur an Wahrscheinlichkeiten und Plausibilitäten innerhalb unserer Wirklichkeit orientieren. Und da spricht, wie dargestellt, eben nichts für einen intelligenten Designer oder einen irgendwie mit der menschlichen Vorstellungswelt kompatiblen personalen Gott. Es sei denn, es handelte sich um einen kosmischen Scherzbold, der bewusst falsche Fährten ausgelegt hat, um unser Leben als eine Art Schnitzeljagd zu organisieren. Die meisten Menschen, die sich sehr breit, tiefgehend und auf wissenschaftlicher Grundlage damit auseinandergesetzt haben, wie diese Welt in den uns zugänglichen Bereichen tickt, werden zu dem Schluss kommen: Das passt schlecht zu der Art, wie die Welt wahrscheinlich ticken würde, wenn eine der historischen Schöpfungs- oder Gottesvorstellungen wahr wäre. Natürlich ist das nur eine Intuition und damit kein Beweis. Aber Intuitionen sind Gefühle, die einen großen Erfahrungsschatz integrieren. Ebenso unplausibel wirken die vielfältigen Versuche, das Wirken Gottes in irgendwelche Lücken unserer Wirklichkeit hineinzuweben. Man hat dann immer das Gefühl: Wenn Gott so wäre und an diesen Stellen auf die vorgeschlagene Weise in die Wirklichkeit hineinwirken würde – dann hätte er die ganze Welt von vornherein anders geschaffen. Das passt einfach nicht zusammen, da werden Dinge vermengt, die völlig inkommensurablen Denkuniversen entstammen. Es wäre theoretisch möglich, aber es ist höchst unplausibel und unwahrscheinlich. Ebenso unplausibel wie der Solipsismus. Gleichwohl ist eine große Zahl auch sehr bedeutender Wissenschaftler religiös – aber sie haben eben ein Gottesbild, dass mit der Art, wie diese Welt tickt, besser kompatibel ist als die traditionellen Religionen. Es ist einfach eine extrem schräge Party, zu der wir hier eingeladen sind, von wem und wozu auch immer. Wir wissen nichts über den Ursprung der Welt. Nichts darüber, ob unsere Existenz einen höheren Sinn hat. Niemand weiß, wo der Punkt Omega unseres individuellen Schicksals oder auch des Schicksals

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unserer Art zu verorten ist. Wir wissen nicht, was wirklich geschieht, wenn wir sterben. Es kann schon sein, dass einfach nur das Licht ausgeht. Wenn man die beschriebene, schwer zu leugnende Gehirnabhängigkeit von Geist und Bewusstsein betrachtet, scheint dies aus der Perspektive unserer Wirklichkeit heraus vielleicht sogar wahrscheinlich. Allerdings: Es könnte durchaus sein, dass alles irgendwie doch ganz anders ist, als es uns erscheint. Unsere Welt ist wirklich so seltsam, dass man mit allem rechnen muss. Wie bizarr träumen wir manchmal und während wir träumen, erscheint uns das alles ganz normal. Erst mit dem Aufwachen erscheint uns die Traumwelt als völlig absurd. Gibt es ein noch größeres Erwachen, nach dem uns die Logik unseres Alltagsbewusstseins ähnlich absurd vorkommt? Vieles erscheint möglich. Wenn man vor einem Computercrash ein Backup erstellt, ist nichts verloren. Und wie geschildert: Wir wissen ja gar nicht, was an dem uns auf unserem Milchglas dargestellten Gehirn noch so hängt, welche Aspekte unseres realen Gehirns von unserem Weltbildapparat gar nicht dargestellt werden. Wir wissen es nicht, aber wir können vieles für möglich halten, es könnte spannend werden. Hier ist viel mehr möglich, als wir uns entfernt vorstellen können. Aber solche Dinge für möglich zu halten, ist das eine. Das ist seriös und es ist wichtig, diesen Ahnungsraum zu eröffnen. Etwas ganz anderes ist es, eine dieser Möglichkeiten ohne Grundlage auszuphantasieren und sie für absolut wahr zu erklären. Es gibt die Lücke in unserem Wissen und Verstehen, und dass sie riesig ist, ist viel wahrscheinlicher, als dass sie nur klein ist. Sie zu übersehen, wie die fundamentalistischen Atheisten à la Dawkins es tun, ist erkenntnistheoretisch naiv. Aber ebenso naiv sind die anthropomorphen Schöpfungs- und Gottesvorstellungen der historischen Religionen oder die diffusen Geist-Phantasien der Esoteriker. Denn es ist viel wahrscheinlicher, dass sie die Wahrheit grotesk verfehlen, als dass sie zutreffen. Es gibt Gott, aber alles spricht dafür, dass er so groß und anders ist, dass keine der Vorstellungen, die aus unserer Wirklichkeit heraus geboren werden könnte, auch nur einen Zipfel von ihm zu erfassen vermöchte. Unsere Wirklichkeit ist eine Benutzeroberfläche. Jedem ist klar, dass es völlig unmöglich wäre, allein vom Bildschirm her die Hardware eines Computers zu erforschen und zu verstehen. Und wenn wir tatsächlich Zugang zur Hardware des Seins bekommen könnten, wir würden daraufschauen wie eine Laus, die durch die Kühlrippen in den Computers gefallen ist. Es bleibt uns nur eins: uns in Demut und Ehrfurcht vor dem großen Geheimnis zu beugen. Gott ist das absolut Erkenntnisjenseitige. Wir können uns kein Bild von ihm machen, wir können nichts Greifbares über ihn aussagen. Gar nichts? Gibt es nicht doch eine Möglichkeit, irgendeine positive Aussage über ihn zu machen? Für Glaubensmutige vielleicht doch. Wenn wir konsequent unsere vier Wahrheitskriterien auf die Frage nach Gott anwenden, ergibt sich folgendes. Kriterium 1 (Korrespondenz) entfällt vollständig. Wir können unsere Konzepte

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von Gott nicht mit ihm vergleichen, weil wir keinen Zugang zu ihm haben. Aber die anderen drei Kriterien sind anwendbar, insbesondere das Kriterium »Nützlichkeit«. Wenn für eine Aussage über Gott Folgendes gilt, dann wäre sie zulässig und (relativ) wahr: Sie müsste uns beim Leben helfen (Nützlichkeit), dürfte nicht im Widerspruch zu sonst Gültigem stehen (Konsistenz) und sollte möglichst einfach und minimalistisch ausfallen, um weitestgehend konsensfähig zu sein. Mein Vorschlag für diese Aussage wäre: »Gott ist gut.« Gott als Urgrund des Seins ist eine »Macht« oder »Kraft«, die in einem weiten Sinne gut und positiv ist. Dies ist nützlich: Viele Studien deuten darauf hin, dass Menschen, die einem positiven Glauben anhängen, gesünder, glücklicher und erfolgreicher sind als Menschen, für die das nicht gilt. Gutsein in einem weiten Sinne bringt uns nicht in unauflösbare Widersprüche: Natürlich gibt es in unserer Welt Dinge, die aus der Perspektive unseres Ich schlecht, böse und schrecklich sind. Aber wir dürfen diese Perspektive nicht verabsolutieren. Offenbar ist es ein Grundgesetz des Seins im Wandel, dass das Positive nicht ohne das Risiko entstehen kann, irgendwann in anderem Kontext negative Nebenwirkungen zu zeitigen. Sich selbst genießendes Bewusstsein konnte offenbar nur in einem langen Evolutionsprozess entstehen, und Evolution funktioniert nicht, ohne den individuellen Tod. Was für den Einzelnen schlecht ist, ist für das Ganze gut. Wenn das Sein mit seinen positiven Seiten nicht zu haben ist um den Preis auch negativer Aspekte, dann müssen wir die in Kauf nehmen. Um so mehr, als wir eine Chance haben, durch unser vernünftiges Tun die Gewichte weit in den Positivbereich zu verschieben. Wenn das Sein als solches grundsätzlich gut ist, dann kann man auch den erkenntnisjenseitigen Urgrund des Seins, Gott, als gut qualifizieren. Das ist mehr als das kalte Nichts der radikalen Atheisten. Aber es ist weniger als die Kinderträume der historischen Religionen oder der Esoteriker. Es vermittelt nicht die Gewissheit der Erfüllung infantiler Wünsche. Aber es öffnet die Tür des Trostes zumindest einen Spalt weit, so dass ein Lichtstrahl der Hoffnung in das dunkle Zimmer unserer Angst fallen kann: Ich weiß, dass hinter unserer Wirklichkeit etwas verborgen ist, das in einem fundamentalen Sinne gut und positiv ist. Ich kann mich ihm vertrauend anheimgeben. Dies ist wahr in dem einzigen Sinne, in dem es für den Menschen Wahrheit gibt. So funktioniert Erkenntnis auch auf anderen Ebenen. Auch das Auge füllt den »blinden Fleck« (wo der Sehnerv durch die Netzhaut tritt) einfach nach Kriterien von Nützlichkeit und Konsistenz zum Umfeld. Wenn wir den Gesetzen unseres Erkennens konsequent folgen, stoßen wir auf einen guten Gott. Gott ist nicht wissenschaftlich, aber er ist vernünftig. Er hat sich in die Prinzipien unseres Erkennens eingeschrieben. Da ich persönlich inständig an diese Prinzipien glaube, weil sie mich begeistern und faszinieren, erlaubt mir das auch einen wirklichen Glauben an Gott. Eine Auffassung wie diese, die der »kosmischen Religiosität« vieler bekannter Wissenschaftler sehr nahesteht, könnte vielleicht in Sachen Gott ein Weg der Mitte sein, der eine Chance auf Konsens hat. Dies wäre ein hinreichend begrün-

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detes und gleichzeitig offenes Gottesbild, das man auch im Rahmen einer Zivilreligion offiziell vertreten könnte. Darüber hinaus wäre es natürlich sowohl den historischen Religionsgemeinschaften als auch jedem Einzelnen unbenommen, dieses Gottesbild differenzierter auszumalen. Es muss nur klar sein: Dies könnte dann keinen Anspruch auf absolute Wahrheit und Allgemeinverbindlichkeit erheben und hätte sich mit Toleranz gegenüber anderen, ihrerseits toleranten Gottesvorstellungen zu verbinden. Der Gültigkeitsgrad könnte allenfalls nach dem Prinzip von Lessings Ringparabel gesteigert werden: Es müsste nachweisbar sein, dass die betreffende Spezifizierung von Gott und Religion das Gedeihen des Einzelnen und der Gemeinschaft in höherem Maße fördert als andere Religionsformen. Und es müsste sich eine Mehrheit der Menschen aus freien Stücken und ohne aggressive Missionierung für diese Form des Glaubens entscheiden. Lassen Sie uns dieses Gottesverständnis der Dritten Kultur noch einmal zusammenfassen, um dann fließend den Übergang zum Phänomen Religion zu suchen. Gott ist der prinzipiell erkenntnisjenseitige positive Urgrund des Seins. Wir sind uns der Grenzen unserer Erkenntnismöglichkeiten bewusst – der Urgrund des Seins ist unserem Erkennen prinzipiell nicht zugänglich. Das Sein ist und bleibt damit ein staunenswertes Wunder, vor dem wir uns in Ehrfurcht und Demut beugen. Offenbar kann sich das Sein nicht entwickeln, ohne auch immer wieder Erscheinungen hervorzubringen, die aus der engen Perspektive unseres IchErlebens negativ sind oder erscheinen (das »Böse«). Dennoch ist das Sein als solches grundsätzlich positiv. Damit ist auch Gott als sein Urgrund gut. Wir können uns ihm vertrauensvoll und angstfrei anheimgeben. Im Letzten kann niemand tiefer fallen als in den Schoß Gottes. Wir wissen, dass unser Schicksal von vielem abhängt, über das wir auf immer keine Macht und Kontrolle haben. In der Hoffnung, dass dies einen Sinn macht, bitten wir Gott um die glückliche Fügung unserer Geschicke. Unsere Verantwortung gegenüber Gott ist es, uns selbst und die differenziertesten Formen des Seins zu erhalten und ihre weitere Evolution in Richtung Komplexität zu fördern. Dazu gilt es, die uns von Gott beigegebenen Vermögen immer wieder neu so zu integrieren, dass die uns eingeborenen positiven Werte maximal gefördert werden (tätige Liebe, Freude, Wahrheit und Wahrhaftigkeit, Schönheit, Gerechtigkeit). Das ist auch der Weg, das Böse in der Welt weitestgehend einzugrenzen. Die wichtigste uns von Gott beigegebene Kraft ist die kritische Vernunft. Nach allem, was wir bisher erkannt haben, spricht Gott nicht so zu uns, wie wir Menschen miteinander sprechen. Gott spricht zu uns über das »aufgeschlagene Buch der Natur«. Es gibt weder Offenbarungen noch Dogmen, sondern nur von uns selbst konstruierte relative Wahrheiten. Der von Gott in unserer Wirklichkeit angelegte Lebenssinn besteht in der Selbstbefähigung des Bewusstseins zu einem immer intensiveren und differenzierteren Selbstgenuss. Da sich Genuss als subjektives Phänomen weder messen

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noch vergleichen lässt, sind vor Gott alle Menschen gleich. Die größte vorstellbare Schändung eines jeden vorstellbaren Gottes ist eine Gewalttat »im Namen Gottes«. Alle religiösen Mythen sind Menschenwerk. Religionen erwuchsen aus dem Versuch, dem Göttlichen näherzukommen, wurden in ihrer Entstehung und Entwicklung aber von einer Vielzahl historischer Umstände beeinflusst (dabei auch verfälscht und für falsche Zwecke missbraucht). Wert und Gültigkeit einer Religion bemessen sich einzig und allein daran, wie sehr das Gedeihen des Einzelnen und der Gemeinschaft im Sinne der genannten Werte gefördert werden. Die offenbare Existenz einer Vielzahl von Religionen lässt sich am wahrscheinlichsten so deuten: Es ist Gottes Wille, dass sich alle religiösen Kulturen in einem friedlichen Wettbewerb im Hinblick auf maximale Förderung der göttlichen Werte weiterentwickeln. Dabei werden immer mehr positive Gemeinsamkeiten hervortreten, die schon heute in Form eines Weltethos erkennbar sind. Da dies der Weisheit von Lessings Ringparabel entspricht, sei als Symbol für dieses Verständnis von Gott und Religion ein Ring vorgeschlagen. Alle Religionen, die ein solches Grundverständnis von Gott und Religionen akzeptieren, könnten ihr Zeichen unter das Signum des Ringes stellen. Doch wenn wir ganz still sind, dann können wir vielleicht hören, dass Gott uns doch etwas zuflüstert: »Denk dir von mir das, was für dein Wohlbefinden am besten ist. Ich werde das dann für dich sein. In dem Sinne, in dem es Wahrheit für dich gibt, werde ich dir so wahr werden. aber bleibe dessen eingedenk: Das ist mein ganz persönliches Geschenk an dich. In dieser Form bin ich wahr nur für dich. Verabsolutiere das nicht und gehe nicht hin, um anderen diese Sichtweise überzustülpen. Sei ein Missionar der Vernunft und des Humanismus, nicht des Bildes von mir, in dem ich nur dir erscheinen kann.« Wo hier so oft von der Ringparabel aus Lessings »Nathan« die Rede ist – zitieren wir doch zur Auffrischung von Bildungserinnerung einmal die entscheidende Passage, auf dass sich dessen Weisheit vielleicht doch noch auf breiterer Front durchsetzen möge. Bekanntlich wird Nathan von Sultan Saladin gefragt, welche der drei monotheistischen Religionen er für die wahre halte. Nathan antwortet indirekt mit dem Ringgleichnis, in dem es um einen Ring als Familienerbstück geht, den der Vater je an den ihm liebsten Sohn weitergibt. Dieser Ring hat die wunderbare Eigenschaft, seinen Träger den anderen Menschen angenehm zu machen. Nun tritt der Fall ein, dass ein Vater keinen seiner drei Söhne bevorzugen mag. In seiner Not lässt er zwei perfekte Duplikate fertigen, so dass er allen drei Söhnen einen Ring mit der Versicherung auf Echtheit aushändigen kann. Nach dem Tod des Vaters landen die Söhne im Streit darum, wer nun wirklich den echten Ring besitze, beim Richter. Und dieser antwortet nun (Lessing, 1779/2000, S. 82 f.):

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»Mein Rat ist aber der: ihr nehmt Die Sache völlig wie sie liegt. Hat von Euch jeder seinen Ring von seinem Vater: So glaube jeder sicher seinen Ring Den echten. – Möglich; daß der Vater nun Die Tyrannei des einen Rings nicht länger In seinem Hause dulden wollen! – Und gewiß; Daß er euch alle drei geliebt, und gleich Geliebt: indem er zwei nicht drücken mögen, Um einen zu begünstigen. – Wohlan! Es eifre jeder seiner unbestochnen Von Vorurteilen freien Liebe nach! Es strebe von euch um die Wette, Die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, Mit innigster Ergebenheit in Gott Zu Hilf ’! Und wenn sich dann der Steine Kräfte Bei euern Kindes-Kindeskindern äußern: So lad’ ich über tausend tausend Jahre Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen Als ich; und sprechen. Geht! – So sagte der Bescheidne Richter.«

2.19 Dritte Kultur und Zivilreligion Religionen, so könnte man sagen, sind komplexe Kulturphänomene, die wohl zu dem Hauptzweck einer systematischen Bewältigung von Schicksalsereignissen entstanden sind: Krankheit, Tod, Not und Katastrophen (im weiteren Sinne auch die unvermeidlichen Stationen des menschlichen Lebens wie Geburt, Erwachsenwerden, Heirat und Elternschaft). In diesem Kontext entsprechen sie universalen menschlichen Bedürfnissen wie Angstreduktion, Steigerung der Handlungssicherheit, Sinnstiftung oder ganzheitliche Welterklärung. Entsprechend gab es Religionen zu allen Zeiten und in allen Kulturen. Religionen bestehen aus verschiedenen miteinander verflochtenen Komponenten: Wir haben einen religiösen Mythos, der zumeist ein Gottesbild umfasst. Dies ist ein frühen Formen des Denkens entsprungenes System von Behauptungen, das ganzheitlich und abgeschlossen, nicht selten dogmatisch ist. Es erklärt die gesamte Lebenswelt ein für alle Mal. Abweichungen hiervon werden nicht selten als »Gotteslästerung« sanktioniert. Der Bezug zu Empirie, Vernunft und

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Logik ist insgesamt schwach und in vielen Punkten konträr. Moderne Theologien versuchen dies im Rahmen eines modernisierten religiösen Weltbildes zu reparieren, zumeist unter Etablierung einer halsbrecherischen Begriffs- und Konzeptakrobatik, die wenig überzeugend wirkt. Eine weitere Konstituente von Religion ist das religiöse Empfinden bis hin zu religiös gedeuteten »Erscheinungen« und »Erweckungserlebnissen«. Sodann gibt es Normensysteme in Form von Geboten und Verboten. Wir finden Kulte, Riten und persönliche Praktiken der Frömmigkeit sowie mehr oder weniger ausgebaute Institutionen. Zwingend und spezifisch religiös sind eigentlich nur Mythos und Gottesvorstellung. Alle anderen Konstituenten treten auch in anderen, nichtreligiösen Kulturzusammenhängen auf. Auch religiöses Empfinden zehrt wohl von der gleichen »psychologischen Grundsubstanz«, die wir aus anderen Lebenszusammenhängen kennen: ehrfürchtiges Staunen vor der Schönheit, Liebe zum Vater oder Trancezustände, wie sie zum Beispiel durch Flickerlicht induziert werden können. Die Hauptfunktion von Religion ist sicher zum einen das Angebot von ganzheitlichem Orientierungswissen und zum anderen die soziale Integration. Diese Funktionen sind positiv, wichtig und unverzichtbar. Gleichwohl wurden und werden Religionen, ihre Vertreter und Institutionen auch von anderen, weniger positiven Zwecken sekundär in Dienst genommen oder aber sie dienen sich diesen Zwecken aktiv an: Eroberung, Machtausübung oder Legitimation althergebrachter Ordnungen. Nach der Aufklärung und dem »Siegeszug« der Wissenschaft sind die Religionen insbesondere in Deutschland in eine schwierige Situation geraten. Abgeschlossenheit und Dogmenhaftigkeit setzen den Offenbarungsreligionen hinsichtlich ihrer Veränderungsfähigkeit recht enge Grenzen. Während Kultur und Wissenschaft sich mit wachsender Geschwindigkeit verändern, bleiben die Religionen weitgehend wie sie sind. Die Diskrepanzen zwischen religiösem und wissenschaftlichem Weltbild wachsen, und immer mehr Menschen empfinden die historischen Religionen als nicht mehr glaubwürdig und nicht mehr zeitgemäß. Nach der weitgehenden Trennung von Kirche und Staat schritt der Prozess der Säkularisierung unaufhaltsam voran. Die Zahl der Kirchenmitglieder und der Gläubigen in Deutschland sinkt. Eine Mehrheit der Deutschen kann im Sinne der Großkirchen nicht mehr als gläubig bezeichnet werden. Bei Befragungen selbst von Kirchenmitgliedern zeigte sich, dass ein nicht geringer Anteil über Essentials des christlichen Glaubens nicht Bescheid weiß oder ihnen eher ablehnend gegenübersteht (z. B. eine personale Gottesvorstellung). Im Kern ändert hieran auch die in letzter Zeit vielbeschworene Renaissance des Glaubens nichts. Diese geht überwiegend auf Gründe zurück, über die auch die Kirchen keinen Anlass haben, glücklich zu sein: Religion als Pop-Event, als oberflächliche Esoterik, als Weltflucht in den Fundamentalismus oder als Rücksturz in voraufgeklärt-magisches Denken infolge schlichter Unbildung. Die öffentliche Position der christlichen Kirchen in Deutschland ist unklar und widersprüchlich – nichts passt mehr wirklich zusammen. Zentrale Teile

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der christlichen Kirchen vertreten Auffassungen, die aller Erfahrung, Vernunft und Wissenschaft widersprechen, etwa die leibliche Auferstehung Christi oder die Jungfrauengeburt Mariae, sie vertreten hochproblematische Normen wie das Kondomverbot oder die Ungleichbehandlung von Mann und Frau, sie zeigen autoritäre Organisationsstrukturen mit Ansprüchen auf Alleinvertretung, absolute Wahrheit und Unfehlbarkeit. Die Mehrheit der Deutschen ist nicht mehr im Sinne solcher Positionen gläubig. Auch ein moderner Staat müsste sich deutlich von Organisationen absetzen, die immer noch an derartigen Positionen festhalten, und die Trennung von Staat und Kirche hat ja auch Verfassungsrang. Gleichwohl wurde diese nie konsequent vollzogen. Nach wie vor erhalten die Kirchen jährliche Subventionen in mehrstelliger Milliardenhöhe. Es finden sich Bezugnahmen auf Gott in vielfältigen staatlichen Zusammenhängen: in den Schwurformeln hoher Staatsbediensteter, in Verfassungstexten oder im Kontext staatlicher Zeremonien. Darüber hinaus ist auch bei prominenten Staatsrechtlern und Philosophen die Denkfigur verbreitet, dass Staat und Recht nicht vollständig aus sich selbst heraus zu legitimieren seien und deshalb eines solchen »zivilreligiösen« Fundamentes bedürften. Tatsächlich fehlt in unserer Zeit kaum etwas mehr als ganzheitliches Orientierungswissen und soziale Integration. Genau das war in der Vergangenheit immer die Hauptaufgabe von Religion und Kirche. Aufgrund ihres Verlustes an Glaubwürdigkeit und Kommensurabilität zur modernen Welt erfüllen sie diese Funktionen aber immer weniger. Im Übrigen hat ja alle Dogmatik auch nach innen hin nicht verhindern können, dass es Zersplitterung und Uneinigkeit in hohem Maße auch innerhalb von Kirche und Theologie selbst gibt. Andere Integrationsinstanzen sind nicht zur Kompensation eingesprungen – weder wurden alte reaktiviert noch sind neue nachgewachsen. Die alten Philosophen sind oft schwer verständlich und wirken angestaubt. Und von den Naturwissenschaften wird es abgelehnt, die Orientierungslücke zu füllen. Alle Seiten – Religionen, Wissenschaft, Staat und Kultur – sind von punktuellen Ausnahmen abgesehen nicht wirklich in einem fruchtbaren und konstruktiven Dialog, der jeder Seite hilft, ihr spezifisches Potenzial besser zu entfalten. Da passt also wirklich nichts mehr zusammen. Die Situation kann als verfahren bezeichnet werden. Wie kommen wir da heraus? Grundsätzlich scheint mir nur ein Weg gangbar: Geistes- und Naturwissenschaft müssen sich auf einer systemisch-evolutionistischen Zwischenebene im Sinne des skizzierten Weltbildes der Dritten Kultur integrieren. Dieses Weltbild muss einen adäquaten Raum lassen für das prinzipiell Unerkennbare und Unverfügbare. Hierhinein könnte man dann ein sehr allgemein gehaltenes Gottesbild stellen, nach Art des unterbreiteten Vorschlages. Dies ließe sich unschwer zu einer Zivilreligion erweitern, die dann auch explizit vom Staat vertreten werden könnte. Der Zuschnitt dieser Zivilreligion wäre so weit gehalten, dass sie als Umhüllendes von jeder historischen Religion genutzt werden könnte, die sich zum Toleranzprinzip bekennt (was staatlicherseits zwingend zu fordern und

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imperativ durchzusetzen wäre). Über das Gottesbild hinaus bräuchte es einen Kanon an Werten, verbindlichen Geboten und Verhaltensempfehlungen. Dieser müsste einerseits aus Vernunftprinzipien herleitbar sein und sollte andererseits versuchen, die gemeinsamen positiven Aspekte der historischen Religionen zu repräsentieren. Als erste Annäherung könnte das von Hans Küng initiierte Projekt Weltethos gelten, an dem sich Vertreter von 125 Religionen beteiligten. Sie verpflichteten sich auf die Goldene Regel und darüber hinaus auf eine Kultur – der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben, – der Solidarität und einer gerechten Wirtschaftsordnung, – der Toleranz und eines Lebens in Wahrhaftigkeit, – der Gleichberechtigung und der Partnerschaft von Mann und Frau. All das könnte ergänzt werden durch sparsame Symbole und Rituale, die dann auch zur Begleitung staatlicher Zeremonien geeignet wären. Wiederum würde sich als »Dachsymbol« der Ring als Zeichen für Gemeinsamkeit und das Prinzip der Ringparabel anbieten. Mit einer solchen Form von Bürgerreligion sollte sich eine Mehrheit der Menschen in unserem Land identifizieren können. In einem solchen Sinne sollte dann vielleicht auch ein Minister auf »Gott« eingeschworen werden können, der zum Beispiel Muslim ist. Und auch eine Mehrheit der Atheisten könnte sich wohl einem solchen vernunftgegründeten Glauben unterstellen. Darüber hinaus wäre allen historischen Religionen Folgendes anzuempfehlen: Gebt alle Dogmen und Absolutheitsansprüche auf. Versteht euch und euren Mythos als Produkt von Mensch und Geschichte. Das steht wahrem Glauben nicht im Wege und hat nichts mit einer Entwertung zu tun. Tradition ist und bleibt ein hoher Wert in sich. Aber Tradition kann nur lebendig bleiben, wenn sie ein gewisses Maß an Veränderung, Kontextwechsel und Anpassung zulässt. Akzeptiert das unausweichliche Grundgesetz des Seins: Damit alles bleibt wie es ist, muss sich alles ändern. Und was sich gar nicht ändert, wird irgendwann auch nicht mehr sein. Wandelt euren Mythos und eure Inhalte so, dass sie mit den gesicherten Erkenntnissen der Wissenschaft und dem Weltbild der Dritten Kultur nicht im Widerspruch stehen. Unterstellt euch dem Geltungskriterium der Ringparabel. Für das Christentum bedeutet das: Jesus war ein Weisheitslehrer wie viele andere Weisheitslehrer auch. Er war zu seiner Zeit herausragend und sehr innovativ. Ob seines Lebenswerks gebührt ihm größter Respekt. Aber aller Wahrscheinlichkeit nach war er ein Mensch wie alle anderen Menschen. Und aller Wahrscheinlichkeit nach ist sein Leib nicht in den Himmel aufgefahren. Die Bibel ist ein Weisheitsbuch wie viele andere auch. Aber sie ist 2000 Jahre alt. Neben großer Weisheit enthält sie vieles, was aus heutiger Sicht schwer verständlich und widersprüchlich erscheint. Die Weisheitslehre der Bibel muss weiterentwickelt werden wie alle anderen Lehren auch. Die Bibel muss fortgeschrieben werden wie alle anderen Lehrbücher auch. Und wie alles unter dieser Sonne muss sich auch die Kirche als Institution reformieren und weiterentwickeln. Sie wird Dogmen,

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Verbote, Organisationsprinzipien und Ritualformen aufgeben oder verändern müssen, die einfach nicht mehr in unsere Zeit passen. Grundsätzlich scheint mir, dass die Botschaft des Christentums mit der Botschaft von Wissenschaft und Vernunft vollauf kompatibel sein könnte. Aufgrund meiner sehr kirchenfernen Sozialisation bin ich kein Fachmann auf diesem Gebiet. Aber schon nach kurzer Recherche bin ich bei Christian Nürnberger (2008) auf eine Interpretation der christlichen Botschaft gestoßen, die mich sehr berührt hat, weil sie so hochgradig mit dem übereinstimmt, was aus meiner Sicht auch die Botschaft der Vernunft ist. Mit leichten Abwandlungen gebe ich diese Botschaft, die laut Nürnberger von namhaften Theologen vertreten wird, wie folgt wieder: Die in der Evolution entstandenen Erbantriebe des Menschen enthalten auch auf Selbsterhaltung ausgerichtete Programme, die unter bestimmten Umständen ein rücksichtslos-egoistisches Verhalten bis hin zu Betrug, Bösartigkeit und Grausamkeit erzeugen. Das ist die Erbsünde. Solange die Erbantriebe die Entwicklung einer Gesellschaft vorantreiben, ist diese Gesellschaft bestimmt von Konkurrenz und Konsum. Dabei kommt es sehr oft zu einer Konstellation, in der negative soziale Bedingungen und die negativen Anteile der Erbantriebe sich wechselseitig verstärken. Entsprechend ist die bisherige Menschheitsgeschichte stark bestimmt von Ausbeutung und Versklavung, von Krieg und Verheerung, von Rache und Wiedervergeltung. Doch die Welt ist nicht Stillstand oder ewige Wiederkehr. Verbesserung und Fortschritt sind möglich. Wir können uns selbst verändern und wir können die Gesellschaft verändern. Wir können zu neuen sozialen Ufern aufbrechen – Exodus –, innerlich umkehren und Buße tun. Innerlich umkehren heißt, unsere Natur in einer vernunftgegründeten Kultur aufzuheben. Das bedeutet, nicht mehr Spielball der angeborenen Triebe und Auslöser zu sein, sondern zu lernen, von der Ebene förderlicher Geisteshaltungen her gemeinschaftsschädigende Impulse zu dämpfen und gemeinschafsförderliche Gefühle zu verstärken. Dazu gehört, all dies durch eine bewusste, langfristige Selbstentwicklung zu verinnerlichen, so dass es schließlich weitgehend dem spontanen Verhalten aus dem Bauch heraus entspringt. Wichtig ist dabei, Gefühle wie Stolz, Neid oder Rachedurst einzugrenzen und möglichst weitgehend durch Gefühle wie Güte, Nächstenliebe und Vergebung zu überformen. Grundsätzlich haben die Gerechtigkeitsprinzipien eines reziproken Austauschs Gültigkeit – jeder hat einen Anspruch darauf. Wer sich aber im Sinne göttlicher Werte und Prinzipien weiterentwickelt, der erkennt, dass das Glück nicht von materiellem Reichtum und sozialem Status abhängt. Das Glück auf höheren Ebenen ist kein Austausch, der dem Reziprozitätsprinzip folgt, es funktioniert nach dem Prinzip der Resonanz – und hier fallen Geben und Nehmen in eins. In der umfassenden Liebe zum Sein kann man das Reziprozitätsprinzip transzendieren. Wer diesen Weg geht, der wird bestimmte Werte und Prinzipien in sich stark werden spüren. Diese Prinzipien fühlen sich so klar, so schön, so imperativ und absolut an, dass man über sie den Kontakt zu Gott erleben kann. Ihnen zu folgen, kann Kraft spenden, Halt geben und

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zur inneren Verpflichtung werden. Sich in dieser Weise absolut an innere Werte zu binden, ist gut und etwas anderes, als äußere Regeln, Aussagen oder Autoritäten absolut zu setzen. Diese innere Verpflichtung auf göttliche Werte und Prinzipien kann so stark werden, dass man dafür sogar bereit ist, das eigene Leben dranzugeben. Wer diese Stärke findet, der wird ihr folgen. Bei wem sie sich nicht einstellt, der mag im normalen Leben den göttlichen Regeln folgen und im Notfall sein eigenes Leben retten. Das ist sein Recht, er muss sich dafür nicht schämen oder sich etwas vorwerfen lassen. Das ist der Sinn der Bergpredigt und des Kreuztodes Jesu. Wir wissen seither: Es ist menschenmöglich. Es gibt Menschen, die das schaffen. Und wenn es Einzelnen gelingt, dann können alle sich dem annähern. Und das genügt. Wenn eine kleine Gruppe vorangeht, kann ein Volk Gottes entstehen. Wenn es ein Volk Gottes gibt, ist Hoffnung auf das Reich Gottes: Eine postmaterielle Gesellschaft, in der es keine Superreichen mehr gibt und keine Not, die nicht mehr von Konkurrenz und Krieg, sondern von Nächstenliebe und Solidarität geprägt ist. Auch auf der Ebene der Sozialstrukturen gehört die Natur in der Kultur aufgehoben: von der Naturgemeinschaft zu Kulturgemeinschaft. Hier gilt: Blutsbande dürfen nicht über Werten und Prinzipien stehen, Clandenken und Vetternwirtschaft gehören überwunden. Naturhierarchie (Erstgeborenenrecht, Recht des körperlich oder pekuniär Stärkeren) gehört überwunden in Richtung einer Leistungshierarchie. Aber aus Leistungsfähigkeit folgt nicht Stolz und Privileg, sondern Demut, Verantwortung, Dienst am Nächsten und am Gemeinwohl. Das ist der Geist von Abendmahl, Kirche und Gemeinde als Leib Christi. Wer oder wie Gott immer ist – als Urgrund des Seins ist er positiv. Niemand muss fürchten, in diesen Urgrund zurückzukehren, er wird Gnade erfahren. Könnte man das Wesen des Christentums so oder ähnlich formulieren? Besteht eine Chance, dass sich die Christenheit auf eine solche Essenz einigt? Wenn das die christliche Botschaft ist, dann passt zwischen sie und die Botschaft von Wissenschaft und Vernunft kein Blatt Papier. Das ließe sich wiederbeleben als die »große Erzählung« unserer Kultur. Anstatt auseinanderzustreben und in dürren Bächlein zu versanden, würden die Ströme unserer Kultur dann doch noch zusammenfinden und den blühenden Ozean eines dritten Zeitalters erreichen (lassen Sie mir diese pathetische Formulierung einmal durchgehen). Dann hätte Christ werden im Kern sehr viel zu tun mit psychischer Veränderung. Was kann man aus heutiger Perspektive zu diesem Thema sagen?

2.20 Psychische Veränderung, Psychosynergetik und persönliche Meisterschaft Wie veränderbar ist der Mensch auf verschiedenen Ebenen seiner Persönlichkeit? Auch hier wogen die Meinungen seit Jahrzehnten hin und her oder gehen im Kreis. Postulierten die Behavioristen noch die nahezu beliebige Formbarkeit

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des menschlichen Verhaltens, hören wir heute wieder eher pessimistische Stimmen: Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern – so heißt es etwa im Untertitel eines jüngst erschienenen Buches von Gerhard Roth. Die Antwort ist: Es gibt keine Antwort. Wir wissen es einfach nicht. Nichts spricht dafür, dass bisher alle Möglichkeiten annähernd ausgereizt wurden: Es wurde noch nicht früh genug, noch nicht intensiv genug und noch nicht mit einer wirklich guten Kombination der wirksamen Mittel in Angriff genommen. Welche grundlegenden Ideen zur psychischen Veränderung sind denn bisher entwickelt worden? Die meisten von ihnen entstammen entweder alten Weisheitslehren oder neueren Konzepten aus dem Umfeld der Psychotherapie. Lassen Sie uns ein paar grobe Grundsatzbemerkungen zu den bekanntesten Ansätzen machen. Beginnen wir mit der Psychoanalyse, die von Sigmund Freud Ende des vorvorigen Jahrhunderts begründet wurde. Freud betonte die Bedeutung des Unbewussten. Ausgehend vom Sexualantrieb entstünden hier Wünsche und Phantasien, die mit gesellschaftlichen Normen nicht verträglich seien und deshalb verdrängt werden müssten. Oft nehme dies bei Konflikten oder Traumata in der Kindheit seinen Ausgangspunkt. Die sich dadurch aufstauende Triebenergie (»Libido«) bräche sich dann in gewandelter Form an anderer Stelle Bahn. So entstünden Traumthemen, Fehlhandlungen und Versprecher, Störungen in Erleben und Verhalten, körperliche Krankheitssymptome oder auch schöpferische Leistungen in Wissenschaft oder Kunst (»Sublimierung«). In der Therapie müsse man das Verdrängte bewusst machen. Da es in der Psychoanalyse keinen Zufall gibt, kann jede Nebensächlichkeit an der Oberfläche ein Hinweis sein auf unerhörte Bedeutung in der Tiefe. Dies gelte es durch Deutung zu erhellen und bewusst zu machen. Das befreie die »eingeklemmten« Affekte und mache ein reiferes Beziehungsverhalten ohne die vorherige Störung möglich, was dann in der Beziehung zum Therapeuten einzuüben sei. Wie ist all das aus heutiger Sicht einzuschätzen? Nun, bis heute ist das reiche Wissen der Evolutionspsychologie nicht in die psychoanalytische Theorie integriert. Es gibt im Unbewussten nicht nur den Sexualantrieb, sondern eine Vielzahl weiterer wichtiger Erbantriebe. Sexualität und Beziehung sind sehr zentral im menschlichen Leben. Das heißt aber nicht, dass in diesem Bereich auch die Hauptursachen psychischer Störungen zu verorten wären. Im sexuell verklemmten Wien des 19. Jahrhunderts mag das anders gewesen sein – heute aber trifft das nur noch für einen kleinen Teil der psychischen Störungen zu. Darüber hinaus gibt es nur sehr selten die eine Ursache psychischer Störungen. Zumeist erwachsen sie aus einem Zusammenwirken mehrerer Faktoren, wobei es im Nachhinein schwierig und für die Besserung oft unerheblich ist, einen Hauptschuldigen dingfest zu machen. Solche Faktoren sind: angeborene Eigenheiten, unfunktionale Lebenseinstellungen, ungünstige gesellschaftliche Rahmenbedingungen (»Sinnund Orientierungsdefizit«, Stress und Überforderung – wir waren darauf eingegangen) sowie vor allem Teufelskreismechanismen in Verbindung mit fehlender

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Selbstmanagementkompetenz. Und all das ist natürlich auch nicht allein schon durch das Bewusstmachen zu heilen. Der entscheidende Schritt ist das Einüben neuer Denk- und Verhaltensmuster. Und damit ist ebenfalls gesagt, dass Therapie nicht ausschließlich »Beziehungsarbeit« sein kann. Oft ist die therapeutische Beziehung lediglich ein Katalysator von Lernprozessen, die prinzipiell auch anders unterstützt werden könnten (z. B. via Internet oder Selbsthilfe-Literatur). Insgesamt verleitet die psychoanalytische Sichtweise dazu, den Blick viel zu sehr auf die Vergangenheit zu richten, viel zu sehr auf Probleme und Defekte zu fokussieren, sie verleitet zu übermäßiger Selbstbespiegelung und Grübelei (Hyperreflexion), sie lädt dazu ein, sich an bedeutungslosen Nebensächlichkeiten abzuarbeiten, denn weil es im Gehirn und im Leben den Zufall gibt, hat eben nicht alles Bedeutung und schon gar nicht für den Therapieprozess. Selbst Freud gab zu: »Manchmal ist eine Zigarre auch nur eine Zigarre« (und damit kein »Penissymbol«). Richtig ist: Zumeist ist eine Zigarre nichts als eine Zigarre. Bei einem Teil der Klienten führt all dies zu einer Chronifizierung und Verschlechterung der Störung. Die Fokussierung auf den Defekt und das Negative liegt auch daran, das die psychoanalytische Theorie keine Mittel hat, das genuin Positive theoretisch abzubilden: Weder gibt es hier das Positive in unserer angeborenen Natur noch positive Motivationen, die sich aus kulturellen Inhalten herleiten. Mit Freude erbrachte schöpferische Kulturleistungen werden so fast immer als Kompensation von Defekten dargestellt. Die Folge ist das im Grunde menschenverachtende »Kernfäule-Dogma«: Was immer an Schönem, Positivem und Gutem der Mensch nach außen zeigt – im Kern steckt etwas Negatives dahinter. Die psychoanalytische Literatur ist leider reich an postabsurden Deutungen. So vermutet etwa ein ehemaliger Leiter des Freud-Institutes in Frankfurt in einem seiner Bücher, dass sich die Form von Kriegsgeräten wie Raketen oder Kanonen vom männlichen Penis herleiten würde. Das ist natürlich Unfug, denn die Form all dieser Objekte ergibt sich zwingend aus ihrer Funktion und den dabei wirksamen physikalischen und mechanischen Prinzipien. In einer fraktal strukturierten, selbstähnlichen Welt gibt es überall ähnliche Muster, ohne dass dies auch nur entfernt psychologische Hintergrundbedeutungen hätte. Aufs Ganze gesehen muss man sagen: Die tragenden Konzepte der Psychoanalyse sind heute nicht mehr haltbar. Und daran wird auf lange Sicht auch die »moderne Hirnforschung« nichts ändern, die jüngst um Beistand gebeten wurde. Das spezifisch Psychoanalytische ist überwiegend falsch, und alles Richtige, was von Reformatoren draufgesattelt wurde oder unorthodox und zum Teil uneingestanden im Therapieprozess nebenher miterledigt wird, stammt aus anderen Quellen. Auch wenn viele unorthodoxe Analytiker in praxi sicher gute Arbeit leisten, so haben Eklektizismus, Pragmatismus und der Wunsch nach konfliktvermeidender »Integrativität« doch auch Grenzen. Eins und eins ist definitiv zwei und nicht vier oder gar sieben. Daran kommt auf lange Sicht niemand vorbei. Theoretische Konsistenz und intellektuelle Redlichkeit sind wichtige Werte, die

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unter keinen Umständen geopfert werden dürfen. Es bleibt nur die schmerzliche Konsequenz: Das theoretische Mutterschiff der Tiefenpsychologie gehört versenkt in die Archive der Wissenschaftsgeschichte, das eine oder andere Begleitschiff kann woanders andocken. Schon die Begrifflichkeit ist inzwischen derart irreführend, dass sie dringend korrigiert werden muss. Der Begriff »Tiefen«psychologie impliziert einen besonderen Tiefgang, eine besondere Gründlichkeit und maßt sich damit eine besondere Qualität in Abgrenzung von anderen, »oberflächlicheren« Therapieformen an. Wahr ist das Gegenteil: Die Psychoanalyse im engen Sinne verbleibt auf der Oberfläche unspezifischer Placebo-Wirkungen, weil sie sich an ephemere Scheinsymboliken verschwendet, die nichts mit realen Funktionsmechanismen von Psyche und Gehirn zu tun haben. Das Prädikat Tiefenpsychologie hätten viel eher Herangehensweisen verdient, die an diesen realen Mechanismen ansetzen – etwa die gleich zu besprechende Kognitive Verhaltenstherapie oder die Logotherapie. Und es ist natürlich allein die Verpflichtung auf theoretische Konsistenz, die mich zwingt anzufügen: Am allertiefsten geht eigentlich die Psychosynergetik, die sich explizit auf das Fundament der Evolutionspsychologie stellt. Denn diese geht nicht nur in die »Tiefen« der Kindheit des Individuums zurück, sondern gewissermaßen bis in die »Kindheit der Art«. Im Übrigen sei noch angemerkt: Im Konzeptrahmen der Psychosynergetik ließe sich auch jede psychoanalytische Denkfigur aufstellen. Aber es sind hier eben noch sehr viel mehr Deutungsfiguren möglich, die der Realität des Klienten oft besser gerecht werden. Und – zwei allgemeine Grundideen der Psychoanalyse wurden mit in die Psychosynergetik übernommen: 1. der Mut, für die Psyche als Ganze ein Strukturmodell zu formulieren. 2. die Wichtigkeit, das Unbewusste im Bewusstsein zu rekonstruieren (»Aus Es soll Ich werden«). Während die Psychoanalyse also einen hochspekulativen Ursprung hat und auch danach nie wirklich bereit war, die Möglichkeiten einer wissenschaftlichen Überprüfung auf breiterer Front zu nutzen, hat sich in Opposition hierzu die Verhaltenstherapie immer dezidiert als empirische Wissenschaft definiert. In ihrer ersten, der behavioristischen, Entwicklungsphase ist ihr das durch Übertreibungen zum Nachteil ausgeschlagen: Als relevant akzeptiert wurde nur das von außen beobachtbare und messbare Verhalten – da man über innerpsychische Prozesse nur spekulieren könne, müsse es außerhalb der Betrachtung bleiben. Diese gravierende Fehlannahme wird treffend durch den folgenden Witz karikiert: Zwei Behavioristen sitzen in der Mensa am Mittagstisch. Sagt der eine zum anderen: »Deine Mimik zeigt mir, dass dir das Essen sehr gut schmeckt. Jetzt sag mir bitte: Schmeckt es mir auch?« Und das Verhalten sei nun durch die Gesetze des Konditionierungslernens nahezu beliebig formbar – also kurz gesagt durch passende Schemata von Belohnungen und Bestrafungen. Nun, der Mensch ist kein Reiz-Reaktions-Automat.

