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German Pages 356 [354] Year 2018
Anne Helen Crumbach Sprechen über Contergan
Histoire | Band 143
Anne Helen Crumbach, geb. 1986, arbeitet als freie Autorin und Historikerin. Sie promovierte an der RWTH Aachen und gewann den Posterwettbewerb des Doktorandenforums auf dem Historikertag 2012. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der langen 1960er-Jahre, Pressegeschichte sowie Disability History.
Anne Helen Crumbach
Sprechen über Contergan Zum diskursiven Umgang von Medizin, Presse und Politik mit Contergan in den 1960er Jahren
D 82 (Diss. RWTH Aachen University, 2016)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Lektorat: Katrin Herbon von sinnhaltig Lektorat Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4427-2 PDF-ISBN 978-3-8394-4427-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Dank | 9 1
Einleitung | 11
1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
Das Sprechen über Contergan | 11 Forschungsstand: Forschungsfragen und Lücken | 16 Methodik | 25 Quellenbestand | 35 Der historische Kontext: Wandel und Kontinuität in den 1960er Jahren | 39 1.6 Aufbau der Studie | 48 2
Wie Contergan zu einer wissenschaftlichen Tatsache wurde (1954-1961) | 51 2.1 Konstitution, Konstruktion und Konsolidierung | 51
2.2 Zweifel am Medikament: Die wissenschaftliche Neudefinition von Contergan | 82 2.3 Wie die medizinischen Akteure um Deutungshoheit kämpften | 89 3
Von der Übersetzung einer gescheiterten wissenschaftlichen Tatsache in den öffentlichen Raum | 103
3.1 Von der Zeitlogik der Wissenschaft zur Zeitlogik der öffentlichen Medien | 104 3.2 Die Verselbstständigung des medialen Diskurses: Skandalisierung und der Versuch, ›Experten‹-Autonomie zu bewahren | 110 3.3 In Sicherheit wiegen: Die politischen ›Experten‹ beginnen ihre Arbeit | 114 3.4 Vom Thalidomid zum Contergan. Die mediale Übersetzung der wissenschaftlichen Tatsache | 127 3.5 Frenkel und Lenz als medizinische Akteure und mediale Übersetzer | 137 4
Der Begriff des Contergankindes als neues Kollektivsymbol in der Presse | 149
4.1 Die sprachliche Erfindung eines neuen Kollektivsymbols | 151 4.2 Die moralische Verhandlung des Kollektivsymbols | 163 4.3 Zwischen Normalisierung und Ausgrenzung: Die Ausdifferenzierung des Kollektivsymbols | 175 5
Politische Diskurslogiken: Der politische Umgang mit dem neuen Kollektivsymbol | 197
5.1 Von der Überforderung des Bundesgesundheitsministeriums und einer gescheiterten Übersetzung | 198 5.2 Exkurs: Chancen für die DDR-Propaganda. Der Begriff Contergankind als Kollektivsymbol der Kapitalismuskritik | 223 5.3 Allianz zwischen Politik und medizinischen ›Experten‹ | 231 5.4 Die Eltern als politische Akteure | 241 6
Die »Unübersetzbarkeit« des Kollektivsymbols in die Logik des Rechts | 261
6.1 Das Auseinandertreten von öffentlichen Erwartungen und rechtlichen Erfordernissen | 263 6.2 Die Hoffnungen auf eine gemeinsame Sprache: Das Kollektivsymbol Contergankind vor Gericht | 277 6.3 Das Aufeinandertreffen medizinischer Gutachter, Juristen und Journalisten | 285 6.4 Ein »moralischer Skandal«? Journalistische und medizinische Deutungskonzepte im Konflikt | 303 6.5 Die Einstellung des Verfahrens und das Kollektivsymbol | 309 7
Fazit | 317
Archivbestände | 325 Literatur und publizierte Quellen | 329 Internetlinks | 351
Dank »I shall be telling this with a sigh Somewhere ages and ages hence: Two roads diverged in a wood, and I – I took the one less traveled by, And that has made all the difference.« [»The road not taken« von Robert Frost]
Die Studie wurde 2016 an der Philosophischen Fakultät der RWTH Aachen als Dissertation eingereicht. Nun liegt die überarbeitete und gekürzte Fassung der Arbeit vor. Am Ende stand die Entscheidung, diesen einen Weg zu gehen. Manchmal zweifelnd, ob es mein Weg sei, manchmal überzeugt, dass es keinen besseren gäbe, haben mich in den letzten Jahren zahlreiche Menschen auf ihm begleitet. Ihnen bin ich zu viel mehr als Dank verpflichtet. Prof. Dr. phil. Drs. h.c. Armin Heinen hat das Projekt von der ersten Minute an befürwortet. Ich danke ihm für seine wissenschaftliche und emotionale Unterstützung, nicht nur während der Promotion. In langen Gesprächen vermittelte mir Herr Heinen stets den Optimismus, dass diese Arbeit gelingen wird. Ich habe unendlich viel von ihm gelernt. Danken möchte ich auch meinem Zweitbetreuer Prof. Dr. phil. Willibald Steinmetz, der mich während der Promotionsphase bestärkt hat, das Thema zu bearbeiten. Ich hoffe, dass dieses Buch auch Ihr Buch geworden ist. Danken möchte ich den ProfessorInnen des Historischen Instituts, Prof. Dr. phil. Christine Roll, Prof. Dr. phil. Klaus Freitag und Prof. Dr. phil. Harald Müller, die mich im Laufe der Jahre begleitet und mir manche berufliche Perspektive ermöglicht haben. Die RWTH Aachen hat diese Arbeit mit einem Abschlussstipendium gefördert, das den Schreibprozess erheblich erleichtert hat. Danken möchte ich auch Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. phil. Dominik Groß für sein Gutachten.
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Danken möchte ich auch den MitarbeiterInnen im Bundesarchiv Koblenz und Berlin, im WDR-Archiv in Köln, im Archiv der Aktion Mensch, im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschlands und im AdsD in Bonn. Mein ganz besonderer Dank geht an die MitarbeiterInnen im Landesarchiv NordrheinWestfalen, insbesondere im Lesesaal. Mein Dank gilt auch Katrin Herbon von »sinnhaltig Lektorat« für ihr gründliches und umsichtiges Lektorat. Auf dem Historikertag 2012 in Mainz konnte ich mit meiner Posterpräsentation den ersten Platz des Doktorandenforums des Historikerverbandes (VHD) erreichen. Das Preisgeld der Gerda Henkel Stiftung ist in die Drucklegung dieser Publikation miteingeflossen. Danken möchte ich auch den zahlreichen Kolleginnen und Kollegen, die ich auf Tagungen und Vortragsveranstaltungen kennengelernt und mit denen ich intensiv über meine Dissertation diskutiert habe. Während meiner Zeit in Aachen durfte ich zahlreiche Menschen kennenlernen, denen ich beruflich und privat verbunden bin. Habt vielen Dank für den wissenschaftlichen und kritischen Austausch über dieses Projekt. Ich danke Bianca Achilles, Dr. phil. Daniel Brewing, Dr. phil. Thomas Dorfner, Dr. phil. Thomas Kirchner, Marlen Gorin, Sascha Penshorn und PD Dr. phil. Ines Soldwisch. Diese Arbeit wäre ohne die Unterstützung vieler Menschen, die mich in all den Jahren ohne Wenn und Aber auf vielfältige Weise freundschaftlich begleitet haben, nicht möglich gewesen. Dafür möchte ich Annas Bajah, Kathrin Beckers, Nadine Deller, Katharina Jochim, Anja Rauenbusch, Christian Schneider und David Zahmel danken. Dank gilt auch meiner Familie, die in den letzten Jahren erheblich größer geworden ist und mich stets in meinem Vorhaben unterstützt hat. Dank an die Familien Becker, Crumbach und Lieven! Meinen Eltern Gertrud und Karl-Heinz, meiner Schwester Christine und meinem Mann Matthias gilt der größte, nicht in Worte zu fassende Dank! Euch ist dieses Buch gewidmet!
1
Einleitung
1.1 DAS SPRECHEN ÜBER CONTERGAN Was uns heute höchst vertraut ist, war Anfang der 1960er Jahre durchaus ungewöhnlich: Mediziner streiten öffentlich miteinander; Journalisten führen Recherchen durch und decken dabei immer neue Facetten eines Skandals auf, sie hinterfragen den Autoritätsanspruch von politischen Akteuren; Eltern körperbehinderter Kinder protestieren. Die mediale und politische Kultur wandelte sich in den 1960er Jahren, veränderte das Sprachhandeln, da das öffentliche Diskutieren nicht mehr allein von politischen Akteuren bestritten wurde, sondern sich eine Vielzahl von Mitdiskutanten erfolgreich einbrachten. Sie entwickelten eine eigene, neue Sprache, neue Formen des Diskutierens in der Öffentlichkeit und eine neue Art des Sprechens. Wie sich das Sprechen in den 1960er Jahren veränderte, lässt sich an kaum einem Beispiel so gut zeigen wie an dem Contergan-Fall. Die Geschichte des Schlaf- und Beruhigungsmittels Contergan lässt uns tief in die Strukturen der 1960er Jahre blicken. Sie ist ein Abbild der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen dieses Jahrzehnts. Insbesondere die Kommunikation zwischen Politikern, Ärzten, Journalisten und Eltern spiegelt tradierte Sprachmuster und Elitendiskurse wider, die sukzessive aufgebrochen wurden. In den Umdeutungs- und Aushandlungsprozessen um Contergan werden zahlreiche Entwicklungen sichtbar: der zunehmende Zwang politischer Akteure, ihr Handeln öffentlich zu rechtfertigen und gesellschaftlich zu legitimieren; das steigende Interesse der Presse an der politischen und gesellschaftlichen Aushandlung des Contergan-Falles, die eigene Deutungsmacht erhielt; die Verschiebung der Deutungshoheit von wissenschaftlichen Autoritäten hin zu ›Laien‹ (Journalisten, Eltern); die öffentlich geführten Debatten über Lebensläufe von Kindern mit Be-
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hinderung, an denen der Zäsurcharakter des Contergan-Falles deutlich wird.1 Er brachte nicht nur sprachliche Veränderungen in Gang, sondern wurde auch selbst zum auslösenden Moment für politischen und gesellschaftlichen Wandel.2 Die Geschichte des Contergans ist eine Geschichte des Sprechens über Contergan. Einen großen Anteil daran hatten Journalisten, die eine aktive, kreative Sprachpolitik entwickelten. Sie schalteten sich in den Contergan-Skandal ein, übersetzten die medizinische Debatte mit anschaulichen Metaphern in die ›Sprache der Vielen‹. Der Begriff des Contergankindes3 symbolisierte die Hybris der pharmazeutischen Industrie, die politische Verweigerung, die Konsumenten ausreichend vor pharmazeutischen Experimenten zu schützen, die Emanzipation der medialen Akteure gegenüber der staatlichen Autorität. Zeitungen wurden zu Sprachrohren, Journalisten fragten nach staatlicher und industrieller Verantwortung. Denn hatte der Staat seine Bürger vor den Gefahren von Arzneimitteln ausreichend geschützt? Hätte er sie nicht besser schützen können? Waren die Anforderungen einer immer komplexer werdenden Welt überhaupt noch mithilfe der Legitimation durch Autorität zu bewältigen? Mit diesen Fragen ging eine tiefgreifende Kritik an überlieferten Fortschrittsvorstellungen einher. Statt von Fortschritt war jetzt von Chancen, aber auch von Fehlverhalten und negativen Technikfolgen die Rede. Diese Ausgangslage stellt Historiker vor Herausforderungen, denn der Contergan-Fall brachte unzählige Geschichten hervor: die Geschichte der Opfer4, die
1
Siehe hierzu Anne Helen Günther, Der Contergan-Fall als Zäsur in den langen sechziger Jahren?, in: Lingelbach, Gabriele/Waldschmidt, Anne (Hg.), Kontinuitäten, Zäsuren, Brüche? Die Lebenslage von Menschen mit Behinderungen in Deutschland nach 1945, Frankfurt am Main 2016, S. 142-165.
2
Zu Überlegungen des Contergan-Falles als Indikator oder Faktor siehe Willibald Steinmetz, Ungewollte Politisierung durch die Medien? Die Contergan-Affäre, in: Weisbrod, Bernd (Hg.), Die Politik der Öffentlichkeit – die Öffentlichkeit der Politik. Politische Medialisierung in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2003, S. 195-228.
3
Die Schreibweise Contergankind bezieht sich auf die vom Duden empfohlene Schreibweise.
4
Vgl. Walburga Freitag, Contergan. Eine genealogische Studie des Zusammenhangs wissenschaftlicher Diskurse und biographischer Erfahrungen, Münster/New York 2005. W. Freitag verbindet in ihrer Arbeit die wissenschaftlichen Diskurse über Thalidomid und seine Folgen mit autobiografischen Wahrnehmungen von Betroffenen.
Einleitung | 13
Geschichte der Firma Chemie Grünenthal GmbH5, die Geschichte juristischer Debatten um Schadenersatz. Diese Perspektiven haben ihre Berechtigung, dennoch sollen sie hier nicht im Mittelpunkt stehen. Erzählt wird vielmehr eine Geschichte des mehrfachen Wandels von Kommunikation, eine Geschichte sich ändernden Begriffen, eine Geschichte über Macht und Autoritäten, eine Geschichte des Protests von neuen und altbekannten Akteuren. Kurz, es soll eine Geschichte vorgestellt werden, die bisher nicht erzählt worden ist. Den roten Faden dieser Geschichte spinnen Begriffe wie ›Katastrophe‹, ›Mißbildung‹ und Contergan. Zugleich gewinnt ein neues Kollektivsymbol an Gewicht: das Contergankind. Seine Geschichte ist die des Autoritätsverlustes medizinischer und politischer Akteure, des Machtgewinns von Journalisten und Elternvertretern, einer neuen Art des Sprechens über Behinderung. An ihm spiegelte sich das Überleben veralteter Sprachbilder und Vorurteile. Das Kollektivsymbol Contergankind steht nicht für eine plötzlich eintretende und erfolgreiche Integration von Kindern mit Behinderung. Es bildet vielmehr krisenhafte und problematische Umbrüche ab. Welche Macht neue Begriffe und ein Kollektivsymbol hatten, welche Autoritätsverschiebungen damit einhergingen und wie Sprache von den 1950er Jahren bis zu den 1960er Jahren neu erfunden wurde, das will die vorliegende Studie aufzeigen. War der Contergan-Fall exemplarischer Inszenierungsort des Sprachwandels der 1960er Jahre? Die Analyse möchte zeigen, inwiefern das Sprechen über Contergan zum Sinnbild für die Ausdifferenzierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft in den 1960er Jahren gelesen werden kann, wie die Funktion von sachlicher und politischer Autorität neu ausgehandelt wurde und auf welche Weise die gesellschaftliche Beteiligung Interessenartikulation und Transparenz sicherstellen sollte. Doch bevor wir das Sprachhandeln weiter analysieren und die zugehörigen Forschungsansätze vorstellen, gilt es, den Sachverhalt selbst, den ConterganSkandal, ein wenig genauer in Augenschein zu nehmen. 1957 in Stolberg: Die Firma Chemie Grünenthal vermarktete ein neues Medikament, von dem sie Großes erwartete. 6 Schon kurze Zeit später gab es kaum
5
Das Archiv der Firma Chemie Grünenthal war nicht zugänglich (siehe Quellenlage). Im weiteren Verlauf wird die Herstellerfirma als Chemie Grünenthal bezeichnet.
6
Zur Geschichte des Medikaments siehe ausführlich: Beate Kirk, Der Contergan-Fall. Eine unvermeidbare Arzneimittelkatastrophe? Zur Gesschichte des Arzneistoffs Thalidomid, Stuttgart 1999 (= Greifswalder Schriften, Band 1), hier S. 35; ab S. 55; Niklas Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen und der »Contergan«-
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jemanden, der nicht diese blaue Tablette kannte. Ihr Name: Contergan/ Contergan forte. Sie versprach Schlaf und Beruhigung – und das ohne Nebenwirkungen. Ob jung oder alt, Mann, Frau oder Kind, Contergan fand reißenden Absatz. Tausendfach ging die Verpackung über die Verkaufstische der Apotheken. Contergan symbolisierte die Hoffnung auf einen risikofreien medizinischen Fortschritt. Erste Zweifel an dem Wirkstoff Thalidomid, der in Contergan enthalten war, kamen bereits kurz nach der Markteinführung auf. Kritiker wandten sich an die Herstellerfirma, die jeden Verdacht an ihrem Medikament zurückwies. Die Kommunikation beschränkte sich in den nächsten Jahren auf die Herstellerfirma Grünenthal und einzelne Mediziner. Nur zögerlich publizierten die Kritiker ihre Sorgen über Nebenwirkungen in Fachzeitschriften. Ihre Kritik war nun für das Fachpublikum nachzuverfolgen. Der medizinische ›Laie‹ erfuhr jedoch nicht, welche Zweifel an dem Medikament bestanden. Auch das nordrhein-westfälische Landesinnenministerium, unter dessen Zuständigkeit die Herstellerfirma fiel, erfuhr erst verspätet von den vermuteten Nebenwirkungen. Zwar wuchs 1960/61 der Druck auf die Herstellerfirma, jedoch kommunizierten die ausgewählten Akteure weiterhin über ihre nichtöffentlichen Kanäle. Die Autorität der medizinischen und politischen Eliten blieb dadurch gewahrt. Einig waren sie sich, dass medizinische ›Laien‹ keinen Zugang zu der Debatte erhalten sollten. November 1961:7 Zeitungen verkündeten, dass Neugeborene mit schwersten körperlichen Behinderungen auf die Welt gekommen waren, nachdem ihre Mütter in der Schwangerschaft Contergan eingenommen hatten. Nichts war mehr wie zuvor. Die Nachricht verbreitete sich schnell, aber nicht über medizinische Fachzeitschriften, sondern Tageszeitungen und Wochenmagazine. Der Schock saß tief. Ärzte und Politiker sprachen von Thalidomid und nicht von Contergan. Die komplexen medizinischen Zusammenhänge waren für die medizinunkundigen Leser nur schwer zu verstehen. Ärzte und Politiker beruhigten die Bürger und bekräftigten, sie würden das Problem lösen. Mehr Informationen gab es nicht. Allein die Tatsache, dass die Meldung an die Öffentlichkeit gelangt war, löste Unmut unter Politikern und Medizinern aus.
Skandal Gesundheitsaufsicht und Strafjustiz in den »langen sechziger Jahren«, Göttingen 2016, siehe Kapitel 1.2.4, ab S. 157. 7
Vgl. B. Kirk, Contergan-Fall, S. 85; N. Lenhard-Schramm, Das Land NordrheinWestfalen, ab S. 306; W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, ab S. 211.
Einleitung | 15
1962 waren die Nebenwirkungen von Contergan überall bekannt:8 Auf den Titelseiten von Journalen, Magazinen und Zeitungen klagten Journalisten das Medikament an. Die politische Beruhigungsstrategie war gescheitert.9 Verstrickt in Fragen der Zuständigkeit hatten Landes- und Bundesbehörden zu wenige Informationen an die Bürger weitergegeben. Dass die Strategie des Abwartens und Stillhaltens fehlgeschlagen war, lag jedoch auch an dem investigativen Interesse zahlreicher Journalisten, die sich nicht mit den Meldungen aus den Ministerien in Bonn und Düsseldorf zufriedengaben. Sie stellten eigene Recherchen an, befragten Mediziner und interviewten Eltern contergangeschädigter Kinder. Sie schrieben eine neue Geschichte des Falles, nannten Contergan beim Namen, kritisierten das Versagen von medizinischen Testverfahren und politischen Gesetzgebungen, berichteten von einem politischen Skandal, dessen Opfer unschuldige Kinder waren. Jeder ›Laie‹ sollte verstehen, was tatsächlich passiert war. Deshalb übersetzen die Journalisten medizinische Fachbegriffe in eine einfache Sprache, beschrieben den Contergan-Fall als ›Katastrophe‹ und die Behinderungen der Kinder als ›Mißbildungen‹.10 Ihre Leser sollten nicht in Unkenntnis gelassen werden. Ihre Übersetzungsleistung bestand elementar darin, den Contergan-Fall für die Laienakteure zugänglich zu machen. Die Ministerien auf Landes- und Bundesebene sahen hilflos zu, wie sich ein neues Kollektivsymbol in der Debatte etablierte: das Contergankind. Die abgeschirmten Kommunikationswege waren aufgebrochen. Nicht mehr der medizinische oder politische Hintergrund der Akteure entschied über die Teilnahme an dem Diskurs.
8
Vgl. Elsbeth Bösl, Politiken der Normalisierung. Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld 2009 (= Disability Studies, Band 4), hier ab S. 230; Elsbeth Bösl, The Contergan Scandal. Media, Medicine, and ›Thalidomide‹ in 1960s West Germany, in: Burch, Susan/Rembis, Michael A. (Hg.), Disability Histories, Illinois 2014, S. 136-162; W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, ab S. 217; A.H. Günther, Contergan als Zäsur, S. 153; Anne Helen Crumbach, Contergan im Diskurs: Ärzte und ihre öffentliche Verantwortung zu Beginn der 1960er Jahre, in: Groß, Dominik/Söderfeldt Ylva (Hg.), »Disability Studies« meets »History of Science«, Körperliche Differenz und soziokulturelle Konstruktion von Behinderung aus der Perspektive der Medizin-, Technik- und Wissenschaftsgeschichte, Kassel 2017, S. 67-92, hier ab S. 80.
9
Vgl. Niklas Lenhard-Schramm, Contergan und das Arzneimittelrecht, in: Großbölting, Thomas / Lenhard-Schramm, Niklas (Hg.): Contergan. Hintergründe und Folgen eines Arzneimittelskandals. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017, S. 135–165, hier S. 152-155.
10 Vgl. A.H. Günther, Contergan als Zäsur, S. 146-155.
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1968 begann der Contergan-Prozess:11 Sieben Jahren waren seit dem öffentlichen Bekanntwerden der Nebenwirkungen vergangen, als der Richter im Alsdorfer Gerichtssaal die erste Sitzung im Prozess eröffnete. Seit sieben Jahren diskutierten und debattierten Ärzte, Minister und ihre Mitarbeiter, Journalisten, Eltern, Pädagogen und Sozialarbeiter über die Auswirkungen des ConterganFalles. Nun betraten die juristischen Akteure die Bühne. Bisher hatten sich die Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Bürgern sowie zwischen der Presse und der medizinischen Fachgemeinschaft zunehmend ausdifferenziert. Mit dem Gerichtsverfahren trat der Contergan-Fall nun in eine neue Phase ein. Die Zeit der Konsolidierung war vorbei. Alle Akteure trafen im Gerichtssaal aufeinander. Die Ausweitung des Akteurkreises, die immer weiter verzweigte Diskussion über die Folgen des Medikaments und schließlich die juristische Verhandlung bildeten den Transformationsprozess der 1960er Jahre ab.
1.2 FORSCHUNGSSTAND: FORSCHUNGSFRAGEN UND LÜCKEN Ein Blick in die Forschungsliteratur lässt den Beobachter staunen. Erst in den letzten Jahren ist das geschichtswissenschaftliche Interesse am Fall Contergan erwacht.12 Angeboten hätte sich die Thematisierung im Rahmen des Booms der
11 Vgl. N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, insbesondere Kapitel 3, ab S. 523; Anne Helen Günther, Ein ›Jahrhundertprozess‹ oder ›Justitias Blamage‹? Der sogenannte Contergan-Prozess in Alsdorf (1968-1970), in: Sammlung Crous (Hg.), Recht und Unrecht – 1200 Jahre Justiz in Aachen, Aachen 2015, S. 200-209. 12 Neben den zahlreichen zeitgenössischen Publikationen aus dem Wissenschaftsbereich (Medizin, Pharmazie, Pädagogik) erscheinen seit den 1970er Jahren vermehrt populärwissenschaftliche Arbeiten auf dem Markt, die sich mit der Schuld der Herstellerfirma Chemie Grünenthal auseinandersetzen. Zu den Autoren gehören vorwiegend Journalisten (in späteren Jahren auch Betroffene). Sie bilden ein Gegengewicht zu den wissenschaftlich-juristischen Veröffentlichungen. Dieser Zugang ist eindeutig von autobiografischen Erfahrungen der Betroffenen. Zu erwähnen ist die Arbeit des Rechtsanwalts Henning Sjöstrom und des Biochemikers Robert Nilsson (Henning/Nilsson, Robert: Contergan oder die Macht der Arzneimittelkonzerne, Berlin (Ost) 1975). Das Buch ist eine Art Anklageschrift gegen die Firma Chemie Grünenthal. Dennoch ist diese Schrift keine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema, sondern vielmehr eine populärwissenschaftliche Arbeit. Die deutsche Übersetzung aus dem Schwedischen erschien in der ehemaligen DDR. Das Vorwort verweist auf den ideo-
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Skandalforschung innerhalb der Geschichtswissenschaft13, die herausarbeitet, welche Bedeutung Skandale als Initiatoren für gesellschaftliche und politische Umbrüche und für einen grundlegenden Wertewandel in der Gesellschaft haben.14 Eine umfassende geschichtswissenschaftliche Analyse fehlt jedoch bis in
logischen Impetus, den Contergan-Skandal für die sozialistische Propaganda gegen die Bundesrepublik zu verwenden. Siehe außerdem Phillip Knightley u.a., Suffer the Children. The Story of Thalidomide, London 1979; Catia Monser, Contergan/Thalidomid. Ein Unglück kommt selten allein, Düsseldorf 1993; Gero Gemballa, Der dreifache Skandal. 30 Jahre nach Contergan. Eine Dokumentation, Hamburg u.a. 1993; Michael Rauschmann/Klaus-Dieter Thomann/Ludwig Zichner (Hg.), Die Contergankatastrophe – Eine Bilanz nach 40 Jahren, Darmstadt 2005; Christian Schütze, Ein Schlafmittel weckt die Welt. Das ohnmächtige Strafrecht im ConterganVerfahren, in: Schultz, Uwe (Hg.), Große Prozesse. Recht und Gerechtigkeit in der Geschichte, 3. Auflage, München 2001, S. 392-403. 13 Vgl. Frank Bösch, Historische Skandalforschung als Schnittstelle zwischen Medien-, Kommunikations- und Geschichtswissenschaft«, in: Crivellari, Fabio/Kirchmann, Kay/Sandl, Marcus/Schlögl; Rudolf (Hg.), Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive, Konstanz 2004 (=Historische Kuturwissenschaft, Band 4), S. 445-464.Frank Bösch, als Schnittstelle zwischen Medien-, Kommunikations- und Geschichtswissenschaft«, in: Crivellari, Fabio/Kirchmann, Kay/Sandl, Marcus/Schlögl; Rudolf (Hg.), Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive, Konstanz 2004 (=Historische Kulturwissenschaft, Band 4), S. 445-464; Steffen Burkhardt, Medienskandale. Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse, Köln 2006; Thomas Ramge, Die großen Polit-Skandale. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main 2003. 14 Vgl. Franz-Werner Kersting/Jürgen Reulecke/Hans-Ulrich Thamer, Aufbrüche und Umbrüche. Die zweite Gründung der Bundesrepublik 1955-1975. Eine Einführung, in: Ders. (Hg.), Die zweite Gründung der Bundesrepublik. Generationswechsel und intellektuelle Wortergreifungen 1955-1975, Stuttgart 2010 (= Nassauer-Gespräche der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft, Band 8), S. 7-18; Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945-1973, Göttingen 2006 (= Moderne Zeit, Band 12); Christina von Hodenberg, Die Journalisten und der Aufbruch. Die Journalisten und der Aufbruch zur kritischen Öffentlichkeit, in: Wilke, Jürgen (Hg.), Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1999, S. 278-311; Christina von Hodenberg, Konkurrierende Konzepte von »Öffentlichkeit« in der Orientierungskrise der 60er Jahre, in: Frese, Matthias/Paulus, Julia/Teppe, Karl (Hg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als
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die 2000er Jahre hinein.15 So schildert Ulrike Lindner noch 2004 die bundesrepublikanische Gesundheitspolitik nach 1945, ohne auf den Contergan-Fall ein-
Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn u.a. 2005 (= Forschungen zur Regionalgeschichte, Band 44), S. 205-226. 15 Der Anfang einer historischen Aufarbeitung findet sich 1999 in der pharmaziegeschichtlichen Arbeit von Beate Kirk. In ihrer Arbeit rekonstruiert sie den chronologischen Ablauf des Contergan-Falles und stützt sich auf eine breite Quellenbasis aus dem Landesarchiv NRW. Ihre Perspektive bleibt jedoch medizingeschichtlich. Sie fragt nach Veränderungen im medizinisch-pharmaz-eutischen System, nimmt Gesetzesänderungen und Forschungsentwicklungen in den Blick. Weitere medizingeschichtliche Studien interessieren sich insbesondere für den Wirkungsmechanismus des Wirkstoffes Thalidomid. Damit verbunden war eine Diskussion um die Arzneimittelsicherheit und Arzneimittelgesetzgebung (vgl. B. Kirk, Der Contergan-Fall). Zur Auseinandersetzung pharmaziegeschichtlicher Arbeiten: Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e.V. (Hg.), 25 Jahre Arzneimittelgesetz– Fortschritte der Arzneimittelsicherung, 1987; Stefan Böschen, Risikogenese. Prozesse gesellschaftlicher Gefahrenwahrnehmung: FCKW, DDT, Dioxin und Ökologische Chemie, Opladen 2000 (= Forschung Soziologie, Band 81); Alexander von Schwerin, Die Contergan-Bombe. Der Arzneimittelskandal und seine risikoepistemische Ordnung der Massenkonsumgesellschaft, in: Eschenbruch, Nicholas u.a. (Hg.), Arzneimittelgeschichte des 20. Jahrhunderts. Historische Skizzen von Lebertran bis Contergan, Bielefeld 2009, S. 255-282; Volker Hess, Regulating Risks. Regulating Risks?, in: Münkler, Herfried/Bohlender, Matthias/Meurer, Sabine (Hg.), Sicherheit und Risiko. Über den Umgang mit Gefahr im 21. Jahrhundert, Bielefeld 2010, S. 187-206. Medizingeschichtliche Arbeiten konzentrieren sich vornehmlich auf medizinische Akteure, zum Beispiel: Elke Wagner, Der Arzt und seine Kritiker. Zum Strukturwandel medizinkritischer Öffentlichkeiten am Beispiel klinischer Ethik-Komitees, Stuttgart 2011 (= Qualitative Soziologie, Band 14). Zur Entwicklung der Medizin und Gesundheitspolitik in den 1960er bis in die 2000er Jahre exemplarisch: Ralf Forsbach, Die 68er und die Medizin. Gesundheitspolitik und Patientenverhalten in der Bundesrepublik Deutschland (1960-2010), Göttingen 2011 (= Medizin und Kulturwissenschaft. Bonner Beiträge zur Geschichte, Anthropologie und Ethik der Medizin, Band 5). Zur Arzneimittelsicherheit exemplarisch: Axel Murswieck, Die staatliche Kontrolle der Arzneimittelsicherheit in der Bundesrepublik und den USA, Opladen 1983 (= Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Forschung, Band 46); Niklas Lenhard-Schramm/Thomas Großbölting (Hg.), Contergan. Hintergründe und Folgen eines Arzneimittelskandals. Göttingen 2017. In der amerikanischen Forschung hat insbesondere der Umstand der Arzneimittelsicherheit Interesse geweckt, da das Medikament in den USA nicht zuge-
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zugehen.16 Auch in weiteren geschichtswissenschaftlichen Arbeiten zu den langen 1960er Jahren wird der Contergan-Fall oftmals ausgespart, obwohl er ein wichtiges Element veränderter Debattenkultur ist.17 Das wachsende Interesse an dem neuen Forschungszweig der Disability History spiegelt sich in zahlreichen Veröffentlichungen der letzten Jahre wider.18 Im
lassen worden war; vgl. Barbara Clow, An Illness of Nine Months Duration. Pregnancy and Thalidomide Use in Canada and the United States«, in: Feldberg, Georgina u.a. (Hg.), Women, Health, and Nation. Canada and the United States since 1945, Montreal u.a. 2008, S. 45-66; Arthur A. Daemmrich, Parmacopolitics. Drug Regulation in the United States and Germany, Chapel Hill and London 2004; Arthur A. Daemmerich, A Tale of two Experts: Thalidomide and Political Engagement in the United States and West Germany, in: Social History of Medicine, Vol. 15, No. 1 (2002), S. 137-158. 16 Vgl. Ulrike Lindner, Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit: Großbritannien und die Bundesrepublik im Vergleich, München 2004, (= Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Band 57). Siehe jedoch die Arbeiten von Rudloff, die sich mit den Auswirkungen des Contergan-Falles auf die bundesrepublikanische Sozialpolitik auseinandersetzen: Wilfried Rudloff, Rehabilitation und Hilfen für Behinderte, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Bundesarchiv (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 5, Bundesrepublik Deutschland. Eine Zeit vielfältigen Aufbruchs, Baden-Baden 2006, S. 558-591; Wilfried Rudloff, Rehabilitation und Hilfen für Behinderte, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Bundesarchiv (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 4, 1957-1966 Bundesrepublik Deutschland. Sozialpolitik im Zeichen des erreichten Wohlstandes, Baden-Baden 2007, S. 464-501; Wilfried Rudloff, Überlegungen zur Geschichte der bundesdeutschen Behindertenpolitik, in: Zeitschrift für Sozialreform, Jg. 49, Heft 6 (2003), S. 863-886. 17 Vgl. zum Beispiel Klaus Schönhoven, Aufbruch in die sozialliberale Ära. Zur Bedeutung der 60er Jahre in der Geschichte der Bundesrepublik, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Jg. 25, Heft 1 (1999), S. 123-145. Vereinzelte Arbeiten beleuchten lediglich Abschnitte des Contergan-Falles bezogen auf die Umbruchsphase der 1960er Jahre: Vgl. W. Steinmetz, Contergan, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Skandale in Deutschland nach 1945, Bonn 2007, S. 50-57; A. v. Schwerin, Die Contergan-Bombe. 18 Elsbeth Bösl, Was ist und wozu brauchen wir die Dis/ability History? Was ist und wozu brauchen wir die Dis/ability History?, in: Schmuhl, Hans-Walter/Winkler, Ulrike (Hg.), Welt in der Welt. Heime für Menschen mit geistiger Behinderung in der Perspektive der Disability History, Stuttgart 2013, S. 21-41; Walburga Freitag, Diskurs und Biographie. Konstruktion und Normalisierung Contergangeschädigter Körper und
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Zuge dessen wurde auch der Contergan-Fall als Umbruchsituation wahrgenommen. Hier knüpft Elsbeth Bösl mit ihrer Dissertation zu Politiken der Normalisierung an, die als ein Standardwerk der Geschichte der Behindertenpolitik gilt. Bösl untersucht darin die politische und wissenschaftliche Konstruktion von Behinderung nach 1945.19 Ausführlich widmet sich Bösl der sprachlichen Konstruktion des Contergankindes in einem eigenen Aufsatz.20 Darin untersucht sie die sprachliche Implementierung des Begriffes über moralische und politische Debatten in der deutschen Presse.21 Insbesondere die veränderte Wahrnehmung
ihre Bedeutung für die Entwicklung biographisch ›wahren‹ Wissens, in: Waldschmidt, Anne/Schneider, Werner (Hg.), Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Bielefeld 2007, S. 175-197, S. 249-274; W. Rudloff, Überlegungen zur Geschichte der bundesdeutschen Behindertenpolitik; Jan Stolls Ausführungen zu der Entstehung der »Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind« in den 1950er und 1960er Jahren thematisieren die soziale Ungleichheit und beginnende Elternarbeit: Vgl. Jan Stoll, ›Behinderung‹ als Kategorie sozialer Ungleichheit. Entstehung und Entwicklung der ›Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind‹ in der Bundesrepublik Deutschland in den 1950er und 1960er Jahren, in: Archiv für Sozialgeschichte, Band 54 (2014), S. 169-191; Jan Stoll, Behinderte Anerkennung? Interessenorganisationen von Menschen mit Behinderungen in Westdeutschland seit 1945, Frankfurt/New York 2017; Gabriele Lingelbach, Konstruktionen von ›Behinderung‹ in der Öffentlichkeitsarbeit und Spendenwerbung der Aktion Sorgenkind seit 1964, in: Bösl, Elsbeth/Klein, Anne/Waldschmidt, Anne (Hg.), Disability History. Konstruktion von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung, Bielefeld 2010, S. 127-150; Markus Dederich, Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability History, Bielefeld 2007; Markus Dederich, Behinderung – Medizin – Ethik. Behindertenpädagogische Reflexionen zu Grenzsituationen am Anfang und Ende des Lebens, Bad Heilbrunn 2000; Svenja Goltermann, Verletzte Körper oder ›Building National Bodies‹. Kriegsheimkehrer, ›Krankheit‹ und Psychiatrie in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, 1945-1955«, in: WerkstattGeschichte 24 (1999), S. 83-98; Britta-Maria Schenk, Behinderung verhindern. Humangenetische Beratungspraxis in der Bundesrepublik Deutschland (1960er bis 1990er Jahre). Frankfurt am Main 2016; Sebastian Schlund: »Behinderung« überwinden? »Behinderung« überwinden? Organisierter Behindertensport in der Bundesrepublik Deutschland (1950-1990), Frankfurt am Main/ New York 2017. 19 Vgl. E. Bösl, Politiken der Normalisierung. 20 Vgl. E. Bösl, The Contergann Scandal. 21 Vgl. ebd. Contergan wird folglich vor allem im Kontext der westdeutschen Behindertenpolitik interpretiert. Bei dieser Betrachtung darf jedoch nicht außer Acht gelassen
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von Behinderung vor dem Kontext eines sich wandelnden Gefahrenbewusstseins und der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte stehen im Mittelpunkt. Sie konstatiert, dass mit dem Contergan-Skandal eine tiefgreifende Auseinandersetzung über technische Risiken und Behinderung einsetzte, gleichzeitig aber auch mit dem Contergankind neuen Debatten über Behinderung möglich waren. Bösl interpretiert den Contergan-Fall vor dem Hintergrund der Nachkriegsgesellschaft auf tiefgreifende Zäsur für die junge Bundesrepublik, speziell für das Verständnis von Behinderung. Sie zeichnet ein enges Geflecht von Politikern, Journalisten und Ärzten, die an diesem Wahrnehmungswandel beteiligt waren.22 An ihre Überlegungen knüpfe ich mit dieser Studie an. Ich untersuche den beginnenden Sprachwandel jedoch bereits im Labor der Firma Chemie Grünenthal und weite den Untersuchungszeitraum bis auf das Ende der 1960er Jahre aus. Dadurch nehme ich nicht nur die Frage in den Blick, wie das Sprechen über Contergan die Wahrnehmung von Behinderung veränderte, sondern auch wie das Kommunizieren – kurz, der Akt des Sprechens selbst – zwischen Journalisten, Medizinern und Politikern gestaltet wurde. Immer mehr gingen sie aufeinander ein und durchbrachen die Autonomie ihrer kommunikativen Netzwerke. Willibald Steinmetz hat in zwei wichtigen Aufsätzen bereits vor einigen Jahren die Emanzipation der Medien von der Politik in den langen 1960er Jahre thematisiert. Die Skandalisierung des Contergan-Falles, so seine Beobachtung, habe ein verändertes Sprachverhalten hervorgebracht. Steinmetz beschreibt die investigative Presse als eine neuartige Plattform der Kommunikation, an der sich nicht nur ›Experten‹, sondern auch ›Laien‹ beteiligen konnten. Zugleich konnte er nachweise, welche Wirkungskraft die Presse auf das staatliche Vorgehen ausübte, als politische Untätigkeit und Unzulänglichkeiten öffentlich gemacht wurden. Betrachtet Steinmetz das veränderte Sprachverhalten zu Beginn des ConterganFalles, wird dieser Ansatz in meiner Studie bis zum Prozess weiterverfolgt.23 Walburga Freitag setzt sich in ihrer Dissertation ausführlich mit den unterschiedlichen Diskurspraktiken medizinischer Fachwissenschaft und biografi-
werden, welche Bedeutung der Contergan-Skandal für die westdeutsche Gesundheitspolitik und das Gefahrenbewusstsein hatte, vgl. hierzu A. v. Schwerin, Die ConterganBombe; V. Hess, Regulating Risks?; S. Böschen, Risikogenese. 22 Vgl. E. Bösl, Elsbeth, The Contergan Scandal, S. 136-137. 23 Vgl. W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 195-228; W. Steinmetz, Contergan. Steinmetz’ Aufsatz im Ausstellungskatalog »Skandale in Deutschland nach 1945« besitzt einen eher reproduktiven Charakter und versucht, das Skandalöse des Falles herauszuarbeiten.
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schen Erlebnissen auseinander. So untersucht sie die wissenschaftliche Konstruktion von Wissen innerhalb der Fachgemeinschaft und vergleicht sie mit biografischen Erzählungen von erwachsenen Contergangeschädigten.24 Interessant ist ihre Rekonstruktion des wissenschaftlichen Sprechens über die auftretenden Conterganschäden. Sie kann nachweisen, wie sich unterschiedliche wissenschaftliche Standpunkte über sprachliche Zuordnungen manifestieren, wie Vertreter einer Kausalitätsthese dies auch sprachlich festigen, gegnerische Positionen über eine bewusste Begriffsbildung ausgetragen wurden. So weist Freitag nach, dass Vertreter der Dysmelie-These sprachlich wie inhaltlich das DysmelieKind als Konzept in die medizinische Debatte einbrachten. Sie distanzierten sich von der Kausalitätsdebatte nicht nur wissenschaftlich, sondern auch sprachlich. Somit bildet ihre Studie die Grundlage für die weitergehende Frage, wie sich wissenschaftliche Begriffe in der öffentlichen Sprachhandlung etablierten oder nicht. Eine wichtige Forschungslücke zur historischen Aufarbeitung des Falles schließt die Arbeit von Niklas Lenhard-Schramm.25 In seiner Dissertation untersucht er die Haltung des Landes Nordrhein-Westfalen und betrachtet den Contergan-Fall aus einer landespolitischen Perspektive. Dennoch schafft er es, auch bundespolitische Entscheidungen zu berücksichtigen. Zentraler Bestandteil der Arbeit ist die Rekonstruktion von Handlungsmustern der landespolitischen Akteure, von Politikern und Beamten, von Staatsanwälten und Richtern. Die Quellenbasis ist überwältigend, und mit überzeugenden Argumenten erläutert Lenhard-Schramm, wie unvorbereitet – rechtlich, verwaltungstechnisch, politisch – die Handelnden dem Contergan-Fall gegenübertraten.26 Als quellengestützte Aufarbeitung von Unternehmens- und Verwaltungshandeln wird seine Studie für lange Zeit Bestand haben. Daran anknüpfend entstanden Arbeiten von LenhardSchramm zur politischen und arzneirechtlichen Einordnung des ConterganFalles, die seine Kontextualisierung in den 1960er Jahren weiter schärfen.27
24 Vgl. W. Freitag, Contergan; W. Freitag, Diskurs und Biographie. 25 Die Dissertation ist aus einem Forschungsprojekt des nordrhein-westfälischen Ministeriums für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter (MGEPA) hervorgegangen. 26 Vgl. N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen. 27 N. Lenhard-Schramm: Contergan und das Arzneimittelrecht; N. Lenhard-Schramm und T. Großbölting, Contergan. Arzneimittelskandal und permanentes Politikum. Niklas Lenhard-Schramm, Ein Lifestyle-Medikament im Nachtwächterstaat. Contergan und die Arzneimittelaufsicht des Landes Nordrhein-Westfalen. In: Geschichte im Westen 31 (2016), S. 225–255.
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Da mit Lenhard-Schramm die genauen Abläufe des Contergan-Falles rekonstruiert sind und hier kaum weitere Aufklärung zu erwarten ist, nehme ich eine andere Forschungsperspektive ein, in dem das Sprechen über Contergan im Mittelpunkt steht.28 Ziel der Studie ist daher nicht, Entscheidungsprozessen, Verwaltungsakten oder Gerichtsurteilen zu rekonstruieren. Vielmehr richtet sich mein Blick auf das Sprachhandeln in der medialen, politischen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit. Im Folgenden seien einige Ausgangsthesen angesprochen: • Die öffentliche Auseinandersetzung mit Contergan begleitet ein signifikanter
Sprachwandel. Ältere Begriffe erhalten eine neue Bedeutung. Neue Begriffe kennzeichnen das bis dahin nicht Denk- und Sagbare.29 • Die Grenzen zwischen den Sprachräumen (Domänen) transzendieren und werden neu ausgehandelt. Da die Pharmazie nicht allein heilend, sondern auch schädigend in die Lebenswirklichkeit eingreift, tritt sie aus dem wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Feld heraus, wird somit zum Gegenstand des Streitens auf vielen Ebenen der Öffentlichkeit. • Während der 1960er Jahre löst sich die Presse aus ihrer Verklammerung mit der Politik (Regionalpresse statt Parteipresse), versteht sich nun nicht mehr als Reflex der Öffentlichkeit, sondern wird selbst zur Akteurin öffentlichen Streitens. Damit aber steigt sie auch zur selbstständigen Macht im Contergan-Fall auf und prägt maßgebend das Sprechen über Contergan. Anhand dieser Beobachtungen sollen der Sprachwandel, die Umdeutung bekannter Begriffe und die Neuschöpfung von Begriffen untersucht werden.30 Interessant sind die Fragen, wer Deutungsmacht erhält, wer sich in die öffentlichen Diskussionen einbringt und entscheidend mitbestimmt, wie das Kollektivsymbol
28 Diese Studie knüpft daher an die Arbeiten von Elsbeth Bösl, Willibald Steinmetz und Walburga Freitag an. Siehe auch meine Publikationen zum Thema Contergan: A.H. Günther, Contergan als Zäsur; A.H. Günther, Ein ›Jahrhundertprozess‹ oder ›Justitias Blamage‹?; A.H. Crumbach, Contergan im Diskurs; A.H. Crumbach, Arzneimittel aus der Waschküche?; A.H. Crumbach, Bilder als Grenzerfahrung. 29 Vgl. Willibald Steinmetz, Vierzig Jahre Begriffsgeschichte – The State of the Art, in: Kämper, Heidrun/Eichinger, Ludwig M. (Hg.), Sprache – Kognition – Kultur. Sprache zwischen mentaler Struktur und kultureller Prägung, Berlin/NewYork 2008, S. 174197. 30 Vgl. Hans-Walter Schmuhl, Exklusion und Inklusion durch Sprache – Zur Geschichte des Begriffs Behinderung, Berlin 2010 (= IMEW Expertise, Band 11). Schmuhl verweist bis in die 1960er Jahre hinein. Bösl, The Contergan Scandal.
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Contergankind definiert wird. Die vorliegende Studie knüpft hiermit an geschichtswissenschaftliche Forschungen zum Sprachwandel nach 1945 an.31 Damals stand die »entnazifizierte Sprache«32 ebenso im Fokus wie die sprachlichen Feindbilder eines zunehmenden Ost-West-Konfliktes.33 Die vorliegende Studie konzentriert sich auf den Sprachwandel in den 1960er Jahren und untersucht, wie sich neue Begriffe herausbildeten und etablierten ebenso wie bekannte Begriffe umgedeutet wurden. Das Sprechen über Contergan bedarf einer breiten methodischen Reflexion. Im Zeitverlauf kam es zu einer Verschiebung vom Elitendiskurs hin zu einer weit aufgefächerten Debatte, die medizinische ›Laien‹ miteinbezog, Journalisten und die Eltern der Contergankinder etwa, und die medizinischen und politischen Autoritäten systematisch hinterfragte. Mithilfe zweier methodischer Überlegungen sollen diese Veränderungen nachvollzogen werden: In einem ersten Zugriff gehe ich der Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache, wie es Ludwik Fleck beschreiben hat; in einem zweiten Zugriff nutze ich Analysemethoden der Historischen Semantik, verbunden mit dem Konzept des Kollektivsymbols.
31 Vgl. Carsten Dutt (Hg.), Herausforderungen der Begriffsgeschichte Heidelberg 2003; Thomas Eitz/Georg Stölzel (Hg.), Wörterbuch der Vergangenheitsbewältigung, 2 Bände, Darmstadt 2007-2009; Heidrun Kämper, Der Schulddiskurs in der frühen Nachkriegszeit. Ein Beitrag zur Geschichte des sprachlichen Umbruchs nach 1945, Berlin 2005 (= Studia Linguistica Germanica, Band 78); Heidrun Kämper, Opfer – Täter – Nichttäter. Ein Wörterbuch zum Schuldiskurs 1945-1955, Berlin 2007; Thomas Niehr, Der Streit um Migration in der Bundesrepublik Deutschland, der Schweiz und Österreich. Eine vergleichende diskursgeschichtliche Untersuchung, Heidelberg 2001 (= Sprache – Literatur und Geschichte, Band 27); Anson Rabinbach, Begriffe aus dem Kalten Krieg. Totalitarismus, Antifaschismus, Genozid, Göttingen 2009; Georg Stötzel/Martin Wengeler (Hg.): Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin u.a. 1995, (= Sprache, Politik, Öffentlichkeit, Band 4). 32 Dirk Deissler, Die entnazifizierte Sprache. Sprachpolitik und Sprachregelung in der Besatzungszeit, Frankfurt am Main 2004 (= VarioLingua, Band 22). 33 Vgl. C. Dutt (Hg.), Herausforderungen der Begriffsgeschichte; T. Eitz/G. Stölzel (Hg.), Wörterbuch der Vergangenheitsbewältigung.
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1.3 METHODIK 1.3.1 Ludwik Fleck: Übersetzungen und Kollektivsymbole Contergan als Teil des wissenschaftlichen Diskurses Was ist eine medizinische Tatsache? Diese Frage stellte Ludwik Fleck bereits im Jahre 1930. Es dauerte noch Jahrzehnte, bis sein wissenssoziologischer Ansatz dank Thomas Kuhn breitere Aufnahme fand.34 Um den Contergan-Fall zu untersuchen, wird die Frage folgendermaßen variiert: Was bedeutet Contergan im Feld der Wissenschaft zwischen 1957 und 1961? Lange Zeit erfuhr das Werk Flecks – 1896 in Lemberg geboren, praktizierender Arzt und Bakteriologe – keine Beachtung. Welche Bedeutung die Arbeit von Fleck für die Wissenschaftsgeschichte schließlich doch gewann, zeigt die intensive Rezeption, die ihm seit den 1980er Jahren zuteil wurde. Die Herausgeber der deutschen Erstauflage seines Buches »Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache« (1980), Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, stellen Flecks Werk gleich neben den »Klassiker der Wissenschaftstheorie«35, Karl Poppers »Logik der Forschung«.36 Während Popper philosophisch argumentiert, setzt Fleck auf ein streng sozial-wissenschaftliches Programm. Gerade daraus re-
34 Zitiert nach Katrin Steffen, Wissen auf Wanderschaft. Zum Übersetzungsprozess des Werks von Ludwik Fleck, in: Hüchtker, Dietlind/Kliems, Alfrun (Hg.), Überbringen – Überformen – Überblenden. Theorietransfer im 20. Jahrhundert, Köln u.a. 2011, S. 125-147, hier S. 139. Zur Rezeption in den 1980er Jahren: Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektive. Mit einer Einleitung herausgegeben von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt am Main 1980; Thomas Schnelle, Ludwik Fleck. Leben und Denken. Zur Entstehung des soziologischen Denkstils in der Wissenschaftsphilosophie, Freiburg im Breisgau 1982. 35 Lothar Schäfer/Thomas Schnelle, Einleitung zu Ludwik Flecks. Begründung der soziologischen Betrachtungsweise in der Wissenschaftstheorie, in: Fleck, Ludwik, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektive, Frankfurt am Main 1980, hier VII. 36 Ebd. Siehe auch exemplarisch: Josef N. Neumann, Medizin als kulturbestimmte Praxis. Eine Auseinandersetzung mit dem historisch-sozialen Ansatz der Medizintheorie von Ludwik Fleck, in: Choluj, Bozena/ Joerden, Jan C. (Hg.), Von der wissenschaftlichen Tatsache zur Wissensproduktion. Ludwik Fleck und seine Bedeutung für die Wissenschaft und Praxis, Frankfurt am Main 2007 (= Studien zur Ethik in Ostmitteleuropa, Band 11), S. 163-189.
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sultiert seine Anschlussfähigkeit an Theorien von Pierre Bourdieu und Michel Foucault sowie andere konstruktivistische Ansätze. Seine Überlegungen sind für die heutige Diskussion vielseitig verwendbar.37 Inhaltlich beschäftigte sich der gelernte Immunologe früh mit erkenntnistheoretischen Fragen. Sein wissenschaftliches Interesse galt zudem wissenssoziologischen Ansätzen, die er für die Naturwissenschaften fruchtbar machen wollte.38 Dabei interessierten ihn nicht Wahrheitskriterien, sondern die sozialen Regeln und Mechanismen, die Wissenschaftler veranlassen, etwas als ›wahr‹ zu akzeptieren. Auf einer zweiten Ebene betrachtete Fleck die erkenntnistheoretischen Einsichten, die er aus der medizinischen Syphilis-Forschung gewann.39 Er ging davon aus, dass eine wissenschaftliche Tatsache nie eine Einzelentdeckung sei, sondern immer in einem Kollektiv (Denkkollektiv) von Wissenschaftlern entstehe, von »Praktikern« bestätigt werden müsse und stützende Institutionen voraussetze.40 Wissenschaftliche Tatsachen waren für Fleck keine Phänomene an sich, sondern Resultate menschlichen Erkenntnisstrebens, Ergebnisse sozialen und kommunikativen Handelns von Wissenschaftlern, die in Denkkollektiven agierten und die Natur mit ihren Experimenten erkundeten: »In der Wissenschaft existieren keine isolierten Fakten. Wissenschaftliche Tatsachen werden erzeugt in denkstilgebundenen Experimentier- und Diskussionsprozessen, welche mental und sozial-strukturell im Denkkollektiv verankert sind. Denken und Forschen sind für Fleck genuin soziale Tätigkeiten. Er verabschiedet die Vorstellung vom souverän, isolierten, einzelnen Forscher als Fiktion; das Wissenschaftlerkollektiv denkt vermittels der
37 Vgl. K. Steffen, Wissen auf Wanderschaft, S. 145. 38 Unter den zunehmenden antisemitischen Verfolgungen war es für den Juden Fleck unmöglich, seine Arbeiten in einem Verlag unterzubringen. Trotz intensiver Kontakte zum Wiener Kreis und dortigen Fürsprechern konnte seine 1935 verfasste Monografie »Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache« nicht mehr im Verlag Julius Springer veröffentlicht werden. Vgl. K. Steffen, Wissen auf Wanderschaft, S. 134-135. 39 Vgl. Gert-Rüdiger Wegmarshaus, Vom Denkstil zum Paradigma. Zum Schicksal einer unzeitgemäßen Einsicht, in: Choluj, Bozena/Joerden, Jan C. (Hg.), Von der wissenschaftlichen Tatsache zur Wissensproduktion. Ludwik Fleck und seine Bedeutung für die Wissenschaft und Praxis, Frankfurt am Main 2007 (= Studien zur Ethik in Ostmitteleuropa, Band 11), S. 49-63, hier S. 56; L. Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (siehe Inhaltsverzeichnis). 40 Vgl. Brigitta Bernet, Schizophrenie. Entstehung und Entwicklung eines psychiatrischen Krankheitsbilds um 1900, Zürich 2013, S. 24.
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in ihm tätigen, forschenden, agierenden Individuen. […] Fakten, wissenschaftliche Tatsachen werden gemeinschaftlich, denk-gemeinschaftlich verfertigt, sie werden von den beteiligten Forschern – dem geltenden Denkstil gemäß, dem Denkzwang folgend – anerkannt.«41
Fleck unterteilte den Entstehungs- und Etablierungsprozess einer wissenschaftlichen Tatsache in drei zeitlich aufeinanderfolgende Phasen: a) Konstitution, b) Konstruktion und schließlich c) Konsolidierung des Wissens. Bis heute treibt die Frage nach der Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache Wissenschaftler der Wissenschaftsgeschichte und Soziologie um.42 Der Kontext, in dem diese Fragen interessant sind, hat sich seit Ludwik Fleck freilich geändert. Technische Hilfsmittel, computergesteuerte Geräte und der größer werdende Einfluss von Forschungsgeldern in den letzten Jahrzehnten bilden ein ganz anderes Labor ab, als Ludwik Fleck es in den 1930er Jahren vorfand. Bruno Latour spricht gar davon, die Mauern des Labors seien niedergerissen worden und die gesamte Menschheit nehme an einem universellen Experiment teil.43 Dennoch bleibt die Entwicklung von technischen Innovationen oder die Erforschung von naturwissenschaftlichen Fragen dem Laienpublikum bis heute zumeist verschlossen. Um endlich hinter die Mauern des Labors schauen zu können, setzten sich Sozialwissenschaftler in den 1970er und 1980er Jahren mit dem naturwissenschaftlichen Labor als Ort von Wissensproduktion und -konstruktion auseinander.44 Aus ihrer Sicht ist das Labor Bestandteil der Wissensproduktion und hat nicht nur eine rein räumliche Komponente:45 »Statt Labore als zentrale Orte wissenschaftlicher Wahrheitsfindung zu illustrieren, stellten sie den Beitrag von Laboren an der Er-
41 G.-R. Wegmarshaus, Vom Denkstil zum Paradigma: S. 60. Diese Argumentation des Denkkollektivs steht im Widerspruch zum logischen Empirismus des Wiener Kreises (ebd., S. 60-61). 42 Vgl. Katrin Amelang: Laborstudien, in: Beck Stefan u.a. (Hg.): Science and Technology Studies. Eine sozialanthropologische Einführung, Bielefeld 2012, S. 145171, hier S. 148. 43 Vgl. Bruno Latour, Ein Experiment von und mit uns allen, in: DIE ZEIT, 11.04.2001, http://www.zeit.de/2001/16/Ein_Experiment_von_und_mit_uns_allen/komplettansicht vom 13.02.2018. 44 Vgl. K. Amelang: Laborstudien, S. 147. Siehe z.B. zur Etablierung der AkteurNetzwerk-Theorie auch Andréa Belliger/David J. Krieger, Einführung in die AkteurNetzwerk-Theorie, in: dies. (Hg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 13-50. 45 Vgl. K. Amelang: Laborstudien, S. 167.
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zeugung naturwissenschaftlicher Wissensprodukte und naturwissenschaftlicher Objektivität heraus.«46 Neben den direkten praktischen Aushandlungen im Labor entscheiden auch Veröffentlichungen wie Forschungsberichte, Aufsätze in Fachzeitschriften und Monografien über die Konstruktion von Wissen. Denn die von Forschern erstellten Texte reproduzieren wissenschaftliches, in der Laborarbeit gewonnenes Wissen.47 Die Texte stammen also direkt aus dem Labor48, bilden den Abschluss der Laborarbeit und eröffnen die fachwissenschaftliche Diskussion. Zum Publikum gehört somit neben den Labormitarbeitern auch die Fachöffentlichkeit. Die Frage, wie ein Forschungsgegenstand zur wissenschaftlichen Tatsache aufsteigt, spiegelt nicht nur naturwissenschaftliche Transformationsprozesse des Wissens sowie seine Standfestigkeit im wissenschaftlichen Dialog wider, sondern auch, wie soziale Praktiken einen wissenschaftlichen Fakt unterstützen können. Somit haben wissenschaftliche Texte zwei Funktionen: • Sie halten die Forschungsergebnisse fest. Sie verschriftlichen und »verewi-
gen« damit die wissenschaftlichen Ergebnisse der Laborarbeit und überführen die zeitgebundene Erkenntnisleistung der Forschung in den Dauerbestand der Wissenschaft. • Sie übersetzen die Laborsprache und das Wissen der am Experiment Beteiligten in die Sprache fachkundiger Leser. Diese wollen sie überzeugen, indem sie die Standards der Denkkollektive aufgreifen. Der Leser fungiert damit weniger als kritischer Leser denn als ›Verbündeten‹, er soll in den »Bann« des Textes gezogen werden.49 Obwohl der Diskurs flache Hierarchien verspricht, sind die realen Aushandlungsprozesse im Feld der Wissenschaft an einen hierarchischen Aufbau von Prestige, Deutungshoheit und Abhängigkeit geknüpft. Forschungsergebnisse müssen durch ein prestigeträchtiges Organ publiziert werden, sodass die wissenschaftliche These Beachtung findet und von angesehenen Wissenschaftlern rezipiert wird. Ansehen und wissenschaftliche Reputation steigert der Autor über Preise, Auszeichnungen und Erfolg. Der Verweis auf andere wissenschaftliche
46 Vgl. K. Amelang: Laborstudien, S. 167. 47 Vgl. Matthias Wieser, Das Netzwerk von Bruno Latour. Die Akteur-NetzwerkTheorie zwischen Science & Technology Studies und poststrukturalistischer Soziologie, Bielefeld 2012, hier S. 26 48 Vgl. ebd.; K. Amelang: Laborstudien, S. 151-152. 49 Vgl. M. Wieser, Das Netzwerk, S. 28-29.
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Studien stützt die Argumentation des Autors und es entsteht ein Netz aus ›Verbündeten‹, das über Verweise und Fußnoten hergestellt wird: »Doch nicht nur die Unterstützung alter bzw. anderer Texte mit ihren Theoremen und Ergebnissen lassen ein wissenschaftliches Fakt entstehen, sondern dieses muss auch in der Zukunft gestärkt werden, d.h. spätere Texte müssen darauf aufbauen und es stabilisieren. […] Erst wenn andere Studien auf der eigenen aufbauen, man zitiert wird, Ergebnisse oder Versuchsanordnungen Voraussetzung für andere Forschungen werden, wird aus dem Text ein Fakt.«50
Im Gegensatz zur Prosa werden diese Texte dadurch jedoch nicht verständlicher und können nur von einem ›Experten‹ rezipiert werden, der über einen wissenschaftlichen Hintergrund verfügt. Eben diese Konstruktionsprozesse, die Bedeutung wissenschaftlicher Publikation und die Hierarchisierung von Wissen lassen sich auch in den fachwissenschaftlichen Debatten um Contergan nachvollziehen. Anhand dieser Überlegungen soll im weiteren Verlauf die Entstehung der wissenschaftlichen Tatsache Contergan im Labor und in der Fachgemeinschaft nachvollzogen werden. Der Blick richtet sich in einem nächsten Schritt auf die Entwicklungen außerhalb des Labors: Was geschieht mit einer wissenschaftlichen Tatsache, wenn sich neben ›Experten‹ auch medizinische ›Laien‹ an der Debatte beteiligen? Um insbesondere die sprachliche Ebene zu beleuchten, wird auf die Historische Semantik und das Konzept des Kollektivsymbols zurückgegriffen. 1.3.2 Die Überführung von Contergan in den öffentlichen Diskurs und die Folgen Als besonders anschlussfähig werden die Überlegungen von Willibald Steinmetz betrachtet, der für eine mikro-diachronische Sicht der Historischen Semantik plädiert. Er untersucht den situativen Sprachgebrauch, um Bedeutungswandel, Bedeutungsverschiebung und Bedeutungsverdrängung zu erklären. Den semantischen Wandel sieht er an drei typische Verlaufsformen gebunden:51 • »Wandel durch Plausibilitätsverlust von Wörtern oder Redeweisen infolge
überraschender Ereignisse und Umbrüche.«
50 M. Wieser, Das Netzwerk, S. 27. 51 Vgl. W. Steinmetz, Vierzig Jahre Begriffsgeschichte, S. 187-188.
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• »Wandel durch Zu- oder Abnahme des strategischen Gebrauchswerts von
Wörtern oder Redeweisen in wiederkehrenden Kommunikationssituationen.« • »Wandel durch Irritation des Wort- und Bedeutungshaushalts einer Sprache
durch Wortimporte aus einer anderen Sprache.«52 Die erste Verlaufsform – Wandel durch Plausibilitätsverlust – ist eindeutig auf den Contergan-Fall übertragbar, denn die öffentliche Infragestellung, Contergan sei frei von Nebenwirkungen, und die Beobachtung von körperlichen Fehlbildungen von Kindern weisen auf einen Umbruch hin: Mit den bisherigen Begrifflichkeiten konnten diese Tatsachen sprachlich nicht mehr angemessen reflektiert werden und neue Sachverhalte nur unzureichend beschreiben. Das führte zu einem zweiten Wandel, dem »Wandel durch Zu- oder Abnahme des strategischen Gebrauchswerts von Wörtern und Redeweisen in wiederkehrenden Kommunikationssituationen«. Zu einer Zu- oder Abnahme kommt es, wenn Wörter oder Redewendungen in der Kommunikation entweder erfolgreich sind oder nicht mehr brauchbar erscheinen. Sie können Einzelerfahrungen bündeln, sind abstrakt und nach vielen Seiten anschlussfähig. Für die Anschlussfähigkeit ist ein Begriff erforderlich, der für alle Akteure verständlich ist. Fachtermini grenzen jedoch medizinische ›Laien‹ aus und dienen vielmehr der Stärkung von Elitendiskursen. Im Contergan-Fall griffen Journalisten daher in diesen elitären Diskurs ein und wurden selbst zu sprachbildenden Akteuren. Im Gegensatz zum Modell von Steinmetz kam es hier zum Wandel durch Neuschöpfung: Journalisten übersetzten komplexe Zusammenhänge in verständliche Begriffe und ließen ihre Leser so an den Debatten teilhaben. Zugleich kreierten sie einen neuen Begriff: Das Contergankind. So ist nicht nur entscheidend, welche Begriffe an Bedeutung zu- oder abnahmen oder welche Begriffe in die Debatte eingeführt wurden, sondern auch, mit welchen Inhalten sie aus dem fachwissenschaftlichen Sprachkontext übersetzt wurden. Journalisten agierten als Übersetzer, in dem sie medizinische Fachtermini durch anschlussfähige und verständliche Begriffe ersetzten. Im Contergan-Fall verläuft der Übersetzungsprozess in zwei Phasen: • Die erste Phase ist charakterisiert durch Unsicherheit. Sprachlich orientieren
sich Journalisten an Sprachbildern wie ›Katastrophe‹ oder ›Mißbildung‹. Sie tradieren bekannte Begriffe und übertragen sie auf den Contergan-Fall. • Die zweite Phase ist aus sprachlicher Sicht entscheidend und prägend. Hier greifen Journalisten aktiv in den Sprachbildungsprozess ein und entwickeln
52 W. Steinmetz, Vierzig Jahre Begriffsgeschichte, S. 187-188.
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den Begriff Contergankind. Mit dieser Wortneuschöpfung setzen die Journalisten einen neuen Standard. Sie interpretieren selbst, was unter Contergankind zu verstehen ist und lösen sich von den sprachlichen Vorgaben der medizinischen und politischen Fachdiskurse. Mit dieser eigenständigen Übersetzungsleistung erhalten Journalisten den Status von Akteuren, die sich in der Debatte neuer sprachlicher Konzepte bemächtigen. Aus den bisherigen Ausführungen wird deutlich, dass die Historische Semantik nicht allein den angestrebten Untersuchungsgegenstand bewältigen kann. Insbesondere mit der Fokussierung auf die sprachlichen Übersetzungsprozesse werden zentrale Begriffe in den Mittelpunkt gerückt, deren diskursive Verhandlung untersucht wird. So ist der Gedankensprung zur Begriffsgeschichte als methodisches Instrument nicht weit. Anders als der Kosellecksche Ansatz hat die Begriffsgeschichte in den letzten Jahren eine Neuausrichtung erlebt, von der auch die vorliegende Studie profitiert. So hat der Historiker Christian Geulen für eine Geschichte der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts plädiert, in dem er das zurückliegende Jahrhundert als neue »Schwellenzeit« charakterisiert und sich für eine Ausweitung der Begriffskanons vor den veränderten politik-, kultur-, sozial- und wissenschaftsgeschichtlichen Hintergründen ausspricht.53 Seinen Überlegungen liegen die Untersuchungskategorien »Verwissenschaftlichung«, »Popularisierung«, »Verräumlichung«, »Verflüssigung«54 zu Grunde, die zu einer intensiven Debatte über die weitere Ausrichtung der Begriffsgeschichte geführt hat.55 So kann die vorliegende Studie in der aktuellen methodischen Debatte an die Beobachtungen von Kathrin Kollmeier anknüpfen: »Einen weiteren Schwerpunkt begriffsgeschichtlicher Forschung bilden derzeit Studien zur interdisziplinären Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, welche die Nähe zu diskursanalytischen Untersuchungen von Wissensordnungen spiegeln. Die Analyse kultureller Prägungen und politischer Kontexte naturwissenschaftlicher Kategorien und Begriffe so-
53 Christian Geulen, Plädoyer für eine Geschichte der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, OnlineAusgabe, 7 (2010), H. 1, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/12010/id=4488, Druckausgabe: S. 79-97. 54 Ebd. 55 Siehe dazu Kathrin Kollmeier, Begriffsgeschichte und Historische Semantik, Version 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 29.10.2012. http://docupedia.de/zg/kollmeier_begriffsgeschichte_v2_de_2012 [zuletzte aufgerufen 11.05.2018]
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wie der dieses Wissen strukturierenden Semantiken trägt nicht zuletzt zu der kritischen Historisierung ihres Objektivitätsanspruchs bei.«56
So wird die begriffliche Verhandlung der wissenschaftlichen Tatsache Contergan nicht nur mit den Analysekriterien Ludwik Flecks, sondern auch mit Steinmetz Kategorien der Historischen Semantik und einem diskursanalytisch begriffsgeschichtlichen Ansatz untersucht werden. Bei der Überführung der wissenschaftlichen Tatsache in die mediale Öffentlichkeit drängt sich jedoch eine neue Herangehensweise auf. Mit der Konzentration auf den Begriff des Contergankindes kann nicht nur eine sprachliche, sondern auch eine diskursivsymbolische Umdeutung festgestellt werden. Das Konzept des Kollektivsymbols erscheint hier als Verbindung zwischen Historischer Semantik und Begriffsgeschichte anschlussfähig zu sein. Das Konzept des Kollektivsymbols ist der literaturwissenschaftlichen Analyse Jürgen Links entlehnt. Es bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte, um die Kommunikationsstrukturen zu untersuchen.57 Margarete und Siegfried Jäger definieren das Kollektivsymbol wie folgt: »Aufgrund ihres spezifischen Symbolcharakters erzeugen Kollektivsymbole rationales wie auch emotional gefärbtes Wissen, weil und indem sie komplexe Wirklichkeiten simplifizieren, plausibel machen und damit in spezifischer Weise deuten. Insofern Kollektivsymbole ihre Wirkung innerhalb eines Systems entfalten, erzeugen sie dieses Wissen innerhalb einer bestimmten Ordnung, die bestimmte Logiken und (Handlungs-) Optionen nahelegen, die sich aus diesem Wissen speisen.«58
Ein Kollektivsymbol vermittelt erzeugtes Wissen und ist für eine sich ausdifferenzierende Gesellschaft notwendig, um Komplexität zu reduzieren und Strukturen verständlich zu machen. Kollektivsymbole sind notwendig, um die Folgen des Wandels nach »Normalität« und »Abweichung« zu klassifizieren.59 Innerhalb dieses Systems müssen sich die Akteure auf die Anwendung des von ihnen tradierten Kollektivsymbols verständigen.60 Das Kollektivsymbol knüpft an
56 K. Kollmeier, Begriffsgeschichte und Historische Semantik. 57 Vgl. beispielhaft Margarete Jäger/Siegfried Jäger, Deutungskämpfe. Theorie und Praxis kritischer Diskursanalyse, Wiesbaden 2007. 58 Ebd., S. 39. 59 Vgl. M. Jäger/J. Jäger: Deutungskämpfe, S. 40; J. Link, Normalismus. Konturen eines Konzepts, in: KultuRRevolution 27 (1992), S. 50-70. 60 Vgl. M. Jäger/J. Jäger: Deutungskämpfe, S. 40.
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sprachliche Bilder an, die für die Akteure bekannt und anschlussfähig sind. Neue Phänomene können mit bekannten Sprach-Bilder-Assoziationen erklärt und in geläufige Erklärungsmuster integriert werden.61 Darüber hinaus erweitert das Kollektivsymbol das Sprechen über ein Phänomen. Es hat immer eine weitergehende Bedeutung.62 Zugleich sind Kollektivsymbole nicht nur auf sprachlicher Ebene zu greifen, sondern auch visuell wahrnehmbar. Sie stellen eine Verbindung zwischen der realen und symbolischen Bedeutungsebene her.63 Das Kollektivsymbol ist nie nur singulär zu verstehen, es ist immer komplex. Seine Geschichte ist nicht starr oder mit einer einfachen Bedeutung belegt, sondern kann sich durch ihre Anschlussfähigkeit vielfältig fortsetzen. Es ist in ein weit verzweigtes System eingebettet, sodass Analogien hergestellt werden können.64 »Alle diese Eigenschaften bewirken, dass Kollektivsymbole eine Logik entfalten, die über das Symbolisierte hinausgeht und Handlungsstrategien aufruft«.65 Für Jürgen Link ist das Kollektivsymbol der »›kitt der gesellschaft‹ […] wir wissen nichts über krebs, aber wir verstehen sofort, inwiefern der terror krebs der gesellschaft ist.«66 Das Kollektivsymbol bleibt durch immerwährende Umdeutungen im System beweglich und passt sich veränderten Situationen an. Neue Argumente und sprachliche Bilder führen dazu, dass auch die Bedeutung der Kollektivsymbole variiert. Sie sind anschlussfähig und in ihrer Aussage nicht starr.67 Übertragen auf den Contergan-Fall ergeben sich zahlreiche Anknüpfungspunkte. Das Kollektivsymbol Contergankind ist mehrfach mit Bedeutung aufgeladen. Der Begriff steht stellvertretend für tausende betroffene Kinder und zugleich für das Versagen des pharmazeutisch-medizinischen Systems. Im Sommer 1962 wird es erstmals auch visuell mit Bedeutung aufgeladen, als erste Fotografien von Contergankindern abgedruckt werden und erstmals für eine breite Öffentlichkeit sichtbar wurde, welche Folgen das Medikament Contergan hatte. Der Begriff Contergankind ist nicht zufällig gewählt. Er stellt einen direkten Bezug zwischen dem Medikament und den Fehlbildungen der Kinder her und das zu einem Zeitpunkt, als die Kausalität noch nicht festgestellt war. Die Stärke des
61 Vgl. M. Jäger/J. Jäger: Deutungskämpfe, S. 40-43. 62 Vgl. ebd., S. 43. 63 Vgl. ebd. 64 Vgl. ebd., S. 44. 65 Ebd. 66 Jürgen Link, Kollektivsymbolik und Mediendiskurs, in: KultuRRevolution 1 (1982), S. 6-21, hier S. 11. 67 Vgl. M. Jäger/J. Jäger: Deutungskämpfe, S. 46.
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Kollektivsymbols besteht darin, dass mit ihm vielfältige Erzählweisen und individuelle Schicksale verbunden werden können, die nicht nur auf contergangeschädigte Kinder zutreffen, sondern sich auf körperliche Behinderung im Allgemeinen übertragen lassen. Zugleich werden Analogien hergestellt: die Ärzte, die sich aufopferungsvoll um die geschädigten Kinder kümmern; Mitarbeiter der Firma Chemie Grünenthal und Politiker, die sich ihrer Verantwortung entziehen; Journalisten, die auf das Schicksal der Kinder aufmerksam machen und schließlich die Eltern und ihre Kinder, die sich mutig ihrem Schicksal stellen. Und so ist das Kollektivsymbol anschlussfähig und vielfältig deutbar: Für die Eltern ist es das Symbol ihres Kampfes für Gerechtigkeit, für mehr gesellschaftliche Akzeptanz und politische Gleichstellung. Für Politiker auf Bundes- und Länderebene ist das Kollektivsymbol ein Zeichen für die zunehmende Macht der Presse. Journalisten nutzen das Symbol, um politische Verantwortung zu fordern und ihren Lesern die komplexen Sachverhalte anschaulicher/einfacher zu erklären. Das öffentliche Sprechen über Contergan ist gleichzeitig ein Sprechen der Presse über die Folgen der Medikamenteneinnahme. Mit dem Heraustreten aus der wissenschaftlichen Sphäre wird das Thema Contergan medialisiert. In einem Umfeld zunehmender medialer Politisierung, die sich in investigativen Recherchen von Journalisten und einer ›zeitkritischen‹ Berichterstattung äußert, wird auch Contergan zu einem Politikum. Deutlich zeigen sich Hinweise darauf, wie sich die Kommunikation zwischen Presse und Politik verändert, wie sich Sprachräume ausdehnen und neue Sprachakteure in den Diskurs einsteigen.68 Der Bedeutungsgewinn der Presse ist ein Symbol für die tiefgreifenden Umbrüche der 1960er Jahre: Es wird öffentlich gestritten und debattiert, politisches Fehlverhalten medial verurteilt und Skandale aufgedeckt. Starre politische Hierarchien der Wissensvermittlung und politische Autoritätsansprüche werden aufgelöst. Zeitungen und Zeitschriften werden zu einer Plattform gemeinsamer Kommunikation. In diesem Umfeld der sich verändernden Medienlandschaft, die wie Christina von Hodenberg eindrücklich nachgewiesen hat, nicht mehr dem Konsens verpflichtet ist, sondern die Krise sucht69, ermöglicht der Contergan-Fall ein neues öffentliches Kommunizieren zwischen Journalisten und Politikern, Ärzten und ›Laien‹. Gleichzeitig beeinflusste das mediale Sprechen über Contergan auch fachinterne Diskussionen. Die abgeschlossene medizinische Fachgemeinschaft erlebte, wie ein medizinisches Thema innerhalb einer Laienöffentlichkeit diskutiert und verhandelt wurde. Für die Teilnahme an der Debatte war nicht mehr die akade-
68 Vgl. C. v. Hodenberg, Konsens und Krise, S. 10-15 und S. 16-22. 69 Vgl. ebd.
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mische Ausbildung oder wissenschaftliches Renommee entscheidend. Die schriftliche Kommunikation in Fachzeitschriften wurde nun ergänzt durch Publikationen in Laienorganen, die schneller auf aktuelle Ereignisse reagieren konnten. Fachinformationen drangen nach außen in eine nichtmedizinische Öffentlichkeit, die nach ihren eigenen Sprachregeln agierte und eine zunehmende Politisierung und Lösung von ›Experten‹ erfuhr.70 Mit dem Überlappen der fachwissenschaftlichen und der medialen Öffentlichkeit kommt es zu Verschiebungen von Sprachlogiken: der Austausch von Informationen erfolgte innerhalb von wenigen Stunden über das gedruckte Medium Zeitung, der Adressatenkreis war nicht mehr begrenzt auf ›Experten‹, Journalisten eigneten sich ein medizinisches Thema an, in dem sie es umdeuten und neu besetzen.71 Das Aufbrechen der genannten Wissenshierarchien bedeutete einen tiefen Einschnitt für ›Experten‹ und ihre eigene Wahrnehmung. Einzelne Ärzte, die sich der medialen Berichterstattung öffnen, wurden von Teilnehmern ihrer Fachgemeinschaft für dieses Vorgehen gescholten. Medizinisches Wissen sollte exklusiv ›Experten‹ vorbehalten bleiben, so war immer noch eine weit verbreitete Meinung. Dass diese Logik angesichts einer interessierten medialen Öffentlichkeit nicht aufrechtzuerhalten war, war offensichtlich. Damit erfuhr auch der Journalist als sprachmächtiger Akteur eine weitere Aufwertung. Indem er als Übersetzer fungierte, konnte er anschlussfähige sprachliche Konzepte generieren, die nicht der medizinischen Logik, sondern der der Verständlichkeit unterlagen.
1.4 QUELLENBESTAND Da das Firmenarchiv der Firma Chemie Grünenthal nicht zugänglich war, mussten die Vorgänge aus den zur Verfügung stehenden Archiven, hauptsächlich dem Bundesarchiv in Koblenz und dem Landesarchiv NRW Abteilung Rheinland, re-
70 Vgl. C. v. Hodenberg, Konsens und Krise, S. 11-12. 71 Vgl. zur Entwicklung von Experten: Beatrice Schumacher/Thomas Busset, Der Experte. Aufstieg einer Figur der Wahrheit und des Wissens, in: Traverse, Band 8, Heft 2 (2001), S. 15-20; Lutz Raphael, Sozialexperten in Deutschland zwischen konservativem Ordnungsdenken und rassistischer Utopie (1918-1945), in: Hardtwig, Wolfgang (Hg.), Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003, S. 327-346; J. Stoll, Behinderte Anerkennung, S. 179-180.
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konstruiert werden.72 Neben diesen Berichten (beruht die Quellenbasis auf wissenschaftlichen Publikationen und Forschungsberichten aus medizinischen Fachzeitschriften.73 DIE MEDIZINISCHE WELT, DEUTSCHE MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT , M ÜNCHENER M EDIZINISCHE W OCHENSCHRIFT und die P HAR MAZEUTISCHE ZEITUNG bilden den Hauptkorpus der wissenschaftlichen Publikationen.74 Die Artikel wurden unter den folgenden Fragestellungen analysiert: Wie konstruierte und festigte die wissenschaftliche Gemeinschaft die Tatsache Thalidomid? Wie wurden eventuelle Kritik und Sorge artikuliert? Darüber hinaus konnte nachvollzogen werden, wie ein Netzwerk von ›Verbündeten‹ geschaffen wurde, welches die Tatsache konsolidierte. Einen Umbruch erlebte die Aushandlung der wissenschaftlichen Tatsache durch die Veröffentlichung der Nebenwirkungen außerhalb der medizinischen Fachgemeinschaft. Dafür wurden Quellen herangezogen, die diesen Weg in die Öffentlichkeit nachvollziehbar machen konnten. Unverzichtbar waren die Pressesammlungen des Landesarchives NRW und der Bundesarchive in Koblenz und Berlin.75 Darüber hinaus wurden systematisch einzelne Zeitschriften und Zeitungen ausgewertet, zum Beispiel die Wochenzeitschriften DIE ZEIT, CHRIST UND WELT, das Magazin DER SPIEGEL, die Zeitung BILD, die Illustrierten BUNTE und QUICK sowie Ausgaben der FAZ und der AACHENER NACHRICHTEN/ AACHENER VOLKSZEITUNG. Die Pressesammlungen der genannten Archive konnten darüber
72 Die Akten des Grünenthal Firmenarchivs sind nicht zugänglich. Allerdings gibt es Akten der Aachener Staatsanwaltschaft, die im Landesarchiv NRW aufbewahrt werden. Darin sind einige Akten der Firma Chemie Grünenthal enthalten, die während der staatsanwaltschaftlichen Untersuchung beschlagnahmt worden waren (vgl. LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 10b, 10266; B. Kirk, Contergan-Fall, S. 53, FN 150). Darauf verweist auch ein Vermerk des LKA vom 26.09.1963 in Aachen. Darin heißt es: »Nicht vorhanden: Es fehlen alle Unterlagen (Versuchsprotokolle pp.), die zu den Aussagen in der vorgenannten Arbeit berechtigen. Soweit das Sachgebiet der ›Chemie‹ betroffen ist, kann jedoch auf Herbeiziehung solcher Unterlagen verzichtet werden, da sich entsprechende Hinweise in den Monatsberichten der Forschungsabteilung befinden, die in Verbindung mit der vorgenannten Arbeit ausreichen dürften.« (LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 10b 10214). 73 Vgl. LAV NRW R, Gerichte Rep. 139. 74 Die PHARMAZEUTISCHE ZEITUNG wurde über die Universitätsbibliothek Braunschweig abgerufen. https://publikationsserver.tu-braunschweig.de/receive/dbbs_mods_00064732. 75 Vgl. LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 und NW 1180; Bundesarchiv in Koblenz und in Berlin.
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hinaus mit zahlreichen Artikeln aus lokalen und überregionalen Zeitungen das Bild der Berichterstattung ergänzen. Das WDR-Archiv lieferte weiteres Quellenmaterial zu seiner Berichterstattung wie auch zu einer angedachten Contergan-Lotterie.76 Von Interesse waren zudem zeitgenössische, nicht-medizinische Publikationen, die sich mit dem Thema Behinderung auseinandersetzten und den Contergan-Fall reflektierten. Das Archiv der Aktion Mensch (vormals Aktion Sorgenkind) erlaubte es, einen Blick auf die damalige Definition von Behinderung zu werfen.77 Auch Ausstellungsexponate und schriftliche Quellen aus dem Haus der Geschichte konnten berücksichtigt werden.78 Aus dem Bundesarchiv in Berlin wurden Dokumente der DDR-Führung zum Contergan-Fall gesichtet und im Kontext des sich verschärfenden Ost-West-Konflikts analysiert. Darüber hinaus wurden die DDR-Zeitungen NEUES DEUTSCHLAND, NEUE ZEIT und BERLINER ZEITUNG über die Berliner Staatsbibliothek eingesehen.79 Auch der Nachlass von Walter Dirks konnte eingesehen werden. Er hatte als Journalist über den Contergan-Prozess in den FRANKFURTER HEFTEN berichtet und eine emotionale Debatte im Gerichtssaal über die Verantwortung der Herstellerfirma ausgelöst.80 Informationen über einzelne Pressevertreter und ihre Beziehungen zu politischen und juristischen Akteuren enthielten die Akten im Landesarchiv NRW. Neben der öffentlichen Aushandlung stehen politische Akteure im Mittelpunkt der Arbeit. Eingesehen wurde der Nachlass von Elisabeth Schwarzhaupt im Bundesarchiv Koblenz81 und von Käte Strobel im Archiv der sozialen Demokratie in Bonn.82 Beide Frauen haben als erste Ministerinnen des Gesundheitsministeriums die Diskussionen über Contergan entscheidend mitgeprägt. Ihre Handlungen und politischen Entscheidungen bilden den Ausgangspunkt für die Ausrichtung der Gesundheitspolitik der Bundesrepublik. Neben den Korrespondenzen und Arbeitsberichten zum Contergan-Fall des Innenministeriums NRW, des Bundesgesundheitsministeriums sowie des Bundesinnenministeriums waren die Akten zur Gründung der Stiftung für das behinderte Kind von Interesse. Im
76 HA WDR 13238 und 13499. 77 Archiv Aktion Mensch ohne Signaturen. 78 Haus der Geschichte: EB-Nummer: 2006/04/0024, EB-Nummer: 2006/11/0392, EBNummer: 2006/11/0393, EB-Nummer: 2006/11/0395, EB-Nummer: 2006/11/0396. 79 BArch DQ 1/2175 und DY 31/1166; http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/ddr-presse/ vom 13.02.2018. 80 Nachlass Walter Dirks, AdsD, 1/WDAC000312, 1/WDAC000134, 1/WDAC000135. 81 BArch N 1177. 82 Nachlass Käte Strobel AdsD, Ordner 1-64.
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Bundesarchiv in Koblenz konnte auf den Aktenbestand des Bundesgesundheitsministeriums und die Akten des Bundesinnenministeriums zurückgegriffen werden.83 Den größten Quellenkorpus stellte das Landesarchiv NRW bereit, dessen staatsanwaltschaftliche Untersuchungsakten bisher noch kaum untersucht worden sind.84 Für die Untersuchung des Gerichtsprozesses waren vornehmlich die Gerichtsakten der Aachener Staatsanwaltschaft interessant, die ebenfalls im Landesarchiv NRW zu finden waren. Neben der Anklageschrift konnten so auch Zeugenaussagen, Gutachten und Pressematerial begutachtet werden. Das OnlinePortal des Bundestages bot Einsicht in Kabinettsprotokolle, Gesetzentwürfe und Berichte der Bundesregierung.85 Somit konnte die politische Ebene des Contergan-Falles ebenfalls systematisch untersucht werden. Seit Jahrzehnten findet eine lebendige medizinische und juristische Auseinandersetzung mit dem Contergan-Fall statt. Schon vor der Markteinführung 1957 war das Medikament Contergan Gegenstand medizinischer und pharmazeutischer Veröffentlichungen, die ebenfalls als Quellen herangezogen wurden. Seit den 1960/70er Jahren ist das Interesse von Juristen und Pädagogen gewachsen. Juristen stellen sich den während des Gerichtsprozesses (1968-1970) aufgeworfenen Fragen. Sie diskutieren über notwendige Entschädigungsleistungen oder fragen, ob die aus dem Gerichtsprozess hervorgegangene Stiftung ihren Aufgaben gerecht werden kann. Zudem steht auch die gesetzliche Umsetzbarkeit des Arzneimittelgesetzes zur Diskussion. Für Erziehungswissenschaftlern geht es um die schulische Eingliederung der contergangeschädigten Kinder und um den Umgang mit Behinderung insgesamt.86 Diese Quellen belegen die sukzessive Ausweitung der fachwissenschaftlichen Debatte, somit auch die Ausdifferenzierung der Profession des wissenschaftlichen ›Experten‹.
83 BArch B 142, B 189 und B 106. 84 Bisher hat vornehmlich Beate Kirk zur historischen Rekonstruktion des Falles mit den Quellen gearbeitet (LAV NRW R, Gerichte Rep. 139). 85 Siehe dazu auch exemplarisch als Druck: Uta Rössel/Christoph Seemann (Bearb.), Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Band 15 (1962), München 2005. 86 Vgl. Dietrich Böhm, Die Entschädigung der »Contergan«-Kinder. Abriß und Leitfaden für die Eltern der Contergan-Kinder und Kommentar und Materialsammlung zum Gesetz über die Errichtung einer Stiftung »Hilfswerk für behinderte Kinder«‹, Siegen 1973; Christian Beyer, Grenzen der Arzneimittelhaftung. Dargestellt am Beispiel des Contergan-Falles, München 1989; Brigitte Kober-Nagel, »Contergan-Kinder«, ihre Aussichten in Schule und Beruf, München 1989.
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1.5 DER HISTORISCHE KONTEXT: WANDEL UND KONTINUITÄT IN DEN 1960ER JAHREN Die sechziger Jahre sind in der Forschung als Jahre des Umbruchs und Wandels, insbesondere mit Blick auf die 1950er Jahre, beschrieben worden.87 Die politi-
87 Vgl. Matthias Frese,/Julia Paulus, Geschwindigkeiten und Faktoren des Wandels – die 1960er Jahre in der Bundesrepublik, in: Frese, Matthias/Paulus, Julia/Teppe, Karl (Hg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn u.a. 2005 (= Forschungen zur Regionalgeschichte, Band 44), S. 1-23; Axel Schildt, Nachkriegszeit. Möglichkeiten und Probleme einer Periodisierung der westdeutschen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg und ihrer Einordnung in die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Band 44 (1993), S. 567-584; Ulrich Herbert, Liberalisierung als Lernprozess. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze, in: Ders. (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945 – 1980, Göttingen 2002 (= Moderne Zeit, Band 1), S. 7-49. Zu den Kontinuitäten in den 1950er Jahren siehe beispielhaft: Werner Tschacher, Täterschaft, Reintegration und Vergangenheitspolitik in Deutschland (1920-1969). Der Rassengenetiker Otmar Freiherr von Verschuer, in: Kühl, Richard/Ohnhäuser, Tim/Schäfer, Gereon (Hg.), Verfolger und Verfolgte. »Bilder« ärztlichen Handelns im Nationalsozialismus, Berlin 2010, S. 39-66; Stefan Krebs/Werner Tschacher, »Eine Art von Gewissenserforschung?‹ Konstruierte Brüche und Kontinuitäten an der Technischen Hochschule Aachen 1928-1950, in: Dinçkal, Noyan/Dipper, Christof/Mares, Detlev (Hg.), Selbstmobilisierung der Wissenschaft. Technische Hochschulen im »Dritten Reich«, Darmstadt 2010, S. 255-286; Norbert Frei, Karrieren im Zwielicht. Hitlers Eliten nach 1945, Frankfurt am Main 2001; Andreas Malycha, Der Umgang mit politisch belasteten Hochschulprofessoren an der Medizinischen Fakultät der Universität Berlin in den Jahren 1945 bis 1949, in: vom Bruch, Rüdiger/ Gerhard, Uta/Pawliczek, Aleksandra (Hg.), Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2006 (= Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, Band 1), S. 93-110.Edgar Wolfrum, Das westdeutsche ›Geschichtsbild‹ entsteht. Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und neues bundesrepublikanisches Staatsbewusstsein, in: Frese, Matthias/Paulus, Julia/Teppe, Karl (Hg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn u.a. 2005 (= Forschungen zur Regionalgeschichte, Band 44), SS. 227-246; Siehe zu den kulturellen Umbrüchen der 1960er Jahre beispielhaft: Kasper Maase, Körper, Konsum, Genuss Jugendkultur und mentaler Wandel in den beiden deutschen Gesellschaften, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 45
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schen und gesellschaftlichen Entwicklungen der 1960er Jahren waren keine klassischen Erfolgsgeschichten. Es war ein steiniger Weg, den die Bundesrepublik gehen musste, um sich schließlich ihrer pluralistischen politischen Kultur und Demokratie bewusst zu werden.88 Einschneidende Großereignisse gelten in der Forschung als epochenmachend für den genannten Weg, so u.a. die SPIEGELAffäre.89 Die neuere Forschung weitet ihren Blick jedoch aus und beschränkt sich nicht auf skandalträchtige Großereignisse. So werden unterschiedliche Akteursgrupppe, z.B. Journalisten, in den Blick genommen und ihre Bedeutung für die Auf- und Umbrüche in der Bundesrepublik beschrieben.90
(2003), S. 9-16; Axel Schildt, Rebellion und Reform. Die Bundesrepublik der Sechzigerjahre, Bonn 2005; Detlef Siegfried, Time is on my Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006. 88 Vgl. F.-W. Kersting /J. Reulecke/H.-U. Thamer, Aufbrüche und Umbrüche, S. 7-8. Zum Übergang hin in die 1970er Jahre siehe beispielhaft: K.H. Jarausch, Zwischen »Reformstau« und »Sozialabbau«. Anmerkungen zur Globalisierungsdebatte in Deutschland, 1973-2003, in: Jarausch, Konrad H. (Hg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 330-349; Anselm DoeringManteuffel, Langfristige Ursprünge und dauerhafte Auswirkungen. Zur historischen Einordnung der Siebziger, in: Jarausch, Konrad H. (Hg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 313-329. 89 Vgl. Frank Bösch, Die Spiegel-Affäre und das Ende der Ära Adenauer, in: Janssen, Hauke (Hg.), Die Spiegel-Affäre. Ein Skandal und seine Folgen, München 2013, S. 215-230. 90 Vgl. Frank Bösch, Öffentliche Geheimnisse. Die verzögerte Renaissance des Medienskandals zwischen Staatsgründung und Ära Brand, in: Weisbrod, Bernd (Hg.), Die Politik der Öffentlichkeit – Die Öffentlichkeit der Politik. Politische Medialisierung in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2003 (= Veröffentlichungen des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen, Band 21), S. 125-150; Frank Bösch, Später Protest. Die Intellektuellen und die Pressefreiheit in der frühen Bundesrepublik, in: Geppert, Dominik/Hacke, Jens (Hg.), Streit um den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960-1980, Göttingen 2008, S. 91-112; Maria Daldrup, ›Vergangenheitsbewältigung‹ und Demokratisierungsansätze im Deutschen Journalisten-Verband«, in: Kersting, Franz-Werner/Reulecke, Jürgen /Thamer, HansUlrich (Hg.), Die zweite Gründung der Bundesrepublik. Generations-wechsel und intellektuelle Wortergreifungen 1955-1975, Stuttgart 2010 (= Nassauer-Gespräche der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft; Band 8), S. 243-268; Thomas Großbölting, Als Laien und Genossen das Fragen lernten. Neue Formen institutioneller Öffentlichkeit im Katholizismus und in der Arbeiterbewegung der sechziger Jahre, in: Frese,
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Der Contergan-Fall stellt eine solche Umbruchssituation in den langen 1960er Jahren dar. Er symbolisiert den Zäsurcharakter dieses Jahrzehnts, zeugt von dem wachsenden Einfluss einer sich politisierenden Presse und eines Staates, der sich neuen Herausforderungen stellen musste. Auch gesellschaftliche Veränderungen lassen sich in dieser Zeit erkennen. Ein genauerer Blick auf die Ausgangslage des Contergan-Skandals lohnt daher. Nachdem der akute Mangel der Nachkriegszeit überwunden und die westdeutsche Bevölkerung den wirtschaftlichen Aufschwung spürte, entwickelte sich in den 1950/60er Jahren ein ausgeprägtes Konsumverhalten,91 das auch die körperliche Gesundheit betraf. Der Konsument hoffte mit Hilfe von Arzneimitteln die eigene Leistungsfähigkeit zu steigern und kleinere Unpässlichkeiten selbst behandeln zu können.92 Dies begünstigte die stetig wachsende Pharmaindustrie, die in einem kaum zu überblickende Maße neue Arzneimittel produzierte und vermarktete.93 Der Historiker von Schwerin stellt fest, dass Anfang der 1960er Jahre rund 75 neue Arzneimittel pro Monat auf den Markt kamen.94 Die Expansion des Arzneimittelmarkts unterstützte den Glauben daran, mit immer neuen industriell hergestellten Produkten den Ansprüchen der modernen Welt begegnen zu können.95 Dem stetig steigenden medikamentösen Konsum standen besorgte Stimmen von Medizinern und Apothekern gegenüber, die vor einem gren-
Matthias/Paulus, Julia/Teppe, Karl (Hg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn u.a. 2005 (= Forschungen zur Regionalgeschichte, Band 44), S. 147-179; C. von Hodenberg, Konkurrierende Konzepte, S. 205-226; C. von Hodenberg, Die Journalisten, S. 278-311; Andreas Schulz, Der Aufstieg der ›vierten Gewalt‹. Medien, Politik und Öffentlichkeit im Zeitalter der Massenkommunikation, in: HZ, Band 270 (2000), S. 6597. 91 Vgl. A. Schildt, Materieller Wohlstand, S. 26. 92 Vgl. A. von Schwerin, Die Contergan-Bombe, S. 258. Siehe beispielhaft: Das Schlagwort vom Arzneimittelmißbrauch, in: PHARMAZEUTISCHE ZEITUNG, 91.100/31 (1955), S. 853-858; Eindämmen des Arzneimittelverbrauchs. Beschlüsse des Beirats für die Neuordnung der sozialen Leistungen beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, in: PHARMAZEUTISCHE ZEITUNG, 103/43 (1958). 93 Vgl. beispielhaft: Ulrich Meyer, Von Pille und Pulver zur Tablette. Der Siegeszug der industriellen Arzneimittelherstellung, in: Koesling, Volker/Schülke, Florian (Hg.), Pillen und Pipetten. Facetten einer Schlüsselindustrie, Leipzig 2010, S. 70-81. 94 Vgl. A. von Schwerin, Die Contergan-Bombe, S. 258. 95 Vgl. ebd., S. 259.
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zenlosen Arzneimittelmissbrauch und Nebenwirkungen auf den menschlichen Körper warnten.96 So hatte DER SPIEGEL bereits in den 1950er Jahre über das Medikament Stalinon berichtet, das in Frankreich zahlreiche Todesopfer gefordert hatte.97 Der Stalinon-Fall erreichte in der Bundesrepublik nicht annähernd dieselbe Aufmerksamkeit wie der Contergan-Fall. Dennoch zeigten sich schon hier erste Bedenken, ob die Arzneimittel sicher seien und der ›Laie‹ besser über die Substanzen informiert werden müsse. Den Warnungen zum Trotz, stiegen in den 1950er und 1960er Jahren die Ausgaben für Arzneimittel rasant.98 Insbesondere die freie Verkäuflichkeit vieler Medikamente unterstützte den Absatz im pharmazeutischen Bereich.99 Wissen-
96 Vgl. A. von Schwerin, Die Contergan-Bombe, S. 258-259. Siehe auch Bruno MüllerOerlinghause, Die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft. Im Spannungsfeld der Interessen von Ärzteschaft und Pharmazeutischer Industrie – Eine Geschichte von Erfolgen und Niederlagen, in: Koesling, Volker/Schülke, Florian (Hg.), Pillen und Pipetten. Facetten einer Schlüsselindustrie, Leipzig 2010, S. 186-201. 97 Vgl. Tod durch Stalinon, in: DER SPIEGEL, Nr. 45 (1957), S. 52-54; Arzneimittel aus der Waschküche?, in: DER SPIEGEL, Nr. 6 (1958), S. 40-45. Anne Helen Crumbach, Arzneimittel aus der Waschküche, Arzneimittel aus der Waschküche? Arzneimittelnebenwirkungen, ärztlicher Autoritätsverlust und die Suche nach neuen Diskussionsmöglichkeiten in den 1950er und 1960er Jahren, in: Großbölting, Thomas/ LenhardSchramm, Niklas (Hg.), Contergan. Hintergründe und Folgen eines Arzneimittelskandals. Göttingen 2017, S. 99-115, hier S. 99-100. 98 Siehe T. Mansky, u.a., Die Entwicklung des Arzneimittelverbrauchs unter besonderer Berücksichtigung demographischer Faktoren, in: Das öffentliche Gesundheitswesen, 51 Jg., (1989), S. 592-598.S. 593, Tabelle 1. 99 Vgl. Wolfgang Eberhardt, Gibt es harmlose Arzneimittel?, in: PHARMAZEUTISCHE ZEITUNG, 105/ 47 (1960), S. 1365-1370, hier S. 1365. So konnte sich z.B. das Schlafund Beruhigungsmittel Contergan bzw. Contergan forte Ende der 1950er Jahre zu einem Erfolgsprodukt entwickeln, da es, im Gegensatz zu gängigen Barbituraten, weder einer ärztlichen Verschreibungspflicht unterlag, noch Abhängigkeiten oder Nebenwirkungen auszulösen schien. Faltblatt (Werbung) »Ein Andante – Contergan«, Werbeanzeige für Contergan bzw. Contergan forte, ca. 1960, Haus der Geschichte, EBNummer: 2006/04/0024. Zu Nebenwirkungen von Barbituraten u.a. G. Kuschinsky, Suchterzeugende und gewohnheitsbildende Arzneimittel, in: PHARMAZEUTISCHE ZEITUNG, 104/44 (1959), S. 1187-1189, hier S. 1188. Siehe auch A.H. Günther, Contergan als Zäsur, S. 146; A.H. Crumbach, Arzneimittel aus der Waschküche, S. 100101.
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schaftler mahnten vor einem ungezügelten und eigenmächtigen Arzneimittelkonsum.100 So schrieb der Direktor des Pharmakologischen Instituts der Universität Mainz, G. Kuschinsky, 1959 in der PHARMAZEUTISCHEN ZEITUNG: »Die moderne Arzneimittelforschung hat die Möglichkeiten der Arzneibehandlung in außerordentlichem Maße bereichert. Wir sind heute in der Lage, eine große Zahl von Krankheiten erfolgreich zu behandeln oder wesentlich zu bessern, die noch vor einigen Jahrzehnten jeder Behandlung unzugänglich waren. […] Da es demnach kein wirklich wirksames Arzneimittel ohne Nebenwirkungen gibt, sind gleichzeitig mit diesen Erfolgen die Möglichkeiten der Schädigung durch diese Therapie gewachsen. Es ist Aufgabe des Arztes, stets das Risiko der Krankheit gegen das Risiko der Arzneibehandlung abzuwägen.«101
Dass die Selbstmedikation hingegen so beliebt war, führte der Neurologe E. Bay 1960 in der DEUTSCHEN MEDIZINISCHEN WOCHENSCHRIFT u.a. auf ein medizinisch interessiertes Laienpublikum zurück, das glaubte, die Gefahren des Arzneimittelkonsums selbst einschätzen zu könne. Insbesondere die Ratgeberliteratur verführe dazu, nicht den medizinischen ›Experten‹, sondern den Ratschlägen eines ›Laien‹ zu folgen.102 Ähnlich äußerte sich auch Wolfgang Eberhardt, Herausgeber der PHARMAZEUTISCHEN ZEITUNG.103 In der Öffentlichkeit, so Eberhardt, kursiere ein verfälschtes Bild von scheinbar harmlosen Medikamenten.104 Gründe für den gestiegenen Arzneimittelkonsum sah der Neurologe E. Bay in den enormen Anforderungen einer zunehmend stressigeren Arbeits- und Freizeitwelt105:
100 Vgl. E. Bay, Der Arzneimittelmißbrauch des »modernen Menschen«, in: DEUTSCHE MEDIZINISCHE
WOCHENSCHRIFT, 85/38 (1960), S. 1676-1680, hier S. 1676; W.
Eberhardt, Gibt es harmlose Arzneimittel?, S. 1365. 101 G. Kuschinsky, Suchterzeugende und gewohnheitsbildende Arzneimittel, S. 1189. 102 Vgl. E. Bay, Der Arzneimittelmißbrauch des »modernen Menschen«, S. 1678. A.H. Günther, Contergan als Zäsur, S. 146-148; A.H. Crumbach, Arzneimittel aus der Waschküche, S. 100-101. 103 Die PHARMAZEUTISCHE ZEITUNG war das Zentralorgan des deutschen Apothekerstandes. 104 W. Eberhardt, Gibt es harmlose Arzneimittel?, S. 1365. A.H. Günther, Contergan als Zäsur, S. 146-148; A.H. Crumbach, Arzneimittel aus der Waschküche, S. 100-101. 105 Vgl. E. Bay, Der Arzneimittelmißbrauch des »modernen Menschen«, S. 1678-1679.
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»Diese erhöhten Anforderungen, denen wir auf diese oder jene Weise in allen Lebensbereichen ausgesetzt sind, bedeuten an sich schon eine pausenlose Beanspruchung des Menschen nahe der Grenze seiner Leistungsfähigkeit. Diese Dauerbeanspruchung verträgt zudem keine vorübergehende Minderung der Leistungsfähigkeit, wie sie auch mit einer leichten Unpäßlichkeit oder mit harmlosen körperlichen Beschwerden verbunden ist. Schon die banalsten Kopfschmerzen verlangen unter diesen Umständen nach sofortiger Abhilfe – das heißt dem Griff zur Tablette.«106
Die Einführung der 40-Stunde-Woche, der freie Samstag ebenso wie die Verlängerung der Ausbildungszeiten erweiterte jene Zeit, die nicht mit Erwerbstätigkeit oder einem Schulbesuch ausgefüllt wurde. Wie Bay in seinem Aufsatz ansprach, entstand ein zunehmender Druck, die neugewonnene freie Zeit zu nutzen und mit sinnvollen Aktivitäten zu füllen.107 Auch die freie Zeit verlangte eingeteilt und geplant zu werden, was wiederum keine Erholung, sondern vielmehr »Freizeitstress« auslöste.108 Vor diesem Hintergrund entstand des Bild des gestressten Menschen, der unter den modernen Anforderungen des Lebens litt. So resümiert der Historiker Nils Kessel: »Ärzte […] kritisierten den medizinisch nicht kontrollierten Arzneimittelgebrach weniger wegen der Selbstgefährdung der Nutzer, die sich schwerwiegenden Langzeitschäden der Stoffwechselorgane Niere und Leber aussetzten. Arzneimittelkonsum erschien diesen Ärzten vielmehr selbst Symptom einer tiefgreifenden Malaise zu sein, an der ›der moderne Mensch‹ (Eberhard Bay) litt und der zu stellen er sich außer Stande sah. […] Arzneimittelkonsum und Arzneimittelmissbrauch konnten in dieser ärztlichen Kritik sehr nah beieinander liegen und auch zur Deckung gebracht werden.«109
Aufgrund des steigenden Arzneimittelkonsums, stellte sich auch die Frage, ob der Arzneimittelmarkt nicht gesetzlich kontrolliert und reguliert werden müsse.
106 Bay, Der Arzneimittelmißbrauch des »modernen Menschen«, S. 1678-1679. 107 Vgl. Siehe zur Auswirkungen auf die Jugend: Siegfried, Time is on my side; Schildt, Materieller Wohlstand. Die neue Technik des Fernsehgeräts strukturierte jetzt z.B. den westdeutschen Feierabend. Zur Bedeutung des Fernsehers: F. Bösch, Mediengeschichte, Frankfurt am Main 2011, S. 216-217. 108 Vgl. E. Bay, Der Arzneimittelmißbrauch des »modernen Menschen«, S. 1678-1679. 109 Nils Kessel, Contergan in der Konsumgesellschaft. Wissen und Nichtwissen über Arzneimittelverbrauch in der Bundesrepublik, 1955 – 1962, in: Großbölting, Thomas/Lenhard-Schramm, Niklas (Hg.), Contergan. Hintergründe und Folgen eines Arzneimittelskandals. Göttingen 2017, S. 71-98, hier S. 78.
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Brauchte die Bundesrepublik ein Arzneimittelgesetz?110 Erst in der dritten Legislaturperiode wurde ein Arzneimittelgesetz für die gesamte Bundesrepublik erlassen.111 Bis zum Inkrafttreten des Arzneimittelgesetzes galt die sogenannte StoppVerordnung aus dem Jahre 1943. So konstatiert der Historiker LenhardSchramm: »Mit ihr wurde die Herstellung und das Inverkehrbringen neuer Arzneifertigwaren (›Spezialitäten‹) grundsätzlich untersagt, jedoch war die Möglichkeit für Ausnahmegenehmigungen vorgesehen.«112 Diese Verordnung blieb auch in der neugegründeten Bundesrepublik bestehen und löste eine kontroverse Debatte über die Zuständigkeiten auf Bundesund Länderebene aus. Die Länder beharrten auf ihre Befugnis zur Durchführung der Stoppverordnung. Die Situation war unübersichtlich, da die Länder durchaus unterschiedlich agierten.113 In dieser verworrenen Situation gab es immer wieder Vorstöße, ein bundesweites Arzneimittelgesetz voranzubringen. Schwierig gestaltete sich die Ausgangslage ab 1959, da das Bundesverfassungsgericht die Stoppverordnung als verfassungswidrig einstufte und somit bisher bestehende Regelung wegfiel.114 Die Länder – außer Nordrhein-Westfalen – versuchten die entstandene Lücke mit eigenen Verordnungen zu schließen, deren Vorgaben stark differierten, so dass die Rechtsgültigkeit der Regelungen in Frage stand.115 Für Lenhard-Schramm entstand daraus eine höchst komplizierte Lage:
110 Siehe zur Geschichte des Arzneimittelrechts N. Lenhard-Schramm, Contergan und das Arzneimittelrecht, S. 136-137. 111 In der Gesundheits- und Sozialpolitik stießen die Politiker unter anderem in der zweiten Legislaturperiode z.B. die Reformen der Renten- und Arbeitslosenversicherung, der Krankenversicherung sowie der Sozialversicherung an. Siehe z.B. W. Rudloff, Rehabilitation und Hilfen für Behinderte, S. 465; Jürgen Wasem u.a., Gesundheitswesen und Sicherung bei Krankheit und im Pflegefall, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Bundesarchiv (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945 (= Bundesrepublik Deutschland. Sozialpolitik im Zeichen des erreichten Wohlstandes, Band 4), Baden-Baden 2007, S. 374-431, hier S. S. 376377. Obwohl es immer wieder Anfragen und Beratungen zu einem neuen Arzneimittelgesetz gab, konnte dies erst 1961 realisiert werden. 112 N. Lenhard-Schramm, Contergan und das Arzneimittelrecht, S. 136. 113 Vgl. ebd., S. 138-139. 114 Vgl. ebd., S. 140-142; S. 143-144. 115 Vgl. ebd., S. 144.
