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German Pages 432 [459] Year 2018
Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht 402 Herausgegeben vom
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht Direktoren: Holger Fleischer und Reinhard Zimmermann
Wendelin Mayer
Sprache und Recht bei der Europäischen Aktiengesellschaft
Mohr Siebeck
Wendelin Mayer, geboren 1986; Studium der Rechtswissenschaften in Freiburg; Referendariat in Freiburg, München und Tokyo; Masterstudiengang (LL.M.) in Comparative, European and International Laws am Europäischen Hochschulinstitut (European University Institute, EUI) in Florenz, Italien; 2017 Promotion (Freiburg); seit 2016 Rechtsanwalt in München. orcid.org/0000-0003-0472-8886
ISBN 978-3-16-155794-1 / eISBN 978-3-16-155795-8 DOI 10.1628/978-3-16-155795-8 ISSN 0720-1141 / eISSN 2568-7441 (Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.
Meinen Eltern
Vorwort Die dem Buch zugrundeliegende Dissertation wurde im Sommersemester 2017 von der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Doktorarbeit angenommen. Meinem Doktorvater, Prof. Dr. Hanno Merkt, LL.M. (Univ. of Chicago), schulde ich herzlichen und aufrichtigen Dank für die Offenheit gegenüber dem Thema, für die große Freiheit bei der Abfassung der Arbeit und für die rasche Korrektur der Doktorarbeit. Herrn Prof. Dr. Jan Lieder, LL.M. (Harvard), möchte ich an dieser Stelle für die Erstellung des Zweitgutachtens danken. Den Herausgebern der Reihe danke ich für die Aufnahme in die Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht, für die Durchsicht auf Seiten des Max-Planck-Instituts den Mitarbeitern der dortigen Abteilung Redaktionen, für die Durchsicht auf Seiten des Mohr-Siebeck-Verlags Frau Jana Trispel. Für die Druckfassung wurden Literatur, Rechtsprechung und Gesetzgebung bis August 2017 berücksichtigt. Teilweise verdankt sich diese Arbeit einem Aufenthalt 2014/2015 für einen Masterstudiengang am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz. In dieser Zeit habe ich viele Inspirationen erhalten und viel Wertvolles gelernt. Aus dieser Zeit bin ich meinem Betreuer, Prof. Stefan Grundmann, sowie vielen weiteren zu Dank verpflichtet. Unter diesen möchte ich Agnieszka Smolenska sowie Filipe Brito Bastos nennen, die mich unter anderem mit zahlreichen Hinweisen zur polnischen beziehungsweise portugiesischen Sprache unterstützt haben. Danken möchte ich auch meinen Freunden in Deutschland. Leonid Aleiner hat mich auf das Europäische Hochschulinstitut in Florenz aufmerksam gemacht und mir in zahlreichen Gesprächen Hinweise und Ratschläge gegeben. Mit Joachim Glöckler habe ich über viele Einzelfragen diskutiert und mich über Literatur ausgetauscht. Gustav Ollinger hat ebenso wie sie Teile meiner Arbeit sorgfältig Korrektur gelesen; auch hierfür schulde ich Dank. Alle verbleibenden Fehler habe ich allein zu verantworten. Ein Anliegen ist es mir auch, die vielen Bibliotheken, in denen diese Arbeit entstanden ist, in Dankbarkeit zu erwähnen. Neben der Universtitätsbibliothek in Freiburg und der in Augsburg sowie der Bibliothek des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz waren dies die Historical Archives of the European Union in der Villa Salviati in Florenz, die Bibliothek der Università degli Studi Firenze, die Bibliothek der Ludwig-Maximilians-Universität in München, die
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Vorwort
Bayerische Staatsbibliothek sowie viele weitere. Von der Generaldirektion Justice and Consumers der Kommission, Unit A3 – Company Law hat mich Frau Dorota Łyszkowska-Becher dankenswerterweise bei Rückfragen zur Entstehungsgeschichte des europäischen Rechts unterstützt. Einen Teil der Arbeit, insbesondere zum ausländischen Recht, konnte ich als Gastleser in der Bibliothek des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg erstellen. Auch hierfür schulde ich allen Beteiligten, stellvertretend Frau Halsen-Raffel, Dank, ebenso wie dem Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen, hier stellvertretend Frau Golombek, das mir die Aktualisierung der Literatur für die Erstellung der Druckfassung erleichtert hat. In besonderer Weise danken möchte ich meiner Familie, meinen Schwestern Anima und Felicitas, die mich bei der Arbeit unterstützt haben und mir zahlreiche Anregungen und Hinweise, sei es in den Bereichen Spanisch, Portugiesisch, Philosophie oder allgemein, gegeben haben, sowie meiner Freundin Carolin, die ebenfalls meine Arbeit geduldig unterstützt und mitgetragen hat. In erster Linie aber gilt mein Dank meinen Eltern, die mich im Jurastudium und bei allen meinen Lebensentscheidungen immer uneingeschränkt unterstützt haben und ohne die diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Ihnen möchte ich dieses Buch widmen. München, Juni 2018
Wendelin Mayer
Inhaltsübersicht Vorwort ...................................................................................................... VII Inhaltsverzeichnis ........................................................................................ XI Abkürzungsverzeichnis .............................................................................XIX
Einleitung ................................................................................................... 1 A. Der Erfolg der SE in der Rechtswirklichkeit ........................................ 1 B. Geschichte der SE ................................................................................ 6 C. Europäische Mehrsprachigkeit ...........................................................12 D. Sprachlich komplexes Problem bei der SE..........................................19
1. Kapitel: Methodik ..............................................................................21 A. Definitionen und Fragestellung ..........................................................21 B. Präzisierung der Problemstellung.......................................................41 C. Methodik Teil I: europäische Auslegungsmethoden ............................57 D. Methodik Teil II: die Verweisungstechnik der SE-VO und das IPR .....79 E. Gang der Untersuchung ....................................................................104
2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit .......................................................107 A. Einleitung: Einigung mit Worten statt auf Konzepte? .......................107 B. Autonome Auslegung ........................................................................110 C. Auslegungen in der Literatur ............................................................198 D. Zwischenergebnis zur Sprachverwirrung ..........................................204
3. Kapitel: Hauptverwaltung ..............................................................206 A. Einleitung: Bedeutung der Sitzverlegung für die Rechtsform SE ..................................................................................206 B. Hintergrund: Sitz- und Gründungstheorie(n) ....................................208 C. „Hauptverwaltung“ in der SE-VO ....................................................219 D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“ .................................223
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Inhaltsübersicht
E. Untersuchung von Auslegungen in der Literatur ...............................294 F. Zwischenergebnis für „Hauptverwaltung“ .......................................302
4. Kapitel: Aktie ....................................................................................305 A. Einleitung: „Aktie“ als Konzept einer Verweisungsnorm..................305 B. Autonome Auslegung ........................................................................307 C. Auslegungen in der Literatur ............................................................354 D. Fazit Sprachverwirrung....................................................................357
5. Kapitel: Fazit .....................................................................................358 A. Sprachverwirrung .............................................................................358 B. Kohärente Rechtssprache .................................................................361 C. Wörterbuch .......................................................................................364 D. Ausblick zum Verhältnis von Sprache und Recht: Ist Sprache ohne Recht sinnvoll? ......................................................368 Anhang: Tabellarische Übersicht zum Terminus „Hauptverwaltung“ .........372 Literaturverzeichnis ....................................................................................379 Sachregister ................................................................................................427
Inhaltsverzeichnis Vorwort ...................................................................................................... VII Inhaltsübersicht ........................................................................................... IX Abkürzungsverzeichnis .............................................................................XIX
Einleitung ................................................................................................... 1 A. Der Erfolg der SE in der Rechtswirklichkeit ........................................ 1 B. Geschichte der SE ................................................................................ 6 C. Europäische Mehrsprachigkeit ...........................................................12 D. Sprachlich komplexes Problem bei der SE ..........................................19
1. Kapitel: Methodik ..............................................................................21 A. Definitionen und Fragestellung ..........................................................21 I. Begriff, Terminus und Konzept ....................................................21 II. Rechtssprache ..............................................................................26 III. Rechtsordnung .............................................................................27 IV. Auslegung ....................................................................................32 V. Übersetzung .................................................................................36 VI. Fragestellung ................................................................................41 B. Präzisierung der Problemstellung.......................................................41 I. Grundthese: „Sprachverwirrung“..................................................41 1. Sprachverwirrung: Erscheinungsformen und Beispiele ...........43 a) Sprachverwirrung innerhalb einer Rechtsordnung .............43 b) Sprachverwirrung bei mehreren beteiligten Rechtsordnungen ...............................................................44 c) Ausweichversuche: neue Termini für neue Konzepte ........45 2. Sprache als Vorverständnis .....................................................48 a) Vorververständnis als hermeneutisches Konzept ...............49 b) Vorverständnis in der Rechtswissenschaft .........................49 c) Lösungsansatz: Offenlegen des Vorverständnisses ............52 II. Lösungsansatz: eine kohärente europäische Rechtssprache? .........53 III. Lösungsansatz: Wörterbuch? ........................................................54
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Inhaltsverzeichnis
IV. Lösung durch Rechtssetzung? Zum Verhältnis von Sprache und Recht ............................................................................................56 V. Zusammenfassung und Lösungsansätze ........................................57 C. Methodik Teil I: europäische Auslegungsmethoden ............................57 I. Kanon der einzelnen Auslegungsmethoden ..................................58 1. Ausgangspunkt: Methoden nach von Savigny..........................59 2. Rechtsvergleichung als probates Auslegungsmittel? ...............59 3. Standpunkt dieser Untersuchung: Anwendbarkeit unter zwei Prämissen ................................................................................61 II. Rangordnung der Auslegungsmethoden .......................................62 1. Insbesondere: Die Einordnung der rechtsvergleichenden Auslegung ...............................................................................64 2. Standpunkt dieser Untersuchung: Einordnung als Auslegung nach dem Wortlaut ..................................................................64 III. Wortlaut (mit Rechtsvergleich) ....................................................67 1. Ausgangspunkt: Methoden des EuGH bei der Rechtsvergleichung .................................................................67 2. Terminologische Methode.......................................................68 3. Geographische und zeitliche Eingrenzung ...............................70 a) Beschränkung auf EU-Mitgliedstaaten ..............................71 b) Insbesondere: unter Berücksichtigung von England und Wales trotz des sog. „Brexit“ .............................................72 c) Präzisierung des Prüfungsumfangs in zeitlicher Hinsicht..........................................................73 4. Sprache und Zitierweise ..........................................................74 IV. Systematik ....................................................................................75 V. Entstehungsgeschichte..................................................................77 VI. Zweck der Norm ..........................................................................79 D. Methodik Teil II: die Verweisungstechnik der SE-VO und das IPR .....79 I. Die SE und das IPR der Mitgliedstaaten .......................................80 II. Anleihen bei der Methodik des europäischen IPR ........................82 III. Autonome Auslegung von Kollisionsnormen ...............................86 1. Gründe für die autonome Auslegung .......................................86 2. Autonome Auslegung bereits h.M. im europäischen IPR und IZVR ......................................................................................87 3. Verdeutlichung am Beispiel von aktuellen Fragen im IPR ......89 4. Ergebnis ..................................................................................93 IV. Konzepte in Verweisungsnormen der SE-VO: universale Rechtskonzepte ............................................................................94 1. Umfang der europäischen Konzepte: universale Rechtskonzepte .......................................................................94 2. Beispiele für das Denkmuster des universalen Rechtskonzeptes .....................................................................96
Inhaltsverzeichnis
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3. Abgrenzung zu konkret-allgemeinen Begriffen .....................101 V. Einfluss der Verweisung auf die Sprachverwirrung ....................102 VI. Ergebnis .....................................................................................103 E. Gang der Untersuchung ....................................................................104 I. Zur Auswahl der Termini ...........................................................104 II. Doppelte Rolle der Rechtsvergleichung ......................................105 III. Zu erwartende Ergebnisse ..........................................................106
2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit .......................................................107 A. Einleitung: Einigung mit Worten statt auf Konzepte? .......................107 B. Autonome Auslegung ........................................................................110 I. Wortlautauslegung .....................................................................110 1. Deutschland ..........................................................................110 a) Rechtsgeschichte: der Theorienstreit ...............................111 b) Verwendung von „Rechtspersönlichkeit“ im Gesetz ........116 c) Rechtsfähigkeit und Abgrenzung gegenüber Außenpersonengesellschaften ..........................................118 aa) Zweiteilung der Rechtsträger (natürliche und juristische Personen) ..................................................120 bb) Dreiteilung der Rechtsträger (h.M.) ............................123 cc) Teilrechtsfähigkeit .....................................................125 d) Handlungsfähigkeit..........................................................128 e) Vorgesellschaft ................................................................130 f) Zwischenergebnis zum deutschen Recht ..........................132 2. Italien....................................................................................132 a) Terminus für „Rechtspersönlichkeit“ und Verwendung ...133 b) Wer hat personalità giuridica? ........................................135 c) Vorgesellschaft ................................................................140 d) Zwischenergebnis zum italienischen Recht ......................141 3. England .................................................................................141 a) „Rechtspersönlichkeit“ in SE-VO und im englischen Recht ...............................................................................142 b) Ultra vires-Lehre .............................................................147 c) Vorgesellschaft ................................................................149 d) Zwischenergebnis zum englischen Recht .........................150 4. Frankreich .............................................................................150 a) Terminus für „Rechtspersönlichkeit“ und Verwendung im nationalen Recht .........................................................151 b) Dogmatik und Rechtsgeschichte ......................................154 c) Weitere Eigenschaften von personnalité morale ..............157 d) Vorgesellschaft ................................................................159 e) Zwischenergebnis zum französischen Recht ....................161
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Inhaltsverzeichnis
5. Rechtsvergleichung ...............................................................161 a) Unterschiede ....................................................................161 b) Gemeinsamkeiten: vom Theorienstreit zur Rechtsfähigkeit als Mindestinhalt ....................................162 c) Erklärungsversuche für landesspezifische Besonderheiten: Haftung, Vorgesellschaft .......................163 d) Handlungsfähigkeit der juristischen Person .....................166 e) Ergebnis ..........................................................................168 II. Historische Auslegung – Vorentwürfe der SE-VO .....................168 1. Sanders-VOV (1966) ............................................................168 2. Spätere Entwürfe ..................................................................170 3. Ergebnis ................................................................................171 III. Systematik ..................................................................................171 1. Systematik: Art. 1 Abs. 2 S. 2 SE-VO ...................................171 2. Systematik: Art. 10 SE-VO ...................................................171 3. Systematik: Primärrecht (Art. 47 EUV) ................................176 4. Systematik: Übereinkommen über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften und juristischen Personen (Entwurf 1968) .....................................................................178 5. Systematik: andere Gesellschaftsformen ...............................180 a) EWIV-VO .......................................................................181 b) Sonstige Entwürfe 1992 sowie die SCE-VO 2003 ...........184 6. Systematik: Vor-SE und Vorgesellschaft im europäischen Gesellschaftsrecht .................................................................187 7. Systematik: Art. 16 Abs. 2 SE-VO ........................................190 8. Fazit systematische Auslegung .............................................191 IV. Telos ..........................................................................................192 1. Auslegung im Sinne einer funktionierenden Rechtsform.......192 2. Grundinhalt ...........................................................................193 3. Denkbare Einschränkungen der Rechtsfähigkeit ...................194 4. Deliktsfähigkeit und die Strafbarkeit von Verbänden ............195 5. Fazit teleologische Auslegung ..............................................197 V. Fazit autonome Auslegung .........................................................197 C. Auslegungen in der Literatur ............................................................198 I. Prägung der h.M. durch die Kommentierung von Schwarz .........198 II. Die h.M.: Rechtsfähigkeit als Mindeststandard – ein Missverständnis ..........................................................................198 III. Weitere Präzisierungen der h.M. ................................................202 IV. Aufsatz- und sonstige Literatur ..................................................203 D. Zwischenergebnis zur Sprachverwirrung ..........................................204
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3. Kapitel: Hauptverwaltung ..............................................................206 A. Einleitung: Bedeutung der Sitzverlegung für die Rechtsform der SE ............................................................................206 B. Hintergrund: Sitz- und Gründungstheorie(n) ....................................208 I. Terminologische Vorfrage: Gibt es „die eine“ Sitztheorie? ........208 II. Darstellung nach kollisionsrechtlichen und sonstigen Gesichtspunkten getrennt ...........................................................210 III. Sitztheorien: Kollisionsrecht ......................................................210 IV. Gründungstheorien: Kollisionsrecht ...........................................213 V. Materiell-rechtliche Folgen der Sitz- und Gründungstheorien ....215 VI. Rechtsprechung des EuGH: Stellungnahme zur Sitztheorie? ......216 C. „Hauptverwaltung“ in der SE-VO ....................................................219 I. Sitz und Hauptverwaltung bei der SE-VO ..................................219 II. Fehlen einer Definition ...............................................................221 D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“ .................................223 I. Wortlaut .....................................................................................223 1. Deutschland ..........................................................................224 a) Die deutsche Sitztheorie: Anwendungsbereich ................225 b) Staatsangehörigkeit und Sitzverlegung ............................227 c) „Hauptverwaltung“ ..........................................................229 d) Vermutung zu Gunsten des Satzungssitzes ......................233 e) Zusammenfassung zum deutschen Recht .........................234 2. Italien....................................................................................234 a) Gesetzgebungsgeschichte (des italienischen IPR): Lage bis 1995 ..................................................................234 b) Reformvorschläge............................................................235 c) Heutige Regelung (seit 1995) ..........................................236 d) Bestimmung von „sede“ .................................................238 e) „Nazionalità“ von Gesellschaften ...................................240 f) Zusammenfassung zum italienischen Recht .....................240 3. England .................................................................................240 a) Domicile ..........................................................................241 b) Residence im case law .....................................................242 c) Residence in Gesetzen .....................................................244 d) Zusammenfassung zum englischen Recht ........................245 4. Frankreich .............................................................................245 a) Verwendung im Gesetz ....................................................245 b) Verwandte Konzepte .......................................................248 c) Bestimmung des siège social ...........................................251 d) Bedeutung des Satzungssitzes ..........................................252 e) Zusammenfassung zum französischen Recht ...................253 5. Rechtsvergleich.....................................................................254
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a) b) c) d) e)
Zu vernachlässigende Aspekte .........................................254 Diffuse Kriterien .............................................................255 Maßgeblichkeit verschiedener Ebenen .............................255 Vermutungregeln .............................................................255 Erklärungsansatz: verschiedene Funktionen der Konzepte in den jeweiligen Ländern ................................256 f) Fazit I: Relativität der deutschen Position ........................257 g) Fazit II: Rahmen für die weitere Auslegung ....................257 II. Gesetzgebungsgeschichte ...........................................................258 III. Systematik ..................................................................................260 1. Systematische Auslegung: Rechtsfolgen des Hauptverwaltungskriteriums in der SE-VO ...........................261 2. Primärrecht (Art. 54 AEUV) .................................................263 3. Andere europäische Rechtsformen ........................................266 4. Europäisches IPR und IZPR ..................................................271 5. Europäisches Aufsichtsrecht .................................................275 6. Insolvenzrecht .......................................................................279 7. Übereinkommen über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften und juristischen Personen (Entwurf 1968) .....280 8. Dreizehnte Richtlinie ............................................................281 9. Vierzehnte Richtlinie (Entwurf) ............................................281 10. Zwischenergebnis für die systematische Auslegung ..............282 IV. Teleologische Auslegung ...........................................................283 1. Anknüpfungskriterium der SE-VO ........................................284 2. Antwort der SE-VO auf die anderen von Sitz- und Gründungstheorien aufgeworfenen Fragen ............................286 3. Sinn der Sitzkopplung: Aufsichtsrecht? ................................287 4. Sinn der Sitzkopplung: Gleichlauf? .......................................287 5. Sinn der Sitzkopplung: Ziele der Sitztheorien .......................289 6. Funktion von „Hauptverwaltung“ .........................................290 7. Vermutung zu Gunsten des Satzungssitzes? ..........................292 V. Fazit: ein autonomes Konzept? ...................................................292 E. Untersuchung von Auslegungen in der Literatur ...............................294 I. Auslegungen mit explizitem Rückgriff auf nationales Recht ......294 II. Auslegungen, die einen Rückgriff auf nationales Recht zu vermeiden suchen .......................................................................298 F. Zwischenergebnis für „Hauptverwaltung“ .......................................302 I. Befund: Schein der autonomen Auslegung .................................302 II. Sprachverwirrung in der Literatur? .............................................302 III. Kohärenz der Rechtssprache.......................................................304
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4. Kapitel: Aktie ....................................................................................305 A. Einleitung: „Aktie“ als Konzept einer Verweisungsnorm..................305 B. Autonome Auslegung ........................................................................307 I. Wortlaut .....................................................................................307 1. Deutschland ..........................................................................307 a) Kapitalanteil ....................................................................307 b) Mitgliedschaft .................................................................308 c) Verbriefung .....................................................................309 d) Übertragung von Aktien ..................................................311 e) Zusammenfassung zum deutschen Recht .........................315 2. Italien....................................................................................315 a) Gesellschaftliche Beteiligung ..........................................316 b) Categorie di azioni ..........................................................317 c) Kapitalbeteiligung ...........................................................318 d) Verbriefung und Übertragung ..........................................318 e) Zusammenfassung zum italienischen Recht .....................321 3. England .................................................................................321 a) Rechtsnatur von „shares“ ...............................................323 b) Classes of shares .............................................................324 c) Bearer und registered shares und deren Übertragung ......325 d) Zusammenfassung zum englischen Recht ........................328 4. Frankreich .............................................................................328 a) Kapitalanteil ....................................................................328 b) Unterscheidungen nach den Rechten der Aktionäre .........329 c) Dematerialisierung und Veräußerung ..............................330 d) Zusammenfassung zum französischen Recht ...................332 5. Rechtsvergleichung ...............................................................332 II. Historisch ...................................................................................335 1. Der Terminus ........................................................................335 2. Die frühen Vorentwürfe: Grundsatz der Vollregelung ...........336 3. Die Entwürfe von 1989 und 1991: Verweisungen .................337 4. Schlussfolgerungen für das universale Rechtskonzept: Maßgeblichkeit des Umfangs, nicht des Inhalts ....................338 III. Systematik ..................................................................................340 1. Art 1 Abs. 2 S. 1 SE-VO .......................................................340 2. Art. 5 SE-VO ........................................................................340 3. Art. 60 SE-VO ......................................................................340 4. Art. 9, 10 SE-VO ..................................................................341 5. Systematik: sonstige Rechtsakte der EU: Allgemeines ..........341 6. Primärrecht: „Golden shares“-Rechtsprechung des EuGH ....341 7. One share one vote?..............................................................345 8. Zweite Richtlinie ..................................................................346
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9. Fünfte Richtlinie (Entwurf) ...................................................349 10. Aktionärsrechterichtlinie .......................................................350 11. Zwischenergebnis für die systematische Auslegung ..............351 IV. Telos ..........................................................................................351 V. Fazit autonome Auslegung .........................................................354 C. Auslegungen in der Literatur ............................................................354 D. Fazit Sprachverwirrung ....................................................................357
5. Kapitel: Fazit .....................................................................................358 A. Sprachverwirrung .............................................................................358 I. Zusammenfassung der Befunde ..................................................358 II. Sprachverwirrung als mögliche und plausible Erklärung ............359 B. Kohärente Rechtssprache .................................................................361 I. „Hauptverwaltung“: uneinheitliche Terminusverwendung ..........361 II. Desiderate bezüglich der Kohärenz der Rechtssprache ...............362 III. Aktie und Rechtspersönlichkeit: einheitliche Termini, aber keine Konzepte ...........................................................................363 IV. Ergebnis .....................................................................................363 C. Wörterbuch .......................................................................................364 I. Bedarf ........................................................................................364 II. Anforderungen ...........................................................................365 III. Herausforderungen .....................................................................366 IV. Ausblick .....................................................................................368 D. Ausblick zum Verhältnis von Sprache und Recht: Ist Sprache ohne Recht sinnvoll? .................................................................................368 I. Idealvorstellung: Einigung zunächst über Konzepte ...................369 II. Probleme einer Terminologie ohne Konzepte .............................369 III. Auch Sprache ohne Recht kann sinnvoll sein – wenn sie kohärent ist! ...............................................................................370 Anhang: Tabellarische Übersicht zum Terminus „Hauptverwaltung“ .........372 Literaturverzeichnis ....................................................................................379 Sachregister ................................................................................................427
Abkürzungsverzeichnis Aufl. a.A. ABl. Abs. AC AcP AEUV a.F. affd AG AG-Report AktG All ER Anh, Anh. Anm. AnwBl AÖGZ App. App.Cas. Art. Art. L. Art. R. ARSP AT AWD Banca, borsa, tit. cred. BB B.C.C. Beschl. BGB BGBl. BGH
Auflage andere Ansicht Amtsblatt Absatz Law Reports: Appeal Cases, Third Series (englische Entscheidungssammlung) Archiv für die civilistische Praxis Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung affirmed (bestätigt, bei englischen Urteilen) Die Aktiengesellschaft AG-Report, Sonderteil der Zeitschrift Die Aktiengesellschaft Aktiengesetz All England Law Reports (englische Entscheidungssammlung) Anhang Anmerkung Anwaltsblatt Allgemeine österreichische Gerichts-Zeitung Corte d’Appello (Appellationshof, Italien) Law Reports: Appeal Cases, Second Series (englische Entscheidungssammlung) Artikel, Articolo, Article Artikel auf Gesetzesgrundlage (loi) (nur Frankreich) Artikel auf Grundlage eines Dekrets (règlement) (nur Frankreich) Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Allgemeiner Teil Außenwirtschaftsdienst des Betriebsberaters Bank, Börse, Wertpapiere (Teil einer italienischen Entscheidungssammlung) Betriebsberater British Company Law Cases (englische Entscheidungssammlung) Beschluss Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof
XX BGHZ Boyle & Birds’ Company Law Bull. Joly Bull. Joly Soc. BVerfG BVerfGE bzw. CA Cambridge Y.B. Eur. Legal Stud. Cass. Cass. 1re civ. Cass. 2e civ. Cass. 3e civ. Cass. civ.