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Wie schon in unseren Bemerkungen zu den Lernkonzepten von Manfred Spitzer ausgeführt – das Konditionierungslernen spielt auch beim Menschen noch eine grundlegende Rolle, ist aber nicht die führende und wichtigste Form des Lernens (Kapitel 2.12). Dass man innerpsychische Prozesse nicht einfach ignorieren konnte, ohne den Patienten mit dem Bade auszuschütten, erkannten Anfang der 1970er Jahre auch die Verhaltenstherapeuten. Mit der »kognitiven Wende« wurde die zweite Entwicklungsphase der Verhaltenstherapie eingeleitet. Nun waren Konzepte wie Gedanken, Überzeugungen, Glaubenssätze oder Soll- und Muss-Vorstellungen wieder Gegenstand von Wissenschaft und Therapiepraxis. Durch »kognitive Umstrukturierungen« oder »Reframing« soll und kann eine Modulation von Gefühlen erreicht werden. Das funktioniert wirklich gut, und Sie alle kennen es. Stellen Sie sich vor, jemand habe irgendwo an seinem Körper eine Geschwulst entdeckt. Er steigert sich in eine furchtbare Krebsangst hinein. Nach der Biopsie erfährt er, dass es sich um eine völlig harmlose Angelegenheit handelt. Nun macht er Freudensprünge und umarmt erschreckte Passanten auf der Straße. Die Veränderung einer kleinen Gedankenstruktur bewirkt einen dramatischen Wandel im Gefühlsleben. Tatsächlich schieben sich zwischen unsere Wahrnehmungen und unsere Gefühle gedankliche Interpretationen und Bewertungen, die dann entscheidend darüber mitbestimmen, welche Gefühle durch die Wahrnehmungen erzeugt werden. Dies ist in der Tat ein Mechanismus, der uns bei bewusster Handhabung und Einübung große Macht über unser Gefühlsleben geben kann. Wie weit diese kognitive Modulation selbst in Bezug auf starke Erbgefühle gehen kann, sieht man an jenen Kulturen, in denen man ein Fest feiert, wenn jemand verstorben ist. Diese Menschen sind fest in einem positiven religiösen Weltbild verwurzelt und sehen Trauer als Egoismus an, der dem Verstorbenen seinen Platz in der neuen, besseren Welt nicht gönnt. Die kognitive Verhaltenstherapie zeigt, wie negative Gefühle und psychische Störungen aus dysfunktionalem Denken erwachsen, insbesondere aus inadäquaten Soll- und Muss-Vorstellungen. Kernstück ist dann die Aufdeckung und sokratische Disputation dieser Vorstellungen mit dem Patienten. Dabei soll er selbst die Unsinnigkeit seiner Denkmuster erkennen und zu förderlicheren Lebensmaximen finden. Stellen Sie sich vor, jemand habe die Muss-Vorstellung im Kopf, dass er unbedingt von allen seinen Mitmenschen respektiert, geachtet und gemocht werden müsse. Da das nicht realistisch ist, wird der Betreffende oft leiden. Ja, mehr noch: Er wird dazu neigen, sich durch selbstverleugnendes, überangepasstes Verhalten zum Prügelknaben zu machen und so einen Teufelskreis etablieren. Der Therapeut wird ihm dann Fragen stellen wie: »Warum wollen Sie eigentlich von allen geliebt werden? Was wäre schlimm daran, wenn einige Sie nicht mögen?« So würde der Klient sich dann allmählich Einsichten annähern wie: »Es ist ganz normal und gar nicht schlimm, wenn mich einige Menschen nicht mögen. Wie stark mich das verletzt und ob überhaupt, hängt wesentlich von meinen Sichtweisen ab. Authentizität ist wichtiger, als beliebt zu sein.«

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Bis hierhin war die Verhaltenstherapie überwiegend auf Veränderung von Denken, Verhalten und Fühlen orientiert. Insbesondere aus östlichen Weisheitslehren wie dem Buddhismus ist aber das paradoxe Phänomen bekannt, dass Druck oft nur wachsenden Gegendruck erzeugt. Je stärker ein im Treibsand Versinkender kämpft, desto schneller geht er unter. Je mehr Angst man vor den Symptomen der Angst entwickelt, desto größer wird die Angst. Deshalb gilt: Aufhören zu kämpfen und lernen, zumindest passager zu akzeptieren. Hierbei hilft Achtsamkeit – eine nicht bewertende Konzentration auf die Wahrnehmungen des Moments. Dann wird man beispielsweise bemerken, dass sich die Symptome der Angst durchaus aushalten lassen und sich unter dieser inneren Einstellung sogar vermindern. Mit expliziter Bezugnahme auf den Buddhismus hat sich seit Anfang der 1990er Jahre eine Gruppe verhaltenstherapeutischer Ansätze etabliert, die die Konzepte Akzeptanz und Achtsamkeit an zentraler Stelle integrieren. Wichtige Proponenten sehen hierin eine dritte Phase in der Entwicklung der Verhaltenstherapie. Die Verhaltenstherapie ist die wissenschaftlich am besten abgesicherte Therapieform. Für keine andere Gruppe von Therapieverfahren gibt es derzeit mehr empirische Wirksamkeitsnachweise. Wenn für die Psychoanalyse galt, dass ihre konstituierenden Konzepte falsch sind und dass sehr viel fehlt, würde ich es für die moderne Verhaltenstherapie wie folgt formulieren: Ihre konstituierenden Konzepte sind fast alle richtig – und trotzdem fehlt noch vieles. Was fehlt? Nun, die Verhaltenstherapie liefert überwiegend Veränderungsmethoden, sie liefert noch viel zu wenig veränderungsrelevante Inhalte. Das hat damit zu tun, dass die Verhaltenstherapie im Anschluss an die akademische Psychologie ganzheitliche Modellbildungen ablehnt. Für diesen Schritt sei die Wissenschaft noch nicht weit genug fortgeschritten. Wie auch immer man das für die Wissenschaft sehen muss, für die Praxis von Selbstveränderung und Psychotherapie aber sind ganzheitliche Modelle notwendig und möglich. Wir sind selbst ganzheitliche Funktionssysteme und die Schüler oder Klienten sind es auch. Wir brauchen mental gut handhabbare Modelle, die das nötige Veränderungswissen in didaktisch geschickter Form enthalten. Beispielsweise gehört hier Grundwissen zur Evolutionspsychologie hinein, auch von der Verhaltenstherapie ist es bisher nur unzureichend integriert. Zu Fragen wie positive kulturell geprägte Motivationen, Ressourcen, persönliches Wachstum oder Sinn findet man in der Verhaltenstherapie ebenso kaum prägnante Modelle, die ein bruchloses und systematisches Einbeziehen dieser Momente ermöglichen würden. An vielen Stellen fehlt der Mut, positive Vorschläge zu machen und Inhalte vorzugeben. Auch die Verhaltenstherapie ist noch vorrangig defektorientiert: negative Glaubenssätze aufspüren und argumentativ zerschreddern. Mit positiven Vorschlägen für förderliche Geisteshaltungen soll der Therapeut sich zurückhalten, denn damit liefe er Gefahr, im Rahmen irgendeiner Ideologie zu manipulieren. Diesbezüglich findet man oft in einfachen Ratgeberbüchern oder alten Weisheitslehren mehr als in den Lehrbüchern der Verhaltenstherapie.

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Neben der Psychoanalyse und der Verhaltenstherapie gelten die humanistischen Therapien als die dritte große Richtung im Bereich Psychotherapie. Die einigende Grundidee dieser sehr heterogenen Gruppe ist, dass psychische Störungen entstehen, wenn Prozesse des persönlichen Wachstums und der Selbstverwirklichung gestört sind. Durch vorsichtige Anregung von außen gilt es, die Blockaden zu lösen und die Weiterentwicklung wieder in Gang zu bringen. Die meisten der unter diesem Dach vereinten Konzepte sind vor einigen Jahrzehnten entstanden. Sie sind in ihren Modellbildungen entweder sehr unkonkret oder sie sind spekulativ und nur schwer wissenschaftlich fundierbar. Gleichwohl wird auf dieser Grundlage und unter Hinzunahme des gesunden Menschenverstandes oft eine Arbeit geleistet, die in die richtige Richtung geht. Herauszuheben ist die Logotherapie, die von dem österreichischen Arzt Viktor E. Frankl entwickelt wurde. Neurosen können nach Frankl nur hineinwuchern in ein »existenzielles Vakuum«, aufgerissen nach Sinn- und Orientierungsverlust. Wer eine als sinnvoll empfundene Lebensaufgabe hat, bildet kaum psychische Störungen aus. Frankl betont die Bedeutung von Teufelskreisen und hat als Erster die Prinzipien der Dereflexion und der paradoxen Intention (bzw. Intervention) systematisch in die westliche Psychotherapie eingeführt. Diese Verfahren sind von zentraler Bedeutung und gehören zu den bei der Verhaltenstherapie erläuterten Akzeptanzprinzipien. Stellen Sie sich vor, Sie schlafen eine Nacht schlecht, und dann lesen Sie in einer Illustrierten etwas über Schlafstörungen und dass man daran sterben kann. Um Gottes willen, kriege ich jetzt etwa auch eine Schlafstörung?, schreit eine Stimme in Ihnen. Sie steigern sich in Angst hinein, können an gar nichts anderes mehr denken und schlafen natürlich auch die nächsten Nächte schlecht. Nun gehen Sie zu Viktor Frankl – nehmen wir einmal an, er lebte noch –, und der sagt zu Ihnen etwas in der Art: »Für die Diagnose ist es wichtig herauszufinden, wie lange Sie es ohne Schlaf aushalten. Bitte versuchen Sie von jetzt an so viele Nächte wie möglich nicht zu schlafen.« Nun fällt alles verkrampfte Einschlafenwollen von Ihnen ab und schon in der ersten Nacht sinken Sie in Morpheus’ Arme … Sie verstehen das Prinzip. Es lässt sich in vielerlei Lebenszusammenhängen hilfreich einsetzen. Schon die Japaner wussten: Jene Samurai kommen lebend aus dem Kampf zurück, die mit der Bereitschaft gingen zu sterben. Was Frankl schreibt, ist immer brillant und nach meiner Einschätzung fast immer richtig. Aber auch hier – Sie ahnen schon, was kommt – fehlt sehr viel. Als vierte große und erstarkende Kraft im Reigen der führenden Psychotherapieschulen muss auch die systemische Therapie erwähnt werden. Sie fokussiert auf den Beitrag, den Beziehungsstörungen insbesondere in der Familie zu psychischen Problemen leisten. Ich möchte hier nicht in die Tiefe gehen, da es in diesem Kapitel schwerpunktmäßig um psychische Veränderung beim Einzelnen geht. Nur so viel: Da Psychosynergetik und systemische Therapie die theoretische Basis weitgehend teilen, sind beide Ansätze kompatibel und ergänzen sich aus meiner Sicht gut. Was systemisch fundierte Konzepte für die Psyche des Einzelnen angeht, scheint mir die systemische Therapie noch deutlich unterbestimmt.

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Vielleicht könnten gerade die Ansätze der Psychosynergetik diese Leerstellen zu füllen helfen. Natürlich gibt es darüber hinaus viele weitere Psychotherapie- und Veränderungslehren, die wichtige Bausteine enthalten – aber eine detailliertere Darstellung wäre wohl nur für den Fachmann interessant. Wie schon angesprochen, habe ich in der Psychosynergetik versucht, die aus meiner Sicht wichtigsten und wirksamsten Elemente zu einem handhabbaren System zu integrieren, aus dem Synergien erwachsen. Psychosynergetik enthält Elemente aus allen hier genannten Veränderungslehren. Im Kern steht sie aber sicher der Verhaltenstherapie am nächsten, ja könnte als ein komplexer und integrierender Ansatz der dritten Entwicklungsstufe der Verhaltenstherapie gelten. Wie stellt sich aus dieser Perspektive psychische Veränderung dar? Der Mensch wird hier als ein autonomes, selbstregulierendes, hedonistisch grundprogrammiertes Wesen konzipiert. Letzteres bedeutet: Jeder Mensch strebt nach positiven Gefühlen, alles, was man tut, dient in letzter Konsequenz dem Ziel, den Zustrom an positiver Gefühlsenergie zu mehren. Das gilt auch für Menschen wie Mutter Theresa. Täten sie nicht, was sie tun, ginge es ihnen schlechter. Sie hätten das Gefühl, nicht eins mit sich selbst und ihren Werten zu sein, würden ein schlechtes Gewissen verspüren. Jedes Verhalten ist also ein Selbstregulationsverhalten mit dem Ziel, negative Gefühle zu vermindern, positive Gefühle zu verstärken und Störungen dabei zu beseitigen (Widerstände, mangelnde Effektivität oder Kontrolle des eigenen Verhaltens). Ist die Energiebilanz hierbei positiv, »läuft« das Leben und oft finden Lernen und Wachstum statt. Rutscht sie aber längerfristig in den negativen Bereich und pfropfen sich dem noch Teufelskreise auf, entstehen psychische Störungen (Angsterkrankungen, Burnout, Depression). Wovon hängt nun ab, ob die Entwicklung in eine Aufwärts- oder in eine Abwärtsspirale läuft? Wovon hängt die Effektivität des Selbstregulationshandelns ab? Nun, natürlich in erster Linie von den Modellen, die dieses Handeln anleiten. Jeder Mensch hat ein Selbstmodell, ein Modell seines eigenen Funktionierens im Kopf. Und gemäß diesem Modell handelt er. Wenn Sie ein bestimmtes Gefühl verspüren, dann interpretieren Sie dieses Gefühl vielleicht als Hunger. Ihr Selbstmodell sagt Ihnen dann, dass Sie in diesem Falle Nahrung brauchen, und Sie wissen auch, wo Sie Lebensmittel bekommen und wie damit umzugehen ist. Ihren Hunger haben Sie noch immer gestillt bekommen. Bei anderen Gefühlen oder komplexeren Stimmungen ist Ihnen das vielleicht nicht so klar und Sie sind auch nach längerem Herumprobieren nicht erfolgreich. Man muss eben eine Menge wissen über die Gefühle des Menschen im Allgemeinen, aber auch über die eigenen individuellen Akzentuierungen. Das ist zum einen ein menschheitsgeschichtlicher Lernprozess. Die Menschen im Mittelalter hielten sexuelles Verlangen vielleicht für Teufelsbesessenheit und versuchten es mit der Bibel auszutreiben. Heute weiß die Evolutionspsychologie über die sexuellen Gefühle bis in die feinen Verästelungen sehr genau Bescheid. Und zum Zweiten ist es ein individueller Lernprozess: Jeder Einzelne muss dieses Wissen beigebracht bekommen oder es sich aneignen.

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Jeder Mensch braucht für ein gelingendes Selbstmanagement ein adäquates Selbstmodell, das über das evolutionspsychologische Grundwissen hinaus natürlich noch deutlich mehr beinhalten muss: Tools für das Stressmanagement im Hier und Jetzt beispielsweise, ein System förderlicher Geisteshaltungen oder Grundprinzipien für den Aufbau positiver Lebensinhalte. Mein Vorschlag für ein solches »Selbstmodell für die Selbstgestaltung« ist das psychosynergetische Strukturmodell, in das ich versucht habe, alles Nötige hineinzupacken. Es existiert in verschiedenen Ausformulierungen für unterschiedliche Zielgruppen – die Basisversion für die Praxis steht in meinem Buch »Persönlichkeit führt«, eine erweiterte Fassung vor einem komplexeren Verständnishintergrund findet sich in »Erfolgsprinzip Persönlichkeit«. Doch lesen, sich Einsichten, Begriffe und Konzepte aneignen ist natürlich nur der erste Schritt. Wir alle wissen: Ob es das Sporttreiben oder das Abnehmen ist – aus Einsicht und Vorsatz folgt noch lange nicht das Handeln. Das deutet auf das Hauptproblem der psychischen Veränderung: die Verinnerlichung. Was muss ich tun, um Einsichten so zu verinnerlichen, dass Handlungen aus ihnen erwachsen? Auf diese zentrale Frage muss ein »Selbstmodell zur Selbstveränderung« Antworten geben. Im Rahmen der Psychosynergetik werden zwei Grundformen der Verinnerlichung unterschieden. 1. Verinnerlichung über Kohärenz (Ausbildung von Kulturantrieben): Eine Einsicht wird in dem Maße mit Gefühlen (»Harmoniegefühle« – s. Kapitel 1.3) aufgeladen, je differenzierter, umfassender und kohärenter sie in ein passendes Wissensumfeld eingewoben ist. So wird aus einer Einsicht eine Überzeugung, die zu Taten treibt. Durch ein hohes Maß an systematischer innerer Arbeit gilt es also, sich einen »harten Kern« an Werten, Prinzipien und Überzeugungen zu erarbeiten, an den man dann immer wieder neue Einsichten ankoppeln kann. Nach den umrissenen Prinzipien der Bildung von Kulturantrieben wird dieses Wissen so mit Motivation aufgeladen. Förderlich und in gewissem Umfang unverzichtbar ist hierfür: Lesen, Nachdenken, Diskurs, Schreiben. Und dieser Motivationszuwachs kann sich durch sinnhafte Zusammenhänge auf die gesamte Lebensaktivität übertragen. Jemand, der fit sein will für die Durchsetzung eines Projektes, von dem er überzeugt ist, das ihm als Kulturantrieb Sinnerfüllung und Begeisterung vermittelt, wird sich viel leichter zum Abnehmen oder Sporttreiben motivieren können als jemand, der nicht weiß, wofür er lebt. 2. Verinnerlichung durch Erfahrung (Herstellung von Verbindungen zu Erbantrieben durch Konditionierungslernen): Im nächsten Schritt geht es darum, wachsende Überzeugungen in ausreichend kleinen, realistischen Schritten in Verhalten umzusetzen. Bei Erfolg knüpfen sich Erbgefühle an das Verhalten – zum Beispiel Freude oder Stolz –, wodurch es leichter wird, dieses Verhalten erneut auszuführen. So fällt auch das Abnehmen und das Sporttreiben nach ersten Erfolgen und anerkennenden Bemerkungen von Freunden oder Kollegen immer leichter.

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Psychosynergetik vermittelt Handlungsanleitungen, beide Formen der Verinnerlichung bewusst zu nutzen. Zumeist handelt es sich dabei um mittel- bis langfristige Strategien. Denk- und Verhaltensmuster müssen in kleinen realistischen Schritten systematisch über Monate verändert werden, ehe die spontanen Gefühls- und Verhaltensreaktionen sich verändern, ehe aus der Einsicht im Kopf eine Überzeugung im Bauch geworden ist. Ein wenig poetisch formuliert: Eine Einsicht ist die Saat für eine Handlung, eine Handlung ist die Saat für eine Gewohnheit, eine Gewohnheit ist die Saat für einen Charakter und ein Charakter ist die Saat für ein bedeutendes Lebenswerk. Wie in Kapitel 1.3 geschildert, kommt es dabei auch zu Schwellen- und Selbstverstärkungseffekten: Haben die Kulturantriebe eine bestimmte Stärke erreicht, wird die Kulturschwelle überschritten und das Verhalten wird in seiner Motivation stärker von kulturellen als von biologischen Imperativen geprägt. In einem damit verstärken sich auch Kraft und Möglichkeiten der Selbstveränderung erheblich. Die westliche Kultur strebt nach dem Glück, indem sie versucht, die Reize möglichst weitgehend unter Kontrolle zu bringen und zu verändern. Wir haben ein Stück weit gelernt, die Außenwelt zu zwingen, uns in jedem Moment das zu bieten, was wir uns gerade wünschen. Wie im Vorfeld beschrieben, zeigt sich, dass dieser »Machbarkeitswahn« zunehmend an Grenzen stößt. Immer mehr Menschen werden damit nicht fertig. Sie haben es nicht gelernt, mit ihrer Innenwelt umzugehen. Manche können die basalsten Gefühle nicht erkennen und schon gar nicht über sie sprechen. Die östlichen Kulturen machen es genau anders herum: Sie interessieren sich kaum für die Reize – die Außenwelt gilt sowieso nur als Illusion, die keine wahre Existenz hat. Sie versuchen, ihre Reaktionen maximal unter Kontrolle zu bringen und zu verändern: Es gibt nichts Schlimmes, es gibt nur schlimme Reaktionen. Gefühle entstehen in uns selbst und unterliegen deshalb potenziell unserer Kontrolle. Durch Wahl unserer Sichtweisen, Bewertungen und Haltungen sowie durch meditative Praktiken können wir lernen, unser Befinden aus uns selbst heraus zu regulieren. Wenn wir unerfüllbare Wünsche und Erwartungen loszulassen vermögen und uns mit Achtsamkeit auf das konzentrieren, was wir haben, dann können wir glücklich sein. Im Grunde sind das zwei Extrempositionen. Und Extrempositionen sind fast immer schlecht. Weder ist es gut, wenn im Westen die Leute nicht über ihre Gefühle sprechen können, noch ist es gut, wenn im Osten an Verhungernden achtlos vorbeigegangen wird. Die Wahrheit liegt wohl wieder in der Mitte – oder vielleicht doch ein wenig näher am Pol des Ostens. Für uns heißt das: Wir müssen lernen und üben, unseren Veränderungsehrgeiz vorrangig nach innen zu richten. Der Jesuitenpater und Weisheitslehrer Anthony de Mello berichtete in einem seiner Bücher sinngemäß das Folgende: Er hatte über längere Zeit einen Mann beobachtet, der regelmäßig an einem bestimmten Kiosk seine Morgenzeitung kaufte. Der Besitzer war ein alter Kauz, der seine Kunden oft beschimpfte und beleidigte. De Mello fragte den Mann: »Warum kaufen Sie

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eigentlich Ihre Zeitung immer bei diesem Zausel, der Sie so oft verletzt und beleidigt, und nicht eine Querstraße weiter, wo die Verkäuferin viel freundlicher ist?« Die Antwort: »Warum soll denn der Mann, von dem Sie meinen, dass er mich verletzt, darüber bestimmen, wo ich meine Zeitung kaufe?« Diese Geschichte macht sehr schön deutlich, worum es geht. Im Westen fehlt eine Kultur der Innerlichkeit und Selbstveränderung. Für jeden DVD-Rekorder gibt es wie gesagt eine Bedienungsanleitung, nur für uns selbst, für unseren Körper, unser Gehirn und unsere Psyche bekommen wir keine. Wir müssen die Entwicklung persönlicher Meisterschaft in unsere Kultur integrieren und sie schon unseren Kindern in den Schulen beibringen. Wichtig wäre, all das nicht als lästige Pflicht zu vermitteln, sondern als eine spannende Entdeckungsreise, als die freudvolle Gestaltung eines Kunstwerks, als das wichtigste Lebensprojekt überhaupt, das ein Gelingen des Lebens weitgehend sicherstellen kann. Denn: Über die inneren Ziele, über die innere Karriere kann man eine hochgradige Kontrolle gewinnen. Der innere Erfolg ist unter fast allen äußeren Lebensumständen möglich. Wir alle wissen: Für den äußeren Erfolg gilt das nur in sehr viel eingeschränkterem Maße. Ich kann gar nicht oft und stark genug betonen: All das lässt sich aus unserer westlichen Wissenschaftstradition heraus entwickeln. Das Wichtige, Richtige und Wirksame aus den östlichen Weisheitslehren kann vor dem Hintergrund moderner Wissenschaft reinterpretiert und in einer zu unserer Kultur kompatiblen Sprache reformuliert werden. All das ist rational, transparent und, wie im nächsten Kapitel erläutert wird, in einem höheren Sinne eigennützig. Es hat nichts mit Esoterik, Mystik oder realitätsfremden Schwärmereien zu tun. Wie veränderbar ist also der Mensch in seiner Persönlichkeit? Die Antwort ist: Wir würden es erst wissen, wenn wir es in einer dem Vorschlag dieses Buches ähnlichen Weise ausprobiert hätten. Aber ich bin sicher: Es ist möglich, Bedingungen zu schaffen, unter denen sich die Selbstentwicklungskompetenz des Menschen in Richtung von mehr Gemeinschaftsfähigkeit erheblich stärker ausbildet, als dies heute der Fall ist. Und das wäre ein Segen für uns alle. Abschließend noch ein paar letzte Bemerkungen zur Psychotherapie – hieran nicht speziell interessierte Leser können den folgenden Absatz gern überspringen. Grundsätzlich kann man eine psychische Störung auf zweierlei Weise angehen. Stellen Sie sich vor, jemand habe eine Angsterkrankung, sagen wir, er bekommt im Fahrstuhl Panik. Der klassische, defektzentrierte Weg wäre der Versuch, direkt die Angst zu behandeln. Im Sinne einer verhaltenstherapeutischen Exposition könnte man mit dem Patienten vor dem Hintergrund entsprechender kognitiver Umstrukturierungen so lange Fahrstuhl fahren, bis eine Gewöhnung eingetreten und die Angst kaum mehr spürbar ist. Vielleicht verliebt sich unser Patient aber auch neu oder er wird befördert und kann sich nun auf einmal beruflich sehr viel besser entfalten. Dann kann es sein, dass die Angst irgendwie von allein weggeht, ohne dass man sich speziell mit ihr beschäftigt hätte. Man kann also versuchen, den Defekt selbst zu reparieren oder

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man versucht ihn quasi aufzuwiegen, in dem man das Positive und Gesunde stärkt und entwickelt. Unter Bezeichnungen wie Ressourcenorientierung oder Salutogenese ist dieser zweite Weg in den letzten Jahren vermehrt in den Blickpunkt gerückt. Vieles spricht dafür, dieser salutogenetischen Herangehensweise einen sehr hohen Stellenwert einzuräumen und diesbezügliche Möglichkeiten immer auszuschöpfen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der sich immer mehr durchsetzenden störungsspezifischen Behandlungsansätze. Hier werden für die Hauptformen von psychischen Störungen speziell zusammengestellte Behandlungsmodule entwickelt, die überwiegend in Gruppenform ablaufen und neben Theorievermittlung auch praktische Übungen beinhalten. Zwar gibt es hier zumeist auch ressourcenaktivierende Elemente, ein Stück weit wird durch diesen Grundansatz aber doch das alte, defektorientierte Herangehen zementiert. Deshalb sollten in jedem ganzheitlichen Psychotherapieansatz die störungsspezifischen Behandlungsmodule durch eine Art »allgemeines salutogenetisches Modul« ergänzt werden. Hierfür würde sich das im Rahmen der Psychosynergetik erarbeitete Konzept der persönlichen Meisterschaft exzellent eignen, das ursprünglich speziell zur Steigerung des Kohärenzgefühls entwickelt wurde (das Kohärenzgefühl gilt als einer der entscheidenden psychischen Gesundheitsfaktoren; s. Antonovsky, 1997).

2.21 Eine zentrale Erkenntnis: Lebensglück aus inneren Quellen Lassen Sie uns nun einen Komplex aus Einsichten, Erfahrungen und gesichertem Wissen besprechen, der in seiner Bedeutung kaum hoch genug eingeschätzt werden kann. Er betrifft die Frage: Wovon ist unsere Lebenszufriedenheit, unser Glück abhängig? Seit Jahrhunderten raunt es aus Weisheitslehren und Religionen: Macht, Geld oder Luxus machen nicht glücklich – das wahre Glück findet man nur in sich selbst. Unsere Kultur und unser Alltag aber sind von ganz anderen Vorstellungen geprägt. In einer bekannten Werbung, wir hatten sie schon erwähnt, versucht ein Mann seinen Freund dadurch zu beeindrucken, dass er ihm die Fotos folgender Gegenstände wie Trumpfkarten auf den Tisch knallt: Mein Haus, mein Boot, mein Auto, mein Pferd … Auf diese und ähnliche Weise wird immer wieder die Botschaft vermittelt: Glück erwächst aus dem Besitz materieller Dinge und dem sozialen Status, den dies oft zur Folge hat. Was ist nun richtig? Da mag ja jeder so seine Erfahrungen haben – wurde es denn schon einmal wissenschaftlich untersucht? Ja, wurde es. Und auch die Wissenschaftler gingen mit dem Vorurteil an die Sache heran, dass die äußeren Umstände wohl hoch bedeutsam für das Glück sein würden. Über die Ergebnisse waren sie dann so erstaunt, dass sie den Begriff »Wohlbefindensparadox« prägten. Gemeint ist der Sachverhalt, »dass sich widrige Lebensumstände (z. B. gesundheitliche und finanzielle Beeinträchtigungen) im Gruppenmittel – solange existenzielle Min-

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destanforderungen nicht unterschritten werden – kaum bis gar nicht in den Bewertungen des subjektiven Wohlbefindens der Betroffenen widerspiegeln«, heißt es in einer einschlägigen Veröffentlichung (Staudinger, 2000, S. 186). Allerdings muss man bei alledem auch die zeitliche Dimension beachten: Unmittelbar nach Eintritt eines positiven oder negativen Lebensereignisses – etwa einem Lottogewinn oder einer Querschnittslähmung – fühlt man sich sehr wohl besser bzw. schlechter. Aber das ist eben nicht von Dauer – nach einiger Zeit kehrt das Befinden in den »Normalbereich« zurück. Studien zeigten wiederholt, dass zum Beispiel bei Querschnittsgelähmten etwa acht Wochen nach dem Unfall wieder die positiven Affekte zu dominieren beginnen und sie ein bis zwei Jahre später wieder das Niveau an subjektiver Lebenszufriedenheit erreichen, das vor dem Unfall bestand. Immer wieder liest man in den Zeitungen Berichte von Lottogewinnern, die nach ihrem anfänglichen Freudentaumel depressiv werden oder gar im Alkoholismus oder Suizid enden. Was hier eine zentrale Rolle spielt, ist das schon erwähnte Phänomen der Gewöhnung (Habituation). In ähnlicher Weise wie Geld und Gesundheit haben Ausbildung und Intelligenz, ethnische Gruppenzugehörigkeit und das Klima des Wohnortes kaum einen Einfluss auf die Lebenszufriedenheit. Der oft ersehnte Umzug unter die warme Sonne des Südens wäre also auch nicht aller Probleme Lösung. Ein nennenswerter und auch nachhaltiger positiver Einfluss auf das Wohlbefinden wurde hingegen für soziale Faktoren festgestellt: in einer Demokratie leben, in der es möglichst geringe soziale Unterschiede und möglichst große Mitgestaltungsmöglichkeiten gibt, eine harmonische Beziehung eingehen und sich ein tragfähiges Netz an sozialen Kontakten aufbauen. Doch auch unter Einschluss dieser Gemeinschaftsaspekte tragen die Außenbedingungen insgesamt nur zu 8 bis 15 Prozent zu unserem Wohlbefinden bei, so wurde in Studien ermittelt (Seligman, 2003). Woher kommt dann aber der Rest? Lassen wir die Antwort durch den amerikanischen Autor und Geistlichen Charles Swindoll geben, dessen intuitive Schätzung sehr gut mit den wissenschaftlichen Ergebnissen übereinstimmt: »Je länger ich lebe, desto mehr begreife ich die Wirkung, die unsere persönliche Einstellung auf das Leben hat. Persönliche Einstellung ist für mich wichtiger als Tatsachen. Sie ist wichtiger als die Vergangenheit, als Erziehung, als Umstände, als Geld, als Erfolge, als das, was andere Menschen sagen oder tun. Sie ist wichtiger als Aussehen, Begabung oder Können. Ich bin davon überzeugt, dass mein Leben zu 10 Prozent aus dem besteht, was mit mir geschieht, und zu 90 Prozent aus dem, wie ich darauf reagiere. Das gilt auch für dich … wir können unsere persönliche Einstellung kontrollieren.« Die eigentlichen Quellen des Glücks liegen also in unserem Inneren. Wie kann man sich das genauer vorstellen? Lassen Sie uns unter »Glück« (Gl) einmal so etwas wie »positive Gefühlsenergie« verstehen. Haben wir davon genug im Tank, dann lösen wir mühelos unsere Probleme und fühlen uns gut. Ist der Tank leer, fehlt uns der Antrieb zur Bewältigung der Alltagsaufgaben und wir fühlen uns depressiv oder ausgebrannt. Die Zu- und Abflüsse unseres Energietanks wer-

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den von der folgenden Faustformel beschrieben, die sich für den praktischen Gebrauch als ausreichend erwiesen hat: Gl = (äuL/Gw + innL) – (Str/Lh) Wichtige Verständnisgrundlagen hatten wir ja schon im Kapitel über Motivationspsychologie gelegt. Der erste Term beschreibt die Zuflüsse an Gefühlsenergie. Äußerer Lohn (äuL), so hatten wir erarbeitet, entspringt der Befriedigung unserer Erbbedürfnisse: Konsum, Sex, Ausübung von Macht und Kontrolle, das Genießen eines hohen sozialen Status, Respekt, Bewunderung oder Dankbarkeit von den Mitmenschen. Innerer Lohn (innL) dagegen entspringt der Befriedigung unserer Kulturbedürfnisse: Lesen, Klavierspielen, über Schopenhauer diskutieren, Schachspielen, Tanzen. Äußerer Lohn hält uns, wie der Name sagt, in Abhängigkeit von äußeren Gegebenheiten und er reduziert sich immer wieder durch die Rückstellkraft der Gewöhnung (Gw). Deshalb trägt er, wie erarbeitet, nur maximal circa 20 Prozent zu unserem Glück bei. Die Quellen inneren Lohns dagegen sind nahezu unbegrenzt entwickelbar – wir werden gleich noch darauf eingehen. Vom Gewinn an positiver Gefühlsenergie, die aus diesen beiden Quellen erzielt wird, muss der Verbrauch abgezogen werden, der sich durch die Auseinandersetzung mit Stressoren (Str) ergibt – beginnend bei kleinen Widrigkeiten wie dem Computerabsturz über gravierende Lebensereignisse wie einer Kündigung bis hin zu inneren Stressoren, etwa negativen Erinnerungen oder katastrophisierenden Zukunftsgedanken. Doch Stressoren haben nicht in irgendeinem objektiven Sinne an und für sich Bedeutung und Gefühlswirkung – wir haben es eben im Zusammenhang mit der Verhaltenstherapie besprochen. In welchem Maße negative Gefühle entstehen und wie viel positive Gefühlsenergie dadurch verbraucht wird, hängt von der Bewertung und damit von den dahinter stehenden Lebenshaltungen (Lh) ab. Wer zum Beispiel Probleme grundsätzlich als etwas Positives im Sinne einer Lern- und Wachstumschance betrachtet, wird seinen durchschnittlichen Stress und Energieverbrauch deutlich reduzieren. Wenn ein grundlegendes Niveau an materiellen und sozialen Lebensbedingungen gegeben ist, verbleiben also zwei Hauptwege, seine Lebenszufriedenheit zu steigern, und alle beide sind »innere Wege«: 1. Aneignung, Einübung und Verinnerlichung eines Systems förderlicher Geisteshaltungen, die in Bezug auf ein möglichst breites Spektrum von Stressoren den Energieverbrauch reduzieren; 2. systematische Entwicklung von Quellen inneren Lohns (vor allem Kulturantriebe). Die Psychosynergetik bietet für beide Wege umfassend Hintergründe, Hilfestellungen und praktische Anleitungen. An dieser Stelle sei lediglich auf den zweiten Punkt noch ein wenig genauer eingegangen. Wie in Kapitel 1.3 besprochen, hat sich bei uns ein zerebrales Funktionsmodul entwickelt, das den Ordnungs-

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grad innerer Prozesse in Form von Stimmigkeits- oder Unstimmigkeitsgefühlen bewertet – wir hatten es kurz als »Harmoniebewertungssystem« bezeichnet. Auf dieser Basis können wachsende Ordnungsinseln im Gedächtnis zu Kulturantrieben werden. Es entsteht ein Drang, diese Ordnung noch weiter zu steigern und auszubauen: noch besser einüben, Widersprüche ausräumen, neue Querbezüge herstellen und neue Inhalte erlernen. Die Entwicklung innerer Quellen von Glück hat also sehr viel mit der Akkumulation innerer Ordnung zu tun. Welche grundsätzlichen Wege gibt es, die innere Ordnung zu steigern? 1. Die psychische Ordnung lässt sich steigern, indem man sich auf Wahrnehmungen konzentriert (die im Allgemeinen einen hohen Grad von Ordnung aufweisen). Man kann sich auf den Rhythmus des eigenen Atems konzentrieren oder auf den geordneten Ablauf einfacher Tätigkeiten (Mantras oder Gebete sprechen, gehen, bügeln, Straße fegen etc.). Das ist der Kern von Achtsamkeitsund Meditationsübungen. Menschen, die sich einer regelmäßigen und ausreichend intensiven Meditationspraxis unterziehen, können ihre Stimmung effektiver beeinflussen und im durchschnittlichen Niveau anheben. 2. Eine hohe Ordnung psychischer Prozesse entsteht beim gelingenden Ausführen möglichst komplexer Tätigkeiten, die uns an die Obergrenze unseres Könnens bringen (Klavier spielen, Tanzen, Lesen, Philosophieren, Schreiben etc.). Hier haben wir es mit typischen Flow-Aktivitäten auf der Basis der eben erwähnten Kulturantriebe zu tun. Im Flow geht man ganz im Tun auf und erfährt durchdringende Momente des Glücks. Entscheidend ist es, dass man an die entsprechenden kulturellen Inhalte herangeführt wurde und dass man sie sich in möglichst umfassender Weise angeeignet hat. 3. In einem mehr ganzheitlichen Sinne entsteht eine hohe psychische Ordnung, wenn wir das Gefühl haben, unser Reden und vor allem Handeln stimmt mit unseren Werten und Prinzipien überein. Wir sind dann »mit uns im Reinen«, wir fühlen uns »selbstkongruent« oder »integer«. Auch dies ist eine wichtige Quelle von Lebenszufriedenheit. Eine Voraussetzung dafür ist, dass man sich gründlich und explizit Werte und Prinzipien erarbeitet hat und dass die Gesamtheit aller psychischen Inhalte einen möglichst hohen Grad an innerer Stimmigkeit und Kohärenz aufweist. Das also sind die Hauptquellen inneren Lohns. Wem es durch Begabung, Erziehung und/oder eigene Anstrengung gegeben ist, reiche Quellen inneren Lohns zu entwickeln, der erreicht einen hohen Grad an Autonomie. Auch im Gefängnis oder auf einer »Robinsoninsel« wäre er noch fähig, aus sich selbst eine grundlegende Lebenszufriedenheit zu gewinnen. Ich halte das für eine ganz zentrale Erkenntnis, die eine immense Hebelwirkung entfalten könnte: Sie ermöglicht innere Sicherheit und Gelassenheit; sie ist der Angelpunkt einer Vielzahl abgeleiteter förderlicher Geisteshaltungen; sie immunisiert gegen Korrumpierbarkeit durch Macht, Ruhm oder Geld; sie schützt gegen Demoralisierung bei schlimmen Schicksalsschlägen; sie immunisiert

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gegen Ablenkungen und Verführungen aller Art und hält den Weg offen für ein tiefes und erfülltes Leben; sie ermöglicht es uns, unsere Natur in Richtung Kultur zu transzendieren, sie ist die Bedingung für die Möglichkeit einer postmaterialistischen Kultur. Und damit können wir uns der zentralsten unter den zentralen Fragen dieses Buches zuwenden: Wie kann man die natürlichen Schwachpunkte des Menschen spezifisch kompensieren, die es ihm schwer machen, funktionierende Kulturgemeinschaften zu formieren?

2.22 Die Gemeinschaftsfähigkeit steigern: Konstruktivismus-Kompetenz und Ego-Souveränität Ich hoffe, Sie erinnern sich noch – im ersten Buchteil hatten wir erarbeitet: Von seiner biologischen Hardware her ist der Mensch befähigt, Naturgemeinschaften zu bilden. Das Sozialleben wird hierbei instinktiv so geregelt, dass es das biologische Überleben der Horde am besten sicherstellt. Was sich dabei ergibt, ist im Telegrammstil: eine Hierarchie der Stärke, Privilegien für die Starken, Bevorzugung von Verwandten, allgemeine Fürsorge für Jungtiere und Kranke, Fürsorge der Starken für alle Schwachen, die sich unterordnen, reziproker Austausch; bei Gefahr Aggression gegen alles Gruppenfremde. Menschen bilden nun nicht mehr Naturgemeinschaften, sondern Kulturgemeinschaften. Es geht hier nicht ums biologische Überleben, sondern ums Überleben in einer kulturell dominierten Welt. Wenn es beim Menschen noch zu natürlichen Vergemeinschaftungen kommt, ist dies oft negativ: Man bildet eine Clique, um jemanden aus dem Unternehmen zu mobben, ein Mob findet sich spontan zusammen, um einen Ausländer zu jagen, oder man zieht gar voller Begeisterung in einen Krieg. Aber es gibt auch positive Beispiele – etwa die Wellen von Hilfsbereitschaft und Solidarität, wenn sinnlich wirksame Bilder einer Katastrophe über den Bildschirm laufen. Die unmittelbaren Ziele und einigenden Motive sind hier biologische Determinanten, die den Erbantrieben entspringen, und alles Kulturelle fungiert nur als Hilfsmoment. Kulturelle Vergemeinschaftungen sind hingegen viel komplizierter und störanfälliger. Kristallisationspunkt ist hierbei irgendein Gemeinschaftskonzept, das sprachlich-symbolisch repräsentiert ist: die Konzepte für ein neues Produkt, für den nächsten Wahlkampf oder das identitätsstiftende Normen- und Ideensystem einer sozialen Gruppe. Das Gemeinschaftskonzept hält die Gruppe zusammen und oft ist seine Weiterentwicklung Haupt- oder Nebenziel des Gruppenhandelns. Und das ist dann eben von einer Eigenlogik bestimmt, die rein in kulturellen Inhalten gründet und wo sich Einmischungen von der biologischen Ebene her nur störend auswirken, unter Umständen zerstörerisch. Oft kristallisiert das Gemeinschaftskonzept in irgendeiner Form materiell aus: als Bauplan oder Modell für das neue Produkt und schließlich als Endprodukt; als Wahlkampf-

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programm und hoffentlich dann als realisiertes Wahlversprechen, als materielles Symbol der Gruppenzugehörigkeit, beispielsweise als Parteiabzeichen. Lassen Sie uns diesen Prozess kultureller Vergemeinschaftung in einigen Aspekten etwas genauer betrachten. Dafür muss ich Ihnen zunächst noch eine begriffliche Differenzierung zumuten. Das Gemeinschaftskonzept existiert ja immer in zwei Formen. Zum einen als Konzept in den Köpfen der einzelnen Menschen. Diese Einzelgemeinschaftskonzepte (EGK) sind natürlich niemals völlig identisch. Es gibt einen idealerweise sehr großen Schnittmengenbereich, der bei allen weitestgehend übereinstimmt, aber es gibt auch Bereiche stärkerer individueller Abweichungen. Den von allen geteilten Schnittmengenbereich wollen wir als Obergemeinschaftskonzept (OGK) bezeichnen. Idealerweise ist er weitgehend identisch mit den materiell auskristallisierten Formen des Gemeinschaftskonzeptes, mit den Bauplänen des Produktes etwa oder mit dem Wahlkampfprogramm. Und nun können wir die kulturelle Vergesellschaftung als einen Prozess der synergetischen Konsensualisierung beschreiben – sollten Sie vergessen haben, was das ist, dann schlagen Sie in Kapitel 1.2 noch einmal nach. Wie die Synergetik gezeigt hat, ist dies bei allen dynamischen Strukturbildungen auf allen Ebenen des Seins ein ganz zentrales Prinzip. Unter Beteiligung zufälliger Fluktuationen entstehen auf der Ebene der Elemente Muster, von denen sich dann ein besonders geeignetes nach Selbstverstärkungsprozessen auf einer übergeordneten Ebene als Ordner etabliert und konsensualisierend auf die Elemente zurückwirkt. Stellen wir uns exemplarisch einmal vor, es werde ein Team zusammengestellt, das den Auftrag hat, ein bestimmtes neues Produkt zu entwickeln. Schon im Vorfeld macht sich jeder so seine Gedanken zu dem Produkt – ein paar Rahmenvorgaben sind schon bekannt – und entwickelt ein EGK. Wenn die Teammitglieder dann ihre ersten Zusammenkünfte haben, unterscheiden sich einzelne EGK natürlich noch sehr stark. Nach Art des Brainstorming stellt jeder seine Ideen vor und der Diskussionsprozess wogt eine Zeitlang hin und her. Schließlich ist eine kritische Mehrheit von einem bestimmten Konzept überzeugt – vielleicht entspricht es ganz dem Vorschlag eines Teammitgliedes oder es ist eine Kombination aus mehreren Vorschlägen. Nach einer detaillierteren schriftlichen Ausarbeitung dieses OGKs setzen sich alle Teammitglieder individuell damit auseinander. In der Folge werden die EGKs in ihrer Grundstruktur bei allen ein Stück weit an das OGK angeglichen (Abbildung 11). Jeder macht sich nun in Bezug auf bestimmte Details seine Gedanken und hier können die Abweichungen nun wieder wachsen, bis in der nächsten Diskussionsrunde das OGK bezüglich dieser Details präzisiert wird und nun wieder eine Konsensualisierung aller EGKs erfolgt – und so fort in einem Spiralprozess in Bezug auf alle weiteren Detailaspekte. Am Ende sollte sich ein OGK herauskristallisieren, das mit allen EGKs weitgehend deckungsgleich ist. Wenn alle rational prüf- und berechenbaren Parameter stimmen und alle Teammitglieder auch insgesamt ein hohes Stimmigkeitsgefühl haben, dann erlischt die kreative Spannung, die Projektplanung wird abgeschlossen und die Umsetzung beginnt.