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»So war es bis zum Inkrafttreten des § 6 am 1. August 1961 nicht verboten, Arzneimittel mit therapeutisch nicht vertretbarer Schädlichkeit herzustellen und zu vertreiben; und bis zum Inkrafttreten des § 20 am 1. Oktober 1961 bedurfte es keines behördlichen Aktes, um neue Arzneispezialitäten herstellen und vertreiben zu dürfen. Die Ministerialbeamten in Nordrhein-Westfalen, die über das Arzneimittelwesen [in diesem Bundesland, Anm. A.H. C.] wachten und für Contergan zuständig waren, verfügten also gerade im Zeitfenster des Contergan-Booms über keine rechtliche Handhabe, die Herstellung von Arzneimitteln außerhalb der Apotheke in irgendeiner Form zu reglementieren.«116
Selbst das erste bundesrepublikanische Arzneimittelgesetz, das am 1. August 1961 in Kraft trat, brachte keine Besserung. Es sah weiterhin die Zuständigkeit einzelner Bundesländer für die Arzneimittelkontrolle vor.117 Diese Kompetenzverlagerung auf die Länder sollte in der späteren Aushandlung der Folgen von Contergan noch eine zentrale Rolle spielen. Das neue Arzneimittelgesetz hielt also am Status quo fest und damit am bisherigen Registrierungsverfahren. Immer noch oblag der Herstellerfirma die Aufsicht über Herstellung und Erprobung der Substanz. Das Gesetz forderte lediglich eine Registrierung beim Bundesgesundheitsamt sowie das Einreichen von Prüfungsprotokollen (pharmakologisch und klinisch).118 Dass eine unabhängige Überprüfung neuer Substanzen notwendig war, zeigte sich wenig später, als das Gesetz aufgrund des Contergan-Falles bereits wenige Monate nach seiner Einführung in der Kritik stand. Bis 1961 gab es nicht einmal ein eigenständiges Bundesgesundheitsministerium, das sich mit gesundheitspolitischen und pharmazeutischen Fragen beschäftigte. Je nach Zuschnitt waren das Bundesarbeitsministerium (Rehabilitation), das Bundessozialministerium (Krankenversicherung) oder das Bundesinnenministerium (Gesundheitswesen) für diese Themen zuständig.119 Das erste Bundesgesundheitsministerium ging hauptsächlich aus der Gesundheitsabteilung des Bundesinnenministeriums hervor.120
116 N. Lenhard-Schramm, Contergan und das Arzneimittelrecht, S. 145. 117 Vgl. ebd., S. 146. Siehe dazu auch A.H. Crumbach, Arzneimittel aus der Waschküche, S. 101-102. 118 Vgl. W. Steinmetz, Contergan, S. 52-53. 119 Vgl. U. Lindner, Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit, S. 42-43. 120 Vgl. ebd., S. 42; Sabine Mecking, Von der Gesundheitsabteilung zum Gesundheitsministerium. Politik und Verwaltung des öffentlichen Gesundheitswesens im Spiegel des Contergan-Skandals, in: Großbölting, Thomas/Lenhard-Schramm, Niklas (Hg.), Contergan. Hintergründe und Folgen eines Arzneimittelskandals. Göttingen 2017, S. 117-134, hier S. 120.
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Nach der Bundestagswahl 1961 stand dem neugegründeten Bundesgesundheitsministerium mit Elisabeth Schwarzhaupt (CDU) die erste weibliche Bundesministerin vor. Genau geklärt waren die Zuständigkeiten des neuen Bundesministeriums jedoch nicht. Angesichts der bisherigen Aufgabenverteilungen, der engen Verschränkung zwischen Bundes- und Länderkompetenzen und den zahlreichen gesundheitspolitischen Akteuren,121 stand Schwarzhauptvor einer komplizierten Aufgabe.122 So blieb auch nach Gründung des Bundesgesundheitsministeriums 1961 die Krankenversicherung weiterhin am Bundesozialministerium angesiedelt, eigentlich eine Kernkompetenz der Behörde von Schwarzhaupt.123 In dieser Phase der Konstituierung eines neuen Bundesministeriums und eines neuen Arzneimittelgesetzes gelangte die Meldung über die möglichen Nebenwirkungen von Contergan in die mediale Öffentlichkeit. Doch auch die westdeutsche Presse befand sich in dieser Zeit in einem tiefgreifenden Umbruch. Ihre bis in die 1950er Jahre gepflegte Konsensorientierung wich einer zunehmenden Politisierung und Emanzipation; investigative Recherchemethoden hielten Einzug in die Redaktionsräume, politische Magazine gewannen an Deutungskraft in der medialen Öffentlichkeit. Journalisten deckten Skandale auf, denen Forderungen nach politischen Konsequenzen folgten.124 Gleichzeitig gab es jedoch auch konservativ-konsenstreue Blätter, die diesem neuen Stil nicht folgten. In dieser erhitzen Situation stellte die Meldung über das Medikament Contergan eine Herausforderung dar. Die westdeutsche Presse avancierte, wie Steinmetz dargestellt hat, zu einer Kommunikationsplattform für ›Experten‹ und ›Laien‹, in diesem Fall für Journalisten, Eltern contergangeschädigter Kinder und BürgerInnen. 125 Insbesondere die Gruppe der Eltern contergangeschädigter Kinder nahm eine neue Position in dieser Konstellation ein. Mit der Gründung von Interessensgemeinschaften- und Verbänden, schließlich mit der Etablierung eines Bundesverbandes erhielt das elterliche Engagement einen institutionellen Rahmen, in dem die Betroffenen offen kommunizieren konnten.126 Das Sprechen über Contergan begann sich zu verändern.
121 Vgl. U. Lindner, Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit, S. 39. 122 Erst die sozialliberale Koalition klärte die Zuständigkeiten im Sozialwesen, siehe dazu: W. Rudloff, Rehabilitation und Hilfen, S. 564. 123 Vgl. U. Lindner, Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit, S. 43. 124 Vgl. C. von Hodenberg, Konsens und Krise; C. von Hodenberg, Die Journalisten, S. 278-311; C. von Hodenberg, Konkurrierende Konzepte, S. S. 205-226. 125 Vgl. W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 195-196. 126 Siehe auch zur Bedeutung von Interessenverbände E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 137-140. Zu den Elternverbänden auch W. Rudloff, Überlegungen, S.
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1.6 AUFBAU DER STUDIE Die Gliederung des Buches orientiert sich an dem chronologischen Verlauf des Contergan-Falles. Alles begann im Labor der Firma Chemie Grünenthal (Kapitel 2). Dahin wird der Blick zuerst gelenkt. Soweit eine Rekonstruktion aus den Quellenbeständen des Landesarchivs NRW möglich war, wird die wissenschaftliche Tatsache Contergan von ihrer Entdeckung über die Konsolidierung bis hin zur Dekonstruktion thematisiert. Dabei stehen folgende Fragen im Mittelpunkt: Wie wird die wissenschaftliche Tatsache Thalidomid in Publikationen und Berichten konstruiert? Wie reagiert die Fachgemeinschaft auf die Meldungen? Wie bewertet die Fachgemeinschaft die wissenschaftliche Tatsache nach der Beobachtung von Nebenwirkungen? Eine völlig neue Situation entstand, als im November 1961 das Wissen über Nebenwirkungen sowohl der Fachgemeinschaft als auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde (Kapitel 3). Nun erweiterte sich der Adressatenkreis. Nicht nur Mediziner oder Pharmazeuten, sondern Journalisten und Politiker diskutierten über die wissenschaftliche Tatsache, die nun als Gefahr und ›Katastrophe‹ umgedeutet wurde. Journalisten übernahmen eine wichtige Schnittstelle in der Übersetzung medizinischer Begriffe in eine leicht verständliche Sprache. Diese ermöglichte dann auch ›Laien‹ die Teilhabe an der Debatte. Folgende Fragen sollten beantwortet werden: Wie diskutierten die beteiligten Akteure die medizinische Tatsache? Wie deuteten sie die Nebenwirkungen des Medikaments und welche Hierarchien von Wissensvermittlung und Wissensaneignung wurden deutlich? Durfte der ›Laie‹ über das komplexe Thema der medizinischen Tatsache Contergan überhaupt informiert werden beziehungsweise durfte er darüber diskutieren? Anschließend werden ausführlich die politischen und gesellschaftlichen Diskurse von 1962 bis 1968 untersucht (Kapitel 4 und Kapitel 5). Hier werden schlaglichtartig einzelne Diskussionen nachverfolgt, die bis zum Ende des Gerichtsprozesses geführt werden. Es soll keine vollständige Rekonstruktion der Ereignisse geleistet werden, stattdessen soll an ausgewählten Beispielen der Sprachwandel dargestellt werden. Die öffentliche Verhandlung des neuen Kollektivsymbols Contergankind wird anhand der medialen Debatten nachgezeichnet (Kapitel 5), die das Kollektivsymbol immer wieder neu mit Bedeutung aufluden. Deutlich zeigen sich Veränderungen in den Kommunikationsstrukturen und Autoritätsverschiebungen, da Journalisten eine aktive Rolle in dem Sprach-
872; W. Rudloff, Rehabilitation und Hilfen für Behinderte, S. 468-469. Siehe dazu auch J. Stoll, ›Behinderung‹, S. 169-191.
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bildungsprozess übernahmen. Insbesondere die BILD engagierte sich in einem bis dahin nicht gekannten Maße, die betroffenen Kinder und ihre Eltern in den Mittelpunkt zu rücken. Neue Diskursfelder öffneten sich: Mit dem Begriff Contergankind verbanden sich kritische Äußerungen zur Untätigkeit des Bundesgesundheitsministeriums, Forderungen nach gesellschaftlicher Solidarität. Auch Fragen zur ›Normalität‹ und zum ›Nicht-Normalen‹, zu einem lebenswerten Leben mit Behinderung wurden laut. Die Presse übernahm neue Aufgaben, die über die Informationslieferung hinausgingen, indem sie sich selbstbewusst als Akteur in der Diskussion präsentierte. Aufgrund der Vielschichtigkeit der Diskurse stellt sich die Frage, wer sich an der öffentlichen Aushandlung des Begriffs Contergan beteiligte und wer das Medikament mit welchen Bedeutungen belegte. Mit Beginn des Gerichtsverfahrens 1968 rückten wieder neue Akteure in den Blick (Kapitel 6). Die Richter und die Staatsanwälte als Repräsentanten des bundesdeutschen Justizwesens schalteten sich jetzt in das Sprachhandeln ein, prägten dem Diskurs vor Gericht ihren eigenen Stempel auf. Die Erwartungen der Opfer und die Notwendigkeit juristischer Regeleinhaltung, das Herausdrängen der Emotionen aus dem Prozess ebenso wie die vielen juristischen Spiegelfechtereien ließen jene enttäuscht zurück, die eine Ermittlung der ›Schuldigen‹ und eine ›gerechte Strafe‹ erwartet hatten. Die Presse berichtete Tag für Tag direkt aus dem Gerichtssaal. Korrespondenten von großen und lokalen Zeitungen waren vor Ort und berichteten über die Ereignisse aus dem Gerichtssaal. Außerdem gab es medizinische Redakteure, die für Zeitschriften und Zeitungen Berichte verfassten. Hier überkreuzten sich journalistische und medizinische Kompetenzen. Auch Ärzte selbst waren nun wieder aktiver Bestandteil des öffentlichen Geschehens, denn die Debatten aus Fachzeitschriften drangen nun an die Öffentlichkeit. Als Gutachter traten sie vor das Gericht, berichteten über ihre Forschung und wurden von Staatsanwaltschaft oder Verteidigung für ihre Zwecke berufen. Diese Phase judikativer Diskursbündelung fand zwar einen formellen Abschluss, führte aber zu keinem befriedigenden Ende: Es gab weder ein Urteil noch eine Strafe, stattdessen wurde das Verfahren eingestellt. Was blieb, war ein Vergleich zwischen der Firma und den Opfern und die immer noch offene Frage nach der Schuld, nach Gerechtigkeit. Der Prozess bildete den letzten Höhepunkt in der medialen Auseinandersetzung. In dem 1970 geschlossenen Vergleich wurde eine Entschädigungssumme von 100 Millionen D-Mark festgesetzt. Im Gegenzug sollten die Eltern auf zivilrechtliche Klagen verzichten. Ein medizinisches Gremium legte nach einem Punktesystem den Grad der Schädigung fest, anhand dessen sich die Auszahlungssumme orientierte. Nach dem Vergleich
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wurde von politischer Seite eine Stiftung gegründete, die die Auszahlung koordinieren sollte. Dennoch kam es zu Verzögerungen bei der Auszahlung.127
127 Der Entwicklungsprozess hin zur »Stiftung Hilfswerk für behinderte Kinder« wird hier nicht mehr in den Blick genommen, da dort vornehmlich juristische und medizinische Überlegungen greifen, die einen neuen Abschnitt im Contergan-Fall einläuten. Die Frage der finanziellen Entschädigung ist bis heute virulent und nicht abgeschlossen; Vgl. B. Kirk, Der Contergan-Fall, S. 97-106. Zur Entwicklung der Stiftung vgl. unter anderem BArch B 267; dpa, Weg frei für Zahlungen; D. Böhm, Die Entschädigung der »Contergan«-Kinder; Entwurf einer Satzung, Haus der Geschichte, EB-Nummer: 2006/11/0396; Schreiben an die Eltern der mißgebildeten Kinder betr. Stiftungsgründung, 20.02.1972, Haus der Geschichte, EB-Nummer: 2006/11/0395; Abfindungserklärung, 1970, Haus der Geschichte, EB-Nummer: 2006/11/0393.
2
Wie Contergan zu einer wissenschaftlichen Tatsache wurde (1954-1961)
2.1 KONSTITUTION, KONSTRUKTION UND KONSOLIDIERUNG Die Firma Chemie Grünenthal GmbH meldete am 17. April 1954 die Substanz K 17 beim Deutschen Patentamt an.1 Eher zufällig sei die chemische Verbindung N-Phthalyl-glutaminsäure-imid entdeckt worden, sagte ein ehemaliger Mitarbeiter der Firma später aus, die intern als K 17 bezeichnet wurde und schließlich in Thalidomid umbenannt wurde.2 Seit Oktober 1957 wurde der neue Wirkstoff Thalidomid unter dem Namen Contergan beziehungsweise Contergan forte als Schlaf- und Beruhigungsmittel vermarktet.3 Es galt als völlig ungiftig und unbe-
1
Vgl. B. Kirk, Der Contergan-Fall, S. 52; Patenturkunde vom 18.05.1954, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9223.
2
Vgl. B. Kirk, Der Contergan-Fall, S. 52. Diesbezüglich äußerte er sich auch in einem Gespräch mit Vertretern der Firma Smith, Kline & French, Philadelphia, am 22.11.1956 (LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9434): »Herr Dr. Keller teilte dazu mit, daß die Auffindung des K 17 etwa 8 Tage benötigt habe, da es praktisch als Nebenprodukt bei anderen Synthesen abgefallen sei. Die weitere Bearbeitung habe allerdings schon etwa 2 ½ Jahre in Anspruch genommen.«.
3
Die Herstellerfirma Chemie Grünenthal brachte eine Vielzahl von Medikamenten auf den Markt, die den Wirkstoff Thalidomid enthielten, so z.B. das Grippemittel Grippex. Siehe dazu: Ludger Wimmelbücker, Grippex 1956 – 1961. Ein anderer Blick auf die Geschichte thalidomidhalteriger Medikamente in der Bundesrepublik Deutschland, in: Großbölting, Thomas/ Lenhard-Schramm, Niklas (Hg.), Contergan. Hintergründe und Folgen eines Arzneimittelskandals. Göttingen 2017, S. S. 167-203; N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 157 ff. Zudem vermarktete sie ihre Produkte nicht nur auf dem westdeutschen Markt, sondern auch in Europa,
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denklich4 und fand reißenden Absatz, entwickelte sich zum Erfolgsprodukt der Firma.5 Die neue Substanz verband scheinbar Wirksamkeit und Verträglichkeit miteinander, die bisherige Schlaf- und Beruhigungsmittel nicht erfüllen konnten. Bevor die Nebenwirkungen des Wirkstoffes Thalidomid (zunächst K 17 genannt) bekannt wurden, stand die Unbedenklichkeit und gute Verträglichkeit der Substanz als unumstößlicher Fakt für die wissenschaftliche Gemeinschaft und die Verbraucher fest. 1956 veröffentlichten drei Mitarbeiter der Firma Chemie Grünenthal einen ersten Forschungsbericht über die neue Substanz in der Zetschrift ARZNEIMITTELFORSCHUNG.6 Mit diesem Artikel informierten sie das medizinischpharmazeutische Fachpublikum über ihren neuen Wirkstoff. Die anschließende Rezeption in der Wissenschaftsgemeinschaft zeigt, wie sich die Eigenschaften des Thalidomid zu einer feststehenden Tatsache entwickelten, und schließlich auch, wie sie mit Bekanntwerden von Nebenwirkungen sukzessive hinterfragt wurden. Zwar stellte die Firma Chemie Grünenthal die Substanz in ihrem Labor chemisch her, über ihre Wirkung oder die medizinischen Vor- und Nachteile befand jedoch ein Netzwerk aus Ärzten, Wissenschaftlern und Firmenmitarbeitern, die in Aufsätzen und Vorträgen ihre Bewertung begründeten und damit Tatsachen schufen. Die wissenschaftliche Behauptung, dass die neue Substanz wirksam und ungiftig sei, entstand somit in einem abgegrenzten medizinisch-pharmazeutischen Raum, der von verschiedenen Faktoren abhing (wissenschaftlicher Standard der Forschung in Form von Testungen, Laborausstattung etc.; Gesetzgebung; Vernetzung der wissenschaftlichen Gemeinschaft, Reputation der Firmen und Wissenschaftler). Die Rahmenbedingungen unterlagen einerseits einem spezifischen historischen Kontext (Aufholen der pharmazeutischen Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg, abgeschnitten von der internationalen Forschung und Technik), andererseits einem sich stetig wandelnden wissenschaftlichen Kontext (Wandel von Wissen, Entwicklung neuer Forschungsergebnisse, Austausch und
Commenwealth-Staaten, Japan, Mexiko, Brasilien, siehe dazu: N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 427. 4
Vgl. B. Kirk, Der Contergan-Fall, S. 55 und S. 58. Der Wirkstoff Thalidomid war auch in anderen Präparaten enthalten, die die Firma Chemie Grünenthal produzierte (vgl. ebd., S. 55). Contergan war jedoch das bekannteste Medikament unter ihnen.
5
Bericht Monat April 1960, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11047.
6
Vgl. W. Kunz/H. Keller/H. Mückter, N-Phthalyl-glutaminsäure-imid. Experimentelle Untersuchungen an einem neuen synthetischen Produkt mit sedativen Eigenschaften, in: ARZNEIMITTELFORSCHUNG, 6/8 (1956), S. 426-430.
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Vernetzung).7 Ähnlich wie Brigitta Bernet das Krankheitsbild der Schizophrenie verstehe ich die wissenschaftliche Tatsache Thalidomid oder Contergan daher als eine wissenschaftliche Konstruktion, die sich »im Kontext von lokal verankerten ›Wissenskulturen‹ etablier[te].«8 Dem Konzept Ludwik Flecks folgend durchläuft die Entstehung und Etablierung einer wissenschaftlichen Tatsache drei Phasen (›Konstitution‹, ›Konstruktion‹ und ›Konsolidierung‹), welche spezifischen Wissenschaftstraditionen und Rezeptionen verhaftet sind.9 Den theoretischen Überlegungen Flecks werden Bruno Latours Laborstudien zur Seite gestellt. Dessen Konzept der wissenschaftlichen Vernetzung kann als Weiterentwicklung von Flecks Überlegungen verstanden werden, weil Latour neben der Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache im Labor auch die weitergehende Vernetzung in der wissenschaftlichen Gemeinschaft untersucht. Nur die Vernetzung mit ›Verbündeten‹ (Technik, Labortieren, wissenschaftlichen Publikationen etc.) und die Rezeption im medizinischen Fachdiskurs ermöglichen die Festigung einer wissenschaftlichen Tatsache.10 Die genaue Rekonstruktion der Ereignisse, insbesondere die Vorgänge zwischen der Herstellerfirma und dem Land Nordrhein-Westfalen, hat bereits Niklas Lenhard-Schramm eingehend analysiert. In diesem Kapitel steht die sprachliche und diskursive Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache im Vordergrund. Wer spricht wann über welche wissenschaftliche Tatsache? Wie wird Wissen generiert und weitergegeben? Wer darf an der Wissensgenerierung teilhaben? 2.1.1 Im Labor von Grünenthal: Entdeckung und klinische Prüfung des Wirkstoffes K 17 (Konstitution) Die Herstellerfirma Chemie Grünenthal befindet sich bis heute in Stolberg bei Aachen. 1946 gegründet als Tochtergesellschaft der Dalli-Werke versuchten die Firmeneigentümer einen neuen Produktionsschwerpunkt in der Arzneimittelproduktion zu setzen. Erfolg erzielte die Firma zunächst, insbesondere unter Dr.
7
Siehe dazu auch A.H. Crumbach, Arzneimittel aus der Waschküche, S. 103.
8
Vgl. B. Bernet, Schizophrenie, S. 21.
9
Siehe dazu ebd. und L. Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache.
10 Siehe dazu Bruno Latour: Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts, Princeton 1986; K. Amelang: Laborstudien.
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Heinrich Mückter11, mit der Produktion von Antibiotika. Die Erweiterung der Produktion wurde angestrebt.12 Dabei sind die besonderen Umstände zu berücksichtigen, vor denen in dieser Zeit Wirkstoffe entdeckt wurden: »Anders als heute war die Entwicklung neuer Medikamente in den 1950er Jahren noch kaum zielgerichtet. Sie folgte meist einem Schema, nach dem zunächst neue Stoffe oder Stoffgruppen chemisch synthetisiert wurden, für die man erst anschließend nach einer medizinischen (oder auch anderen) Verwendung suchte. Bei der Entwicklung neuer Substanzen orientierte man sich oft an bekannten Wirkstoffen, von denen man neue Derivate herstellte. Intuition und logisches Schließen spielten dabei eine ebenso große Rolle wie der reine Zufall. Sobald eine aussichtsreiche Verbindung gefunden war, wurde sie im Tierversuch auf pharmakodynamische Eigenschaften untersucht. Auch wenn eine neue Substanz als Arzneimittel in den Verkehr gelangte, blieben die genauen Wirkmechanismen meist unbekannt, insbesondere bei neuen Stoffgruppen.«13
Über den Entdeckungsprozess des Wirkstoffes K 17 ist nur wenig bekannt. Lediglich zusammenfassende Monatsberichte der wissenschaftlichen Abteilung der Firma Chemie Grünenthal zeugen von der Entwicklung; die Forschungsprotokolle selbst wurden vernichtet.14 Auskunft über die klinische Erprobung geben Berichte der klinischen Studien.15 Die anwachsende Forschungsabteilung der Firma konnte 1954 einen ersten Erfolg verzeichnen, als die neu eingestellten Mitarbeiter Dr. Wilhelm Kunz und Dr. Dr. Herbert Keller eher zufällig auf eine neue chemische Verbindung stie0en, die zunächst eine nur geringe schlaffördernde Wirkung besaß.16 Sie un-
11 Heinrich Mückter war Arzt und Chemiker. Während des Nationalsozialismus hatte er Experimente an KZ-Insassen durchgeführt, siehe dazu: N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 135; Artikel: Mückter, Heinrich, in: Klee, Ernst (Hg.), Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt am Main 2005, S. 418. 12 Vgl. N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 135-137. 13 Ebd., S. 136-137. 14 Siehe hierzu auch B. Kirk, Contergan-Fall, S. 53, FN 150. N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 135-145. Lenhard-Schramm verweist auf den Umstand, dass die Vernichtung von Forschungsprotokollen ein üblicher Vorgang zu dieser Zeit war, siehe S. 140. 15 Vgl. B. Kirk, Contergan-Fall S. 52-53; Bestand LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 9a und b; Nr. 241a. 16 Siehe dazu auch N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 137-138.
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tersuchten die Substanz weiter – neben pharmakologischen Untersuchungen wurde die Substanz auch weißen Mäusen im Tierversuch verabreicht. Dabei konnte keine letale Dosis ermittelt werden.17 Der Name K 17 war zunächst eine sprachliche Bezeichnung, die intern verwendet wurde. Seit 1957 war der Begriff Thalidomid als Bezeichnung der Substanz gebräuchlich.18 Die Konstitution der wissenschaftlichen Tatsache K 17 erfolgte also zunächst aufgrund vielversprechender Merkmale wie Ungiftigkeit des Sedativums für Nagetiere. Diese konstitutiven Merkmale kristallisierten sich bereits in einem frühen Stadium heraus, sollten sich im weiteren Konstruktionsprozess festigen und die Substanz K 17 schließlich charakterisieren. Nach seiner Entdeckung 1954 galt es, zunächst neben den pharmakologischen Untersuchungen19 und Selbstversuchen20, auch die klinische Prüfung des Wirkstoffes voranzubringen. Die klinischen Untersuchungen sollten nun unter ärztlicher Beobachtung Hinweise über die Wirksamkeit der Substanz liefern. Allgemeine Richtlinien, die eine klinische Prüfung einheitlich regelten, gab es nicht, sondern wurden von den einzelnen Ärzten individuell festgelegt.21 Die Vergleichbarkeit der Testergebnisse (insbesondere im Hinblick auf das Patientengut und die Verabreichungsdauer etc.) war somit mehr als fragwürdig. Erste Tests des K 17 fanden an Kliniken in Köln und Düsseldorf statt.22 Im April 1955 trafen erste Ergebnisse im Stolberger Firmensitz ein.23 In einem Bericht lobte der
17 Vgl. B. Kirk, Der Contergan-Fall, S. 52-53. LD50 bezeichnet im Tierversuch die Menge eines Stoffes oder einer Strahlung, bei der 50 Prozent der Population der Tiere sterben, siehe dazu: https://de.wikipedia.org/wiki/Therapeutische_Breite. 18 Siehe dazu N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 139. 19 Diese fanden zweitweise in den USA und an der Universität Mailand statt, siehe dazu ausführlich N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordhein-Westfalen, S. 141-142. 20 Lenhard-Schramm verweist auf einen Fall, in dem ein Mitarbeiter der Firma Chemie Grünenthal seiner Ehefrau die Substanz zur Testung mitgab, die 1956 ein Kind mit körperlichen Fehlbildungen zur Welt brachte. Siehe dazu: N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 144. 21 Vgl. N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 145. 22 Vgl. B. Kirk, Der Contergan-Fall, S. 50-52; N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 145. Bericht für den Monat Dezember 1954, 19.01.1955 LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9001 und Bericht für den Monat Januar 1955, 16.02.1955 LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9002-9003; Bericht für den Monat Februar 1955, 12.03.1955, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9004. 23 Vgl. Medizinische Universitätsklinik, Köln an Firma Chemie Grünenthal, 09.04.1955, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9005-9007, hier S. 2.
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Autor die getestete Substanz als »eine Bereicherung unseres Medikamentenschatzes. Sie dürfte sicher im Handel erfolgreich verkauft werden.«24 Diese enthusiastischen Berichte dürften auch die wissenschaftliche Abteilung der Firma Chemie Grünenthal beflügelt haben, die klinischen Prüfungen weiter voranzubringen. Im Monatsbericht April von 1955 konstatierte die Forschungsabteilung: »Nach den vorläufigen Berichten scheint insbesondere die Substanz K 17 interessant zu werden. Diese Verbindung, die als Derivat der Glutaminsäure aufgefasst werden kann und bisher nicht beschrieben wurde, hat im Tierexperiment und beim Menschen eine beachtliche sedative Wirkung. Eine Dosis von 100 mg bewirkt beim Menschen bereits eine deutliche Beruhigung, während 200 mg bereits als Schlafmittel wirken. Dabei ist die Substanz bemerkenswert ungiftig.«25
Unterdessen ging die Erprobung und Herstellung größerer Mengen von K 17 weiter.26 Der wissenschaftliche Fakt »ungiftig« wurde zusätzlich durch Tierversuche und klinische Vorprüfungen gestützt. In einem klinischen Bericht vom Juni 1955 konstatiert der Autor, es sei keine Sucht oder Gewöhnung zu verzeichnen: »Das Präparat scheint mir reif für den Handel.«27 Die Ergebnisse der Vorprüfungen in Köln und Düsseldorf zeigen, dass K 17 unter den »pharmazeutischen Neuentwicklungen […] immer deutlicher in den Vordergrund«28 trat. Die Konsolidierung der Substanz K 17 erfolgte somit nicht nur über das Forscherteam der Firma Chemie Grünenthal, sondern auch über die beteiligten Ärzte der klinischen Studien, welche die Eigenschaften ›Ungiftigkeit‹ und ›schnelle Wirkung‹ bestätigten und sich für eine Markteinführung aussprachen. Um den wissenschaftlichen Fakt zu stärken, bereisten Mitarbeiter der Firma Kliniken, die ebenfalls eine klinische Prüfung übernehmen konnten beziehungsweise schon übernahmen. Sie tauschten sich mit den Klinikärzten aus und erhiel-
24 Bericht über Schlafglisette, 09.04.1955, ohne Autor und Ort, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9011. 25 In dem Bericht gibt es Auslassungen, sodass nur dieser Abschnitt zitiert werden kann (siehe Bericht für den Monat April 1955, 16.05.1955, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9020). 26 Ebd., 9020 und 9021. 27 Bericht über Schlafglisette, 10.06.1955, ohne Autor und Ort, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9027. 28 Bericht für den Monat Juni 1955, 15.07.1955, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9041.
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ten im persönlichen Gespräch die vorläufigen Ergebnisse aus erster Hand.29 Somit bauten sie zugleich ihr Netzwerk weiter aus,30 von dessen Akteure sie eine längerfristige Zusammenarbeit oder Veröffentlichung erwarteten.31 Gegenbesuche im Stolberger Firmensitz kamen ebenfalls zustande. Sie wurden dazu genutzt, den wissenschaftlichen und technischen Standard der Forschung und Produktion vor Ort vorzuführen.32 Hier ging es auch um die Profilierung als ernstzunehmendes Unternehmen in der pharmazeutischen Industrie, schließlich war dieser Zweig der Firma Chemie Grünenthal erst wenige Jahre jung. Die Firma bemühte sich viele Jahre lang, möglichst zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen für K 17 zu generieren. Auch Mückter sah die besondere Bedeutung
29 Vgl. Reisebericht vom 20.-31.10.1955, Leseabschrift, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9061. Hier kamen auch kritische Stimmen zum Tragen: So berichtete der Mitarbeiter von einem Besuch in Göttingen: »Herr Prof. […] hat recht gute Erfahrungen mit K 17 gemacht, jedoch ist seine Begeisterung längst nicht so, wie wir sie von anderen Stellen bisher gewohnt waren. Das mag nicht zuletzt daran liegen, daß er im wesentlichen K 17 bei Erregungszuständen schwererer Art angewandt hat und dabei (in schwersten Fällen) wiederholt erlebte, daß auch 400 mg! ohne hinreichende Wirkung blieben.«. 30 Vgl. Bericht für den Monat August 1955, 19.09.1955, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9048: »Neben Stichfahrten zu den Routine-Prüfern […] Köln und […] Düsseldorf, den uns besonders nahestehenden Prüfern […] Essen, […] sowie verschiedenen Herren der Universität Bonn […] wurde eine grössere Reise nach Kassel, Bielefeld, Göttingen, Marburg durchgeführt.« »Arrondierung des Prüferkreises für K 17. Einbezug der Landesheilanstalt Göttingen […] und der Medizinischen Klinik, Bonn […].« Reisebericht vom 06.09.-05.10.1955, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9057. 31 Vgl. Reisebericht vom 01.-06.08.1955, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9042. Siehe auch A.H. Crumbach, Arzneimittel aus der Waschküche, S. 104. 32 Vgl. Monatsbericht für den Monat November 1955 – kaufmännische Leitung Chemie Grünenthal GmbH., 21.12.1955, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr.09, 9103. Dass die klinischen Prüfungen jedoch auch unter den zeitlichen Vorgaben der Firma selbst standen – und diesen somit gerecht werden mussten –, zeigte ein Fall, in dem die Firma Chemie Grünenthal eine klinische Prüfung ablehnte. Diese hätte nach Ansinnen des leitenden Arztes über ein Jahr in Anspruch genommen, daher habe der Prüfer eine Veröffentlichung des Medikaments vor dem Ende seiner Testung nicht gutheißen können (vgl. Reisebericht vom 20.-31.10.1955, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9061; Brief an Firma Chemie Grünenthal, Göttingen, 23.12.1955, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9136).
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von Publikationen, auch aus dem eigenen Labor, für die weitere Rezeption des Wirkstoffes und dessen Produktion:33 »Die pharmakologischen und mikrobiologischen Untersuchungen über K 17 sind weiter vorangetrieben mit der Zielsetzung, die Gesamtergebnisse bis Ende September zu einer grossen Arbeit zusammenzufassen, die dann zu einem Zeitpunkt publiziert werden soll, der mit den klinischen Arbeiten und der eventuellen Ausbietung in Einklang steht. Die klinische Prüfung von K 17 soll ab September über die Vorprüfer hinaus auf die wichtigsten Meinungsbildner in dieser Sparte ausgedehnt werden.«34
Das Netz der Ärzte wurde immer größer und stärker. Im August 1955 konnte die Firma bereits eine Reihe von Kliniken vorweisen, die sich an der Erprobung des Wirkstoffes beteiligten;35 weitere Häuser folgten im Laufe des Jahres.36 Am 19. November 1955 waren Manuskripte verschiedener Prüfer in Arbeit, die bis Ende des Jahres eingehen und anschließend publiziert werden sollten.37 Chemie Grünenthal war folglich daran interessiert, die wissenschaftliche Gemeinschaft zu überzeugen, solange die wissenschaftliche Tatsache K 17 noch neu war und
33 Das Herstellungsverfahren gestaltete sich schwierig, da es unrentabel war. Der Schwerpunkt der Forschung bestand daher darin, eine produktive und kostenrentable Herstellung zu entwickeln (siehe Bericht für den Monat August 1955, 19.09.1955, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9049). Im September 1955 äußerte Dr. Mückter die Hoffnung, Ende des Jahres werde Klarheit über die Produktion herrschen (vgl. Bericht für den Monat September 1955, 20.10.1055 LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9059). 34 Bericht für den Monat Juli 1955, 15.08.1955, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9043. 35 Vgl. Bericht für den Monat August 1955, 19.09.1955, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9048. 36 Vgl. Bericht für den Monat September 1955, 20.10.1955, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9059. 37 Vgl. Bericht für den Monat Oktober 1955, 19.11.1955, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9067. Zugleich bewertete die Forschungsabteilung einen teilnehmenden Arzt als »wertvoll«, da er vorsichtig sei (vgl. Brief, Göttingen, 25.11.1955, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9038). Im Januar 1956 hielt die Forschungsabteilung in ihrem Monatsbericht fest, zum 1. März werde ein Manuskript über die experimentellen Arbeiten fertiggestellt worden sein, bis zum 1. April würden die wichtigsten klinischen Prüfer folgen (vgl. Bericht für den Monat Januar 1956, 21.02.1956, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9150).
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wirksam konstruiert werden konnte. Dies sollte dann die Grundlage für die Markteinführung bilden. Um die Vernetzung weiter zu stärken, plante die Firma für Dezember 1955 ein Symposium, auf dem Mitarbeiter und Ärzte ihre Forschungsergebnisse aus Labor und Klinik vorstellen sollten.38 Das Symposium war somit notwendig, um die testenden Ärzte noch mehr an die Firma zu binden und über die eigene Profilierung hinaus das Vertrauen in das Medikament zu stärken: »Am 16.12.1955 soll in Stolberg ein Symposium stattfinden, zu dem die wichtigsten K 17-Prüfer eingeladen sind, um am runden Tisch ein exaktes Urteil über die Möglichkeiten und Grenzen der K 17-Therapie zu finden. Nach diesem Symposium soll entschieden werden, ob, wann und in welcher Form K 17 ausgeboten werden kann.«39
Ein Protokoll über das Symposium liegt in den Gerichtsakten der Staatsanwaltschaft Aachen vor. Der oder die Verfasser hatte(n) es mit dem Prädikat vertraulich versehen.40 Auf dem Symposium begrenzte Chemie Grünenthal den Wissensaustausch auf eine Gruppe ausgewählter Personen, welche die Substanz in ihren Kliniken erforschte.41 Im Vorfeld des Symposiums erreichte die Firma ein wenig optimistisches Schreiben aus der Schweiz. Darin äußerte sich ein Arzt enttäuscht über die Wirkung von K 17. Seine Hoffnungen waren nicht bestätigt worden, dass diese Substanz:
38 Vgl. B. Kirk, Der Contergan-Fall, S. 53. N. Lenhard-Schramm, Das Land NordrheinWestfalen, S. 150-151. A.H. Crumbach, Arzneimittel aus der Waschküche, S. 104. 39 Bericht für den Monat November 1955, 21.12.1955, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9103. 40 Vgl. Bericht Symposium über K 17, 16.12.1955, Chemie Grünenthal GmbH, vertraulich, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 241a, 15 101. Vgl. Reisebericht 13.01.1956, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9140). Zugleich wurde in einem weiteren Schreiben darauf hingewiesen, dass die Ergebnisse des Symposiums vertraulich behandelt werden sollten und jeder Teilnehmer für sich weitere Erfahrungen sammeln wolle (siehe Brief, 21.01.1956, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9146). 41 Vgl. Bericht Symposium über K 17, 16.12.1955, Chemie Grünenthal GmbH, vertraulich, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 241a, 15101-15124. Teilnehmer werden aufgelistet von der Firma Chemie Grünenthal für die Staatsanwaltschaft Aachen am 27 September 1963, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 10b, 10242-10243.
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»den Menschen so stuporös macht, dass er keine Engramme mehr bildet und von den Vorbereitungen zur Operation nichts mehr weiss, wobei die Atmung und Kreislaufregulation nicht leiden würden. In dieser Hinsicht sind wir enttäuscht und ich fürchte unser Bericht wird Sie auch enttäuschen. Wir haben uns noch gestern allen Ernstes gefragt, ob wir den Bericht abgeben sollten, aber ich finde es gehört zur wissenschaftlichen Ehrlichkeit und man darf manchmal nicht schonen. Ich glaube auch, dass ein negativer Bericht vor übermässiger Hoffnung und vielleicht auch vor unnötigen Investitionen einer Firma schützt, und dass man dann später auch für die Kenntnis der Kehrseite dankbar ist.«42
Obwohl die Konstruktion der Eigenschaften von K 17 durch diesen Bericht gefährdet waren, konnte die – zu diesem Zeitpunkt vereinzelte Meinung – den positiven Ausgang des Symposiums nicht trüben. In den Stellungnahmen zeigte sich der Großteil der Teilnehmer von K 17 überzeugt oder bestätigte die Wirksamkeit. Die Teilnehmer diskutierten sowohl über die Pharmakologie und Toxikologie43 der neuen Substanz als auch über ihre klinischen Erfahrungen. In seinen »vorläufigen Mitteilungen«44 berichtete der Mitarbeiter Keller über die chemische Klassifizierung der Substanz, ihre Entdeckung und die anschließenden Tierversuche.45 Die ersten ›Verbündeten‹ im Entdeckungsprozess waren somit die Mäuse des Tierversuchs. Durch sie konnten erste positive Ergebnisse produziert werden.46 Dass die Mäuse die Substanz gut vertrugen, bestätigte die Mitarbeiter in ihrer positiven Beurteilung des K 17 und bestärkte ihr Vorhaben, weitere Tests zu veranlassen. Weitere ›Verbündete‹ fand Keller über die Referenz auf Experimente anderer Wissenschaftler. So verwies er auf das Forscherteam Gross, Tripod und Meyer, die »die Prüfung der Haltereflexe und der Bewegungskoordination der Maus als brauchbares Modell zur pharmakologischen Charakterisierung eines Schlafmit-
42 Brief Basel, 14.12.1955, an Dr. Mückter, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9094. Nach einem Besuch in Basel berichtete Dr. Mückter im März 1956, dass K 17 wahrscheinlich in Verbindung mit der Anästhesie keine guten Chancen hätte. Interessanter ist jedoch, dass ein dortiger Arzt beabsichtigte, nach seinem Umzug K 17 im Juni an seiner neuen Klinik in der Gynäkologie zu testen. Siehe dazu Reisebericht Leseabschrift, vom 14.-17.03.1956, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9159. 43 Vgl. Bericht Symposium über K 17, 16.12.1955, Chemie Grünenthal GmbH, vertraulich, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 241a, 15102-15107. 44 Ebd., 15102. 45 Vgl. ebd., 15102-15103. 46 Vgl. ebd., 15103.
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tels« empfahlen.47 Keller untermauerte somit die Aussagekraft der eigenen Forschung über den medizinischen Rekurs auf andere Forschergruppen.48 Dementsprechend fiel auch Kellers abschließende Bewertung auf dem Symposium wie folgt aus: »Man ersieht hieraus, daß hinsichtlich der kleinsten schlafmachenden Dosis K 17 größenordnungsmäßig durchaus im Bereich der bekannten Schlafmittel liegt. Der Beginn der Wirkung ist bei K 17 außerordentlich rasch, und die Dauer ist länger als bei zahlreichen anderen. Eine initiale Erregungsphase besteht nicht, und es verdient besonders hervorgehoben zu werden, daß es weder gelingt, mit K 17 einen narkotischen Zustand hervorzurufen, noch in den Bereich wirklicher Toxizität zu kommen. Wir haben demnach im K 17 eine Substanz vor uns, die beachtliche zentraldämpfende Eigenschaften mit einer ungewöhnlich guten Verträglichkeit und einer praktisch fehlenden Toxizität vereinigt. Darüber hinaus besitzt K 17 spasmolytische [krampflösend, Anm. A.H.C.] und möglicherweise antiallergische Wirkungen.«49
Mit dem Verweis auf ein bekanntes Testverfahren erhöhte Keller erneut die wissenschaftliche Legitimität seiner Ergebnisse, in dem er sich eines bekannten Testgeräts bediente. Zugleich untermauerte er aber auch in der Auswertung der Tests, in welchem Maße sich ihre Entdeckung von bekannten Tatsachen unterschied.50 Wie die Berichte aus den klinischen Testverfahren zeigten, erfolgte die Erprobung in verschiedenen Abteilungen und an unterschiedlichen Patientengruppen. Ärzte wandten die Substanz in der Inneren Medizin an, ebenso in der Anästhesie, Dermatologie, Psychiatrie, Neurologie und Neurochirurgie.51 Nur leichte Nebenwirkungen waren zu vermelden, die oftmals nach Absetzen der Substanz abklangen. Die am Symposium teilnehmenden Mediziner stabilisierten den Erfolg der Substanz einerseits über ihre wissenschaftliche Reputation, andererseits über die Auswertung ihrer klinischen Forschungen. Die meisten untermauerten mit ihren Forschungsergebnissen die gute Verträglichkeit und Harmlosigkeit der Substanz – ein Arzt sprach gar davon, dass die Substanz bei richtiger
47 Bericht Symposium über K 17, 16.12.1955, 15103. 48 Siehe hierzu B. Kirk, Der Contergan-Fall, S. 53, FN 149. 49 Bericht Symposium über K 17, 16.12.1955, Chemie Grünenthal GmbH, vertraulich, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 241a, 15106-15107. 50 Vgl. Bericht Symposium über K 17, 16.12.1955, Chemie Grünenthal GmbH, vertraulich, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 241a, 15106-15107, hier 15103. 51 Vgl. Bericht Symposium über K 17, 16.12.1955, 15101-15124.
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Dosierung keine Nebenwirkungen zeige.52 Zugleich betonten einige jedoch auch, nur einen ersten Eindruck darstellen53 und noch keine weiteren Aussagen über den Wert der Substanz treffen zu können.54 Weitaus euphorischer gestaltete sich die Zusammenfassung des Protokolls. Darin heißt es: »K 17 vereint somit hohe Wirksamkeit mit extremer Ungiftigkeit.«55 Auch die Forschungsabteilung von Chemie Grünenthal bekundete im Monatsbericht Dezember 1955 ihre Zufriedenheit über den Ausgang des Symposiums: »Als Resumé dieser Tagung kann festgestellt werden, dass sich K 17 sowohl experimentell wie auch klinisch als eine sehr interessante Verbindung erweist, für die bereits jetzt feste Indikationen bestehen und deren Grenzen noch in weiteren klinischen Untersuchungen festzulegen sind. Experimentelle Ergebnisse sollen in einer entsprechenden Arbeit, die klinischen Erfahrungen in entsprechenden Publikationen demnächst vorgelegt werden. Für die Prüfer, die erst kurze Zeit mit K 17 in Berührung waren, bedeutet das Symposium einen starken Impuls, die Prüfung von K 17 intensiv voranzutreiben.«56
Ein anderes Bild des Symposiums zeichnete ein Mitarbeiter in seiner Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft 1962. In der Retrospektive zeigte er sich zurückhaltender, was den Erfolg des Symposiums betraf. Vielmehr glaubte er sich zu erinnern, die Teilnehmer seien weder beeindruckt von den Leistungen der Substanz noch ihrerseits gut vorbereitet gewesen. Auch die Leitungsebene der Firma Chemie Grünenthal zeigte sich unzufrieden. Ihre Erwartungen waren nicht erfüllt worden: »Mein Gesamteindruck von den Äusserungen der klinischen Prüfung läßt sich dahin zusammenfassen, daß der therapeutische Erfolg von K 17 die klinischen Prüfer nicht sehr beeindruckt hat. Ich meine sogar, daß die Prüfer im allgemeinen schlecht vorbereitet waren. Ich glaube mich zu erinnern, daß Dr. Mückter am nächsten Tage über den Erfolg des Symposiums besser, den Ausgang des Symposiums, deprimiert war.«57
52 Vgl. Bericht Symposium über K 17, 16.12.1955, 15114. 53 Vgl. ebd., 15119. 54 Vgl. ebd., 15118. 55 Vgl. ebd., 15124. 56 Bericht für den Monat Dezember 1955, 13.01.1956, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9142. 57 Auszug aus der Vernehmung, 29.12.1962, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9131.
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In den zwei Quellengattungen wird das Symposium also unterschiedlich bewertet: Der offizielle Bericht zeigte sich durchaus positiv gestimmt. Der Mitarbeiter hingegen, der erst fünf Jahre nach dem Symposium befragt worden war, musste sich positionieren, zugleich aber auch seinen über Jahre gewonnenen Eindruck wiedergeben. Nach dem Symposium war die Firma Grünenthal bemüht, die klinischen Tests weiter auszubauen, wahrscheinlich da sie deutlich größere Hoffnungen in das Symposium gesetzt hatte. So konstatierte ein Mitarbeiter im Monatsbericht Februar, die Erprobung solle auf die Gynäkologie und Pädiatrie ausgeweitet werden.58 Schwangere Frauen gehörten jedoch nicht zu der angestrebten Patientengruppe.59 Versuche der Firmenleitung, die Testung auf schwangere Patientinnen auszudehnen, wurde von dem Bonner Gynäkologen Prof. Dr. Harald Siebke abgelehnt.60 Die Testung teratogener Wirkung [fruchtschädigend, Anmerkung A.H.C.] war im Tierversuch kein Standardverfahren. Die Übertragung der Testreihen auf schwangere Patientinnen war aus moralischen Gründen ausgeschlossen.61 Die Frage der Veröffentlichungen war weiterhin dringlich, da nur Publikationen eine wissenschaftliche Reputation erreichten, die für den Erfolg der Substanz auf dem Markt nötig war.62 In persönlichen Besuchen bei Ärzten, die bei-
58 Vgl. Bericht für den Monat Februar 1956, 21.03.1956, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9161. Vgl. Bericht für den Monat Februar 1956, 21.03.1956, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 9161; Bericht für den Monat Mai 1956, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 9254. 59 Vgl. B. Kirk, Der Contergan-Fall, S. 54, FN 160. 60 Vgl. Brief an Universitäts-Frauenklinik Bonn, 05.07.1957, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 10a, 10095-96, hier S. 1. Vgl. N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 153. 61 Vgl. N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 154-155. Christoph Friedrich verweist um folgenden Umstand: »Die FDA hatte in den USA bereits 1955 empfohlen, Arzneimittel hinsichtlich schädlicher Effekte auf Föten zu untersuchen. Vier Jahre später gaben sie die Empfehlung, ›dass ein Arzneimittel auf sein Vermögen hin, Fötus-Tod hervorzurufen, untersucht werden muss.‹« Christoph Friedrich, Der Contergan-Fall und seine Bedeutung für die Arzneimittelentwicklung und die Pharmaziegeschichte, in: Großbölting, Thomas/ Lenhard-Schramm, Niklas (Hg.): Contergan. Hintergründe und Folgen eines Arzneimittelskandals. Göttingen 2017, S. 23-43, hier S. 36. 62 Vgl. Bericht für den Monat April 1956, 17.05.1956, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139: »Die experimentellen und klinischen Prüfungen von K 17 wurden soweit vorangetrie-
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spielsweise kritische Testergebnisse geliefert hatten, sollten Probleme und Bedenken direkt vor Ort geklärt werden. Lenhard-Schramm, der wie geschildert, die bisher gründlichste Untersuchung zu den Entscheidungsprozessen im Contergan-Fall vorgelegt hat, hat die klinische Prüfung aus heutiger Sicht als höchst ungenügend gekennzeichnet: »Wenngleich die klinische Prüfung den zeitgenössischen Standards der pharmazeutischen Industrie entsprach, war sie letztlich unzureichend. So hatten die Prüfer in der Regel weder eine spezielle Qualifikation für die Arzneimittelprüfung vorzuweisen noch verfügten sie auf diesem Feld über nennenswerte Erfahrungen. Die vielen, oft positiven Rückmeldungen waren meist unzulänglich, weil es sich bei ihnen nicht um elaborierte Prüfungsberichte handelte, sondern um mehr oder weniger formlose Unbedenklichkeitsbescheinigungen. […] Auch die ›Nähe‹ mancher Prüfer zu dem Stolberger Unternehmen dürfte sich negativ auf eine möglichst unvoreingenommene Bewertung der Prüfsubstanz ausgewirkt haben, obschon nicht übersehen werden darf, dass auch diese Prüfer über Nebenwirkungen berichten.«63
Um eine Absicherung der Prüfergebnisse innerhalb der Fachgemeinschaft zu erhalten, waren wissenschaftliche Publikationen ungemein wichtig für die Konstruktion der wissenschaftlichen Tatsache. Die klinischen Testergebnisse mussten daher für die erfolgreiche Konsolidierung auch publiziert und rezipiert werden. Gleichzeitig waren sie notwendig, um einen Antrag auf Ausnahmegenehmigung zu stellen und die Zulassung der Substanz so in die Wege zu leiten.64 Die Berichte aus den Kliniken waren für die Firma erfolgversprechend, und so entschied man sich im Juni 1956 dafür, beim nordrhein-westfälischen Innen-
ben, dass wir Ende April und im Monat Mai die Arbeiten soweit abschliessen, dass entsprechende Publikationen vorbereitet werden können. Unsere experimentelle Arbeit befindet sich kurz vor der Fertigstellung, während wir an klinischen Arbeiten inzwischen von […] der früher an der Medizinischen Klinik in Düsseldorf tätig war und neuerdings eine Gastrolle in USA gibt und von […] aus der Heilstätte Grimmialp in der Schweiz entsprechende Manuskripte zur Publikation erhielten. Bis Ende Mai sollen die Arbeiten von […] und nach Möglichkeit von […] fertiggestellt werden, so dass wir am 1.6. über 1 experimentelle und mindestens 5 klinische Arbeiten verfügen. […] Inzwischen liegen die Manuskripte der Arbeiten […] vor. […] hat bisher auf die Bitte nach einer Arbeit nicht reagiert, ebenso wenig […]. […] in Münster hat eine Publikation abgelehnt, setzt aber die Prüfung fort.«. 63 N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 156-157. 64 Vgl. ebd. S. 158.
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ministerium die Substanz Thalidomid (K 17) für die Markteinführung anzumelden. Der Antrag auf eine Ausnahmegenehmigung zur Herstellung von Contergan erreichte das Ministerium folglich zwei Jahre nach der Entdeckung des Wirkstoffes. Eine Rezeptpflicht sah der Antrag nicht vor.65 Dem üblichen Verfahren gemäß wurden Proben der Substanz nach in das in Münster angesiedelte chemische Landesuntersuchungsamt geschickt, wo die Substanz begutachtet wurde. Nicht vorgesehen waren Tests zur Wirksamkeit oder Verträglichkeit. Informationen diesbezüglich entnahm das Landesuntersuchungsamt aus den von der Herstellerfirma zusammengetragenen und eingereichten Unterlagen. Die Herstellerfirma bestimmte also maßgeblich, welche Unterlagen letztlich an die Arzneimittelprüfungskommission weitergeleitet wurden. Deren Votum war für das Ministerium entscheidend. Nachdem die Arzneimittelprüfung erfolgreich verlaufen war66, genehmigte das nordrheinwestfälische Innenministerium am 9. August 1956 die Herstellung von Contergan. Ab dem 1. Oktober 1957 war Contergan/Contergan forte in den Apotheken käuflich zu erwerben.67 2.1.2 Aus dem Labor in die Arzneimittelforschung: Publikation und Rezeption einer wissenschaftlichen Tatsache (Konstruktion und Konsolidierung) Im August 1956 veröffentlichte die Fachzeitschrift ARZNEIMITTELFORSCHUNG zwei Arbeiten über K 17. Einerseits publizierten die Mitarbeiter Mückter, Kunz und Keller68 der Firma Chemie Grünenthal ihre Laborergebnisse. Andererseits druckte die Zeitschrift eine erste klinische Studie aus der Universitätsklinik Köln ab.69 Mit diesen beiden Aufsätzen gelangten die wissenschaftliche Substanz K 17 und ihre Eigenschaften in den medizinisch-pharmakologischen Fachdis-
65 Vgl. N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 160. 66 NRW Abteilung Arzneimittelprüfung A I a – 97, 108 118/56, ohne Datum, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 09, 9227-9230, hier 9230. 67 Eine ausführliche Darstellung des Genehmigungserfahrens finden Sie bei N. LenhardSchramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 157-172. 68 Keller und Kunz verlassen die Firma 1956 und 1957, sind somit an der Entwicklung des Medikaments, jedoch nicht mehr an dem Vertrieb beteiligt. 69 Vgl. W. Kunz/H. Keller/H. Mückter, N-Phthalyl-glutaminsäure-imid; Hermann Jung, Klinische Erfahrungen Klinische Erfahrungen mit einem neuen Sedativum, in: ARZNEIMITTELFORSCHUNG, 6/8 (1956), S. 430-432; B. Kirk, Der Contergan-Fall, S. 53.
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kurs.70 Als Publikationsorgan wählten die Autoren eine überregionale fachwissenschaftliche Zeitschrift. Die Konstruktion der wissenschaftlichen Tatsache K 17 oder Thalidomid begann somit in einer abgeschlossenen Wissenschaftsgemeinschaft. Der Artikel führte aus, Thalidomid sei schnell wirksam, atoxisch und frei von Nebenwirkungen. Anstatt Fragen aufzuwerfen, schuf der Artikel Fakten und konstruierte die wissenschaftliche Tatsache. Die Präsentation der »Ergebnisse zur experimentellen Untersuchung an einem neuen synthetischen Produkt mit sedativen Eigenschaften«71 schilderte das Vorgehen bei der Testung des Stoffes, die chemische Zusammensetzung der Substanz K 17 sowie die pharmakologische und tierexperimentelle Untersuchung. Der Aufbau des Aufsatzes ähnelte dem Beitrag von Keller auf dem Symposium im Dezember 1955. Verschiedene ›Verbündete‹ wie der Verweis auf andere wissenschaftliche Autoritäten oder Testverfahren, Abbildungen und Tabellen untermauerten die Forschungsergebnisse der Gruppe.72 Direkt im ersten Abschnitt verwiesen die Autoren auf die große Anzahl an Schlafmitteln und den ständig steigenden Arzneimittelkonsum, der es nötig mache, eine Substanz zu finden, die die Vorzüge des Barbiturates ohne Nebenwirkungen bieten würde. Ihr Medikament solle genau jene Lücke schließen und die Mangelsituation an gut verträglichen Schlafmitteln aufheben: »Im Laufe der letzten 50 Jahre wurden dem Arzt eine große Zahl von Verbindungen mit ›schlafmachender‹ Wirkung zur Verfügung gestellt. Es hat sich jedoch im wesentlichen nur die Gruppe der Barbitursäure-Derivate einen festen Platz in der Therapie sichern können. Offenbar genügen aber auch die zahlreichen barbiturathaltigen Sedativa und Hypnotica in mehrfacher Hinsicht nicht den therapeutischen Anforderungen, bemüht man sich doch in jüngster Zeit – in den USA z.B. – wieder, das Chloralhydrat und Amylenhy-drat in die Therapie einzuführen. Diese in der Anwendung unangenehme Substanzen, deren Nebenwirkungen, besonders bei chronischer Anwendung, nicht unerheblich sind, wieder in den Arzneischatz aufzunehmen, bedeutet, daß es angesichts des ständig steigenden Schlafmittelkonsums offenbar zu einer Notwendigkeit wird, wirksame Medikamente zu besitzen, welche durch die Vorzüge der Barbiturate, aber das Fehlen unerwünschter Nebenwirkungen gekennzeichnet sind.«73
Die Schlaflosigkeit des modernen Menschen zu lindern, die gehetzten Nerven zu beruhigen, dies alles sollte mit dem neuen Medikament möglich sein. Insbeson-
70 Vgl. W. Kunz/H. Keller/H. Mückter, N-Phthalyl-glutaminsäure-imid, S. 426. 71 Vgl. ebd. 72 Vgl. ebd., S. 427. 73 Ebd. S. 426.
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dere die »zentraldämpfenden Effekte […] in Verbindung mit ihrer auffallenden Ungiftigkeit«74 betonten die Autoren. Sie bestätigten auch das Ausbleiben der letalen Dosis im Tierversuch.75 Die Forschergruppe war davon überzeugt, dass es sich bei der entdeckten Substanz um einen völlig neuen Wirkstoff handele.76 Zu den wissenschaftlichen Referenzen, die als Argumentationshilfe dienten,77 gehörte eine Studie, die unmittelbar an die Ergebnisse des Aufsatzes anschloss. Hermann Jung von der Universitätsklinik Köln war als Vorprüfer für die Firma Chemie Grünenthal tätig und berichtete von den »Klinische[n] Erfahrungen mit einem neuen Sedativum«78, die über die direkte Anwendung des K 17 am Patienten zustande gekommen waren. Er belegte die Wirksamkeit der Substanz und erhöhte somit die Glaubwürdigkeit der pharmakologischen und tierexperimentellen Untersuchungen. An über 300 Patienten hatten Jung und sein Ärzteteam die »Ungiftigkeit« von K 17 getestet. In Abgrenzung zu Barbituraten bewirke K 17 keine Leberschäden oder Beschwerden des Magen-Darm-Traktes: »[…] keiner klagte nach Verabreichung von K 17 über Nebenerscheinungen.«79 Jung erläuterte, es habe zu keiner Zeit eine Suchtabhängigkeit festgestellt werden können. Bei Überdosierung seien zwar kurzzeitige Nebenwirkungen aufgetreten, diese ließen jedoch nach dem Absetzen des Medikaments sofort nach. Frauen schienen anfälliger für die Nebenwirkungen der Überdosierung zu sein. Jung empfahl daraufhin, Frauen geringer zu dosieren.80 Eine Überprüfung der Substanz bei schwangeren Frauen
74 W. Kunz/H. Keller/H. Mückter, N-Phthalyl-glutaminsäure-imid, S. 426. 75 Vgl. ebd., S. 427. 76 Vgl. ebd., S. 430. Der Literaturapparat erscheint recht straff mit 10 Angaben, zeigt aber einige neuere Arbeiten, auf die sich die Forschergruppe bezogen hat. Das Netz von ›Verbündeten‹ ist in diesem Aufsatz eng gestrickt. Auf fünf Seiten belegen die Autoren mit zwei Abbildungen, drei Tabellen und vier Grafiken ihre wissenschaftlichen Untersuchungen. Der verschriftliche Text ist somit nur das Ergebnis von Laborarbeiten. Die ›Verbündeten‹ im Text selbst (Grafiken, Tabellen oder Abbildungen) sind Zeichensysteme, die die Ergebnisse der Laboruntersuchungen übertragen und sichtbar werden lassen. 77 Vgl. ebd., S. 428 und S. 429. 78 Vgl. H. Jung, Klinische Erfahrungen mit einem neuen Sedativum, in: ARZNEIMITTELFORSCHUNG, 6/8 (1956), S. 430-432. 79 Ebd., S. 431. 80 Vgl. ebd., S. 431.
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nahm Jung nicht vor. Explizit erwähnte er nur die Testung an jugendlichen Patienten.81 Insgesamt wandte Jung die neue Substanz bei verschiedenen Krankheitsbildern an, unter anderem bei Magenbeschwerden, Leberbeschwerden und auch an Patienten mit Schlafstörungen: »Ein weiteres Anwendungsgebiet für K 17 ist unseres Erachtens das große Feld der Schlafstörungen. Eine abendliche Dosis von 100 mg K 17 hat hier in vielen Fällen bereits eine ausgezeichnete Wirkung.«82 In seiner Zusammenfassung erklärte Jung: »Die sedierende Wirkung des N-Phthalylglutamin-säureimid (K 17) verdient Beachtung. […] Wir halten die Substanz für ein brauchbares Sedativum und Hypnotikum.«83 Da Jung in seinem Aufsatz ausschließlich auf die Ergebnisse von Mückter, Keller und Kunz Bezug nehmen konnte84 – andere publizierten Forschungsergebnisse lagen noch nicht vor –, bestätigte er mit seinen eigenen Untersuchungsergebnissen und seinem Zahlenmaterial die behaupteten Eigenschaften des Thalidomid. Weiterhin war die Firma Chemie Grünenthal daran interessiert, das Netz von positiven Publikationen auszubauen und den wissenschaftlichen Fakt der Atoxizität der Substanz mithilfe von Publikationen zu stärken. Denn nur Ergebnisse, die veröffentlicht wurden, galten auch als anerkannt. So wurde die enge Anbindung der Ärzte an das Projekt und die Firma gefördert. Mitarbeiter von Chemie Grünenthal besuchten bereits zuvor kontaktierte Ärzte, um noch ausstehende Publikationen einzufordern:85 »Die Arbeit […] steht noch aus. Ich habe daher sowohl [den Autor, Anmerkung A.H.C] selbst als auch den mit der Zusammenstellung der Publikation beauftragten Assistenten […] erneut angeschrieben.«86 Ziel war es, dass die breite Wirksamkeit der Substanz in ganz unterschiedlichen medizinischen Fachkontexten besprochen wurde. Und das Vorhaben hatte
81 Vgl. H. Jung, Klinische Erfahrungen. 82 Vgl. ebd., S. 432. 83 Ebd. 84 Vgl. ebd., S. 430-431. 85 Vgl. Bericht für den Monat November 1956, 07.12.1956, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9445. 86 Bericht für den Monat August 1956, 13.09.1956, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9336.
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Erfolg.: Zahlreiche Veröffentlichungen thematisierten K17 und festigten den Ruf als eines neuen, wirksamen, nichttoxischen Medikamentes.87 Esser und Heinzler von der medizinischen Klinik und Poliklinik in Düsseldorf veröffentlichten im Oktober 1956 ihre klinischen Erfahrungen mit »einem neuen Sedativum und Hypnotikum« in der Zeitschrift THERAPIE DER GEGENWART.88 Auch sie gehörten zum Vorprüferteam, hatten die Substanz mit als erste erhalten. Wie zuvor Jung greifen auch sie in ihrem Aufsatz auf Mückter, Keller und Kunz zurück. Außerdem bedienen sie sich wissenschaftlicher Autoritäten wie Straub und Gross, Tripod und Meyer. Sie verweisen auf die guten Ergebnisse der Tierexperimente, die sie dazu veranlassten hätten, das neue Präparat am Menschen zu testen. So untersuchten sie verschiedene Patientengruppen und setzten die Substanz zunächst als Sedativum und als Hypnotikum ein. Somit testeten sie gleich zwei Wirkungsweisen des K 17. Die Autoren lobten die schnelle Wirkung der Substanz, ihre gute Verträglichkeit und die Tatsache, dass kaum eine Gewöhnung vorlag.89 »Die Kranken schliefen fest bis zum Morgen durch, nach dem Erwachen war eine Nachwirkung mit Müdigkeit und Schläfrigkeit im allgemeinen nicht zu verzeichnen. Wir konnten auch bei dieser Therapieform ein Versagen nicht beobachten. Eine Gewöhnung war selbst nach monatelanger Anwendung nicht zu bemerken.«90
Darüber hinaus konnten die Autoren keine Nebenwirkungen erkennen, die Grund zur Besorgnis lieferten. Die Untersuchungen ergaben nur geringe Beschwerden bei bettlägerigen Patienten, die unter Verstopfungen litten, die schnell behandelt werden konnten. Zusammenfassend erklärten die Autoren: »Die Ergebnisse der klinischen Prüfung des Präparates K 17, das sich im Tierversuch durch völlige Ungiftigkeit auszeichnet, können dahingehend zusammengefaß werden, daß sich das Medikament als Sedativum und Schlafmittel sowie in der Behandlung von Thy-
87 Auch international versuchte die Firma Fuß zu fassen. In mehreren Ländern liefen Patentanmeldungen. So ließen sie die Substanz K 17 auch in einem Labor in Philadelphia überprüfen. Gleichzeitige Patentanmeldungen in den USA und Kanada liefen, in Australien war er schon ausgearbeitet. Die Markteinführung in den USA scheiterte an der FDA, vgl. A.A. Daemmrich, A Tale of two Expertes. 88 Vgl. H. Esser/F. Heinzler, Klinische Erfahrungen mit einem neuen Sedativum und Hypnotikum, in: THERAPIE DER GEGENWART, 95/10 (1956), S. 374-376, hier S. 374. 89 Vgl. ebd., S. 374. 90 Ebd., S. 376.
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reotoxikosen gut bewährt hat. Unerwünschte Nebenerscheinungen waren abgesehen von einer gewissen Obstipation bei bettlägerigen Patienten nicht festzustellen. Nach den bisherigen Erfahrungen erzeugt K 17 keine Euphorie, so daß eine Suchtgefahr nicht anzunehmen ist.«91
Der Aufsatz von Gertrud Stärk aus dem Basler Kurheim Grimmialp erschien ebenfalls im Jahr 1956 und zeigte die Vernetzung des Diskurses im deutschsprachigen Ausland.92 Stärk betonte die besonders gute Verträglichkeit der neuen Substanz und konstatierte ebenfalls eine Mangelsituation an Sedativa, die über eine längere Einnahme hinweg keine Nebenwirkungen oder Suchtgefahr auslösten:93 »Ein solches in jeder Richtung befriedigendes Mittel war uns bisher nicht bekannt. Die zur Verfügung stehenden Medikamente zwingen den behandelnden Arzt stets zu Kompromissen in dieser oder jener Richtung und zu nicht seltenem Wechsel der verwendeten Mittel. Es besteht also offenbar trotz der Unzahl an sedativ wirksamen Substanzen, die heute zur Verfügung stehen, immer noch ein Bedürfnis nach einem gut wirksamen, aber durch extrem geringe Nebenerscheinungen belasteten Sedativum.«94
In Stärks Ausführungen waren die fehlenden Nebenwirkungen zentral, sodass er das Kapitel an den Anfang seiner Ausführungen stellte, »weil uns unsere Beobachtungen am Patienten berechtigten, die schon aus dem Tierversuch bekannte fehlende Toxizität als ein ungewöhnliches Charakteristikum von K 17 hervorzuheben: keine Nachwirkung auf das Sensorium, auf die Reflexe, den Bewegungsapparat, keine Veränderung von Kreislauf und Atmung, auf das Blutbild, auf die Ausscheidungsprodukte, auf den GU und die Temperatur.«95
91 H. Esser/F. Heinzler, Klinische Erfahrungen mit einem neuen Sedativum, S. 376. 92 Vgl. Gertrud Stärk, Klinische Erfahrungen mit dem Sedativum K 17 in der Lungenheilstätte und der allgemeinen Praxis, in: PRAXIS. SCHWEIZER RUNDSCHAU FÜR MEDIZIN, 45/42 (1956), S. 966-968. 93 Vgl. ebd., S. 966. 94 Ebd. 95 Ebd.
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Ausführlich beschrieb er in seinem Aufsatz den zugrundeliegenden Test und fügt an, dassdass K 17 als Schlafmittel »vorzüglich«96 wirke, während andere Mittel versagten. Auch als Tagessedativum könne es überzeugen.97 Die Publikationen des Jahres 1956 lieferten somit für die Firma Chemie Grünenthal durchweg positive Resultate und schienen genau jene Ergebnisse zu bestätigen, die die Firma in ihrem eigenen Labor erhalten hatte. Der wissenschaftliche Fakt der guten Verträglichkeit und Unschädlichkeit wurde mit jeder Publikation und positiven Rückmeldung aus den Kliniken bestärkt. Die breite, auch regionale Streuung der Publikationen in unterschiedlichen Fachzeitschriften (Arzneimittelforschung, Therapie der Gegenwart und Praxis) ebenso wie die zweifache Wirksamkeit der Substanz (Sedativum und Hypnotikum, unterschiedliches Patientengut) bestärkte die wissenschaftliche Rezeption von K 17. Neben der pharmakologisch-tierexperimentellen Untersuchung konnten nun auch erste klinische Studien veröffentlicht werden, die die wissenschaftliche Tatsache K 17 übereinstimmend als eine neue Substanz mit »vorzüglicher«98 Wirkung und Atoxizität für den Menschen konstruierten. Über diesen Konstruktionsprozess hinaus war die Konsolidierung des Fakts entscheidend. Die fortwährenden Publikationen in unterschiedlichen Fachorganen festigten den Glauben daran, dass K 17 eine Neuerung auf dem Arzneimittelmarkt sei, die universal gesetzt werden könne. Dies bestätigte auch die toxikologische Untersuchung im Oktober 1956 an Mäusen, Ratten, einem Hund, Meerschweinchen und Kaninchen im Grünenthaler Labor:99 »Bei oraler und parenteraler Applikation wurde K 17 im chronischen Versuch an Mäusen, Ratten, Meerschweinchen und Kaninchen ohne wesentliche Nebenerscheinungen vertragen. Es konnte in diesen Versuchen weder eine ungünstige Beeinflussung des Blutbildes oder der Nierenfunktion festgestellt werden, noch kam es an den inneren Organen zu histologisch nachweisbaren krankhaften Veränderungen.«100
96
G. Stärk, Klinische Erfahrungen, S. 967.
97
Vgl. ebd.
98
Ebd.
99
Vgl. B. Kirk, Der Contergan-Fall, S. 53. Es wurden nur Nagetiere getestet, worauf Kirk richtig hinwies.
100 Toxikologische Untersuchungen mit K 17 im Bericht 23.10.1956, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9390-9391, hier 9391.
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Dennoch blieb der Wirkstoff auch in seiner frühen Phase nicht gänzlich ohne Nebenwirkungen. Leichte und vereinzelte Fälle beschrieben Jung101, Stärk102 sowie Esser und Heinzler103 in ihren Aufsätzen. Bereits im März 1956 antwortete die Forschungsabteilung auf einen Chefarztbericht aus einer Tuberkuloseklinik, in dem Nebenwirkungen beschrieben wurden. Der Autor machte eine vermeintliche Überdosierung des Wirkstoffes hierfür verantwortlich. Ein Argument, das somit nicht die Verträglichkeit der Substanz generell in Abrede stellte, sondern die Überdosierung für das Auftreten von Nebenwirkungen verantwortlich machte.104 Im Juni 1956 klang in einem weiteren Bericht an, eine individuelle Dosierung unumgänglich sei, um Nebenwirkungen zu vermeiden: »Eine Nebenwirkung, über die mehrfach geklagt wurde, ist die Auslösung einer Obstipation. Ob dieser Effekt auch bei ambulanten Patienten regelmäßig in Erscheinung tritt, muß noch offen bleiben. Er kann sich aber beim praktischen Einsatz als ein gewisses Hemmnis erweisen, doch ist anzunehmen, daß es im Vergleich zu den vielen guten Eigenschaften von Contergan nicht wesentlich ins Gewicht fällt. Eine zweite Nebenwirkung, die bei einem gewissen Prozentsatz der Patienten beobachtet wurde, ist ein ›hang over‹ also ein Nachwirken des Medikamentes bis in den nächsten Morgen hinein. Durch eine individuell angepaßte Dosierung lassen sich solche Reaktionen offenbar vermeiden.«105
Neben den wissenschaftlichen Veröffentlichungen war auch die breit angelegte Anwendung der neuen Substanz in Praxen und Kliniken über die klinischen Studien hinaus für die Firma wichtig. Die Vertriebsleitung stand diesem Vorhaben durchaus kritisch gegenüber und nahm am 13. November 1956 dazu Stellung. Sie kritisierte den Vorschlag, Muster des neuen Wirkstoffes vor der Ausbietung des Medikaments Contergan flächendeckend an Ärzte zu verteilen, da diese wahrscheinlich kein brauchbares Urteil über die Substanz fällen könnten. Vielmehr befürchteten sie ein zu positiv gezeichnetes Bild der Ärzte und der eigenen Außendienstmitarbeiter, welche die Substanz zu unkritisch und oberflächlich beurteilten. Die Anwendung in der Praxis sei nicht darauf ausgelegt, die komplexe
101 Vgl. H. Jung, Klinische Erfahrungen, S. 431. 102 Vgl. G. Stärk, Klinische Erfahrungen, S. 966. 103 Vgl. H. Esser/F. Heinzler, Klinische Erfahrungen, S. 376. 104 Vgl. Kirk, Der Contergan-Fall, S. 54; Brief an Mückter, 25.03.1965, Wasach bei Obersdorf, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9165-9167; Antwortschreiben von Mückter, 01.03.1956, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9155. 105 »Contergan«. Wissenschaftliche Situation, 20.6.1956, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9248-49, S 1-2.
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Beurteilung der Substanz und etwaige Nebenwirkungen vorzunehmen.106 Vielmehr sollten die Muster an einige wenige Ärzte in großen Praxen verteilt werden. Die Mitarbeiter wurden dazu angehalten, stetig Erfahrungen einzuholen.107 Durchaus skeptisch zeigte sich die kaufmännische Leitung im November 1956 auch angesichts einer möglichen Vorabwerbung für das zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf dem Markt befindliche Präparat. Eine solche Werbung sei nur bei »besonders markante[n] Präparat[en] mit weitgehend neuem Wirkungsmechanismus« sinnvoll. »Unsere Argumente für Contergan sind nicht besonders eindrucksvoll und entbehren weitgehend eines besonderen Aufmerksamkeitswertes. Deshalb soll ja auch die ÄrzteWerbung später nicht so sehr mit einer Fülle von guten Argumenten als durch eine humorvolle Werbung betrieben werden.«108
Die kaufmännische Abteilung schien keineswegs von dem Präparat Contergan überzeugt, bezeichnete es als wenig auffallend und neu. Die wissenschaftliche Tatsache konnte sich in kaufmännischen Überlegungen nicht durchsetzen. Vielmehr dämmten vermarktungstechnische Konzepte die Erfolgsaussichten ein. Diese durchaus kritische Beurteilung des neuen Medikaments stand im Kontrast zu der medizinischen Konstruktion von Thalidomid. Der Prozess der Konsolidierung verlagerte sich zunehmend auf die medizinische Wissenschaftsgemeinschaft, die die wissenschaftliche Tatsache in immer neuen Berichten festigte. So erschien 1957 in der WIENER KLINISCHEN WOCHENSCHRIFT ein Aufsatz von Alfred Walkenhorst. Er war ebenfalls mit der klinischen Untersuchung der Substanz betraut und bescheinigte, sie sei ein »geeignetes Provokationsmittel bei hirnelektrischen Untersuchungen«109 (EEG). Die Auswirkungen bekannter Anästhetika und Barbiturate auf das Großhirn veranlassten ihn dazu, das Sedativum
106 Vgl. Notiz zum Vorschlag, Original-«Contergan«-Muster bereits vor der Ausbietung in grösserem Umfange als Versuchsmuster abzugeben, Stolberg, 13.11.1956, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9422, S. 1. 107 Vgl. ebd. 108 Notiz zum Vorschlag, Original-«Contergan«-Muster bereits vor der Ausbietung in grösserem Umfange als Versuchsmuster abzugeben, Stolberg, 13.11.1956, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 09, 9422, S. 1. 109 Alfred
Walkenhorst,
Das
hypnotisch
und
sedativ
wirkende
N-Phthalyl-
Glutaminsäure-Imid als geeignetes Provokationsmittel bei hirnelektrischen Untersuchungen, in: WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT, 69/19 (1957), S. 334-339.
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als »Aktivierungsmittel«110 bei dieser Art von Untersuchungen zu testen. Auch er betonte die »außerordentliche Ungiftigkeit«111 der Substanz. Als Nachweis seiner Untersuchungen dienten Walkenhorst neben der erwähnten grafischen Darstellung des Zitterkäfig-Ergebnisses von Mückter, eigene ›Verbündete‹, so etwa sieben Abbildungen von EEGs und Tabellen, die die Messergebnisse grafisch darstellten. Walkenhorst verwendet verschiedene Begriffe in seiner Publikation: Neben der chemischen Bezeichnung N-Phthalyl-Glutaminsäure-Imid, verweist er bereits hier auf den Markennamen Contergan, unter dem die Firma die Substanz vermarktet. Diese Bezeichnungspraxis war neu, denn nun wurde erstmals auch der Markenname Contergan mit dem Wirkstoff in Verbindung gebracht und konsolidiert.112 Mit der Anwendung im neurologischen Bereich erweiterte sich die Kenntnis über die Wirksamkeit der Substanz und festigte den wissenschaftlichen Fakt über die bekannten Eigenschaften hinaus. Walkenhorst bezeichnete Contergan als geeignetes Mittel, das sich durch »außerordentliche Ungiftigkeit auszeichnet, pharmakologisch eine starke zentral-dämpfende und hypnotische Wirkung besitzt, die rasch und ohne Exzitationsstadium einsetzt, im Gegensatz zu Barbituraten keine narkotischen Effekte erzeugt und beim normalen EEG gesunder Personen eine α-Wellen-Aktivierung hervorruft.«113
Für eine kritische Auseinandersetzung mit neuen Arzneimitteln und für die Rezeptpflicht sprach sich hingegen im Oktober 1957 der Arzt F. Laubenthal in der DEUTSCHEN MEDIZINISCHEN WOCHENSCHRIFT aus. Er setzte sich mit der individuellen Wirkung von Arzneimitteln auseinander und befasste sich kritisch mit dem »Wert und [den] Gefahren neuer Heilmittel mit zentraler Wirkung«114. Auch wenn er hier nicht den Wirkstoff Thalidomid besprach, so konnte dies doch als generelle Warnung vor neuen Wirkstoffen verstanden werden. Er warnte vor einem ungehinderten Arzneimittelkonsum, vor einer »kritiklosen Einnahme«.115 Den behandelnden Ärzten wies er eine besondere Rolle zu:
110 A. Walkenhorst, Das hypnotisch und sedativ wirkende N-Phthalyl-GlutaminsäureImid, S. 334. 111 Ebd., S. 335. 112 Vgl. ebd. S. 334. 113 Ebd., S. 339. 114 F. Laubenthal, Wert und Gefahr neuer Heilmittel mit zentraler Wirkung, in: DEUTSCHE MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT, 41 (1957), S. 1749-1755. 115 Ebd., S. 1754.
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»So sehr es im übrigen dem Arzt gegeben sein muß, gesundheitliche Gefahren auch vom gesunden Menschen abzuwenden, so wenig kann es seine Aufgabe sein, dem gesunden Menschen die Lebensform zu bestimmen, etwa dadurch, daß er ihn unter die Wirkung eines Medikaments setzt, das die gesamte, auch ethische Stellungnahme zum Leben entscheidend – wenn auch vorübergehend – zu ändern in der Lage sein kann, wenn er dies auch nicht unbedingt tun muß. Ebenso kann der Arzt aber auch nicht ohne größte Bedenken zusehen, wenn solche Mittel an jeden, so haltlos und kritikschwach er auch sei, abgegeben werden, auch etwa unter der Devise: ›Nimm dieses Medikament und deine Schulden und Sorgen drücA. ken dich nicht mehr.«116
Diese warnende Stimme konnte jedoch die Begeisterung über die neue Substanz nur wenig trüben, das seit Oktober 1957 vertrieben wurde. Nun diskutierten die Wissenschaftler nicht mehr nur über die Wirkung einer chemischen Substanz im Labor, sondern über einen Wirkstoff, der bereits auf dem Markt erhältlich war. Auch 1958 wurden weitere positive Publikationen veröffentlicht. Ob in der neurologischen Anwendung oder in Kuranstalten, Contergan zeichnete sich weiterhin durch fehlende Nachweise seiner Toxizität und Suchtgefahr aus.117 Immer häufiger verwendeten die Autoren den Begriff Contergan und festigten somit die Verbindung zwischen dem Medikament und seinem Wirkstoff Thalidomid. Der Begriff Contergan hielt immer weiter Einzug in den wissenschaftlichen Sprachgebrauch.118 Das Interesse an der neuen Substanz war groß und die Anwendungsmöglichkeiten schienen vielfältig. Gleichzeitig differenzierte sich das Bild des Medikaments Contergan aus, immer neue Anwendungsmöglichkeiten kamen hinzu.119 Vor allem im Vergleich zu Barbituraten entwickelte sich Contergan zu einer ernstzunehmenden Alternative.120
116 F. Laubenthal, Wert und Gefahr neuer Heilmittel mit zentraler Wirkung. 117 Siehe dazu W. Schober, Wirkung und Anwendungsmöglichkeiten des Glutaminsäurederivates Contergan, in: WIENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT, 108/42 (1958), S. 869-870; Helmut Loos, Klinische Erfahrungen mit dem Schlafmittel ConterganForte und dem Tagessedativum Contergan, in: DIE MEDIZINISCHE WELT, 12 (1958), S. 482-483. 118 Siehe z.B. H. Loos, Klinische Erfahrungen mit dem Schlafmittel. 119 So erprobte Schober Contergan an alten schlafgestörten Menschen mit Gefäßerkrankungen; Vgl. W. Schober, Wirkung und Anwendungsmöglichkeiten, S. 870. Loos wandte das Medikament bei Kriegsversehrten an, siehe H. Loos, Klinische Erfahrungen, S. 482. 120 Siehe hierzu H. Loos, Wirkung und Anwendungsmöglichkeiten, S. 482.
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Die Konsolidierung des wissenschaftlichen Fakts ging einher mit der Markteinführung des Medikaments und den dazugehörigen Werbemaßnahmen. Die Werbung blieb auf die medizinischen Akteure beschränkt, da eine Laienwerbung verboten war. Daher forcierte die Herstellerfirma die Werbung bei Ärzten und Apothekern121 Obwohl sich die kaufmännische Abteilung zunächst skeptisch zeigte, profitierte das Medikament von seiner medizinischen Konstruktion als ungiftig und gut verträglich.122 Die klinischen Studien waren Teil der Marketingstrategie. Die Firma verschickte mit dem Werbematerial für Krankenhäuser auch Sonderdrucke wissenschaftlicher Publikationen.123 Die Werbeabteilung schrieb auch frei praktizierende Ärzte an – allein im März 1958 versandte Chemie Grünenthal Werbematerial an 46.287 niedergelassene Ärzte.124 Auch die gewählten Motive der Werbeanzeigen (die Ruhenden, die Schlafenden)125 verwiesen auf die beruhigenden Eigenschaften der Substanz und bestärkten den wissenschaftlichen Fakt. Die beruhigenden und schlaffördernden Wirkungen gehörten neben der Verträglichkeit zu den zentralen Bestandteilen der Werbestrategie.126 Dass die medizinische Tatsache Contergan durchaus auch innerhalb der Firma diskutiert wurde, zeigt ein Bericht des Informationsdienstes vom 3.März 1958. Der Autor verweist darauf, die Werbung solle »etwas zurückhaltender« gestaltet und Ausdrücke wie »völlig atoxisch« und »absolut unschädlich« sollten vermieden werden. Vielmehr zögen sie die Beschreibungen »praktisch ungiftig« und »praktisch unschädlich«127 vor. Dies sei keineswegs als »Rückzieher«128 zu
121 Vgl. N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 173. 122 Siehe zur Werbung B. Kirk, Der Contergan-Fall, S. 58. 123 Vgl. Anlage zum Monatsbericht der wissenschaftlichen Abteilung – Februar 1958, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11003; Anlage zum Monatsbericht der wissenschaftlichen Abteilung April 1958, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11006. 124 Vgl. Anlage zum Monatsbericht der wissenschaftlichen Abteilung März 1958, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 1103-1104. 125 Anlage zum Monatsbericht der wissenschaftlichen Abteilung April 1958 – Werbeabteilung, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11005. 126 Siehe dazu auch B. Kirk, Der Contergan-Fall S. 58-59; Anlage zum Monatsbericht der wissenschaftlichen Abteilung Oktober 1958, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11012. 127 Informationsdienst, Bericht 6/58 vom 03.03.1958, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 12a, 1232. 128 Ebd.; LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11241.
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werten, sondern vielmehr als Reaktion auf vereinzelte kritische Stimmen von Klinikärzten, die von Nebenwirkungen nach Überdosierung berichtet hatten. Wie genau diese Nebenwirkungen aussahen, lässt sich dem Bericht nicht entnehmen. Vereinzelte Stimmen führten also bereits zu diesem Zeitpunkt zu einer Abänderung des Beipackzettels. Die klinischen Berichte und Publikationen zeigten, dass auch Frauen zu den Testpersonen zählten, darunter jedoch keine schwangeren Frauen. Auch im Tierexperiment erprobten die Mitarbeiter den Wirkstoff nicht an trächtigen Tieren. In den 1950er Jahren gehörte es in der Arzneimitteltestung nicht zum pharmakologischen Standard, Wirkstoffe auf ihre teratogene [fruchtschädigend, Anmerkung A.H.C.] Wirkung zu testen. Entscheidender war es, die Substanzen auf ihre Wirksamkeit zu untersuchen.129 Gleichwohl waren Überlegungen, dass Substanzen oder Krankheiten von der Mutter auf das ungeborene Kind übertragbar werden könnten, nicht völlig neu. Schon 1956 erklärte H. Druckrey in einem Aufsatz: »Versuche an schwangeren Tieren haben ferner ergeben, daß die meisten karzinogenen Substanzen durch die Plazenta auch auf die Föten wirken«.130 Auch wenn das Standardtestverfahren in der Arzneimittelherstellung keine Überprüfung auf Teratogenität vorsah, war sich die wissenschaftliche Gemeinschaft durchaus der Gefahren von exogenen Substanzen auf das ungeborene Leben bewusst. So konstatierten G. Buurmann u.a. 1958 in dem ZENTRALBLATT FÜR GYNÄKOLOGIE verschiedene Ursachen für Fehlbildungen.131 Unter anderem sei nachgewiesen, dass soziale Not und psychische Belastung, allgemeine Mangelernährung, fortgeschrittenes Alter der Mütter, Infektionskrankheiten, Diabetes und Sauerstoffmangel zu Fehlbildungen bei Neugeborenen führten.132 Dass insbesondere Arzneimittel Auswirkungen auf Embryonen haben können, war also durchaus auch Ende der 1950er Jahre bekannt. 1956 erschien in der renommierten Fachzeitschrift MÜNCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT ein Artikel von Ernst-Albrecht Josten über die »Wirkung von Medikamenten auf das ungeborene
129 Vgl. E. Vaupel, Ein Streifzug durch die Geschichte, S. 68. N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 154. A.H. Crumbach, Arzneimittel aus der Waschküche, S. 103. 130 H. Druckrey, Krebserzeugende Eigenschaften bei Arzneimitteln, in: MÜNCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT, 9 (1956), S. 295-297, hier S. 297. 131 G. Buurmann u.a., Vorkommen und Verteilung von Mißbildungen in den letzten fünfundfünfzig Jahren, in: ZENTRALBLATT FÜR GYNÄKOLOGIE, 36 (1958), S. 14321442. 132 Nur einige ausgewählte Ursachen werden hier aufgelistet; Vgl. G. Buurmann u.a., Vorkommen und Verteilung. S. 1432.
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Kind«133. Er betonte darin, jede medikamentöse Therapie während der Schwangerschaft könne Gefahren für den Embryo bedeuten, stellte jedoch auch klar, dass noch zu wenig über die Auswirkungen von Medikamenten auf den Embryo bekannt sei.134 Die Plazenta spielte für ihn eine entscheidende Rolle. Sie fungiere als »Filterorgan«135 und als »Schranke«136 zwischen Mutter und Kind. So sei die Durchlässigkeit der Plazenta in verschiedenen Stadien der Schwangerschaft unterschiedlich und müsse berücksichtigt werden. Zugleich reagiere auch das Gewebe des Embryos unterschiedlich auf Fremdstoffe.137 Zum Stand der medizinischen Forschung auf diesem Bereich führt er aus: »Heute ist wenig bekannt über intrauterine Schädigung der Frucht durch Medikamente, die der Mutter gegeben wurden. Diese Tatsache spricht dafür, daß die gesunde Plazenta das Kind weitgehend zu schützen vermag. Allerdings werden auch später beobachtete Schäden häufig nicht als Folgen einer an der Mutter durchgeführten medikamentösen Behandlung erkannt.«138
Josten stellte jedoch fest, dass besonders in den ersten Schwangerschaftswochen Arzneimittel wie Penicillin oder Morphin zu »Mißbildungen« beim ungeborenen Kind führen könnten.139 Auch Genussmitteln wie Nikotin würden Schäden hervorrufen, obwohl er den Nikotinverbrauch nicht vollständig ablehnte: »Das Rauchen der Mutter soll die Herzfrequenz des Fötus ändern. Nun werden ein paar Zigaretten, die die Mutter raucht, der Frucht nicht schaden, wir meinen aber doch beobachtet zu haben, daß Kinder von Müttern, die bis zur Entbindung täglich etwa 30 Zigaretten und mehr rauchten, als Neonaten besonders viel spuckten und unruhiger erschienen als andere Kinder. Darunter waren allerdings Kinder von Frauen, die unter der Geburt noch in der Eröffnungsphase einzelne Zigaretten rauchten und eine weitere ›Beruhigungszigarette‹ nach der Geburt des Kindes vor Ausstoßen der Plazenta.«140
133 Ernst-Albrecht Josten, Die Wirkung von Medikamenten auf das ungeborene Kind, in: MÜNCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT, 14 (1956), S. 489-492. 134 Zum Übergang von Substanzen von der Mutter auf das Kind siehe auch H. Druckrey, Krebserzeugende Eigenschaften bei Arzneimitteln, S. 297. 135 E.-A. Josten, Die Wirkung von Medikamenten, S. 489. 136 Ebd., S. 489. 137 Vgl. ebd. 138 Ebd. 139 Vgl. ebd. 140 Ebd., S. 490.
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Besonders für die Zeit kurz vor und nach der Geburt konstatierte er eine besondere Gefahr für den Embryo, ausgelöst durch Barbiturate und Narkotika.141 Abschließend bemerkt Josten zur Wirkung von Medikamenten auf das ungeborene Leben: »Schließlich können Medikamente zu irreversiblen Veränderungen auch noch an bereits differenziertem Gewebe führen, sie können den Fötustöten, sie können seine Entwicklung hemmen oder auf andere Weise einen bleibenden Schaden hervorrufen.«142
Ähnlich wie die Frage nach Schäden durch übermäßigen Arznei-mittelkonsum war auch die Frage nach Nikotinschäden noch nicht abschließend geklärt. Unklare Zuschreibungen von Gefahrenpotenzial vermischten sich mit neuen Erkenntnissen über die Wirksamkeit exogener Substanzen.143 In keiner klinischen Studie forderten die Autoren eine Testung auf Teratogenität von Thalidomid. Der Gefahrenhorizont war auch im medizinischen Netzwerk stark auf bekannte Risiken
141 Vgl. E.-A. Josten, Die Wirkung von Medikamenten, S. 490-491: »Aber nicht nur mit einigen bestimmten Mitteln kann man den Föten helfen; ganz allgemein nützt eine überlegte Therapie während der Schwangerschaft nicht nur der Mutter, sondern auch dem Kind; denn eine ernstlich kranke Frau ist nicht in der Lage, das in ihrem Schoß wachsende Leben so zu versorgen, wie es eine gesunde Mutter kann. […] Der behandelnde Arzt muß sich nur hier, wie möglichst bei allen stark wirkenden Mitteln über die möglichen Schäden für das Kind unterrichten, um sie zu vermeiden.« 142 E.-A. Josten, Die Wirkung von Medikamenten, S. 490. 143 Erst 1962 machte eine Forschergruppe aus Großbritannien Nikotin verantwortlich für Lungenkrebs. 1964 folgte der Terry-Report in den USA. Namensgebend war eine Gutachtergruppe um den Wissenschaftler Terry, der in einem Zeitraum zwischen 1962 und 194 auf Wunsch des damaligen amerikanischen Präsidenten die Auswirkungen des Nikotins erforschte. Für die Tabakindustrie waren die Forschungsergebnisse schwerwiegend. Die Forschergruppe konnte krebserregende und herzinfaktverursachende Faktoren des Nikotins feststellen, ebenso einen gesundheitsschädlichen Einfluss auf das ungeborene Leben. Nach dem Terry-Report wurden Werbemaßnahmen reduziert, Warnheinweise und Anti-Rauchkampagnen ins Leben gerufen. Vgl. Smoking and Health: Report of the Advisory Committee to the Surgeon General of the United States, zuletzt aufgerufen am 13.02.2018: https://profiles.nlm.nih.gov/ps/retrieve/ResourceMetadata/NNBBMQ
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beschränkt. Deshalb richtete sich die »Angst vor Mutationen«144 auch noch stark auf die Radioaktivität, nicht auf Arzneimittel. Wie bereits angesprochen, gab es durchaus Bemühungen, die Substanz speziell in einer gynäkologischen Abteilung zu erproben. Über den Zeitraum von 1956 bis 1958 erprobte Oberarzt A.P. Blasiu aus München das neue Präparat in seiner Frauenklinik. Die Forschungsergebnisse publizierte er 1958 in der Zeitschrift MEDIZINISCHEN KLINIK.145 Er hatte die Substanz bei 370 Patientinnen, darunter 160 stillenden Müttern angewendet: »Wir konnten uns in dieser Zeit von der ausgezeichneten Verträglichkeit und seiner schnell einsetzenden sedativen bzw. hypnotischen Wirkung überzeugen«146. Blasiu lobte die schnelle und gute Wirkung, die auch bei Patientinnen einsetze, die an barbiturathaltige Schlafmittel gewöhnt waren und darauf nur noch schwer ansprachen. Eine Gewöhnung oder Suchtgefahr sah Blasiu indes nicht. Auch er stellte, wie Esser und Heinzler, nur Verstopfungen fest, die er medikamentös behandelte.147 Im abschließenden Fazit sprach sich Blasiu explizit dafür aus, die Tabletten den Frauen frei zur Verfügung zu stellen: »Eine toxische Ueberdosierung ist ausgeschlossen, so daß die Tabletten den Patientinnen überlassen werden können.«148 Obwohl Blasiu den bisher publizierten Erkenntnissen keine neuen hinzufügte, erweiterte er doch die Patientengruppe, indem er das Medikament nicht nur an seinen Patientinnen, sondern auch an Kollegen testete. Auch sie berichteten von »günstigen Erfahrungen in der Praxis«. Dass Blasiu keine schwerwiegenden Nebenwirkungen bei stillenden Müttern und deren Säuglingen festgestellt hatte149, nutzte die Firma Chemie Grünenthal in ihrem Werbetext. Nach der Markteinführung von Contergan im Oktober 1957 empfahl die Firma das Medikament nicht nur stillenden Müttern, wie Blasiu es tatsächlich untersucht hatte, sondern weitete die Empfehlung auf Schwangere aus. Wie es zu dieser verhängnisvollen Bedeutungserweiterung kam und wie sie zustande kam, das wissen wir nicht.150 Im August 1958 versandte die Firma Chemie Grünenthal darüber hinaus
144 Vgl. A. v. Schwerin, Die »Contergan«-Bombe, S. 261. 145 Vgl. A.P. Blasiu, Erfahrungen mit Contergan in der Frauenheilkunde, in: MEDIZINISCHE KLINIK, 53/18 (1958), S. 800. 146 Ebd. 147 Vgl. ebd. 148 Ebd., S. 800. 149 Vgl. ebd., S. 800. 150 Vgl. B. Kirk, Der Contergan-Fall, S. 59; N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 177.
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ein Schreiben an über 40.000 niedergelassene Ärzte, in dem das Unternehmen die gute Wirksamkeit in Schwangerschaft und Stillzeit lobte, obwohl es während der Schwangerschaft nicht getestet worden war, wie Beate Kirk und Niklas Lenhard-Schramm in ihren Dissertationen festhalten.151 In dem Schreiben der Firma heißt es: »In der Schwangerschaft und Stillzeit ist der weibliche Organismus besonderen Belastungen ausgesetzt. Schlaflosigkeit, innere Unruhe und Abgespanntsein sind immer wiederkehrende Klagen. Die Verordnung eines Sedativums und Hypnoticums, das weder Mutter noch Kind schädigt, ist daher oft erforderlich. Blasiu hat auf einer gynäkologischen Abteilung und in der geburtshilflichen Praxis einer Vielzahl von Patienten Contergan und Contergan-forte verabreicht.«152
Blasiu verlieh dem Werbematerial die notwendige wissenschaftliche Reputation, wodurch die Glaubwürdigkeit der Studienergebnisse untermauert wurde. Sein Einverständnis, in den Werbemitteln als ›Experte‹ genannt zu werden, holte die Firma Chemie Grünenthal indes nicht ein.153 Später gab er in seiner Vernehmung die Gründe an, warum er das Präparat nicht an Schwangeren getestet habe: »Es ist eine alte Erfahrungstatsache in der Medizin, daß grundsätzlich an werdende Mütter keine Barbiturate, Opiate, Sedativa oder Hypnotika abzugeben sind, weil diese Mittel auf den Foeten einwirken können. Diese Tatsachen waren bereits vor Bekanntwerden der teratogenen Wirkung des Contergan bekannt.«154
Die Konsolidierung des wissenschaftlichen Fakts Contergan ging mithilfe zahlreicher Publikationen und den engmaschigen Werbemaßnahmen der Firma Chemie Grünenthal erfolgreich weiter. Herstellerfirma wie wissenschaftliche Autoritäten – hier in der Person klinischer Ärzte – waren sich sicher, dass die neue Substanz erfolgversprechend sei. Sie festigten die Verbindung zwischen Contergan und seinen Eigenschaften zu einer zunächst unumstößlichen Tatsache.
151 Vgl. B. Kirk, Der Contergan-Fall, S. 59. 152 Ebd., S. 59. 153 Vgl. ebd.; Vernehmung, Auszüge, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11b, 11543. 154 Vernehmung, Auszüge, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11b, 11543.
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2.2 ZWEIFEL AM MEDIKAMENT: DIE WISSENSCHAFTLICHE NEUDEFINITION VON CONTERGAN Bereits im Juni 1958 erhielt die Firma Chemie Grünenthal aus Bremen Meldungen über Unverträglichkeitserscheinungen, die der wissenschaftlichen Tatsache Contergan zunächst noch nicht schaden konnten.155 Im August desselben Jahres erreichten die Firma aus der Universitäts-Kinderklinik Bonn ebenfalls beunruhigende Nachrichten. Der dortige Arzt zeigte sich nach eineinhalb Jahren andauernder Überprüfung kritischer gegenüber dem Medikament als bisherige Studien. Im internen Firmenbericht ist dazu vermerkt: »Seine Erfahrungen scheinen dabei mit denen der zahlreichen anderen Prüfer leider nicht übereinzustimmen. Es wurde vereinbart, daß er seine Ergebnisse einmal schriftlich zusammenfaßt. Seine Hauptargumente sind sehr hohe Dosierungsnotwendigkeit und schnelle Tachyphylaxie. Dr. Lang ist uns aber sehr wohlwollend verbunden und wird nach außen hin von seinen Feststellungen keinen Gebrauch machen.«156
Nebenwirkungen, das hatte die klinischen Berichte und wissenschaftlichen Publikationen gezeigt, hatte es durchaus gegeben, die sich jedoch mit einer angepassten Dosierung oder dem Absetzen des Medikaments beheben ließen. Entscheidend blieb, dass die Meldungen über negative Ergebnisse zwischen der Herstellerfirma und dem Arzt verblieben und nicht nach außen drangen. Eine Ausweitung der klinischen Prüfungen war nicht vorgesehen. Vielmehr sollten neue Zubereitungsformen der Substanz getestet werden.157 Doch auch die Firma verzeichnete Nachfragen zu der genauen Wirksamkeit der Substanz: »Je bekannter Contergan wird, umso mehr wirklich interessierte Leute stellen Fragen. Dabei steht das Problem Stoffwechsel und Abbau im Vordergrund. Leider verfügen wir praktisch über keinerlei Unterlagen zu diesem Thema, das auch Merell in USA sehr interessiert. Es wird darum sehr zweckmässig sein, die von uns entwickelte Nachweismethode
155 Vgl. Bericht für den Monat Juni 1958, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11008. 156 Bericht für den Monat August 1958, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11009. 157 Vgl. Bericht für den Monat Januar 1959, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11035.
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möglichst bald so weit zu treiben, daß wir damit an die Öffentlichkeit treten können. Es geht nicht an, Contergan als Basis für eine Reihe von Kombinationen zu benutzen, ohne über die Substanz selbst genügend aussagen zu können. Darüber hinaus bin ich der Meinung, daß das Contergan klinisch noch nicht völlig erschlossen ist. So wurden wichtige Gebiete Herz und Psychiatrie noch nicht intensiv bearbeitet. Da wir einige Anhaltspunkte in diesen Sektoren haben, soll die Erarbeitung neuer Indikationen jetzt vorangetrieben werden.«158
Im April 1959 äußerte sich die Forschungsabteilung erneut zu den pharmakologischen Untersuchungen des Wirkstoffes und der weiteren Erprobung der Substanz. Die Ergebnisse schienen nun zufriedenstellender zu sein, sodass die Firma an ihrem Erfolgsprodukt festhielt: »Aus den Laboratorien unserer Partner haben wir in der letzten Zeit mehrere ausgezeichnete pharmakologische Berichte über K 17 erhalten, die unsere Befunde bestätigen und teilweise erweitern. Daneben laufen die klinischen Prüfungen im In- und Ausland über K 17 und K 17-Kombinationen intensiv weiter.«159
Seit 1959 wendete sich jedoch das Blatt, als Ärzte vermehrt von neurologischen Nebenwirkungen berichteten.160 So meldete der Neurologen Ralf Voss an die Firma Chemie Grünenthal Herbst 1959 von einer möglichen »toxischen Schädigung nach einem chronischen Contergan-Gebrauch«161. Doch die Firma sah sich nicht dazu veranlasst, auf diese Warnungen zu reagieren. Die fachwissenschaftlichen Zweifel an der Ungiftigkeit der Substanz verblieben somit zunächst innerhalb der Kommunikation zwischen dem einzelnen Arzt und der Hersteller-
158 Bericht für den Monat März 1959, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11037-11038. 159 Bericht für den Monat April 1959, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11028. 160 Vgl. N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 182 f.; B. Kirk, Der Contergan-Fall, S. 60-69. Voss an Grünenthal vom 2.10.1959, LAV NRW R, Gerichte Rep. Nr. 21, 6; Negative Einzelmeldungen an die Zentrale von Ärzten, Apotheken und Krankenhäusern (vgl. LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11b, 1149211523, S. 1-32), warnende Hinweise aus Fachkreisen auf besonders schwere Nebenwirkungen wie schwere Nervenschäden, Parästhesien, Lähmungen, Krämpfe, Muskelschwund (vgl. LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11b, 11547-11570). 161 Tagesbericht 27.11.1959, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11b, 11450. Siehe dazu auch N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 182-183.
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firma. Zwar deuteten die Meldungen bereits an, dass die wissenschaftliche Tatsache keinesfalls die ihr zugeschriebenen Attribute der Ungiftigkeit und Harmlosigkeit erfüllte, aber eine breite, fachöffentliche Dekonstruktion fand nicht statt. Stattdessen widersprach die Firma im Laufe der Jahre 1959 bis 1961 den Vorwürfen und bemühte sich, eine vor allem von ärztlicher und Apothekerseite geforderte Rezeptpflicht zu verhindern, da der Erfolg des Medikaments wesentlich durch seinen freien Verkauf zu erklären war.162 Trotz Meldungen von Ärzten, die über neurologische Nebenwirkungen berichteten, wurden die Behörden nicht informiert. Die Herstellerfirma profitierte von dem Umstand, dass die Ärzte ihre Meldungen direkt an sie richteten und nicht an das Landesinnenministerium, das für den Arzneimittelverkehr verantwortlich war. Somit konnte die Herstellerfirma selbst über die Informationsweitergabe entscheiden und durch ihre intensiven Kontakte zum nordrhein-westfälischen Innenministerium teilweise kontrollieren, welche Informationen an die Behörde gelangten. 163 Gleichzeitig wurde die Publikation von Berichten über Nebenwirkungen von Seiten der Herstellerfirma 1960 verhindert. So wurden mehrere Artikel in der MÜNCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT, DIE MEDIZINISCHE WELT und DIE MEDIZINISCHE KLINIK nicht veröffentlicht.164 Dies behinderte auch eine fachöffentliche Auseinandersetzung über die beobachteten Nebenwirkungen, so dass eine fachinterne vernetzte Dekonstruktion der wissenschaftlichen Tatsache zunächst verhindert werden konnte. Seit März 1960 überprüfte die pharmakologische Abteilung der Firma Berichte aus Deutschland und anderen Ländern über Nebenwirkungen von Contergan. Noch schien die wissenschaftliche Abteilung nicht beunruhigt: »Es leuchtet ein, dass bei einem Präparat, welches inzwischen einen solchen Umfang in der Anwendung erreicht hat, Meldungen über gelegentliche Nebenwirkungen eingehen. […] In allen Fällen konnte im pharmakologischen Experiment gezeigt werden, daß für diese sehr seltenen Beobachtungen im Tierexperiment kein Anhaltspunkt zu finden ist, so
162 Vgl. B. Kirk, Der Contergan-Fall, S. 60-61. 163 Vgl. N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 187 ff. 164 Vgl. Monatsbericht der medizinisch-wissenschaftlichen Abteilung Februar 1960, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11065. Der Inhalt des Aufsatzes wird in dem Bericht nicht näher erläutert, es ist jedoch davon auszugehen, dass es sich auch um die Beschreibung von Nebenwirkungen gehandelt hat.
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daß mit grosser Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass diese Beobachtungen andere Ursachen haben.«165
Vielmehr bereitete ihr Sorgen, dass eine mögliche Rezeptpflicht dem freien Verkauf des Medikaments abträglich sein könnte.166 Der Autor des Berichts ließ keinen Zweifel daran, dass er keinen Fall kenne, in dem Contergan zu »toxischen Schäden oder zu Sucht und Gewöhnung geführt«167 habe. Immer wieder suchte die Herstellerfirma den Kontakt zu dem nordrhein-westfälischen Innenministerium, um nachzuprüfen, inwieweit die Behörde über die Nebenwirkungen von Contergan informiert war und ob eine Rezeptptlichteinführung unumgänglich sei. Direkter Ansprechpartner im Innenministerium war Hans Tombergs168 Bisher waren die Meldungen über Nebenwirkungen in den medizinischen Diskussionen noch nicht miteinander verknüpft worden, hatten die Ärzte ihre Entdeckungen direkt an die Firma weitergeleitet und noch nicht in der Fachgemeinschaft diskutiert. Die Frage der Rezeptpflicht wurde für das Unternehmen immer dringlicher, da diese Forderung von Ärzten und Apotheker immer häufiger gestellt wurde.169 Die wissenschaftliche Tatsache Contergan geriet ins Wanken.170 Die Firma verstärkte daher ihre Kontakte zu wissenschaftlichen ›Experten‹, um Publikationen von Nebenwirkungsmeldungen abzuwenden.171 Wie sehr das Netzwerk unter der Last der neu entdeckten Nebenwirkungen litt, veranschaulicht ein Bericht des medizinisch-wissenschaftlichen Bereichs aus dem Monat Dezember 1960: »Wir bemühen uns gemeinsam intensiv weiter, die betreffenden Herde abzuriegeln; auf die Dauer werden Veröffentlichungen nicht zu verhindern sein, obwohl wir jeden möglichen Einfluss geltend machen und wenigstens bereits Aufschub erwirken konnten. Parallel dazu wurden, gleichfalls in Abstimmung mit der Forschungsabteilung, alle Chansen [sic]
165 Monatsbericht der wissenschaftlichen Abteilung, März 1960, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11094, S. 2. 166 Vgl. Monatsbericht der wissenschaftlichen Abteilung, März 1960, S. 3. 167 Ebd. 168 Vgl. Lenhard-Schramm: Das Land Nordrhein-Westfalen, ab S. 187 ff. 169 Vgl. Bericht für den Monat Oktober 1960, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11059, S. 7-8. 170 Vgl. Bericht der kaufmännischen Leitung für den Monat April 1960, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11047, S. 2. 171 Vgl. ebd. und A.H. Crumbach, Arzneimittel aus der Waschküche, S. 104-105; W. Freitag, Contergan, S. 34.