Cass. com. Cass. crim. Cass. soc. Cass. (S.U.) Cass. req. CC c.c. CCom Ch Ch.D. CDE Clunet
CMF CMLR Comp.Law.
Abkürzungsverzeichnis Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Boyle & Birds’ Company Law, 9. Aufl. Bristol 2014 Bulletin mensuel Joly d’information des sociétés (französische Zeitschrift) Bulletin Joly Sociétés (französische Zeitschrift) Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts beziehungsweise Companies Act (englisches Gesellschaftsrechtsgesetzbuch); Court of Appeal(s) (englischer Appellationshof) Cambridge Yearbook of European Legal Studies (englische Zeitschrift) Corte di Cassazione Cour de cassation, Première chambre civile (Erste Zivilkammer des französischen Kassationshofes) Cour de cassation, Deuxième chambre civile (Zweite Zivilkammer des französischen Kassationshofes) Cour de cassation, Troisième chambre civile (Dritte Zivilkammer des französischen Kassationshofes) Corte di Cassazione, sezione civile/Arrêts de la Cour de cassation, chambre civile (Kassationshof, Zivilabteilung (Italien/Frankreich)) Cour de cassation, chambre civile, section commerciale (Handelsabteilung des französischen Kassationshofes) Arrêts de la Cour de cassation, chambre criminelle (Strafkammer des französischen Kassationshofs) Cour de cassation, chambre social (Sozialkammer des französischen Kassationshofs) Corte di Cassazione, sezioni uniti (Entscheidung der vereinigten Senate) Chambre des requêtes de la Cour de cassation française (Abteilung des französischen Kassationshofs) Code civil (französisches Zivilgesetzbuch) Codice Civile (italienisches Zivilgesetzbuch) Code de commerce (französisches Handelsgesetzbuch) Law Reports, Chancery Division (Third Series) (englische Entscheidungssammlung) Law Reports, Chancery Division (Second Series) (englische Entscheidungssammlung) Cahiers de Droit Européen (französische Zeitschrift) Journal du Droit International Privé et de la Jurisprudence Comparée, fondé et publié par Édouard Clunet (französische Zeitschrift) Code monétaire et financier (französisches Finanzgesetzbuch) Common Market Law Review (Zeitschrift) Company Lawyer (englische Zeitschrift)
Abkürzungsverzeichnis CPC c.p.c. d. lgs. DB DIP Dir. fall. DNotZ Dr. sociétés DStR E.L. Rev. EBLR ECFR EGBGB endg. Eq etc. EuGH EuLF EuR Euredia EUV EuZW EWCA Civ EWS EWiR EWIV Ex. D. f., ff. Fn. Foro it. Foro it., Rep. FS FuS GA ggf. GIE Giur. comm. Giur. it.
XXI
Code de procédure civile (französisches Zivilprozessbuch) Codice di procedura civile (italienisches Zivilprozessbuch) Decreto legislativo (Gesetzesdekret, Italien) Der Betrieb Diritto internazionale privato/droit international privé (Internationales Privatrecht, italienisch/französisch) Il diritto fallimentare e delle società commerciali (Abschnitt einer italienischen Entscheidungssammlung) Deutsche Notar-Zeitschrift, Verkündungsblatt der Bundesnotarkammer Droit des sociétés (französische Zeitschrift) Deutsches Steuerrecht European Law Review (Zeitschrift) European Business Law Review (Zeitschrift) European Company and Financial Law Review (Zeitschrift) Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche endgültig Law Reports, Equity Cases (englische Entscheidungssammlung) et cetera Europäischer Gerichtshof European Legal Forum Europarecht Revue Européenne de Droit Bancaire et Financier (französische Zeitschrift) Vertrag über die Europäische Union; Europäischer Verein Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht England and Wales Court of Appeal (Civil Division) Decisions (englische Entscheidungssammlung) Europäisches Wirtschafts- & Steuerrecht Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht, Kurzkommentare Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung Law Reports, Exchequer Division (englische Entscheidungssammlung) folgende Fußnote Il Foro italiano (italienische Entscheidungssammlung) Il Repertorio del Foro italiano (italienische Entscheidungssammlung) Festschrift, Festgabe Zeitschrift für Familienunternehmen und Stiftungen Goltdammer’s Archiv für Strafrecht gegebenenfalls groupement d’interêt économique (französische Rechtsform) Giurisprudenza commerciale (italienische Entscheidungssammlung) Giurisprudenza italiana (italienische Entscheidungssammlung)
XXII GmbHG GmbHR GPR GroßkommGmbHG GS GU Hare h.L. HL h.M. HGB Hrsg. Hurl. & C. ICLQ i.e.S. IILR i-IPRG INF IPR IPRax i.w.S. IZVR J. Law Econ. Organ J. Legal Stud. JBL JCLS JCP JCP-E jew. JhJb Jura JuS JZ Kap. KB KöKoAktG KritV LJ LQR
Abkürzungsverzeichnis Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung GmbH-Rundschau Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht Großkommentar zum Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung Gedächtnisschrift Gazetta Ufficiale (italienisches Amtsblatt) Hare’s Chancery Reports (englische Entscheidungssammlung) herrschende Lehre House of Lords (Oberhaus des Parlaments des Vereinigten Königreichs) herrschende Meinung Handelsgesetzbuch Herausgeber Hurlstone & Coltman’s Exchequer Reports (englische Entscheidungssammlung) International and Comparative Law Quarterly im engeren Sinne International Insolvency Law Review italienisches Gesetz über die Reform des internationalen Privatrechts (1995) Information über Steuer und Wirtschaft internationales Privatrecht Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts im weiteren Sinne internationales Zivilverfahrensrecht Journal of Law, Economics, & Organization (englische Zeitschrift) Journal of Legal Studies (englische Zeitschrift) Journal of Business Law (englische Zeitschrift) Journal of Corporate Law Studies (englische Zeitschrift) Jurisclasseur périodique (französische Zeitschrift) La Semaine Juridique Edition Entreprise et Affaires jeweils Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristen Zeitung Kapitel Law Reports: King’s Bench (englische Entscheidungssammlung) Kölner Kommentar zum Aktiengesetz Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Lord Justice (Rang eines englischen Richters) Law Quarterly Review
Abkürzungsverzeichnis LG lit. LPA LR (Bandzahl) Eq LR (Bandzahl) HL LR (Bandzahl) Ch App LR (Bandzahl) QB L.T. m.E. Maastricht J. Eur. & Comp. L. Mod. L. Rev. MoMiG MüKoAktG MüKoBGB MünchHdB-GesR m.w.N. n.F. NJW NJW-Spezial NotBZ NVwZ NZA NZG NZWiSt OLG OWiG Q.B.D. QB QdR RabelsZ RdA RIW Rev. crit. DIP Rev. DIP Rev. sociétés Rev. trim. RG RGZ
XXIII
Landgericht Buchstabe (littera) Les petites affiches Law Reports, Equity (englische Entscheidungssammlung) Law Reports, House of Lords (englische Entscheidungssammlung) Law Reports, Chancery Appeals (englische Entscheidungssammlung) Law Reports, Queen’s Bench (englische Entscheidungssammlung) Law Times Reports (englische Entscheidungssammlung) meines Erachtens Maastricht Journal of European and Comparative Law (Zeitschrift) Modern Law Review (englische Zeitschrift) Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen Münchener Kommentar zum Aktiengesetz Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts mit weiteren Nachweisen neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift Neue Juristische Wochenschrift Spezial Zeitschrift für die notarielle Beratungs- und Beurkundungspraxis Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht Neue Zeitschrift für Wirtschafts-, Steuer- und Unternehmensstrafrecht Oberlandesgericht Gesetz über Ordnungswidrigkeiten Law Reports, Queen’s Bench Division (englische Entscheidungssammlung) Law Reports, Queen’s Bench (Third Series) (englische Entscheidungssammlung) Queensland Reports (australische Entscheidungssammlung) Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Recht der Arbeit Recht der Internationalen Wirtschaft Revue critique de droit international privé (französische Zeitschrift) Revue de droit international privé (französische Zeitschrift) Revue des sociétés (französische Zeitschrift) Revue trimestrielle de Droit civil (französische Zeitschrift) Reichsgericht Entscheidungssammlung des Reichsgerichts in Zivilsachen
XXIV RIDC Riv. d. Soc. Riv. d. dir. civ. Riv. d. dir. int. Riv. di dir. int. priv. e proc. RJDA Rn. Rs. Rz. S. s.a. SA Sanders-VOV SAS SCA SEAG
SEBG Sec. SEEG SE-VO SE-VOV SE-RL
Slg. s.o. S.p.A. StAZ s.u. Suppl. SZW/RSDA Trib. T.U.F. u.a. UKSC Unterabs.
Abkürzungsverzeichnis Revue internationale de droit comparé (französische Zeitschrift) Rivista delle Società (italienische Zeitschrift) Rivista di diritto civile (italienische Zeitschrift) Rivista di diritto internazionale (italienische Zeitschrift) Rivista di diritto internazionale privato e processuale (italienische Zeitschrift) Revue de jurisprudence de droits des affaires (französische Zeitschrift) Randnummer Rechtssache Randziffer Seite siehe auch Société anonyme (französische Aktiengesellschaft) Vorentwurf zur SE-Verordnung von Prof. Pieter Sanders (1966) Société par actions simplifié (französische kleine Aktiengesellschaft) Société en accomandite par actions (französische Kommanditgesellschaft auf Aktien) Gesetz zur Ausführung der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE) Gesetz über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft Section (Artikelzählung in englischen Gesetzen) Gesetz zur Einführung der Europäischen Gesellschaft Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE) Vorentwurf zur SE-Verordnung (mit Jahreszahl) Richtlinie 2001/86/EG des Rates vom 8. Oktober 2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes siehe oben Società per Azioni (italienische Aktiengesellschaft) Das Standesamt (Zeitschrift) siehe unten Supplemento (Zusatz, Beilage) Schweizerische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht - Revue suisse de droit des affaires - Swiss Review of Business Law Tribunale (italienischer Gerichtshof) Testo unico delle disposizioni in materia di intermediazione finanziaria (italienisches Finanzgesetzbuch) unter anderem United Kingdom Supreme Court (Oberstes Gericht im Vereinigten Königreich) Unterabsatz
Abkürzungsverzeichnis Urt. usf. usw. v vgl. VOV WLR WM WSI-Mitt. Yale L.J. YbPrivIntL z.B. ZBB ZEuP ZEuS ZEV ZfRV ZGR ZHR ZInsO ZIP ZIS ZRP ZVglRWiss ZZP
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Urteil und so fort und so weiter versus (in englischen Gerichtsentscheidungen) vergleiche Verordnungs-Vorentwurf Weekly Law Reports (englische Entscheidungssammlung) Wertpapier-Mitteilungen WSI-Mitteilungen The Yale Law Journal (Zeitschrift) Yearbook of Private International Law (Zeitschrift) zum Beispiel Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für Europarechtliche Studien Zeitschrift für Erbrecht und Vermögensnachfolge Zeitschrift für Rechtsvergleichung Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für das gesamte Insolvenzrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft Zeitschrift für Zivilprozeß
Einleitung Über den Zusammenhang von Sprache und Recht ist bereits viel geschrieben worden; und es gäbe wohl noch viel mehr zu schreiben. Auch diese Arbeit wird versuchen, einen (allgemeinen) Beitrag zum Thema zu leisten, sich thematisch dabei aber auf die Europäische Aktiengesellschaft beschränken, ein Gebiet, das durch seine originelle und komplizierte Einbindung in das Gefüge der europäischen Mehrsprachigkeit eine lohnende Untersuchung verspricht. Dazu wird zunächst auf das Thema hingeführt (nachfolgend A–D), bevor allgemeine Grundlagen geklärt werden können (1. Kapitel). Die Untersuchung erfolgt in drei Teilen (2. bis 4. Kapitel), denen ein abschließendes Fazit (5. Kapitel) folgt.
A. Der Erfolg der SE in der Rechtswirklichkeit A. Die SE in der Rechtswirklichkeit
Ob die Europäische Aktiengesellschaft oder Societas Europaea (im Folgenden: SE) ein Erfolg im Sinn des europäischen Gesetzgebers ist, wird nach wie vor unterschiedlich beurteilt. Die SE wurde früh schon als „Flaggschiff des Europäischen Gesellschaftsrechts“1 betitelt und ihre nach langer wechselvoller Gesetzgebungsgeschichte erfolgte Einführung begrüßt.2 Ob diese Erwartungen in der Zwischenzeit erfüllt sind, lässt sich nicht ohne Weiteres an den absoluten Zahlen ablesen. Die maßgeblichen europäischen Regelungen bestehen aus einer Verordnung zur Regelung des Statuts der SE3 (im Folgenden: SE-VO) und einer Richtlinie, die diese hinsichtlich der Arbeitnehmer ergänzt4 (im Folgenden: SE-RL). Sie traten am 08.10.2004 in Kraft bzw.
1 Hopt, ZIP 1998, 98 (99). Das „Flaggschiff“-Bild wurde in der Folge häufig aufgegriffen, vgl. Hommelhoff/Teichmann, SZW/RSDA 2002, 1 (1); Teichmann, ZGR 2002, 383 (384); C. Schäfer, NZG 2004, 785 (791). 2 Unter den zahlreichen Beiträgen besonders optimistisch etwa Blanquet, ZGR 2002, 20 (20 ff., 63 ff.); auch Fages/Menjucq, JCP-E 2005, 39, 1571 (1572); Cathiard, JCP-E 2012, 13, Artikel 212, 9 (11); Colombani, LPA 17. Januar 2001, 12, 15 (15 ff.). 3 Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), ABl. L 294 vom 10.11.2001, S. 1–21. 4 Richtlinie 2001/86/EG des Rates vom 8. Oktober 2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer, ABl. L 294 vom 10.11.2001, S. 22–32.
2
Einleitung
waren bis zu diesem Zeitpunkt umzusetzen.5 Seitdem wurden in Europa 2901 SE gegründet, davon 475 in Deutschland.6 Allerdings befinden sich unter diesen bereits registrierten Gesellschaften noch viele Vorratsgesellschaften;7 darauf weist auch der hohe Anteil tschechischer Gesellschaften hin (2055, also 70 %), da in der Tschechischen Republik aufgrund besonderer gesellschaftsrechtlicher Hintergründe viele Vorratsgesellschaften gegründet wurden und die SE auch zur Finanzierung des Unternehmens genutzt werden können (oder jedenfalls genutzt werden).8 Diese absoluten Zahlen sind insbesondere dann wenig beeindruckend, wenn man sie mit den sonstigen Rechtsformen von Kapitalgesellschaften vergleicht: So standen etwa in Deutschland am 01.01.2017 den 417 bestehenden SE beispielsweise 15.130 als AG und 1.219.251 als 5 Art. 70 SE-VO, Art. 14 Abs. 1 SE-RL. In Deutschland erfolgte die Umsetzung durch das Gesetz zur Ausführung der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE) (SE-Ausführungsgesetz – SEAG) vom 22. Dezember 2004 (BGBl. I S. 3675), zuletzt geändert durch Artikel 14 des Gesetzes vom 24. April 2015 (BGBl. I S. 642) (im Folgenden: SEAG) und durch das Gesetz über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft (SE-Beteiligungsgesetz – SEBG) vom 22. Dezember 2004 (BGBl. I S. 3675, 3686) (im Folgenden: SEBG). Aufgrund der Verweisungsstruktur bedurfte auch die SE-VO einer Umsetzung, s. dazu Einl. B, S. 6 ff. 6 , zuletzt abgerufen am 21.10.2017. 7 Hierfür sind genaue Zahlen schwer zu erhalten. Immerhin weisen die Angaben mehrerer Anbieter von Vorratsgesellschaften allein in Deutschland auf einen aktiven Markt hin (vgl. ; ; ; ; jeweils zuletzt abgerufen am 21.10.2017); auch anfänglich geäußerte Zweifel an der Zulässigkeit solcher Vorratsgesellschaften (T. Blanke, „Vorrats-SE“ ohne Arbeitnehmerbeteiligung, 2005, S. 9 ff.; T. Blanke, ZIP 2006, 789 (791 f.).) sind mittlerweile jedenfalls in der Literatur überstimmt: Casper, AG 2007, 97 (100); Casper/Schäfer, ZIP 2007, 653 (655); Luke, NZA 2013, 941 (941 ff.). Auch die Rechtsprechung erlaubt nun Vorratsgesellschaften, siehe OLG Düsseldorf, I-3 Wx 248/08, Beschl. vom 30.03.2009 = ZIP 2009, 918, anders noch LG Hamburg, 417 T 15/05, Beschl. vom 30.09.2005 = ZIP 2005, 2018. Von den SE sind etwa die Hälfte solche ohne Arbeitnehmer (vgl. Mitteilung der Kommission zur Überprüfung der Richtlinie 2001/86/EG des Rates vom 8. Oktober 2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer, 30.09.2008, KOM(2008) 591 endg., S. 8, Fn. 9; sie brauchen deswegen allerdings noch keine Vorratsgesellschaften zu sein; zudem werden spätere Änderungen nicht erfasst, vgl. , abgerufen am 21.10.2017). Die Hans-Böckler-Stiftung geht für den 01.07.2017 von europaweit 462 „aktiven“ SE mit mindestens 5 Arbeitnehmern aus gegenüber 2365 Mikro- oder UFOGesellschaften, , abgerufen am 21.10.2017. Von diesen 462 aktiven SE befanden sich 243 in Deutschland. Insgesamt scheint die Vorratsgesellschaft (anders als zunächst geplant) der „bei Weitem beliebteste Weg in die SE“ zu sein (etwa 44 % der Gründungen in Deutschland), Schuberth/von der Höh, AG-Report 2014, 439 (440 f.); Köstler/Pütz, AG-Report 2013, R180 (R180). 8 Dazu ausführlicher Eidenmüller/Lasák, in: FS Hommelhoff 2012, 187 (187 ff., zum Finanzierungsmodell näher S. 199 f.).