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Abbildung 11: Schema der Entwicklung gemeinschaftlicher Ideen und Konzepte bei Kommunikationsprozessen in Form von Zyklen aus Emergenz und Konsensualisierung (EK: Einzelkonzept, EGK: Einzelgemeinschaftskonzept)

Auf diese Weise entsteht wirklich ein überindividuelles Produkt, in dem sich Intelligenz, Wissen und Kreativität aller Teammitglieder übersummativ integrieren. Das ist der Grundprozess kollektiver Intelligenz und Kreativität. In Bezug auf komplexe Entwicklungsaufgaben wird sich »Schwarmintelligenz« niemals auf eine grundlegend andere Weise realisieren lassen. Und das ist auch das Grundschema, nach dem sich Kulturgemeinschaften auf anderen Ebenen formieren und entwickeln – wir werden darauf zurückkommen. Was sind nun die Voraussetzungen dafür, dass dieser Prozess optimal läuft, und wie lassen sich diese schaffen? Nun, zunächst einmal müssen alle Teammitglieder sich hinreichend ähnlich sein, um überhaupt miteinander kommunizieren und sich verstehen zu können. Nur wenn deren EGKs schon primär in groben Eckpunkten übereinstimmen und sich ihre lebensweltlichen und ausbildungsmäßigen Hintergründe ähneln, wird in vertretbarer Zeit aus einer Diskussion ein OGK emergieren können. Sind die Ähnlichkeiten nicht ausreichend, reden alle aneinander vorbei und der Streit endet nie. Jeder lässt sich dabei von allen anderen anregen und entwickelt sein eigenes EGK weiter, aber es entsteht nichts Überindividuelles, nichts Gemeinsames. Der Teamleiter wird nun einfach sein EGK – oder besser sein EK (Einzelkonzept) – autoritativ durchsetzen und wahrscheinlich ist dessen Qualität nach diesem Prozess sogar besser als vorher. Insofern könnte man auch das als eine Form der »kollektiven Intelligenz« bezeichnen, aber auf der niedrigsten Stufe. Zugleich ist das wohl die häufigste Form von Kollektivintelligenz, die wir in praxi finden, zumindest derzeit. Theoretisch gäbe es noch den Fall, dass sich alle Teammitglieder und ihre EGKs zu ähnlich sind, so dass gar nicht erst eine kreative Spannung entsteht. Bei komplexen Problemstellungen tritt dies aber in der Praxis niemals ein, so dass wir diesen Fall nicht weiter erörtern wollen. In der Praxis besteht die Schwierigkeit und Herausforderung bei der Teambildung zumeist darin, genügend Gemeinsamkeit herzustellen, damit ein emergenter OGK-Konstruktionsprozess

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in Gang kommen kann. Was das im Einzelnen erfordert, ist sehr unterschiedlich und hängt vom Gegenstand ab. Wenn es um ein sehr technisches Produkt geht, können auch einmal Englisch und Mathematik als gemeinsame Sprachen genügen. Geht es dagegen um ein Verlagsprogramm, muss man einen sehr komplexen und impliziten lebensweltlich-kulturellen Hintergrund teilen. Und generell gilt: Wir müssen uns überall einsetzen für Vereinfachung, Verlangsamung, Konsensbildung, Kanonbildung und Integration. Das würde auf vielen Ebenen unserer zersplitternden, postmodernen Gesellschaft die zerfaserten Kräfte der Kollektivintelligenz wieder zu einem emergenten Surplus bündeln. Mit Bezug auf die gesamtgesellschaftliche Ebene ist das auch der Grund, warum die Vermittlung eines Vorschlags für ein gemeinsames »Weltbild der Dritten Kultur« in den Schulen so wichtig wäre. Als zweite Grundvoraussetzung muss genannt werden: Alle Beteiligten sollten über ihre Erkenntniswerkzeuge Bescheid wissen und souverän mit ihnen umgehen können (»Konstruktivismus-Kompetenz«). Besonders wichtig ist das wieder in Bezug auf komplexe Inhalte. Alle Beteiligten sollten über erkenntnistheoretisches Grundwissen verfügen, in der Art, wie es in Kapitel 1.5 vermittelt wurde. Es wäre gut zu wissen, wie Abstraktion funktioniert und was ein Begriff ist. Jeder sollte über Möglichkeiten und Grenzen rationalen Erkennens im Allgemeinen und speziell in seiner Berufsdisziplin Bescheid wissen. Man muss der Begrenztheit und Selektivität seiner Perspektive inne sein und ein Gefühl entwickeln für die ungeheuere Diskrepanz zwischen der Komplexität von Wirklichkeit und Realität und den engen Grenzen des eigenen Auffassungsvermögens – Stichwort: Kanalenge unseres Bewusstseins bzw. »Guckloch-Problem«. Daraus ergibt sich die Relativität aller Sichtweisen und Modelle in Bezug auf bestimmte praktische Zwecke. Dies ermöglicht kritische Distanz zur eigenen Sichtweise, ein differenziertes Abstufen im Vergleich verschiedener Sichtweisen sowie ein flexibles Spiel mit Modellen sowohl im eigenen Denken als auch in der Diskussion mit anderen. Und auch wenn das prinzipiell nur in Grenzen möglich ist: Vor dem genannten Hintergrund kann es gelingen, sich annähernd in die Sichtweisen und Standpunkte von anderen hineinzuversetzen. Die Welt teilt sich nun nicht mehr in schwarz und weiß, in absolut wahr und absolut falsch. Und wenn es partout nicht möglich sein sollte, sich zu einigen, dann muss man sich nicht mehr bekriegen, man kann man sich auch »zweinigen«, wie Vera Birkenbihl es einmal genannt hat (d. h. sich in seinen unterschiedlichen Sichtweisen wechselseitig respektieren). Was steht einer solchen »konstruktivistischen Selbstrelativierung« entgegen? Nun, zuallererst die imperative Alltagsillusion, dass es eine objektive Welt da draußen gibt, die alle anderen Menschen genauso sehen und bewerten sollten, wie ich es tue. Was braucht es, um das zu überwinden? Intelligenz, Wissen und Einsicht bezüglich der hier dargestellten erkenntnistheoretischen Hintergründe. Es ist dies eher eine intellektuelle Hürde und keine emotional-motivationale wie der folgende Punkt. Drittens nämlich müssen alle Beteiligten fähig sein, ihre Erbgefühle unter Kontrolle zu halten (»Ego-Souveränität«). Konstruktion und Entwicklung kul-

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tureller Inhalte folgen, wie gesagt, einer ausschließlich sachgegründeten Eigenlogik. Dieser Entwicklungslogik müssen sich alle Beteiligten unterordnen. Starke Erbgefühle, welcher Art auch immer, wirken hier verzerrend und zerstörerisch. Einige Beispiele: Ein Mann gibt einer Frau recht, weil er sie attraktiv findet und sie für sich einnehmen will. Ein Mann widerspricht einem anderen Mann, weil er nicht will, dass die attraktive Frau diesen anderen Mann attraktiv findet. Einer leistet nur destruktive Beiträge, weil er will, dass das Projekt scheitert, damit der Projektmanager nicht befördert wird. Einer kann seinen falschen Standpunkt nicht räumen, weil er es gewohnt ist und angemessen findet, immer recht zu haben. Man traut sich nicht, Kritik zu äußern, weil man persönliche Nachteile befürchtet. Einer redet viel zu oft und rechthaberisch, weil es ihn drängt, alle anderen zu dominieren. Eine traut sich nicht, ihre Idee zu äußern, weil sie nicht weiß, ob sie gut ist, und Angst hat, sich zu blamieren. Ein Vorschlag wird niedergemacht, weil er von einem Designer kommt und die Fraktion der Designer muss von der Fraktion der Ingenieure niedergehalten werden. Der Teamleiter peitscht die Entscheidungen viel zu schnell und fehlerhaft durch – er ist möchte einen Porsche und braucht dazu die nächste Gehaltsstufe. Es wäre nicht schwer, diese Kladde ad infinitum fortzusetzen. Sie kennen das? Ja, das ist Alltag. Organisationen aller Art haben immense Leistungseinbußen durch diesen Affenzirkus und nicht wenige gehen daran zugrunde. Es ist das Primaten-Ego, das hinter alldem seine Grimassen schneidet. Die Gier des Menschen nach Statuserhöhung, die Angst vor Statusverlust, die Gier nach Sex, Statussymbolen und sinnlichem Luxus. Wir hatten ja schon am Anfang des Buches besprochen, welchen Schaden das auf allen Ebenen und zu allen Zeiten im Verbund mit unseren anderen Erbdefekten angerichtet hat und anrichtet, bis hin zu Krieg und Völkermord. Wie kann man dem begegnen? Ist gegen diese wirklich starken Antriebe überhaupt ein Kraut gewachsen? Kann man den Menschern verbessern in dem Sinne, dass man ihn befähigt, sich von diesen Impulsen nicht mehr so stark beherrschen zu lassen? Nun, die Geschichte kennt viele große, bescheidene und integre Persönlichkeiten, die ihr Glück darin fanden, sich in den Dienst einer Sache zu stellen, »die größer war als sie selbst«. Jeder von uns kennt persönlich jemanden, der diesen Vorbildern zumindest nahekommt. Und ganz sicher wäre auch die »breite Masse« diesem Ideal bedeutend näher zu bringen, adäquate Erziehungsbemühungen vorausgesetzt. Den theoretischen Hintergrund dafür, wie das gehen könnte, haben wir bereits erarbeitet (überwiegend in Kapitel 2.20). Fassen wir das noch einmal speziell zusammen. Abbildung 12 zeigt eine für diesen Zweck geeignete Darstellung der Handlungsregulation. Auf diesem Wege lässt sich gewissermaßen das Tier in uns Schritt für Schritt domestizieren.

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Abbildung 12: Starke ererbte Motivationen können durch Einflüsse von Vernunft und Kultur verändert, moduliert und aufgehoben werden

1. Kognitive Modulation: Wie kann es gelingen, Erbgefühle wie Stolz, Dominanzstreben oder Gier durch die Kraft von Erkenntnis, Gedanken und Sichtweisen abzuschwächen? Nun, zunächst einmal, indem man die evolutionspsychologischen Hintergründe dieser Gefühle versteht und deutlich macht, wie sie das Glück des Einzelnen und der Gemeinschaft untergraben, weil sie nicht in unsere kulturelle Lebenswelt passen. Diese Gefühle sind gemacht, um die Ausbreitungschancen unserer Gene zu maximieren – wie, das kann man im Einzelnen aufzeigen. Aber die Interessen unserer Gene stimmen nicht überein mit unseren Interessen als Person. Unser ganzheitliches Glück als Person ist den Mechanismen der Evolution herzlich egal. Gier etwa veranlasst uns, Geld, Konsum- und Luxusgüter anzuhäufen. Man gerät in eine Lust-Frust-Spirale: An jeden Luxusstandard gewöhnt man sich und braucht dann eine Steigerung, um das erlebte Niveau an äußerem Lohn zu halten. Immer gibt es jemanden, dem es materiell noch besser geht, man vergleicht ständig und findet nie nachhaltige Erfüllung und inneren Frieden. Machtstreben dagegen führt in die Misstrauensfalle. Jeder, der in kulturellem Kontext animalisch Macht ausübt, schafft sich Feinde. Er kann niemandem vertrauen und muss sich ständig bedroht fühlen. Das macht nicht nur unglücklich, es ist auch ungesund – angefangen bei der Ausbildung von Paranoia, Zwangsoder Angstneurosen bis hin zum Herzinfarkt. Und das Erkämpfen eines Status schließlich, dem man nicht ohne Anstrengung entsprechen kann, führt ins Imagegefängnis. Man kann sich nicht mehr geben wie man ist, muss sich ständig kontrollieren und darum bemüht sein, dem eigenen Image zu entsprechen. Weichen Schein und Sein irgendwann zu weit voneinander ab, lebt man in ständiger Versagensangst. Die Versuchung, immer gravierendere Täuschungsmanöver zu inszenieren, wird immer größer, bis ins Kriminelle hinein. All das hält einen zudem auf Nebenkriegsschauplätzen fest. Es hindert einen daran, das zu tun, was wahrhaft glücklich macht: seine Talente und Stärken leben, werden, der man ist, reiche Quellen inneren Lohns ausbilden. Die zerstörerischen Folgen für die Gemeinschaft hatten wir schon angerissen. In dieser Weise eine kritische innere Distanz zu den genannten negativen

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Erbgefühlen aufzubauen, wäre der erste Schritt. Der nächste Schritt ist es, sich eine förderliche Geisteshaltung in Bezug auf die Sachverhalte zu erarbeiten, die den genannten Erbgefühlen zugrunde liegen. Grob skizziert könnten diese wie folgt aussehen: Einen angemessenen materiellen Lebensstandard anstreben und bewusst genießen. Sich punktuell einmal Luxus gönnen, aber keine innere Bindung an Luxus und Konsumgüter entstehen lassen. Bereit bleiben zum Loslassen. Bei Überdruss zwischenzeitlich Askese üben, um die Lust-Frust-Spirale bewusst zu vermeiden. Niemals das Wichtige und Richtige im Leben verkaufen oder verraten für materiellen Gewinn. Sich immer des Wissens bewusst sein, das wir im vorigen Kapitel erarbeitet hatten – Luxus allein bringt kein Glück, weil es aus anderen Quellen stammt. Nach Möglichkeit niemals animalische oder formale Macht exekutieren. Immer versuchen, mit Persönlichkeit und Argumenten zu überzeugen. Immer bereit sein, sich auch ein- und unterzuordnen, wenn es die Sachlage erfordert. Niemals versuchen, Beziehungen welcher Art auch immer durch Zwang zusammenzufügen oder -halten. Erfüllende Beziehungen können immer nur in wechselseitiger Attraktivität und Freiheit gründen. Sein Selbstwertgefühl niemals an Status oder Leistung binden, weder im Positiven noch im Negativen. Sich immer bewusst sein, dass der Hauptteil großer Leistungen aus sehr komplexen und überindividuellen Quellen stammt: Begabungen und Talente entspringen dem gewaltigen Fluss der Gene und Konzepte erwachsen immer aus dem Gesamtkontext der kulturellen Evolution. Wenn es einer großen Leistung gefällt, sich im eigenen Gehirn zu manifestieren, dann hat man das als Geschenk anzunehmen. Dabei ist Freude über die Leistung um ihrer selbst willen angemessen, aber auch eine gewisse Dankbarkeit, ja Demut. Es ergibt sich daraus Verantwortung für die Sache und die anderen, nicht aber Anspruch auf Privilegien. Vor diesem Hintergrund ist ein ichbezogener Stolz eigentlich ein ziemlich dummes Gefühl. Wahre Größe ist niemals stolz im ichhaften Sinne (und wenn doch ein kleines bisschen, dann zeigt sie diesen Stolz nicht nach außen, damit andere sich nicht schlecht fühlen). Vor allem ermöglicht es diese sachbezogene Einstellung, sich auch ehrlich über die Leistungen und Beiträge anderer zu freuen und diese zu fördern. Wer beim Aufkommen besagter negativer Erbgefühle Gedanken und Haltungen dieser Art aktiviert, bei dem werden sich diese Gefühle deutlich abschwächen und ihren Einfluss auf die Verhaltenssteuerung weitgehend verlieren. Diesen Mechanismus bezeichnen wir als kognitive Modulation. 2. Kulturelle Aufhebung (Verinnerlichung über Kohärenz): Die kognitive Modulation wird umso besser gelingen, je differenzierter, abgeleiteter und widerspruchsfreier solche Systeme förderlicher Geisteshaltungen innerlich repräsentiert sind. Sind sie zudem dann noch in einen sehr komplexen und gut integrierten Gesamtwissenskontext eingewoben, entstehen bei ihrer gedanklichen Aktivierung starke Stimmigkeitsgefühle, die auf ein zu ihnen passendes Verhalten drängen. So ist es

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möglich, kohärent abgeleitete Moralprinzipien – zum Beispiel die Denkfiguren von John Rawls – in einem fast platonischen Sinne als schön und ewig zu empfinden, nicht anders, als es den Physikern oder Mathematikern mit ihren Theorien ergeht. Das schafft innere Bindung und erzeugt Verhalten. Die negativen Erbgefühle werden nun nicht mehr nur durch gedankliche Distanzierung abgeschwächt, es treten ihnen kulturgeprägte Gefühle entgegen, die sie regelrecht aufheben. Man kann diese kulturelle Aufhebung oft sehr deutlich spüren, wenn man über den Schatten seines Primaten-Ego springt. Stellen Sie sich vor, Sie bemerken bei der Entwicklung eines Projekts bei einem Ihrer potenziellen Konkurrenten einen kleinen, versteckten, aber doch folgenschweren Fehler. Sollen Sie die Sache laufen lassen? Das würde Ihrer Institution schaden. Sollen Sie die Sache aufdecken? Und wenn ja, wie – vertraulich oder irgendwie öffentlich? Man kann sich da sehr im Zwiespalt fühlen. Nun, richtig wäre es natürlich, den Fehler vertraulich aufzudecken. Wer einmal in dieser Weise über seinen Schatten gesprungen ist, der wird mir zustimmen, dass das ein sehr erhebendes Gefühl ist. Es fühlt sich an, als würde man aus einer dunklen, engen Kammer in die helle Weite eines großen Raumes treten. Auf einer irgendwie höheren Ebene spürt man, dass es so gut und richtig ist, egal, welche Folgen es hat (und der potenzielle Konkurrent vielleicht irgendwann an einem vorbeizieht). Aber auch alle anderen Kulturantriebe, die inhaltlich gar nichts mit den in Rede stehenden sozialfeindlichen Erbgefühlen zu tun haben, unterstützen die kulturelle Aufhebung durch Relativierung. Sie erweitern den hellen Raum über den dunklen Kammern. Wer großen inneren Reichtum entwickelt, wer es gelernt hat, sich in den Weiten der Musik, der Literatur oder der Mathematik zu verlieren, der findet das kleinliche Gezänk auf dem Affenfelsen zunehmend lächerlich. 3. Verinnerlichung durch Erfahrung: In aller Regel wird, wer nach diesen oder ähnlichen Prinzipien lebt, überwiegend positive Erfahrungen machen, er wird nicht nur inneren Lohn, sondern auch äußeren Lohn empfangen, was dann die entsprechenden Haltungen zusätzlich verstärkt, verinnerlicht und verfestigt. So könnte es sein, dass Ihr potenzieller Konkurrent selbst es ist, der bei passender Gelegenheit Ihren entscheidenden Beitrag öffentlich macht. Oder er leistet Ihnen an anderer Stelle wichtige Hilfe. Positive Gemeinschaftserfahrungen aller Art und auf allen Ebenen, von der Familie über das Team bis hin zur ganzen Gesellschaft, können tief die Gewissheit verinnerlichen, dass es sich lohnt, das Primaten-Ego aufzugeben, um ein gelingendes Miteinander zu gewinnen. Entscheidend ist aber sicher die Erfahrung, dass sich dauerhaftes Glück tatsächlich überwiegend aus inneren Quellen schöpfen lässt und dass die äußeren Glückverheißungen sich Mal um Mal als vergängliche Illusion entlarven. Dann kann man in Weisheit und Gelassenheit diejenigen äußeren Umstände positiv annehmen, die sich ohne Verkrampfung herstellen lassen, und all die ehrgeizigen Ziele in Sachen Luxus und Status loslassen, für die der Preis zu hoch wäre. Auf diesen oder ähnlichen Wegen lässt sich die Natur des Menschen transzen-

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dieren und weitgehend kulturell aufheben. Unsere Psyche ist dann keine enge, dunkle Kammer mehr, sondern ein großer, heller Raum. Die negativen Erbgefühle sind noch da, wir werden sie niemals völlig wegbekommen – den Stolz und die Gier nicht und nicht den Neid, die Eifersucht oder Gefühle des Verletztseins. Aber sie stehen in einer kleinen, dunklen Ecke unseres großen, hellen Innenraumes. Sie haben kaum noch Bedeutung. Wenn wir zu sehr in ihre Nähe geraten und sie versuchen, uns in ihre dunkle Ecke zu ziehen, können wir sofort umkehren und uns in die Mitte des hellen Raumes begeben. Wir werden uns nicht mehr von ihnen einfangen lassen und uns nicht mehr in sie hineinsteigern, wir werden sie nicht mehr durch ein falsches Denken verstärken. Vielmehr werden wir lernen, sie abzuschwächen und in ihrer Ecke einzugrenzen. Wir werden uns von tief verinnerlichten kulturellen Prinzipien leiten lassen und die dabei entstehenden Gefühle der Stimmigkeit und Selbstkongruenz werden unseren großen, hellen Innenraum ausfüllen und die dunkle Erbecke überblenden. Damit sei die Besprechung der entscheidenden Hebel abgeschlossen, die an jenen zentralen Schwachstellen unserer Natur ansetzen, die uns die Bildung von Kulturgemeinschaften so schwer machen. All das kann man in der Theorie sehr differenziert erklären und darstellen. Jeder kann es verstehen. Man kann es in der Praxis üben. Konstruktivistische Selbstrelativierung und Überwindung des Primaten-Ego sind lehr- und lernbar. Das ist rational, transparent und eigennützig. Jeder kann nachvollziehen, dass ein solcher Weg zu seinem unmittelbaren, individuellen Vorteil im Hier und Jetzt ist und mehr noch in der Zukunft. Jeder kann an einen Punkt kommen, an dem er erste Erfahrungen macht, dass das auch funktioniert. Das ist ganz etwas anderes, als sich einer Ideologie oder einem Glauben zu unterwerfen, die das Selbstopfer zugunsten der Gemeinschaft oder eines Jenseits verlangen. Und es ist ganz etwas anderes, als sich einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Und es ist auch kein weiterer Versuch, den Menschen wie ein Werkstück außengesteuert zu verbessern. Vielmehr geht es darum, ihn an einen Punkt zu bringen, von dem aus er beginnt, sich aus eigenem Antrieb zu vervollkommnen, aus einer Selbstsucht höherer Ordnung heraus. Man kann ihm dafür mentale Werkzeuge zur Verfügung stellen, die er sich aber eigenaktiv aneignen muss. Primär geht es um das Glück des Einzelnen. Aber zwischen dem Eigeninteresse des Kulturmenschen und dem Gemeinschaftsinteresse der Kulturgemeinschaft gibt es sehr große Schnittmengen. Deshalb würde all dies in höchstem Maße und auf vielen Ebenen die Gemeinschaftsfähigkeit vergrößern. Die angerissene Kladde der fatalen biologischen Störinterferenzen in Gemeinschaftsprozesse würde weitgehend entfallen. Die synergetische Spirale der Gemeinschaftsbildung könnte sich viel reibungsfreier drehen. Das würde die kollektive Intelligenz und Kreativität, die Konsens- und Kooperationsfähigkeit ungemein stärken. Wir werden darauf zurückkommen. Alle hier angesprochenen Momente gehen auf im umfassenden Konzept der persönlichen Meisterschaft.

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2.23 Was ist persönliche Meisterschaft? Das Konzept der persönlichen Meisterschaft habe ich vor dem Theoriehintergrund der Psychosynergetik in anderen, schon genannten Büchern in Verbindung mit Methoden zu ihrer Entwicklung und Förderung ausführlich dargestellt. Einige zentrale Aspekte wurden im vorangehenden Text erwähnt – lassen Sie uns das noch einmal kurz zusammenfassen und um das ergänzen, was für das Thema dieses Buches wichtig ist. Schon angesprochen wurde: Für ein gelingendes Selbstmanagement ist ein ausreichend differenziertes, aber mental noch gut handhabbares Selbstmodell notwendig, in dem die für die Selbstführung zentralen Funktionselemente und -zusammenhänge von Gehirn und Psyche abgebildet sind. Das gilt insbesondere für das Grundwissen der modernen Evolutionspsychologie und Erkenntnistheorie. Wir müssen über die Entstehungsbedingungen und Funktionseigenschaften unserer Erbantriebe und Erbgefühle Bescheid wissen. Durch kritische Distanzierung und förderliche Geisteshaltungen müssen wir lernen, sie so einzugrenzen, dass weder für uns selbst noch für andere aus ihrer Dysfunktionalität im kulturellen Kontext Schaden entsteht. Und innerhalb dieses Rahmens gilt es zu lernen, negative Erbgefühle abzuschwächen und positive zu verstärken. Wichtige Folgen all dessen heißen: Ego-Souveränität, KonstruktivismusKompetenz, soziale Kompetenz, Kooperationsfähigkeit und eine Vielzahl positiver Charaktereigenschaften (Bescheidenheit, Anteilnahme, Integrität u. a.). In vieler Hinsicht hilfreich ist ein System ableitbarer förderlicher Geisteshaltungen, das die Funktion hat, Abhängigkeiten nach außen zu lösen und das Befinden von innen heraus regulierbar zu machen. Dieser Zustand innerer Freiheit soll es ermöglichen, zu jedem Zeitpunkt in typischen Stresssituationen unproduktive Spannungen zu lösen, um möglichst oft und weitgehend jenem Zustand der Verhaltensregulation nahezukommen, den wir als Flow bezeichnen: Hier gelingt es uns, uns so vollständig auf das Tun zu konzentrieren, dass wir uns selbst und die Zeit vergessen. Wir gehen völlig im Tun auf, die gesamte Kanalbreite unseres Bewusstseins steht für das auf den Gegenstand gerichtete Handeln zur Verfügung. Es gibt weder (Selbst-)Zweifel, Unsicherheit oder Angst, kein Zaudern oder Zögern und keine nach innen gerichtete Selbstbespiegelung. Im Flow können wir unsere Potenziale und unsere Kreativität maximal entfalten. Es gilt, den Wechsel von Geisteshaltungen wie einen inneren Tanz meisterlich einzuüben, um in schnell wechselnden, zum Teil paradoxen Anforderungssituationen maximalen Effekt und maximales inneres Wachstum zu ermöglichen – einige Beispiele: Akzeptanz versus Veränderung, Kontrolle versus Geschehenlassen (»Loslassen«), Verstand versus Gefühl, (Selbst-)Reflexion versus selbstvergessenes Handeln, Sorge um sich versus Aufgehen im selbstlosen Dienst an einer »großen Sache«. Das ist ein bisschen wie die Kunst des Kreuzens gegen den Wind beim Segeln – aber ich widerstehe der Versuchung, hier mehr ins Einzelne zu gehen.

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Ist es bei der Kunst der inneren Befreiung das Ziel, unseren angeborenen und erlernten Potenzialen optimale Entfaltungsbedingungen im Hier und Jetzt zu eröffnen, steht bei dem anderen Grundprozess, dem inneren Wachstum, die Schaffung von Potenzialen und Kompetenzen im Zentrum. Hierbei geht es um die Aneignung von Wissen, dessen Umwandlung in Bildung und das Einüben von Kompetenzen. Zweierlei ist von zentraler Bedeutung: die richtige Wahl der Inhalte, aber noch vielmehr deren richtige Verarbeitung im Sinne einer wirklichen Aneignung. Was ist mit Letzterem gemeint? Nun, manche Menschen haben nicht wirklich gelernt, Wissen zu verarbeiten. Sie nehmen einfach von der Umwelt angebotene Wissensfragmente auf und schütten sie in ihrem Gedächtnis zu einem Haufen auf. Wenn sie dann etwas gefragt werden, dann suchen sie aus diesem Haufen ein paar passende Stücke aus und geben sie in etwa so wieder, wie sie sie aufgenommen haben. Da passt dann natürlich vieles nicht zusammen. Diese Menschen sind widersprüchlich, haben keinen wirklichen eigenen Standpunkt und nur wenig Urteilskraft. Und im Übermaß originell und unterhaltsam sind sie auch nicht. Stattdessen muss man lernen und sich angewöhnen, von außen angebotene Wissensbruchstücke wirklich zu verdauen und in Eigensubstanz umzuwandeln. Das erfordert ein hohes Maß an innerer Arbeit, aber kaum etwas könnte lohnender sein. Es gilt, Ordnung in den Haufen zu bringen und ein kohärentes System aus ihm zu machen. Bei jedem neuen Wissensbruchstück ist dann zu fragen: Passt es zu meinem System? Wenn nein: Ist es irrelevant und ich kann es verwerfen? Oder kann und muss ich es so modifizieren, dass es passt? Oder gar: Sind diese Wissenselemente so wertvoll, dass ich Teile oder gar mein ganzes System verändern muss, um sie integrieren zu können? Insbesondere jenes Wissen, das für das Welt- und Selbstbild, für Werte und Prinzipien Relevanz besitzt, gehört auf eine solche Weise durchgearbeitet. Dann erst wird aus Wissen Bildung. Und wie schon mehrfach erwähnt – unerlässlich hierfür ist: Lesen, Nachdenken, kritischer Diskurs und Schreiben (und wenn es auch nur das Schreiben eines Tagebuches ist). Die persönlichkeitsbildende Rolle dieser Art von innerer Arbeit kann gar nicht überschätzt werden. Ihre Qualität und Intensität korreliert mit einer Vielzahl wichtiger Persönlichkeitsqualitäten. Um das in ein Bild zu bringen: Stellen Sie sich vor, man habe grob gegossene Metallbausteine, einen Schraubstock und eine Feile. Es soll ein Hochhaus daraus gebaut werden. Die einen sind ungeduldig. Sie befeilen die Bauteile nur wenig und bauen schnell drauflos. Doch so werden sie nicht weit kommen. Ihre Konstruktion wird keine große Höhe tragen, das Ganze wird schnell kippelig. Anders die Pedanten, die jedes Bauteil penibel planparallel feilen. Das dauert lange und macht Mühe – aber ihr Hochhaus reicht bis unter die Decke und ist immer noch stabil. Nun, je höher das innere Hochhaus, desto stärker sind in der Tendenz jene Persönlichkeitseigenschaften ausgebildet, die nun besprochen werden. Zunächst einmal erzeugt diese innere Arbeit ja innere Ordnung – das heißt, es

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entsteht ein zentrales System aus Kulturantrieben. Inhalte, die hieran Anschluss finden, werden mit Interesse und Leidenschaft aufgeladen. Es entsteht der Drang, diese Inhalte auszuweiten und weiterzuentwickeln, und zwar um ihrer selbst willen (»intrinsische Motivation«). Dabei wird das Maximum der individuell möglichen Kreativität freigesetzt und diese Inhalte werden mit einem Maximum an Meisterschaft zu beherrschen gelernt. Das gilt für den angemessenen Umgang mit sehr persönlichen Belangen wie auch für die Meisterung beruflicher, wissenschaftlicher, künstlerischer oder politischer Aufgaben. Man entwickelt hier ureigene Sichtweisen, Standpunkte und Überzeugungen, die man im diskursiven Gefecht mit eleganter Kraft zu vertreten weiß wie ein japanischer Schwertmeister. In diesem Kontext werden dann auch Werte und Prinzipien erarbeitet, verinnerlicht und ins Gesamtsystem integriert. Wie dargestellt, geht dies verstärkend konform mit den positiven Seiten unserer Natur. Das sorgt für ein Höchstmaß an charakterlich-moralischer Integrität. Und all das im Verbund bewirkt hohe Selbstsicherheit und fördert Charisma und Durchsetzungsstärke als Persönlichkeit. Hier mein Lieblingsbeispiel für die enorme persönliche Durchschlagskraft, die aus der kumulierenden Ordnung kohärenten Denkens erwachsen kann: Nach der experimentellen Bestätigung der gravitationsbedingten Lichtkrümmung erhielt Einstein von einem engen Freund einen Glückwunschbrief, in dem es heißt: «Ihre Zuversicht, die Denkzuversicht, daß das Licht krumm gehen müsse um die Sonne […] ist für mich ein gewaltiges psychologisches Erlebnis. Sie waren so sicher, daß diese Sicherheit gewalttätig wirkte« (zit. nach Fölsing, 1999, S. 498). Hieraus erwächst die Kraft, sich auch gegen übermächtige Mehrheitsmeinungen zu stellen, hieraus werden Sternstunden persönlicher Meisterschaft geboren wie das berühmte »Hier stehe ich und kann nicht anders!« des Martin Luther oder das »Und sie bewegt sich doch!« des Galileo Galilei. Der Grad an innerer Kohärenz trägt auch zu dem bei, was man Kraft der Intuition oder Treffsicherheit der inneren Stimme nennen könnte. Das lässt sich mit einem Augenzwinkern an unserer Hochhaus-Metapher deutlich machen. Wenn der penible Hochhausbauer die Stimmigkeit des Ganzen oder das Hinzupassen eines neuen Bauelementes testen will, dann muss er nicht mühsam jede Fuge mit der Lupe nach Spalten absuchen. Er kann auch mit einem Hämmerlein leicht gegen das Bauwerk klopfen und sein Ohr daran halten. Je sauberer es gefügt ist, desto reiner wird der Ton sein. Und Teile, die nicht passen, verraten sich durch Vibrationen. Ein solcher Schnelltest auf die Stimmigkeit des Ganzen steht unserem schludrigen Baumeister nicht zu Gebote – hier ginge alles in einem einzigen Klappern unter. In vergleichbarer Weise kann man sagen: Je höher die innere Ordnung, desto sicherer können uns unsere Stimmigkeits- und Unstimmigkeitsgefühle die richtigen Wege zu Problemlösungen und Urteilen aller Art weisen. Dies fördert die Kreativität in jeder Form und das treffsichere Reagieren »aus dem Bauch heraus« in komplexen und unübersichtlichen Entscheidungssituationen. Es steigert das, was man Wirklichkeitssinn und Urteilskraft nennen könnte.

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In unseren immer komplexeren Wirklichkeiten erfordert Letzteres noch eine spezielle, eigens zu erwerbenden und zu trainierende Ausformung, die wir hier Systemkompetenz nennen. Man muss ein Grundverständnis davon erwerben, wie komplexe, nichtlinear-dynamische Wirklichkeiten sich entwickeln und verhalten. Und das ist ohne die Begriffe und Konzepte moderner System-, Selbstorganisations- und Evolutionstheorien wie der Synergetik absolut unmöglich. Ich denke, ich muss das nicht weiter ausführen, dieses Buch gibt ein gutes Beispiel. Insbesondere angehende Führungskräfte in Politik, Verwaltung und Wirtschaft sollten ein spezielles Training in Systemkompetenz erhalten. Wie insbesondere der Psychologe Dietrich Dörner (1989) in einer Vielzahl von Experimenten nachgewiesen hat, lässt sich das Entscheiden in Bezug auf komplexe, intransparente und unbestimmte Situationen üben. Hierzu eignen sich speziell entwickelte Computer-Trainingsprogramme, die das Verhalten komplexer sozialer Realitäten bei Managementeingriffen simulieren (virtuelle Städte, Unternehmen, Entwicklungshilfeprojekte etc.) Führungskräfte können lernen, ein Bewusstsein und eine Intuition für nichtlineare Effekte sowie räumliche und zeitliche Fernwirkungen lokaler Eingriffe zu entwickeln. Dies verbessert das Management komplexer Realitäten nachweislich. Soweit unsere Skizze einiger zentraler Inhalte von persönlicher Meisterschaft. Persönliche Meisterschaft ist wirklich eine Wissenschaft für sich. Es ist erstaunlich, was alles zusammenkommt, wenn man die Wissenschaften in ihrer Breite einmal im Hinblick auf folgende Fragen absucht: Was alles ist relevant für unser Welt- und Selbstbild? Was alles können wir als Baumaterial verwenden für Konzepte und Techniken, die uns den Umgang mit uns selbst und unseren Problemen erleichtern? Wenn man das relevante Hintergrundwissen mit vermitteln wollte und auch praktische Übungen integrieren würde, könnte man leicht ein Lehrprogramm für ein ganzes Studienjahr zusammenstellen. Aber ist das verwunderlich? Schon wenn man lernen will, ein Auto zu reparieren, muss man drei Jahre in die Lehre gehen. Gehirn und Körper sind nun aber noch mal deutlich komplizierter als ein Auto. Entscheidend ist: Dieses Wissen macht einen Unterschied! Tatsächlich hat dieses Wissen Auswirkungen darauf, wie Sie sich fühlen und wie Sie mit Ihrem Leben zurechtkommen. Kaum eine Investition an Zeit und Mühe könnte lohnender sein. Aber, so könnte jemand einwenden, wird bei uns nicht vieles durch die Erbantriebe instinktiv-automatisiert geregelt? Müssen wir da überhaupt so viel lernen? Das Problem ist nur, dass wir eben nicht mehr in der dazu passenden natürlichen Umwelt leben. Wir müssen lernen, unsere natürlichen Anlagen in eine kulturgeprägte Welt einzupassen. Und das ist eine extrem komplizierte Aufgabe, die nur durch die bewusste Vernunft geleistet werden kann. Da geht es uns wie dem Tausendfuß, der einem Spiegel begegnet. Vorher konnte er elegant und problemlos laufen. Als er nun erstmals in den Spiegel sieht, erschrickt er wegen der Vielzahl seiner Beine. Er fragt sich, mit welchem Bein er eigentlich loslaufen müsse, ohne

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sich zu verheddern. Doch das weiß er nicht, und seither steht er laufunfähig vor dem Spiegel. Er kann nicht zurück in den Zustand vor dieser teuflischen Begegnung. Es bleibt ihm nur eines: Er muss von der nun eröffneten höheren, reflektierten Ebene her das Laufen neu erlernen. Das wird zunächst ein langsamer, mühevoller Prozess sein. Wenn es aber gelingt, ist alles besser als vorher: Er kann die nun wieder automatisierte Eleganz seines Laufens bewusst genießen und ist zudem fähig, an kritischen Stellen mit Bewusstsein und Vernunft korrigierend einzugreifen. Analog werden wir aus dem halb unbewussten Zustand der »Spontaneität des Kindes« in die hyperreflexiven Phasen von Pubertät und Dauerstress geworfen mit all ihren Blockierungen und Ängsten. Nur wenn wir es klug anstellen, finden wir aus diesen Spiegelkabinetten wieder heraus und erlangen die wiederum halb unbewusste Spontaneität des Meisters. Und das eben kann und muss man lernen. Wenn es gelänge, beginnend in der Schule, aber auch auf anderen Wegen, bei einer möglichst großen Zahl von Menschen Interesse und Freude an einem solchen Entwicklungsweg zu wecken, dann wäre unendlich viel gewonnen. Lassen Sie uns einmal zusammentragen, was das für Folgen haben könnte.