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zur Erlangung neuer positiver Contergan-Arbeiten genutzt. Für besonders wertvoll in dieser Hinsicht halten wir unseren Kontakt mit der Universitäts-Klinik für Neurologie und Psychiatrie in Hamburg […], deren Oberarzt […] sich bereiterklärte, mit seinem Chef zusammen die dortigen ausserordentlich günstigen Erfahrungen mit Contergan (einschliesslich eines erfolglos verlaufenen Suizidversuchs mit 120 Tabletten) zu publizieren und auf dem internationalen Kongress in Montreal darüber zu referieren.«172
Im November 1960 verschärfte sich die Situation, da immer mehr Meldungen über neurologische Nebenwirkungen in der Firmenzentrale eingingen. Der einzelne Arzt, der seine Nebenwirkungen an die Firma weiterleitete, konnte das Ausmaß der Meldungen noch nicht überblicken. Mit ihren Beschreibungen neurologischer Nebenwirkungen begannen sie, die wissenschaftliche Tatsache Contergan mit neuen Attributen zu belegen, in dem sie neurologische Krankheitsbilder mit dem Medikament verbanden. Zahlreiche Ärzte forderten weiterhin eine Rezeptpflicht.173 Die Firmenvertreter verstärkten ihre Kontakte zu den Landesbehörden, nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern im gesamten westdeutschen Gebiet.174 In einer gemeinsamen Besprechung zwischen dem Firmenvertreter Nowel und dem Mitarbeiter des Landesinnenministeriums Tombergs in Düsseldorfer machte Tombergs deutlich, dass es Meldungen über Nebenwirkungen gegeben habe. Diese sah jedoch noch keine Notwendigkeit einzugreifen, solang nicht wissenschaftliche Untersuchungen dazu vorlägen. Zugleich unterschlug Nowels die große Anzahl von Meldungen, die bereits in der Firmenzentrale eingegangen waren.175 Vor diesem Hintergrund verstärkte die Firma ihre Bemühungen, positive Meldungen zu publizieren und negative Aufsätze zu verhindern: »Bei […], dem Schriftleiter von ›Die medizinische Welt‹, konnte in Erfahrung gebracht werden, daß die Arbeit Frenkel bisher noch nicht gesetzt worden ist und auch keine sonderliche Eile besteht zu publizieren. Dagegen scheint bei der DMW spätestens im März 1961 eine Arbeit über Contergan-Nebenwirkungen zu kommen. Bei der Arzneimittel-
172 Vgl. Bericht des medizinisch-wissenschaftlichen Bereichs für den Monat Dezember 1960, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11, 11076, S. 13-14. Siehe dazu auch die Publikation von H. Neuhaus/K. Ibe, Klinische Beobachtungen über einen Suicidversuch mit 144 Tabletten Contergan-forte (N-Phthalyl-glutaminsäureimid), in: DIE MEDIZINISCHE KLINIK, 55/14 (1960), S. 544-545. 173 Vgl. N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 215. 174 Vgl. ebd., S. 218 ff. 175 Vgl. ebd., S. 225.
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kommission in Göttingen wurde mit dem Gutachten über K 17 noch gar nicht angefangen. Eine positive Arbeit über K 17 bei hirngeschädigten Kindern, die von etwa einem Jahr in Wien eingeleitet wurde, ging von […] ein und kann zur Publikation gebracht werden.«176
Der Verkauf von Contergan ging weiter und die Meldungen über Nebenwirkungen ebenso. Lenhard-Schramm hat die Situation im Frühjahr plastisch geschildert: »Die Hinweise wurden nicht nur immer zahlreicher, sondern warnten auch immer eindringlicher vor dem Präparat und seinem Wirkstoff. Insgesamt waren damit bis Ende Februar 1961 von über 120 verschiedenen Ärzten (darunter mehr als 10 Professoren) und zum Teil auch Apothekern ungefähr 400 Meldungen über schwerwiegende Nervenschädigungen eingegangen. Hinzu kamen im gleichen Zeitraum mehrere tausend Nebenwirkungsberichte verschiedenster Art.«177
Hinzu kam, dass zu diesem Zeitpunkt der Neurologe Ralf Voss auf einer Sitzung der Düsseldorfer Ärztekammer einen Vortrag über die Contergan-Polyneuritis abhielt und somit seine Kollegen über die aktuelle Forschung informierte, die im gemeinsamen Gespräch über ihre Erfahrungen berichteten.178 Mit dem Begriff der Contergan-Polyneuritis verwies Voss auch sprachlich auf den Umstand, dass für ihn kein Zweifel bestand, Contergan löse eine neurologische Erkrankung aus. Voss und seine Kollegen vernetzten sich nach seinem Vortrag persönlich, besprachen ihre Erfahrungen, verblieben aber in ihren Kommunikationslogiken verhaftet, in dem sie sich nicht mit den zuständigen Behörden in Verbindung setzten, sondern untereinander auf der Tagung diskutierten.179 Wichtig war jedoch, dass nun erstmals die anwesenden Ärzte die wissenschaftliche Tatsache nicht in individuellen Briefen an die Herstellerfirma, sondern in einer gemeinsamen Diskussion dekonstruierten. Der Vortrag hatte für die Firma Chemie Grünenthal weitreichende Folgen. Hatte die kaufmännische Leitung noch im Januar 1961 erwartet, es würde nur
176 Bericht Stand der klinischen Prüfungen »Contergan« (K 17), Dezember 1960, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11107, S. 7; Monatsbericht der medizinischwissenschaftlichen Abteilung, Januar 1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11141. 177 N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 227. 178 Vgl. ebd., S. 234-235. 179 Vgl. ebd., S. 234-235. Siehe auch A.H. Crumbach, Arzneimittel aus der Waschküche, S. 107.
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vereinzelt zu negativen Publikationen kommen180, wirkte die Stellungnahme von Ralf Voss nun auf einer wichtigen Konferenz weit in die medizinische Fachöffentlichkeit hinein.181 An dieser Veranstaltung nahmen unter anderem auch Dr. Sievers von Chemie Grünenthal teil, der somit die direkten Reaktionen der Ärzteschaft registrierte.182 Immer noch versuchte die Firma, die Rezeptpflicht für Contergan so weit wie möglich zu verhindern, gleichzeitig stieg der Zahl der Nebenwirkungsmeldungen weiter an.183 Die Situation spitzte sich zu, als im März 1961 ein Situationsbericht aus dem Bezirk Düsseldorf konstatierte: »Nicht genug damit, daß der Vortrag von Hr. Dr. Voss weiteste Kreise zieht, kommen jetzt auch noch aus den verschiedensten Kliniken Arbeiten […]. Es ist unverkennbar, daß der Vortrag von Hr. Dr. Voss einmal bei sämtlichen Ärzten sowohl in der Praxis wie auch in der Klinik, darüber hinaus auch bei allen Apothekern einen außergewöhnlichen Rummel entfesselt hat. Dieses ›Fest der Contergan-Feinde‹ pflanzt sich mit größter Schnelligkeit in die Umgebung von Düsseldorf fort und hat mittlerweile die Plätze Duisburg, Krefeld, Ratingen, Rheinhausen, Moers und weitere erreicht. Wir können uns des Gefühls nicht erwehren, daß wir durch die Art des Vortrages des Hr. Dr. Voss und die aus den verschiedensten Kliniken zu erwartenden Arbeiten aber erst am Anfang dessen stehen, was in Contergan auf uns zu kommt. Jetzt schon sind wir in der derzeitigen Besetzung nicht mehr
180 Vgl. Monatsbericht der kaufmännischen Leitung, Januar 1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11116. 181 Vgl. ebd.; Bericht für Februar 1961, Monatsbericht der kaufmännischen Leitung, März 1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11117; Monatsbericht der medizinisch-wissenschaftlichen Abteilung, Februar 1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11142-11143. 182 Vgl. Vortrag von Hr. Dr. Voss in der Med. Akademie Düsseldorf am 15.02.1961; Anm.: Niederschrift von Dr. Voss und Stenographische Niederschrift des Vortrages Dr. Voss durch Fa. Chemie Grünenthal; Anm.: Vernehmung vom 12.03.1963, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11b, 11461-11462. Ob sich die Anmerkung von Sievers in seiner Vernehmung am 12.03.1963 auch auf diese Veranstaltung bezog oder aber auch einen anderen Vortrag, ist nicht eindeutig erkennbar. 183 Vgl. N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 235-242.
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in der Lage, überall da aufklärend und beschwichtigend aufzutreten, wo es dringend notwendig wäre […]«184.
Die Kritik blieb zunächst noch innerhalb eines abgegrenzten Raums zwischen Ärzten und der Firma Chemie Grünenthal, der Ton verschärfte sich jedoch zusehends. Ein Arzt beschwerte sich beispielsweise über ein versandtes Rundschreiben, mit dem die Firma versuche, von den fachlichen Diskussionen abzulenken und sich selbst als verantwortungsbewusstes Unternehmen zu präsentieren. Sie würden ihre Adressaten anscheinend für »so unintelligent und so ungebildet« halten, »daß sie auf eine derart simplifizierte Reklame eingehen.«185 Die Diskussion über die Nebenwirkungen von Contergan beschränkte sich also längst nicht mehr nur auf interne Papiere und Gespräche, sondern erreichte die Fachwelt.
2.3 WIE DIE MEDIZINISCHEN AKTEURE UM DEUTUNGSHOHEIT KÄMPFTEN Im Mai 1961 publizierte die Zeitschrift DIE MEDIZINISCHE WELT eine Arbeit des deutschen Neurologen Horst Frenkel186, der sich kritisch gegenüber dem Medikament Contergan äußerte und vor den Nebenwirkungen bei Langzeitkonsum warnte. Zwar lobte er durchaus die Wirkung des Medikaments (»Alle diese Patienten schlafen mit Contergan-forte sehr gut«)187, stellte aber auch eine »immer stärker werdende Störung des Allgemeinbefindens« seiner Patienten fest. Außerdem seien »neue Symptome zur Symptomatik der bereits bestehenden Krankheiten« hinzugekommen.188 In 21 Fällen habe er eine erste Verbindung zwischen
184 Situationsbericht Bezirk Düsseldorf, 06.03.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11b, 11466. Siehe dazu auch A.H. Crumbach, Arzneimittel aus der Waschküche, S. 107-108. 185 Monatsbericht der medizinisch-wissenschaftlichen Abteilung, April 1961 LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11b, 11330. Siehe auch N. Lenhard-Schramm, das Land Nordrhein-Westfalen, S. 239-240. 186 Vgl. H. Frenkel, ›Contergan‹-Nebenwirkungen. Zentralnervöse Auffälligkeiten und polyneuritische Symptome bei Langzeitmedikation von N-Phthalyl-GlutaminsäureImid, in: MEDIZINISCHE WELT, Nr. 18 (1961), S. 970-975. Kirk spricht von einer Veröffentlichung im August, das Heft ist aber auf Mai 1961 datiert. Vgl. B. Kirk, Der Contergan-Fall, S. 63, FN 211. 187 Vgl. Frenkel, ›Contergan‹-Nebenwirkungen, S. 970. 188 Ebd.
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Contergan und Nebenwirkungen beim erwachsenen Patienten herstellen können. Es handelte sich hierbei um »zentralnervöse Reiz- und Insuffizienerscheinungen«189 sowie »polyneuritische Symptome«190. Auch nach Absetzen des Medikaments blieben einige Symptome weiterhin bestehen: »Wir haben uns selbstverständlich in jedem einzelnen Fall gefragt, ob die verdächtigen Symptome nicht doch einem anderen Syndrom zugeordnet werden müßten und waren darauf bedacht, andere gleichzeitig genommene Medikamente nicht als eventuelle toxische Faktoren zu übersehen. Bei aller Zurückhaltung muß es aber zweifellos bedenklich stimmen, wenn nach jahrelangem offenbar ungestraften Gebrauch irgendwelcher anderer Medikamente und nun nach längerer Einnahme von Contergan etwa ein Dutzend Patienten eine polyneuritische Symptomatologie bekommt.«191
In seinem Artikel nahm Frenkel auch auf die bisherige Contergan-Forschung Bezug und machte auf das starke Netzwerk aus medizinischen Partnern aufmerksam, das bisher die Rezeption des Medikaments im wissenschaftlichen Raum geprägt hatte. Er plädierte für eine kritische Beobachtung der Langzeitmedikation.192 Der Firma waren Frenkels Beobachtungen bekannt. Sie hatten versucht, ihn von seiner Publikation abzubringen. Frenkel war jedoch keinesfalls dazu bereit, seine Publikation zurückzuziehen oder zu »einer harmonischen Zusammenarbeit zu kommen«193, wie es in einem Reisebericht der Firma hieß. Aufgrund seiner Veröffentlichung entstand ab Mai 1961 ein neuer Diskussionsraum. Hatte Ralf Voss auf einer Tagung mit den anwesenden Teilnehmern diskutierte, erreichte Frenkel mit seiner Publikation in einer Fachzeitschrift einen noch größeren Adressatenkreis. Gleichzeitig begann Frenkel die wissenschaftliche Tatsache Contergan zu dekonstruieren. Er hinterfragte die Attribute der völligen Ungiftigkeit und fügte – nun in schriftlicher Form – polyneuritische Krankheitsbilder hinzu. Neben Frenkels Aufsatz erschienen im Mai 1961 zwei weitere Publikationen, die sich kritisch mit den Nebenwirkungen von Contergan auseinandersetzten.
189 Frenkel, ›Contergan‹-Nebenwirkungen, S. 973. 190 Ebd. 191 Ebd., S. 974. 192 Ebd., S. 974-975. 193 Reisebericht, 09.-11.01.1961, 13.01.1961. Allen Patienten war die initiale Contergan-Einnahme gemeinsam, vgl. LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11b, 11350.
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Diesmal waren es die Ärzte Raffauf und Scheid.194 Auch sie zogen die Verbindung zwischen der Einnahme von Thalidomid und Fällen von Polyneuritis, die mit bisherigen medizinischen Diagnosen nicht erklärt werden konnten. Contergan müsse für jene Schäden verantwortlich sein. J. Becker, Autor einer weiteren Publikation in einem Fachmedium, sprach gar von »Contergan-Polyneuritis«195. Auch Voss veröffentlichte 1961 einen Aufsatz mit dem Titel »Nil nocere! Contergan-Polyneuritis«.196 Voss berichtet von über 35 Fällen von Polyneuritiden und brachte diese in Verbindung mit dem Medikament Contergan. Es sei keine Behandlung bekannt, die jene Beschwerden heilen könne, auch das Absetzen des Wirkstoffes helfe nicht.197 Die Autoren verbanden in ihren Titeln immer häufiger den Begriff Contergan mit dem Krankheitsbild der Polyneuritis. Innerhalb der fachwissenschaftlichen Debatte verzahnten sich der Medikamentenname und die neurologische Erkrankung immer enger miteinander. Voss nutzt die Aufmerksamkeit, um die ärztliche Verantwortung gegenüber Patienten hervorzuheben und eine gesetzliche Änderung des Arzneimittelrechts zu fordern: »Die traurigen Erfahrungen mit diesem als völlig harmlos und unschädlich geltenden Schlafmittel sollten zur Warnung dienen und uns veranlassen, jedes neue Medikament stets auf mögliche schädigende Nebenerscheinungen hin zu überwachen. Unschädlichkeit im Tierversuch beweist nicht Unschädlichkeit in der Anwendung beim Menschen. Wie die Herstellerfirma versichert, haben auch langdauernde Tierversuche mit vielfach höheren Contergangaben, als sie in der Praxis vorkommen, bei Tieren keine analogen Nervenschäden hervorrufen können. Es sollte eine Änderung der Arzneimittelgesetzgebung angestrebt werden, dahingehend, daß jedes neue Arzneimittel der Rezepturpflicht unterworfen wird. Uns Ärzten aber ist die Verantwortung auferlegt bei der Anwendung neuer Arznei-
194 H.J. Raffauf, Bewirkt ›Contergan‹ (keine) Schäden?, in: DEUTSCHE MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT, 89/19 (1961), S. 935-938; W. Scheid u.a. Polyneuritische Syndrome nach längerer Thalidomid-Medikation, in: DEUTSCHE MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT, 89/19 (1961), S. 938-940. Zuvor hatte Scheid bereits einen Artikel über die »Häufigkeit des Medikamenten-Missbrauchs« veröffentlicht, vgl. Bericht für den Monat Mai 1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11149; W. Freitag, Contergan, S. 33. 195 Vgl. J. Becker: Polyneuritis nach Contergan, in: DER NERVENARZT, 32/7 (1961), S. 321-323. 196 Ralph Voss, Nil nocere! Contergan-Polyneuritis, in: MÜNCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT, 30 (1961), S. 1431-1432. 197 Vgl. ebd., S. 1432.
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mittel größte Vorsicht und aufmerksame Beobachtung im Hinblick auf etwaige Schäden walten zu lassen.«198
Hatten die medizinischen Publikationen 1956/57 zu einer Konsolidierung der wissenschaftlichen Tatsache geführt, verkehrte sich die Situation nun in das Gegenteil. Mit Contergan verbanden die Autoren nun nicht mehr mit der Atoxität, sondern mit möglichen neurologischen Schädigungen. Voss schickte seine Arbeit im April 1961 auch an das nordrhein-westfälische Innenministerium. In dem beigefügten Brief sprach er von der Schwere der Schädigungen, die bereits weit verbreitet seien. Zugleich äußerte er eine gewisse Skepsis und forderte die Landesbehörde zum Handeln auf: »Sofern hier seitens der Behörde nicht rasch und energisch eingeschritten wird, dürfte ein Skandal unvermeidbar werden, der den niederländischen Margarineskandal noch übertreffen könnte«.199 Damit unternahm Voss einen neuen Schritt innerhalb der Kommunikation. Er trat nun eigenständig an das nordrhein-westfälische Landesinnenministerium heran, das nun von Expertenseite über die Nebenwirkungen informiert und zum Handeln aufgefordert wurde. Dieses wandte sich zunächst wieder an die Herstellerfirma und bat um eine Stellungnahme.200 Bis zum Mai 1961 wartete das Ministerium, bevor es weitere Schritte einleitete und verschiedene Kliniken über die Forschungsergebnisse von Voss informierte, ohne jedoch auf ihn zu verweisen.201 Der enge Kontakt zwischen der Herstellerfirma und dem Landesinnenministerium blieb bestehen. Die eingeforderte Stellungnahme traf erst Mitte Mai in Düsseldorf ein, in dem die bekannten Nebenwirkungsfälle auf 15 beziffert wurden, was eine bewusste Verschleierung der bis dahin bei der Firmenzentrale eingegangenen Meldungen bedeutete. Zudem verwies dieser Bericht nicht auf die Einführung einer Rezeptpflicht.202 Erste Rückmeldungen aus denen von Tombergs angeschriebenen Kliniken ergaben das Bild einer steigenden Anzahl von neurologischen Nebenwirkungen nach der Conterganeinnahme.203 Das wissenschaftliche Netzwerk schien nun die Tatsache Contergan unter ganz neuen Gesichtspunkten zu betrachten. Ärzte kritisierten vermehrt die mas-
198 R. Voss, Nil nocere!, S. 1432. 199 Schreiben von Dr. Voss an das Innenministerium Düsseldorf, 03.04.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11b, 11467. 200 Vgl. N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 250. 201 Vgl. ebd., S. 259. 202 Vgl. ebd., S. 261-262 203 Vgl. ebd., S. 263-264.
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sive Werbung für Contergan, die trotz wachsender Bedenken an seiner Harmlosigkeit eingesetzt wurde.204 Immer noch richteten die meisten Ärzte ihre Kritik an die Herstellerfirma selbst und blieben den internen Sprachregeln verhaftet. Die zuvor konstruierten Vorteile des Medikaments verkehrten sich in diesen Meldungen jedoch ins Gegenteil. Mit den Publikationen in überregionalen Fachzeitschriften wurde schnell ein größeres Publikum erreicht. Die Rezeptpflicht schien zunehmend unausweichlich, da der Unmut innerhalb der Ärzteschaft und in den Behörden wuchs, insbesondere da diese den Eindruck gewannen, nicht rechtzeitig und vollständig informiert worden zu sein.205 Am 26. Mai 1961 erreichte Tombergs der Antrag auf Rezeptpflicht. Er erfuhr, dass die Meldungen über Nebenwirkungen bereits seit 1959 die Firma erreicht hatten. Es festigte sich im Ministerium der Eindruck, die Firma halten Informationen gezielt zurück.206 Tombergs wandte sich im Juni 1961 deshalb an das Bundesgesundheitsamt, um ein Gutachten einzuholen.207 Parallel dazu trafen immer mehr Meldungen über Nebenwirkungen ein. Das Gutachten des Bundesgesundheitsamtes bescheinigte die Notwendigkeit einer Rezeptpflicht. Während auf Bundesebene keine weiteren Schritte eingeleitet wurden, musste nun das nordrhein-westfälische Landesinnenministerium aktiv werden. Am 31. Juli 1961 war der Wirkstoff Thalidomid in Nordrhein-Westfalen rezeptpflichtig.208 Hessen und Baden-Württemberg stellten den Wirkstoff ebenfalls unter die Rezeptpflicht. In den restlichen Bundesländern galt die Pflicht nicht.209 Zeitgleich mit der aufgeregten fachwissenschaftlichen Debatte trat nun eine weitere Kommunikationsebene hinzu. Im August 1961 berichtete DER SPIEGEL als erste nicht fachwissenschaftliche Zeitschrift über die Nebenwirkungen des
204 Vgl. Monatsbericht Werbeabteilung Mai 1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11b, 11333. 205 Vgl. Bericht für den Monat Mai 1961, Inland, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11118; Bericht für den Monat Juli 1961, Inland, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11119; B. Kirk, Der Contergan-Fall, S. 76-78. 206 Vgl. N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 270-271. 207 Vgl. ebd., S. 274. 208 Vgl. ebd., S. 278-284. 209 Eine flächendeckende Rezeptpflicht war durch die Länderkompetenzen nicht durchzusetzen (vgl. N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, ab S. 290). Vgl. Monatsbericht März 1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11117; Monatsbericht August 1961: Inlandsgeschäft, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11121. Die Firma Chemie Grünenthal erhielt ob ihres Schrittes, laut interner Kommunikation, durchaus positive Rückmeldungen von medizinischem Personal.
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Medikaments. Der wissenschaftliche Fakt Contergan wurde nicht mehr nur innerhalb einer abgeschlossenen medizinischen Fachöffentlichkeit diskutiert, sondern erreichte die Medienöffentlichkeit, wurde zum Thema für ein Laienorgan, das überregional Aufmerksamkeit fand. Der Artikel »Zuckerplätzchen forte« widmete sich ausführlich den Geschäftspraktiken der Firma Chemie Grünenthal und berichtete, dass Mitarbeiter der Firma versucht hätten, Contergan-kritische Veröffentlichungen in medizinischen Fachorganen abzuwenden.210 Wenn dann doch Ärzte ihre Forschungsergebnisse und Beobachtungen bekannt machten, dann wäre dies immer gegen den Willen der Firma erfolgt. Dass jetzt der Antrag auf Rezeptpflicht vonseiten Grünenthals gestellt wurde, verwunderte im Sommer 1961 den Autor kaum: »Wurde Contergan bislang in Prospekten als ›ungiftiges Beruhigungs- und Schlafmittel‹ feilgeboten, so fehlt dieser Vermerk neuerdings. Statt dessen können aufmerksame Leser in der kleingedruckten Gebrauchsanweisung den Hinweis entdecken, daß es ›bei entsprechend disponierten Patienten nach mehr oder weniger langem Contergan-Gebrauch zu Überempfindlichkeit kommen‹ könne. Dies freilich, so behaupten die Hersteller zugleich, sei ›bei nahezu allen Arzneimitteln‹ der Fall«.211
Obwohl Contergan in den nächsten Wochen keine zusätzliche Aufmerksamkeit fand und der medialen Berichterstattung nicht weiter thematisiert wurde,212 blieb DER SPIEGEL-Artikel nicht ohne Wirkung. Vor allem bei Chemie Grünenthal und in der wissenschaftlichen Gemeinschaft fand er Beachtung. Der Neurologe Horst Frenkel, einer der Hauptprotagonisten des Artikels, schrieb sogar einen Leserbrief: »Vielleicht muß man dem SPIEGEL doch dankbar sein für diesen Artikel, wenn auch in seiner besonderen Sprache die nüchternen medizinischen Fakten für einen Mediziner etwas ungewohnt zur Darstellung kommen. Immerhin wird der betrübliche Sachverhalt selbst durchaus wahrheitsgetreu gespiegelt. […] Davon abgesehen ist dieses Schlafmittel so riskant, daß man es nicht nur rezeptpflichtig machen, sondern ganz verbieten sollte. Die Öffentlichkeit wird mit Recht fragen, wieso dies nicht längst geschehen ist.«213
210 Vgl. »Zuckerplätzchen forte«, in: DER SPIEGEL, Nr. 34 (1961), 59-60. 211
Ebd.
212 Vgl. A.H. Crumbach, Contergan im Diskurs, S. 73. 213 Leserbrief Horst Frenkels an DER SPIEGEL, in: DER SPIEGEL, Nr. 36 (1961), zitiert nach LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 168a; W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 209. Siehe dazu auch A.H. Crumbach, Contergan im Diskurs, S. 73.
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Für Chemie Grünenthal als Pharmaunternehmen bedeutete die Veröffentlichung einen weiteren Rückschlag in der Vermarktung des Medikaments, Das Thema Contergan beschäftigte in den Folgemonaten den Innen- und Außendienst der Firma intensiv. So resümierte ein Mitarbeiter im August 1961: »Die Situation im Innen- und Außendienst war gekennzeichnet durch Contergan. Besonders durch die Veröffentlichung des Spiegelartikels sowie der Leserbriefe in der gleichen Zeitschrift, hat die Diskussion um Contergan eine wesentliche Verschärfung erfahren. Wenn auch die Reaktion aus Laienkreisen erwartungsgemäß sehr stark ist, so zeigt sich doch, daß die Mehrzahl der Ärzte die Diskussion auf der Ebene ›Spiegel‹ ablehnt und offensichtlich auch draußen der Eindruckt verstärkt, daß die ›Contergan-Welle‹ von verschiedensten Kreisen hochgespielt wird.«214
Der Mitarbeiter schätzte die Rezeption Artikels durchaus realistisch ein. Wissen und Nichtwissen wurden bereits zu diesem Zeitpunkt als zentrale Kategorien in die öffentliche Debatte eingebracht: DER SPIEGEL veröffentlichte mit »Zuckerplätzchen forte« einen Artikel, der die Laienöffentlichkeit an dem Wissen über die Gefährlichkeit des Medikaments teilhaben ließ. Ersorgte dafür, dass der komplexe medizinische Sachverhalt in eine für die Leser verständliche Sprache übersetzt wurde, indem der Autor nämlich nicht von Thalidomid, sondern von dem Medikament Contergan sprach. So sehr Frenkel die Berichterstattung befürwortete, so sehr lehnten einige Kollegen diese ab, wie die Herstellerfirma in ihrem Monatsbericht festhielt. Die Angst innerhalb der Ärzteschaft sei groß, hieß es, dass der Artikel eine »Contergan-Welle«215 hochgespült habe.216 Die öffentliche Aufmerksamkeit des Artikels und die negative Bewertung des Contergan war für die Firma unmittelbar spürbar. Im September sprach Chemie Grünenthal von einer Halbierung des Umsatzes.217 Sie führten dies auf den Artikel im DER SPIEGEL zurück. Patienten würden bei Ärzten und Apothekern gezielter nachfragen als zuvor oder gleich ganz auf die Einnahme verzich-
214 Monatsbericht August – Inlandsgeschichte, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11121. 215 Vgl. Monatsbericht August: Inlandsgeschäft, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11121. Vgl. ebd. 216 Vgl. ebd. Siehe dazu auch Bericht über die Wirtschaftsausschuss-Sitzung vom 31.08.1961, 04.09.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11b, 11373. 217 Vgl. Monatsbericht September 1961, Inlandsabteilung, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11129.
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ten.218 Die Firma setzte daraufhin im September ein internes »ConterganGremium« ein. Es sollte sich als zentrales Organ um das Medikament und seine Folgen kümmern.219 Weiterhin bereisten Mitarbeiter der Firma Chemie Grünenthal Universitäten, Kliniken und Ärzte,220 um die wissenschaftliche Tatsache Contergan zu sichern, positive Gutachten einzuholen und neue Publikationen zu akquirieren, obwohl ihre Arbeit durch die Veröffentlichung des Artikels erschwert war.221 Gleichzeitig registrierte die Firma durchaus, dass Frenkel mit seiner wissenschaftlichen Publikation in der Fachgemeinschaft kaum rezipiert wurde. Als eine Arbeit von Hultsch und Hartmann im November 1961222 nicht auf den Frenkelschen Aufsatz verwies, kommentierte die Firma, die beiden Autoren hätten Frenkels Ausführungen kein »wissenschaftliches Gewicht« beigemessen.223 Am 14. November 1961 verschickte die Firma einen Brief an deutsche Ärzte, in dem sie auf die Bedeutung ärztlicher Rezeptierung und Kontrolle verwies.224 In den meisten Fällen seien die Symptome nach Absetzen des Medikaments wieder verschwunden, so der Tenor des Briefes. Zudem könne die Firma 580 Patienten vorweisen, die Contergan ohne Veränderung der Werte wichtiger Organe oder des Blutes eingenommen hätten.225 Daraus wurde geschlussfolgert: »Aus diesen Aufstellungen kann entnommen werden, daß das rezeptierte Contergan
218 Vgl. Monatsbericht September 1961: Inlandsgeschäft, LAV NRW R, Gericht Rep. 139, Nr. 11a, 11122; Monatsbericht September 1961, Inlandsabteilung, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11129. 219 Vgl. ebd. 220 Vgl. Monatsbericht August 1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 1120611207; Monatsbericht Oktober 1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11a, 11211. 221 Vgl. ebd. Eine für die Firma positive Arbeit sollte in Die Medizinische Welt erscheinen, die jedoch im SPIEGEL-Artikel angegriffen worden war. Daher meint der Autor, dass der Artikel wahrscheinlich auf eine andere Zeitschrift ausweichen müsse. 222 Vgl. E.-G. Hultsch/J. Hartmann, Nil nocere! Die Thalidomid (Contergan) polyneuritis, in: MÜNCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT, 44 (1961), S. 2141-2144. 223 Vgl. Bericht Informationsdienst 1961, 27/61, 13.11.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 12a, 12054-12055. 224 Vgl. AVA-Brief an alle Ärzte, KVA und KoA, 14.11.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 52b, 52222-52223. 225 Vgl. ebd., 52223.
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ein sicheres Medikament ist«.226 Die »Vorzüge«227 von Contergan würden die »relativ seltenen Nebenerscheinungen«228 aufwiegen. Parallel zu der stark rezipierten Diskussion um neurologische Schäden gab es eine zweite fachmedizinische Debatte, die erst zeitversetzt begann. In medizinischen Untersuchungen wurde ein Anstieg von Fehlbildungen bei Neugeborenen festgestellt, deren Ursache noch nicht eindeutig festgestellt werden konnte. Der Anstieg der Fehlbildungsrate war – wie bereits asugeführt – bislang im Kontext der zunehmenden Gefährdung durch Radioaktivität diskutiert worden.229 Durch eine fehlende Meldepflicht war eine statistisch zuverlässige Überprüfung der Vermutung, es läge ein Anstieg von Fehlbildungsfällen vor, kaum möglich. Zuletzt hatte 1958 die FDP-Fraktion einen Antrag in den Bundestag eingebracht hatte, der die Bundesregierung um Auskunft habt. Daraufhin erstellte das Bundesministerium des Inneren einen Bericht, der die »Häufigkeit« und die »Ursachen von Mißgeburten in der Bundesrepublik Deutschland seit 1950« thematisierte. Das Gutachten vermutete, dass die Fehlbildungsfälle sogar abnähmen.230 Im September 1961 veröffentlichte Hans-Rudolf Wiedermann einen ersten epidemiologischen Aufsatz über den Anstieg der Fehlbildungsrate bei Neugeborenen. Er unterstellte »exogene [Hervorhebung im Original, A.H.C.] Faktoren«
226 Vgl. AVA-Brief an alle Ärzte, KVA und KoA, 14.11.1961. 227 Ebd. 228 Ebd. 229 Siehe dazu die Arbeit des Kinderarztes Dr. Karl Beck: K. F.A. Beck: Mißbildungen und Atombombenversuche; Anfrage der FDP-Fraktion, 14.05.1958, Drucksache III/386. Siehe zu den Protesten gegen Atombomben: Holger Nehring, Politics, Symbols and the Public Sphere. The Protests against Nuclear Weapons in Britain and West Germany, 1958-1963, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 2 (2005), H. 2, S. 180-202, abgerufen zuletzt am 13.02.2018: http://www.zeithistorische-forschungen.de/2-2005/id=4614 230 Vgl. N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 309-310; A. von Schwerin, Die Contergan-Bombe, S. 261-262. A.H. Crumbach, Contergan im Diskurs, S. 74.
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für den Anstieg der beobachteten Fehlbildungen231; weitere Publikationen folgten ein Jahr darauf.232 So vermutete Wiedemann: »Im Hinblick auf die Erfassung mehrerer schon in den letzten Monaten des Jahres 1959 mit […] Gliedmaßenmißbildungen geborenen Kinder in meinem Beobachtungsbereich scheint die Einwirkung der verantwortlichen Noxe (n) bereits ab etwa Anfang 1959 angenommen werden zu müssen; für die Folgezeit war eine zunehmende Verbreitung und Auswirkung zu vermuten.«233
Wiedemann erklärte damit erstmals, dass ein Stoff, eine exogene Substanz für die beobachteten Fehlbildungen verantwortlich sein müssten. Für die Diskussion um das Verhalten der Firma Chemie Grünenthal ist die Frage entscheidend, inwieweit sie über die teratogene Wirkung informiert war. Lenhard-Schramm hält diesbezüglich fest: »Ob und inwieweit Grünenthal über die fruchtschädigende Wirkung Thalidomids im Bilde war, hat seit der Marktrücknahme ein großes Interesse erfahren. Diese Frage kann letzthin nicht beantwortet werden, zumal hier nur die von der Staatsanwaltschaft Aachen sichergestellten Unterlagen vorliegen. Nach alledem konnte die auch in diese Richtung ermittelnde Strafverfolgungsbehörde keinen klaren Beweis erbringen, dass die späteren Angeklagten von derartigen Zusammenhängen wussten.«234
Dennoch verweist Lenhard-Schramm auf »Indizien«, die Hinweise für die Firma hätten liefern können, so u.a. eine Anfrage der US-Behörde FDA an das amerikanische Lizenzunternehmen.235 Entscheidend für die wissenschaftliche Diskussion und schließlich die Marktrücknahme des Medikaments war eine in Düsseldorf stattfindende Kinder-
231 Vgl. W. Freitag, Contergan, S. 36-37; H.-R. Wiedemann, Hinweise auf eine derzeitige Häufung hypo- und aplastischer Fehlbildungen der Gliedmaßen, in: DIE MEDIZINISCHE WELT, 37 (1961), S. 1863-1866. 232 Vgl. W. Freitag, Contergan, S. 37. Damit erklärt Freitag, dass die Fachöffentlichkeit ebenso wie die ›Laien‹ von den teratogenen Wirkungen des Medikaments überrollt worden seien. Zudem ist die Veröffentlichung 1962 zu erklären, da die Beobachtungen zunächst auf Tagungen 1961 vorgestellt wurden und ihre Publikationen sich somit verzögerten. 233 H.-R. Wiedemann, Hinweise auf eine derzeitige Häufung, S. 1866. 234 N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 312-313. 235 Vgl. ebd., S. 313.
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ärztetagung im November 1961. Dort referierten die Kinderärzte Pfeiffer und Kosenow zum Thema »Zur Frage einer exogenen Verursachung von schweren Extremitätenmißbildungen«.236 In der anschließenden Diskussion berichtete der Kinderarzt und Humangenetiker Widukind Lenz aus Hamburg von mehreren Fällen kindlicher Fehlbildungen, die er mit der Einnahme des Medikaments Contergan durch die Mütter in der Schwangerschaft in Verbindung brachte.237 Zwar sei dies wissenschaftlich noch nicht fundiert, er könne und dürfe diese Informationen allerdings nicht länger zurückhalten: »Als Mensch und Staatsbürger kann ich es daher nicht verantworten, meine Beobachtungen zu verschweigen. Angesichts der unübersehbaren menschlichen, psychologischen, juristischen und finanziellen Konsequenzen habe ich nach Rücksprache mit einem Pädiater und einem Pharmakologen der Herstellerfirma meine Beobachtungen mitgeteilt und meine persönliche Meinung zum Ausdruck gebracht, daß die sofortige Zurückziehung des Mittels erforderlich sei, bis seine Unschädlichkeit sicher nachgewiesen sei.«238
Vor seinem Diskussionsbeitrag auf der Düsseldorfer Kinderärztetagung hatte Lenz bereits die Firma über seinen Verdacht informiert. In einem Telefongespräch am 15. November 1961 mit Dr. Mückter aus der Forschungsabteilung der Firma Chemie Grünenthal äußerte er seine Bedenken gegenüber der Substanz und forderte deren Rücknahme vom Markt.239 Hatte sich die Debatte mit der Firma Chemie Grünenthal zuvor auf die neurologischen Nebenwirkungen konzentriert, kam nun ein weiterer, erschütternder Verdacht hinzu.
236
Ihr Vortrag erschien als Aufsatz, siehe dazu A. Pfeiffer/W. Kosenow, Zur Frage einer exogenen Verursachung von schweren Extremitätenmißbildungen, in: MÜNCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT,
104/1 (1962), S. 68-74.
237 Lenz trug verschiedene Fälle zusammen, nach dem er die Arbeit Wiedemanns gelesen hatte. Lenz diskutierte seine Beobachtungen mit Kollegen und wandten sich schließlich an die Herstellerfirma. Siehe dazu N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 316-317. 238 Diskussionsbemerkung von Privatdozent Dr. W. Lenz, Hamburg zu dem Vortrag von R.A. Pfeiffer und K. Kosenow: Zur Frage der exogenen Entstehung schwerer Extremitätenmißbildungen, Tagung der Rheinisch-Westfälischen Kinderärztevereinigung in Düsseldorf am 19.11.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 55a, 55003; W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 211-212; E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 229; W. Freitag, Contergan, S. 36-37. 239 Vgl. B. Kirk, Der Contergan-Fall, S, 83.
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Mit dem Hinweis von Widukind Lenz auf eine möglicherweise teratogene Wirkung von Contergan, gewann die Frage eines möglichen Produktionsstopps an Dringlichkeit. In einem Brief an die Herstellerfirma, datiert auf den 16. November 1961, wiederholte Lenz schriftlich seine Befürchtungen und erneuerte seine Forderung nach einer Marktrücknahme des Medikaments.240 Ein gemeinsames Treffen zwischen Lenz, Vertretern der Firma Chemie Grünenthal, der Hamburger Gesundheitsbehörde und des nordrhein-west-fälischen Innenministeriums blieb zunächst ergebnislos, da die Firma die Rücknahme des Medikaments ablehnte. Das nordrhein-westfälische Innenministerium informierte daraufhin am 25. November 1961 alle zuständigen Behörden und medizinischen Vertreter über die möglichen Gefahren von Contergan. Noch am selben Tag sprach sich das Innenministerium dafür aus, nicht die Laienöffentlichkeit zu unterrichten. Vielmehr solle eine Expertenkommission zusammentreffen und untersuchen, ob die Substanz für die Fehlbildungen ursächlich sei.241 Doch die Zeitung WELT AM SONNTAG missachtete den Versuch, die Autonomie des medizinischen Netzwerkes zu bewahren, und informierte die Öffentlichkeit über die Zweifel an Thalidomid. In der Ausgabe vom 26. November 1961 erschien ein Artikel mit dem Titel »Mißgeburten durch Tabletten?«.242 Der Verdacht der teratogenen Wirkung war somit erstmals öffentlich ausgesprochen. Am 27. November nahm die Firma Chemie Grünenthal alle Medikamente vom Markt, die den Wirkstoff Thalidomid enthielten.243 Der kategorische Imperativ von Widukind Lenz auf der Kinderärztetagung wurde für das medizinische Selbstverständnis seiner Profession später ungemein wichtig. Walburga Freitag hat in ihrer Dissertation gezeigt, wie viele wissenschaftliche Publikationen die aufrüttelnden Darlegungen von Lenz zur »Anfangserzählung«244 einer selbstbewussten, ethisch verantwortlich handelnden Medizin gemacht haen. Die wissenschaftliche Gemeinschaft konstruierte so eine
240 Vgl. Brief von W. Lenz 16.11.1961 an Firma Chemie Grünenthal, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 52a, 52179-52180. 241 Vgl. Vermerk der Abteilung 2 A – 2022, Hamburg 25.11.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 52b, 52269. 242 Mißgeburten durch Tabletten?, in: WELT AM SONNTAG, 27.11.1961. 243 Vgl. B. Kirk, Der Contergan-Fall, S. 83-85; E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 229; W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 211-212; W. Freitag, Contergan, S. 37. 244 Siehe dazu W. Freitag, Contergan, S. 36.
Wie Contergan zu einer wissenschaftlichen Tatsache wurde | 101
»vielfach reproduzierte Entdeckungsgeschichte«245, wie wiederum Elsbeth Bösl geurteilt hat. Wer allerdings erwartet, dass das medizinische Netzwerk schon damals die Entdeckung von Lenz gefeiert hätte, sieht sich enttäuscht. Vielmehr zeigten Rückmeldungen medizinischer Kollegen, dass sie die Art und Weise, wie Lenz seinen Verdacht geäußert hatte, nicht guthießen und auch nicht unterstützten. In der Kommunikation zwischen Chemie Grünenthal und Ärzten zeigten sich viele erbost über die Vorgehensweise von Lenz und hinterfragten die Glaubwürdigkeit seiner Aussagen. Zugleich sicherten sie der Firma ihre Unterstützung zu, die Substanz weitergehend zu prüfen und eventuell einen Gegenbericht zu veröffentlichen.246 Die wissenschaftliche Gemeinschaft – das bleibt festzuhalten – war sich über den Fakt Contergan uneinig. Ihr ging es dabei um die eigene Reputation, die mit dem von Lenz geäußerten Verdacht angegriffen wurde. Die Hinweise auf die teratogene Wirkung der Substanz führten zu einer weiteren Dekonstruktion der wissenschaftlichen Tatsache, welche die ihr zugeschriebenen Eigenschaften vollends in das Gegenteil verkehrte. Contergan stand nicht mehr für die Linderung von Schlaflosigkeit oder Unruhe, sondern für irreversible Nervenschäden bei Erwachsenen und für die körperliche Fehlbildung von Säuglingen. Auffallend ist der ganz unterschiedliche zeitliche Verlauf der Debatten. Zu den neurologischen Nebenwirkungen haben wir eine intensive Diskussion zwischen Ärzten und Pharmaunternehmen über einen langen Zeitraum beobachten können. Bis zur Festigung der der Auffassung, Contergan könne Nervenschäden verursachen, dauerte es Monate. Ganz anders die Kommunikation in Hinblick auf die teratogenen Folgen von Contergan. Allein Lenz stand mit Grünenthal in Kontakt. Wissenschaftlich war der von ihm beobachtete Zusammenhang noch überhaupt nicht belegt. Entsprechende Studien benötigten viel mehr Zeit. So eilte die Dekonstruktion der wissenschaftlichen Tatsache im öffentlichen Feld der gefestigten Beobachtung im medizinisch-pharmakologischen Feld weit voraus: zunächst durch eine Rede von Widukind Lenz auf der Kinderärztetagung in Düsseldorf und schließlich durch öffentlichen Bericht über die teratogenen Nebenwirkungen in der Presse.
245 E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 228. 246 Vgl. Bericht Vertraulich an ltd. Herren der Inlandsabteilung, 28.11.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 52b, 52315; erste stellungnahme eines der groessten »Contergan«-verbraucher in oesterreich 29.11.1961 betr. »Contergan«, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 52b, 52333; LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 11b, 52348-52349; 52350.
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Die wissenschaftliche Tatsache Thalidomid, die die Firma Chemie Grünenthal so intensiv propagiert hatte, verlor seit der Markteinführung 1957 Schritt für Schritt an wissenschaftlicher Legitimation. Wie gezeigt werden konnte, war der Aufbau der wissenschaftlichen Tatsache innerhalb des Fachnetzwerkes über die gewonnenen Erkenntnisse zum einen aus dem Labor und zum anderen anhand klinischer Versuche möglich. Es kristallisierten sich verschiedene Eigenschaften der Tatsache heraus, die ihre Legitimation zunächst stärkten: Atoxizität, gute Verträglichkeit und zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten. Über die Kanäle der Fachgemeinschaft gelangten die Zweifel an einen größeren Expertenkreis. Die Firma versuchte, Meldungen über Nebenwirkungen zu unterdrücken und weiterhin an der wissenschaftlichen Tatsache festzuhalten. Je intensiver der Austausch der medizinischen Akteure war, desto größer wurden die Zweifel. Die wissenschaftliche Tatsache wurde sukzessive dekonstruiert; zunächst in Bezug auf neurologische Nebenwirkungen des Medikaments und schließlich im Hinblick auf die teratogene Wirkung. Hielt die Firma angesichts der neurologischen Nebenwirkungen noch an der wissenschaftlichen Tatsache fest, konnte sie sich angesichts der möglichen Teratogenität dem Druck des nordrhein-westfälischen Innenministeriums und der ärztlichen Akteure nicht erwehren und musste das Medikament vom Markt nehmen.
3
Von der Übersetzung einer gescheiterten wissenschaftlichen Tatsache in den öffentlichen Raum
Im November 1961 überschritt die Diskussion um Thalidomid den engeren medizinischen Diskurs. Bis dahin hatte es bereits eine bemerkenswerte Umdeutung gegeben: von einem in Fachkreisen freundlich aufgenommenen neuartigen ›Schlafmittel ohne die bekannten Nebenwirkungen‹ zu einem zwischen einzelnen Medizinergruppen höchst umstrittenen Pharmazeutikum. Es existierten demnach ganz unterschiedliche Erzählungen zu Thalidomid. Sie alle beanspruchten die Beschreibung einer wissenschaftlichen Tatsache. Außerhalb des geschützten Raumes des wissenschaftlichen Diskurses waren die Meldungen über die Nebenwirkungen des Wirkstoffes sprachlichen Adaptionen und konzeptionellen Umdeutungen ausgesetzt, die Thalidomid und seine Folgen in die Logik des öffentlichen Konfliktes und der Alltagserfahrungen übersetzten. Journalisten, Politiker und Bürger beteiligten sich an der Diskussion. Der Kreis der Akteure erweiterte sich immer mehr. Und auch die Art und Weise, wie sie miteinander kommunizierten, veränderte sich. Nicht mehr interne Studien oder sorgsam redigierte Fachaufsätze in Medizinzeitschriften, sondern investigative Reportagen und prononcierte Kommentare in Tageszeitung oder Boulevardmagazinen bestimmten jetzt das Bild der wissenschaftlichen Tatsache. Die Umdeutung erfolgte auf zahlreichen Ebenen: Nicht mehr im Vordergrund stand der exakte wissenschaftliche Nachweis der unterschiedlichen Effekte und Folgen. Der öffentliche Diskurs war von Angst geprägt und angetrieben von der Furcht vor der medizinischen ›Katastrophe‹. Die nichtwissenschaftlichen Akteure stellten die ›Experten‹ zur Rede, zwangen sie, ihre bisherigen geschützten Diskussionsräume zu verlassen und drängten sie auf die öffentliche Bühne.
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Ergänzend zur wissenschaftlichen Konstruktion des Wissens um Thalidomid trat jetzt die öffentlich-mediale Konstruktion des Wissens auf den Plan, vermittelt durch die Presseöffentlichkeit der 1960er Jahre. In den ersten Monaten der öffentlichen Auseinandersetzung kann noch eine auffallende Unsicherheit der Akteure beobachtet werden: Unsicherheit darüber, wie der Contergan-Fall zu deuten sei oder wie sprachlich mit ihm umgegangen werden sollte. Ganz unterschiedliche Deutungen standen nebeneinander: medizinische ›Katastrophe‹, die erkannten Nebenwirkungen, beherrschbares ›Unglück‹. Die nichtmedizinischen Akteure (Reporter, Journalisten und Kommentatore) wollten sich dem komplexen wissenschaftlichen Problem Thalidomid nähern, versuchten es zu verstehen, obwohl oder gerade weil es innerhalb der medizinischen Netzwerke kontrovers diskutiert wurde. Den medizinischen ›Laien‹ ging es dabei nicht um die chemische Zusammensetzung des Medikaments oder die dadurch ausgelösten unterschiedlichen Krankheitsbilder. Sie interessierte eine einfache und verständliche Deutung des Problems. Der fachliche Diskurs bedurfte somit einer Übersetzung aus der medizinischen Fachlogik in Alltagssprache. Konzeptionelle Anknüpfungspunkte fanden die Akteure in Begriffen wie ›Katastrophe‹ und ›Mißbildung‹. Sie füllten ein sprachliches Vakuum, das so fremdartige Termini wie ADE (Advers Drug Effect) oder Teratogenität hinterlassen hatten.
3.1 VON DER ZEITLOGIK DER WISSENSCHAFT ZUR ZEITLOGIK DER ÖFFENTLICHEN MEDIEN Mit der Veröffentlichung des Artikels »Zuckerplätzchen forte«1 setzte bereits im Sommer 1961 ein erster Übersetzungsprozess von Seiten der Presse ein. DER SPIEGEL berichtete von der Gefahr des Medikaments, das zu schwerwiegenden neurologischen Nebenwirkungen führe. Von Polyneuritis war die Rede, einer neurologischen Erkrankung der Nervenstränge. Obwohl das Krankheitsbild durchaus weitere Ausprägungen haben konnte, reichte dieser generalisierende Oberbegriff aus, um in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit zu erzielen. Von den teratogenen Wirkungen hatten die Journalisten noch nicht erfahren.2 In jenem Bericht ging es weniger darum, medizinische Begrifflichkeiten genau zu erklären, als darum, das skandalöse Potenzial der Geschichte zu präsentieren.
1
Vgl. » Zuckerplätzchen forte«, in: DER SPIEGEL, Nr. 34 (1961), 59-60.
2
Vgl. ebd.
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Das Magazin beteiligte sich also als eines der ersten an der Wissensgenerierung im öffentlichen Raum. Dass das präsentierte Wissen nicht weiter in der Presse verbreitet wurde, verdeutlicht die Fragilität des Wissenskonstrukts. Es wurde nicht von weiteren Laienakteuren abgesichert und gefestigt. Hier hätte es einer größeren medialen Unterstützung und öffentlichen Resonanz bedurft, um das neu gewonnene Wissen diskutieren zu können.3 Die Deutungsmacht der verschiedenen Wissensformen – einerseits medizinisches und andererseits Laienwissen – unterlag einer klaren Hierarchie zugunsten des medizinischen Expertenwissens.4 Das unterscheidet die Situation 1961 von späteren öffentlichen Auseinandersetzungen (etwa gegen die Atomkraft), weil Teile der Bürgerbewegungen Laienwissen zu Expertenwissen weiterentwickeln. Nach der Rücknahme des Medikaments vom Markt im November 1961, setzte eine breite öffentliche Berichterstattung über das Medikament Contergan und seine Nebenwirkungen ein. Den medizinischen Begriff Polyneuritis, den DER SPIEGEL noch verwendet hatte, ersetzten Journalisten nun durch allgemeinere Beschreibungen der Schäden des Nervensystems oder Nervenentzündungen.5 Das Begriffsfeld erweiterte sich stetig mit generalisierenden Begriffen, die für die Leser anschlussfähig und verständlich waren. Die Journalisten leisteten hier Übersetzungsarbeit, indem sie auf bekannte Assoziationen zurückgriffen – ob diese nun für den Contergan-Fall stimmig waren oder nicht, wurde noch nicht debattiert. In dieser ersten Phase der öffentlichen Auseinandersetzungen mit den Folgen des Medikaments (November 1961) galt es zunächst einmal nur, die negativen Auswirkungen sprachlich zu erfassen. Die medizinische Seite lieferte keine griffigen Vorschläge. Im Gegenteil: Sie verhielt sich zurückhaltend und
3
B. Schumacher/T. Busset, Der Experte, S. 16: »Immer wieder geht es um die Modalität der Abgrenzung und des Status von Wissen und um die immense Fragilität in der Eigenwahrnehmung und der Akzeptanz von ExpertInnen.«.
4
Vgl. ebd.
5
Ebenfalls beispielhaft dazu: ap./tsp., Gefährliches Schlafmittel eingezogen, in: Tagesspiegel (Berlin), 28.11.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 67a, 67005; Fachleute-Kommission soll Schädlichkeitsfrage klären, in: KÖLNISCHE RUNDSCHAU, 28.11.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 67a, 67007; Gerhard Knuth, Herstellerfirma zog »Contergan« aus dem Handel, in: KIELER NACHRICHTEN, 28.11.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 67a, 67008; eigener Bericht, Erkrankungswelle in Berlin durch Schlafmittel »Contergan«, in: DER ABEND, 29.11.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 67a, 67014; pm, Eine dringende Aufgabe, Frau Ministerin …, in: ABENDPOST, 11.12.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 67a, 67019.
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zog sich in ihre medizinische Fachgemeinschaft zurück, um dort an Fachartikeln über Contergan zu arbeiten. Die Fachveröffentlichungen ließen bis 1962 auf sich warten, weil die Studien selbst sowie die Redaktionsabläufe in Fachmagazinen – von der Einsendung der Artikel über die Redaktion bis hin zur Veröffentlichung – einige Zeit in Anspruch nahmen.6 Hier war eine Ungleichzeitigkeit zu erkennen: Die mediale Berichterstattung konstruierte ihre Darstellungen über den Contergan-Fall, während die medizinischen ›Experten‹ wiederum ihre Informationskanäle benutzten, um sich untereinander auszutauschen. Im November 1961 erschienen auch die ersten Presseberichte über die teratogenen Nebenwirkungen von Thalidomid. So ungeheuerlich und schwerwiegend waren die Anschuldigungen, dass viele Journalisten nicht wussten, wie sie reagieren sollten. Die Verantwortung war ihnen zu groß, die Einschätzung der Lage zu schwierig, als dass eine angemessene Übersetzung des Medizinerdiskurses in die Sprache der Medien und des Alltags möglich gewesen wäre. So schrieb der Journalist Konrad Simons am 28. November 1961, einen Tag nach Bekanntwerden der teratogenen Nebenwirkungen: »Was fängt der Medizin-Normalverbraucher damit an? Die Nachricht von den ›Mißbildungen‹ ist doch nur dazu angetan, nervenschwache Benutzer des zurückgezogenen Schlafmittels (Es sind meist nervenschwache!) in Panik zu stürzen. Hätte der Zweck nicht besser erreicht werden können, wenn die Veröffentlichung auf Ärzte und Apotheker beschränkt geblieben wäre, zumal noch gar nichts erwiesen ist? Die Sperrung des Mittels wäre dann erreicht worden, ohne daß Zehntausende schlaflos über Dinge grübeln müßten, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht eintreten werden.«7
Simons kritisierte hier die Ausweitung der medizinischen Diskussion auf ›Laien‹, die nicht in der Lage seien, die Informationen richtig einzuschätzen. Für ihn war die Übersetzung aus dem medizinischen Fachjargon in eine verständliche Alltagssprache nicht notwendig. Vielmehr würden durch einen solchen Vorgang die Leser verängstigt, obwohl die Gefährlichkeit des Medikaments noch nicht medizinisch erwiesen sei.8 Dass seine Befürchtung vor einer Panikstimmung nicht unbegründet war, veranschaulicht ein Blick in die Berichterstattung der folgenden Wochen. So war zu lesen, jede Frau in gebärfähigem Alter sei gefährdet, ein missgebildetes Kind auf die Welt zu bringen, sollte sie in der frühen
6 7
Vgl. W. Freitag, Contergan, S. 35 und S. 37. K. Simons, Das Schlafmittel, in: RHEINISCHE POST, 28.11.1961, BArch N 189/11731, fol. 362. Siehe dazu auch W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 214.
8
Vgl. ebd.
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Phase der Schwangerschaft Medikamente, nicht nur Contergan, eingenommen haben.9 Die Presse war also versucht, alle Medikamente unter einen Generalverdacht zu stellen. Dass es keine unschädlichen Medikamente gab, darauf hatten Wissenschaftler schon Jahre zuvor hingewiesen.10 Nun sollte sich in der öffentlichen Debatte jener Eindruck zu einer Gefahrendebatte über zahlreiche Wirkstoffe festigen. Für zahlreiche ›Experten‹ stand fest: Die Laienveröffentlichungen seien nicht dazu geeignet, wissenschaftliche Diskussionen zu reflektieren oder gar an ihnen teilzunehmen, so der Tenor. Die wissenschaftlichen Netzwerke stellten sich somit bewusst gegen eine Übersetzungsarbeit der Journalisten und verharrten in ihren autoritären Kommunikations- und Wissensstrukturen. So sprach sich auch Dietrich Lorenz, Fachpharmakologe der DPHG Köln, im Dezember 1961 in einem Zeitungsartikel gegen die nichtmedizinischen Veröffentlichungen aus: »Von fachlicher Seite kann jedoch nicht zur Art und Form der Publizistik geschwiegen werden, mit der die breite Öffentlichkeit über die Möglichkeit von Mißbildungen nach Contergan-Gebrauch während der Schwangerschaft in Kenntnis gesetzt wurde. Es ist für jeden Arzt selbstverständlich, möglichst frühzeitig seine Berufskollegen und alle verantwortlichen Stellen über Nebenwirkungen eines Arzneimittels zu informieren, wenn es gilt, etwaiges weiteres Unheil zu vermeiden. Es erscheint aber nicht gerechtfertigt, breite Bevölkerungskreise mit Nachrichten zu beunruhigen, deren Stichhaltigkeit vorerst keiner statistischen Prüfung standhält.«11
Lorenz appellierte eindringlich an die Bevölkerung, die Nebenwirkungen des Medikaments als »Vermutung«12 zu betrachten, die bisher nicht nachgewiesen seien.13 Mediziner wie auch Politiker seien indes darum bemüht, den fehlenden Nachweis der Kausalität zu bekräftigen. Auch Widukind Lenz, der in der Öffentlichkeit als Entdecker des möglichen Zusammenhanges gefeiert wurde, kam in
9
Vgl. Wolfgang Berkefeld, Mißbildungen durch Schlafmittel?, in: DER TAGESSPIEGEL, 29.11.1961, BArch N 189/11731, fol. 364.
10 Siehe dazu beispielhaft W. Eberhardt, Gibt es harmlose Arzneimittel? 11 Dietrich Lorenz, Es sind nur Vermutungen, in: KÖLNER STADT ANZEIGER, 02.12.1961, BArch N 189/11731, fol. 374. Siehe dazu auch A.H. Crumbach, Contergan im Diskurs, S. 75. 12 D. Lorenz, Es sind nur Vermutungen. 13 Vgl. ebd.
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verschiedenen Zeitungsartikeln zu Wort. Auch er mahnte zu Zurückhaltung, da eine wissenschaftliche Überprüfung der Kausalitätsthese noch ausstehe.14 Dennoch konnten sich viele Leser nicht des Eindrucks erwehren, die Kausalität sei schon längst bewiesen und zwar durch die Rücknahme des Medikaments durch die Firma Chemie Grünenthal. Die AACHENER NACHRICHTEN, eine Lokalzeitung aus der direkten Umgebung des Firmensitzes Stolberg, kritisierten bereits am 29. November 1961 die aufgebrachte Stimmung: »Verdächtigungen, Vermutungen und Beschuldigungen lösen einander ab, seitdem das bekannte Schlafmittel ›Contergan‹ sozusagen unter Verdacht aus dem Handel gezogen worden ist. Zwar hatte der Hamburger Arzt Dr. Lenz betont, daß der Zusammenhang zwischen Mißbildungen bei Neugeborenen und Contergan-Gebrauch der Mutter während ihrer Schwangerschaft wissenschaftlich noch keineswegs erwiesen sei, doch gibt es viele Laien, die das sehr viel besser ›wissen‹ und ›beurteilen‹.«15
Auch der Pharmazeut Siegfried Beyer-Enke äußerte sich in einer Fachzeitschrift kritisch zu der »Sensationslust« der Presse. Er sah in der öffentlichen Debatte eine Gefahr für die Laienöffentlichkeit, welche die wissenschaftlichen Tatsachen nicht richtig einschätzen könne: »[…] wobei die Öffentlichkeit durch die unsinnigsten Mutmaßungen und Verdächtigungen aufs äußerste erregt und beunruhigt wurde.«16 Das Resultat sei eine »Vertrauenskrise« in die Pharmaindustrie und ihre Produkte – nicht zuletzt auch gegenüber dem Apotheker und Arzt.17 Diese Appelle pharmazeutischer Akteure zeugen von dem Versuch, den eigenen Expertenstatus zu stärken und gleichzeitig eine Panikreaktion zu verhindern. Auch die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft beschäftigte die Frage, wie mit dem spannungsgeladenen Verhältnis zwischen ›Experten‹ und ›Laien‹ umzugehen sei. Der Contergan-Fall stellte auch für sie eine besondere Ausnahmesituation dar, schließlich war zum einen das Vertrauen in die pharma-
14 Vgl. W. Berkefeld, Mißbildungen durch Schlafmittel; Eigener Bericht, Fußsohlen kribbelten Stechen in den Händen, in: ABENDPOST, 28.11.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 67a, 67009; lnw, »Contergan« nicht mehr im Handel, in: AACHENER NACHRICHTEN, 28.11.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 67a, 67006. 15 Eigener Bericht, Was ist los mit »Contergan«?, in: AACHENER NACHRICHTEN, 29.11.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 67a, 67011. 16 Siegfried Beyer-Enke: Arzneimittel-Affären, Tatsachen, Möglichkeiten und Schlußfolgerungen, in: DER DEUTSCHE APOTHEKER, 1/14 (1962), S. 1-12, hier S. 1. 17 Vgl. ebd.
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zeutische Industrie – im Speziellen in das Erfolgsprodukt Contergan – erschüttert, zum anderen ging es auch um den öffentlichen Expertenstatus von Ärzten und Pharmazeuten, die das Medikament verschrieben und verkauft hatten. Auf der Jahressitzung der Kommission im Februar 1962 diskutierten die Teilnehmer über die Folgen der öffentlichen Debatte und befanden, diese seien keineswegs für die wissenschaftliche Untersuchung günstig. Von »sensationelle[n] Berichte[n] in der Tagespresse« war die Rede, die geradezu »panikartigen Schrecken unter werdenden Müttern«18 hervorgerufen hatten. Die wissenschaftliche Seite bemühte sich weiterhin, medizinische Erklärungskonzepte zu liefern. Dass sie sich so intensiv mit der Laiendebatte auseinandersetzte, zeigt das Konfliktpotenzial und die Tragweite der Diskussion: ›Experten‹ und ›Laien‹ standen sich in einem Spannungsfeld gegenüber, und es galt nun, die Deutungshoheit zu verteidigen oder für sich zu gewinnen. Es stellt sich daher die Frage, wie diese beiden Gruppen mit ihrem Wissen umgingen und wie sie es übersetzten. Einzelne Journalisten versuchten beispielsweise, medizinische ›Experten‹ für sich zu gewinnen, um den Übersetzungsprozess zu verbessern. Sie lobten den Einsatz der Ärzte und ihre wissenschaftliche Expertise.19 Allerdings waren nur wenige Ärzte dazu bereit, sich in das neue Rampenlicht zu stellen. Deshalb blieben die Übersetzungen den medizinischen ›Laien‹ überlassen. Sie schufen eine zweite Wissensebene, auf der nicht die wissenschaftliche Tatsache im Mittelpunkt stand, sondern deren gesellschaftlichen, politischen und juristischen Folgen. Die medizinischen ›Experten‹ straften dieses Vorgehen als »Sensationslust«20 ab, ohne die Tragweite der Debatte zu erkennen.
18 Bericht über die Sitzung der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, in: ÄRZTLICHE MITTEILUNGEN, 9 (1962), S. 477-478, hier S. 478. 19 B. Schumacher/T. Busset, Der Experte, S. 17: »Deutlich ist indessen, dass der Status von Experten von ihrem gesellschaftlichen Umfeld abhängt. Wissen scheint als relevantes Expertenwissen wahrgenommen zu werden, wenn es den Erwartungen gesellschaftlich einflussreicher Gruppen entspricht.«. 20 S. Beyer-Enke: Arzneimittel-Affären, S. 1.
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3.2 DIE VERSELBSTSTÄNDIGUNG DES MEDIALEN DISKURSES: SKANDALISIERUNG UND DER VERSUCH, ›EXPERTEN‹-AUTONOMIE ZU BEWAHREN Ab Dezember 1961 verlagerte sich die mediale Diskussion: Sie dekonstruierte zum einen die wissenschaftliche Tatsache und belegte diese zum anderen mit neuen Bedeutungen, die nicht mehr rein wissenschaftlicher Natur waren. DER SPIEGEL sprach im Dezember 1961 erstmals von einer »Medizin-Affäre«21. Die Presse hatte sich von den medizinischen Beschreibungen gelöst und den Contergan-Fall eigenständig interpretiert.22 Sie konstruierte das Medikament Contergan als ernstzunehmende Gefahr für die moderne Gesellschaft.23 Die neurologischen Nebenwirkungen, die innerhalb der Fachwissenschaft so intensiv diskutiert worden waren, traten immer weiter in den Hintergrund. Entscheidend war nun die Frage nach der furchtschädigenden Wirkung des Medikaments und nach der Sicherheit des Arzneimittelsystems in der Bundesrepublik. Einzelne mediale Akteure übernahmen eine eigenständige Rolle als Übersetzer. So veröffentlichte im Dezember 1961 DER SPIEGEL einen Artikel mit der Überschrift »Kalte Füße«24, in dem er von den teratogenen Nebenwirkungen des Medikaments, der Firmenpolitik der Firma Chemie Grünenthal und dem engagierten Auftreten einzelner Ärzte berichtete. Zugleich verwies er auf seine eigene Berichterstattung, deklarierte diese gar als unverzichtbare Informationsquelle nicht nur für ›Laien‹, sondern auch für zahlreiche medizinische ›Experten‹: »Was manche Ärzte aus den Fachzeitschriften lernten, viele aber erst von Patienten erfuhren, die den im August veröffentlichten Contergan-Bericht des Spiegel gelesen hatten, wußten die Grünenthal-Werke schon seit Herbst 1959.«25
21 Kalte Füße, in: DER SPIEGEL, Nr. 50 (1961), S. 89-93, hier S. 89. 22 Vgl. B. Schumacher/T. Busset, Der Experte, S. 16: »[…], dass uns weniger interessieren sollte, inwiefern diese Wissensbestände mit der ›Realität‹ übereinstimmten, sondern vielmehr die Prozesse, durch die Wissen über einen Gegenstand etabliert wurde, inwiefern also bereits das ›Machen von Wissen Macht bedeutet‹«. 23 Vgl. Schlafmittel »Contergan« wird scharf überprüft, in: KÖLNISCHE RUNDSCHAU, 28.11.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 67a, 67007; Gerhard Knuth, Heimtückisches Schlafmittel wird untersucht, in: KIELER NACHRICHTEN, 28.11.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 67a, 67008. 24 Vgl. Kalte Füße, S. 89-93. 25 Ebd., S. 91.
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Alle wesentlichen Akteure fanden in diesem Artikel Erwähnung: Ärzte, Vertreter der Firma und Journalisten – nur die Betroffenen selbst blieben zunächst außen vor. DER SPIEGEL knüpfte an die Geschichte »Zuckerplätzchen forte« vom August 1961 an, weitete die Geschichte allerdings aus. Er bezeichnete die neuen Entwicklungen als »Medizin-Affäre«, die Chemie Grünenthal zu verantworten habe.26 Das Unternehmen habe sich trotz der bekannten Gefahren nicht dazu veranlasst gesehen, das Medikament gänzlich vom Markt zu nehmen. »›Die Frage, dieses gute Präparat aus dem Handel zu nehmen,‹ erklärte der Syndikus der Chemie Grünenthal, Dr. von Veltheim, ›stand für uns nicht zur Debatte«, wurde der Rechtsanwalt des Unternehmens zitiert.27 DER SPIEGEL stellte neben Chemie Grünenthal weitere Akteure des ›Skandales‹ vor: da war einerseits das nordrhein-westfälische Innenministerium und da war auf der anderen Seite, als Gegenspieler, der Arzt Widukind Lenz. Das Engagement von Lenz wurde als individuelle, medizinisch-ethische Leistung hervorgehoben. Lenz habe sich »[a]ls Mensch und Staatsbürger« geäußert, der es nicht mit seinem »Gewissen als Arzt […] [habe] vereinbaren« können »zu schweigen.«28 Für den SPIEGEL war dieses Engagement ausschlaggebend dafür, dass das Medikament schließlich doch zurückgenommen wurde: »Einen Tag später, offenbar angesichts der ›Riesengefahr, wenn die Unterlagen zu Recht bestehen könnten‹ (Grünenthal-Wissenschaftler Dr. von Schrader-Beilestein), bekam die Firmenleitung, was manche Contergan-Esser als harmloseste Folge des SchlafmittelKonsums verspürt hatten: kalte Füße. Am Sonnabend vorletzter Woche beschloß Chemie Grünenthal, Contergan aus dem Handel zu nehmen. […] Daß der Verkaufsstopp angebracht war, bestätigte letzten Donnerstag ein Gremium von Wissenschaftlern, die von der Landesregierung Nordrhein-Westfalen zu einer Geheimsitzung über Contergan eingeladen worden waren. ›Es läßt sich nicht ausschließen‹, verlautbarte die Professoren-Kommission nach vielstündiger Sitzung, ›daß mindestens in ungünstigen Fällen nachteilige Wirkungen auf die kindliche Entwicklung eintreten können.‹«29
DER SPIEGEL deutet hier an, wie Wissen im Contergan-Fall zunächst ausgehandelt wurde. Diese Kommunikationsprozesse fanden intern, im Geheimen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt: auf der Kinderärztetagung, in Telefongesprächen zwischen Lenz und der Firma und in Gesprächen mit dem Innenminis-
26 Vgl. Kalte Füße, S. 89. 27 Ebd., S. 92. 28 Ebd., S. 93. 29 Ebd.
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terium30. Deutlich zeigt sich daran die Hierarchie von Wissen und Nichtwissen, »die Existenz von zwei unterschiedlichen und nicht vergleichbaren Formen des Wissens«31. Bestimmte Akteure wie die Öffentlichkeit wurden von diesem Wissensgenerierungsprozess bewusst ausgeschlossen.32 Zu den weiteren Akteuren gehörten die Fürsprecher von Contergan. Die Herstellerfirma verteidigte ihr Vorgehen, indem sie – ähnlich wie zahlreiche andere wissenschaftliche Akteure – darauf verwies, es fehle die Bestätigung der Kausalität.33 Rückendeckung erhielt die Firma unter anderem aus dem pharmazeutischen Bereich. Die PHARMAZEUTISCHEN ZEITUNG erklärte, die Folgen von Contergan seien ein staatlicher Notfall und müsse von staatlicher Seite, nicht von der Herstellerfirma gelöst werden34, und der Apotheker Beyer-Enke ließ keinen Zweifel daran, dass die Firma Chemie Grünenthal den Vorschriften entsprechend gehandelt habe. Er definierte die Folgen von Contergan als »verhängnisvoller und tragischer Ausnahmefall und nicht als Gradmesser für vorhandene arzneigesetzliche Lücken und Versäumnisse.«35 Von ärztlicher Seite wurde immer wieder auf die Verantwortung der pharmazeutischen Industrie hingewiesen. Die Ärzte seien nicht in der Lage, den stetig wachsenden Arzneimittelmarkt im Auge zu behalten und die Vielzahl an neuen Produkten zu überblicken.36 Deshalb habe man Vertrauen in die seriösen altbekannten Firmen und ihre Arbeit und kooperiere mit ihnen.37 Ebenso unterstützte Beyer-Enke die Haltung der Bundesgesundheitsministerin:
30 Das Ministerium hatte als erste Maßnahme eine Sachverständigenkommission eingesetzt, die wissenschaftlich überprüfen sollte, ob eine Kausalität zwischen dem Medikament und den Folgen bestand. 31 Vgl. B. Schumacher/T. Busset, Der Experte, S. 16. 32 So klammerte das Innenministerium die Öffentlichkeit aus der Debatte in der Sachverständigenkommission aus. Nur dem Innenminister war es erlaubt, öffentlich Stellung zu den Ergebnissen der Sachverständigenkommission abzugeben. Niederschrift über die Sitzung der vom Innenminister einberufenen Sachverständigenkommission am 30. November 1961, S. 2, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, 55b, 55197-55207, hier 55198. 33 Vgl. Gehört nicht in die breite Öffentlichkeit, in: ABENDPOST, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 67a, 67025. 34 Vgl. Dr. M., Contergan und anderes, in: PHARMAZEUTISCHE ZEITUNG, 48 (1961), Bd. 106, S. 1527-1529. 35 Ebd. 36 Vgl. H.-R. Wiedemann, Exogenese von Mißbildungen, hier S. 1349. 37 Ebd., S. 1349-1350.
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»Es zeugt von gesundem und klugem Menschenverstand, aber auch von einsichtigem Weitblick, wenn die frischgebackene Gesundheitsministerin, Frau Dr. Schwarzhaupt [Hervorhebung im Original] auf verfängliche Fragen im Bundestag und bei einem Interview der Unterhaltungszeitschrift ›Welt am Sonntag‹ so kurze klare Antworten erteilt, wie sie sie tatsächlich gegeben hat.«38
Als »primitiv« wertete er den Versuch, den Staat oder die Behörden für den Vorfall verantwortlich zu machen.39 Das Interesse der Presse strafte er als »reine Sensationslust und bar jeder gebotenen Sachlichkeit«40 ab. Sie führe, so BeyerEnke, zur medialen Konstruktion einer neuen Gefahr. Weder pharmazeutische noch medizinische Akteure hatten damit gerechnet, dass die Laienöffentlichkeit sich so für dieses Thema interessieren würde und es ohne ihre Hilfe in eine nichtmedizinische Sprache zu übersetzen vermochte. Werner Koll, Vorsitzender der Deutschen Ärztekammer, erklärte in einem Vortrag, der in den Ärztlichen Mitteilungen im Oktober 1962 abgedruckt wurde: »Die Art und das Ausmaß des Thalidomid-Unglücks haben die Öffentlichkeit zutiefst erschreckt und haben dazu geführt, daß die Frage schädlicher Wirkungen von Arzneimitteln und vorbeugender Maßnahmen gegen Wiederholungen in einem bisher nicht erlebten Maße in der Presse und an manchen anderen Orten diskutiert wird. Trotz des verständlichen und berechtigten Interesses der Öffentlichkeit an diesem Fall möchte ich hier nicht Einzelheiten dieses bedrückenden Vorkommnisses behandelt, denn die Einzelheiten abgeschlossener Untersuchungen sind mir noch nicht bekanntgeworden.«41
Koll verwendete bewusst den Begriff »Thalidomid-Unglück«. Er vermied es damit, sich der Sprache der Medien zu bedienen, die den Begriff Contergan bevorzugten. Mit dem Begriff ›Unglück‹ wird gemeinhin eine schicksalhafte, nicht zu beeinflussende Einzelsituation bezeichnet, die nicht vergleichbar ist mit auch im Falle Contergan genutzten Begriffen wie ›Katastrophe‹ (unvermitteltes, großes, ganze Bevölkerungen betreffendes Schadensereignis) oder ›Skandal‹ (aufsehenerregendes, vermeidbares, unmoralisches Verhalten zum Schaden anderer). Kolls Kritik richtete sich vor allem an die Journalisten: Sie würden die Bemü-
38 S. Beyer-Enke, Arzneimittel-Affäre, S. 5. 39 Vgl. ebd., S. 1. 40 Ebd. 41 Werner Koll, Arzneimittelverbrauch und Arzneimittelschäden, in: ÄRZTLICHE MITTEILUNGEN,
43 (1962), S. 2204-2208, hier S. 2204.
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hungen vonseiten der pharmazeutischen und medizinischen ›Experten‹ nicht richtig wiedergeben: »Das Thalidomid-Unglück wird nunmehr seit Wochen und Monaten in der Öffentlichkeit diskutiert und daran die Forderung geknüpft, durch schärfere Kontrollen und durch Maßnahmen im Verkehr mit Arzneimitteln größere Sicherheit gegenüber Schäden zu schaffen. Diese Forderungen an den Gesetzgeber sind verständlich, aber man sollte darüber nicht vergessen, daß der Fall des Thalidomids nur eine Situation grell beleuchtet hat, welche einsichtige Ärzte seit langem mit Besorgnis erfüllt und sie zu entsprechenden Forderungen veranlaßt haben.«42
Die Sprache der wissenschaftlichen Netzwerke blieb also ihren bekannten Logiken und Begriffen verhaftet. Die ›Experten‹ sahen keinen Grund, eine Übersetzung für die nichtmedizinische Öffentlichkeit anzustreben. Vielmehr argumentierten sie, eine Informationspolitik für die breitere Öffentlichkeit sei unnötig, da die hierarchischen Wissensstrukturen zwischen ›Experten‹ und ›Laien‹ inhärent und notwendig seien.
3.3 IN SICHERHEIT WIEGEN: DIE POLITISCHEN ›EXPERTEN‹ BEGINNEN IHRE ARBEIT Die kontroversen Diskussionen über eine Beteiligung von ›Laien‹ am medizinischen Diskurs ließen die politischen Akteure auf Bundes- und Landesebene nicht unberührt. Sie machten es den wissenschaftlichen ›Experten‹ gleich, indem sie die mediale Öffentlichkeit beschwichtigten und einen Einbezug von ›Laien‹ in die Debatte verweigerten. Elisabeth Schwarzhaupt, Bundesgesundheitsministerin seit November 1961, schien zunächst dem nordrhein-westfälischen Innenministerium den Vortritt zu lassen und lehnte jegliche juristische Verantwortung des Bundes ab. Diese Erklärung war gesetzlich richtig, da das Arzneimittelwesen in der Verantwortung der einzelnen Bundesländer lag, in der Öffentlichkeit führte die Kompetenzverteilung aber zu Irritationen. Neben der wissenschaftlichen Expertenmeinung galt es daher nun auch, die politischen Vertreter in jener Sache zu hören. Diese mussten sich als gesundheitspolitische ›Experten‹ profilieren, was sich angesichts einer fehlenden gesundheitspolitischen Agenda und mangelnder Erfahrungen schwierig erwies. Besonders Elisabeth Schwarzhaupts Start als Bundesgesundheitsministerin war von
42 Vgl. W. Koll, Arzneimittelverbrauch und Arzneimittelschäden, S. 2206.
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einigen Schwierigkeiten begleitet. Ihre Position als politische Expertin war von Beginn an nicht gefestigt. Dies hatte unterschiedliche Gründe: Die Besetzung des Ministeramtes mit einer Frau galt als unliebsames Zugeständnis Adenauers an den Frauenflügel in der CDU.43 Elisabeth Schwarzhaupt äußerte sich rückbli-
43 Da die Regierung der Bundesrepublik bis zur vierten Wahlperiode kein Gesundheitsministerium hatte, übernahmen unterschiedliche Bundesministerien Aufgaben, die im November 1961 Elisabeth Schwarzhaupts Ministerium zugeordnet wurden. Wahrscheinlich hat der Umstand, dass die Bundesrepublik als einziges EWG-Land kein Gesundheitsministerium hatte, weniger zu der Einrichtung geführt als personalpolitische Entscheidungen. In Elisabeth Schwarzhaupts Biografie äußerten die Autorinnen zudem die Vermutung, dass endlich langjährigen Forderungen aus der Ärzteschaft und der Deutschen Zentrale für Volksgesundheitspflege nachgegeben worden sei – was jedoch dann die Frage aufwirft, warum in der Regierungserklärung 1961 sehr viel mehr Wert auf den Umweltschutz gelegt wurde. In der Regierungserklärung 1961 erklärte Ludwig Erhard stellvertretend für Konrad Adenauer, der Erhalt der Gesundheit des Einzelnen und des Volkes habe die Bundesregierung dazu veranlasst, ein Bundesministerium für Gesundheitswesen einzurichten. Dringende Fragen seien Luftverbesserung und Lärmbekämpfung. Somit stand der Umweltschutz im Vordergrund, erst später in der Erklärung finden wir Hinweise auf den Impfschutz und den Schutz der Gesundheit. Dass das Amt des ersten Bundesgesundheitsministers mit einer Frau besetzt wurde, lag weniger an der Bedeutung, die Adenauer dem neuen Ministerium zuwies, sondern war vielmehr dem Druck einiger CDU-Frauen geschuldet. Schon seit Jahren hatte die Frauenunion versucht, eine weibliche Ministerin durchzusetzen. Das Familienministerium blieb Schwarzhaupt 1957 noch verschlossen, wichtiger war es den führenden CDU-Frauen (Helene Weber, Ilse Bab, Änne Brauksiepe und Elisabeth Schwarzhaupt) ohnehin, überhaupt ein Ministerium zu besetzen. Als Adenauer scheinbar sein Versprechen nicht halten wollte, das vierte Kabinett mit einer Ministerin zu besetzen, erhöhten sie den Druck auf den Bundeskanzler. Am 10. November 1961 hieß die erste weibliche Bundesministerin Elisabeth Schwarzhaupt. Siehe dazu Harald Ille, Elisabeth Schwarzhaupt als Bundesgesundheitsministerin (1961-1966), Magisterarbeit, Frankfurt 2003, hier S. 36-40; Hessische Landesregierung (Hg.), Elisabeth Schwarzhaupt (1901-1986). Portrait einer streitbaren Politikerin und Christin, Freiburg u.a. 2001. Siehe zu Elisabeth Schwarzhaupt auch die unveröffentlichte medizinische Doktorarbeit von Nina Stenger. Diese Arbeit ist ein biografischer Abriss über die Person Schwarzhaupt, ohne tiefergehend ihre gesundheitspolitischen Ansätze zu analysieren, vgl. Nina Stenger, Elisabeth Schwarzhaupt (1901-1986). Erste Gesundheitsministerin der Bundesrepublik Deutschland. Leben und Werk, Inauguraldisserta-
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ckend über ihren Amtsantritt: »Also übernahm ich ein Ministerium, das es noch gar nicht gab, in dem Bewußtsein, eine von meinen Kolleginnen schwer erkämpfte Alibifrau zu sein.«44 Zudem galt Schwarzhaupt nicht als medizinische Expertin, da sie von Hause aus Juristin war. Das Geschlecht von Schwarzhaupt wurde im Zuge der medialen Berichterstattung über die Besetzung des Ministeramtes viel diskutiert. Allein die Vermutung, sie könne eine Alibifrau für Adenauer gewesen sein, unterminierte ihre fachliche Autorität. Außerdem war sie ebenso wie ihr Stellvertreter keine Medizinerin, sondern Juristin. Ihr bisheriger Schwerpunkt war die Familienpolitik. Das Justizministerium, das Schwarzhaupt gerne übernommen hätte, wurde ihr jedoch nicht angboten, sondern das scheinbar ›weibliche‹ Ressort der Gesundheitspolitik.45 Nach ihrer Amtseinführung beglückwünschte die Boulevardzeitung QUICK dennoch alle Frauen und feierte die neue Ministerin als Triumph für alle Frauen in Westdeutschland.46 Andere Medien wiederum freuten sich darüber, dass Schwarzhaupt keine »Suffragette« sei.47 Erschwert wurde Schwarzhaupts Amtsantritt durch das Bekanntwerden des Contergan-Falles, wodurch fehlende Strukturen und unklare Kompetenzverwaltung in der jungen Behörde sichtbar wurden. Der Journalist Gerhard Knuth kritisierte bereits einen Tag nach Bekanntwerden des Contergan-Falles die bürokratischen Wirren zwischen Bund und Ländern, die ein schnelles Eingreifen unmöglich gemacht hätten: »Wenn man bedenkt, mit welchem bürokratischen Aufwand über die Zweckmäßigkeit einer Einführung der Schluckimpfung gegen die Kinderlähmung in den letzten Monaten verhandelt, beraten und diskutiert worden ist, dann kann man nicht umhin, den zuständigen Behörden im Falle der Thalidomid-Präparate wegen ihres Zögerns und ihrer Berufung auf Kompetenzschwierigkeiten zwischen Bund und Ländern einen Vorwurf zu machen. Der Volksgesundheit ist damit nicht gedient. Die medizinische Wissenschaft hatte doch rechtzeitig genug gewarnt!«48
tion zur Erlangung des zahnmedizinischen Doktorgrades der Zahnmedizinischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 2003. 44 Hessische Landesregierung (Hg.), Elisabeth Schwarzhaupt, S. 88. 45 Vgl. H. Ille, Elisabeth Schwarzhaupt als Bundesgesundheitsministerin, S. 40. 46 Vgl. So weit habt ihr’s gebracht. Quick gratuliert allen Frauen zur ersten Bundesministerin, in: QUICK, 10.12.1961, S. 14-15, hier S. 14. 47 Vgl. Hessische Landesregierung (Hg.), Elisabeth Schwarzhaupt, S. 93. 48 Gerhard Knuth, Heimtückisches Schlafmittel wird untersucht, in: Kieler Nachrichten, 28.11.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 67a, 67008.
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Knuth bediente sich des wissenschaftlichen Begriffs Thalidomid und blieb somit in dem medizinischen Sprachgebrauch verwurzelt. Gleichzeitig verwies er jedoch auf Warnungen medizinischer ›Experten‹ vor den Nebenwirkungen und griff eine zentrale Fragestellung auf: Hatten die Behörden und Ministerien den Warnungen nicht genug Glauben geschenkt? Der Artikel deutete hier bereits an, was Monate später zu einer ernstzunehmenden Problematik für die Ministerien werden sollte. Gleichzeitig offenbarten Bundes- und Landesbehörden eine fehlende gemeinsame Kommunikationsstrategie, insbesondere da die Kompetenzverteilung hätte deutlicher erklärt werden müssen. Die Aufgaben des Bundesministeriums waren nach innen und außen noch undefiniert, die Abgrenzung zu anderen Bundesministerien noch unpräzise. Das neue Ministerium hatte weder eine Arbeitsagenda noch Räumlichkeiten und Personal.49 Rein formell war das nordrhein-westfälische Innenministerium für alle Fragen in Hinblick auf pharmazeutische Produkte zuständig, damit auch für Contergan. Es reagierte als politischer ›Experten‹ nicht zuletzt auf die Hinweise von Widukind Lenz im Herbst 1961. Noch im Sommer 1961 hatte das Ministerium keinerlei Veranlassung gesehen, die zunehmenden Anfragen zur Unverträglichkeit näher zu untersuchen. Wie Willibald Steinmetz herausgearbeitet hat, hatte es folgende Devise ausgegeben: »z.Zt. nichts zu veranlassen«50. Im November 1961 änderte das Ministerium seine Position. Ein politisches Eingreifen war nun unumgänglich geworden. Kurz vor der Rücknahme des Medikaments am 24. November 1961 unterrichtete das nordrhein-westfälische Innenministerium die Gesundheitsbehörden, Ärzte-, Apotheker- und Zahnärztekammer in NRW sowie das Bundesinnenministerium über die aufgetretenen Fälle von »Mißbildungen« bei Neugeborenen.51 In der Presseerklärung des nordrhein-westfälischen Innenministeriums drei Tage später heißt es: Alle thalidomidhaltigen Arzneimittel seien: »von der Herstellerfirma aufgrund einer Vereinbarung mit der Gesundheitsabteilung des NRW-Innenministeriums mit sofortiger Wirkung aus dem Handel gezogen. […] Im Laufe
49 Vgl. Hessische Landesregierung (Hg.), Elisabeth Schwarzhaupt, S. 94. 50 Vgl. W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 210. 51 Vgl. Fernschreiben des Innenministers des Landes Nordrhein-Westfalens – VI A 462.00.18 – vom 24. November 1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 55a, 55014-55016.
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dieser Woche tritt im NRW-Innenministerium eine Expertenkommission zusammen, um die vorhandenen Unterlagen zu prüfen.«52
Neben Elisabeth Schwarzhaupt trat nun der nordrhein-westfälische Innenminister Dufhues als Akteur in Erscheinung. Er habe das Medikament verboten und eine Prüfung angeordnet, hieß es in der Presse. Diese Meldung war allerdings irreführend, da nicht Dufhues, sondern die Herstellerfirma das Medikament vom Markt genommen hatte. Dass die Pressemitteilung anders lautete, verdeutlichte jedoch, wie sich das nordrhein-westfälische Innen-ministerium als starker politischer Akteur in der öffentlichen Berichterstattung zu positionieren suchte.53 In einem Interview mit der NRZ vom 29. November 1961 berichtet der Referent des NRW-Innenministeriums von der schnellen Reaktion der Behörde, ihrem Eingreifen nach Bekanntwerden der ersten medizinischen Berichte über Nebenwirkungen und der Einführung der Rezeptpflicht im Juli 1961.54 Es gab keine Veranlassung, dieser politischen Position zu misstrauen und weitere Informationen und Auskünfte zu fordern. Die Rollen waren klar verteilt: Das nordrheinwestfälische Innenministerium agierte als ›Experte‹ und besaß die Informationshoheit. In der Folge versuchte die Politik, die Klärung des Contergan-Falles als eine Angelegenheit wissenschaftlicher und politischer ›Experten‹ darzustellen, wodurch die Laienöffentlichkeit aus dem Aushandlungsprozess ausgeschlossen werden sollte. Die Bildung einer Expertenkommission durch das nordrheinwestfälische Innenministerium, die die Folgen der Nebenwirkungen untersuchen sollte, führte zu einer weiteren Exklusion der ›Laien‹. Beschwichtigend erklärte der nordrhein-westfälische Innenminister in der DEUTSCHEN ZEITUNG, die Berichte einiger Ärzte seien »stark übertrieben«55. Um den Nebenwirkungen wissenschaftlich auf den Grund zu gehen, habe er eine Expertenkommission einge-
52 Pressenotiz des Innenministers des Landes NRW, Düsseldorf 27.11.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 55a, 55029. 53 Vgl. Schlafmittel aus dem Handel gezogen. Innenminister Dufhues ordnete eine Prüfung an, in: WESTDEUTSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG, 27.11.1961, BArch B 189/11731, fol. 210; Mißgeburten durch Schlafmittel!, in: BERLINER ZEITUNG, 27.11.1961, BArch B 189/11731, fol. 211; Gesundheitsämter prüfen Fälle von Mißbildungen, in: RHEINISCHE POST, 28.11.1961, BArch B 189/11731, fol. 213. 54 Vgl. Hans-Joachim Oertel, Experten prüfen Schlafmittel, in: NRZ, 29.11.1961, BArch B 189/11731, fol 363. 55 L.B. »Contergan« wird überprüft, in: DEUTSCHE ZEITUNG, 01.12.1961, BArch B 189/11731, fol. 366.
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richtet, die nun das Medikament überprüfe und zur Klärung des Falles beitragen werde.56 Mit der Expertenkommission untermauerte Dufhues auch den Standpunkt, wissenschaftliche Diskussionen in einem abgeschlossenen Expertenraum zu verhandeln und stärkte gleichzeitig den Expertenstatus einzelner, von ihm ausgewählten Wissenschaftler, die sich an diesem Prozess beteiligten.57 Die Einrichtung einer Sachverständigenkommission zeugte ebenfalls von dem politischen Versuch, gesundheitspolitische Fragen mithilfe von medizinischen ›Experten‹ zu beantworten.58 Planbarkeit – in diesem Fall über die Einsetzung einer Expertenrunde – sollte Sicherheit und Struktur geben und stand ganz im Zeichen der Begeisterung für Planungskonzepte der 1960er Jahre.59 Die Sachverständigenkommission war jedoch nicht auf zukünftige Fragen ausgerichtet, sondern auf eine aktuelle Krisensituation, die nicht allein von politischen Akteuren gelöst werden konnte. Dies wurde auch an ihrer Aufgabenstellung deutlich: Sie sollte sich mit der medizinischen Kausalitätsfrage auseinandersetzen.60 Der Contergan-Fall wurde als vornehmlich medizinische Krise betrachtet, deren Ursache zunächst wissenschaftlich geklärt werden sollte. Die Mitglieder der Sachverständigenkommission waren namhafte Vertreter der Medizin, vor allem aus dem Bereich der Humangenetik und Pädiatrie. Unter ihnen war auch Widukind Lenz, der die Nebenwirkungen des Medikaments öf-
56 Vgl. ebd. Eigener Bericht: Fußsohlen kribbelten Stechen in den Händen, in: ABENDPOST, 28.11.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 67a, 67009; Gerhard Knuth, Heimtückisches Schlafmittel wird untersucht, in: KIELER NACHRICHTEN, 28.11.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 67a, 67008; Wolfgang Berkefeld, Mißbildungen durch Schlafmittel?, in: TAGESSPIEGEL (Berlin), 29.11.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 67a, 67010. 57 Vgl. W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 212-213. 58 Vgl. Gabriele Metzler, Das Ende aller Krisen?, in: HZ, Band 275 (2002), S. 57-103; Hans Günter Hockerts, Einführung zur Sektion III Planung als Reformprinzip, in: Frese, Matthias/Paulus, Julia/Teppe, Karl (Hg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn u.a. 2005 (= Forschungen zur Regionalgeschichte, Band 44), S. 249-257, hier S. 249. 59 Vgl. ebd. 60 Vgl. Schlafmittel »Contergan« wird scharf überprüft, in: KÖLNISCHE RUNDSCHAU, 28.11.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep 139, Nr. 67a, 67007; Gerhard Knuth, Heimtückisches Schlafmittel wird untersucht, in: KIELER NACHRICHTEN, 28.11.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 67a, 67008; Eigener Bericht, Fußsohlen kribbelten Stechen in den Händen, in: ABENDPOST, 28.11.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 67a, 67009.
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fentlich bekannt gemacht hatte. Die Mitgliederliste verdeutlicht den Arbeitsschwerpunkt der Sachverständigenkommission. So waren die Professoren Heinz Weicker, Hans Schönenberg, Wilhelm Kosenow, Hans-Rudolf Wiedemann, Karl Klinke, Hermann Mai, Carl Bennholdt-Thomsen und Ulrich Köttgen als Vertreter der Orthopädie und Pädiatrie vor Ort. Einen humangenetischen Schwerpunkt setzten die Professoren Hans Nachsheim, Karl-Heinz Degenhard und der bereits erwähnte Widukind Lenz. Prof. Dr. Gerhard Kärber vertrat das Bundesgesundheitsamt. Prof. Dr. Werner Koll war als Mediziner und Pharmakologe hinzugezogen worden.61 Der Humangenetiker Hans Nachtsheim hatte während der nationalsozialistischen Diktatur die Leitung der Abteilung für experimentelle Erbpathologie des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik inne.62 So fungierte rund 15 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges Nachtsheim als humangenetischer ›Experte‹ für das Innenministerium NRW.63 Die Teilnehmer der Expertenkommission trafen sich erstmalig am 30. November 1961 im Düsseldorfer Landtag.64 Von der einberufenen medizinischen Sachverständigenkommission erwartete der Innenminister: »Auskunft über die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenhangs zwischen dem Anstieg der Mißbildungen und der Medikation mit Thalidomidhaltigen Arzneimitteln. Diese Feststellung sei für die Begründung und die Aufrechterhaltung der von der Firma Chemie Grünenthal veranlaßten Zurückziehung des Thalidomid aus dem Verkehr, aber auch für ein evtl. ordnungsbehördliches Vorgehen von Bedeutung.«65
61 Vgl. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 345-346. 62 Vgl. M. Engel, »Nachtsheim, Hans«, in: Neue Deutsche Biographie 18 (1997), S. 684686, http://www.deutsche-biographie.de/pnd118785559.html vom 13.02.2018; Artikel: Nachtsheim, Hans, in: Klee, Ernst (Hg.), Deutsche Medizin im Dritten Reich. Karrieren vor und nach 1945, Frankfurt am Main 2001, S. 427. 63 Seit 1958 war Nachtsheim auch im Bundesgesundheitsrat tätig und ab 1961 im Wiedergutmachungsausschuss der »Ausschaltung der Erbkranken aus der Fortpflanzung«; Vgl. Artikel »Nachsheim, Hans«, in: Klee, Ernst (Hg.), Deutsche Medizin im Dritten Reich. Karrieren vor und nach 1945 Frankfurt am Main 2001, S. 427. 64 Vgl. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 346. 65 Vgl. Niederschrift über die Sitzung der vom Innenminister einberufenen Sachverständigenkommission am 30. November 1961, S. 2, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, 55b, 55197-55207, hier 55198.
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Als eigenständige »behördliche Institution«66 des nordrhein-westfälischen Innenministeriums waren die Mitarbeiter (Teilnehmer) zu Vertraulichkeit und Verschwiegenheit verpflichtet. Sie sollten ein wissenschaftlich fundiertes Urteil fällen, ob ein ordnungsbehördliches Vorgehen vonnöten sei. Die polyneuritischen Nebenwirkungen bei erwachsenen Patienten verhandelte die Expertenkommission nicht. Somit konzentrierte sich der von dem nordrhein-westfälischen Innenministerium angeleitete wissenschaftliche Diskurs allein auf die mögliche teratogene Wirkung. Diese Fokussierung auf die Teratogenität lenkte die Debatte der nächsten Jahre. Schon hier zeichnete sich die Nichtberücksichtigung der erwachsenen Contergangeschädigten ab. In der ersten Sitzung der Kommission betonte Ministerialdirigent Dr. Studt als Vertreter des nordrhein-westfälischen Innenministeriums noch einmal, dass die Teilnehmer zur Geheimhaltung verpflichtet seien. Nur der nordrheinwestfälische Innenminister Dufhues habe die Erlaubnis, eine Erklärung an die Öffentlichkeit abzugeben. Damit reagierte das Ministerium auf die alarmierte Öffentlichkeit, die nicht weiter beunruhigt werden sollte. Der Innenminister sei das alleinige Sprachrohr.67 Den Sachverständigen kam die Rolle der Berater und ›Experten‹ zu, die die wissenschaftliche Untersuchung koordinierten und das nordrhein-westfälische Innenministerium über ihre Erkenntnisse informierten. Ihre Ausführungen dienten als Leitfaden für das Landesministerium, das sich an den sprachlichen Ausführungen ihrer ›Experten‹ für seine Stellungnahmen orientierte. Nur einen Tag nach der ersten Sitzung der Sachverständigenkommission ging ein Schnellbrief des nordrhein-westfälischen Innenministeriums an das Bundesministerium für Gesundheit in Bonn sowie nachrichtlich an die obersten Gesundheitsbehörden der Länder und den Präsidenten des Bundesgesundheitsamtes. Darin informierte es die Bundesbehörden über die ersten Ergebnisse der Sachverständigenkommission. Wie Lenhard-Schramm beobachtet hat, war vor der Einrichtung der Expertenkommission in der ministeriellen Korrespondenz von ›Mißbildungen‹ und Contergan die Rede.68 Nun hieß es, die Expertenkommission habe festgestellt, dass der Verdacht der teratogenen Wirkung von Thalidomid durchaus begründet sei, wenn auch andere Faktoren nicht im Vorhinein ausgeschlossen werden könnten. Die offizielle Kommunikation des Lan-
66 Niederschrift über die Sitzung der vom Innenminister, 55197. 67 Vgl. Niederschrift über die Sitzung der vom Innenminister einberufenen Sachverständigenkommission am 30. November 1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, 55b, 55197. 68 Vgl. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 350.
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desinnenministeriums orientierte sich somit an dem medizinischen Sprachgebrauch Thalidomid. Die Kommission dränge auf eine generelle Rezeptpflicht aller neu zugelassenen Medikamente, die von der Bundesgesundheitsministerin Schwarzhaupt zu prüfen seien.69 Der Wunsch nach einer generellen Überprüfung neuzugelassener Medikamente auf Bundesebene war jedoch durch das gerade erst erlassene Arzneimittelgesetz rechtlich nicht möglich. Das Gesetz übertrug immer noch die Verantwortung an die Länder, Folge der 1961 noch immer noch unklaren Kompetenzaufteilung. Das Innenministerium wie auch das Bundesministerium für Gesundheit erhielten also von der Sachverständigenkommission eine wissenschaftliche Bestätigung des Anfangsverdachts. Die Öffentlichkeit sollte unterdessen nur wenig von den Abläufen in der Sachverständigenkommission erfahren. Über die Presseerklärungen des nordrhein-westfälischen Innenministeriums vom 1. Dezember 1961 gelangten nur allgemeine, generalisierende Informationen an die Öffentlichkeit.70 Es sei möglich, so hieß es, dass die thalidomidhaltigen Medikamente sich nachteilig auf die Entwicklung des ungeborenen Kindes auswirken können. Was Thalidomid war und welche Schädigungen gemeint waren, ließ das Innenministerium offen. Von Contergan war nicht mehr die Rede. Als politischer ›Experten‹ definierte das nordrhein-westfälische Innenministerium, wie viele Sachinformationen nach außen gelangten. Sprachlich orientierte es sich an den Vorgaben der wissenschaftlichen ›Experten‹: In seiner Erklärung griff das nordrhein-westfälische Innenministerium auf den sperrigen und für ›Laien‹ zu diesem Zeitpunkt nicht anschlussfähigen wissenschaftlichen Begriff Thalidomid und vermied den Begriff Contergan.71
69 Vgl. Schnellbrief des Innenministers NW VI A 4 – 62.00.18 – an Frau Bundesminister für Gesundheitswesen in Bonn vom 01.12.1961, nachrichtlich an die obersten Gesundheitsbehörden der Länder, den Herrn Präsidenten des Bundesgesundheitsamtes, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 55b, 55220. 70 Vgl. W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 212-213; Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 350. 71 Es gab keine Publikation eines Abschlussberichtes. Vielmehr wurde eine Arbeit von Jörn Gleiss 1963 an das nordrhein-westfälische Innenministerium weitergeleitet. Siehe dazu N. Lenahrd-Schramm: Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 372. J. Gleiss, Zur Analyse teratogener Faktoren mit besonderer Berücksichtigung der ThalidomidEmbryopathie, siehe LAV NRW R Gerichte Rep. 139, Nr. 5a, fol. 5020-5192. Das weitere Vorgehen der Expertenkommission siehe N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 351-381.
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Die Wirren der Kompetenzverteilung stellten das Bundesgesundheitsministeriums in ein schlechtes Licht, weil es als verantwortlich galt, obwohl Düsseldorf zuständig war. Die RHEINISCHE POST rief am 28. November 1961 das Bundesgesundheitsministerium dazu auf, seine eigene Notwendigkeit unter Beweis zu stellen: »Das neue Bonner Gesundheitsministerium – durch Zufall entstanden, weil unbedingt eine Frau ins Kabinett mußte – kann an diesem Fall beweisen, wie notwendig es ist, daß (nach den EWG-Ländern und USA) nun auch die Bundesrepublik die Volksgesundheit unter einen Hut bring.«72
Schwarzhaupt selbst musste sich in den hektischen Anfangswochen ihrer Ministerzeit mit diesen Erwartungen auseinandersetzen. Sie konzentrierte sich als Juristin auf die rechtlichen Rahmenbedingungen des Arzneimittelgesetzes und lehnte eine Änderung der neuen Gesetzgebung ab.73 Im Bundestag bekräftigte Schwarzhaupt im Februar 1962, dass auch eine Rezeptpflicht neuer Substanzen nicht den Contergan-Fall hätte verhindern0 können.74 Doch besonders die SPDOpposition fragte eindringlich nach der Schutzfunktion des Arzneimittelgesetzes und führte den Contergan-Fall als Beispiel für die dringliche Überarbeitung des Gesetzes an. Die SPD verstärkte noch einmal die Forderung nach einer Rezeptpflicht für neue Medikamente; eine Forderung, mit der sich vor dem Inkrafttreten des Arzneimittelgesetzes nicht hatte durchsetzen können.75 Schwarzhaupt hielt sich unterdessen zurück. In der ersten den ConterganFall betreffenden Bundestagssitzung am 7. Dezember 1961 verwies sie auf das Arzneimittelgesetz und die Rücknahme des Medikaments durch die Herstellerfirma.76 Auch die Frage, inwieweit die Zahl der »Mißgeburten«77 sich gegenüber
72 K. Simons, Das Schlafmittel, in: RHEINISCHE POST, 28.11.1961, BArch N 189/11731, fol 362. 73 Vgl. Protokoll Deutscher Bundestag, 16. Sitzung, 22.2.1962, S. 476, abgerufen unter: http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/04/04016.pdf. 74 Vgl. ebd. und E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 232. 75 Siehe dazu Protokoll Deutscher Bundestag, 16. Sitzung, 22.2.1962, S. 476-477, abgerufen unter: http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/04/04016.pdf. 76 Vgl. Protokoll Deutscher Bundestages, 7. Sitzung, 7.12.1961, S. 138-139, abgerufen unter: http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/04/04007.pdf. 77 Vgl. ebd., S. 139.
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dem Durchschnitt erhöht hätte, verwies Schwarzhaupt auf eine interne Prüfung. Die Frage würde sie gerne schriftlich beantworten.78 Rückendeckung erhielt Schwarzhaupt von der konservativen Tageszeitung FAZ. Mutig empfand das Frankfurter Blatt das Vorgehen der Ministerin und stützte ihren Kurs: »Die erste Bundesgesundheitsministerin hat sehr viel Mut zur Sachlichkeit bewiesen. Sie antwortete mit einem klaren Nein, als sie vor gut einer Woche gefragt wurde, ob sie angesichts der allgemeinen Verwirrung durch den Verdacht, ein verbreitetes Arzneimittel könne zu Mißbildungen geführt haben, eine Verschärfung des Arzneimittelgesetzes für notwendig oder möglich halte.«79
Unterstützung erhielt sie zudem von Expertenseite. So konstatierte Prof. Dr. Koll (Mitglieder der Sachverständigenkommission des nordrhein-westfälischen Landesinnenministeriums) ebenfalls in der FAZ: »Wenn die Ministerin in dieser Woche weitere ›Experten‹ hört, wird sie in ihrer besonnenen Haltung gegenüber dem Trend vieler Nachrichten und Schlagzeilen der letzten Woche nur bestärkt werden.«80 Für Beruhigung in der Laienöffentlichkeit sollte eine Umfrage der Deutschen Presseagentur sorgen: Diese Umfrage kam zu dem Ergebnis, das Arzneimittelgesetz böte aus Expertensicht einen hinreichenden Schutz. Gestützt wurde diese Aussage auf Erkenntnisse von Behörden und Fachleuten. »Kein Grund zur Besorgnis«81 bestehe, hieß es. Bereits am 30. November 1961 veröffentlichte die PHARMAZEUTISCHE ZEITUNG einen Artikel mit dem Titel »Contergan und anderes«82. Das Organ der deutschen Apotheker stellte sich hinter das neue Arzneimittelgesetz und die pharmazeutische Industrie. Das Gesetz sei vollkommen ausreichend.83 Der Arzneimittelmarkt war nicht zum ersten Mal erschüttert worden, schließlich hatten bereits die Calcium Thilo-Ampullen oder Stalinon in der
78 Vgl. Protokoll Deutscher Bundestages, 7. Sitzung, 7.12.1961. 79 Dt, Mißbildungen durch Arzneimittel?, in: FAZ, 12.12.1961, BArch B 189/11731, fol. 388. Siehe dazu auch W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 215. 80 Dt, Mißbildungen durch Arzneimittel?. 81 Reicht das neue Gesetz aus?, in: RHEINISCHE POST, 09.12.1961, BArch 189/11731, fol. 221. Vgl. dpa, Besserer Schutz durch scharfe Rezeptpflicht, in: KÖLNER STADTANZEIGER 9.12.1961, BArch 189/11731, fol. 222. 82 Dr. M., Contergan und anderes, in: PHARMAZEUTISCHE ZEITUNG, 106/48 (1961), S. 1527-1529. 83 Vgl. Ebd. S. 1527.
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Fachöffentlichkeit für Aufsehen gesorgt.84 Im Contergan-Fall schien es jedoch keine unmittelbar Verantwortlichen zu geben: »Wer ist schuld? Ist die Contergan-Angelegenheit ein deutscher Stalinonfall? Das träfe zu, wenn man der Firma Grünenthal eine Fahrlässigkeit beim Inverkehrbringen des Mittels vorwerfen oder nachweisen könnte. Die Firma hat aber nach ihrem Prospekt umfangreiche Tierexperimente durchgeführt und kann mit einer stattlichen Anzahl von wissenschaftlichen Arbeiten über klinische Erfahrungen mit Contergan aufwarten.«85
Auch die Herstellerfirma Grünenthal kam selbst zur Wort. So interviewte die FRANKFURTER ABENDPOST im Dezember 1962 den Grünenthal Mitarbeiter Sievers in der Rubrik »Das 60-Sekunden-Interview«. Wenn alle Medikamente direkt vom Markt genommen werden würden, die Nebenwirkungen hervorrufen, dann wäre der Arzneimittelschrank leer, wird Sievers im Interview zitiert.86 Für ihn ging es vornehmlich darum, die Kausalitätsfrage in der Öffentlichkeit zu verneinen und die Schuldfrage abzustreiten. Damit stand er nicht allein, so Lenhard-Schramm: »Zu den Besonderheiten des Falles Contergan gehört es, dass sich der Diskurs um das Medikament und dessen Marktrücknahme zwei bis drei Tage später wieder versachlichte. Der Verdacht war noch unbewiesen und neue Erkenntnisse standen erst mittelfristig zu erwarten, womit auch der Stoff für sensationsheischende Schlagzeilen ausging. Vor allem aber hatte die erste Berichterstattung auch zahlreiche Experten und Autoritäten mobilisiert, die sich nunmehr zu Wort meldeten. Hierdurch schwenkte die Presse rasch in den Modus eines paternalistischen Konsensjournalismus um, der auf Beschwichtigung statt Aufklärung setzte. Die Bevölkerung – so war von Ärzten und Apothekern, von Beamten und Politikern fast unisono zu vernehmen – solle sich keine unnötigen Gedanken machen und die Sache den Experten überlassen, zumal der Verdacht noch nicht bewiesen sei.«87
Die sowohl von Lenhard-Schramm als auch Steinmetz beschriebene systemtisch verfolgte Beruhigungsstrategie schien kurzfristig Erfolg zu haben. Ziel war es, die Autonomie des wissenschaftlichen Fachdiskurses zurückzugewinnen. Doch
84 Vgl. Ebd. Siehe dazu auch A.H. Crumbach, Arzneimittel aus der Waschküche, S. 99100. 85 Dr. M., Contergan und anderes, S. 1527-1528. 86 Vgl. Gehört nicht in die breite Öffentlichkeit, in: ABENDPOST, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 67a, 67025. 87 N. Lenhard-Schramm, Contergan und das Arzneimittelrecht, S. 152.