A. Die SE in der Rechtswirklichkeit
3
GmbH organisierte Kapitalgesellschaften gegenüber.9 Allerdings schlägt sich die SE offenbar besser als die EWIV (Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung), die schon seit 1988 gegründet werden kann, zahlenmäßig jedoch von der SE bereits überholt wurde.10 Zudem verzeichnet die Rechtsform der SE gerade in Deutschland seit ihrer Gründung die höchsten Zuwachsraten von allen Rechtsformen.11 Als Gründe dafür, die Rechtsform der SE zu wählen, werden von den Unternehmen die Möglichkeiten, den Aufsichtsrat zu verkleinern,12 die monistische Führungsstruktur zu wählen 13 und vom europäischen Image zu profitieren genannt. 14 9
Kornblum, GmbHR 2017, 739 (739 f.). Bis zum 12.10.2017 wurden 2547 EWIV gegründet, davon 419 wieder aufgelöst, womit 2128 verbleiben, vgl. , abgerufen am 21.10.2017. In Deutschland wurde die Rechtsform der EWIV bereits zum 01.01.2014 überholt, Kornblum, GmbHR 2014, 694 (700). Zur EWIV ausführlicher unten 2. Kap., B III 5 a, S. 180 ff., und 3. Kap., D III 3, S. 266 ff. 11 Kornblum, GmbHR 2017, 739 (748); Kornblum, GmbHR 2016, 691 (700); Kornblum, GmbHR 2015, 687 (692); Kornblum, GmbHR 2014, 694 (699); Kornblum, GmbHR 2013, 693 (699); Kornblum, GmbHR 2012, 728 (733); Kornblum, GmbHR 2011, 692 (697); Kornblum, GmbHR 2010, 739 (744); Kornblum, GmbHR 2009, 1056 (1060); Kornblum, GmbHR 2009, 25 (31); Eidenmüller/Engert/Hornuf, AG 2008, 721 (724); W. Bayer/Schmidt, AGReport 2008, R31; W. Bayer/Schmidt, AG-Report 2007, R192; W. Bayer/Schmidt, Status Recht 2007, 334; zum zuletzt stabilen Wachstum auch Schuberth/von der Höh, AG-Report 2014, 439 (440). 12 Eidenmüller/Engert/Hornuf, AG 2009, 845 (848 f.); Schuberth/von der Höh, AG-Report 2014, 439 (440, Zahlen dazu S. 442); Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Vor Art. 1 SE-VO Rn. 20; Hemeling, Die Societas Europaea (SE) in der praktischen Anwendung, 2008, S. 12. 13 So bereits Fleischer, AcP 204 (2004), 502 (521 ff.); Teichmann, BB 2004, 53 (53 ff.); vgl. auch die Zahlen bei W. Bayer/Hoffmann/Schmidt, AG-Report 2009, R480 (R480); W. Bayer/Schmidt, BB 2008, 454 (454). 14 Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), Brüssel, den 17.11.2010, KOM(2010) 676 endgültig, S. 3; aus der Praxis vgl. z.B. die Pressemitteilung von EON, abrufbar unter , abgerufen am 21.10.2017, die Stellungnahme der SCOR SE, referiert bei Cozian/Viandier/Deboissy, Droit des sociétés, 2017, Rn. 1825; für die Allianz SE Hemeling, Die Societas Europaea (SE) in der praktischen Anwendung, 2008, S. 12. Aus der Literatur Schuberth/von der Höh, AGReport 2014, 439 (440); ferner dazu und zu Überlegungen, ob die Umwandlung in eine SE am Kapitalmarkt mit einem Aufschlag der Aktien beurteilt wird, Eidenmüller/Engert/Hornuf, AG 2009, 845 (847, 851 ff.); Bungert/Beier, EWS 2002, 1 (10); Cathiard, Bull. Joly Soc. 2007, 539 (542); Lutter, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Einl. SE-VO Rn. 33 (mit Beispielen in Fn. 95); ausführlich (und zweifelnd) Hornuf, Regulatory competition in European corporate and capital market law, 2012, S. 80 ff., insb. S. 95 f. 10
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Einleitung
Auch für kleine und mittlere Unternehmen erscheint die SE (trotz des zunächst abschreckend hohen Mindestkapitals) attraktiv.15 Eher zurückhaltend wird dagegen die 2012 angekündigte 16 Informationskampagne der EU beurteilt. 17 Auch die Arbeitnehmermitbestimmung spielt wohl eine Rolle, wenngleich dies aus Gründen überwiegend politischer Art nicht immer offen zugegeben werden mag; die zunächst befürchtete Flucht aus der Mitbestimmung18 lässt sich derzeit jedenfalls noch nicht feststellen. 19 Als Nachteile werden häufig die zu
15 Vgl. etwa Zahlen über die geringe Mitbestimmungsquote deutscher SE (81 % unterliegen keiner Mitbestimmung), was als Beleg gesehen wird, dass vor allem kleinere und mittlere Unternehmen die Rechtsform der SE wählten (CMS-Studie, S. 8, abrufbar unter , zuletzt abgerufen am 21.10.2017), vgl. zudem die statistischen Befunde bei W. Bayer/Schmidt, Status Recht 2007, 334 (334 f.); Eidenmüller/Engert/Hornuf, AG 2008, 721 (726); Köstler/Pütz, AG-Report 2013, R180 (R180 f.); argumentativ in diese Richtung bereits Lutter/Kollmorgen/Feldaus, BB 2005, 2473 (2473 ff.); W. Bayer/Schmidt, AnwBl 2008, 327 (327 ff.) mit Hinweis auf Gestaltungsmöglichkeiten wie das Patriarchen-Modell oder das CEO-Modell (so das Beispiel der „Mensch und Maschine SE“); zu letzterem auch Lutter, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Einl. SE-VO Rn. 35 f.; Reichert, Der Konzern 2006, 821 (823); G. Manz/Mayer, INF 2006, 833 (834 f.); Redeker, AG-Report 2006, R343 (R346); Mayer-Uellner/Otte, NZG 2015, 737 (743) empfehlen überdies die Gestaltung der SE & Co. KGaA für (größere) Familienunternehmen; ebenso A. Wiedemann/Frohnmayer, FuS 2014, 10 (18). Neuere Zahlen bestätigen, dass gerade kleine und mittlere Unternehmen von der Flexibilität Gebrauch machen, Schuberth/von der Höh, AG-Report 2014, 439 (442). 16 Im Aktionsplan Gesellschaftsrecht der Kommission, S. 16, COM(2012) 740 final vom 12.12.2012, abrufbar unter , zuletzt abgerufen am 21.10.2017. 17 W. Bayer, in: Bergmann u.a. (2015), 230 (248); W. Bayer/Schmidt, BB 2014, 1219 (1219, 1232). 18 Zur Situation nach dem SE-VOV 1989 Krieger, in: FS Rittner 1991, 303 (313 f.); Bedenken auch bei Heinze, ZGR 2002, 66 (69); Hopt, ZGR 1992, 265 (278); ähnlich (Bedenken wegen einer Unattraktivität der deutschen Unternehmen) Fleischer, AcP 204 (2004), 502 (535 f.); Lutter, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Einl. SE-VO Rn. 37; Lutter, BB 2002, 1 (6); Hopt, EuZW 2002, 1 (1); Herfs-Röttgen, NZA 2001, 424 (429); optimistisch dagegen Kübler, in: FS Raiser 2005, 247; Thoma/Leuering, NJW 2002, 1449 (1454); Calle Lambach, RIW 2005, 161. 19 W. Bayer, in: Bergmann u.a. (2015), 230 (238); Köstler/Pütz, AG-Report 2013, R180 (R180 f.) mit Zahlen insb. zur grenzüberschreitenden Verschmelzung; ausdrücklich vorsichtiger (die verfügbaren Zahlen sagen nichts über die hypothetische Situation aus, wenn keine SE gegründet worden wäre) Schuberth/von der Höh, AG-Report 2014, 439 (442 f.); einen gewissen Trend zur „präventiven Mitbestimmungsflucht“ beobachten dagegen Keller/Werner, WSI-Mitt. 2009, 416 (421 f.); vorsichtiger noch Keller/Werner, WSI-Mitt. 2007, 604.
A. Die SE in der Rechtswirklichkeit
5
große Komplexität20 und teilweise das Fehlen eines vereinheitlichten Steuerrechts21 genannt. Für den rechtstatsächlichen Erfolg maßgebend ist neben den Zuwächsen aber auch, dass gerade eine Reihe von „Schwergewichten der Unternehmenslandschaft“22 die Rechtsform der SE gewählt haben. In Deutschland können die Allianz SE,23 die BASF SE, die E.ON SE, die ProSiebenSat.1 Media SE, die SAP SE, die Vonovia SE, die MAN SE, die Porsche Automobil Holding SE u.v.a. genannt werden. Bereits 2009 hatten 15 deutsche SE ein Grundkapital von mehr als 100 Millionen Euro und insgesamt knapp 5 Milliarden Euro,24 heute finden sich unter den 30 DAX-Konzernen bereits sechs, die als SE organisiert sind – es handelt sich um die sechs soeben zuerst genannten SE mit einer Marktkapitalisierung von zusammen über 300 Milliarden Euro, darunter drei der fünf größten DAX-Konzerne, gemessen an der Marktkapitalisierung.25 Von diesen Gesellschaften ist zu erwarten, dass sie auch in Rechtsberatung und Rechtsprechungspraxis verstärkt die Auseinandersetzung mit der SE antreiben und für eine weiterhin wachsende Akzeptanz der SE sorgen werden.26 Aus diesen Gründen ergibt sich ein Bedarf für eine auch rechtswissenschaftliche Erforschung der neuen Rechtsform. Während viele Einzelfragen mittlerweile geklärt sind, bleiben andere noch offen. Um zum eigentlichen Thema der Arbeit hinzuführen (dazu dann unten D), werden in den nächsten beiden Abschnitten verschiedene Besonderheiten der SE beleuchtet: die Verweisungsstruktur (B) und ihre Einbettung in ein mehrsprachiges Europa (C). 20
Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), Brüssel, den 17.11.2010, KOM(2010) 676 endgültig, S. 5; aus der Literatur statt vieler C. Schäfer, NZG 2004, 785 (789); aus Sicht der Praxis vgl. etwa die Beiträge von Requillart, in: Lenoir (2007), 224 (232); Husson, in: Lenoir (2007), 234 (234); zu offenen Fragen aus Sicht der Literatur vgl. z.B. Cathiard, Bull. Joly Soc. 2007, 539 (550 ff.). 21 Edwards, CMLR 40 (2003), 443 (463 f.); Endres, RIW 2004, 735 (739); Mustaki/Engammare, Droit européen des sociétés, 2009, S. 379; Husson, in: Lenoir (2007), 234 (235); Gardella, in: Lenoir (2007), 237 (245); die Regelungen für sachgerecht haltend dagegen Förster/Lange, DB 2002, 288 (288, 294); Kritik vor allem am deutschen Gesetzgeber anlässlich des Gesetzes zur Einführung der Europäischen Gesellschaft (SEEG) äußert Waclawik, ZEV 2006, 429 (1191 ff.). 22 W. Bayer/Hoffmann/Schmidt, AG-Report 2009, R480 (R482). 23 Vgl. dazu die Erfahrungsberichte des Chefsyndikus der Allianz SE, Hemeling, Die Societas Europaea (SE) in der praktischen Anwendung, 2008; weitgehend identisch mit Hemeling, in: Jung (2011), 41. 24 W. Bayer/Hoffmann/Schmidt, AG-Report 2009, R480 (R481). 25 , zuletzt abgerufen am 21.10.2017. Von den fünf größten DAX-Konzernen, SAP, Siemens, Bayer, Allianz und BASF, sind nur Siemens und Bayer nicht als SE organisiert. 26 Positiv aus Sicht der Wirtschaft auch die Bilanz bei Cathiard, Journal des sociétés 2011, 39 (39 ff.).
6
Einleitung
B. Geschichte der SE B. Geschichte der SE
Die lange und wendungsreiche Geschichte der SE ist bereits oft nachgezeichnet worden,27 sodass hier einige wenige Worte genügen können. Für die Zwecke der nachfolgenden Untersuchung ist es ausreichend, die verschiedenen Vorentwürfe kurz zu charakterisieren und die im Laufe der Zeit zunehmende Verwendung der Verweisungstechnik als Antwort auf die Schwierigkeiten politischer Einigung darzustellen. Die Geschichte der SE reicht (mindestens28) bis zu den Vorträgen von Thibièrge und Sanders am Ende der 1950er Jahre zurück, in denen das erste Mal konkret von einer „europäischen Aktiengesellschaft“ die Rede ist.29 In der Folgezeit wurde die Idee insbesondere in Frankreich weiterverfolgt, bis die Kommission schließlich auf Initiative der französischen Regierung die Idee aufgriff und Pieter Sanders mit der Ausarbeitung beauftragte; ihm wurde eine Expertengruppe zur Seite gestellt.30 Sanders lieferte dann 1966/1967 einen ersten
27
Vgl. zur Geschichte der SE insbesondere die Darstellungen von Blanquet, ZGR 2002, 20 (21 ff.); Lutter, BB 2002, 1 (1 ff.); Schwarz, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2000, Rn. 33 ff., 42 ff. Edwards, CMLR 40 (2003), 443 (443–450); Theisen/Wenz, in: Theisen/Wenz, Die europäische Aktiengesellschaft, 2005, S. 27–36; Pellegrini, in: Capriglione (2008), 103 (103 ff.); mit Fokus auf die Arbeitnehmerbeteiligung Herfs-Röttgen, NZA 2001, 424 (424 ff.); ausführlich Kapschak, Projekt Europäische Aktiengesellschaft, 2008. Eine Übersicht über die wichtigsten Dokumente bietet , abgerufen am 21.10.2017. 28 Bereits auf dem 34. Deutschen Juristentag 1926 wurde die Bildung einer überstaatlichen Kapitalgesellschaft angeregt und die Reichsregierung zu deren Umsetzung aufgerufen sowie dazu, das Thema auf der Weltwirtschaftskonferenz 1927 anzusprechen (was nicht geschah), 34. DJT I, 1926, S. 258–331; 34. DJT II, 1927, S. 611–798, 874–879, insbes. 798, 878; vgl. auch Duden, RabelsZ 27 (1962), 89 (90 f.). In der Folgezeit wurde das Projekt nicht weiterverfolgt, auch eine den Vorträgen von Sanders und Thibièrge vorangehende Initiative des Europarats im Jahre 1952 betraf nur öffentliche Unternehmen und wurde ebenfalls nicht verwirklicht, wohl aus Furcht der Regierungen vor einer Diskriminierung der „eigenen“ Unternehmensformen, Pipkorn, ZHR 141 (1973), 35 (48). Zu den Ursprüngen der SE bereits vor den genannten Vorträgen Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, 2006, S. 240 ff.; J. Schmidt, Deutsche vs. britische SE, 2006, S. 52 f.; Schwarz, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2000, Rn. 31 f.; dazu und auch zu Beispielen früherer international gestalteter Gesellschaften der Kautelarjurisprudenz Taschner/Bodenschatz, in: Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 2. Aufl., 2014, Rn. 1.1 ff. 29 In der Antrittsvorlesung von Pieter Sanders in Rotterdam am 22.10.1959, abgedruckt in Sanders, AWD 1960, 1 (1); mit ähnlichen Ideen bereits kurz zuvor Thibièrge, in: Le Statut de l’étranger, 239 (360 ff.); sarkastisch dazu P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 1-33 (Fn. 158): the vision was put forward … „by Professor P. Sanders […], though the French claim coparternity“. 30 Von dieser Phase berichtet aus eigener Erfahrung (als einer Experten der fünfköpfigen Sachverständigenkommission) etwa von Caemmerer, in: FS Kronstein 1967, 171 (176 ff.);
B. Geschichte der SE
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konkreten Vorentwurf31 (im Folgenden: Sanders-VOV). Der Entwurf enthielt 13 Titel (wobei die letzten beiden Titel, Steuer- und Strafrecht, keine Vorschriften enthielten) und 208 Artikel. Mit Ausnahme des vierten Titels („Organe“) wurde das Statut nebst einem erläuternden und rechtsvergleichenden Kommentar im Original auf Deutsch abgefasst, Titel IV auf Französisch.32 Der gesamte Entwurf wurde (lediglich) auf Deutsch und Französisch veröffentlicht. Der Entwurf verstand sich als Vollregelung, die alle für die Gesellschaftsform relevanten Fragen selbst regeln wollte. Nur für die in dem Statut nicht geregelten Gegenstände wurde auf das Recht der Mitgliedstaaten verwiesen, der Rest sollte sich aus dem Statut oder hilfsweise aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen ergeben.33 1970 legte die Kommission schließlich einen ersten offiziellen Entwurf vor34 (im Folgenden: SE-VOV 1970). Dieser Entwurf enthielt 284 Artikel und kam damit in Regelungsdichte und im Übrigen auch inhaltlich deutschen Vorstellungen recht nahe.35 Besonders heikel war die Mitbestimmung: Insbesondere Deutschland fürchtete eine „Flucht aus der Mitbestimmung“,36 in anderen Staaten stellten sich neben Arbeitgebern teils auch Gewerkschaften gegen die unternehmerische Mitbestimmung, da sie sich nicht „in das kapitalistische System einspannen lassen wollten“.37 Die von Prof. Biedenkopf erarbeitete Lösung 1970 sah schließlich mehrere Alternativen der Mitbestimmung vor, die den Unternehmen zur Wahl gestellt werden sollten.38 Das Parlament begrüßte den von Caemmerer, in: Lutter (1968), 54 (59 ff.); s. auch Geßler, BB 1967, 381 (382); Hauschild, in: Lutter (1968), 81 (82 ff.). 31 Pieter Sanders, Vorentwurf eines Statuts für eine europäische Aktiengesellschaft, veröffentlicht von der EWG Kommission, Generaldirektion Wettbewerb, Az. 11000/IV/67, Kollektion Studien, Reihe Wettbewerb Nr. 6, 1967. Sofern nicht anders kenntlich gemacht, wird die deutsche Fassung zitiert. 32 Sanders-VOV, S. 7. 33 Art. I-7 Sanders-VOV. 34 Kommission, Vorschlag einer Verordnung (EWG) des Rates über das Statut für europäische Aktiengesellschaften, 30.06.1970, ABl. Nr. C 124 vom 10.10.1970, S. 1–55 = BTDrs. VI/1109, 19.08.1970. Zum Vorschlag von 1970 siehe etwa die Stellungnahmen des Wirtschafts- und Sozialausschusses (ABl. Nr. C 131 vom 13.12.1972, S. 32 ff.), und des Europäischen Parlaments vom 07.08.1974, S. 22 ff. 35 Inhaltlich sprechen für diese Nähe das dualistische Leitungssystem (Art. 62 ff. SEVOV 1970 („Vorstand“), Art. 73 ff. SE-VOV („Aufsichtsrat“)), die (potenzielle) Arbeitnehmerbeteiligung im Aufsichtsrat (Art. 137–145 SE-VOV 1970) sowie das ausformulierte Konzernrecht (Titel VII, Art. 223–240 SE-VOV). 36 S. dazu oben S. 4, Fn. 18 f. 37 Taschner/Bodenschatz, in: Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 2. Aufl., 2014, Rn. 1.26. 38 Vgl. Art. 137 ff. SE-VOV 1970; dazu auch Taschner/Bodenschatz, in: Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 2. Aufl., 2014, Rn. 1.17: „vorzügliches Konzept einer europäischen Mitbestimmung […] die hier niedergelegten Überlegungen […] haben noch heute Gültigkeit“.
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Einleitung
Entwurf grundsätzlich, befürwortete neben weiteren Änderungen aber gerade das Prinzip der starren Drittelbeteiligung; ein Vorschlag, den sich die Kommission in einem erneuten Entwurf 1975 39 (im Folgenden: SE-VOV 1975) auch zu eigen machte.40 Mit Anhängen zählte der Entwurf über 400 Artikel41 und war damit der umfangreichste. Doch mit dem zwischenzeitlich erfolgten Beitritt insbesondere des – in der Folgezeit mitbestimmungsfeindlichen – Vereinigten Königreichs sowie dem Anwachsen der Mitgliedstaaten (mit Irland und Dänemark) auf neun hatte sich die politische Situation geändert. Die Mitbestimmungsfrage war gerade mit dem geänderten Entwurf, der tatsächlich auch kaum noch in den politischen Prozess eingebracht wurde,42 nicht mehr zu lösen. Von den Arbeiten an den gesellschaftsrechtlichen Richtlinien konnte die SE nicht profitieren, die Beratungen im Rat wurden schließlich 1982 eingestellt.43 Alle drei frühen Entwürfe hatten sich dabei als Vollregelung verstanden; die entsprechende Verweisungsregelung aus dem Sanders-VOV (d.h. nur bei Nichtregelung des Gegenstandes im Statut, s.o.) wurde inhaltlich voll übernommen.44 Erst 1989 nahm die Kommission, ermutigt durch die im Zuge der Einheitlichen Europäischen Akte45 vorangetriebene Initiative zur Vollendung des Binnenmarkts, die Arbeiten neu auf. Für ihren Entwurf von 198946 (im Folgenden: SE-VOV 1989) wählte sie eine neue Strategie: Erstmals wurde der Umfang der SE-VO deutlich verkleinert (nur noch 137 Artikel), wobei auf Bereiche wie das Konzernrecht ganz verzichtet wurde. Die Mitbestimmung wurde auf eine
39 Der Entwurf wurde nicht im Amtsblatt veröffentlicht, sondern lediglich als Beilage Nr. 4/75 zum Bulletin der EG (= BT-Drs. VII/3713 vom 02.06.1975 = BR-Drs. 372/75 vom 02.06.1975). Der Text ist abgedruckt bei Lutter, Europäisches Gesellschaftsrecht, 1979, S. 278 ff. Vgl. zum Entwurf aus der Literatur den Sammelband von Lutter (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft, 1976, mit umfangreicher Bibliographie auf S. 439 ff. 40 Vgl. Art. 137 des vom Europäischen Parlaments geänderten Entwurfs, ABl. C 93 vom 07.08.1974, S. 54, und Art. 74a SE-VOV 1975. 41 Lutter (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft, 1976, S. VI. 42 Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, Rn. 1033. 43 Taschner/Bodenschatz, in: Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 2. Aufl., 2014, Rn. 1.40. 44 Vgl. bei Unterschieden in der Formulierung Art. 7 SE-VOV 1970 und Art. I-7 SandersVOV. Art. 7 SE-VOV 1975 war mit dem von 1970 wortgleich. Zur Frage der Lückenfüllung bei Sanders-VOV und SE-VOV 1970 s. a. Ficker, in: FS Sanders 1972, 37. 45 ABl. Nr. L 169 vom 29.06.1987, S. 1 ff. 46 Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates über das Statut der Europäischen Aktiengesellschaft, COM(89) 268 endg. – SYN 218 vom 25.08.1989, ABl. Nr. C 263 vom 16.10.1989, S. 41 ff., dazu vgl. die Stellungnahmen von Europäischem Parlament, ABl. Nr. C 48 vom 25.02.1991, S. 72 ff., sowie vom Wirtschafts- und Sozialausschuss, ABl. Nr. C 124 vom 21.05.1990, S. 34 ff.
B. Geschichte der SE
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Richtlinie ausgelagert, die drei Optionen anbot.47 Der leicht abgeänderte Entwurf von 1991 verfolgte die Strategie weiter: Die SE-VO wurde weiter verschlankt48 (noch 108 Artikel; im Folgenden: SE-VOV 1991), in der Richtlinie wurde eine vierte Option angeboten.49 Damit war klar, dass das europäische Recht nicht mehr alle nötigen Regelungen enthalten konnte; stattdessen wurde (neben mehreren speziellen Verweisungsvorschriften) in einer Generalklausel erstmals auch in den „der Verordnung unterliegenden Bereichen“ für die verbleibenden, vom Statut nicht geregelten Fragen auf das Recht des Sitzstaates verwiesen.50 Statt eines Vollstatuts war die SE-VO also zu einer „Mischung aus Aktiengesetz und Aktienkollisionsrecht“51 geworden. Die darin liegende Abkehr vom Vollstatut ließ sich teilweise mit Verweis auf die zwischenzeitlich erfolgte Harmonisierung der Gesellschaftsrechte in Europa rechtfertigen; 52 dies galt jedoch nicht für alle Regelungsbereiche, namentlich das 1989 entfallene Konzernrecht, für das bis heute in Europa höchst unterschiedliche Auffassungen bestehen.53 In den nicht harmonisierten Regelungsbereichen lässt sich der Verzicht auf ein Vollstatut kaum anders deuten als ein Zugeständnis an die
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Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Ergänzung des SE-Statuts hinsichtlich der Stellung der Arbeitnehmer, KOM(89) 268 – SYN 219 vom 25.08.1989, ABl. Nr. C 263 vom 16.10.1989, S. 69 ff., mit Stellungnahmen des Europäischen Parlaments ABl. Nr. C 48 vom 25.02.1991, S. 100 ff., und des Wirtschafts- und Sozialausschusses, ABl. Nr. C 124 vom 21.05.1990, S. 34 ff. 48 Geänderter Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates über das Statut der Europäischen Aktiengesellschaft, KOM(91) 174 endg. – SYN 218, ABl. Nr. C 176 vom 08.07.1991, S. 1 ff.; vgl. dazu auch die Begründung laut der Unterrichtung der Bundesregierung, BT-Drs. 12/1004, S. 1 ff. 49 Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Ergänzung des SE-Statuts hinsichtlich der Stellung der Arbeitnehmer, KOM(91) 174 endg. – SYN 219, ABl. Nr. C 138 vom 29.05.1991, S. 8 ff. 50 Vgl. Art. 7 SE-VOV 1989, Art. 7 SE-VOV 1991. Der größte Unterschied war, dass im Entwurf von 1989 noch „die allgemeinen Grundsätze, auf denen diese Verordnung beruht“, erwähnt waren, 1991 jedoch nicht mehr. Auch in Art. 9 SE-VO (der Nachfolgevorschrift) sind diese Grundsätze nicht mehr erwähnt; zu Überlegungen, sie dennoch im Rahmen der Lückenfüllung heranzuziehen, vgl. Teichmann, ZGR 2002, 383 (408 f.); Teichmann, German Law Journal 4 (2003), 309 (327); Raiser, in: FS Semler 1993, 277 (283, 297); Wulfers, GPR 2006, 106 (106); Rescio, Riv. d. Soc. 2003, 965 (979 (Fn. 32)). 51 Merkt, BB 1992, 652 (654). 52 Taschner/Bodenschatz, in: Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 2. Aufl., 2014, Rn. 1.43, vgl. auch heute noch Erwägungsgrund 9 SE-VO. 53 Vgl. zu den bis heute unterschiedlichen Auffassungen zum Konzernrecht nur Lutter (Hrsg.), Konzernrecht im Ausland, 1994; zu einem möglichen europäischen Konzernrecht de lege ferenda Forum Europaeum Konzernrecht, ZGR 1998, 672, sowie Lutter, Konzernrecht für Europa, 1999.