2.24 Persönliche Meisterschaft als Haupthebel Die kürzeste richtige Antwort auf die Frage, was alles durch persönliche Meisterschaft besser würde lautet: alles. Ja, wirklich alles, von der Stimmung in der Familie bis zur Funktion des Parlaments. Sehen wir uns einige Hauptpunkte genauer an. Zunächst würden sehr viel mehr Menschen als heute den ihnen genetisch eingeräumten Spielraum des Glücks nachhaltig nach oben ausschöpfen. Sie würden mehr Erfolg haben und all das würde ihre Gesundheit verbessern. In erster Linie wären sie sehr viel resistenter gegen psychische Störungen, in geringerem aber noch deutlichem Ausmaß gäbe es positive Auswirkungen auf die körperliche Gesundheit. Auf allen Ebenen würden sich Beziehungen verbessern: in Freundschaften, in Paarbeziehungen und Familien, im öffentlichen Umgang. Es würde sehr viel mehr Solidarität und Mitmenschlichkeit gelebt. Die Menschen wären sehr viel besser vorbereitet für das, was die kommende gesellschaftliche Wirklichkeit ihnen immer mehr abfordern wird. Es wird bald gar keine »äußeren Geländer« an den Lebenswegen mehr geben. Von der Lehre bis zur Pension von ein und derselben Firma mit Leitstrukturen und Aufgaben versorgt zu werden – das ist ein Auslaufmodell. Die meisten werden sich auf eine viel wechselvollere Biografie einstellen müssen, in der sie über weite Strecken als »Ich-AG« unterwegs sind: mehrere Berufe, Projektarbeit und Zeiten der »Arbeitslosigkeit«, die für Weiterbildung genutzt werden kann und muss. All das verlangt aber ein extrem hohes Maß an Selbstkompetenz:

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Selbstdisziplin, Selbstmanagementkompetenz, Selbststeuerungsfähigkeit in Bezug auf langfristige Ziele, Metakompetenzen wie Sozial- und Lernkompetenz. Hinzu kommt: Durch Computerisierung, Automatisierung und Robotisierung verschwinden immer mehr Routinetätigkeiten aus dem Arbeitsangebot und dieser Prozess wird sich wahrscheinlich fortsetzen. Was am Ende als irreduzibel menschliche Arbeit verbleiben wird, sind Tätigkeiten, die mit Führung, mit dem Management hochkomplexer, unscharfer Problemlagen sowie mit wissenschaftlicher oder künstlerischer Kreativität zu tun haben. All das wird aber nur zum geringeren Teil von Spezialkompetenzen getragen. Zum weitaus größeren Teil hat es seine Basis in der reichen, reifen und gut integrierten Gesamtpersönlichkeit, wie sie das Ziel von persönlicher Meisterschaft ist. Deshalb wird Persönlichkeitsbildung die Schlüsselkompetenz der kommenden Jahrhunderte sein (sofern wir nicht wieder auf einen Status zurückfallen, in dem überwiegend Kriegs- oder Handwerkskunst gefragt ist). Auf der nächsten Ebene können wir sagen: Alle sozialen Systeme würden um so besser funktionieren, je mehr ihre Mitglieder über persönliche Meisterschaft verfügen. Systemkompetente Menschen formieren kompetente soziale Systeme. Grundlegendes hierzu wurde im vorvergangenen Kapitel gesagt. Ego-Souveränität und Konstruktivismus-Kompetenz würden sicherstellen, dass das Wohl der Organisation stärker zum Tragen kommt, dass sich die für ihre Weiterentwicklung und Auftragserfüllung notwendige Sachlogik unverzerrter entfalten kann und dass entsprechende Konzepte und Umsetzungen mit maximaler kollektiver Kreativität und intrinsischer Motivation vorangetrieben werden. Man würde weniger auf punktgenauer Reziprozität bestehen, wäre bereit, auch ein klein wenig mehr zu geben als man bekommt, man wäre besser in der Lage, sich in die Schuhe des anderen zu stellen – und gerade dies würde Konflikte viel leichter lösbar machen oder sie erst gar nicht aufkommen lassen. All die furchtbaren Grabenkämpfe, die derzeit überall Organisationen regelrecht lahmlegen – es würde sie in dieser Form sehr viel seltener geben. Führungskräfte und Politiker würden nicht mehr so sehr »an ihren Posten kleben«, wenn dies sachlich nicht mehr gerechtfertigt ist. Dies würde in Organisationen zugleich die Fähigkeit und Bereitschaft für Reformen steigern bis hin zu einer Freude am Experiment und an organisationalem Lernen. Es gäbe sehr viel weniger Machtmissbrauch, die Machtausübung erfolgte sehr viel mehr im Sinnes des Wohls der Organisation bzw. der Allgemeinheit. Je mehr Vertrauen und persönliche Meisterschaft in einer Organisation gelebt werden, desto weniger Kontrolle ist nötig. Delikte wie Untreue und Korruption wären viel seltener. Es gibt heute einen Trend, Organisationen von außen nach innen zu sanieren und zu reformieren: mehr Vorschriften, Kontrolle, Qualitätssicherungen, mehr Bürokratie auf allen Ebenen. Gewissermaßen wird versucht, die Knochenerweichung durch ein Gipsbett zu kompensieren. Nur – das Gipsbett hat eben auch absolute Bewegungsunfähigkeit zur Folge. Als Kurzfristmaßnahme kann das mal richtig und notwendig sein. Als einzige Maßnahme aber würde es

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Teil 2: Persönliche Meisterschaft und Dritte Kultur

langfristig den Tod bedeuten. Wir müssen die Endoskelette der Organisationen durch persönliche Meisterschaft heilen und stärken, damit auf Exoskelette so weit als möglich verzichtet werden kann. Nachhaltig kann man Organisationen nur von innen nach außen sanieren. Und das ist ein tiefgreifender und langfristiger Prozess. Da wäre mit Weiterbildungen, Seminaren, Teamentwicklungen und Einzelcoaching einiges zu erreichen, im Grunde aber müssen die Startpunkte bei der Lehrerausbildung und in den Schulen gesetzt werden. In Organisationen sollten sich Traditionslinien persönlicher Meisterschaft mit verinnerlichten Ehrenkodizes entwickeln, in denen sich allgemeine Prinzipien persönlicher Meisterschaft mit berufs- und organisationsspezifischen Prinzipien amalgamieren. Führungskräfte müssen ihre Nachfolger nach persönlichem Kennenlernen auswählen und im Lehrer-Schüler-Verhältnis heranbilden. Das unselige Assessment-Center hat sich zu beschränken auf Positionen, die Spezialkompetenzen erfordern, die auch wirklich messbar sind. Und die wichtigsten Dinge, auf die es bei der Führung von Organisationen ankommt, sind eben nicht zähl- und messbar. Sie können nur erspürt, eingeschätzt und gelebt werden von reifen, reichen und integren Gesamtpersönlichkeiten. Und das wird auch auf immer so bleiben, zumindest in einer Welt, die wir noch in irgendeinem Sinne als menschlich bezeichnen könnten. Allein vor einem solchen Hintergrund kann das Allerwichtigste für das Überleben einer Organisation sichergestellt werden: dass die richtigen (Führungs-)Personen an die richtigen Stellen kommen und dort auch bleiben, dass Fehlpassungen erkannt und korrigiert werden. Auf einer noch größeren Skala können wir sagen: Die meisten der im ersten Buchteil beklagten Krisensymptome und -mechanismen würden durch eine breite Erziehung zu persönlicher Meisterschaft gelindert. Persönliche Meisterschaft wäre ein Bremsstab im überhitzten Getriebe des Kapitalismus. Allzu bizarre Produkt- und Marktbereiche würden schnell zusammenbrechen. In den Medien würde mehr Qualität nachgefragt und dann auch angeboten. Ja, die Märkte würden überhaupt erst wieder anfangen zu funktionieren, weil der Zahl der informierten, autonomen und urteilsfähigen Verbraucher überkritisch anstiege. Es würde wieder mehr das gekauft, was dem eigenen begründeten Urteil gemäß gut ist und nicht das, was zuvor schon von einer Mehrheit gekauft wurde. Die Bewertung und Auswahl durch Konsumenten mit persönlicher Meisterschaft würde sehr viel mehr nach Kriterien wie Sozialverträglichkeit, Umweltverträglichkeit und Nachhaltigkeit erfolgen. All dies im Verbund würde Ressourcenverschwendung und Umweltschädigung erheblich reduzieren. Das Bewerten gewänne das Primat über das Beachten zurück, was nicht nur für das Kaufverhalten gelten würde, sondern auch für das Wahlverhalten. So könnten nicht nur die Märkte, sondern auch die Demokratie gesunden. Es würden Politiker gewählt, die sich vor allem durch persönliche Meisterschaft auszeichnen. Inkompetenz, Machtmissbrauch, Korruption und Ämterpatronage gingen von innen her zurück. Politik als ein Handel mit Macht und Pfründen

Bildung: Zentralfach »Weltbild der Dritten Kultur und persönliche Meisterschaft«

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entwickelte sich hin zu einem idealeren Funktionieren im Sinne wertbasierter Prinzipien. Für die Zukunft würde eine Verbreitung von persönlicher Meisterschaft die Voraussetzungen schaffen für einen Übergang der konsumistisch-kapitalistischen Gesellschaft zu einer postmaterialistischen Kultur der Bildung und Weisheit, wie ich sie in Kapitel 3.9 zu skizzieren versuche.

2.25 Bildung: Zentralfach »Weltbild der Dritten Kultur und persönliche Meisterschaft« Die Bedeutung des Bildungs- und Erziehungssystems für Gedeihen und Überleben einer Kultur und Gesellschaft ist gar nicht zu überschätzen. Zum einen kann ein rohstoffarmes Land wie das unsere sein Überleben nur sichern, wenn es auf den Weltmärkten genügend Abnehmer für seine intelligenzintensiven Produkte findet. Das ist in aller Munde. Weniger diskutiert wird das folgende Moment, das aber mindestens genauso wichtig ist: Das Bildungssystem ist der vielleicht wichtigste Integrationsmechanismus einer Gesellschaft. Es muss die Bedingungen der Möglichkeit von Kulturgemeinschaft immer wieder reproduzieren. Über die Einübung basaler Kulturtechniken und »Sekundärtugenden« hinaus heißt das vor allem: Vermittlung geeigneter Gemeinschaftskonzepte in einem Maße, dass der in Kapitel 2.22 besprochene synergetische Vergemeinschaftungskreislauf vital bleibt. Es müssen genügend geteilte kulturelle Konzepte, Prinzipien, Werte und Erlebnisinhalte verinnerlicht werden, die es den Menschen ermöglichen, sich zu verstehen, sich zu einigen und in einer Weise zu kooperieren, die das Überleben von Kultur und Gesellschaft sichert. Wie im ersten Buchteil beschrieben, ist es aber gerade das, woran es heute am meisten mangelt: Die Gesellschaft zerbröselt auf allen Ebenen, weil vor allem die rasenden Räder der Vermarktlichung zu Überdifferenzierung und überbordender Vielfalt allüberall führen. Entsprechend gewinnt die Integrationsfunktion des Bildungssystems an Bedeutung. Was heißt das speziell für Deutschland? Zunächst einmal liegt offen zu Tage, dass der deutsche Bildungsföderalismus eigentlich nur als absurd bezeichnet werden kann. Seit Jahrzehnten sind Schulen, Hoch- und Fachschulen eine beliebte Profilierungsarena der Landespolitiker. 16 Bundesländer haben 16 verschiedene Schulsysteme, von zweigliedrig bis fünfgliedrig. Die Lehrer werden unterschiedlich ausgebildet. Anforderungen an und Bewertung von Leistungen der Schüler sind intransparent und nicht vergleichbar. Jedes Land hat für jedes Fach seine eigenen Lehrpläne, die sich zum Teil drastisch voneinander unterscheiden. Ganz besonders gilt das für die so wichtige Fächergruppe Ethik/Philosophie/Lebenskunde/Religion. Hoffentlich mussten Ihre Kinder nicht schon ganze Schuljahre wiederholen, nur weil Sie in ein anderes Bundesland umgezogen sind.

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Begründet wird diese Kleinstaaterei oft mit dem Argument einer Leistungsförderung durch Wettbewerb. Das funktioniert auf dieser Ebene allerdings nicht und wenn es funktionierte, wäre es ethisch bedenklich. Die Qualität eines Schulsystems oder einer Schule wirklich einigermaßen zutreffend einzuschätzen, wäre für Nichtexperten, zu denen die meisten Eltern gehören, außerordentlich schwierig und aufwändig (das bloße »Beliebtsein« einer Schule wäre längst nicht hinreichend). Der Prozentsatz an Familien, die vorrangig wegen etwas besserer Schulen das Bundesland wechseln, dürfte eher gering sein. Und: Der Staat dürfte es nicht zulassen, dass große Schülergruppen systematisch eine Bildung erfahren, die deutlich unterhalb des State of the Art liegt. Wenn Integration und die Herstellung jener basalen soziokulturellen Homogenität, ohne die Demokratie und Gesellschaft nicht funktionieren können, die Hauptaufgabe des Bildungswesens ist, dann kann dies nur von einem bundeseinheitlichen Bildungssystem mit einheitlichem Schulsystem und einheitlichen Rahmenlehrplänen geleistet werden. Wenn das Bildungssystem das einzige und vielleicht wichtigste Gegengewicht zur Zersplitterung der Gesellschaft ist, dann muss es natürlich selbst aus einem Guss sein. Aber das deutsche Schulsystem ist nicht nur fragmentiert, es ist in den einzelnen Fragmenten wohl auch überreguliert: Die Ministerien schreiben den Schulleitern beispielsweise genau vor, wie viele Stunden wofür aufgewendet werden müssen, wie viel Geld sie wofür auszugeben haben, dass nur Lehrer als Pausenaufsicht arbeiten dürfen, dass Schulleiter weder Lehrer einstellen noch entlassen dürfen. Was wir brauchen, ist ein grobes, bundeseinheitliches Grundraster, das aber weite Maschen für Selbstregulierung und Eigeninitiative an den einzelnen Schulen hat (bis hin zur Gründung von Privatschulen). Es ist leider eine Tatsache, dass in Deutschland immer mehr Familien zerfallen, dass von den Eltern immer weniger Erziehung ausgeht und dass das insbesondere großstädtische Wohnumfeld vieler Kinder und Jugendlicher immer weniger die nötigen Entwicklungsreize bietet. Auch wenn die deutsche Schule das traditionell nicht als ihren genuinen Auftrag betrachtet: Es führt wohl kein Weg daran vorbei, dass sie deutlich mehr der zu leistenden Erziehungsarbeit wird schultern müssen. Wir brauchen flächendeckend zweisprachige Ganztagsschulen (deutsch/englisch), deren jede ihre eigene Schuluniform hat. Es ist sehr schwer, irgendjemandem zu erklären, wieso nicht alle europäischen Schulen in diesem Sinne schon seit langem zweisprachig sind. Wie sollte wirkliche Verständigung und Integration ohne eine gemeinsame Sprache möglich sein? Die ubiquitäre Verfügbarkeit des Englischen ist für Deutschland auch deshalb erforderlich, weil wir nur so eine ausreichende Chance haben, die für unsere Zukunftssicherung nötigen Fachkräfte und Wissenschaftler ins Land zu holen. Und unter heutigen Bedingungen der Einkommensunterschiede, des Markenterrors und der konsumistischen Statuskämpfe scheint die Schuluniform zunehmend eine unbedingte Voraussetzung für die Erziehung zu Egosouveränität. Erziehung in einem einigermaßen umfassenden Sinne setzt weiter die Zueig-

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nung von Orientierungswissen voraus: ein kohärenter Bezugsrahmen für Antworten auf die Grundfragen unserer Existenz. Dieses in unserer Zeit zerrinnende Gut muss Schule zusammensuchen, integrieren und als einen Vorschlag anbieten, mit dem es sich kritisch auseinanderzusetzen gilt. Nur so kann aus Wissen Bildung werden. Und diese vielfältigen Kohärenzen lassen sich ganz sicher nur über bundeseinheitliche Regelungen herstellen. Wir brauchen also eine zentrale Bildungs- und Schulbehörde, die folgende Aufgaben hätte: sammeln, prüfen, integrieren und weiterleiten aller bildungsrelevanten Informationen. Was wird in anderen Ländern gemacht? Was gibt es für Rückmeldungen aus den Schulen? Welche neuen Erkenntnisse kommen aus der Wissenschaft? Was an neuen (Informations-)Technologien lässt sich wie für die Fachdidaktik nutzen? Dies müsste dann in praktikabler Form in einer Anzahl von speziellen Laborschulen getestet und ausgewertet werden. Schließlich wäre es in Verordnungen oder Empfehlungen an die »Normalschulen« weiterzuleiten. Auf diese Weise wäre auch der Wettbewerb (zwischen den Laborschulen) auf eine sinnvolle und passende Weise institutionalisiert. Eine besondere Bedeutung hätte in diesem Kontext die Auswahl, Anpassung und Integration der Lehrinhalte für unser schon mehrfach angesprochenes und gefordertes Zentralfach »Weltbild der Dritten Kultur und persönliche Meisterschaft«. Die Grundinhalte dieser Themen sind ja auch für andere gesellschaftliche Zusammenhänge relevant und müssten von anderen Institutionen erarbeitet werden – darauf wird noch eingegangen. Eine Keimform für dieses Schulfach gibt es ja erfreulicherweise bereits: der seit Mitte der 1970er Jahre schleppend in immer mehr Bundesländern eingeführte Ethik-Unterricht (auch firmierend unter »Philosophie« oder »Lebenskunde – Ethik – Religion«). Nachdem sich die Austritte aus dem verfassungsmäßig sehr eigentümlich geregelten Fach Religion nach 1968 gehäuft hatten, wurde dieses Fach als Ersatzfach eingerichtet. Unter hintersinniger Beteiligung der Kirchen wurde es an den Religionsunterricht gekoppelt, verbunden mit diskriminierenden Einschränkungen und inhaltlichen Einflussnahmen. Bis heute ist Ethik in vielen Bundesländern kein gleichberechtigtes und eigenständiges Lehrfach (im Sinne eines Wahl-, Wahlpflicht- oder Pflichtfaches). Bis heute gibt es keine grundständige Ethiklehrer-Ausbildung. Es wäre dringend an der Zeit, diese fatalen Missstände zu beseitigen, die Ersatzfachkonstruktion für den Ethikunterricht aufzugeben und auch die Verfassung entsprechend zu modernisieren. Mitbedingt durch die gegenwärtige Situation ist gerade der Ethik-Unterricht höchstgradig heterogen, obwohl gerade er in besonderem Maße eine sozial homogenisierende und integrierende Funktion hätte. In einigen Bundesländern wird das Fach genutzt zur Vermittlung klassischer philosophischer Texte, in anderen zur Einübung von Reflexion und Diskurs über ethische Fragen, in Bayern steht die normative Moralerziehung im Vordergrund und in Brandenburg schließlich die Lebenshilfe für den Schüler. In letztere Richtung geht auch die Einführung des Schulfaches »Glück« an der Heidelberger Willy-Hellpach-Schule,

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die sehr positive Ergebnisse zeitigte und in den Medien ein breites Echo fand (Fritz-Schubert, 2008). Es gibt viele Argumente, die dafür sprechen, diese richtigen und wichtigen Ansätze auszubauen zu einem Zentralfach »Weltbild der Dritten Kultur und persönliche Meisterschaft«. Dieses Pflichtfach könnte dann durch konfessionsgebundenen Religionsunterricht im Sinne von Wahlfächern ergänzt werden. Die Hauptaufgaben dieses Zentralfaches wären: Vermittlung von Orientierungswissen, von Wissen und Kompetenzen im Umgang mit sich selbst, Einübung von Metakompetenzen wie soziale Kompetenz, Medien- und Lernkompetenz. Und schließlich hätte es eine wichtige Achsenfunktion in Bezug auf alle anderen Unterrichtsfächer: Alle selbst- und weltbildrelevanten Wissensmomente dieser Fächer würden hier aufgegriffen und zu Bildung im klassischen Sinne integriert werden. Welche Grundinhalte wären in diesem Fach zu vermitteln? 1. Ein integriertes Weltbild der Dritten Kultur: Wie in grober Skizze vorgeführt, ist es heute möglich, ein recht kohärentes, ganzheitliches, systemisch-evolutionistisches Weltbild zu entwerfen, in dem Natur- und Geisteswissenschaften unter Reflexion ihrer Grenzen zur Synthese kommen (»Dritte Kultur«), so dass für Religiosität und Spiritualität irreduzibel Raum und Funktion verbleiben. In groben Zügen wäre auch die Geschichte dieses Weltbildes zu rekonstruieren. Es wäre nach Möglichkeit mit einem Wissens- und Kulturkanon in Verbindung zu bringen, der dann in anderen Fächern vermittelt wird. 2. Sodann wäre aus diesem Kontext ein systemisch-evolutionistisches Menschenund Selbstbild abzuleiten, verbunden mit förderlichen Prinzipien für Selbstmanagement und Lebensgestaltung. Was hier alles hineingehört, wurde im Vorfeld skizziert und soll hier nicht wiederholt werden. 3. Und aus diesem Gesamtkontext schließlich wäre ein System von Werten, Geboten und Normen abzuleiten und zu vermitteln, das nicht nur das Glück des Einzelnen fördert, sondern auch das Zusammenleben der Menschen auf eine friedvolle und gedeihliche Weise ermöglicht. Mein Vorschlag für ein solches System ist an anderer Stelle ausgeführt (Hansch, 2008, 2009). Und wenn wir uns gestatten, das zu Ende zu träumen, dann würde das Wertesystem perspektivisch im Kontext einer modernen, vernunftgegründeten Bürgerreligion stehen, die als gemeinsames Dach für die Vielfalt der historischen Religionen dienen könnte. Man kann Werte ableiten und begründen (nicht schlechter, als man anderes ableiten und begründen kann, das als Wahrheit gilt). Man kann einsichtig machen, dass das Leben dieser Werte nicht nur gemeinschaftsförderlich ist, sondern auch dem eigenen Glücksanspruch dient. Man kann Wege der Verinnerlichung aufzeigen. Spätestens in der Schule muss begonnen werden, diese Wege zu gehen. Und indem das bundesweit einheitlich erfolgte, könnte das eine Integrationskraft entfalten wie sonst kein anderer »sozialer Mechanismus«. Es muss möglich sein, dass ein Jugendlicher aus Hamburg einen Jugendlichen

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aus München fragt, was er von Etzionis »Verantwortungsgesellschaft« hält, und der Münchner das dann auch gelesen und eine Meinung dazu hat. Und wenn sich ein Politiker in einer Rede zum Beispiel auf Rawls bezieht, muss das jeder Jugendliche von Aachen bis Frankfurt an der Oder verstehen (und eigentlich auch jeder wählende Bürger). Und das gilt natürlich auch für Schlüsselwerke unserer Kultur aus Kunst und Literatur. Verinnerlichung von Werten erfolgt wesentlich auch über Kohärenz. Die Schule muss den Heranwachsenden eine kohärente Orientierungs- und Ausgangsbasis für den Start ihres Lebens zur Verfügung stellen. Und die müssen wir irgendwie zusammenschustern, auch wenn das Ergebnis aus der Detailperspektive pingeliger Fachexperten an der einen oder anderen Stelle den Bereich des Falschen berühren mag. Kohärenz ist ein Wert in sich. Ohne eine Grundkohärenz gibt es keine Persönlichkeit. Und ohne Persönlichkeit gibt es kein Glück, keine Kultur und keine Gesellschaft. Mir ist natürlich bewusst, dass all dies angesichts unserer heutigen zerklüfteten Bildungs-, Wissenschafts- und Wertelandschaft utoptisch klingt. Gleichwohl: Das ändert nichts daran, dass es gut und nötig wäre, ja dass es für das langfristige Überleben unserer Kultur und Gesellschaft essenziell ist. Es sollte möglich sein, soziale Mechanismen zu institutionalisieren, die uns in kleinen Schritten und reiterativen Schleifen diesen wichtigen Zielen zumindest näher bringen – wir werden darauf zurückkommen. Und nochmals sei betont: Diese Inhalte sind den Schülern nicht als Dogma zu oktroyieren, sondern als Vorschlag nahezubringen, mit dem es gilt, sich kritisch auseinanderzusetzen. Weitere hiermit kohärent verbundene Inhalte seien nur stichwortartig erwähnt, für die vor allem auch praktische Formen des Erfahrungslernens genutzt werden müssten: – Selbsterfahrung, soziale Kompetenz, Kommunikation, Konfliktmanagement mit vielen Übungen in unterschiedlichsten Formen – vom »Überlebenstraining« in der Wildnis bis zum Theaterspiel; – Entspannungsverfahren, Meditation; – Gesundheitskompetenz (Erkennen von und Umgang mit den Vorboten wichtiger psychischer und körperlicher Erkrankungen, gesunde Lebensweise und Ernährung); – Familienkompetenz (evolutionspsychologische Unterschiede der Geschlechter, Partnerschaft, Elternschaft); – Medienkompetenz; – Lernkompetenz (»das Lernen lernen«); – Systemkompetenz in den höheren Klassen unter Nutzung von Systemspielen auf dem PC. Im Kern müssten natürlich auch alle Lehrer ausreichend mit diesen Inhalten vertraut sein. Sie hätten sich in ihrem Fachunterricht darauf zu beziehen und vor allem natürlich bei ihren Erziehungsbemühungen im Rahmen des Ganztags-

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schulbetriebs. Damit ist klar: Unsere Großreform hat in der Lehrerausbildung zu beginnen. So viel zu unserem »Zentralfach«. Warum es so heißt und ich es für das wichtigste Schulfach halte – so es denn je existieren wird –, erschließt sich aus der Lektüre des vorigen Kapitels. Was wäre sonst zu den Inhalten des Schulunterrichtes zu sagen? Nun, zuerst und ganz generell: Weniger ist mehr. Oder: Wenn du es eilig hast, gehe langsam. Wie heute fast überall sind die lernwilligen Schüler in der Gefahr, von der Überfülle des Lehrplanstoffes derart überfordert zu werden, dass auch das Wenige, was wirklich wichtig ist, kaum mehr angeeignet, zu Bildung transformiert und langzeitgespeichert wird. Deshalb wäre es das Wichtigste, klar zwischen folgenden Kategorien von Lehrstoff zu unterscheiden: 1. Paradigmatisches Wissen ist Wissen, das für Wesen und Methode eines Faches oder für das Welt- und Selbstbild von besonderer Relevanz ist. Dieser beschränkte Stoffbereich ist sehr gründlich anzueignen, in allen Facetten zu beleuchten und zu unserem Zentralfach in Beziehung zu setzen. Paradigmatische Fächer wie Physik und Biologie dürfen natürlich nicht abwählbar sein. 2. Überblickswissen: Was übrig bleibt, kann dann eben nur noch kursorisch dargestellt werden mit dem Ziel, dass die Schüler selbst vertiefen, was sie besonders interessiert. So ist es besser, Englisch perfekt zu lernen als drei Sprachen halb. Es ist besser, eine Revolution en détail zu studieren, als unter der Lernlast von fünf Revolutionen völlig durcheinander zu kommen und fünf Tage nach der Prüfung alles wieder vergessen zu haben. 3. Von all dem ist dann noch das basale Anwendungswissen abzugrenzen: alles, was jeder braucht, um durchs Leben zu kommen und ein guter Bürger zu sein (Lesen, Schreiben, Rechnen etc.). Das gilt es ohne Wenn und Aber zu vermitteln. Und schließlich sollte es natürlich in den wichtigen Fächern Leistungskurse geben. Und all das wäre in einer guten, dem jeweiligen Entwicklungsstand der Schüler angepassten Mischung aus folgenden Unterrichtsformen zu vermitteln: Frontalunterricht, Gruppenarbeit mit einem hohen Anteil an problemorientiertem Erfahrungslernen, Projektarbeit auch außerhalb von Klassenraum und Schule. Sodann sollte die Schule als »Mikrogesellschaft« begriffen werden, in der alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, ein gedeihliches Zusammenleben zu erlernen und in Grenzen auch Demokratie einzuüben (Klassenrat etc.). Wären das nicht in etwa die wichtigsten Grundsätze einer guten Schule? Wissen wir das nicht schon mindestens seit der Reformpädagogik? Brauchen wir dazu die »moderne Hirnforschung« oder die Genetik? Wohl eher nicht. Alles, was wir über diese evidenten Grundprinzipien hinaus noch brauchen, sind meisterliche Lehrerpersönlichkeiten. Und an dieser Grundkonstellation wird sich wohl auch nichts ändern. Relevante Neuerungen sind lediglich aus dem Bereich der Didaktik durch den Einbezug neuer Medien zu erwarten.

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Erziehung ist eine hohe Kunst, die wieder nur der Ganzheit einer reichen, reifen und gut integrierten Lehrerpersönlichkeit entspringen kann. Als Kernproblem dieser Kunst gilt weithin das Austarieren der Paradoxie von Freiheit und Zwang. Vor dem Hintergrund unseres Buches lässt sich dieses Problem so formulieren: Die initial nötige extrinsische Motivierung (äußerer Zwang durch Frustrierung von Erbantrieben) ist so auszurichten, dass sie möglichst schnell zu intrinsischen Motivationen (eigenmotivierte Arbeit aufgrund von Kulturantrieben) aufruhend auf basalen Fertigkeiten und Gewohnheiten führt, und so zu dosieren, dass die positive Beziehung und eine überwiegend positive Lernatmosphäre nicht nachhaltig zerstört wird. Hauptziel ist es, möglichst viele Schüler über die Kulturschwelle zu heben. Sie sollen Motivation und Freude an der Selbstentwicklung finden. Die Hauptlebensenergie sollte aus der Kumulation und Weiterentwicklung kultureller Inhalte bezogen werden, was eine kulturelle Aufhebung der eigenen Natur möglich macht. Die vielleicht wichtigste Erfahrungsfigur dabei ist: Wenn ich im Hier und Jetzt auf schnelle und einfache Lust verzichte, wenn ich mit Selbstdisziplin, Ausdauer und Anstrengung Meisterschaft in kulturellen Inhalten erwerbe, dann wird mir später eine komplexe Freude zuteil, die den anfänglichen Lustverzicht vielfach aufwiegt (»Glück als Überwindungsprämie«). Ausgehend von Talenten und Stärken geht es darum, langfristige Interessen, Leidenschaften, Lebensthemen und Berufungen zu entwickeln. Bei alledem ist das Gleichgewicht zwischen Zwang und Freiheit ein sehr labiles und es bedarf komplexer Voraussetzungen, um Schule und Lehrern die Chance zu geben, es dauerhaft zu halten. Das Wachstum intrinsischer Motivationen ist gebunden an das Suchen und Finden eigener Wege und das hat viel mit Kreativität zu tun. Kreativität aber hat Freiraum, Spiel und Muße zur Voraussetzung. Ein Zuviel an Druck bringt all diese Prozesse zum Erliegen. In der gegenwärtigen Atmosphäre überbordender sinnlicher Ablenkungen aber führt ein Zuwenig an Druck dazu, dass sprunghaft nach einfacher und schneller Lust gesucht wird und sich der innere Schutzraum für kohärente Wachstumsprozesse gar nicht mehr eröffnet. Vor diesem Hintergrund findet derzeit offenbar eine Spaltung der Schülerschaft statt, verbunden mit einem Auseinanderdriften in Richtung zweier Extrempositionen: Der wachsende Konkurrenzdruck und die Abstiegsangst in den intakten Familien mit Bildungs- und Leistungswillen teilt sich deren Kindern bzw. Schülern mit. Die guten Schüler an guten Schulen geraten dadurch tendenziell unter zu großen Leistungs- und Anpassungsdruck. Die frühe Ausrichtung auf Karriere und Beruf tritt auf Kosten von Spiel, Kreativität und zweckfreier Bildung zu stark in den Vordergrund. Das andere Extrem bildet die wachsende Zahl von Schülern, die einen solchen Familienhintergrund nicht mehr hat und deshalb mit immer schlechteren Voraussetzungen in Sachen »basaler Fertigkeiten und Gewohnheiten« in die Schulen kommt. Nun kriegen die Lehrer immer öfter den Spagat zwischen Zwang

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und Freiheit nicht mehr hin. Um die Beziehung zu erhalten oder überhaupt eine Chance für den Aufbau einer solchen zu haben, müssen sie den Zwang so weit lockern, dass keine Chance mehr besteht, die Bildungsziele zu erreichen. Oder aber sie versuchen, die Bildungsziele zu erzwingen, dann geht freilich die Beziehung kaputt und die Schüler brechen aus. Ein zunehmend gesuchter Ausweg ist es, die Standards zu senken – die Abschlüsse sind »immer weniger wert«. Zudem ist es bei einer immer größeren Gruppe von Schülern in den sozialen Brennpunkten überhaupt nicht mehr möglich, Zwang auszuüben – zumindest nicht mehr unter heutigen Rahmenbedingungen. Sämtliche Disziplinierungsmittel, die dem Lehrer legal zur Verfügung stehen, sind diesen Schülern völlig gleichgültig. Immer öfter ist Schule, und sie gehen einfach nicht mehr hin. Und was vielleicht das Wichtigste ist: Jede Form von Motivierung, ob extrinsisch über Zwang oder intrinsisch in freier Selbstbestimmung, wird untergraben durch das, was wir das Zusammenbrechen des Sinn-Verheißungs-Feldes genannt hatten: Wenn die gesellschaftliche Grundstimmung besagt, dass alles schlechter wird, dass man sowieso keine Chance hat und dass es keine Ziele gibt, die sinnvoll und erreichbar wären, wenn der Zeitgeist aus allen Poren eine solche Stimmung atmet, dann hat Schule schlechte Karten. Eine wichtige Kraft, die Kluft zwischen Zwang und Freiheit zu überbrücken, ist die Liebe der Lehrer zu ihren Schülern. Mindestens genauso wichtig ist aber ein Punkt, der die Lehrer-Schüler-Beziehung transzendiert, auf den Lehrer und Schüler gemeinsam den Blick richten können: eine Zukunft, für die sich Anstrengung und Lernen lohnen. Deshalb ist die Verbesserung der Situation an den Schulen zu einem Gutteil ein gesamtgesellschaftliches Problem. Appelle allein an Disziplin, Autorität und Konsequenz greifen hier zu kurz. Es bedarf tatsächlich einer durchgreifenden »geistig-moralischen Wende«, die aber auch wirklich vollzogen werden müsste.

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Teil 3: Gesellschaft und Geschichte

3.1 Dysemergenz: Wie die Geschichte mit uns Schlitten fährt Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich im Alter von 15 oder 16 Jahren den Roman »Krieg und Frieden« von Leo Tolstoi las. Es gibt in diesem großartigen Buch Passagen, in denen der Dichter aus großem Abstand verwundert auf die europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts blickt. Er führt uns vor Augen, wie Millionen von Menschen ihre Heime und Familien verlassen, von einem Ende Europas ans andere Ende ziehen, um sich dort gegenseitig umzubringen und zu berauben. Er fragt sich dann, was wohl der Grund für diese merkwürdigen Massenbewegungen sein könnte und nach welchen Gesetzen sie sich vollziehen. Zunächst verweist Tolstoi auf die gewöhnlichen Antworten der Geschichtsschreiber. Große Männer und Eroberer wie Napoleon seien Treiber und Lenker der Geschichte. Doch Tolstoi glaubt nicht, dass eine schwächere Erscheinung in dieser Weise Ursache von einer so viel stärkeren Erscheinung sein könne. »Die Summe aller menschlichen Willensäußerungen schuf und vernichtete dann auch beide.« »Top-down-Wirkungen« innerhalb einer Hierarchie genügen Tolstoi offenbar nicht zur Erklärung von Geschichte. Ganz im Sinne moderner System- und Selbstorganisationstheorien wie der Synergetik ahnt er, dass »Bottom-up-Effekten« wohl das Primat zugesprochen werden müsse: »Um die Gesetze der Geschichte kennenzulernen, müssen wir den Gegenstand unserer Betrachtung vollständig ändern, müssen Kaiser, Minister, Generäle gänzlich beiseite lassen und dafür die unendlich kleinen, gleichartigen Elemente studieren, welche die Massen leiten. Niemand vermag vorauszusagen, inwieweit es uns beschieden sein wird, auf diesem Weg zu einem Verständnis der Gesetze der Geschichte zu gelangen, aber es ist klar, dass nur auf diesem Weg die Möglichkeit gegeben ist, den Gesetzen der Geschichte auf die Spur zu kommen, auf diesem Weg allein, auf den der menschliche Geist noch nicht ein Millionstel all jener Anstrengungen verwandt hat, die die Historiker zur Schilderung der Taten verschiedener Könige, Feldherren und Minister verschwendet haben« (Tolstoi, 1956, S. 87). Diesen staunenden, ratlosen, faszinierten und zugleich erschreckten Blick auf die Geschichte bin ich seither nicht mehr losgeworden. Wie kommt Geschichte zustande? Geschichte, so hatten wir bereits feststellen müssen, ist zwar stets das Resultat menschlicher Handlungen, niemals aber Ergebnis menschlicher Absichten. Ist das so? Und wenn ja: Muss es so sein? Kann man Geschichte beeinflussen? Wie durchgreifend und wie nachhaltig? Und vor allem: Wer oder was wäre sich dabei unter »man« vorzustellen? Wenn uns Tolstoi heute fragen könnte, wie weit wir mit der Erkenntnis der Geschichtsgesetze gekommen sind – was könnten wir ihm wohl antworten? Nun, ich denke, die heute bestmögliche Antwort wäre es, Geschichte in den Begriffen von Komplexität, Selbstorganisation und Evolution zu deuten. Mir ist nicht bekannt, dass es bereits eine systematisch ausgearbeitete Geschichtstheorie vor dem Hintergrund dieser Konzepte gäbe. Ich bin deshalb so frei, meine an verschiedener Stelle schon angeklungenen Gedanken hierzu einmal fortzuspinnen.

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Zunächst müssten wir Tolstoi sagen: Vorausberechenbare Zwangsläufigkeiten im Sinne deterministischer Gesetze gibt es in der Geschichte nicht. Vielleicht würden sich soziale Musterbildungen in bestimmten Situationen, in umgrenzten Gesellschaftsbereichen für kürzere Zeitabschnitte mit den Gleichungen von Synergetik und Komplexitätstheorie angenähert beschreiben lassen – auf längere Sicht aber versagt hier die Mathematik nicht anders als bei der Wettervorhersage. Immer kommen soziale Prozesse, die sich eine Zeitlang in einigermaßen stabilen Bahnen bewegt hatten, an Weggabelungen, wo es in die eine oder die andere Richtung weitergehen kann. Und an diesen »Bifurkationen« ist es dann möglich, dass auch schwächste oder gar zufällige Einwirkungen darüber entscheiden, welcher der Wege beschritten wird. Und dass kann weder die Mathematik noch ein Orakel vorhersehen. Stellen Sie sich vor, eine Gesellschaft stehe vor der Entscheidung, die Kernkraft dauerhaft aufzugeben oder sie wegen der zunehmenden Ölknappheit auszubauen. Die Lage ist instabil, aber die Kräfte des Pro scheinen leicht im Vorteil zu sein. Da kommt es zu einem Störfall in einem Kernkraftwerk und die Entscheidung fällt für Kontra. Hätte sich anstelle des Störfalls der Ölpreis an den Börsen zu einem neuen Rekordhoch aufgeschaukelt, wäre die Parlamentsentscheidung gerade anders herum ausgegangen. Zu dem Störfall ist es vielleicht durch eine zufällige Verkettung von ungünstigen Umständen gekommen. Es könnte aber auch sein, dass er durch einen als loyalen Mitarbeiter getarnten Kernkraftgegner gezielt herbeigeführt wurde. Das klärt die alte, auch bei Tolstoi anklingende Streitfrage nach der Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte: In stabilen Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung haben Einzelpersonen nur geringen oder gar keinen Einfluss. In instabilen Phasen aber, an Verzweigungen des Geschichtsweges können sie sehr wohl das berühmte »Zünglein an der Waage« sein – allerdings nur für einen kurzen Moment. Denn schon bald werden dysemergente Eigendynamiken der Geschichte einen Verlauf geben, der nichts mehr mit den Absichten und Plänen der »großen Männer« gemein hat. So durchläuft Geschichte Verzweigungswege in Möglichkeitsfelder hinein, die mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten verbunden sind, wobei diese »Landschaft der Möglichkeiten« aber ständigen Verformungen unterworfen ist. Jeder Entwicklungsschritt, den eine Gesellschaft tut, verformt die Möglichkeitslandschaft in der Zukunft. Wichtige Dimensionen, für die sich die Chancen dabei verbessern oder verschlechtern, sind: Möglichkeiten für das größte Glück der größten Zahl im Hier und Jetzt, die langfristigen Überlebenschancen und vor allem die künftige Selbststeuerungsfähigkeit der Gesellschaft. Natürlich sieht die Möglichkeitslandschaft einer Gesellschaft nach flächendeckender Einführung des Internet dramatisch anders aus als davor. Insbesondere auf der Dimension der Selbststeuerungsfähigkeit kommt es zu dramatischen potenziellen Verbesserungen (E-Governance, E-Democracy). Und eine Maßnahme wie die Einführung eines Schulfaches »Persönliche Meisterschaft« würde die Möglichkeiten auf allen drei Dimensionen dramatisch verbessern. Es gibt sicher grundlegende Grenzzonen von Möglichkeitsfeldern: Über die Sigmakurve und die Grenzen der

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von den Erbantrieben befeuerten kapitalistischen Marktwirtschaft hatten wir im ersten Buchteil gesprochen. Und es gibt grundlegende Muster des Systemverhaltens wie Teufelskreise, Auf- und Abwärtsspiralen, Schwelleneffekte oder Zyklen – man denke an die im ersten Buchteil beschriebenen Kondratieff-Wellen. Und schließlich gibt es »points of no return«, von denen man oft noch gar nichts weiß, wenn man sie überschreitet. Vielleicht verschwenden wir heute Ressourcen, die wir in naher oder ferner Zeit brauchen würden zur Öffnung von Fenstern für das Langzeitüberleben unserer Art. Auf einem Wüstenmarsch von unbekannter Länge sollte man nicht auf den ersten Kilometern das gesamte Wasser aufbrauchen. Nun, vor diesem Hintergrund müssen wir sagen: Wie jeder komplexe Evolutionsprozess ist Geschichte im Einzelnen und im Langzeitverlauf weder prognostizierbar noch steuerbar. Im kurz- oder mittelfristigen Verlauf aber kann man grob abschätzen, welche grundsätzlichen Verlaufsmöglichkeiten offen stehen und wie groß die Realisierungswahrscheinlichkeiten in etwa sein könnten. Und an instabilen Verzweigungspunkten können und sollten politische Kräfte natürlich immer versuchen, die Entwicklung auf Pfade zu drücken, die zu Fortschritten unter anderem auf den drei genannten Dimensionen führen. Dabei gibt es wahrscheinlich nicht die eine, allerbeste Gesellschaft. Eher könnte sich die Entwicklung hoffentlich lange in relativen Optima stabilisieren lassen, in denen die Kompromissmuster auf verschiedenen Ebenen je etwas anders austariert sind. Im Sinne des Hebelprinzips wäre es dabei besonders wichtig, Strukturen zu etablieren, die die Selbststeuerungsfähigkeit der Gesellschaft verbessern. Natürlich ist das sehr schwierig. Von weiten Teilen der Sozial- und Politikwissenschaft wird die Steuerbarkeit von Gesellschaft heute prinzipiell in Zweifel gezogen. Ich bin aber sicher, dass es deutlich besser laufen könnte, als wir es derzeit sehen. Wie wir gleich noch besprechen werden, sollte es gerade unter Nutzung moderner Informationstechnologien möglich sein, eine Art soziales Nervensystem zu bauen, das eine stabilere und effektivere Regulation innergesellschaftlicher Prozesse ermöglicht. Auch das wird die Zukunft nicht verfügbar machen. Was realistisch ist, wird vielleicht durch folgendes Bild ausgedrückt: Wir sitzen in einem Bus, der in einer Berglandschaft zu Tal rast. Im Bus steigt eine Party. Der Fahrersitz ist meist leer, nur manchmal verirrt sich jemand dorthin und probiert an den Hebeln, Pedalen und Rädern herum, allerdings ohne systematische Effekte. Derweil wird die Talfahrt immer schneller, holpriger und gefährlicher. Wir müssen lernen, den Bus zu steuern, und einen Fahrer ausbilden (der immer einen Fuß auf der Bremse hat). Die heile Ankunft im Tal ist uns damit nicht garantiert – immer noch kann sich ganz unvermutet ein Abgrund auftun, dem auch der geübte Fahrer nicht ausweichen kann. Dennoch würden unsere Überlebenschancen dramatisch steigen. Was die Formierung funktionierender Kulturgemeinschaften und damit auch eine nachhaltig gelingende Selbststeuerung einer Gesellschaft so schwierig macht, hatten wir bereits erarbeitet: Auf der Ebene der Elemente, das heißt der Individuen, hatten wir als Haupthandicaps das Primaten-Ego und das Guckloch-

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Problem benannt. Zur spezifischen Kompensation dieser Defekte dienen die Maßnahmen, die unter »Bildung« besprochen wurden. Auf der Systemebene liegende Störeffekte hatten wir unter dem Oberbegriff Dysemergenz abgehandelt: Je komplexer ein System wird, desto stärker neigt es zur Ausbildung unerwarteter, ungewollter, oft lange unerkannter und zumeist schädlicher Eigendynamiken. Ein häufiges Moment von Dysemergenz ist der Matthäus-Effekt: Potenzialbildungsprozesse neigen zur Selbstbeschleunigung und Selbstverstärkung. Wo schon viel Macht, Geld oder Ruhm ist, sammelt sich bald noch sehr viel mehr Macht, Geld oder Ruhm. Oft laufen gesellschaftliche Entwicklungen dabei nach folgendem Grundmuster ab. Durch eine Revolution, einen Krieg oder eine andere Katastrophe bricht alles zusammen. Nicht selten unter der Ägide einer Sieger- oder Schutzmacht konstituiert sich dann das Gemeinwesen neu. In irgendeiner Art von Verfassung werden Spielregeln für die gesellschaftlichen Austauschprozesse festgelegt, die den wenig komplexen Anfangsbedingungen oft durchaus angemessen sind. Wenn dies auf eine kluge Weise geschieht, dann funktioniert die Gesellschaft eine Zeitlang relativ gut. Die Prozesse sind als Ganzheit einigermaßen sinnhaft und aufeinander abgestimmt. Und dennoch ist der Keim des Scheiterns bereits gelegt. Man hat die Entwicklung mit ihrer nichtlinearen Wucht nicht einkalkuliert. Man hat keine Mechanismen etabliert, die die Spielregeln und Umverteilungsmechanismen zeitnah nachjustieren, ehe Schwellen überschritten sind, und der Matthäus-Effekt »loose canons« über das Deck schleudert. Was passiert? Die Differenzierungen der gesellschaftlichen Prozesse nehmen zu, überall finden Entwicklung, Veränderung und Wachstum statt und bald sind die alten Regeln nicht mehr geeignet, die ganzheitliche Sinnhaftigkeit der gesellschaftlichen Regulation sicherzustellen. Bald hat keiner mehr den Überblick. Nun werden partikuläre Reparaturen an den Regeln von schon ausreichend mächtigen Interessengruppen durchgesetzt, die vorwiegend aus Eigennutz handeln und weder sozialen Ausgleich noch ganzheitliche Sinnhaftigkeit im Blick haben. Dies macht diese Gruppen noch mächtiger und der Matthäus-Effekt beginnt zu rasen. Nun wird die Gesellschaft auseinandergeschlagen. Im Sinne der Brasilianisierung kann sich ein solcher Zustand stabilisieren oder es kommt nach einer neuen großen Katastrophe zur Neukonstituierung der Gesellschaft – natürlich unter Wiederholung der alten Fehler. Offenbar ist es um das Selbststeuerungsvermögen moderner Gesellschaften nicht besonders gut bestellt. Es gibt sicher gesellschaftliche Teilbereiche, in denen vieles leidlich funktioniert. Aber aufs Ganze gesehen, hat die Wucht der sich selbst beschleunigenden sozialen Entwicklungen doch in vielen Bereichen zu extremen Verzerrungen und Deformierungen geführt, mit Folge von schweren Funktionsstörungen – der gesamte erste Buchteil gibt Zeugnis davon. Die alten sozialen Rahmenbedingungen und Spielregeln der 1950er und 1960er Jahre, sie funktionieren nicht mehr und sind nicht in ausreichendem Maße und auf die richtige Weise angepasst worden. Und bei den wenigen und unzureichenden