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die Fachöffentlichkeit selbst war inzwischen für das Thema Contergan sensibilisiert. Wie tiefgehend der Contergan-Fall als Glaubwürdigkeitskrise der pharmazeutischen Industrie empfunden wurde, zeigte ein Artikel des Berliner Ärzteblattes. Unter dem Titel »Medikamente im Kreuzfeuer der Meinungen«88 veröffentlichte das Fachmagazin im Dezember 1961 eine Bestandsaufnahme der medizinisch-pharmazeutischen Fachgemeinschaft. Der Autor bewertete die mediale Berichterstattung als ein »katastrophales Fiasko des gläubigen Vertrauens, das der Arzneimittelnormalverbraucher den ihm in den Apotheken präsentierten reichhaltigen Spezialitätenangebot entgegenbringt […]«89. Er nahm die Herstellerfirma ebenso in Schutz wie das Arzneimittelgesetz und bestärkte damit die in Fachkreisen weitverbreitete These von den Nebenwirkungen als nicht vermeidbare ›Katastrophe‹: »Vorwürfe gegen den Hersteller erscheinen uns in diesem Zusammenhang ebenso unberechtigt wie Beschuldigungen gegen eine vermeintlich zu lasche Gesetzgebung. Denn wo will man die Grenze ziehen, von der und jenseits deren ein Präparat als ausreichend erprobt und in seiner Unschädlichkeit gesichert angesehen wird? Die Prüfung eines Medikamentes kann sich doch nur innerhalb der Grenzen des Möglichen und Zumutbaren bewegen […].«90
Wie hilflos sich die medizinische Fachgemeinschaft angesichts des ConterganFalles zeigte, verdeutlichte auch ein Artikel des Arztes Paul Kühne, Mitarbeiter des BERLINER ÄRZTEBLATTES, des TAGESSPIEGELS und der FRANKFURTER RUNDSCHAU91. Auch er publizierte in einem Fachmagazin, dem BERLINER ÄRZTEBLATT, im Dezember 1961 seinen Artikel »Das Contergan und seine Probleme«.92 Er bezeichnete die Entwicklung der pharmazeutischen Industrie als »industrielle Revolution unseres Zeitalters«93, die jedoch ins Chaos zu laufen
88 Medikamente im Kreuzfeuer der Meinungen, in: BERLINER ÄRZTEBLATTE, 24 (1961), S. 732-733, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 62a, 62148-49. 89 Ebd., S. 732. 90 Medikamente im Kreuzfeuer der Meinungen, S. 732. 91 Vgl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Exodus von Wissenschaften aus Berlin, Fragestellung, Ergebnisse, Desiderate. Entwicklungen vor und nach 1933, Berlin 1994, S. 76, FN 121. 92 Paul Kühne, Das Contergan und seine Probleme, in: BERLINER ÄRZTEBLATT, 24 (1961), S. 734-736. 93 Ebd., S. 734.
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drohe. Die Schnelligkeit, mit denen neue Entdeckungen möglich seien, unterscheide sich frappierend von der Entwicklung eines neuen Stoffes in den vorhergehenden Jahrzehnten. Zeitdruck und ökonomisches Wirtschaften veranlassten pharmazeutische Firmen dazu, schnell neue Medikamente auf den Markt zu bringen. Aber auch die Ärzte trügen, so Kühne, eine tiefgehende Verantwortung, die er im Contergan-Fall als gescheitert ansah. 94 So rang die medizinische Fachgemeinschaft zwischen der wissenschaftlichen Suche nach der Kausalität und der Frage nach ihrer eigenen Verantwortung. Die Opfer selbst fanden noch kaum Aufmerksamkeit. Sie standen außerhalb des fachwissenschaftlichen und politischen Blicks. Das sollte sich im Frühjahr 1962 ändern.
3.4 VOM THALIDOMID ZUM CONTERGAN. DIE MEDIALE ÜBERSETZUNG DER WISSENSCHAFTLICHEN TATSACHE Die öffentliche Aufmerksamkeit richtete sich Ende 1961 auf die teratogenen Nebenwirkungen von Contergan, was sicherlich durch das Ausmaß und die Schwere der Nebenwirkungen zu erklären ist. WELT AM SONNTAG berichtete im November 1961 als erste Zeitung über die Art der Fehlbildungen: »Immer häufiger kamen Kinder zur Welt, denen ein Arm, eine Hand, ein Fuß fehlt oder bei denen die Füße direkt aus der Hüfte ragen, die Hände unmittelbar an den Schultern sitzen.«95 Mit diesen Beschreibungen versuchte Welt am Sonntag erstmals den medizinischen Sachverhalt der Teratogenität zu übersetzen, was dem nordrheinwestfälischen Landesinnenminister in seiner Erklärung nicht gelungen war. Der Autor beschrieb vielmehr die fehlgebildeten Gliedmaßen, sprach von Armen, Händen und Füßen, die deformiert waren. Er vermied seinerseits medizinische Begriffe oder Umschreibungen. Die Beschreibung des Autors wirkte durch ihre Plastizität und nicht durch ihre medizinische Korrektheit. Da es noch keine Fotografien von contergangeschädigten Kindern in der Presse gab, blieben die Übersetzungsleistungen auf das Sprachliche beschränkt. Doch die offenbarten aus medizinischer Sicht Schwächen: Die Beschreibungen seien so unkonkret, resümierte der Arzt Widukind Lenz im Frühjahr 1962, dass nicht eindeutig ersichtlich werde, um welche Fehlbildungen es sich bei den Con-
94 Paul Kühne, Das Contergan und seine Probleme. 95 Mißgeburten durch Tabletten?, in: WELT AM SONNTAG, 27.11.1961. Siehe dazu auch A.H. Crumbach, Contergan im Diskurs, S. 80-81.
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tergannebenwirkungen handele: »Aus den Zeitungsberichten konnten die ›Laien‹ nicht entnehmen, welche Mißbildungen gemeint waren.«96 Was für den medizinischen ›Laien‹ durchaus eine plastische Beschreibung der körperlichen Fehlbildungen war, konnte dem Anspruch des medizinischen ›Experten‹ nicht genügen. Zahlreiche Eltern hatten Lenz, insbesondere durch seine exponierte Rolle als Entdecker der Nebenwirkungen, in der Folge kontaktiert, da sie eine Conterganschädigung bei ihren Kindern vermuteten. Da zu diesem frühen Zeitpunkt noch sprachliche Konzepte fehlten, um die Teratogenität zu beschreiben, griffen die Journalisten auf Begriffe wie ›Mißbildungen‹ oder ›Mißgeburt‹ zurück. Noch 1971 – rund 10 Jahre nach Entdeckung der Contergannebenwirkungen – definierte der Brockhaus ›Mißbildungen‹ als »durch Entwicklungsstörungen bewirkte Abweichungen vom normalen Körperbau; sie können geringfügig sein (Anomalien) oder schwere Entstellungen hervorrufen (Monstra, Monstrositäten, ›Mißgeburten‹)«.97 Weiter hieß es im Brockhaus: »Das im Volksglauben häufig als Ursache der M. angenommene ›Versehen der Schwangeren‹ hält einer wissenschaftl. Kritik nicht stand. Mißgeburten sind als Wundererscheinungen und Vorzeichen angesehen worden (-› Prodigium) und darum häufig auf Flugblättern seit dem späten 15. Jahrh. abgebildet.«98
Mit dem Begriff ›Mißbildung‹ knüpften die Journalisten an bekannte Sprachbilder an, die jedoch mit nichtwissenschaftlichen Vorstellungen von einem mütterlichen Verschulden oder mythologischen Gründen für die Fehlbildungen verbunden waren. Gleichzeitig hatten die Begriffe eine generalisierende Wirkung. So konnten sie die vielfältigen Formen der aufgetretenen Fehlbildungen sprachlich erfassen. Für die Mehrzahl der Journalisten stand bereits im Winter 1961/62 fest, dass die Einnahme von Contergan mit Nebenwirkungen verbunden war. Gleichzeitig beharrte die medizinische Seite darauf, dass eine wissenschaftlich nachvollziehbare Bestätigung der Befunde noch ausstehe. So stellte sich ein Ungleichgewicht in der Bewertung des Sachverhaltes dar. Diskutierte z.B. die Sachverständigen-
96 W. Lenz, Wirkt »Contergan« teratogenetisch?, in: HAMBURGER ÄRZTEBLATT, Mai 1962, S. 159-160, hier S. 159, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 65, 6501265013, hier 65012. 97 Artikel »Mißbildungen, Fehlbildungen«, in: Brockhaus Enzyklopädie, 17. Neubearbeitete Auflage, 1971, S. 612-613, hier S. 612. 98 Ebd., S. 613.
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kommission des nordrhein-westfälischen Landesinnenministeriums noch über einen wissenschaftlichen Kausalitätszusammenhang, war für die mediale Öffentlichkeit kein Zweifel an der Kausalität mehr möglich. Die Presse folgte der ihr eigenen Erzähllogik. In zahlreichen Artikeln konstruierte sie die Folgen des Medikaments als eine ›Arzneimittelkatastrophe‹.99 Von Thalidomid war nur noch selten die Rede. Plötzlich konzentrierte sich die öffentliche Debatte auf den Markennamen Contergan. Die Journalisten übersetzten nicht nur den Begriff Thalidomid mit Contergan, sondern verknüpften ihn auch mit den angestiegenen Fehlbildungszahlen bei Neugeborenen. Der nichtmedizinische Begriff Contergan bot den Lesern Anknüpfungspunkte für die weitere Diskussion, da sie sich darunter einen konkreten Gegenstand – das Medikament in der blauen Schachtel – vorstellen konnten. Zugleich wurde das Geschehen der wissenschaftlichen Debatte entzogen, denn über wissenschaftliche Kausalitäten diskutierte die Presse nicht. Verbunden damit war die Verwendung des Begriffs ›Mißbildung‹. Er blieb aktuell, da er zuschreibungsoffen war, sich leicht sprachlich mit den Folgen des Contergans verbinden lassen konnte und gleichzeitig an bekannte Definitionen anschloss.100 Die medial geführte Diskussion über das Medikament Contergan beeinflusste auch die medizinischen Disziplinen. Walburga Freitag hat in ihrer Arbeit diesen Sachverhalt ausführlich nachgezeichnet.101 Die medizinische Fachgemeinschaft war vor eine Reihe von Problemen gestellt: • Die nichtmedizinische Presse bot verschiedene Übersetzungsangebote an, die
sich immer weiter von den medizinischen Interpretationen entfernten. • Medizinische ›Experten‹ konnten nur wenig Einfluss auf die in der Öffentlich-
keit kursierenden Deutungen nehmen.
99
Siehe beispielhaft: Dietmar Gutberiet, Beunruhigung um Medikamente, in: FRANKFURTER NEUE PRESSE, 29.11.1961, BArch B 189, Nr. 11731, 214; Wer prüft unsere neuen Arzneimittel, in: BREMER NACHRICHTEN, 06.12.1961, BArch B 189, Nr. 11731, 220; Wolfgang Berkefeld, Mißbildungen durch Schlafmittel, in: DER TAGESSPIEGEL, 29.11.1961, BArch B 189 Nr. 11731, 364.
100 Dies ändert sich erst mit der bildhaften Repräsentation ab April 1962. Vgl. unter anderem D. Beyersdorff, Man nennt sie »Contergan«-Babys; LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 67b, 67080. 101 Erst mit dem Contergan-Prozess (1968-1970) rückten auch Humangenetiker und Neurologen wieder verstärkt in die Öffentlichkeit, als die Frage der Kausalität nicht nur medizinisch, sondern nun auch strafrechtlich geklärt werden sollte.
130 | Sprechen über Contergan
• Darüber hinaus hatte sich die medizinische Fachgemeinschaft über die Kausa-
litätsfrage zerstritten. Die medizinische Debatte über die teratogene Wirkung von Thalidomid rührte in der Folgezeit am Selbstverständnis der Medizin. Forscher, die von einem »neuen Typus« der Fehlbildungsformen überzeugt waren, standen jenen gegenüber, die keinesfalls von der Kausalität des Thalidomid ausgingen.102 Die medizinischen Bezeichnungen variierten. So war von »exogene[n] Mißbildungen«,103 dem Dysmelie-Syndrom, dem Wiedemann-Dysmelie-Syndrom104 oder auch von der Thalidomid-Embryopathie105 die Rede. Die Begriffe können durchaus als medizinische Standortbestimmung verstanden werden und spiegelten die unterschiedlichen wissenschaftlichen Argumentationen wider.106 Insbesondere die Orthopädie konnte sich in dieser Zeit als zukunftsorientierte Wissenschaft profilieren, indem sie die körperliche Differenz der betroffenen Kinder mit Prothesen, Operationen und therapeutischen Behandlungen auszugleichen versuchte. Ihr ist der Begriff Dysmelie zuzuordnen, der auch in den politischen Sprachgebrauch Einzug hielt, weil sich die Ministerien an der Orthopädie ausrichteten.107 Gleichzeitig setzten sich angesichts des vollkommen neuartigen Phänomens geradezu vorwissenschaftliche, naturalistische Begrifflichkeiten durch (Welle, Flut) durch. So sprach Wiedemann von einem »komplizierten Wechsel- und Zu-
102 W. Freitag, Contergan, S. 39 und S. 46. 103 H.-R. Wiedemann, Derzeitiges Wissen über Exogenese von Mißbildungen, hier S. 1343. 104 W. Freitag, Contergan, S. 46; G. Pliess, Beitrag zur teratologischen Analyse des neuen Wiedemann-Dysmelie-Syndroms (Thalidomid-Mißbildungen?), in: MEDIZINISCHE KLINIK,
37 (1962), S. 1567-1573.
105 W. Freitag, Contergan« S. 45; Lenz, W./Knapp, K., Die Thalidomid-Embryopathie, in: DEUTSCHE MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT, 87/24 (1962), S. 1232-1242; Weicker, H./Hungerland, H., Thalidomid-Embryopathie. I. Vorkommen inner- und außerhalb Deutschlands, in: DEUTSCHE MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT, 87/19 (1962), S. 992-1002. 106 W. Freitag, Contergan, S. 44-48. Siehe auch A.H. Crumbach, Arzneimittel aus der Waschküche, S. 108-109. 107 Vgl. W. Freitag, Contergan, S. 47 und S. 87; E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 304. Freitag wie auch Bösl verweisen darauf, dass politische Akteure den Fortschrittsoptismus der Orthopädie nutzten, um schnelle politische Ergebnisse für die Öffentlichkeit zu präsentieren.
Von der Übersetzung einer gescheiterten wissenschaften Tatsache | 131
sammenspiel zwischen Erbgefüge und Umwelt«108, das für die die Entstehung von Fehlbildungen bei Neugeborenen verantwortliche sei. Er ging davon aus, eine exogene Substanz sei ursächlich für die aufgetretene »Mißbildungswelle«109 und das Thalidomid würde eine mögliche Erklärung dafür bieten. Gleichzeitig müssten noch viele andere Substanzen abgeklärt werden.110 Die Firma Chemie Grünenthal ließ einen Artikel ihres Mitarbeiters Sievers veröffentlichen, der im Sinne der Firmenpolitik argumentierte. So verneinte er die Kausalitätsbeziehung nicht völlig, sondern meldete lediglich seine Zweifel an.111 Auch er sprach von einer »Mißbildungswelle«112. Für die Argumentation der Herstellerfirma war die Naturalisierung der aufgetretenen Fehlbildungen förderlich, schließlich konnten sie so ein mögliches eigenes Verschulden sprachlich ausklammern.113 Nicht nur Sievers, sondern auch der Orthopäde Oskar Hepp zeichnete in ihren Artikeln eine Atmosphäre der Angst vor neuen naturalistischen Gefahren. Er sprach von einem »katastrophale[n] Schaden«114, der einen echten »Katastrophendienst«115 erfordere.116 Den Anstieg der Fehlbildungsfälle verglich Hepp mit einer »Lawine«117, die über die Gesellschaft hereingebrochen sei. Die Symbiose aus wissenschaftlichem Material – das Hepp zur Untermauerung seiner Ergebnisse vorlegte – und naturalistischen Beschreibungen war zu Beginn des Contergan-Falles nicht ungewöhnlich. Daran zeigt sich auf der einen Seite die Deutungsoffenheit gegenüber den Folgen des Medikaments, die auch für die wissenschaftliche Gemeinschaft noch nicht klar definiert werden konnten. Auf der anderen Seite handelt es sich um eine Schutzbehauptung: Mit der
108 H.-R. Wiedemann, Heutiges Wissen über Exogenese von Mißbildungen beim Menschen, in: MÜNCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT 29 (1962), S. 1356. 109 Ebd.; siehe dazu auch E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 233-234. 110 Vgl. H.-R. Wiedemann, Heutiges Wissen über Exogenese, S. 1356. 111 Vgl. G. Sievers, Zur Frage statistischer Erhebungen über die teratogene Wirkung chemischer Substanzen, in: MÜNCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT 104/ 29 (1962), S. 1356. 112 G. Sievers, Zur Frage statistischer Erhebungen, S. 1356. 113 Siehe dazu W. Freitag, Contergan, S. 48. 114 Oskar Hepp, Die Häufung der angeborenen Defektmißbildungen der oberen Extremitäten in der Bundesrepublik Deutschland, in: MEDIZINISCHE KLINIK, 11 (1962), S. 419-426, hier S. 419. 115 Ebd. 116 Vgl. E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 234. Siehe dazu auch A.H. Crumbach, Contergan im Diskurs, S. 79; A.H. Günther, Contergan als Zäsur, S. 151-152. 117 O. Hepp, Die Häufung der angeborenen Defektmißbildungen, S. 420.
132 | Sprechen über Contergan
Hervorhebung der Naturalisierung als eigentlichem Auslöser sollte die medizinische Verantwortung negiert werden118: »Deutungen wie diese zeigen, dass das Selbst- und Fremdbild von Pharmazie und Medizin empfindlich getroffen worden waren: Immerhin musste akzeptiert werden, dass ausgerechnet die Pharmazie, die noch als Zeichen der Modernität und der Überwindung der Natur empfunden wurde, dramatische Risiken barg. Die Rede von der Naturkatastrophe naturalisierte diese Risiken.«119
Angesichts der Uneinigkeit innerhalb der medizinischen Netzwerke waren Journalisten noch dringender als Übersetzer gefordert, weil sie frühzeitig das Gespür entwickelten, mit einer medizinischen Ausnahmesituation konfrontiert worden zu sein. Der Begriff ›Katastrophe‹ schien naheliegend, um die Ängste der Bevölkerung und das Ausmaß des Falles selbst zu beschreiben.120 Immer deutlicher rückte die Frage in den Mittelpunkt, ob das im August 1961 erlassene Arzneimittelgesetz in der Lage war, die Bürger der Bundesrepublik vor einer erneuten ›Arzneimittelkatastrophe‹ zu beschützen. So bezeichnete DER SPIEGEL im Dezember 1961 die Nebenwirkungen von Contergan als ein »unheimliches Phänomen«121, für das es noch keine wissenschaftliche Erklärung gebe. Die wissenschaftliche Tatsache erhielt dadurch eine neue Zuschreibung: Handelte es sich vielleicht gar nicht um eine ›Katastrophe‹? Waren stattdessen die Menschen Versuchskaninchen der pharmazeutischen Industrie?122 Werner Höfer – als Journalist in den nationalsozialistischen Presseapparat verstrickt und später bekannt als Gastgeber des Internationalen Frühshoppens – veröffentlichte im Dezember 1961 als Chefredakteur der NEUEN ILLUSTRIERTEN einen Leitartikel. Er sprach von »Versuchskaninchen in Menschengestalt, unschuldige Opfer der Bombentests […]«123. Zugleich griff er auf den bekannten Begriff der »Mißgestalt« zurück, um die Folgen des Medikaments zu beschrei-
118 Vgl. W. Freitag, Contergan, S. 48-49. 119 E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 234. 120 Zur Naturalisierung siehe ebd.; E. Bösl, The Contergan Scandal, S. 138; W. Freitag, Contergan, S. 48 ff. 121 Kalte Füße, S. 89; Zur Naturalisierung vgl. unter anderem E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 234. 122 Vgl. Protokoll Deutscher Bundestag, 12. Sitzung, 24.01.1962, S. 311-312, http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/04/04012.pdf vom 13.02.2018. 123 W. Höfer, Pillen statt Bomben?, in: Neue Illustrierte, 17.12.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 67a, 67038.
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ben. Er interpretierte das contergangeschädigte Neugeborene als »unglückliches […] Menschenkind«, das unter seiner »Mißgestalt« leidet, da »die Mutter […] in schlaflosen Nächten Pillen« einnahm, »die ihr von einem Arzt verordnet, von einer Schwester verabreicht und von Freunden empfohlen wurden, ein populäres Produkt der weltberühmten chemisch-pharmazeutischen Industrie Deutschlands.«124 Hilflos und dem technischen Fortschritt ausgeliefert, so wurden die Patienten in Höfers Bericht dargestellt. Auch stellte er sich die Frage: »[I]st dann die Menschheit nicht selber an ihrem Unglück schuld? Gewiß nicht der einzelne Mensch, der guten Glaubens zum Röhrchen greift, um Schmerzen zu verscheuchen, Ängste zu verdrängen, Schlaf zu gewinnen! Aber wir alle sind Komplicen jenes gigantischen Selbstbetrugs: daß wir mit Pillen die Natur überlisten möchten.«125
Das Vertrauen in die sichere und erfolgreiche deutsche Pharmazie war erschüttert. Die Angst vor Fehlbildungen vermischte sich mit unterschiedlichen Gefahrenszenarien, die nicht genau zuzuordnen waren.126 Die Gewerkschaftszeitung WELT DER ARBEIT nahm die »Contergan-Affäre«127 zum Anlass, eine Serie über »Medikamente und Geschäfte« zu veröffentlichen.128 Obwohl der Adressatenkreis der Zeitschrift beschränkt war, betrieb sie dafür einen enormen Rechercheaufwand, was die Bedeutung der Geschichte unterstreicht. Mit Heinz Koar, der unter anderem für das Magazin DER SPIEGEL gearbeitet hatte, beauftragte sie einen erfahrenen Journalisten. Aufmacher der Berichte war die »ärztliche Ohnmacht vor chemischen Formeln«129. In der Serie verdichteten sich Probleme: Auf der einen Seite standen die überforderten wissenschaftlichen ›Experten‹ wie Ärzte und Apotheker. Sie hatten angesichts der zunehmenden Vielfalt an neuen Medikamenten den Überblick verloren: »Woher soll ich das denn wissen? Ich bin kein Chemiker. Und Sie sind doch auch keiner. Warum belasten Sie sich
124 W. Höfer, Pillen statt Bomben? 125
Ebd.
126 Vgl. A. von Schwerin, Die Contergan-Bombe. 127 H. Koar, Die »Contergan«-Affäre, in: WELT DER ARBEIT, 15.12.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 67a, 67035 und BArch B 189/11731, fol. 395.; G.S., Tabletten erzeugen neue gefährliche Krankheiten, in: WELT DER ARBEIT, 15.12.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep 139, Nr. 67a, 67036. Siehe dazu auch A.H. Crumbach, Arzneimittel aus der Waschküche, S. 106. 128 H. Koar, Die »Contergan«-Affäre. 129 Ebd.
134 | Sprechen über Contergan
den Kopf mit solchen Dingen?«130 Sie waren der »Ohnmacht [nahe, A.H.C.], weil die Zeiten, da Ärzte und Apotheker noch genau wußten, was sie verordneten und spritzen oder andererseits, selber mischten und verkauften, längst vorbei sind.«131 Der Autor verwies auch auf die Herstellerfirma Chemie Grünenthal, die mit ihrem Verhalten nicht nur Behörden, sondern auch den Autor irritierte.132 Dennoch stand für ihn fest: »Pillen-Hersteller lassen ihre Mittel leider nicht exakt genug prüfen«133. Der steigende Arzneimittelkonsum in der Bevölkerung sei auf die massive Werbung für Medikamente zurückzuführen. Hersteller würden »eindeutig gefährliche« Produkte als »›besonders verträglich‹ oder ›absolut unschädlich‹« propagieren.134 Unter dem Titel »Der Schlafmittel-Skandal und wie es dazu kommen konnte« berichtet Friedrich Deich, seines Zeichens Arzt, Psychiater und Chefredakteur der medizinischen Zeitschrift EUROMED, über klinische Prüfverfahren für Medikamente.135 Die Nebenwirkungen seien als »unliebsame Überraschungen« nicht zu verhindern gewesen und hätten Ärzte wie Patienten gleichermaßen unverhofft getroffen, weshalb er den Fall als »Unglück«136 deutet. Mit Bekanntwerden der teratogenen Nebenwirkungen verknüpfte sich die Angst vor Radioaktivität. Bereits 1958 stellte die FDP-Fraktion im Bundestag eine Anfrage, die darauf abzielte, ob Radioaktivität der Grund für eine festge-
130 H. Koar, Die »Contergan«-Affäre. 131 Ebd. 132 Vgl. ebd. Koar wusste von »stundenlangen Ringkämpfen zwischen Vertretern der Gesundheitsbehörden und solchen von Grünenthal« zu berichten, »bei denen die Herren aus Stolberg sich erboten, auf ihre ›Contergan‹-Packungen Schildchen zu kleben: ›Bei Schwangeren nicht verabreichen‹, ja, daß auf den Hinweis der Behördenvertreter das Mittel müsse vermutlich aus dem Verkehr gezogen werden, die Grünenthal-Abgesandten mit Einstweiliger Verfügung drohten – all das spielt heute keine Rolle mehr.« 133 G.S., Tabletten erzeugen neue gefährliche Krankheiten; LAV NRW R, Gerichte Rep 139, Nr. 67a, 67036. 134 Ebd. 135 F. Deich, Der Schlafmittel-Skandal; LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 67a, 67050. 136 Ebd.
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stellte angestiegene Fehlbildungsrate bei Neugeborenen sein könne.137 Zum damaligen Zeitpunkt war ein Medikament als Verursacher noch nicht in Betracht gezogen worden.138 Mit dem Bekanntwerden der Nebenwirkungen des Contergans änderte sich dies. In der Bundestagsdebatte am 24. Januar 1962 sah sich der Bundesminister für Atomenergie Balke, dem Vorwurf ausgesetzt, die Öffentlichkeit zu wenig über radioaktive Gefahren informiert zu haben. Minister Balke insistierte daraufhin: »Das Interesse der Presse und des Rundfunks an der Radioaktivität war sehr groß nach den russischen Atombombenversuchen, und wir hatten in unserem Ministerium durchschnittlich täglich sieben bis zehn Anfragen von Presse und ähnlichen Einrichtungen nach der Radioaktivität. Als die Sache mit dem Contergan bekannt wurde, hörten diese Nachfragen schlagartig auf, und heute interessiert sich bei der Presse anscheinend kein Mensch mehr für die Radioaktivität.«139
Mit dem Bekanntwerden der Folgen von Contergan trat nun eine greifbare neue Gefahr hinzu, die das Leben bedrohte. Die diffusen Gefahren der Moderne verbanden sich durch Contergan zu einer neuen Wahrnehmung von Normalität und ›Mißbildung‹: Waren Medikamente die Ursache dafür? Warum konnten die Patienten nicht vor einer solchen Gefahr geschützt werden? War das nicht Aufgabe des Gesetzgebers. Vieles schien möglich, aber nur weniges wirklich beweisbar. Es stellte sich die Frage, ob der Mensch diese ›Katastrophe‹ mit einem ungehemmten Medikamentenkonsum befördert habe. Erneut warnten Journalisten und Pharmazeuten vor der Gefährlichkeit aller Medikamente und dekonstruierten die Allheilkraft der von Menschenhand geschaffenen pharmazeutischen Produkte.140 Mit der Frage, wie die Gefahr, die von dem Medikament Contergan
137 Vgl. Antrag der Fraktion der FDP. Betr. Zunahme von Mißgeburten, Deutscher Bundestag, 3. Wahlperiode, Drucksache 386, 14. Mai 1958, BArch B 142/1825, fol. 39. 138 Vgl. dazu auch A. von Schwerin, Die Contergan-Bombe, S. 261. 139 Protokoll Deutscher Bundestag, 12. Sitzung, 24.01.1962, S. 311-312, aufgerufen über: http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/04/04012.pdf (vom 13.02.2018). Siehe dazu auch: A.H. Günther, Contergan als Zäsur, S. 150. 140 Siehe beispielhaft: Das Streiflicht, in: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 30.11.1961, BArch B 189/17731, fol 365; Heinz Koar, Die Contergan-Affäre, in: WELT DER ARBEIT, 15.12.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 67a, 67035 und BArch B 189/11731, fol. 395. Siehe dazu auch A. von Schwerin, der den Contergan-Fall mit einem »Schmelztiegel« vergleicht, »der verschiedene Diskursstränge zu einem neu-
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ausging, definiert werden sollte, stellte sich die Frage, wie eine Wiederholung verhindert werden könnte. Die Erprobung von Arzneimitteln an Menschen schied als Alternative aus, gerade vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Medizinverbrechen: »Es ist für einen deutschen Arzt zunächst undenkbar, daß er einem Kranken ein Präparat gibt, von dem er nicht weiß, was es enthält. […] In Deutschland aber besteht bei den Kranken eine gewisse Abneigung dagegen, sich als ‚Versuchskaninchen‘ herzugeben, obwohl man sicherlich im Einzelfall den Kranken davon überzeugen könnte, daß er dem Fortschritt der Medizin und der Wissenschaft schlechthin einen großen Dienst erweist.«141
Die Wortfügung, wie ein »deutscher Arzt«142 sich zu verhalten habe, ist eine höchst aufschlussreiche Formulierung. Nicht wenige der Fachleute hatten zur medizinischen Elite des Nationalsozialismus gehört. Sie meldeten sich nun im Contergan-Fall zu Wort. Hans Nachtsheim, Mitglied der Sachverständigenkommission des Landes Nordrhein-Westfalen, publizierte im Januar 1962 in der FAZ einen Artikel zur »Prüfung neuer Arzneimittel«.143 Auch Nachtsheim wollte eine Beunruhigung der Bevölkerung vermeiden, sah es jedoch als »verhängnisvoll« an: »wenn wir vor der Tatsache der Zunahme der Mißbildungen die Augen verschließen, und es wäre verantwortungslos, wenn wir die Frage eines ursächlichen Zusammenhangs mit dem in den letzten Jahrzehnten enorm gestiegenen Tablettenkonsum, besonders bei den Schwangeren, nicht zur Diskussion stellen würden.«144
en Amalgam verband: die fachwissenschaftliche Debatte über die Entstehung von so genannten Missbildungen, die eugenische Sorge um die Verbreitung von Mutationen in der Bevölkerung und die Problematik von künstlichen Zusätzen in Lebensmittel. Das Resultat der durch Contergan hervorgerufenen Notsituation war eine historische Konfiguration von Themen, die durch die Dynamik eines auf einen kurzen Zeitraum zugespitzten Notstandsdiskurses vorangetrieben und katalysiert wurde.« A. von Schwerin, Die Contergan-Bombe, S. 256-257. 141 Friedrich Deich, Der Schlafmittel-Skandal und wie es dazu kommen konnte, in: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG vom 03.01.1962. 142 Ebd. 143 Hans Nachtsheim, Zur Prüfung neuer Arzneimittel, in: FAZ, 23.1.1962, BArch B 189/11731, fol. 228. 144 Ebd.
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Er schlug eine Statistik vor, in der Frauen im gebärfähigen Alter alle Medikamente auflisteten, die sie in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten eingenommen hatten. Dies knüpfte an Forderungen an, erneut eine Meldepflicht einzuführen, die eine statistische Übersicht über die Fehlbildungsrate bei Neugeborenen führen sollte. Die Debatte wurde kontrovers geführt. Ein erneutes systematisches Erfassen von Menschen mit Behinderung nach den Erfahrungen der nationalsozialistischen Euthanasieverbrechen rührte an einem zentralen Tabu. Mit dem Auftreten der Fehlbildungsfälle im Contergan-Fall erhielten die Befürworter indes ein nachvollziehbares, starkes Argument für ihre Position.145 Nachtsheim, als ehemaliger Akteur innerhalb des nationalsozialistischen Forschungsapparats, betonte die Bedeutung einer solchen statistischen Überprüfung. Er rief die »gesunde werdende] Mutter«146 auf, keine Arzneimittel im frühen Stadium der Schwangerschaft einzunehmen. Begriffe wie ›Katastrophe‹, ›Unglück‹, ›Mißbildung‹ kursierten in der Presse und niemand schien in der Lage zu sein, die passenden Worte finden zu können für das, was tatsächlich geschah. Im nächsten Kapitel wird deutlich, wie wichtig medizinische ›Experten‹ als Übersetzer in der Laienöffentlichkeit wurden.
3.5 FRENKEL UND LENZ ALS MEDIZINISCHE AKTEURE UND MEDIALE ÜBERSETZER Das Wissen medizinischer ›Experten‹ blieb in der deutungsoffenen öffentlichen Diskussion ungemein wichtig. Doch scheuten viele den Weg in die Presse und bestanden auf der Wissenshierarchie zwischen ›Experten‹ und ›Laien‹. Dementsprechend äußerten sie sich nur im engeren Fachkreis oder publizierten in Fachmagazinen und Fachzeitschriften. Doch es gab Ausnahmen: die Ärzte Widukind Lenz und Horst Frenkel.147 Beide Mediziner hatten unterschiedliche fachwissenschaftliche Hintergründe. Widukind Lenz, Sohn des NS-Eugenikers Fritz Lenz, habilitierte sich in der Humangenetik, war danach in Hamburg als Privatdozent angestellt, bevor er 1962 einen Lehrstuhl in Münster übernahm. 148 Horst Fren-
145 Vgl. J. Stoll, Behinderte Anerkennung, S. 189-192. 146 H. Nachtsheim, Zur Prüfung neuer Arzneimittel. 147 Vgl. A.H. Crumbach, Contergan im Diskurs, S. 73-77. 148 Geboren 1919 gehörte Widukind Lenz zur Kriegsgeneration. Von 1937 bis 1943 studierte er an unterschiedlichen Universitäten Medizin. Nach seinem Studienabschluss führte ihn sein Weg in die Luftwaffe, wo er als Arzt tätig war. Von 1944 bis 1948 war er in Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Entlassung folgten berufliche
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kel, seines Zeichens Neurologe, arbeitete als Facharzt in einer Privatklinik im Taunus. Über seinen biografischen Hintergrund und medizinische Karriere ist – im Gegensatz zu seinem Kollegen Lenz – kaum etwas bekannt.149 Widukind Lenz ist wie keine eine andere Person mit dem Contergan-Fall verbunden. Er entdeckte als einer der ersten die Verbindung zwischen Thalidomid und den teratogenen Nebenwirkungen und informierte die Behörden, die Herstellerfirma und schließlich auch seine Kollegen. Horst Frenkel wiederum beschäftigte sich vornehmlich mit den neurologischen Nebenwirkungen des Medikaments bei erwachsenen Patienten. Heute ist er fast in Vergessenheit geraten, dabei hat er die erste Interessengemeinschaft für erwachsene Contergangeschädigte (Interessengemeinschaft für Contergan-Geschädigte) gegründet.150 Beide Akteure verließen ihr medizinisches Metier und wandten sich verstärkt den Betroffenen zu, da sie darin ihre moralische Pflicht sahen. Sie traten vor allem als Übersetzer medizinischer Fachbegriffe auf und riefen damit sowohl Befürworter als auch Kritiker auf den Plan. Ihre Arbeit in der Öffentlichkeit führte zum sprachlichen Bedeutungsverlust der Fachwissenschaft, was diese mit Miss-
Stationen in Göttingen, Kiel und Hamburg. Nach seiner Habilitation erhielt er eine ordentliche Professur für Humangenetik 1962 in Hamburg. Ausgezeichnet wurde Lenz 1963 mit der Ehrendoktorwürde der Universität Tübingen und 1972 das Verdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik. 1965 siedelte er nach Münster, wo er einen Lehrstuhl für Humangenetik übernahm. 1984 wird Lenz emeritiert, der bis zu seinem Tod 1995 in Münster lebt. Siehe zur Biografie von Widukind Lenz N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 315. Ebenso hat Anna Christiane Schulze eine medizinische Dissertation zu Lenz vorgelegt. Siehe dazu: Anne Christina Schulze, Die Rolle Widukind Lenz‘ bei der Aufdeckung der teratogenen Wirkung von Thalidomid (Contergan), Dissertation, Johann Wolfgang von GoetheUniversität Frankfurt am Main, 2016. Vgl. zu Widukinds Vater: Georg Lilienthal, »Lenz, Fritz«, in: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), S. 223-225 aufgerufen über: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118727478.html (vom 13.02.2018). 149 Einige wenige Informationen können aus der zeitgenössischen Berichterstattung entnommen werden, so »Zuckerplätzchen forte«, S. 59-60; »Gefahr im Verzuge«, in: DER SPIEGEL, Nr. 49 (1962), S. 72-90; Siehe auch W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 216; A.H. Crumbach, Contergan im Diskurs, S. 73-77; N. LenhardSchramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 213. 150 Contergan-Geschädigte formieren sich, in: RHEIN-ZEITUNG KOBLENZ, Dezember 1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 67a; v. Conta, Manfred, Vom Schlafmittel zum Schmerzensgeld, in: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 09.01.1962, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 67a; W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 216.
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achtung beantwortete. In der Folge zweifelten Kollegen die Untersuchungsergebnisse und damit auch die medizinische Legitimität der Aussagen von Lenz und Frenkel an.151 So wurde moniert, die Ziele der Interessengemeinschaft Frenkels bestünden nicht in der medizinischen Untersuchung einer möglichen Kausalität, sondern vielmehr in der Prüfung juristischer Ansprüche auf Schadenersatz.152 Frenkel ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass die Folgen von Contergan öffentlich verhandelt werden müssten.153 Dennoch gab es weiterhin Kritik an Frenkels Engagement: »Demgegenüber möchten wir feststellen, daß wir es für wenig glücklich und der Sache selbst nicht dienlich [Hervorhebung im Original, A.H.C.] halten, wenn hier ein Arzt, der maßgeblich an der Aufklärung von Contergan-Schäden beteiligt ist, und sicherlich als neutraler [Hervorhebung im Original, A.H.C.] Zeuge in wissenschaftlichen Untersuchungen über Ursachen und Folgen der Arzneimittelschädigungen auftreten will, sich an führender Stelle auf ein völlig fremdes [Hervorhebung im Original, A.H.C.] Aufgabengebiet begibt. Die Interessengemeinschaft läuft doch am Ende darauf hinaus, eine Schuld für die Verantwortlichkeit aufgetretener Schädigungen festzustellen und durch Veranstaltungen eines Musterprozesses Zahlungen eines Schadenersatzes [Hervorhebung im Original, A.H.C.] durchzusetzen. Das dürfte aber fast ausschließlich [Hervorhebung im Original, A.H.C.] eine juristische [Hervorhebung im Original, A.H.C.] Aufgabe sein. Die Medizin kann in einem künftigen Schuld- und Schadensersatzprozeß nur [Hervorhebung im Original, A.H.C.] die Sachverständigen [Hervorhebung im Original, A.H.C.] Zeugen zu den medizinischen Fragen liefern.«154
Doch nicht nur Frenkels Position in der Interessengemeinschaft sorgte für Aufsehen. Am 8. Dezember 1961 veröffentlichten einige deutsche Zeitungen einen Aufruf von Frenkel, in dem er die Firmenpolitik der Firma Chemie Grünenthal massiv kritisierte. Seine Meldungen über Nebenwirkungen seien nicht ernst ge-
151 Siehe A.A. Daemmrich, A Tale of two Experts. Besonders deutlich wurde dies im Gerichtsverfahren von 1968 bis 1970 gegen Angestellte der Firma Chemie Grünenthal, in dem Widukind Lenz als Sachverständiger abgelehnt wurde. Zum Fall Frenkel siehe Manfred von Conta, Vom Schlafmittel zum Schmerzensgeld, in: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 09.01.1962, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 67a. 152 Vgl. S. Beyer-Enke, Arzneimittel-Affären, S. 9. 153 S. Beyer-Enke, Arzneimittel-Affären, S. 9. 154 Ebd., S. 9-10.
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nommen beziehungsweise ignoriert worden.155 Dezidiert listete er wissenschaftliche Veröffentlichungen und Vorträge auf, die von möglichen Nebenwirkungen berichtet hatten. Ebenso schilderte er seine Kontaktnahme mit der Firma Chemie Grünenthal. Obwohl das Unternehmen von ihm dezidierte Meldungen über schädliche Nebenwirkungen erhalten hätte, hätte es das Medikament weiterhin vertrieben und sogar massiv beworben. Schlussendlich stellt er die Frage: »Wird sich ein Staatsanwalt finden?«156. Mit dieser Frage verfestigte er die Forderung, eine gesellschaftspolitische Debatte über die Folgen von Contergan zu führen. Er betonte die Aufgabe des Staates, sich nun um die juristischen Belange des Falles zu kümmern. Obgleich die medizinische Gemeinschaft Frenkels Gang in die Öffentlichkeit kritisch bewertet, lobte ihn die Presse für seinen mutigen Schritt.157 Die christliche Wochenzeitschrift CHRIST UND WELT bezeichnete Frenkel als »ehrenwerte[n] Mensch[en]«, der seinen Überzeugungen folge und sich dem höheren Wohl verschrieben habe.158 Dass das Bundesgesundheitsministerium bisher keine deutlichen Schritte unternommen hatte, wertete der Autor kritisch. Schwarzhaupts Stellungnahme im Bundestag sei eine juristische Floskel.159 Zugleich bestärkte er aber die Entscheidung, ein eigenes Ministerium für Gesundheit eingerichtet zu haben. Dessen Kompetenzen müssten ausgeweitet werden und dürften nicht den Ländern überlassen bleiben. Kritik brachte der Autor auch gegenüber der Ärzteschaft zum Ausdruck, die die Warnungen Frenkels ignoriert hätten: »Wer da meint, ein Sturm der Entrüstung wäre daraufhin losgebrochen, der dieses schädliche Schlafmittel hinweggefegt hätte, der kennt das Gestrüpp unseres Paragraphenwalds und das Schneckentempo unserer Bürokratie noch nicht. […] Immerhin, der Ruf aus den Taunuswäldern hätte um ein gutes Jahr früher gehört werden könne, von den Herstellern
155 Vgl. H. Frenkel, Strafprozeß wegen »Contergan«, in: HAMBURGER ECHO, 09.12.1961, BArch B 189/11731, fol. 223. A.H. Crumbach, Contergan im Diskurs, S. 77. 156 Vgl. ebd. 157 Vgl. F. Höller, Viele Pillen gehören in den Orkus, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 67a, 67037; FR, »Contergan«-Skandal wächst, in: FRANKFURTER RUNDSCHAU, 08.12.1961, BArch B 189/11731, fol. 384; Führt Affäre »Contergan« zum Strafprozeß?, in: GENERAL-ANZEIGER WUPPERTAG, 13.12.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 67031. 158 F. Höller, Viele Pillen gehören in den Orkus, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 67a, 67037. 159 Ebd.
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wie von den Gesundheitswächtern. Wenn man daran denkt, daß durch dieses Versäumnis vielleicht einige Kinder mit Mißgestaltungen auf die Welt gekommen sind, fühlt man erst, wie ›schwerhörig‹ wir geworden sind.«160
Ganz bewusst hatte Frenkel mit seinem öffentlichen Schreiben den inneren medizinischen Kommunikationskreis durchbrochen.161 Mit seiner Argumentation, mit seiner Wortwahl machte er auf das gesellschaftspolitische und skandalöse Potenzial des Falles aufmerksam und distanzierte sich damit von seinem Status als einer ausschließlich medizinisch-naturwissenschaftlichen Autorität. Stattdessen reklamierte er ergänzend eine ›moralische‹ Autorität. Dementsprechend richtete Chemie-Grünenthal seine Aufmerksamkeit immer mehr auf ihn. Das Stolberger Unternehmen erwirkte sogar eine einstweilige Verfügung gegen ihn, die es ihm untersagte, seine Vorwürfe in der Öffentlichkeit zu wiederholen.162 Am Beispiel Horst Frenkels wird deutlich, wie viele Deutungsspielräume in den frühen Monaten des Contergan-Falles vorhanden waren. Frenkel leistete jene organisatorische Arbeit (mit den Betroffenen und als Mediziner), von der die wissenschaftliche Gemeinschaft und der Staat es versäumten, sie zu übernehmen. Wissenschaft und Politik verpassten damit die Chance, die Deutungsspielräume mit eigenen Konzepten zu besetzen. Dieselben Interessenkonflikte prägten auch die Debatte um Widukind Lenz. Während viele Eltern die Warnung von Lenz als wichtigen Schritt erachteten, der ihr Leben erleichterte, kritisierten manche Kollegen ihn für sein publikumswirksames Auftreten. Er habe, so der Vorwurf, mit seiner öffentlichen Debatte die wissenschaftliche Untersuchung zur Kausalitätsbeziehung zwischen Thalidomid und Fehlbildungen unnötig erschwert. Die Berichte in Funk und Fernsehen hätten Mütter aufgeschreckt und ließen nun bei jedweder körperlichen Fehlbildung an Contergan denken, ob dieser Zusammenhang realistisch sei oder nicht. Eine neutrale Beurteilung der Fälle sei kaum noch möglich. Zugleich stellte sich die Frage nach dem Aussagewert der Lenzschen Forschung, da noch kein
160 F. Höller, Viele Pillen gehören in den Orkus. 161 Vgl. A.H. Crumbach, Contergan im Diskurs, S. 77-78. 162 Siehe dazu Akte zur Beobachtung Frenkels durch die Firma Chemie Grünenthal liegt im Landesarchiv NRW, siehe dazu: LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 247. Vgl.
Manfred
von
Conta,
Vom
Schlafmittel
zum
Schmerzensgeld,
in:
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 09.01.1962, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 67a, 67053.
142 | Sprechen über Contergan
empirisches Material seine These absicherte.163 Schon hier deutete sich an, dass Lenz nicht nur für seine öffentliche Darstellung, sondern auch für seine wissenschaftliche Methodik Kritik erfuhr. Ein Sachverhalt, der sich noch verstärken sollte. Der medizinische Expertenstatus von Lenz stand innerhalb der medizinischen Fachgemeinschaft zunehmend zur Disposition. Der Orthopäde Erich Thissen beispielsweise hielt Widukind Lenz in der MÜNCHENER MEDIZINISCHEN WOCHENSCHRIFT grundsätzliche methodische Schwächen vor.164 Eine unbefangene Befragung von Müttern sei heute kaum noch möglich, argumentierte er: »Mit Wiedemann und Petersen sind wir uns über die Schwächen nachträglich erhobener Schwangerschaftsanamnesen im klaren. Besonders nachdem Rundfunk, Fernsehen und Laienpresse sich der Mißbildungsfrage angenommen haben, so daß es heute in der Bundesrepublik kaum noch einen Menschen gibt, der nicht bei Mißbildungen sofort an Contergan denkt. So wird in Presse und Fachliteratur von ›Contergan-Babies‹ und ›Thalidomid-Embryopathie‹ gesprochen. Wenn man es also genau nimmt, so sind weder der Fra165
ger noch die Befragten unbefangen an das Problem herangegangen.«
Innerhalb kürzester Zeit wurde der Begriff Contergan (und auch Thalidomid) mit körperlichen Fehlbildungen gleichgesetzt. Für Mediziner, die den Ursachen der »Extremitätenmißbildungen«166 auf den Grund gehen wollten, stellte die Be-
163 Vgl. J. Gleiss, Zur Analyse teratogener Faktoren mit besonderer Berücksichtigung der Thalidomid-Embryopathie, LAV NRW R Gerichte Rep. 139, Nr. 5a, fol. 5020; Petersen, Claus E., Thalidomid und Mißbildungen. Beitrag zur Frage der Ätiologie eines gehäuft aufgetretenen Fehlbildungskomplexes, in: DIE MEDIZINISCHE WELT, 14 (1962), S. 753-756, hier S. 755, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 54a; Lenz, W./Knapp, K., Die Thalidomid-Embryopathie, in: DEUTSCHE MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT, 87/24 (1962), S. 1232-1242, hier S. 1236, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 54a. Lenz Verteidigung siehe in: W. Lenz, Wirkt »Contergan« teratogenetisch?, in: HAMBURGER ÄRZTEBLATT [1962], S. 159-160, hier S. 159, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 65). Vgl. A.A. Daemmrich, A Tale of two Experts, S. 141-142; A.H. Crumbach, Contergan im Diskurs, S. 76. A.H. Crumbach, Arzneimittel aus der Waschküche, S. 109-110. 164 Vgl. E. Thissen, Extremitätenmißbildungen. Untersuchungen und Behandlungsmöglichkeiten, in: MÜNCHENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT, 104 (1962), S. 2282-2288, hier S. 2282. 165 Ebd., S. 2283. 166 H. Weicker/K.-D. Bachmann/R.A. Pfeiffer/J. Gleiss, Thalidomid-Embryopathie. II. Ergebnisse individueller anamnestischer Erhebungen in den Einzugsgebieten der
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richterstattung ein Hindernis dar, wie Thissen darlegte. So erklärte etwa die Forschergruppe um Professor Weicker von der Universitätsklinik, es sei eine »Contergan-Hysterie«167 entstanden. Dennoch mutmaßte er für seine Gruppe, sie würde ihre Ergebnisse zusammengetragen haben, »ehe durch die Tagespresse eine mögliche Beeinflussung der betroffenen Familien erfolgt war«168, sodass sie Lenz’ These dann doch ablehnen oder bestätigen könnte. Das sprach für die Überprüfbarkeit der Beobachtungen von Lenz. Und nichts anderes hatte er gefordert. Besonders scharf kritisierte die Zeitschrift EUROMED im August 1962 den Humangenetiker. Im Mittelpunkt der Kritik stand seine Aussage, ab Sommer 1962 seien keine weiteren Fehlbildungsfälle zu erwarten, da nun neun Monate seit der Marktrücknahme vergangen seien. Diese Mitteilung, so euromed, werfe ein falsches Bild auf die komplexen Ursachen von körperlicher Fehlbildung.169 Lenz reduziere fatalerweise den Sachverhalt auf die Sentenz: »›wir haben die Ursache der Mißbildungswelle gefunden‹«.170 Dass seine These nicht zutreffe, zeige die Tatsache, dass zum einen nach der Einnahme von Contergan auch gesunde Kinder geboren worden seien und zum anderen als typisch beschriebene Contergan-Fälle in Ungarn aufgetreten seien, obwohl das Medikament dort nicht vertrieben worden war. Lenz wecke in den Menschen die Hoffnung, dass die eine Ursache für Fehlbildungen bei Neugeborenen entdeckt und beseitigt worden sei.171 In dem Artikel wird besonders die Einmischung von Lenz außerhalb seiner medizinischen Disziplin als schwierig gewertet. Lenz verhalte sich wie ein Staatsanwalt und nicht wie ein Arzt, so der harte Vorwurf an ihn. Es stelle sich die Frage, ob Lenz einen »vermutbaren Zusammenhang« als Tatsache deklarie-
Universitäts-Kinderkliniken Bonn, Köln, Münster und Düsseldorf, in: DEUTSCHE MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT, 87/33 (1962), S. 1597-1607, hier, S. 1597. 167 Ebd., S. 1600. 168 H. Weicker/K.-D. Bachmann/R.A. Pfeiffer/J. Gleiss, Thalidomid-Embryopathie. II., S. 1606. 169 Vgl. Das Contergangrän. Schlafen Protestantinnen schlechter?, in: EUROMED (1962), o.S., BArch B 189/11731. 170 Das Contergangrän. Schlafen Protestantinnen schlechter? 171 Ebd.: »Obwohl eine Reihe von Fachleuten öffentlich Zweifel an der Alleinschuld von ›Contergan‹ geäußert haben, speiste Lenz die Öffentlichkeit weiterhin mit bekennenden Äußerungen, die jedermann im Glauben bestärken mußten, ›Contergan‹ sei allein schuld.«
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ren wolle und somit »eine unbescholtene Firma in den Anklagestand versetzen« dürfe.172 Widukind Lenz’ Entdeckung und sein weiteres Vorgehen stellte sowohl seinen Fachbereich als auch die gesamte pharmazeutische Industrie vor große Herausforderungen. Es ging vor allem um deren wissenschaftliche Reputation. Zugleich stand die Frage im Raum, wie viel Information Patienten erhalten durften, wenn die wissenschaftliche Gemeinschaft noch nicht zu einem gesicherten Urteil gekommen war.173 »Hat Lenz der Wahrscheinlichkeit der Contergan-Hypothese die Unsicherheit genommen, so hat die Bundesgesundheitsministerin Schwarzhaupt der Hypothese die Unsicherheit belassen. Die Zeitungen verlassen sich auf die Aussagen eines Professors. Die Öffentlichkeit fragt nicht, wer könnte denn nun am Ende recht behalten: der Professor oder die Ministerin? Die Öffentlichkeit fragt: was weiß der Professor? Er sagt: wahrscheinlich war es Contergan. Also war es Contergan, denn sonst hätte es der Professor nicht gesagt. Was ein Professor sagt, das hat er gesagt, denn Professor heißt Bekenner. Was weiß schon eine Gesundheitsministerin nach einem halben Jahr Verwaltungsarbeit in Sachen Gesundheit?«174
Lenz reagierte auf all diese Vorwürfe, indem er eine ethisch-medizinisch Position bezog und sich als Ansprechpartner für besorgte Eltern anbot. 1962 erklärte er im HAMBURGER ÄRZTEBLATT, die Beschreibungen der Contergannebenwirkungen seien so unspezifisch gewesen, sodass die Mütter nicht nur durch Presseberichte beeinflusst worden seien.175 In den ÄRZTLICHEN MITTEILUNGEN veröffentlichte er dann eine kurze Zusammenfassung seiner Ergebnisse, die die Öffentlichkeit beruhigen und seine Kollegen informieren sollte: »Durch irreführende und überholte Presseberichte wurde die Öffentlichkeit in zum Teil unerwünschter Weise über die Frage eines Zusammenhanges zwischen der Einnahme ei-
172 Das Contergangrän. Schlafen Protestantinnen schlechter? 173 Vgl. ebd.: »Eine Gesundheitsministerin müßte demissionieren, wenn sie mehr sagt, als sie verantworten kann. Bei einem Ordinarius ist das etwas anderes. Er kann behaupten, was sein Gewissen ihm einsagt. Wenn es nachher nicht gestimmt hat, um so besser, dann suchen wir weiter. Wissenschaftliche Hypothesen sind notwendig. Ordinarius müßte man sein.« 174 Ebd. 175 Vgl. Lenz, Widukind, Diskussion. Wirkt »Contergan« teratogenetisch?, in: HAMBURGER
ÄRZTEBLATT, (1962), S. 159-160, hier S. 159, LAV NRW R, Gerichte
Rep. 139 Nr. 65.
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nes bestimmten Medikamentes (N-Phthalyl-Glutaminsäure-Imid) und angeborenenen Mißbildungen informiert. Ich fühle mich verpflichtet, in diesem Augenblick einige Feststellungen zu treffen, welche geeignet sind, ungerechtfertigten Befürchtungen entgegenzuwirken.«176
Als Lenz im Juli 1962 verkündete, es seien keine neuen contergangeschädigten Kinder mehr zu erwarten177, atmete die Presse auf. Die Gefahr schien gebannt. Der Arzt Weicker sah das mediale Interesse an dieser Bekanntmachung durchaus positiv. So berichtete die CUXHAVENER ZEITUNG einen Monat später: »Prof. Weicker erklärte, daß ohne die Mithilfe der Presse die Mißbildungswelle in Deutschland nicht so schnell abgeklungen wäre. Nur die alarmierenden Nachrichten der Presse hätten verhindert, daß das in den Haushalten vorhandene Schlafmittel ›Contergan‹ weiter benutzt worden wäre, nachdem es aus dem Verkehr gezogen wurde.«178
Weicker, der eine mögliche Kausalität zwischen dem Medikament und den Fehlbildungen nicht ausschloss, unterstützte somit die mediale Berichterstattung und ihre Wirkungsweise auf die Leser. Somit übertrug sich die wissenschaftliche Debatte über die richtigen Begrifflichkeiten auch auf den medialen Raum.179 Einzelne Zeitungen berichteten stolz, Widukind Lenz sei als »Sherlock Holmes
176 W. Lenz, Entstehung von Mißbildungen durch Medikamente, in: ÄRZTLICHE MITTEILUNGEN,
9 (1962), S. 494.
177 Vgl. Upi, »Contergan«-Gefahr bald gebannt, in: BONNER GENERALANZEIGER, 19.07.1962, BArch B 106/10805; H. Koar, »Contergan« – schuldig oder nicht, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 68a, 68071. 178 Dpa, Ärztekongreß diskutiert ›«Contergan«‹-Schäden, in: CUXHAVENER ZEITUNG, 28.08.1962, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 68a, 68145. 179 Walburga Freitag hat die unterschiedlichen Begriffsvarianten im medizinischen Bereich nachgezeichnet. So stehen Lenz, Knapp, Weicker, Hungerland, Bachmann, Pfeiffer, Kosenow und Gleiss als Vertreter für den Begriff der ThalidomidEmbryopathie, der eine direkte Verbindung zwischen dem Wirkstoff und den Fehlbildungen sieht und sich gegen die Argumentation der Firma Chemie Grünenthal richten. Daneben steht der Begriff der Phokomelie, der sich auf die Fehlbildungen konzentriert, so auch bei Weicker und Hungerland. Schließlich als Vertreter der Dysmelie-These ist Hans-Rudolf Wiedemann zu nennen. Auch der Begriff Wiedermann-Dysmelie-Syndrom oder allgemeine Beschreibungen der ›Mißbildungen‹ werden populär. Siehe dazu W. Freitag, Contergan, S. 44-48.
146 | Sprechen über Contergan
der Medizin«180 in den USA für seine Leistungen bejubelt worden. Dies stand in Verbindung zur Würdigung von Francis Kelsey, einer Mitarbeiterin der amerikanischen Behörde FDA, die die Einführung thalidomidhaltiger Medikamente in den USA verhindert hatte und von Präsident Kennedy den President’s Distinguished Federal Civilian Service Award erhalten hatte.181 Diese Würdigung erschien angesichts der Tatsache, dass die Einführung verhindert worden war, als angebracht. Nicht angebracht erschien hingegen die Herabwürdigung von Lenz durch die deutsche medizinische Fachgemeinschaft, schließlich habe er sich doch ebenso wie Kelsey um die Aufdeckung des Contergan-Falles verdient gemacht.182 So kritisierte WELT AM SONNTAG die unverhältnismäßige »Hexenjagd«183 auf Lenz und verdeutlichte einmal mehr, dass seine Leistungen nicht nur nicht gewürdigt, sondern sogar diffamiert wurden.184 Die Laienpresse würdigte das Engagement von Lenz als Ausdruck von wissenschaftlicher und bürgerlicher Integrität, was durchaus im Gegensatz zu seiner wissenschaftlichen Beurteilung stand. So gab es zwei Personen, die öffentlich honorierte Person des wissenschaftlichen ›Experten‹ und die durchaus kritisch beäugte Person des Kollegen, dessen wissenschaftliche Methoden hinterfragt wurden. Die öffentliche Geschichte des Contergan-Falles war bis zum Frühjahr 1962 die Geschichte verschiedener Übersetzungsangebote. Journalisten und Politiker rangen in dieser Zeit um Wissen und Deutungen. Wissenschaftliche ›Experten‹ und Akteure aus Bund und Ländern versuchten Journalisten von der Wissensgenerierung und -verteilung auszuschließen. Sie beharrten auf ausdifferenzierten
180 Erstes »Contergan«-Baby in den USA, in: BILD vom 09.08.1962, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 68a; So wurde »Contergan« eingekreist, in: WELT AM SONNTAG,
32 (1962), S. 9, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 68a; Mauz, Gerhard,
Kein Medikament ist völlig ungefährlich, in: DIE WELT, 15.08.1962, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 68a; Siehe auch A.H. Crumbach, Contergan im Diskurs, S. 77. 181 Vgl. Gerhard Prause, Der ›Fall »Contergan«‹. zwei Jahre danach ..., in: WELT AM SONNTAG, 01.12.1963, BArch B 189/11731, fol. 271. 182 Vgl. A.A. Daemmrich, A Tale of two Expertes. 183 Gerhard Prause, Der ›Fall »Contergan«‹ – zwei Jahre danach …, in: WELT AM SONNTAG, 01.12.1963, BArch B 189/11731, fol. 271. A.H. Crumbach, Contergan im Diskurs, S. 76. 184 Lenz erhielt die Ehrendoktorwürde der Universität Tübingen und das Bundesverdienstkreuz, siehe auch Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 315, FN 42.
Von der Übersetzung einer gescheiterten wissenschaften Tatsache | 147
Kommunikationsstrukturen, auf einer Wissenshierarchie zwischen ›Experten‹ und ›Laien‹. Journalisten versuchten ihrerseits diese Hierarchie aufzubrechen und eigene Übersetzungsangebote vorzustellen. Insbesondere ihre Übersetzungen aus dem medizinischen Bereich in den Alltag der Nicht-›Experten‹ prägten diese Phase. Die Übersetzungsangebote benutzten eine verständliche und anschlussfähige Sprache und richteten sich an bekannten Begriffen aus. Vermehrt wurden naturalistische Beschreibungen einer schicksalhaften ›Katastrophe‹ oder die Angst vor Fehlbildungen durch Radioaktivität verwendet. Die wissenschaftliche Tatsache rückte immer weiter in den Hintergrund und von nun an beteiligten sich vornehmlich Journalisten an der Schaffung der medialen Tatsache. Die Ärzte Frenkel und Lenz waren wichtige Verbindungspersonen zwischen der medizinischen Fachgemeinschaft und der nichtmedizinischen Laienöffentlichkeit. Die Kritik und der Aufruhr, die ihre Schritte in der medialen Öffentlichkeit auslösten, verdeutlichen, wie ungewohnt die öffentliche Auseinandersetzung mit wissenschaftlichem Wissen war. Einerseits stiegen Lenz und Frenkel in der Laienöffentlichkeit zu hochgeschätzten ›Experten‹ auf, indem sie ihr gewonnenes Wissen als Wahrheit präsentierten und dadurch Glaub-würdigkeit erlangten. Andererseits war ihr Expertenstatus von einer hohen Fragilität in Bezug auf die eigene wissenschaftliche Gemeinschaft gekennzeichnet, gerade weil sie den Weg in die Öffentlichkeit suchten. Ihr Status als ›Experten‹ war gesellschaftlich zwar gesichert, in der Wissenschaft jedoch umstritten.185 Ihre öffentlichen Stellungnahmen wurden als Abkehr von der Tradition der Wissensverhandlung innerhalb einer abgeschlossenen wissenschaftlichen Gemeinschaft wahrgenommen.186
185 Vgl. B. Schumacher/T. Busset, Der Experte, S. 16-17. »Die hier versammelten Aufsätze zeigen, dass die Geschichte des ›Aufstiegs einer Figur der Wahrheit und des Wissens‹ eine Geschichte permanenter Kämpfe und auch eine Geschichte des drohenden ›Falls‹ ist. Immer wieder geht es um die Modalitäten der Abgrenzung und des Status von Wissen und um die immense Fragilität in der Eigenwahrnehmung und der Akzeptanz von ExpertInnen.« (Ebd., S. 16). 186 Vgl. S. Beyer-Enke, Arzneimittel-Affären, S. 9: »Zu den erhobenen Vorwürfen, daß sich Mediziner entgegen der Tradition auch an die ›Laienpresse‹ gewendet hätten, ließ die Interessengemeinschaft verlauten, ein anderer Weg sei nicht geblieben. Das Ganze sei eine öffentliche Angelegenheit, die in der Öffentlichkeit ausgetragen werden müsse.« A.H. Crumbach, Contergan im Diskurs, S. 76-77.
4
Der Begriff des Contergankindes als neues Kollektivsymbol in der Presse
Mit Beginn des Jahres 1962 setzte eine leichte Beruhigung innerhalb der medialen Berichterstattung ein. ›Experten‹ und politische Akteure hatten versichert, die Lage sei unter Kontrolle und das Arzneimittelgesetz ausreichend, um die Bürgerinnen und Bürger vor Gefahren zu schützen. Im Frühjahr 1962 veränderte sich die Situation völlig. Nicht mehr die Frage nach abstrakten Schutzmechanismen von Gesetzesvorgaben und Richtlinien, sondern die Opfer des Medikaments Contergan traten in das mediale Interesse.1 Als die BILD-Zeitung im April 1962 den Begriff Contergankind in die Welt setzte, veränderte sie das Sprechen über Thalidomid. Der neue Terminus verkürzte den Diskurs auf die Nebenwirkungen des Medikaments und erweiterte das Sprechen über den engeren medizinischen Bereich hinaus, indem er über den medizinischen Diskurs eine zweite Schicht der öffentlichen Debatte legte. Dabei ging es um Schuld, Technikgefahren und lebenswertes Leben. Der ConterganFall wurde zum Anlass einer ethisch-moralischen Debatte über das Leben in modernen Gesellschaften. Auslöser war die BILD-Zeitung, die die Öffentlichkeit aufschreckte, indem sie beschrieb und visualisierte, was die Zeitungen bis dahin nur angedeutet, nur abstrakt, medizinsprachlich skizziert hatten. Umfangreiche Reportagen und emotional aufrüttelnde Leitartikel schilderten die Situation der jungen Opfer, der unschuldig Leidtragenden, der Säuglinge, der Kleinkinder. Für sie erfand die Zei-
1
Siehe dazu N. Lenhard-Schramm, Contergan und das Arzneimittelgesetz, S. 152; S. 154 ff.; N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 435-438; W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 212-215.
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tung den Begriff Contergankind. Anrührende Fotos lenkten den Blick auf kleine Jungen und freundlich dreinblickende Mädchen mit auffallenden Fehlbildungen2 Ab diesem Zeitpunkt wandelten sich auch die Argumentationen und Diskursstränge, welche die Debatte bisher geprägt hatten. Es genügte nicht mehr, das Schicksal für das Geschehene verantwortlich zu machen oder die Fehleranfälligkeit von Innovationen zu beklagen. Jetzt ging es darum, Schuldige zu benennen, die Verantwortung der Politik herauszuarbeiten und die Folgen einer scheinbar unstillbaren Profitgier vorzuführen. Freilich, mit dem Contergan-Fall erhielt die Debatte um den menschlichen Körper, um die Voraussetzungen menschlicher Unversehrtheit eine dramatische Wende. Aufgrund von Contergan entbrannte ein heftiger Streit um die Gefährdung durch Technik (und nicht allein nur durch Technikversagen) – zu denken ist in diesem Zusammenhang an die Diskussion um die Folgen nuklearer Strahlung durch Atomwaffenversuche oder Atomkraftunfälle. Was müssen die Menschen als Folge von technischen Neuerungen letztendlich hinnehmen? Welche technischen Innovationen sind in jedem Falle abzulehnen? 3 An Elsbeth Bösl anknüpfend untersuche ich neben der Verankerung des Terminus Contergankind in der Öffentlichkeit seine weitergehende sprachliche Aushandlung in politischen und gesellschaftlichen Debatten. Ausgangspunkt ist die These, dass nicht nur der Begriff Contergankind durch die BILD zielbewusst in die Welt gesetzt wird,4 sondern sich zu einem anschlussfähigen und zuschreibungsoffenen Kollektivsymbol entwickelte, das nachhaltig das Sprechen über Contergan veränderte.5 Die sprachpolitische Intervention der BILD-Zeitung brachte in der Debatte den entscheidenden Wendepunkt, weil sie deutlich machte, was bisher nur abstrakt umschrieben worden war: Sie verwies auf Contergan und nicht auf den wissenschaftlichen Fachbegriff Thalidomid, also auf ein konkretes pharmazeutisches Produkt statt auf eine chemische Formel. Außerdem benannte sie indirekt den Verursacher der ›Katastrophe‹ und verengte zugleich den Fokus auf eine einzige Opfergruppe. Begünstigt wurde diese sprachliche Entwicklung von einer selbstbewusst agierenden Presse ebenso wie von fehlenden medizinischen Erklä-
2
Vgl. zur Visualisierung von Behinderung; G. Lingelbach, Konstruktionen von ›Behinderung‹; E. Bösl, The Contergan Scandal; A.H. Crumbach, Bilder als Grenzerfahrung; A.H. Günther, Contergan als Zäsur.
3
Vgl. A. von Schwerin, Die Contergan-Bombe, ab S. 261.
4
Vgl. ebd.
5
Winfried Rudloff spricht von den contergangeschädigten Kindern als »Ikonen fragmentierter Körperlichkeit«; Vgl. W. Rudloff, Überlegungen zur Geschichte, S. 870.
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rungsmustern. Der medizinische Spezialdiskurs erhielt mit der Wortneuschöpfung ein eigenständiges Symbol: das Kollektivsymbol Contergankind. Dieses Symbol übersetzte die komplexen Spezialdiskurse in einen verständlichen Interdiskurs, an dem neben medizinischen ›Experten‹ eine Vielzahl an Akteuren (Journalisten, Eltern) beteiligt werden konnte. Es verdichtete die unterschiedlichen Übersetzungsangebote in einem zentralen Begriff. Wie wirkungsmächtig das Kollektivsymbol Contergankind war, bewiesen die zunächst hilflosen und ausweichenden Reaktionen der politischen und medizinischen Akteure. Der Begriff teilte die Öffentlichkeit viel stärker als zuvor in einen medialen Diskurs und einen wissenschaftlichen Diskurs. Dass dieser Prozess nicht nur sprachlich, sondern auch visuell unterstützt wurde, hat Bösl bereits angesprochen.6 Insbesondere in der Auseinandersetzung mit der Publikation des ehemaligen NS-Eugenikers Werner Catel wird die Bedeutung der visuellen Darstellung von Behinderung deutlich.
4.1 DIE SPRACHLICHE ERFINDUNG EINES NEUEN KOLLEKTIVSYMBOLS Im April 1962 berichtete der BILD-Autor Dietrich Beyersdorff erstmals von den sogenannten »Contergan-Babys«.7 Der Leser erfuhr, in Westdeutschland seien rund 3.000 Kinder als »Krüppel« auf die Welt gekommen, nachdem ihre Mütter Contergan eingenommen hatten. Damit veröffentlichte BILD erstmals eine Schätzung der Opferzahlen. Von Thalidomid war nicht mehr die Rede. Der Autor setzte Conterganbabys mit ›Krüppeln‹ gleich und konnte so an bekannte Assoziationen anknüpfen. Denn bis weit in die 1960er Jahre war der Begriff des ›Krüppels‹durchaus geläufig, deren Beschreibungspraxis sich an Leitmotive wie Mitleid und Fürsorge für die Betroffenen orientierte.8 ›Krüppel‹ waren in der damaligen Vorstellung Menschen mit Behinderungen, die hilfsbedürftig und nicht in der Lage seien, ihr Leben selbständig zu gestalten (insbesondere aufgrund fehlender beruflicher Perspektiven). Damit wurde ihnen der Zugang zur
6
Vgl. A. von Schwerin, Die Contergan-Bombe, ab S. 261.
7
D. Beyersdorff, 3000 Kinder sind Krüppel, in: BILD vom 11.04.1962.
8
Vgl. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 85 und S. 91; Klaus-Dieter Thomann, Das behinderte Kind, »Krüppelfürsorge« und Orthopädie in Deutschland, 1886-1920, Stuttgart 1995, hier S. 294. Siehe zum Begriff des ›Krüppels‹ auch Walter Fandrey, Krüppel, Idioten, Irre. Zur Sozialgeschichte behinderter Menschen in Deutschland, Stuttgart 1990.
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Arbeitswelt und zur gesellschaftlichen Teilhabe versagt. Was Klaus-Dieter Thomann für Kinder mit körperlichen Behinderungen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts festhält, lässt sich auch auf die Bundesrepublik übertragen: »Mit dem Festhalten an dem Begriff ›Krüppel‹ wurde erneut eine Chance zu Integration behinderter Kinder verschenkt.«9 Initiativen, den Begriff Behinderung als zentrale Beschreibungskategorie einzuführen, hatte es von Seiten einiger Interessensvertretungen seit den 1950er Jahren gegeben. Auch im Körperbehindertengesetz (1957) verwies der Gesetzgeber auf den Begriff der Behinderung. Dennoch war er zunächst nur bedingt anschlussfähig, diente er doch bereits im Nationalsozialismus als sprachliches Konzept, um zu kategorisieren, wer gesellschaftlich und arbeitstechnisch integrierbar schien und wer aufgrund seiner körperlichen oder geistigen Behinderungen als »lebensunwert« galt.10 Versuche nach dem Krieg, den generalisierenden Begriff Behinderung wieder in den Sprachgebrauch zu implementieren und sich somit von ausgrenzenden und beleidigenden Sprachkonstruktionen zu distanzieren, fallen in die Phase der 1960er Jahre.11 Im Contergan-Fall, so werden wir sehen, wird das Konzept der Behinderung sprachlich nicht anschlussfähig sein, sondern vielmehr durch neue Sprachangebote verdrängt. Der BILD-Journalist Beyersdorff offerierte in seinem Artikel neben den geläufigen und bekannten Begriff des ›Krüppels‹ ein neues Begriffsangebot: das Conterganbaby. Er verknüpfte diesen Begriff mit einer eindeutigen Botschaft: Von den Conterganbabys konnte nur gesprochen werden, wenn Contergan auch als ausschlaggebende Ursache festgestellt worden war. Das Contergankind oder Conterganbaby implizierte eine medizinische Kausalität zwischen den Neugeborenen und dem Medikament, die zu diesem Zeitpunkt wissenschaftlich noch nicht eindeutig erwiesen war.12 Gleichzeitig verband er die durch den Begriff ›Krüppel‹ hervorgerufenen Assoziationen – Mitleid, Hilflosigkeit, Isolation –
9
K.-D. Thomann, Das behinderte Kind, S. 294.
10 Vgl. H.-W. Schmuhl, Exklusion, S. 67-82; S. 92; J. Stoll, Behinderte Anerkennung, S. 200-202. 11 Vgl. J. Stoll, Behinderte Anerkennung, S. 202-203. 12 BILD druckte ein Diagramm, auf dem der Anstieg der Fehlbildungen grafisch mit der Markteinführung des Medikaments in Verbindung stand. Die Grafik vereinfachte die medizinische Debatte, indem sie die zeitlichen Abläufe der Markteinführung und Rücknahme in direkten Bezug zur Fehlbildungsrate setzte. Das Offensichtliche sprang dem Leser ins Auge: Mit der Markteinführung begannen die Fehlbildungen, nach der Rücknahme hörten sie schlagartig auf (vgl. D. Beyersdorff, 3000 Kinder sind Krüppel).
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mit den contergangeschädigten Kindern. Mit dem Begriff Conterganbaby verlagerte Beyersdorff die Diskussion auf eine symbolische Ebene: Nun stand das Contergankind stellvertretend für tausende Neugeborene, die zu unschuldigen Opfern des Medikaments geworden waren, wodurch gleichzeitig die erwachsenen Contergangeschädigten sprachlich ausgeschlossen wurden. Die Debatte verlagerte sich folglich auf den Kreis der Kinder als Opfergruppe. Zugleich wurde betont, wer verantwortlich gemacht wurde, und zwar die Herstellerfirma mit ihrem Medikament Contergan. Beyersdorff griff in seinem Artikel auch die Forderung des Orthopäden Oskar Hepp auf, der in einer seiner wissenschaftlichen Publikation einen »Katastrophendienst«13 gefordert hatte. Damit erreichten erstmals Forderungen eines orthopädischen ›Experten‹ die mediale Öffentlichkeit, die konkrete Lösungsvorschläge beinhalteten. Andere Printmedien griffen Hepps Vorschlag ebenfalls auf und schlossen sich seinen Forderungen an.14 Einhergehend mit der Konzentration auf die contergangeschädigten Kinder, setzte eine verschärfte öffentliche Auseinandersetzung mit der Arbeit des Bundesgesundheitsministeriums und Elisabeth Schwarzhaupt ein. Spätestens ab dem Sommer 1962 standen das Bundesgesundheitsministerium und die Ministerin unter medialer Beobachtung. Ihnen wurde politisches Versagen vorgeworfen: »BILD meint: Wir können nicht so lange warten, bis die Klärung der Schuldfrage durch alle Gerichtsinstanzen geschleppt wird. Das kann Jahre dauern. Den 3000 Kindern muß sofort [Hervorhebung im Original, A.H.C.] geholfen werden. Sie dürfen keine Almosenempfänger werden. Gerade sie haben ein Recht zum Leben, einen Anspruch auf ein menschenwürdiges Dasein. […] BILD aber fordert schon heute: Diese Kinder dürfen nicht zu Ausgestoßenen unserer Gesellschaft werden. Gerade Ihnen gebührt unsere ganze Liebe, die vollkommene Fürsorge des Staates.«15
Einher mit der Frage nach einer gerichtlichen Untersuchung des ConterganFalles diskutierte Beyersdorff 1962 die Frage nach der politischen Verantwortung für die contergangeschädigten Kinder. Insbesondere das Bundesgesundheitsministerium, aber auch seine Leser forderte er zu mehr Engagement für die geschädigten Kinder auf. Beyersdorff skizzierte nicht nur den Aufgabenbereich
13 O. Hepp, Die Häufung der angeborenen Defektmißbildungen, S. 419. 14 Vgl. A.H. Crumbach, Contergan im Diskurs, S. 79; A.H. Günther, Contergan als Zäsur, S. 152. 15 D. Beyersdorff, 3000 Kinder sind Krüppel; Siehe auch zur medialen Entwicklung im Sommer 1962 W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 217-227.
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des Bundesgesundheitsministeriums, sondern auch eine gesellschaftliche Verantwortlichkeit für die Folgen des Contergan. Die Debatte löste sich von den abstrakten Fragestellungen nach Wirksamkeit und Reichweite des Arzneimittelgesetzes, sondern konzentrierte sich nun auf die Nachwirkungen des Falles. Damit umriss Beyersdorff auch den Wunsch nach einem auf Bundesebene durch das Bundesgesundheitsministerium koordinierten Hilfsprogramm. Die mediale Berichterstattung nahm einen Perspektivwechsel vor. Die Opfer interessierten jetzt. Die Darstellung der körperbehinderten Kinder forderte Empathie ein. Das Mitleid galt ebenso den Eltern. Sie erhielten in der Presse eine Möglichkeit, nach außen zu kommunizierten. Hier schilderten sie ihre Sicht der Dinge und appellierten an eine »moralische Verpflichtung [Hervorhebung im Original, A.H.C.]«16 der Gesellschaft. Für die Herstellerfirma Chemie Grünenthal bedeutete der BILD-Artikel, dass die Aufmerksamkeit neuerlich auf das Unternehmen gelenkt wurde. Im Interesse der Firma musste eine erfolgreiche Etablierung des neuen Kollektivsymbols Contergankind verhindert werden. Problematisch war jedoch, dass Journalisten nicht nach den Logiken der medizinischen Fachgemeinschaft publizierten. Während ein wissenschaftlicher Beitrag bis zur Veröffentlichung unterschiedliche Korrekturphasen durchlaufen musste und die Firma Chemie Grünenthal gut mit einzelnen Fachzeitschriften vernetzt war, gestaltete sich die Ausgangssituation nun ganz anders: Schließlich zielten Presseberichte darauf ab, Information und Aktualität zu gewährleisten, also möglichst tagesaktuell zu veröffentlichen. Die fehlenden Beziehungen zu Redaktionen der Tagespresse erschwerten es der Firma, Einfluss auf Publikationen zu nehmen. Dennoch besuchten Firmenvertreter im April 1962 verschiedene Zeitungsredakteure, um mit ihnen über den weiteren Verlauf der Berichterstattung zu sprechen.17 Im Fall des Artikels von Beyersdorff konnten sie eine Änderung nicht mehr erreichen. Ihnen wurde allerdings eine Vorabansicht erlaubt (unter zweitweiser Anwesenheit des BILD-Anwalts). Der Firmenvertreter schien der Meinung, trotz des für die Firma zunächst unangenehmen Artikels würden die nachfolgenden Berichte wohlwollender ausfallen. Daher entschied sich die Firma gegen ein weiteres Vorgehen.18 Darüber hinaus versuchte Chemie Grünenthal, Presseerklärungen über die Deutsche Presse-Agentur GmbH (DPA) weiterleiten zu lassen,
16 Anonym, Kümmert Euch um die bedauernswerten Opfer!, in: BILD 11.04.1962. 17 Vgl. A/Ke, Bericht über Besuche bei verschiedenen Zeitungen im norddeutschen Raum, 17. April 1962, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 327a, 21-22. 18 Vgl. ebd.
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die die Firmensicht präsentierten.19 Nicht in allen Redaktionen stießen die Einmischungsversuche auf Gegenliebe. So wurden beispielsweise die Besuche von Firmenvertretern als Beeinflussung der Berichterstattung gewertet.20 Da sich die Kontaktaufnahme zu Pressevertretern schwierig gestaltete, kontaktierte die Firma Chemie Grünenthal im August 1962 erneut das Fachpublikum, griff also auf ihre bewährten Kommunikationskanäle zurück. Die medizinisch-wissenschaftliche Abteilung der Firma versandte eine kommentierte Literaturliste, auf der die Forschungsergebnisse zum Wirkstoff Thalidomid zusammengefasst waren. Unter dem Titel »Contergan-Referat aus der Weltliteratur« hieß es dort: »Um allen interessierten Ärzten die Möglichkeit zu geben, sich an der wissenschaftlichen Contergan-Diskussion zu beteiligen, erscheint es uns wichtig, Ihnen heute in der Form eines Sammelreferates die gesamten Unterlagen zum Thema aus dem internationalen Schrifttum vorzustellen. Um Ihnen darüber hinaus eine noch intensivere Kenntnis aller Contergan betreffenden Publikationen zu ermöglichen, steht Ihnen in Kürze eine Sammlung von Referaten aus dem Weltschrifttum zur Verfügung. Wir glauben, damit nicht nur der Forschung zu dienen, sondern auch einen Beitrag für die Sicherheit in der ärztlichen Rezeptur zu leisten.«21
Dass nun auch die Firma von Contergan und nicht von Thalidomid sprach, verdeutlicht die Reichweite des Begriffes auch in der medizinischen Diskussion. Letztlich unternahm die Herstellerfirma den Versuch, den Begriff Contergan wissenschaftlich umzudeuten und positiv zu besetzen. Die medizinische Fachgemeinschaft hingegen schien von den sprachlichen Übersetzungsarbeiten der Journalisten nahezu überrollt worden zu sein. Innerhalb ihrer Kommunikationskanäle diskutierten einzelne Mitglieder, welche Auswirkungen die Pressemitteilungen auf ihre Patienten haben. So erklärte der Gynäkologe Kuhlmann in der DEUTSCHEN HEBAMMEN-ZEITSCHRIFT im Juli 1962:
19 Vgl. A/Ke, Bericht über Besuche bei verschiedenen Zeitungen im norddeutschen Raum, 17. April 1962, S. 22-23. 20 Vgl. ebd., S. 25. 21 »Contergan«-Referat aus der Weltliteratur, hrgs. von der medizinisch-wissenschaftlichen Abteilung der Firma Chemie Grünenthal GmbH, abgeschlossen am 1. Juli 1962, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 62a, 62007; Brief der Firma Chemie Grünenthal, August 1962, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 62a, 62008-62021.
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»Die Kenntnis unseres derzeitigen Wissens ist zur Aufklärung und Beruhigung unserer Patentinnen zur Zeit besonders wichtig, da durch die verschiedenartigsten, zum Teil tendenziösen Meldungen in der Presse eine allgemeine Beunruhigung der Frauen und insbesondere verständlicherweise der schwangeren Frauen aufgetreten ist.«22
Körperliche Fehlbildungen, so Kuhlmann, habe es auch vor dem Contergan-Fall gegeben und es sei falsch, »wie das weitgehend üblich geworden ist – von ›Conterganfällen‹ oder ›Contergankindern‹ zu sprechen.«23 Hier argumentierte Kuhlmann aus seiner wissenschaftlichen Perspektive, aus der körperliche Fehlbildungen bei Neugeborenen ein bekanntes Krankheitsbild darstellten. Für die zeitgenössische nichtmedizinische Wahrnehmung waren die tausenden contergangeschädigten Kinder mit keiner bisher bekannten Situation zu vergleichen. Ein Blick auf das Veröffentlichungsdatum zeigt: Bereits im Sommer 1962 schaute Kuhlmann skeptisch auf die geläufige Verwendung des Begriffes Contergankind in der medialen Verhandlung. Ob seine Kritik gerechtfertigt war oder nicht, Kuhlmanns Bericht adressierte das falsche Publikum. Sicherlich war es für ihn wichtig, Kollegen zu informieren und über seine Erfahrungen zu berichten. Dennoch wäre der Schritt in die Laienöffentlichkeit, hin zu einer öffentlichen Kritik, die alle interessierten Leser erreicht hätte, effizienter gewesen. Gleichzeitig konnte Kuhlmann als durchaus kritischer Beobachter der medialen Diskussion nicht umhin, selbst auf das Kollektivsymbol des Contergankindes zu verweisen und es in seine Überlegungen aufzugreifen, ohne jedoch ein sprachliches Gegenkonzept zu Entwicklung. Zwar kritisierte er die Verwendung des Begriffes, konnte jedoch keine sprachliche Alternative anbieten. Anders als Kuhlmann wagte Widukind Lenz immer wieder den Schritt in die Öffentlichkeit. Im Sommer 1962 machte er seine These öffentlich, die Gefahr neuer Contergan-Fälle sei gebannt. Dem legte er eine simple Berechnung zugrunde: Da seit der Marktrücknahme von Contergan neun Monate vergangen waren, wären neue Fälle so gut wie ausgeschlossen. Die Gefahr neuer Conterganschädigungen sei unwahrscheinlich, so Lenz.24 Seine These schien zwar durchaus logisch, dass sich jedoch noch Tabletten in persönlichen Medikamentenvorräten befanden, konnte nicht ausgeschlossen werden. Die Bestürzung über
22 R. Kuhlmann, Neuere Gesichtspunkte in der Mißbildungsfrage, in: DEUTSCHE HEBAMMEN-ZEITSCHRIFT, 14/ 7 (1962), S. 279-283, hier S. 279. 23 Ebd., S. 281. 24 Vgl. Upi, »Contergan«-Gefahr bald gebannt, in: BONNER GENERALANZEIGER, 19.07.1962, BArch B 106/10805; H. Koar, »Contergan« – schuldig oder nicht?, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 68a, 68071.
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das Schicksal der Contergankinder und ihrer Familien vermischte sich mit der Erleichterung des Einzelnen, der heimtückischen Gefahr entgangen zu sein.25 Gleichzeitig brachten die Presseberichte ein Argument in die Debatte ein, die das Kollektivsymbol Contergankind prägte. Die contergangeschädigten Kinder waren unschuldige Opfer des unzureichend abgesicherten Arzneimittelsystems geworden. Die negativen Folgen des medizinischen Fortschritts hatte sie für ihr Leben gezeichnet. Das Argument setzte einen Kontrast zu der im Volksmund immer noch als mütterliches »Verschulden« angelasteten Ursache für körperliche Behinderung.26 Mit dem Kollektivsymbol Contergankind wurde das Thema körperlicher Behinderung vermenschlicht. Die BILD präsentierte Mütter und Väter als Helden des Alltags, die sich gesellschaftlichen Anfeindungen und fehlender politischer Unterstützung stellen mussten.27 Und so betitelte die BILD 1962 einen Fall mit »Herzloses Dorf stößt Contergan-Eltern aus. Einwohner: Dieses Baby ist eine Strafe Gottes«28. Der Artikel profitierte zwar von den aufgewühlten Emotionen, übernahm aber indirekt eine wichtige Funktion: Er beurteilte das Verhalten der Dorfbewohner als »mittelalterliche Zustände«29 und machte somit deutlich, dass eine gesellschaftliche Isolation der betroffenen Familien inakzeptabel sei.30 Im Sommer 1962 verstärkte die BILD ihr Engagement für die contergangeschädigten Kinder. Sie war davon überzeugt, die politischen Hilfen aus Bonn würden nicht ausreichen, um den Familien effektiv zu helfen. Das Kollektivsymbol wurde mit weiteren Bedeutungen aufgeladen: Die Kinder waren gesellschaftlich ausgestoßen und von der Politik vergessen. Als Gegenmaßnahme gründete die BILD die Aktion »Baby-Pfenning«, eine Spendenaktion für die con-
25 Siehe dazu W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 200. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch die Publikation eines Fortsetzungsromans der Illustrierten Bunte, die sich mit dem Medikament Contergan beschäftigt (vgl. »Contergan«. Der Roman einer unheimlichen Droge, in: BUNTE, 10.10.1962. 26 Vgl, Der Baby-Pfennig. Bild-Aktion: Helft »Contergan«-Kindern!, in: BILD, 31.08.1962. 27 Siehe dazu auch E. Bösl, Contergan Scandal, S. 141 ff. 28 F. Jando, Herzloses Dorf stößt Contergan-Eltern aus, in: BILD, 11.09.1962. Siehe A.H. Crumbach, Bilder als Grenzerfahrung, S. 226. 29 Ebd. 30 Vgl. ebd. Die Dorfbewohner zeigten sich »beleidigt« ob der Berichterstattung, siehe dazu: Carl B Spöttel, Contergan-Dorf ist beleidigt, in: BILD, 13.09.1962. A.H. Crumbach, Grenzerfahrung, S. 226.
158 | Sprechen über Contergan
tergangeschädigten Kinder.31 In emotionalen Aufrufen appellierte sie an ihre Leserschaft, die Kinder nicht ihrem Schicksal zu überlassen.32 Die Zeitung betrachtet ihre Aktion als »echte demokratische Selbsthilfe«.33 »Die Bundesregierung hat die Verantwortlichkeit abgelehnt. Das BGM ist nicht allein zuständig. Die Länder sind es vor allem. Die Behördenwege sind verschlungen. Die Hindernisse der Instanzen verschleppen jede Soforthilfe. […] Unser aller Sorge muß den mißgebildeten Kindern gelten, den Müttern und Vätern, die mit großer Tapferkeit ihr unverschuldetes Los tragen. Sie müssen spüren, daß sie nicht allein sind! Sie müssen wissen, daß sie und ihre Kinder nicht zu Ausgestoßenen werden. Darum nimmt BILD den Ruf seiner Leser auf! Darum erklärt sich BILD im Sinne seiner Leser für zuständig!«34
Hier kristallisierte sich das Leitmotiv des politischen Versagens heraus, das in das Kollektivsymbol Contergankind zusätzlich eingebunden wurde. Auch wenn in dem zitierten Quellenbespiel vom Versagen der Bundes- und Länderbehörden gesprochen wurde, konzentrierte sich das Leitmotiv in der Folge auf zentrale politische Institutionen und Akteure auf der Bundesebene, insbesondere auf das Bundesgesundheitsministerium als Institution und Elisabeth Schwarzhaupt als Ministerin. Die Ministerin musste schwerwiegende Kritik hinnehmen. So vergnüge sich Schwarzhaupt lieber auf einer Einkaufstour, als den contergangeschädigten Kindern zu helfen.35 Eine unglückliche Figur machte Schwarzhaupt, als sie 1962 in den Sommerurlaub fuhr und dadurch eine Bundestagsdebatte über die contergangeschädigten Kinder versäumte. Von der Bundesministerin wurde eine persönliche Anwesenheit im Bundestag erwartet. Dass sich ein Vertreter Schwarzhaupts in der Bundestagsdebatte gegen finanzielle Extraleistungen für die betroffenen Familien aussprach, löste weiteres Kopfschütteln aus.36 Schwarzhaupt sah sich nicht nur der Kritik ausgesetzt, sondern sie schien die Wirkung des Kollektivsymbols zu unterschätzen. An das Leitmotiv des politi-
31 Vgl. Der Baby-Pfennig. Bild-Aktion: Helft »Contergan«-Kindern!, in: BILD, 31.08.1962; Baby-Pfenning rollt schon!, in: BILD, 01.09.1962; E. Bösl, Contergan Scandal, S. 142. 32 Vgl. Ego, »Contergan«, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 68a, 68152. 33 Der Baby-Pfennig. Bild-Aktion: Helft »Contergan«-Kindern!, in: BILD, 31.08.1962. 34 Ebd. 35 Vgl. Nicht Hüte, sondern Hilfe!, in: BILD, 22.08.1982; W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 218. Steinmetz spricht von diesem Artikel als dem »Höhepunkt der Bild-Kampagne«, S. 218. 36 Vgl. Ego, »Contergan«, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 68a, 68152.
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schen Versagens knüpfte sich die Weigerung politischer Akteure, die Kausalität zwischen Contergan und den Fehlbildungen öffentlich zu bestätigen. Schwarzhaupt beharrte auf dem Umstand, die Folgen von Contergan seien wissenschaftlich noch nicht erwiesen. Von der Presse jedoch wurde dies als Hohn gegenüber den Betroffenen wahrgenommen. Obwohl Schwarzhaupt die Leistungen der »modernen Medizin« betonte, die alles für die Kinder tue, um ihnen »ein einigermaßen erträgliches Dasein« zu ermöglichen,37 riss die Kritik nicht ab. Die unzureichende Außendarstellung der Ministerin mündete im August 1962 in der BILD-Überschrift: »Contergan: Der Staat hat versagt«38. Während also scheinbar die politische Seite in Lethargie verfiel, erfuhr die Aktion »Baby-Pfennig« großen Zuspruch von Seiten der Leserschaft.39 Dass diese Aktion so erfolgreich war, erhöhte den Druck auf das Bundesgesundheitsministerium und die Ministerin, deren politisches Versagen vor dem Hintergrund der erfolgreichen Hilfsaktion einer Zeitung in der öffentlichen Verhandlung eine weitere Dimension erreichte.40 Gleichzeitig veränderte sich auch die Kommunikation zwischen dem Bundesgesundheitsministerium und den Bürgern. Die interne, persönliche Beziehung, die in den zahlreichen Briefen zwischen den Ministerien und den einzelnen Betroffenen entstanden war, rückte nun in die mediale Öffentlichkeit. Die Bürger berichteten über ihre Sorgen und ihren Unmut immer häufiger in Leserbriefen. Im Herbst 1962 schlug die BILD dann versöhnliche Töne an. Das lag allerdings nicht nur am Verhalten der Ministerin, die sich nun verstärkt mit dem Thema Contergan auseinandersetzte, nachdem sie zuvor Desinteresse gezeigt hatte, sondern an der Bereitstellung staatlicher Mittel: »Sehr verehrte Frau Dr. Schwarzhaupt! Wir haben Sie kritisiert, Frau Ministerin. Sie haben sich überzeugen lassen und andere überzeugt, daß mehr als die gesetzliche Hilfe nötig ist. Sie haben 5.4 Millionen DM für die Erforschung neuer Behandlungsmethoden im Bundeskabinett durchgesetzt. Sie haben gezeigt, daß Sie doch ein Herz für die unschuldigen Opfer dieser Katastrophe haben. Auch wenn Sie gesetzgeberisch nicht zuständig sein
37 Anspruch auf besondere Hilfe, in: FAZ, 18.07.1962, BArch B 142 / 1825, fol. 133. 38 Dietrich Beyersdorff, Contergan: Der Staat hat versagt, in: BILD, 25.08.1962. 39 Leserbriefe: Wo bleibt unsere Regierung?, in: BILD, 03.09.1962. 40 Gutes Beispiel: Hilfsplan für die Contergan-Babys, in: BILD, 29.9.1962.
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sollten, bitte, Frau Dr. Schwarzhaupt, setzen Sie sich auch weiterhin so ein. Im Namen aller Contergan-Opfer dankt Ihnen BILD.«41
Dass sich das Kollektivsymbol Contergankind so schnell festigen konnte, lag ohne Zweifel auch an der Visualisierung von Conterganschäden an Kindern.42 Es scheint, dass die abgedruckten Fotografien die Etablierung des Kollektivsymbols maßgeblich beeinflussten,43 da sie in der Berichterstattung einen tiefgehenden Wandel markierten und Personen auch visuell in den Mittelpunkt stellte. So spricht der Historiker Winfried Rudloff von einer Entwicklung der contergangeschädigten Kinder zu »Ikonen fragmentierter Körperlichkeit«.44 Die Historikerin Elsbeth Bösl analysiert die visuelle Präsentation der contergangeschädigten Kinder als Einschnitt in die zeitgenössischen Sehgewohnheiten. Das öffentliche Bild von Behinderung erweiterte sich dahingehend, dass nicht mehr nur der männliche Idealtypus in der öffentlichen Wahrnehmung existierte.45 Gleichzeitig erweiterte die visuelle Darstellung das Motiv des unschuldigen Opfers der ›Arzneimittelkatastrophe‹. Die mediale Verhandlung erhielt nun mit Fotografien der contergangeschädigte Kinder eine visuelle Beweiskraft,46 da sie die körperlichen Fehlbildungen der Kinder und somit die Folgen der ›Arzneimittelkatastrophe‹ sichtbar werden ließen. Diese waren zuvor zumeist in medizinischen Publikatio-
41 Vgl. BILD an die Bundesgesundheitsministerin!, in: BILD 01.10.1962. Gleichzeitig berichtete die BILD gerne über ihre eigene erfolgreiche Aktion, siehe: D. Beyersdorff, Zehn Millionen Pfennige für die Opfer, in: BILD 01.10.1962. 42 Vgl. E. Bösl, Contergan Scandal; A.H. Günther, Contergan als Zäsur, S. 155-157; A.H. Crumbach, Bilder als Grenzerfahrung; Siehe auch Anna Grebe, Fotografische Normalisierung. Zur sozio-medialen Konstruktion von Behinderung am Beispiel des Fotoarchivs der Stiftung Liebenau, Bielefeld 2016. 43 Zur Sichtbarkeit von Kindern mit körperlicher Behinderung und ihren Prothesen siehe unter anderem E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 304. Zur Nutzung von Bildern körperbehinderter Kinder zu Spendenaufrufen siehe G. Lingelbach, Konstruktionen von ›Behinderung‹; E. Bösl, Contergan Scandal. 44 W. Rudloff, Überlegungen zur Geschichte, S. 870; J. Stoll, Behinderte Anerkennung, S. 143, 45 Ebd. So hat Elsbeth Bösl nachgewiesen, dass die contergangeschädigten Kinder heute zwar wie von Winfried Rudloff beschriebene als »Ikonen fragmentierter Körperlichkeit« gesehen werden, diese jedoch in den 1960er Jahren noch kein Idealtypus von Behinderung darstellte. Vgl. E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 24; W. Rudloff, Überlegungen zur Geschichte, S. 870. 46 Vgl. A.H. Günther, Contergan als Zäsur, S. 157.
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nen abgedruckt, um in der Fachgemeinschaft über Krankheitsbilder zu diskutieren. Diese Repräsentanten medizinischer Diagnose dienten in der öffentlichen Berichterstattung des Weckens von Mitleid, der moralischen Anklage und der emphatischen Zukunftsahnung.47 Der Schritt, Bilder abzudrucken und das Contergankind sichtbar zu machen, war ungewöhnlich, denn es bediente keineswegs zeitgenössische Sehgewohnheiten. So heißt es in einer Bildunterschrift: »Das ist der kleine Jan. Professor Hepp in Münster hat die Hilfe für diese ›ConterganBabys‹ zu seiner Lebensaufgabe gemacht. ›Es sind normale Kinder mit anders gearteten Gliedern‹, sagt der Orthopäde. ›Es sind keine Krüppel. Die Eltern müssen das wissen!‹ Und die Öffentlichkeit! Deshalb zeigt BILD dieses Foto.«48
Die Übersetzungsfunktion der Presse blieb somit nicht nur auf die Sprache beschränkt. Mit Fotografien contergangeschädigter Kinder übersetzte die BILD die abstrakten medizinischen Beschreibungen der Fehlbildungen in eine anschauliche, nachvollziehbare Geschichte. Ängste sollten abgebaut und Akzeptanz gefördert werden. Dies gelang nicht immer, weil das ›Normale‹ häufig gerade über das ›Nicht-Normale‹ präsentiert wurde: »Auf dem Rücken, in einem finnischen Tragkorb, trägt er seinen Sohn Jan spazieren. Ein gutes Jahr ist der Kleine alt. Er brabbelt vor sich hin, lacht, quiekt vergnügt. Ein Kind, aufgeweckt wie jedes andere! Aber seine Ärmchen reichen nicht um den Hals des Vaters. Und die Beinchen stecken in einem Gipsbett.«49
Mit dieser Erläuterung schuf der Autor Bilder, die für den Leser anschlussfähig waren: ein normaler Tag, ein ganz ›normaler‹ Familienspaziergang. Die Normalität des Familienalltags wird durch die körperlichen Defizite des Kindes abrupt durchbrochen und als außergewöhnlich dargestellt. Hinzu kommt das Aussehen der fehlgebildeten Glieder, die sich von bekannten Formen von Fehlbildungen
47 Vgl. A.H. Crumbach, Grenzerfahrung, S. 225ff. 48 Dieterich Beyersdorff, Was soll ich Jan sagen?, in: BILD, 09.07.1962; A.H. Crumbach, Bilder als Grenzerfahrung, S. 225. A.H. Günther, Contergan im Diskurs, S. 156. 49 D. Beyersdorff, Was soll ich Jan sagen?.
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unterschieden.50 Das sichtbar ›Andere‹ wurde durch Wiederholung der Bilder immer wieder in Erinnerung gerufen.51 Doch nicht nur das große deutsche Boulevardblatt transportierte das Kollektivsymbol in seinen Berichten. Schnell setzte sich der Begriff Contergankind im medialen Sprachgebrauch durch. So berichtete DER SPIEGEL: »Und monatelang erklärte sich Frau Schwarzhaupt für nicht zuständig, den ConterganKindern zu helfen. Als sich die Ministerin schließlich zu der Erkenntnis durchrang, daß der Bund doch etwas für die Kinder tun müsse, geriet sie in die Maßhalteübungen des Kabinetts. So stehen in diesem Jahr nur 600 000 Mark Bundesgelder und im nächsten Jahr drei Millionen Mark zur Verfühung, mit denen die medizinische Forschung unterstützt, Prothesen für Contergan-Kinder entwickelt, orthopädische Kliniken und Sonderschulen erweitert werden müßten.«52
Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Kollektivsymbol und seiner Verwendung fand in der Presse zu Beginn nicht statt. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Begriff Contergankind in seiner Anschlussfähigkeit und Symbolhaftigkeit das Sprechen über Contergan maßgeblich lenkte. Dennoch war das Kollektivsymbol 1962 noch keinesfalls konsolidiert und darüber hinaus zuschreibungsoffen. Das Kollektivsymbol führte die diskursive Verhandlung der contergangeschädigten Kinder innerhalb der medialen Debatte zusammen. Dabei erhielt Contergankind inhaltliche Zuschreibungen, die über medizinische Beschreibungen ihrer Fehlbildungen hinausgingen. Die inhaltliche Definition des Kollektivsymbols setzte zu diesem Zeitpunkt erst ein.
50 Vgl. D. Beyersdorff, Was soll ich Jan sagen?. 51 Vgl. E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 304; Deutsche Ärzte helfen den »Contergan«-Kindern: So lernen sie leben, in: QUICK, 25.11.1962, S. 8-11. Siehe auch E. Bösl, The Contergan Scandal, 143 ff. 52 Gefahr im Verzuge, in: DER SPIEGEL, Nr. 49 (1962), S. 90.
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4.2 DIE MORALISCHE VERHANDLUNG DES KOLLEKTIVSYMBOLS Am 20. Juli 1962 druckte der BONNER GENERALANZEIGER die Meldung »Gnadentod für britische Contergan-Kinder?«53. Ein Abgeordneter des britischen Parlaments forderte eine gesetzliche Regelung, Abtreibungen möglicher contergangeschädigter Kinder zu legalisieren und ihnen eine »trostlose Zukunft« zu ersparen.54 Als Euthanasie sah er seinen Vorstoß nicht: »Falls sich die Obrigkeit nicht zu einem Gnadentod für solche Kinder durchringen könne, müsse sie für die unschuldigen Opfer der gesundheitswidrigen Thalidmodie zeitlebens sorgen.«55 An dieser kurzen Meldung werden zwei sprachlich relevante Sachverhalte deutlich: Das Kollektivsymbol Contergankind erreichte eine große Breitenwirkung innerhalb der medialen Debatte. Immer neue Themenfelder wurden daran angeschlossen. Nun diskutierten vor dem Hintergrund der Contergan-Fälle Journalisten, Ärzte und Leser mit einem Male über ›lebenswertes und lebensunwertes Leben‹. In hitzigen Debatten wurde das Kollektivsymbol mit unterschiedlichsten Bedeutungen aufgeladen.56 Die Vehemenz, mit der öffentlich gestritten wurde, verdeutlicht, wie kontrovers das Thema war, wie viel Uneinigkeit im Umgang mit Behinderung bestand und wie zuschreibungsoffenen sich das Kollektivsymbol präsentierte. Gleichzeitig vermengten sich emotionale Argumente mit unzureichenden juristischen Kenntnissen über Euthanasie und Abtreibung. Diese Begriffe erfuhren eine moralische, aber keineswegs ausreichende juristische Kontextualisierung. Rechtliche Korrektheit war nicht das Ziel dieser emotionalen Diskussion, die über Recht auf Leben und Tötung diskutierte, ohne juristische Normen miteinzubeziehen. Der Ablehnung von Euthanasie stand durchaus einer positiven Bewertung des Tötungsakts in Ausnahmesituationen gegenüber. Diese sprachliche Indifferenz prägte die öffentliche Debatte.
53 Ap, Gnadentod für britische »Contergan«-Kinder?, in: GENERALANZEIGER, 20.07.1962, BArch B 189/11731, fol. 279. Siehe dazu auch W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 221. 54 Ap, Gnadentod für britische »Contergan«-Kinder?. 55 Ebd. 56 Vgl. E. Bösl, Contergan Scandal, ab S. 146.
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4.2.1 Vorsorglicher Schwangerschaftsabbruch zwischen Verantwortungsethik und Angriff auf das menschliche Leben Im Sommer 1962 sorgte der Fall Sherri Finkbine in Westdeutschland für Furore. Finkbine war eine Fernsehansagerin in den USA, Mutter von vier Kindern und hatte versucht, vor einem Gericht in Phoenix einen Schwangerschaftsabbruch zu erwirken, da sie befürchtete, ein contergangeschädigtes Kind zur Welt zur bringen.57 Sie hatte das Thalidomid von ihrem Mann erhalten, der das Medikament während einer Klassenfahrt in Europa erworben und in die USA eingeführt hatte. Da ein amerikanisches Gericht einen Antrag Finkbines auf Schwangerschaftsunterbrechung ablehnte, reiste sie mit ihrem Ehemann nach Europa.58 Das Ziel des Ehepaars blieb lange Zeit unklar; schließlich landeten sie in Begleitung der internationalen Presse in Schweden, wo eine Schwangerschaftsunterbrechung nach schwedischem Gesetz legal war. Der hier kurz skizzierte Fall erhielt nicht nur, aber besonders in Westdeutschland eine große Aufmerksamkeit. Dazu bei trug die mediale Präsenz des Ehepaares, das seine Reise vermarktete. Für die Boulevardpresse erschien die emotionale Tragweite des Falls Finkebine Grund genug über einen längeren Zeitraum zu berichten. Für die BILD stellte Finkbines Geschichte eine Herausforderung dar. Seit Wochen hatte sie die Eltern contergangeschädigter Kinder als tapfere und stille Helden porträtiert59, nun stellte sich die Frage, ob diese Kinder eine Berechtigung zum Leben hätten.60 So rang sie um Verständnis für jene Eltern, die sich gegen ein contergangeschädigtes Kind aussprachen und um eine Abtreibung ersuchten. Die rechtlichen Bestimmungen in der Bundesrepublik definierten eine Abtreibung als schweren Straftatbestand.61 Somit berührte
57 Vgl. W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 219 ff.; E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 87-88; E. Bösl, Contergan Scandal, S. 146. 58 Vgl. frau finkbine fliegt nach schweden, in: UPI 178 ausland, 02.08.196,2 BArch B 189/11731, fol. 288. 59 Vgl. E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 88-89; E. Bösl, Contergan Scandal, S. 140 ff. 60 Vgl. Kr, Gott verbietet Mord!«, in: ABENDPOST, 07.08.1962, BArch B 189/11731, fol. 296. 61 Vgl. Elisabeth Zellmer, Töchter der Revolte? Frauenbewegung und Feminismus der 1970er Jahre, München 2011, ab S. 144; Katharina Ebner, Religiöse Argumente in rechtspolitischen Debatten des Deutschen Bundestags an den Beispielen Schwangerschaftsabbruch und Homosexualität, in: Harry Oelke/Claudia Lepp/Detlef Pollack
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die Debatte einen grundlegenden juristischen Sachverhalt, der allerdings nicht von rechtlichen Argumenten, sondern von der Emotionalität getragen wurde. In der Debatte kristallisierte sich das Argument heraus, die Mütter würden mit einer Ausnahmesituation konfrontiert, die eine Abtreibung medizinisch und moralisch vertretbar machte. In dieser emotionalen Debatte gab es, insbesondere in Leserbriefen, sprachliche Kontinuitäten, die eine Befürwortung von kindlicher Euthanasie erkennen ließen.62 Wie Elsbeth Bösl herausgearbeitet hat, variierte die Argumentation von der Tötung als Gnadenakt bis hin zur finanziellen Entlastung der Gesellschaft. Offen wurde die Frage erörtert, ob die Kinder als Erwachsene ihr Leben überhaupt würden meistern können.63 Die Diskussion auf eine einhellige Akzeptanz der Euthanasie zu reduzieren, wäre allerdings falsch. Empörte Leser äußerten ihr Erschrecken ob der drastischen Worte ihrer Mitbürger.64 Dennoch publizierten Zeitungen die deutlich an der nationalsozialistischen Euthanasievorstellung anknüpfende Meinungen in ihrer Berichterstattung, ohne kritische Reflektion des Geschriebenen. Mit Sherri Finkbine stand nicht primär eine Frau, sondern eine Mutter im Mittelpunkt des Interesses, die über ihre mütterlichen Entscheidungen definiert wurde.65 BILD beschrieb ihre Ängste, ein köperbehindertes Kind zur Welt zu bringen, und stellte die Frage, ob die Entscheidung gegen das Kind nicht Ausdruck mütterlicher Liebe sei:
(Hg.): Religion und Lebensführung im Umbruch der langen 1960er Jahre. Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte, Göttingen: 2016, S. 315-334. 62 Zur Euthanasie siehe beispielhaft den Sammelband: Maike Rotzoll u.a. (Hg), Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Aktion »T 4« und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn 2010; Ernst Klee, »Euthanasie« im NS-Staat. Die »Vernichtung lebensunwerten Lebens«, Frankfurt am Main 2009; Hans-Walter Schmuhl, Rassenhygiene Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung »lebensunwerten Lebens«‹, Göttingen 1992 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Band 75); Anika Burkhardt, Das NS-EuthanasieUnrecht vor den Schranken der Justiz. Eine strafrechtliche Analyse, Tübingen 2015 (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Band 85). 63 Vgl. E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 89-90. 64 Vgl. E. Bösl, Contergan Scandal. 65 Vgl. ebd., S. 147.