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Einleitung
unterschiedlichen Auffassungen in den Mitgliedstaaten, um wenigstens den Minimalkonsens zu verabschieden, der politisch möglich ist.54 Der eingeschlagene Kurs der Kommission, von der Vollharmonisierung abzugehen,55 wurde heftig kritisiert, weil die frühere Einheitlichkeit der europäischen Rechtsform vermisst wurde,56 aber auch, weil die politisch einfachere Lösung juristisch diffizile Fragen aufwirft57 – im Bereich der Generalverweisung (jetzt Art. 9 SE-VO58), aber auch in den einzelnen Vorschriften der SEVO.59 Dennoch zahlte sich die Strategie der Kommission letztlich aus. Auch wenn die Entwürfe von 1989 und 1991 ebenfalls scheiterten, war es 2001 ein Entwurf, der den eingeschlagenen Weg weiterverfolgte (die Anzahl der Artikel war auf 70 zusammengestrichen worden), der schließlich verabschiedet werden konnte, auch wenn es zuvor in der langen Entstehungsgeschichte der SE wohl nie an gutem Willen gefehlt hatte. Auf diese Weise konnten jedoch streitige (und bis heute nicht gelöste) Fragen wie das Konzernrecht ausgeklammert werden, die sonst eine Einigung verhindert hätten. Zuvor war (nach einer Annäherung
54 In diese Richtung auch Bungert/Beier, EWS 2002, 1 (2); Hopt, Euredia 2000, 465 (469); Koke, Finanzverfassung der SE, 2005, S. 3; J. Wagner, NZG 2002, 985 (990 f.). 55 Zur Einordnung dieses Strategiewechsels in das europäische Gesellschaftsrecht allgemein vgl. Schürnbrand, in: Gsell/Herresthal (2009), 273; zu weiteren Parallelen (etwa im Verbraucherschutzrecht) siehe Gsell/Herresthal, in: Gsell/Herresthal (2009), 1. 56 Ablehnend daher Rasner, ZGR 1992, 314 (325 f.); G. Jaeger, NZG 2000, 918 (217); eher die Nachteile hervorhebend auch Hommelhoff, AG 2001, 279 (285); Hirte, NZG 2002, 1 (2). 57 Dies wird vor allem wegen des Verlustes an Rechtssicherheit kritisiert, vgl. Lutter, AG 1990, 413 (421); Trojan-Limmer, RIW 1991, 1010 (1012); Bungert/Beier, EWS 2002, 1 (2); Hommelhoff/Teichmann, SZW/RSDA 2002, 1 (4); Heckschen, DNotZ 2003, 251 (252 ff., 269). 58 Art. 9 SE-VO wird auch als „Eldorado der Methodenlehre“ bezeichnet (Casper, in: FS Ulmer 2003, 51 (72); ähnlich bereits („lawyer’s paradise“) zur ähnlich formulierten Vorgängerregelung Art. 7 SE-VOV 1970 (die allerdings nicht auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist) Sanders, in: Schmitthoff (1973), 83 (89). Er errichtet eine „kunstvoll aufgeschichtete Rechtsquellenpyramide“ aus Unions-, mitgliedstaatlichem und Satzungsrecht (Hommelhoff, AG 2001, 279 (285)). Unter anderem ist streitig, wie dieser sich zu Regeln des Internationalen Privatrechts verhält, ob er einen Regelungsbereich hat, wie dieser zu bestimmen ist, wo er genau endet, insbesondere, ob das Konzernrecht darunterfällt, ob die darin enthaltenen Verweisungen Gesamt- oder Sachnormverweisungen sind, ob auch auf europäische Rechtsgrundsätze verwiesen wird und ob die in Bezug genommenen Normen SE-spezifisch auszulegen sind. Außerdem sind der genaue Aufbau der „Normenpyramide“ und (damit verbunden) die Frage der Satzungsstrenge unklar. Zu einzelnen Fragen siehe unten 1. Kap., D I, S. 80 ff. 59 Einem Problem, das sich aus dem Zusammentreffen von geringer europäischer Regelungsdichte und der (im nächsten Abschnitt anzusprechenden) Vielsprachigkeit Europas ergibt, widmet sich diese Untersuchung.
B. Geschichte der SE
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durch Vorarbeiten unter Leitung des damaligen Vizepräsidenten der Kommission, Davignon60) das unüberwindlich scheinende Problem der Mitbestimmung schließlich durch inhaltliche61 (und so manch sachfremde62) Zugeständnisse an das bis zuletzt blockierende Spanien im „Wunder von Nizza“63 schließlich gelöst worden. In der heute gültigen Fassung ist auf europäischer Ebene wenig mehr geblieben als Vorschriften zur Gründung und zur Organisation der SE. Eine SE kann im Wege der Holdinggründung, als Tochter, durch Verschmelzung oder Umwandlung gegründet werden;64 jeweils findet dabei das sog. Mehrstaatlichkeitskriterium Anwendung.65 Für jede SE kann eine dualistische oder monistische Führungsstruktur gewählt werden; 66 die Staaten haben dabei entsprechende Regelungen vorzusehen. Ein großer Teil der übrigen Vorschriften beschränkt sich darauf, die restlichen Materien kollisionsrechtlich den Mitgliedstaaten zuzuweisen – in den 70 Artikeln der SE-VO wurden 84 Verweisungsvorschriften gezählt.67 Die SE ist damit in der Rechtswirklichkeit angekommen. Als historisches Erbe bringt sie ein komplexes Gewebe aus mitgliedstaatlichem und europäi-
60 An der Spitze eines Ausschusses bemühte sich Davignon um die Vereinheitlichung der divergierenden Auffassungen und schloss in seinem Abschlussbericht 1997, es sei eine Verhandlungslösung zu empfehlen und für den Fall, dass die Verhandlungen zu keinem Ergebnis kämen, eine Auffanglösung vorzusehen. Zum sog. Davignon-Bericht vgl. die Stellungnahmen des Europäischen Parlaments, ABl. Nr. C 371 vom 08.12.1997, S. 83 ff., und des Wirtschafts- und Sozialausschusses, ABl. Nr. C 129 vom 27.04.1998, S. 1 ff., aus der Literatur vgl. Heinze, AG 1997, 289 (291 ff.); Herfs-Röttgen, NZA 2001, 424 (425); Kolvenbach, NZA 1998, 1323 (1324). 61 Auf Wunsch Spaniens wurde Art. 7 Abs. 3 SE-RL aufgenommen: Dieser bestimmt, dass Mitgliedstaaten in bestimmten Fällen aus der Auffangregelung der Mitbestimmung hinausoptieren können; Lutter, BB 2002, 1 (3); J. Schmidt, Deutsche vs. britische SE, 2006, S. 55; Taschner/Bodenschatz, in: Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 2. Aufl., 2014, Rn. 1.49. 62 Von finanzieller Unterstützung für die spanische Fischereiflotte berichtet in diesem Zusammenhang J. Schmidt, Deutsche vs. britische SE, 2006, S. 55. Jedoch ist letztlich fraglich, ob die SE ohne baskische Terroristen zustande gekommen wäre: Erst durch Zusagen von Hilfe bei deren Bekämpfung konnte der damalige französische Präsident Chirac den spanischen Verhandlungsführer Aznard schließlich zur Zustimmung bewegen, Hopt, Euredia 2000, 465 (467 f.); Hopt, EuZW 2002, 1 (1). 63 Hirte, NZG 2002, 1 (1 f.). 64 Vgl. Art. 2 Abs. 1–4 SE-VO. 65 Zur rechtspolitischen Kritik am Mehrstaatlichkeitskriterium vgl. nur Arbeitskreis Aktien- und Kapitalmarktrecht (AAK), ZIP 2009, 698 (698); Casper, AG 2007, 97 (98); Oechsler, NZG 2005, 697 (698 f.); Schön, ZHR 160 (1996), 221 (238); Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 100; Kallmeyer, AG 1990, 103 (106). 66 Vgl. Art. 39 ff., 43 ff. SE-VO. 67 Brandt/Scheifele, DStR 2003, 547 (547).
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schem Recht mit. Einen Teil dieser Komplexität macht es aus, dass die SE damit an der Grenze zwischen (zumeist) einsprachigem und mehrsprachigem Recht operiert. Um diese Komplexität zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die Praxis des mehrsprachigen Europas.
C. Europäische Mehrsprachigkeit C. Europäische Mehrsprachigkeit
Nach aktuellem Stand zählt die EU nunmehr 24 Amts- und Arbeitssprachen.68 Dabei sind alle Sprachen gleichberechtigt; das Recht ist in allen Sprachen gleichermaßen verbindlich,69 jeder Bürger kann sich in einer dieser Sprachen an die Organe der Europäischen Union wenden und hat Anspruch auf eine Antwort in gleicher Sprache.70 Die Gleichberechtigung aller Sprachen lässt sich aus dem Verfassungsrecht ableiten71 und erfasst zumindest die Amts- und die davon zu unterscheidenden Vertragssprachen. 72 Der Terminus „Arbeitssprache“ wird dabei nicht einheitlich verwendet. Zwar bezeichnet Art. 1 VO(EWG)
68 Diese sind laut Art. 1 der Verordnung Nr. 1 zur Regelung der Sprachenfrage für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (ABl. 17 vom 06.10.1958, S. 358), zuletzt geändert durch Verordnung (EU) Nr. 517/2013 des Rates vom 13. Mai 2013 (ABl. L 158, S. 1): Bulgarisch, Dänisch, Deutsch, Englisch, Estnisch, Finnisch, Französisch, Griechisch, Irisch, Italienisch, Kroatisch, Lettisch, Litauisch, Maltesisch, Niederländisch, Polnisch, Portugiesisch, Rumänisch, Schwedisch, Slowakisch, Slowenisch, Spanisch, Tschechisch und Ungarisch. 69 Der EuGH verlangt sogar von nationalen Gerichten, sämtliche Sprachfassungen zur Auslegung heranzuziehen, vgl. EuGH, Rs. 283/81, Urt. vom 06.10.1982, Slg. 1982, 3415 („CILFIT“), Rz. 18; dazu auch F. C. Mayer, Der Staat 2005, 367 (372). 70 Art. 2 VO(EWG) 1/58, s. auch das Petitionsrecht mit Anspruch auf eine Antwort in der Sprache der Petition, Art. 24 Abs. 4 AEUV. 71 Die Union hat die sprachliche Vielfalt zu achten und zu wahren, vgl. Art. 3 Abs. 3 EUV, Art. 22 EU-Grundrechtecharta, s.a. Cloots, CMLR 51 (2014), 623 (623) m.w.N. Ferner spielt Sprache eine Rolle für einen europaweiten Diskurs, der für das Demokratieprinzip bedeutend ist, und ist Teil der nationalen Identität der Mitgliedstaaten, die zu achten ist (Art. 4 Abs. 2 AEUV; zur Bedeutung der Sprache für die Kultur s. auch Pescatore, ZEuP 1998, 1 (1 ff.); Robbers, in: Schulze/Ajani (2003), 419 (419); Berteloot, in: Schulze/Ajani (2003), 357 (362 ff.)). Ferner ist sie für Normenklarheit und -bestimmtheit wichtig (vgl. Rechtsstaatsprinzip, Art. 2 AEUV); aus den genannten Punkten lässt sich ein „Verfassungsprinzip ‚gleichrangiger Vielsprachigkeit‘“ ableiten (F. C. Mayer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 2015, Art. 342 AEUV Rn. 11; F. C. Mayer, Der Staat 2005, 367 (394 f.); für Verfassungsrang auch Pfeil, in: de Groot/Schulze (1999), 125 (146 f.)). Gleichwohl ist die Frage nicht im Primärrecht geregelt, zum damaligen Hintergrund V. Manz, Sprachenvielfalt und europäische Integration, 2002, S. 130. 72 Die Amts- und Arbeitssprachen sind von den Vertragssprachen zu unterscheiden, die in Art. 55 AEUV genannt sind und die Sprachen sind, in denen das europäische Primärrecht verbindlich ist. So war etwa das Irische lange Zeit Vertragssprache, aber nicht Amts- und Arbeitssprache. Im Zuge der Anpassungen infolge des Beitritts von Bulgarien und Rumänien
C. Europäische Mehrsprachigkeit
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1/58 die Sprachen Deutsch, Französisch, Italienisch und Niederländisch gleichermaßen als Amts- und auch Arbeitssprachen, was vermutlich politisch motiviert war; 73 im heutigen Sprachgebrauch werden als „Arbeitssprachen“ die Sprachen bezeichnet, die für den internen Gebrauch verwendet werden, im Gegensatz zu den „außenwirksamen“ Amtssprachen.74 Im Bereich der Arbeitssprachen folgen die Organe der EU verschiedenen, meist pragmatischeren Regelungen.75 Die bei 24 Sprachen als unpraktikabel erscheinende Gleichberechtigung aller Sprachen lässt sich zu einem gewissen Grad historisch erklären. Sie kann bis zu den Verhandlungen über die Montanunion zurückverfolgt werden,76 als es im Geltungsbereich der Regelung noch vier Amtssprachen gab (Deutsch, Französisch, Italienisch, Niederländisch). Die Mehrsprachigkeit stellte damals einen Kompromiss zwischen Franzosen dar, die Französisch als verbindliche Sprache durchsetzen wollten, und Deutschen, die das zu verhindern suchten.77 Man konnte dabei als Beleg für die Machbarkeit einer mehrsprachigen Gesetzgebung auf die viersprachige Schweiz verweisen.78 Da beim anschließenden Beitritt neuer Mitglieder das Dogma der Gleichberechtigung aller Sprachen jedoch nie aufgegeben wurde, stellt die anfangs noch praktikable Regelung die Organe der EU mittlerweile vor große Aufgaben. Die wohl letzte große Möglichkeit, vom Dogma der Gleichberechtigung abzugehen, wurde trotz zuvor geäußerter Bedenken in der Literatur79 wohl 2004 verpasst, als die Zahl der Amtssprachen mit dem Beitritt zehn neuer Mitgliedstaaten von zuvor elf auf zwischenzeitlich zwanzig anstieg. Seitdem sind mit dem Beitritt Bulgariens, wurde dies geändert, sodass derzeit die Amts- und Arbeitssprachen mit den Vertragssprachen identisch sind, Hofstötter, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 2015, Art. 55 EUV Rn. 6. 73 F. C. Mayer, Der Staat 2005, 367 (376). 74 F. C. Mayer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 2015, Art. 342 AEUV Rn. 36–38; Yvon, EuR 2003, 681 (683); V. Manz, Sprachenvielfalt und europäische Integration, 2002, S. 134; a.A. Hayder, ZEuS 2011, 343 (347) (beide gleichbedeutend); vgl. auch Phillipson, English-only Europe?, 2003, S. 117 ff. 75 Mit Ausnahme des Europäischen Parlaments, das die Gleichberechtigung weitgehend umsetzt; vgl. im Einzelnen F. C. Mayer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 2015, Art. 342 AEUV Rn. 36–46; ausführlich auch Hayder, ZEuS 2011, 343 (354 ff.). 76 Pfeil, ZfRV 1996, 11 (12 ff.). 77 Pfeil, ZfRV 1996, 11 (12). Zudem unterstützten die Flamen den Vorstoß, da sie das delikate Gleichgewicht in Belgien gefährdet sahen, V. Manz, Sprachenvielfalt und europäische Integration, 2002, S. 131. 78 Pfeil, ZfRV 1996, 11 (12). Zu einer Reihe von mehrsprachigen Rechtsordnungen in der Geschichte vgl. Dölle, RabelsZ 26 (1961), 4 (5 ff.). 79 Berteloot, in: Schulze/Ajani (2003), 357 (369); Luttermann, EuZW 1999, 401 (404); Oppermann, NJW 2001, 2663 (2667); Yvon, EuR 2003, 681 (694) m.w.N. in Fn. 4; dagegen allerdings Phillipson, English-only Europe?, 2003, S. 121 f.
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Einleitung
Rumäniens und Kroatiens deren Nationalsprachen weitere Amtssprachen der EU geworden, und auch das Irische (bereits vorher Vertragssprache) wurde Amtssprache auch für das Sekundärrecht.80 Bei einem solchen Beitritt wird eine Übersetzung (dogmatisch gesehen ein weiteres Original) angefertigt, was angesichts von Umfängen in der Dimension mehrerer hunderttausend Druckseiten 81 einen immensen Aufwand bedeutet. Für einige Sprachfassungen (etwa Maltesisch) hatten sich zu geringe Kapazitäten an Übersetzern bereits abgezeichnet, sodass Übergangsphasen für die Einführung als Amtssprache und solche für die Übersetzung des acquis festgelegt wurden;82 bei anderen Sprachfassungen, etwa der polnischen, wurde die vorgesehene Übersetzungszeit dagegen um fast zwei Jahre überschritten.83 Mit dem Beitritt gelten die weiteren Sprachfassungen gem. Art. 58 der Beitrittsakte zum Beitrittsvertrag Polens und neun weiterer Länder84 ebenfalls verbindlich, sofern die Texte auch tatsächlich im Amtsblatt veröffentlicht wurden. 80 Durch Verordnung (EG) Nr. 920/2005 des Rates vom 13. Juni 2005 zur Änderung der Verordnung Nr. 1 vom 15. April 1958 zur Regelung der Sprachenfrage für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und der Verordnung Nr. 1 des Rates vom 15. April 1958 zur Regelung der Sprachenfrage für die Europäische Atomgemeinschaft sowie zur Einführung befristeter Ausnahmeregelungen zu diesen Verordnungen, ABl. L 156 vom 18.06.2005, S. 3–4; zum sprachpolitischen Hintergrund in Irland vgl. ausführlicher Hayder, ZEuS 2011, 343 (352 f.). 81 So die Schätzung allein für die legislativen Texte des acquis communautaire für die Beitrittskandidaten 2004 bei Berteloot, in: Schulze/Ajani (2003), 357 (369). 82 Dreijährige Übergangsfrist für die Übersetzung und das Verdolmetschen des Maltesischen im laufenden Betrieb bis zum 30.04.2007, eingeführt durch Verordnung (EG) Nr. 930/2004 des Rates vom 1. Mai 2004 über eine befristete Ausnahmeregelung für die Abfassung von Rechtsakten der Organe der Europäischen Union in maltesischer Sprache, ABl. L 169 vom 01.05.2004, S. 1–2, sowie für die Rechtsakte des acquis communautaire, durch Verordnung (EG) Nr. 1738/2006 des Rates vom 23. November 2006 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 930/2004 über eine befristete Ausnahmeregelung für die Abfassung von Rechtsakten der Organe der Europäischen Union in maltesischer Sprache, ABl. L 329 vom 25.11.2006, S. 1–2 verlängert bis zum 31.12.2008; vgl. dazu ausführlicher Hayder, ZEuS 2011, 343 (351 f.). 83 Lasinski-Sulecki/Morawski, CMLR 45 (2008), 705 (707 f.); s. auch dort S. 709 f. sowie Bobek, Cambridge Y.B. Eur. Legal Stud. 9 (2006/2007), 43 (45 f.) zu ähnlichen Problemen in Estland; zu einem aus der Tschechischen Republik stammenden Fall („Skoma Lux“) sogleich. Insofern lässt sich sagen, dass die polnischen Probleme durchaus repräsentativ sind für die Situation in den neuen Mitgliedstaaten. 84 Vertrag zwischen dem Königreich Belgien, dem Königreich Dänemark, der Bundesrepublik Deutschland, der Hellenischen Republik, dem Königreich Spanien, der Französischen Republik, Irland, der Italienischen Republik, dem Großherzogtum Luxemburg, dem Königreich der Niederlande, der Republik Österreich, der Portugiesischen Republik, der Republik Finnland, dem Königreich Schweden, dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland (Mitgliedstaaten Der Europäischen Union) und der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien, der
C. Europäische Mehrsprachigkeit
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In den Fällen verspäteter Übersetzung hat der EuGH gegen eine Geltung „im Hinblick auf einen Mitgliedstaat“ entschieden, wenn die Sprachfassung in dessen Amtssprache nicht veröffentlicht wurde.85 Sind die Sprachfassungen aber einmal veröffentlicht, sind sie auch bei Rechtsakten beachtlich, die bereits vor dem Beitritt verabschiedet wurden.86 Die praktischen Herausforderungen sind damit heute immens. Jedes Organ der EU verfügt über einen eigenen Übersetzerdienst,87 wobei allein der Dienst der Kommission jährlich etwa 2,7 Mio. Textseiten übersetzt.88 Der Sprachendienst war bereits 1998 der weltweit größte; seitdem ist durch die Verdopplung der Amtssprachen (von elf auf derzeit 24) der Arbeitsaufwand sogar noch gestiegen. Zudem stellt die EU eine Terminologie-Datenbank zur Verfügung und bemüht sich um eine Förderung des Fremdsprachenerwerbs.89 Doch nachdem das Recht in Europa längst „vielsprachiger ist als irgendein polyglotter Europäer“,90 stößt auch ein so mächtiger Verwaltungsapparat wie der der EU an seine Grenzen. Die anfängliche Zahl von zwölf möglichen Übersetzungsrichtungen (bei vier Sprachen) ist mittlerweile auf 552 gestiegen,91 die Kosten für die Übersetzerdienste machen bis zu einem Drittel des Verwaltungsaufwands
Slowakischen Republik über den Beitritt der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik zur Europäischen Union, ABl. L 236 vom 23.09.2003, S. 17–930. 85 Lasinski-Sulecki/Morawski, CMLR 45 (2008), 705 (707 f.). Zu den Folgen dieser zu späten Übersetzung vgl. auch EuGH, Rs. C-161/06, Urt. vom 11.12.2007, Slg. I-2007, 10841 („Skoma Lux“), der einen Fall aus der Tschechischen Republik betraf. Der EuGH entschied gegen die Anwendbarkeit von EU-Recht gegenüber Bürgern von Staaten, in deren Amtssprache das Recht noch nicht veröffentlicht war. Auch Estland hatte ähnliche Probleme, vgl. Lasinski-Sulecki/Morawski, CMLR 45 (2008), 705 (709 f.). 86 Zu etwaigen Rückwirkungsfragen vgl. Weber, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/ EG-Vertrag Art. 314 EG Rn. 5. 87 Diese sind dabei durchaus unterschiedlich besetzt. Bei dem Übersetzungsdienst der Kommission überwiegen zumindest unter den deutschen Übersetzern diejenigen ohne fachlichen Hintergrund (da es in Deutschland eine etablierte Übersetzerausbildung gibt), der des EuGH dagegen verlangt ein abgeschlossenes Jurastudium, Hoheisel, in: Schulze/Ajani (2003), 377 (389); Bergmann, in: J. Bergmann, Handlexikon EU, 2015, (Lemma „Dolmetscher- und Übersetzerdienst“, I); Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, § 1 Rn. 25. 88 Stand: 2016, , S. 9, 40, abgerufen am 21.10.2017. 89 Hayder, ZEuS 2011, 343 (378 f.); Phillipson, English-only Europe?, 2003, S. 93 ff. 90 Weir, ZEuP 1995, 368 (368). 91 In der Literatur werden gerne die möglichen Übersetzungsrichtungen zitiert, die mit jeder zusätzlichen Sprache „exponentiell“ stiegen (so etwa Robbers, in: Schulze/Ajani (2003), 419 (420)).