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Reformversuchen zeigen sich dann Dysemergenzen zweiter Ordnung: Auch die Umsetzung von Reformen läuft in hochkomplexen, dynamischen Gesellschaften zumeist mehr oder weniger weit aus dem Ruder. Es kommt oft am Ende nicht das heraus, was geplant wurde – teilweise, weil die autonomen Akteure und Organisationen die Reformen anders als gesollt umsetzen, zum Teil, weil es zu völlig unerwarteten Wirkungen und Nebenwirkungen kommt. Der noch in den 1970er Jahren in den Politik- und Sozialwissenschaften verbreitete Steuerungsoptimismus ist deshalb überwiegend einem tiefen Pessimismus gewichen, was die Steuerbarkeit gesellschaftlicher Prozesse und die Steuerungsfähigkeiten von Politik und Staat angeht. Ist das berechtigt? Haben wir alle theoretischen und praktischen Erkenntnismöglichkeiten in dieser Hinsicht ausgeschöpft? Ich denke nicht. In Bezug auf biologische Organismen ist allen klar: Das Gehirn ist ein außerordentlich wichtiges Organ. Dass die menschliche Spezies die Erde in so hohem Maße dominiert, hat sie in erster Linie der Leistungsfähigkeit ihres Zentralnervensystems zu verdanken. Entsprechend werden die Neurowissenschaften mit Erwartungen überfrachtet, die sie gar nicht werden einlösen können. Was das ZNS für den Organismus ist, ist das PAS, das politisch-administrative System, für die Gesellschaft. Aus einem sehr berechtigten Analogieschluss heraus sollte man erwarten, dass den Politik- und Verwaltungswissenschaften ein ähnlich hoher oder sogar noch höherer Stellenwert zuerkannt würde wie den Neurowissenschaften. Es gab ein Jahrzehnt des Gehirns – dann gab es doch sicher auch schon einmal ein Jahrzehnt der Verwaltung, oder? Leider nein. Man würde sich dem allgemeinen Spott preisgeben mit so einem Vorschlag. Gelacht, gelocht, geheftet. Und das ist natürlich bedenklich. Denn das PAS hat tatsächlich für die internationale Konkurrenzfähigkeit, für das Gedeihen der Gesellschaft und direkt oder indirekt für die Wohlfahrt jedes einzelnen Bürgers eine immense Bedeutung. Gemessen an dieser Bedeutung fristen die Politik-, Staats- und Verwaltungswissenschaften ein Schattendasein. Sie sind in jeder Hinsicht unterrepräsentiert und, wie mir scheint, festgefahren in engen disziplinären Denk- und Methodenbahnen. In Deutschland gibt es die Verwaltungswissenschaft als eigenständige Universitätsdisziplin gar nicht. Die Studiengänge an den wenigen Ausbildungsstätten werden zusammengestoppelt aus Beiträgen relevanter Nachbardisziplinen, wobei zumeist die Rechtswissenschaft dominiert. Ein erstes, nicht juristisch, sondern politikwissenschaftlich fundiertes Lehrbuch erschien nicht etwa im Jahre 1955, sondern in 2005 – man glaubt es kaum (Bogumil u. Jann, 2005). Und was man aus verschiedenen Quellen weiß und dann hier noch einmal liest, fällt noch schwerer zu glauben. Überwiegend wird Deutschland immer noch mit den Methoden der fast 150 Jahre alten Kameralistik verwaltet, der es nicht um ökonomische oder fachliche Optimierung geht, sondern nur um die Korrektheit des Verfahrens und Verbuchens. Die damit zusammenhängenden, zum Teil grotesken Probleme sind mit entsprechenden Schlagworten Legion – etwa das »Dezember-Fieber«: Das Geld, das zum Beispiel bei der Feuerwehr für

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Schutzanzüge vorgesehen ist, darf nicht für Schläuche ausgegeben werden, und wenn es nicht bis Jahresende abgerufen wurde, verfällt es, mit der Folge, dass für das Folgejahr weniger Geld eingeplant wird. Also wird dieses Geld wie auch viele andere Gelder im Dezember ausgegeben, und wenn sich die ungebrauchten Feuerwehranzüge stapeln und die Schläuche aus allen Löchern pfeifen. Der Grundaufbau der Verwaltung entspricht nach wie vor dem alten Bürokratie-Ideal Max Webers: die streng hierarchisierte Sozialmaschine, in der jeder Handgriff normiert ist, die auf jede Anforderung routiniert reagiert wie der Mechanismus jener Uhr, die Weber vermutlich in seiner Westentasche getragen hat. Obwohl belächelt und oft auch beschimpft, hatte dies über viele Jahrzehnte Fortbestand: Verwaltungsreformen durchzusetzen, ist bei Politikern höchst unbeliebt und aus der Verwaltung selbst kommen auch eher selten Impulse. Gleichwohl wurde Anfang der 1990er Jahre der Modernisierungsdruck so groß, dass man an verschiedenen Stellen das New Public Management der angelsächsischen Welt als »Neues Steuerungsmodell« für die Binnenmodernisierung der Verwaltung zu übernehmen versuchte. Hierbei werden Managementmethoden aus der Privatwirtschaft zum Einsatz gebracht, die darauf abzielen, Netzwerke eigenverantwortlicher Verwaltungseinheiten zu bilden, die nach ergebnisorientierten Kosten-Nutzen-Rechnungen arbeiten und sich als Produzenten öffentlicher Güter für den Bürger als Kunden begreifen. Bei der Implementation wird dann nicht etwa eine ausgebaute und auf diese Aufgabe vorbereitete Verwaltungswissenschaft herangezogen – es gibt sie ja auch gar nicht –, sondern die Branche der Wirtschaftsberater. Die Grundrichtung wird wohl richtig sein – aber viele der zum Einsatz gebrachten Einzelinstrumente scheinen nicht ausreichend fundiert und ob ein Eins-zu-eins-Transfer aus der profitorientierten Wirtschaft in den gemeinwohlverpflichteten Öffentlichen Dienst förderlich ist, gehört erst einmal bezweifelt. Die inzwischen veröffentlichten Zwischenbilanzen fallen entsprechend durchwachsen aus: Zunächst einmal wird das eklatante Fehlen empirischer Studien über die Veränderungsprozesse beklagt, sowohl in Zahl als auch in Qualität. In den wenigen vorliegenden Studien werden widersprüchliche Resultate berichtet: Die Reformen wurden nicht wirklich konsequent und auf allen Ebenen umgesetzt, sie zeitigten Verbesserungen in einigen Bereichen, in anderen aber auch Verschlechterungen, die meisten Grundprobleme der öffentlichen Verwaltung aber sind nach wie vor ungelöst. Da operieren also ehrgeizige Hitzköpfe am Zentralnervensystem der Gesellschaft herum, zum Teil nach zweifelhaften Rezepten, und es schaut kaum jemand hin! Wenn sich die Evolution derart stiefmütterlich um die Verbesserung unseres ZNS gekümmert hätte, wir würden immer noch als Quallen durchs Wasser schwappen. Was lässt sich vor dem Hintergrund unseres Buches zu all dem sagen? Nun, zuallererst einmal: Die Politik- und Verwaltungswissenschaften haben eine sehr viel größere Bedeutung, als ihnen in öffentlicher Wahrnehmung und institutio-

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neller Realität derzeit zukommt. Vielleicht noch vor Umwelt- und Energieproblemen ist die Ermöglichung und dauerhafte Stabilisierung eines gedeihlichen und friedlichen Zusammenlebens der Menschen in Freiheit unsere zentrale Überlebensaufgabe. Vor diesem Hintergrund sind diese Disziplinen mit Abstand die wichtigsten Wissenschaften überhaupt. Der Gesamtbereich der Psychosozialwissenschaften müsste eigentlich hier zusammenlaufen und im interdisziplinären Bemühen die Frage untersuchen: Wie lässt sich auf verschiedenen Organisationsniveaus von der Familie über den Nationalstaat bis hin zur Weltgesellschaft menschliches Zusammenleben gut organisieren? Was wir mindestens bräuchten, wären leistungsfähige interdisziplinäre Großforschungseinrichtungen mit erheblichen Forschungsressourcen, die sich in enger Zusammenarbeit mit den Universitäten und dem PAS dieser Frage stellen (gleich, ob als Think Tank nach dem Vorbild von Brookings oder in Form von dem PAS beigestellten Instituten oder Akademien). Wichtig wäre eine wirkliche Interdisziplinarität. Aus meiner Sicht wäre den Sozialwissenschaftlern zu empfehlen: Verlasst die Reinsträume der Hyperabstraktion, die à la Luhmann den Menschen aus der Gesellschaft herausdefinieren. So mag man stringenter ein Theoriesystem konstruieren können, aber eben ein steriles ohne praktische Fruchtbarkeit. Man kann soziale Systeme nicht verstehen, ohne die Triebkräfte und Verhaltensdispositionen der handelnden Akteure an zentraler Stelle mit einzubeziehen. Die Ökonomen sind dabei, ihren abstrakten Homo oeconomicus aufzugeben, und beziehen die Psychologie mit ein – wenn auch unter dem nicht ganz treffenden Label Neuroökonomie (Psychoökonomie wäre sachadäquater). Die Politik- und Verwaltungswissenschaftler sollten ein Gleiches tun. Wir bräuchten in diesen sozialwissenschaftlichen Think Tanks neben den Sozialwissenschaftlern Ökonomen, Juristen, Psychologen, Mediziner, (Verhaltens-)Biologen, Systemwissenschaftler und Computerwissenschaftler. Variieren wir nochmals die so wichtigen Schlüsselfragen: Wie sieht das evolutionspsychologisch zu ermittelnde Erbe des Menschen mit seinen Reaktionsund Verhaltensdispositionen aus? Wie weit lassen sich die negativen Aspekte der menschlichen Natur durch Erziehung und Selbsterziehung kulturell aufheben – Stichwort persönliche Meisterschaft? Welche »Korsette« an Regeln (Gesetze, Vorschriften, Verbote, amtliche Kontrollen etc.) sind für diese Entwicklungsstufen der menschlichen Persönlichkeit jeweils angemessen bzw. minimal erforderlich? Wie ist vor diesem Hintergrund das PAS intern zu strukturieren? In welcher Form muss das PAS vor diesem Hintergrund die verschiedenen Bereiche der Gesellschaft strukturieren? Zu welchen Formen dysemergenter Eigendynamiken neigen diese Systeme und wie kann man dafür Bremsen einbauen? Was lässt sich für die Strukturierung von sonstigen Organisationen ableiten? Und vor allem: Wie sind all diese Fragen zu beantworten vor dem Hintergrund der gewaltigen Potenziale, die sich aus Informationstechnologien wie Computer, Internet und Intranet ergeben? Visionär schon vor dem Aufkommen

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des Internet und viel mehr noch danach sprang vielen Denkern und Autoren eine kaum abzuweisende Analogie ins Auge: das Internet als elektronisches Nervensystem der Gesellschaft. Die sich unmittelbar auftuenden Möglichkeiten scheinen atemberaubend: das elektronische Rathaus, bei dem der Bürger alle »Behördengänge« auf einer Internetplattform erledigen kann, vielfältige Formen elektronischer Demokratie von elektronischen Wahlen bis hin zu schnellen und einfachen Befragungen zu wichtigen politischen Themen, die einfache kontinuierliche Sammlung statistisch relevanter Daten aus allen Bereichen der Gesellschaft, Kooperations- und Koordinationssoftware für die Binnenprozesse von Organisationen, virtuelle Märkte, auf denen virtuelle Produkte angeboten werden, konkurrieren, vom Besteller entsprechend der eigenen Bedürfnisse modifiziert werden können und die schließlich erst in dieser individuell zugeschnittenen Form produziert werden, sofern eine ausreichende Nachfrage erkennbar ist. Und am Ende wäre sogar etwas wie eine elektronisch regulierte Planwirtschaft vorstellbar, mit weitaus besseren Chancen des Funktionierens und Überlebens als die Zentralplanwirtschaften ihrer realsozialistischen Vorgänger. Einige dieser Entwicklungen sind ja bereits im Gange. Aber ihre Bedeutung für das Große und Ganze wird viel zu wenig wahrgenommen, im öffentlichen Bewusstsein nicht und in den zuständigen Wissenschaften auch nicht. So schreiben Bogumil und Jann in ihrem schon erwähnten Lehrbuch der Verwaltungswissenschaften: »Im Bereich des boomenden E-Governments und der E-Democracy wird zwar auf neue soziale Ungleichheiten hingewiesen, die durch die intensive Nutzung des Internets entstehen können; welche Möglichkeiten sich aber durch den Aufbau von Informationsmacht auf Seiten der Verwaltung ergeben, wie sich Verwaltungsverfahren und die Kommunikation mit Bürgern und Wirtschaft, insbesondere auch die internen Kommunikations- und Koordinationsverfahren des öffentlichen Sektors verändern werden, diese Fragen sind bis jetzt noch weitgehend ausgeblendet« (S. 248). Versäumnisse mit unter Umständen gravierenden Folgen. Um das zu ändern, bräuchten wir die erwähnten interdisziplinären Think Tanks, die so etwas wie eine Allgemeine Theorie der Organisation und Regulation sozialer Systeme innerhalb des Rahmenparadigmas der Komplexitätstheorie entwickeln. Dies hätte in enger Wechselwirkung mit der Praxis zu erfolgen: Es müsste »Laborverwaltungen und -organisationen« geben, in denen unterschiedliche Organisationsstrukturen mit einer entsprechenden zentralen Auswertung der Erfahrungen ausprobiert werden können. Gemäß der Popper’schen »Sozialtechnik der kleinen Schritte« sollten die hierbei entwickelten Modelle dann schrittweise und unter Anpassungen von immer größeren Gesellschaftsbereichen übernommen werden. So könnten wir uns heranmendeln an soziale Organisationsstrukturen, die den derzeitigen Gegebenheiten entsprechen, und an einigermaßen funktionierende Verfahren einer Neuanpassung in sinnvollen Zeitintervallen. Kaum etwas ist wichtiger, als einen solchen Prozess des landesweiten Orga-

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nisationenlernens zu institutionalisieren und zu optimieren. Entscheidend ist, folgenden Gedanken im allgemeinen Bewusstsein zu verankern: Es genügt nicht, immer besser und härter zu spielen. Fast noch wichtiger ist es, die Spielregeln immer wieder neu auf eine kluge Weise anzupassen. Die Reform der Reformfähigkeit ist mindestens genauso wichtig wie die Reform selbst. Von den meisten Menschen wird die Notwendigkeit ständiger organisationaler Veränderungen gar nicht als Problem wahrgenommen. Auch dies ist ein Problem, das sich dadurch unsichtbar machen konnte, dass es sich horizontfüllend vergrößert hat. Von den meisten Menschen werden organisationale Veränderungen als Belastungen empfunden, denen es sich entgegenzustemmen gilt. Hier muss ein Bewusstseinswandel erreicht werden. Natürlich ist all dies sehr schwierig, in der Theorie ebenso wie in der Methode und der Praxis. Vielleicht werden sich nur sehr grobe Richtlinien ergeben. Vielleicht wird das Training persönlicher Meisterschaft das Wichtigste sein, weil gilt: Der Hauptweg der Formierung kompetenter Systeme ist die Selbstorganisation systemkompetenter Akteure. Wahrscheinlich wird es immer viel vom Charakter eines Sich-Durchwurstelns, eines kleinschrittigen Versuch und Irrtum-Lernens behalten. Gleichwohl ist die allgemeine Depression nach dem Scheitern der großen Entwürfe falsch und gefährlich. Es wurde bisher nur ein Bruchteil der potenziellen Möglichkeiten genutzt. Mit der postmodernen Resignation haben wir den Kopf in den Sand gesteckt, noch ehe die Hauptpotenziale wirklich erkannt und systematisch entwickelt wurden: Erziehung zu persönlicher Meisterschaft und Instituionalisierung eines großflächigen, aber kleinschrittigen Institutionenlernens, Schaffung elektronischer sozialer Nervensysteme. Wenn wir eine langfristige Überlebensperspektive haben wollen, müssen wir versuchen, diese Potenziale zu nutzen. Da mag es Gefahren geben, doch welcher Weg aus der Gefahr könnte ohne Gefahr sein? So lange die Demokratie nicht zugunsten einer Diktatur aufgegeben wird, und die kleinschrittige Evolution nicht zugunsten einer Revolution, so lange würden Gefahren beherrschbar und Fehler korrigierbar bleiben. Das Auffinden, Erproben und Einüben neuer Formen des Zusammenwirkens und Zusammenlebens ist die wichtigste Dimension, auf der wir noch relevanten Fortschritt erreichen können. Das ist das große Abenteuer der nächsten Jahrhunderte, vielleicht der einzige große Kontinent, den es noch zu entdecken gilt. Damit das alles nicht völlig im Ungefähren verbleibt, lassen Sie uns nun einige Grundsatzüberlegungen darüber anstellen, wie soziale Prozesse und Strukturen zu gestalten wären, damit eine Gemeinschaft mit maximaler Selbststeuerungskompetenz entsteht.

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3.2 Soziale Integration Unter dem Aspekt der Integriertheit einer Gesellschaft könnte man drei Prototypen von Gesellschaft unterscheiden, zwischen denen es natürlich alle Formen von Übergängen gibt – nennen wir sie einmal so: totalitäre Diktatur, identifikatorische Gesellschaft und anarcholiberale Gesellschaft. Bei der Diktatur wird eine hohe soziale Integration durch äußeren Zwang hergestellt. Das gemeinschaftsbezogene Handeln der Menschen ist über Erbantriebe extrinsisch motiviert: Strafe und Schmerz vermeiden und äußeren Lohn erlangen. Systeme dieser Art sind auf lange Sicht zu wenig kreativ und anpassungsfähig, sie verknöchern und degenerieren, sie können für die Mehrheit den Glücksanspruch nicht einlösen. Aber auch der andere Extrempol, der Anarcholiberalismus, schneidet nicht gut ab. Hier wird der Staat in immer weiter gehenden Schritten so weit minimiert, dass das soziale Leben im Hier und Jetzt gerade noch eben funktioniert. Aber das Hier und Jetzt funktioniert nur deshalb noch, weil von einem Sozialkapital gezehrt werden kann, dass in der Vergangenheit akkumuliert wurde und vom Minimalstaat nun immer weniger reproduziert wird. Der Anarcholiberalismus sägt also an dem Ast, auf dem er sitzt, er zehrt von Voraussetzungen, die er selbst nicht reproduziert. Erstarkende Eigendynamiken beginnen zu rasen und sprengen die Gesellschaft letztlich auseinander. Der Endpunkt dieser Entwicklung sieht dann so aus: Hyperindividualisierte Autisten, die eine bizarr gestaltete Oberfläche mit Tiefe verwechseln, die nichts mehr verbindet, die sich nicht mehr verstehen und nichts miteinander anfangen können, bestimmen die Szene in den Ober- und Mittelschichten. In den wachsenden Unterschichten finden wir Apathie, Abstumpfung und Drogenkonsum, Multimediaabhängigkeit und die Regression auf biologische Formen der Hackordnungs-Vergemeinschaftung im Rahmen gewalttätiger Banden. Es entsteht eine soziale Wüste: Slums mit hoher Gewaltkriminalität, organisiertes Großverbrechen, schwer bewachte Trutzburgen der Reichen und Eliten. Das ist der Weg, auf dem die westlichen Gesellschaften sich derzeit wohl befinden. Ideal wäre der Mittelbereich zwischen diesen beiden Extremen: eine identifikatorische Gesellschaft, die sich an der Oberfläche ein hohes Maß an Liberalismus leisten kann, weil sie in der Tiefe die Voraussetzungen der Gemeinschaftsfähigkeit bewusst und institutionalisiert reproduziert. Wir finden hier einen hohen Grad an Integration und mehr noch an Integrationvermögen: Die Menschen sind fähig, selbstverantwortlich und innengeleitet ihre eigenen Wege zu gehen – und viele tun dies auch oft und gern in bestimmten Lebensphasen. Weil es Freude macht und vor allem natürlich dann, wenn es sinnvoll oder gar notwendig ist, sind sie aber auch fähig, sich schnell auf gemeinsame Ziele zu verständigen und gut koordiniert zu handeln. Auch ohne explizites Pflichtenkorsett ergibt sich jederzeit spontan ein ausreichendes Maß an Mitmenschlichkeit und Solidarität.

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Hier kommt im Unterschied zur Diktatur die Integration intrinsisch motiviert zu Stande, überwiegend getragen von Kulturantrieben: Man engagiert sich aus eigenem Willen, innerer Überzeugung und echtem Bedürfnis für die Ziele der Gesellschaft. Zwischen dem Gemeinwillen und dem Willen der Einzelnen ist die Überschneidung hier so hochgradig, dass die Mehrheit bei der Mehrheit der gemeinschaftsbezogenen Handlungen das Gefühl haben kann, in Freiheit und aus eigenem Bedürfnis zu handeln. In der Komplexitätstheorie heißt dieser Mittelbereich zwischen kristalliner Erstarrung und der stochastischen Wärmebewegung »Rand des Chaos« – hier sind die Bedingungen für Entstehung, Entwicklung und Langzeitüberleben komplexer adaptiver Systeme am besten. Wo liegen die Quellen dieser Identifikationen und Überschneidungen? Nun, zum ersten kann die positive Hälfte unserer Natur zu dieser Identifikation beitragen. Wir hatten ja in Kapitel 2.17 ausgeführt, dass das System unserer Erbantriebe in zwei grundlegenden globalen Funktionsmodi arbeiten kann: ein auf Autonomie, Selbstbehauptung und Überleben trimmender Modus (»Egoantriebe«) und ein auf soziale Integration, Solidarität und Kooperation hinwirkender Modus. In Zeiten der Not wird ab einem bestimmten Grad des Zerfalls der Gemeinschaft der Rette-sich-wer-kann-Modus aktiviert (negatives Sinn-Verheißungs-Feld). Hat man dagegen das Gefühl, dass die Gemeinschaft intakt ist und zur Verbesserung der eigenen Zukunftschancen beiträgt, überwiegen natürlicherweise die Integrationstendenzen (positives Sinn-Verheißungs-Feld). Auf der Ebene der Erbantriebe liegt auch die emotionale Empfänglichkeit/Verführbarkeit des Menschen für gemeinschaftsstärkende Symbole und Rituale bis hin zur Induktion von Trance und kollektiver Raserei. Durch Training in persönlicher Meisterschaft kann man lernen, das System der Erbantriebe dauerhaft im Integrationsmodus zu halten – »Ego-Souveränität« – und sich gleichzeitig zu wappnen gegen den Sog kollektiver Verführungen. Es wäre anzustreben, dass die Hauptidentifikationskräfte zum Zweiten von der Ebene der Kulturantriebe ausgingen. Die Bedingungen hierfür verbessern sich, je mehr Menschen einer Gesellschaft über die Kulturschwelle gehen oder gar in persönlicher Meisterschaft trainiert sind. Hierbei kommt es zur gefühlswirksamen Verinnerlichung von Werten, Normen und Prinzipien, Grundvorstellungen von einer guten, funktionierenden Gesellschaft und Kultur. Je mehr eine Gesellschaft nun diesen Vorstellungen entspricht, desto stärker ist der Einsatz fürs Gemeinwohl. Dann bleibt die Frage, wie diese Entsprechung erreicht werden kann. Die Antwort muss anknüpfen an unsere Ausführungen zum synergetischen Vergemeinschaftungskreis in Kapitel 2.22. Wir hatten hier von Einzelgemeinschaftkonzepten (EGK) und Obergemeinschaftskonzepten (OGK) gesprochen. Zunächst haben alle Einzelkonzepte (EK) im Kopf. Und vielleicht gibt es ein von außen oder der Führungsperson vorgegebenes Oberkonzept (OK). Je mehr Überschneidungen es zwischen all diesen Konzepten gibt, desto leichter gelingt der folgende zirkuläre Prozess: Durch Diskussion werden Teile des OK so verändert, dass die

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Mehrheit weitgehend mit ihnen einverstanden ist. So wird aus dem OK in Teilen ein OGK. Dieses wird materialisiert, zum Beispiel in Form eines politischen Programms. Im Prozess der Rezeption dieses Programms kommt es zu weiteren Angleichungen der EK an das OGK, so dass bei den Einzelnen aus den EK immer mehr EGK werden (es können aber auch neue Differenzen entstehen, die neue Diskussionen nach sich ziehen). Je öfter sich diese Spirale dreht, desto größer werden die Angleichungen. So entsteht ein OGK, das wahrhaft das Verbindende einer Gesellschaft repräsentiert: eine Vorstellung von einem guten Staat, einer guten Gesellschaft, von gültigen Normen und Werten, von einem Wertekanon, den man als konstituierend für die eigene Kultur erlebt, von einer Zukunftsvision, einem geschichtlichen Auftrag, für den es leben und sich einzusetzen lohnt. In einer Gesellschaft, die ihre eigenen Grundlagen reproduziert, werden natürlich große Teile dieser OGK/EGK durch Tradition und Erziehung vorgeformt weitergegeben und nicht immer wieder neu grundständig ausdiskutiert. In diesem Zirkel wird gewissermaßen die soziale DNA produziert, reproduziert und repariert, die aus einem Haufen Menschen eine Gesellschaft macht, die kollektiv handlungsfähig ist. Lassen Sie uns diese Kreisprozesse von Diskussion, Produktion, Rezeption und Angleichung sozialer Konzepte als demokratisch-demagogischen Zirkel bezeichnen – er ist das schlagende Herz der Demokratie. Ersichtlich besteht er aus zwei Komponenten, die sich im Gleichgewicht befinden müssen, um nicht Gefahren heraufzubeschwören. Das eine ist der demokratische Aufwärtsprozess. Zu ihm gehören basisdemokratische Ideen und Initiativen, Abstimmungen, die Wahl von Repräsentanten mit den von ihnen vertretenen OK/OGK, aber auch Vetos, Referenden und die Abwahl von Repräsentanten. Der demokratische Aufwärtsprozess erfüllt dreierlei unverzichtbare Funktionen: Erstens dient er als Quelle von (kollektiver) Kreativität, zweitens als Pool zur Rekrutierung der Allerbesten als Führungspersonal und drittens als Vetoinstanz zur Korrektur von schweren Fehlentscheidungen. Aber auch der demagogische Abwärtsprozess ist unverzichtbar. »Demagogisch« wird hier in seiner ursprünglichen Positivbedeutung von »volksbildend« verwendet – Perikles war noch stolz auf die Bezeichnung Demagoge. Schwierige politische Entscheidungen erfordern oft ein Höchstmaß an Wirklichkeitssinn, Urteilskraft und spezieller Expertise, das der Mehrheit der Menschen nicht gegeben ist. Und die »Weisheit der Vielen« ist eben nur bei bestimmten Problemtypen besser als die Weisheit des einzelnen Herausragenden. Deshalb wird Demokratie niemals auskommen können ohne eine gewisse Unterrichtung und Leitung des Demos durch Experten und herausragende Führungspersönlichkeiten. Ohne einen Perikles wäre die klassische Attische Demokratie in ihrer Blüte und Dauer schwerlich denkbar gewesen. Eine weitere Funktion dieses Top-down-Prozesses ist die Konsensualisierung im Sinne der Synergetik. Ohne Angleichungen der EGK kann niemals ein OGK ermergieren. Ohne ein Minimum an Gleichrichtungsmechanismen kann eine Gesellschaft nicht funktionieren.

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Wir brauchen also unbedingt beide Hälften des Kreises und beide müssen im Gleichgewicht bleiben. Wenn eine Seite das Übergewicht bekommt, droht Gefahr. Verselbständigt sich der Aufwärtskreis, droht das Folgende: die Tyrannei der Mehrheit über Minderheiten, Entscheidungen, die auf maximalen Vorteil im Hier und Jetzt zielen, rasender Stillstand im Chaos nicht endender basisdemokratischer Debatten oder gar die Raserei eines dampfenden Mobs. Verselbständigt sich der Abwärtskreis, finden wir Manipulation, Gleichschaltung, Oligarchie oder Autokratie. Nicht wenige Antidemokraten und kritische Demokratietheoretiker haben jeweils nur einen der beiden Halbkreise gesehen, diesen dann in den genannten Gefahren verabsolutiert und entsprechende Argumente gegen die Demokratie daraus abgeleitet. Das von Hermann Haken formulierte Konzept der synergetischen Strukturbildung im Wechselspiel von Emergenz und Konsensualisierung – im naturwissenschaftlichen Bereich auch als Versklavungsprinzip bekannt – zeigt, wie beide Seiten zusammengehören und eine sinnvolle Einheit bilden. Nach der im vorigen Kapitel besprochenen Aufhellung des Rätsels von der »Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte« haben wir damit eine zweite Grundfrage der Sozialwissenschaften einer Lösung näher gebracht, was offensichtlich ein Denken in den Kategorien von Synergetik und Komplexitätstheorie voraussetzt. Gibt es über die Intaktheit des demokratisch-demagogischen Zirkels hinaus etwas, das gegen die genannten Gefahren hilft? Nun, in aller erster Linie eines: ein hoher Bildungstand und ein hohes Maß an persönlicher Meisterschaft auf Seiten des Demos. Nur dies kann einigermaßen sicherstellen, dass auch wirklich die besten im Sinne der sachlichen Eignung für Führungspositionen erkannt und gewählt werden und eben nicht Dinge wie schauspielerisches Talent, Patronage oder Gruppenegoismen die entscheidende Rolle spielen. Nur dies kann sicherstellen, dass der Volkszorn nicht aus dem Ruder läuft oder Fehlentscheidungen aufgrund von Massendummheit zustande kommen. Damit können wir die beiden zentralen Voraussetzungen für eine wirklich funktionierende Demokratie benennen: 1. ein hohes Maß an Wissen, Bildung oder gar persönlicher Meisterschaft beim Demos (eine Mehrheit liegt oberhalb der Kulturschwelle). 2. soziale Institutionen, die einen vitalen Umlauf des demokratisch-demagogischen Zirkels ermöglichen. Beides muss in einem Maße gegeben sein, dass in den unbewussten und bewussten Bereichen des Selbst der Menschen in ausreichendem Maße Sozialkapital akkumuliert wird. Nur dann zeigt eine genügend große Zahl von Personen spontan und in Freiheit so viel prosoziales Verhalten, dass das Überleben der Gemeinschaft möglichst weitgehend gesichert ist. Werden diese tiefenstrukturellen Voraussetzungen von Gemeinschaft dauerhaft reproduziert, dann kann sich die Gesellschaft an der Oberfläche ein hohes Maß an Liberalismus leisten. Und das ist natürlich die anzustrebende Idealsituation – wer wüsste dies besser als

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jemand, der auch als Psychotherapeut arbeitet. Eines der zentralsten Bedürfnisse tierlichen Lebens ist das Ringen um Freiheit und Autonomie. Jeder einschränkende Druck erzeugt sofort Gegendruck. Von außen auferlegte Zwänge und Pflichten, mit denen eine Identifikation nicht möglich ist, bringen die Gefahr der Aufschaukelung von Teufelskreisen sowohl intrapsychisch als auch sozial. Viel besser ist es, Werte und Normen so zu verinnerlichen, dass prosoziales Verhalten als innere Pflicht und damit als eigenes Bedürfnis erlebt werden kann. Das ist für den Einzelnen und die Gemeinschaft viel gesünder. Jetzt haben wir verstanden, wie aus Individuen eine Gemeinschaft wird, in der sich die Spannung zwischen individueller Freiheit und sozialer Notwendigkeit auf ein Minimum reduzieren kann. Wir haben verstanden, wie die Sozial-DNA einer handlungsfähigen Gesellschaft entsteht und reproduziert wird. Nun erhebt sich die Frage, welche Grundsatzinformationen in dieser SozialDNA enthalten sein müssen, damit aus einer identifikatorischen Gesellschaft eine geschichtsmächtige Gesellschaft wird, das heißt eine Gesellschaft, die in hohem Maße befähigt ist, ihre eigene Geschichte dem Gemeinwillen zu unterwerfen. Nun, die im PAS zirkulierenden OK/OGK müssen enthalten: 1. ein annähernd adäquates und ausreichend differenziertes Selbstmodell der Gesellschaft. Natürlich kann sich eine Gesellschaft nur dann selbst steuern, wenn sie Informationen über die eigene Struktur und die eigenen Funktionen besitzt – über Individuen und Organisationen samt deren Aufbau sowie wichtige Daten und Kennzahlen zu deren quantitativer Beschreibung. 2. ein annähernd adäquates und ausreichend differenziertes Umweltmodell – Konzepte und Daten bezüglich der lokalen und globalen Ökosysteme, bezüglich der Weltwirtschaft und Weltpolitik, bezüglich der Integration in die Europäische Gemeinschaft etc. 3. Ziele und Visionen: In welcher Richtung sollen die Strukturen der Gesellschaft verändert werden? Was sind sinnvolle außenwirtschaftliche und außenpolitische Ziele? Die Ziele sollten vor allem Fortschritt auf den schon genannten drei Dimensionen bringen: a) größtes Glück der größten Zahl im Hier und Jetzt, b) langfristige Überlebenschancen der Gemeinschaft und c) Verbesserung der Selbststeuerungsfähigkeit der Gesellschaft. 4. Wissen über Mittel und Wege, gesellschaftliche Veränderungen und Reformen in ausreichendem Maße zu steuern. 5. Das PAS muss in engem Austausch stehen mit einem Wissenschaftssystem, das jederzeit umfassend Hintergrundwissen zu Ökosystem, Mensch und Gesellschaft im Rahmen eines Welt- und Menschenbildes der Dritten Kultur zu liefern vermag. Aufs Ganze gesehen können wir nun die wichtigsten »sozialen Organe« einer idealtypischen identifikatorisch-geschichtsmächtigen Gesellschaft benennen: eine Art Superministerium, das mit den geforderten verwaltungswissenschaftlichen

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Think Tanks und dem Wissenschaftssystem zusammenarbeitet und den geforderten institutionalisierten Prozess des Organisationenlernens anleitet; demokratische Institutionen, die den demokratisch-demagogischen Zirkel vital halten; und ein Bildungssystem mit dem Zentralfach »Weltbild der Dritten Kultur und persönliche Meisterschaft«. Spekulieren wir doch nun einmal gemeinsam, wie ein solcher idealtypischer »sozialer Organismus« hinsichtlich seiner Hauptorgane beschaffen sein könnte. Stellen wir uns vor, wir stehen vor einem Reißbrett und entwerfen das Institutionengefüge einer Idealgesellschaft. Keine Angst – es wird danach keine Aufforderung ergehen, diese Vorstellung per Revolution ins Werk zu setzen. Aber auch eine inkrementelle Politik nach der Sozialtechnik der kleinen Schritte bedarf einer Vision und Zielvorstellung. Und gerade daran mangelt es heute in höchstem Maße.

3.3 Die Gesellschaft als sozialer Organismus: Wir bauen einen guten Staat Es macht Sinn, innerhalb von Komplexen adaptiven Systemen neben den Arbeitsorganen Steuerungsorgane und Innovationsorgane zu unterscheiden. Im menschlichen Organismus beispielsweise wären Muskeln, Leber oder Nieren Arbeitsorgane, das periphere Nervensystem wäre überwiegend ein Steuerungsorgan und das ZNS vor allem ein Innovationsorgan (insbesondere die Großhirnrinde). Es liegt in der unaussetzbaren Logik einer fraktal strukturierten Evolution, dass es in einer Gesellschaft Entsprechungen zu diesen Organbereichen geben muss: Die Bundes- Landes- und Kommunalverwaltungen mit ihren hierarchischen Behördenstrukturen sind sicher überwiegend als Steuerungsorgane zu betrachten. Regierung und demokratisches System sowie auch Teile der Ministerien fungieren schwerpunktmäßig als Innovationsorgane. Die Steuerungsorgane – Superministerium und Oberinstitut für Verwaltungsforschung: Beginnen wir bei den Steuerungsorganen. Wir hatten ja schon feststellen müssen, dass die Verwaltungsstrukturen in Deutschland in weiten Bereichen veraltet sind und dass es weder institutionalisierte Mechanismen ihrer Optimierung im Sinne eines Organisationslernens gibt noch eine ausreichend etablierte Wissenschaft, die das begleiten könnte. Ein wichtiger Aspekt dieser Suboptimalität scheint mir der folgende zu sein: Immer wieder hört und liest man von schwerwiegenden Koordinationsproblemen zwischen den einzelnen Verwaltungsbereichen: Da bekriegen sich das Wirtschafts- und das Umweltministerium. Da werden Renten erhöht und bei Bildung und Energieforschung die Mittel gekürzt. Da ist die Umweltpolitik nicht mit der

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Energiepolitik abgestimmt. Als Beobachter der Politik hat man oft den Eindruck, dass auch Großreformprojekte für über Jahrzehnte kumulierte und diskutierte soziale Probleme immer wieder neu von den je akutell Ermächtigten mit der heißen Nadel gestrickt werden mit Schützenhilfe von ad hoc aufgebotenen, immer wieder wechselnden Hilfstruppen aus Parteigremien, parteinahen Instituten und Expertenrunden. Die Folgen sind bekannt: handwerkliche Fehler, Nachkorrekturen, schwerwiegende unkalkulierte Neben- und Fernwirkungen, gelegentlich der Rückbau der ganzen Reform, Flickschusterei, Kompromisse und am Ende hyperkomplizierte Strukturen, die keiner mehr überblickt und die nichts mehr zu tun haben mit einer sinnvollen, ganzheitlichen Regulation sozialer Prozesse. Das ist das genaue Gegenteil von dem, was man »Politik aus einem Guss« nennt. Offenbar passen die Strukturen, in denen heute Politik und Verwaltung betrieben wird, nicht mehr zu den Erfordernissen unserer Zeit. Über die Jahre ist die Gesellschaft immer komplexer geworden: Sie ist quantitativ gewachsen, die Differenzierung hat zugenommen, die Verflechtungen haben sich auf allen Ebenen vermehrt und alle Prozesse beschleunigen sich. Liberal gesinnte Denker empfehlen als Mittel gegen diese Komplexität: weniger Staat und mehr Selbstregulation (vor allem durch den Markt). Dies mag an vielen Stellen richtig sein, an manchen aber auch nicht. Einfach nur pauschal Deregulieren bringt gefährliche Eigendynamiken in Gang, wie man an diversen globalen Finanzkrisen erkennen kann. Und zu welchen Dekulturierungen und Entmenschlichungen die rasende Vermarktlichung aller Lebensbereiche führt, wurde im ersten Buchteil beschrieben. Wir benötigen das rechte Maß an Staat an der richtigen Stelle. Das Hauptproblem dabei ist es zu entscheiden, wie viel und welchen Staat man wann an welcher Stelle braucht. Und das erfordert erst einmal mehr Staat in seinen Innovationsbereichen, denn sollen diese Entscheidungen substanziell sein, ist ein Höchstmaß an Modellierungskapazität sozialer Realitäten notwendig. Wenn die Gesellschaft komplexer wird, müssen auch ihre Steuerungs- und Innovationsbereiche komplexer werden, um diese Komplexität abbilden und modellieren zu können (Prinzip der »requisite variety«). Wenn die Gesellschaft durch zunehmende Interdependenzen ganzheitlicher wird, müssen auch die Reformen und die ihnen zugrundeliegenden Modelle ganzheitlicher werden. Deregulierung kann als Teilantwort richtig sein, als Globalantwort aber ist sie falsch und gefährlich. Offenbar müssen wir die Struktur des gesellschaftlichen Steuerungsorgans diesen Erfordernissen anpassen. Auch wenn das vielleicht erst einmal abschreckend klingt – ich denke, wir brauchen eine Art Superministerium, dass alle klassischen Ministerien unter einem Dach zusammenfasst. Ein aus dem Statistischen Bundesamt hervorgehendes »Datenministerium« hätte ständig alle notwendigen Kennzahlen aus Wirtschaft und Gesellschaft zu erfassen und aufzubereiten. Hierzu wäre eine Art elektronisches peripheres Nervensystem der Gesellschaft aufzubauen, über das diese Datenerfassung zunehmend automatisiert erfolgt. Auch die Ergebnisse der permanenten elektronischen Wählerpar-

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tizipation wären hier zu erfassen und aufzubereiten (zum Thema E-Democracy etwas später). Jedem Ministerium sollte ein Staatsinstitut beigeordnet werden, dessen Aufgabe es ist, die Verbindung zu Universitäten und sonstigen Einrichtungen des Wissenschaftssystems zu halten, sämtliche für das Fachgebiet relevante wissenschaftliche Information zu sammeln und für die Zwecke von Regierung und Verwaltung integrierend aufzubereiten. Nur auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass das PAS seine Hauptaufgabe erfüllen kann: Mobilisierung und Integration der gesamtgesellschaftlich verfügbaren Problemlösekompetenz zur Sicherstellung der maximalen Wohlfahrt der größten Zahl über eine möglichst lange Zeit. Dem Ganzen wäre ein Oberinstitut für Verwaltungsforschung und Evaluation zu überstellen – dies entspräche dann dem geforderten interdisziplinären Think Tank. Seine erste zentrale Aufgabe bestünde darin, das Superministerium selbst möglichst optimal intern zu organisieren unter Nutzung und Weiterentwicklung all dessen, was die moderne Kommunikations- und Informationstechnik zu bieten hat, bis hin zu speziell entwickelter Kooperationssoftware. Im Anschluss bzw. parallel dazu wäre die gesamte Verwaltungshierarchie des Landes zu strukturieren und schließlich die Arbeitsbereiche der Gesellschaft. Hierbei müsste eben jener geforderte systematische Prozess des landesweiten Organisationslernens institutionalisiert werden. Gegenüber den Innovationsorganen hätte unser Superministerium neben der Expertise vor allem die Momente Machbarkeit, Kontinuität und Ganzheitlichkeit zu vertreten. Politiker formulieren eine Vision – das Ministerium sagt, ob es technisch machbar ist und was es kostet. Politiker wollen in einem Teilbereich eine Reform – das Ministerium sagt, was man dann parallel in anderen Teilbereichen mitverändern müsste, damit die Sinnhaftigkeit des Gesamtsystems erhalten bleibt. (Man mag so etwas eine demokratisch nicht legitimierte Politisierung des Verwaltungshandeln nennen – aber es geht nicht anders und in praxi läuft es auch heute schon so.) Hier hätte dann auch unsere in Kapitel 2.25 geforderte zentrale Bildungsbehörde als Ministerium ihren Platz. Und das zugeordnete Institut wäre im Zusammenwirken mit anderen Organen entscheidend an der Erarbeitung der Inhalte für unser Zentralfach »Weltbild der Dritten Kultur und persönliche Meisterschaft« beteiligt. Postdemokratie: Es gehört zu den heute etablierten Schemata von oberflächlichöffentlicher politischer Korrektheit, die Demokratie als das höchsterrungene Menschheitsgut zu preisen und ihren Zustand in Deutschland als im Wesentlichen intakt und abgesichert einzustufen. Bei kritischen Stimmen oder kritischen Daten wie schlechten Wahlbeteiligungen werden dann einfach die Maßstäbe nach unten korrigiert oder sophistische Wendungen ins Positive vollführt, wie jüngst von Wolfgang Schäuble in einem Zeit-Interview: »Vielleicht sorgt das Gefühl, dass alles einigermaßen läuft, für mangelndes Interesse an Politik. Jedes