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»In einer Direktsendung Großbritannien-USA über Telestar schrie sie ihr Leid hinaus: ›Ich kann nicht mehr weiterleben bei dem Gedanken, jeden Morgen aufzuwachen und daran zu denken, daß ich ein Baby ohne Arme und Beine zur Welt bringen könnte.‹«66
Die Entscheidung des amerikanischen Richters, einen Schwangerschaftsabbruch in den USA zu untersagen, wertete die BILD als »wohl bitterste Enttäuschung ihres Lebens«: »Die Richter hatten sie dazu verurteilt, ihr Baby auf die Welt zu bringen.«67 Sherri Finkbine befeuerte diese Botschaft, indem sie von der Lebensunfähigkeit ihres Kindes sprach: »›Ich fühle, daß ich nichts Lebendiges und Gesundes zur Welt bringen könnte‹«.68 Ihr Ehemann führte an, dass die Verantwortung gegenüber ihren vier gesunden Kindern es unmöglich mache, für ein krankes Kind zu sorgen. Dies sei auch eine Entscheidung im Interesse des ungeborenen Kindes.69 Und so eröffnete die BILD mit der Frage: »Verbrechen oder Mutterliebe?«70 eine neue Diskussionsebene. Für sie stand fest, dass hunderte Mütter in Deutschland »dazu verurteilt« waren, »ihrem Kind das Leben zu schenken. Obwohl mit fast hundertprozentiger Sicherheit vorauszusagen war, daß es mit schweren Mißbildungen auf die Welt kommen würde.«71 Entsetzt zeigte sich hingegen die Abendpost über Finkbines Reise nach Europa, die »einen bitteren Beigeschmack«72 trage: »Millionen verfolgten ihre ›Flucht‹ nach Schweden, wo Schwangerschaftsunterbrechungen nicht verboten sind. Millionen standen auf Seiten einer Mutter, die keinen Krüppel zur Welt bringen will. Selbst die als konservativ verschrienen amerikanischen Frauenverbände schweigen. Jetzt melden sich jedoch die ersten Gegenstimmen aus den Staaten. 28 Amerikaner telegrafierten an König Gustav VI. Adolf von Schweden: ›Gott verbietet Mord. Die Geschichte hat Beispiele von großen Leistungen verkrüppelter Menschen. Es gibt keine
66 Notschrei über Telestar, in: BILD, 01.08.1962, S. 1. 67 Ebd., S. 1. 68 Ebd. letzte Seite. 69 Ebd. 70 D. Beyersdorff, Verbrechen oder Mutterliebe? Contergan-Tragödie löst Diskussion um § 218 aus, in: BILD, 22.08.1962; E. Bösl, Contergan Scandal, S. 158 ff. 71 Ebd. 72 Ebd.
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Gewißheit dafür, daß das Kind mißgebildet sein wird!‹ Die ersten Gegenstimmen, sie werden nicht die letzten sein.«73
An diesem kurzen Zitat wird deutlich, wie ambivalent die mütterliche Rolle interpretiert wurde: Die aufopferungsvolle Mutter, die sich um ihr contergangeschädigtes Kind sorgte, stand kontrastiv jenen Müttern gegenüber, die eine Abtreibung erwogen. Insbesondere das christliche Wertesystem wurde als Argument angeführt, um gegen die Abtreibung im Fall Finkebine zu argumentieren. DIE ZEIT-Autorin Eka von Merveldt zeigte sich erschüttert über den Vorschlag eines britischen Abgeordneten, der den Gnadentod für contergangeschädigte Kinder gefordert hatte, und Finkbines Abtreibung. Sie forderte »Nach dem Schock: Taten«74 und berichtete über ein amerikanisches Ehepaar, das sich angeboten hatte, Finkbines Kind zu adoptieren, wenn sie nur dazu bereit wäre, es auszutragen. Finkbines Schwangerschaftsabbruch bewertete von Merveldt weniger als mütterliche Entscheidung für ihr Kind denn als Akt, »ihren Willen durch[zu]setzen«75. Ihr Referenzrahmen war die christliche Werteordnung. Die Frage entstand, ob die Gesellschaft sich noch zu diesen Werten zugehörig fühlte oder nicht: »Wie christlich ist unser Bewußtsein noch? Das fünfte Gebot verbietet die Euthanasie. Und hier steht nicht einmal Euthanasie zur Diskussion, die Frage also, ob es in bestimmten Fällen erlaubt sei, unheilbare Kranke, die unerträglich leiden, durch Tötung von ihren Qualen zu befreien. Niemand als diese Kinder selbst kann sagen, ob sie ›unerträgliche Qualen‹ leiden, und dafür müssen sie erst einmal sprechen können und sich ihrer Lage bewußt werden. Der größte Schock aber muß die Mütter treffen, alle die bedauernswerten, die diese Kinder zur Welt gebracht, aber auch alle, die noch Kinder gebären wollen. Sie werden sich fragen müssen, ob es nicht naturgewollt ist, während der Schwangerschaft auch Schmerzen hinzunehmen und nicht bei der geringsten Regung schon nach Pillen zu greifen.«76
73 Kr, »Gott verbietet Mord!«, in: ABENDPOST, 07.08.1962, BArch B 189/11731, fol. 296. 74 Merveldt, Eka von, Nach dem Schock: Taten, in: DIE ZEIT, 10.08.1962, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 68a, 68049. 75 Ebd. 76 Ebd.
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Eindeutig positionierte sich die katholische Kirche als Gegenstimme zu den Abtreibungsbefürwortern.77 Jegliche Form von Euthanasie oder Abtreibung lehnte der Vatikan in Pressemitteilungen kategorisch ab. Er verteidigte das Recht auf Leben und betonte, die Austragung eines behinderten Kindes sei eine »demonstration der liebe«.78 Er ging sogar noch einen Schritt weiter und verurteilte nicht nur die Schwangerschaftsunterbrechung als Mord, sondern verglich sie mit den nationalsozialistischen Massenmorden.79 »[B]eides basiere auf der gleichen philosophie«80, urteilte das vatikanische Blatt Osservatore Romano.81 Die lutherische Kirche Schwedens zeigte sich unterdessen liberaler und akzeptierte den Schwangerschaftsabbruch. Als Akt der Barmherzigkeit sei dieser Eingriff für die Mutter zu werten; der »menschliche wert der mutter«82 habe vor dem Fötus Vorrang.83 Die Debatte knüpfte an Forderungen zur Lockerung des § 218 StGB an, die in den 1960er Jahren aufkamen und von der christdemokratischen Bundesregierung abgelehnt wurde84 SPD und FDP hingegen forderten eine Berücksichtigung der außergewöhnlichen Situation der Frauen.85 Diese hier stark verkürzte Skizze der parteipolitischen Positionen kontextualisieren den Fall Finkebine vor dem Hintergrund zunehmender Liberalisierungstendenzen.86
77 Siehe W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 219-220. Während des Nationalsozialismus hat es kirchliche Proteste gegen die NS-Euthanasieprogramme gegeben, siehe dazu beispielhaft Sonja Endres, Zwangssterilisation in Köln 1934–1945, Köln 2010, S. 182. 78 scharfe angriffe des vatikans gegen frau finkbine, in: UPI 141, Ausland, 03.08.1962, BArch B 189/11731, fol. 294. Kleinschreibung im Original. 79 Vgl. vatikanblatt vergleicht indikation mit rassenmord, in: UPI 178 Ausland, 20.08.1962, BArch B 189/11731, fol. 299. 80 Ebd. 81 Vgl. ebd. 82 Ebd. 83 Ebd. 84 Vgl. Ego, § 218 – Strafe für jede Frau, in: BILD, 25.08.1962, S. 1. 85 Ebd. 86 So konstatiert Willibald Steinmetz: »Die Bundesregierung beobachtete den Fall mit größter Beunruhigung, was sich schon darin zeigte, daß in der Presseausschnittsammlung des Gesundheitsministeriums zum Contergan-Fall eine eigene Mappe zu ›Schwangerschaftsunterbrechungen‹ angelegt wurde; eine Diskussion über den Abtreibungsparagrafphen sollte vermieden werden.« Siehe dazu W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 220.
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Der Fall Finkbine verdeutlicht die unterschiedlichen europäischen Zugänge zum Thema Abtreibung: So war Skandinavien in den 1960er Jahren bekannt für seine liberale Gesetzgebung, was auch Sherri Finkbine dazu bewog, nach Schweden zu reisen. Die hier angedeutete Gefahr eines »Abtreibungstourismus«87 entwickelte sich erst einige Jahre später, als England 1968 seine Gesetzgebung liberalisierte. In der Bundesrepublik konnte sich die christdemokratische Position lange durchsetzen.88 Bis in die 1970er Jahre diskutierten die Parteien im Bundestag über eine Liberalisierung des § 218. SPD und FDP vertraten den Ansatz einer »Notfall-Indikation« und Fristenregelung, die vorsah, einen Abbruch in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft straffrei zu ermöglichen. Diese Vorschläge lehnten die Christdemokraten ab, obwohl es Ende der 1950er bis Anfang der 1960er Jahre Anregungen für eine Reform des § 218 auch in christdemokratischen Kreisen gegeben hatte. Darin wurde über »ethische« und »medizinische« Kriterien für einen Schwangerschaftsabbruch diskutierten.89 Wie im Fall Finkbine deutlich geworden, agierte auch in der generellen Debatte um die Liberalisierung von Abtreibung die katholische Kirche als zentrale Gegenstimme zu den Reformbestrebungen.90 Im Fall Finkbine bildete der Rückgriff auf die christlichen Werte (Schutzbedürftigkeit des ungeborenen Lebens) noch einen starken Gegenpol zu den Befürwortern der legalen Abtreibung. Dies sollte sich im Laufe der 1970er Jahre immer weiter zu Gunsten der Liberalisierungsbefürworter verschieben. Der Fall Finkbine ist ein frühes Beispiel für die beginnenden gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen über die Liberalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und den Fragen nach der weiblichen Selbstbestimmung über den eignen Körper. Die mögliche Conterganschädigung wurde hier als medizinische Ausnahmesituation interpretiert, die eine Abtreibung zulässig machte. Die Verknüpfung zu den nationalsozialistischen Euthanasieverbrechen eröffnete jedoch eine Dimension, die primär die diskriminierende und menschenverachtende Wahrnehmung von Behinderung widerspiegelte. Ein einheitliches Meinungsbild gab es im Fall Finkbine also nicht. Vorläufig schwankten die Aussagen zwischen Akzeptanz und Ablehnung, Verständnis und
87 Karin Böke: Lebensrecht oder Selbstbestimmungsrecht? Die Debatte um den § 218, in: Stötzel, Georg/Wengeler, Martin (Hg.): Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin/New York 1996, S. 563–592, hier S. 565. 88 K. Böke: Lebensrecht oder Selbstbestimmungsrecht?, S. 565. 89 Ebd., S. 564-565. 90 Ebd.
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Nichttolerierbarkeit. Im Zentrum stand die grundlegende Frage nach der christlichen Werteordnung innerhalb der Gesellschaft. 4.2.2 Vor Gericht: Kindstötung zum Wohl des Kindes oder der Familie? Wenig später verschärfte sich die durch den Fall Sherri Finkbine ausgelöste Debatte: Im belgischen Lüttich hatte eine Frau 1962 ein contergangeschädigtes Kind zur Welt gebracht und es sieben Tage nach der Geburt unter Mithilfe anderer Familienmitglieder und des Hausarztes vergiftet. Die Staatsanwaltschaft hatte die Familie und den Hausarzt wegen Mordes angeklagt. Ein Geschworenengericht sollte nun über die Schuld der Angeklagten entscheiden. In der erhitzten Atomsphäre des Falles Finkbines führte das belgische Gerichtsverfahren zu einer weiteren Zuspitzung der emotionalen Debatte. Auch hier übernahm die Presse eine entscheidende Rolle in der diskursiven Verhandlung des Gerichtsfalles, in dem sie, ebenso wie bei Finkbine, nicht die juristischen Rahmenbedingungen oder der Straftat diskutierte, sondern die Frage, ob eine Kindstötung in Ausnahmefällen moralisch betrachtete erlaubt sei oder nicht.91 Im Mittelpunkt der medialen Auseinandersetzung stand die Mutter Suzanne van de Put. Immer wieder betonte sie, die Entscheidung für die Tötung ihres Kindes aus Liebe zu ihrer Tochter gefällt zu haben. Wie bereits bei Sherri Finkbine wurde auch hier die Frage aufgeworfen: War die Tötung ein Verbrechen oder ein Akt der Nächstenliebe? Der Lütticher Fall hatte eine völlig neue, da strafrechtlich relevante Dimension, da nun die Ermordung eines bereits geborenen Kindes verhandelt wurde. Gleichzeitig wurde die strafrechtliche Schuldfrage in der öffentlichen Auseinandersetzung kaum thematisiert. Wie schon bei Finkbine standen moralische Fragestellungen im Vordergrund. Die Szenen im Gerichtssaal, die starke mediale Präsenz und die kaum sachlich, sondern hauptsächlich emotional geführte Debatte in der Öffentlichkeit ließen eine neutrale, faktenorientierte juristische Beurteilung kaum zu. Vielmehr gewann die Verteidigung die Sympathien der Prozessbeobachter und letztlich auch der Geschworenen. Die mediale Strategie der Verteidigung, die Familie als Opfer darzustellen, fand auch in den westdeutschen Medien Anklang, vornehmlich in den Boulevardmagazinen. QUICK ließ zu Beginn des Prozesses den Ehe-
91 Vgl. E. Bösl, Normalisierung; E. Bösl, Contergan Scandal, S. 146 ff.; W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 219-222.
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mann der Angeklagten zu Wort kommen und titelte: »Ist meine Frau wirklich eine Mörderin?«92 Und weiter hieß es: »Die Verzweiflung über das Unglück trieb die Familie Vandeput zu dem verhängnisvollen Entschluß das Leben das ihnen ›nicht lebenswert‹ schien, auf humane Art auszulöschen. Dr. Jacques Casters besorgte den Eltern ein einschläferndes Mittel. Zwölf Stunden nach dem Familienrat war das Baby tot. […]«93
QUICK präsentierte die Verteidigungsstrategie der Familie, noch bevor der Gerichtsprozess begonnen hatte und berichtete von der ausweglosen Situation der Familie, die dem Kind einen schmerzlosen Tod ermöglicht hätten. Die Rolle der Familienangehörigen war also bereits vor dem Gerichtsverfahren durch die Presse klar beschrieben worden: alle Beteiligten hatten aus Nächstenliebe gehandelt, was nur schwerlich als Straftat verurteilt werden dürfe.94 Die Formulierungen der QUICK knüpften sprachlich an nationalsozialistische Begriffe an, wenn die Zeitschrift darlegte, die Eltern hätten das Kind als ›nicht lebenswert‹ beurteilt und daher sein Leben ›ausgelöscht‹. Der aktive Part der Eltern, der Mord an ihrem Kind, wurde nicht als Straftat, sondern als Verzweiflungstat porträtiert. Ein reflektierter Umgang mit den im Nationalsozialismus gebräuchlichen Sprachkonzepten des ›lebenswerten Lebens‹ oder der ›Auslöschung‹ fehlte völlig. Das belgische Justizsystem begünstigte die emotionale Debatte, da das Verfahren vor einem Geschworenengericht und dazu noch vor Publikum verhandelt wurde. Es muss angenommen werden, dass sich die Geschworenen des Strafprozesses als juristische ›Laien‹ durchaus durch die mediale Aufbereitung des Falles beeinflussen ließen. Die Emotionalität übertrug sich in den Gerichtssaal. Innerhalb und außerhalb des Verhandlungsraumes erfuhren die Angeklagten zahlreiche Sympathiebekundungen. Das blieb auch den Geschworenen im Gericht nicht verborgen. So berichtete die westdeutsche BILD von Szenen der Anteilnahme für die Mutter, die sich täglich auf ihrem Weg zum Gericht abspielten. Auf der Straße stimmten Zuschauer in Sprechchöre ein und forderten einen Freispruch für Suzanne van de Put.95 Das Urteil im November 1962 schien daher weniger ein juristisches Urteil zu sein als vielmehr ein moralisches Urteil zugunsten der Angeklagten: Alle Angeklagten wurden freigesprochen. Unter dem Jubel der Zu-
92 Ist meine Frau wirklich eine Mörderin?, in: QUICK, 21.10.1962; E. Bösl, Contergan Scandal, S. 158 ff. 93 Ebd. 94 Vgl. M.K, Warum war keine Frau dabei?, in: BILD, 09.11.1962. 95 Vgl. Liz Hiller, Ich muß es ganz allein tun, in: BILD, 08.11.1962.
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schauer führten die Justizbeamten die Angeklagten aus dem Gerichtssaal.96 Welchen Einfluss die öffentliche Meinung auf den Prozessausgang hatte, reflektierte die Bonner Rundschau durchaus kritisch: »Als sich nach der Urteilsverkündung der große Verhandlungsaal endlich geleert hatte, sagte ein Jurist kopfschüttelnd, er sei glücklich, daß dieses Verfahren vorüber sei. ›Man schaudert, wenn man daran denkt, was sich hier ereignet hätte, wenn die fünf schuldig gesprochen worden seien […]‹«97
Nicht nur Pressevertreter, sondern auch ein Mitarbeiter der Deutschen Botschaft in Belgien hatten an dem Gerichtsprozess teilgenommen. Offenbar war er als Vertreter der Bundesrepublik vor Ort, um Erfahrungen für einen möglichen Prozess in Deutschland zu sammeln. Über seine Beobachtungen berichtete er in einem Schreiben an das Auswärtige Amt in Bonn, das jenen Bericht wiederum im Dezember 1962 an den Bundesminister der Justiz und die Bundesministerin für Gesundheit zur Kenntnisnahme weiterleitete.98 Als Beobachter des »SoftenonProzeß[es]« (zu deutsch »Contergan-Prozess«)99 zeigte er sich besorgt über die Vorgänge im Lütticher Gerichtssaal und die emotionale Stimmung vor Ort. Er gab zu bedenken, ob der Freispruch nicht durch den öffentlichen Druck beeinflusst worden war.100 Den Botschaftsmitarbeiter irritierten die öffentlichen Sympathiebekundungen für die Angeklagten. Zahlreiche Kommentare legitimierten die Ermordung eines Kindes und somit eine Straftrat. Er äußerte die Hoffnung, der beteiligte Arzt werde von der belgischen Ärztekammer in einem gesonderten Disziplinarverfahren eine Strafe erhalten. Dadurch werde »eine gewisse Korrektur des Freispruchs vor dem Schwurgericht«101 möglich. Außerdem vermutete er, die »Mehrheit der
96
Vgl. Rb, Nach dem Freispruch im »Contergan«-Prozeß. Jubel und Kritik, in: BILD,
97
Ebd.
98
Vgl. Schreiben des Auswärtigen Amtes an den Bundesminister der Justiz und Bun-
12.11.1962.
desminister für Gesundheit, 12.12.1962. Als Anlage wird der Bericht der Botschaft der BRD in Brüssel vom 22.11.1962 versandt, BArch B 189/11731, fol. 301-305. 99
Softenon war die Medikamentenbezeichnung in Belgien.
100 Schreiben des Auswärtigen Amtes an den Bundesminister der Justiz und Bundesminister für Gesundheit, 12.12.1962. Als Anlage wird der Bericht der Botschaft der BRD in Brüssel vom 22.11.1962 versandt, BArch B 189/11731, fol. 301. 101 Ebd., fol. 302.
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Bevölkerung und der linksgerichtete Teil der belgischen Presse«102 hätten die Gerichtsentscheidung beeinflusst, weil sie den Freispruch vehement gefordert hatten. Doch der Botschaftsmitarbeiter konnte bereits wenige Tage nach dem Freispruch ein Aufweichen der Begeisterung über das Urteil vernehmen. Lieber würde man es doch gesehen haben, dass die Angeklagten verurteilt und anschließend vom König begnadigt worden wären. So hatte es der Staatsanwalt gefordert. Dies wäre »eine gerechtere und befriedigendere Lösung des Konflikts zwischen menschlichem Mitgefühl und Verständnis und den Forderungen des Rechts«103 gewesen, so der öffentliche Tenor.104 Der Bericht des Botschaftsmitarbeiters offenbarte, dass Belgien ähnlich schwierigen Diskussionen erlebte wie in der Bundesrepublik: Die Öffentlichkeit forderte einen effektiveren Schutz vor Arzneimittelschäden, und die Presse agierte als starker Akteur in der Debatte.105 Neben der linksgerichteten Presse, die einen Freispruch befürwortet hatte, gab es noch eine zweite, dazu oppositionelle Haltung – die des Vatikans und der belgischen Katholiken. Wie schon im Fall Sherri Finkbine verurteilte der Vatikan die Tötung des Kindes. Ging es in Finkbines Fall noch um die Frage, ob eine Abtreibung vertretbar sei oder nicht, sah dieser Fall nun etwas anders aus, weil sich die Verbindungen zu den Euthanasieverbrechen der Nationalsozialisten nicht mehr verleugnen ließen. Das Verständnis für die Notlage der Familie dürfe nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie ein Tötungsdelikt begangen habe, so der Vatikan. Keinerlei Extremsituation könne jene Handlungen rechtfertigen.106 Jeder Christ sei dazu verpflichtet, »Euthanasie in jeder Form abzulehnen und zu verurteilen.«107 Das Echo auf das Lütticher Urteil in der deutschen und internationalen Presse war groß. Die europäische Presse zeigten durchaus Verständnis für das Gerichtsurteil.108 Die schwedische Zeitung DAGENS NYHETER bewertete das Urteil als »ein Symbol für die Achtung der menschlichen Würde«109. Der Londoner
102 Schreiben des Auswärtigen Amtes an den Bundesminister der Justiz und Bundesminister für Gesundheit, 12.12.1962, fol. 302. 103 Ebd. 104 Vgl. ebd. 105 Vgl. ebd., fol. 304. 106 Ebd. 107 Ebd., fol. 303. 108 Siehe W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 221. 109 Pressespiegel, in: Bonner Rundschau, 12.11.1962, BArch B 189/11731, fol. 308. Siehe dazu auch W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 221.
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OBSERVER sah darin ein »menschliches, aber juristisch unhaltbares Urteil«110. Die dänische Zeitung Politik zeigte Verständnis für die Mutter, warnte aber auch vor den Konsequenzen ihres Handelns.111 Vor allem die italienischen Zeitungen und der Vatikan waren entsetzt und schockiert über das Urteil.112 So erklärte der Vatikansender: » […], es sei nicht immer leicht, sich dem moralischen Gesetz zu unterwerfen. Sich ihm zu entziehen, wirke oft als menschlichere Geste. Es sei Aufgabe der Wissenschaft, den Respekt vor diesem Gesetz zu erleichtern, nicht die Menschen mit ›heroischen Alternativen‹ zu konfrontieren, denen sie nicht gewachsen seien. Ein Staat, der den Verkauf von Drogen wie ›Contergan‹ zulasse, mache sich des Widerstandes gegen das Moralgesetz schuldig, indem er ›Situationen schaffe und Alternativen begründet, vor denen unglücklicherweise mehr als ein Mensch versagt.‹«113
In Deutschland präsentierte die BILD weiterhin Familien, die sich für ein Kind mit körperlicher Behinderung entschieden hatten. »Es ist für diese Kinder so unendlich viel wert, wenn die Umwelt auf diese Weise mit ihnen vertraut gemacht wird«114, hieß es in einem Leserbrief. Andere Familien berichten von der Liebe zu ihren Kindern, von der Integration in die Familie, von den gesunden Geschwistern, die mit den contergangeschädigten Brüdern oder Schwestern spielten und aufwuchsen.115 In der christlichen Wochenzeitung CHRIST UND WELT wehrten sich Eltern contergangeschädigter Kinder gegen den Vorwurf, selbst für die Behinderung ihres Kindes verantwortlich zu sein. Stattdessen kritisierten sie
110 Pressespiegel, in: Bonner Rundschau, 12.11.1962, BArch B 189/11731, fol. 308. 111 Pressespiegel, in: BONNER RUNDSCHAU, 12.11.1962, BArch B 189/11731, fol. 308. In der Presseschau heißt es: »Es handelte sich nicht nur um eine Frau, die ihr Kind umgebracht hat […] es handelte sich um eine Mutter, die vom Schicksal schwer geschlagen worden war, wie Tausende andere Frauen. Diese Mutter wollte nicht, daß ihrem Baby das bittere Schicksal widerfahren sollte, das ihm angesichts der schweren körperlichen Behinderungen bevorstand. Niemand weiß, was in ihrem Herzen vorgegangen ist. Es muß sehr schwer sein, sie und die anderen, die ihr halfen, zu verurteilen. Andererseits handelte aber es sich nicht um eine Tat, die grundsätzlich von Strafe frei sein sollte. Soviel Mitleid man auch mit den schwachen und hoffnungslos Kranken haben kann […] Niemand hat das Recht, Schicksal zu spielen.« 112 Ebd. 113 Ebd. 114 Leserbrief: Macht alle mit diesen Kindern vertraut, in: BILD 01.10.1962. 115 Vgl. Leserbrief: Macht alle mit diesen Kindern vertraut, in: BILD 01.10.1962.
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die fehlende staatliche Verantwortungsübernahme und die fehlende Transparenz im Medikamentenhandel.116 In den öffentlichen Debatten über Sherri Finkbine und Suzanne van de Put wurde das Verhältnis zur körperlichen Andersheit verhandelt und die Toleranzgrenze der Gesellschaft ausgelotet. Wie mochte, wie konnte ein Leben mit körperlicher Behinderung aussehen? Was war sagbar, was war überhaupt denkbar? Von einer generellen Akzeptanz, von einer Bejahung des Lebens mit Behinderung war die deutsche Gesellschaft weit entfernt. Erst der Begriff des Contergankindes veränderte den gesellschaftlichen Diskurs. Der wirkungsmächtige Begriff Contergankind wurde von der Presse mehr und mehr mit Inhalten gefüllt. Außerhalb der formellen Rechtsstaatslogik diskutierten die Medien über den Wert behinderten Lebens, ohne dass die Ministerien oder die Gerichte eingriffen. Dieser zeitliche Vorsprung der Presse bewirkte, dass die Politik nicht mehr selbst sprachpolitisch Schwerpunkte setzen und sprachprägend intervenieren konnte. Die Emotionalität der Debatte bewirkte eine Entsachlichung: Fakten wurden kaum noch überprüft, Gefühle standen im Vordergrund. Der Begriff Contergankind als Kollektivsymbol blieb auch in diesen Fällen anschlussfähig und differenzierte sich noch weiter aus – Contergankind stand für Medikamentenversagen, medizinische ›Katastrophe‹, körperliche Behinderung, für die Frage nach Leben und Tod. Diesen Zwiespalt bei der moralischen Bewertung der Fälle Finkbine und van de Put und die sprachliche Unsicherheit der Beschreibungspraxis verdeutlicht ein Zitat aus dem Magazin DER SPIEGEL, in dem Abtreibung und Mord als »Verzweiflungstaten‹« beschrieben wurden: »Die Verzweiflungstaten von Thalidomid-Müttern entfachten internationale Diskussionen um zwei der umstrittensten Themen im Grenzgebiet von Medizin, Rechtslehre und Theologie: um Euthanasie und Abtreibung.‹«117
4.3 ZWISCHEN NORMALISIERUNG UND AUSGRENZUNG: DIE AUSDIFFERENZIERUNG DES KOLLEKTIVSYMBOLS Parallel zu den Debatten um Abtreibung und Kindstötung drang das Thema Euthanasie verstärkt in den Vordergrund. Anlass war die Publikation »Grenzsitua-
116 Vgl. Briefe an CHRIST UND WELT: Hilfe für kranke Kinder, in: CHRIST UND WELT, 28.09.1962, S. 9. 117 »Gefahr im Verzuge«, in: DER SPIEGEL, Nr. 49 (1962), S. 72-90, hier S. 74.
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tionen des Lebens« des ehemaligen NS-Eugenikers Werner Catel, ein zentraler Akteur der Kindereuthanasie im Nationalsozialismus. In seinem Buch sprach sich Catel offen für Euthanasie von Menschen mit Behinderung aus118 und begründet dies auf erschreckende Weise mit der nationalsozialistischen Rassenlehre.119 Die »Euthanasie im weiteren Sinne« umfasse die Tötung kindlicher »Idioten« (»Monstren«) sowie erwachsener unheilbar kranker und geistig behinderter Menschen.120 Dass Catel auch nach 1945 noch tätig war, hatte innerhalb der medizinischen Fachgemeinschaft eine Kontroverse ausgelöst. Sie endete mit Catels Emeritierung. Nach seiner Pensionierung verfasste der umstrittene Mediziner die angesprochene Publikation, in der er seine Euthanasieideen vorstellte.121 Die wissenschaftliche und öffentliche Rezeption dieser Publikation hat Sascha Topp ein-
118 Vgl. Werner Catel, Grenzsituationen des Lebens. Beitrag zum Problem der begrenzten Euthanasie, Nürnberg 1962. Siehe zu Catel beispielhaft Hans-Christian Petersen/Sönke Zankel, Werner Catel – ein Protagonist der NS-›Kindereuthanasie‹ und seine Nachkriegskarriere, in: Medizinhistorisches Journal. Medicine and the Life Sciences in History 38 (2003), S. 139-173; dies., ›Ein exzellenter Kinderarzt, wenn man von den Euthanasie-Dingen einmal absieht.‹ – Werner Catel und die Vergangenheitspolitik der Universität Kiel«, in: Hans.Werner Prahl, Hans-Werner (Hg.), Uni-Formierung des Geistes. Universität Kiel und der Nationalsozialismus, Kiel 2007, Band 2, S. 133-179; Artikel Catel, Werner, in: Ernst Klee (Hg.), Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, aktualisierte Ausgabe, Frankfurt am Main 2005, S. 91; W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 202, FN 14. Werner Catel war 1947 Leiter der Kinderheilstätte Mammolshöhe und von 1954 bis zu seiner Emeritierung 1960 als Professor für Kinderheilkunde in Kiel tätig. Beispielhaft zur Medizin im Nationalsozialismus: Dominik Groß/Stefanie Westermann/Richard Kühl (Hg.), Medizin im Dienst der »Erbgesundheit«. Beiträge zur Geschichte der Eugenik und »Rassenhygiene«, Berlin u.a. 2009 (= Medizin und Nationalsozialismus, Band 1); Heike Zbick, ‚Euthanasie‘-Verbrechen in Köln im Zweiten Weltkrieg im Rahmen der T4-Aktion, in: Jost Dülffer/Margit SzölllösiJanze (Hg.), Schlagschatten auf das ‚braune Köln‘. Die NS-Zeit und danach, Köln 2010, S. 157-177. 119 Vgl. Sascha Topp, Geschichte als Argument in der Nachkriegszeit. Formen der Vergegenwärtigung der nationalsozialistischen Euthanasie zwischen Politisierung und Historiographie, Göttingen 2013, S. 125-126. 120 Vgl. ebd., S. 124-125. 121 Vgl. ebd., ab S. 108 und S. 119 ff.
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dringlich nachgezeichnet. Für diese Arbeit relevant sind jedoch nur einzelne Stimmen, die in Verbindung zum Contergan-Fall gebracht werden können. Wie dringlich nicht nur eine fachinterne, sondern eine breite Auseinandersetzung mit Catels Veröffentlichung und seiner Biografie war, zeigt die Rezension des Journalisten und Arztes Hoimar von Ditfurth. In DIE ZEIT formulierte er deutlich, »Mord soll Mord genannt werden«122. Von Ditfurth warnte das Lesepublikum der Wochenzeitschrift DIE ZEIT vor den Thesen Catels: »Bei diesem Buch handelt es sich auch gar nicht, wie der Titel behauptet, um einen diskussionswürdigen Beitrag zum Problem der Euthanasie, sondern um etwas ganz anderes: um einen Versuch, die öffentliche Meinung für eine Geisteshaltung zu gewinnen, die es für moralisch, gerechtfertigt und vernünftig hält, schwachsinnige Kinder zu beseitigen.«123
Von Ditfurth übernahm eine Doppelfunktion als Arzt und Journalist, so dass er Catels Ausführungen nicht nur aus einer moralisch-menschlichen Perspektive, sondern auch seiner medizinischen Expertensicht entkräftete. Er kontextualisierte Catels Buch vor dem Hintergrund nationalsozialistischer Euthanasieverbrechen und entlarvte seine verbrecherischen Absichten. Er verurteilte Catels Vorhaben, die Tötung »schwachsinniger«124 Kinder zu legalisieren als Straftat und kritisierte vehement die Fotografien in dessen Publikation als »Stimmungsmache«125, die den Lesern emotional berühren und aufrühren sollten. Die Visualisierung von Behinderung erfuhr durch Catels Buch eine negative Bewertung. Die medizinischen Fotografien waren ohne den nötigen fachwissenschaftlichen Kontext nur schwer einzuordnen. Sie wirkten auf den medizinisch unkundigen Leser verstörend, was sicherlich in der Absicht des Autors lag, der die Fotografien als Argumentationsgrundlage nutze. Anders als die Fotografien in der BILD im Frühjahr/Sommer 1962 entwickelten die Fotografien in Catels Publikation eine abschreckende Wirkung. In ihrer visuellen Wirkungsweise standen sie im Kontrast zu der Bildererfahrung, die die Leser durch die Boulevardpresse gewonnen hatten. Bei Catel stand das Zuschaustellen von körperlich schwersten Schädigungen im Vordergrund. Von Ditfurths abschließendes Urteil über Catels Buch fiel dementsprechend vernichtend aus: »Ein geschmackloses, unwahrhaftiges und sehr gefährliches Buch, das viele Köpfe verwirren wird.
122 H. v. Ditfurth, Mord soll Mord genannt werden, in: DIE ZEIT, 27.07.1962, S. 13; S. Topp, Geschichte als Argument, S. 128. 123 H. v. Ditfurth, Mord soll Mord genannt werden. 124 Ebd. 125 Ebd.
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Wer die Tendenz des Verfassers erst einmal durchschaut hat, wird nach der Lektüre das dringende Bedürfnis verspüren, sich die Hände zu waschen.«126 Ebenso wie von Ditfurth nahm auch der Mediziner Stockhausen in der ZEIT Stellung. Er brach eine Lanze für das Pflegepersonal geistig behinderter Kinder, die jeden Tag Verantwortung für die Kinder übernehmen, aber keinesfalls an eine Euthanasielösung denken würden.127 Die »umfassendste Kritik« 128, so Sascha Topp, ging von dem Pädiater Theodor Hellbrügge aus. Anders als seine Kollegen von Ditfurth und Stockhausen publizierte Hellbrügge seine Kritik an Catel in dem Fachmagazin DIE ÄRZTLICHEN MITTEILUNGEN. Sein Adressatenkreis war somit auf die medizinische Fachöffentlichkeit begrenzt, dennoch sah er die Notwendigkeit, Catels Buch zu diskutieren. 129 Hellbrügge stellte eine direkte Verbindung zum Contergan-Fall her, in dem er auf das Gerichtsverfahren van de Put in Belgien verwies.130 Der Prozess und anschließende Freispruch der Angeklagten habe gezeigt, dass die nationalsozialistischen Verbrechen bis in die Gegenwart hineinreichen und immer Befürworter fänden. Eine besondere Pflicht sah er in der Ablehnung der Euthanasie durch deutsche Ärzte131: »Wir verfügen speziell in Deutschland über Erfahrungen darüber, wie die Euthanasie aus der Sphäre theoretischer Überlegungen herausgehoben wurde. Wir vermögen zu übersehen, welche Folgen entstehen, wenn aus ärztlicher Sicht eine positive Stellungnahme zur Tötung unwerten Lebens, ja selbst zu einer ›begrenzten‹ Euthanasie erfolgte.«132
Ebenso wie von Ditfuhrt kritisierte Hellbrügge die Instrumentalisierung von Fotografien in Catels Publikation. Die Äußerungen Hellbrügges untermauern die hohe Wirkungsweise von Fotografien in der Debatte: »Eine Absicht scheint wohl auch in der bildlichen Demonstration solcher ›tierischer Lebewesen‹ zu liegen. Hier wurden 20 Bilder schwerster Formen von Mißbildungen, vorwiegend des Gesichts- und Schädelbereiches aus der medizinischen Literatur zusammen-
126 H. v. Ditfurth, Mord soll Mord genannt werden. 127 Vgl. Für sie gibt es keine Euthanasie, Leserbriefe, in: DIE ZEIT, 10.08.1962, S. 6. 128 S. Topp, Geschichte als Argument, S. 133. 129 Vgl. Theodor Hellbrügge, Ärztliche Gesichtspunkte zu einer ›begrenzten‹ Euthanasie, in: ÄRZTLICHE MITTEILUNGEN, 25 (1963), S. 1428-1430 130 Vgl. ebd., S. 1428-1430 und S. Topp, Geschichte als Argument, S. 133-135. 131 S. Topp, Geschichte als Argument, S. 135. 132 T. Hellbrügge, Ärztliche Gesichtspunkte zu einer »begrenzten« Euthanasie, S. 1428.
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gestellt, welche in der Summation der Darstellung den Abscheu des Laienlesers vor solchen Monstren zu erregen vermögen. Aber Catel hat für den Laien vergessen zu erwähnen, daß derartige angeborene Mißbildungen in der Regel nur wenige Stunden oder Tage überhaupt lebensfähig sind.«133
Insbesondere Hellbrügges Ausführungen zum Fall van de Put verdeutlichen die Nachwirkung des Gerichtsprozesses. Mit Hellbrügges Aufsatz erfolgte nicht nur eine medizinische Kontextualisierung jener Stimmen, die die Kindstötung akzeptiert oder sogar gefordert hatten, sondern – und das war viel wichtiger – eine geschichtliche Kontextualisierung der Euthanasie von dem Hintergrund der nationalsozialistischen Verbrechen. Zwei Jahre nach der Veröffentlichung seines Buches erhielt der ehemalige NS-Genetiker Werner Catel 1964 erneut eine Plattform, seine Ideen zur Euthanasie öffentlich zu präsentieren und sich selbst und seine Idee von ›Menschlichkeit‹ einen breiten nichtwissenschaftlichen Publikum darzustellen134 In einem Interview mit dem SPIEGEL äußerte Catel die Vermutung, dass auch nach 1945 deutsche Ärzte einem Tötungsakt zustimmen würden, und als Akt der »Humanitas«135. »Man wird erkennen müssen, daß es menschlicher ist, die idiotischen Kinder von ihrem Unglück zu erlösen als sie zur Qual für ihre Angehörigen vegetieren zu lassen.«136 Catel hielt an seinen zuvor geäußerten Gedanken zur Euthanasie fest und konnte mit dem SPIEGEL-Interview eine ungeahnte Breitenwirkung erzielen. Er ließ jede Form historischer Reflexion oder Kontextualisierung vermissen und knüpfte sprachlich wie inhaltlich nahtlos an die nationalsozialistische Ideologie an, in dem er von der Tötung jener Kinder als humanen Akt sprach. Es gab freilich auch ganz andere Reaktionen. Einige der medizinischen ›Experten‹ lenkten den Blick auf die Möglichkeiten, welche die neueste Medizin den contergangeschädigten Kindern bot. Anders als Catel versuchten sie die Errungenschaften der medizinischen Forschung für Kinder mit Körperbehinderung herauszustellen, um damit zu beweisen, dass eine Integration der Kinder realistisch sei. Es waren vor allem Orthopäden, die so argumentierten. Sie demonstrierten die Leistungsfähigkeit moderner Prothetik, die als zukunftsorientierte Technik, Kindern mit Körperbehinderung eine Teilhabe am Leben ermöglichen sollte. Auch sie nutzten die Presse als Kommunikationsplattform und erzählten
133 T. Hellbrügge, Ärztliche Gesichtspunkte zu einer »begrenzten« Euthanasie, S. 1430. 134 Vgl. Aus Menschlichkeit töten?, in: DER SPIEGEL, Nr. 8 (1964), S. 41-47; S. Topp, Geschichte als Argument, S. 151f. 135 Ebd., S. 42. 136 Ebd., S. 43.
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Geschichten von einem glücklichen Leben der contergangeschädigten Kinder, denen mithilfe von Prothesen Normalität im Alltag ermöglicht werde. In ihren Berichten vermieden sie den Begriff Contergankind und versuchten, die Debatte mit ihren Inhalten zu füllen.137 Sie verlagerten die Diskussion auf medizinische Behandlungsmöglichkeiten, präsentierten Prothesen für die Kinder. Auch wenn sie das Kollektivsymbol Contergankind sprachlich vermieden, definierten sie es mit – nämlich als einen medizinisch beherrschbaren Zustand.138 In ihren Berichten ging es nicht um die medizinische Kausalität oder komplexe medizinische Fragestellungen der Prothetik, sondern um die Verbesserung der Lebensumstände der Kinder. Sie übersetzten die komplexen medizinischen Entwicklungen in der Prothesentechnik in eine verständliche Botschaft: Technik kann die körperlichen Differenzen minimieren. Für die Kinder gibt es Behandlungsmöglichkeiten. Die Frage nach der Ursache für die Fehlbildung wurde von ihnen nicht gestellt.139 Damit versuchten sie sich auch sprachlich von dem Kollektivsymbol Contergankind zu distanzieren, konnten jedoch keine alternativen Sprachkonzepte anbieten. In dem sie aber über ihre medizinischen Expertisen hinaus Vorschläge zur gesellschaftlichen Integration machten, interpretierten sie das Kollektivsymbol Contergankind – gewollt oder ungewollt – mit. Mit ihrer Sicht auf die Situation woben sie, wie viele andere auch, dem Kollektivsymbol Contergankind eine weitere Bedeutung ein. So hieß es in einem Zeitungsbericht: »Die Kinderärzte legen großen Wert darauf, daß diese meist intelligenten und liebenswerten Kinder ambulant behandelt werden, bei den Eltern bleiben und nicht in Heime kommen. Man mache ihr Los sonst noch schwerer, nehme man ihnen die Geborgenheit der Familie. Diesen Familien gilt es beizustehen, damit sie nicht unter dem Makel leiden, den in solchen Fällen von jeher eine grausame Umwelt unsinnigerweise hervorruft: das Urteil, sie hätten kein gesundes Kind ›zustandegebracht‹. Vielfach glaubt die Umwelt, aber nur aus Mitleid mit sich selbst, den Anblick der Mißgestalten nicht ertragen zu können. Diesen Kindern gegenüber wird mit zunehmendem Alter unsere Verantwortung wachsen.«140
137 Vgl. dazu A.H. Crumbach, Contergan im Diskurs. A.H. Crumbach, Zäsur; E. Bösl, Contergan Scandal, S. 140-144; E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 304. 138 Vgl. E. Bösl, Contergan Scandal, S. 142-143. 139 Vgl. Ebd. 140 Merveldt, Eka von, Nach dem Schock: Taten, in: DIE ZEIT, 10.08.1962, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 68a, 68049. Zitat findet sich auch bei J. Stoll, Behinderte Anerkennung, S. 142.
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Gleichzeitig reduzierten die Orthopäden Komplexität, in dem sie die medizinische Behandlung und den Einsatz von Prothesen als einzigen möglichen Weg zur gesellschaftlichen Integration der Kinder postulierten. Sie wandten sich gegen den diskriminierenden Sprachgebrauch des Krüppels, in dem sie die Integrationsfähigkeit der Kinder untermauerten. Eben diese Komplexitätsreduktion verhalf dazu, das Kollektivsymbol weiter zu konturieren. Einigen der Orthopäden gelang der Spagat zwischen Fachwissenschaft und Öffentlichkeit so gut, dass sie geradezu als Vermittler und Übersetzer anzusprechen sind. Dies war insbesondere dann der Fall, wenn Mediziner mehrere Funktionen zugleich ausfüllten: Sie arbeiteten dann als Mediziner, engagierten sich in Vereinen oder Arbeitsgemeinschaften und fungierten als medizinische ›Experten‹ für das Bundesgesundheitsministerium.141 Neben Widukind Lenz (Humangenetiker) und Horst Frenkel (Neurologe) rückten nun namhafte orthopädische ›Experten‹ in den Fokus. Unter ihnen waren die Orthopäden Oskar Hepp und Kurt Lindemann. Im Unterschied zu Lenz und Frenkel wurde ihre Position durchweg positiv bewertet – so auch ihr öffentliches Engagement. Mit ihren medialen Auftritten konzentrierten sie sich nicht, wie Lenz und Frenkel, auf die negativen Folgen des medizinischen Fortschritts, sondern präsentierten sie Lösungskonzepte.142 Da die in der Fachwissenschaft umstrittene Kausalitätsthese, für die Widukind Lenz sinnbildlich stand, innerhalb der orthopädischen Aushandlung kaum eine Rolle spielte, konnten Hepp und Lindemann kaum verlieren. Die Konzentration auf die Orthopädie drängten andere medizinischen ›Experten‹ aus der öffentlichen Wahrnehmung zurück. Gleichzeitig formulierten die Orthopäden den Anspruch, in der Öffentlichkeit für die contergangeschädigten Kinder sprechen zu dürfen, deren geistige Gesundheit sie betonten.143 Mit dieser Fokussierung auf die contergangeschädigten Kinder, erweiterte sich die Gruppe von Menschen mit Behinderungen, die in das öffentliche Sichtfeld rückten. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs hatten Kriegsinvaliden zum Alltagsbild gehört.144 Arm- und Beinamputierte bevölkerten die Straßen. Zu-
141 Vgl. Referat V 7, 57223-442/62, Bonn den 12. Juli 1962, Ref.: MR Schaudienst Betr.: Hilfen für sogen. »Contergan«-Kinder; hier: Besprechung bei Frau Bundesministerin Dr. Schwarzhaupt am 11. Juli 1962, BArch B 106/10805. 142 Vgl. E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 303-304; A.H. Crumbach, Contergan im Diskurs. 143 Vgl. E. Bösl, The Contergan Scandal, S. 142. 144 Maren Möhring, Kriegsversehrte Körper. Zur Bedeutung der Sichtbarkeit von Behinderung, in: Waldschmidt, Anne/Schneider, Werner (Hg.), Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen For-
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meist waren Männer betroffen, weil sie körperliche Zeichen ihres Kriegseinsatzes davongetragen hatten. Von medizinischer Seite dienten Prothesen als Hilfsmittel, um ihnen wieder Zugang zum Arbeitsleben zu ermöglichen.145 Medizinisch ging es um die prothetische Versorgung der ehemaligen Soldaten.146 Körperliche Differenz, Abweichungen vom normalen Körperbau sollten mit Hilfe von Technik behoben und normalisiert werden. Die Orthopädie formulierte in ihrem Leitprogramm den Anspruch, unvollkommene Körper vollkommen funktions- und arbeitsfähig zu machen.147 Die kindliche Prothetik in dieser Zeit der Rekonstruktion kam fast vollständig zum Erliegen. Vielmehr konzentrierten sich die Orthopäden auf die Erwachsenenprothetik, die als Zeichen für medizinischen Erfolg, aber auch gesellschaftlichen Neubeginn stand. Waren die verwundeten und gezeichneten Körper der heimkehrenden Soldaten ein sichtbares Erinnern an die Leiden des Krieges, sollten die technischen Hilfsmittel der Prothetik der Gesellschaft den Eindruck vermitteln, der Neuanfang und Wiederaufbau beginne.148 Die Orthopädie wurde somit auch zu einem politischen Argument, vor allem, da an der Ausstattung und Behandlung der Kriegsinvaliden der neue demokratische Staat gemessen wurde.149 Nach Gründung der Bundesrepublik beteiligte sich die Bundesregierung finanziell am Ausbau der prothetischen Forschung.150 Der wirtschaftliche Auf-
schungsfeld, Bielefeld 2007, S. 175-197, hier S. 176; Sabine Kienitz, ›Fleischgewordenes Elend‹. Kriegsinvalidität und Körperbilder als Teil einer Erfahrungsgeschichte des Ersten Weltkrieges, in: Buschmann, Nikolaus/Carl, Horst (Hg.), Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn 2001 (= Krieg in der Geschichte, Band 9), S. 215-237. Siehe auch Sabine Kienitz, Beschädigte Helden. Kriegsinvalidität und Körperbilder 1914-1923, Paderborn 2008 (= Krieg in der Geschichte, Band 41); Heather R. Perry, Brave Old World. Recycling der Kriegskrüppel während des Ersten Weltkrieges, in: Barbara Orland (Hg.), Artifizielle Körper – Lebendige Technik. Technische Modellierungen des Körpers in historischer Perspektive, Zürich 2005 (= Interferenzen, Band 8), S. 147-158; Sven Reichardt, Gewalt, Körper, Politik. Paradoxien in der deutschen Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit« in: Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 21 (2005), S. 205-239. 145 Vgl. E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 296-297. 146 Vgl. ebd., S. 299. 147 Vgl. ebd., S. 290. 148 Vgl. ebd., S. 297-298. 149 Vgl. ebd., S. 297-298. 150 Vgl. ebd., S. 299.
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schwung, das Wirtschaftswunder also, ließ auch die Orthopädie optimistisch in die Zukunft blicken. Neben wirtschaftlich-sozialen Hilfen sahen das Körperbehindertengesetz (1957) und das Bundessozialhilfegesetz (1961) auch finanzielle Unterstützung bei der kostspieligen Prothesenbehandlung vor.151 In den 1960er Jahren erweiterte sich der Patientenkreis dann um mehrere tausend Kinder, die ebenfalls dringend orthopädische Hilfe benötigten.152 Wiederum schienen die Orthopäden gefordert. Sie dominierten jetzt die Debatte: Ihnen ging es dabei um sichtbare und funktionale Wiederherstellung Normalität. Diese Normalität stellten sie der Isolation körperbehinderter Kinder gegenüber, wie Elsbeth Bösl in ihren Arbeiten verdeutlicht hat.153 Für das Kollektivsymbol Contergankind wurde das Leitmotiv der Normalisierung von großer Bedeutung. Visuelle Strategien, diese Normalität auch bildlich in Fotografien und Bilderstrecken zu produzieren, zielten auf die Darstellung der Kinder in alltäglichen Situationen.154 Hatte die die Beschreibung der Fehlbildungen zunächst den Fokus auf die Andersartigkeit gelegt, so lag nun der Schwerpunkt auf der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit der Kinder. Nicht das Andere, sondern das Normale sollte gezeigt werden155: »Als das ›fröhlichste und am besten bekannte Kind meines Krankenhauses‹ stellte Prof. Dr. Oskar Hepp aus Münster ein dreieinhalbjähriges Mädchen ohne Arme und mit zwei mißgebildeten Beinen vor. Das Kind löffelte gut gelaunt Kartoffelbrei mit Hilfe eines Fußes und zeigte, daß es schon allein mit einer Prothese gehen kann. Das Mädchen soll in eine normale Schule kommen. Als das Kind fröhlich plappernd verschwand, brach spontaner Beifall los.«156
151 Vor allem Kinderprothesen galten als kostspielig, mussten sie in regelmäßigen Abständen den kindlichen Entwicklungen angepasst oder ersetzt werden. E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 300. 152 Vgl. ebd., S.301. 153 Vgl. E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 301; E. Bösl, The Contergan Scandal, S. 142-143. 154 Vgl. E. Bösl, The Contergan Scandal, S. 142-143. Siehe auch A. Grebe, Fotografische Normalisierung 155 Vgl. E. Bösl, Politiken der Normalisierung; E. Bösl, The Contergan Scandal, S. 142.143; A.H. Crumbach: Contergan im Diskurs, S.79-80. 156 Re, Mißbildungen. Mediziner sprechen jetzt von einer Epidemie, in: ABENDPOST, 08.05.1962, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 67b.
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An diesem kurzen Zitat wird deutlich: Die Aktion des Essens wurde von den Beobachtern als herausragende Leistung des Kindes betrachtet. Deshalb die Belobigung. Die Reaktion auf den Anblick eines körperlich behinderten Kindes, das einer alltäglichen Tätigkeit nachging, zeigt, wie weit entfernt die Anwesenden davon waren, dies als Normalität zu empfinden.157 Normalität, das bedeutete in erster Linie, an gesellschaftlichen Aktivitäten teilnehmen zu können wie andere auch, zum Beispiel durch den Besuch eines Kindergartens oder einer Schule. Dass die Wahrnehmung von Behinderung nicht nur über Sprache artikuliert, sondern auch über die Sehgewohnheiten gesteuert wurde, skizziert Anna Grebe in ihrer Dissertation: »[...] lautet meine Leitthese zur sozio-medialen Konstruktion von Behinderung, dass jene nicht angeboren, sondern als Sinneffekt eines medialen und diskursiven Konstitutionsprozesses zu begreifen ist. Das bedeutet, dass Bilder von Behinderung gleichsam als Akteure im Diskurs um die Praktiken sozialer Herstellung von Behinderung als auch von Normalität untersucht werden müssen, ohne die Bilder selbst als Ontologien aufzufassen und ihnen damit lediglich den Status einer (historischen) Quelle zuzuweisen.«158
Mit der bildlichen Präsentation des Kollektivsymbols Contergankind setzten sich also auch bestimmte Sehgewohnheiten durch: die Fehlbildungen an Armen und Beinen wurden mit den Folgen des Medikaments visuell verknüpft, ebenso der Einsatz von Prothesentechnik. Diese Bilder fokussierten sich nicht auf orthopädische Krankheitsbilder, sondern sollten gerade die Normalität der Kinder symbolisieren.159 Die Orthopädie zeugte von Zukunftsfähigkeit, in der medizinische Kompetenz, Technik und menschliche Fürsorge zusammentrafen. So wunder nicht, dass sich die erwähnten Orthopäden über ihre genuine Forschung hinaus aktiv für die contergangeschädigten Kinder einsetzten. Lindemann und Hepp gründeten die »Aktion Kinderhilfe«, mit der sie Gelder für die wissenschaftliche Forschung sammeln und den betroffenen Kindern helfen wollten.160 Bereits bei der
157 Zum Zukunftsoptimismus der Orthopädie siehe E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 300 ff. 158 A. Grebe, Fotografische Normalisierung, S. 13. 159 Vgl. E. Bösl, Contergan Scandal, S. 142-143; E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 304; A.H. Crumbach, Bilder als Grenzerfahrung, S. 226. 160 Vgl. Vermerk aus dem Archiv für Wohlfahrtspflege Berlin-Dahlem zu den »›Contergan‹-Opfer« vom 27.09.1962, BArch B 106/10805. Siehe auch A.H. Günther, Contergan als Zäsur, S. 161.
Der Begriff des Contergankindes als neues Kollektivsymbol | 185
BILD-Aktion »Babypfennig« hatten sich Ärzte für eine finanzielle Unterstützung ausgesprochen. Nun wiederholten die Orthopäden Hepp, Lindemann und Marquardt ihre Forderung nach Hilfsmaßnahmen auf der Deutschen Therapie Woche vor einem Fachpublikum. Die Aktion lief unter Federführung der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation Behinderter e.V., dessen Vorsitzender der Orthopäde Kurt Lindemann war. Das Hamburger Abendblatt berichtete ausführlich über den Kongress und stellte das Engagement der Ärzte als »Privatinitiative dreier namenhafter Ärzte« vor: »Das Hamburger Abendblatt stellt sich gern in den Dienst dieser Gemeinschaftsaktion ›Kinderhilfe‹, die jenseits von Schreibtisch und Bürokratie entstanden ist. Die betroffenen Kinder haben ein Recht auf ein erfülltes Leben, zu dem ihnen die Ärzte verhelfen kön161
nen.«
In einem Aufruf betonten die Initiatoren die Notwendigkeit von Forschungsgeldern, die die Prothesenentwicklung unterstützen und den Kindern bei der medizinischen Rehabilitation helfen könnten: »Nach Angaben der Bundesregierung ist eine weitgehende finanzielle Unterstützung im Einzelfall durch das Bundessozialhilfegesetz sichergestellt. Darüber hinaus ist es jedoch notwendig, daß sofort zum Aufbau der Forschung Geldmittel zur Verfügung gestellt werden, um alle gegebenen Möglichkelten zum Wohle der Kinder ausschöpfen zu können. Wir begrüßen deshalb die aus privater Initiative geschaffene Spendenaktion ›Kinderhilfe‹, um Verzögerungen und Lücken der gesetzlichen Hilfe auszugleichen. Diese Gelder sollen die Wissenschaftler in die Lage versetzen, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen.«162
Auch hier entwickelte sich ein neues Leitmotiv des Kollektivsymbols: die gesellschaftliche und politische Unterstützung der orthopädischen Arbeit. Denn ohne eine solche Unterstützung war die gemeinsame Aufgabe, den contergangeschädigten Kindern den Eintritt in ein normales Leben zu ermöglichen, nicht machbar. Sprachlich orientierten sie sich dabei an generalisierenden Beschreibungen der kindlichen Fehlbildungen. So sprachen sie von »verkrümmten Armen und Beinen«. Die Kausalitätsfrage umgingen sie, indem sie weder das Me-
161 Aktion Kinderhilfe läuft an, in: HAMBURGER ABENDBLATT, 01.09.1962 http:// www.abendblatt.de/archiv/1962/article200640115/Aktion-Kinderhilfe-laeuft-an. html vom 13.02.2018. 162 Ebd.
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dikament erwähnten, noch auf diese Frage in ihren Ausführungen eingingen.163 Dennoch trugen sie mit ihrem Engagement dazu bei, das Kollektivsymbol Contergankind mit weiteren Inhalten zu füllen und contergangeschädigte Kinder mit ihrer Fähigkeit zur Bewältigung des Lebensalltags ganz neu zu bewerten. Unterdessen gingen die moralischen Diskussionen weiter. Immer häufiger arbeiteten Journalisten losgelöst von bisherigen medizinischen Konzepten und dachten über die gesellschaftliche Verantwortung für die contergangeschädigten Kinder nach. Die in dieser Zeit entstandenen Konzepte verdeutlichen Kontinutität und Umbruch zugleich: Kontinuität angesichts der gängigen Vorstellungen von Behinderung als ›Abnormalität‹; Umbruch im Hinblick auf die öffentliche Aufklärung über Behinderung. Diese Mischung war explosiv, brach Tabus und brachte die Diskutanten immer wieder an ihre Grenzen. Deutlich wird dies an der Diskussion um die Vorschläge von Frederic W. Nielsen. In der einen Auffassung profitierten die Kinder und deren Umfeld am meisten, wenn die behinderten Kinder in ihren Familien lebten. In der anderen Auffassung bedurfte es eines speziellen Schutz- und Förderraumes. Der Schriftsteller und Humanist Frederic W. Nielsen hatte 1962 den Plan eine »kleinen Stadt« vorgelegt. Die Kinder sollten dort finanziell unterstützt, körperlich und seelisch intensiv betreut werden, allerdings mit der notwendigen Folge gesellschaftlicher Isolation.164 Ein Jahr später griff der ZEIT-Autor Thomas Regau Nielsens Idee auf und unterstützte in einem ausführlichen Kommentar dessen Konzept 165 Mit ihren Vorschlägen untermauerten beide Autoren in der Wirkung den Eindruck, die contergangeschädigten Kinder seien eine »Dauerprovokation für die bundesrepublikanische Gesellschaft«166, derer man sich durch das Einschließen in Heimen entziehen konnte. Insbesondere vor dem Kontext einer zuneh-
163 Vgl. Aktion Kinderhilfe läuft an, in: HAMBURGER ABENDBLATT, 01.09.1962, http://www.abendblatt.de/archiv/1962/article200640115/Aktion-Kinderhilfe-laeuftan.html vom 13.02.2018. 164 Vgl. Aktion Kinderhilfe läuft an; Thomas Regau, Handeln – nicht heucheln, in: DIE ZEIT, 01.02.1963; E. Bösl, Was ist und wozu brauchen wir die Dis/ability History, ab S. 34; Quellenbestand unter B 142/1829. Einige Bürger zeigten sich von dieser Idee überzeugt und wandten sich an das Bundesgesundheitsministerium, um sich über eine mögliche Finanzierung des Projekts von staatlicher Seite zu informieren. Vgl. E. Bösl, Was ist und wozu brauchen wir die Dis/ability History, S. 35. 165 T. Regau, Handeln – nicht heucheln; siehe dazu auch E. Bösl, Was ist und wozu brauchen wir die Dis/ability History, ab S. 34. 166 W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 200.
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menden visuellen Präsentation der Kinder in der Presse, war der Nielsen-Plan ein Indiz für die Mentalität des Wegschauens und Nichtsehens.167 Dass Behinderung weiterhin als ›Unglück‹ definiert wurde, erschwerte die gesellschaftliche Integration erheblich. Gleiche Rechte, so auch in der Frage der Fortpflanzung, wurden Menschen mit Behinderungen verweigert: »Anderen Gedanken des Initiators gegenüber sind wir skeptisch. Daß, zum Beispiel, diese Verkrüppelten sogar die Chance hätten, sich später fortzupflanzen, selbst auf die Gefahr hin wieder Krüppelchen zu erzeugen, weil die ›kleine Stadt‹ doch auf ihresgleichen eingerichtet sei, wird kein Verständiger gutheißen. Sollte Contergan auch mutagen sein, also auch das Erbgut geschädigt haben – was bisher unbewiesen ist – dann sollte man andere Auswege erwägen, statt das Unglück in weitere Generationen zu tragen.«168
Einige Zeit später distanzierte sich DIE ZEIT allerdings von Regaus Artikel.169 So hieß es: »Die ›kleine Stadt‹ für ›Contergan-Kinder‹ stellt sich für viele nun schon als ›Contergan-Ghetto‹ dar – ein Begriffswandel, mit dem von vornherein zu rechnen war und den zu beachten unerläßlich ist.«170 Wissenschaftliche ›Experten‹ beteiligten sich maßgeblich an der Diskussion um die »kleine Stadt«, in dem sie sich in Leserbriefen an die Öffentlichkeit wandten. So kritisierte der Orthopäde Kurt Lindemann die Idee der »Zentralanstalten«171 und verwies auf die historische Kontinuität jener Debatte, die es bereits in Bezug auf Kriegsversehrte gegeben habe.172 Im Gegensatz zu einer Separation plädierte er für die familiäre und gesellschaftliche Einbindung der Kinder. Nur so könne eine Integration der Kinder gelingen.173 Ähnlich sahen dies auch das Bundesgesundheitsministerium sowie Kurt Juster, seines Zeichens Vorsitzender der Vereinigung zur Förderung und Betreuung spastisch gelähmter Kinder e.V. aus Hamburg. Beide betonten, wie wichtig es sei, die Kinder langfristig gesellschaftlich zu integrieren. Juster wies den Vor-
167 Vgl. A.H. Crumbach, Bilder als Grenzerfahrung, S. 227-228; E. Bösl, Was ist und wozu brauchen wir die Dis/ability History, S. 39. 168 Den Mut zum Leben erhalten, in: DIE ZEIT, 01.02.1963. 169 Kein Ghetto für Kinder. Handeln, nicht heucheln – Antworten auf einen Vorschlag, in: DIE ZEIT, 22.02.1963. Siehe dazu auch E. Bösl, Was ist und wozu brauchen wir die Dis/ability History, S. 39. 170 Kein Ghetto für Kinder. Handeln, nicht heucheln – Antworten auf einen Vorschlag. 171 Kein Ghetto für Kinder. Handeln, nicht heucheln – Antworten auf einen Vorschlag. 172 Vgl. ebd. 173 Vgl. ebd.
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schlag Nielsens als »mittelalterlich-eng«174 zurück. Er verkehre die Grundsätze moderner Rehabilitation ins Gegenteil. Zugleich warnte er vor der Schaffung eines »Contergan-Adel[s]«175; eine Sorge, die auch andere Elternverbände hatten. Sie befürchteten, das öffentliche Interesse könne sich vornehmlich auf die Gruppe der contergangeschädigten Kinder konzentrieren, was nicht zwangsläufig zu einer generellen öffentlichen Aufmerksamkeit für körperliche oder geistige Behinderung bei Kindern führen würde. Der Orthopädie Hans Mau äußerte sich in seinem fachwissenschaftlichen Aufsatz »Die Behandlung der angeborenen Gliedmaßen« ebenfalls zum Konzept einer isolierten Lebensgemeinschaft. Auch er befürchtete: »Die Gründung eigener ›Ghettos‹ für diese schwer betroffenen Kinder – womöglich die Züchtung eines besonderen ›Thalidomidadels‹ ist deshalb nach unseren Erfahrungen in der Körperbehindertenfürsorge zu widerraten.«.176 Das Bundesgesundheitsministerium lehnte schließlich das Nielsen-Konzept mit der Begründung ab: »Der Nielsenplan, die Kinder in einem Kinderdorf von der Außenwelt zu isolieren, wurde vom Bund nicht gefördert und kam, zumal von den meisten Eltern und Fachleuten abgelehnt, nicht zur Durchführung.«177 Der Nielsen-Plan hatte jedoch gezeigt, dass die Frage, wie ein Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung aussehen sollte, nicht beantwortet war. Dem Isolationskonzept von Nielsen standen andere Überlegungen gegenüber, zum Beispiel die Camphill-Bewegung aus Großbritannien. Die Wochenzeitung CHRIST UND WELT berichtete im April 1963 über das Projekt »Die Dorf-
174 Kein Ghetto für Kinder. Handeln, nicht heucheln – Antworten auf einen Vorschlag. 175 Ebd. 176 Hans Mau, Die Behandlung der angeborenen Gliedmaßen, in: DEUTSCHE MEDIZINISCHE
WOCHENSCHRIFT, 88 (1963), S. 1064-1065, hier S. 1064; W. Freitag,
Contergan, S. 49. 177 Referat I A 5, Bad Godesberg, 19. Februar 1964: Sachstandsbericht über die Rehabilitation von Kindern mit schweren Mißbildungen, in: BArch B 142/1829, S. 6, fol 49. Dennoch geriet der Nielsen-Plan nicht in Vergessenheit: 1965 publizierte DIE ZEIT erneut einen Artikel dazu. Nun aber erklärte sie letztmalig, der Plan sei überholt. Siehe dazu: N.N., Angeklagt: Versäumnisse, in: DIE ZEIT, 25.06.1965; Wie Elsbeth Bösl ausführt, bedeutete dies jedoch kein Umdenken in der Frage, wie das Leben mit Behinderung auszusehen habe. Vielmehr wurde die kindliche Behinderung öffentlich ausgehandelt und eine Vielzahl neuer Akteure beteiligten sich an der Debatte, siehe dazu: E. Bösl, Was ist und wozu brauchen wir die Dis/ability History, S. 39.
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gemeinschaft«178, nur wenige Monate nachdem DIE ZEIT das Konzept der kleinen Stadt erstmals vorgestellt hatte. Die Camphill-Bewegung befürwortete ein gemeinschaftliches Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung. Innerhalb einer Gemeinschaft lebten und lernten Kinder, Eltern und Betreuer gemeinsam und sicherten zudem die autarke Versorgung ihres Dorfes.179 In der Dorfgemeinschaft sollten vor allem Menschen mit geistiger Behinderung leben, fernab von dem »triste[n] Saal mit vergitterten Fenstern und verriegelten Türen […].«180 Die Gemeinschaft sollte den Bewohnern somit einen »Schutzraum« bieten, in dem sie sich frei entfalten konnten.181 Die Camphill-Bewegung hatte den Anspruch, gleichberechtigt mit ihren Bewohnern umzugehen.182 Dennoch blieb die Darstellung in CHRIST UND WELT in bekannten Motiven verhaftet, eine kritische Auseinandersetzung mit den Zielen der Bewegung gab es nicht. Die Bewohner wurden als zu beschützende Kinder dargestellt, auch wenn sie dem Kindesalter längst entsprungen waren: »Die Kinder, die vor fünfzehn Jahren nach Camphill gekommen waren, sind herangewachsen. Dreißig bis fünfunddreißig Prozent konnten hinaus, in die freie Wildbahn entlassen werden. Die weitaus größere Zahl aber braucht weiter Schutz und Führung.«183
Gleichzeitig versuchte sich die Autorin von der Assoziation der Behinderung als Krankheit zu lösen. So verwies sie darauf, dass der Begriff des Kranken nicht verwendet werde, vielmehr spreche man von »Dörflern«184. Es galt, ihnen ein Leben zwischen »Dumpfheit und Apathie« zu ersparen, sie als »Hilfsbedürftige, doch nicht als ›Kranke‹« wahrzunehmen und sie in ein normales Leben »einzugliedern«.185 Auch wenn die Camphill-Bewegung vornehmlich Menschen mit geistiger Behinderung im Blick hatte, referierte der Artikel auch auf das Schicksal der contergangeschädigten Kinder. So war er mit der Überschrift »Auch sie
178 Anneliese Steinhoff, Auch sie sind unsere Kinder, in: CHRIST UND WELT, 19.04.1963, S. 22. 179 Vgl. ebd. 180 Ebd. 181 Christof Stamm, Anthroposophische Sozialtherapie, Anthroposophische Sozialtherapie im Spiegel ausgewählter Lebensgemeinschaften. Eine qualitativ-empirische Studie, Wiesbaden 2011, S. 191. 182 Vgl. ebd. 183 A. Steinhoff, Auch sie sind unsere Kinder. 184 Ebd. 185 Ebd.
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sind unsere Kinder«186 überschrieben; auf der rechten Seite war das Bild einer jungen Frau abgedruckt, die einen Säugling auf dem Arm hielt. Die Fotografie knüpfte an die damalige Berichterstattung und Fotografien an, die im Kontext des Contergan-Falles entstanden waren. Der Vorschlag, Behinderte und Nichtbehinderte sollten in geförderten Räumen gemeinschaftlich zusammenzuleben, fand immer wieder Anhänger. Im April 1963 erschien in der STUTTGARTER ZEITUNG ein Artikel über den Vorschlag eines gelähmten Mannes, der das Konzept einer »Gemeinschaftssiedlung für Gesunde und Kranke«187 vorstellte. Auch wenn dieser Vorschlag lokal begrenzt war, hatte er doch im Kontext der Überlegungen von Ausgrenzung oder Einbeziehung behinderter Menschen in die Gesellschaft Bedeutung; insbesondere, da der Vorschlag von einem Mann mit körperlicher Behinderung kam. Auch hier diente der Contergan-Fall erneut als Argumentationshilfe, sozusagen als Ausgangspunkt für die Überlegungen. »Statt neue Stätten konzentrierten Elends oder neue Quarantänen zu schaffen, geht es ihm um den Bau einer Gemeinschaftssiedlung für Gesunde und Kranke, einer Siedlung, die alle architektonischen und technischen Forderungen der Behinderten erfüllt, auch alle notwendigen Behandlungs- und Pflegestationen enthält, die aber, wie jede andere Siedlung auch, das normale Familienleben ihrer Bewohner nicht beeinträchtigt.«188
Behinderung wurde als Krankheit und ›Anormalität‹ definiert, also von Gesundheit und der Befähigung zu einem normalen Leben abgegrenzt. Die Sinnerfüllung des Lebens von Menschen mit Behinderung sollte einerseits durch Arbeit, andererseits durch den Umgang mit ›gesunden‹ Menschen bestärkt werden.189 Das Leben der ›gesunden‹ Menschen war somit fester Bestandteil und Maßstab des ›Normalen‹ und wurde immer wieder kontrastiv dem Leben von Menschen mit Behinderungen gegenübergestellt. »Die restlichen 38 Prozent der Wohnungen könnten von jungen Familien bezogen werden, Familien mit Contergangeschädigten Kindern etwa, Leuten also, die selber gesund sind, sich aus Schicksalsverbundenheit jedoch freiwillig der Gemeinschaft mit den Behinderten eingliedern würden. Gerade diese Familien könnten zu einem wichtigen Bindeglied zwi-
186 A. Steinhoff, Auch sie sind unsere Kinder. 187 Vorschlag, Gemeinschaftssiedlung für Gesunde und Kranke, in: STUTTGARTER ZEITUNG,
06.04.1963.
188 Ebd. 189 Vgl. ebd.
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schen den Behinderten und deren gesunden Mitmenschen werden, könnten ihnen zur Rückgliederung in die Gesellschaft verhelfen.«190
Das Assoziationspaar Krankheit/Behinderung vs. Gesundheit/Normalität wurde nicht als diffamierender Gegensatz, sondern als Gegebenheiten wahrgenommen. Es ging nicht um die Abwertung des Lebens mit Behinderung, sondern vielmehr um das Sichtbarwerden von Behinderung. Hier spielte die Vorstellung eine Rolle, dem hilfsbedürftigen Menschen solle von der Gesellschaft ein ›normales und gesundes‹ Leben möglich gemacht werden. Wer die Maßstäbe für Normalität setzt, wurde dagegen nicht thematisiert. Krankheit und Gesundheit wurden als feststehende Konzepte akzeptiert. Ein »menschenwürdiges«191 Leben wurde also als ein ›normales, soziales und gesundes‹ Lebens definiert. Diese Vorstellungen galten als zukunftsweisend, weshalb das Projekt auch als »ein Beispiel des sozialen und des ethischen Fortschritts« bewertet wurde.192 »Entscheidend für das fortschrittliche Projekt sollten letztlich jedoch nicht allein die finanziellen Erwägungen sein. Vielmehr ist zu bedenken, daß die Verwirklichung dieses Planes, der zum Vorbild ähnlicher oder gleicher Projekte zu werden verspräche, einer großen Zahl schwer Körperbehinderter zu menschenwürdigen Leben zu verhelfen vermöchte und zugleich auch das ungewisse Schicksal der Contergangeschädigten Kinder erleichtern könnte.«193
Auch für die journalistische Arbeit blieb die Frage nach der gesellschaftlichen Integration der Kinder bedeutend. Vor dem Hintergrund der Debatten um Euthanasie fehlte ein starkes politisches Konzept, dass sich explizit mit der Integration contergangeschädigter Kinder in die Gesellschaft auseinandersetze. Im August 1963 kritisierte der Journalist Richard Kaufmann in CHRIST UND WELT fehlende staatliche Unterstützung von Seiten der Ministerien und sprach von dem Contergan-Fall als einen »lautlosen Skandal«194. Gleichzeitig verurteilte Kaufmann auch die in der Gesellschaft bestehenden Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung, die in Aberglaube und unwissenschaftlichen Halbwahrheiten mündeten: »Mit welchen magischen Vorstellungen hier oft noch operiert wird,
190 Vorschlag, Gemeinschaftssiedlung für Gesunde und Kranke, in: STUTTGARTER ZEITUNG, 06.04.1963. 191 Ebd. 192 Ebd. 193 Ebd. 194 Richard Kaufmann, Der lautlose Skandal, in: CHRIST UND WELT, 02.08.1963.
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was für unglaubliche Torheiten als selbstverständlich hingenommen werden, wie wenig selbst Gebildete über biologische und physiologische Zusammenhänge wissen.«195 Kaufmann forderte die Abkehr einer Zurschaustellung contergangeschädigter Kinder hin zu einem gelebten Miteinander. Dabei wies er das Konzept von Nielsen scharf in die Schranken, die contergangeschädigten Kinder aus dem Sichtfeld der Öffentlichkeit auszuschließen: »Wir brauchen eine gesellschaftliche Leistung; diese Kinder dürfen nicht als kuriose Sonderfälle und Schaustücke betrachtet, sie müssen wie die Opfer anderer technischer Katastrophen in unsere Reihen aufgenommen werden. Nicht nur von dem, was Bund und Länder, Ärzte und Eltern leisten, sondern vom Verhalten der Gesellschaft hängt es ab, was aus ihnen wird. […] Die Conterganopfer ›auszuklammern‹, in eine Art von Leprosorium abzuschieben, sie einfach unsichtbar zu machen, wäre, nach Ansicht aller Ärzte, das Unwürdigste, was die Gesellschaft tun könnte – wenn es auch wohl das Bequemste wäre.«196
Eine neue Etappe der Diskussion begann, als 1964 das ZDF die Aktion Sorgenkind medienwirksam inszenierte und Behinderung als menschliches ›Schicksal‹ thematisierte. Wie Gabriele Lingelbach nachgewiesen hat, blieben in den QuizSendungen, die zur Spendengenerierung dienten, Menschen mit körperlicher Behinderung zunächst ausgeschlossen. Aufklärung über Behinderung erfolgte über Berichte oder Informationsmaterial, welches das Bild von hilfsbedürftigen, aber handlungsfähigen Kinder festigten. In diesem Material wurde auch das Zusammenleben mit behinderten Kindern thematisiert, in dem sie als normale Mitglieder der Gesellschaft dargestellt wurden.197 Wie weit entfernt die Öffentlichkeit von dem Ideal eines gleichberechtigten Zusammenlebens war, zeigten nicht nur die öffentliche Inszenierung von Werner Catel oder der Nielsen-Plan, sondern auch zwei Umfragen aus dem Jahr 1969 und 1972. Eine Kölner Studie (1969) ermittelte eine verbreitete Ablehnung gegenüber Menschen mit Behinderung. Die Teilnehmer der Befragung befürworteten Heimunterbringungen und Schwangerschaftsunterbrechungen ebenso wie Euthanasie.198 1972 untersuchte der Wissenschaftler Gerd W. Jansen »die Ein-
195 Richard Kaufmann, Der lautlose Skandal, in: CHRIST UND WELT, 02.08.1963. 196 Ebd. 197 Vgl. G. Lingelbach, Konstruktionen von ›Behinderung‹, S. 129-133; A.H. Crumbach, Bilder als Grenzerfahrung, S. 228-229. Informationsbroschüre »Sorgenkinder unter uns« um 1967, Archiv Aktion Mensch. 198 Vgl. J. Stoll, Behinderte Anerkennung, S. 146-147.
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stellung der Gesellschaft zu Körperbehinderten« unter Berücksichtigung empirischen Materials.199 Mit Fragebögen und Assoziationsfragen versuchte er herauszufinden, »was in der Bevölkerung überhaupt unter dem Begriff Behinderung verstanden wird.«200 In seiner Studie resümiert er: » Die Ergebnisse zu den ›Wissens-Fragen‹ lassen den Schluß zu, daß die Öffentlichkeit entschieden zu wenig über Körperbehinderte informiert ist.«201 Bei der freien Assoziation zum Thema Körperbehinderung gaben die Befragten zum Teil erschreckende Antworten. So verzeichnete Jansen neben mitfühlenden Aussagen (»bekommen zu wenig Hilfe; Bewunderung für ihr Durchstehen«)202 auch Assoziationen wie »hilflos«, »verkrüppelt«, »nicht vollwertig«, »Inzucht«, »ins Heim stecken«.203 Gesteigert wurden die Aussagen noch, wenn von »taugen zu nichts«, »besser sie wären tot«, »ausrotten«, »Euthanasie« oder »im Dritten Reich hätten wir die Leute vergast« die Rede ist.204 Vor diesem Hintergrund zwang die Debatte um contergangeschädigten Kinder den Diskurs neu zu führen. Bis dahin war er noch immer er geprägt von Vorurteilen, Mitleid und Mitgefühl. Nur wenige Jahre nach den nationalsozialistischen Euthanasieverbrechen diskutierte die Öffentlichkeit die Frage ›lebenswerten‹ Lebens. Die bis dahin noch nie in dieser Form und dieser Anzahl aufgetretene Art der Behinderung, die medikamentöse Ursache des Geschehensablaufs, dass nun Kinder betroffen waren, forderten die Gesellschaft heraus, sich mit dem Thema Behinderung abseits von gängigen Vorstellungen auseinanderzusetzen. Keinesfalls veränderte sich dadurch die Wahrnehmung von Behinderung schlagartig. Aber es rückten Kinder und Jugendliche mit körperlichen Behinderungen in den Mittelpunkt, ihre Lebensentwürfe interessierten, ihre medizinische Rehabilitation und ihre schulische Ausbildung. Und doch benötigte der notwendige Wahrnehmungs- und Sprachwandel viel Zeit.205
199 Vgl. Gerd W. Jansen, Die Einstellung der Gesellschaft zu Körperbehinderten. Eine psychologische Analyse zwischenmenschlicher Beziehungen aufgrund empirischer Untersuchungen, Neuburgweier 1972. Siehe auch dazu Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 86-87. 200 G. W. Jansen, Die Einstellung der Gesellschaft zu Körperbehinderten, S. 44. 201 Ebd., S. 52. 202 Ebd., S. 52. 203 Ebd., S. 53. 204 Ebd., S. 53. 205 Siehe dazu z.B. Vierte Tagung des Deutschen Ausschusses für die Eingliederung Behinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft 3./4 Juni 1965 in Bonn, BArch B 149/6459.
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Seit Bekanntwerden der wissenschaftlichen Tatsache im öffentlichen Raum – im Zeitraum von 1962 bis 1968 – wurde das Kollektivsymbol Contergankind mehrfach umgedeutet. In verschiedenen parallelen Diskurssträngen differenzierte es sich sprachlich und inhaltlich aus: • Massive Kritik galt dem Bundesministerium für Gesundheit, weil es nicht das
Gemeinwohl förderte, sondern das Volk gefährdete. Der Politik wurde vorgehalten, es fehle ihr an dem nötigen Willen und sie habe zu spät eingegriffen. Hauptverantwortlich sei Bundesgesundheitsministerin Elisabeth Schwarzhaupt, da sie viel zu passiv reagiert habe.206 In diesem Sinne stand das Kollektivsymbol Contergankind für Politikversagen. • Die realen Bilder von Contergankindern, die älter, größer und sich ihrer Benachteiligung bewusst wurden, schreckten die Öffentlichkeit auf, ließen die Eigengefährdung konkret und für jeden einzelnen nachvollziehbar werden. Das ›Technikmisstrauen‹ seit Anfang der 1970er Jahre hatte hier eines seiner Wurzeln. • Der Appell an die Selbstverantwortung der Bürger, mit Medikamenten vorsichtig umzugehen, veränderte das Klima und zerstörte den bis dahin ungebrochenen Fortschrittsglauben. Es ging um die Eigenverantwortung in einer durch Technik bestimmten Gesellschaft. • Nur wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges stritt die Öffentlichkeit, ob das Leben mit Conterganschäden überhaupt lebenswert sei, ob die Kinder angesichts der Belastung der Eltern ein uneingeschränktes Recht auf Geburt hätten. Auch in diesem Sinne läutete die Debatte um Contergan das Ende der Nachkriegszeit an. Um politische Verantwortung ging es also, um Solidarität mit unschuldigen Kindern und um das allzu große Vertrauen in die technische Zukunftsgestaltung. Rundfunk, Fernsehen, Zeitungen und Zeitschriften, sie alle griffen diese – auch ethischen – Fragen auf. Was die genauen Ursachen für die Fehlbildungen waren, interessierte die breitere Öffentlichkeit kaum. Die hochkomplexen und medizinisch kontroversen Untersuchungsergebnisse verblieben weiterhin der Fachöffentlichkeit vorbehalten. Der medizinische Sachverhalt Thalidomid verschwand vollständig hinter dem konkreten, auf Verpackungen und Beipackzetteln abgedruckten Begriff Contergan und dessen sichtbaren Auswirkungen. Aus der ursprünglichen Frage nach den möglichen Folgen von Thalidomid entstand eine öffentliche Debatte um Staatsversagen, um die Aufgaben der Me-
206 Vgl. E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 232 f.
Der Begriff des Contergankindes als neues Kollektivsymbol | 195
dizin, um deren Grenzen, um die Funktion der Presse, um gesellschaftliche Solidarität und um das Leben mit einer Körperlichkeit, die den Normvorstellungen widersprach. Kurz, im Kollektivsymbol Contergankind verbanden sich viele verschiedene Debatten zu einem Bild.
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Politische Diskurslogiken: Der politische Umgang mit dem neuen Kollektivsymbol
Während der teils heftigen Debatten um den Umgang mit dem Contergankind war von politischer Seite kaum etwas zu hören. Das Bundesgesundheitsministerium reagierte zwar intern, unterschätzte aber die Wirkung des Kollektivsymbols völlig. Die Ungleichzeitigkeit, mit der sich die Behörden und die mediale Öffentlichkeit mit dem Thema auseinandersetzten, verursachte genauso Konflikte wie die völlig unterschiedlichen Vorstellungen von Partizipation an politischen Prozessen und Kommunikationsstrukturen. Die weitgreifende Presseberichterstattung veranlasste das Bundesgesundheitsministerium dazu, die Verantwortung nicht allein beim Land Nordrhein-Westfalen zu belassen. Als Strategie wurde vereinbart, sich gemeinsam öffentlich zu verteidigen und den Kontakt zu medizinischen ›Experten‹ auszubauen. Beides erfolgte anfangs nur schleppend. Erst im Herbst 1962 verstärkte das Bundesgesundheitsministerium seine Bemühungen, sich an der Sprachpolitik zu beteiligen. Das Kollektivsymbol Contergankind war zu diesem Zeitpunkt aber bereits so mächtig, dass sich auch das Bundesministerium einschalten musste. Dass der Bund aktiv wurde, lag nicht in einer veränderten Zuständigkeit – Ansprechpartner war nach wie vor das nordrhein-westfälische Innenministerium –, sondern resultierte aus den Forderungen der Presse.1 Das Bundesgesundheitsministerium sah sich gezwungen, als bundespolitischer Akteur agieren zu müssen. Die Aushandlung des Kollektivsymbols Contergankind machte eine Stellungnahme der Politik auf Bundesebene erforderlich.
1 Siehe dazu auch W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 221.
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5.1 VON DER ÜBERFORDERUNG DES BUNDESGESUNDHEITSMINISTERIUMS UND EINER GESCHEITERTEN ÜBERSETZUNG Für das Magazin DER SPIEGEL stand bereits im Dezember 1962, dass der Contergan-Fall auch ein politischer Skandal war. Vor dem Hintergrund der im Oktober 1962 entfachten SPIEGEL-Affäre zeigt das nachfolgende Zitat bereits die Dimension, in der der Contergan-Fall zeitgenössisch verhandelt wurde. So zitierte DER SPIEGEL die medizinische Fachzeitschrift BERLINER ÄRZTEBLATT mit den Worten: »Kein außenpolitisches Ereignis, weder der Besuch de Gaulles in Deutschland noch die Berliner Mauer [...] keine innenpolitischen Skandälchen von der Fibag-Affäre bis zum Maßhalte-Appell Professor Erhards hat der inländischen Presse so viel dankbare Schlagzeilen geliefert wie das Beruhigungs- und Schlafmittel Contergan.«2
Für das Bundesgesundheitsministerium bedeutete die Berichterstattung über den Contergan-Fall die Feuertaufe. Die Arbeitsweise und Kommunikation der Behörde und ihrer vorstehenden Ministerin standen unter medialer Beobachtung. Dass Contergan als politischer Skandal bewertet werden würde, daran glaubte das Bundesgesundheitsministerium lange Zeit nicht. Erst spät äußerten sich Vertreter der Bundesbehörde öffentlich, und das zu einem Zeitpunkt als Ministerin Schwarzhaupt bereits heftiger Kritik ausgesetzt war und die BILD das Kollektivsymbol Contergankind bereits in Umlauf gebracht hatte. Zunächst blieb das Ministerium seiner sprachlich wie inhaltlich zurückhaltenden Positionen treu. Damit war es Schwarzhaupt unmöglich, sich als politischer Akteur eine aussagekräftige und starke Position zu erarbeiten. Die Diskussionen blieben auf die Bonner Ministeriumsräume beschränkt. Doch langfristig konnte Schwarzhaupt sich der massiven Kritik von außen nicht entziehen. Sie versuchte gemeinsam mit dem Bundesinnenministerium, eine angemessene Strategie zu entwickeln und sich der medialen Kritik zu stellen.3 Die BILD und andere Tageszeitungen warfen der Regierung »unzureichende […] Beaufsichtigung der Arzneimittelver-
2 3
»Gefahr im Verzuge«, in: Der Spiegel, Nr. 49 (1962), S. 72-90, hier S. 74. Vgl. hierzu: Bericht über »Durchführung der Sozialhilfe für Körperbehinderte, Hilfe für die sog. »Contergan«-Kinder«, Ref. V. 7–57225, 442/62, 26.06.1962, BArch B 106/10805.
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sorgung und angeblich ebenso unzureichende […] soziale […] Hilfe für die betroffenen Eltern« vor.4 Obwohl ihr bewusst war, dass sie Schritte unternehmen musste, schien Schwarzhaupt die Wirkung der Presse zu unterschätzen. Nach außen konzentrierte sie sich auf die noch nicht erwiesene medizinische Kausalität, was weder zu den öffentlichen Diskussionen noch zu den Bedürfnissen der Betroffenen passen mochte. Verstärkt wurde dieser Eindruck durch die Zurückweisung möglicher Entschädigungszahlungen auf Bundesebene.5 Anders als Ende 1961 und Anfang 1962 ging es bald jedoch nicht mehr um die abstrakte Frage nach der Reichweite des Arzneimittelgesetzes, sondern um die direkten Folgen für die contergangeschädigten Kinder. Mit dieser Themenverschiebung war das Bundesgesundheitsministerium allerdings zunächst überfordert. Während die Ministerin und die Abteilungen noch nach angemessenen Sprachregelungen suchten, wandten sich immer mehr Bürgerinnen und Bürger an das Bundesgesundheitsministerium. In emotionalen Briefen berichteten sie von ihrem persönlichen Schicksal, erzählten von neurologischen Erkrankungen und den körperlichen Behinderungen ihrer Kinder oder Enkelkinder. Die aufwühlenden Schicksale der Briefeschreiber verdeutlichten die Ausnahmesituation, in der sich viele Familien befanden. Hilfesuchend wandten sie sich an jene Instanz, die sie als Ansprechpartner sahen: das Bundesgesundheitsministerium. Insbesondere Elisabeth Schwarzhaupt wurde um »weiblichen« Rat in diesen intimen Angelegenheiten befragt.6 Das Ministerium, erst im November 1961 als neue administrative Einheit konstituiert, war für die Bürger unmittelbare Anlaufstelle. Sie erhofften sich von dem neuen Ministerium direkte Unterstützung. Das Medium Brief nutzten sie, um in einen persönlichen Kontakt mit der Ministerin zu treten und ihr Anliegen vorzutragen. Damit reihten sie sich ein in eine Tradi-
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Bericht über »Durchführung der Sozialhilfe für Körperbehinderte, Hilfe für die sog. »Contergan«-Kinder«, Ref. V. 7 – 57225. 442/62, 26.06.1962, BArch B 106/10805, S. 1.
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Vgl. ebd., S. 1-2. Siehe dazu die von Familien und Patienten in den Beständen im Bundesarchiv Koblenz BArch B 189/11733 und 11735 sowie den Bestand im LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 56 und 57; W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. S. 223-224; Zur Kommunikation zwischen Staat und Bürger siehe die Arbeit von M. Fenske, Demokratie erschreiben; Siehe zu den Erwartungen an die weibliche Bundesministerin auch E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 231.
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tion des Briefeschreibens und Kommunizierens mit dem Vater Staat,7 Zugleich kamen darin alte Traditionen der Bürokratiekritik zum Ausdruck: »Mit meinem Schreiben möchte ich versuchen Ihnen Hinweise zu geben, in welcher unverantwortlichen Art und Weise unsere Regierung und ganz besonders wohl Ihr Ministerium das Schicksal der durch Contergan geschädigten Kinder nebensächlich zu behandeln oder dieses Problem durch bestehende, völlig unzureichende Gesetze abzutun versucht. […] Demokratie heisst nicht Hilfsbereitschaft zu schmälern, sie verlangt soziale Gleichstellung aller Kinder ihres Landes, ganz besonders unserer Kinder! Das ist meine Überzeugung, die ich Ihnen heute mitteilen wollte.«8
In zahlreichen Antwortbriefen verwiesen Schwarzhaupt und ihre Mitarbeiter auf das nordrhein-westfälische Innenministerium, das dem Arzneimittelgesetz nach rechtlich zuständig war. Um der Flut der Briefe Herr zu werden, konzipierten die Abteilungen des Düsseldorfer Innenministeriums und des Bonner Gesundheitsministeriums formalisierte Antwortschreiben, die allerdings an den Bedürfnissen nach individueller-persönlicher Hilfe und Ansprache vorbeigingen. Dies war insoweit unglücklich, da die Briefschreiber die mediale Berichterstattung – und damit auch die wachsende Kritik an den Behörden – aufnahmen und rezipierten.9 Daher wundert es nicht, dass ein Briefeschreiber seinem Unmut kundgab: »Der kleine Mann, die kleine Frau, die allein Sie zur Ministerin gemacht haben, die Gesamtheit der Menschen, denen zu dienen Sie verpflichtet sind, erwarten von Ihnen rasche, umfassende Reaktion, erwarten einen schlüssigen Beweis menschlicher Anteilnahme und Fürsorge.«10
Einerseits wird hier die enge Verbindung zwischen Bürgerinnen und Bürgern und ihren politischen Repräsentanten deutlich. Als Bürger baten die Verfasser der Briefe ihre Politiker um Hilfe. Gleichzeitig übernahmen sie die mediale Kri-
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Siehe dazu: Michaele Fenske, Demokratie erschreiben. Bürgerbriefe und Petitionen
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Brief an das Bundesgesundheitsministerium, 01.07.1962, BArchB 189/11735, fol.
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Vgl. Schreiben an das Bumdesgesundheitsministerium, 01.07.1962, BArch B
als Medien politischer Kultur 1950-1974, Frankfurt am Main 2013. 144. 189/11753, fol 144. Vgl. Schreiben an Elisabeth Schwarzhaupt, 10.6.1962, BArch B 189/11735, fol. 130. Schreiben an die Bundesgesundheitsministerin, 09.08.9162, BArch B 189/11735, fol. 212. 10 Brief an Bundesgesundheitsministerin, 11.04.1962, BArch B 189/11735, fol. 73.
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tik. Auch sie findet sich in den Bürgerbriefen wieder. Drittens zeugten die Briefe von einem selbstverständlichen Gebrauch von Begriffen wie Contergan oder Contergankinder.11 Dort war der Sprachwandel unmittelbar zu erkennen. Besonders in Krisensituationen kontaktierten die Bürger ihren Staat, mit der Bitte um Hilfe. Diese Art der Kommunikation war für die Bürger nicht neu, sondern konnte auf eine lange Tradition zurückblicken. Neu war jedoch, dass die Bürger mit ihren Anliegen zugleich auch die Aufgaben des neuen Ministeriums und seiner Ministerin definierten – und dies abseits von Parteiprogrammen und ministerialen Vorgaben. Sie deuteten die Aufgaben als eine persönliche Verantwortung der Ministerin für die Gesundheit der Bürger, ganz im Gegensatz zu den zunächst von politischer Seite definierten Aufgaben des Ministeriums u.a. im Bereich der Verbesserung von Luft und Wasser, der Umwelthygiene also.12 Die Briefe an das Ministerium versinnbildlichten damit nicht nur die öffentliche Meinung im Contergan-Fall, sie reflektierten nicht nur unterschiedliche Staatsverständnisse, vielmehr griffen sie selbst in den demokratischen Prozess ein, indem sie das Verhältnis von Bürger und Staat zueinander auf die Probe stellten.13 Wie bewerteten die Ministerien die Bürgerbriefe? Als Möglichkeit zum direkten Austausch mit dem Bürger? Als ernstzunehmende Gegenüber? Oder als Autoren von Schriftstücken, die nicht unbedingt beantwortet werden mussten? Wie Michaela Fenske anhand ihres Quellenmaterials herausgearbeitet hat, stellten die Briefe der Bürger das politische System vor ganz neue Herausforderungen: »Die unreglementierten Bürgerbriefe entwickelten nämlich eine gewisse Eigendynamik, die das politische System ebenso stabilisierte und stärkte, wie sie dasselbe beunruhigte und potenziell gefährdete.«14 Diese Beobachtung war auch im Contergan-Fall zutreffend. Manche Briefeschreiber sprachen eine Vielzahl von Themen gleichzeitig an. Ihnen ging es um Weltgefährdung ganz allgemein, um die Ubiquität der lebensbedrohenden Gifte, um weltweite atomare Strahlung oder um die Gefährdung der Menschheit durch Pestizide. An dieser Stelle verzahnten sich also verschiedene Bedrohungsszenarien. Ein Beispiel für die öffentliche Wahrnehmung der
11 Siehe beispielhaft: Brief an das Gesundheitsministerium, 08.01.1962, BArch B 189/11735, fol. 13; Brief an das BGM, 01.07.1962, BArchB 189/11735, fol. 144; Brief an Bundesgesundheitsministerin, 11.04.1962, BArch B 189/11735, fol. 73. 12 Siehe zu den Aufgabenbereichen des Ministeriums: U. Lindner, Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit, S. 42-43. 13 Siehe dazu auch M. Fenkse, Demokratie erschreiben, S. 16. 14 M. Fenkse, Demokratie erschreiben, S. 21.
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Gefahrenkontexte war die Auseinandersetzung über das Pestizid DDT15. Die amerikanische Biologin Rachel Carson beschrieb in ihrem Buch »Silent Spring« (1962) die Gefahren des DDT-Einsatzes und löste damit eine weitreichende Debatte über den Einsatz von Insektiziden aus, die später zu einem Verbot von DDT führte.16 Carlson verließ wie Widukind Lenz das wissenschaftliche Netzwerk, um sich an die Öffentlichkeit zu wenden.17 Ähnlich hatte Widukind Lenz im November 1961 reagiert, als er »als Mensch und Staatsbürger«18 seinen Verdacht dem wissenschaftlichen Publikum darlegte. Auch danach griffen Bürger den öffentlichen Diskurs auf und wandten sich mit zahlreichen Schreiben direkt an die Regierung. Die Themen, Forderungen und Inhalten der Bürgerbriefe waren durchaus heterogen. Um Hilfe und Fürsorge des Staates bittende Briefe fanden sich ebenso wie kritische Forderungen nach juristischer Verantwortung und Schadensersatz von Seiten der Regierung. Zugleich unterstellten die Briefe den Ministerien eine große Handlungsmacht: Schwarzhaupt und Dufhues, so hieß es, sollten die persönlichen Interessen ihrer Bürger vertreten, sich für Kuren bei der Krankenkasse einsetzen, das Leid der Betroffenen lindern, die Behandlungskosten übernehmen und die Presse davon abhalten, die Bürger zu verunsichern und wissenschaftlich noch nicht haltbare Informationen zu verbreiten. Die neue Gefahrensituation verunsicherte die Bürger, dies war deutlich zu spüren. Aus heutiger Sicht unverständlich ist, dass weder die Ministerin noch ihre Mitarbeiter die Tragweite der medialen Berichterstattung oder der Bürgerbriefe erkannten, wie die Aussage von Ministerialrat Dr. Bernhard in einem Bericht aus Juni 1962 verdeutlicht: »Die Sorgen der betroffenen Eltern über dies unverschuldete Schicksal, durch seine gegenwärtige Häufung einer Naturkatastrophe vergleichbar, sowie ihre Wünsche nach Rat
15 DDT = Dichlordiphenyltrichlorethan; Insektizid, das unter Verdacht steht beim Menschen Krebs zu erzeugen, siehe dazu: Artikel »Dichlordiphenyltrichlorethan«, in: Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Dichlordiphenyltrichlorethan (vom 08.03.2016). 16 Vgl. S. Böschen, Risikogenese, S. 165. 17 Vgl. ebd., S. 167. 18 Diskussionsbeitrag von Privatdozent Dr. W. Lenz, Hamburg zu dem Vortrag von R.A. Pfeiffer und K. Kosenow: Zur Frage der exogenen Entstehung schwerer Extremitätenmißbildungen. Tagung der Rheinisch-Westfälischen Kinderärztevereinigung in Düsseldorf am 19.11.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 55a, 55003.
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und Hilfe seitens der Öffentlichkeit bzw. des Staates [sind] zumindest nicht unverständlich«.19
Erschwerend kam hinzu, dass interne Zuständigkeiten und Arbeitsbereiche noch ungeklärt waren und kein Finanzhaushalt vorlag. Das Bundesgesundheitsministerium war mehr mit seinen eigenen Aufgabenbereichen beschäftigt, als sich aktiv um eine bessere Außendarstellung zu kümmern.20 Auch sprachlich agierte das Bundesgesundheitsministerium hilflos: Als eine genaue Auflistung über die Opferzahlen nötig wurde, konnte es nur von einer Schätzung zwischen 6.000 bis 8.000 contergangeschädigten Kindern im Bundesgebiet berichten, was jedoch aufgrund der fehlenden Meldepflicht kaum zu überprüfen war.21 Mit der Forderung nach einer Meldepflicht berührten die Diskutanten wenige Jahre nach dem Dritten Reich ein Tabu, das schließlich auch die Debatte um Contergan überstand.22 In dieser Phase des inneren Aufbaus und der öffentlichen Debatte um Hilfsmaßnahmen für die Contergan-Babys war das Ministerium »sprachlos«. Selbst in einem internen Bericht war von »sogenannten Contergan-Kindern« zu lesen. Das abschwächend hinzugefügte »sogenannte« täuscht nicht darüber hinweg, wie anschlussfähig der Begriff auch für die politischen Akteure war. Gleichzeitig blieb das Ministerium seiner Haltung treu, auf die bestehenden Hilfsmöglichkeiten hinzuweisen und sie als ausreichend zu kennzeichnen.23 Nervosität breitete sich im Bonner Bundesgesundheitsministerium im Sommer 1962 aus, als die verbalen Angriffe aus der Boulevardpresse sich häuften. Die Lage hatte sich durch die ausführliche Berichterstattung so verändert, dass die Ministeriumsspitze gegensteuern musste. Die Ministerin selbst erstellte eine »allgemeinverständliche Stellungnahme«, die sie direkt an BILD AM SONNTAG weiterleitete.24 Offenbar war Schwarzhaupt zu dem Schluss gekommen, dass
19 Bericht über »Durchführung der Sozialhilfe für Körperbehinderte, Hilfe für die sog. Contergan-Kinder«, Ref. V. 7 – 57225. 442/62, 26.06.1962, BArch B 106/10805, S. 2. 20 Vgl. ebd. 21 Vgl. ebd., S. 3; E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 250-251. 22 Vgl. J. Stoll, Behinderte Anerkennung, S. 189-192. 23 Vgl. Bericht über »Durchführung der Sozialhilfe für Körperbehinderte, Hilfe für die sog. »Contergan«-Kinder«, Ref. V. 7 – 57225. 442/62, 26.06.1962, BArch B 106/10805, S. 2. A.H. Günther, Contergan als Zäsur, S. 159. 24 Vgl. Bericht über »Durchführung der Sozialhilfe für Körperbehinderte, Hilfe für die sog. »Contergan«-Kinder«, Ref. V. 7 – 57225. 442/62, 26.06.1962, BArch B 106/10805, S. 5
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weder eine interne Verlautbarung noch eine Publikation im Bulletin ihre Kritiker erreichen würde, denn die saßen in den Redaktionen der Boulevardpresse. BILD AM SONNTAG veröffentlichte am 17. Juni 1962 die Erklärung unter dem Titel: »Wir helfen Contergan-Kindern. Gesundheitsministerin antwortet auf unseren Appell«.25 Die Zeitungsredaktion ließ es sich also nicht nehmen, die Stellungnahme der Ministerin als Zugeständnis an den eigenen medialen Druck zu werten. Mit ihrer Stellungnahme knüpfte Schwarzhaupt an bisherige Aussagen der Bundesministerien an. Sie vermied ausdrücklich den Begriff Contergankind, sprach stattdessen von Kindern mit »verstümmelten und mißgebildeten Gliedern«26. Damit orientierte sie sich an bereits bekannten und innerhalb der Bundesministerien geltenden Vorgaben: Eltern würden durch das Bundessozialhilfegesetz auf staatliche Entlastung hoffen können, und selbst wenn das familiäre Einkommen über der Einkommensgrenze liege, könne der Staat immer noch helfen. Die zu tragenden Kosten würden im Einzelfall berechnet und das »Maß des Zumutbaren nicht überschritten«.27 Was genau unter dem »Maß des Zumutbaren« zu verstehen war und wer die Grenze des Unzumutbaren festlegte, blieb offen. Als oberste Leiterin einer staatlichen Behörde verwies Schwarzhaupt auf das ihr zur Verfügung stehende Instrumentarium: das Bundessozialhilfegesetz.28 Gleichzeitig präsentierte sie die politische Leitlinie im Umgang mit Behinderung: Für ein menschenwürdiges Leben bedürfe es, so die Ministerin, nicht nur einer medizinischen Versorgung, sondern auch des Zugangs zu Bildung, Ausbildung und Studium.29 Doch in der Praxis sah dies ganz anders aus. Eltern beklagten in Briefen an das Bundesgesundheitsministerium die unzureichende Informationspolitik. Sie seien ungenügend oder falsch über das Bundessozialhilfegesetz informiert worden. Das Bundesgesundheitsministerium reagierte, indem es die Beschwerden an die Länder weiterreichte. Die Gesundheitsämter müssten besser unterrichtet werden und sollten Eltern wie auch die Öffentlichkeit informieren.30 Eine flächendeckende Informationskampagne startete das Ministerium nicht.
25 Wir helfen »Contergan«-Kindern, in: BILD AM SONNTAG, 17.06.1962, BArch B 106/ 10805. 26 Ebd. 27 Ebd. 28 Siehe G. Metzler, Am Ende aller Krise, hier S. 59. 29 Vgl. E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 42-43. 30 So erklärte das Bundesgesundheitsministerium in einem Schreiben an die obersten Landesgesundheitsbehörden im September 1962, dass Betroffene in zahlreichen Briefen darüber klagten, sie würden nur ungenügende oder falsche Auskünfte über die
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Schwarzhaupt schien zu diesem Zeitpunkt überzeugt davon, der Verweis auf das Bundessozialhilfegesetz und die medizinischen Behandlungszentren wären ausreichend. Sie nannte »namhafte Sachverständige«31, die in der Prothesenentwicklung erfolgreich arbeiteten und deren Forschung von der Bundesregierung »nach Kräften«32 unterstützt werde. Auch hier blieb die Ministerin vage und gab nur jene Informationen preis, die außerhalb von Politik und Medizin bereits bekannt waren. Ihr Ziel war es, eine enge Verbindung des Bundesgesundheitsministeriums mit anerkannten Wissenschaftlern zu erreichen. Die Betonung der wissenschaftlichen ›Experten‹ als Partner des Ministeriums sollte die Bevölkerung beruhigen, symbolisierte aber die gleichbleibende Hierarchie von Wissen und Nichtwissen zwischen Politik und ›Laien‹. Daher bemühte sie sich persönlich um Kontakte zu medizinischen Akteuren. Im Juli 1962 lud sie den Orthopäden Kurt Lindemann nach Bonn ein,33 um mit ihm die Anzahl der erforderlichen Behandlungszentren für die »sogen. Contergan-Kinder« zu erörtern.34 Die Zukunftsorientierung von Lindemann als medizinischem ›Experten‹ kam der Ministerin zugute: Sie konnte nun ebenfalls den Blick in die Zukunft richten und von der schwierigen Kausalitätsfrage ablenken.35 Noch im Sommer 1962
Möglichkeiten des Bundessozialhilfegesetzes erhalten. Die Gesundheitsämter sollten daher über Hilfsmöglichkeiten nach dem Bundessozialhilfegesetz unterrichtet werden und die Öffentlichkeit bei jeder möglichen Gelegenheit darüber informieren; Vgl. Schreiben des Bundesgesundheitsministeriums I A 4 – 42703 – 3629/62, an die obersten Landesgesundheitsbehörden und Anlage, BArch B 142/2116, fol. 272 und fol. 273-276). Dieses Schreiben wurde jedoch erst nach der Besprechung mit den Ländern am 2. Oktober 1962 verschickt (siehe dazu BArch B 142/2116, fol. 280). 31 Wir helfen »Contergan«-Kindern, in: BILD AM SONNTAG, 17.06.1962, BArch B 106/ 10805. 32 Ebd. 33 Zur Biografie vgl. Markwart Michler, »Lindemann, Kurt«, in: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), eingesehen über: http://www.deutsche-biographie.de/pnd137871686.html (vom 13.02.2018); Zum Treffen im Gesundheitsministerium vgl. Referat V 7 – V 7 – 57 223 – 442/62, MR Schaudienst, Hilfen für sogen. »Contergan«-Kinder, hier: Besprechung bei Frau Bundesministerin Dr. Schwarzhaupt am 11. Juli 1962, 12. Juli 1962, S. 1-2, BArch B 106/10805. 34 Ebd., S. 1. Intern schien das Kollektivsymbol mit dem Zusatz »sogenannt« in der Sprachpraxis Eingang gefunden zu haben. 35 Vgl. Referat V 7 – V 7 – 57 223 – 442/62, MR Schaudienst, Hilfen für sogen. »Contergan«-Kinder, hier: Besprechung bei Frau Bundesministerin Dr. Schwarzhaupt am
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fertigte Lindemann einen Bericht über die Situation von Kindern mit Gliedmaßenfehlbildungen an, der dem Bundesgesundheitsministerium als zentrale Informationsquelle diente.36 Bereits einen Monat später bat sie ihn um einen Gefallen: Lindemann sollte für die Tagespresse einen verständlichen Artikel verfassen, der dem Laienpublikum den Stand der Forschung präsentierte.37 Auslöser war ein Beitrag in der FAZ, der über die englische und amerikanische Orthopädie berichtet hatte und die dortigen Erfolgen pries. Aus Sicht von Elisabeth Schwarzhaupt mochte so der Eindruck entstehen, Deutschland stünde zurück und so würde für die Behinderten nicht alles getan, was möglich sei. »Mir kommt es auf eine bessere Unterrichtung der Öffentlichkeit in diesem Punkt deshalb so an, weil ich meine, daß man die wenigen tröstlichen Tatsachen für die Eltern dieser Kinder doch wenigstens sagen muß. Aus Zuschriften, die ich erhalte, sehe ich immer wieder, daß Eltern von den positiven Möglichkeiten nichts wissen. Das Unglück bleibt natürlich ohnehin groß genug.«38
Dieses Informationsdefizit sollte Lindemann als medizinischer ›Experte‹ verringern, schließlich war er Professor für Orthopädie, und weil er sich für die Conterganopfer eingesetzt hatte, vertraute ihm die Öffentlichkeit. Von der Zusammenarbeit mit Lindemann erhoffte sich das Bundesgesundheitsministerium einen deutlichen Imagegewinn. Doch zeitlich kam der Vorstoß zu einem ungünstigen Zeitpunkt, und auch thematisch war er unglücklich gewählt. Mit dem Fall von Suzanne van de Put konnte das Thema Prothesenentwicklung nur schwerlich konkurrieren. Dennoch willigte Kurt Lindemann in den Vorschlag ein und bekräftigte seine Absicht, die von der Ministerin gewünschten »Gesichtspunkte« zu berücksichtigen.39 Zugleich berichtete er von seinem Vorhaben, auf einer Pressekonferenz die »positiven Leistungen in der Rehabilitation dieser Kinder
11. Juli 1962, 12. Juli 1962, S. 2. Siehe dazu auch E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 304; W. Freitag, Contergan, S. 87. 36 Vgl. Schreiben von Kurt Lindemann im Namen der Deutschen Vereinigung zur Förderung der Körperbehindertenfürsorge e.V. Heidelberg-Schlierbach, 19. Juli 1962 an das Bundesinnenministerium z. Hd. von Herrn Ministerialrat Schaudienst, BArch B 106/10805. 37 Vgl. Brief von Elisabeth Schwarzhaupt an Kurt Lindemann, 04.08.1862, BArch B 142 / 2116, fol. 231. 38 Ebd. 39 Brief von Kurt Lindemann an Elisabeth Schwarzhaupt, 25.08.1962, BArch B 142/2116, fol. 233.