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Einleitung
der Europäischen Union aus,92 etwa ein Viertel der Beschäftigten der EU arbeitet als Übersetzer, Dolmetscher oder ist anderweitig mit Sprachen befasst.93 Gleichwohl kommt es zu Fehlübersetzungen mit teils politischen Folgen,94 zu Unstimmigkeiten bei so zentralen Begriffen wie den Rechtsformen der EU95 oder zur Notwendigkeit einer Reihe von Urteilen europäischer Gerichte, die sich (u.a.) mit der Klärung von Sprachfragen beschäftigen.96 Insgesamt wird die Sprachenregelung häufig als unbefriedigend und illusorisch angesehen, wobei in der Literatur regelmäßig das Bild von „Brüssel als Babylon“ wiederkehrt.97 Dies hat zu etlichen Vorschlägen de lege ferenda angeregt. Ausgehend von der Tendenz der Praxis, zunächst in einige wenige Sprachen (namentlich Englisch und Französisch, teilweise auch Deutsch) und erst von diesen aus in die übrigen Sprachen zu übersetzen (sog. Relaisübersetzungen98), wurde etwa vorgeschlagen, dieser Praxis durch die Anerkennung dieser Sprachen als „Referenzsprachen“ auch im Gesetz Rechnung zu tragen.99 Andere Vorschläge sehen eine Reduktion auf eine, zwei, drei oder fünf Amtssprachen vor,100 wobei als
92 Von einem Drittel sprechen noch (mit Zahlen wohl von 1998) Martiny, ZEuP 1998, 227 (237); Berteloot, in: Schulze/Ajani (2003), 357 (367); Robbers, in: Schulze/Ajani (2003), 419 (420). 93 F. C. Mayer, Der Staat 2005, 367 (383). 94 Wimmers, Unschärfen im Recht, 2013, S. 91 mit Beispielen. 95 Frenz, Handbuch Europarecht Bd. 5, 2010, Rn. 1206 f. zu „Entscheidungen“ und „Beschlüssen“ nach dem Vertrag von Lissabon. 96 Vgl. die Auflistung bei Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, 2004, S. 172; vertiefend Braselmann, EuR 1992, 55. 97 So bereits früh der ehemalige Leiter des Sprachendienstes des Auswärtigen Amtes (und Übersetzer von Konrad Adenauer) Kusterer, Europa-Archiv 1980, 693 (698); Cloots, CMLR 51 (2014), 623 (623); in der Diktion ähnlich, aber versöhnlicher Martiny, ZEuP 1998, 227 (227): „Babylon in Brüssel?“; ebenso wohl Koch, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2009, 51 (51): „Babylonische Sprachverhältnisse in Europa?“; kritisch („waste“, „illusion“) auch Moréteau, in: Schulze/Ajani (2003), 405 (414 f.); skeptisch („erst die Spitze des Eisbergs“) auch Bobek, Cambridge Y.B. Eur. Legal Stud. 9 (2006/2007), 43 (79) (betitelt: „The Binding Force of Babel“); dies erwägend (wegen der negativen Konnotationen aber ablehnend) Phillipson, English-only Europe?, 2003, S. 3. 98 Zu dieser Praxis F. C. Mayer, Der Staat 2005, 367 (384); Reichelt, in: Sprache und Recht, 1 (7); Wimmers, Unschärfen im Recht, 2013, S. 88 f.; Phillipson, English-only Europe?, 2003, S. 120 f. 99 Luttermann/Luttermann, JZ 2004, 1002 (1003 ff.). 100 Eine Übersicht jew. m.w.N. bei Reichelt, in: Sprache und Recht, 1 (8); Wimmers, Unschärfen im Recht, 2013, S. 77; Argumente in beide Richtungen auch bei Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 355 ff.
C. Europäische Mehrsprachigkeit
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Kriterien die Zahl der Sprecher als Mutter- oder als Fremdsprache und die Einteilung nach Sprachfamilien 101 genannt werden; um den Vorteil der Muttersprachler zu egalisieren, wird auch vorgeschlagen, dass sich niemand seiner Muttersprache bedienen dürfen solle.102 Neue Anstöße hat die Diskussion auch durch den absehbaren Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU erhalten,103 auch wenn hier derzeit die weitere Entwicklung noch nicht absehbar erscheint.104 Jedoch ist mit den bisher angesprochenen Problemen und Lösungsansätzen die eigentliche Problematik bei Rechtstexten noch gar nicht erfasst. Da ein Übersetzer von Rechtstexten eigentlich ein „von innen nach außen gekehrter Komparatist“105 zu sein hat (zu der Problematik des Übersetzens von Rechtstexten ausführlicher unten 1 Kap., A V, S. 36 ff.), müsste ein perfekter EUGesetzgeber auch über Kenntnisse aller Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten verfügen, um in Abgrenzung von diesen ein konsistentes, sprachlich überzeugendes europäisches Rechtssystem setzen zu können. Der Text müsste dann in allen Sprachen gleichzeitig formuliert und ausgehandelt werden. Eine Koredaktion in mehreren Sprachen, wie sie etwa in der Schweiz, auch auf Kantonsebene, oder in Kanada gängige Praxis ist,106 ist jedoch bei 24 Sprachen unmöglich.107 De facto wird der Text in einer oder auch zwei Sprachen (meist Englisch und/oder Französisch) entworfen, dann übersetzt, von Rechts- und Sprachsachverständigen kontrolliert und (allenfalls) in
101 Luttermann/Luttermann, JZ 2004, 1002 (1009); ähnlich bereits Burr/Gallas, in: Müller/Burr (2004), 195 (241 f.). 102 S. z.B. F. C. Mayer, Der Staat 2005, 367 (379); ablehnend bereits Kusterer, EuropaArchiv 1980, 693 (695). Zu Vorschlägen, die Terminologien auf Latein, Esperanto oder Englisch zu vereinheitlichen, s. unten 1. Kap., B I 1 c, S. 45 ff.). 103 Vgl. etwa die Rede des Kommissionspräsidenten Juncker im Rahmen der „State-ofthe-Union“-Konferenz am 05.05.2016 in Florenz, die er bewusst auf Französisch und nicht (mehr) auf Englisch abhielt mit Verweis u.a. auf den schwindenden Einfluss des Englischen innerhalb Europas; siehe zur Diskussion, ob das Englische nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs überhaupt noch Amtssprache der EU sein werde, einerseits und andererseits, jeweils abgerufen am 21.10.2017. 104 Vgl. zum Umgang mit dem zum Zeitpunkt dieser Arbeit noch nicht sicher absehbaren „Brexit“ noch ausführlicher unten 1. Kap., C III 3 b, S. 72 f. 105 de Groot, in: de Groot/Schulze (1999), 11 (11); ähnlich Sandrini, in: Sandrini (1999), 9 (11); Wimmers, Unschärfen im Recht, 2013, S. 85 m.w.N. 106 Schweizer, in: Hilpold/Steinmair/Perathoner (2011), 13 (25); zum Kanton Bern Caussignac, in: Müller/Burr (2004), 157; mit Nachweisen für Kanada in Fn. 10 Burr/Gallas, in: Müller/Burr (2004), 195 (198 f.). 107 So schon für zehn Sprachen Wimmers, Unschärfen im Recht, 2013, S. 84.
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Einleitung
einer abschließenden Redaktionssitzung im Plenum diskutiert. 108 Obgleich spätere Berichtigungen im Amtsblatt veröffentlicht werden können, werden diese für rein stilistische Schwächen nicht vorgenommen, sondern erfolgen nur bei sachlichen Fehlern.109 Dabei können bereits Unsauberkeiten in der Terminologie insbesondere die systematische Auslegung deutlich erschweren. 110 Aber auch wenn die Rechtstexte de facto als Übersetzungen einer einzelnen Originalsprachfassung oder von mehreren wenigen entstehen, kann der Rechtsanwender daraus keine Schlüsse ziehen. Ihm wird nicht einmal mitgeteilt, welches die originalen Sprachfassungen waren; rechtlich gibt es keine Übersetzungen, sondern alle Sprachfassungen sind als Originale anzusehen.111 Per definitionem ist davon auszugehen, dass allen Sprachfassungen eine einheitliche Bedeutung zukommt.112 Weicht der Wortlaut auch nur einer einzelnen Sprachfassung ab, kann nicht einer Sprachfassung (etwa der der Arbeitssprache113) der Vorrang gegeben werden, sondern es muss ein Sprachvergleich aller Amtssprachen vorgenommen werden.114 Sprachdivergenzen sind dann mit Hilfe der anderen Auslegungsmethoden zu beheben.115 Diese Sprachenregelung ist bereits dann problematisch, wenn Übersetzungsfehler nicht einfach als solche berücksichtigt werden können; polemisch ließe sich hier von „Denkverboten“ sprechen. In diesem Fall überdecken jedoch sprachliche Unterschiede eine grundsätzlich gegebene Einigung in der Sache. Ungleich gefährlicher ist es dagegen, wenn inhaltliche Divergenzen sprachlich verdeckt werden, sodass man sich nur scheinbar versteht116 (in der Sprache der Zivilrechtsdogmatik: Gefährlicher als der offene Dissens ist der 108 Burr/Gallas, in: Müller/Burr (2004), 195 (197–199); Hoheisel, in: Schulze/Ajani (2003), 377 (378); Schweizer, in: Hilpold/Steinmair/Perathoner (2011), 13 (25); Kjær, in: Sandrini (1999), 63 (66 f.). 109 Hoheisel, in: Schulze/Ajani (2003), 377 (386); allgemein zum Verfahren Armbrüster, EuZW 1990, 246 (246). 110 S. dazu unten 1. Kap., B II und C IV, S. 53 f. und S. 56 f., und 5. Kap., B, S. 361 ff. 111 Europäische Kommission (Hrsg.), Pariente, Geschichte des Übersetzungsdienstes der Europäischen Kommission, 2010, S. 55. 112 Kjær, in: Sandrini (1999), 63 (67). 113 In diesem Sinn aber (zumindest aus Gründen der Praktikabilität) Müller-Gugenberger, in: Müller-Gugenberger/Schotthöfer, Die EWIV in Europa, 1995, „Europäisches Recht“ Rn. 171; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 (530); allgemein für mehrsprachige Gesetzes- und Vertragstexte einen Rückgriff auf den „Urtext“ befürwortet Dölle, RabelsZ 26 (1961), 4 (38 f.), dort allerdings bereits S. 29 f. zur politischen Brisanz eines solchen Vorgehens: eine solche Auslegung wird abgelehnt, wenn die Mehrsprachigkeit Ausdruck politischer Gleichberechtigung ist. 114 EuGH, Rs. 19/67, Urt. vom 05.12.1967, Slg. 1967, 462, Leitsatz 1. 115 EuGH, Rs. 30/77, Urt. vom 27.10.1977, Slg. 1977, 1999, Rz. 13/14; EuGH, Rs. 09/79, Urt. vom 12.07.1979, Slg. 1979, 2717, Rz. 6 ff.; EuGH, Rs. 152/01, Urt. vom 20.11. 2003, Slg. I-2003, 13833, Rz. 33. 116 Zur Gefährlichkeit dieser Fallgruppe („weitaus bedrohlicher […] als offenkundige Sprachenunterschiede“) auch F. C. Mayer, Der Staat 2005, 367 (387).
D. Sprachliche Problematik der SE
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versteckte). Da viele (nationale) Gerichte nur die Sprachfassung ihrer Amtssprache heranziehen, ist dabei zu befürchten, dass viele Auslegungsprobleme wegen des scheinbar klaren Wortlauts gar nicht erst zu Tage treten.117 Hier liegen die eigentlichen Probleme der Mehrsprachigkeit.
D. Sprachlich komplexes Problem bei der SE D. Sprachliche Problematik der SE
Als Teil des mehrsprachigen Europas ist auch die SE von dessen Problemen betroffen. Zunächst gilt dies für die Verbindlichkeit der SE-VO in verschiedenen Sprachen: Zwar hatten die Mitgliedstaaten der EG 2001 (bei Inkrafttreten der SE-VO) zusammengenommen nur elf Amtssprachen.118 Doch gilt die SEVO auch im EWR,119 womit dessen Amtssprachen die Zahl um weitere zwei erhöhen (Norwegisch und Isländisch; für Liechtenstein war angesichts der existierenden deutschen Sprachfassung kein Bedarf für eine weitere). Zudem sind die Sprachfassungen der neuen Mitgliedstaaten seit 2004 ebenfalls verbindlich, sobald diese im Amtsblatt veröffentlicht wurden. 120 Damit gilt die SE-VO in 26 Sprachfassungen verbindlich. Manche Fragen stellen sich bei der SE deswegen besonders deutlich, weil die in dieser Form organisierten Aktiengesellschaften typischerweise mitgliedstaats- und damit häufig auch sprachübergreifend aufgestellt sind.121 So hatten
117
Anweiler, Auslegungsmethoden des EuGH, 1997, S. 147; Lächler, Konzernrecht der SE, 2007, S. 72; eine ausführliche Untersuchung nimmt Derlén, Multilingual Interpretation of European Union Law, 2009, vor, der zum Ergebnis kommt, die nationalen Gerichte zeigten eine gewisse Zurückhaltung, was sich daran zeige, dass in den meisten Fällen für eine Beachtung mehrerer Sprachfassungen Zweifel bereits an der eigenen Sprachfassung oder ein Tätigwerden der Parteien nötig seien (vgl. S. 341 ff., z.B. S. 344). 118 Die ursprünglichen Originalsprachen der SE-VO waren Spanisch, Dänisch, Deutsch, Griechisch, Englisch, Französisch, Italienisch, Niederländisch, Portugiesisch, Finnisch, Schwedisch. 119 Mit Beschluss des Gemeinsamen EWR-Ausschusses Nr. 93/2002 vom 25. Juni 2002 zur Änderung des Anhangs XXII (Gesellschaftsrecht) des EWR-Abkommens, ABl. Nr. L 266 vom 03.10.2002, S. 69–70, wurde die SE-VO unter Nr. 10a in Anhang XXII des EWRAbkommens (Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum, ABl. L 1 vom 03.01.1994, S. 3–522) aufgenommen, und in die Anhänge zur SE-VO wurden entsprechende Regelungen über norwegische, liechtensteinische und isländische Gesellschaften eingefügt. Die SE-VO gilt laut Art. 2 des Beschlusses auch in isländischer und norwegischer Sprache verbindlich. 120 Z.B. für die polnische Sprachfassung ABl., Sonderausgabe in polnischer Sprache (2004), Kapitel 6, Band 4 S. 251–271. Zur Geltung auch für veröffentlichte Rechtsakte und den Folgen verspäteter Veröffentlichung s. oben Einl. C, S. 15 (Fn. 85). 121 Zum Mehrstaatlichkeitserfordernis s. bereits oben Einl. B, S. 11 (mit Fn. 65).
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Einleitung
knapp 10 % der SE von der Möglichkeit der bilingualen Satzung Gebrauch gemacht, 122 Fragen einer Hauptversammlung in anderen Sprachen als Deutsch stellen sich bei der SE wegen ihrer typischerweise internationalen Ausrichtung besonders dringlich.123 Doch in diesen Fällen ist das sprachliche Problem offenkundig. Die gefährlicheren Probleme liegen jedoch tiefer. Denn gerade dort, wo sich zwei Rechtsordnungen und damit auch zwei Sprachregime berühren,124 besteht die Gefahr von tatsächlichen Missverständnissen, die durch Sprache verdeckt werden. Bei der SE, die – wie gesehen – nicht nur die Grenze zwischen mitgliedstaatlichem und europäischem Recht überspannt, sondern darüber hinaus mit der Verweisungsstruktur eine komplexe Rechtslage schafft, erscheint besonders anfällig für solche Probleme. Die sich hieraus ergebenden Probleme bedürfen der Aufarbeitung. Um die bis hierher allenfalls angedeuteten Probleme und Fragestellungen präzise formulieren zu können, soll im Folgenden zunächst der Sprachgebrauch geklärt werden.
122
W. Bayer/Schmidt, AG-Report 2008, R127 (R127). Mohamed, NZG 2015, 1263 (1265) mit Verweis auf die SE, wo die Sprachregelungen zumindest vom Schrifttum teils weniger streng gezogen werden als bei der AG. 124 F. C. Mayer, Der Staat 2005, 367 (373) spricht von „Interface“-Situationen. 123
Kapitel 1
Methodik In diesem Kapitel sollen zunächst die Begrifflichkeiten geklärt werden (A), dann kann die Problemstellung formuliert und erläutert werden (B). Schließlich wird dargelegt, mit welchen Methoden die Fragestellungen, auf die im Fazit (unten 5. Kapitel) zurückzukommen sein wird, beantwortet werden sollen (C, D).
A. Definitionen und Fragestellung A. Definitionen und Fragestellung
Zunächst sollen einige Fachausdrücke geklärt bzw. es soll deren Verwendung im Folgenden erläutert werden. Danach lässt sich die Fragestellung präziser fassen. Bei der Darstellung waren Vorgriffe und Wiederholungen nicht zu vermeiden, da die verwendeten Definitionen gegenseitig aufeinander aufbauen und ein in sich geschlossenes kompliziertes System bilden. Das dargestellte System ist dabei nicht grundsätzlich neu, sondern bildet über weite Strecken sogar die gängige Auffassung im Schrifttum ab, das sich mit Sprache und Recht beschäftigt, auch wenn eine explizite Darlegung oft fehlt. Dennoch ist eine Klärung der Terminologie angebracht, da in der Literatur viele Termini unterschiedlich oder zumindest ohne explizite Definition verwendet werden. I. Begriff, Terminus und Konzept Da es in dieser Untersuchung um Sprache geht, ist eine auch terminologische Erfassung des Phänomens Sprache, nämlich dass – vereinfacht gesprochen – ein Wort einen Gedanken bezeichnet, nötig. Im Folgenden wird hier von einem „Terminus“ (als dem Wort) gesprochen, der ein „Konzept“ (einen Gedanken) bezeichnet. „Terminus“ wäre also beispielsweise das Wort „Eigentum“; „Konzept“ wäre das, was darunter verstanden werden kann, so zum Beispiel das Verständnis von Eigentum, wie es in §§ 903 ff. BGB, Art. 14 GG, weiteren
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1. Kapitel: Methodik
Normen der deutschen Rechtsordnung und der Rechtsprechung verankert ist.1 „Konzept“ wird damit verstanden als die Bedeutung eines „Terminus“.2 Diese zunächst etwas sperrig klingende Terminologie könnte die Frage hervorrufen, warum der im juristischen Sprachgebrauch übliche Terminus „Begriff“, der aus Wendungen wie „unbestimmter Rechtsbegriff“3 oder „Begriffsjurisprudenz“ geläufig ist, nicht gewählt wird. Aufgabe der Festlegung von Termini ist es jedoch, Missverständnissen möglichst vorzubeugen. „Begriff“ ist aber mehrdeutig.4 Das Wort „Begriff“ hat dabei bereits im alltäglichen Sprachgebrauch verschiedene Bedeutungen. In Wendungen wie „eine Mathematikaufgabe begreifen“ oder „schwer von Begriff“ geht es um das Verständnis von etwas, also um eine abstrakte Idee. Bei Verwendungen wie „Kampfbegriff“ oder „Begrifflichkeit“ geht es um einen Ausdruck, um Wörter. Auch „Fachbegriff“ wird gleichbedeutend mit „Fachausdruck“ gebraucht. Weitere Wendungen wie „sich einen Begriff von etwas machen“ oder „Begriffsbildung“5 sind eher auf der Mitte zwischen beiden Extremen angesiedelt und weisen darauf hin, dass beide Bedeutungen des Wortes ineinandergreifen und möglicherweise so etwas wie ein Kontinuum existiert: Wer sich von einer Sache, die er nicht kennt, einen neuen Begriff macht, versucht, auch durch diesen die Welt zu begreifen, sie mit Hilfe von Begriffen (im Sinn von Termini) zu ordnen, sie handhabbar und verständlich, eben „begreifbar“ zu machen. Ähnlich schwer zu greifen ist die Verwendung in der juristischen Literatur, wo sich dieses Kontinuum fortsetzt. Teilweise wird, vor allem in der älteren juristischen Literatur, das Wort „Begriff“ verstanden, wie es in der Philosophie zumindest seit dem deutschen Idealismus überwiegend der Fall ist, nämlich als
1
In diesem Sinn auch Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 57: Das Konzept des Eigentums bildet „die Zusammenfassung aller Normen, die das Recht zur Beherrschung einer Sache ausgestalten“. 2 Bedenken eher philosophischer Art gegen diese Umschreibung des Zusammenhangs sollen hier beiseite gelassen werden, werden aber unten im 1. Kap., A IV, S. 32 f., aufgenommen und vertieft. 3 Zu diesem Terminus ausführlicher unten 1. Kap., A I, S. 23 f. (dort Fn. 18 f.). 4 Vgl. Duden, Universalwörterbuch, 2015, S. 273: „1. Gesamtheit wesentlicher Merkmale in einer gedanklichen Einheit; geistiger, abstrakter Gehalt von etwas […] 2. (umgangssprachlich) Ausdruck, Wort […]“. Dies soll freilich – im Sinn der unten, 1. Kap., B III, S. 54 f., vorgebrachten Kritik an Wörterbüchern im Allgemeinen – nicht als ausschlaggebend zitiert werden, sondern lediglich als unterstützender Beleg für die folgende Argumentation und die folgenden Belege. 5 Vgl. zu diesem Ausdruck und seinen Bedeutungen Siegwart, in: Sandkühler, Enzyklopädie Philosophie, 2010, S. 233 (Lemma „Begriff“).