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gelöste Problem ist kein Problem mehr und damit auch nicht mehr so wichtig« (Die Zeit vom 17. 7. 2008). Nun, das ist natürlich politische Korrektheit in einer ans Zynische grenzenden Form. Im ersten Buchteil hatten wir ja bereits Grundlegendes zum hochproblematischen Zustand unseres politischen Systems ausgeführt. Aber auch speziell zur Demokratie gibt es von sehr sachkundiger Seite dramatische Einschätzungen. Als besonders prominente Stimme unter vielen sei Ralf Dahrendorf (2003) zitiert: »Ich stimme zu, dass wir heute eine schwere Krise der Demokratie erleben.« Demokratie war freilich schon immer eine Idee, ein Idealkonzept, dem die Realität nur in seltenen Sternstunden der Geschichte in Sichtweite kommen konnte. Und auch in Zukunft wird wohl nur eine Annäherung an das Ideal möglich sein, denn es gibt eine Fülle theoretischer und praktischer Probleme, die zum Teil aus prinzipiellen Gründen nicht lösbar sind. So gibt es keine einfache und sicher richtige Antwort auf die Frage, ob es so etwas wie einen Mehrheitswillen gibt, wie er ermittelt werden könnte und vor allem, wie er eindeutig in politische Entscheidungen umzusetzen wäre. Der Wille großer Menschengruppen ist manipulierbar und in Abhängigkeit von Tagesereignissen schwankend. Es gibt verschiedene Wahlsysteme und Mischungen davon, die konfligierende Ziele je unterschiedlich zum Kompromiss bringen. Bei der Mehrheitswahl bekommt die Mehrheit die ganze Macht. Das schafft politische Handlungsfähigkeit. Es kann schnell, durchgreifend und konsequent regiert werden: »Politik aus einem Guss«. Bei häufigen Machtwechseln allerdings kann das zu einem Zickzackkurs der Politik mit zerstörerischen Diskontinuitäten führen. Außerdem kann die Mehrheitsregel spalten: Es ist möglich, stark gegen die Interessen auch umfangreicher Minderheiten zu regieren (»Tyrannei der Mehrheit«). Beim Verhältniswahlrecht wird die Macht im Verhältnis zu den abgegebenen Stimmen unter den politischen Gruppen aufgeteilt, was Koalitionsbildungen erzwingt. Das wirkt ausgleichend und integrierend auf Gesellschaften mit stark unterschiedlichen Interessengruppen. Allerdings gerät die politische Entscheidungsfindung sehr aufwändig, langsam und aufgrund vielfältiger Kompromisse inkohärent. Da die direkte Demokratie der griechischen Polis in großen Flächenstaaten nicht mehr praktikabel war, entstand die repräsentative Demokratie, bei der gewählte Volksvertreter den Demos in einem Parlament repräsentieren sollen. Das Problem ist nun: Es gibt keinen Algorithmus, nach dem sich eindeutig bestimmen ließe, welches Wahlsystem für ein bestimmtes Land das Beste wäre. Und: Bei gleicher Stimmabgabe fallen die Ergebnisse je nach Wahlsystem unterschiedlich aus. Der Wahlverlierer bei Mehrheitswahl kann bei Verhältniswahl der Gewinner sein. Weitere mehr praktische und aktuelle Probleme der Demokratie in Deutschland und anderen westlichen Staaten sind: Die Probleme, um die sich politische Entscheidungen heute zumeist drehen, sind oft derart komplex, dass der Durchschnittsbürger immer weniger zu einer eigenen, fundierten Urteilsbildung in der Lage ist. Infolge von Überflutung mit Informationen und Entscheidungsnotwendigkeiten und sonstigen Überforderungen bleibt ihm für Politik auch immer

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weniger Zeit. Und: Die strukturelle Massenverdummung durch zunehmend vermarktlichte Medien führt zum Nachwachsen immer ungebildeterer und uninteressierterer Generationen. Dies vergrößert den ohnehin schon überwiegenden Teil der Ego-Menschen auf Kosten des Anteils der Kulturmenschen – und damit haben wir ein weiteres strukturelles Grundproblem: Es wird zunehmend unmöglich, Entscheidungen auf demokratischem Wege zu Stande zu bringen, die zu Gunsten der Zukunft Verzicht im Hier und Jetzt erfordern. Aber auch der dem wählenden Bürger dargebotene Politikbetrieb selbst wird immer irrelevanter und langweiliger. Nach dem »Scheitern der großen Entwürfe« und insbesondere nach dem von Francis Fukuyama ausgerufenen »Ende der Geschichte« ist die Diskussion um durchgreifendere Gesellschaftsveränderungen, um gesellschaftliche Visionen und Utopien weitgehend zum Erliegen gekommen. Ist es Resignation oder Einfallslosigkeit der politischen und intellektuellen Eliten? Wohl beides. Gibt es Machtstrukturen, die eine Diskussion von Systemfragen in den Medien behindern? Wahrscheinlich auch das. Hinzu kommen die sich immer mehr einschränkenden Gestaltungsspielräume nationaler Politik und Demokratie. Kompetenzen werden in wachsender Zahl an europäische oder globale Institutionen abgegeben. Die Globalisierung ermöglicht es den wirtschaftlichen und kreativen Eliten immer mehr, sich dem verpflichtenden Zugriff nationaler Organe zu entziehen. Das steigert die Macht der Wirtschaftseliten. In Verbindung mit Systemzwängen werden die politischen Organe und Gruppierungen zunehmend systemkonform versklavt, wo sie nicht zuvor schon korrumpiert waren. Und schließlich ist das sehr konsensorientierte politische System in Deutschland extrem entscheidungsträge. Selbst wenn es Visionen gäbe, wäre ein wirksames »Durchregieren« nicht möglich. So kommt es, dass das Für und Wider einer Revision politischer Kleinstentscheidungen wie der Pendlerpauschale oder des öffentlichen Rauchverbots wochenlang die politischen Schlagzeilen in Deutschland zu dominieren vermag. So kommt es, dass die etablierten politischen Parteien sich immer weniger unterscheiden und ihre Programme immer diffuser werden. So kommt es, dass vor der Wahl aufgebauschte und inszenierte politische Unterschiede sich nach der Wahl immer schneller glätten – unter der Wirkung von Systemzwängen. Und die Politiker als Personen? Sie sind Frucht der bekannten Rekrutierungsmechanismen der Parteien (»Ochsentour«). Wichtig sind hier Parteidisziplin, persönliche Loyalität und das Engagement beim Organisieren von Grillfesten. Ideen und Charisma? Kaum etwas könnte bei der Parteikarriere gefährlicher sein. Einen »deutschen Obama«, so sind sich politische Journalisten einig, wird es deshalb kaum geben. Vor diesem Hintergrund muss es niemanden wundern, dass die Politikverdrossenheit wie eine Epidemie grassiert. Eine im Sommer 2008 publizierte Umfrage des Münchner Instituts Polis/Sinus im Auftrag der SPD-nahen Friedrich-EbertStiftung ergab: Jeder dritte Bundesbürger glaubt nicht mehr, dass die Demokratie Probleme löst (in Ostdeutschland mehr als die Hälfte); fast jeder zweite kann sich

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vorstellen, bei der kommenden Bundestagswahl nicht mehr abzustimmen; vier von zehn Deutschen zweifeln, ob die Demokratie überhaupt noch funktioniert. Selbst politikinteressierte Bürger haben immer weniger das Gefühl, am Wahltag vor wirklich substanziellen Entscheidungen zu stehen und für solche Entscheidungen ausreichend harte und trennscharfe Kriterien geboten zu bekommen. Man geht wählen, aber es macht immer weniger Unterschied. Der britische Politologe Colin Crouch nennt diesen Zustand »Postdemokratie«: »Damit meine ich eine Situation, in der zwar alle Institutionen der Demokratie weiter bestehen […], aber gleichzeitig die politische Energie aus ihnen entwichen ist. Sie sind nur noch leere Hüllen« (Der Spiegel 32/2008, S. 134). Es ist, wie er sagt. Und alle Versuche, innerhalb des Systems Lösungen zu finden, werden scheitern. Mit netten Internet-Auftritten der alten Parteien und Politiker ist es da nicht getan. Das Innovationsorgan – Qualifizierte Demokratie: Ich bin davon überzeugt, dass alle Schwierigkeiten in praxi so gut bewältigt werden könnten, dass man dem Geist des Konzeptes Demokratie gerecht wird. Allerdings wären hierzu durchgreifendere Innovationen unseres Politik- und Demokratie-Systems erforderlich und vor allem der Einbezug der modernen Informations- und Kommunikationstechnik im Sinne der E-Democracy. Das »schlagende Herz« der Demokratie, so hatten wir erarbeitet, ist der demokratisch-demagogische Kreis. Wie kann man unter heutigen Bedingungen diesen Kreis aufbauen und vital halten? Eine erste zentrale Maßnahme hatten wir bereits ausführlich besprochen – man kann sie nicht oft genug erwähnen: ein umfassendes und gut funktionierendes Bildungswesen mit einem Zentralfach »Weltbild der Dritten Kultur und persönliche Meisterschaft«. Doch das genügt nicht in Sachen Bildungsvoraussetzungen. Bildung, Informiertheit und politisches Engagement sind derart essentielle Voraussetzungen, dass man sie überprüfen muss. Wenn man zum Steuern eines Autos eine Lizenz braucht, dann sollte das Mitsteuern eines Staates ohne erlaubt sein? Wie kann jemand Wähler sein, der nicht weiß, wie der Bundesfinanzminister heißt? Das ist doch grotesk. Der Wählerstatus darf nicht nur ein Recht sein, er muss auch Verpflichtungen mit sich bringen. Der Wählerstatus muss etwas wert sein, man darf ihn nicht nachgeworfen bekommen, man muss ihn sich verdienen müssen. Ein wichtiger Weg, eine Sache aufzuwerten, ist, sie zu verknappen. Man muss sich um den Wählerstatus bewerben müssen und einen Test zu bestehen haben. Die Schwierigkeit dieses Tests sollte so angepasst werden, dass nach Möglichkeit 60 bis 80 Prozent der Bürger in den Wählerstatus gelangen. Dabei sollten Mindeststandards aber keinesfalls unterschritten und zur Not auch niedrigere Prozentsätze akzeptiert werden – auch die meisten amerikanischen Präsidenten zum Beispiel werden effektiv nur von 10 bis 12 Prozent der amerikanischen Wählerschaft gewählt (was nicht gut, aber offenbar mit heute akzeptierten Standards vereinbar ist). Das Prinzip der Gleichheit wird dadurch nicht verletzt: Alle haben gleiche Chancen, den Wählerstatus zu erwerben.

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Dieser Test könnte relativ unproblematisch auf elektronischem Wege im Rahmen einer elektronischen Demokratie-Infrastruktur erfolgen. Es müsste ein Demokratie-Intranet aufgebaut werden, zu dem jeder Bürger kostenfreien Zugang hat und in dem für jeden Bürger ein eigenes Benutzerportal eingerichtet ist. Auf diesen interaktiven Benutzeroberflächen hätte die Regierung regelmäßig über alle relevanten Aspekte von Gesellschaft und Staat zu informieren. Vor allen Wahlen, Plebisziten und Referenden müssten hier Politiker und Experten ausreichende Vorinformationen liefern. Abstimmungsberechtigt wäre nur der, der diese Informationen auch abgerufen hat. Wähler, die nach bestandenem Test nicht eine Mindestzeit im Monat auf ihrem Portal eingeloggt sind, verlieren ihren Wählerstatus wieder. An Befragungen können alle Bürger teilnehmen, unabhängig vom Wählerstatus. Innerhalb der allgemeinen Wählerschaft könnte man von der beruflichen Qualifikation abhängige Fachwählerschaften berufen. Über diese Portale hinaus sollte es ein Art TV-Agora geben (entwickelt aus dem Parlamentsfernsehen). Hier könnten zu sehr wichtigen Richtungsentscheidungen öffentliche Debatten ausgetragen werden. Diese elektronische Wählerschaft wäre ein Mittelding zwischen Parlament und direkter Demokratie, wobei die Vorteile verbunden und die Nachteile ausgeschieden würden. Das Parlament in seiner heutigen Form, dessen faktische Entmachtung durch Parteien, Regierung und Europa allenthalben beklagt wird, könnte dann abgeschafft werden. Wenn wir einmal beim Abschaffen sind: Die Parteien lösen wir auch gleich auf – ihre Mitgliederzahlen sind ohnehin im freien Fall. Derartige Groß- und Langzeitorganisationen sind für heutige Politikerfordernisse zu global, diffus und schwerfällig. Stattdessen gibt es eine Infrastruktur zur stufenweisen Formierung und Auswahl von Regierungsteams, zum Beispiel nach folgendem Muster: Die Legislaturperiode dauert sechs Jahre, eine Wiederwahl ist nicht möglich. Es gibt einen Ältestenrat, auf dessen Struktur und Funktion wir später genauer eingehen. Hier können sich im ersten Jahr nach einer Wahl Vorregierungsteams mit einem Programm um Zulassung zur ersten Förderungsstufe bewerben. Eine bestimmte Anzahl – sagen wir fünf – wird zugelassen (in begründeten Ausnahmefällen könnten ein bis zwei Nachzulassungen in den zwei bis drei darauffolgenden Jahren erlaubt werden). Für die erste dreijährige Förderungsstufe bekommt jedes der zugelassenen Vorteams einen bestimmten Geldbetrag aus der Staatskasse, der unter anderem die Schaffung von Mitarbeiterstellen ermöglicht. Die Teams hätten als Opposition zur Regierung in Presse, Demokratie-Intranet und TV-Agora zu fungieren und ein Vorregierungsprogramm zu erarbeiten. Dieses hätte aber sehr viel konkreter zu sein als heute übliche Parteiprogramme. Es wäre eine grobe, aber doch ganzheitliche und in den wichtigen Veränderungsbereichen konkrete Beschreibung der Zielgesellschaft vor dem Hintergrund von Begründungen und Realisierungsschritten zu liefern. Dem Leser müsste sich die angestrebte Gesellschaft so plastisch vor Augen stellen, dass er ein deutliches Gefühl dafür entwickeln kann, ob er in dieser Gesellschaft leben möchte oder nicht. In der Mitte der Legislaturperiode, also nach drei Jahren, würde eine Vorwahl stattfinden. Die

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Wählerschaft könnte die Vorregierungsprogramme im Netz lesen und diskutieren, es würde eine Präsentation der Teams in der TV-Agora mit entsprechenden Debatten stattfinden. In der Vorwahl würden aus den fünf bis sieben Vorregierungsteams zwei ausgewählt, die für die drei Jahre vor der eigentlichen Wahl den Status von Regierungsteams erlangen: Sie bekommen jetzt deutlich mehr finanzielle und personelle Mittel und sie dürfen auf den Apparat des Superministeriums zurückgreifen. Ziel ist die Weiterentwicklung des Vorregierungsprogramms zu einem umfassenden, detaillierten und machbaren Regierungsprogramm, so dass nach der Wahl der Regierungswechsel ohne Turbulenzen mit Funktionseinbußen stattfinden kann. Die Hauptwahl würde vom Prinzip her ähnlich ablaufen wie die Vorwahl, nur dass eben nur noch zwei Teams als komplette Regierungsmannschaften mit ihren Konzepten zur Wahl stehen. Wir hätten damit eine reine Mehrheitswahl. Angesichts des Herannahens von Herausforderungen, die schnelles und durchgreifendes Reagieren erforderlich machen werden, scheint dies angemessen. Die wichtigen Momente der Kontinuität und Machbarkeit werden, wie gesagt, vom Superministerium als Gegengewicht ins Spiel gebracht. Damit diese Behörde nicht allzu sehr ein Eigenleben entfaltet, werden von der Regierung fachlich versierte politische Beamte in die einzelnen Ministerien und Staatsinstitute entsandt, außerdem erfolgt eine Kontrolle durch den Ältestenrat. Vielleicht ein wenig in Analogie zum britischen Oberhaus ist der Ältestenrat ein Gremium, in das höchstangesehene und in verschiedenen Lebensbereichen hochverdiente Bürger gewählt werden, und zwar dauerhaft bis zum Erreichen einer bestimmten Altersgrenze. Aus ihrer Mitte wird ein Sprecher oder Präsident gewählt, »die« intellektuell und moralisch herausragende Persönlichkeit des Landes (die vielleicht früher auch einmal ein besonders erfolgreicher Regierungschef war). Hauptaufgaben des Ältestenrates wären Kontroll- und Supervisionsfunktionen, vor allem auch mit Bezug auf Strukturen und Spielregeln des PAS und deren Fortentwicklung in engem Zusammenwirken mit der Nachfolgeinstanz des Bundesverfassungsgerichts. Dem Ältestenrat obläge auch die Zusammenstellung und Supervision jener Gremien, die Vorschläge für das Weltbild der Dritten Kultur, für den State of the Art in Sachen persönlicher Meisterschaft und schließlich für den Kulturkanon erarbeiten. Und sollte eines Tages tatsächlich die Zeit reif dafür sein, dann obläge auch das vorsichtige Fördern einer Bürgerreligion im in Kapitel 2.19 besprochenen Sinne dem Ältestenrat. All dieses wäre alle fünf Jahre neu in Form von Materialien auf verschiedenen Niveaus von Differenziertheit und Schwierigkeit zu publizieren. Auf diese Materialien könnten dann die verschiedenen Bildungsträger bei der Formulierung ihrer zielgruppenspezifischen Inhalte zurückgreifen. Dem Ältestenrat könnte auch eine Art Führungsakademie unterstehen, in dem die Mitglieder der (Vor-) Regierungsteams und sonstige Führungskräfte des öffentlichen Dienstes Weiterbildungen erhalten können (u. a. in persönlicher Meisterschaft und Systemkompetenz).

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Ich will diese sehr grobe Handskizze eines »guten politisch-administrativen Systems« nicht weiter ausdifferenzieren. Eine große Zahl von Detailfragen bliebe zu klären: Wie wäre ein ausreichendes System an »checks and balances« zu etablieren? Wer könnte Gesetzesvorschläge einbringen, wie müssten abgestufte Zustimmungspflichten seitens der Wählerschaft aussehen? Wie wären Vetorechte zu verteilen? Und natürlich: Zentralstaat oder Föderalismus? Ganz sicher müsste es unterhalb der Bundes- oder Zentralstaatsebene noch ein oder zwei lokalere Ebenen der bürgerschaftlichen Mitgestaltung mit entsprechend modifizierten Formen der elektronischen und direkten Information und Partizipation geben. All das würde den lizensierten Wähler-Bürger ein durchaus nennenswertes Quantum an Zeit und Energie kosten. Und dies wird er nur dann aufzubringen bereit sein, wenn der Zeitgeist von einem hochpositiven Sinn-VerheißungsFeld bestimmt wird. Der Bürger muss spüren: Es gibt eine begeisternde Vision von einer guten, glücklichen Gesellschaft, für die dieser Einsatz auch lohnt. Und damit kommen wir von den formal-strukturellen Aspekten zu den mehr inhaltlichen Fragen von Politik- und Gesellschaftsgestaltung.

3.4 Die glückliche Gesellschaft Das größte Glück für die größte Zahl – wie könnte man das ideale Ziel von Politik und Gesellschaftsgestaltung besser formulieren? Nicht nur von eher randständigen Idealisten wie mir, sondern auch von etablierten »Mitträgern des Systems« werden diese im Grunde ja alten Gedanken in letzter Zeit wieder prononciert vorgetragen. So hat etwa der prominente britische Ökonom Richard Layard ein Buch mit dem Titel »Die glückliche Gesellschaft. Kurswechsel für Politik und Wirtschaft« veröffentlicht. Lord Layard, der einer der Direktoren der London School of Economics ist, trägt die empirischen Befunde der Glücksforschung zusammen und fragt nach ihren Konsequenzen für die Gesellschaftsgestaltung. Ganz im Einklang mit wichtigen Grundaussagen dieses Buches heißt es dort: »Wir brauchen nichts weniger als eine Revolution in der Wissenschaft: Alle Gesellschaftswissenschaften müssen zusammen dazu beitragen, das Glück zu untersuchen. Und wir brauchen eine politische Revolution: Glück muss das Ziel der Politik werden, und jedes Land muss die Entwicklung des Glücks genauso messen und bewerten wie die des Bruttosozialprodukts« (Layard, 2005, S. 164). In Erweiterung der Thesen Layards vor dem Hintergrund dieses Buches seien nun wichtige Charakteristika zusammengetragen, die eine »glückliche Gesellschaft« ausmachen, eine Gesellschaft, in der die sozialen Rahmenbedingungen für die Möglichkeit individuellen Glücks in höchstem Maße gegeben sind: 1. Es sollte für einen grundlegenden materiellen Lebensstandard gesorgt sein. Dieser Lebensstandard könnte aber durchaus deutlich niedriger liegen, als wir ihn heute in den westlichen Wohlstandsgesellschaften kennen. Wenn wir

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wieder auf das Niveau der 1970er Jahre zurückkehren würden, dann müsste dies allein unserer Lebenszufriedenheit nicht zwangsläufig Abbruch tun. Es braucht ein umfassendes und gut ausgebautes Bildungssystem, in dem insbesondere die Erziehung zu persönlicher Meisterschaft einen hohen Stellenwert hat. Wichtig ist, dass die Mehrheit der Schüler über die Kulturschwelle gehoben wird, so dass sie ihre Hauptlebensenergie aus Kulturantrieben zu schöpfen vermögen. Nur unter dieser Voraussetzung kann eine hohe Lebenszufriedenheit unter den Bedingungen eines Rückgangs des materiellen Lebensstandards erreicht werden. Viel wichtiger als die Bereitstellung überbordender Konsumgüter ist dann die Verfügbarkeit und breite Zugänglichkeit von Glücks- und Kulturgütern: Kunst und Kultur, Bibliotheken, Bildungseinrichtungen vielfältigster Art und ein freier Internet-Anschluss für jeden Bürger. Vor allem gehört hierzu, dass das Mediensystem primär der Sphäre von Bildung und Kultur zugehört und nicht der Wirtschaft. Die Kommerzialisierung der Medien sollte zurückgefahren werden. Die Werbung wäre einzuschränken und für die Zielgruppe Kind gänzlich zu verbieten. Das Niveau der Inhalte wäre deutlich anzuheben und von Quotenmessungen zu entkoppeln. Darstellungen von Gewalt und Sex wären sehr viel strenger zu begrenzen. Es ist dringend geboten, auch eine bessere Kontrolle des Internet diesbezüglich technisch zu ermöglichen, etwa durch eine elektronische Ausweispflicht beim Betreten der Datenautobahn, die es ermöglicht, jeden ins Netz gestellten Inhalt eindeutig seinem Lieferanten zuzuordnen. Es gilt, die Masse-Gesellschaft in eine Klasse-Gesellschaft zu transformieren: Jeder Einzelne ist von unermesslichem Wert. Jeder Einzelne hat Anspruch auf eine optimale Förderung und Fürsorge gemäß Wissen und Möglichkeiten der Zeit. Insbesondere gilt dies für die Phasen von Bildung und Ausbildung in Kindheit und Jugend wie auch für die Zeit von Alter und Krankheit. Vor allem wäre die Unterstützung bei psychischen Problemen zu verbessern. Um an dieser Stelle nicht in den naheliegenden Verdacht zu geraten, meine eigene Profession fördern zu wollen, darf ich Richard Layard zitieren, der auf der Basis vorliegender Zahlen und Studien die Sachlage zusammenfasst: »Psychische Erkrankungen sind vermutlich die wichtigste Ursache für Leid in westlichen Gesellschaften. Nach Auskunft der Weltgesundheitsorganisation WHO sind sie für die Hälfte aller Behinderungen verantwortlich. […] Jeder Dritte von uns leidet irgendwann im Leben unter einer ernsten psychischen Erkrankung, eingeschlossen die rund 15 Prozent, die einer Phase schwerer und klinischer Depression begegnen müssen. […] In den fünfziger Jahren gab es die ersten Durchbrüche in der Behandlung mit Medikamenten, und in den Siebzigern gelangen auch der Psychotherapie revolutionäre neue Erkenntnisse, besonders in der kognitiven Verhaltenstherapie. […] Die Kosten dieser Therapien sind gering im Vergleich zu der Lebenszufriedenheit, die sie den Patienten bringen. Trotzdem bekommt die Mehrheit der psychisch Kranken

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keine Behandlung. […] Es ist ein Skandal, wie wenig Geld für psychische Erkrankungen aufgewendet wird« (Layard, 2005, S. 200 f.). Zur Sicherstellung eines solchen optimalen Förderungsauftrages könnte langfristig der ja ohnehin erkennbare Trend einer Abnahme der Bevölkerungszahl hilfreich sein. Es ist evident, dass unser Schulfach »Persönliche Meisterschaft« und weitere diesbezügliche Bildungsangebote, beispielsweise in Volkshochschulen, den Problemdruck durch psychische Störungen erheblich reduzieren würden, zumindest langfristig. 6. Die Gesellschaft muss die Bedingungen der Möglichkeit von wechselseitigem Verstehen, gelingender Kooperation und vertrauensvoller, bergender Gemeinschaft reproduzieren. Neben der Erziehung zu persönlicher Meisterschaft wäre das vor allem durch die konsensuelle Erarbeitung und Vermittlung eines Weltbildes der Dritten Kultur einschließlich gemeinsamer Werte und Normen zu erreichen. Nach Möglichkeit sollte dies im Rahmen einer vernunftgegründeten, positiven Bürgerreligion stehen – wie Studien gezeigt haben, sind Menschen, die einem positiven Glauben anhängen, gesünder und glücklicher. All dies würde die Bildung von Vertrauen und das Knüpfen tragfähiger sozialer Netze ermöglichen. Darüber hinaus gilt es, die Familie zu fördern: familienfreundliche Arbeitsbedingungen, insbesondere Stärkung aller Momente, die es erlauben, die von der Wirtschaft vielbeschworene, gleichwohl aber immens gesellschaftsschädliche Mobilität zu reduzieren. Idealerweise sollte die für ein gutes Leben notwendige, »fremdbestimmte« Arbeitszeit nicht über 30 Wochenstunden liegen. 7. Für Fortschritt und Veränderung braucht es den Wettbewerb. Allerdings sollte dieser Wettbewerb einen bestimmten Grad an Härte nicht überscheiten und sich an die Regeln von Anstand und Fairness halten. Eine bedingungslose soziale Absicherung für alle Bürger wäre gut und sinnvoll (z. B. in Form eines Grundeinkommens nach Götz Werner oder als »Zwei-Systeme-Lösung«; s. Kapitel 3.5, 3.6). 8. Aus Gründen der Gerechtigkeit und auch als Mitstimulans für Leistung wird man soziale Unterschiede zulassen müssen. Mit Blick auf Glück und Gesundheit der Bürger dürfen diese Unterschiede allerdings ein bestimmtes Maß nicht überschreiten. So weiß man aus Studien, dass die Menschen, unabhängig vom absoluten Niveau des Einkommens, in den Ländern am längsten leben, in denen die sozialen Unterschiede am geringsten sind (in Japan und Schweden etwa, aber auch im südindischen Kerala). Entlohnungssysteme sollten nicht in übertriebenem Maß dem Leistungsprinzip folgen. Idealerweise könnte sich eine Entlohnung in etwa wie folgt zusammensetzen: 50 Prozent gesicherter Grundlohn, 35 Prozent subjektive Leistung (Engagement und Anstrengung, Unterstützung anderer, Einsatz für die Gemeinschaft etc.) und 15 Prozent objektiv messbare Leistung. Umverteilung von oben nach unten hebt das durchschnittliche Glücksniveau einer Gesellschaft, aber nicht nur, weil es gravierende soziale Unterschiede und damit Missgunst und Stolz

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reduziert, sondern auch, weil dadurch oben kein Minus in Sachen Lebenszufriedenheit entsteht, unten aber sehr wohl ein Plus. (Sie erinnern sich: Oberhalb einer bestimmten Schwelle trägt Reichtum nicht mehr zur Lebenszufriedenheit bei.) Aber auch in anderen Bereichen ist der Matthäus-Effekt zu begrenzen: So kann es beispielsweise nicht zugelassen werden, dass eine Handvoll »Alpha-Journalisten« und -Moderatoren die Medienszene unter sich aufteilen. 9. Die Gesellschaft muss möglichst einfache, transparente und effiziente Verwaltungsstrukturen aufweisen, die ein Höchstmaß an Verlässlichkeit, Rechtssicherheit und Gerechtigkeit sicherstellen. Es ist insgesamt für ein hohes Maß an Berechenbarkeit und Prognostizierbarkeit zu sorgen. 10. Die Gesellschaft sollte sich das mögliche Maximum an Freiheit, Toleranz und Liberalität gestatten. Sofern das Bildungssystem intakt ist und sich ein positives Sinn-Verheißungs-Feld aufbauen kann, wird sich auch ohne Zwang eine ausreichende Zahl von Bürgern im Sinne des Gemeinwohls und der wichtigsten Grundnormen verhalten. 11. Die Gesellschaft sollte ein hohes Maß an politischer und bürgerschaftlicher Partizipation ermöglichen, sie muss ein demokratisches System aufbauen, das diesen Namen auch wirklich verdient (z. B. im Sinne der vorbeschriebenen »qualifizierten elektronischen Demokratie«). 12. Die verschiedenen Bereiche der Gesellschaft müssen ausreichende Möglichkeiten für Arbeit, Dienstleistung, selbständiges Unternehmertum und Selbstverwirklichung bieten. Eine im hier beschriebenen Sinne intakte »glückliche Gesellschaft« würde in sehr viel höherem Maße Eigeninitiative hervorbringen, als dies gegenwärtig der Fall ist. Insgesamt sollte es den Bürgern möglich sein, ein starkes Gefühl der Selbstwirksamkeit aufzubauen: Ein selbstbestimmtes Verhalten muss als wirksam erlebbar sein in Bezug auf die Gestaltung des eigenen, aber auch des sozialen Lebens, es muss möglich sein, sich selbstbestimmt Ziele zu setzen, und es müssen Wege erkennbar und Mittel verfügbar sein, diese Ziele auch zu erreichen. 13. Ein zentrales gesellschaftliches Ziel ist die Erhaltung und (Re-)Kultivierung des »Gartens Erde«: Säuberung der natürlichen Umwelt und Wiederherstellung einer überbordenden Flora und Fauna sowie die Ermöglichung eines naturdurchsetztes Wohnens und Lebens. 14. Als entscheidendes Moment des positiven Sinn-Verheißungs-Feldes sollte die Gesellschaft über eine explizite postmaterialistische Vision verfügen, mit der sich eine Mehrheit der Bürger sinnstiftend identifizieren kann. Teil dieser Vision sollte die Verbesserung des Zusammenlebens, die Sicherung des Langzeitüberlebens und ein positiver Beitrag zur Formierung einer »guten Weltgesellschaft« sein. Wie steht es in unserem Land um diese Punkte? Wie wird die Politik ihrer eigentlichen Aufgabe, das Glück zu organisieren, gerecht? Nun, aufs Ganze gesehen

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nicht wirklich gut. Politische Diskussionen drehen sich vorwiegend um die Steigerung des Konsums. Es geht um Wachstum und Löhne, und auch Themen wie Gerechtigkeit oder Freiheit werden überwiegend unter dem Blickwinkel von Einkommensverteilung und Wohlstandsmehrung diskutiert. Der materielle Gesamtreichtum unserer Gesellschaft liegt aber weit über dem, der für ein Leben in Glück und Zufriedenheit nötig wäre. Während sich die Einkommen in den westlichen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg vervielfacht haben, ist die Lebenszufriedenheit nicht angestiegen, ja sie verschlechtert sich sogar. Das liegt daran, dass die realen Entwicklungen den meisten unserer 14 Punkte zuwiderlaufen. Im ersten Teil des Buches wurde das ausführlich dargestellt – wir wollen es hier nicht noch einmal ausbuchstabieren. Auch wenn einige dieser Punkte wie etwa die Härte des Konkurrenzkampfes vom weltwirtschaftlichen Umfeld abhängen und daher nur sehr eingeschränkt national zu kontrollieren sind, so ließe sich doch unter den gegebenen Rahmenbedingungen sehr viel mehr zur Förderung unserer sozialen Glücksbedingungen tun. Das soweit ich sehe einzige wirklich durchgreifendere sozialreformerische Konzept, das seit einigen Jahren ernsthaft diskutiert wird, ist das bedingungslose Grundeinkommen. Schon von Erich Fromm oder Ralf Dahrendorf vor Jahren diskutiert, wurde es kürzlich vom Gründer und Gesellschafter der Drogeriemarktkette dm Götz Werner (2007) weiter ausgearbeitet und breiter popularisiert.

3.5 Bedingungsloses Grundeinkommen? Werner argumentiert, dass die steigende Produktivität immer mehr Menschen aus der Wirtschaft freisetze, die dann auch bei bestem Willen keine Chance mehr auf einen klassischen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz haben. Recht besehen, sei das aber weniger eine Not als eine Tugend, weil es Freiräume schaffe für Kultur, Bildung, Selbstverwirklichung und Arbeit, die zwar gesellschaftlich notwendig ist, aber bisher nicht bezahlt wird (z. B. Kindererziehung, Pflege von Angehörigen). Verschärft durch diese Situation, aber eigentlich schon aus Prinzip, sei ein Grundeinkommen als Existenz- und Kulturminimum ein unbedingtes Grundrecht, das sich auch aus dem Grundgesetz ableiten ließe. Dieses Grundeinkommen, so Werners Vorschlag, sollte der Staat grundsätzlich allen Bürgern auszahlen. Dies würde erhebliche kreative und motivationale Kräfte in der Gesellschaft freisetzen. Die Menschen könnten freier wählen, welche Arbeit zu ihren Talenten und Interessen passt, und auch den Unternehmen wäre es möglich, sich von unpassenden Mitarbeitern schneller zu trennen. Der Mut zum selbständigen Unternehmertum würde gestärkt, es würde viel mehr Arbeit in Bereichen wie Kultur, Bildung und Soziales geleistet. Und auch die Legitimierung einer unpro-

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duktiven Selbstverwirklichung müsste als soziokultureller Fortschritt gewürdigt werden. Über die teilweise Selbstfinanzierung durch Entfallen einer gigantischen Bürokratie hinaus sei das durch eine Umstellung unseres Steuersystem von Ertragssteuern auf eine ausschließliche Konsumsteuer zu finanzieren (im Sinne der heutigen Mehrwertsteuer). Ertragssteuern würden den Wertschöpfungsprozess behindern und verzerren: Sie entzögen den Unternehmen für Investitionen benötigte Gelder und es würden wirtschaftlich unsinnige Entscheidungen nur aus Gründen der Steuerersparnis getroffen. Eine Konsumsteuer jedoch würde die Eigenlogik des Wirtschaftens unbeeinträchtigt lassen und sei sozial gerechter. Denn schließlich begingen die Reichen ihren Frevel ja nicht, wenn sie ihren Reichtum sinnvoll investierten, sondern ihn im Übermaß konsumierten. Und eben dieser Luxuskonsum könne über eine für Luxusgüter extrem hohe Mehrwertsteuer gut abgeschöpft werden und hier gäbe es auch keine Steuerflucht. Grundsätzlich erscheinen mir die Argumentationen Werners überzeugend und schlüssig (in den steuertechnischen Fragen allerdings reicht meine Kompetenz nicht für ein begründetes Urteil). Allerdings glaube ich, dass es Unsicherheiten gibt, die vielleicht durch Ergänzungen reduziert werden könnten. Der von der Fraktion der Skeptiker in der öffentlichen Diskussion hauptsächlich ins Feld geführte Zweifel ist: Würde nach Entfallen wirtschaftlicher Zwänge bei einer ausreichenden Zahl von Menschen die Motivation zu Arbeit, Anstrengung und Leistung ausreichend hoch sein? Nun, würde man das Grundeinkommen unter heutigen Bedingungen quasi über Nacht einführen, hätte auch ich da meine Zweifel. Für einen produktiven Umgang mit einer solchen umfassenden Freiheit braucht es ein erhebliches Maß an Selbst- und Sozialkompetenz. Sich selbst realistische Ziele setzen, diese Ziele mit Beharrlichkeit verfolgen, den Tag selbstbestimmt strukturieren und diese Struktur mit Selbstdisziplin durchhalten, mutig genug sein, mit eigenen Ideen auf fremde Menschen zuzugehen, sich in die Struktur einer Firma einfügen, Kompromisse eingehen und Frustrationen aushalten, auch wenn man jederzeit ungestraft Nein sagen und einfach gehen kann – all das muss man gelernt haben. Aus eigener Erfahrung mit langjähriger Teilzeittätigkeit weiß ich, wie schwierig das ist. Bei der derzeitigen abnehmenden Reproduktionsrate dieses Mentalkapitals, fürchte ich, würden koordinierte ökonomische Prozesse mit produktivem Ausgang immer seltener zustande kommen. In meiner therapeutischen Tätigkeit habe ich zu viele Jugendliche kennengelernt, die absolut unfähig waren, morgens zu einer festgesetzten Zeit das Bett zu verlassen. Selbst wenn die Motivationsgrundlage anfangs da ist – ohne trainierte Selbststeuerungsfähigkeiten entstehen in absoluter Freiheit schnell Teufelskreise, die häufig in Passivität, Depression oder gar Drogenkonsum enden. Und wenn es nicht um das Besetzen von vorhandenen Stellen geht, sondern um das Kreieren eigener Projekte und Unternehmen: Hierzu braucht es neben

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Wissen und Kompetenzen in hohem Maße intrinsische Motivationen auf Basis starker Kulturantriebe. All das muss in Kindheit und Jugend gelernt und entwickelt werden. Kurzum: Ich bin der festen Überzeugung, dass das Konzept Grundeinkommen nur dann eine Chance hat, wenn es durch das Konzept »Reform und Ausbau des Bildungswesens« ergänzt würde, einschließlich eines Faches »Persönliche Meisterschaft«. Für eine Bindung des Grundeinkommen an eine Verpflichtung zur Bildung und Weiterbildung plädiert auch der Soziologe Wolfgang Engler (2007). Bezüglich des von Götz Werner vorgeschlagenen Steuersystems möchte ich einen schon zu Beginn des Buches geäußerten Gedanken wiederholen: Reichtum vermehrt sich nicht nur, und ab einem bestimmten Punkt nicht einmal mehr überwiegend, kraft der Kompetenz und Anstrengung seines Besitzers. Er vermehrt sich kraft des Matthäus-Effektes eigendynamisch immer schneller. Solange er von »guten Reichen« produktiv und verantwortlich investiert wird, mag man das tolerieren. Allerdings: Ist es in Ordnung, wenn Menschen viele Millionen erben, einen eher kleinen Teil davon für humanitäre Projekte spenden, und dafür dann als Altruisten und Weltenretter gefeiert werden? Mit Leistungsgerechtigkeit hat das nichts zu tun. Und ganz sicher gibt es nicht nur »gute Reiche«. Über wie viel unverdient immer schneller anwachsende Macht dürfen oft wenig bekannte Einzelpersonen völlig unkontrolliert gebieten? Was, wenn ein milliardenerbender »Doktor No« Atomwaffen und ganze Armeen kauft? Riesige Geldvermögen sollten wohl schon einer Mitkontrolle durch die Gemeinschaft unterliegen (die dann allerdings auch eine wirklich funktionierende Gesellschaft sein müsste). Eine zweite zentrale Gruppe von Einwänden dreht sich natürlich um die Bezahlbarkeit: Wäre ein Grundeinkommen, das nicht nur nacktes Existenzminimum, sondern wirkliches Kulturminimum ist, das also eine ausreichende Teilnahme am kulturellen Leben ermöglicht, finanzierbar? Die Antwort auf diese Frage hängt natürlich von der schwer kalkulierbaren Lösung des erstdiskutierten Problems ab: Welche wertschöpfenden Kräfte würden unter diesen Bedingungen freigesetzt? Das verwandte Konzept eines »solidarischen Bürgergeldes«, wie es Thüringens ehemaliger Ministerpräsident Dieter Althaus vorgeschlagen hat, wurde von der Konrad-Adenauer-Stiftung einmal »durchgerechnet« und für finanzierbar befunden. Allerdings liegen die dabei abgestuft ausgezahlten Beträge zum Teil deutlich unter dem, was heute ein Hartz-IV-Empfänger bekommt – von einem Kulturminimum könnte also schwerlich die Rede sein. All diese Überlegungen gehen implizit davon aus, dass sich für die fernere Zukunft unser gegenwärtiges Wohlstandsniveau halten oder sogar noch anheben ließe. Ich bin sehr unsicher, ob dies realistisch ist. Im ersten Buchteil hatten wir eine Fülle von Faktoren angeführt, die in Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit an unserem Wohlstand zehren werden: wirtschaftlicher Aufstieg anderer Weltregionen, Rohstoffverknappung, Umwelt- und Klimaschäden, wachsende innergesellschaftliche Reibungsverluste infolge des Verlusts von Sozialkapital, intrinische

Die Zwei-Systeme-Lösung

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Erschöpfung des kapitalistischen Systems und des Fortschritts in vielen Bereichen unter Wirkung der Sigmafalle. Zwar dürfte sich demographiebedingt der Mangel an hochqualifizierten Fachkräften in Zukunft noch verstärken, zugleich aber wird das System in der Tendenz immer weniger Arbeitsplätze zur Verfügung stellen und vor allem für wenig Qualifizierte kaum mehr Beschäftigungsmöglichkeiten bieten. So wird die Tendenz einer Minderung des gesellschaftlichen Reichtums wohl ergänzt werden durch die Tendenz einer Zunahme jenes Bevölkerungsteils, der wegen geringer Qualifikation oder aus Altersgründen aus dem System der Erwerbsarbeit verbannt ist. Das Szenario, was sich daraus ergibt, trägt den Namen Brasilianisierung. Ein letzter kritischer Aspekt: Natürlich würde durch das Konzept eines Grundeinkommens an der heutigen Spaltung der Gesellschaft in relativ reiche Arbeitende und relativ arme Unterstützungsempfänger nichts geändert – und beide Klassen würden weiterhin überwiegend durchmischt leben: Der autolose Stützeempfänger hat in Sichtweite einen Nachbarn, der Porsche fährt. Auch das alte Wertegefüge der Leistungs- und Konsumgesellschaft bliebe dominant: Luxus und Status bestimmen den Wert eines Menschen. Und der Ersatz von Hartz IV durch ein Bürgergeld allein würde ja auch noch keinen besseren Zugang zu Kultur und Bildung eröffnen. Theaterkarten oder Bücher blieben weiter kaum erschwinglich und selbst der Fahrschein in die Bibliothek wäre nicht aus der Portokasse zu bezahlen. An dem Grundempfinden des Entwertet- und Ausgeschlossensein würde sich also kaum etwas verändern. Sollten also die ja schon heute im Gange befindlichen Entwicklungen hin auf eine Brasilianisierung weiter an Fahrt gewinnen, dann werden Konzepte wie Grundeinkommen oder Bürgergeld nicht ausreichen, um ihre fatalen Folgen abzufangen. Ihre Intentionen müssten dann in einem komplexeren Ansatz aufgehoben sein. Im Folgenden möchte ich einen solchen möglichen Ansatz als Zwischenschritt hin zu einer »glücklichen Gesellschaft« skizzieren.

3.6 Die Zwei-Systeme-Lösung Aufs Ganze gesehen, wären wir für eine ungewisse Zukunft offenbar am besten mit einem Zwischenschritt gerüstet, der drei Kriterien gleichermaßen erfüllt: 1. Existenzminimum: eine unbedingte soziale Absicherung aller Bürger. 2. Kulturmaximum: ein Maximum an Kultur-, Bildungs- und Glücksgütern gemäß dem aktuellen Stand der Glücksforschung. 3. Im Angesicht drohender Wohlstandseinbußen sollte dies so organisiert werden, dass es zur Not mit geringstem finanziellem Aufwand realisiert werden kann.