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ausdrücklich«40 darzustellen. Der Rahmen der Pressekonferenz sei bewusst gewählt, um eine breite Öffentlichkeit zu erreichen.41 Die enge Verbindung von Politik und Wissenschaft, die sich im Sommer 1962 andeutete, blieb auch in den nächsten Jahren bestehen. Mediziner waren für das Bundesgesundheitsministerium als Berater und ›Experten‹ tätig, und sie halfen Schwarzhaupt und ihren Mitarbeitern, sich als politische Akteure im Bereich der Behindertenpolitik zu positionieren. Dies deutete sich auch sprachlich an, indem der medizinische Begriff der Dysmelie für den Diskurs zwischen den politischen und medizinischen ›Experten‹ immer wichtiger wurde. So traf sich im April 1962 ein Gremium von Medizinern, das sich »Dysmelie-Arbeitsgemeinschaft« nannte, um über medizinische Behandlungsmöglichkeiten für dysmele Kinder zu beraten. Das Konzept der Dysmelie ermöglichte an den äußeren Erscheinungsformen anzusetzen, unabhängig von den Ursachen. Die Arbeitsgemeinschaft diskutierte unter anderem die Gründung zahlreicher medizinischer Behandlungszentren. Die Ursachenforschung sollte dagegen an der Universitätsklinik Münster konzentriert werden.42 Die Gesprächsthemen der Arbeitsgemeinschaft fanden in der medizinischen und politischen Debatte der nächsten Jahre breite Aufmerksamkeit. Von 1964 bis 1967 fanden regelmäßig Dysmelie-Arbeitstagungen statt, auf denen Ärzte über Behandlungsmöglichkeiten diskutierten. Zu den Themen zählten: die Prothesenversorgung, die Frage der Finanzierung von Behandlungen, die Sorge um die geistige Leistungsfähigkeit der Kinder und ihre schulische Ausbildung.43 Vertrter des Bundesgesundheitsministeriums, manchmal auch Elisabeth Schwarzhaupt selbst besuchten Veranstaltungen der Arbeitstagung. Das Ministerium finanzierte auch den Druck der Tagungsprotokolle.44 So wurde im politischen Sprachgebrauch der Begriff Dysmelie immer präsenter. Hier konnten die Ministerien
40 Brief von Kurt Lindemann an Elisabeth Schwarzhaupt, 25.08.1962, BArch B 142/2116, fol. 233. 41 Ebd. 42 Vgl. Bericht über die 1. Sitzung der Dysemlie-Arbeitsgemeinschaft in NordrheinWestfalen am 4. April 1962 in Dortmund, S. 2-3. 43 Vgl. ebd. S. 4-5. Ebenso W. Freitag, Contergan, S. 47. 44 Siehe beispielhaft: Bundesministerium für Gesundheitswesen (Hg.): 3. Monographie über die Rehabilitation der Dysmelie-Kinder. Dysmelie-Arbeitstagung am 24. und 25. Juni 1966 in Hannover, Bad Godesberg 1967; Bundesministerium für Gesundheitswesen (Hg.) 4. Monographie über die Rehabilitation der Dysmelie-Kinder. DysmelieArbeitstagung am 20. und 21. Oktober 1967, Orthopädische Universitätsklinik Frankfurt am Main, Friedrichsheim, Bad Godesberg 1968.
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sprachlich an ein medizinisches Konzept anknüpfen, das nicht der Kausalitätsfrage nachging, sondern die körperlichen Fehlbildungen in den Blick nahm.45 Andererseits konnte das Ministerium dem Drängen der Eltern contergangeschädigter Kinder nicht länger ausweichen. Die Kontaktaufnahme gestaltete sich allerdings ungelenk, da die Betroffenen noch nicht in Verbänden organisiert waren. Ein Vater eines contergangeschädigten Kindes nahm im Spätsommer 1962 Kontakt zu der Dysmelie-Arbeitsgemeinschaft auf, um Bildmaterial für ein Album zusammenzustellen, das er den Abgeordneten des Bundestages zuleiten wollte. Die Ärzte der Arbeitsgemeinschaft fürchteten, das Material solle nicht der wissenschaftlichen Veranschaulichung dienen, sondern als politisches Druckmittel genutzt werden.46 Sie lehnten eine Zusendung ihres Fotomaterials ab. Ihre Aufgabe bestünde allein in der medizinischen Behandlung, nicht im Sammeln von Informationen für eine mögliche juristische Untersuchung, antworteten sie: »Dieses Ansinnen ist mit Schärfe zurückzuweisen. Die Absicht des Vereins der Contergan-Geschädigten ist, einen Prozeß gegen die Firma Grünenthal zu führen, mit der wir nichts zu tun haben, und es ist auch nicht unsere Aufgabe, dem Verein Nachricht über Kinder in die Hand zu geben, die sich dem Verein nicht angeschlossen haben. Unsere Aufgabe ist lediglich die Behandlung der Kinder, und eine Einmischung in die juristische Frage wäre ein großer Fehler.«47
Auch das Ministerium sah sich angesichts der zunehmenden Fragen von Eltern in den genannten Bürgerbriefen dazu veranlasst48, sich auf Bundes- und Länderebene zu verständigen. Am 7. September 1962 erhielten die Landesbehörden eine Einladung zur gemeinsamen Sitzung mit dem Innen- und Gesundheitsministe-
45 Vgl. W. Freitag, Contergan, S. 47 und 87; E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 304. 46 Vgl. Bericht über die 3.Sitzung der Dysmelie-Arbeitsgemeinschaft in NordrheinWestfalen am 12. September 1962 in der Städt. Orthop. Klinik in Dortmund, S. 19. 47 Bericht über die 3.Sitzung der Dysmelie-Arbeitsgemeinschaft in Nordrhein-Westfalen am 12. September 1962 in der Städt. Orthop. Klinik in Dortmund, S. 19-20. 48 Eltern und erwachsene Contergangeschädigte wandten sich in großer Zahl an das Bundesgesundheitsministerium und an das nordrhein-westfälische Innenministerium. Zu diesem Zeitpunkt waren sie noch nicht institutionell organisiert, sondern richteten ihre Belange direkt an die zuständigen Behörden. Siehe dazu der Quellenbestand im Bundesarchiv Koblenz BArch B 189/11733 und 11735 sowie den Bestand im LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 56 und 57.
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rium, um über »Hilfsmöglichkeiten für Kinder mit angeborenen Mißbildungen«49 zu sprechen. Die Minister verwiesen in ihrer Einladung auf die gute Arbeit der Landesbehörden und auf die zahlreichen Maßnahmen, die bereits getroffen worden seien. Dennoch erachteten sie es als sinnvoll, den »Gesamtfragenbereich gemeinsam zu erörtern.«50 So fühlte sich die Bundesministerin fast ein Jahr nach Bekanntwerden der Nebenwirkungen in der Pflicht, eine gemeinsame, länderübergreifende Politik zu koordinieren. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte eine solche gemeinsame Leitlinie gefehlt. Als erstes galt es, die quantitativen Dimensionen des Contergan-Falles auszuloten. Obwohl es keine gesetzliche Meldepflicht gab, sollten die Länder dennoch Angaben über die Anzahl der Kinder mit Fehlbildungen vorlegen sowie mögliche Todesfälle ermitteln, damit nachvollzogen werden konnte, ob die Zahlen seit Sommer 1962 rückläufig waren.51 Eine Bezifferung der Betroffenen durch das Gesundheitsministerium gestaltete sich, wie bereits dargelegt, wegen der fehlenden Meldepflicht außerordentlich schwierig, war aber dennoch dringend notwendig, da Zeitungen bereits über Zahlen berichtet und spekuliert hatten.52 Die Koordinierung von möglichen Hilfsangeboten durch den Bund und die Länder gestaltete sich kaum weniger schwierig. Insbesondere die Frage, wer nun federführend verantwortlich sei, Bund oder Länder,53 und ob die Öffentlichkeit und die Betroffenen weitere Aufklärung benötigten beziehungsweise wie eine solche Aufklärung aussehen sollte,54 standen im Mittelpunkt der gemeinsamen Sitzung. Dass dieses Thema überhaupt noch diskutiert werden sollte, scheint aus
49 Einladung des Bundesministers für Gesundheitswesen und des Inneren vom 7. September 1962 an die obersten Landessozialbehörden und obersten Landesgesundheitsbehörden, an die Vertretungen der Länder beim Bund, betr.: Hilfsmöglichkeiten für Kinder mit angeborenen Mißbildungen, BArch B 142/1825, fol 175. 50 Ebd. 51 Vgl. Schreiben des Ministeriums für Gesundheitswesen an alle Innenministerien der Bundesländer vom 14. September 1962 mit der Bitte um folgende Beantwortung der Fragen, BArch B 142/1825, fol. 250. 52 Vgl. 90 verkrüppelte Kinder, in: HAMBURGER MORGENPOST, 10.04.1962, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 67b, 67098; D. Beyersdorff, 3000 Kinder sind Krüppel. 53 Vgl. Niederschrift über die Besprechung mit den Vertretern der obersten Landessozialbehörden und der obersten Landesgesundheitsbehörden am 2. Oktober 1962 in Bonn mit dem Bundesminister des Inneren und dem Bundesminister für Gesundheitswesen, BArch B 142/1825, fol. 254-265. 54 Vgl. ebd.
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heutiger Sicht mehr als fragwürdig, denn die zahllosen Berichte in der Presse und die nicht enden wollenden Briefe an die Ministerin zeugten untrüglich davon, dass die Informationspolitik hätte ausgeweitet werden müssen.55 Im Hinblick auf die angespannte Lage, versuchte Schwarzhaupt, neue Informationskanäle zu öffnen: In einer auf einen klar begrenzten Adressatenkreis (Eltern von Kindern mit Körperbehinderungen) beschränkten Broschüre sollten die Eltern betroffener Kinder über finanzielle und medizinische Hilfen aufgeklärt werden.56 Zugleich kam Schwarzhaupt zu dem Schluss, dass es sich bei den Fehlbildungsfällen nicht mehr nur um ein »tragisches Einzelschicksal«57 handelte.58 Sie blieb dennoch ihrer politischen Linie treu. In der Außendarstellung vermied sie den Begriff der »sogenannten Contergan-Kinder« und sprach stattdessen von »Kindern mit angeborenen Mißbildungen« oder »derartigen Mißbildungen«.59 Der generalisierende Begriff der ›Mißbildung‹ erhielt im politischen Sprachgebrauch hohes Gewicht.
55 Insbesondere, da die kritischen medialen Berichte nicht abreißen wollten, wie ein Artikel des Journalist Gerhard Mauz im August 1962. Darin kritisierte er die Untätigkeit des Bundesgesundheitsministeriums scharf: »Schuldig ist der Staat nicht – aber er macht es sich leicht«. Weiter hieß es: »Selbst dann, wenn sich noch einzelne Menschen ermitteln lassen sollten, welche das Unglück hätten kleiner halten können: Schuld daran, daß ein Medikament so zuschlug sind alle. Und alle sollten nun helfen. Eigentlich wäre es Sache der Frau Gesundheitsministerin, dies auszusprechen.« Siehe: Gerhard Mauz, Schuldig ist der Staat nicht – aber er macht es sich leicht, in: Die Welt, 31.08.1962, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 68a, 68152. Siehe dazu auch A.H. Günther, Contergan als Zäsur, S. 153 und W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 226. 56 Vgl. Ministerialdirektor Dr. Stralau an Ministerialrat Dr. Sehrbrock, Bonn, Bundespräsdialamt, 11.09.1962, BArch B 142/1825, fol. 195. Siehe auch zur publizierten Ratgeberliteratur z.B. Hans Wirtz, Sprich mit deinem Kinde! Erziehung vom ersten Lebenstage an, Donauwörth 1966; Cilly Verheyden, Unser Kind ist körperbehindert. Die Erziehung körperbehinderter, geistig gesunder Kinder vom 1.-10. Lebensjahr, München 1967. 57 Ministerialdirektor Dr. Stralau an Ministerialrat Dr. Sehrbrock, Bonn, Bundespräsdialamt, 11.09.1962, BArch B 142/1825, fol. 195. 58 Ebd. 59 Bundesministerium des Inneren, Ministerialrat Schaudienst an Herrn Reichelt im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, 19.07.1962, »Möglichkeiten der Hilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz für Kinder mit angeboren Mißbildungen«, BArch B 106/10805.
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Außerhalb des Ministeriums und der Landesbehörden gab es parteiübergreifende Überlegungen, wie den Familien geholfen werden sollte. Schwierig gestaltete sich dabei die Frage, ob den contergangeschädigten Kindern eine finanzielle Sonderreglung zukommen sollte. War es zulässig, zwischen ›normaler‹ Behinderung und ›Conterganschädigung‹ zu unterscheiden? Und mehr noch: Aus Sicht des Bundesgesundheitsministeriums war kein abschließender Beweis für die medizinische Kausalität von Conterganeinnahme und körperlicher Schädigung erbracht worden. So schien es unangemessen, die »sogenannten Contergankinder« als eine eigenständige Gruppe anzusprechen und ihnen zusätzliche Unterstützung zu gewähren. Bis in die 1960er Jahre hinein tat sich die Bundesrepublik schwer, den unterschiedlichen Schicksalsschlägen der Menschen sozialpolitisch gerecht zu werden. Vorbild für die Behindertenpolitik stellte lange Zeit die Kriegsopferfürsorge dar Sie war politisch unumstritten. Ihre Sorge galt einer großen Gruppe männlicher Erwachsener, die in ihrer Erwerbstätigkeit eingeschränkte waren.60 Ihnen wollte die Gesellschaft helfen und ihnen sollte gesellschaftlich geholfen werden. Ziel war die sofortige berufliche Wiedereingliederung. Nur wenn das unmöglich war, griff die Sozialhilfe ein. Während Kriegs- und Unfallopfer das öffentlichen Bewusstsein prägten, verursachten die Nachkriegsjahre noch weitere bekannte Körperschädigungen: durch Tuberkulose61 beispielsweise oder durch Poliomyelitis (Kinderlähmung).62 Der Gesetzgeber reagierte auf diese komplexe Ausgangslage 1957. Der Historiker Wilfried Rudloff bezeichnete die Initiative denn auch als »behindertenpolitisches Schlüsseljahr«63. Erstmals gab es jetzt ein Körperbehindertengesetz.64 1961 folgte die gesetzliche Regelung zur Eingliederungshilfe für Behinderte als Teil des Bundessozialhilfegesetzes, das erstmals einen »individuellen Rechtsanspruch auf Fürsorgeleistungen«65 festlegte. Das Gesetz verzichtete damit auf die Vorstellung, dass allein Erwerbstätigkeit den Menschen ausmache. Finanzielle
60 Vgl. W. Rudloff, Rehabilitation und Hilfen für Behinderte, S. 465. 61 Vgl. E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 26; U. Lindner, Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit, ab S. 127. 62 Vgl. E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 26-27; U. Lindner, Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit, ab S. 221. 63 Vgl. W. Rudloff, Überlegungen, S. 868, Fußnote 5. 64 Vgl. ebd., S. 868-869. 65 E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 131.
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Unterstützung gab es nun auch außerhalb der klassischen Sozialversicherung, jedoch mit Einschränkungen.66 Diese Debatten hatten auch Einfluss auf die politische Diskussion um Contergan. Vertreter der CDU-Fraktion im Bundestag hielten das Bundessozialhilfegesetz für angemessen. Die SPD-Fraktion hingegen pochte auf eine Abänderung und den Wegfall der Einkommensprüfung für Eltern contergangeschädigter Kinder. Beispielhaft hierfür ist die Besprechung des Bundestagsausschusses für Kommunalpolitik und Sozialhilfe vom November 1962, in der der Antrag der SPD-Fraktion für Bundeshilfen bei »Mißbildungen durch Arzneimittel« beraten wurde.67 Die CDU lehnte die »Bevorzugung einer bestimmten Gruppe« ab.68 Auch andere Formen von Behinderung oder Krankheit seien ein »schweres Schicksal«69: »Es sei nicht gerechtfertigt, für jede Krankheitsursache ein eigenes Gesetz zu schaffen. Man dürfe nicht auf die Ursache, sondern müsse vielmehr auf die Hilfsbedürftigkeit abstellen, die in all diesen Fällen im Grunde gleich sei.«70 Vonseiten der CDU-Fraktion wurden die Nebenwirkungen von Contergan als ›Katastrophe‹ oder Krise bewertet, die durch die Hilfsmaßnahmen des Staates – hier durch das Bundessozialhilfegesetz – aufgefangen werden konnten. Die SPD-Fraktion sah den Contergan-Fall ebenfalls als »Katastrophe, die vom Staat besondere Maßnahmen verlange. Eine ausreichende Hilfe könne aber nur ge-
66 Vgl. Felix Welti, Behinderung und Rehabilitation im sozialen Rechtsstaat, Tübingen 2005 (= Jus Publicum, Band 139), S. 57; E. Bösl, Politiken der Normalisierung, S. 131. Siehe dazu W. Rudloff: »Die gesamte Bevölkerung, sofern sie von einer Behinderung betroffen oder bedroht war, wurde dem Grundsatz nach von den Eingliederungshilfen des BSHG erfasst. Gewährt wurden die Hilfen jedoch nur, wenn sie aus eigenem Einkommen und Vermögen nicht selbst aufgebracht werden konnten. Die Klientel der Sozialhilfe bildeten insbesondere von Geburt an Behinderte, unversicherte Frauen, Kinder und Jugendliche sowie dauerhaft erwerbsbehinderte Personen.« W. Rudloff, Rehabilitation und Hilfen für Behinderte, S. 479. 67 Vgl. Deutscher Bundestag – 4. Wahlperiode, 9. Ausschuß, Protokoll Nr.9 des Ausschusses für Kommunalpolitik und Sozialhilfe, 15. November 1962, BArch B 106/10805; B. Kirk, Der Contergan-Fall, S. 175-177; E. Bösl, Politik der Normalisierung, S. 238-239. 68 Deutscher Bundestag – 4. Wahlperiode, 9. Ausschuß, Protokoll Nr. 9 des Ausschusses für Kommunalpolitik und Sozialhilfe, 15. November 1962, BArch B 106/10805, S. 4. 69 Ebd., S. 5. 70 Ebd.
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währt werden, wenn auch Sonderreglungen geschaffen würden. Das Bundessozialhilfegesetz sei dafür nicht ausreichend.«71 Der Bundestagsabgeordnete Könen (SPD) nahm vor allem den Staat in die Pflicht: Der habe das Medikament schließlich zugelassen und trage daher auch die moralische Verantwortung gegenüber seinen Bürgern und den contergangeschädigten Kindern.72 Aus Sicht der SPD intendierte der »Antrag einen Akt staatlicher Wiedergutmachung für ein Versagen staatlicher Stellen. Dieser sei anders als eine Hilfeleistung nach dem Bundessozialhilfegesetz anzusehen.«73 Ein Abgeordneter sprach von eine »Art nationales Unglück«.74 Er verlangte einen Hilfsfonds, bei dem die Höhe des Einkommens der Eltern keine Rolle spielen sollte. Eine solche staatliche Verantwortung lehnte die CDU-Fraktion aber wiederum strikt ab, weil sie neue Ungerechtigkeiten schaffe.75 Aber was war zu tun? Eine Anfrage des Bundesgesundheitsministeriums an das Bundesfinanzministerium im September 1962 bewies, dass der öffentliche Druck eine entschlossene Initiative erforderlich machte: »Die Öffentlichkeit, die in den letzten Monaten durch zahlreiche Pressenachrichten über angeblich mangelnde Initiative der Bundesbehörden beunruhigt wurde, erwartet, daß alles getan wird, um diese Kinder zu befähigen, sich später selbst im Leben behaupten zu können. Bei der Lösung der hierzu erforderlichen Rehabilitationsmaßnahmen handelt es sich um ein überregionales Problem, das nur mit Hilfe der Bundesregierung gelöst werden kann.«76
Ähnliche Hinweise finden sich auch in einem Schreiben der Ministerin an alle Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion vom 13. September 1962. Die Ministerin sprach darin von »Angriffen, die in diesem Zusammenhang [Contergan-Affäre] gegen das Bundesministerium für Gesundheitswesen und gegen mich persönlich
71 Deutscher Bundestag – 4. Wahlperiode, 9. Ausschuß, Protokoll Nr. 9 des Ausschusses für Kommunalpolitik und Sozialhilfe, 15. November 1962, S. 4. Siehe dazu auch A.H. Günther, Contergan als Zäsur, S. 154. 72 Ebd., S. 5. 73 Ebd. 74 Ebd., S. 6. Siehe dazu auch A.H. Günther, Contergan als Zäsur, S. 154. 75 Vgl. ebd. 76 Schreiben des Bundesministeriums für Gesundheitsweisen an den Bundesminister der Finanzen (Schnellbrief), 12. September 1962, BArch B 142/1825, fol. 209-220, hier fol. 209.
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gerichtet worden sind […].«77 Zudem verwies sie auf die engen Grenzen, die dem Bundesministerium infolge der Rechtslage gesetzt seien: »Es ist selbstverständlich, daß in meinem Hause die Verantwortung sehr empfunden wurde, angesichts einer Katastrophe, die in dieser Art und in diesem Umfang bisher noch niemals aufgetreten ist, jede hilfreiche Maßnahme zu treffen, die einem Bundesministerium möglich ist. Allerdings sind die Zuständigkeiten des Bundes auf dem hier in Frage kommenden Gebiet sehr eng.«78
Mit Hinweis auf die Kompetenzverteilung zeigte sie deutlich die Grenzen des ihr Möglichen auf und verwies die Verantwortung an die Bundesregierung. Sie konnte nun argumentieren, ihr seien die Hände gebunden und ein Eingreifen überschreite ihre Befugnisse. Zuteilung von Geldern und Überprüfungen von Einkommensgrenzen seien Sache der Bundesländer und fielen somit nicht in ihren Zuständigkeitsbereich: »Trotzdem meine ich, daß auch der Bund, ähnlich wie bei anderen Katastrophen, hier unterstützend eingreifen muß. Das menschliche Leid, das mit dieser Katastrophe verbunden ist, ist mit Verlusten vorwiegend wirtschaftlicher Art kaum zu vergleichen. Gerade weil wir in der eigentlichen tiefsten Not der Eltern so wenig helfen können, bitte ich um Ihre Unterstützung, wenn es sich darum handeln wird, wenigstens auf dem Gebiet der Forschungsaufgaben und der Bereitstellung der ärztlichen Rehabilitationsmaßnahmen mit Bundesmitteln zu helfen.«79
Ähnlich äußert sich Schwarzhaupt in einem Artikel für das Bulletin des Presseund Informationsamtes. Auch dort beschrieb sie den Contergan-Fall als eine ›Katastrophe‹, die – wie in vergleichbar gelagerten Fällen üblich – staatliche Unterstützung erzwinge. Weiterhin zeigt sie sich besorgt über den Gang der öffentlichen Diskussion, weil sie die Kompetenzen des Bundesministeriums vollkommen überschätze. Dass die Länder inzwischen Initiative gezeigt und unbürokratisch erste Hilfe bereitgestellt hatten, unterschlug sie allerdings. Die Presse und Öffentlichkeit, so weiter Elisabeth Schwarzhaupt, verkenne, dass das Grundgesetz ihr in einem solchen ›Katastrophenfall‹ keine machtvolle Rolle zugestehe:
77 Schreiben
der
Bundesgesundheitsministerin
für
Gesundheitswesen
Elisabeth
Schwarzhaupt an alle Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion, Bad Godesberg vom 13.09.1962, BArch 142/2117, fol. 105-109, hier fol. 107. 78 Ebd., fol. 106. 79 Ebd., fol. 109.
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»Dieser Irrtum«, so die Ministerin »wird im Volk weiterhin geteilt. […] sie alle schreiben an ein Bundesministerium, tragen manchmal unechte, manchmal aber auch echte, das Herz bewegende Not vor. Sie glauben, wenn ihnen die Dienststellen an ihrem Ort nicht helfen können, beim Bund liege die oberste, d. h. die wirksamste Macht. Der Bund könne helfen, wenn er nur wolle, das ist die Meinung weiter Schichten im Volk. Man meint, die staatliche Macht sei da am wirksamsten, wo die zentralste Stelle des Bundes ist. Man meint, die zentrale Stelle sei allen regional verteilten Dienststellen vorgesetzt. Man hat die Vorstellung von einem streng hierarchisch geordneten Staat mit einer zentralen Stelle, mit höchster Befehlsgewalt bei der Bundesregierung.«80
In diesen Äußerungen zeichnet sich ein Dilemma ab: Die Ministerin war sich zwar einerseits ihrer Rolle bewusst, wurde in der Öffentlichkeit aber andererseits mit Erwartungshaltungen konfrontiert, die sie gar nicht erfüllen konnte. Mit ihrem Versuch, die medizinische Prothesenforschung auszuweiten und der ›Katastrophe‹ mit wirtschaftlichen Hilfen zu begegnen, verkannte sie den Stellenwert des Contergan-Falles. Dieser hatte sich nämlich längst auf Debatten über moralische Verantwortlichkeiten verlagert. Wie heterogen die Landes- und Bundesbehörden agierten, zeigte sich an der Frage nach neuem Informationsmaterial. Ein übergreifendes Merkblatt für die Gesundheitsämter wurde zwar angedacht, wer dieses jedoch erstellen sollte, blieb unklar.81 Das Bundesland Niedersachsen arbeitete bereits an einem Merkblatt.82 Das Land Nordrhein-Westfalen verwies auf die Landesfürsorgeverbände, die noch alte Merkblätter an Mediziner verteilten, da sich neues Material erst in Vorbereitung befand. Andererseits plante das Land Nordrhein-Westfalen die Produktion eines Films, der die Rehabilitation von körperbehinderten Kindern zeigen sollte.83 Das Kollektivsymbol Contergankind bestimmte durchaus den politischen Diskurs, wenn auch in der Außendarstellung versucht wurde, auf den Begriff zu verzichten. In der Bundestagssitzung vom 26. Oktober 1962 gelang dies allerdings nicht. Zugleich zeigte die Debatte, wie da noch ganz andere Bilder die
80 E. Schwarzhaupt, Zum »Contergan«-Fall, S. 1529, BArch B 106/10805. 81 Vgl. Niederschrift über die Besprechung mit den Vertretern der obersten Landessozialbehörden und der obersten Landesgesundheitsbehörden am 2. Oktober 1962 in Bonn mit dem Bundesminister des Inneren und dem Bundesminister für Gesundheitswesen, BArch B 142/1825, fol. 260. 82 Vgl. ebd., fol. 259. 83 Vgl. ebd., fol. 260.
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Emotionen anstachelten. Einem SPD-Abgeordneten missfiel die mangelnde Sprachsensibilität des Ministeriums. Er wandte sich direkt an die Ministerin: »Sehr verehrte Frau Minister, ich habe eine aufrichtige Bitte an Sie. Vor einigen Wochen habe ich unterwegs im Autoradio – ich habe es also selber gehört – den Frauenfunk des Norddeutschen Rundfunks gehört. Dieser Frauenfunk hatte sich in einer vorhergehenden Sendung mit der Contergan-Katastrophe befaßt und dabei wohl irgendwelche unfreundlichen Bemerkungen über Ihr Minsterium gemacht. Nun verlas die Dame am Frauenfunk eine Antwort des Gesundheitsministeriums, und zwar einen offiziellen Brief der Pressestelle. Frau Minister, in diesem Brief wurde nicht nur von Contergan-Kindern, sondern auch von Robben-Kindern gesprochen. (Zurufe von der SPD.) Dieser Ausdruck »Robbenkinder« kommt daher, daß sich diese Kinder wie eine Robbe auf dem Bauche rutschend auf der Erde bewegen müssen. […] – Entschuldigungen Sie schon, ich bin nur der Auffassung, daß es eine oberflächliche Geschmacklosigkeit ist, in diesem Falle auch noch von »Robbenkindern« zu sprechen. Ich glaube, der Schmerz und, wie die Frau Minister gesagt hat, die furchtbaren Sorgen der Eltern sollten das verbieten. (Beifall bei der SPD. – Zuruf der Abg. Frau Dr. Pannhoff.) – Entschuldigen Sie einmal, Frau Dr. Pannhoff, was soll der Fünfzehnjährige eines Tages machen, wenn ihm gesagt wird: Du bist ein Robbenkind? Ich bin dagegen, das in den Sprachgebrauch zu übernehmen, und ich möchte die Frau Minister bitten, nicht zu dulden, daß das geschieht. Sonst will ich ja gar nichts. (Erneuter Beifall bei der SPD.) Es soll sich nicht einer eines Tages darauf berufen können: Was wollen Sie eigentlich, das Ministerium sagt es ja selber!«84
Die Emotionalität der Debatte zeigt sich im Ringen um Worte. Das Kollektivsymbol Contergankind hatte den Deutschen Bundestag erreicht. Den Abgeordneten war klar, dass sie sich an dem Kollektivsymbol nicht beteiligen konnten: Sollten sie den Begriff Contergankind verwenden, würde dies auch ein politisches Eingeständnis der Kausalität bedeuten. Die politische Neutralität, die unbedingt gewahrt werden sollte, wäre zerstört worden. Es herrschte sprachliche Hilflosigkeit, was dazu führte, dass der politische Kurs an den Bedürfnissen der Eltern vorbeiging: »Die Eltern wollen kein Mitleid und kein Almosen. Sie sind bestrebt, im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten selbst mit den Problemen fertig zu werden. Das Gefühl, nicht allein mit den Problemen zu stehen, wird den Eltern die notwendige seelische Unterstützung geben. Helfen Sie [damit waren die Abgeordneten gemeint, Anmerkung A.H.C.] aus den
84 Protokoll der Sitzung des Deutschen Bundestages, 44. Sitzung, 26. Oktober 1962, S. 1938, http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/04/04044.pdf vom 13.02.2018.
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Kindern gleichwertige und selbständige Mitglieder unserer Gesellschaft zu machen. Materielle Hilfe ist möglich. Die seelische Not und den Kummer um die körperliche Versehrtheit der Kinder kann niemand den Eltern abnehmen.«85
Der Berliner Gesundheitssenator betonte im Oktober 1962, Presse, Öffentlichkeit und Betroffene seien genug informiert, sodass weitere Aufklärung nicht nötig sei. Mehr noch, der Berliner Senator hielt die mediale Aufklärung für so ausreichend, dass von politischer Seite keine weitere Intervention zu erwarten sei und gab damit den Diskussionsraum bereitwillig für die Presse frei: »Eine weitere Aufklärung der Öffentlichkeit und der Betroffenen erscheint nicht erforderlich, da die Probleme in der Presse genügend breit erörtert worden sind. Die Betroffenen selber sind, soweit sie bekannt geworden sind, durch die zuständigen Dienststellen auf alle gesetzlichen Möglichkeiten hingewiesen worden.«86 Erst im Herbst 1962 wurde Schwarzhaupts Wunsch nach einer neuen Broschüre umgesetzt. Es war ein mehrseitiges Konvolut, das weniger einer Broschüre als vielmehr einem Handbuch glich. Es sollte den betroffenen Familien zugesandt werden87 und Hilfsmaßnahmen und Ansprechpartner aufzeigen.88 Trotz mehrseitiger Ausführungen fehlten konkrete Adressen oder Anlaufstellen von Beratungsangeboten oder Ärzten, mit denen sich die Eltern in Verbindung setzen konnten. Kernpunkte waren die Vorstellung des Bundessozialhilfegesetzes und der behördlichen Strukturen im Gesundheitswesen. Der Begriff Contergan wurde konsequent vermieden, sondern vielmehr alle Eltern mit körperbehinderten Kindern angesprochen. Obwohl der Begriff Contergan nicht genannt wurde, gab es zahlreiche Referenzpunkte zu dem Medikament: von einer großen Anzahl von Kindern war die Rede, die eine körperliche Behinderung aufwiesen, die nicht vererbbar war. Ihre körperlichen Beeinträchtigungen hätten keinerlei Auswirkungen auf ihre geisti-
85 Protokoll der Sitzung des Deutschen Bundestages, 44. Sitzung, 26.Oktober 1962, S. 1938. 86 Schreiben des Senators für Gesundheitswesen Berlin an den Bundesminister des Inneren und des Bundesministers für Gesundheitswesen vom 3. Oktober 1962, BArch B 142 / 1825, fol. 297. 87 Vgl. Ref. IA 4 Betr.: Beratung von Eltern missgebildeter Kinder, 26.11.1962, BArch B 142/2116, fol. 291. 88 Vgl. Unterabteilungsleiter I A Bad Godesberg, 27.11.1962, BArch B 142/2116, fol. 292-293.
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gen oder charakterlichen Eigenschaften.89 Die Broschüre machte aus Eltern und Ärzten Vertrauenspersonen, die eine Integration der Kinder in Familie und Gesellschaft ermöglichten: »Fürchten Sie nicht, daß die gesunden Geschwister den Anblick und das Dasein Ihres behinderten Kindes nicht ertragen könnten. Sie werden es erleben, dass Ihre Kinder sich dem hilfsbedürftigen Geschwisterchen mit ganz besonderer Liebe zuwenden werden.«90 Das Leben trotz Behinderung zu meistern, wurde als Erfolgsgeschichte konstruiert und sorgte in Verbindung mit dem Verweis auf die geistige Normalität der Kinder entscheidend für eine Differenzierung zwischen geistiger und körperlicher Behinderung. Letztlich war der Tenor der Broschüre: Trotz der Schwere der Fehlbildungen, trotz der körperlichen Behinderung ist ein normales Leben möglich und Prothesen und technische Geräte helfen dabei.91 Körperliche Behinderung wurde also immer noch als ein Leiden definiert. Der Aufenthalt in der Klinik wurde als Möglichkeit beschrieben, weitere »Schicksalsgenossen«92 kennenzulernen. Zugleich sollten die Eltern bemüht sein, das Kind auf eine »normale Schule«93 zu schicken und »nicht etwa nur unter seinesgleichen heranwachsen« zu lassen.94 Als konkrete Hilfsmaßnahmen nannte die Broschüre die Regelungen des Bundessozialhilfegesetzes. Das Gesundheitsamt spielte in dieser Konstellation eine entscheidende Rolle, schließlich sollte es als zentraler Anlaufpunkt für die Familien bekannt gemacht werden.95 So schloss die Broschüre mit den Worten: »Wenn wir alle zusammen helfen, Bund und Länder, Sie selbst und Ihre Familie, wie die breite Öffentlichkeit, dann wird es gelingen, auch die behinderten Kinder einem lebenswerten Leben zuzuführen.«96 Das Ergebnis dieser »schlecht aufgemachten Informationsbroschüre«97 kann eindeutig auf den öffentlichen Druck zurückgeführt werden. Trotz der Broschüre, die sich explizit an Eltern körperbehinderter Kinder richtete, blieb der Kontakt zwischen Betroffenen und Ministerium konfliktreich. So monierte eine lokale Elternvertretung:
89 Vgl. Merkblatt für Eltern von Kindern mit fehlgebildeten Gliedern, überreicht vom Bundesministerium für Gesundheitswesen Bad Godesberg, BArch B 142/2116. 90 Ebd., fol. 305. 91 Vgl. ebd., fol. 305-308. 92 Ebd., fol. 307. 93 Ebd., fol. 308. 94 Ebd., fol 308. 95 Vgl. ebd., fol. 309. 96 Ebd., fol. 311. 97 W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, S. 225.
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»Der Verband möchte dagegen, daß sich der Staat energischer als bisher mit dem Problem befaßt. ›Ich selbst habe an Bundesgesundheitsministerin Dr. Schwarzhaupt geschrieben. Ich habe mich an Dr. Studt, den Leiter der Gesundheitsabteilung im NRW-Innenministerium gewandt. Ich bekam höfliche Antwortschreiben, in denen ich an die zuständige Kreisgesundheitsbehörde verwiesen wurde. Dort aber schweigt man!‹, sagt der Vater, und die Mutter stellt fest: ›Vom Gesundheitsamt hat sich bisher noch nicht einmal jemand erkundigt, wie wir mit dem Kind zurechtkommen, und wo es sich befindet!‹«98
Noch gab es keine bundesweite Verbandsstruktur der Elternverbände, allerdings übernahm der Rechtsanwalt Schulte-Hillen – selbst Vater eines contergangeschädigten Kindes – die Rolle des zentralen Ansprechpartners.99 Das Ministerium wiederum versuchte, Kontakt mit den sich bildenden Elternverbänden herzustellen und sagte ihnen Bundesmittel für den Druck von Broschüren zu.100 Ob es zu einer solchen Kooperation allerdings tatsächlich gekommen ist, lässt sich aus den Akten nicht entnehmen.101 Schwarzhaupt hat in ihren Erinnerungen den fehlenden Willen der Öffentlichkeit beklagt, mit ihr vertrauensvoll zusammenzuarbeiten: Rückblickend zeigt sie sich darüber betrübt: »Diese Ereignisse gingen mir sehr nahe. Eine Freundin von mir hörte in der Eisenbahn, wie eine Frau zu einer anderen darüber sprach, mit dem Schlußsatz: ›Da hat doch diese Frau Minister nicht aufgepaßt.‹ Das war natürlich Unsinn, aber ein Zeichen dafür, welchen Mißdeutungen man ausgesetzt war.«102
Unter diesen Voraussetzungen blieb der Politik ein erfolgreiches Eingreifen in den öffentlichen Diskurs verwehrt. Wirkliche Hilfe, so schien es, Mitgefühl und Zukunftsgewissheit konnten die Betroffenen nur von engagierten Ärzten erwarten. Die Deutsche Vereinigung für die Rehabilitation Behinderter e.V. unter dem
98
Wer hilft unserem Kind?, in: RHEINISCHE POST, Düsseldorf, 01.08.1962, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 56a, 56015.
99
BArch B 142/2117, fol. 189-190.
100 Ebd.. 101 Dr. Zoller aus dem Bundesgesundheitsministerium stand auch in Kontakt mit der Elterngemeinschaft körpergeschädigter Kinder e.V. Solingen, die ihn zu ihrem Gründungsabend eingeladen hatte. (vgl. BArch B 142/2117, fol. 112). 102 Dr. Elisabeth Schwarzhaupt, in: Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Aufzeichnungen und Erinnerungen, Band 2, Boppard am Rhein 1983, S. 239-283, hier S. 269.
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Vorsitz des Orthopäden Kurt Lindemann gab ein Merkblatt für »Eltern von Kindern mit schweren Gliedmaßenfehlbildungen« heraus.103 Die Informationsschrift verzichtete auf den Begriff der Conterganschädigung und wandte sich an alle Familien mit körperlich behinderten Kindern.104 Ihnen sprach sie, wie in der Vergangenheit, Mut zu, betonte die geistige Leistungskraft der Kinder, unter unterstrich, wie wichtig es sei, Normalität herzustellen: »Nehmt Euer Kind trotz seiner schweren Behinderung mit Eurer ganzen elterlichen Liebe in Euren Familienkreis auf. Das Kind wird sie Euch dankbar erwidern. Euer Kind ist eine vollwertige Persönlichkeit und wird sich entfalten und behaupten können. Erkennt rechtzeitig [Hervorhebung i.O. A.H.C] die Schwere der Behinderung, pflegt und erzieht Euer Kind wie ein gesundes Neugeborenes und Kleinkind.«105
Letztlich scheiterten alle Versuche, mit Hilfe von Broschüren die Stimmung zu beruhigen, weil die Betroffenen die implizite Deutung ihrer Situation als »normales Unglück« nicht akzeptieren wollten und konnten.106 Die katholischen Zeitung CHRIST UND brachte diese unterschiedlichen Sichtweisen auf den Punkt:
103 Vgl. Referat V 3, V3 – 53746-483/62, Bonn, 26.11.1962 an das Referat V 7, BArch B 106/10805. Lindemann hatte sich bereits im September 1962 im Namen der Vereinigung an den Staatssekretär in der Bundespräsidialkanzlei gewandt und die Frau des Bundespräsidenten um eine Schirmherrschaft für die Aktion Kinderhilfe gebeten. Vgl. Kurt Lindemann für die Deutsche Vereinigung zur Förderung der Körperbehindertenfürsorge e.V., 04.09.1962 an Staatssekretär von Herwarth, BArch B 142/2116, fol. 235-236. 104 Vgl. dazu auch W. Freitag, Contergan, S. 74. 105 Referat V 3, V3 – 53746-483/62, Bonn, 26.11.1962 an das Referat V 7, BArch B 106/10805. 106 In Absprache mit ausgewählten Ärzten plante das Ministerium, Elternbriefe zu verschicken. Die Gesundheitsabteilungen der Bundesländer erhielten 1.000 Exemplare der Broschüre der Deutschen Vereinigung für die Rehabilitation Behinderter e.V. zur Verschickung – und nicht die Broschüre aus dem eigenen Haus. Sonderdrucke medizinischer Fachartikel sollten dem Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages, dem Bundesfamilienministerium, den ärztlichen Mitarbeitern des Bundesgesundheitsministeriums zur Verfügung gestellt werden. Angedacht waren Sonderdrucke des Wissenschaftlers Köchling zur »Beschäftigungstherapie bei angeborenen Mißbildungen der Extremitäten« und 100 Sonderdrucke des Vortrages »Derzeitiger Stand der Mißbildungsforschung« des Humangenetikers Nachtsheim. Vgl. Sach-
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»Wir brauchen eine gesellschaftliche Leistung; diese Kinder dürfen nicht als kuriose Sonderfälle und Schaustücke betrachtet, sie müssen wie die Opfer anderer technischer Katastrophen in unsere Reihen aufgenommen werden. Nicht nur von dem, was Bund und Länder, Ärzte und Eltern leisten, sondern vom Verhalten der Gesellschaft hängt es ab, was aus ihnen wird. […] Die Conterganopfer ›auszuklammern‹, in eine Art von Leprosorium abzuschieben, sie einfach unsichtbar zu machen, wäre, nach Ansicht aller Ärzte, das Unwürdigste, was die Gesellschaft tun könnte – wenn es auch wohl das Bequemste wäre.«107
Bereits am Erscheinungstag des Artikels konzipierte Schwarzhaupts Abteilungsleiter einen Bericht, in dem er sich entschieden gegen die Vorwürfe wehrt. Darin hieß es: »[…], daß im Gegensatz zu der völlig verpufften Pfennigparade der Bildzeitung und dem ebenso wirkungslos gebliebenen Aufruf der Deutschen Vereinigung zur Förderung Behinderter und privater Organisationen, durch die von Ihnen erwirkte Kabinettsentscheidung über eine Soforthilfe in Höhe von mehreren Millionen Mark zur Entwicklung von Prothesen, zur zusätzlichen Einstellung und Ausbildung von Fachkräften in den Orthopädiewerkstätten und zum Ausbau von klinischen Einrichtungen für das ganze Bundesgebiet eine Sofortaktion eingeleitet worden ist, die bereits jetzt ihre Wirkung zeigt, wie aus den Berichten der Universitätskliniken und sonstigen Einrichtungen für Behinderte zu erkennen ist.«108
Immer wieder diskutierten die Mitarbeiter im Bundesgesundheitsministerium, wie die Informationspolitik verbessert werden könnte. Allerdings hinterfragten sie nie ihre Kommunikationsstrategie und griffen stets auf scheinbar Bewährtes zurück. Weil das Ministerium keine eigene Autorität einzubringen vermochte, suchte es den Schulterschluss mit wissenschaftlichen Experten als vertrauenswürdige Ansprechpartner für die Öffentlichkeit. Inzwischen war die Wissenschaft selbst tief gespalten und vertrat ganz unterschiedliche Positionen. Doch die Verbindung zu medizinischen ›Experten‹ gestaltete sich für das Bundesgesundheitsministerium schwierig. So kritisierte ein Arzt eine Stellung-
standsbericht über die Rehabilitation von Kindern mit schweren Mißbildungen, Bad Godesberg, 15. Februar 1964, BArch B 142/1829, fol. 44-51, hier fol. 45-47. 107 Sachstandsbericht über die Rehabilitation von Kindern mit schweren Mißbildungen, Bad Godesberg, 15. Februar 1964. 108 Abteilungsleiter I Bad Godesberg, den 2. August 1963 an Frau Ministerin, Betr.: Aufsatz von Richard Kaufmann in »Christ und Welt« vom 02.08.1963 mit der Überschrift »Der lautlose Skandal«, S .1, BArch B 142/1829, fol. 29-30, hier fol. 29.
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nahme der Bundesgesundheitsministerium im NDR, in der sie betonte, eine genaue und objektive Untersuchung über die »wirklichen Gründe« des ConterganFalles stehe noch aus.109 In einem persönlichen Brief an Schwarzhaupt verwies er auf internationale wie nationale Forschungsergebnisse, die Thalidomid als alleinige Ursache nachgewiesen hätten.110 Der Arzt suchte weiterhin Kontakt zum Bundesgesundheitsministerium, so auch im Oktober 1962 und versuchte, direkt mit dem zuständigen Minsiterium zu kommunizieren.111 Innerhalb der Abteilungen schien jedoch unklar zu sein, wer für die Beantwortung des Schreibens zuständig sei: Abteilung I A 6 glaubte, der Brief behandle keine Fragen zum Arzneimittelverkehr, sondern stelle eine ärztliche Sicht auf Contergan dar. Die Zuständigkeit liege in der Abteilung I A 4. Ein Antwortschreiben aus dem Ministerium liegt nicht vor. Im Januar 1964 war es wiederum die Zeitschrift CHRIST UND WELT, die mit einem Artikel unter der Überschrift »Hilflos – planlos« das Ministerium in ein schlechtes Licht stellte. Nach wie vor verweigere das Ministerium den Dialog mit kritisch gesonnenen Ärzten. Ein namentlich nicht genannter Arzt beklagte fehlende Versorgungseinrichtungen und Behandlungsmöglichkeiten. Die Anschuldigung gipfelte in der Feststellung: »Das Gesundheitsministerium würdigt mich nicht einmal einer Antwort.«112 In den Akten des Bundesgesundheitsministeriums ist dieser Artikel mit einem handschriftlichen Vermerk versehen. Wahrscheinlich habe der im Artikel genannte Arzt einen Brief an das Ministerium geschickt, der nicht beantwortet worden sei, so die Vermutung im Ministerium. Dem Bericht ist zu entnehmen, dass das Ministerium daraufhin direkt mit dem Arzt in Verbindung trat. Eine Verstimmung seinerseits wollte das Ministerium auf keinen Fall riskieren.113 Intern war die Aufregung groß.114 Wie weit die Ver-
109 Schreiben an die Bundesministerin für das Gesundheitswesen Dr. Elisabeth Schwarzhaupt, Betr.: Thalidomid-Embryopathie, Bezug: Sendung des NDR vom 28.07.62, 7.45 Uhr Interview durch Frau Fides Krause-Brewer, Bonn, 06.08.1962, BArch B 142/2116, fol. 469-471. 110 Ebd., fol. 470. 111 Schreiben an den Bundesminister für Gesundheitswesen, Betr.: Mißbildungen Neugeborener durch Arzneimittel, Ihr Schreiben vom 12.09.1962, 06.10.1962, BArch 142/2116, fol. 466. 112 Vgl. Hilflos – planlos. Der lautlose Skandal, in CHRIST UND WELT, 24.01.1962, BArch B 142/2116, fol. 504. 113 Siehe dazu Vermerk in BArch B 142/2116, fol. 509. 114 Schreiben des Abteilungsliter I an das Referat I A 4, Bad Godesberg, den 17. März 1964, Betr.: Thalidomid-Embryopathie. Bezug: Schreiben vom 06.08.1962 und vom
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ärgerung ging, zeigte die persönliche Intervention der Ministerin, die mit dem Arzt schließlich ein Telefongespräch führte.115 Einerseits war das Ministerium händeringend auf eine gute Verbindung zu medizinischen ›Experten‹ angewiesen und konnte keinerlei Verstimmung riskieren, andererseits war der Arzt bereit, seinen Forderungen öffentlich in der Zeitschrift CHRIST UND WELT Gehör zu verschaffen. Immer wieder gab es Konfliktpunkte. Das Ministerium beobachtete aufmerksam, wie Ärzte in den Medien ihre Ansichten vertraten und welche Resonanzen die Artikel erhielten.116
5.2 EXKURS: CHANCEN FÜR DIE DDR-PROPAGANDA. DER BEGRIFF CONTERGANKIND ALS KOLLEKTIVSYMBOL DER KAPITALISMUSKRITIK Zu den Auseinandersetzungen des Bundesgesundheitsministeriums mit der Presse und den medizinischen Akteuren kam ein weiteres Krisenfeld hinzu, denn der Contergan-Fall wurde nun auch im Osten Deutschlands von Staatsführung und Staatspresse aufgegriffen. Das Kollektivsymbol Contergankind war für die ostdeutsche Propaganda anschlussfähig, weil es die Gefahr des kapitalistischen Systems und das Versagen der Politik in der Bundesrepublik symbolisierte. Die Folgen des Medikaments wurden in der sozialistischen Propaganda nicht als medizinische ›Katastrophe‹, sondern vielmehr als Versagen des Klassenfeindes im Westen definiert. Anders als die politischen Funktionäre griff die DDRPresse den Contergan-Fall direkt nach Bekanntwerden auf. So nutzte die ostdeutsche Zeitung NEUES DEUTSCHLAND den Contergan-Fall wie folgt: »Das mitteldeutsche amtliche Organ ›Neues Deutschland‹ hat sich beeilt, die Mitteilung, die der Hamburger Dozent Dr. Lenz über die Schädlichkeit dieses Mittels machte, für die Propaganda auszunutzen, die seit Monaten in der Sowjetzone gegen Arzneimittel geführt wird, die aus Westdeutschland stammen.«117
6.10.1962; anl. Vermerke der Frau Ministerin und des Herrn Staatssekretärs vom 26.02.1942, BArch B 142/2116, fol. 510. 115 Schreiben des Abteilungsliter I an das Referat I A 4, Bad Godesberg, den 17. März 1964, Betr.: Thalidomid-Embryopathie, fol. 510. 116 Vgl. Vermerk Betr.: »›Contergan‹-Kinder«, Bad Godesberg, 01.04.1965, BArch B 142/2117, fol. 227. 117 Arzneimittel aus dem Handel gezogen, in: ÄRZTLICHE PRAXIS, 09.12.1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 67a, 67029.
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Bereits einen Tag nach der Veröffentlichung in WELT AM SONNTAG berichteten auch die BERLINER ZEITUNG und NEUES DEUTSCHLAND über die Gefahren des »West-Medikaments«.118 Nur wenige Wochen nach dem Mauerbau kam der Contergan-Fall höchst gelegen, um die Abschottung gegenüber Westdeutschland zu begründen. Die DDR-Presse konstruierte die Nebenwirkungen von Contergan als Gefahr der »Giftmischer«119 aus dem Westen, sprach von »Mord«120 und entwickelte das Szenario von »skrupellose[n] Herstellerfirmen, unter dem Schutz der Bonner Gesetze, die keine Heilmittelkontrolle wie in der DDR kennen, mit ihrer verbrecherischen Produktion Menschen an den Rand des Grabes bringen.«121 Das Medikament Contergan avancierte zu einem »furchtbare[n] Gift ohne Rezept«122, das Tod und Krankheit über die Patienten brachte.123 57 Artikel erschienen im November und Dezember 1961 in den Zeitungen NEUES DEUTSCHLAND, BERLINER ZEITUNG und NEUE ZEIT.124 1962 erreichte die Veröffentlichungszahl in den drei genannten Medien sogar 119 Artikel. Contergan diente im sozialistischen Raum als Beweis für die Gefahr des kapitalistischen Systems für seine Bürger – in der DDR war das Medikament nicht zugelassen worden. Beratungen über die neue Substanz hatte es zwar gegeben, aber, wie Christoph Friedrich konstatiert, habe »es Hinweise auf neurotoxische Nebenwirkungen« gegeben, an denen eine Zulassung gescheitert war.125 Die DDR-Führung sah sich im Vorteil gegenüber der Bundesrepublik, da sie eine staatliche Lenkung des Arzneimittelsystems vorweisen konnte. Seit 1949 muss-
118 ADN/BZ, Mißgeburten durch West-Medikamente, in: BERLINER ZEITUNG, 27.11. 1961, S. 2; ND/ADN, Westdeutsches Präparat »Contergan« verursacht Mißgeburten, in: NEUES DEUTSCHLAND, 27.11.1961, Jg. 16, Ausgabe 326, S. 2, abgerufen über Staatsbibliothek Berlin. 119 Giftmischer bekamen Wind!, in: NEUE BILDZEITUNG (OST), Dezember 1961, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 67a, 67046. 120 Ebd. 121 Ebd. 122 K.-H. Arnold, Furchtbares Gift ohne Rezept, in: BERLINER ZEITUNG, 28.11.1961, Jg. 17, Ausgabe 327, S. 4, abgerufen über die Staatsbibliothek zu Berlin. 123 ADN/BZ, Und wieder droht Tod durch ein Medikament, in: BERLINER ZEITUNG, 29.11.1961, S. 2; ADN/BZ, »Contergan«-Kranke auch in Westberlin, in: BERLINER ZEITUNG, 30.11.1961, S. 2, abgerufen über die Staatsbibliothek zu Berlin. 124 Vgl. Suche über die Staatsbibliothek zu Berlin. 125 C. Friedrich, Der Contergan-Fall, S. 35.
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ten neue Medikamente staatlich zugelassen und ihre »Reinheit, Verträglichkeit und klinische Wirksamkeit«126 nachgewiesen werden. Freilich, auch die DDR war nicht vor Arzneimittelskandalen geschützt. So fehlten beispielsweise einheitliche Prüfkriterien. Verantwortlich für die Überprüfung war der Zentrale Gutachterausschuss für Arzneimittelverkehr, der dem Ministerium für Gesundheitswesen unterstellt war. Dieses Gremium setzte sich aus ›Experten‹ zusammen, die gemeinsam über die Zulassung oder Marktrücknahmen von Medikamenten berieten. Das Gremium besaß eine beratende Funktion, konnte jedoch nicht selbständig entscheiden. Dies oblag dem Ministerium für Gesundheitswesend. Ebenso wie in der Bundesrepublik gab es keine einheitlichen Vorgaben für die klinische Erprobung von neuen Substanzen, so dass den Medizinern eine große Rolle in dem Prüfverfahren zukam.127 Die Historikerin Ulrike Klöppel verweist jedoch auf den Umstand, dass in der DDR Medikamente zumeist auf ihren medizinischen Nutzen und nicht primär auf die generelle »Verträglichkeit« hin überprüft wurden.128 Als Beispiel für die Wirksamkeit des sozialistischen Systems verwies die DDR-Presse auf die Arzneimittelproduktion im eigenen Land, die in Großbetrieben, die »Verbesserung der Arzneimittelproduktion und damit die Sorge um den Menschen«129 ermöglichten. Insbesondere das tatsächlich erst 1961 eingeführte Arzneimittelgesetz im Westen bot Angriffspotential: »Und während in Westdeutschland noch immer kein Arzneimittelgesetz zur scharfen Kontrolle zwingt, wird in Dresden unter peinlichster Einhaltung der Vorschriften und dem Menschen dienender Gesetze unserer Republik gearbeitet, zum Wohle von uns allen.«130
Und so stand in der DDR-Presse die Schutzfunktion des ostdeutschen Arzneimittelsystems im Vordergrund, wenn es hieß: »DDR-Medikamente dienen dem Leben«.131
126 Vgl. Ulrike Klöppel, 1954 – Brigade Propaphenin arbeitet an der Ablösung des Megaphen. Der prekäre Beginn der Psychopharmakaproduktion in der DDR, in: Eschenbruch, Nicholas u.a. (Hg.), Arzneimittelgeschichte des 20. Jahrhunderts. Historische Skizzen von Lebertran bis Contergan, Bielefeld 2009, S. 199-227, S. 203. 127 Vgl. ebd., S. 203-205. 128 Vgl. ebd., S. 203-205. 129 »Das
erfolgreichste
Schlafmittel
der
Welt«,
in:
SÄCHSISCHE
NACHRICHTEN, 06.01.1962, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 67a. 130 »Das erfolgreichste Schlafmittel der Welt«.
NEUESTE
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Im Januar 1963 startete die DDR-Führung einen propagandistischen ›Angriff‹, Thema Contergan. Zu diesem Zeitpunkt wandte sich das Ministerium für Auswärtige Angelegenheit der DDR (MfAA) an den Vorstand des ostdeutschen Demokratischen Frauenbundes Deutschlands. In einem Schreiben des MfAA an den Frauenbund war von möglichen »Provokationen«132 seitens der westdeutschen Bundesregierung die Rede. Diese seien durch den Bau der Mauer und die »Grenzschutzmaßnahmen der DDR«133 veranlasst worden: »Aus diesem Grund ist es notwendig, durch Entlarvung der ständigen Menschenrechtsverletzungen in Westdeutschland die Provokationen unwirksam zu machen.«134 Das Ministerium sah vor, den Frauenbund für die Niederschlagung der vermeintlichen westdeutschen Provokationen zu nutzen. In Absprache mit der Abteilung Internationale Organisationen des MfAA schlug es dem Frauenbund vor, eine Beschwerde oder ein Protestschreiben an die UN-Menschenrechtskommission zu entwerfen. Inhaltlich sollten die Menschenrechtsverletzungen an Kindern und Frauen in Westdeutschland im Mittelpunkt stehen. Das Ministerium stellte dem Frauenbund frei, weitere Aspekten vorzuschlagen. Wichtig sei nur, dass eine »einwandfreie, überzeugende Beweisführung« vorliege.135 Im März 1963 wandte sich der Demokratische Frauenbund Deutschlands tatsächlich an den Präsidenten der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen.136 Die vom Frauenbund entwickelte »Anklage«137 richtete sich ausdrücklich gegen die Bundesrepublik, deren Behörden versagt und gegen die »Erklärung der Rechte des Kindes« verstoßen hätten.138 Die fehlende staatliche Kontrolle wurde ebenso wie die kaum wahrgenommenen ärztlichen Warnungen bezüglich der Contergannebenwirkungen als Anzeichen für das westdeutsche
131 Kei, DDR-Medikamente dienen dem Leben, in: NEUE ZEIT, 01.12.1961, S. 6, abgerufen über die Staatsbibliothek zu Berlin. 132 Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Deutschen Demokratischen Republik an das Sekretariat des Bundesvorstandes des DFD, 29. Januar 1963, BArch Berlin, DY 31/1166. 133 Ebd. 134 Ebd. 135 Ebd. 136 Demokratischer Frauenbund Deutschlands, Bundesvorstand an den Präsidenten der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, 04.03.1963, BArch Berlin DQ 1/2175, fol. 128-140, S. 1. 137 Ebd., S. 1. 138 Vgl. ebd.
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»Verbrechen« gegen die eigene Bevölkerung ins Feld geführt.139 Der Ausspruch »Wir klagen an«140 war durchaus als Anlehnung an Émile Zolas berühmten Ausspruch »J’accuse« zu verstehen: »Wir klagen an, daß die Regierung der westdeutschen Bundesrepublik nicht dafür sorgt, daß den über 5000 Kindern, die durch Contergan mit verstümmelten Gliedmaßen oder ohne Arme, ohne Beine, ohne Ohren geboren wurden, und deren verzweifelten Eltern eine umfassende und dauernde materielle, soziale und pädagogische Hilfe zuteil wird.«141
Im Gegensatz zur Bundesregierung stand für den Sozialistischen Frauenbund unumstößlich fest, dass das Medikament Contergan Ursache der Fehlbildungen war – und dies weltweit. Die genaue Rekonstruktion der wissenschaftlichen Diskussionen vor der Marktrücknahme des Medikaments bewies, dass der Frauenbund und die zuständigen Ost-Ministerien gut informiert waren. Die Eingabe schlussfolgerte: »Es erweist sich somit, daß in der westdeutschen Bundesrepublik nicht die Sicherheit des Lebens und der Gesundheit der Bürger oberstes Gesetz ist, sondern daß der Umsatz der Arzneimittelkonzerne und ihre freie Unternehmerinitiative geschützt werden, auch wenn dadurch die Volksgesundheit gefährdet ist; denn Contergan überschwemmt weiter den westdeutschen Arzneimittelmarkt.«142
Als entscheidendes Versäumnis der BRD führte der Frauenverband die fehlende staatliche Kontrolle des Arzneimittelwesens an, eine Sicherungsvorkehrung, die zahlreiche Staaten – darunter auch die DDR – vorweisen könnten. Eine staatliche Kontrollfunktion sei als Zeichen eines modernen und auf den Bürger ausgerichteten Fürsorgestaates zu werten. Dass die Bundesrepublik keine solche Kontrollinstanz besitze, sei ein Beleg für das »hemmungslose […] Profitstreben der westdeutschen Arzneimittelkonzerne«143, die die Gesundheit ihrer Bürger gefährde. Die Bundesrepublik habe keine Maßnahmen veranlasst, um das Medi-
139 Demokratischer Frauenbund Deutschlands, Bundesvorstand an den Präsidenten der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, 04.03.1963, S. 2. 140 Ebd. 141 Ebd. 142 Ebd., S. 6. 143 Ebd., S. 8.
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kament vom Markt zu nehmen oder seine Bürger vor den schädlichen Einflüssen zu schützen.144 Auch die fehlende finanzielle Hilfe der Bundesrepublik für die betroffenen Familien wurde kritisiert. So wurden Aussagen des westdeutschen Ministeriumsmitarbeiters Stralau zitiert, in denen er eine Schadenersatzpflicht der deutschen Regierung ablehnte.145 Aus Sicht des Frauenbundes reichten die zuständigen Hilfsmöglichkeiten der Bundesrepublik nicht aus. Sie könnten nicht gewährleisten, dass die Kinder und ihre Familien in die Gesellschaft eingegliedert und eine optimale medizinische Behandlung erfahren würden. So verwies der Frauenbund auf die Ausführungen des Orthopäden Hepps, der die Einrichtung eines »Katastrophendienst[es]«146 gefordert hatte. Immer wieder griff das Memorandum auf die Erklärung der UNO zu den Kinderrechten zurück. Diese bewiesen einerseits das Versagen der Bundesrepublik und deren systematische Verletzung fundamentaler Menschenrechte. Andererseits werde deutlich, dass die DDR ein durchaus fürsorglicher Sozialstaat sei: »Im Bewußtsein unserer Verantwortung des Lebensglück [sic] der jungen Generation unserer deutschen Nation sowie im Interesse des Schutzes und der Sicherheit des Lebens aller Kinder richten wir im Namen der Frauen und Mütter der Deutschen Demokratischen Republik die Bitte an die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, zu prüfen, welche Maßnahmen ergriffen werden können, um die Verletzung der Menschenrechte und der Rechte des Kindes im internationalen Maßstab durch den Handel mit unzureichend geprüften Arzneimitteln, die gesundheitsschädigende Auswirkungen haben, auszuschalten. Hierbei könnte die Menschenrechtskommission auf solche Staaten zurückgreifen, in denen ähnlich wie in der Deutschen Demokratischen Republik gesetzliche Bestimmungen bestehen, die die soziale Sicherheit und den umfassenden Gesundheitsschutz der Bürger garantieren.«147
Am Ende machte der Frauenbund noch einmal deutlich, dass der Contergan-Fall ein Verbrechen sei, das zur Anklage gebracht werden müsse.148 Als Argumentationshilfe diente ein dreiseitiges Papier, das für die Menschenrechtskommissionstagung angefertigt wurde und über das sozialistische Gesundheitssystem in
144 Vgl. Demokratischer Frauenbund Deutschlands, Bundesvorstand an den Präsidenten der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, 04.03.1963, S. 9. 145 Vgl. ebd. 146 Ebd., S. 11. 147 Vgl. ebd., S. 12. 148 Vgl. ebd., S. 13.
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Ostdeutschland im Allgemeinen und über das Medikament Contergan im Speziellen informierte. Heute finden sich in den Akten des Demokratischen Frauenbundes Deutschland handschriftliche Auflistungen, die all jene Maßnahmen aufführen, die von Seiten des Frauenbundes bei der UNO in die Wege geleitet worden waren: Wann wurde das Schreiben an die UNO verschickt? Zu welchem Zeitpunkt ging es dort ein? Welche Anfragen zum Thema ergingen an die Ost-Presse und an den Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst (ADN)? Welche konkreten Veröffentlichungen zum Thema erschienen in der DDR? Die Stellungnahmen in Westdeutschland und im Ausland konnten nicht eruiert werden, waren aber der DDR-Führung vielleicht auch nicht so wichtig.149 Immerhin erhielt die DDRFrauendelegation für ihre Propagandatätitigkeit einiges Informationsmaterial: 33 Exemplare des Schreibens an die UNO in englischer und französischer Sprache ebenso pharmakologische Gutachten und 15 Exemplare des Informationsbriefes über das Gesundheitswesen in der DDR.150 Sobald der Frauenbund aktiv wurde, reagierte die DDR-Presse. Die BERLINER ZEITUNG vom 24. März 1963 berichtete ausführlich über das vom Frauenbund eingereichte Manifest und beschuldigte die Bundesrepublik gesetzlicher Mängel und Versäumnisse. Der Artikel gipfelte in der Feststellung eines »Bonner Contergan-Verbrechen(s)«.151 »Frauen klagen Bonn an«152, behauptete denn auch die NEUE ZEIT. Erst am 17. April 1963 nahm das westdeutsche Bundesgesundheitsministerium die Propaganda in der DDR zur Kenntnis und erstellte einen Vermerk mit der Überschrift: »Memorandum des Ostberliner ›Demokratischen Frauenbundes Deutschland‹ an die UN-Menschenrechtskommission in Genf.«153 In diesem Vermerk wurden die Befürchtungen geäußert, die DDR werde ihre Stellungnahme auf der Vollversammlung der Weltgesund-heitsorganisation in Genf »ge-
149 Vgl. Handschriftliche Übersicht zum Thema »Contergan«, BArch Berlin DY 31/1166, fol. 190. 150 Vgl. ebd. 151 ADN/BZ, Vergiftete Kinder. DFD-Beschwere bei der UNO gegen Bonner »Contergan«-Verbrechen, in: BERLINER ZEITUNG, 24.03.1963, S. 2, abgerufen über die Staatsbibliothek zu Berlin. 152 ADN, Frauen klagen Bonn an, in: NEUE ZEIT, 24.03.1963, S. 2. 153 Bundesministerium für Gesundheitswesen, Schreiben vom 17. April 1963, Betr.: Memorandum des Ostberliner »Demokratischen Frauenbundes Deutschland« an die UN-Menschenrechtskommission in Genf, BArch B 141/1825, fol. 421-422.
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gen die Bundesrepublik propagandistisch« auswerten154. Die westdeutsche Vertretung »auf der Vollversammlung sollte nun ihrerseits Material zur Verfügung gestellt bekommen, um sich gegen die möglichen Angriffe« zu wehren.155 In der Folgezeit versuchte das Bundesgesundheitsministerium, seine Informationsgrundlage zu verbessern: wann und wie erfolgte die Marktrücknahme; wie groß war die Zahl der Opfer; welche Hilfen stellte die Regierung zur Verfügung?156 Die so zusammengetragenen Informationen konnten der Schärfe des Angriffs aus dem Osten jedoch nur wenig entgegenhalten. Die Initiative der DDR-Führung zielte allerdings nicht auf internationales Prestige, nicht auf Auslandspropaganda, sondern vor allem auf die Stabilisierung im Innern, auf die Legitimation des Mauerbaus. Dementsprechend feierte der Sozialistische Frauenbund Erfolge vor allem in der DDR-Presse, während die UN-Beschwerde international wenig Aufmerksamkeit erzielte.157 In den Akten des Frauenbundes und in dessen Pressearchiv finden sich denn auch keine weiteren Meldungen zum Thema. Dennoch blieb Contergan in der DDR-Presse ein wichtiger Punkt für die Berichterstattung.158 NEUES DEUTSCHLAND, BERLINER ZEITUNG und NEUE ZEIT
154 Bundesministerium für Gesundheitswesen, Schreiben vom 17. April 1963, fol. 421. 155 Auch die Bundesministerin Schwarzhaupt war informiert und hielt sich die Schlusszeichnung vor (ebd.). 156 Vgl. Bundesministerium für Gesundheitswesen, Schreiben vom 17. April 1963, Betr.: Memorandum des Ostberliner »Demokratischen Frauenbundes Deutschland« an die UN-Menschenrechtskommission in Genf, BArch B 141/1825S. 422. 157 Aktenvermerk Abteilung Internationale Arbeit, 09.09.1963, BArch Berlin DY 31/1166, fol. 211. Vgl. Brief des Menschenrechtsbüro Verteidigung der Menschenrechte an Ilse Thiele, 14.08.1963, BArch Berlin DY 31/1166. 158 Von den Opfern ist nicht die Rede, in: NEUE ZEIT, 07.08. 1963, S. 2, aufgerufen über die Staatsbibliothek zu Berlin. Vgl. auch dazu folgende Presseartikel: BZ, Skandal nimmt kein Ende, in: BER-LINER ZEITUNG, 06.08.1963, S. 2; P.R., Lautlos, in: NEUES DEUTSCHLAND, 10.08.1963, S. 10, aufgerufen über die Staatsbibliothek zu Berlin. In dem Artikel aus der Zeitung NEUES DEUTSCHLAND wird die nationalsozialistische Vergangenheit des Chefredakteurs von CHRIST UND WELT, Giselher Wirsing, thematisiert. »Denn die Wahrheit, die das Wirsing-Blatt nicht nennen will, lautet: Der Globke-Staat ist seinem ganzen Wesen nach unmenschlich. Oder setzt sich Bonns sture Haltung gegen eine Verständigung mit der DDR nicht ständig unbarmherzig über menschliche Interessen hinweg? Es ist folglich nicht verwunderlich, daß dort Aktionären wie denen der Grünenthal AG, die das Contergan produziert, gestattet ist, seit Jahr und Tag aus dem Unglück von Kinder Profit zu
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kamen 1963 auf 33 Veröffentlichungen, zwar ein Rückgang zu den Jahren zuvor, aber dennoch eine beachtliche Quote. In den Folgejahren kommentierte die DDR-Presse auch das staatsanwaltschaftlichen Untersuchungsverfahren, den Prozessauftakt 1968 und die Verfahrenseinstellung 1970.159 Aus Sicht der DDR stand der Begriff Contergan zu für: ›Katastrophe‹, staatliches Versagen, Gefährdung der westdeutschen Bürger. Contergan war Ursache für die Fehlbildung der Kinder verbunden. Während in der Bundesrepublik die wissenschaftliche Debatte anhielt, gewann das Kollektivsymbol Contergankind in Ostdeutschland eine eindeutige Bedeutung.
5.3 ALLIANZ ZWISCHEN POLITIK UND MEDIZINISCHEN ›EXPERTEN‹ Die enge Verbindung zwischen den politischen Akteuren im Bundesgesundheitsministerium und den medizinischen ›Experten‹ ist anhand der medizinischen Debatten der 1960er Jahre zu rekonstruieren. Das Bundesgesundheitsministerium orientierte sich an Rehabilitationsdebatten und beschäftigte sich weniger mit der Kausalitätsfrage. Die Fachöffentlichkeit sah das rege Laieninteresse an den contergangeschädigten Kindern kritisch. Die Dysmelie-Arbeitsgemeinschaft, eine Arbeitsgruppe von medizinischen ›Experten‹, die sich nach Bekanntwerden des Contergan-Falles zusammengeschlossen hatte und medizinische Behandlungskonzepte diskutierte, verwies auf dieses Dilemma in ihrer Sitzung am 12. September 1962: »Herr Imhäuser [Hervorhebung im Original, A.H.C.] weist auf die Flut von Veröffentlichungen über die sogenannten Contergan-Kinder in der Tagespresse und in Illustrierten hin. In diesen Artikeln werden meistens auch Namen von Ärzten genannt, auf die sich die Reporter berufen. Sinnentstellende und propagandistisch wirkende Pressenotizen mahnen zu Vorsicht, sich mit der Tagespresse in diesen Fragen einzulassen. Herr Imhäuser [Hervorhebung im Original, A.H.C.] stellt den Antrag, daß alle im Gremium versammelten Kollegen beschließen, sich nicht mit Reportern von Tageszeitungen und Magazinen in
ziehen. Dazu paßt auch haargenau, daß Bürokraten der von ›Christ und Welt‹ genannten ›vielen kleinen Dienststellen‹ sich gegenüber den Opfern dieser Profitsucht ebenso unbarmherzig benehmen. Das Entspringt einfach dem System. Schlußfolgerung: ›Christ und Welt‹ kann es mit seinem Artikel ›Der lautlose Skandal‹ nur darauf abgestellt haben, daß dieser Skandal lautlos bleibe.«. 159 Vgl. Suche bei der Staatsbibliothek zu Berlin.
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dieser ärztlich außerordentlich diffizilen Frage einzulassen. Was das Publikum am meisten interessiert, und was dem Publikum bisher vorenthalten wurde, waren die Möglichkeiten der sozialen Hilfeleistungen, die sich aus den Gesetzen ergeben. Diese darzustellen, sind die Landesärzte eher geeignet als die Fachärzte bzw. leitende Ärzte der Behandlungszentren.«160
Der Kölner Landesarzt Kreuels betonte, durch die Presse seien die Behörden erst »gründlicher informiert«161 worden, und auch der Münsteraner Arzt Dr. Lothar Herbig, verwies darauf, dass er und seine Kollegen verpflichtet seien, Auskünfte an die Öffentlichkeit zu erteilen. Dennoch stimmten alle Teilnehmer zu, die Leiter von Behandlungszentren sollten gegenüber der Presse zurückhaltend sein. Vielmehr stand die Information über vorhandene Behandlungsmöglichkeiten im Vordergrund, um so die Beunruhigung in der Öffentlichkeit zu verringern.162 Dass die Presse Kontakt zu medizinischen ›Experten‹ suchte, verdeutlicht, wie sehr sie an einer Informationsteilung und Übersetzungsleistung aus dem medizinischen Bereich interessiert war. Die Zeitungsberichte sollten die Autorität der ›Experten‹ keinesfalls schmälern, vielmehr sollte die Lücke zwischen Wissenschaft und medialer Öffentlichkeit geschlossen werden. Das war allerdings alles andere als selbstverständlich. So berichtete der Orthopäde Oskar Hepp von einer Anfrage des Magazins DER SPIEGEL, das ihn und seinen Kollegen Lindemann für ein Interview gewinnen wollte. Hepp lehnte eine sofortige Zusage ab, da er noch Rücksprache halte und eine offizielle Erlaubnis für das Interview einholen musste: »Herr Hepp [Hervorhebung im Original, A.H.C.] stellt den Antrag, ihn von der vereinbarten Schweigepflicht gegenüber der Presse zu entbinden, gegebenenfalls auch für ein Gespräch mit der dpa. Die Teilnehmer der Arbeitsgemeinschaft sind der Meinung, daß die Unterrichtung der Öffentlichkeit über die sozialen Hilfsmöglichkeiten und die Behandlungsmöglichkeiten notwendig ist, und daß von berufener Seite dieses Thema erörtert wird.«163
160 Bericht über die 3. Sitzung der Dysmelie-Arbeitsgemeinschaft in NordrheinWestfalen am 12. September 1962 in der Städt. Orthop. Klinik in Dortmund, S. 17. 161 Ebd., S. 18. 162 Vgl. ebd. 163 Bericht über die 5. Sitzung der Dysmelie-Arbeitsgemeinschaft in NordrheinWestfalen am 06. Februar 1963 in der Orthop. Klinik in Dortmund, S. 39-40.
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Das Selbstverständnis der medizinischen Akteure macht das Zitat mehr als deutlich. Es gab eine klare Hierarchie des Wissens und ebenso eine Hierarchie des verweigerten Wissens: Die wissenschaftlichen ›Experten‹ waren dazu ›berufen‹, die Presse und ihre Leser zu informieren, entschieden, was die Öffentlichkeit wissen sollte und was nicht. Sie beharrten auf ihren emotionslosen Fachtermini und damit auf der Autonomie ihres wissenschaftlichen Diskurses gegen das Kollektivsymbol Contergankind.164 Politische Vertreter waren auf den Veranstaltungen durchaus erwünscht, ›Laien‹ dagegen nicht: »Auf den Einladungen steht ausdrücklich ›Nur für Ärzte‹. Ich darf bitten – falls jemand nicht Arzt ist – den Hörsaal zu verlassen, denn es handelt sich hier um eine rein ärztliche Arbeitstagung.«165 Thematisch ging es darum, das übergreifende Phänomen von Gliedmaßenfehlbildungen bei Kindern zu untersuchen – abseits der emotional aufgeladenen Debatte um Contergan. Gleichzeitig griffen die Vertreter der Arbeitsgemeinschaft auch sprachbildend ein, indem sie das Konzept der Dysmelie stark machten und dementsprechend die funktionalen Fehlstellungen des Dysmelie-Kindes beschrieben, wie Walburga Freitag in ihrer Dissertation überzeugend herausgearbeitet hat.166 So kann diese Konstruktion als bewusstes Gegenkonzept zum Kollektivsymbol Contergankind angesehen werden. Gleichzeitig handelte es sich um eine fachwissenschaftliche Positionierung im umkämpfen Sprechen über Contergan. Hierzu merkte der Orthopäde Hans Mau in einem 1963 publizierten Aufsatz an: »Überhaupt sollten jedenfalls wir Ärzte den Begriff ›Contergan-Kind‹, mit dem die Öffentlichkeit wachgerüttelt wird, aus unserem Sprachschatz verbannen; und zwar nicht nur, weil der exakte wissenschaftliche Beweis für das Thalidomid als ausschließliche Schädigungsursache zur Zeit noch aussteht, sondern vor allem aus psychologischen Gründen: Das spätere Bewußtsein, einer ›Panne‹ im Getriebe unserer technischen Zivilisation zum Opfer gefallen zu sein, fördert die Entwicklung von Entschädigungswünschen, die einer die aktive Mitarbeit erfordernden Eingliederung in die Gesellschaft erfahrungsgemäß nur abträglich sind.«167
164 Vgl. Bericht über die 5. Sitzung der Dysmelie-Arbeitsgemeinschaft in NordrheinWestfalen am 06. Februar 1963, S. 43. 165 Ebd. S. 44. 166 Vgl. W. Freitag, Contergan, S. 32; S. 47; S. 133. 167 H. Mau, Die Behandlung der angeborenen Gliedmaßen, S. 1064; W. Freitag, Contergan, S. 49; siehe dazu auch A.H. Günther, Contergan als Zäsur, S. 159.
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Diese Stellungnahme des damals noch jungen Orthopäden Hans Mau verdient in mehrerer Hinsicht genaue Aufmerksamkeit, denn er argumentierte gleichzeitig in verschiedenen Rollenlogiken: Als Orthopäde distanzierte sich er von dem Kollektivsymbol Contergankind und verwies auf die größere Gruppe der Dysmeliekranken, ein Terminus, der gerade nicht symbolisch belegt war und somit die Kausalitätsfrage bewusst nicht stellte. Als Naturwissenschaftler wiederholte er das Leitmotiv fehlenden wissenschaftlichen Nachweises der Kausalitätsthese. Als Gesundheitsökonom befürchtete er mögliche Entschädigungsforderungen, und als Rehabilitationsmediziner thematisierte er die möglicherweise schwierige gesellschaftliche Integration der Kinder. Bedenken äußerte Mau auch gegenüber einem generellen Anzweifeln des medizinisch-technischen Fortschritts, weil dies jegliche Forschung erschwert und das Ansehen der ärztlichen Experten gemindert hätte.168 Die sprachliche und inhaltliche Distanzierung vom Begriff Contergankind zielte auf die Rückgewinnung wissenschaftlicher Autonomie, symbolisierte zugleich aber den Anspruch auf eine gesellschaftliche Diskurshegemonie durch die wissenschaftlichen ›Experten‹. Für nichts anderes stand die Besetzung ganz unterschiedlicher sozialer Rollen durch Hans Mau. Das Kollektivsymbol des Contergankindes war zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits fest im medialen Sprechen verankert und der Wunsch nach einer begrifflichen Neuerfindung nur wenig realistisch. Nur ganz vereinzelt griff die Presse die Expertendebatte auf. DIE ZEIT erklärte 1965, wie wichtig es sei die medizinischen Begriffe »Embryopathie« oder »Dysmelie« zu verwenden, unterließ es jedoch, die unterschiedlichen fachwissenschaftlichen Debatten über die Beschreibungspraxen der Fehlbildungen genauer zu reflektieren: »Er [der Autor des Artikels, Anmerkung A.H. C.] folgt dabei dem ärztlichen Bestreben, die degradierende (und präjudizierende) Bezeichnung ›Contergankinder‹ zu vermeiden.
168 Walburga Freitag hinterfragt Maus Aussagen kritisch. So ist in ihrer Dissertation zu lesen: »Diese ungewöhnlich deutliche Positionierung wirft viele Fragen auf. Glaubt Mau, Direktor der Orthopädischen Universitätsklinik Tübingen und ab 1968 Mitglied der Kommission zur Erstellung der medizinischen Punktetabelle, ernsthaft an die Möglichkeit, Contergan als Ursache vergessen zu machen? Welche Gruppe Geschädigter hat er vor Augen, wenn er sich auf seine Erfahrungen beruft? Oder haben die Disziplinen vielleicht bedenken, dass der Bundesverband der Eltern körpergeschädigter Kinder e.V. Contergankinder Hilfswerk, der sich bereits 1963 gründete, zu viel Einfluss ausüben könnte?.« Vgl. W. Freitag, Contergan, S. 49.
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Die Mißbildungen werden also mit ihren wissenschaftlichen Namen wie Embryopathien oder Dysmelien genannt.«169
Die seit 1964 stattfindenden Dysmelie-Arbeitstagungen erweiterten den Kreis ›Experten‹ unter anderem auf Krankengymnasten und Pädagogen,170 ›Laien‹ blieben weiterhin ausgeschlossen und damit das Sprechen über körperliche Behinderung fachlich segregiert. Walburga Freitag sieht die Mediziner in einer machtvollen Position: »Sie bekommen die Macht, zu entscheiden, was medizinisch als (Contergan/Thalidomid-)›Schaden‹ und wer als Geschdäigte gilt, sie streiten um Nomenklatur, konzentrieren ihren Blick auf die Fehlbildungen der Gliedmaßen und entwickeln Normalisierungspraktiken.«171 Für das Bundesgesundheitsministerium boten die Dysmelie-Arbeitstagungen die Chance, Unterstützung zu gewähren und Hilfe einzufordern, ohne in der Kausalitätsfrage Stellung nehmen zu müssen.172 Zudem versprachen die wissenschaftlichen Akteure: »Wenn die Kinder richtig operativ und technisch versorgt werden, werden sie zu normalen Bürgern wie du und ich (Prof. Dr. Hepp).«173 Politisch also schien der Begriff Dysmelie hoch attraktiv, wissenschaftlich fundiert und unmittelbar anschlussfähig, ohne die Politik in der Kausalitätsfrage festzulegen. Alternativ sprachen die politischen Akteure von »Kindern mit Gliedmaßenfehlbildungen« oder »körperbehinderten Kindern«.174 Diese sprach-
169 Angeklagt: Versäumnisse, in: DIE ZEIT, 25.06.1965. Siehe dazu auch A.H. Günther, Contergan als Zäsur, S. 160. 170 Siehe z.B. Bundesministerium für Gesundheitswesen (Hg.): Programm der 3. Dysmelie-Arbeitstagung am 24. und 25. Juni 1966 im Festsaal der Orthopädischen Heilund Lehranstalt Annastift, Hannover-Kleefeld, Dezember 1967. A.H. Crumbach, Arzneimittel aus der Waschküche, S. 110. 171 W. Freitag, Contergan, S. 133. 172 Begrüßung von Oskar Hepp, in: Bundesministerium für Gesundheitswesen (Hg.), Monographie über die Rehabilitation der Dysmelie-Kinder. Dysmelie-Arbeitstagung am 17. und 18. Oktober 1964 in der Orthopädischen Universitätsklinik und Poliklinik Münster, Bad Godesberg 1965, S. 6. 173 Bundesministerium für Gesundheitswesen, Referat IA 5, 4. Oktober 1963, BArch B 142/1825, fol. 445-449, hier fol. 445. 174 Niederschrift über die Besprechung im Bundesministerium für Gesundheitswesen am 4. Oktober 1963, BArch B 142/2117, fol. 23; Mittelungen aus dem Gesunheitswesen verbunden mit den Wassernachrichten, herausgegeben vom Bundesministerium für Gesundheitswesen, Bad Godesberg, Nr. 43, 28.10.1963, S. 2, BArch B 142/2117, fol. 75.
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liche Generalisierung sollte die Sonderstellung der contergangeschädigten Kinder aufheben und ein anschlussfähiges Sprachkonzept dagegenstellen, das alle Kinder mit Körperbehinderungen einschloss. Nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich konzentrierten sich die Teilnehmer auf das Konzept der Dysmelie175, wie Walburga Freitag konstatiert: »Dies hat einerseits interessanterweise gerade mit der bis in die 70er Jahre anhaltenden Diskussionen um den angeblich fraglichen kausalen Zusammenhangs zwischen der Einnahme von Thalidomid und der Embryopathie zu tun, andererseits damit, dass sich parallel zur Ursachenforschung die Behandlungspraktiken entwickeln und die orthopädische Disziplin schnell zur Wortführerin des Behandlungsdiskurses wird.«176
Indem das Bundesgesundheitsministerium die orthopädische Forschung großzügig finanziell unterstützte, begegnete es der Presse, die der Bonner Verwaltung Unfähigkeit vorwarf. Offenbar hoffte das Ministerium auf ein ›Abfärben‹ der guten öffentlichen Resonanz der Orthopädie auf die eigene Tätigkeit. Voraussetzung für das positive Image der Orthopädie war deren geschlossenes Auftreten nach außen: »Obwohl unsere Arbeitstagung eigentlich ganz geheim gehalten und nicht öffentlich angekündigt wurde, ist der Hörsaal übervoll. Ich bin fest davon überzeugt, daß es eine ganze Menge Kollegen gibt, die gern gekommen wären, die sich vielleicht auch benachteiligt fühlen, daß sie nicht eingeladen wurden, aber das kann ich ertragen; denn wir sind hier
175 Vgl. Bundesministerium für Gesundheitswesen (Hg.), Monographien; W. Freitag, Contergan, S. 47 und ab S. 133. Siehe auch: Wilhelm Bläsig/Eberhard Schomburg, Das Dysemelie-Kind. Auswertung von Interviews mit Eltern geschädigter Kinder, Stuttgart 1966; Wilhelm Bläsig, Das Schulproblem des Dysmelie-Kindes aus pädagogischer Sicht, in: Bundesministerium für Gesundheitswesen (Hg.), 3. Monographie über die Rehabilitation der Dysmelie-Kinder. Dysmelie-Arbeitstagung am 24. und 25. Juni 1966 in Hannover, Bad Godesberg 1967; Eberhard Schomburger, Erziehung und Führung des Dysmelie-Kindes und seiner Eltern aus psychologischer Sicht, in: Bundesministerium für Gesundheitswesen (Hg.), 3. Monographie über die Rehabilitation der Dysmelie-Kinder. Dysmelie-Arbeitstagung am 24. und 25. Juni 1966 in Hannover, Bad Godesberg 1967. 176 W. Freitag, Contergan, S. 47.
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nicht zusammengekommen, um einen Kongreß abzuhalten, sondern wir sind hier zusammengekommen, um zu arbeiten.«177
Im gleichen Eingangsreferat betont Oskar Hepp die enge Verbindung zum Bundesgesundheitsministerium, das »uns ja diese Tagung ermöglicht, da es sich mitverantwortlich fühlt für diese Gruppe der Kinder«178 und den Schrecken der »Thalidomidkatastrophe«179. Nicht von Contergan war die Rede, sondern von einzelnen Symptomen (Daumen- und Fingerdysplasien oder Klumphand).180 Weiterhin behandelte die Tagung Fragen der funktionalen Rehabilitation, zum Beispiel beim Schreiben, Verrichten der Notdurft etc.181 In diesen Feldern sprachen sich die Teilnehmer dafür aus, ihre Ergebnisse einem größeren wissenschaftlichen Publikum zugänglich machen zu wollen. Darüber hinaus sollten auch die Eltern betroffener Kinder informiert werden, um »a) den Eltern einen Lichtblick zu geben, das ist schon geschehen und jenes kann oder soll noch erreicht werden; b) um das Verständnis zu wecken und das Vertrauen, daß wirklich alles für die Kinder getan wird.«182 Auf die Frage, ob eine ärztliche Aufklärung der Eltern nicht ausreiche, wird auf das Engagement der Eltern verwiesen: »Es sind viele Kinder nicht in fachärztlicher Behandlung. Die Elternverbände sind da wesentlich leistungsfähiger.«183 Zugleich blieben die Diskussionen jedoch stark dem wissenschaftlichen Sprachduktus verhaftet. Dies verdeutlicht die Eröffnungsrede des Orthopäden Kurt Lindemann auf der Dysmelie-Arbeitstagung im November 1965. In Gegenwart der Ministerin Schwarzhaupt erläuterte er, warum er nicht von Contergan sprechen wolle: »Ich möchte nur einige Voraussetzungen bringen, ganz kurz, und mich auf wenige Minuten beschränken. Hier ist einmal die Frage nach der Definition. Wir vermeiden das Wort ›Contergan‹, sprechen auch nicht von Contergan-Kindern und versuchen, auch immer im
177 Begrüßung von Oskar Hepp, in: Bundesministerium für Gesundheitswesen (Hg.), Monographie über die Rehabilitation der Dysmelie-Kinder. Dysmelie-Arbeitstagung am 17. und 18. Oktober 1964 in der Orthopädischen Universitätsklinik und Poliklinik Münster, Bad Godesberg 1965, S. 5. 178 Ebd., S. 6. 179 Ebd., S. 5. 180 Vgl. ebd., S. 3-4 (Inhaltsverzeichnis). 181 Beispielhaft siehe ebd., S. 118-119. 182 Ebd., S. 215. 183 Ebd.
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Verkehr mit den Eltern, mit dem Publikum, mit der Presse, dieses Wort auszumerzen. Es ist sehr schwer, weil es eben eingebürgert ist. Aber es sind mit dem Wort auch bestimmte Schuldkomplexe verbunden, die nicht hierher gehören und die wir auch nicht einmal streifen wollen. Wir haben gleichartige und ähnliche Fehlbildungen schon von jeher in unseren orthopädischen Kliniken gehabt […].«184
Lindemanns Ausführungen beschrieben das Dilemma der Fachwissenschaft. Wenn sie tatsächlich eindeutig Stellungnahm zu den Ursachen, dann klagte sie viele Gruppen gleichzeitig an: den eigenen Berufsstand, das Bundesgesundheitsministerium, die pharmazeutische Industrie und die Firma Chemie Grünenthal. Angesichts der Komplexität dieser Ausgangssituation versuchten die medizinischen ›Experten‹, Autonomie herzustellen. Gleichzeitig festigte sich ein Sprachduktus, der sich von den Thesen anderer Kollegen, wie z.B. Widukind Lenz, und der Kausalität entfernte.185 Die Gesundheitsministerin Elisabeth Schwarzhaupt selbst richtete auch einige Worte an das Publikum: Ihr Anspruch sei es von den Anwesenden zu lernen und Anregungen für die Arbeit des Bundesgesundheitsministeriums zu gewinnen.186 Trotz des emotionalen Gewichts, das dem Contergan-Fall zukomme und sich bemerkbar mache, wenn von den »schweren und uns alle belastenden Probleme[n]«187 gesprochen werde, vermied sie ebenfalls den Begriff Contergan und sprach ihrerseits von »Dysmelie-Kindern«188 und »körperlich oder geistig behinderten Kindern«189. Dieser Sprachduktus setzte sich in der Folgezeit in den politischen Stellungnahmen und administrativen Handreichungen fort. So berichte-
184 Begrüßung durch Professor Dr. K. Lindemann, in: Bundesministerium für Gesundheitswesen (Hg.), 2. Monographie über die Rehabilitation der Dysmelie-Kinder. Dysmelie-Arbeitstagung am 5. und 6. November 1965 in der Orthopädischen Anstalt der Universität Heidelberg, Frechen/Köln 1967, S. 7-8; W. Freitag, Contergan, S. 32. 185 W. Freitag, Contergan, S. 44-45. 186 Vgl. ebd. Begrüßung durch Frau Bundesminister Dr. Schwarzhaupt, S. 9-10. 187 Ebd., S. 10. 188 Ebd. 189 Ebd.
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ten sie über »Dysmelie-Sonderstationen«190 und »technische Hilfen für Kinder mit schweren Mißbildungsformen«191. Wie schwierig es im politischen Bereich war, die richtigen Worte zu finden, zeigen die unterschiedlichen Sprachkonzepte, die gleichzeitig in Briefen der Ministerien zu finden waren. So wird in der Korrespondenz mit den obersten Kulturbehörden der Länder von der »Rehabilitation der Kinder mit angeborenen Mißbildungsformen (sogenannte Contergankinder)«192 gesprochen; eine Formulierung, die auch im weiteren Korrespondenzverlauf immer wieder zu finden ist.193 Im August 1965 ging aus einem vertraulichen Schreiben des Hamburger Senats zur Einschulung hervor, »[d]er Ausdruck ›Contergangeschädigte‹ Kinder« solle vermieden werden, »da die Klärung der Schädigungsursache im Einzelfall schwierig sein kann und der Ausgang schwebender Verfahren abgewartet werden muß. Zweckmäßig spricht man von vorgeburtlich geschädigten Kindern. Liegen Extremitätendefekte vor, erscheint die Bezeichnung ›Dysmelie-Kinder‹ angezeigt.«194 Diese terminologischen Vorgaben waren keinesfalls leicht durchzusetzen. Immer wieder musste darauf hingewiesen werden, nicht von Contergankind zu sprechen. Aber der Begriff hatte sich in der medialen Öffentlichkeit durchgesetzt und bestimmte das Denken und Handeln der Menschen außerhalb von Medizin und Politik. Hatten Mediziner innerhalb ihrer Fachdisziplinen Begriffe eingeführt, die hier durchsetzungsfähig waren195, so konnten diese sich nur im wissen-
190 Siehe dazu einen Bericht aus dem Bundesgesundheitsministerium: Bundesminister für Gesundheitswesen, Bad Godesberg 30.12.1965, Betr.: Sammelbericht über sämtliche Dysmelie-Sonderstationen, BArch B 189/20888. 191 Bundesminister für Gesundheitswesen, Bad Godesberg, 30.12.1965, Betr.: Entwicklung und Erprobung von technischen Hilfen für Kindern mit schweren Mißbildungsformen, BArch B 189/20888. 192 Schreiben des Bundesministers für Gesundheitswesen, 10. September 1965 an die obersten Kulturbehören der Länder. Betr.: Rehabilitation der Kinder mit angeborenen Mißbildungsformen (sogenannte Contergankinder), BArch B 189/20890. 193 Siehe Schreiben des Saarländischen Ministers für Arbeit und Sozialwesen, Saarbrücken, 16. September 1965, BArch B 189/20890; Schreiben des Kultusministers des Landes Schleswig-Holstein an den Bundesminister für Gesundheitswesen, Kiel, 30. September 1965, BArch B 189/20890. 194 Drucksache für die Senatssitzung Nr. 401, Verteilt am 04.08.1965, Vertraulich, Betr.: Vorbereitung Contergangeschädigter Kinder auf den Schulbesuch, BArch B 189/20890. 195 Vgl. W. Freitag, Contergan, S. 113.
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schaftlichen Bereich etablieren. Bezeichnenderweise verwandte eine Pressemeldung des hessischen Kultusministeriums im Januar 1966 dennoch den eigentlich unerwünschten Terminus Contergankind.196 Freilich, auch der Begriff des Dysmelie-Kindes schien problematisch, da oftmals komplizierte und unterschiedlichste Schädigungsformen vorlagen, die auch mit diesem medizinischen Fachausdruck nicht ausreichend erfasst werden konnten.197 Die Dysmelie-Arbeitstagungen fanden bis 1967 statt. Ihre Teilnehmer diskutierten nicht nur über Behandlungspraxen und Forschungsergebnisse, sondern reflektierten auch den Expertenstatus ihrer Mitglieder. Auf der dritten DysmelieArbeitstagung 1966 wurde, wie schon zuvor, die fachliche Abgeschlossenheit der Konferenz betont: »Wenn ich im Saale umherschaue sehe ich unter den zahlreich Anwesenden viele bekannte Gesichter, die schon in Münster und Heidelberg dabei waren. Unser Kreis ist, wie ich auch heute feststellen muß, immer größer, aber trotzdem immer geschlossener geworden.«198
Durchgängig versuchten die Teilnehmer, sprachbildend zu wirken. Auch auf der vierten Arbeitstagung vermieden es die Vertreter der medizinischen Fachgemeinschaft, wie in den Jahren zuvor, von Contergan zu sprechen. Andererseits scheuten die Referenten nicht vor naturalistischen Erklärungskonzepten zurück: Von »Massenflut« war etwa die Rede, und gemeint war damit eine kaum beherrschbare, von der Natur ausgehende Heimsuchung, die über die Gesellschaft hereinbreche199 und das »Schicksal dieser von der Natur so stiefmütterlich be-
196 Auch für Contergankinder eine gute Schulbildung, in: UPI 173, inland, 21. Januar 1966, BArch B 189/20890. 197 Eine wirkliche Alternative konnte der Berichterstatter nicht anbieten. Im Gegenteil: Im selben Bericht spricht der Autor nur wenige Absätze später selbst von den »sogenannten Contergankindern« und kann seiner eigenen Sprachvorgabe nicht folgen. Vgl. März 1966, Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, BArch B 189/20890. 198 Begrüßung durch Herrn Prof. Dr. G. Hauberg, in: Bundesministerium für Gesundheitswesen (Hg.), 3. Monographie über die Rehabilitation der Dysmelie-Kinder. Dysmelie-Arbeitstagung am 24. und 25. Juni 1966 in Hannover, Bad Godesberg 1967, S. 11. 199 Begrüßung durch Herrn Prof. Dr. E. Güntz, in: Bundesministerium für Gesundheitswesen (Hg.), 4. Monographie über die Rehabilitation der Dysmelie-Kinder.
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handelten Kinder«200 präge. Was bereits zu Beginn des Contergan-Falles die medizinische Debatte bestimmte, diente nach wie vor der Entlastung aus der Verantwortung: Als von der Natur ausgehendes und nicht vorhersehbares Ereignis interpretierten die medizinischen ›Experten‹ den Contergan-Fall.201
5.4 DIE ELTERN ALS POLITISCHE AKTEURE Von den Eltern der contergangeschädigten Kinder war bisher kaum die Rede. Ein großes Konvolut an Briefen im Bundesarchiv und im Landesarchiv Düsseldorf zeugt jedoch vom Glauben der Eltern an sozialpolitische Fürsorge, an Gerechtigkeit, aber auch von den zunehmenden Zweifeln.202 Die Kommunikation zwischen Eltern und Behörden begann mit der persönlichen Kontaktnahme zum Gesundheitsamt, mit Briefen an das nordrhein-westfälische Landesinnenministerium und an das Bundesgesundheitsministerium. Seit 1963 trat an die Stelle der Einzelkommunikation eine abgestimmte, professionalisierte VerbandsKommunikation: Mit Gründung des Bundesverbandes der Eltern körpergeschädigter Kinder e.V. – Contergankinder-Hilfswerk schlossen sich die zuvor regional verstreuten Elternvertretungen zusammen. Aufgrund der Bedeutung des Bundesverbandes als politischer Akteur wird im Folgenden nur auf ihn eingegangen. Der Bundesverband agierte durchaus aktiv und setzte mit seiner Namensgebung ein Zeichen. Zwar sah er sich als Vertreter für alle körpergeschädigten Kinder. Der Namenszusatz Contergankinder-Hilfswerk ließ aber einen besonderen Fokus auf Conterganschädigung erkennen. Für ihn war das Kollektivsymbol Contergankind zum Bestandteil der sprachlichen Selbstbeschreibungspraxis geworden. Für den Verband stand der Kausalzusammenhang zwischen dem Medi-
Dysmelie-Arbeitstagung am 20. und 21. Oktober 1967, Orthopädische Universitätsklinik Frankfurt am Main, Friedrichsheim, Bad Godesberg 1968, S. 9. 200 Begrüßung durch Herrn Prof. Dr. E. Güntz, S. 10. 201 Siehe dazu auch W. Freitag, die festhält: »Mit der Bevorzugung der Nomenklaturen Dysmelie und Phokomelie konstruieren die Wissenschaften ihr Wissensobjekt und leisten gleichzeitig einen Beitrag zu ihrem grundsätzlichen Bestreben, die Ursache der im Mittelpunkt stehenden Missbildungen zu naturalisieren. Naturalisierung bezeichnet die Tendenz, soziale Konstruktionen und Phänomene als naturgegebene darzustellen und wahrzunehmen.« W. Freitag, Contergan, S. 48. 202 BArch B 189/11733 und 11735 sowie LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 56 und 57.
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kament Contergan und den körperlichen Schädigungen der Kinder fest, auch wenn die Satzung den Umstand eher indirekt ansprach: »Seit dem Jahr 1958 ist die Zahl der mit Mißbildungen geborenen Kinder im erschreckenden Maße angestiegen. Die Sicherstellung der ärztlichen Versorgung und die Bemühungen, lebenstüchtige Menschen aus den Kindern zu machen, erfordern nicht nur eine erhebliche Erweiterung der bestehenden Einrichtungen, sondern machen die Mitarbeit der Eltern der betroffenen Kinder zwingend notwendig. Die Eltern der versehrten Kinder fühlen sich in erster Linie dazu berufen, an der Lösung der durch die Contergan-Katastrophe aufgetretenen medizinischen, orthopädischen, pädagogischen und rechtlichen Probleme und zur Verhütung einer neuen Katastrophe zum Wohle der Kinder und der Allgemeinheit mitzuarbeiten.«203
Einzelne Mitglieder des Verbandes übernahmen den Kontakt zur Presse und bezogen klar Stellung: für mehr finanzielle und politische Unterstützung sowie für mehr Mitspracherechte der Betroffenen bei Therapie und sozialen Hilfsmaßnahmen. Zudem sollte die öffentliche Aufmerksamkeit Körperbehinderten gegenüber geweckt und damit die Basis für solidarisches Handeln gelegt werden. Dies gelang vor allem, weil die Betroffenen unmittelbar aus dem Leben ihrer Kinder berichten konnten. Sie sprachen offen über ihre Ängste und Nöte und brachten den Begriff des Contergankindes in Zusammenhang mit ganz konkret nachvollziehbaren lebensweltlich sinnhaften Narrativen. Anfang der 1960er Jahre gab es also bereits eine Vielzahl von Termini, die in ganz unterschiedlicher Weise die körperlichen Fehlbildungen bei Kindern ansprachen: Dysmelie-Kind, körperlich behindertes Kind, Contergankind. Mit der Aktion Sorgenkind, einer vom ZDF unter Beteiligung von sechs Verbänden der freien Wohlfahrtspflege begründeten Spendenkampagne, kam 1964 ein weiterer Begriff hinzu, der sprachlich weder Dysmelie noch Contergan thematisierte: das Sorgenkind.204 War der Contergan-Fall zwar Anlass für die Gründung der Aktion Sorgenkind, so wurden dennoch alle Kinder mit körperlicher und geistiger
203 Satzung des Bundesverbandes Eltern körpergeschädigter Kinder e.V. – Contergankinder-Hilfswerk. Siehe dazu BArch B 142/2116, fol. 189. Im weiteren Verlauf wird der einfacher halber der des Bundesverbandes Eltern körpergeschädigter Kinder e.V. – Contergankinder-Hilfswerk als Bundesverband bezeichnet. 204 Vgl. Loprello 1968 Aktion Sorgenkind, Archiv der Aktion Sorgenkind; J. Stoll, Behinderte Anerkennung, S. 143; G. Lingelbach, Konstruktionen von ›Behinderung‹, S. 129-133.
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Behinderung unterstützt.205 Andere Elternverbände nutzten das neue mediale Interesse am Thema kindlicher Körperbehinderung, um auf ihre eigenen Belange aufmerksam zu machen.206 Im Gefüge der Elternverbände nahm der Bundesverband jedoch eine Sonderrolle ein – insbesondere als Diskussionspartner des Bundesgesundheitsministeriums. So konstatiert der Historiker Stoll: »Schneller als andere Zusammenschlüsse hat das bundesweite Contergankinder-Hilfswerk Zugang zum Gesundheitsministerium erhalten«207 Obwohl sich das Klima Mitte der 1960er Jahre aus Sicht der Elternvertreter positiv verändert hatte, blieben das Bundesgesundheitsministerium und die Regierung insgesamt im Fokus kritischer Beobachtung. Die Emanzipation der Gesellschaft gegenüber der Politik, die die ganzen 1960er Jahre durchzog, machte sich auch im Fall Contergan bemerkbar. Das Beharren auf der eigenen Begrifflichkeit, das Einfordern einer systematischen Förderung für die Contergangeschädigten, die kritische Distanz und Bewertung des ministeriellen Handelns stellten das Bundesgesundheitsministerium permanent unter Zugzwang. Immer größer wurde der Abstand zwischen CDU-geführter Bundesregierung und den Erwartungen einer breiteren Öffentlichkeit, u.a., weil die Verbandsverantwortlichen die Medien für ihre Interessen zu gewinnen vermochten.208 Unter dem Titel »Angeklagt: Versäumnisse«209 berichtete DIE ZEIT am 25. Juni 1965: »[…] Schulte-Hillen, der Vorsitzende des Elternverbandes, führt diese Versäumnisse auf mehrere Ursachen zurück, vor allem auf die Trägheit und die Gleichgültigkeit staatlicher Stellen. Es gibt immer noch keine Meldepflicht für solche Kinder. Ärzte beriefen sich auf die Schweigepflicht und ließen solche Fälle nicht bekannt werden; Gesundheitsämter ha-
205 Siehe zum Beispiel ebd.; G. Lingelbach, Konstruktionen von ›Behinderung‹. 206 Siehe dazu J. Stoll, Behinderte Anerkennung, S. 144. Jan Stoll verweist auf die Lebenshilfe als weiteren zentralen Akteur. «Die Lebenshilfe konnte als bereits bestehende und etablierte Elternvereinigung von den ausgeweiteten Strukturen der Behindertenhilfe infolge des Conterganskandals profitieren. Sie gab zeitgemäße Lösungsvorschläge, die wissenschaftlich fundiert waren und sich zudem mit Familiennähe und Bildungsansprüchen im Rahmen der politischen Selbstsicht der Bundesrepublik bewegten.«, J. Stoll, Behinderte Anerkennung, S. 145. 207 J. Stoll, Behinderte Anerkennung, S. 183. 208 Nach der Gründung des Bundesverbandes 1963 in Menden veranstaltete ebendieser am 19.06.1965 mit dem Internationalen Kongreß der Eltern körpergeschädtiger Kinder seine erste große Veranstaltung. Chronologische Auflistung des Verbandes, BArch B 122/15069, fol. 273. 209 Angeklagt. Versäumnisse, in: DIE ZEIT, 25.06.1965.
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ben Fälle wohl registriert, aber sich nicht weiter darum gekümmert, es gibt katholische Eltern, die ihr mißgestaltetes Kind als Gottesfügung hinnehmen, und es damit bewenden lassen. Man weiß von Geistlichen, Lehrern, Kindergärtnerinnen, die den Verkehr mit den Eltern abbrachen oder die Kinder als ›unzumutbar‹ zurückwiesen.«210
Die Kritik war scharf und sie richtete sich gegen die Politiker allgemein, denen Schulte-Hillen Lethargie und Versäumnisse vorwarf. Gleichzeitig aber verurteilte er auch große Teile der Gesellschaft, der es an Sensibilität mangele und die jegliche Solidarität ablehne. Selbst Geistliche, Pädagogen und Erzieher verweigerten ihren Kindern Hilfe, die sie anderen Opfern jedoch zukommen ließen. DIE ZEIT monierte die fehlende Spendenbereitschaft innerhalb der Bevölkerung: »1962 ergab eine öffentliche Sammlung für solche Kinder 160 000 Mark; eine Woche später sammelte das DRK für persische Erdbebenopfer einen Millionenbetrag.«211 Kritisiert wurden auch die höchsten politischen Amtsträger, die nur wenig Interesse an dem Bundesverband und seinen Veranstaltungen zeigten: »Bundeskanzler Erhard, der Schirmherr der Veranstaltung wünschte lediglich ›einen würdigen Verlauf‹; der Bundespräsident antwortete nicht auf den Einladungsbrief. Länderminister hielten sich zurück. Das Gesundheitsministerium entsandte den Ministerialdirektor Stralau mit Frau Schwarzhaupts Bemerkung, die Kulturhoheit der Länder verhindere direkte Hilfe.«212
Alle politischen Verantwortlichen – vom Land über den Bund bis zum Bundespräsidenten – hätten versagt und wären ihrer Fürsorgepflicht nicht gerecht geworden, so DIE ZEIT: »Fazit nach der ›größten deutschen Arzneimittel-Katastrophe‹; Es sind nahezu alle Chancen verpaßt. Zwar gibt es ein ›Schülergehalt‹, aber keine gesetzliche Hilfe für Eltern mißgestalteter Kinder.«213 Der Bundesverband nutzte die mediale Aufmerksamkeit, um seine Kritik nach außen zu tragen und seine Anliegen bekannt zu machen. Immer häufiger berichtete die Presse vom Versagen staatlicher Stellen.214 In den Worten des STERN: »Nur der Staat kann da helfen, unser reicher Wirtschaftswunderstaat. Er half auch – und zahlte bis jetzt nicht ganz zwanzig Mark pro Kind.«215
210 Angeklagt. Versäumnisse, in: DIE ZEIT, 25.06.1965. 211 Ebd. 212 Ebd. 213 Ebd. 214 Hier hat die Regierung versagt, in: STERN vom 12.09.1965. 215 Ebd.