A. Definitionen und Fragestellung
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eine abstrakte Vorstellung.6 Repräsentativ auch für die weitere Verwendung ist insbesondere das Verständnis von Kant: „Die Anschauung ist eine einzelne Vorstellung (repraesentatio singularis), der Begriff eine allgemeine (repraesentatio per notas communes) oder reflectirte Vorstellung (repraesentatio discursiva).“7
Entsprechend wird „Begriff“ auch etwa bei Schopenhauer verwendet. 8 Ein ähnliches Verständnis findet sich in juristischen Schriften des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, wie in denen von von Savigny, 9 Eltzbacher, 10 Stammler, 11 Somló12 und Müller-Erzbach,13 die sich teilweise ausdrücklich auf Kant berufen.14 Entsprechend lautet auch die deutsche Übersetzung von H. L. A. Harts „The Concept of Law“, was „Konzept“ im hier verstandenen Sinn meint („Der Begriff des Rechts“).15 Im moderneren Schrifttum wird „Begriff“ dagegen oft im Sinn von „Terminus“ verstanden,16 auch und gerade in der Literatur, die sich mit „Recht und Sprache“ befasst.17 Daneben bleiben jedoch Wendungen wie „unbestimmter Rechtsbegriff“ bestehen, die z.B. im Verwaltungsrecht 6 R. Haller, in: Ritter, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 1: A – C, 1971, Spalte 780–785 (Lemma „Begriff“, I.). Gleichzeitig sind aber andere Auffassungen von „Begriff“ auch in der Philosophie verbreitet, darunter die als „‚Redeteil‘, ‚Wort‘, ‚Ausdruck‘“, Siegwart, in: Sandkühler, Enzyklopädie Philosophie, 2010, S. 232 (Lemma „Begriff“). 7 Kant, Akademie-Textausgabe, Werke Bd. IX, 1923, Logik, I, Erster Abschnitt, § 1, S. 91. 8 Spierling, Kleines Schopenhauer-Lexikon, 2010, S. 19 f. („Anschauung und Begriff“), S. 27 („Begriff“). 9 von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Band II, 1840, S. 235 ff. („Juristische Personen. Begriff.“). 10 Eltzbacher, Über Rechtsbegriffe, 1900, S. 6 ff. 11 Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 1928, S. 240 ff. 12 Vgl. Somló, Juristische Grundlehre, Nachdruck der 2. Aufl. Leipzig 1927 (1973), S. 27. 13 Müller-Erzbach, Relativität der Begriffe, 1913. 14 So Eltzbacher, Über Rechtsbegriffe, 1900, S. 6 ff.; vgl. auch Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 1928, S. 53 ff. („Kritik des Rechtsbegriffs“); sowie die Kant-Zitate, die den Werken von Somló und Eltzbacher vorangestellt sind. 15 Hart, Der Begriff des Rechts (Originaltitel: The Concept of Law), Übers. Baeyer, 2011. 16 Grundmann, in: Grundmann/Micklitz/Renner, Privatrechtstheorie, 2015, S. 42 („das Konzept (und der Begriff) des ‚Vorverständnisses‘“); Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2015, Rn. 176, 179; so auch explizit definiert bei I. Scholz, Das Problem der autonomen Auslegung des EuGVÜ, 1998, S. 155; ähnlich Nehne, Europäisches IPR, 2012, S. 13. 17 Linke, RIW 1977, 43 (43); Armbrüster, EuZW 1990, 246 (246) („Begriff“ vs. „Begriffsinhalt“); Ajani, in: Schulze/Ajani (2003), 349 (353) (deutsche Zusammenfassung des englischen Textes); Hoheisel, in: Schulze/Ajani (2003), 377 (378); F. C. Mayer, Der Staat 2005, 367 (387 („Begriffe und Konzepte“)); Berteloot, in: Reichelt (2006), 27 (34 f.) (unter der Überschrift „Das Vokabular des Gerichtshofs“); explizit anders („Begriff“ vs. „Benennung“) dagegen z.B. Sandrini, Terminologiearbeit im Recht, 1996, S. 24 ff., 123 ff.; Sandrini, in: Sandrini (1999), 9 (30 (u.a.)); ebenso Kjær, in: Sandrini (1999), 63 (70); Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1997, S. 384 ff. („Begriffe“ und „Namen“).
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1. Kapitel: Methodik
Verwendung finden18 und „Konzept“ meinen: „Unbestimmt“ kann nur eine Bedeutung (das Konzept) sein, nicht das Wort (der Terminus).19 Das eigentliche Problem dabei ist, dass es kein fest eingebürgertes Terminuspaar gibt, auf das die juristische Literatur zurückgreifen könnte. Auch an den Stellen, an denen ausdrücklich klargestellt wird, dass „Begriff“ in der einen oder anderen Weise verstanden werden soll, fehlt es an einem konsequent verwendeten Gegen-Terminus, sodass auf Umschreibungen, wechselnde Termini oder Worthäufungen zurückgegriffen wird.20 So findet sich in einer Vielzahl von Werken eine wechselnde Verwendung des Wortes „Begriff“, das mal für „Terminus“, mal für „Konzept“ steht.21 Teilweise wird ein solch wechselnder Gebrauch auch akzeptiert und offen eingestanden.22 Dies würde jedenfalls im Rahmen dieser Untersuchung zu unnötiger Verwirrung führen. Im Folgenden wird der Ausdruck „Begriff“ daher möglichst vermieden; sofern er in Zusammenstellungen wie „Oberbegriff“ oder „Sammelbegriff“ gebraucht wird, ist die Bedeutung „Kon-
18
Vgl. nur (stets kritisch bezüglich der Terminologie, jedoch wegen des Wortteils „unbestimmt“) Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2010, § 11 Rn. 23 ff. (kritisch Rn. 24); Schoch, Jura 2004, 612 (613); zur Verwendung auch im Arbeitsrecht Riechert/Stomps, RdA 2012, 81 (81, dort Fn. 2). 19 Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 34: „Mehrdeutigkeit ist eine Eigenschaft von Wörtern […] Vagheit dagegen ist eine Eigenschaft von Begriffen“ („Begriff“ wird verwendet wie hier „Konzept“). 20 Engisch, in: Ferid (1958), 59 (65) („Wir bemerken dazu nur, daß das Wort als ‚Name‘ oder ‚Zeichen‘ dient, wodurch man auf den Begriff hinweist.“, weiter unten: „Vokabel“); Müller-Erzbach, Relativität der Begriffe, 1913, S. 9: „Ausdruck“, S. 13: „Wort“. 21 Engisch, in: Ferid (1958), 59 (63), der von „universalen Rechtsbegriffen“ spricht und damit „Rechtskonzepte“ meint. S. 64 dann m.E. im Sinn von „Terminus“: der „eher wirtschaftliche[…] Begriff: ‚Austausch von Ware und Geld‘“. Die „Relativität der Rechtsbegriffe“ bezieht er z.B. auf S. 67 auf Konzepte (indem er das romanistische Eigentumsverständnis mit dem deutschrechtlichen vergleicht), auf S. 68 auf Termini im hier verstandenen Sinn (dort weist er auf Mehrdeutigkeiten und schwankende Terminologie z.B. innerhalb eines Gesetzes hin; ggf. geschieht diese Verwendung von „Begriff“, weil hier andere Autoren zitiert und paraphrasiert werden, vgl. auch S. 68: „Diese Mehrdeutigkeit der Rechtsbegriffe ist es, an die man heute wohl in erster Linie denkt, wenn von ‚Relativität‘ die Rede ist.“); I. Scholz, Das Problem der autonomen Auslegung des EuGVÜ, 1998 (vgl. S. 158 mit Fn. 12: Übernahme der Definition von „Begriff“ von Gottlob Frege; S. 159 dann wieder im Sinne der Definition von S. 155); mit Problembewusstsein W. F. Bayer, RabelsZ 20 (1955), 603 (626) („Rechtsbegriffe oder – besser gesagt – Worte“), im Folgenden „Begriff“ meist für „Konzept“ verwendend. 22 Explizit Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 33: „Für Sprachwissenschaftler ist ‚Begriff‘ nicht der […] Terminus selbst, sondern dasjenige, was das Wort unabhängig von seiner Lautgestalt zu verstehen gibt, eben seine Bedeutung. […] Der ‚Begriff‘ bleibt derselbe, ganz gleich, ob ich von Dreieck oder von triangle rede. […] Es ist jedoch weitgehend üblich, auch für […] Terminus ‚Begriff‘ zu sagen, und so geschieht es auch hier, wenn keine Verwechslung zu befürchten ist“; ähnlich S. 69: „Normen setzen sich aus Prädikatoren oder, wie Juristen sagen, aus Begriffen zusammen“.
A. Definitionen und Fragestellung
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zept“ gemeint. Sofern Literatur rezipiert wird, die den Ausdruck „Begriff“ verwendet, wird in wörtliche Zitaten etc. deren Wortwahl übernommen, ohne gesondert darauf hinzuweisen. Alternativen zu „Terminus“ und „Konzept“ boten sich nicht an. Der Ausdruck „Konzept“ wird seltener als der Ausdruck „Begriff“ gebraucht, dafür aber stets mit der gleichen Bedeutung. 23 Das Gleiche gilt für „Terminus“. 24 Statt „Terminus“ Ausdrücke wie „Wort“ oder „Vokabel“ zu gebrauchen, träfe das Gemeinte nur unvollständig. Gleichbedeutend wird hier noch „Ausdruck“ gebraucht, was jedoch in manchen Zusammensetzungen sperrig klingt (z.B. in „Rechtsausdrücken“). Statt „Konzept“ ließe sich in manchen Fällen, insbesondere bei der Ausgestaltung komplexerer sozialer Tatsachen wie der Ehe oder dem Eigentum, auch „Rechtsinstitut“25 verwenden, in anderen Zusammenhängen klänge es zu hochtrabend. „Terminus“ (oder auch „Ausdruck“) ist dabei nicht exakt deckungsgleich mit „Wort“. Ein Terminus kann aus einem Wort, aber auch aus mehreren Wörtern bestehen. Es wird etwa im Folgenden als gleich angesehen, ob von „Schadensersatz“ oder „Ersatz des Schadens“ die Rede sein sollte. Unter „Termini“ werden im Folgenden nur Rechtstermini verstanden, also solche, die in Normen vorkommen26 oder die zumindest für die Auslegung von Termini verwendet werden – namentlich Kriterien, die die Literatur für die Auslegung von im Gesetz vorkommenden Termini vorschlägt, z.B. der nicht im Gesetz enthaltene „tatsächliche Verwaltungssitz“, den die Sitztheorie in Deutschland im internationalen Gesellschaftsrecht verwendet. 27 Man kann auch einzelnen – scheinbar harmlosen – Füllwörtern aus Rechtsnormen Rechtsterminuscharakter zuerkennen,28 jedoch beschränkt sich diese Arbeit auf die Termini, „deren rechtlicher Gehalt offen zutage liegt“.29 Rechtstermini ist zu eigen, dass sie in der Regel als feststehende Referenzpunkte anerkannt werden und dass ihre Bedeutungen (die mit ihnen verbundenen Konzepte) zwar umstritten sein mögen, aber zumindest theoretisch fest mit ihnen verbunden sind. Nicht mehr unter Rechtstermini im eben umschriebenen engeren Sinn würden dagegen die Termini fallen, die Juristen nutzen, um juristische Vorgänge zu 23 So z.B. bei Grundmann, in: Grundmann/Micklitz/Renner, Privatrechtstheorie, 2015, S. 42 („das Konzept (und der Begriff) des ‚Vorverständnisses‘“). 24 Z.B. Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 33. 25 In diesem Sinne Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2015, Rn. 62. 26 So schon Engisch, in: Ferid (1958), 59 (59): „Wohl aber können wir sagen – und damit gewinnen wir einen ersten verläßlichen Anhaltspunkt –, daß jeder Begriff, der in einem gültigen Rechtssatz verwendet wird, ohne weiteres ‚Rechtsbegriff‘ heißen darf.“ 27 Engisch, in: Ferid (1958), 59 (62) („‚Realakt‘, ‚Voraussetzung‘, ‚Geschäftsgrundlage‘“). 28 So überzeugend Engisch, in: Ferid (1958), 59 (59) am Beispiel von Wörtern wie „wird“, „oder“, „wer“. 29 Engisch, in: Ferid (1958), 59 (59) (auch in der Sache zustimmend).
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1. Kapitel: Methodik
umschreiben. Diese lassen sich als „rechtswissenschaftliche Grundbegriffe“ kennzeichnen.30 Termini wie „Auslegung“ oder „Anknüpfungsgegenstand“ mögen Referenzpunkte bei der täglichen Arbeit von Juristen sein und in ihrer Bedeutung mehr oder minder feststehen.31 Gleichwohl finden sie nicht in Gesetzen Verwendung. Im Folgenden werden sie nicht als „Rechtstermini“ verstanden. Dagegen ist etwa „Eigentum“ auch ein Rechtsterminus, da er u.a. in § 903 BGB Verwendung findet. Eine dritte Kategorie neben „Terminus“ und „Konzept“ (etwa „Sachverhalte“) ist für diese Arbeit entbehrlich, da sie sich nicht mit der Subsumtion konkreter Beispielsfälle befassen wird.32 II. Rechtssprache „Rechtssprache“ ist die Summe aller Rechtstermini im eben erläuterten Sinn.33 Demgegenüber umfasst „Sprache“ auch nicht-juristische Termini: Unter „Sprache“ wird die alltägliche Umgangs- und Verkehrssprache, unter Einschluss sämtlicher Fachsprachen, auch der juristischen (der „Rechtssprache“), verstanden. „Rechtssprache“ ist damit eine Teilmenge von „Sprache“. Zur Klarstellung sei wiederholt, dass „Rechtssprache“ (und auch „Sprache“) nicht 30
Engisch, in: Ferid (1958), 59 (64); Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 1928, S. 240; Somló, Juristische Grundlehre, Nachdruck der 2. Aufl. Leipzig 1927 (1973), S. 8; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 57 („Rechtsformbegriffe“). 31 Vgl. dazu Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 1928, S. 240: er hält diese Begriffe sogar für a priori in ihrer Bedeutung feststehend; dagegen Somló, Juristische Grundlehre, Nachdruck der 2. Aufl. Leipzig 1927 (1973), S. 47 („nicht Reinheit von jeder Erfahrung, sondern bloß von jedem Rechtsinhalt“). Interessant ist in diesem Zusammenhang die Abgrenzung von Nehne, Europäisches IPR, 2012, S. 13. Er nennt diese Begriffe, die zur Beschreibung juristischer Vorgänge verwendet werden, „Methoden- und Systembegriffe“ und versucht, für einen allgemeinen Teil des europäischen IPR dafür (lateinische) Begriffe und (autonome) Konzepte zu entwickeln. Bei einer „Rechts“vergleichung zwischen verschiedenen europäischen Rechtswissenschaften kommt er zum Ergebnis, dass insofern tatsächlich kaum relevante Unterschiede bestehen (vgl. S. 19–21). 32 Vgl. zum sog. „semiotischen Dreieck“ Ogden/Richards, The meaning of meaning, 1969; „On a new list of categories“, Peirce, Collected papers of Charles Sanders Peirce; Volume I: Principles of Philosophy, 1965, Paragraph 1.545 ff. (S. 287 ff.); Gessmann (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, 2009, S. 660; zur Anwendung im juristischen Bereich Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2015, Rn. 155b. 33 Ähnlich Schmidt-König, Die Problematik der Übersetzung juristischer Terminologie, 2005, S. 4. Die Frage, ob die Rechtswissenschaft „nach sprachwissenschaftlichen Maßstäben“ über eine „Terminologie“ oder „Fachsprache“ verfügt (verneinend Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 42; bejahend Schmidt-König, Die Problematik der Übersetzung juristischer Terminologie, 2005, S. 9 ff.), kann hier unbeantwortet bleiben. Mit der Abgrenzung sollen – für die Zwecke dieser Untersuchung ausreichend – lediglich die Unterschiede zwischen „juristischem Gebrauch“ und Alltagsgebrauch eines Terminus angesprochen werden.
A. Definitionen und Fragestellung
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Konzepte, sondern nur Termini umfassen. Die mit der Rechtssprache bezeichneten Konzepte bilden einen Teil einer Rechtsordnung (dazu gleich). „Die Rechtssprache“ als solche gibt es dabei nicht (allenfalls im Sinne dessen, was man auf Englisch mit „legalese“ bezeichnet; in etwa: Rechtsjargon); „die eine Rechtssprache“ kann es so wenig geben wie „die eine Rechtsordnung“, denn eine Rechtssprache ist untrennbar verbunden mit einer Rechtsordnung, deren sprachlicher Ausdruck sie ist. III. Rechtsordnung Unter „Rechtsordnung“ wird dabei ein in sich geschlossenes, also widerspruchsfreies Gefüge von Normen verstanden, das durch Gerichte interpretiert wird und das den Anspruch hat, alle rechtlich relevanten Beziehungen innerhalb eines staatlichen Gebildes zu regeln. Rechtssprache und Rechtsordnung sind dabei stets aufeinander bezogen. Die eine ist nicht ohne die andere denkbar. Eine Rechtssprache, deren Termini in keiner Norm einer Rechtsordnung Verwendung finden, bliebe bloß theoretisch. Eine Rechtsordnung, die sich nicht in Form einer (mehr oder minder formalisierten) Rechtssprache äußert, ist nicht denkbar.34 Jedenfalls müsste sie zumindest äußerst primitiv bleiben und wäre für die Erfordernisse des Lebens in einer Industriegesellschaft untauglich. Eine Rechtsordnung umfasst dabei alle Konzepte, die für das Verständnis ihrer Rechtssprache notwendig sind. Eine Rechtsordnung erschöpft sich allerdings nicht in diesen Konzepten, sondern besteht insbesondere auch aus Normen. Eine „Rechtsordnung“ gibt es jeweils in jedem Mitgliedstaat. Daneben bildet das Recht der EU eine eigene Rechtsordnung.35 Zu jeder Rechtsordnung gibt es genau eine entsprechende Rechtssprache. Die europäische Rechtsordnung umfasst das europäische Primär- und Sekundärrecht sowie deren Umsetzung durch die Mitgliedstaaten, deren Auslegung durch den EuGH sowie die dazu vertretenen Lehrmeinungen. 36 Die nationale Rechtsordnung eines Mit-
34 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2015, Rn. 150: „Es gibt kein Recht außerhalb der Sprache“; Coing, Die juristischen Auslegungsmethoden und die Lehren der allgemeinen Hermeneutik, 1959, S. 53 (Sprache als „Lebensnerv“ der Jurisprudenz); anders dagegen Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 1913, S. 29 f.: „Aber die Sprache ist nicht das einzigmögliche Gewand des Rechtes, nicht alles gesetzte Recht ist ‚geschriebenes Recht‘“ (über Gewohnheitsrecht). 35 Bleckmann, in: Studien zum Europäischen Gemeinschaftsrecht (1986), 83 (85); Bleckmann, in: Studien zum Europäischen Gemeinschaftsrecht (1986), 105 (114); Rodríguez Iglesias, NJW 1999, 1 (1 ff.). 36 Bisher ist der Einfluss von rechtswissenschaftlicher Literatur etwa auf die Rechtsprechung des EuGH noch sehr überschaubar, allerdings ist eine zunehmende Systematisierung
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1. Kapitel: Methodik
gliedstaats der europäischen Union umfasst dessen Verfassungs- und einfachgesetzliches Recht unter Einschluss des Rechts, das europäischen Einfluss aufweist, sofern es sich nicht um eine bloße Wiedergabe europäischen Rechts handelt, sowie die dazugehörige Rechtsprechung der Gerichte dieses Staates und die dazu vertretenen Lehrmeinungen.37 Die Tatsache, dass eine Abgrenzung zwischen beiden Ebenen mit der obigen Definition nicht trennscharf oder nicht einmal theoretisch überschneidungsfrei erfolgen kann,38 spricht dabei nicht dagegen, beide Ebenen als jeweils eigene Rechtsordnung aufzufassen. Zwar gilt auf dem Staatsgebiet jedes Mitgliedstaates auch die europäische Rechtsordnung, und die europäische Rechtsordnung empfängt zumindest Einflüsse und Inspirationen von den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten.39 Für die hier untersuchten Konstellationen ist die eingeführte Terminologie jedoch eine brauchbare Arbeitshilfe. Etwa ist das deutsche internationale Gesellschaftsrecht von der EuGHRechtsprechung zu den Grundfreiheiten stark beeinflusst. Der BGH hält dennoch (grundsätzlich40) am Verwaltungssitzkriterium fest. Das (deutsche) Verwaltungssitzkriterium ist daher ein Konzept der deutschen Rechtsordnung, auch wenn es unter europäischem Einfluss z.B. auf EU-Auslandsgesellschaften keine Anwendung findet. Anders wäre dies, wenn stattdessen z.B. der Sitzbegriff von Art. 7 SE-VO aus dem europäischen Recht übernommen worden wäre. Es gibt also eine deutsche, eine französische, eine englische Rechtsordnung usf. Von den Rechtsordnungen der einzelnen Länder wird im Folgenden auch als den „nationalen Rechtsordnungen“ gesprochen beziehungsweise, sofern es sich um Mitgliedstaaten Europas handelt, den „mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen“. Entsprechend gibt es zu jeder Rechtsordnung eine deutsche, eine französische, eine englische Rechtssprache usf. Sie sind in der Regel Teilmengen der Sprachen, die in den Ländern, deren Rechtsordnung sie entstammen, gesprochen werden. (Zu den Fällen der mehrsprachigen Rechtsordnungen sowie den in mehreren Rechtsordnungen gesprochenen Sprachen sogleich unten.) Die
von einzelnen Bereichen des Europarechts zu beobachten, vgl. Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009, S. 306. 37 Dabei ist der Einfluss der Lehrmeinungen in den verschiedenen europäischen Rechtsordnungen unterschiedlich. Während in Deutschland Lehrmeinungen als „h.M.“ anerkannt sein und Einfluss auch auf die Rechtsprechung haben können, hat in England etwa die Lehre insgesamt deutlich geringeren Einfluss (mit Ausnahme insbesondere der sog. „books of antiquity“), vgl. Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, § 5 Rn. 37 ff.; Schall, in: Schall, Companies Act, 2014, S. LXXII f. (Einleitung). 38 Kjær, in: Sandrini (1999), 63 (71) sieht darin einen Grund für die „Wechselwirkung“ zwischen Konzepten beider Rechtsordnungen. S. dazu unten 1. Kap., A IV, S. 35 f. 39 S. dazu ausführlicher unten zur „autonomen“ Auslegung, 1. Kap., A IV, S. 35 f. 40 Zu Details s. unten 3. Kap., D I 1 a, S. 225 ff.