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Glücklicherweise gibt es zwischen diesen drei Bedingungsgefügen Synergien, die die Möglichkeit eröffnen, aus der Not eine Tugend zu machen: Die wahren Glücksgüter sind zumeist billig, reduzierter Konsum spart mentale Energie und hilft, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Wenn man bestimmte Dinge in Gemeinschaft organisiert, kann das das Glück fördern und zugleich kostengünstiger sein. Wie schon angesprochen, sind einige Punkte unserer 14 Glücksbedingungen aus Kapitel 3.4 nur schwer mit den Erfordernissen einer Wettbewerbsfähigkeit in der globalen Wirtschaft zu vereinbaren. Solange es nicht gelingt, die Spielregeln des globalen Kapitalismus zu modifizieren, ist der Erhalt dieser Wettbewerbsfähigkeit aber überlebenswichtig. Auch wenn in einer glücklichen Gesellschaft das Konsumniveau deutlich sinken könnte, so bliebe sie doch auf eine Vielzahl von Importen angewiesen – und das setzt eben voraus, dass man auch etwas zum Exportieren hat. Ein radikaler, gewaltsamer Systemumbruch, wie er von den Marxisten versucht und auch heute noch teilweise gefordert wird, würde ein Land aus der Weltwirtschaft auskoppeln und müsste deshalb im Desaster enden. Doch ist es ein Newton’sches Gesetz, dass es innerhalb der Grenzen eines Staates nur ein System geben kann? Gab und gibt es nicht zum Beispiel in der Republik Israel in Form der Kibbuzim sozialistisch-kommunistische Genossenschaften, die über acht Jahrzehnte gut funktionierten und sogar wirtschaftlich sehr erfolgreich waren? Warum in der letzten Zeit auch hier Desintegrationstendenzen die Oberhand gewonnen haben, hat wesentlich mit gesamtgesellschaftlichen Problemen in Israel zu tun und soll an dieser Stelle nicht untersucht werden. Jedenfalls hat das Kibbuz-Experiment gezeigt: Entfallen ideologische Verabsolutierungen, ist offenbar eine gedeihliche Koexistenz unterschiedlicher Wirtschaftssysteme innerhalb der Grenzen eines Staates möglich. Dann könnte man durchaus daran denken, wachsende Inseln einer neuen glücklichen Gesellschaft im Schoße der alten, materialistisch-konsumistischen Gesellschaft großzuziehen. Im »marktwirtschaftlichen Sektor« ginge es vorrangig um die Erhaltung und den Ausbau der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und um die Erwirtschaftung materiellen Reichtums. Die hier mobilisierbaren »Sozialabgaben« flössen dann in den zweiten Sektor – nennen wir ihn kurz »Kultursektor« –, der alle nicht in die klassische Erwerbsarbeit integrierbaren Menschen aufzufangen hätte. Und diese Mittel würden nun nicht, wie bisher, mit dem Ziel ausgegeben, den materiellen Lebensstandard der »Herausgefallenen« so hoch wie möglich zu halten – sie werden entsprechend den Erkenntnissen der modernen »Glücksforschung« verteilt. Auf Wohnanlagen einer bestimmten Größe müssten Gemeinschaftseinrichtungen kommen, die neben den Chancen der sozialen Vernetzung ein Maximum bieten in Sachen Kultur und Bildungsmöglichkeiten: Computerarbeitsplätze mit freiem Internetzugang, Bibliothek und E-Books, ausgestattete Seminarräume, Sportstätten, nach Möglichkeit auch Einrichtungen wie Theaterbühnen, Musikprobenräume mit Instrumenten, Ateliers etc. Darüber hinaus

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sollten die Bewohner des Kultursektors freien Zugang auch zu allen öffentlichen Bildungs- und Kultureinrichtungen haben und Freifahrkarten für die öffentlichen Verkehrsmittel erhalten. Jede dieser Kultur- und Bildungsinseln könnte von einem Sozialarbeiterteam gemanagt werden, das das Gemeinschaftsleben organisiert und die Kontakte nach außen hält, beispielsweise was die Vermittlung von Arbeitsplätzen oder Projektaufträgen angeht. Natürlich sollten soviel Gemeinschaftsaufgaben wie möglich von den Einwohnern selbst in demokratischer Selbstverwaltung übernommen werden. Dies gilt insbesondere für Kurse und Weiterbildungen. Alle innerhalb der Einwohnerschaft verfügbaren Kompetenzen könnten intern in Seminaren zur Weitergabe angeboten werden: Sprachkurse, Fahrschule, Flötenunterricht, Computerkurse oder Rhetorikseminare. Kurse in persönlicher Meisterschaft und Selbsthilfegruppen für die je aktuell virulenten Probleme sollten Standard sein. Neben dem Bildungswesen müssten die Kulturinseln zu einem weiteren Zentrum der Aneignung und Weiterentwicklung von persönlicher Meisterschaft werden, denn gerade hier wird ja eine positive Selbststeuerungsfähigkeit in höchstem Maße gebraucht. Darüber hinaus sollte es innerhalb des Kultursektors eine eigenständige Universität geben, die soweit es geht wieder von den Bewohnern selbst getragen wird, aber auch über hauptamtliche, hochqualifizierte wissenschaftliche Angestellte verfügt. In Weiterentwicklung von Ansätzen wie etwa der Fernuniversität Hagen könnten hier vorwiegend internetbasierte Studiengänge und Weiterbildungen auf hohem Niveau entwickelt und angeboten werden, die für einen etwaigen Wiedereinstieg in den marktwirtschaftlichen Sektor qualifizieren und sich speziell auch auf dessen Bedarf einstellen. Diese Universität würde eigenständige Studien für öffentliche oder private Auftraggeber leisten, aber auch Zuarbeiten für die »normalen« Universitäten erledigen. So könnte im Idealfall der gesamte Kultursektor in weiten Teilen den Charakter einer einzigen Großuniversität erlangen, wodurch Lernen, Bildung und persönliche Weiterentwicklung in der allgemeinen WerteHierarchie nach ganz oben gelangten. Aber natürlich sollten Städte und Gemeinden auch freiwillige Arbeitsteams für einfache Aufgaben anfordern können, von Wahlhelfern bis zur Pflege von Grünanlagen. So sollten sich zwischen beiden Sektoren der Gesellschaft auf vielen Ebenen Synergien etablieren: Der Ausgebrannte wechselt in den Kultursektor, um sich zu regenerieren und persönlich weiterzuentwickeln. Der hinreichend Weiterqualifizierte wechselt wieder auf eine Anstellung in den Marktwirtschaftssektor oder versucht sich dort mit einer Unternehmensgründung. Im Sinne des von uns geforderten Organisationenlernens sollte auf den einzelnen Kulturinseln natürlich auch mit verschiedenen Formen und Strukturen von Verwaltung und Zusammenleben experimentiert werden, einschließlich zentraler wissenschaftlicher Auswertung, Erfahrungsaustausch und Empfehlungen. Hieraus könnten wichtige Beiträge entstehen zum Aufbau unserer »guten, glücklichen Gesellschaft«.

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Auch basale Wohneinrichtungen, eine gesundheitsförderliche Verpflegung sowie ein kleines »Taschengeld« könnten frei und bedingungslos zur Verfügung gestellt werden. Umfang und Komfort all dessen würde sich nach den je verfügbaren wirtschaftlichen Möglichkeiten richten. Diese hängen von der möglichen Höhe der Sozialabgaben seitens des marktwirtschaftlichen Sektors ab, können aber durch die beschriebenen Dienstleistungsaktivitäten der Kulturinseln aufgebessert werden, die von den Auftraggebern vergütet werden – nicht üppig, aber doch so, dass ein Anreiz besteht. Und auch die einzelnen Bewohner der Kulturinsel sollten ihr Engagement für Dienstleistungsprojekte und Gemeinschaftsaufgaben durch eine Aufstockung ihres Taschengeldes oder den Anspruch auf komfortablere Unterkünfte entlohnt bekommen. Durch diese Gemeinschaftsversorgung könnten die materiellen Lebensgrundlagen auf eine maximal kostengünstige Weise gesichert werden – sehr viel kostengünstiger als im heutigen Sozialstaat. In der Not sollte hier und nicht bei den Kultur-, Bildungs- und Glücksgütern gespart werden. Im Extremfall täte es auch eine klosterähnliche Lebensweise. Und diese Not ist ja mit einer großen Tugend verbunden: Nicht nur, dass dadurch die Mittel für die Kulturgüter frei werden, es enstehen so förderliche Umstände, Gemeinschaft zu bilden und diese Gemeinschaft für das persönliche Glück und die persönliche Weiterentwicklung zu nutzen. All das natürlich ohne Zwang – Familien können sich weitgehend separieren, wenn sie mögen, der Einzelgänger kann auf seiner Stube bleiben und wem gar nicht zu helfen ist, der mag den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzen und Bier trinken, so lange das Taschengeld reicht. Aber viele Menschen, die heute unter der Isolation des Arbeitslosen in guten Wohngegenden oder unter den rohen sozialen Bedingungen verslumender Problemviertel leiden, würden diese Chancen auf Bildung, Kultur und Gemeinschaft wohl mit Freuden nutzen. All das entspräche unseren wahren evolutions- und glückspsychologischen Veranlagungen sehr viel mehr als die Lebensweise des heutigen Durchschnittsbürgers. Die landesweit verteilten Kulturinseln sollten vernetzt sein und kooperieren, sowohl untereinander als auch mit dem sonstigen öffentlichen Dienst und der Privatwirtschaft. Es wäre anzustreben, dass sie sich in Sachen Dienstleistungen und vielleicht auch in der Produktion einfacher Gebrauchsgüter so weit es geht selbst versorgen. In einer ersten Phase hätte der Kultursektor die Aufgabe, alle erzwungenermaßen arbeitslosen oder arbeitsunfähigen Menschen und wohl auch die arbeitsunwilligen Zeitgenossen aufzufangen. Er sollte ein Hort der Bildung und Kultur werden und dabei das Ganze ins Positive wenden: Ist nicht das Freisein von fremdbestimmter Arbeit und die Möglichkeit für Muße und Selbstverwirklichung eine sehr positive Menschheitsutopie? Ist nicht das Erlernen des Umgangs mit dieser Situation wirkliche Pionierarbeit? Könnte hier nicht den heute Ausgestoßenen die Rolle der eigentlichen Avantgarde zuwachsen, einer Avantgarde, der es aufgegeben ist, die positive Vision eines zukünftigen Zusammenlebens in Muße und Freiheit zu entwickeln und zu erproben, eines Zusammenlebens, das seinen Hauptsinn in der Entwicklung von Beziehungen und Kooperation, von

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Bildung, Wissenschaft und Kunst findet? Indem die Kulturinseln dies verkörpern und ausstrahlen, könnten sie entscheidend zu einem positiven gesellschaftlichen Klima beitragen, könnten sie wichtige Generatoren eines positiven Sinn-Verheißungs-Feldes werden. Das wäre auch deshalb überlebenswichtig, weil es dazu beitragen kann, das Land für die Eliten, für Wohlhabende und Unternehmen attraktiv zu halten. Denn nur, wenn diese Kräfte in irgendeiner Form Nutzen aus dem Kultursektor ziehen, werden sie bereit sein, ihn freiwillig mitzufinanzieren. Und mittelfristig scheint eine andere Form der Finanzierung unter den schwerlich rückbaubaren Bedingungen der Globalisierung kaum vorstellbar. In der Langzeitperspektive könnte aus dem Kultursektor durch systematisches Organisationenlernen die elektronisch und äquivalenzökonomisch regulierte Gemeinwirtschaft hervorgehen, die den Kapitalismus dereinst wohl wird ablösen müssen, wenn der Ast dann einmal abbricht, auf dem er einerseits sitzt und an dem er andererseits zu sägen nicht lassen kann. Auch wenn das derzeit noch nicht wirklich populär ist – irgendwann werden wir uns diesen Fragen wieder stellen müssen. Und im Gefolge der großen Krise wächst ja die Bereitschaft hierzu auch wieder. So lautet etwa einer der letzten Sätze aus Peter Sloterdijks »Du musst dein Leben ändern«: »Wenngleich der Kommunismus von vornherein ein Konglomerat aus wenigen richtigen und vielen falschen Ideen war, sein vernünftiger Anteil: die Einsicht, dass gemeinsame Lebensinteressen höchster Stufe sich nur in einem Horizont universaler kooperativer Askesen verwirklichen lassen, muss sich früher oder später von neuem geltend machen« (Sloterdijk, 2009, S. 713).

3.7 Von der Marktwirtschaft zur elektronischen Regulationswirtschaft Im Vorfeld wurden die negativen Folgen der rasenden Vermarktlichung von immer mehr Bereichen der Gesellschaft beklagt. Wir haben dargestellt, wie dies – dem neoliberalen Selbstlauf überlassen – das Gemeinschaftskapital einer Gesellschaft aufzehrt und sie mit der wahrscheinlichen Perspektive einer Brasilianisierung ihrem Zerfall entgegentreibt. Wir hatten dann verschiedene Maßnahmen entwickelt und besprochen, die diesem gesellschaftlichen Zerfall entgegenwirken: unser Schulfach »Weltbild der Dritten Kultur und persönliche Meisterschaft«, was den Schwerpunkt von den Konsumbedürfnissen zu den Kulturbedürfnissen verlagert, eine elektronische, qualifizierte Demokratie, ein institutionalisiertes systematisches Organisationenlernen sowie die eben diskutierte »Zwei-SystemeLösung«. All dies würde zum Teil als indirekter Nebeneffekt, aber auch als direkt intendierte Wirkung die Kommerzialisierung einschränken, ihre Negativeffekte dämpfen und die kulturell begründete, identifikatorische Gemeinschaft stärken. Die heilige Kuh unserer Zeit, den Markt, haben wir bisher am Leben gelassen.

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Jetzt sollten wir einmal den Mut haben, uns auf das ideologisch vermiente Feld dieser »Systemfrage« zu wagen. Was ist der Markt? Wie gut ist er? Muss es ihn bis ans Ende der Menschheitstage geben? Oder wäre es möglich, ihn positiv in einem anderen System aufzuheben? Der Markt, so hatten wir festgestellt, ist eine Erscheinungsform vitaler Evolution: Es wird eine Vielzahl mehr oder weniger geeigneter Varianten erzeugt, die besten werden ausgewählt und dann unter Verdrängung der weniger geeigneten Varianten vermehrt, verstärkt, produziert. Dies ist der ursprünglichste und universellste Kreativmechanismus, den wir kennen. Hieraus ergibt sich die Innovationsfunktion des Marktes. Neben dem Demokratiesystem ist das ökonomische Marktsystem das zweite der Hauptinnovationsorgane gegenwärtiger entwickelter Gesellschaften. Die weitgehend ersatzlose Abschaffung dieser Organe in den Ländern des real existierenden Sozialismus war, wie schon besprochen, sicher der Hauptgrund für deren Untergang. Der Markt hat weitere wichtige Funktionen – etwa eine Regulierungs- und Koordinierungsfunktion: Er sorgt zum Beispiel dafür, das die Produktion stark nachgefragter Güter über den Anreiz steigender Preise angekurbelt wird und umgekehrt. Und zum Dritten ist der Markt ein klarer Entscheidungsmechanismus: Kaufen oder nicht kaufen, rentabel oder nicht rentabel – nicht in allen, aber in vielen Bereichen ermöglicht die Marktökonomie schnelle und eindeutige Entscheidungen. Tatsächlich hat keine gesellschaftliche Organisationsform es vermocht, die Menschheit zu derart hohen Leistungen anzutreiben wie die kapitalistische Marktwirtschaft. Das gilt direkt für die Produktion materieller Güter und vermittelt darüber auch für Wissenschaft und Kultur. Eines allerdings scheint oft nicht klar: Diese Leistungen kommen nicht etwa dadurch zu Stande, dass der Marktmechanismus die genannten oder andere diffizile Funktionen perfekt erfüllen würde. Der Grund für die hohen Leistungen ist ein anderer, ein ganz einfacher und banaler – der Kapitalismus stimuliert die stärksten unserer Erbantriebe mit maximaler Brutalität: Gier nach Luxus, Status, Ruhm und Sex, nackte Angst vor dem Versagen, dem Verlacht- und Verlassenwerden und schließlich vor Verelendung und Tod. Seine Performance dagegen im Erfüllen subtiler sozialer Funktionen ist nicht wirklich gut, vielfach sogar schlecht. So ist natürlich die reale Informiertheit der Marktteilnehmer aus den verschiedensten Gründen oft sehr weit davon entfernt, optimal, vollständig und symmetrisch zu sein. Die schon dadurch suboptimalen Regulierungs-, Koordinierungs- und Innovationsfunktionen können durch weitere Faktoren wie etwa Monopolbildungen bis hin zum regelrechten »Marktversagen« verschlechtert werden. Die unvermeidlichen Zeitverzögerungen sorgen für eine Trägheit, die sehr wohl zu Phasen von Mangel und häufiger noch von Überproduktion führt, Eigendynamiken und Teufelskreise führen zu vernichtenden Zusammenbrüchen, und all das geht oft mit einer gigantischen Ressourcenverschwendung einher. Und auch der Preis für diese eher schlecht regulierte und brutal heraufgepeitschte Produktivität ist hoch: Existenzangst, Vernichtung von wirtschaftli-

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chen, psychischen und physischen Existenzen, Verfeindung und Ausbeutung bei asymmetrischen Machtverhältnissen bis hin zum Raub im Krieg, Ressourcenverschwendung und Umweltzerstörung, Versklavung der Menschen durch Besitzgier bis hin zur Deformierung ins Kriminelle hinein, psychische Verarmung, Umkehrung der Zweck-Mittel-Relation: Viele Menschen arbeiten nicht mehr, um zu leben – sie leben, um zu arbeiten, und sind am Ende unfähig zu Muße und Genuss. Nach aller historischen Erfahrung ist klar: Es wäre verrückt, den Markt deshalb über Nacht per Revolution abschaffen zu wollen. Aber ebenso verrückt ist es, ihn unkritisch als das Nonplusultra anzubeten. Der Markt in seiner heutigen Form darf nicht die letzte Antwort auf die Frage menschlichen Wirtschaftens sein. Und es kommt noch etwas Entscheidendes hinzu. Wie im ersten Buchteil bereits erwähnt, wohnen dem kapitalistischen Wirtschaften Mechanismen inne, die ihre eigenen Grundlagen untergraben. Wie unter dem Stichwort Sigmafalle besprochen, ist das Spektrum vorstellbarer Produkte, die reale menschliche Bedürfnisse befriedigen, nicht unbegrenzt. Alles Wachstum muss sich deshalb verlangsamen und eine Gesellschaft, die überwiegend von der Befriedigung kruder Erbbedürfnisse lebt, muss degenerieren und zerfallen. Im Bereich der materiellen Produktion führt die Konkurrenz unweigerlich zu Rationalisierung und Automatisierung. Einfache Arbeitsplätze entfallen, immer mehr Menschen werden aus der Produktion herausgedrängt. Den logischen Endpunkt bilden vollautomatische Fabriken, die von einer Handvoll Wissenschaftler und Ingenieure betrieben werden. Es gibt Prognosen, denen zufolge von den gegenwärtig circa 163 Millionen Industrie-Arbeitsplätzen auf der Welt im Jahre 2040 nur noch einige Millionen übrig sein werden und dass die industrielle Welt um 2050 mit nur noch 5 Prozent der erwachsenen Bevölkerung betrieben und gemanagt werden kann (nach Dieterich, 2006, S. 107). Doch wenn die gebrauchswertschöpfende Industrie keine Löhne mehr an den Großteil der Bevölkerungen zahlt – wer soll dann die Produkte kaufen? Autos kaufen bekanntlich keine Autos. Die Unternehmen müssten dann sehr hohe Steuern zahlen, ausreichend für eine auskömmliche »Sozialhilfe« für die arbeitslose Mehrheit. Aber im Grunde könnten sie ihre Produkte dann auch gleich verschenken, womit wir wohl bei einer Art Kommunismus angelangt wären. Wenn sich die so Beschenkten dann reihum die Haare schneiden, den Nacken massieren, sich coachen oder mit anderen Dienstleistungen zu Füßen liegen, dann wäre das sicher eine gute Sache, löst aber nicht das strukturelle Problem. Und auch eine fortschreitende »Entmaterialisierung« weiter Bereiche der Produktion hin auf informationell-geistige Erzeugnisse allein wird wohl den Kapitalismus auf lange Sicht nicht retten können. Wie schwer und wenig sinnvoll es ist, geistige Produkte zu »schützen«, um sie dem Kreis des kapitalistischen Wirtschaftens einverleiben zu können, sieht man beispielhaft am ebenso umstrittenen wie nicht zufriedenstellend lösbaren Problem der Software-Patentierung. Global und auf lange Sicht gibt es für das kapitalistische Wirtschaftsystem also nur zwei Wege: Entweder wird durch Katastrophen oder Kriege von Zeit zu Zeit

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der große Reset-Knopf gedrückt, damit alles von vorn beginnen kann. Oder nach Unterminierung seiner Existenzbedingungen springt das System in einen neuen Grundmodus der wirtschaftlichen und sozialen Organisation. Und im Sinne unseres Konzepts einer geschichtsmächtigen Gesellschaft wäre es natürlich gut, wenn die identifikatorische Gemeinschaft demokratisch einen Weg durch die sich hier auftuenden Möglichkeitsfelder wählen würde. Es scheint daher dringend angeraten, die entsprechenden Fragen mutig wieder aufzuwerfen und wissenschaftlich zu untersuchen. Lassen Sie uns doch einmal unbefangen spekulieren: Ließen sich die genannten Funktionen des Marktes nicht auch irgendwie anders und vielleicht besser realisieren? Ein Blick darauf, wie die Evolution Probleme löst, lohnt immer. Immer beginnt alles mit der physischen Konkurrenz bestimmter Einheiten, wobei das Verlieren oft mit der physischen Vernichtung in eins fällt. Unter bestimmten Bedingungen kann es aber auch zur Integration dieser Einheiten zu übergeordneten Organismen kommen. Dabei muss eine innere Funktionsspezialisierung der Einheiten zu Innovationsorganen, Steuer-/Regelorganen und Arbeitsorganen stattfinden. Wenn die Leistungsmöglichkeiten dieser Organe den Anforderungen der inneren Koordination und dem Schwierigkeitsgrad der äußeren Probleme entsprechen, dann verbesserte diese Integration die Überlebenschancen aller beteiligten Einheiten. Bei Strafe des Untergangs durfte dabei aber das innovative Feuer der Evolution auch im Inneren nicht ausgetreten werden. Der in Kapitel 1.2 besprochene Mechanismus der synergetischen Selbstorganisation als Universalprinzip von Kreativität war deshalb virtualisiert, verkleinert und beschleunigt auf eine höhere Ebene zu verlagern, es musste eine virtuelle Evolution innerhalb der Innovationsorgane installiert werden. Dabei gilt: Je weniger Veränderlichkeit in einem Arbeitsbereich herrscht, desto breiter und tiefer kann die Steuer-/Regelzone sein, desto mehr kann Steuerung die Regulierung überwiegen und desto höher ist die Innovationszone angesiedelt (»Hierarchie«). Je mehr Veränderlichkeit herrscht, desto kleiner sind die Steuer-/ Regelbereiche, desto mehr möglichst zeitnahe Regulierung ist erforderlich und desto verteilter müssen die Innovationszonen liegen (Netzwerke aus selbstverantwortlichen und selbstregulierenden Einheiten). So haben sich Einzeller zu Vielzellern mit Nervensystemen zusammengefunden. Höhere Tiere haben Gehirne, in denen durch bildhaftes oder begriffliches Denken Verhaltensmöglichkeiten simuliert werden, verbunden mit der Chance, potentiell tödliche Fehler schon auf virtueller Ebene auszuscheiden. Besser routinisierbare Prozesse im Körperinneren werden durch untergeordnete Zentren des autonomen Nervensystems reguliert und gesteuert. Mit der Entwicklung der Informations-/Kommunikationstechnologien näheren sich auch Organisationen und Teilbereiche von Gesellschaften diesen Prinzipien an. Auch in Organisationen sitzen Planungs- und Projektstäbe zusammen und machen »Brainstorming«. Es gibt inzwischen organisationsinterne, virtuelle Märkte für Ideen, Entscheidungen oder zur Ökonomisierung von Prozessen.

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Immer bessere Kooperationssoftware wird entwickelt, die die Zusammenarbeit von Teams um den ganzen Globus herum ermöglicht. In allen Organisationen gibt es Strukturen, die den Innovations-, Steuerungs- und Regulierungsorganen biologischer Organismen analog sind und Computernetzwerke spielen dabei eine immer bedeutendere Rolle. Die sich ständig verbessernden Informations-Kommunikations-Möglichkeiten lassen in der Wirtschaft das Wachstum immer größerer Organisationen zu: – in Bereichen mit hoher Veränderlichkeit eher in Form flacher Netzwerkorganisation, – in Bereichen mit niedriger Veränderlichkeit und gut routinisierbaren Abläufen in Form von hochgradig automatisierten, elektronisch gesteuerten Fabrikanlagen oder in Form von komplexen Hierarchien oder Pyramiden aus lokalen Netzwerken etwa in riesigen Vertriebsorganisationen. Die Materialflüsse in Großunternehmen werden inzwischen echtzeitnah bedarfsabhängig elektronisch reguliert, so dass kaum noch Lagerhaltungen nötig sind. Zunehmend werden Zulieferer in diese Regulierungsnetzwerke einbezogen. Und auch die Kunden: Der Trend geht dahin, dass sich der Käufer zum Beispiel auf einer Internet-Plattform eines Autokonzerns eine ganz individuelle virtuelle Version seines Traumautos aus Varianten und Extras zusammenklickt und das Fahrzeug erst nach diesem »Customizing« in Produktion geht. Die Computersysteme von Großkonzernen ermitteln für alle planungsrelevanten Größen Durchschnittswerte aus der Vergangenheit, so dass die mittelfristigen Bedarfs- und Personalplanungen immer besser werden. Moderne Informations-/Kommunikationstechnologien ermöglichen zunehmend die organismusartige, ganzheitliche Integration von Großorganisationen, wobei sich durch Erfahrungslernen immer besser separiert, welche Aspekte in die zentralen Informations- und Entscheidungsflüsse eingebunden sein müssen und welche effektiver auf lokaler Ebene in Eigenverantwortung zu managen sind. Es wurden Rechnungssysteme entwickelt, nach denen unternehmensinterne Austauschprozesse verrechnet und über die Wirtschaftlichkeit von Maßnahmen entschieden werden kann. Die größten dieser Großorganisationen sind inzwischen größer als die kleinsten Staaten. Siemens beschäftigt in etwa so viele Menschen, wie Luxemburg Einwohner hat. Der weltweit größte Arbeitgeber ist der amerikanische Einzelhandelsriese Wal-Mart, der mehr als zwei Millionen Leute beschäftigt. Wal-Mart gibt es seit einem halben Jahrhundert und Siemens schon seit mehr als 160 Jahren. Offenbar erzeugen freie Konkurrenz und Markt komplexe Entitäten, in denen deren Funktionen in modifizierter Form auf höherer Ebene aufgehoben sind, und das oft unter Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit. Große sozioökonomische Gebilde können aus sich heraus kreativ sein, sie können ihre komplexen inneren Prozesse bedarfsgesteuert regulieren und sie sind zu strategischen Planungen fähig, die offenbar ausreichen, um ihnen das Überleben zum Teil über Jahrhun-

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derte ermöglichen. Es wurden interne Verrechnungssysteme installiert, die rationale ökonomische Entscheidungen möglich machen. Übrigens gibt es durchaus ernstzunehmende Ansätze von Ökonomen überwiegend marxistischer Provenienz, solche Systeme auf die ganze Volkswirtschaft, ja die Weltwirtschaft auszudehnen. Der Bremer Kartograph und Universalwissenschaftler Arno Peters etwa differenzierte das Konzept einer Äquivalenzökonomie. Die Preise von Produkten und Zwischenprodukten bilden sich hier nicht per Knappheit und Macht am Markt, sondern werden errechnet aus der in ihnen enthaltenen materialisierten Arbeitszeit. Preise spiegeln somit nicht den von vielen Faktoren abhängigen und volatilen Tauschwert, sondern den Arbeitswert, was sicher näher an einem irgendwie objektivierbaren realen Wert liegt. Aller Handel vollzieht sich nun auf der Basis des Austauschs annähernd gleicher Werte. Damit wäre der schon von Aristoteles gegeißelten und heute alles unhinterfragt beherrschenden Bereicherungswirtschaft (Chrematistik) der Boden entzogen. Ein ähnliches zum Teil mathematisch ausgearbeitetes System unter Einschluss rechnergestützter Planung und elektronischer Demokratie entwickelten die irischen Ökonomen Cockshott und Cottrell (Peters, 1996; Cockshott u. Cottrell, 2006; auch Dieterich, 2006). Natürlich ist das alles nicht einfach. Aber auch die gegenwärtige Ökonomie ist von der Theorie her in weiten Teilen unverstanden und funktioniert in der Praxis schlecht, wenn man Bewertungsmaßstäbe anlegt, die ganzheitliche, moralische und nachhaltige Kriterien einschließen. Zumindest unter idealtypischen Aspekten würde eine Äquivalenzökonomie mit elektronischer Regulation und Planung auf allen Dimensionen sehr viel besser abschneiden. Es ist eine Schande für unsere Gattung, dass wir offenbar fast allen Ehrgeiz in dieser Richtung aufgegeben haben, dass wir eine Wirtschaftsform als naturgegeben akzeptieren, die darauf beruht, den Schwächeren über den Tisch zu ziehen. Ich halte die Chancen für groß, dass man eine elektronisch regulierte Äquivalenzökonomie zum Funktionieren bringen könnte, sofern man ausreichende Forschungsressourcen darauf konzentrieren würde und die Geduld für ein systematisches, institutionalisiertes, kleinschrittiges soziales Lernen aufbrächte. Insbesondere hätte das dann eine Chance, wenn auch unser letztes noch ausstehendes Problem, das Motivationsproblem, lösbar wäre – kann man auf die brutalen Antreiber des Kapitalismus, auf die Gier und die Angst verzichten, ohne dass der ohnehin verlangsamte Fortschritt ganz stoppt? In jedem Falle könnte man das, sollte die Einführung unseres Schulfaches »Persönliche Meisterschaft« gelingen. Gier und Angst taugen als extrinsische Motivatoren eigentlich nur für Bergwerke und Fließbandarbeit. Je höher qualifiziert die Arbeit ist, je mehr Kreativität, geistige Flexibilität und echtes Engagement erforderlich sind, desto störender werden Gier und Angst, weil der Stress differenzierte psychische Funktionen blockiert. Heute schon und viel mehr noch in der Zukunft werden die Arbeitsplätze aber überwiegend diese differenzierten psychischen Funktionen erfordern. Die Arbeiter der Wissensgesellschaften werden überwiegend nur intrinsisch zu motivieren

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sein: Freude an interessanten Arbeitsinhalten und Entwicklungsmöglichkeiten. Schon heute fällt in der Wirtschaft auf, dass die kreativen Eliten immer weniger mit Geld und Status zu locken sind. Eine Kultur der persönlichen Meisterschaft würde das durch die gezielte Ausbildung von Kulturantrieben fördern. Zudem würden Werte und Prinzipien vermittelt, verstanden und verinnerlicht, die in hohem Maße an persönlicher Integrität und am Gemeinwohl orientiert sind. Der Motivation, sich in einer Gemeinwirtschaft zu engagieren, wäre das sehr dienlich. Und schließlich würde eine Kultur der persönlichen Meisterschaft dafür sorgen, dass sich funktionale Hierarchien immer besser stabilisieren können und dass biologische Prinzipien der Hierarchiebildung immer weniger durchschlagen: Die Sachkompetentesten besetzen die Führungspositionen und nicht die Machtbewusstesten. Sowohl die unmittelbar Betroffenen als auch das beteiligte Umfeld haben unter den Bedingungen von persönlicher Meisterschaft ein Gespür dafür, was in diesen Dingen richtig ist, und auch den Mut, eventuellen Fehlentwicklungen entgegenzutreten. Das ist ein Essential für das Funktionieren und langfristige Überleben von Organisationen. Wenn Menschen intrinsisch interessante Aufgaben haben, die ihren Stärken entsprechen, wenn sie glauben, dass sie für eine gute Sache arbeiten und dass diese Sache in ihrer Organisation gut vorankommt, wenn sie zudem noch Achtung und Vertrauen gegenüber ihren fachlich und persönlich meisterlichen Vorgesetzten empfinden, dann sind sie maximal motiviert, und zwar weitgehend unabhängig von äußerem Lohn und äußerer Strafe. Übrigens ist das Durchschlagen biologischer Hierarchiebildungen aufgrund fehlender persönlicher Meisterschaft neben dem schon diskutierten Trockenlegen der Innovationszonen einer der Hauptgründe für den letztendlichen Zusammenbruch der realsozialistischen Bewegungen. Trotz oft ehrlichen, aber vielfach zu späten Bemühens war der Entwicklungsstand vieler dort Beteiligter in Sachen Wissen, Bildung und persönlicher Meisterschaft nicht sehr hoch. Deshalb konnten sich bei den Hierarchiebildungen zu oft die Prinzipien der Hackordnung durchsetzen: Die Machtbewusstesten, Skrupellosesten und Brutalsten machten das Rennen. Zumeist hatten diese Menschen eine gewisse Bauernschläue – aber in Bezug auf jenes Wissen und jene Kompetenzen, die zur Führung von Organisationen oder gar Staaten Voraussetzung sind, waren sie äußerst schlecht. Und in einer Machthierarchie setzt sich so etwas gemäß dem Dominoprinzip nach unten fort: Auf jedem Level vertrieb der inkompetente Führer kompetentere Mitarbeiter aus seinem Umfeld. Und die letzte Riege traute sich manchmal nicht, nach der Uhrzeit zu fragen. Als letzter wichtiger Punkt zum Thema Motivation sei erwähnt, dass die Identifikation mit der Gemeinschaft und damit auch mit der sie ernährenden Wirtschaft sehr stark durch eine wirklich funktionierende Demokratie im besprochenen Sinne gefördert würde. Aufs Ganze gesehen ergibt sich: Die kapitalistische Marktwirtschaft enthält keine Funktionen, die nicht in einer höheren, fortschrittlicheren wirtschaftlichen Organisationsform unter Funktionsverbesserungen aufhebbar wären.

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Die extreme und radikale Planwirtschaftsphobie, wie sie uns von den eingefleischten Neoliberalen entgegengebracht wird, scheint vor diesem Hintergrund zweifelhaft. Wo hat sie ihren Ursprung? Nun, zu einem Gutteil sicher auch in Eigeninteresse und ideologischer Verfestigung. Sachlich führt sie sich zurück auf das Scheitern der Planwirtschaften des real existierenden Sozialismus und auf Komplexitätsargumente: Die Interaktion der Millionen von Produkten und Zwischenprodukten, die durch moderne Volkswirtschaften zirkulieren, zentralistisch zu planen, das sei völlig unmöglich. Nun, in der Tat, die großen zentralistischen Planwirtschaften existieren nicht mehr. Man kann das als Scheitern interpretieren. Doch ist das zwingend und richtig? Es war weltgeschichtlich der erste Versuch. Er ist gestartet von extrem ungünstigen Voraussetzungen und in einem Klima der internationalen Anfeindung. Und aus dieser Situation heraus sind durchaus beachtliche Leistungen vollbracht worden – man denke an die sowjetische Raumfahrt oder an die durchaus passable Konsumgüterversorgung, die einige Länder über etliche Jahre aufrechterhalten konnten. Für die DDR würde ich sogar sagen, dass hier in den 1970er und 1980er Jahren durchaus ein Konsumniveau bestand, wie es für eine zeitgemäße glückliche Gesellschaft als Grundlage ausgereicht hätte. Um ganz offen zu sein: Ich persönlich bin im Nachhinein eher erstaunt, dass es so gut funktioniert hat. Theoretisch hätte das Ganze eigentlich sofort zusammenbrechen müssen. Die entscheidende Frage ist offenbar die nach dem richtigen Maßstab. Man könnte die realsozialistischen Planwirtschaften durchaus als einen respektablen und ermutigenden ersten Versuch einer im Prinzip fortschrittlicheren Wirtschaftsform ansehen (so wie es ja von vielen, auch namhaften westdeutschen Sozialwissenschaftlern bis in die 1980er Jahre hinein auch getan wurde). Man stelle sich vor, Edison hätte nach dem ersten Versuch mit einem elektrischen Glühfaden aufgegeben: »Nur zehn Minuten hat er geleuchtet – es wird nie funktionieren!« Wir säßen heute noch im Dunkeln. Stattdessen hat er hunderte weiterer Versuche gemacht. Wohlgemerkt: Diese Einschätzung gilt nur für die ökonomische Seite des Ganzen, die politischen und humanitären Aspekte sind sehr viel kritischer zu sehen. Darüber hinaus gab und gibt es ja noch viele weitere Beispiele relativ erfolgreicher Staats- und Planwirtschaften. Die israelischen Kibbuzim hatten wir schon erwähnt. Und auch die lange sehr bewunderte Arbeit des Ministry of International Trade and Industry (MITI) in Japan in Kooperation mit dem Wirtschaftsplanungsamt bei der Koordination der »Japan-AG« gehört in diesen Kontext. Nun zum Komplexitätsargument: Natürlich sind die westlichen Gesellschaften einschließlich ihrer Wirtschaften gegenwärtig extrem komplex – wir hatten dargestellt, dass diese Komplexität gleich einer Angstblüte des Marktsystems durch Überdifferenzierung auf allen Ebenen zunimmt und zu chaotischen Dynamiken führt, die kaum beherrschbar sind. Aber das ist das Ergebnis einer Entwicklung, die dem Selbstlauf überlassen ist – es ist weder notwendig noch wünschenswert. Es resultiert aus dem Anrennen gegen eine Grenze, die aus Folgendem erwächst:

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Zur Befriedigung aller irgendwie relevanten menschlichen Bedürfnisse gibt es eine breite Palette von Produkten, die diese Bedürfnisse nahezu optimal befriedigen und die in sich nahezu perfekt sind. Nach meinem Eindruck wird die Entwicklung in naher Zukunft gegen diese Grenze konvergieren. In vielen Produktbereichen hat sie diese Grenze schon erreicht, in anderen ist sie nah dran, in nur wenigen noch weiter entfernt. Auf das Ganze gesehen könnte man vielleicht sogar schon sagen: Was die meisten Produkte des materiellen Konsums angeht, könnte man die Entwicklung anhalten. Der Markt hat weitgehend seine Schuldigkeit getan. Wir brauchen keine noch bessere Zahnpasta und keine noch besseren Schuhe. Und ich bin gar nicht sicher, ob ich mir wirklich wünsche, dass mein Pullover meine Schweißsekretion misst, um dann beruhigende Worte zu mir zu sprechen, oder dass mein Toilette Urinanalysen durchführt und gegebenenfalls den Arzt ruft. Eine Wirtschaft, die aufhört, an unsinnigen Stellen immer noch besser werden zu wollen, die einfach nur eine ausreichende Palette richtig guter Produkte mit den besten der zur Verfügung stehenden Technologien herstellt, eine solche Wirtschaft könnte sehr viel weniger komplex sein, als heutige globalisierte Volkswirtschaften es sind. Und die weitere Verbesserung der Informations-/Kommunikationstechnologien in Verbindung mit Fortschritten im Organisationenlernen würde es mit Sicherheit ermöglichen, diese notwendige Komplexität im Sinne einer ganzheitlichen, bedarfsgesteuert regulierten elektronischen Planwirtschaft zu beherrschen. Übrigens ist »Planwirtschaft« ein Begriff, der das, worum es wirklich geht, falsch akzentuiert. Das Entscheidende ist die zeitnah-bedarfsabhängige, ganzheitliche und ressourcenschonende elektronische Regulierung der Wirtschaft, die auch auf ungeplante Veränderungen und Störungen optimal zu reagieren vermag. Und ganz sicher würde das keine streng »zentralistische« Wirtschaft sein, vielmehr wäre sie so strukturiert, wie wir es für Organismen und große Unternehmen skizziert hatten. Und für eine solche hochintegrierte Regulationswirtschaft arbeitet die Zeit: Zum einen untergräbt die freie kapitalistische Marktwirtschaft ihre eigenen Fundamente und schafft zum anderen die Bedingungen für den Sprung auf die nächsthöhere Integrationsstufe: Sie erzeugt hochentwickelte Produkte und Technologien, die eine Befriedigung aller relevanten menschlichen Bedürfnisse auf hohem Niveau per automatisierter Fabrikation ermöglichen. Modernste Informations-/Kommunikationstechnologien lassen den Aufbau eines elektronischen sozialen Nervensystems zu. Die enorme Produktivität ermöglicht Luxusphänomene wie ein institutionalisiertes Organisationenlernen und ein Bildungssystem, das auf breiter Front in persönlicher Meisterschaft trainiert. Unter diesen neuen Bedingungen darf der alte Traum vom Neuen Menschen und der guten, glücklichen, gerechten und friedlichen Gesellschaft wieder geträumt werden. Er hat unter diesen Bedingungen unvergleichlich bessere Realisierungschancen als 1848, 1917 oder 1945. Und ohne diesen Traum verliert unser aller Existenz am Ende viel von ihrem Sinn.

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3.8 Evolution oder Revolution? Was bleibt, ist die Frage nach dem Weg. Ein erster Schritt wäre die vorgeschlagene Zwei-Systeme-Lösung mit der Transformation des alten, konsumistisch orientierten Sozialstaates in den skizzierten Kultursektor. Mittel- und langfristig hätte dies dann der Nährboden zu sein, auf dem unsere bedarfsgesteuerte elektronische Regulations- und Planwirtschaft mit der Sozialtechnik der kleinen Schritte entwickelt und zum Funktionieren und Wachsen gebracht werden könnte. Im Zuge dessen könnte sich die Gesellschaft in eine Kultur der Wissenschaft und Bildung, der persönlichen Meisterschaft und Weisheit transformieren, wobei der kapitalistische Sektor allmählich abstirbt, da er nun seine Gebärmutterfunktion für die neue Gesellschaft erfüllt hat. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass dies nur ein evolutionärer Weg sein kann. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass die marxistische Klassenkampfrhetorik falsch, gefährlich und quasi naturgesetzlich zum Scheitern in der Katastrophe verurteilt ist. Komplexe Gebilde können nur funktionieren, wenn sie im Sinne einer Hierarchie strukturiert sind. Und in einer Hierarchie gibt es immer und notwendig Top-down-Beeinflussungen, die im sozialen Kontext als »Machtverhältnisse« in Erscheinung treten. Durch Identifikation kann man diese Macht zur Latenz bringen, man kann sie gut verteilen und ausbalancieren. Man muss Mechanismen schaffen, die übergroße Machtkonzentrationen verhindern. Was man aber nicht darf, ist, von völlig macht- und herrschaftsfreien Gesellschaften zu schwadronieren oder aus quantitativen Machtunterschieden qualitative, absolute und prinzipiell unüberbrückbare Gegensätze zu konstruieren, die nur gewaltsam auflösbar seien. Letzteres ist eine Kernbotschaft des Marxismus und seiner Klassenkampfrhetorik: Zwischen Proletariat und Kapitalisten bestünden unüberbrückbare Interessengegensätze, die in den Eigentumsverhältnissen ihre objektive Wurzel hätten. Der qualitative Sprung in die gute Gesellschaft könne nur durch einen gewaltsamen Umsturz der Gesellschaftsordnung und die Zerschlagung der feindlichen Klasse erreicht werden. Das Problem ist nur: Der Neue Mensch und die Neue Kultur sind aus einem sehr viel subtileren Gewebe als der Ego-Mensch im Kapitalismus. Dieses Gewebe ausreichend haltbar zu gestalten, braucht Zeit, Geduld und feine Werkzeuge. Es braucht die alte Gesellschaft in der Anfangsphase als Nährboden und Tragegerüst. Jeder, der mit den groben Werkzeugen der Gewalt diese alte Gesellschaft umbrechen will, der wird das zarte Netzwerk des Neuen zerreißen und mitvernichten. Eine gewaltsame Revolution zerstört zu viel, reißt zu große Lücken, die dann immer von sehr viel gröberen Strukturen geschlossen werden, die bestimmt sind von biologischen Prinzipien der Hierarchiebildung: die Stärksten und Verschlagensten kommen ans Ruder. Und damit ist schon alles verloren. Gewalt ist immer nur die Saat für neue Gewalt. Natürlich wird man allzu starken Gewaltmonopolen mit erheblichem Druck begegnen müssen und es kann sein, dass man sozialen Gruppen, die zur Gewalt greifen, auch mit Gewalt begegnen muss.