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Dass angesichts des Wohlstandes der Gesellschaft die finanzielle Ungewissheit für die Familien das vertretbare Maß überschritt, erschien dem STERN geradezu unerträglich: »Nun sollte man allerdings annehmen, daß sich in einem Staat, der sich so oft und so laut seines Wohlstandes rühmt, eine zuständige Stelle für diese Kinder finden müßte. Wir haben ein Entwicklungsministerium, das unterentwickelten Afrikanern zu Mähdreschern und hungernden Indern zu Stahlwerken verhilft. Wir haben einen Wissenschaftsminister, der vornehmlich den deutschen Beitrag zur Weltraumfahrt angekündigt hat. Und wir haben ein BGM, von dem keiner so recht weiß, was es tut.«216
Die Öffentlichkeitskampagne des Bundesverbandes zeigte offensichtlich Wirkung. Die negative Berichterstattung schreckte das Bundesgesundheitsministerium auf. Der Umstand, dass das Presse- und Informationsamt sich gezwungen sah, die Behauptungen des STERN Punkt für Punkt zu widerlegen, verdeutlicht die Reichweite des STERN-Artikels. Und so erklärte das Presse- und Informationsamt: Allein die Zahlungen nach dem Bundessozialhilfegesetz bedeuteten für die Familien eine Unterstützung in Höhe von mehreren Millionen D-Mark.217 Zugleich korrigierte das Presse- und Informationsamt die Zahl der Opfer: Nicht 4.000 Kinder seien betroffen, sondern schätzungsweise 2.500 Kinder. Die Erklärung bekräftigte den Standpunkt der Bundesregierung, sie habe niemals Zweifel an der finanziellen Unterstützung für orthopädische Einrichtungen und Institute zur Prothesenentwicklung aufkommen lassen, denn hier sei die einzige Möglichkeit gewesen, direkt finanzielle Hilfe zu leisten.218 Erneut unterstrich das Presseund Informationsamt, die Eltern seien über genügend Hilfsmaßnahmen informiert worden und als Ansprechpartner stünden Gesundheits- sowie Sozialämter zur Verfügung. Zudem seien ausreichend Pflegebetten vorhanden, um die Kinder medizinisch zu betreuen.219 »Der ›Stern‹ behauptet, Einzelhilfe aus öffentlichen Mitteln sei lediglich über die dem Elternverband ausgewiesenen 70.000 Mark gewährt worden. Hierdurch wird der falsche Eindruck erweckt, als ob der Elternverband identisch sei mit der Gesamtheit der Eltern geschädigter Kinder. In Wahrheit sind von den zuständigen Behörden in den Ländern als Einzelhilfe für Eltern und Kinder die unter 1) erwähnten Millionenbeträge unmittelbar, al-
216 Hier hat die Regierung versagt, in: STERN vom 12.09.1965. 217 Presse- und Informationsamt, Bonn, 7. September 1965, BArch B 136/5243, S. 1. 218 Ebd. 219 Ebd., S. 1-2.
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so nicht über den Elternverband, gewährt worden. Dessen ungeachtet wird auch der Elternverband aus Bundesmitteln unterstützt. Der Betrag von 70.000 Mark wäre auch längst erhöht worden, wenn der Verband mit seiner Abrechnung nicht in Verzug geraten wäre.«220
Auch im Bundesgesundheitsministerium schlug der STERN-Artikel hohe Wellen. Der Staatssekretär des Bundesgesundheitsministeriums Bargatzky machte den Vorschlag, die Erläuterungen an den Bundeskanzler weiterzuleiten, damit er sie in »einer seiner nächsten Wahlreden mitverwerten kann.«221 Zudem versuchte das Bundesgesundheitsministerium über das Bundeskanzleramt einen Ausgaberest von 500.000 D-Mark aus dem Bundesfinanzministerium zu erhalten, um finanzielle Hilfen bereitzustellen und damit den eigenen Bemühungen Nachdruck zu verleihen.222 Doch die Kommunikation zwischen dem Bundesgesundheitsministerium und dem Bundesverband blieb schwierig. Im Ministerium fehlten die Ideen, wie generell mit den Eltern kommuniziert und Informationen besser als bisher ausgetauscht werden konnten. Der Versuch, die Eltern über wichtige Themen (zum Beispiel die Einschulung ihrer Kinder) in Fachzeitschriften wie »Das behinderte Kind« zu informieren, ging an der Lebenswelt der Betroffenen vorbei.223 Darüber hinaus setzte die starke mediale Präsenz des Bundesverbandes das Ministerium unter Druck, was die Kommunikation nach außen noch einmal erschwerte. Der Bundesverband sprach durchgängig von Contergan und von contergangeschädigten Kindern. In einem Rundschreiben des Bundesverbandes war zu le-
220 Presse- und Informationsamt, Bonn, 7. September 1965, S. 2. 221 Staatssekretär Bargatzky im Bundesgesundheitsminsiterium, Bad Godesberg, 7. Septemer 1965 an Herrn Ministerialdirektor Dr. Mercker, Betr.: »Contergankinder«, BArch B 189/474, fol. 422. 222 Brief des Bundeskanzleramtes an Bundesminister der Finanzen, Bonn, 8. September 1965, BArch B 136/5243. 223 Siehe dazu die Überlegungen, Informationen über die Betreuung und Einschulung von Kindern mit körperlichen Behinderungen zu veröffentlichen. In diesem Entwurf ging es darum, die Veröffentlichungsorgane, Eltern etc. zu erreichen. Der Vorschlag lautete, die Ergebnisse in Fachzeitschriften zu veröffentlichen (vgl. Entwurf eines Vermerks aus dem Bundesministerium für Gesundheit - I A 5 – 1190 – 133/66, Bad Godesberg, 4. Mai 1966 – Ref.: MR Dr. Dierkes, Sb.: AR Sparty, BArch B 189/20890). Die seit 1964 erscheinende Zeitschrift »Das behinderte Kind« (herausgegeben von MinRat. Dierckes) blieb als Kommunikationsplattform zu eng gefasst. Vgl. W. Freitag, Contergan, S. 84.
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sen, dass ein von ihm organisierter Kongress erfolgreich verlaufen sei, obwohl es zu »erheblichen Schwierigkeiten bei staatlichen Stellen gekommen« sei.224 Doch gerade dies bestärkte die Entschlossenheit des Verbandes, an seinen Sprachkonventionen festzuhalten. »Wir stehen an einem Wendepunkt in der Contergan-Katastrophe. In den nächsten 2 Jahren müssen die contergangeschädigten Kinder eingeschult werden, das ist nur möglich, wenn die Arbeit des Contergan-Kinder-Hilfswerks intensiviert und ausgeweitet wird. Hierzu müssen aber nicht nur die betroffenen Eltern, sondern der Staat und die gesamte Öffentlichkeit bereit sein, finanziell mitzumachen, wenn sie sich nicht alle dem Vorwurf aussetzen wollen, die Möglichkeiten der contergangeschädigten Kinder bewußt oder durch Phlegma inhibiert zu haben.«225
Die politischen Spannungen zwischen Verband und Politik erreichten einen neuen Höhepunkt, als bekannt wurde, dass eine geplante »Contergan-Fernsehlotterie«226 nicht werde stattfinden können. Ein Beschluss der Ständigen Konferenz der Innenminister hatte bereits im Juni 1965 bekräftigt, dass ARD (Fernsehlotterie) und ZDF (Aktion Sorgenkind) jährlich nur eine Lotterie veranstalten dürften. Die Minister wollten, dass die Aktion Sorgenkind keine unnötige Konkurrenz
224 Rundschreiben an die Eltern, Bundesverband der Eltern körpergeschädigter Kinder e.V. – Contergankinder-Hilfswerk, September 1965, HA WDR 13238. Wie angespannt die Situation zwischen den politischen Vertretern und dem Bundesverband war, zeigt eine kurze Episode in Köln. Wie aus dem vorausgehenden Pressebericht ersichtlich, habe der Bundespräsident nicht auf eine Einladung reagiert. Diese Behauptung stellte sich jedoch als falsch heraus. In dem Rundschreiben musste der Verband dies revidieren, da der Bundespräsident schriftlich sein Nichterscheinen weitergeleitet und Glückwünsche für den Ablauf des Kongresses übermitteln habe. Die Antwort des Bundespräsidenten war dem Vorsitzenden erst zwei Tage nach dem Kongress vorgelegt worden. Hier deutete sich bereits das angespannte Verhältnis zwischen den Akteuren des Bundesverbands Eltern körpergeschädigter Kinder – Contergankinder-Hilfswerk e.V. und den politischen Vertretern an. Der ConterganFall entwickelte sich immer mehr auch zu einer Kraftprobe zwischen Staat und Bürgern, insbesondere zwischen dem Bundesgesundheitsministerium und dem Bundesverband, der offensiv auftrat. 225 Schreiben des Contergankinder-Hilfswerks im Bundesverband der Eltern körpergeschädigter Kinder e.V. 1965, S. 2, HA WDR 13238. 226 Vgl. Rundschreiben Bundesverband der Eltern körpergeschädigter Kinder e.V. – Contergankinder-Hilfswerk an die Eltern September 1965, S. 2, HA WDR 13238.
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erhalte, denn sie kümmere sich um alle Formen kindlicher Behinderung, lautete die Begründung.227 Zudem würde eine weitere Fernsehlotterie den Plänen für einr nationale Stiftung zugunsten von Kindern mit Behinderungen wohl im Wege stehen. Eine solche Stiftung war seit Jahren diskutiert worden.228 Der Vorsitzende des Bundesverbandes wurde in einem Schreiben über den Beschluss informiert.229 Die Empörung war groß. In dem bereits zitierten Rundschreiben vom September 1965 berichtete der Bundesverband an seine Mitglieder: »Der Vorstand des Bundesverbandes stellt fest, daß die Contergan-Fernsehlotterie mit unsachlichen Argumenten verhindert worden ist, wobei das Auftreten weiterer Schäden durch verzögerte Sofortmaßnahmen bewußt in Kauf genommen worden ist. Es muß davon ausgegangen werden, daß u.a. auch die pharmazeutische Industrie im Hintergrund aktiv gewesen ist, um zu verhindern, daß 1. Dem Contergankinder-Hilfswerk finanzielle Mittel zur Hilfeleistung zur Verfügung gestellt werden. 2. Das Wort ›Contergan‹ in dieser Sendung auftaucht. Das Argument, es müsse auch den anderen Kindern geholfen werden, ist eine absichtliche Verwässerung der Contergan-Katastrophe. Das Argument entbehrt darüberhinaus jeglicher Grundlage […].«230
Der Bundesverband bestand darauf, dass Hilfe insbesondere für die contergangeschädigten Kinder erforderlich sei und dass die öffentliche Debatte die Folgen von Contergan intensiv thematisieren müsse. In seinem Sprachgebrauch fanden sich neben dem Kollektivsymbol des Contergankindes zahlreiche Neologismen, die den Begriff Contergan bei der Kompositabildung einsetzten. Mit dem stetigen Verweis auf Contergan konnten sich nicht nur die eigenen Mitglieder identifizieren. Er war zugleich ein politischer Aufruf, den der Verband gegen das Bundesgesundheitsministerium einsetzte, um seine Ansprüche zu legitimieren. Nicht weniger entschieden wandte sich der Verband gegen die Vorwürfe des
227 Vgl. Arbeitssitzung Fernsehen am 26. August 1965 in Stuttgart, HA WDR, 13499. 228 Vgl. Intendant Klaus von Bismarck vom WDR an die Herren Intendanten und den Programmdirektor des Deutschen Fernsehens, 02. August 1965 / ba, HA WDR 13499. 229 Vgl. Brief 06.08.1965, HA WDR 13238. 230 Rundschreiben an die Eltern, Bundesverband der Eltern körpergeschädigter Kinder e.V. – Contergankinder-Hilfswerk, September 1965, HA WDR 13238, S. 6.
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Ministeriums, er habe Gelder unsachgemäß abgerechnet.231 Die angeblichen finanziellen Unregelmäßigkeiten habe das Ministerium nur instrumentalisiert, um den Bundesverband als rechtmäßige Vertretung der Eltern anzuschwärzen: »Durch diesen Angriff, der eine Herabsetzung der gesamten von uns und den Unterverbänden bisher geleisteten Arbeit darstellt, sahen wir uns insbesondere verbunden mit der Behauptung, verzögert abgerechnet zu haben, als einzigen Ausweg unser o.a. Schreiben an Frau Ministerin der Presse zur Verfügung zu stellen. Damit war gerade das eingetreten, was wir vermeiden wollten. Wer aber versucht, das gesamte Bemühen der Elternschaft insbesondere aber des Bundesverbandes und der Unterverbände in der Öffentlichkeit in Mißkredit zu bringen, muß sich gefallen lassen, daß wir uns zur Wehr setzen, auch wenn wir ›nur‹ Bürger sind und in der gesamten Bevölkerung eine kleine Minderheit bilden.«232
Neben sachlichen Differenzen gab es offensichtlich ganz unterschiedliche Politikverständnisse: Während das Ministerium in der Logik patriarchalischer Fürsorge argumentierte und die Leistungen des Sozialstaates betonte, artikulierte der Verband die Ansprüche selbstbewusster, kritisch denkender Bürger, die den Staat als Dienstleister für die Gesellschaft erachteten. In dieser aufgebrachten Stimmung Mitte der 1960er Jahre konnte das Ministerium nur verlieren. Die Tagespresse griff die Meldung über das Scheitern der »Contergan-Lotterie« entschlossen auf und heizte die Stimmung weiter an. Kurz vor der Bundestagswahl zeichneten die Presseberichte die politischen Akteure in einem durchaus schlechten Licht: »Conterganbetroffene vor den Scherben ihrer Hoffnungen. Innenminister verhindern schnelle Hilfe – Wohlfahrtsverbände protestieren gegen Fernsehlotterie«233, lautete eine Überschrift, oder auch: »Alle lassen Contergan-Kinder im Stich. Eltern über Minister empört«234 und schließlich: »Helft!«235. Diese Kritiken richteten sich nun nicht mehr gegen ein einzelnes Ministerium oder gegen einen einzelnen Amtsträger, sondern gegen den »Staat« insgesamt.
231 Vgl. Rundschreiben an die Eltern, Bundesverband der Eltern körpergeschädigter Kinder e.V. – Contergankinder-Hilfswerk, September 1965, S. 11-17. 232 Ebd., S. 17. 233 Jürgen Sarke, Conterganbetroffene vor den Scherben ihrer Hoffnungen, 06.09.1965 für die UPI, HA WDR 13238. 234 Exu, Alle lassen »Contergan«-Kinder im Stich, in: Express-Ausgabe des KÖLNER STADT-ANZEIGERS, 07.09.1965, HA WDR 13238. 235 Vgl. Ba, Helft!, in: FRANKFURTER RUNDSCHAU, 08.09.1965, HA WDR 13238.
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»Unser Staat, der einem manchmal vorkommt wie eine einzige, wenn auch schwerfällige Improvisation, ist zum Improvisieren unfähig. Neid, Streitigkeiten, Selbstgefälligkeit setzten sich allemal durch. Die Menschen würden ja spenden, sie sind ja nur vergeßlich. Jemand müßte trommeln – und wer kann das besser und erfolgreicher als das Fernsehen? Es hat das bewiesen, […] Aber dieselben Menschen, die es sich noch nicht einmal zumuten, ein Heim für die am schwersten verkrüppelten Kinder zu besuchen, sich diesem Anblick auszusetzen – sie drehen einen Geldhahn zu, der reich hätte fließen, der eine Besserung hätte herbeiführen können. Niemand kann den Kindern, kann ihren Eltern das Leid abnehmen, aber doch wenigstens die finanzielle Last. Es gibt vielleicht einen Ausweg: Presse und Fernsehen müßten überlegen, ob sie den Menschen endlich zeigen, wie entstellt diese Kinder sind, daß diese jedoch geistig normal, oft sogar überdurchschnittlich begabt sind. Sie müßten Mitleid erregen und Zorn gegen diese Art von ›Wohlfahrt‹. Ob dann das Lotteriegesetz noch unantastbar wäre?«236
Zu all diesen Vorwürfen schwieg das CDU-geführte Bundesgesundheitsministerium. Im Wahlkampf 1965 richteten sich die Blicke insbesondere auch auf die Bilanz der ersten weiblichen Bundesministerin: Ihre fehlenden medizinischen Kenntnisse hätten es ihr erschwert, in der Gesundheitspolitik Fuß zu fassen, bilanzierte die WELT.237 Während ihrer Amtszeit sei Schwarzhaupt nie aus der Rolle einer unliebsamen Alibifrau herausgetreten.238 Auch die geringen finanziellen Hilfsmaßnahmen wurden ihr angelastet.239
236 Vgl. Ba, Helft!, in: FRANKFURTER RUNDSCHAU, 08.09.1965, HA WDR 13238. 237 Friedrich Deich, Regiert die deutsche Frau?, in: DIE WELT, 04.09.1965. 238 »Seit diesem Tage zu Beginn der nun auslaufenden Legislaturperiode, verhält sich die öffentliche Meinung gegen diese erste Frau in einem Kabinett der Bundesrepublik Deutschland vergleichsweise so, als habe man aus vergangenen Zeiten ein albernes Schlagwort mit herübergerettet und leicht variiert: ›Die deutsche Frau regiert nicht.‹« Ebd. 239 R. Siegel, Geschieht zuwenig für die Contergan-Kinder?, in: RHEINISCHER MERKUR, Nr. 38 (1965), S. 16. Hier heißt es: »Der schwere Vorwurf trifft die Bundesregierung, die wieder einmal – wie in so vielen anderen Fällen – die breiteste, sichtbarste und erreichbarste Zielscheibe bildet. Ein beachtliches Argument brachte hier das niedersächsische Sozialministerium in die Diskussion: Die Gesundheitspolitik, so hieß es in einer Verlautbarung in der vergangenen Woche, sei zwar Sache der Länder, aber eine finanzielle Soforthilfe [Hervorhebung im Original, A.H.C.] durch den Bund wäre durchaus möglich gewesen. Erinnert wurde dabei an die Hilfen für Katastrophen wie das Erdbeben in Chile. Bonn habe indessen der ConterganKatastrophe ›hilflos gegenübergestanden‹.«.
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SPD und FDP griffen die Steilvorlage nur zu gerne auf. Der SPDAbgeordnete Peter Blachstein setzte sich öffentlichkeitswirksam bei den Fernsehanstalten für eine erneute Diskussion über die »Contergan-Lotterie« ein. Günter Grass, bekennender SPD-Unterstützer, spendete nach seiner Wahlreise 8.000 D-Mark, und der FDP-Abgeordnete Hamm sprach von Plänen, eine nationale Stiftung für alle behinderten Kinder in Kooperation mit dem Grünen Kreuz zu gründen.240 Der Vorsitzende des Bundesverbandes äußerte dazu in der Presse: »Allen Widrigkeit und Trägheiten verantwortlicher Stellen zum Trotz versprechen die Eltern der contergangeschädigten Kinder der Oeffentlichkeit, alles daran zu setzen, um aus ihren Kindern selbständige Mitglieder der Gesellschaft zu machen, die dem Steuerzahler später nicht zur Last fallen werden.«241
Während also der Wahlkampf die Regierungspolitik und – im Falle von Contergan – das Bundesgesundheitsministerium in ein schlechtes Licht stellte, fragte die Presse, wie gesellschaftliches Eigenengagement das Schicksal der Betroffenen erleichtern könne. Die Überlegungen zur Gründung einer nationalen Stiftung für alle Kinder mit Behinderungen nahmen unterdessen Kontur an. Prof. Klose vom Grünen Kreuz begründete im September 1965 die Notwendigkeit einer Stiftung damit, dass seit dem Kongress des Bundesverbandes Eltern körpergeschädigter Kinder – Contergankinder-Hilfswerk e.V.: »in der Öffentlichkeit eine zunehmende Unruhe darüber festzustellen [ist], daß Unklarheiten aufkommen, ob und wie der Staat ausschließlich und allein für die Fürsorge an den körperbehinderten Kindern heranzuziehen wäre. Hierbei ist festzustellen, daß in der Öffentlichkeit nicht die mindesten Vorstellungen über die Funktion des Bundessozialhilfege-
240 Der Präsident des Deutschen Grünen Kreuzes hatte sich bereits im August an Staatssekretär Bargatzky gewandt und Probleme gesehen, sollte der Bundesverband eine eigene Lotterie erwirken können; Vgl. Professor Dr. Klose, Kiel den 11. August 1965 an Herrn Staatssekretär Bargatzky, BArch B 189/474, fol. 440-441. Das Deutsche Grüne Kreuz ist eine Vereinigung für gesundheitlichen Fürsorge, siehe dazu: https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsches_Gr%C3%BCnes_Kreuz vom 02.03.2018. 241 Vgl. UPI, SPD und FDP versprechen den »Contergan«-Kindern Hilfe, MillionenStiftung nach der Wahl/CDU schweigt noch immer«, in: FRANKFURTER RUNDSCHAU,
15.09.1965, S. 24.
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setzes einerseits, wie auch über die Verpflichtungen des Bundes, der Länder und der Gemeinden andererseits vorhanden sind.«242
Klose diagnostizierte eine »emotionale[n] Voreingenommenheit gegen ›den Staat‹«, insbesondere wegen des Contergan-Falles.243 Er beobachte eine Konzentration des öffentlichen Interesses allein auf die Schicksale der contergangeschädigten Kinder. Ziel sei es jedoch, Interesse für alle Kinder mit Behinderungen zu wecken, und das mit Hilfe einer nationalen Stiftung.244 Die unterschiedlichen Interessenäußerungen bewiesen, wie heterogen das Feld der Wohlfahrtsverbände und Interessengemeinschaften war. Konkret ging es um die Frage einer Sonderrolle für die contergangeschädigten Kinder oder – alternativ – um die Einbeziehung aller Kinder mit körperlichen Behinderungen in die vorgesehene Stiftung. Aus der Sicht Kloses bestand die einzig gangbare Lösung darin, allen Betroffenen gleichzeitig zu helfen. Dieses Ziel betonte er auch sprachlich, in dem er von den »dysmelen (Contergan-) Kindern«245 in Abgrenzung zu allen »behinderten«246 Kindern sprach. Der Weg hin zu einer nationalen Stiftung war also höchst schwierig Gleichwohl mündete er noch 1967 in der Gründung der »Stiftung für das behinderte Kind«. Vorausgegangen waren intensive Diskussionen von Seiten der Elternund Wohlfahrtsverbände mit der Bundesregierung. Zu klären war vor allem, welche Aufgaben die Stiftung haben, wen sie fördern und wie sie strukturiert sein sollte. Interessen also galt es auszugleichen und die Sprache anzugleichen. Das war keine leichte Aufgabe, umso mehr, da der Einfluss der Elternverbände wuchs und damit die Heterogenität der Sprechergruppen zunahm. Das Sprechen über Contergan wurde zur Chance für alle Interessensvertretungen, weil es die Aufmerksamkeit auf das Thema Behinderung lenkte und ihre Arbeit aufwertete.247 In der aufgebrachten Stimmung der 1960er Jahre, da die Bürger politische Partizipation einklagten, war das Sprechen über Contergan eine Möglichkeit für nicht-politische Akteure, ihre Teilhabe an den politischen Prozessen einzufordern. Sie sahen die Verantwortung nicht nur bei der Bundesregierung, sondern auch bei der Industrie und der Gesellschaft. Für die
242 Bericht über die Lage der behinderten Kinder in der Bundesrepublik und Westberlin, Prof. Klose von 13.09.1965 übergeben, BArch B 189/747, fol. 7-15. 243 Ebd., fol. 8. 244 Ebd., fol. 8. 245 Ebd., fol. 8. 246 Ebd., fol. 8. 247 Vgl. J. Stoll, Behinderte Anerkennung, S. 187-188.
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beteiligten Bundesministerien kam es in dieser Situation darauf an, einen Mittelweg zu finden, um in schwierigen Rechtsfragen nicht zu präjudizieren, die Pharmaindustrie nicht zu verprellen und gleichzeitig alles zu unternehmen, um die erhitzte Stimmung zu beruhigen.248 Klose schlug daher vor, die Öffentlichkeitsarbeit auszuweiten und Eltern wie auch Interessierte über die Lebenssituation von Kindern mit Behinderung zu informieren und in der »meinungsbildenden Presse«249 entsprechende Anzeigen zu schalten. 250 In den Worten Kloses: »Im Rahmen dieser Dokumentation ist es unerläßlich, eine Reihe von publizistischen Maßnahmen vorzubereiten, die der Öffentlichkeit Aufklärung über die Lage des behinderten Kindes vermitteln. Es hat sich herausgestellt, daß die Fehleinschätzung der Lage der behinderten Kinder nicht zuletzt darauf beruht, daß die Öffentlichkeit – einschließlich der Eltern der behinderten Kinder – nicht ausreichend über ihre Rechte und Pflichten unterrichtet sind.«251
Die Elternverbände nutzten ihre erstarkte Stellung, um sich auch an den Überlegungen zur Stiftungsgründung zu beteiligen und sich selbst als ›Experten‹ in die
248 Vgl. Bericht über die Lage der behinderten Kinder in der Bundesrepublik und Westberlin, Prof. Klose von 13.09.1965 übergeben, BArch B 189/747, fol. 11. Siehe dazu auch J. Stoll, Behinderte Anerkennung, S. 183 Die Stiftung sollte sich aus Akteuren unterschiedlicher politischer Vertretungen zusammensetzen, unter anderem Vertreter aus dem Bundespräsidialamts, dem Bundesgesundheits- und Arbeitsministerium, dem Bundesrat und Medizinalbeamten der Länder. Zugleich sollten sich die in den Landtagen befindlichen Parteien in das Kuratorium ebenso wie Vertreter der Gewerkschaften, Wohlfahrtsorganisationen, der Industrie, der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten, der Wissenschaft und Publizistik einbringen. Vgl Bericht über die Lage der behinderten Kinder in der Bundesrepublik und Westberlin, Prof. Klose von 13.09.1965 übergeben, BArch B 189/747, fol. 11 und 12. 249 Bericht über die Lage der behinderten Kinder in der Bundesrepublik und Westberlin, Prof. Klose von 13.09.1965 übergeben, BArch B 189/747, fol. 13. 250 Interesse von Seiten der Presse an einer nationalen Stiftung gab es durchaus. Der Verleger Axel Springer nutzte seine öffentliche Reputation und wandte sich persönlich an den Bundespräsidenten, um ihn zu ersuchen, eine Stiftung zu gründen. Vgl. Ref.: MR. Schaudienst, Bonn, 29.09.1965, Betr.: Sogenannte »Contergan«-Kinder: Hier: Bemühungen um das Zustandekommen einer Stiftung zugunsten behinderter Kinder, BArch B 189/9458, fol. 7. 251 Bericht über die Lage der behinderten Kinder in der Bundesrepublik und Westberlin, Prof. Klose von 13.09.1965 übergeben, BArch B 189/747, fol. 13.
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Diskussion einzubringen. Begünstigt durch die schwache Stellung des Bundesgesundheitsministeriums und durch den auf ihm lastenden medialen Druck, konnten die Elternverbände ihre Position ausbauen.252 In einer Vorbesprechung trafen sich im September 1965 Vertreter des Bundesverbandes der Eltern körpergeschädigter Kinder e.V. Contergankinder-Hilfswerk, die Lebenshilfe, die Deutsche Gesellschaft zur Förderung der Hör- und Sprachgeschädigten e.V. und der Verband Deutscher Vereine zur Förderung und Betreuung spastisch gelähmter Kinder e.V.253, um ihre Ziele zu koordinieren, bevor sie wenige Tage später in einer gemeinsamen Sitzung mit dem Bundesgesundheitsministerium diskutierten.254 Die Zusammenarbeit unterschiedlicher Elternverbände stärkte zwar die öffentliche Schlagkraft und erhöhte die Empfindsamkeit der Gesellschaft gegenüber körperlichen Benachteiligungen. Der Bundesverband beharrte jedoch einmal mehr auf seiner Sonderstellung, als er 1965 eine eigene Stiftung gründete.255 Das Bundesgesundheitsministerium und die Vertreter zahlreicher anderer Verbände beäugten den Alleingang kritisch.256 Selbst innerhalb des Verbandes con-
252 Vgl. J. Stoll, Behinderte Anerkennung, S. 187-188. 253 Vgl. Niederschrift über die Besprechung der Arbeitsgemeinschaft »Das behinderte Kind« am 22.09.1965 in Köln, BArch B 189/747, fol. 93-94. 254 Vgl. Ergebnisvermerk: Betr: Stiftung für körperbehinderte Kinder, BArch B 189/747, fol. 63-64. 255 Vgl. Abteilungsleiter I Bad Godesberg, 1. Juni 1966, Vermerk Betr.: Stiftung für das behinderte Kind, Hier: Delphin-Stiftung in Hamburg, BArch B 189/747, fol. 207. So hatte Jan Stoll noch die Hoffnung der Lebenshilfe skizziert, mit dem Bundesverband einen »potentielle[n] Bündnis- und Ansprechpartner der Lebenshilfe« gefunden zu haben, siehe dazu J. Stoll, Behinderte Anerkennung, S. 145. 256 Die Stiftung heißt »Delphin Stiftung« und existiert bis heute. Vgl. Freie und Hansestadt Hamburg Arbeits- und Sozialbehörde, Dr. Peters an Herrn Ministerialrat Weller, Bundesministerium des Innern, 26.11.1965, BArch B 189/9458, fol. 30. Vgl. Bonn, 02.12.1965 Ei/Ber: Vertraulich, BArch B 189/9458, fol. 38-39. Vgl. Beteiligt an den Überlegungen waren Vertreter folgender Verbände: Bundesvereinigung »Lebenshilfe« für das geistig behinderte Kind e.V., Marburg/Lahn; Deutsche Gesellschaft zur Förderung der Hör- und Sprachgeschädigten e.V., Hamburg; Verband Deutscher Verein zur Förderung und Betreuung spastisch gelähmter Kinder e.V., Düsseldorf; Bund sehbehinderter Kinder e.V., Duisburg. Siehe dazu Niederschrift über die Besprechung der Arbeitsgemeinschaft »Das behinderte Kind« am 24. November 1965 in Köln, BArch B 189/9458, fol. 44-45. Vgl. Ref. MR Schaudienst, Bonn, 07.12.1965: Betr.: Übernahme der Schirmherrschaft über eine Stiftung zugunsten behinderter Kinder durch den Herrn Bundespräsidenten, BArch B 189/9458,
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tergangeschädigter Kinder war der Schachzug umstritten.257 Jedenfalls grenzte sich der Bundesverband mit der eigenen Stiftungsgründung von den anderen Elternverbänden weiter ab. Angesichts einer sich immer weiter ausdifferenzierenden, Mitsprache fordernden Akteurslandschaft mit Betroffenengruppen, Wohlfahrtsverbänden und Elterninitiativen, angesichts auch der emotionalisierten Medienlandschaft vermieden die Bundesministerien eindeutige Stellungnahmen. Selbst die neue Gesundheitsministerin der Großen Koalition (ab 1966), Käte Strobel (SPD), wandte sich vordringlich anderen Themen zu.258 Mehr als zuvor standen die schulische Eingliederung der Kinder und die Vorsorge von schwangeren Frauen im Mittelpunkt der Bemühungen. Vorsorge war eines der zentralen Konzepte der Ministerin, um rechtzeitig Probleme zu erkennen: »Der Bürger kann erwarten, daß er vor Gesundheitsgefahren geschützt wird, und daß der Vorsorge für die Gesundheit von der Gesundheitspolitik der gleiche Rang eingeräumt wird, wie der Hilfe und Heilung der Krankheit.«259
fol. 41; Vgl. Ref. MR Schaudienst, Bonn, 24.01.1966, Betr.: Errichtung einer Stiftung »Das behinderte Kind«, BArch B 189/9458, fol. 59-60. 257 Vgl. Ref. MR Schaudienst, Bonn, 24.01.1966, Betr.: Errichtung einer Stiftung »Das behinderte Kind«, BArch B 189/9458, fol. 59-60. Innerhalb des Bundesverbandes hatte es erhebliche Schwierigkeiten gegeben. Von Fehlern bei finanziellen Transaktionen war die Rede. Auch das teilweise aggressive Auftreten der Vertreter des Bundesverbandes und der Delphin-Stiftung hatte zu Irritationen geführt (vgl. Artikel »Konten gesperrt«, in: DER SPIEGEL, Nr. 17 (1969)). Die schwierige Situation innerhalb des Bundesverbandes setzte sich fort. DER SPIEGEL berichtete 1969 von Verleumdungen und Streitigkeiten zwischen zwei Gruppen im Bundesverband: »die Vertreter des harten Kurses« (S. 62) unter Schulte-Hillen und eine Gruppe unter dem damaligen Vorsitzenden Hering. DER SPIEGEL warf dem Bundesgesundheitsministerium vor, nicht in diesen Konflikt eingegriffen zu haben »Konten gesperrt«, in: DER SPIEGEL, Nr. 17 (1969). 258 Vgl. E. Zellmer, Töchter der Revolte?, S. 29. Auch Walter Bargatzky schied nach dem Amtswechsel von Schwarzhaupt zu Strobel auf eigenen Wunsch aus seinem Amt aus. Walter Bargatzky an Käte Strobel, Bonn, 1.12.1966, BArch N 1177/23. 259 Käte Strobel, Die Bedeutung der Gesundheitsvorsorge für den Menschen in unserer Zeit, Referat auf dem XI. Bundeskongreß Ärzte und Apotheker in der SPD, 05.06.10.1968 in Ludwigshafen, AdsD Nachlass Käte Strobel, Ordner 58. 1968 erklärte Strobel in einer Rede: »Vielmehr sind es die gesundheitlichen Schäden, die durch die technisierte und automatisierte Umwelt unmittelbar oder mittelbar hervorgerufen werden und auch manche für die Gesundheit negative Folgen der Zivilisation. Hier
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Wie schon ihre Vorgängerin Elisabeth Schwarzhaupt, betonte auch Käte Strobel die politische Verantwortung für alle Kinder mit Behinderung. Der politische Versuch, den Begriff des Contergankindes aus der öffentlichen Debatte zu verdrängen, war allerdings gescheitert. Gleichzeitig gab es ein Bewusstsein davon, dass es viele Gründe für Behinderung gab und dass Gesellschaft und Politik dafür in der Verantwortung standen. Insofern unterschied sich die Situation Ende der 1960er Jahre deutlich von der Ausgangskonstellation zu Beginn des Jahrzehnts. Die Gründungsfeier der »Stiftung für das behinderte Kind« zeigte, wie unterschiedlich die Beteiligten über Behinderung sprachen.260 Die Eröffnungsfeierlichkeiten begannen mit Appellen an die gesellschaftliche Verantwortung für die Integration von Kindern mit Behinderung, unterstrichen die »echte, sozialgesundheitsfürsorgerische Aufgabe unserer Gemeinschaft«261 und betonten die
gilt es, die Erforschung, Früherkennung und Bekämpfung voranzutreiben und die auf gesicherten wissenschaftlichen Ergebnissen basierende Aufklärung zu intensivieren.« Ansprache von Frau Bundesminister Strobel auf dem 20. Karlsruher Therapiekongreß am 1. September 1968, S. 2. AdsD Nachlass Strobel, Ordner 58. 260 Vgl. Eröffnungsansprache des Präsidenten des Deutschen Grünen Kreuzes Prof. Dr. med. Franz Klose für die Stiftung für das behinderte Kind 1967, BArch B 189/474, Fol 288-289. Die Stiftung wurde in den 1970er Jahren in »Stiftung für das behinderte Kind. Förderung von Vorsorge und Früherkennung« umbenannt. Vgl. http://www.stiftung-behindertes-kind.de/stiftung/geschichte.html vom 13.02.2018; W. Freitag, Contergan, S. 114-115. Unter anderem waren auch die Daimler Benz AG, die Hoechst AG und der Bundesverband der pharmazeutischen Industrie im Kuratorium vertreten. Siehe auch A.H. Günther, Contergan als Zäsur, S. 162. Den Stiftungsvorsitz übernahm Käte Strobel, ihre Stellvertreter waren Bundesinnenminister Lücke und der ehemalige Finanzminister Conrad. Das Kuratorium setzte sich zusammen aus Präsidenten unterschiedlicher Bundesverbände, Vorstandsvorsitzender, Bundesminister und Ärzte, darunter auch die ehemalige Bundesministerin für Gesundheit (Elisabeth Schwarzhaupt). Auch hier vernetzten sich die politischen Akteure mit medizinischen ›Experten‹. In dem wissenschaftlichen Beirat der Stiftung waren Vertreter der Fachrichtungen Pädiatrie und Orthopädie. Die Erweiterung des Expertenkreises verdichtete sich auch hier, da auch Pädagogen und Psychiatern beteiligt waren. Vgl. Das Kuratorium der Stiftung für das behinderte Kind, BArch B 189/9458. 261 Eröffnungsansprache des Präsidenten des Deutschen Grünen Kreuzes Prof. Dr. med. Franz Klose für die Stiftung für das behinderte Kind 1967, BArch B 189/474, Fol 288-289, hier fol. 288.
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Pflicht jeder einzelnen Bürgerin und jeden einzelnen Bürgers, aktive Hilfe zu leisten.262 Gesundheitsministerin Strobel nutzte ihren Vortrag, um über die Folgen des Contergan-Falles für die Bevölkerung zu reflektieren, ohne jedoch an einer einzigen Stelle den inkriminierten Begriff Contergan zu verwenden. Stattdessen verwies sie auf das »tragische Geschehen in den Jahren 1959-1962«263, vermied dabei jedoch, einen Zusammenhang mit der Medikamenteneinnahme herzustellen. In ihrer Ansprache, die im Bundesarchiv einzusehen ist, lobte sie die schnelle Hilfestellung durch das Bundesgesundheitsministerium und den Deutschen Bundestag und unterstrich, dass allen Kindern mit körperlicher Behinderung geholfen werden müsse: »Selbstverständlich haben sich unsere Bemühungen nicht auf die Dysmelie-Kinder beschränkt, wenn ihr Schicksal auch den entscheidenden Anstoß dazu gegeben hat.«264 Damit konzedierte Strobel die Scharnierfunktion des Contergan-Falles für die bundesrepublikanische Behindertenpolitik, blieb aber der überlieferten politischen Sprachlogik treu, in dem sie die »Dysmelie-Kinder[n]« ansprach, während sie doch eigentlich die contergangeschädigten Kinder meinte. Der Erfolg der Stiftung blieb hinter den Erwartungen zurück. Nur ansatzweise konnte die Stiftung die ihr zugedachten Rollen ausfüllen. Ihre finanziellen Mittel bzw. die von ihr akquirierten Spenden aus der Industrie erreichten längst nicht die Höhe, die sie versprochen hatte. Die spezialisierten Wohlfahrtsverbände dachten nicht daran, ihr Aufgabenfeld zu räumen. Und die Elternverbände zeigten sich ganz generell unzufrieden mit der Arbeit der Stiftung, weil sie jenseits der Aufklärungsarbeit wenig leistete.265 Bereits 1969, nur zwei Jahre nach der Stiftungsgründung, resümiert DER SPIEGEL ernüchtert:
262 Vortrag von Klaus Dörrie »Staatliche und private Hilfen für behinderte Kinder«, BArch B 189/474, fol. 294-298, hier fol. 296. 263 Ansprache von Frau Bundesminister für Gesundheitswesen Käte Strobel anläßlich der Konstituierung der »Stiftung für das behinderte Kind« des Deutschen Grünen Kreuzes am 12. Juni 1967 in Bad Godesberg, BArch B 189/747, fol. 301-304, hier fol. 301. 264 Ebd., fol. 302. Vgl. auch A.H. Günther, Contergan als Zäsur, S. 162. 265 Vgl. Betr. Stiftung für das behinderte Kind, Bezug: Besprechung mit Herrn Hering am 16.07.1968, Bad Godesberg, 15. Juli 1968, BArch B 189/750, fol. 30-33. Vgl. Schreiben des Vorsitzenden der Aktion Sorgenkind Dr. Schober an die Stiftung für das behinderte Kind, Bonn, 18.12.1967, BArch B 189/750, fol. 237-238. Vgl. Schreiben des Vorsitzenden der Aktion Sorgenkind Dr. Schober an die Stiftung für das behinderte Kind, Bonn, 18.12.1967, BArch B 189/750, fol. 237-238. Schreiben
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»Diese Stiftung war 1967 von den Initiatoren des ›Grünen Kreuzes‹ ins Leben gerufen worden und sollte ursprünglich eine Art Dachorganisation auf nationaler Ebene werden, die allen behinderten Kindern in der Bundesrepublik – insgesamt sind es etwa 500 000 – zugute käme, ähnlich der amerikanischen ›National Foundation‹ (›March of Dimes‹), die in den drei Jahrzehnten ihres Bestehens mehr als 1.6 Milliarden Mark sammelte. Aber solche Visionen sind inzwischen verflogen. Beispielhaft verdeutlicht die Entwicklung dieses Projektes, wie sehr in Deutschland die Bereitschaft zur Hilfe durch eifersüchtige Spannung zwischen den verschiedenen Wohlfahrtsverbänden behindert wird; und sie belegt überdies eine wenig noble Denkweise der deutschen Pharma-Industrie.«266
So sehr die Stiftung versuchte, ihren Vertretungsanspruch für alle Kinder mit Behinderung verständlich zu machen, so sehr richtete sich der Fokus der breiten Öffentlichkeit auf den Contergan-Fall selbst. Welcher Eindruck dadurch in der Presse entstand, machte DER SPIEGEL deutlich: »Und wiederholt wurde den Contergan-Eltern sowohl vom Gesundheits- wie vom Familienministerium zugesichert, sie könnten mit Unterstützung aus der ›Stiftung für das behinderte Kind‹ (Schirmherrin: Käte Strobel) rechnen – aus jener Stiftung also, die sich nun ganz von der Hilfe für Contergan-Kinder abgewandt hat; auch dies also für die Eltern ein Irrweg im Bonner Labyrinth.«267
Fassen wir zusammen: Anfang der 1960er Jahre versuchte das Gesundheitsministerium unter Elisabeth Schwarzhaupt, sich an der sprachlichen Aushandlung des Contergan-Falles zu beteiligen – gegen die mediale Sprachpolitik. Das
von Döll Stiftung für das behinderte Kind an Dr. Schober Aktion Sorgenkind, Marburg/Lahn, 12.01.1968, BARch B 189/750, fol. 239-241, hier fol. 240. G. Lingelbach, Konstruktionen von ›Behinderung‹, ab S 129. Vgl. Schreiben des Bundesverbands der Eltern körpergeschädigter Kinder e.V. an den Bundesminister für Gesundheitswesen Käte Strobel, Heidelberg, 21.05.1968, BArch B 189/750, fol. 276278. 266 »Konten gesperrt«, in: DER SPIEGEL, Nr. 17 (1969), S. 66-67. Mehr noch, DER SPIEGEL zeichnet ein düsteres Bild: Die versprochenen Hilfen der industriellen Größen wie Bayer, Hoechst und BASF seien nicht eingetroffen. Einzig die Firma Chemie Grünenthal sei mit einer Großspende tätig geworden und Einzelspenden aus der Industrie seien eingetroffen. Die Hoffnung der Eltern auf eine weitere Institution, die ihnen finanzielle Hilfe zukommen lassen konnte, war damit schnell passé. Siehe dazu »Konten gesperrt«, in: DER SPIEGEL, Nr. 17 (1969), S. 67. 267 »Konten gesperrt«, in: DER SPIEGEL, Nr. 17 (1969), S. 76.
Politische Diskurslogiken | 259
Ringen um Begriffe und Worte war auch ein Ringen um die Deutungshoheit. Das Bundesgesundheitsministerium konnte der medialen Aushandlung des Kollektivsymbols Contergankind jedoch kein äquivalentes Deutungsangebot entgegensetzen. Die Orientierung an wissenschaftlichen Begriffen wie z.B. der Dysemelie war viel zu abstrakt und konnte sich weder in der medialen Aushandlung, noch in der politischen Sprachweise durchsetzen. Verschärft wurde die Debatte durch die propagandistische Übernahme des Themas Contergans durch die DDR, die den Contergan-Fall und die politische Zurückhaltung des westdeutschen Ministeriums ausnutzte. Gleichzeitig weitete sich der Akteurskreis immer mehr aus. Journalisten, Eltern und Mediziner stritten öffentlich um Worte. Die Politiker rangen eher intern um angemessene Begriffe. Elternverbände übernahmen einen zunehmend offensiven Part in der Aushandlung, nutzten die politische Lethargie für ihre Aushandlungsstrategie. Sprachlich scheiterten alle Versuche, den Begriff Contergan aus der politischen und der medialen Sprache auszuschließen.
6
Die »Unübersetzbarkeit« des Kollektivsymbols in die Logik des Rechts
Seit Dezember 1961 ermittelte die Aachener Staatsanwaltschaft gegen die Firma Chemie Grünenthal, und die Öffentlichkeit verband mit diesem Verfahren die Hoffnung, es werde Gerechtigkeit für die betroffenen Familien bringen und die Frage nach Schuld und Verantwortung endgültig klären. Alle Augen waren auf die Aachener Justizbehörde gerichtet. Die lange Dauer des Untersuchungsverfahrens und die abwartenden Aussagen der Staatsanwaltschaft führten nicht dazu, dass das Vertrauen in die Justiz gestärkt wurde. Rund sieben Jahre nach Einleitung des Untersuchungsverfahrens begann schließlich doch noch der Prozess in Alsdorf bei Aachen. Unter der Beobachtung zahlreicher Journalisten, Nebenkläger und ›Experten‹ eröffnete der Richter das Verfahren.1 Die hier vorgestellte Analyse des Gerichtsverfahrens zeichnet nicht die juristische Verhandlung nach. Dies wurde bereits von Niklas Lenhard-Schramm in seiner Dissertation geleistet.2 Im Mittelpunkt stehen stattdessen die unterschiedlichen Erwartungen der Akteure und ihre sprachlichen Verhandlungen des Kollektivsymbols: Juristen, die sich den Herausforderungen eines solchen Prozesses stellen mussten; Mediziner, die nun erneut ihren Expertenstatus als Gutachter unter Beweis stellen konnten; Journalisten, die auf eine schnelle Verurteilung hofften und betroffene Familien, die Gerechtigkeit für ihre Kinder einforderten. Sie alle gingen mit unterschiedlichen Erwartungen an das Verfahren heran und benutzten unterschiedliche Sprachmuster: Die Juristen verwendeten ein ihnen gebräuchliches für die öffentliche Aushandlung jedoch nur schwer verständli-
1
Zum Gerichtsprozess siehe C. Schütze, Ein Schlafmittel weckt die Welt; A.H. Günther, Ein »Jahrhundertprozess« oder »Justitias Blamage«?; W. Freitag, Contergan, S. 11; S. 34; S. 50.
2
Vgl. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, insbesondere Kapitel 3.
262 | Sprechen über Contergan
ches Sprachrepertoire, das von Journalisten übersetzt werden musste. Die medizinischen Gutachter konzentrierten sich auf ihre wissenschaftliche Forschung, die ebenfalls nur schwer verständlich war. Journalisten und Eltern agierten mit dem über Jahre hinweg eingeübten Sprachmuster: Sie verwendeten das Kollektivsymbol Contergankind, fragten nicht mehr nach der genauen Kausalität zwischen Contergan und den Nebenwirkungen und agierten frei von den rigiden juristischen Zwängen. Das Kollektivsymbol wurde also von Journalisten und Eltern in Erwartung eines »gerechten Urteils« mit dem Gerichtsverfahren in Verbindung gebracht. Sie mussten jedoch erkennen, dass all ihr Leid, alle Schuldvorwürfe, all die politischen Versäumnisse mit dem juristischen Sprachschatz nicht verhandelt werden konnten. Vielmehr diskutierte das Gericht erneut die wissenschaftliche Tatsache Contergan, dieses Mal allerdings aus juristischer Sicht. Das erschwerte einerseits die Arbeit der Richter und Anwälte, weil sie den öffentlichen Ansprüchen nicht gerecht werden konnten, andererseits beeinflusste es die Berichterstattung der Presse. Die Diskrepanz zwischen den streng rechtlichen Abläufen und den emotional unterfütterten Erwartungen der Presse, sowie das Fehlen fundierter juristischer Kenntnisse bei Journalisten und Beobachtern führten zu einer angespannten Stimmung im Gerichtssaal. Eine breite öffentliche Berichterstattung über Gerichtsverfahren war für die westdeutsche Öffentlichkeit nicht neu. Besonders die »Auschwitzprozesse« in Frankfurt oder der Eichmann-Prozess in Israel hatten die Bundesbürger mit spektakulären Strafverfahren vertraut gemacht.3 Neu war allerdings der Gegenstand des Verfahrens, also die Frage, ob die leitenden Mitarbeiter der Firma Chemie Grünenthal Verantwortung für den Contergan-Fall trugen. Ein Medikament und seine Hersteller standen vor Gericht. Im Vorfeld des Prozesses und auch während der Gerichtsverhandlung verzahnten sich die zahlreichen Diskursstränge, die sprachlich im Begriff des Contergankindes zusammenfanden: Medizinische ›Experten‹ trugen die wissenschaftlichen Debatten um komplexe embryologische Zusammenhänge in den Gerichtssaal. Die Juristen übersetzten deren Erzählungen in ihre eigene Sprache. Aber wie sollte die Presse agieren? Bestand deren Aufgabe allein in der Bericht-
3
Siehe zur medialen Berichterstattung des Eichmann-Prozesses: Peter Krause, Der Eichmann-Prozess in der deutschen Presse. Frankfurt am Main 2002. Zu weiteren Prozessen in der Presse siehe: Jörg Osterloh/Clemens Vollnhals (Hg.): NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR, Göttingen 2011 (= Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, Band 45).
Die »Unübersetzbarkeit« des Kollektivsymbols | 263
erstattung? Zwischen bewusster Beeinflussung und entschiedener Neutralität schwankte die Berichterstattung und sie bewies gerade dadurch ihre Macht: Sie argumentierte für oder gegen die Staatsanwaltschaft, sie warb um Offenheit gegenüber den Angeklagten oder sie verurteilte sie von vornherein. Sowohl der Verteidigung als auch der Anklage war bewusst, wie deutungsmächtig die Presse geworden war. Das Gericht agierte dagegen nach ganz eigenen Regeln, die mit den Erwartungen der Öffentlichkeit nur schwer zu vereinbaren waren.
6.1 DAS AUSEINANDERTRETEN VON ÖFFENTLICHEN ERWARTUNGEN UND RECHTLICHEN ERFORDERNISSEN Seit dem Dezember 1961 war die Aachener Staatsanwaltschaft gefordert, Fragen nach Ursachenketten im Zusammenhang mit Contergan und einem möglichen Anspruch auf Schadenersatz zu stellen, Zeugen zu befragen und Beweise zu sichern. Die juristische Untersuchung verlief nur teilweise unter öffentlicher Beobachtung. Unterstützung erhielt die Staatsanwaltschaft durch weiteres Personal. Im September 1962 wurde eine Sonderkommission des Landeskriminalamtes NRW gegründet, genehmigt vom Innenministerium NRW und von dem Leiter des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamtes.4 Mit jedem Jahr, das verstrich und in dem kein Gerichtssaal betreten wurde, nahm der Druck von außen zu. 1965 erklärte das nordrhein-westfälische Justizministerium öffentlich, die Untersuchung im Contergan-Fall werde weiter fortgesetzt. Grund für diese Presseerklärung waren Zweifel an der korrekten Untersuchung, die Horst Frenkel und seine Interessengemeinschaft (Interessengemeinschaft für Contergan-Geschädigte) in der Presse geäußert hatten. Sie glaubten, »daß mächtige Interessengruppen versuchten, ›eine Vertuschung der ganzen Contergan-Affäre‹ zu erreichen.«5 Das Justizministerium stellte sich hinter die Aachener Staatsanwaltschaft. Allein das umfangreiche Material habe bisher eine
4
Vgl. Abschrift aus den Akten 4 KMs 1/68 (Contergan-Verfahren), 4 Js 987/61, LAV NRW R, Gerichte Rep. 021 Nr. 912 (Beiakten F), Bd.1 1 Bl. 027-028, S. 1-2, hier S. 2.
5
Landesregierung NRW, Landespresse- und Informationsstelle, III – 155./3./65, Düsseldorf, 25.03.1965, Pressenotiz, Abschrift der Erklärung, LAV NRW R, NW 372 Nr. 210. A.H. Günther, Ein »Jahrhundertprozess« oder »Justitias Blamage«?, S. 202-203.
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Anklageerhebung unmöglich gemacht, hunderte Zeugen seien gehört worden und es stünden noch Gutachten aus.6 Neben dem Vorwurf der Verfahrensverschleppung musste sich das Justizministerium in Düsseldorf auch mit kritischen Fragen zur Aachener Praxis des sogenannten Schlussgehör auseinandersetzen. Im SPIEGEL resümierte der Gerichtsreporter Gerhard Mauz dieses Vorgehen als eher unglücklich: »Unzulässige Beeinflussung in der Sache Contergan lassen sich für die Vergangenheit nicht nachweisen. Wieweit die Staatsanwaltschaft selbst genötigt war, ihre Arbeit immer wieder zu überprüfen, neu zu gliedern, zu korrigieren und umzustellen – das ist eine interne Angelegenheit der Staatsanwaltschaft. Die großen Schwierigkeiten, vor denen sie stand, werden bald offen erörtert werden können.«7
Wie schwer dem Autor die Beurteilung der Staatsanwaltschaft gefallen war, bezeugt ein Brief, den er zusammen mit einem Vorabexemplar der Ausgabe DER SPIEGEL an die Oberstaatsanwaltschaft geschickt hatte. Entschuldigend erklärt er darin, sein Artikel solle nicht als »eine voreilige oder vorlaute Einmischung in eine Angelegenheit«8 verstanden werden, die die Staatsanwaltschaft betreffe. Im Gegenteil: Sein juristisches Verständnis wolle er nutzen, um »Mißverständnissen«9 entgegenzuwirken.10 Neben medizinischen waren nun auch juristische ›Experten‹ gefragt, die Geschehnisse für Laienleser einzuordnen und zu erklären. So wurden die Eröffnung
6
Vgl. ebd. und Schreiben aus dem NRW Justizministerium, unterschrieben von Simon an den Generalstaatsanwalt in Köln und den Leitenden Oberstaatsanwalt in Aachen, Düsseldorf, 26.03.1965, 4110 E – III B. 6310, S. 1-3, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 326a. Im Dezember 1966 wandte sich Frenkel gemeinsam mit dem Rechtsanwalt Bretz an das Justizministerium. In ihrem Schreiben kritisierten sie die lange Dauer des Untersuchungsverfahrens und drängten auf den baldigen Beginn des Gerichtsverfahrens, siehe dazu N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 691.
7
Gerhard Mauz, Bis zum nächsten Schicksalsschlag, in: DER SPIEGEL, Nr. 53 (1966), S. 37-39, hier S. S. 39.
8
Brief von Gerhard Mauz an den Oberstaatsanwalt Dr. Gierlich, Aachen, 23.12.1966, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 327a.
9
Ebd.
10 Vgl. ebd.
Die »Unübersetzbarkeit« des Kollektivsymbols | 265
des Hauptverfahrens im April 196711 wie auch die Rückgabe der Anklageschrift an die Staatsanwaltschaft öffentlich diskutiert.12 In der Berichterstattung hielten nun Neologismen wie »Contergan-Anklageschrift«13 oder auch »Contergan-Prozess«14 Einzug, die sich an dem Kollektivsymbol Contergankind orientierten. Das Kollektivsymbol selbst wurde sprachlich weiter ausdifferenziert und blieb weiterhin anschlussfähig. Für besondere Aufregung sorgte die Rückgabe der Anklageschrift an die Staatsanwaltschaft im Dezember 1967.15 Das Gericht erklärte, es gebe einige sprachliche Bedenken in der Formulierung der Anklageschrift, sodass sie an die Staatsanwaltschaft zurückgeleitet worden sei. Daraufhin meldete sich der Bundesverband der Eltern körpergeschädigter Kinder – Contergankinder-Hilfswerk e.V. zu Wort und zeigte sich enttäuscht über »die erneute Verzögerung im Contergan-Verfahren«.16 Der Aufschub wurde als Versagen des Justizsystems ge-
11 Vgl. Hp, Schritt im Verfahren Contergan, in: AACHENER NACHRICHTEN, 01.04.1967, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 311, 296001. 12 Vgl. Dpa, »Bedenken gegen Formulierungen«. Gericht reicht Contergan-Anklageschrift zurück, in: DIE WELT, 20.12.1967, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 311, 296005; Contergan-Anklage ruht, in: BREMER NACHRICHTEN, 20.12.1967, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296044; Contergan-Verfahren weiter verzögert. Das Gericht beanstandete Formulierungen in der Anklageschrift, in: BADISCHE ZEITUNG,
20.12.1967, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296046; Weitere Verzö-
gerung im Contergan-Verfahren. Richterliche Bedenken gegen Formulierungen der Anklageschrift, in: FAZ, 20.12.1967, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296047; Contergan-Anklage wurde zurückgegeben, in: LÜBECKER NACHRICHTEN, 20.12.1967, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296050. 13 Dpa, »Bedenken gegen Formulierungen«. Gericht reicht Contergan-Anklageschrift zurück, in: DIE WELT, 20.12.1967, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 311, 296005. 14 Horst Pomsel, 25 Mikrofone im Gerichtssaal, in: AACHENER NACHRICHTEN, 03.04.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 311, 296224; Justizminister in Alsdorf. Es ging um Contergan-Prozeß, in: AACHENER NACHRICHTEN, 10.04.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296227. 15 Siehe A.H. Günther, Ein »Jahrhundertprozess« oder »Justitias Blamage«?, S. 203. 16 Upi, Eltern von Contergan-Kindern enttäuscht, in: HEIDENHEIMER ZEITUNG, 20.12.1967, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 311, 296006. Ähnliche bzw. dieselbe Meldung in WESTDEUTSCHER ALLGEMEINEN ZEITUNG, 20.12.1967, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296007; SCHWÄBISCHE DONAUZEITUNG, 20.12.1967, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296008 und HEILBRONNER
266 | Sprechen über Contergan
wertet, das nicht in der Lage sei, die Untersuchung in vertretbarer Zeit zum Abschluss zu bringen. »›Niemand kann mehr verstehen, daß es einer anklagenden Behörde nicht möglich sein soll, innerhalb von fünf Jahren ein so fundiertes Ermittlungsmaterial zusammenzutragen, das zur Entscheidung über die Eröffnung eines Hauptverfahrens in einem so eminent wichtigen Prozeß führen muß.‹«17
Die Presse nahm diesen Vorwurf begierig auf und titelte: »Eltern körpergeschädigter Kinder fragen sich: Hat eine Instanz fünf Jahre lang versagt?«18 Die LÜDENSCHEIDER NACHRICHTEN interpretierten die elterliche Kritik als berechtigten Protest.19 Es war schwierig, rechtsförmigen Abläufe mit den öffentlichen Erwartungen in Einklang zu bringen. Das Gericht beispielsweise erklärte die Rückgabe der Anklageschrift als in der Öffentlichkeit missverstanden20, weil es um Formalien gehe und nichts über den weiteren Verlauf des Verfahrens aussage.21 Doch die fehlende juristische Erfahrung führt dazu, dass die Rückgabe der Anklage mit der Ablehnung des Hauptverfahrens gleichgesetzt wurde.22 Die lan-
STIMME, 20.12.1967, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296009. Siehe auch AUGSBURGER ALLGEMEINE 20.12.1967, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296021; DIE WELT, 20.12.1967, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296041; Eltern sind schwer enttäuscht. Nach fünf Jahren noch kein Hauptverfahren in der Contergan-Affäre, in: SCHWÄBISCHES TAGEBLATT, 20.12.1967, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296053. 17 Upi, Eltern von Contergan-Kindern enttäuscht, in: HEIDENHEIMER ZEITUNG, 20.12.1967, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 311, 296006. 18 AP, Contergan-Affäre wirbelt wieder Staub auf. Eltern körpergeschädigter Kinder fragen sich: Hat eine Instanz fünf Jahre lang versagt?, in: SIEGENER ZEITUNG, 20.12.1967, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 311, 296010. 19 Vgl. Upi, Eltern von Contergan-Kindern protestieren, in: LÜDENSCHEIDER NACHRICHTEN,
20.12.1967, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 311, 296018.
20 Eigener Bericht: Contergan-Verfahren geht weiter. Noch keine Entscheidung über Eröffnung des Hauptverfahrens getroffen, in: AACHENER NACHRICHTEN, 19.12.1967, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 311. 21 Vgl. ebd. 22 Vgl. Geh, Anklage zurückgeschickt, in: BILD, 10.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 311, 296055. Über das erneute Einreichen der Anklageschrift berichteten auch folgende Zeitungen: FRANKFURTER RUNDSCHAU, 10.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296056; BERGEDORFER ZEITUNG (Hamburg),
Die »Unübersetzbarkeit« des Kollektivsymbols | 267
ge Wartezeit und die Rückgabe der Anklageschrift führten deshalb zu erheblicher öffentlicher Unruhe: »Contergan und kein Ende. Nun hat also die Staatsanwaltschaft in Aachen wieder die Eröffnung der Hauptverhandlung beantragt, die immer noch in weiter Ferne ist. Bei allem Verständnis für die nötige juristische Genauigkeit: Wie lange soll das nun noch weiterge-
10.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296057; HEILBRONNER STIMME, 10.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296058; HILDESHEIMER
ALLGEMEINE ZEITUNG, 10.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr.
311, 296059; GENERAL-ANZEIGER (Wuppertal), 10.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296060; WESTDEUTSCHE ALLGEMEINE, 10.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296061; SCHWEINFURTER TAGBLATT, 10.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296062; RECKLINGHÄUSER ZEITUNG, 10.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296063; RHEIN-ZEITUNG (Koblenz), 10.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296064; REMSCHEIDER
GENERAL-ANZEIGER, 10.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr.
311, 296065; SOLINGER TAGEBLATT, 10.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296066; WESTFÄLISCHE NACHRICHTEN (Münster), 10.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296067; ISERLOHNER KREISANZEIGER, 10.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 196068; WESTDEUTSCHE ALLGEMEINE (Bochum), 10.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296069; WESTFALENPOST
(Hagen), 10.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296071;
MÜNSTERSCHE ZEITUNG, 10.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296076; NORDWEST-ZEITUNG (Oldenburg), 10.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296077; MAIN-POST (Würzburg), 10.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311 296081; NRZ, 10.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296082; RUHR-NACHRICHTEN, 10.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296083; HANNOVERSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG, 10.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296086; PFORZHEIMER ZEITUNG, 11.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296099; SÜDWEST PRESSE Tübingen, 11.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296100; HEIDELBERGER TAGEBLATT, 11.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296102; OLDENBURGISCHE
VOLKSZEITUNG, 11.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311,
296104; HANNOVERSCHE PRESSE, 11.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296105; MANNHEIMER MORGEN, 11.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296106; BREMER NACHRICHTEN, 11.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296107; FAZ, 13.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296110; A.H. Günther, Ein »Jahrhundertprozess« oder »Justitias Blamage«?, S. 203.
268 | Sprechen über Contergan
hen? Über fünf Jahre hat man ermittelt. Aus den mißgebildeten Contergan-Babys werden allmählich Jugendliche. Inzwischen blüht und gedeiht die Arzneimittelfabrik, die das Contergan-Schlafmittel produzierte. Man kann ihr nicht ans Leder, solange kein Urteil vorliegt. So ist das in einem Rechtstaat.«23
Der Vorsitzende des Bundesverbandes nutzte zu Beginn des Jahres 1968 seine Position, um in der Presse über seine Erwartungen an den Prozess zu berichten. Hatte die Rückgabe der Anklageschrift 1967 noch zur Kritik geführt, lobte er nun die Justiz und ihr Vorgehen: »Man ist also doch einen Schritt weiter. Schließlich ist zu bedenken, daß alle mit dem Prozeß befaßten sich durch eine Wand von 245 Leitzordnern durcharbeiten müssen. Die Ungeduld der Betroffenen ist verständlich, aber es geht jetzt wirklich nicht mehr darum, schnell eine Entscheidung zu treffen, es geht vor allem um die richtige Entscheidung. Das Fazit der Verhandlung kann in erster Linie der Verhinderung ähnlicher Katastrophen dienen.«24
Für Eltern und Journalisten waren die komplexen Sachverhalte trotz allem nur schwer verständlich. Vieles von dem, was zum juristischen Alltag gehörte, musste erst erklärt und erlernt werden. Auch hier übernahm die Presse die Übersetzerrolle, lieferte aufgrund ihrer eigenen Unkenntnis zum Teil jedoch auch missverständliche oder falsche Übersetzungen, wie an der Rückgabe der Anklageschrift gesehen. Der Gerichtsprozess sprengte in Größe, Dauer und Aufwand alle bisher bekannten Ausmaße.25 So wurde der Richter zu einem »Manager« von »235 prallvolle[n] Aktenordner[n]«; der Verwaltungsdezernent mutierte zu einem »juristischen Generalstabschef«.26 Dies führte schließlich dazu, dass der Journalist Karl-
23 Contergan, in: SOLINGER TAGEBLATT, 10.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 311, 296088; GENERAL-ANZEIGER (Wuppertal), 10.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 311, 296098. Siehe dazu auch A.H. Günther, Ein »Jahrhundertprozess« oder »Justitias Blamage«?, S. 203. 24 Ebd. 25 Contergan-Prozeß soll im Mai eröffnet werden. 400 Geschädigte haben sich als Nebenkläger gemeldet, in: AACHENER NACHRICHTEN, 20.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 196121. 26 Thorsten Scharnhorst, Ein Richter mußte zum Manager werden. Contergan-Prozeß erfordert riesige Vorbereitungen, in: AACHENER VOLKSZEITUNG, 14.02.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 311, 296111.
Die »Unübersetzbarkeit« des Kollektivsymbols | 269
Heinz Krumm gar von einer Grenzsprengung traditioneller Rechtsprechung sprach und die Chancen auf ein Urteil zugunsten der Betroffenen eher gering einschätzte.27 Er resümierte resignierend: »Der bittere Schluß: Der Fall ›Contergan‹ sprengt die Grenzen der Rechtsprechung. Er ist, wie Experten sagen, nicht justiziabel. Sein Vorteil mag darin liegen, daß vor aller Öffentlichkeit der Konflikt zwischen Geschäft und Gesundheit aufgezeigt wird. Ein Konflikt, den viele Jahre die Lobby der pharmazeutischen Industrie und der Staat gemeinsam duldeten. Denn die einen wünschten und die anderen schufen eine Arzneimittelgesetzgebung, die jederzeit eine neue Contergan-Tragödie wieder entstehen lassen kann.«28
Doch nicht nur die Rückgabe der Anklageschrift, auch die besonderen organisatorischen Umstände prägte die Darstellung des Prozesses in der Öffentlichkeit. Die Meldung, dass das Verfahren schließlich im Mai 1968 eröffnet werden sollte, wurde bundesweit publiziert.29 Mit der Ankündigung des Verfahrens rückte
27 Vgl. Karl-Heinz Krumm, Für die Opfer der Tragödie kaum eine Chance. Der Fall Contergan sprengt die Grenzen der traditionellen Rechtsprechung, in: FRANKFURTER RUNDSCHAU, 15.02.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296112. 28 Ebd. Siehe dazu auch A.H. Günther, Ein »Jahrhundertprozess« oder »Justitias Blamage«?, S. 204. 29 Vgl. hier nur eine Auswahl der publizierten und eingesehenen Quellen: ConterganProzeß beginnt im Mai. Aachener Gericht beschließt Eröffnung des Hauptverfahrens, in: DIE WELT, 20.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296126; »Contergan-Prozeß« gegen neun Angeklagte wird im Mai beginnen. 29 Sachverständige und 350 Zeugen. Prozeß dauert ein Jahr, in: WESTDEUTSCHE ALLGEMEINE, 20.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296127; Verfahren im Fall Contergan gegen neun Angeklagte eröffnet. Erste Nervenschäden schon bei der klinischen Überprüfung?, in: KIELER NACHRICHTEN, 20.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296132; Contergan-Prozeß beginnt im Mai. Aachener Gericht beschließt Eröffnung des Hauptverfahrens, in: DIE WELT, 20.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296134; Contergan-Prozeß im Mai. Hauptverfahren gegen Schlafmittel-Hersteller wird eröffnet, in: NORDSEE-ZEITUNG, 20.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296136; Der Prozeß um Contergan kann beginnen. Verfahren soll bis 1970 dauern. Neun Angestellt angeklagt, in: OBERBERGISCHER ANZEIGER,
20.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296137; 50 Conter-
gan-Kinder als Zeugen für die Anklage. Nach sechsjährigen Ermittlungen beginnt der Mammutprozeß im Mai – 12 000 Geschädigte in Europa – 29 Sachverständige geladen, in: NÜRNBERGER ZEITUNG, 20.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr.
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die Herstellerfirma in den Mittelpunkt des Interesses. Die Angeklagten, ihre Positionen in der Firma, ihre Namen und Karrieren wurden in Tageszeitungen abgedruckt, wurden zu Stellvertretern für die Firma Chemie Grünenthal. Die abstrakte Diskussion über die Nebenwirkungen des Medikaments wurde nun personalisiert.30
311, 296142; Ab Mitte Mai: Contergan-Prozeß, in: NÜRNBERGER NACHRICHTEN, 20.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296143; Contergan-Prozeß im Mai. Mehrere tausend Kinder kamen mißgebildet zur Welt, in: SÜDWEST PRESSE, 20.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296144; Mitte Mai beginnt der Contergan-Prozeß. Aachener Landgericht beschließt die Eröffnung des Hauptverfahrens, in: SCHWEINFURTER TAGBLATT, 20.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296146; Artikel in: ALLGEMEINE ZEITUNG (Mainz), 20.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296147; WIESBADENER TAGBLATT, 20.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296148; Contergan-Prozeß beginnt im Mai. Anklageschrift 900 Seiten stark. Strafkammer eröffnet Hauptverfahren gegen alle Angeschuldigten, in: FRANKFURTER RUNDSCHAU, 20.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296150; Nach sechs Jahren Prozeß um Contergan. Neun Mitarbeiter der Herstellerfirma im Mai auf der Anklagebank, in: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 20.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296152; Artikel in: WESTFÄLISCHER ANZEIGER UND KURIER, 20.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 311, 296153. 30 Interessant aber für die Untersuchung des Sprachwandels nur von geringer Bedeutung ist die Rolle des nordrhein-westfälischen Justizministers Neuberger, der vor seiner Ernennung als Verteidiger für einen Mitarbeiter der Firma Chemie Grünenthal arbeitete. Auch der Firmeninhaber Hermann Wirtz wollte sich von Neuberg juristisch vertreten lassen, hatte sogar das Mandat seines Anwalts gekündigt, um zu ihm zu wechseln. Als Neuberg aber vier Wochen später zum nordrhein-westfälischen Justizminister vereidigt wurde, legte er mit seinem neuen Amt seine Aufgaben als Rechtsanwalt nieder. Ein möglicher Interessenkonflikt war also nicht zu verleugnen. In der Berichterstattung wurde der Justizminister als »Mann seines Ranges« bezeichnet, der sich von dem Contergan-Fall distanzieren werde. Es gab aber auch kritische Töne, die darauf drängten, die Kanzlei des Justizministers solle das Mandat niederlegen. Siehe dazu beispielhaft: Siehe zum Beispiel ndy, Das Hauptverfahren im »Contergan«-Prozeß eröffnet. Beginn der Verhandlung voraussichtlich im Mai/ Vierhundert Nebenkläger, in: FAZ, 20.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 311, 296160; G. Mauz, in: DER SPIEGEL, Nr. 53 (1966), S. 37-39. S. 38. Siehe zum Fall Neuberger: LenhardSchramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 687-691; S. 887f. Siehe dazu auch A.H. Günther, Ein »Jahrhundertprozess« oder »Justitias Blamage«?, S. 204.
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Im Frühjahr 1968 stand die Organisation des Prozesses unter besonderer Beobachtung. Die Presse interessierte sich für verfahrenstechnische Fragen, berichtete über die große Anzahl an Richtern und Schöffen, die bereitgestellt werden mussten, um zu gewährleisten, dass das Verfahren nicht länger als zehn Tage unterbrochen wird.31 Schnell wurde deutlich, dass die Gerichtsräume nicht geeignet waren, die erwarteten Besucherströme zu erfassen, sodass Alternativen im Aachener Raum gesucht wurden. Fündig wurde man schließlich in der Bergwerksstadt Alsdorf, rund 20 Kilometer von Aachen entfernt. Der dortige Kasinosaal der Zeche Anna wurde durch bauliche Veränderungen zum Gerichtsraum umfunktioniert32 und der Stadtdirektor zeigte sich in der Presse positiv gestimmt über die Verlegung des Verfahrens: »Wir würden es begrüßen, wenn dieser Prozeß nach Alsdorf kommen würde. Durch ihn würde die Bergbaustadt weit über die Grenzen hinaus bekannt.«33 Diese Aussagen sind durchaus kritisch zu bewerten, schließlich versuchte die Stadt Alsdorf werbewirksames Kapitel aus der Verhandlung zu schlagen: »›Trotzdem muß die Stadt Alsdorf von sich aus die Chance nutzen, die ihr mit der Durchführung des Prozesses gegeben ist und die es mit sich bringt, daß Alsdorfs Namen weltweit bekannt wird.‹ Dies erklärte in einem Gespräch Stadtdirektor Dr. Eckert […].«34 Je näher das Gerichtsverfahren rückte, desto mehr Aufmerksamkeit erhielt die Stadt. Gleichzeitig verwies sie darauf, sie wolle »Rummel und Geschäftemacherei« auf Kosten der Betroffenen verhindern.35 Dennoch wurde die Gelegen-
31 Vgl. Ndy, Minuziöse Vorebreitung eines Verfahrens. Der Contergan-Prozeß wird einer der längsten und teuersten / Zweite Besetzung nötig, in: FAZ, Nr. 49, 27.02.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 311, 296212. 32 Vgl. Horst Pomsel, 25 Mikrofone im Gerichtssaal. Umfangreiche Vorbereitungen für Contergan-Prozeß in Alsdorf, in: AACHENER NACHRICHTEN, 03.04.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 311, 296224. Siehe dazu auch Vgl. A.H. Günther, Ein »Jahrhundertprozess« oder »Justitias Blamage«?, S. 204. 33 Helmut Pusch, Contergan-Prozeß in Alsdorf? Minister wird noch entscheiden, in: AACHENER NACHRICHTEN, 20.02.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 311, 296203. 34 Helmut Pusch, Contergan-Prozeßstab der Verwaltung., in: AACHENER NACHRICHTEN, 02.03.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 311, 296215. 35 Vgl. M.F., Gegen jeden Rummel beim Contergan-Prozeß. Die Betreuung der am Prozeß Beteiligten betrachtet die Stadt Alsdorf als vordringliche Aufgabe, in: AACHENER VOLKSZEITUNG, 09.03.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 311, 296219.
272 | Sprechen über Contergan
heit genutzt, die Stadt baulich aufzuwerten.36 Auch der neue Justizminister besuchte Alsdorf und betonte, er werde keinem Verhandlungstag beiwohnen – ein Versuch seinerseits, den möglicherweise aufkommenden Vorwurf der Befangenheit klar von sich zu weisen und Neutralität auszustrahlen.37 Bereits vor Beginn des Verfahrens wurde der Aufwand von der Presse als außergewöhnlich bewertet. Das trug zu den hohen Erwartungen bei, die an das Gericht gestellt wurden. Im Februar 1968 hielt eine Journalistin der FAZ fest: »Schon jetzt steht fest, daß der Contergan-Prozeß in mehrfacher Hinsicht ein Prozeß der Superlative werden wird. Er dürfte die Keime in sich tragen, der am längsten dauernde zu werden. Er wird auch einer der schwierigsten, weil das Gericht sich weitgehend auf Gutachten der Mediziner stützen muß, die nach Lage der Dinge durchaus noch nicht einig sind über die Wirkungsweise des Schlaf- und Beruhigungsmittels Contergan, das für Nervenschäden bei Erwachsenen und Mißbildungen bei Neugeborenen verantwortlich gemacht wird. Das Contergan-Verfahren wird aber mit Sicherheit eines der teuersten, zumindest der Nachkriegszeit, wenn nicht überhaupt. Fünf Jahre dauerten allein die Ermittlungen des bei der Staatsanwaltschaft gebildeten Sonderdezernats, dem zeitweilig auch Beamte des Bundeskriminalamtes beigeordnet waren.«38
Die Häufung von Superlativen wie »Mammutprozeß«39 oder »Jahrhundertprozess«40 drängten den eigentlichen Anlass für die juristische Auseinander-setzung zurück und machten das Verfahren zum öffentlichen Spektakel. Und obwohl die Zeitgenossen durchaus große Gerichtsprozessen erlebt hatten, entstand hier eine juristische Ausnahmesituation:
36 Vgl. Ndy, Alsdorf rüstet sich für den Contergan-Prozeß. Beginn voraussichtlich am 27. Mai / Dauer mindestens ein Jahr, in: FAZ, 03.04.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 311, 296223. A.H. Günther, Ein »Jahrhundertprozess« oder »Justitias Blamage«?, S. 204. 37 Vgl. ebd. 38 Ndy, Minuziöse Vorbereitung eines Verfahrens. Der Contergan-Prozeß wird einer der längsten und teuersten / Zweite Besetzung nötig, in: FAZ, Nr. 49, 27.02.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 311, 296212. 39 Hildegard Gehlen, Richter sitzen auf der Ersatzbank, in: BILD, 01.03.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 311, 296214. 40 Hans Wüllenweber, Contergan-Bossen droht Zuchthaus, in: EXPRESS, 02./03.03.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 311, 296217.
Die »Unübersetzbarkeit« des Kollektivsymbols | 273
»Die Vorbereitungen für den Contergan-Prozeß übertreffen alles bisher Dagewesene. Ob Nürnberger Prozeß gegen Göring und Genossen, ob Eichmann- oder Auschwitz-Prozeß – keinem Gericht lag je ein solch umfangreiches und kompliziertes Anklagematerial vor.«41
Über die Vorbereitungen hinaus machte sich bereits ein inhaltliches Problem bemerkbar: Wie sollten Juristen ein Urteil fällen, da doch selbst Mediziner keine eindeutigen Antworten geben konnten? Schwierig war vor allem, dass Anklage und Verteidigung jeweils mit ›Experten‹ aufwarteten, die die jeweilige Argumentation belegten. Der jahrelang geführte medizinische Streit der Fachgemeinschaft um die Kausalität verlagerte sich nun also in den Gerichtssaal: Die medizinische Fachöffentlichkeit führte weiterhin einen Deutungskampf um die Monokausalität von Thalidomid.42 Erwartet wurde, dass der Prozess über die Grenzen der Bundesrepublik die »Weltöffentlichkeit«43 erreichen werde: »Der Aachener Landgerichtspräsident Dr. Mainz ist der Meinung, daß der Prozeß, was die Zahl der Beteiligten und das spezielle Interesse der Weltöffentlichkeit anbetrifft, einmalig im deutschen Justizwesen sein dürfte. Man schätzt die Dauer der Verhandlungen auf mindestens zwei Jahre.«44
Bereits im Vorfeld des Verfahrens trafen Gerichtsreporter in Alsdorf ein. Sie sollten tagtäglich über den Prozess berichten und ihre juristische Expertise für die Berichterstattung nutzbar machen.45 Zudem besuchten Medizinjournalisten das Aachener Gericht, um für Fachzeitschriften Zusammenfassungen des Gerichtsverfahrens zu schreiben.46 Die Arzneimittelkommission der Deutschen
41 Kinder ohne Arme und Beine als »Beweismittel« in Mammutprozeß, in: FRANKENPOST, 25.05.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 312b, 297165. 42 W. Freitag, Contergan, S. 39-45. 43 Contergan-Prozeß soll im Mai eröffnet werden, in: AACHENER NACHRICHTEN, 20.01.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 311, 296121. 44 Ebd. 45 So zum Beispiel Hans Wüllenweber, Gerhard Mauz, Karl-Heinz Krumm. 46 Vgl. Artikel zu Georg Schreiber in der Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Schreiber_(Journalist) vom 13.02.2018; Alfred Püllmann, Contergan. Ein noch immer umstrittenes biologisches Phänomen, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 05.05.1968. Dr. Bernhard Knoche für die Medizinisch-Pharmazeutische Studiengesellschaft, der vom Gesundheitsamt Düsseldorf vom Land NRW als Berichterstatter bestellt war. Siehe dazu BArch Koblenz B 189 Nr. 11749. Auch das Bundesministerium für Gesundheit überlegte, einen Arzt als Be-
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Ärzteschaft erbat bei der Bundesärztekammer Unterstützung durch einen Prozessbeobachter: »Der Beobachter sollte auch der Tagespresse sachkundige Hinweise geben, damit die Öffentlichkeit vor beunruhigenden oder die Ärzteschaft diskriminierenden Darstellungen geschützt wird.«47 Vor Prozessbeginn erreichte Käte Strobel eine Anfrage. In einer geplanten Hörfunksendung sollte Strobel als Bundesgesundheitsministerium zusammen mit einem Vertreter der Staatsanwaltschaft, einem Verteidiger und Wissenschaftler diskutieren. Im Ministerium war man über die Anfrage verständlicherweise wenig erfreut. Strobel solle nicht, so die Position des Ministeriums, in ein schwebendes Verfahren eingreifen. Man
obachter nach Alsdorf zu schicken. Vgl. BArch B 189 N. 11749 und BArch B 189 Nr. 11740, fol. 539). Prozessinformationen des Bundesverbands der Pharmazeutischen Industrie (vgl. BArch B 189, Nr. 11736-11737) ebenso wie die Therapeutischen Briefe von Grünenthal (vgl. BArch B 189 Nr. 11744). 47 Vgl. Niederschrift über die 8. Sitzung des Vorstandes der Bundesärztekammer am 29./30. März 1968 in Köln-Lindenthal. Zu Punkt 29 TO: »Contergan«- Prozeß, S. 16, BArch B 417/541. Gleichzeitig kristallisierten sich einzelne Akteure heraus, die den Prozess in den nächsten zwei Jahren medial begleiteten, zum Beispiel der Journalist Kurt Joachim Fischer, der im weiteren Verlauf mit dem Journalisten-Ehepaar Wenzel (Dagmar Wenzel publizierte auch unter ihrem Mädchennahmen Lemke) in Konkurrenz trat. So publizierte Fischer zahlreiche Artikel versehen mit seinem Doktortitel. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Kurt_Joachim_Fischer vom 13.02.2018. Das Ehepaar Wenzel verfasste während des gesamten Prozesses ein detailiertes Protokoll, das veröffentlicht vorliegt. Es ist davon auszugehen, dass sie in Verbindung zur Firma Chemie Grünenthal standen. Siehe dazu Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 62 und S. 741; Die Protokolle sind wie folgt publiziert: Dagmar Wenzel/Karl-Heinz Wenzel, Der Contergan-Prozess (I). Verursacht Thalidomid Nervenschäden und Mißbildungen? Bericht u. Protokollauszüge vom 1.-50. Verhandlungstag, Bensheim-Auerbach 1968; Dies., Der Contergan-Prozess (II). Verursacht Thalidomid Nervenschäden und Mißbildungen? Bericht u. Protokollauszüge vom 51.100. Verhandlungstag, Berlin 1969; Dies., Der Contergan-Prozess (III). Verursacht Thalidomid Nervenschäden und Mißbildungen? Bericht u. Protokollauszüge vom 101.-150. Verhandlungstag, Berlin 1969; Dies., Der Contergan-Prozess (IV). Verursacht Thalidomid Nervenschäden und Mißbildungen? Bericht u. Protokollauszüge vom 151.-200. Verhandlungstag, Berlin 1970; Dies., Der Contergan-Prozess (V). Verursacht Thalidomid Nervenschäden und Mißbildungen? Bericht u. Protokollauszüge vom 201.-250. Verhandlungstag, Berlin 1970; Dies., Der Contergan-Prozess (VI). Verursacht Thalidomid Nervenschäden und Mißbildungen? Bericht u. Protokollauszüge vom 251.-283. Verhandlungstag, Berlin 1971.
Die »Unübersetzbarkeit« des Kollektivsymbols | 275
vermutete, es würden weitere Anfragen von Presse und Rundfunk gestellt werden.48 Darüber hinaus sprachen noch andere Gründe gegen eine Beteiligung der Ministerin: Die vom Journalisten vorab eingereichten Fragen waren emotional aufgeladen, eine neutrale und sachliche Beantwortung war kaum möglich. Zudem war die Teilnahme der anderen Personen keinesfalls sicher, und es wäre auch kein Mediziner unter ihnen gewesen.49 Es galt also genau abzuwägen, wie und wann sich das Ministerium zu dem Prozess äußern sollte. Die Firma Chemie Grünenthal hatte unterdessen eine Umfrage bei dem Meinungsforschungsinstitut EMNID beauftragt und die Ergebnisse im Dezember 1967 an das Landgericht weitergeleitet. Es waren 1.004 »Praktiker, Internisten, Gynäkologen, Kinderärzte und Neurologen«50 zu ihren Erfahrungen mit dem Medikament befragt worden. Mit den Umfrageergebnissen untermauerte die Verteidigung ihre Behauptung, Contergan genieße einen guten Ruf in der medizinischen Fachwelt,51 obwohl ihr bewusst war, dass die Umfrage kaum als Beweis dienen konnte, weil sie auf persönlichen Erfahrungen und Einschätzungen beruhte.52 Zusammen mit der Umfrage fertigte ein Professor für Sozialmedizin
48 Vgl. Schreiben von Dr. Stralau an den Herrn Pressereferenten im Hause, Abteilung I. 4. März 1968, Betreff: Hörfunksenkdung »Der Contergan-Prozeß« beginnt, Bezug: Schreiben des Journalisten Karl-Heinz Wenzel vom 1. März 1968, BArch B 189/20854 und BArch B 189/11734. 49 Vgl. Vermerk von Dr. Paul (Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit), Referat I A 5, Bad Godesberg, 04.03.1968, Betr.: Geplante Hörfunksendung: »Der Contergan-Prozeß« beginnt, Bezug: Schreiben des Journalisten K.-H. Wenzel, Berlin, vom 1. März 1968 an Frau Minister, BArch B 189/20854. 50 Retrospektive Beurteilung der »Contergan«-Erfahrung. Eine Repräsentativ-Untersuchung bei Praktikern, Internisten, Gynäkologen, Kinderärzten und Neurologen im Auftrage der Chemie Grünenthal GmbH, Juni 1967, durchgeführt vom EMNIDInstitut, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 228c. 51 Vgl. ebd. Stellungnahme der Angeklagten und Rechtsanwälte zur Anklageschrift, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 228a, hier 228003, S. 2: »Zu Beginn der Befragung ist der Hinweis auf Pressemitteilungen erfolgt, wonach die Staatsanwaltschaft wegen bestimmter Nebenwirkungen des Contergans Anklage beabsichtigte. Bei vielen Ärzten wird sich dadurch die Überzeugung gebildet haben, mindestens neuerdings lägen Beweise für die Verursachung von Nebenwirkungen in nicht vertretbarem Umfange vor.«. 52 Der Fragenkatalog sah wie folgt aus: »1. Wie viele Ärzte verordneten Contergan oder ›Contergan‹ forte?; 2. Wie wird eine Zurückhaltung in der Verordnung von ›Contergan‹ bzw. ein Verzicht auf die Verordnung von ›Contergan‹ begründet?; 3. Welche
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ein Gutachten an, das sich mit den Umfrageergebnissen auseinandersetzte. Es wurde der anwaltlichen Stellungnahme beigelegt:53 »Die EMNID-Umfrage […] geht von einem denkbar ungünstigen Ausgangspunkt aus. Wohl kaum ist in der medizinischen und allgemeinen Presse je eine so heftige Kontroverse geführt worden wie über das Contergan. Obwohl zum Zeitpunkt der Befragung die aktuelle Diskussion über dieses Medikament abgeflaut war, ist doch erst kurz vor der Untersuchung die Öffentlichkeit und mit ihr die Ärzteschaft durch eine Pressemittelung der Staatsanwaltschaft erneut auf dieses Problem hingewiesen worden. Darüber hinaus haben die Interviewer bereits zu Beginn des Interviews und später bei mehreren Fragen nochmals den Befragten vor allem auf negative Aspekte des Contergan hingewiesen […]. Diese absichtlich geschaffene und vom Auftraggeber gesehen ungünstige Ausgangslage der Befragung hat jedoch den Vorteil, daß eine kritische Atmosphäre geschaffen wird, eine sicher objektivere Basis, als man es bei einer völlig neutralen oder mit günstigen Suggestionen versehenen Befragung zu erwarten hätte.«54
Mit dieser Umfrage knüpfte die Firma Chemie Grünenthal an ihre Netzwerkbildung Ende der 1950er an. Die Umfrage wie auch das Gutachten dienten der Verteidigungsstrategie der Firma Chemie Grünenthal, auch wenn die Umfrage kaum beweiskräftig war. Eine ganz andere Absicht verfolgte eine Umfrage des Infratests aus dem Jahre 1969. Darin wurden Testpersonen konkret nach ihrem Wissen über Conterganschädigungen befragt. Ob sie beispielsweise über die Contergankinder infor-
Erfahrungen mit ›Contergan‹ ergaben sich in der eigenen Praxis? Diese retrospektiven Feststellungen ergänzend waren folgende Fragen bezüglich gegenwärtiger Beobachtungen und Einstellungen zu klären: 4. Mit welcher Häufigkeit und aufgrund welcher vermutlichen Ursachen sind zur Zeit sensible Polyneuropathien in der eigenen Praxis festzustellen? 5. Wie beurteilt der Arzt die Hypothese eines kausalen Zusammenhanges zwischen ›Contergan‹ Einnahme während der Frühschwangerschaft und Dysmelie des Kindes aufgrund bisheriger Untersuchungen und Veröffentlichungen?«. Siehe: Retrospektive
Beurteilung
der
»Contergan«-Erfahrung.
Eine
Repräsentativ-
Untersuchung bei Praktikern, Internisten, Gynäkologen, Kinderärzten und Neurologen im Auftrage der Chemie Grünenthal GmbH, Juni 1967, durchgeführt vom EMNIDInstitut. S. 1-4, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 228c, S. 1. 53 Vgl. Gutachten über eine Repräsentativ-Untersuchung bei Ärzten: »Retrospektive Beurteilung der ›Contergan‹-Erfahrung« (EMNID), 15.09.1967, S. 1-13, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 228a, 228006-228013. 54 Gutachten über eine Repräsentativ-Untersuchung bei Ärzten, S. 5.
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miert seien, Bilder der Kinder gesehen hätten oder in persönlichem Kontakt zu betroffenen Familien stünden.55 Neben Fragen zur Einstellung gegenüber Körperbehinderten erfasste die Studie auch die Bewertung der medialen Berichterstattung. Explizit wurde nach Berichten in Tageszeitungen und Illustrierten gefragt. Die Befragten sollten die Presse nach den Kategorien sachlich/neutral oder nicht immer zuverlässig/unsachlich bewerten. Die meisten Befragten waren über das Thema informiert und bereits mit Berichten und Bildern von contergangeschädigten Kindern in Kontakt gekommen. Allerdings zeichnete sich kein eindeutiges Meinungsbild in Bezug auf die Rolle der Presse ab.56 Die Presse, so zeigte nicht nur diese Umfrage, prägte bereits im Vorfeld das Bild des Alsdorfer Prozesses ganz entscheidend mit. Sie erläuterte die Zusammensetzung des Gerichts und gab Hintergrundinformationen, die als Orientierungswissen für das juristische Geplänkel dienen sollten. Doch trotz aller sachlichen Hinweise hielt sie am Begriff des Contergankindes fest. Damit bestärkte sie die Aufwertung des Wortes zum Kollektivsymbol, das neuerlich die Berichterstattung durchzog.
6.2 DIE HOFFNUNGEN AUF EINE GEMEINSAME SPRACHE: DAS KOLLEKTIVSYMBOL CONTERGANKIND VOR GERICHT Wie bereits angesprochen war sich die Presse durchaus bewusst, dass mit dem Prozess ein einzigartiges Medienereignis auf sie zukam. Bereits im April 1968 kommentierte der Nordbayerische Kurier: »Es gibt keinen Zweifel, ein auch international gesehen riesenhafter Prozeß kommt auf die Öffentlichkeit zu und es mögen in den Amtsstuben der Aachener Justiz schon manche Stoßseufzer ausgestoßen worden sein: ›[…] hätten wir uns nur nicht in diesen Fall eingelassen!‹«57
Die Begriffe, mit denen der Prozess beschrieben wurde, die ausführliche Rahmenberichterstattung zu den Geschehnissen in Alsdorf spiegelten die Erwartungen wider, mit denen sich das Gericht konfrontiert sah. Wieder einmal schuf der
55 Vgl. »Contergan«-Studie – Infratest, Juni 1969, BArch B 310/217 56 Ebd., S. 13 ff. 57 Kjf, Contergan-Prozeß im Tanzsaal. Aachens Justiz siedelt um, in: NORDBAYERISCHER KURIER,
05.04.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 312a, 297010.
278 | Sprechen über Contergan
Contergan-Fall eine Situation, die alles Bisherige in den Schatten stellte. DER GENERAL-ANZEIGER aus Bonn bewertete den Prozess deshalb schon vor seinem Beginn als »problematischste[n] Prozeß der deutschen Justizgeschichte. Es hat weder in der Geschichte der deutschen Justiz, geschweige denn in der Medizin einen solchen Prozeß gegeben […].«58 Fast sieben Jahre nach Bekanntwerden der Nebenwirkungen von Thalidomid empfanden die Zeitgenossen den Fall Contergan als Lebenszäsur, als einschneidenden Wendepunkt für die eigene Wahrnehmung von Medikamenten, als Einschnitt in das Leben der betroffenen Familien und als Bruch im gesellschaftlichen Umgang mit ›Arzneimittelkatastrophen‹.59 Das Kollektivsymbol Contergankind prägte die massenmediale Berichterstattung. Es stand für die große Anzahl von geschädigten Kindern und deren Eltern, die nun mit Hilfe des Gerichtsverfahrens Gehör finden wollten und Gerechtigkeit zu erhalten hofften: Feststellung von Schuld und Festlegung von Strafe und Sühne – darauf richteten sich die Erwartungen der Öffentlichkeit. Das Vertrauen in das Gericht war groß. Doch das sah sich mit vielfältigen Problemen konfrontiert. DIE WELTWOCHE kommentierte: »Das Publikum neigt stets dazu, für eine Katastrophe nicht das Schicksal, sondern menschliches Verschulden verantwortlich zu machen. Seine Mehrheit hat das Thalidomid und seine Hersteller längst verurteilt. […] Im Thalidomid-Prozess geht es also nicht nur um juristische und medizinische, sondern vor allem auch um sehr ernste menschliche Probleme. Niemand kann voraussagen, wie er ausgehen wird. Nur eines steht schon heute fest: kein Gerichtsurteil kann die Gefahren aus der Welt schaffen, die mit jeder wissenschaftlichen oder technischen Entwicklung verbunden sind. Das gilt für Medikamente wie für Organtransplantationen, für die Raumschiffahrt wie für die Atomforschung. Dieses Risiko ist der hohe Preis des menschlichen Fortschritts.«60
Andere Zeitungen fragten explizit, welche Rolle die pharmazeutische Industrie und im Besonderen die Firma Chemie Grünenthal im Contergan-Fall gespielt habe. Da sei Aufklärung erforderlich. In diesem Klima öffentlicher Debatten um Schuld und Sühne unterstrich die Anklagevertretung, dass durchaus nicht die ge-
58 Der problematischste Prozeß der deutschen Justizgeschichte, in: GENERAL-ANZEIGER Bonn, 20./21.04.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 312a, 297032. 59 Vgl. W. Pfeiffer, Ein verführerisches Medikament und seine Folgen. Vor dem Contergan-Prozeß immer noch Rätsel, in: RHEINISCHER MERKUR, 24.05.1968. 60 Eric Weiser, Mammutprozess in Deutschland: Thalidomid auf der Anklagebank, in: DIE WELTWOCHE, o.J., LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 312a, 297080.
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samte deutsche Arzneimittelindustrie vor Gericht stünde, sondern ›nur‹ ein Unternehmen mit seinem Führungspersonal.61 Der Gerichtsprozess richte sich keinesfalls gegen die gesamte Industrie, gegen die Herstellerfirma oder gegen den Fortschritt an sich, so berichtete die AACHENER VOKLSZEITUNG, sondern werde lediglich ergründen, ob ein Verschulden durch Einzelpersonen vorgelegen habe.62 Die Vertreter der pharmazeutischen Industrie machten ihrerseits klar, worum es ging. Kein einzelnes Unternehmen sei verantwortlich, schon gar nicht ein ganzer produzierender Forschungsbereich. Was im Falle von Contergan geschehen sei, sei nicht zu verhindern gewesen, ein große Unglück: »Die Marschroute der Industrie ist klar«, schrieb wiederum die AACHENER VOLKSZEITUNG: »Contergan sei kein Skandal, sondern eine Katastrophe, unvorhersehbar und unabwendbar wie ein Naturereignis.«63 Noch aus einer ganz anderen Sicht beobachtete die SAARBRÜCKER ZEITUNG das Verfahren. Sie interessierte nicht die individuelle Schuld einzelner, weil sie annahm, die Frage sei kaum zu beantworten. Viel wichtiger sei es zu fragen, ob geschickte Regelungen eine Wiederholung verhindern könnten: »Selbst wenn es aber gelingen sollte, eindeutig zu beweisen, daß die sogenannten Contergan-Schäden wirklich allein durch Contergan verursacht sind, ist damit natürlich nicht gesagt, daß irgend jemand schuldig ist, das heißt fahrlässig gehandelt hat. So wichtig es ist, dies festzustellen, noch wichtiger ist die Klärung der grundsätzlichen Frage, ob derlei Katastrophen schicksalshaft, unvermeidlich sind oder ob in unserer Arzneimittelprüfung irgend etwas nicht stimmt und ob diese deshalb geändert werden muß.«64
Die AACHENER VOLKSZEITUNG warnte angesichts der Komplexität der rechtlichen Materie ihre Leser davor, im Vorfeld des Verfahrens zu hohe Erwartungen an dessen Ausgang zu knüpfen. Es gehe darum, ein schuldhaftes Verhalten der
61 Vgl. H. Zimmermann, Fünfzig mißgebildete Kinder legen Zeugnis ab, in: MÜNCHENER MERKUR,
25./26.05.1968, S. 3.
62 Vgl. F. Kelsey warnte die USA vor Contergan. Zeugen unterwegs nach Aachen. Zuerst die Nervenschäden, in: AACHENER VOLKSZEITUNG, 23.05.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 312b, 297144. 63 F. Kelsey warnte die USA vor Contergan. 64 Werden die Fragezeichen um Contergan gesprengt?, in: SAARBRÜCKENER ZEITUNG, 01.05.1968.
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Angeklagten nachzuweisen, jedoch nicht um Fragen der Wiedergutmachung oder Entschädigung. Dies könnten erst in Zivilprozessen erreicht werden.65 Was unbeantwortet bleiben würde, darüber war sich die Presse von Beginn an einig, war die Frage, welche Rolle die Bundesbehörden gespielt hatten. Die Journalisten neigten dazu, von der Verantwortung des »Staates« zu sprechen, ohne konkret Personen oder Ministerien zu benennen. So forderte die stark linksorientierte DEUTSCHE VOLKSZEITUNG, der Staat müsse wegen Unterlassung verklagt werden. Es sei für die contergangeschädigten Kinder von Nachteil, dass der Staat nicht greifbar sei und seine Hände in Unschuld wasche.66 Die Hessische Allgemeine sah dies ganz ähnlich: Der Staat habe die Contergan- ›Katastrophe‹ nicht rechtzeitig erkannt und somit viel zu spät die nötige Hilfe in die Wege geleitet.67 Wie sehr das Gericht unter Druck stand und die Emotionen das Geschehen prägten, machte der Journalist Peter Doebel deutlich, wenn er von »der größten medizinischen Katastrophe des Jahrhunderts«68 sprach und damit auf das Leiden und die schweren Lebenswege so vieler Opfer hinwies. Mit Beginn des Verfahrens rückten die Betroffenen selbst in die mediale Aufmerksamkeit – vor allem die contergangeschädigten Kinder. Ihre Eltern traten im Prozess als Nebenkläger auf und brachten Fotografien von ihren Kindern mit oder gleich ihre Söhne und Töchter selbst.69 Angesichts dieser physischen Präsenz erhielt das Kollektivsymbol Contergangkind eine erdrückende Aktualität, erzielte eine Bildwirkung, die das Symbol zum realen Bild wandelte. Der Landgerichtspräsident sah sich ge-
65 Vgl. F. Kelsey warnte die USA vor Contergan. Zeugen unterwegs nach Aachen. Zuerst die Nervenschäden, in: AACHENER VOLKSZEITUNG, 23.05.1968. Siehe auch A.H. Günther, Ein »Jahrhundertprozess« oder »Justitias Blamage«?, S. 205. 66 Vgl. Kjf, Kann der Staat verklagt werden? Contergan-Prozeß beginnt am 27. Mai, in: DEUTSCHE VOLKSZEITUNG, Düsseldorf, 17.05.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 312a, 297092. 67 Vgl. J. Serke, Vom Wundermittel zur Schreckenspille. Am Montag beginnt der Contergan-Prozeß, in: HESSISCHE ALLGEMEINE, 24.05.1968. 68 Peter Doebel, Contergan-Prozeß: Anklage lautet auf Fahrlässigkeit, in: FRANKFURTER RUNDSCHAU, 25.05.1968. So auch zu finden unter anderem Kinder ohne Arme und Beine als »Beweismittel« in Mammutprozeß, in: FRANKENPOST, 25.05.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 312b, 297165. 69 Siehe dazu A.H. Günther, Contergan als Zäsur, S. 157; A.H. Crumbach, Bilder als Grenzerfahrung, S. 230-221.
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zwungen anzudeuten, was Worte nicht ausdrücken konnten: »›Wir werden keine erfreulichen Bilder zu sehen bekommen‹«70. Dass da in Alsdorf etwas verhandelt würde, das eine eigene Dynamik entwickelte jenseits des eigentlichen Verfahrensgegenstandes, befürchteten die BADISCHEN NEUESTEN NACHRICHTEN. Linksradikale Gruppen hätten eine Demonstration angekündigt, um der Öffentlichkeit anhand des Contergan-Falles die »›Verderbtheit des kapitalistischen Systems‹ und die Versäumnisse der politischen Führung vor Augen« 71 zu führen. Der Aufruf zur Demonstration sei ein Anzeichen dafür, dass die Öffentlichkeit sich von Emotionen, nicht aber von den Fakten beeinflussen lasse, so der Autor weiter. Der Vorsitzende des Bundesverbandes ließ verlauten, dass er eine solche Aufmerksamkeit nicht befürworte: »Wir würden jeder Ausschreitung mit Kraft unserer zusammengefaßten Meinung entgegentreten, weil sie genau das Gegenteil von dem hervorbringen würde, was wir erstreben«.72 Das Gerichtsverfahren selbst bewies, dass da eine komplizierte Materie behandelt wurde. Noch vor Beginn des Hauptverfahrens musste das Verfahren gegen den Firmenchef (Hermann Wirtz) abgetrennt werden, da er sich einer Operation unterziehen musste. Ebenfalls noch vor Prozessbeginn fand die Abtrennung des Verfahrens gegen den Abteilungsleiter Heinz Wolfgang Kelling statt.73 Gegen weitere sieben Angeklagte wurde das Verfahren schließlich im Mai 1968 eröffnet.74 20 Verteidiger saßen drei Staatsanwälten gegenüber.75 Bereits der erste Verhandlungstag brachte zwei Enttäuschungen mit sich:
70 H. Zimmermann, Fünfzig mißgebildete Kinder legen Zeugnis ab, in: MÜNCHENER MERKUR, 25./26.05.1968, S. 3. 71 Vgl. Karl-Heinz Hermann, Wird der Contergan-Prozeß zu einem Politikum? Radikale wollen demonstrieren/Voraussichtlich zwei Jahre Dauer der Hauptverhandlung, in: BADISCHE NEUESTE NACHRICHTEN, 25.05.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 312b, 297185. 72 Karl-Heinz Hermann, Wird der Contergan-Prozeß zu einem Politikum?. 73 Vgl. Dpa, Auseinandersetzungen im Contergan-Prozeß. Der Gerichtssaal war äußerst schwach besetzt, in: SCHWEINFURTER VOLKSZEITUNG, 28.05.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 312b, 297209. 74 Vgl. Horst Pomsel, Ein Prozeß ohne Vorbild. Contergan und seine Probleme, in: AACHENER NACHRICHTEN, 25.05.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 311, 296237. 297097: lnw, Abtrennung des Verfahrens gegen Wirtz erwogen, in: NEUE WESTFÄLISCHE, 20.05.1968; Ein Angeklagter vorerst nicht verhandlungsfähig. Wird sein Verfahren im Contergan-Prozeß abgetrennt?, in: NEUE RUHRZEITUNG, 20.05.1968; Dpa, Zwei Contergan-Prozesse? Einer der Angeklagten operiert / Wird
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• Die prophezeiten Anstürme von Interessenten und Presse blieben aus. Der
Richter verhandelte vor halbleeren Reihen. • Die Not der contergangeschädigten Kinder wurde zunächst nicht thematisiert,
weil es zu juristischen Verfahrenskämpfen zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung kam. Statt den eigentlichen Gegenstand des Verfahrens zu thematisieren, beschäftigten das Gericht »heftige […] Kontroversen«76 um juristische Formalia. • Weil die Frage der Conterganschädigung von Erwachsenen in der Vorberichterstattung zum Prozess weitgehend ausgeklammert worden war, trat die Entscheidung des Gerichts, diesen Aspekt eingangs zu behandeln, in der Presse auf Unmut. Die Presseagenturen kommentierten sofort, von den contergangeschädigten Kindern, den eigentlichen »Opfern«, sei »keine Rede«.77 Der Kölner Express zitierte den Vater eines contergangeschädigten Kindes: »Dieser Prozeß ist ein Riesenskandal«78 – auch weil Nebenklage und Staatsanwaltschaft einer scheinbaren Übermacht der Verteidigung entgegentraten.79 Tatsächlich schloss das Kollektivsymbol Contergankind andere Opfergruppen aus, bot den erwachsenen Contergangeschädigten keinerlei inhaltliche Anschlussmöglichkeit. Kinder waren unschuldig, ihr Leben lag vor ihnen, ihre Schädigungen unmittelbar sichtbar. Ihnen galt die Aufmerksamkeit, die Solidarität, die Verzweiflung der Eltern. Wenn also nur ein »Teil der Weltpresse« Alsdorf aufsuchte, dann berichteten jedoch die regionalen Zeitungen (AACHENER NACHRICHTEN und AACHENER VOLKSZEITUNG) ausführlich über den Prozessauftakt. Den einen oder anderen in-
Verfahren abgetrennt?, in: RHEINISCHE POST, Krefeld, 20.05.1968; ap, ConterganAngeklagter erkrankt, in: MAIN-POST, Würzburg, 20.5.1968; dpa, Erste Schwierigkeiten im großen Contergan-Prozeß. Verfahren gegen einen Angeklagten abgetrennt, in: WESTFALENBLATT, Bielefeld, 22.05.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 312b, 297124. 75 Vgl. A.H. Günther, Ein »Jahrhundertprozess« oder »Justitias Blamage«?, S. 201. 76 Vgl. Contergan-Prozeß beginnt mit heftigen Kontroversen, in: DIE WELT, 28.05.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 312b, 297212. 77 Vgl. Dpa/upi, von den Opfern war keine Rede, in: SCHLESWIG-HOLSTEIN LANDESZEITUNG,
28.05.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 312b, 297222.
78 Rainer Ries, »Dieser Prozeß ist ein Riesenskandal«, in: EXPRESS, 30.05.1968. 79 Die sieben Angeklagten wurden von 20 Anwälten verteidigt, siehe dazu A.H. Günther, Ein »Jahrhundertprozess« oder »Justitias Blamage«?, S. 200.
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und ausländischen Pressekollegen entdeckten sie doch, vor allem aber spiegelten sie die Enttäuschung über den Verlauf des ersten Verhandlungstagess: »Es begann mit ›Flutlicht‹, mit surrenden Kameras und einer Salve klickender KameraVerschlüsse und entwickelte sich in wenigen Stunden zu einem nach strafprozessualen Riten zäh dahinfließenden Strafkammer-Prozeß.«80 Bereits am zweiten Tag entbrannte zwischen Anklage und Verteidigung eine heftige Auseinandersetzung über die Rechtmäßigkeit von 200 Nebenklägern, die erst zu diesem Zeitpunkt von der Staatsanwaltschaft benannt wurden, aber in der Anklageschrift nicht aufgeführt worden waren. Für die Verteidigung war dies ein gefundenes Fressen. Sie bezweifelte, dass es überhaupt ein korrektes Ermittlungsverfahren gegeben habe, und merkte an, der ganze Prozess dürfe nicht geführt werden.81 Schnell kursierte die Meldung, der Prozess drohe – bereits kurz nach Beginn zu platzen – und verantwortlich dafür sei das formaljuristische Agieren der Verteidigung82 Teilweise wurde es garedezu »peinlich«, da das Verfahren nicht von der Stelle kam und – so die Presse – im »Gestrüpp der Einleitung hängen«83 blieb. In den Worten der NRZ: »Was die Verteidigung im Contergan-Prozeß am ersten Tag der Verhandlung zu bieten hatte, war nur leichtes Vorgeplänkel. Das weiß man seit gestern, als die profilierte Rechtsanwaltschaft schweres Geschütz auffuhr, auf die Kollegen vom Staate zielte und das gesamte Verfahren traf. Nur die Weisheit des Gerichts kann diesen Prozeß noch retten. Wahrhaftig, in Alsdorf macht es sich die Gerechtigkeit besonders schwer.«84
Immer mehr verschob sich das Interesse von den Opfern zum Drama des Verfahrens selbst. DER SPIEGEL interpretierte das Vorgehen der Verteidigung als höchst
80 Erika Pomsel, Prozeß im Scheinwerferlicht., in: AACHENER NACHRICHTEN, 28.05.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 312b, 297230. 81 Vgl. Zi, Verteidiger. Prozedur des Contergan-Prozesses ›inkorrekt‹. Die nicht in der Anklageschrift enthaltenen Nebenklägerfälle sollen abgetrennt werden – Wird der Prozeß ausgesetzt?, in: STUTTGARTER ZEITUNG, 29.05.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 312b, 298042. 82 Vgl. Arne Boyer, Von den Opfern ist noch nicht die Rede, in: ABENDZEITUNG, 29.05.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 312b, 298030. 83 Vgl. H. Koar, Vorsitzender im Contergan-Prozeß, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 312b, 298004. 84 Thorsten Scharnhorst, Anwälte schossen mit schwerem Geschütz. Gerechtigkeit macht es sich in Alsdorf nicht leicht, in: NRZ, 29.05.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 312b, 298056.