A. Definitionen und Fragestellung
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französische Rechtssprache (die Rechtssprache der Rechtsordnung Frankreichs) bedient sich französischer Termini, die italienische Rechtssprache verwendet italienische. „Deutsch“ wird in dieser Arbeit meist mit Bezug zur Bundesrepublik Deutschland verwendet. „Deutsche Sprache“ bezeichnet zwar die in Deutschland, Österreich, Teilen der Schweiz, Italiens etc. gesprochene normale Alltags- und Umgangssprache. „Deutsche Rechtsordnung“ steht hier aber immer für diejenige der Bundesrepublik Deutschland. Ebenso ist mit „deutscher Rechtssprache“ oder „deutschem (Rechts-)Konzept“ bzw. „deutschem Verständnis“ einer Norm stets die Rechtssprache gemeint, in der durch die deutsche Rechtsordnung den Rechtstermini Konzepte zugewiesen werden, bzw. diese Konzepte selbst oder das durch diese Konzepte geprägte Verständnis. Teilmengen der deutschen Sprache dagegen sind die deutsche Rechtssprache (die Ausdruck der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland ist), aber ebenso die österreichische Rechtssprache (als Ausdruck der Rechtsordnung Österreichs). Sofern dabei von der „englischen Rechtsordnung“ die Rede sein wird, bezieht sich dies auf England und Wales, nicht auf das Vereinigte Königreich oder Großbritannien.41 Für die parallelen Bezeichnungen gilt Entsprechendes: Während „Englisch“ bzw. „die englische Sprache“ die auch in Schottland, Irland, Indien, den USA, Kanada etc. gesprochene Weltsprache meint,42 ist die „englische Rechtssprache“ diejenige, die durch das der Rechtsordnung von England und Wales stammende Verständnis geprägt ist. „Europa“ und „europäisch“ werden in dieser Arbeit nicht als geographische Bezeichnungen verwendet, sondern stets mit Bezug zur EU bzw. dort, wo dies
41
Vgl. die Abgrenzung bei Graf von Bernstorff, Einführung in das englische Recht, 2011, S. 1. „Großbritannien“ umfasst als geographischer Terminus darüber hinaus Schottland, das „Vereinigte Königreich“ zusätzlich noch Nordirland. Schottland und Nordirland unterliegen damit nicht dem englischen Recht. Allerdings gelten Teile des englischen Rechts, etwa der Companies Act 2006, auch in Schottland und Nordirland (Ringe/Otte, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 5.6); laut Hearnden/Becker, in: Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 2. Aufl., 2014, Rn. 15.4007, lässt sich zumindest das für die SE geltende Recht (seit dem CA 2006) für das gesamte Vereinigte Königreich einheitlich beschreiben. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird hier dennoch daran festgehalten, nur das Recht von England und Wales zu beschreiben. (Unterschiede zwischen dem Recht von England und Wales liegen im Wesentlichen darin, dass in Wales besondere Regelungen für die walisische Sprache gelten, vgl. Sec. 58 (2), 59 (2), 88, 1104 CA 2006 und Alcock, in: Alcock/Birds/Gale, Companies Act 2006, 2007, Rn. 2.4). 42 Da „Englisch“ in diesem Sinne nicht zentral für diese Arbeit ist, kann auf Unterscheidungen zwischen den verschiedenen Varianten der englischen Sprache verzichtet werden, vgl. dazu und zu einem sog. „World English“ Phillipson, English-only Europe?, 2003, S. 163 ff. („The diffusion of whose English?“).
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1. Kapitel: Methodik
angebracht ist (wenn es etwa darum geht, dass die SE nunmehr „in ganz Europa“ gegründet werden kann), mit Bezug auf den EWR, ohne dass gesondert darauf hingewiesen würde.43 Was den Ausdruck „Gemeinschaft“ betrifft, ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon44 die EU als Rechtsnachfolgerin an die Stelle der Europäischen Gemeinschaft getreten ist und daher nicht mehr von „Gemeinschaftsrecht“, sondern von „Unionsrecht“ zu sprechen sei.45 Allerdings wird der Begriff „Gemeinschaft“ nicht nur in der vor 2007 erschienenen Literatur und Rechtsprechung, die weiterhin heranzuziehen ist, verwendet, sondern findet sich auch noch im geltenden Sekundärrecht, namentlich in der SE-VO (dort z.B. Art. 2, 7, 8). In diesem Zusammenhang wird der Begriff „Gemeinschaftsrecht“ bzw. „gemeinschaftsrechtlich“ nicht vermieden, sondern gleichbedeutend mit „Unionsrecht“ verwendet. Es ist unklar, ob es einen Erkenntnisgewinn bringt, die in Europa gesprochenen Sprachen als „europäische Sprachen“ einzuordnen. So wird das Französische zwar in einem Teil der EU gesprochen, die größte Zahl der französichsprachigen Menschen lebt jedoch außerhalb Europas. Ebenso ist dies bei den früheren Kolonialsprachen Englisch, Spanisch und Portugiesisch. Eine rechtlich relevante Verbindung zur EU besteht allein darin, dass diese Sprachen Amtssprachen (auch) der EU sind. Im Folgenden wird von „Amtssprachen der EU“ die Rede sein, der Begriff „europäische Sprachen“ jedoch vermieden. Noch weniger als „die europäischen Sprachen“ gibt es „die eine europäische Sprache“.46 In Europa werden viele Sprachen gesprochen, aber keine von ihnen hat einen besonderen, sie in rechtlich relevanter Weise von den anderen Sprachen abhebenden Bezug zur EU. Zwar sind Englisch und Französisch Arbeitssprachen, und einige Organe arbeiten in einer Sprache (der EuGH etwa auf 43 Vgl. den Beschluss des Gemeinsamen EWR-Ausschusses Nr. 93/2002 vom 25. Juni 2002 zur Änderung des Anhangs XXII (Gesellschaftsrecht) des EWR-Abkommens, ABl. Nr. L 266 vom 03.10.2002, S. 69–70 und Nr. 10a des Anhangs XXII des EWR-Abkommens, ABl. L 1 vom 03.01.1994, S. 3–522; dazu schon oben in der Einl. D, S. 19. 44 Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, unterzeichnet in Lissabon am 13. Dezember 2007, ABl. C 306 vom 17.12.2007, S. 1–271. 45 Nehne, Europäisches IPR, 2012, S. 7. 46 Weir, ZEuP 1995, 368 (368): „Niemand spricht europäisch“; ähnlich Moréteau, in: Schulze/Ajani (2003), 405 (411): „auf den ersten Blick“ sei es möglich, eine gemeinsame Rechtssprache („a common legal language“) ohne gemeinsame Sprache („without a common tongue“) zu haben (später ergäben sich jedoch Probleme aufgrund der Dominanz einzelner Sprachen, etwa des Englischen in Europa); zu pejorativen Namen für das Sprachkauderwelsch in Europa („Frutsch“ als Mischung aus Fr[ançais] und [De]utsch, „Eurowelsch“, „Eurospeak“, „eurobabillage“, „Eurobabble“) siehe Sturm, EuLF 2002, 313 (316); Kusterer, Europa-Archiv 1980, 693 (694); Martiny, ZEuP 1998, 227 (238); Phillipson, English-only Europe?, 2003, S. 3.
A. Definitionen und Fragestellung
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Französisch, die Europäische Zentralbank auf Englisch), jedoch ohne dass dies es rechtfertigen würde, eine dieser Sprachen als „europäische Sprache“ zu qualifizieren. Davon zu unterscheiden ist die „europäische Rechtssprache“, die Ausdruck der europäischen Rechtsordnung ist.47 Sie zeichnet sich dadurch aus, dass die von ihr verwendeten Termini ihre Konzepte aus der europäischen Rechtsordnung erhalten. Im Vorgriff auf später48 zu erläuternde Termini lässt sich daher sagen, dass in europäischer Rechtssprache all diejenigen Normen verfasst sind, die autonom auszulegen sind. Europäische Rechtskonzepte sind jeweils das Ergebnis einer solchen Auslegung. Ein „europäischer Terminus“ ist ein Element der europäischen Rechtssprache. Er zeichnet sich durch die Besonderheit aus, dass er in verschiedenen Sprachfassungen existiert. Mit allen Sprachfassungen ist immer das eine gleiche Konzept bezeichnet, die Sprachfassungen sind per definitionem synonym.49 Alle Sprachfassungen sind dabei überall gleichermaßen verbindlich; in Deutschland ist nicht nur die deutsche Sprachfassung verbindlich, sondern (auch wenn das ein frommer Wunsch bleiben mag50) alle Sprachfassungen sind gleichermaßen zu berücksichtigen. Diese sind dabei nicht als Übersetzungen in verschiedene Sprachen aufzufassen, sondern gelten allesamt als Originale, mit der Folge, dass „Übersetzungsfehler“ nicht als solche bezeichnet und korrigiert werden können.51 Wird ein Terminus in mehreren Rechtsakten oder an mehreren Stellen eines Rechtsaktes verwendet, ergibt sich aus der Gleichberechtigung aller Sprachen, dass es sich nur dann um den gleichen Terminus handelt, wenn er in allen Sprachfassungen identisch ist. Dies wird insbesondere bei der systematischen Auslegung noch wichtig werden.52 Auch wenn es sich dabei um ein Ideal handelt, das in der Wirklichkeit nicht immer erreicht werden kann – die weitere Untersuchung soll einzelne Beispiele beleuchten –, ist das Ideal zumindest auch von der EU so akzeptiert. Mit Projekten wie der frei zugänglichen Datenbank IATE und weiteren Übersetzungsdatenbanken speziell für Übersetzer von Rechtstexten versucht die EU, auf 47
Vgl. im gleichen Sinn, jedoch mit anderer Terminologie und zu überstaatlichen Verträgen bereits Frankenstein, IPR Bd. I, 1926, S. 295 f.: „Die Sprache derartiger internationaler Abkommen ist daher stets, ganz unabhängig von der als Vermittlungssprache benutzten Volkssprache, als besondere Sprache aufzufassen, die zwar in allen nichttechnischen Wendungen dem Sprachgebrauch der benutzten Sprache folgen wird, deren technische Bedeutungen aber nur von Fall in ihrer Bedeutung festgestellt werden können.“ 48 S. unten 1.Kap., A IV, S. 32 ff., zu „Auslegung“ und „autonom“. 49 Kjær, in: Sandrini (1999), 63 (67); I. Scholz, Das Problem der autonomen Auslegung des EuGVÜ, 1998, S. 155. 50 Vgl. die eher ernüchternden Zahlen bei Derlén, Multilingual Interpretation of European Union Law, 2009, S. 347 f. 51 Vgl. dazu bereits oben Ein. C, S. 18. 52 S. unten 1. Kap., B II und C IV, und 5. Kap., B, S. 53 f., 56 f., 361 ff.
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1. Kapitel: Methodik
eine kohärente Verwendung von Terminologie hinzuwirken.53 Auch in einer Reihe von Rechtsakten hat die EU immer wieder ihre Absicht unterstrichen, für ein Konzept auch stets den gleichen Terminus zu verwenden.54 In den „Gemeinsamen Leitlinien für die redaktionelle Qualität der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften“ von 1999 heißt es etwa ausdrücklich: „6. Die verwendete Terminologie muß kohärent sein, und zwar ist auf Kohärenz sowohl zwischen den Bestimmungen ein und desselben Akts als auch zwischen diesem Akt und den bereits geltenden Akten, insbesondere denjenigen aus demselben Bereich, zu achten. Dieselben Begriffe sind mit denselben Worten auszudrücken und dürfen sich dabei möglichst nicht von der Bedeutung entfernen, die sie in der Umgangssprache, der Rechtssprache oder der Fachsprache haben.“55
Auch im EU-Recht gibt es also Ansätze, die Rechtsmaterie auch konzeptuell aufzuarbeiten, eine Eigenschaft, die sonst insbesondere dem kontinentaleuropäischen Recht zugeschrieben wird.56 IV. Auslegung Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass das zu einem Terminus gehörende Konzept durch eine Definition näher umschrieben werden kann, was insbesondere einschließt, dass Termini eine solche Bedeutung, also ein Konzept, haben können, die für den juristischen Gebrauch hinreichend fest mit ihnen verbunden ist. Da Bedeutungen damit für „real“ gehalten werden, steht diese Arbeit somit auf dem Standpunkt eines Bedeutungsrealismus (auch „Begriffsidealismus“ 57 ), der sich freilich aus philosophischer Sicht kritisieren 53 Zu IATE vgl. bereits oben Einl. C, S. 31 f., zu weiteren Datenbanken für Übersetzer vgl. u.a. die Broschüre Europäische Kommission, Übersetzung, Arbeitsablauf und technische Hilfsmittel, 2013. 54 Vgl. zu den Bemühungen um eine kohärentere Terminologie in Europa die nächste Fußnote sowie Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Aktualisierung und Vereinfachung des Acquis communautaire, KOM 2003/71 endg., 11.02.2003, dort z.B. S. 8; früher schon Resolution of the Committee of Ministers of the Council of Europe, 18.01.1972, Resolution (72) 1, on the standardisation of the legal concepts of „domicile“ and of „residence“, abrufbar unter , zuletzt abgerufen am 21.10.2017; zum Thema auch Sturm, EuLF 2002, 313 (316); Ansay, in: FS Martiny 2014, 1007 (1019). 55 Interinstitutionelle Vereinbarung vom 22. Dezember 1998, Gemeinsame Leitlinien für die redaktionelle Qualität der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften, ABl. Nr. C 73 vom 17.03.1999, S. 1–4. 56 Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, § 6 Rn. 58 ff. S. dazu noch ausführlicher 5. Kap., C III, S. 367. 57 Zu dieser auf den ersten Blick kontraintuitiven Terminologie überblickshaft Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 42.
A. Definitionen und Fragestellung
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lässt.58 Insbesondere lässt sich der Standpunkt als „verifikationistisch“ kennzeichnen, wenn man davon ausgeht, dass die Bedeutung eines Wortes immer nur ihr Gebrauch in der Sprache ist,59 sich also nicht vorhersagen lässt. Eine solche regelskeptische Auffassung wird auch in der Rechtswissenschaft teilweise vertreten. 60 Von einem behaviouristischen Standpunkt aus ließe sich weiter sagen, dass präzise Bestimmungen der Bedeutung von Ausdrücken auch durch exakte Beobachtung von Sprachverhalten nicht möglich sind.61 Definitionen müssen dann, da sie Wörter mit weiteren Worten definieren, letztlich zirkulär bleiben.62 Dem soll aber hier nicht weiter nachgegangen werden. Für die Rechtswissenschaft als eine auf die praktische Anwendung ausgerichtete Wissenschaft63 ist bereits ein erhöhtes Maß an Klarheit ein erstrebenswertes Ziel. Da Recht ohne Sprache nicht formuliert werden kann, ist die der Sprache innewohnende Vagheit ohnehin hinzunehmen. Für die folgende Untersuchung wird daher davon ausgegangen, dass eine Definition die Bedeutung eines Terminus umschreiben kann. Diese Definition kann im Gesetz gegeben sein (Legaldefinition), kann aber auch durch Interpretation des Gesetzestextes von Gerichten oder durch die Rechtswissenschaft gewonnen werden.64 Der Vorgang, durch methodengeleitete Interpretation einen Terminus des Gesetzes durch eine ausführlichere, präzisere Definition zu umschreiben, also das Finden von Konzepten zu Termini durch Anwendung juristischer Methoden, wird als „Auslegung“ verstanden. 58 Neben dem im Text Folgenden ließe sich u.a. sagen, dass der hier verwendete Ausdruck „Bedeutung“ nicht zwischen „Sinn“ und „Bedeutung“ unterscheidet (dazu grundlegend Frege, Über Sinn und Bedeutung (1892), abgedruckt in Frege, Funktion, Begriff, Bedeutung, 1969, S. 40–65; zur Kritik von Freges Sprachgebrauch wiederum Kemmerling, in: Sandkühler, Enzyklopädie Philosophie, 2010, S. 213 ff. (Lemma „Bedeutung“). 59 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Nachdruck der 1. Aufl. 1953 (2004), § 43; dazu Kemmerling, in: Sandkühler, Enzyklopädie Philosophie, 2010, S. 214; sowie Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 45. 60 Etwa Hassemer, Tatbestand und Typus, 1968, S. 109 ff., der den „Tatbestand als Typus“ versteht und davon ausgeht, dass sich seine Bedeutung erst durch die Anwendung herausbildet; ferner die „strukturierende Rechtslehre“ von Müller/Christensen, Juristische Methodik I, 2013, dort z.B. Rn. 162 ff., denen zufolge sich die Rechtsnorm erst durch konkretisierende Rechtsarbeit des Richters aus dem Normtext ergibt. Gegen eine solche Rezeption Wittgensteins für die juristische Fachsprache dagegen I. Scholz, Das Problem der autonomen Auslegung des EuGVÜ, 1998, S. 86, demzufolge die Gebrauchstheorie nur auf die Alltagssprache anwendbar ist, für die sie entwickelt wurde. 61 Quine, Word and Object, 1970. 62 In diesem Sinne etwa I. Scholz, Das Problem der autonomen Auslegung des EuGVÜ, 1998, S. 189. 63 Die Wichtigkeit des Vertrauens in die Praxis betonen auch Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 608 und nehmen gerade für diese Position Wittgenstein in Anspruch. 64 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2015, Rn. 201.
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1. Kapitel: Methodik
Hier soll die Frage nicht vertieft werden, ob es sich richtigerweise um die Auslegung von Termini oder um die von Konzepten handeln müsse. In der Literatur finden sich beide Ausdrucksweisen wieder. Auch wenn der Verfasser der zweiten Auffassung zuneigt, wird teilweise auch davon die Rede sein, dass „Termini ausgelegt“ werden, was dann heißt: Durch Auslegung soll für diese Termini ein Konzept gefunden werden. Dabei werden im Folgenden nur Fälle diskutiert, die unter ein enges Verständnis von „Auslegung“ fallen,65 wie es deutscher Denktradition entspricht. Ein weites Verständnis, welches unter „Auslegung“ auch das fasst, was man sonst auch mit „Rechtsfortbildung“ bezeichnet,66 mag insbesondere auf europäischer Ebene seine Berechtigung haben, da der EuGH Auslegung im engeren Sinn und Rechtsfortbildung (französischer Tradition folgend) nicht trennt. 67 Für die Zwecke dieser Untersuchung sind aber Fälle der Rechtsfortbildung wenig ergiebig: Wo nicht von einem Wortlaut ausgegangen wird, sondern von einer Lücke, fehlt es gerade an Sprache, die einen Einfluss auf das Auslegungsergebnis haben könnte, oder jedenfalls würde es deutlich komplizierter, einen solchen Einfluss nachzuweisen. Da also ohnehin nur die Rede von Fällen sein wird, die einer „Auslegung“ im engeren Sinn unterfallen, braucht das Konzept „Auslegung“ hier nicht näher abgegrenzt zu werden. Weiterhin wird sich diese Arbeit auf die Auslegung einzelner Rechtstermini beschränken – wenngleich in der Auslegungspraxis auch Fälle problematisch sind, in denen es um die Bedeutung eines Satzes oder Satzteils geht, die sich nicht sinnvoll auf einzelne Termini verteilen lässt (als ein Beispiel mag das häufig zitierte „taken out of the sea“ angeführt werden68), sind diese Fälle doch aus sprachlicher Sicht aufwändiger zu untersuchen. Da in dieser Untersuchung ohnehin nur ein Teil der in Frage kommenden Termini untersucht werden kann, beschränkt sie sich auf die Suche nach der Bedeutung einzelner Rechtstermini.
65
So auch Riesenhuber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2015, § 10 Rn. 3; Nehne, Europäisches IPR, 2012, S. 26; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 (535); Adrian, Gemeinschaftsrechtliche Methodenlehre, 2009, S. 891–893; Wieland, NJW 2009, 1841 (1843, 1845); Hess, IPRax 2006, 348 (361); Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009 (Kapitel 2, 3 zur Auslegung, Kapitel 4 zur Rechtsfortbildung). 66 Schroeder, JuS 2004, 180 (184); Anweiler, Auslegungsmethoden des EuGH, 1997, S. 35–40; Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009, S. 321, 447. 67 Sog. „interprétation“; Riesenhuber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2015, § 10 Rn. 3; Nehne, Europäisches IPR, 2012, S. 26; Colneric, ZEuP 2005, 225 (230); Schroeder, JuS 2004, 180 (184); a.A. für das IZVR Hess, IPRax 2006, 348 (361). 68 Dt. „von Schiffen aus gefangen“, Art. 4 Abs. 2 lit. f Verordnung (EWG) Nr. 802/68 des Rates vom 27. Juni 1968 über die gemeinsame Begriffsbestimmung für den Warenursprung, ABl. L 148 vom 28.06.1968, S. 1–5, dazu EuGH, Rs. 100/84, Urt. vom 28.03.1985, Slg. 1985, 1169; Schroeder, JuS 2004, 180 (185); zum Urteil auch aus sprachwissenschaftlicher Sicht ausführlich Braselmann, EuR 1992, 55 (63–66).
A. Definitionen und Fragestellung
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Die in allen Mitgliedstaaten gleiche Auslegung europäischer Rechtsnormen wird dabei als „autonom“ bezeichnet. Mit „autonom“ können dabei das Ergebnis69 (dazu sogleich), aber auch die Methoden bezeichnet werden, die speziell für das Recht der EU angewendet werden und sich von denen der Mitgliedstaaten unterscheiden (können);70 auf diese wird später zurückzukommen sein (s. 1. Kap., C, S. 58). An der Ausdrucksweise „autonom“ wird hier festgehalten, obwohl der Ausdruck nicht ausschließlich für das Recht der EU verwendet wird71 und daher in anderen Zusammenhängen missverständlich sein kann. Eine besondere Gefahr solcher Missverständnisse besteht aber im Rahmen dieser Untersuchung nicht, sodass an der gebräuchlichen Bezeichnung festgehalten werden kann. „Autonom“ bedeutet dabei keineswegs „isoliert“.72 Mit autonomer Auslegung ist in erster Linie eine einheitliche Auslegung gemeint.73 „Auto-nom“ im griechischen Wortsinn soll dabei verdeutlichen, dass sich die EU „ihre eigenen Gesetze“ gibt, also nicht in dem Sinn an die Gesetze der Mitgliedstaaten gebunden ist, dass Rechtskonzepte der Mitgliedstaaten ohne Weiteres auf Unionsebene übernommen würden. Dies erlangt etwa besondere Bedeutung, wenn eine europäische Rechtsnorm nach dem Vorbild des Rechts eines Mitgliedstaates formuliert wurde.74 Auch die Konzepte der europäischen Rechtsordnung
69 Riesenhuber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2015, § 10 Rn. 4 (Fn. 3). 70 Nehne, Europäisches IPR, 2012, S. 42 f. m.w.N. auch zu den Verwendungsweisen des Ausdrucks „autonom“. 71 Vgl. Hess, IPRax 2006, 348 (352): „Die autonome Auslegung ist kein originär gemeinschaftsrechtliches Konzept“; Engisch, in: Ferid (1958), 59 (69 f.) verwendet „autonom“ für die Trennung von der strafrechtlichen und der zivilrechtlichen Begriffsbildung; ähnlich Zweigert, RabelsZ 15 (1949/1950), 5 (15 f.); von Hein, in: MüKoBGB Bd. 10, 2015, Einl. IPR, Überschrift vor Rn. 115, bezeichnet mit „autonom“ das nationale IPR (im Gegensatz zum europäischen); ähnlich Nehne, Europäisches IPR, 2012, S. 139; in Zusammenhang mit der Hermeneutik sprechen von einer „autonomen Auslegung“ von Werken Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 118; sowie Coing, Die juristischen Auslegungsmethoden und die Lehren der allgemeinen Hermeneutik, 1959, S. 13; deutlicher daher Schlosser, IPRax 1984, 65 (65): „europäisch-autonom“. 72 Wolf, in: FS Schwab 1990, 561 (563 f., 574); I. Scholz, Das Problem der autonomen Auslegung des EuGVÜ, 1998, S. 161. 73 Martiny, RabelsZ 45 (1981), 427 (436). 74 Riesenhuber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2015, § 10 Rn. 5 f. Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 (530); Martiny, RabelsZ 45 (1981), 427 (445); Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 191 f.; Lutter, JZ 1992, 593 (602). Beispielsweise basieren etliche Vorschriften der EWIV auf der französischen Rechtsform des groupement d’interêt économique (GIE). Näher zum Einfluss des GIE auf die Formulierung der EWIV-VO Selbherr/Manz, EWIV-Kommentar, 1995, Vorbemerkungen EWIV-VO Rn. 1–3; Müller-Gugenberger, in: Müller-Gugenberger/Schotthöfer, Die EWIV in Europa, 1995, „Europäisches Recht“, Rn. 5 ff. (S. 160 ff.); gegen einen Einfluss etwa der französi-
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1. Kapitel: Methodik
entstehen jedoch nicht im konzeptfreien, „luftleeren“ Raum.75 Mit dem Wort „autonom“ verträgt sich daher auch ein Verständnis, dass Unionsrecht und die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten sich in einer Art „Wechselwirkung“ gegenseitig beeinflussen. 76 Dies entspricht auch der Realität beim EuGH, wo nicht nur Juristen aus allen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten arbeiten, sondern auch durch die Fragestellungen nationaler Richter im Vorabentscheidungsverfahren wichtige Impulse für die Rechtsfindung zusammenkommen.77 Als Folge ergibt sich möglicherweise, dass europäische Rechtskonzepte weniger klar umrissen sind als solche nationalen Rechts, die eine höhere Normendichte und eine längere Geschichte an juristischer Auseinandersetzung um die Konzepte der eigenen Rechtsordnung78 aufweisen. Dies spricht noch nicht dagegen, an dieser Stelle der Untersuchung – also bei der Klärung der Ausdrucksweise – europäische Konzepte einzuführen.79 Gleichwohl wird später noch darauf zurückzukommen sein, inwiefern sich europäische Konzepte grundsätzlich von denen der Mitgliedstaaten unterscheiden.80 V. Übersetzung Eine Rechtssprache ist mehr von der Zugehörigkeit zu ihrer Rechtsordnung geprägt (und wird auch nur durch sie eindeutig gekennzeichnet) als von der Zugehörigkeit zu einer (Alltags-)Sprache. Ein Blick auf einige Beispiele aus Europa soll dies verdeutlichen: Deutsch wird etwa in Deutschland, aber auch in Österreich, Liechtenstein, der Schweiz, Teilen Italiens etc. gesprochen. Es bestehen aus Sicht dieser Arbeit wenig Bedenken dagegen, zu behaupten, dass es sich dabei überall um die gleiche Sprache handelt (gewiss ohne abstreiten zu wollen, dass Regionalismen bestehen, die auch Muttersprachler durchaus schen Rechtsprechung zum GIE auf die EWIV („nur Rechtserkenntnisquelle“) Selbherr/Manz, EWIV-Kommentar, 1995, Rn. 30; Müller-Gugenberger, in: Müller-Gugenberger/Schotthöfer, Die EWIV in Europa, 1995, „Europäisches Recht“ Rn. 174. 75 Kjær, in: Sandrini (1999), 63 (70); so auch schon W. F. Bayer, RabelsZ 20 (1955), 603 (628), der (im Kontext völkerrechtlicher Abkommen) dann eher eine systematische Auslegung mit Rückgriffen auf die Vertragspraxis nahelegt. 76 Kjær, in: Sandrini (1999), 63 (69 f.) geht davon aus, dass im Recht der EU – anders als etwa im Schweizer Recht – den Konzepten der EU nicht nur die Termini in den verschiedenen Sprachfassungen zugeordnet werden können, sondern dass auch die Rechtskonzepte der Mitgliedstaaten „mitschwingen“. 77 Pescatore, RIDC 32 (1980), 337 (353). Zur Rolle der Rechtsvergleichung am EuGH s. unten 1. Kap., C I 2, S. 59 ff. 78 Auf die Bedeutung der Argumentationsgeschichte für die Definition von Konzepten weist Kjær, in: Sandrini (1999), 63 (70) hin; so auch schon Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1997, S. 384 ff. 79 Kritisch gegen die Vorstellung eines festgefügten Konzepts auch beim Übersetzen von supra- und internationalem Recht Kjær, in: Sandrini (1999), 63 (66). Diese Kritik wird hier nicht als Kritik an dem hier vorgestellten terminologischen Grundgerüst verstanden. 80 S.u. 1. Kap., D IV, S. 94 ff.