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Aber man darf die Gewalt nicht a priori zur Notwendigkeit verabsolutieren. Ein Denksystem, das die Gewalt unausweichlich zum Prinzip erklärt, kann aus heutiger Sicht nur als verbrecherisch bezeichnet werden. Natürlich gibt es zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern Interessengegensätze. Die gibt es zwischen allen Menschen und allen sozialen Gruppen. Aber es gibt eben auch Interessenüberschneidungen, und diese gilt es in den Fokus zu nehmen und zu stärken. In der Theorie der marxistischen Dialektik liest man vom Kampf und der Einheit der Gegensätze. In der politischen Praxis aber hörte man immer nur vom Kampf. Es gilt, die Einheit der Gegensätze zu betonen. Der Neue Mensch und die Neue Kultur können nur erwachsen aus den positiven und differenzierten Kräften, die sich aus geschickt geflochtenen Interessensynergien summieren. Kapitalisten sind nicht intrinsisch böse und gierig, ebenso, wie Proletarier nicht kraft ihrer Herkunft schon edelmütig und gut sind. Vielleicht gibt es unter den Proletariern mehr lustsuchende Ego-Menschen als unter den Kapitalisten. Entsprechend wäre ein einfacher Seitenwechsel keine Lösung, wie die Geschichte ja auch schmerzlich erwiesen hat. Die meisten Kapitalisten handeln nicht, wie sie handeln, weil sie böse sind, sondern weil sie Getriebene sind, weil sie Systemzwängen unterliegen, weil sie im Rahmen der geltenden Spielregeln um den Preis des eigenen Untergangs nicht anders können. Gerade in letzter Zeit berichten Medien vermehrt darüber, dass reich gewordene Erfolgsunternehmer große Teile ihres Vermögens in den Dienst gemeinnütziger Projekte stellen, Warren Edward Buffet oder Bill Gates sind da nur die vielleicht prominentesten Beispiele. Gerade Unternehmer sind Menschen, die für positive Visionen empfänglich sind. Im Zeitalter der Wissensarbeit und der Automatisierung relativiert sich das Problem der Ausbeutung. Menschen, die für inneren Lohn arbeiten, kann man nicht ausbeuten und Roboter auch nicht. All diese Denkschablonen des Marxismus mögen vor zweihundert Jahren noch eine zumindest relative Berechtigung gehabt haben. Heute verstellen sie den Lösungsweg. Zweitens ist es unbedingt erforderlich, die Prozesse der wirtschaftlichen Globalisierung deutlich mehr zu regulieren und einzuschränken. Aber in eine Politik der totalen Abschottung zu verfallen, wäre demgegenüber weder richtig noch möglich. Dass es gelingen könnte, ein wirklich wasserdichtes, den gesamten Globus umspannendes System von Absprachen zu schaffen, die einen globalen Wirtschaftsraum mit vergleichbaren Bedingungen in Sachen Steuern und Sozialstandards begründen, scheint auf lange Sicht sehr unwahrscheinlich. Schließt man das alles zerstörende Mittel der Gewalt aus, gibt es keine Mittel, die wirtschaftlichen, pekuniären, kreativen und wissenschaftlichen Eliten gegen ihren Willen im Lande zu halten. Es gibt deshalb nur einen Weg, diese Eliten am Abwandern in lukrativere Weltgegenden zu hindern: Man muss dass Land auf das Ganze gesehen zu einem so attraktiven Standort machen, dass sie freiwillig bleiben. Dafür bestehen die folgenden prinzipiellen Möglichkeiten:

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1. Schaffung möglichst attraktiver Infrastrukturen und Rahmenbedingungen für erfolgreiches Wirtschaften. Neben den im engeren Sinne ökonomischen Aspekten betrifft das vor allem: Schaffung eines extrem hohen Niveaus der potenziellen Arbeitnehmer in Sachen Wissen, Bildung, Kompetenzen und persönlicher Meisterschaft. Genau diese Qualitäten sind es, die im Kultursektor maximal gefördert werden sollen und die gleichzeitig von der künftigen Wissenswirtschaft dringend benötigt werden. Richtig angepackt, würde also der Marktwirtschaftssektor unmittelbare geldwerte Vorteile von einer Finanzierung des Kultursektors haben – dies gilt es immer wieder explizit herauszustellen. 2. Schaffung eines positiven gesellschaftlichen Klimas, das von Stabilität, Sicherheit, Verlässlichkeit, Freundlichkeit und Vertrauen, von Niveau und Kultur geprägt ist. Die Eliten sollten sich im Lande wohl fühlen und ihre Kinder gern hier aufziehen. Auf die Frage nach der Zukunft müssen die Eltern eine positive Antwort haben, die ein Fünkchen von Glanz in ihren Augen erzeugt. Der Kultursektor könnte auch für die Eliten eine attraktive Absicherung sein für ein Herausfallen aus dem Hamsterrad der Leistung oder auch ein attraktiver Platz für Phasen der Weiterbildung, der Selbstfindung und des Sabbatical. Der Arzt hat ein Burnout-Syndrom diagnostiziert und Sie wissen nicht, wie es weitergehen soll? Anstatt sich zu erschießen, können Sie nun einfach einen Lagerplatz für Ihre Luxusmöbel anmieten, in den Kultursektor umziehen und für ein Jahr oder länger das furchtbare Wörtchen Muss vergessen. 3. Erarbeitung und Popularisierung einer wirklich begeisternden, ehrgeizigen und sinnstiftenden Zukunftsvision für die Gesellschaft. Hiervon sollten gerade die Eliten zu überzeugen und zu begeistern sein. Nachdem wir Deutschen der Welt vorgemacht haben, wie man Kulturen zerstört, sollte es unser Ehrgeiz sein, der Welt in Zukunft vorzuleben, wie Gemeinschaft gelingen kann. Bleibt die Frage nach der gesellschaftlichen Triebkraft, die eine derartige positive Vision ausgehend von einer »sozialen Bewegung«vorantreiben und verwirklichen könnte. Ich glaube, dass es nur eine Antwort geben kann: die »Klasse« der klugen, intelligenten und gebildeten Menschen, die sich den Prinzipien der Vernunft und des Humanismus verpflichtet fühlen – über alle sozialen Schichten, Gruppen und Berufe hinweg. Es müsste gelingen, die Inhalte für eine solche Bewegung außerordentlich überzeugend zu formulieren. Man bräuchte charismatische Führungspersönlichkeiten und sehr potente Geldgeber. Und dann muss man es eben wieder versuchen. Es gilt, aus den Fehlern früherer Bewegungen zu lernen, es gilt, die neuen Möglichkeiten, insbesondere das Internet, zu nutzen. Auch wenn es schwer fällt: Wir dürfen uns vom Scheitern oder Versanden früherer Bewegungen nicht entmutigen lassen. Es ist ja nicht so, dass die Friedens-, die Frauen- oder die Öko-Bewegung nichts Positives bewirkt hätten. In komplexen Wirklichkeiten gilt das Potenzgesetz: Kleine Bewegungen sind häufig, große selten. Wenn Sie einen Sandhaufen aufschütten, dann rutscht der Sand in vielen Kleinlawinen zu Seite, aber ab und zu gibt es einen großen oder sogar ganz

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großen Rutsch. Die Botschaft ist: Und wenn noch so oft nicht viel passiert ist, der große Durchbruch bleibt möglich. Geschichte wiederholt sich nicht. Immer sind die historischen Klein- und Großkonstellationen anders. Immer können irgendwo Schwellen der Selbstverstärkung überschritten werden, die den Durchbruch auch zum Positiven bewirken.

3.9 Eine postmaterialistische Kultur der Weisheit Wenn ich die Augen schließe, dann sehe ich ein Land, in dem deutlich weniger Menschen leben als heute. Die meisten von ihnen bewohnen kleinere Siedlungen, die innerhalb einer artenreich rekultivierten, savannenähnlichen Natur angelegt sind, ja sich mit ihr verschränken: Es gibt viel Grün, viele Blumen und unterschiedliche Formen von Gewässern und Wasserspielen in diesen Siedlungen. Natürlich wird die Energie vollständig aus erneuerbaren Quellen gewonnen und es kommt zu keinerlei CO2-Emissionen mehr. Die meisten dieser Siedlungen krönen teilweise künstlich aufgeschüttete Anhöhen oder haben die Form von Terrassenhochbauten. So genießen fast alle Familien im Anschluss an ihren Garten Weitblick in eine Landschaft, die unseren evolutionspsychologischen Bedürfnissen entspricht. Es gibt eine Vielzahl verschiedener Gemeinschafts- und Kulturstätten, wo sich spontan begegnen kann, wer will. Die einzelnen Siedlungseinheiten umfassen kaum mehr als 150 Personen – zumindest aus der Ferne können alle irgendwann miteinander bekannt sein. Großeinrichtungen von überregionaler Bedeutung – Universitäten, Sportstätten, Museen, Theater etc. – findet man in Zentralsiedlungen, die von überall gut erreichbar sind. Von den anonymen Megastädten haben sich nur noch wenige erhalten. Als Sinn und Zweck der menschlichen Existenz gilt es, dem Bewusstsein einen möglichst intensiven und differenzierten Selbstgenuss zu ermöglichen und ihn in Raum und Zeit auszubreiten. Zweierlei leitet sich daraus ab: Ein erster ganz zentraler Fokus liegt auf den wissenschaftlich-technischen Bemühungen um das physikalische und ökologische Langzeitüberleben der Menschheit. Und zum Zweiten ist es Schwerpunkt aller gesellschaftlichen Bemühungen, jedem Einzelnen durch ein Höchstmaß an möglichst individuell zugeschnittenen Bildungsangeboten zu einer maximalen Persönlichkeitsentfaltung zu verhelfen: Förderung persönlicher Meisterschaft, um das Primatenerbe bewusst im kulturellen Lebenskontext aufzuheben, sowie Vermittlung einer optimalen Kompetenz zur Selbstentwicklung. Und: Aufbau innereren Reichtums, um einen möglichst differenzierten Resonanzraum in Bezug auf die Komplexität der Außenwelt mit all ihren sozialen, kulturellen und wissenschaftlichen Facetten zu eröffnen. Fast alle Menschen kommen so über die Kulturschwelle, werden zu Kulturmenschen – die Kulturantriebe gewinnen als Hauptquell der Lebensenergie die

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Oberhand über die Erbantriebe. In der Folge manifestiert sich das Streben nach Status, Macht und sinnlich-materiellem Konsum nur noch in sehr reduzierter Form. Die meisten Menschen gehen auf im Dienst an kulturellen, wissenschaftlichen und sozialen Inhalten. Hauptantrieb und Hauptfreude entspringen dem Gefühl, sinnstiftende Inhalte und Projekte weiterzuentwickeln. Die Menschen sind fähig zur Liebe zum Sein: Wichtig ist, dass ihr Herzensanliegen vorankommt – welche Rolle sie selbst dabei spielen und welche Figur sie dabei machen, ist für sie zweitrangig. Diesem qualitativen Sprung auf der psychologischen Antriebsebene entspricht ein Wandel im Bereich der gesellschaftlichen Produktion. Neben den Informationsprodukten aus Wissenschaft, Kultur und Bildung werden Konsumgüter, Exportgüter und Luxusgüter unterschieden. Die Produktion materieller Konsumgüter erfolgt im Rahmen einer elektronisch regulierten und geplanten sowie fast vollständig automatisierten Wirtschaft, die zu großen Teilen als Kreislaufwirtschaft organisiert ist. Schon vor Jahrzehnten hat man es aufgegeben, auf diesen Bereich größere Weiterentwicklungsanstrengungen zu verwenden. Für alle wichtigen menschlichen Bedürfnisse gibt es eine ausreichende Palette von Produkten, die von den meisten Menschen als nahezu perfekt empfunden werden. Die Zeit der überbordenden, immer wieder neuen technischen Spielereien, auf die außenreizfixierte Ego-Menschen noch großen Wert legten, ist lange vorbei. Kulturmenschen suchen die mit maximaler Prägnanz zu Struktur geronnene Funktion, sie suchen im Gegenstand die materielle Auskristallisation der ihm innewohnenden platonischen Idee. Ihr geschulter ästhetischer Sinn ist genau dafür hochsensibel. Auch ohne ständige Novitäten können sie diese Gegenstände immer wieder aufs Neue bewusst genießen wie Kunstwerke. All dies verbindet sich mit großer Einfachheit und intuitiver Bedienbarkeit. Das erzeugt Funktionslust und spart mentale Energie. Im Bereich der Herstellungstechnologien wird ebenfalls weitgehend auf Innovationen verzichtet – auch aufgrund der reduzierten Bevölkerungszahlen ist das Ganze in ausreichendem Maße ökologisch verträglich. Die Gesamtgesellschaft ist äquivalenzökonomisch organisiert: Wert und Preise von Produkten und Zwischenprodukten werden entsprechend der in ihnen materialisierten Arbeitszeit berechnet. Die Konsumgüter werden elektronisch über eine Plattform innerhalb eines weiterentwickelten Internet geordert. Aus dem Bestellverhalten errechnet das System mit ausreichender Genauigkeit den wahrscheinlichen künftigen Bedarf für die Planungsprozesse. Alle haben Anspruch auf ein unbedingtes Grundeinkommen, das auch von den meisten Menschen als ausreichend oder sogar als komfortabel empfunden wird. Wer will, kann sich auf dieser Grundlage selbst verwirklichen oder beliebig lange und intensiv an den kostenfrei zugänglichen Universitäten weiterbilden. Für gesellschaftlich nützliche Arbeit gibt es ein Zusatzeinkommen, dass sich überwiegend nach der Arbeitszeit bemisst (je nach Arbeitsbereich gibt es verschiedene Korrekturfaktoren, die z. B. besondere Leistungen, die Unangenehm-

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heit der Arbeit, besondere Qualifikationen oder den Grad des subjektiven Engagements betreffen). Insgesamt sind deshalb die sozialen Unterschiede nicht allzu groß und werden von den meisten Menschen als nachvollziehbar und akzeptabel empfunden. Wo dies einmal längerfristig nicht der Fall ist, hält ein funktionierendes System der qualifizierten Demokratie Änderungsmöglichkeiten bereit. Luxusgüter werden von Selbständigen in einem kleinen Privatsektor hergestellt und auf einem regulierten Markt nach klassischen Preisbildungsprinzipien gehandelt. Wer will, kann also durchaus den einen oder anderen Spleen pflegen. Augrund des gemäßigten Interesses bleibt all das zumeist von allein im Rahmen, so dass nur selten regulatorische Eingriffe erforderlich sind. Den Schwerpunkt der wissenschaftlich-technischen und wirtschaftlichen Bemühungen bildet die Herstellung und ständige Verbesserung der Exportgüter. Hier hat jedes Land in der Staatengemeinschaft seine Schwerpunkte. Durch internationale Absprachen wird versucht, eine sinnvolle und gerechte globale Arbeitsund Ressourcenteilung zu erreichen, die Konflikte vermeidet und allen Staaten ausreichende Entwicklungsmöglichkeiten offen hält. Deutschland hat sich spezialisiert auf bestimmte Bereiche in Robotik, Medizin- Umwelt- und Raumfahrttechnik – aber auch auf computergestützte Informations-, Bildungs- und Kulturprodukte: Kooperationssoftware beispielsweise oder Lernsoftware. All dies vollzieht sich in Staatsbetrieben in Kooperation mit staatlichen Universitäten. Analog zu den früheren Großunternehmen hat man gelernt, die inneren Strukturen und Prozesse so zu organisieren und mit informationstechnischer Unterstützung zu regulieren, dass ein hohes Effizienz- und Innovationsniveau erreicht wird. Eine zentrale Rolle spielt dabei auch das im Bildungswesen vermittelte hohe Maß an persönlicher Meisterschaft. Es gibt nur noch anspruchsvolle und interessante Tätigkeiten. Alle Angestellten arbeiten intrinsisch motiviert im Bereich ihrer individuellen Stärken und können sich persönlich weiterentwickeln. In 80 Prozent ihrer Arbeitszeit können sie das tun, was sie sowieso am liebsten tun würden, auch ohne Bezahlung oder institutionelle Zwänge. Von den Motivationsproblemen der alten realsozialistischen Planwirtschaften sieht man hier nicht einmal einen Schatten. Vor allem aber führt die persönliche Meisterschaft hier wie überall in der Gesellschaft dazu, dass sich in demokratischen Zyklen wirklich funktionale Hierarchien etablieren: die je fachlich und persönlich Geeignetsten kommen in passagere oder dauerhafte Führungspositionen und nicht die Machtbewusstesten. Das gilt auch im politischen System, dessen Kern eine elektronisch implementierte, qualifizierte Demokratie ist, in der man nur bei Nachweis politischer Bildung und eines ausreichenden Engagements als Wähler zugelassen wird – was allerdings für mehr als 90 Prozent aller Bürger zutrifft. Jeder Wähler hat ein elektronisches Bürgerportal, wo ihm die Hintergründe des politischen Geschehens ausführlich erläutert werden. Er kann hier Fragen stellen, Diskussionen oder politische Prozesse initiieren und am Ende seine Entscheidungen treffen. Das kostet viel Zeit, die aber durch die geringe durchschnittliche Gesamtarbeitszeit von zwanzig Wochenstunden auch verfügbar ist. Im Schnitt verbringt jeder

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Wähler fünf Stunden pro Woche auf seinem Bürgerportal. Doch dieser Aufwand lohnt sich: Es wird eine immense kollektive Kreativität freigesetzt. Reformen werden wirklich von der Mehrheit getragen und sehr engagiert umgesetzt. Die Identifikation mit der Gesellschaft ist sehr hoch. Bildungseinrichtungen nehmen überall eine zentrale Stellung ein. Die Schulklassen umfassen nicht mehr als zehn Schüler, jedem wird eine sehr individuelle Förderung zuteil. Fast alle Bürger studieren, und zwar lebenslang. Es ist üblich, auch postgradual immer wieder kürzere oder längere Studienphasen einzulegen. Wie schon gesagt, wird besonderer Wert auf die Persönlichkeitsbildung gelegt. Es hat sich eine vernunftgegründete Kultur der persönlichen Meisterschaft etabliert, die im Rahmen einer vernunftgegründeten Bürgerreligion mit sparsamen Ritualen und dezenten Symbolen steht. Die Inhalte, Werte und Normen dieser Bürgerreligion sind so reduziert, grundlegend, universalistisch und vernünftig nachvollziehbar, dass sich auch die Anhänger historischer Religionen unter diesen Schirm begeben können – längst haben sich hier die Prinzipien von Toleranz und friedlichem Wettbewerb im Sinne der Ringparabel durchgesetzt. Die Wissenschaft konnte ihren von Illusionen, Vermarktlichung und profilsüchtigen Egomanen vorangetriebenen Wildwuchs, das orientierungslose ImKreis-Herumirren und ihre immer stärkere Zersplitterung überwinden. Es hat sich ein komplexitätstheoretisch begründeter Methoden- und Erwartungskanon etabliert. Niemand versucht mehr, mit den Mitteln und Ansprüchen der klassischen Mechanik psychosoziale Phänomene zu erforschen. Extrem komplexe Fragestellungen werden innerhalb hochkomplexer internationaler Forschungskooperationen bearbeitet. In der Medizin zum Beispiel finden überwiegend internationale Großstudien mit vielen Tausend Probanden statt, die über Jahre international vorbereitet werden. Auch in Hirnforschung und Genetik geht es voran, seit nicht mehr die Konkurrenz von Kleinlabors die Szene beherrscht, sondern internationale Abstimmung und Kooperation. Und alle sind bescheidener geworden, sind sich der Diskrepanz zwischen menschlichem Erkenntnisvermögen und der ungeheuren und chaotischen Komplexität der Welt bewusster. Alle Versuche, Körper oder Gehirn gentechnisch oder medikamentös zu verbessern, sind grauenvoll gescheitert und wurden im Rahmen eines langjährigen Moratoriums verboten. Die Wissenschaften verwenden viel mehr Zeit auf eine systematische Rekonstruktion ihrer Geschichte, auf Konsens- und Kanonbildung im Diskurs denn auf die rasende Produktion von Daten oder unfundierten Texten nach dem Prinzip »publish or perish«. Entsprechend wird viel weniger publiziert. Und wenn etwas veröffentlicht wird, dann steht auch wirklich etwas Neues drin, es wird wahrgenommen und von der Community diskutiert. Das Studium einer Grundlagenwissenschaft ist niemals kürzer als sechs Jahre. Voran steht eine ausführliche Einführung in die systematisierte Geschichte, in Erkenntnis-, Wissenschaftsund Methodenlehre sowie die Aneignung des systematisierten Kanons dieser Disziplin. So wird verhindert, dass Wissenschaftler Fehler machen oder falschen

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Paradigmen aufsitzen, die Generationen vor ihnen schon einmal als irreführend erkannt waren. Und immer ist das auch philosophische Grundverständnis der Welt tief genug, um Neues richtig einordnen zu können. Gelänge zum Beispiel erst jetzt die Bestimmung der Basensequenzen des menschlichen Genoms oder die Entwicklung der cerebralen Bildgebung, würde niemand von der Entschlüsselung genetischer oder kognitiver »Codes« sprechen. Man würde freudiges und hoffnungsvolles Interesse zeigen, aber nicht in Überschwang oder Erlösungseuphorie ausbrechen. Der Fortschritt in den Wissenschaften hat sich verlangsamt. Aber das wenige Neue, das am Ende produziert wird, hat zumeist Bestand. Vor allem hat man gelernt, die Ressourcen auf Probleme zu fokussieren, deren Lösung aussichtsreich und/oder wirklich wichtig ist: Glück, persönliche Meisterschaft, Gesundheitserziehung, Kooperation und Zusammenleben, die Fragen des physikalisch-ökologischen Langzeitüberlebens der Gattung. Relativ große Fortschritte gibt es immer noch im Bereich der Informationstechnologien und der digitalen Inhalte. Natürlich ist es nie gelungen, das menschliche Gedächtnis direkt elektronisch zu erweitern, aber die Suchsoftware und das Erlernen eines meisterlichen Umgangs damit haben erhebliche Fortschritte gemacht. Das bringt immense Erleichterungen und führt zu einer deutlichen Steigerung der intellektuellen Produktivität. Parallel dazu wurde die Informationsflut im öffentlichen Raum deutlich reduziert. Die Paradigmenwechsel in Bildung, Wissenschaft und Journalismus führten dazu, dass primär schon sehr viel weniger, dafür aber hochwertigere Information produziert wird. Informationen, von denen etwas abhängt, gelangen nur nach stufenweisen Validierungsprozessen in die Öffentlichkeit, sie tragen ein jederzeit abrufbares Siegel, das auf einer Skala von 1 bis 10 den Validitätsgrad angibt. Gleichfalls ist es nie gelungen, menschliche Gehirne zu Supergehirnen zusammenzuschließen – aber immerhin hat die Kooperationssoftware erheblich an Qualität gewonnen. Wenn Teams oder sogar Großorganisationen gut darauf eintrainiert sind, entsteht oft das Gefühl von Gruppenflow: Ein komplexer Interaktionsprozess funktioniert und entwickelt sich optimal, man geht auf im sozialen Ganzen mit dem Gefühl, dass die eigenen Grenzen verschwimmen. Nun entstehen wirkliche Synergieeffekte der Kollektivintelligenz. Eine zentrale Bedeutung hat die virtuelle Realität gewonnen: Überall sind VRRäume zu erreichen, die über maximale Möglichkeiten verfügen. Nach Anlegen der inzwischen sehr komfortablen Spezial-Bekleidung kann man sich in sprachgesteuerter Interaktion mit dem Computersystem in beliebige Realitäten beamen lassen. Vor der Online-Bestellung besucht man ein VR-Kaufhaus und lässt sich von einer digitalen Verkäuferin das gewünschte Produkt in die Hand drücken. Vor einer Urlaubsreise lässt man sich virtuell durch die in Frage kommenden Hotels führen. Man kann sich jederzeit mit entfernt wohnenden Freunden oder mit Arbeitsgruppen im VR-Raum treffen. Für alle Wissensgebiete, für alle Kompetenzbereiche gibt es ausgeklügelte und hochwirksame interaktive Lehrsysteme: Die Geschichte der antiken Demokratie

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lernt man, indem man virtuell unmittelbar an wichtigen historischen Geschehnissen Teil hat und mit virtuellen Athenern diskutiert (wer Glück hat, wird sogar bei Perikles vorgelassen). Mathematik wird gelernt, indem man mit einer virtuellen Mathelehrerin mathematische Flächen und Räume begeht, die sich in Echtzeit verformen, sobald man andere Parameter in den Raum ruft. Der Medizinstudent hangelt sich durch Nervengeflechte, wie er früher als Kind durch Baumkronen geklettert ist. Es gibt VR-Lehrsoftware für das Training sozialer Kompetenz, vom Bewerbungsgespräch bis zu den Tischsitten. Und was sich in der Unterhaltungswelt für Möglichkeiten auftun, sei vertrauensvoll der Phantasie des Lesers anheimgegeben. So kann das weitgehende Entfallen der historischen materiellen Konsumreize zumindest virtuell ein wenig ausgeglichen werden. Wo suchen die Menschen sonst ihr Glück? Wo suchen sie Sinn und Herausforderung? Nun, aufgrund der verringerten, gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit läuft das ganze Leben langsamer, achtsamer und entspannter. Die Menschen nehmen sich sehr viel mehr Zeit für Beziehungen und Familie, aber auch für Freunde und Kollegen. Das bewusste soziale Lernen, das Experimentieren mit verschiedenen Formen des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens ist zu einem der großen neuen Abenteuer geworden. Das zweite große Abenteuer finden die Kulturmenschen in der Aneignung und Weiterentwicklung von Wissenschaft und Kunst, von Philosophie und Weisheit. Sehr viel mehr als wir es heute kennen, verschwimmen die Grenzen: Weil viele mehrere Fächer studieren, wird sehr viel mehr interdisziplinär gearbeitet. Viele Menschen sind zugleich Wissenschaftler, Maler, Schauspieler oder Politiker. Und als drittes großes Abenteuer ist die Eroberung des Weltraums wieder ins Bewusstsein getreten. Vor einigen Jahrzehnten war nach nur kurzer Vorwarnung ein Asteroid auf der Erde eingeschlagen. Obwohl nur klein, war dennoch eine Sprengkraft einiger Atombomben freigesetzt worden – gottlob in unbewohntem Gelände. Dies hatte allgemein das Bewusstsein für die kosmische Verwundbarkeit der Erde und des Lebens in Erinnerung gerufen. Viele internationale Streitigkeiten wurden im Kompromiss beigelegt und die Zusammenarbeit in Sachen des globalen Überlebens nahm einen Aufschwung. Die Anfang der 1990er Jahre mit Biosphäre II begonnenen Versuche, ein künstliches Ökosystem zu schaffen, das sich aus sich selbst heraus am Leben hält, wurden wieder aufgenommen. Auf dem Mond entstand ein großes Habitat, das nach einigen Anlaufschwierigkeiten nun seit vielen Jahren weitestgehend autark funktioniert und immer weiter ausgebaut wird. Einige bemannte Marsmissionen wurden erfolgreich absolviert. Es gibt konkrete Pläne, den Mars zu besiedeln und Prozesse in Gang zu setzen, die die Bildung erdähnlicher Bedingungen zur Folge haben (»Terraforming«). Ebenso wird über den Bau von Weltraum-Habitaten abgestufter Größe nachgedacht. Technisch wäre der Bau von Habitaten möglich, die für bis zu 100 Millionen Menschen erdähnliche Lebensbedingungen bieten. Die Kühnsten der Planer gehen davon aus, dass es mit solchen »Raumarchen« möglich sei, in circa zehn Millionen Jahren unsere Milchstraße komplett zu besiedeln. Im Schnitt würde

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eine solche Arche nach 200 Jahren auf einen Planeten treffen, der bewohnbar gemacht werden könnte (nach Walter, 2002). Immer mehr setzt sich die Auffassung durch, dass es die Mission der Menschheit sei, »die Flamme des Bewusstseins in Raum und Zeit weiterzutragen«.

■ Erste konkrete Schritte

»Die Bürger sind frustriert. Regierung und Opposition ohne Elan und ohne Vision. Das meiste wird dem Zufall überlassen. Es ist, als rase die Geschichte wie ein ungesteuerter, reißender Fluß an uns vorüber, während wir, die am Ufer stehen, die bange Frage stellen, wohin er wohl führen wird. Jeder hat den Wunsch, dass darüber nachgedacht wird, wie es vermutlich in zehn Jahren in der Welt aussehen wird, vielmehr aussehen sollte, und was wir tun müssen, um dorthin zu gelangen. Aber niemand hat ein Konzept. Alle sind gleichermaßen ratlos, keiner scheint sich über die obwaltenden Tatsachen Rechenschaft zu geben, weder in der Welt noch bei uns zu Haus« (Dönhoff et al., 1992, S. 9) – so wurde die gesellschaftspolitische Situation Eingangs der 1990er Jahre von einer Gruppe höchstrangiger Autoren gesehen (u. a. Meinhard Miegel, Helmut Schmidt, Richard Schröder und Ernst U. von Weizsäcker). Und geändert hat sich nichts – oder vielmehr doch: Die Diskrepanz zwischen Problemdruck und erkennbarer Problemlösekompetenz des politisch-administrativen Systems hat weiter zugenommen. Dabei gibt es ja für Teilaspekte der Gesamtproblematik im Umfeld von Begriffen wie »ökosoziale Marktwirtschaft« oder »solar-solidarische Gesellschaft« durchaus eine Fülle von gut durchdachten Konzepten und Lösungsvorschlägen, die im Prinzip funktionieren könnten (Radermacher, 2007; Wuppertal-Institut, 2008). Sie betreffen die Klimarettung (z. B. Treuhandmodelle), globale Gerechtigkeit (z. B. Global Marshall Plan Initiative) oder Arbeitszeit-Gerechtigkeit (z. B. Modell »Kurze Vollzeit für alle«). Ich bin auf Ansätze dieser Art hier nicht eingegangen, zum einen, weil es dazu gute und aussagekräftige Bücher gibt, zum anderen, weil sie zu großen Teilen eben nur »im Prinzip funktionieren«. Warum ist das so? All diese Ansätze fordern von großen und oft auch noch mächtigen Menschengruppen unter anderem Dinge wie: – Verzichtsfähigkeit; Befähigung, Lebenszufriedenheit aus anderen Quellen zu schöpfen als Konsum und Status. – Selbstbeherrschung, Gelassenheit und Mäßigung. – Denken in und Identifikation mit weitgreifenden Kontexten. – die Fähigkeit, sich in die Wirklichkeit anderer Menschen, sozialer Schichten und Kulturen einzudenken und einzufühlen. – Kompromiss- und Einigungsfähigkeit in Bezug auf hochkomplexe und un-

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scharfe Sachverhalte, bei denen sich das, was richtig und gerecht ist, nicht bis auf die dritte Kommastelle ausrechnen lässt. Wie wir unter dem Schlagwort »Erbhandicaps« herausgearbeitet hatten, sind diese Befähigungen in der ererbten Natur des Menschen überwiegend nicht angelegt und zeigen sich deshalb innerhalb vorfindlicher Bevölkerungen nur bei eher kleinen Teilpopulationen. Deshalb ist es derzeit wenn nicht unmöglich, so doch sehr schwer, Verzichtskonzepte auf demokratischem Wege umzusetzen. Und andere Wege würden wohl in die Teufelskreise von Druck und Gegendruck führen, die am Ende alles zerstören, wie man unter anderem beim Scheitern der DDR studieren konnte. Manchmal wird die Hoffnung geäußert, dass die aus Ressourcenverknappung und Klimakatastrophen erwachende Not zum Lehrmeister für altruistische psychosoziale Befähigungen werden könnte. Aber ich fürchte, dass dies allenfalls bei homogenen, durch Tradition, Religion oder Weltbilder anderer Provenienz geeinten Gemeinschaften eine Chance hätte. Eine solche Gemeinschaft ist Deutschland nicht mehr und Europa oder die Welt schon gar nicht. Bei in sich weitgehend anomen Menschengruppen bzw. Konglomeraten aus sich wechselseitig fremden Gruppierungen ist es viel wahrscheinlicher, dass Not die Erbegoismen verstärkt und die Verteilungskämpfe bis hin zum (Bürger-)Krieg eskalieren lässt. Wie erarbeitet, scheint es vor diesem Hintergrund insbesondere eine Hebelmaßnahme zu geben, die wirklich Erfolg verspricht und die Basis für Erfolge auch anderer Maßnahmen schafft: massive Ressourcen auf Bildung und Erziehung zu konzentrieren. Wir können heute jene Erbhandicaps sehr gut verstehen, die uns die Formierung stabiler und erfolgreicher Kulturgemeinschaften so erschweren. Und wir können Menschen heranführen an den Bau spezifischer innerer Werkzeuge und kultureller Ressourcen, die diese Erbhandicaps kompensieren, und gezielt die Fähigkeit zur kulturellen Vergemeinschaftung fördern. Wie erläutert, habe ich versucht, alles aus meiner Sicht hierfür Nötige im Konzept »Persönliche Meisterschaft« zu integrieren. All das hat nichts mit Esoterik zu tun und erschöpft sich nicht in verwaschenen Vorstellungen von Spiritualität. Das Konzept »Persönliche Meisterschaft« und seine Hintergründe sind differenziert und konkret, vollständig rational, transparent und in einem höheren Sinne eigennützig, das heißt, man kann den meisten Menschen einsichtig machen, dass das Gehen eines solchen Weges die ureigenen Chancen auf Glück, Erfolg und Gesundheit steigert. Mit Blick auf frühere Versuche, den Neuen Menschen heranzubilden, verändert das die Ausgangsbasis völlig und eröffnet ganz andere Chancen. Es geht hier nicht darum, Menschen etwas zu oktroyieren, sie wie Werkstücke zu formen oder ihnen Opferbereitschaft für eine ferne Zukunft abzuverlangen. Es geht darum, Eigenmotivation und Freude an der Selbstentwicklung für sofortigen inneren Lohn zu wecken. Im Gegensatz zu den östlichen Kulturen kennt die westliche Welt keine institutionalisierte systematische, differenzierte Kultivierung der Innerlichkeit. Wir

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sind heute dazu in der Lage, wichtige Momente dieser traditionellen Ansätze vor dem Hintergrund unseres westlichen wissenschaftlichen Weltbildes aufzuheben, zu integrieren und auf fruchtbare Weise mit dem auf Außenveränderung gerichteten Paradigma unserer Kultur zu einem Weg der Mitte zu verbinden. Hier liegt die entscheidende Entwicklungsaufgabe unserer Kultur. Schaffen wir hier keinen Fortschritt, wird unsere Kultur zerfallen. Die systemischen Zerstörungsmechanismen hatten wir im ersten Buchteil beschrieben – sie werden weiterwirken, ganz unabhängig davon, wie gut es uns gelingt, die laufende große Krise durch Akutmaßnahmen abzumildern. Gelänge bei dieser entscheidenden Entwicklungsaufgabe aber ein Durchbruch, würde das im Verbund mit den anderen beschriebenen Hebelmaßnahmen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Gesellschaft in einen anderen qualitativen Betriebsmodus springen kann, in dem auch die laufenden systemischen Zerstörungsmechanismen außer Kraft gesetzt wären. Und auf kürzere Sicht würde die Lösung dieser Entwicklungsaufgabe zum Katalysator für neue Fortschritte auch in vielen anderen Bereichen werden. Das betrifft nicht nur die Umsetzbarkeit genannter »Weltrettungskonzepte«. Es betrifft ebenso die Funktionsfähigkeit unserer Demokratie und die Leistungsfähigkeit der Institutionen unseres politisch-administrativen Systems. Es würde beitragen zu der dringend notwendigen Vorbereitung der Menschen auf das, was läuft und kommt: Flexibilität, Mobilität, Unsicherheit, Volatilität, Spar- und Schrumpfungsprozesse. Die Integration von Konzepten wie der persönlichen Meisterschaft in unsere Kultur würde aber auch die Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit unserer Unternehmen erheblich steigern. Wie dargestellt, führt hier die Eskalation erbhandicapbedingter Konflikte zu ungeheuren Produktivitätseinbußen. Die wichtigste Form der Umsetzung wäre aus meiner Sicht die bundesweit einheitliche Einführung eines Schulfaches, in dem Inhalte breit und intensiv vermittelt und in verschiedener Form eingeübt werden, wie ich sie in diesem Buch im Kontext von persönlicher Meisterschaft skizziert habe. Wenn es derzeit eine konkrete Einzelmaßnahme gibt, bei der sich maximale Hebelwirkung mit ausreichenden Chancen auf Umsetzbarkeit verbinden, dann ist es diese. Die Realisierungschancen hierfür sind sicher gestiegen, seit sich praktische Umsetzungen und Forderungen in dieser Richtung mehren: Seit vielen Jahren verbreitet sich der Schulkurs »Self-Science« in unterschiedlicher Form und mit großen Erfolg an amerikanischen Schulen. Fundiert durch die Erkenntnisse der Positiven Psychologie wurde in England das Schufach »Well-being« etabliert. In Deutschland bildete wie schon erwähnt die Willy-Hellpach-Schule in Heidelberg den Vorreiter und führte das Schulfach Glück ein. Vor dem Hintergrund sich häufender Alkoholexzesse bei Jugendlichen schlug die Drogenbeauftragte der Bundesregierung Sabine Bätzing im Juli 2009 vor, ein Schulfach für mehr Lebenskompetenz, Stressbewältigung, Alkoholvorbeugung und gesunde Ernährung in Deutschland einzuführen (Schlagwort: »Schulfach Wohlfühlen«).

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Sollte es nicht möglich sein, für dieses Ziel eine breit unterstützte soziale Bewegung anzuschieben, die engstirnige Widerstände gegen diese Idee überwindet? Sollte es nicht möglich sein, eine große Zahl von Intellektuellen, Politikern, Lehrern und verantwortungsbewussten Geldgebern aus der Wirtschaft hinter einem solchen Anliegen zu versammeln? Wenn mein Buch hierzu einen Beitrag leisten könnte, hätte es sein wichtigstes Teilziel erreicht. Zugleich ist das ein wichtiges Moment meines Hauptanliegens, mit konsequent abgeleiteten und deshalb oft auch unkonventionellen Vorschlägen die Verkrustungen der »political correctness« aufzubrechen, um den Raum für kreative und mutige Debatten über neue soziale Visionen zu erweitern. Nur wenn es uns gelingt, uns gemeinsam einen neuen, begeisternden und sinnspendenden Traum von einer guten, glücklichen Welt zu erarbeiten, der mehr umfasst als Schlagworte wie Wachstum oder Freiheit, haben wir eine Chance zu überleben. Für intelligente und gebildete Menschen gibt es heute eine Überfülle an Tatsachen und Entwicklungen, die geeignet sind, Hoffnungslosigkeit und Resignation zu wecken. Ich selbst gehe in solchen Situationen immer sehr weit auf Abstand. Dann sehe ich Aras in den dampfenden Wäldern Amazoniens und bunte Korallenfische in kristallklarer See. Ich sehe Perikles vor der Akropolis sprechen, Galilei durch sein Fernrohr schauen und Armstrong den ersten Schritt auf den Mondboden tun. Ich ahne die Symmetrien Bach’scher Fugen und sehe Michelangelo an den Fresken der Sixtinischen Kapelle arbeiten. Ich sehe die Konturen schwitzender Hochofenwerker vor weißer Glut und erschöpfte Krankenschwestern an den Betten ihrer Patienten. Ich sehe Jefferson beim Verlesen der Unabhängigkeitserklärung und Gandhi vor Millionen friedlicher Menschen. Und wenn das und noch vieles andere vor meinem inneren Auge erscheint, dann wird mir mit einem leichten Schauder bewusst: Die Geschichte des Lebens und der Menschheit ist trotz aller Schattenseiten ein atemberaubendes Faszinosum, und auf das Ganze gesehen ist die Fähigkeit zu Weiterentwicklung und Fortschritt doch unübersehbar. Wir haben Verantwortung nicht nur für uns selbst. Wir haben Verantwortung auch für den Sinn des Strebens, Leidens und Sterbens unserer Vorfahren. Wir haben Verantwortung für die Lebenschancen unserer Nachfahren. Wir sind Staffelläufer in einem Wettkampf, der vor Jahrmilliarden im Urmeer startete. Wir wirken mit an einer riesigen Kathedrale, deren Bau vor Jahrtausenden begonnen wurde, für dessen Gelingen Millionen von Menschen Schweiß und Blut gegeben haben. Und wenn wir in Momenten der Entmutigung auf Abstand gehen und uns all das bewusst machen, dann werden wir spüren: Niemals dürfen wir zulassen, dass die gewaltige und wunderbare Kathedrale der menschlichen Kultur vollends einstürzt oder gar der Staffellauf des Lebens zum Erliegen kommt. Ich wollte bei mir und Ihnen mit diesem Buch die Überzeugung stärken, dass wir das Potenzial zum Sprung in eine höher integrierte Form von Gemein-

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schaft in uns tragen, dass das Potenzial zum »Sprung ins Wir« in uns angelegt ist. Und damit würden sich unsere Chancen, unser kollektives Schicksal positiv zu gestalten, dramatisch verbessern. Wir sollten niemals ermüden im Kampf, diese Chancen zu nutzen.

■ Literatur

Antonovsky, A. (1997). Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: DGVTVerlag. Arnim, H. H. von (2004). Das System. Die Machenschaften der Macht. München: Knaur. Bergold, J. B. (1994). Des Kaisers neue Kleider oder der neue Methodenstreit in der Psychologie. In A. Schorr (Hrsg.), Die Psychologie und die Methodenfrage (S. 22–35). Göttingen u. a.: Hogrefe. Binnig, G. (1990). Aus dem Nichts. Über die Kreativität von Natur und Mensch. München u. Zürich: Piper. Bogumil, J., Jann, W. (2005). Verwaltung und Verwaltungswissenschaft in Deutschland. Wiesbaden: VS Verlag. Brockman, J. (1996). Die Dritte Kultur. Berlin: Btb. Bruns, T. (2007). Republik der Wichtigtuer. Ein Bericht aus Berlin. Freiburg: Herder. Buss, D. (2004). Evolutionäre Psychologie. München: Pearson. Cockshott, W. P., Cottrell, A. (2006). Alternativen aus dem Rechner. Köln: PapyRossa. Collins, J. (2003). Der Weg zu den Besten: Die sieben Management-Prinzipien für dauerhaften Unternehmenserfolg. München: dtv. Csikszentmihalyi, M. (1993). Flow. Das Geheimnis des Glücks. Stuttgart: Klett-Cotta. Dahrendorf, R. (2003). Die Krisen der Demokratie. München: C. H. Beck. Darnstädt, T. (2004). Die Konsensfalle. Wie das Grundgesetz Reformen blockiert. Stuttgart: DVA. Degen, R. (2007). Das Ende des Bösen. München u. Zürich: Piper. Dieterich, H. (2006). Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Berlin: Kai Homilius Verlag. Dörner, D. (1989). Die Logik des Mißlingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. Reinbek: Rowohlt. Dönhoff, M. Gräfin, Miegel, M., Nölling, W. (1992). Weil das Land sich ändern muss. Ein Manifest. Reinbek: Rowohlt. Eibl-Eibesfeldt, I. (1995). Die Biologie des menschlichen Verhaltens. München u. Zürich: Piper. Engler, W. (2007). Unerhörte Freiheit. Arbeit und Bildung in Zukunft. Berlin: Aufbau. Fölsing, A. (1999): Albert Einstein. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Franck, G. (2005). Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes. München: Hanser. Fritz-Schubert, E. (2008). Schulfach Glück. Freiburg: Herder. Gell-Mann, M. (1994). Das Quark und der Jaguar. München u. Zürich: Piper. Haken, H. (1991). Die Selbstorganisation der Information in biologischen Systemen aus Sicht der Synergetik. In B.-O. Küppers (Hrsg.), Ordnung aus dem Chaos (S. 127–156). München: Piper. Haken, H. (1995). Erfolgsgeheimnisse der Natur. Synergetik: Die Lehre von Zusammenwirken. Reinbek: Rowohlt.

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Zum Weiterlesen empfohlen Dietmar Hansch Evolution und Lebenskunst Grundlagen der Psychosynergetik. Ein Selbstmanagement-Lehrbuch

Haim Omer / Nahi Alon / Arist von Schlippe Feindbilder – Psychologie der Dämonisierung

2. Auflage 2004. 287 Seiten mit 39 Abb. und 1 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-49005-1

Mit einem Vorwort des Dalai Lama. 2007. 230 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-49100-3

In Hirnforschung und Psychologie hat das Selbstorganisationsdenken alte mechanistische Denkansätze überwunden. Diese Psychosynergetik eröffnet revolutionäre neue Perspektiven. Das Selbstmanagement-Lehrbuch vermittelt ein Grundverständnis für das Zusammenwirken von Denken, Fühlen und Verhalten. Dabei werden neueste Erkenntnisse über das Gehirn als selbstorganisierendes System in den Kontext eines modernen evolutionären Weltbilds gestellt, das uns neue Handlungsmöglichkeiten und Sinnhorizonte eröffnet. Hieraus lassen sich Prinzipien für eine effiziente Selbstveränderung und eine gelingende Lebensgestaltung ableiten. Der wissenschaftliche Tiefgang eines Lehrbuchs wird dabei auf eingängige Weise mit der lebenspraktischen Nützlichkeit eines Ratgeber-Buchs verbunden.

»So beeindruckend die theoretischen Hintergründe und weit zurückreichenden ideengeschichtlichen Wurzeln beider beschriebenen Sichtweisen sind, so bestechend konsequent und klar sind die therapeutischen Konsequenzen der Autoren ... Ich habe das Buch mit sehr viel Gewinn gelesen und empfehle es uneingeschränkt.« Cornelia Tsirigotis, Systeme

»Einmal mehr erweist sich Dietmar Hansch als ein hervorragender Mittler zwischen den systemtheoretischen Konzepten der Synergetik und der Psychologie. Ein faszinierendes Buch, in dem auf verständliche und sensible Weise vorgeführt wird, wie Wissenschaft in ganz praktischen und persönlichen Dingen von großem Nutzen sein kann.« Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hermann Haken, Begründer der Synergetik

Stephan Schleim / Tade Matthias Spranger / Henrik Walter (Hg.) Von der Neuroethik zum Neurorecht?

Adam Phillips Wunschlos glücklich? Über seelische Gesundheit und den alltäglichen Wahnsinn Aus dem Englischen von Florian Langegger. 2008. 176 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-40407-2

Keine Gesundheit ohne psychische Gesundheit! Was jenseits der WHO-Definition alles zu unserem seelischen Wohlbefinden zu sagen ist, verrät Adam Phillips.

2009. 265 Seiten mit 5 Abb. und 2 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-40414-0

Werden Erkenntnisse der Neurowissenschaften unser Menschenbild und Rechtssystem erschüttern?