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erfolgreich.85 Es gelinge ihr immer wieder, die Richter und Staatsanwaltschaft in die Defensive zu drängen: »Herrn Weber [Richter im Verfahren, Anm. A.H.C] unterläuft es, von ›Voreingenommenheit‹ des Gerichts zu sprechen, als er Unvoreingenommenheit betonen will. Einem Staatsanwalt passiert es, daß er aus dem Angeklagten Herrn von Schrader Beielstein den Herrn von Schraderstein macht und vom Verteidiger Pick als den Angeklagten Pick spricht. Die Verteidigung brilliert einsam. Es ist das Recht eines jeden, sich unter Einsatz der Mittel zu verteidigen, die ihm zur Verfügung stehen. Doch was Geld alles kaufen kann. Die Gefahr, daß die Angeklagten im Contergan-Prozeß zu Sündenböcken gemacht werden, droht bislang nicht.«86
Aufgrund des Presseinteresses beobachtete die Staatsanwaltschaft sorgfältig die Berichterstattung von Zeitschriften und Tageszeitungen, damit sie Journalisten, die täglich vor Ort zuhörten, besser einschätzen konnte. Eine Aufstellung von Zeitungen, die über den Contergan-Fall berichteten, diente als Hintergrundinformation.87 Glaubt man den Bewertungen der Staatsanwaltschaft, so konnte man drei Zugänge zum Prozess in den Medien unterscheiden: Da waren: • Die Verantwortlichen der Boulevardpresse und der Illustrierten: Sie interes-
sierte vor allem emotionale Berichte über die contergangeschädigten Familien; teilweise wurden eigens zu diesem Zweck Journalistenteams gebildet, die den Prozess aus Sicht der Opfer begleiten sollten.88 • Die »allgemeine Presse«, so die Klassifikation, beschäftige sich mit dem »oberflächlichen Zahlenrausch der prozessualen Begleitsymptome«.89 • Die »seriösen Organe«90 hätten indes bereits erkannt, dass nicht allein die Kausalitätsfrage den Ausgang des Verfahrens bestimmen werde.91
85 Zu Mauz als Gerichtsreporter siehe Gisela Friedrichsen, Gerhard Mauz: Die großen Prozesse der Bundesrepublik, Springe 2011, Vorwort, S. 11. 86 Gerhard Mauz, Was Geld alles kann, in: DER SPIEGEL, Nr. 23 (1968), S. 49. 87 Vgl. Übersicht über Presseorgane, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 327a, 58; 7679. 88 Vgl. Übersicht über Presseorgane, 58. 89 Ebd. 90 Vgl. ebd. 91 Vgl. ebd.
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Die Wahrnehmung des Gerichtsverfahrens, das wird aus der zitierten Übersicht deutlich, hing entscheidend von der medialen Berichterstattung ab. Ja mehr noch, offensichtlich beeinflusste die öffentliche Rezeption das Verfahren selbst, in dem die Medien die juristischen Abläufe und Sprachregeln für ihre Leser übersetzten. Diese Übersetzungsleistung der Journalisten verband sich wiederum mit dem seit Jahren tradierten Kollektivsymbol Contergankind. Und damit gelangte das Contergankind in den Gerichtssaal.
6.3 DAS AUFEINANDERTREFFEN MEDIZINISCHER GUTACHTER, JURISTEN UND JOURNALISTEN Im Vorfeld des Prozesses stand bereits fest: Der Prozess würde maßgeblich von den medizinischen Sachverständigen abhängen.92 Im Gerichtsaal traten Medizi-
92 Eine Studie hatte Prof. Jörn Gleiss aus der Kinderklinik der Medizinischen Akademie zu Düsseldorf im Jahr 1964 vorgelegt und stand im engen Kontakt Landesministerium (siehe dazu LAV NRW R, NW 1180, Nr. 3). In seiner Arbeit untersuchte Gleiss teratogene Faktoren in Bezug auf die Thalidomid-Embryopathie. Herausgegeben wurde Gleiss’ Arbeit in der Reihe Forschungsberichte des Landes Nordrhein-Westfalen. Er untersuchte für das Land NRW die wissenschaftlichen Zusammenhänge zwischen dem Thalidomid und den aufgetretenen Fehlbildungen. Mithilfe von Befragungsbögen untersuchte er die Lebensgewohnheiten der Eltern, insbesondere der Mütter, die Schwangerschaften und die Gesundheitszustände der Kinder. Darüber hinaus hatte es zahlreiche Debatten über die Monokausalität gegeben, über die Bezeichnungsfrage, ob von einer Thalidomid-Embryopathie oder von einer Dysmelie die Rede war (J. Gleiss, Zur Analyse teratogener Faktoren mit besonderer Berücksichtigung der ThalidomidEmbryopathie, Köln/Opladen 1964). Anhand sozialwissenschaftlicher Methoden wurden 1.520 Mütter mit Kindern, die eine Fehlbildung aufwiesen, untersucht. Als Kontrollgruppe standen ihnen 788 Müttern mit gesunden Kindern gegenüber (ebd., S. 45). Nicht nur Lenz auch Gleiss wurde für seine Arbeit kritisiert. Diese Auseinandersetzungen fanden in der Fachgemeinschaft statt. Gleiss wurde von seinem Chefarzt in Schutz genommen: Aus der Kinderklinik der Medizinischen Akademie Düsseldorf (Direktor Professor Dr. K. Klinik), Berichtigung zu dem Aufsatz von Dr. P. Kühne in BERLINER ÄRZTEBLATT 76/2, 1965: Missbildungsphantasien aus NordrheinWestfalen, LAV NRW R, NW 1180, Nr. 3; Stellungnahme von J. Gleiss zum Artikel Dr. P. Kühne vom 16.01.1965 im BERLINER ÄRZTEBLATT, S. 1, LAV NRW R, NW 1180, Nr. 3. Siehe auch LAV NRW R, NW 1180 Nr. 4. Siehe auch: Herrn Abteilungsleiter VI, Betr.: Forschungsbericht zur Analyse teratogener Faktoren mit besonderer
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ner als Gutachter für die Staatsanwaltschaft oder Verteidigung auf. Nicht mehr die Fachzeitschrift, der Hörsaal oder die medizinische Konferenz, sondern der Gerichtssaal wurde zu ihrer Bühne. Medizinische Ergebnisse wurden in das juristische Korsett gepresst, entweder zur Bestätigung der Nebenwirkung von Contergan oder zur Ablehnung. Aufgabe der Medizin war es, ihre wissenschaftlichen Ergebnisse zu präsentieren. De facto ging es darum, mittels wissenschaftlicher Forschung einen juristischen Sachverhalt zu untermauern oder zu dekonstruieren.93 Wie und wer als Gutachter auftreten sollte, war demnach ein wichtiger Streitpunkt in der juristischen Auseinandersetzung zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung.94 Die Nachrichtenagentur UPI befürchtete nicht die inhaltlichen Differenzen, sondern die prozessualen Konsequenzen. Der Prozess könne durch die Gutachter der Verteidigung unnötig in die Länge gezogen werden, meinte sie: »Vor welcher uferlosen Ausdehnung der Contergan-Prozeß steht, wurde deutlich bei der Ankündigung der Verteidigung, daß sie auf eine zusätzliche Herbeiziehung von 31 Sachverständigen allein bei der Behandlung von zwei Geschädigten-Fällen besteht, die in der nächsten Woche auf dem Terminplan steht.«95
Berücksichtigung der Thalidomid-Embryopathie von Prof. Dr. Jörn Gleiss, S. 5, LAV NRW R, NW 1180, Nr. 4. Siehe dazu auch N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 362-366; 372-380. 93 Siehe dazu auch A.H. Crumbach, Arzneimittel aus der Waschküche, S. 111. 94 Vgl. Heinz Schweden, Tausend Mark Monatsrente für die Kinder gefordert. Dritter Verhandlungstag im Contergan-Prozeß, in: RHEINISCHE POST, 30.05.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 313a, 298078. 95 Upi, Kein Abbruch des Prozesses. Eltern von »Contergan-Kindern« zahlen 85 Millionen Mark aus eigener Tasche. Contergan-Verteidiger hatten keinen Erfolg, in: FULDAER
ZEITUNG, 30.05.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 313a, 298079.
Siehe ähnliches auch bei den folgenden Artikeln, die alle aus dem Bestand LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 313a, entnommen sind: Die Angeklagten schweigen noch. Flut neuer Beweisanträge – Heftige Kritik an Beweismethode der Anklage – Dienstag schon Gutachter-Streit? Contergan-Gericht lehnt Aussetzung der Hauptverhandlung ab, in: RHEIN-ZEITUNG, Koblenz, 30.05.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 313a, 298080; Erika Pomsel, Angeklagte schweigen sich aus. Am nächsten Dienstag erscheinen 2 Zeugen und 46 Sachverständige, in: AACHENER NACHRICHTEN,
30.05.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 313a, 208086; Hanno
Kühnert, Die Angeklagten wollen noch nicht zur Sache aussagen. Der ConterganProzeß geht weiter. Die Verteidigung attackiert Gutachtermethoden, in: FAZ,
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Die Rolle der medizinischen ›Experten‹ im Gerichtsverfahren war nicht zu unterschätzen. Mit ihren Gutachten trugen sie maßgeblich zur Urteilsbewertung des Gerichts bei. Teilweise waren sie den Lesern aus der Anfangszeit des Contergan-Falles bekannt (z.B. Widukind Lenz). Gleichzeitig verlagerten sich die wissenschaftlichen Debatten über neurologische und teratogene Wirkungen in den Gerichtssaal. Die über Jahre auf Tagungen und in Fachartikeln ausgetragenen fachwissenschaftlichen Diskussionen fanden im Gerichtssaal einen neuen Austragungsort. Nun ging es um die juristische Beweiskraft der medizinischen Gutachten. Juristische und medizinische Fachwelt trafen aufeinander: »Selbst der hochbegabteste Jurist wird es schwer haben, sich allein in der medizinischen und chemischen Terminologie zurechtzufinden und schließlich auf den Kausalzusammenhang zwischen der Contergan-Einnahme und den Mißbildungen beziehungsweise den ebenfalls zur Diskussion stehenden Nervenstörungen zu stoßen. Er wird angewiesen sein auf das Urteil medizinischer Experten, denen die Gegenseite die Gutachten anderer medizinischer Experten gegenüberstellen wird, so daß es dann wieder des Schiedsspruches von Obergutachtern bedarf, die den Nachteil haben, auch nur Menschen zu sein und sich irren zu können.«96
Schließlich war es Aufgabe der Richter, von Juristen demnach, zu entscheiden, »welche wissenschaftliche Meinung vor dem Gericht Bestand haben wird.«97 Aufgrund der zahlreichen Gutachter, die gehört werden sollten, war also bereits frühzeitig erkennbar, dass das Gericht vor einer außerordentlich schwierigen Aufgabe stand. Der Medizinjournalist und Arzt Bernhard Knoche kommentierte im August 1968, es handele sich um einen »Gutachterprozeß«98 , bei dem die wissenschaft-
30.05.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 313a, 298087; Peter Döbel, Gericht schlug Angriff der Verteidigung ab. Für nächsten Dienstag steht eine Auseinandersetzung der Gutachter auf dem Programm. Angeklagte im Contergan-Prozeß brechen ihr Schweigen nicht, in: WESTFÄLISCHE RUNDSCHAU, 30.05.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 313a, 288109. 96 G. Leicher, 2624 Contergan-Opfer ohne Chance? Alsdorfer Gericht um seine Aufgabe nicht zu beneiden / Grünenthal kämpft um die Existenz, in: DARMSTÄDTER TAGEBLATT, 01.07.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 313a, 298140. 97 K.J. Fischer, Vor Illusionen wird gewarnt. Contergan-Prozeß geht in die zweite Runde, in: ABENDPOST, 3./4.6.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 313a, 298149. 98 Bernhard Knoche, Gutachter und Industrie, in: INDUSTRIEKURIER, 17.08.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299042.
288 | Sprechen über Contergan
lichen Ergebnisse für den Ausgang des Verfahrens entscheidend seien und die »Glaubwürdigkeit«99 des Urteils von der Übereinstimmung mit dem wissenschaftlichen Befund abhänge. Zu überlegen sei, in welcher Verbindung die Firma Chemie Grünenthal und die für sie aussagenden Gutachter stünden, wie sehr hier Firmengelder und wissenschaftliche Forschung miteinander verbunden seien. Knoche verwies darauf, dass keine Beeinflussung nachzuweisen sei, was er als Vertrauensbeweis für die Pharmaindustrie und die medizinischen ›Experten‹ wertete. Nicht von der Hand zu weisen sei aber – und insofern eine indirekte Beeinflussung möglich –, dass die Arzneimittelüberprüfung in Kliniken vor allem über finanzielle Zuschüsse vonseiten der Industrie erfolge.100 Der Prozess wurde aus Sicht der Presse immer mehr zu einem »Stelldichein […] von Ärzten und Professoren«.101 Kapazitäten aus dem In- und Ausland reisten an, um im Verfahren auszusagen. Dass das Gericht froh war über so viel Unterstützung durch die medizinischen Experten machte der Vorsitzende Richter deutlich: »›Wir haben die einschlägige Wissenschaft in Gestalt der Sachverständigen in Alsdorf versammelt.‹«102 Für die Betroffenen sah die Lage allerdings ganz aus. Sie wollten endlich Gehör finden. Der Mannheimer Morgen diskutierte ein Sit-in conterganggeschädigter Kinder.103 Dort kam also vieles zusammen: Enttäuschung über das schleppende Verfahren, Missmut, weil die eigentlichen Opfer immer noch schweigen sollten und die Bereitschaft öffentlichkeitswirksam aufzubegehren durch die Übernahme amerikanischer Protestkultur. Zu den medizinischen Gutachtern gehörte auch Prof. Werner Scheid. Er war einer der »Päpste«104 der deutschen Neurologie. Von ihm erhofften sich manche der Journalisten, er werde den bisherigen Sprachduktus durchbrechen und deut-
99
Vgl. Bernhard Knoche, Gutachter und Industrie.
100 Vgl. ebd. 101 Erika Pomsel, Ein Stelldichein in Alsdorf von Ärzten und Professoren. Kapazitäten auf dem Gebiet der Medizin – Im Mittelpunkt des Interesses eine 72-jährige Rentnerin als Zeugin. Im Contergan-Prozess, in: AACHENER NACHRICHTEN, 05./ 06.06.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139, Nr. 313a, 298154. 102 Ebd. 103 Vgl. Kurt Joachim Fischer, Kommt es zum „sit-in“ mißgebildeter Kinder?, in: MANNHEIMER MORGEN, 05.06.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 313a, 298155. 104 Horst Zimmermann, Ein erster Paukenschlag dröhnt im Gerichtsaal. Mit der Aussage von Professor Scheid erhält der Contergan-Prozeß eine entscheidende Wende – Belastendes Gutachten, in: MÜNCHENER MERKUR, 25.06.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 313b, 298251.
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liche Worte finden.105 Und das tat er denn auch, indem er seine Meinung, Thalidomid verursache Polyneuritis, auch für die Laienöffentlichkeit verständlich begründete.106 Dieselbe Auffassung vertrat Ellen Gibbels, eine Schülerin von Scheid. Sie hatte sich mit einer Arbeit über die Thalidomid-Polyneuropathie 1968 habilitiert.107 Beide bewährten sich vor Gericht, obwohl sie von der Verteidigung scharf attackiert wurden. Was für die Laienöffentlichkeit so eindeutig war, war in der Fachgemeinschaft umstritten. Scheid durchlief ein mehrstündiges Kreuzverhör108 und musste sich mit zahlreichen Gegengutachten auseinandersetzen.109 Die Presse berichtete von ausländischen ›Experten‹, die Zweifel an seiner These geäußert hatten, seine Aussage als »völlig unzureichend«110 und seine Methodik als »dubios«111 bewerteten. Ein Journalist resümierte: »Es ist nicht leicht,
105 Vgl. Horst Zimmermann, Ein erster Paukenschlag dröhnt im Gerichtsaal. 106 Vgl. Contergan-Gutachter sollen Patienten nennen, in: FRANKFURTER NEUE PRESSE, 25.06.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 313b, 298252; Professor: Gewisse Nervenschäden sind eindeutig auf Contergan zurückzuführen, in: FRANKFURTER
RUNDSCHAU, 25.06.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 313b,
298253. 107 Vgl. N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 264. 108 Vgl. Juristen-Streit im Contergan-Prozeß. Gericht lehnte Antrag der Verteidigung vom Vortrage ab, in: AACHENER VOLKSZEITUNG, 26.06.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 313b, 298255; Gutachter im Kreuzverhör, in: AACHENER VOLKSZEITUNG, 27.06.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 313b, 298256. Zu einem späteren Zeitpunkt war das Gutachten von Gibbels erneut Anstoß der Kritik. So wollte die Verteidigung die Sachverständige noch einmal auf die Konsequenzen eines möglichen Falscheides hinweisen, was zu einer Auseinandersetzung zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft führte. Vgl. Zwei Anwälte verließen den Saal. Großer Krach um die Verteidigung, in: AACHENER NACHRICHTEN, 06.08. 1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299001. 109 Vgl. Gutachter im Kreuzverhör. Prof. Scheid: »Verschonte haben ›Contergan‹ nicht lange genug genommen«, in: AACHENER VOLKSZEITUNG, Nr. 146, 27.06.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 313b, 298256; »Tausende weinen ›Contergan‹ nach«. Keine Contergan-Nervenschäden unter klinischer Kontrolle, in: AACHENER NACHRICHTEN, 17.07.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 313b, 298304. 110 Vgl. Thea Winandy, Neugründung einer Krankheit? Die Gutachter im ConterganProzeß beziehen ihre Fronten, in: FAZ, 28.06.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 313b, 298258. 111 Thea Winandy, Neugründung einer Krankheit?.
290 | Sprechen über Contergan
in Alsdorf Gutachter zu sein«, weil es eine »Schlacht der Sachverständigen« gebe.112 »Die Professoren, die in Alsdorf dem Gericht bei der Klärung der Zusammenhänge zwischen dem Schlafmittel Contergan und Nervenschäden helfen sollen, nennen sich zwar noch ›Kollegen‹. Aber jeder in diesem Saal spürt, daß diese Anrede eine bloße Formsache, manchmal sogar zu blanken Ironie geworden ist. Die säuerlichen Mienen der Herren sprachen Bände, wenn sie in den Pausen auf dem Hof vor dem Zechenkasino Konversation treiben, wie es die Konvention befindet. Längst geht es vor diesem Gericht nicht mehr allein um Contergan, sondern um Wert und Position ganzer wissenschaftlicher Disziplinen.«113
Die WELT AM SONNTAG berichtet von einem »Familienzwist der Wissenschaftler«.114 Für die Gutachter ginge es nicht mehr allein um eine Zeugenaussage, es entwickele sich ein Kampf »um ihren Ruf und den ihrer wissenschaftlichen Disziplinen: Ist nicht der Kollege von der Gegenseite im Grunde ein Pseudowissenschaftler?«115 Da die wissenschaftliche Gemeinschaft im Contergan-Fall zu keiner eindeutigen Aussage vordrang, es also kein ›richtig‹ oder ›falsch‹ gab, galt es, die Professionalität der einzelnen Gutachter, ihr wissenschaftliches Renommee und ihre Glaubwürdigkeit entweder zu bekräftigen oder zu hinterfragen. Was blieb, war die Ungewissheit, ob die vom Gericht gestellten Fragen überhaupt zu beantworten waren, denn »›[a]uch Autoritäten sind keine Garantie für die Richtigkeit einer Aussage,‹«116 so die WELT AM SONNTAG. Das Gerichtsverfahren entwickelte sich immer mehr zu einer wissenschaftlichen Vorlesung.117 Professor Wilhelm Krücke – selbst Gutachter im laufenden Prozess – wunderte sich in einem Leserbrief über die Berichterstattung in der FAZ, da
112 Horst Zimmermann, Es ist nicht leicht, in Alsdorf Gutachter zu sein, in: BRAUNSCHWEIGER
PRESSE, 28.06.1968 LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 313b,
298259. 113 Ebd. 114 Horst Zimmermann, »Wehe dem Gericht, das unter die Gutachter fällt«, in: WELT AM SONNTAG,
30.06.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 313b, 298261.
115 Ebd. 116 Horst Zimmermann, »Wehe dem Gericht, das unter die Gutachter fällt«. 117 Vgl. Tgm, Gelehrtenstreit um Contergan, in: NORDWEST-ZEITUNG, 04.07.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 313b, 298271; H. Bremer, Streitgespräche, die kaum einer versteht, in: FRANKFURTER NEUE PRESSE, 06.07.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 313b, 298277.
Die »Unübersetzbarkeit« des Kollektivsymbols | 291
dadurch der Eindruck entstanden sei, sein Gutachten sei von englischen ›Experten‹ verrissen worden. Dem wolle er widersprechen, weil er seine Reputation als ›Experte‹ in der medialen Öffentlichkeit gefährdet sehe.118 Der Prozess drohte aus Sicht der Öffentlichkeit wegen der juristischen Finessen und der Vielzahl einander widersprechender Gutachten immer mehr sein eigentliches Ziel aus den Augen zu verlieren, nämlich zwischen der formellen Rechtsordnung und dem breiten Rechtsempfinden zu versöhnen: »Tatsächlich ist der Prozeß auf dem besten Wege, die Contergan-Katastrophe erst vollständig zu machen. Das liegt aber nicht am Verfahren selbst. Es liegt daran, daß ihm eine falsche Bedeutung beigemessen wird.«119 Dabei sei der Prozess ein wichtiges Instrument des Rechtsstaates, das es ermögliche, Schuld zu belegen oder aber die Unschuld zu beweisen,120 auch wenn er nicht jene Erwartungen würde erfüllen können, die ihm zugeschrieben wurden: »Eine andere Gefahr liegt viel näher: daß der Fall Contergan aufs strafrechtliche Gleis abgeschoben wird. Die ›größte Arzneimittelkatastrophe des Jahrhunderts‹ ist nur ganz am Rande eine juristische Angelegenheit. So wenig wie man mit KZ-Prozessen die Vergangenheit bewältigen, mit Urteilen gegen Räuber eine vernünftige Kriminalpolitik ersetzen, mit Demonstranten-Verurteilungen Ruhe im Staat schaffen kann – ebensowenig kann der Alsdorfer-Prozeß die wirklichen Probleme des Contergan-Falles lösen.«121
Die ständigen Auseinandersetzungen der Gutachter untereinander machten es erforderlich, die Integrität und Stärke des Gerichts zu sichern. Der Prozess müsse mehr leisten, als nur juristische Fragen zu klären, meinte eine Journalistin der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. Es gehe um die »Bewährung der Justiz«122, denn diese müsse beweisen, dass sie die ihr vorgelegten Probleme bewältigen könne – selbst wenn es sich um ein hochkomplexes medizinisches Thema handele. Der Ausgang des Verfahrens könne daher nicht an einem Schuldspruch oder Frei-
118 Vgl. Leserbrief von Professor Dr. Wilhelm Krücke, Polyneuritis-Gutachten nicht erschüttert, in: FAZ, 17.08.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a. 119 Peter Doebel, Der Contergan-Prozeß. Wird das Verfahren zum Ärgernis? Gerechtigkeit darf keine Frage des Geldes werden. Problem ist nicht nur juristisch zu bewältigen, in: KÖLNER STADT-ANZEIGER, 06.07.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 313b, 298281. 120 Ebd. 121 Peter Doebel, Der Contergan-Prozeß. 122 Vgl. Roswin Finkenzeller, Der Alsdorfer Prüfstand, in: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 22.07.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 313b, 298313.
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spruch gemessen werden, »bedeutsamer wäre das allgemeine Gefühl der Sicherheit, daß unabhängigen Richtern letzten Endes nicht verborgen oder unerklärt bleibt, was Menschen durch Arzneien geschieht.«123 Ähnliches war auch in CHRIST UND WELT zu lesen:124 Die Schwierigkeit des Prozesses bestehe darin, der Vorverurteilung des Medikaments und der Anklagten zu entgehen und zu klären, was zu rekonstruieren und zu beweisen sei. Beklagt wurde, die Gutachten würden ihrerseits Gegengutachten hervorrufen, so dass sich ein »Tribunal zur Volkshochschule«125 entwickle. Gleichzeitig verdeutlichte sich immer mehr, dass nicht allein ein Expertenstatus für Klarheit sorgen konnte. Die verzweigten medizinischen Debatten verdeutlichten, dass es im Gerichtssaal nicht nur um die Beweisführung, sondern auch um die Vertretung eigener wissenschaftlicher Forschung und der Sicherung des Expertenstatus ging. Da die ersten Monate der juristischen Auseinandersetzung für die Eltern höchst unbefriedigend geblieben waren – u.a. weil die teratogene Wirkung zu Beginn des Prozesses nicht zur Diskussion stand und von den ›Experten‹ auch nicht angesprochen wurde –, beschloss der Bundesverband, seine Jahresversammlung nach Alsdorf zu verlegen und einen »stummen« Protestmarsch vor dem Gerichtsgebäude zu organisieren. Viele Eltern wurden von ihren Kindern begleitet und zeigten sie der Öffentlichkeit.126 Kein Wunder, dass die Presse den Protest aufgriff. Journalisten fragten nach dem Sinn der vielen Gutachten und Gegengutachten. Der Gerichtssaal war aus ihrer Sicht zum Forum für ›Experten‹ geworden, auf dem sie ihre kontroversen wissenschaftlichen Meinungen vortrugen und ihre persönlichen Fehden austrugen. Die medizinische Fachgemeinschaft vermittelte den Eindruck, sie bestehe nicht mehr aus einer »›Ärzte-
123 Roswin Finkenzeller, Der Alsdorfer Prüfstand. In den Akten der Staatsanwaltschaft waren diese Zeilen ebenso wie die Feststellung Finkenzellers, die Justiz müsse sich nun bewähren, unterstrichen worden. Er hob die besondere Bedeutung der Justiz farblich hervor. 124 Vgl. Richard Kaufmann, Ein Bestseller des Staatsanwalts. Der Prozeß von Alsdorf in seiner zweiten Runde, in: CHRIST UND WELT, 05.07.1968. 125 Ebd. 126 DPA, Protestmarsch durch Alsdorf; M. Laube, Eltern fordern: Mehr und bessere Sonderschulen für Contergan-Kinder, in: AACHENER NACHRICHTEN, 22.07.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 313b, 298314; ndy, Sorgen wegen der Dysmelie-Kinder. Versagt die Gesellschaft?, in: FAZ, 22.07.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 313b, 298315; LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 313b, 298316. A.H. Crumbach, Bilder als Grenzerfahrung, S. 230.
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schaft‹«, sondern »nur noch« aus »einzelne[n] Herrschern in einzelnen Kliniken«.127 Wie sehr das Auf und Ab der Gutachten irritierte, zeigt ein fiktives Gespräch zwischen einer Patientin und einem Arzt über das Medikament Contergan, das in DIE ZEIT veröffentlicht wurde. Dieser Artikel fasste wie kaum ein anderer die Erwartungen der Öffentlichkeit und den Prozessverlauf zusammen: »Sie [die Patientin, Anm. A.H.C.] verstehe nicht recht, wozu man überhaupt noch Sachverständige bemühe. Habe die Presse nicht jeden Laien schon vor sechs Jahren über die Contergan-Schuld eindringlich ins Bild gesetzt? Und was macht nun ein Richter, wenn ein Gutachter heute ja und ein anderer morgen nein sagt? Das Gericht fragt übermorgen den nächsten, sagte der Arzt. Und die übernächsten Sachverständigen müssen jeweils erklären, ob die Experten von gestern und vorgestern unrecht hatten oder nicht.«128
Im August 1968 beendete der Vorsitzende Richter die Befragungen zum Themenkomplex Polyneuritis, zweieinhalb Monate nach Beginn des Prozesses, und wandte sich dem zweiten Fragenkomplex zu, den kindlichen Fehlbildungen. Durch diesen abrupten Themenwechsel blieb die Frage nach der schädigenden Wirkung von Thalidomid auf Erwachsene in der Schwebe. Gleichzeitig wandte sich der Prozess endlich jener Frage zu, die von Beginn an im öffentlichen Interesse gestanden hatte. Mit dem Eintreffen des Sachverständigen Widukind Lenz ging der Prozess in eine neue Phase über: Nun werde es endlich um jene »Vorstellung«129 gehen, um jene bedrückende »Tatsache«, mit der der Name Contergan untrennbar verbunden sei. Im August 1968 trat – lange erwartet – Widukind Lenz in den Zeugenstand. Sein Auftreten stellte DER SPIEGEL als bisherigen »Höhepunkt«130 des Prozesses dar. Lenz sei ein »vielversprechende[r] Wissenschaftler«131 – er habe den teratogenen Zusammenhang entdeckt und auch nicht gezögert, seinen Verdacht unmittelbar der Firma Grünenthal mitzuteilen: »Herr Lenz schreckte nicht irgend jemanden auf, er alarmierte ein pharmazeutisches Großunternehmen. Sprach er
127 Richard Kaufmann, Im Contergan-Dschungel, in: CHRIST UND WELT, 19.07.1968. 128 Georg Schreiber, In Sachen Contergan …, in: DIE ZEIT, 02.08.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 313b, 298334. 129 Dieter Dietrich, Die Contergan-Schlacht, in: STUTTGARTER NACHRICHTEN, 14.08.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299030. 130 Gerhard Mauz, Selbstverständlich ohne uns zu erregen, in: DER SPIEGEL, Nr. 34 (1968), S. 29-30, hier S. 29. 131 Ebd.
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seinen ungeheuerlichen Verdacht leichtfertig aus, so ruinierte er seine Karriere.«132 Für die Familien der contergangeschädigten Kinder war Lenz Heilsbringer und wissenschaftliche Autorität gleichermaßen. Er schien in der Lage, das Verfahren maßgeblich im Sinne der Eltern zu voranzubringen. In den Worten des SPIEGEL »Die Beklommenheit, mit der in Alsdorf Herr Lenz erwartet wird, entspringt der Hoffnung der zahlreich erschienen betroffenen Eltern. Für sie ist Herr Lenz der Ritter ohne Furcht und Tadel auf dem schwersten Gang in einer Welt voller Teufel.«133 Lenz ließ sich in seiner ersten Befragung vor Gericht nicht verunsichern und bekräftigte, der Wirkstoff Thalidomid sei maßgeblich für die Fehlbildungen verantwortlich. Für den SPIEGEL resümierte Gerhard Mauz, das Gutachten und die Aussagen von Lenz seien nicht nur der Höhepunkt der Contergan-Tragödie, sondern des ganzen Prozesses.134 Als Lenz im Gerichtssaal seine Argumentation vortrug, saßen contergangeschädigte Kinder in den Stuhlreihen. Wie ungeübt der Umgang mit den Kindern und ihrer Behinderung war, verdeutlicht nachfolgendes Zitat: »Die Strafkammer will zuerst die Gutachten der Sachverständigen hören. Man will kühl, sachlich und wissenschaftlich bleiben, so lange es eben geht. Man will sich nicht durch den Anblick der unglücklichen Kinder unter Druck setzen lassen.«135
Der Blick auf die contergangeschädigten Kinder vor Ort machte die fotografischen Beweise aus den medizinischen Gutachten lebendig. Für die ›Laien‹ im Publikum waren es »harte, unerfreuliche Bilder«136. »Einige wenden sich ab,
132 G. Mauz, Selbstverständlich ohne uns zu erregen. 133 Ebd. 134 Vgl. ebd. 135 Horst Zimmermann, Eine Chance für 400 Schadenersatzklagen? Zweite Runde im Contergan-Prozeß, in: TEGERNSEER ZEITUNG, 13.08.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299020. Zur Visualisierung der Kinder während des Prozesses, siehe A.H. Crumbach, Contergan als Zäsur, S. 157 und A.H. Crumbach, Bilder als Grenzerfahrung, S. 230-232. 136 H. Zimmermann, Eine Chance für 400 Schadenersatzklagen?; A.H. Crumbach, Contergan als Zäsur, S. 157 und A.H. Crumbach, Bilder als Grenzerfahrung, S. 230-232.
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wenn der Wachtmeister am Bildwerfer das Kommando bekommt, das nächste Bild einzustellen.«137 Für den Großteil der anwesenden Journalisten stand Widukind Lenz als Autorität und ›Experte‹ außer Frage. Dass sein Material unterschiedlich ausgelegt oder ein scheinbar eindeutiger Beweis immer noch einmal von der Gegenseite hinterfragt werden konnte, schien kaum einsichtig138 Die Verteidiger Grünenthals nahmen Lenz während seiner drei Tage andauernden Ausführungen ins Kreuzverhör und versuchten nachzuweisen, dass seine Beweise für das Kausalitätsargument nicht ausreichten. Aus Sicht der Presse aber wurde Lenz so zur »Zielscheibe«139 ungerechtfertigter Angriffe. Wie bereits dargelegt, kam es für das Gericht darauf an, die Glaubwürdigkeit eines Gutachters zu bewerten. Aus Sicht der Presse bestand Lenz den Test: »Der Wissenschaftler, der sich bereits mit der Herstellerfirma anlegte, noch ehe der Begriff Contergan-Tragödie geprägt war, steht ruhig, seiner selbst und seiner Überzeugung sicher, Rede und Antwort. Das Attribut gefaßt drängt sich auf.«140 Trotz langer und komplexer Fragen strahlte Lenz »Zurückhaltung, Vorsicht und Geduld«141 aus. Darauf setzten die Eltern. Und doch, angesichts der kom-
137 H. Zimmermann, Eine Chance für 400 Schadenersatzklagen? Siehe dazu auch A.H. Crumbach, Contergan als Zäsur, S. 157 und A.H. Crumbach, Bilder als Grenzerfahrung, S. 230-232. 138 »Den Richtern und Zuhörern jedenfalls wurde eines klar: Die Bio-Statistik ist ein vertracktes Gelände mit vielen Fallstricken, und schon jetzt scheint festzustehen, daß die Verteidigung ein wachsames Auge darauf haben wird, ob sich nicht einer der Gutachter in diesen Schlingen verfängt.« Christoph Wolff, Contergan-Umsatz mit der Zahl der Mißbildungen parallel. Professor Lenz über den ersten Verdacht des Jahres 1961, in: DIE WELT, 13.08.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299017. 139 Horst Zimmermann Ein Arzt gegen 18 Anwälte, in: WELT AM SONNTAG, 18.08.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299044. 140 Thea Winandy, Die Kenntnis des Wirkungsmechanismus ist nicht entscheidend. Der Gutachter Professor Lenz steht im Contergan-Prozeß Rede und Antwort, in: FAZ, 20.08.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299047. 141 Eberhard Nitschke, Fragen nach Viren, Strahlung und nach Geschirrspülmitteln. Im Contergan-Prozeß antwortet Lenz den Verteidigern, in: DIE WELT, 20.08.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299048.
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plexen Materie blieb der Eindruck haften – auch seitens der Richter –, die von Lenz vertretene Monokausalität sei nicht endgültig bewiessen.142 Mit welchen Mitteln der Kampf in der Öffentlichkeit ausgetragen wurde, bewies der Fall eines Stollberger Ehepaars. Ernst Härdrich und seine Ehefrau hatten bereits ein geschädigtes Mädchen mit körperlichen Fehlbildungen. Sie gehörten zu den Nebenklägern. Jetzt wollten sie durch einen Selbstversuch – die Frau bot an, während ihrer Schwangerschaft Contergan einzunehmen – den entscheidenden, den vermeintlich immer noch fehlenden Beweis erbringen, dass Contergan ›Mißbildung‹ verursachte. Der wissenschaftliche Versuch sollte am »lebenden Objekt« stattfinden.143 Natürlich rief das Ansinnen Empörung hervor. Und ob es wirklich ernst gemeint war, wissen wir nicht144 Dennoch verdeutlichte diese Idee, wie sehr die wissenschaftlich tiefgehende Debatte über den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Contergan und ›Mißbildung‹ an der Wahrnehmung der Betroffenen vorbeilief. Für sie war die Kausalitätsfrage längst geklärt. Gerade deshalb lehnten die Rechtsanwälte der Nebenkläger und die Staatsanwaltschaft das Angebot
142 Vgl. ebd.; Thea Winandy, Die Kenntnis des Wirkungsmechanismus ist nicht entscheidend. Der Gutachter Professor Lenz steht im Contergan-Prozeß Rede und Antwort, in: FAZ, 20.08.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299047; Erika Pomsel, Atomtests sind nicht schuld. 30. Tag im Contergan-Prozeß, in: AACHENER NACHRICHTEN, 20.08.1958, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299049. 143 Dpa, Ehepaar bietet einen Contergan-Versuch an. Probe am ›lebenden Objekt‹ soll beweis bringen, in: KÖLNER STADT-ANZEIGER 21.08.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299052. 144 Vgl. He, Schock aus Alsdorf, in: AACHENER VOLKSZEITUNG, 21.08.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299058; Billy Beza, Stolberger Mutter: Ein zweites Contergan-Kind als Beweis im Alsdorfer Prozess, in: AACHENER VOLKSZEITUNG, 21.08.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299059; NRZ, Ehepaar ist zu Versuch mit Contergan bereit. Schockierendes Angebot als ›Beweismittel‹, in: AACHENER VOLKSZEITUNG, 21.08.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr.314a, 299059; »Das Angebot ist völlig indiskutabel«. Klares Nein zu dem Angebot einer Frau aus Stolberg, einen Selbstversuch mit Contergan zu unternehmen, in: AACHENER VOLKSZEITUNG, 22.08.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299064; ndy, Ladung von weiteren neun Gutachtern beantragt. Nebenklägerin will Contergan in der Schwangerschaft nehmen, in: FAZ, 24.08.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299074.
Die »Unübersetzbarkeit« des Kollektivsymbols | 297
entschieden ab.145 Auch der Bundesverband der Eltern distanzierte sich von dem Vorschlag und rief zur Geduld auf.146 Als die Verteidigung Lenz und seine Begutachtung in Frage stellte, kippte die Stimmung im Gerichtssaal. Die sachliche Atmosphäre sei dahin und »scharfe« Töne würden sich wieder Bahn brechen, meldete die FAZ.147 DIE WELT bewertete das Verhalten der Verteidigung als »bis an die Grenze der Beleidigung«148 gehend. Die scharfen Attacken der Verteidigung – da sie auch auf Lenz als Person abzielten –, konnten das Vertrauen der Öffentlichkeit in dessen wissenschaftliche Autorität nicht erschüttern. Mit ihrer Strategie bestärkte die Verteidigung viel eher den Eindruck, da solle eine integre wissenschaftliche Persönlichkeit demontiert werden.149
145 Vgl. He, Schock aus Alsdorf, in: AACHENER VOLKSZEITUNG, 21.08.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299058; Billy Beza, Stolberger Mutter: Ein zweites Contergan-Kind als Beweis im Alsdorfer Prozess, in: AACHENER VOLKSZEITUNG, 21.08.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299059; NRZ, Ehepaar ist zu Versuch mit Contergan bereit. Schockierendes Angebot als ›Beweismittel‹, in: AACHENER VOLKSZEITUNG, 21.08.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr.314a, 299059; »Das Angebot ist völlig indiskutabel«. Klares Nein zu dem Angebot einer Frau aus Stolberg, einen Selbstversuch mit Contergan zu unternehmen, in: AACHENER VOLKSZEITUNG, 22.08.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299064; ndy, Ladung von weiteren neun Gutachtern beantragt. Nebenklägerin will Contergan in der Schwangerschaft nehmen, in: FAZ, 24.08.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299074. 146 Vgl. Vernunft ist vonnöten, Ungeduld schadet nur, in: AACHENER VOLKSZEITUNG, 28.08.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 299086. 147 Vgl. Thea Winandy, Die sachliche Atmosphäre ist wieder dahin. Das unerklärliche Schweigen des Dr. McBride in Sydney, in: FAZ, 21.08.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299053; Thorsten Scharnhorst, Alle Briefe blieben bisher ohne Antwort. Australischer Arzt soll nach Alsdorf kommen, in: AACHENER VOLKSZEITUNG,
21.08.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299053.
148 Vgl. Eberhard Nitschke, Bis an die Grenze der Beleidigung. Verteidigung attackiert von neuem den Gutachter Professor Widukind Lenz, in: DIE WELT, 21.08.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299055. 149 Vgl. ebd.; Heinrich Bremer, Professor Lenz weicht nicht zurück. Sein wissenschaftlicher Widersacher nach Alsdorf geladen, in: FRANKFURTER NEUE PRESSE, 21.08.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299063.
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Aus Sicht der Anklage stellte sich deshalb die Sachlage ganz anders dar. Sie erachteten Widukin Lenz als »Kronzeugen«150 und ließ keinerlei Zweifel an dessen Glaubwürdigkeit gelten. Weitere Sachverständige würden dessen herausgehobene Stellung als ›Experte‹ unterstützen.151 Lenz war nicht nur der wichtigste Zeuge der Anklage, sondern brachte nachvollziehbar und immer gut verständlich all das auf den Punkt, was die Eltern »wussten« und antrieb. Despektierlich schilderte das SONNTAGSBLATT die Situation: »Er wurde für die Eltern mißgebildeter Kinder Kronzeuge für ihre Schuldansprüche, wie er für die Staatsanwaltschaft Garantie-Sachverständiger der offiziellen Schuld-These wurde. Die wissenschaftliche Interpretation von Lenz habe in ihrer verwirrenden Einfachheit für den Laien etwas selbstverständliches. Es gibt für Lenz keine andere Meinung als seine eigene. In einer Form offensiver Wissenschaftlichkeit prüft er die Fehlerquellen, um sie dann zu neutralisieren, als bestünden sie nicht. So ist der Professor aus Münster ein Hort der Hoffnung für die Eltern mißgebildeter Kinder […].«152
Im Anschluss an die dreitägige Vorstellung seines Gutachtens wurde Lenz mehrere Tage durch die Verteidigung befragt. Der Staatsanwaltschaft war es nicht gelungen, die von dem »›Ritter‹« Lenz getätigten Aussagen im Kreuzverhör für sich zunutze zu machen.153 Die Befragung zog sich hin und damit auch die Strategie der Verteidigung. Mit der Zeit verfing die Strategie der Verteidigung. Ein Ausschnitt aus der Befragung verdeutlicht, welchen Stellenwert die Wissenschaftlichkeit für den Expertenstatus hatte: »Lenz habe gesagt, es sei eine allgemeine wissenschaftliche Tatsache, daß Thaldiomid Mißbildungen verursachte. Es sei wichtig zu wissen, wer diese These vertrete, und ob er, der Herr Professor Lenz, der ›Führer‹ dieser These sei. ›Es gibt in der Medizin keinen
150 Ebd. Bezogen auf den Kronzeugen siehe K.J. Fischer, Die Wahrheit wird gesucht. Gutachter Dr. Lenz: Contergan war schuld, in: VORWÄRTS, 22.08.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299065. 151 Siehe zum Beispiel ndy, Ladung von weiteren neun Gutachtern beantragt. Nebenkläger will Contergan in der Schwangerschaft nehmen, in: FAZ, 24.08.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299074. 152 Kfj, Die Affen im Saal. Conterganprozeß: Etappensieg der Anklage, in: SONNTAGSBLATT,
25.08.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299078.
153 Vgl. Hildegard Damrow, Das Klima ist nun vollends rau geworden. »Wir nehmen die Attacken gegen Gutachter nicht länger hin«, in: HAMBURGER ABENDBLATT, 07.09.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299123.
Die »Unübersetzbarkeit« des Kollektivsymbols | 299
Führer einer These, sondern zahlreiche Forscher auf Spezialgebieten, die miteinander diskutieren‹, antwortete Lenz. ›Nach meiner Erfahrung ist es so, daß sich heute auch der gebildete Laie ein Urteil darüber bilden kann.«154
Lenz geriet immer mehr in die Rolle eines Angeklagten, der sich rechtfertigen und verteidigen musste. So vermutete die Verteidigung, Lenz versuche die öffentliche Meinung auf seine Seite zu ziehen. Kleinteilig wurden sein Gutachten und seine Publikationen auseinandergenommen, sodass Lenz’ Aussagen zunehmend umstritten erschienen.155 15 Tage dauerte die Befragung. Lenz selbst präsentierte sich als standfest und als ein wissenschaftlich sorgfältig die Beobachtungen klassifizierender Arzt: »Was ist am Ende dieses 15-Tage-Marathons geblieben? So wie ein Haus nicht zusammenbricht, wenn aus den Mauern ein paar Steine herausgelöst werden, so steht auch Lenz trotz einiger berechtigter Einwände. Die Grundpfeiler seines Gutachtens sind unerschüttert.«156
Der gutachterliche Bericht von Widukind Lenz bildete nur den Auftakt eines zähen Ringens zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung. Immer wieder ging es um Aussagen vermeintlicher Experten und immer wieder beschäftigten das Gericht Befangenheitsanträge.157 Die Grenzen zwischen der wissenschaftlichen
154 Thea Winandy, Die große Unbekannte. Die Verteidigung beantragt für Professor Lenz eine Ordnungsstrafe, in: FAZ, 10.09.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a 299128. 155 Vgl. Thea Winandy, Grimms Märchen und schmutzige Wäsche. Der Gutachter Lenz fühlt sich in der Situation eines Angeklagten, in: FAZ, 11.09.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299136. 156 Horst Zimmermann, Im »Contergan«-Prozeß ist kein Ende abzusehen. 15 Tage lang stand Professor Lenz im Kreuzfeuer der ›Grünenthal‹-Anwälte, in: TAGESSPIEGEL, 15.09.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a 299138. 157 Vgl. Was darf ein Fachmann? – Das ist die Frage. Beim Contergan-Prozeß streiten die Juristen. Es geht um den Sachverständigen Prof.Weicker, in: AACHENER VOLKSZEITUNG,
17.09.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299141; Thea
Winandy, Massive Beeinflussungsversuche des Gutachters? Die Verteidigung will Professor Weicker disqualifizieren / Gegenerklärung der Staatsanwaltschaft im Contergan-Prozeß, in: FAZ, 18.09.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314a, 299141; DT, kjf: Fragezeichen im Contergan-Prozeß. Anhörung von Professor Lenz
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Gutachtertätigkeit und der Vereinnahmung für die eine oder andere Seite wurden immer offensichtlicher. Hatten Kritiker der Lenzschen These Forschungsgelder durch Grünenthal erhalten, fragten Staatsanwaltschaft und Nebenkläger? Auch andere Gutachter mussten sich der Prüfung durch die Verteidigung oder Staatsanwaltschaft stellen, Befangenheitsanträge wurden gestellt, Fragen nach der Finanzierung ihrer bisherigen Forschung durch die Firma Chemie Grünenthal aufgeworfen.158 Indes, auch Lenz blieb von dem Verdacht der Voreingenommenheit nicht verschont. Die Verteidigung legte einen ausführlich begründeten Befangenheitsantrag gegen Lenz als Hauptzeugen der Anklage vor.159 Allein die Verlesung des
brachte keine Klärung, in: DEUTSCHE TAGESPOST, 20.09.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314b, 299146. 158 Vgl. Gutachter mundtot gemacht?, in: GESUNDES LEBEN 11 (1968), S. 10, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314b, 299235; Der eine sagt ja – der andere nein. Immer noch streiten sich im Contergan-Prozeß die Gutachter – Ein Wissenschaftler wegen Befangenheit abgelehnt, in: AACHENER VOLKSZEITUNG, 01.10.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314b, 299190; Heinrich Breer, Sind die Gutachter nicht mißtrauisch genug? Contergan-Prozeß: Der Frankfurter Professor Hoevels fordert pedantische Sorgfalt, in: FRANKFURTER NEUE PRESSE, 19.10.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314b, 299208; ndy, Streit um die Unabhängigkeit des Gutachters. Verteidigung im Contergan-Prozeß wirft Professor Gottschweski Befangenheit vor / Zuwendungen der Firma Grünenthal, in: FAZ, 24.10.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314b, 299217; dpa, Wissenschaftler hart angegriffen. Contergan-Verteidiger: Wie Heckenschützen. Es ging um Geld und Gutachten, in: KÖLNER STADT-ANZEIGER, 24.10.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314b, 299218; Dagmar Lemke, »Befangenheit« ein Problem im Contergan-Prozeß. Enge Verbindung Wirtschaft/Wissenschaft erschwert Wahrheitsfindung, in: HANDELSBLATT, 28.10.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314b, 299227; Neuer Abschnitt im Contergan-Prozeß. Ab Montag sollen die sieben Angeklagten zur Sache vernommen werden – Prof. Warda zum Thema »Befangenheit«, in: AACHENER VOLKSZEITUNG, 30.10.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314b, 299231. 159 Vgl. Wird Lenz wegen Befangenheit abgelehnt? Neuer Vorstoß der Verteidigung im Contergan-Prozeß steht bevor – Gestern berichtete Dr. Blasiu, in: Aachener Volkszeitung, 26.11.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314b, 299282; Contergan-Verteidiger fährt schweres Geschütz gegen Lenz auf. Als Gutachter wegen Befangenheit abgelehnt – Kritiker eingeschüchtert? Weil er Schadenersatzprozesse gegen Grünenthal unterstützt, in: RHEINISCHE RUNDSCHAU, 27.11.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314b, 299286; dpa, Verteidigung greift Professor Lenz an.
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Antrages dauerte drei Stunden. »Lenz ist ein einseitiger Ermittlungsgehilfe für die Staatsanwaltschaft«, so eine Überschrift in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG.160 Der Vertreter der Nebenklage entgegnete der Verteidigung, ihr Antrag sei ein »offene[r] Skandal«.161 Bis Oktober 1969 warteten die Prozessteilnehmer auf eine Entscheidung über den Befangenheitsantrag. Das Gericht – nun unter dem Vorsitzenden Richter Benno Dietz162 – gab dem Antrag Recht und lehnte Lenz als Gutachter ab.163 Für die Staatsanwaltschaft und die Nebenkläger war das ein herber Rückschlag, auch wenn sich der Staatsanwalt durchaus optimistisch zeigte, dass die Kausalität
Antrag auf Ablehnung wegen Befangenheit gegen den prominenten Gutachter gestellt, in: DIE WELT, 27.11.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314b, 299289. 160 Vgl. Dpa, Verteidigung lehnt Contergan-Gutachter ab. »Lenz ist ein einseitiger Ermittlungsgehilfe für die Staatsanwaltschaft«, in: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 27.11.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314b, 299291; siehe dazu auch: Thea Winandy, 74 Seiten Ablehnung. Der Antrag der Verteidigung im ConterganProzeß gegen Professor Lenz/Elf Punkte zur Begründung in drei Stunden verlesen, in: FAZ, 27.11.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314b, 299289. 161 »Contergan«-Verteidiger fährt schweres Geschütz gegen Lenz auf. Als Gutachter wegen Befangenheit abgelehnt – Kritiker eingeschüchtert? Weil er Schadensersatzprozesse gegen Grünenthal unterstützt, in: RHEINISCHE RUNDSCHAU, 27.11.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 314b, 299286. 162 Peter Weber war aufgrund gesundheitlicher Probleme ausgeschieden: Vgl. Thea Winandy: Dr. Peter Weber gibt den Vorsitz im Contergan-Prozeß ab. Grund: Ein schweres Bandscheibenleiden/Der neue Vorsitzende möchte nicht morgens Psalm 1 beten, in: FAZ, 10.09.1969, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 316. 163 Vgl. Dpa, Anklage im Contergan-Verfahren verlor einen wichtigen Mann, in: DIE WELT, 14.10.1969, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 316; Erika Pomsel, Gericht lehnt Prof. Lenz als Sachverständigen ab. Hamburger Humangenetiker war der erste Warner im Fall Contergan. Sensation im Contergan-Prozess, in: AACHENER NACHRICHTEN, 14.10.1969, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 316; Thea Winandy, Professor Lenz als Gutachter für den Contergan-Prozeß abgelehnt. Die Strafkammer folgt damit einem Antrag der Verteidigung/Nicht abwertende gemeint/Verfahrenskosten bisher drei Millionen Mark, in: FAZ, 14.10.1969, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 316; Ferdinand Ranft, »Ostern sind wir zu Hause!« Professor Lenz als Sachverständiger abgelehnt – ein neuer Vorsitzender durchforstet Prozeßstoff, in: DIE ZEIT, 24.10.1969, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 316. A.H. Günther, Ein »Jahrhundertprozess« oder »Justitias Blamage«?, S. 205.
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zwischen den Fehlbildungen und Thalidomid so eindeutig nachgewiesen worden sei, dass man auf die Erläuterungen von Lenz verzichten könne.164 DIE ZEIT erläuterte die Auffassung der Staatsanwaltschaft ihren Lesern: Die Ablehnung des Gutachters Lenz, vermutete sie, könne bereits einen Hinweis auf das spätere Urteil liefern. Wäre ein Freispruch denkbar, hätte das Gericht nicht so lange über den Befangenheitsantrag diskutieren müssen. Nun schien die Ablehnung von Lenz als Versuch, mögliche Revisionsgründe bereits im Keim zu ersticken.165 Im Gegensatz zu Lenz trat der Arzt Horst Frenkel als Zeuge und nicht als Gutachter auf.166 In seiner Aussage ging es weniger um seine wissenschaftliche Arbeit als um das Verhalten der Firma Chemie Grünenthal gegen ihn. Diese hatte 1961 eine einstweilige Verfügung erwirkt und war bei der Frankfurter Ärztekammer vorstellig geworden.167 Sie beauftragte zudem einen Privatdetektiv, um den Gründer der Interessengemeinschaft für Contergan-Geschädigte zu beobachten.168 Die mediale Berichterstattung machte ein Unterschied zwischen der Darstellung von Lenz und Frenkel: Obwohl Lenz zahlreiche wissenschaftliche Kritik hatte einstecken müssen, war seine medizinische Professionalität im Grunde nicht angezweifelt worden. Frenkel hingegen war bereits 1962 als Arzt aus der
164 Vgl. Dpa, Anklage im Contergan-Verfahren verlor einen wichtigen Mann, in: DIE WELT, 14.10.1969, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 316; Erika Pomsel, Gericht lehnt Prof. Lenz als Sachverständigen ab. Hamburger Humangenetiker war der erste Warner im Fall Contergan. Sensation im Contergan-Prozess, in: AACHENER NACHRICHTEN, 14.10.1969, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 316; Thea Winandy, Professor Lenz als Gutachter für den Contergan-Prozeß abgelehnt. Die Strafkammer folgt damit einem Antrag der Verteidigung/Nicht abwertende gemeint/Verfahrenskosten bisher drei Millionen Mark, in: FAZ, 14.10.1969, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 316; Ferdinand Ranft, »Ostern sind wir zu Hause!« Professor Lenz als Sachverständiger abgelehnt – ein neuer Vorsitzender durchforstet Prozeßstoff, in: DIE ZEIT, 24.10.1969, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 316. A.H. Günther, Ein »Jahrhundertprozess« oder »Justitias Blamage«?, S. 205. 165 Vgl. ebd. 166 Vgl. Thea Winandy, »Wie zwei Menschengruppen, die eine andere Sprache sprechen«. Die Zeugen Frenkel und Amelung im Contergan-Prozeß, in: FAZ 23.07.1969, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 315b, 300357. 167 Vgl. Grünenthal drohte warnenden Arzt. Gründer »Interessengemeinschaft« als Contergan-Zeuge, in: AACHENER NACHRICHTEN, 22.07.1969, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 315b, 300358. 168 Siehe dazu LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 315b, 300367 und 300368.
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wissenschaftlichen Diskussion ausgeschlossen und nur auf die Interessengemeinschaft reduziert worden. Im Gerichtsprozess setzte sich im Grunde die öffentliche Diskussion um Lenz und Frenkel als Ärzte fort, wie sie bereits 1962 stattgefunden hatte. Die Presse feierte die Mediziner für ihre medizinischen Leistungen und schätze ihr persönliches Engagement. Gleichzeitig hinterfragte die Verteidigung die wissenschaftliche Herangehensweise von Lenz, der verwundbar war, weil er gleichzeitig als Forscher, als Arzt und als öffentlicher Mahner agierte.
6.4 EIN »MORALISCHER SKANDAL«? JOURNALISTISCHE UND MEDIZINISCHE DEUTUNGSKONZEPTE IM KONFLIKT Journalisten begleiteten den Gerichtsprozess nicht nur aus einer Beobachterperspektive, sondern wirkten unmittelbar auf seinen Verlauf ein. Das Zusammenspiel von Staatsanwaltschaft, Nebenkläger, Verteidigung und anwesenden Journalisten verdeutlicht, welche Bedeutung die öffentliche, nach außen transportierte Wahrnehmung des Gerichtsverfahrens hatte. Gleich mit Beginn des Prozesses, versuchte die Staatsanwaltschaft die anwesenden Journalistenin verschiedene Kategorien einzuteilen – davon war schon die Rede: Einerseits gab es jene Pressevertreter, die sich eng mit der Firma Chemie Grünenthal verbunden fühlten. Andererseits berichtete die Mehrheit der Journalisten, über das Verfahren sachlich und interessiert.169 Diese Einschätzung war für die Prozessessführung der Staatsanwaltschaft wichtig, schließlich hatte sie in der Anklageschrift der Firma Chemie Grünenthal eine offensichtliche Beeinflussung der Presse vorgeworfen: »Wissenschaftler, Ärzte und Apotheker, die nicht der offiziellen Grünenthal-Linie folgten, wurden nicht selten als ›Meckerer‹, ›Demagogen‹, ›Opportunisten‹ oder ›Fanatiker‹ bezeichnet. Sie waren teils heftigen und unsachlichen Angriffen ausgesetzt. Besonders Anfang 1962 taten die Angeschuldigten alles, um die Presse, deren groß und alarmierend aufgemachte Meldungen sie zuvor wegen ›unsolider Berichterstattung‹ abgetan hatten, ›in
169 Vgl. Dienstbesprechung der Staatsanwaltschaft, Verfügung!, Aachen, 12. Juni 1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 327a, 83-86, hier 83.
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unserem Interesse zu beeinflussen‹, entsprechende Artikel zu ›steuern‹ und zu ›lancieren‹.«170
Auch Grünenthal beobachtete die Medienlandschaft und versuchte sie zu beeinflussen. In Alsdorf richtete das Unternehmen ein Pressebüro ein;171 unter anderem sandte es zusammenfassende Berichte an ausgewählte Pressevertreter. So wusste die Staatsanwaltschaft von einem Autor zu berichten, der wegen seiner kritischen Haltung von der Berichtsverschickung ausgeschlossen worden war.172 Auch Fernsprechgebühren seien übernommen worden, hieß es. Aber ob dies tatsächlich so geschehen war, wusste die Staatsanwaltschaft nicht genau. Fest stand, dass die Leiterin der Pressestelle von Chemie Grünenthal in Pausen Kontakt zu Journalisten suchte. Darüber hinaus erhielten diese die schriftlichen Stellungnahmen der Verteidigung schon während der Verhandlungen.173 Mehr als kritisch beäugte die Staatsanwaltschaft dieses Vorgehen. Und so konstatierte der Journalist Jürgen Maisel für die CANNSTATTER ZEITUNG: »Auch die wenigen noch anwesenden Journalisten partizipieren am ›GrünenthalPerfektionismus.‹ Sie erhalten oft kurze Zeit nach Erstattung eines Gutachtens von der Pressechefin des Contergan-Herstellerwerks die vervielfältigten Lebensläufe und Ausführungen der Sachverständigen. Leider werden jedoch nur die Gutachten schriftlich an die Prozeßbeobachter verteilt, die eine Schädlichkeit des ›Wunderschlafmittels‹ ausschließen oder zumindest in Frage stellen.«174
170 Vgl. Auszüge aus der Anklageschrift, Band I, Seite 420, LAV NRW R, Gerichte Rep. 0021, Nr. 915. 171 Vgl. N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 741. 172 Vgl. Dienstbesprechung der Staatsanwaltschaft, Verfügung!, Aachen, 12. Juni 1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 327a, 84. 173 Vgl. ebd. 174 Jürgen Maisel, Der Contergan-Prozeß – ein Schattenboxen. Spärliche Zwischenbilanz nach acht Wochen mit Sachverständigen, in: CANNSTATTER ZEITUNG, 24.07.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 313b, 298322. Insbesondere das Ehepaar Wenzel (Karl-Heinz Wenzel und Dagmar Lemke) wurde von der Staatsanwaltschaft kritisch gesehen. Die Staatsanwaltschaft sah eine enge Verbindung zwischen der Herstellerfirma und dem Ehepaar, das ein vollständiges Protokoll für jeden Prozesstag publizierte. Darüber hinaus sah die Staatsanwaltschaft auch eine Beeinflussung der Journalisten Kurt-Joachim Fischer und Helmut Holscher durch die Herstellerfirma, siehe dazu N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 741.
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Dieses Zurückstehen in der Pressearbeit zu Ungunsten der Staatsanwaltschaft ließ sich nicht ausgleichen, denn von Seiten der Justizbehörde waren die Anklagevertreter formell »zur Zurückhaltung angehalten«.175 In dieser Situation kam Walter Dirks, Schriftsteller, linkskatholischer Publizist, Herausgeber der FRANKFURTER HEFTE, der Staatsanwaltschaft zu Hilfe. Er hatte zwar am Prozess in Alsdorf nicht selbst teilgenommen, ihn doch in den Medien offensichtlich aufmerksam verfolgt. So kommentierte er den Gerichtsprozess und dessen juristische Finessen höchst kritisch: »Wir sind zur Zeit Zeugen eines moralischen Skandals. Er dauert bereits eine lange Weile und wird deshalb als langweilig und also nicht als Skandal registriert.«176 Dirks bezeichnete es einerseits als »moralischen Skandal«177, dass die Verteidigung die medizinische Kausalität des Wirkstoffes verleugnete, andererseits kritisierte er grundsätzlich das Auftreten der Verteidigung. Als Quelle der medizinischen Kausalität führte er den Brockhaus an, der bereits 1963 den Zusammenhang zwischen Thalidomid und den Fehlbildungen aufgeführt hatte: »Was im Gerichtssaal strittig sein mag, ist nicht nur dem Brockhaus, sondern uns allen klar. Es gibt außerhalb des kleinen Personenkreises derer, die sich wegen ihrer eigenen Interessen jedes Wort zur Sache sorgfältig überlegen müssen, niemanden, der nicht mit einem Zusammenhang zwischen der Contergan-Einnahme und kindlichen Mißbildungen in unbekannt vielen Fällen rechnet.«178
175 N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 741. Auch von journalistischer Seite gab es Versuche, die Verbindungen zur Staatsanwaltschaft zu stärken. Auch die Versuche eines Journalisten, Verteidigung und Staatsanwaltschaft für die Erstellung einer Broschüre über die Verhandlung zu gewinnen, scheiterten. Darüber hinaus fertigte die Staatsanwaltschaft einen Vermerk an, in dem sie über »als speziell von der Fa. Grünenthal beeinflußte und gesteuerte Journalisten« (Vermerk der Staatsanwaltschaft 4 KMs 1/69 (»Contergan«-Verfahren), LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 327a, 117-118, hier 117.) sowie über mögliche Recherchearbeiten für die Firma informierte. Vgl. Vermerk der Staatsanwaltschaft, 17.09.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 327a 104-105, hier 104. Vgl. Vermerk der Staatsanwaltschaft, 02.10.1968, Landearchiv NRW Abteilung Rheinland Gerichte Rep. 139 Nr. 327a, 91-92, hier 91. Vermerk der Staatsanwaltschaft 4 KMs 1/69 (»Contergan«Verfahren), LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 327a, 117-118, hier 117. 176 WD, Anmerkungen (und ein Nachruf), in: FRANKFURTER HEFTE, Nr. 11 (1968), S. 748-750, hier S. 748. 177 Ebd. 178 WD, Anmerkungen (und ein Nachruf), S. 748.
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Des Weiteren machte er die Art und Weise der Verteidigung als skandalös aus, bewertete ihr Auftreten gegenüber dem Gericht und der Anklage sowie Nebenklage als nicht vertretbar: »Weiß sie nicht, daß die Methode ihrer Verteidigung Verachtung verdient? Wir sind Zeugen eines moralischen Skandals.«179 Dirks löste mit seinem Artikel selbst einen Skandal aus, der bis weit in das Gericht hineinreichte. Die Verteidigung der Herstellerfirma wies seine Kritik zurück180 und versicherte, es habe keinerlei »Mißgriffe im Ton«181 gegeben. In einem fünfseitigen Brief an Dirks rechtfertigte ein Verteidiger die Strategie vor Gericht: »Ich bekenne offen, daß uns alle dieser Beitrag gerade aus Ihrer Feder persönlich sehr getroffen hat. Wir sehen darin den bisher schwersten PresseAngriff auf die Integrität der Verteidiger im ›Contergan‹-Verfahren.«182 Wie sehr der Vorwurf des moralischen Skandals die Verteidigung aufschreckte, zeigte ihre Reaktion im Gerichtssaal. Als die Staatsanwaltschaft den Begriff des »moralischen Skandals« übernahm, verließ ein Verteidiger aus Protest den Gerichtssaal.183 Ganz offiziell verlas die Verteidigerseite im Gerichtssaal ihre Gegendarstellung, die sie an den Walter Dirks geschickt hatte.184 Im Dezember 1968 wandte sich ein Angeklagter schriftlich an Dirks. In seinem Brief kritisierte er Dirks Ausführungen. Er habe in seinem Artikel die Kausalitätsvermutung als erwiesene Tatsache präsentiert, obwohl er ein medizinischer ›Laie‹ sei. Weder der Brockhaus noch der Autor seien in der Lage, das hochkomplexe medizinische Problem zu bewerten.185 Wie sehr Dirks einen wunden Punkt getroffen hatte, zeigte auch das Echo in der medizinischen Fachgemeinschaft. Der promovierte Mediziner und Journalist
179 Ebd., S. 748-749. 180 Brief an Walter Dirks, Hamburg z.Zt. Alsdorf, 10. Dezember 1968, AdsD Nachlass Dirks, 1/WDAC000135. 181 Ebd., S. 2. 182 Ebd., S. 1. 183 Thea Winandy, Ein Verteidiger verläßt den Gerichtssaal. Turbulente Szene beim Contergan-Prozeß/Die Strafverteidiger fühlen sich beleidigt, in: FAZ, 21.12.1968, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 315a, 30041, 30042, 30043, 30044, 30045, 30046, 30047, 30048. 184 Brief an Walter Dirks, Hamburg, 23.12.1968, Nachlass Walter Dirks AdsD 1/WDAC000135; Brief von Walter Dirks, Wittnau, 07.01.1969, Nachlass Walter Dirks AdsD 1/WDAC000135. 185 Vgl. Brief an Walter Dirks, Stolberg, 19.12.1968, Nachlass Walter Dirks AdsD 1/WDAC000134.
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Bernhard Knoche, Düsseldorf, sah sich veranlasst, im BERLINER ÄRZTEBLATT Stellung zu nehmen.186 Das Blatt veröffentliche die Replik trotz des polemischen Grundtons, weil es die öffentliche Diskussion für wichtig hielt.187 Auch teilte es die generelle Einschätzung des Autors, wonach solch komplexe wissenschaftliche Fragen vor Gericht nicht zu beantworten seien.188 In der Kritik Knoches wird der seit 1961 zu Tage tretende Konflikt zwischen ›Laien‹ und ›Experten‹ deutlicht. Knoche warf Dirks Stimmungsmache gegen die Angeklagten vor, indem er sich ein »Werturteil«189 erlaube, ohne über medizinische Kenntnisse zu verfügen und ohne am Verfahren selbst teilgenommen zu
186 Vgl. Bernhard Knoche, Moralischer Skandal oder juristischer Wahnwitz? Kritisches zum Contergan-Prozeß und zur Berichterstattung, in: BERLINER ÄRZTEBLATT, 82/4 (1968), S. 223-231. Knoche war für die Medizinisch-Pharmazeutische Studiengesellschaft als Beobachter und Berichterstatter in Alsdorf (vgl. ebd., S. 223; Nachlass Walter Dirks AdsD, 1/WDAC000312). 187 Hier heißt es: »›Jede Zeitung bezeugt selbst, was sie ist, durch das, was sie veröffentlicht‹, schreibt der Autor des folgenden Beitrages am Schluß seiner polemischen Ausführungen gegen den Verfasser eines Artikels über den Contergan-Prozeß, den die ›Frankfurter Hefte‹ veröffentlichten. Wir möchten uns dieser Meinung nicht anschließen, ohne sie modifiziert zu haben. Keineswegs nämlich identifiziert sich die Redaktion einer Zeitung oder Zeitschrift immer mit einem von ihr veröffentlichten Beitrag! ›Berliner Ärzteblatt‹ tut das ebensowenig mit dem hier folgenden Artikel, wie die Redaktion der ›Frankfurter Hefte‹ das wahrscheinlich mit dem hier angegriffenen Beitrag von ›W.D.‹ getan hat. Trotzdem räumen wir Dr. Knoche, der für die Medizinisch-Pharmazeutische Studiengesellschaft ständig über den ConterganProzeß berichtet, die Möglichkeit ein, gegen die emotional verzerrte Prozeßberichterstattung und -kommentierung ebenso emotional zu polemisieren. (Diskussionsbeiträge unserer Leser dazu würden wir ebenfalls gern veröffentlichen.) Denn Dr. Knoche beleuchtet den Wahnwitz dieses Prozesses: Den Wahnwitz, Juristen nach ›Schuld‹ fahnden zu lassen, die selbst von wissenschaftlichen Experten vergeblich gesucht wurde; den Wahnwitz eines Rechtssystems, das Strafbarkeit vor Hilfe setzt und freiwillige Hilfeleistung als Schuldbekenntnis verdächtigt; der Wahnwitz juristischer Prinzipienreiterei, die wissenschaftliche Katastrophen strafrechtlich zu ahnden versucht und dabei scheitern muß; der Wahnwitz einer Kostenlawine, die nicht den geschädigten Kindern zugute kommt, sondern nur dem höheren (?) Ruhme der Justiz dient. Red.« B. Knoche, Moralischer Skandal oder juristischer Wahnwitz?, S. 223. 188 Vgl. ebd. 189 Vgl. ebd.
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haben. Er trage damit zur Vorverurteilung der Angeklagten bei und bestärke die öffentliche Meinung darin, die Angeklagten für schuldig zu halten: »Selbst dem Berichterstatter, der Arzt ist […], ist längst nicht alles klar. Aber einem Publizisten, der, wie dokumentiert, Laie auf allen Gebieten ist, ist alles klar. Und mit dieser seiner Klarheit informiert er die Öffentlichkeit! Also ist es, wie hier bewiesen, möglich, heutzutage den Brockhaus als Beweismittel für naturwissenschaftliche Richtigkeit zu nennen. […] Wer Brockhauswissen zur Auskunft über die naturwissenschaftlichen Contergan-Tatsachen anführt, die selber die Wissenschaftler aller Länder wegen der Unfaßlichkeit nicht zur Ruhe kommen lassen, kann damit höchstens in Gesellschaft Konversation treiben, und selbst das ist Geschmackssache.«190
Zugleich verwahrte sich Knoche gegen den Vorwurf, die Gutachter der Verteidigung seien von der Firma Chemie Grünenthal »gekauft« worden. Es könne überhaupt keine Rede von einer Indoktrinierung der Medizin durch die Pharmaindustrie sein.191 Als geschwätzigen Pamphletisten bezeichnet Knoche letztlich den Frankfurter Intellektuellen und stellte sich damit selbst ins Abseits. Kein Wunder, dass der PRAXIS-KURIER den Artikel als »Wutausbruch«192 bezeichnet, der sich einem Fachmann verbiete. Man sei verwundert, wie ein Kollege sich zu einem solchen Pamphlet habe hinreißen lassen: »Es sind doch Personen angeklagt, nicht das Contergan. Und nun verteidigt Kollege Knoche das Contergan gegen Brockhaus, Dirks und Genossen. Ein seltener Fall von intellektueller Entgleisung. Die Grenzen des Erlaubten überschreitet jener Passus, in dem Knoche die Verteidiger verteidigt und dem Staatsanwalt und dem Gericht bescheinigt, sie stünden vor einem ›Problem, dem sie kaum gewachsen zu sein scheinen.‹ In dieser temperamentvollen, aber unglaublich leichtfertigen Art fällt Knoche dem Schicksal und einem schwebenden Prozeß in die Arme. Will er nun selber Schicksal spielen oder sachlich über einen etwas komplizierten Prozeß berichten? Mir scheint, wir haben es hier mit einem tragischkomischen Fall von Selbstverbrennung zu tun.«193
190 B. Knoche, Moralischer Skandal oder juristischer Wahnwitz?, S. 224-227. 191 Vgl. ebd., S. 228. 192 Hans Moor, Publizisten-Schelte, in: PRAXIS-KURIER, 11 (1969), S. 2. 193 H. Moor, Publizisten-Schelte, S. 2. Auch Walter Dirks nahm die Rezeption seines Artikels in medizinischen Zeitschriften wahr. Siehe Notiz an WD, 16.05.1969, AdsD Nachlass Walter Dirks, Nr. 312, 1/WDAC000312; Brief von Walter Dirks, Wittnau, 17.04.1969, Nachlass Walter Dirks AdsD 1/WDAC000134. So war Dirks auch über den Artikel von Häussermann im Deutschen Ärzteblatt informiert, siehe dazu A.
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Am Ende blieb offen, wie die Presse einen hoch komplizierten medizinischen und rechtlichen Sachverhalt kommentieren durfte. Welches Recht hatte sie, die öffentliche Meinung zu lenken, wie sie es in den 1960er Jahren wie selbstverständlich tat. Was bedeutete es, wenn sie offen oder unbemerkt von einzelnen Akteuren in Dienst genommen wurde? Walter Dirks wiederum bewegte die Gemüter so sehr, dass eine sachliche Debatte über die These des moralischen Skandals nicht zustande kam. Mit Dirks Beurteilung offenbarte sich der Konflikt um das öffentliche Mitspracherecht. Wer war legitimiert, den Contergan-Fall zu bewerten? Der Konflikt ließ sich dann auch im Gerichtssaal nicht lösen.
6.5 DIE EINSTELLUNG DES VERFAHRENS UND DAS KOLLEKTIVSYMBOL Der Gerichtsprozess zog sich immer weiter in die Länge. Die Presse diskutierte eine mögliche Einstellung des Verfahrens Zwei Jahre nach Beginn zeigte sich auch das nordrhein-westfälische Justizministerium bereit, über eine juristische Einstellung nachzudenken.194 Bald begannen intensive Gespräche zwischen den Prozessteilnehmern. Im April 1970 schlossen die Firma Chemie Grünenthal und der Nebenklägervertreter einen Vertrag über die Zahlung von 100 Millionen D-Mark, die an die Familien betroffener Kinder weitergeleitet werden sollten. Eine Entschädigung der erwachsenen Betroffenen sah der Vertrag nicht vor. Noch zwei Jahre dauerte es, bis 1972 die Stiftung »Hilfswerk für behinderte Kinder« gegründet war, die die Auszahlung der Gelder übernehmen sollte.195 Mit dem Vertrag war allerdings die Einstellung des Verfahrens noch nicht juristisch besiegelt. Dazu bedurfte es eines offiziellen Antrages. Die Verteidigung stellte ihn am 7. Dezember 1970. Die Strafprozessordnung sah auch vor, dass die Staatsanwaltschaft zustimmen musste. Zudem musste ein geringes Verschulden
Häussermann, Ein Prozeß ohne roten Faden, in: DEUTSCHES ÄRZTEBLATT, 8 (1969), S. 499-501, hier S. 500. 194 Vgl. N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 891 ff. 195 Vgl. Entwurf einer Satzung, Haus der Geschichte, EB-Nummer: 2006/11/0396; Schreiben an die Eltern der mißgebildeten Kinder betr. Stiftungsgründung, 20.02.1972, Haus der Geschichte, EB-Nummer: 2006/11/0395; Abfindungserklärung, 1970, Haus der Geschichte, EB-Nummer: 2006/11/0393. Vgl. B. Kirk, Der Contergan-Fall, S. 92-95; A.H. Günther, Ein »Jahrhundertprozess« oder »Justitias Blamage«?, S. 206.
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der Angeklagten vorliegen und das öffentliche Interesse an der Fortführung des Verfahrens nicht gegeben sein.196 Einen Freispruch bedeutete dies nicht. Denn eine Einstellung war nur möglich, wenn ein Freispruch für die Angeklagten ausgeschlossen war. Auch eine Revision war dann nicht mehr möglich.197 Das Gericht begründete am 18. Dezember 1970 die Verfahrenseinstellung u.a. damit, dass der Vergleich zwischen der Herstellerfirma und den Eltern der contergangeschädigten Kinder eine finanzielle Entschädigung sichere, die durch die Fortführung des Prozesses nicht habe gewährleisten werden können.198 Die Presse bewertete das Ende des Alsdorfer Rechtsstreites unterschiedlich. Zwar erkannte man durchaus die juristische Legitimität des Vorgehens an und akzeptierte, dass der Prozess eingestellt wurde. Doch blieben die Grundprobleme ungelöst.199 Erstens war auch jetzt die staatliche Aufsicht bei der Überwachung von Arzneimitteln noch ungenügend.200 Zweitens konnten die Zahlungen der Firma Chemie Grünenthal das Leid der Kinder und ihrer Familien niemals aufwiegen oder lindern. Pessimisten befürchteten gar, die die Geldüberweisungen aus Stolberg könnten verzögert und die Kinder vergessen werden, sobald der Prozess beendete sei und das Interesse nachlasse.201 Die moralische Komponente blieb das Leitmotiv bei der Beurteilung des Verfahrens.202 Einerseits waren die Einstellung des Verfahrens und die Zahlung
196 Vgl. B. Kirk, Der Contergan-Fall, S. 92-95; A.H. Günther, Ein »Jahrhundertprozess« oder »Justitias Blamage«?, S. 206. 197 Vgl. ebd., B. Kirk, Der Contergan-Fall, S. 93. Zur Begründung des Gerichts siehe N. Lenhard-Schramm, Das Land Nordrhein-Westfalen, S. 842-847. 198 Vgl. B. Kirk, Der Contergan-Fall, S. 93-97; A.H. Günther, Ein »Jahrhundert-prozess« oder »Justitias Blamage«?, S. 206. 199 Vgl. NN, Herausforderungen, in: FÜRTHER NACHRICHTEN, 19.12.1970, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 318, 311002. 200 Vgl. Dieter Dietrich, Verpaßte Chance im Contergan-Prozeß, in: STUTTGARTER NACHRICHTEN, 19.12.1970, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 318, 311011; NN, Herausforderungen, in: FÜRTHER NACHRICHTEN, 19.12.1970, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 318, 311002. 201 Vgl. Rainer Ries, Der Prozeß ist aus – das Leid nimmt kein Ende. Der Fall Contergan, in: EXPRESS, 19./20.12.1970, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 318, 311073-74; Werner Kirchner, Helft endlich den Contergan-Opfern! Bürokratie verzögert Auszahlung der 110 Millionen Mar, in: BILD AM SONNTAG, 20.12.1970, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 318, 311087. 202 Manfred Gregier, Kompromiß in Alsdorf, in: WESTDEUTSCHE RUNDSCHAU, 19.12.1970, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 318, 311004.
Die »Unübersetzbarkeit« des Kollektivsymbols | 311
an die Familien ein »begrüßenswerter Kompromiß«203, andererseits blieb Beklemmung zurück: »Ein Prozeß ohne eindeutiges Urteil hinterläßt ein Gefühl des Unbehagens und der Rechtsunsicherheit. Gerade dann, wenn in einem die Richter überfordernden Gutachterprozeß die Grenzen der Justiz sichtbar werden. Mit dem Contergan-Prozeß, dessen vorzeitiges Ende wohl zu erwarten ist, ist das nicht anders.«204 Für die HESSISCHE ALLGEMEINE war das »Ziel erreicht«205. Der ConterganProzess habe die Öffentlichkeit aufmerksam gemacht; die Firma zahle einen Millionenbetrag; Staat und Gesellschaft seien ebenfalls an den Zahlungen beteiligt. Zugleich sei die Aufmerksamkeit gegenüber den Gefahren größer geworden.206 Kritik wurde hingegen in Bezug auf die Höhe der Zahlungssumme geäußert, die deutlich zu gering veranschlagt sei.207 Das Prozessende kann daher folgendermaßen zusammengefasst werden: »Ein befriedigendes Gefühl ist nicht erlaubt---.«208 Allerdings gab es auch andere Töne mit scharfer Kritik an der Verfahrensführung: Die BADISCHEN NEUESTEN NACHRICHTEN sprachen gar von einer »Ohnmacht der Justiz«: »Die Einstellung des Contergan-Verfahrens dokumentiert die Ohnmacht der Justiz, die bisher verheerendste Arzneimittelkatastrophe strafrechtlich zu bewältigen. Aus dieser eklatanten Kapitulation der Rechtspflege darf jedoch nicht die allgemeine Schlußfolgerung gezogen werden, daß Strafprozesse um die Verantwortlichkeit medikamentöser Nebenschäden grundsätzlich über die Grenzen des Möglichen hinausgehen und deshalb unterbleiben sollten. Die gewaltige Ausuferung des Contergan-Verfahrens war keinesfalls von der Sache her bedingt, sondern ging auf das Konto einer alle strafprozessualen Möglichkeiten ausschöpfenden Verteidigung. […] Das enthebt das Gericht in Alsdorf aber nicht
203 Ebd. Siehe dazu auch Eckhard Wiemers, Überforderte Justiz. Eine kühne Volte beendete den Contergan-Prozeß, in: VORWÄRTS, 24.12.1970, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 318, 311005. 204 W.R., Ohne Schuldspruch, in: HESSISCHE ALLGEMEINE, 12.12.1970, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 318, 311006. 205 Ebd. 206 Vgl. W.R., Ohne Schuldspruch 207 Vgl. Lv, Ende des Contergan-Prozesses, in: DARMSTÄDTER ECHO, 22.12.1970, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 318. 208 K.J. Fischer, Ein befriedigendes Gefühl ist nicht erlaubt. Zur Einstellung des Contergan-Prozesses in Alsdorf, in: RHEIN-NECKAR-ZEITUNG, 19.12.1970, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 318, 311009.
312 | Sprechen über Contergan
von dem Vorwurf, das Verfahren von Anfang an falsch aufgezogen und eine straffe Prozeßführung unterlassen zu haben.«209
Mit Ihrer Kritik standen die BADISCHEN NEUESTEN NACHRICHTEN nicht allein.210 Die Wochenzeitschrift CHRIST UND WELT stellte das ganze Verfahren in Fragen.211 Für die Gerichtsreporterin der WELT AM SONNTAG bedeutete die Einstellung des Verfahrens »Justitias Blamage«212, an dem die Grenzen der Rechtsprechung deutlich wurden. H. Bremer nannte für die FRANKFURTER NEUE PRESSE das Ergebnis ein »Fiasko der Justiz«213, da keine Entscheidung gefällt worden war, welche wissenschaftliche These nun wahr sei. Von einer ›Peinlichkeit‹ für das westdeutsche Rechtssystem war ebenso die Rede wie von der Angst, eine ›Katastrophe‹ dieses Ausmaßes sei erneut möglich.214 Die Frankfur-
209 D.B., Contergan – Ohnmacht der Justiz, in: BADISCHE NEUESTE NACHRICHTEN, 19.12.1970, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 318, 311007. 210 Vgl. Dieter Dietrich, Verpaßte Chance im Contergan-Prozeß, in: STUTTGARTER NACHRICHTEN, 19.12.1970, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 318, 311011. 211 »Nicht nur die deutsche Pharmaforschung, auch die deutsche Justiz steckt jetzt eine Schlappe ein, indem sie selbst beendet, was niemals hätte begonnen werden dürfen. Das Hauptergebnis – Deutschlands »Contergan«-Kinder erhalten 110 Millionen Mark – hätte sich schon vor Jahren erreichen lassen. Es wird einer späteren Analyse überlassen bleiben, zu klären, wie gut oder schlecht der Prozeß von der Staatsanwaltschaft vorbereitet wurde. Im Augenblick herrscht der Eindruck vor: Hier wurde mit deutscher Gründlichkeit ein Prozeß nur geführt, um zu beweisen, daß solche Prozesse nicht geführt werden können.« R.K., Finis Contergan, in CHRIST UND WELT, 18.12.1970, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 318, 311031. 212 Hildegard Damrow, Justitias Blamage, in: WELT AM SONNTAG, 20.12.1970, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 318, 311028. 213 H. Bremer, Der Contergan-Prozeß ein Fiasko der Justiz. Die Rechtsprechung kann nicht über die Gültigkeit wissenschaftlicher Thesen entscheiden, in: FRANKFURTER NEUE PRESSE, 02.01.1971. 214 Vgl. Hat, Nach dem Spruch, in: FRANKFURTER NEUE PRESSE, 19.12.1970, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 318, 311042; Werner Birkenmaier, Warten auf die nächste Katastrophe, in: PUBLIK, 25.12.1970, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 318, 311045-46; Hans Dahs, Ein Super-Prozeß endet im Nichts, in: DIE ZEIT, 01.01.1971, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 318, 311047-50.
Die »Unübersetzbarkeit« des Kollektivsymbols | 313
ter ABENDPOST übernahm das Diktum von der Kapitulation des Rechtssystems.215 Andere Stimmen stellten der Justiz ein gutes Zeugnis aus, würdigten ihr Bemühen, den Prozess ernsthaft geführt zu haben, und ihren Versuch, Antworten auf die schwierigen und hochkomplexen wissenschaftlichen Fragen finden zu wollen.216 Dennoch blieben selbstverständlich viele Fragen offen. Die öffentliche Meinung schwankte zwischen dem Bewusstsein, dass Strafverfolgung zum Rechtsstaat dazugehörte, und der selbstgestellten Frage, ob das in das Verfahren investierte Geld nicht besser bei den Familien aufgehoben gewesen wäre. Das Prozessende entließ die Öffentlichkeit in eine geradezu faustische Unsicherheit: »Die ganze Wahrheit, die auch vielen anderen Vertretern der Branche ins Gewissen reden könnte, werden wir nun nach der Einstellung des Contergan-Prozesses nie erfahren. Zugegeben werden muß allerdings auch, daß es schon jetzt zweifelhaft war, ob die Richter jemals durch den Wust von Gutachten und Gegengutachten, von meterlangen Prozeßakten und von 400 Kilometer auf Tonband festgehaltenen Vernehmungsprotokollen hindurch, hinter die volle Wahrheit gekommen wären.«217
Das Gerichtsverfahren endete nach 283 Verhandlungstagen.218 Für die Betroffenen blieb der Contergan-Fall lebenslanges Schicksal – für die erwachsenen Opfer ebenso wie für die Contergankinder und deren Familien.219
215 Vgl. Peter Steinbuch, Ein klägliches Finale, in: ABENDPOST, 19.12.1970, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 318, 31107. 216 Vgl. Friedrich Kassebeer, Der Prozeß von Alsdorf – ein Auftrag für Bonn. Die Justiz hat sich im Contergan-Verfahren bis zum Übermaß zum Aufklärung bemüht, in: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 318, 311152. 217 Dieter Dietrich, Verpaßte Chance im Contergan-Prozeß, in: STUTTGARTER NACHRICHTEN, 19.12.1970, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 318, 311011. 218 Nach Ende des Prozesses beendeten auch die Korrespondenten ihre Arbeit vor Ort. Die Abteilung Presse+Information resümierte die Publikationen wie folgt: Während des Prozesses wurden 10.693 Zeitungsberichte inventarisiert, die auf eine gemeinschaftliche Gesamtauflage von ungefähr 23 Millionen kamen. Zuvorderst veröffentlichte die lokale (Aachener Volkszeitung) und überregional Presse (FAZ). Illustrierte und Wochenzeitschriften zeigten nur etwa einmal im Monat Interesse an dem Prozess, sodass die tägliche Berichterstattung in den Tageszeitungen bestimmend war. Als Höhepunkte wurden unter anderem die Eröffnung des Verfahrens, Gutachteraussagen wie Zeugenbefragungen, der Wechsel des Vorsitzenden, das Vergleichsangebot der Firma Grünenthal und die Einstellung gewertet (vgl. Pres-
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Mit der Einstellung des Verfahrens erhielt das Kollektivsymbol Contergankind neue Zuschreibungen: Von den Befürwortern der Einstellung wurde die Stiftungslösung und die scheinbare finanzielle Absicherung für die Kinder als Erfolg bewertet. Für die Kritiker der Einstellung symbolisierte das Verfahren einen Anschlag auf das Gerechtigkeitsgefühl und die Bestätigung einer höchst ungerechten Machtverteilung. Die fachwissenschaftliche Debatte, die im Gerichtssaal erfolgt war, hielt auch nach Ende des Prozesses an, von außen angetrieben durch den ConterganFall, im Inneren thematisiert als medikamentös beeinflusste Fehlbildung während der ersten Schwangerschaftsmonate. Die langwierigen und anspruchsvollen Forschungen fanden im geschützten wissenschaftlichen Labor statt, und die wissenschaftlichen Diskussionen verblieben jetzt im Hörsaal. Für die mediale Konstruktion der wissenschaftlichen Tatsache bedeutete das Auftreten der behinderten Kinder im Gerichtssaal, die Öffentlichkeit mit Bildern von heranwachsenden Kindern zu konfrontieren. Für die Presse war Contergan ein öffentlicher Sachverhalt, der auch öffentlich geklärt werden musste. Wenn das Gericht verhandelte, wenn es die Schuld zu klären versuchte, dann erwartete die Presse, dass nicht nur im Namen des Volkes Recht gesprochen wurde, sondern transparent und im Sinne des Volkes. • Als Nebenkläger sahen die Eltern die Möglichkeit, durch das Gerichtsverfah-
ren endlich Gerechtigkeit für ihre Kinder zu erhalten. Doch was war gerecht? Die Aburteilung einzelner Angeklagter? Die gesteigerte Unterstützung durch die Öffentlichkeit. Finanzielle Sicherheit für ihre Kinder? • Die Firma Grünenthal nutzte den Prozess, um sich gegen den Vorwurf der Fahrlässigkeit und der Kausalität zwischen zwischen Thalidomid und den Fehlbildungen zu wehren. • Dem Staat bot der Prozess die Möglichkeit, alle Instrumente des Rechtstaates einzusetzen und Schadenersatzforderungen verfahrensförmig klären zu lassen. Damit geriet er aus der öffentlichen Schusslinie und konnte sich ganz auf die politische Seite des Problems konzentrieren.
se+Information, vTh/Sch/H.: Notiz an alle Umlaufempfänger, Alsdorf 10.03.1971, LAV NRW R, Gerichte Rep. 139 Nr. 318). 219 Vgl. W. Steinmetz, »Contergan«, S. 51. Die Gründung der Stiftung setzte zahlreiche Überlegungen in Gang, wie medizinisch die Conterganschädigung mit der Höhe der Auszahlung verbunden werden sollte. Siehe beispielhaft Bad Godesberg, August 1971, Betr.: Nationale Stiftung »Hilfswerk für das behinderte Kind«, hier: Schadensbewertung bei Dysmeliekindern, BArch B 189/20855.
Die »Unübersetzbarkeit« des Kollektivsymbols | 315
• Für die Justiz erwies sich der Contergan-Fall als ein nicht zu entwirrendes
Knäuel, das aus zahlreichen, unterschiedlich versponnenen Fäden bestand und im Gerichtssaal immer dicker wurde. Die Vielzahl der medizinischen Gutachten, das Übermaß detaillierter widersprechender pharmakologischer Berichte mit jeweils differierenden Voraussetzungen und Annahmen konnte unmöglich zu einem gut begründeten Urteil zusammengefügt werden.
7
Fazit
Am Ende dominierten drei Begriffe den Contergan-Fall: Contergankind, ›Versagen‹, ›medizinische Katastrophe‹. Insofern bestätigte die 1970 erfolgte Einstellung des Gerichtsverfahrens den Eindruck einer neuen Zeiterfahrung. Im August 1962 hatte der BILD-Reporter Dietrich Beyersdorff bereits getitelt: »Contergan: Der Staat hat versagt«1 1968 weitete Hans Riehl im Münchener Merkur das Fazit noch aus: »Eine Gesellschaft versagt«2, stellte er fest. Und damit meinte er nicht nur die mangelhafte Arzneimittelaufsicht, sondern auch die fehlende Hilfsbereitschaft der Gesellschaft: »Am Fall ›Contergan‹ beweisen nicht nur Regierung und Parlament, sondern eine ganze Gesellschaft ihr Versagen,«3 so das Diktum. Contergan stand sprachlich für das Scheitern von Staat und Gesellschaft, für eine ›medizinische Katastrophe‹ und für eine große Zahl unschuldiger Opfer – schließlich auch, wie wir gesehen haben, für eine immer selbstbewusstere, geschichtsmächtige Presse. Die Untersuchung des Sprechens über Contergan führte hin zu einer Geschichte des sprachlichen Wandels in den 1960er Jahren und zu einer Geschichte sich neu strukturierender Koppelungen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Diskurssträngen. Tatsächlich spiegelte der Contergan-Fall die tiefgreifenden sprachlichen Umbrüche der 1950er und 1960er Jahre wider. In ihm bildeten sich politische und gesellschaftliche Veränderungsprozesse ab. Der Contergan-Fall wurde zum Ort der Aushandlung moralischer Debatten überr Lebensläufe von Menschen mit Behinderung. Er thematisierte die Eigenverantwortung des Bürgers in einer zunehmend technisierten Welt. Die Presse emanzipierte sich von der traditionellen
1
Dietrich Beyersdorff, Contergan: Der Staat hat versagt, in: BILD, 25.08.1962.
2
Hans Riehl, Eine Gesellschaft versagt, in: MÜNCHENER MERKUR, 12./13. Juni 1968,
3
Ebd., S. 2.
S. 1-2.
318 | Sprechen über Contergan
Parteibindung und stieß selbst grundlegende Debatten über moralische Fragen und politische Handlungsfähigkeit an. Darin zeigte sich der Autoritätsverluste der Nachkriegspolitik. Das Wirtschaftswunder erzeugte ganz neue Erwartungen an staatliche Handlungsfähigkeit, gesellschaftliche Solidarität und Mitgestaltungsforderung. Der Wandel der Sprache ging also mit politischen, medialen und gesellschaftlichen Veränderungen einher. Begonnen hatte die Geschichte im Labor der Firma Chemie Grünenthal mit der Entstehung der wissenschaftlichen Tatsache Contergan. Einerseits veranlasste die Entwicklung des Wirkstoffes Thalidomid Versuche zur Bestimmung von dessen Wirkungen, andererseits kreiierten erst das enge Netzwerk von ›Verbündeten‹ (Messinstrumente, Mäuse, Laboranten, klinische Studien) erst das »Wissen« um dessen Wirkung. Der Eindruck entstand, ein vollkommen nebenwirkungsfreies Schlaf- und Beruhigungsmittel gefunden zu haben. Zunächst verblieb diese wissenschaftliche Tatsache in der medizinischen Fachgemeinschaft und etablierte sich dort dank der Bestätigung durch interessierte Ärzte und Kliniker. Doch die Konsolidierung des Wissens geriet ins Stocken, als erste Nebenwirkungen bekannt wurden und die Fachgemeinschaft die wissenschaftliche Tatsache nicht absichern, nicht stabilisieren konnte. Neben den fachlichen Eliten erhielt dann auch die Laienöffentlichkeit Nachricht über die Nebenwirkungen: Das gespaltene medizinische Wissen sprengte die Grenzen der Fachgemeinschaft. ›Laien‹ konstruierten nun ihrerseits, was unter den Folgen des Medikaments verstanden werden konnte: ein Versagen von Medizin und Staat, eine gesellschaftliche ›Katastrophe‹. Schon 1962 standen ganz unterschiedliche Begriffe nebeneinander: Contergan, Dysmelie, ›Katastrophe‹, ›politisches Versagen‹. Nach der immer umfangreicheren medialen Berichterstattung über die Opfer des Medikaments erweiterte sich also die öffentliche Debatte um eine Vielzahl weiterer Deutungsansätze. Im Zentrum stand nicht mehr die medizinische Tatsache eines effektiven Schlafund Beruhigung-smittels, sondern die Bedrohung, die mit Contergan verbunden schien. Die Presse agierte als selbständiger Akteur mit starker Deutungsmacht. Sie interpretierte das Geschehen als politisches Versagen, als gesellschaftliche Aufgabe, als systemimmanente Gefahr einer zunehmend technisierten Welt. Wie Altes und Neues zusammentrafen, zeigte die Debatte um die Frage nach den Voraussetzungen lebenswerten Lebens von Behinderten. Das erinnerte allzu sehr an nationalsozialistische Vorstellungen. All diese verschiedenen Diskursstränge kulminierten im Kollektivsymbol Contergankind, das als anschlussfähiges Konzept in der öffentlichen Debatte omnipräsent war. Ihm konnten sich Politik und Ärzte nur schwer entziehen. Das
Fazit | 319
sprachliche Konzept des Kollektivsymbols setzte sich durch und brachte Neologoismen hervor wie Contergan-Baby, Contergan-Mutter oder später ConterganProzess. Der Markenname des Medikaments wurde so zum Symbol für die Gefahren des Arzneimittelkonsums, für die Hybris der Pharmaindustrie und für die Lethargie staatlicher Behörden. Das Kollektivsymbol des Contergankindes verband die Debatten um Fehlbildungen von Neugeborenen durch Medikamente zu einem Bild, das für die Öffentlichkeit anschlussfähig war. Politik und Medizin mussten hilflos mitansehen, wie sich der Sprachgebrauch festigte und ihr eigenes Sprachangebot nur in den engeren Fachkreisen Einfluss gewann. Im Einzelnen: Das Bundesgesundheitsministerium hielt sich anfangs vollkommen zurück und überließ damit der Presse das Spielfeld. Die Journalisten übersetzten das Geschehene in die Sprache der Medien, erzielten Aufmerksamkeit und erreichten mit der lebensweltlich transformierten Sprache ihre Leser. Ab 1962 veröffentlichten sie erste Opferzahlen, druckten die Gesichter der Kinder und deren Eltern in den Zeitungen ab, später auch deren Köper und berichteten von fehlender finanzieller Unterstützung durch den Staat. Das Contergankind wurde zum Symbol für den Leistungswillen und die Leistungsfähigkeit des Sozialstaates: Wie viel Hilfe konnte der Bürger in einer unverschuldeten und durch Systemversagen ausgelösten Notsituation von seinem Staat erwarten? Die sprachliche Lethargie der Politik führte auch dazu, dass in der Öffentlichkeit Missfallen gegenüber dem gerade neugeschaffenen Bundesgesundheitsministerium geäußert wurde. Das Ministerium betonte zwar, Mediziner und ›Experten‹ zu Rate zu ziehen, und schickte seine Mitarbeiter auf Fachtagungen, doch die Beschränkung auf die rein medizinische Fachdebatte und der Verweis auf die notwendige wissenschaftliche Klärung zentraler Probleme konnten den Eindruck nicht verhindern, dass hier wesentliche Schritte im gesellschaftlichen Raum versäumt und notwendige Debatten nicht geführt wurden. Die Orientierung an dem Sprachkonzept der Dysmelie scheiterte selbst in der internen Kommunikation des Ministeriums. Politisch wurde der Skandal für die junge Bundesrepublik zu einer harten Bewährungsprobe. Die Bundesregierung in Bonn und die Landesregierung in Düsseldorf saßen dabei nur auf den Nebenbühnen, während die Betroffenen und die Journalisten die Hauptbühne bevölkerten und die Aufmerksamkeit auf sich lenkten; im Zuschauerraum des Gerichtssaals verfolgte die gesamte westdeutsche Öffentlichkeit gespannt das Ringen, während das ostdeutsche Regime von der Ferne die Verfehlungen des kapitalistischen Westens brandmarkte. Letztlich überstrahlte die Frage nach der langfristigen finanziellen Versorgung für die betroffenen Kinder und ihrer Familien alle anderen Gesichtspunkte.
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Ohne den Staat ging es nicht, gleichgültig wieviel Geld Grünenthal zukünftig bezahlen würde. Die Eltern der contergangeschädigten Kinder reagierten auf diese Ausgangslage, wenn sie das Feld der Öffentlichkeit selbstbewusst und lautstark bespielten. Dazu gründeten sie eine schlagkräftige Interessenvereinigung, benutzten bewusst das Wort Contergan und nannten ihren Verein Bundesverband der Eltern körpergeschädigter Kinder – Contergankinder-Hilfswerk e.V. Die medizinische Kausalitätsthese stand für sie außer Frage und nicht zuletzt positionierten sie sich damit auch für den anstehenden Gerichtsprozess. Contergan war zu diesem Zeitpunkt längst aus dem Verkehr gezogen. Neue Conterganfälle sollten zukünftig nicht mehr auftreten. In dieser Konstellation wandelte sich die medizinische Tatsache zu einer Aufgabe der Rehabilitation. Medizinische Expertenentwickelten neue Behandlungskonzepte und bedienten sich des Wissens der Orthopädie und der Prothetik. Das Interesse galt also der Lebenswirklichkeit der betroffenen Menschen und deren Familien. Die Fragen nach der medizinischen Kausalität und nach der Ursachenkette für das Arzneimittelversagen rückten in den Hintergrund. Erst der Gerichtsprozess (1968-1970) stellte sie wieder ins Scheinwerferlicht. Unterdessen vervielfältigten sich die sozialen Akteure, die das Sprechen über Contergan prägten und Einfluss auf die Öffentlichkeit zu gewinnen trachteten. Nur einige der Mitspieler seien genannt: die Presse, die Ministerien, der Bundestag, die Wohlfahrtsverbände, die Elternvertretungen, Grünenthal, die pharmazeutische Industrie, selbstverständlich auch Mediziner, die selbst wiederum in ganz unterschiedliche Gruppen gespalten war. Die Zahl der Beteiligten wuchs, und jeder der Sprachhandelnden brachte seine eigene Definition der medizinischen Tatsache ein. Einigkeit bestand darin, dass in der Zeit um 1960 viele Tausend Kinder mit zum Teil schweren körperlichen Beeinträchtigungen geboren worden waren und dass dies eine einzige ›Katastrophe‹ und ein ›nationales Unglück‹ darstellte. Immerhin, seit dem Mai 1968 sollte das Gerichtsverfahren die Frage von Schuld und Verantwortung klären: Fragen, die bereits seit sieben Jahren im Raum standen und bis dato nicht beantwortet worden waren. Angeklagt waren zwar Mitarbeiter der Herstellerfirma, aber gleichzeitig stand indirekt auch das Medikament und damit die pharmazeutische Industrie insgesamt vor Gericht: War das Medikament Contergan ursächlich für die Fehlbildungen bei Neugeborenen? Es wurde jedenfalls zu einem Synonym für technisches Versagen und für das Versagen der Arzneimittelaufsicht. Die Monokausalitätsthese von Widukind Lenz schien in zahlreichen Presseorganen bereits bewiesen, bevor ein Richter oder Schöffe den Gerichtssaal betreten hatte.
Fazit | 321
Doch auch die Verantwortlichen aufseiten der Herstellerfirma bekamen nun ein Gesicht: Die Angeklagten standen mit Namen, Bildern, Berufsbezeichnungen und Lebensläufen in der Presse. Im Laufe des Prozesses verengte sich die Berichterstattung ihr Fragen auf die juristische Machbarkeit des Verfahrens, auf das generelle Versagen von Staat und Gesellschaft und darauf, ob die Schuldproblematik in Hinblick auf einzelne Personen überhaupt zu klären sei. Mit dem Gerichtsverfahren war der Anspruch verbunden, den Kindern nun jene langfristige, sichere Hilfe zukommen zu lassen, an der es bisher gefehlt hatte. Mit der Bezeichnung des Alsdorfer Gerichtsverfahrens als Contergan-Prozess kreierte die Presse neuerlich einen Neologismus, der den Zusammenhang zwischen menschlicher ›Katastrophe‹ und Arzneimittelversagen eindeutig herstellte. Der Begriff transportierte all das, was seit Ende 1961 mit Contergan verbunden war: ›Gefahr‹, ›Katastrophe‹, ›Technikversagen‹ in einer auf Fortschritt ausgerichteten Gesellschaft. Für die westdeutsche Öffentlichkeit begann mit dem Prozess die langersehnte juristische Auseinandersetzung um die Schuldfrage. Das bundesrepublikanische Rechtssystem sollte nun zeigen, dass es für Gerechtigkeit sorgte, eine Vorgehensweise, auf die die Politik immer verwiesen hatte. Allerdings konnte das Gericht die hohen Erwartungen unmöglich erfüllen. Im Strafprozess ging es allein um die Schuld einzelner, nicht um Systemversagen. Dazu kam, dass die Medizin die Wirkungsweise von Talidomid noch nicht ausreichend verstand. Das Gericht war aber streng an das juristische Regelwerk gebunden. Und damit entfremdeten sich öffentlicher Diskurs und rechtsförmige Debatte immer mehr voneinander. Das 1971 verabschiedete »Gesetz über die Errichtung einer Stiftung ›Hilfswerk für behinderte Kinder‹«4 regelte die Auszahlung der von Grünenthal und Bundesregierung bereitgestellten Gelder. Mit der Diskussion über die Stiftung und die Auszahlungspraxis setzte eine neue, bis heute andauernde Phase im Contergan-Fall ein: Im Mittelpunkt standen und stehen die Höhe der Entschädigungszahlungen, die angemessenen Rehabilitationsmaßnahmen, und die gerechte Klassifikation der körperlichen Fehlbildungen. Einerseits mussten juristische Sachverhalte geklärt werden – hier war das Justizministerium in der Pflicht –,
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Gesetzestext https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?start=//*%5B@attr_id=%27bgbl171s2018 .pdf%27%5D#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl171s2018.pdf%27 %5D__1525166976046 vom 01.05.2018.
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andererseits waren die medizinischen ›Experten‹ bei der Erstellung der »Schadensbewertungstabelle«5 gefragt. Eine weitere Konsequenz des Contergan-Falles war die Revision des Arzneimittelgesetzes. Die 1971 erlassene »Richtlinie über die Prüfung von Arzneimitteln« verfügte, dass alle neuen Medikamente standardmäßig einer Prüfung zu unterziehen seien. Fünf Jahre später, 1976, verschärfte das neue Arzneimittelgesetz die Sicherheitsvorkehrungen im Arzneimittelwesen noch einmal.6 Mit Blick auf die sechziger Jahre, so lässt sich resümieren, steht der ConterganFall für signifikante Umbrüche: • Die Presse befand sich seit Ende der 1950er Jahre einem Übergang von einer
eliten- und konsensorientierten Berichterstattung hin zu einer kritischen Beurteilung von Autoritäten. Sie forderte über Fachgrenzen hinweg Zugang zu Informationen und Wissen ein und beteiligte sich selbständig an der Wissensgenerierung. Mit ihren Übersetzungsleistungen trug sie maßgeblich zum Verständnis des Contergan-Falles bei. Durch sie drang Contergan in das öffentliche Bewusstsein ein. Das Kollektivsymbol des Contergankindes stand und steht stellvertretend für diese Entwicklung. • Das neu geschaffene Bundesgesundheitsministerium, das eigentlich erst noch seine Rolle innerhalb der ministeriellen Aufgabenverteilung und föderalen Gliederung finden musste, war mit dem Contergan-Fall vollkommen überfordert. Denn vonseiten der Bürger sah es sich ganz unterschiedlichen Erwartungshaltungen ausgesetzt. Sie reichten von der paternalistischen Fürsorgeerwartung bis hin zu postmodernen Dienstleistungsforderungen. Die Presse war nicht mehr nur Übermittler von Informationen, sondern wurde zu einem ernstzunehmenden sprachlichen Akteur, der das Ministerium vor immer neue – auch sprachliche – Herausforderungen stellte. Die enge Verbindung von Politik und Wissenschaft vermochte so die öffentlich-mediale Aushandlung des Contergan-Falles nur am Rande zu beeinflussen. • Das Kollektivsymbol Contergankind stand und steht folglich stellvertretend für die tiefgreifenden Wandlungen in der Sprache. Es war nicht nur ein Symbol für den beschriebenen Umbruch, sondern trieb ihn aktiv voran. In der Diktion Reinhart Kosellecks: Der Begriff Contergankind wurde zu einem Grund-
5
Vgl. Prof. Dr. H. Weicker, Institut für Humangenetik Bonn an das Bundesministerium
6
Bereits 1964 hatte es eine Novellierung des Arzneimittelgesetzes gegeben. Vgl. N.
für Jugend, Familie und Gesundheit, 25.03.1971, BArch B 189/20855. Lenhard-Schramm, Contergan und das Arzneimittelrecht, S. 159-162.
Fazit | 323
begriff der 1960er Jahre und damit, gleichermaßen »Indikator« wie »Faktor« gesellschaftlichen Wandels.7 In ihm wurde die rasante Entwicklung von den konservativen 1950er Jahren über eine sich ausdifferenzierende und politisierende Gesellschaft und Presse in den 1960er Jahren bis hin zu einer größeren Selbstreflektion von Presse und Bürgern im Übergang zu den 1970er Jahren deutlich. • Der Contergan-Fall veränderte allerdings nicht nur das Sprechen, sondern auch das gesellschaftliche Handeln. Am Ende der betrachteten Epoche symbolisierten Projekte wie z.B. Aktion Sorgenkind, neue Aufmerksamkeit für das Thema Behinderung. Das Versprechen einer Lösung gesellschaftlicher Probleme durch Medizin und Technik schien weniger einleuchtend als zuvor. Die kritische Einstellung der Gesellschaft gegenüber ihren Eliten erlernte die deutsche Öffentlichkeit auch am Contergan-Fall.
7
Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Brunner, Otto; Conze, Werner; Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 1 Stuttgart 1972, S. XIV. Siehe zu den Begriffen Faktor und Indikator, W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung, ab S. 195.
Archivbestände Archiv Aktion Mensch Informationsbroschüre »Sorgenkinder unter uns« um 1967 (ohne Signatur) Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) Nachlass Walter Dirks, 1/WDAC000312, 1/WDAC000134, 1/WDAC000135 Nachlass Käte Strobel, Ordner 1-64 Bundesarchiv Koblenz (BArch) B 106 B 122 B 136 B 142 B 149 B 189 B 267 B 310 B 417 N 1177
Bundesministerium des Inneren Bundespräsidialamt Bundeskanzleramt Bundesministerium für Gesundheitswesen Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung Bundesministerium für Familie und Senioren, Frauen und Jugend Conterganstiftung für behinderte Menschen Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Bundesärztekammer Nachlass Schwarzhaupt
Bundesarchiv Berlin (BArch) DQ 1 DY 31
Ministerium für Gesundheitswesen (1945 - 1949) Demokratischer Frauenbund Deutschlands
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Landesarchiv NRW Abteilung Rheinland (LAV NRW R) Gerichte Rep. 021 Gerichte Rep. 139 NW 372 NW 1180
Generalstaatsanwaltschaft Köln Staatsanwaltschaft Aachen Staatskanzlei, Pressemitteilungen - Landespolitik Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales, Contergan-Prozess
Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn EB-Nummer: 2006/04/0024 EB-Nummer: 2006/11/0392 EB-Nummer: 2006/11/0393 EB-Nummer: 2006/11/0395 EB-Nummer: 2006/11/0396 Historisches Archiv des WDR (HA WDR) Nr. 13238 Nr. 13499 Systematische Durchsicht einzelner Zeitungen/Zeitschriften [weitere Presseerzeugnisse sind in den Fußnoten über die Archivangaben zu recherchieren] AACHENER NACHRICHTEN/AACHENER VOLKSZEITUNG BERLINER ZEITUNG BILD BUNTE CHRIST UND WELT DER SPIEGEL DIE ZEIT FAZ NEUE ZEIT NEUES DEUTSCHLAND PHARMAZEUTISCHE ZEITUNG QUICK
Archivbest ä nde | 327
Systematische Durchsicht Amtlicher Drucksachen [über das Online-Portal des Deutschen Bundestages, http://pdok.bundestag.de/] Protokolle des Deutschen Bundestages Kabinettsprotokolle der Bundesregierung
Literatur und publizierte Quellen
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Geschichtswissenschaft Alban Frei, Hannes Mangold (Hg.)
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