A. Definitionen und Fragestellung
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bis an die Grenze ihres Verständnisses und darüber hinaus führen können). Deutsche und österreichische Rechtssprache überschneiden sich aber nur teilweise (soweit sie die gleichen Wörter benutzen – auch wenn darunter verschiedene Konzepte verstanden werden, bleiben die Termini die gleichen). Andere Termini sind nur der einen oder anderen Rechtssprache bekannt.81 Aber auch was die beiden Rechtssprachen gemeinsamen Termini angeht, tun der österreichische und der aus Deutschland kommende Jurist gut daran, sich zu einigen, in welcher Rechtssprache sie sich unterhalten wollen, wenn sie über juristische Fragen sprechen. Denn nur dann können sie sicher sein, dass sie sich auch inhaltlich verstehen, weil beide die gleichen Konzepte meinen.82 Etwa bedeutet für einen deutschen Juristen „Entlassung“ die ordentliche oder außerordentliche Kündigung durch den Arbeitgeber, der österreichische Jurist etwa versteht darunter nur die Aufhebung durch den Arbeitgeber aus wichtigem Grund.83 Umgekehrt ist die Lage in mehrsprachigen Rechtsordnungen: Wenn sich ein Jurist aus dem flämischen Teil und dem wallonischen Teil Belgiens unterhalten, können sie sich überlegen, ob sie dies auf Niederländisch (Flämisch) oder auf Französisch tun. Die Termini werden sich dann unterscheiden, die zugehörigen Konzepte, die der gemeinsamen mehrsprachigen Rechtsordnung entstammen, die gleichen bleiben.
81
Posch, in: Schulze (1999), 219 (222–224) mit Beispielen für die Fallgruppen. Nach allgemeinem Eindruck unterscheiden sich die österreichische und die deutsche Rechtssprache stärker voneinander als die anderer Sprachen, Hoheisel, in: Schulze/Ajani (2003), 377 (384); auch Posch, in: Schulze (1999), 219 (222). Dies mag der Grund gewesen sein oder seinen Ausdruck darin finden, dass Österreich besonders auf seine Sprache im Allgemeinen achtet, den Beitritt zur EG durch eine „Konformitätsprüfungsrichtlinie“ des BKA-Verfassungsdienstes gerade auch im Bewusstsein sprachlicher Divergenzen zur bundesdeutschen Fachterminologie vorbereitete und sich eine Reihe von spezifisch österreichischen Termini in einem Protokoll zu seinem Beitrittsvertrag zusichern ließ, Posch, in: Schulze (1999), 219 (221–228); Hoheisel, in: Schulze/Ajani (2003), 377 (384). Vgl. dazu die Akte über die Bedingungen des Beitritts des Königreichs Norwegen, der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge, Protokoll Nr. 10 über die Verwendung spezifisch österreichischer Ausdrücke der deutschen Sprache im Rahmen der Europäischen Union, ABl. C 241 vom 29.08.1994, S. 370. Posch hält das Protokoll für zu kurz gegriffen und bedauert, dass über meist kulinarische Ausdrücke hinaus keine vergleichbare Liste juristischer Ausdrücke besteht, Posch, in: Schulze (1999), 219 (229). 83 Posch, in: Schulze (1999), 219 (224): Trotz der eben in Fn. 82 erwähnten Konformitätsprüfungsrichtlinie führte dies zu Verwirrungen nach dem Beitritt Österreichs, da der Ausdruck aus der bis dahin lediglich von (bundes)deutscher Rechtssprache geprägten Sprachfassung des acquis communautaire unhinterfragt in österreichisches Recht übernommen wurde. 82
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1. Kapitel: Methodik
Diese Beispiele führen zum allgemeinen Problem der Übersetzung von Rechtstexten, die an den Übersetzer immense Anforderungen stellt.84 („Übersetzen“ wird im Folgenden überwiegend für schriftliches Übersetzen gebraucht.85) Als Ausgangspunkt lässt sich sagen: Ein Rechtstext ist nicht nur in einer Sprache, sondern gleichzeitig auch in einer Rechtssprache verfasst; er nutzt also die Konzepte einer bestimmten Rechtsordnung.86 Beim Übersetzen ist darauf zu achten, auf welcher der beiden Ebenen übersetzt werden muss (denkbar ist auch, dass dies auf beiden Ebenen zu geschehen hat).87 Was die Übersetzung von einer Rechtsordnung in eine andere angeht, könnte man mit Esser auch formulieren: Der Übersetzer muss das Vorverständnis des Textes herausarbeiten und für den Leser, dem dieses Vorverständnis fehlt (jedenfalls soweit es die fremde Rechtsordnung angeht), klarstellen.88 Übersetzt etwa ein Jurist aus Genf einen Rechtstext in französischer Sprache und schweizerischer Rechtssprache (also einen Text, der von Konzepten der schweizerischen Rechtsordnung handelt) ins Deutsche, muss er sich fragen, ob der Adressat des übersetzten Textes etwa ein Deutscher ist. Er muss dann entsprechend zwischen der schweizerischen Rechtssprache einerseits und der deutschen Rechtssprache andererseits vermitteln: Für Rechtstermini aus der schweizerischen Rechtssprache muss er also etwa danach suchen, ob es für die zugehörigen schweizerischen Rechtskonzepte Entsprechungen in der deutschen Rechtsordnung gibt, die möglicherweise (gegebenenfalls mit Erläuterungen) als Übersetzungen taugen, oder inwieweit die schweizerischen Rechtskonzepte umschrieben werden müssen. In diesem letzteren Fall ähnelt seine Aufgabe der, einem juristischen Laien (auch wenn dieser frankophoner Schweizer ist) die schwei-
84 Zu den Schwierigkeiten des Übersetzens von Rechtstexten etwa Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, § 1 Rn. 20–26; Moréteau, in: Schulze/Ajani (2003), 405 (408); Ajani, in: Schulze/Ajani (2003), 349 (352); Pescatore, ZEuP 1998, 1 (6 f.); Mincke, ARSP 1991, 446; am Beispiel des Sprachenpaars Französisch (Frankreich) – Deutsch (Deutschland) SchmidtKönig, Die Problematik der Übersetzung juristischer Terminologie, 2005; sowie die Sammelbände de Groot/Schulze (Hrsg.), Recht und Übersetzen, 1999; und Sandrini (Hrsg.), Übersetzen von Rechtstexten, 1999. Anders (und m.E. falsch) dagegen das Verständnis von I. Scholz, Das Problem der autonomen Auslegung des EuGVÜ, 1998, S. 156: Die Termini des EuGVÜ, die man nicht autonom auslegt, könne man „ineinander übersetzen“. 85 Es sei nicht verheimlicht, dass sich ähnliche Probleme auch beim Dolmetschen (mündlich) stellen. Gleichwohl bleibt das schriftliche Übersetzen insbesondere von juristischen Texten der Regelfall, der im Folgenden auch hauptsächlich betrachtet wird. Der Überbegriff „Translation“ für Dolmetschen und Übersetzen, vgl. genauer zur Terminologie Luttermann, EuZW 1998, 151 (48 f.), wird hier daher nicht verwendet. 86 Kjær, in: Sandrini (1999), 63 (72 f.); so auch schon Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., 1975, S. 429: Rechtskonzepte hängen immer vom Kontext der Rechtsordnung ab. 87 Sandrini, in: Sandrini (1999), 9 (15 ff.); Kjær, in: Sandrini (1999), 63 (65). 88 Ausführlich zum Vorverständnis s. unten 1. Kap., B I 2, S. 48 ff.
A. Definitionen und Fragestellung
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zerische Rechtsordnung verständlich zu machen: Auch gegenüber dem deutschen Juristen, der, was die schweizerische Rechtsordnung angeht, (möglicherweise vorgebildeter) Laie ist, muss der schweizerische Jurist zwischen Rechts- und Laiensphäre vermitteln oder eben „übersetzen“.89 Übersetzt der Jurist aus Genf den Text dagegen für einen Berner Kollegen, wird nur aus einer Sprache in die andere übersetzt, der Vergleich der Rechtsordnungen dagegen, der für eine Übersetzung von einer Rechtsordnung in die andere nötig war, entfällt: Der Genfer Jurist kann sich der Termini bedienen, die das Gesetz in seiner deutschen Fassung enthält, die ebenso verbindlich ist.90 Umgekehrt ist die Situation, wenn der österreichische Jurist einen Text über die österreichische Rechtsordnung für seinen deutschen Kollegen lesbar machen will: Hier ist die Übersetzung aus einer Sprache in die andere entbehrlich, wegen der (wie zu vermuten ist, jedenfalls teilweise) abweichenden Rechtskonzepte aber nicht die Erläuterung des Vorverständnisses,91 das ein österreichischer Jurist hat. Oft wird wiederholt, dass diese „Vermittlung zwischen Rechtsordnungen“, nicht zwischen Sprachen, die schwierigere Aufgabe des Übersetzers von Rechtstexten sei.92 Allerdings ist es so, dass man in diesem Zusammenhang nicht nur nicht von einer „Übersetzung“ sprechen würde. Tatsächlich würde wohl auch in den meisten Fällen eine irgendwie geartete Erläuterung des juristischen Textes entfallen. Dann könnte der Leser, verführt durch die Sprache, leicht dem Trugschluss unterliegen, dass das, was ihm als Sprache vertraut ist (das Deutsche), ihm auch als Juristen verständlich ist (dabei ist der Text in österreichischer Rechtssprache verfasst, nicht in deutscher). 89
Vgl. auch Mincke, ARSP 1991, 446 (460): Die Verständnisprobleme eines Laien „sind denen eines ausländischen Juristen ganz ähnlich“. 90 Gem. Art. 70 Abs. 1 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (Stand am 14. Juni 2015, SR 101) sind Amtssprachen Deutsch, Französisch und Italienisch (sowie im Verkehr mit Personen rätoromanischer Sprache auch das Rätoromanische); Art. 14 Abs. 1 des Bundesgesetz über die Sammlungen des Bundesrechts und das Bundesblatt (Publikationsgesetz, PublG) vom 18. Juni 2004 (Stand am 1. Januar 2010, SR 170.512) bestimmt u.a. für Bundesgesetze: „Die Veröffentlichung erfolgt gleichzeitig in den Amtssprachen Deutsch, Französisch und Italienisch. Bei Erlassen sind die drei Fassungen in gleicher Weise verbindlich.“ Jedoch entstehen nur die deutsche und französische Sprachfassung in einer Koredaktion, die italienische (und, wo vorhanden, die rätoromanische) sind Übersetzungen, näher dazu Schweizer, in: Hilpold/Steinmair/Perathoner (2011), 13 (15, 25) m.w.N. Die Schweiz stellt dabei noch einen Idealfall einer mehrsprachigen Rechtsordnung dar, nicht immer sind Gesetzestexte auch in allen Sprachen tatsächlich verfügbar; zu (auch privaten und unkoordinierten) Initiativen und den damit einhergehenden Problemen etwa in Südtirol Sandrini, in: de Groot/Schulze (1999), 189 (189 ff.); vor dem unkritischen Gebrauch entsprechender Übersetzungen warnt auch Kindler, Italienisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2014, § 1 Rn. 75. 91 Ausführlicher zum Vorverständnis noch unten 1. Kap., B I 2, S. 48 ff. 92 Ajani, in: Schulze/Ajani (2003), 349 (350); de Groot, Terminologie et Traduction 1991, 279 (296).
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1. Kapitel: Methodik
Auch europäische Rechtstexte – also Rechtstexte in der europäischen Rechtssprache – können übersetzt werden. Sollen diese von einer Amtssprache eines Mitgliedstaats in eine andere Sprache (die ebenfalls in einem Mitgliedstaat Amtssprache ist) übersetzt werden, bleibt die Rechtsordnung gleich. Anhand der mehrsprachigen Termini der europäischen Rechtssprache ist eine solche Übersetzung nur die von einer Sprache in eine andere, nicht einer Rechtsordnung in eine andere, und damit verhältnismäßig einfach.93 Sollten diese (ein hypothetischer Vorgang) in eine andere Rechtsordnung übertragen werden, etwa in die eines Mitgliedstaats, um für einen dortigen Juristen lesbar gemacht zu werden, wäre eine Übersetzung von einer Sprache in die andere nicht nötig, da der Rechtstext – sofern es sich um einen offiziellen Rechtstext der EU, etwa eine Verordnung oder ein Urteil des EuGH handelt – auch in der Sprache des Juristen vorliegen wird94 (da anzunehmen ist, dass diese auch Amtssprache seines Mitgliedstaats und damit auch Amtssprache der EU ist95). Nötig wäre allerdings eine Übersetzung oder Vermittlung zwischen den Rechtsordnungen bzw. – wer in diesem Zusammenhang nicht von „Übersetzung“ sprechen will – eine Aktivierung und explizite Darlegung des Vorverständnisses, das in den europäischen Rechtskonzepten und der Lesehaltung des aus einem nationalen Mitgliedstaats stammenden Juristen vorliegt. Tatsächlich kommt es zu einem solchen Vorgang nicht, und es wird dem Juristen zugemutet, selbst zu wissen, welche Termini mit „europäischem Vorverständnis“ zu lesen sind und welche mit nationalem. Auch hier besteht jedoch die (zumindest abstrakte) Gefährdung einer Verführung des Verstandes durch die Sprache. Ihr nachzugehen wird Aufgabe dieser Untersuchung sein.
93
de Groot, Terminologie et Traduction 1991, 279 (293 f.); Mincke, ARSP 1991, 446 (460 f.). Dies gilt für die Erstellung von derivativen Texten wie Urteilen, die sich bereits auf Terminologie und Konzepte aus Primär- und Sekundärrecht stützen können. Die Schwierigkeiten bei der Erstellung von Primär- oder Sekundärrecht (in diesem Fall würde nicht von einer „Übersetzung“ gesprochen, s.o. Einl. C, S. 18, da dieser Text bereits von Anfang an in allen Sprachfassungen existiert) sollen damit keinesfalls unterschätzt werden, vgl. dazu Kjær, in: Sandrini (1999), 63 (65 f., 71). Im Gegenteil wird auf diese Schwierigkeiten noch zurückzukommen sein (1. Kap., B IV, S. 56 ff., 5. Kap., D, S. 368 ff.). 94 Und gegebenenfalls im Wege der eben skizzierten „Übersetzung von einer Sprache in die andere, nicht einer Rechtsordnung in die andere“ erstellt wurde. Dabei ist freilich zu beachten, dass es sich bei offiziellen Rechtstexten dann um keine Übersetzung eines Originals in eine fremde Sprache handelt, sondern um eine Erstellung eines weiteren Originals, das ebenso berechtigt ist wie das erste. 95 Von Sonderfällen wie etwa dem Katalanischen (Amtssprache in Teilen Spaniens, aber nicht der EU) soll hier abgesehen werden.
B. Präzisierung der Problemstellung
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VI. Fragestellung Unter Zuhilfenahme der oben erarbeiteten Terminologie lässt sich die oben angedeutete Frage wie folgt präziser fassen: Welche Probleme stellt die Verwendung von Rechtstermini, die der europäischen Rechtssprache und der eines Mitgliedstaats gemeinsam sind, für die Findung von europäischen Konzepten im Wege der autonomen Auslegung?
B. Präzisierung der Problemstellung B. Präzisierung der Problemstellung
Im nachfolgenden Abschnitt wird diese Fragestellung näher präzisiert (dazu I). Es werden einige Lösungsansätze genannt, die dann in dieser Arbeit untersucht und beurteilt werden sollen (II bis IV). I. Grundthese: „Sprachverwirrung“ Welche Probleme stellt die Verwendung von Rechtstermini, die der europäischen Rechtssprache und der eines Mitgliedstaats gemeinsam sind, für die Findung von europäischen Konzepten im Wege der autonomen Auslegung dar? Die Grundthese, die im Laufe dieser Arbeit untersucht und belegt oder widerlegt werden soll, lautet: These: Durch die scheinbar bekannten Termini in Texten, die in der europäischen Rechtssprache verfasst sind, lassen sich Juristen dazu verleiten, dahinter auch die ihnen vertrauten – mitgliedstaatlichen – Konzepte zu vermuten, auch dort, wo europäische Konzepte zu suchen wären. Dies lässt sich auch als „Sprachverwirrung“ charakterisieren.96 Sie lässt sich so beschreiben, dass Auslegungsfehler (also die Zuordnung falscher Konzepte zu Rechtstermini) auf die Verwendung einer bestimmten, Missverständnissen Vorschub leistenden Terminologie zurückgeführt werden können. Ein klassisches Missverständnis wäre, dass sich zwei Juristen aus verschiedenen Herkunftsstaaten über die SE unterhalten und dabei davon ausgehen, hierfür das Vokabular der SE-VO verwenden zu können – schließlich gilt dieses ja in ganz Europa in allen Amtssprachen verbindlich! – und sich dabei dennoch nicht verstehen, weil beide Juristen die europäischen Termini mit Rechtskonzepten aus ihrem jeweiligen Herkunftsstaat verbinden. Es geht also mit anderen Worten
96
Ähnlich Beuthien, JZ 2003, 715 (715); Lehmann, AcP 207 (2007), 225 (225, 241 f.) („Begriffsverwirrung“).
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1. Kapitel: Methodik
um „die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache“.97 Aufgrund der typischerweise höheren Regelungsdichte im nationalen Recht98 (insbesondere in Deutschland) würde eine solche Sprachverwirrung dazu führen, dass insbesondere nationale Rechtskonzepte in die europäische Rechtsordnung vordringen.99 Denkbar ist auch ein Vordringen europäischer Ideen in die umgekehrte Richtung, wobei Beobachtungen sich hier meist auf die Ebene der Termini beschränken (nationale Konzepte werden nicht von europäischen verdrängt, aber mit europäischen Termini bezeichnet),100 also vom Gegenstand dieser Untersuchung abweichen. Die These der Sprachverwirrung soll im Folgenden näher erläutert und dabei die Fragestellung vertieft werden. Behandelt wird dabei stets die Situation de lege lata. Als Ergebnis eines politischen Kompromisses101 ist insbesondere die in der SE-VO enthaltene Verweisungstechnik de lege lata hinzunehmen, 102 mag sie de lege ferenda auch noch so wenig erstrebenswert sein.103 Zum einen ist die gegenwärtige Fassung immer noch als Schritt in die richtige Richtung zu begrüßen und kann auch positiv gesehen werden104 (etwa lässt sich darauf hinweisen, dass so zumindest in den Lücken gesichertes Recht zum Tragen kommt, das nicht erst vom EuGH geklärt werden muss105); zum anderen ist auch auf mittlere Sicht eine Abänderung (oder gar „Verbesserung“) des status quo nicht abzusehen.106 Wenn auch im Fazit einige Desiderata insbesondere zur Verwendung der Terminologie geäußert werden sollen, versteht sich diese Arbeit doch grundsätzlich als eine solche de lege lata, die von der geltenden Gesetzeslage ausgeht. 97 Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Nachdruck der 1. Aufl. 1953 (2004), § 109: „Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache.“ 98 Ähnlich Kjær, in: Sandrini (1999), 63 (70) (auf Ebene der Mitgliedstaaten gibt es ausführlichere Konzeptbestimmungen, insbesondere durch die längere Rechtstradition). 99 Vgl. die Befürchtung bei Moréteau, in: Schulze/Ajani (2003), 405 (416 (f.)). 100 Zu den Beobachtungen von Guyon, Droit commercial général et sociétés, 2001, S. 132 (Rn. 127) und Lehmann, AcP 207 (2007), 225 (242) noch unten 2. Kap., B I 4 a und B III 3, S. 153 f. und S. 178 (Fn. 465). 101 Vgl. zum langwierigen Regelungsvorgang oben Einl. B, S. 6 ff. 102 Ebenso Koke, Finanzverfassung der SE, 2005, S. 3; Bungert/Beier, EWS 2002, 1 (2). 103 So wurde befürchtet, die Ziele der SE-VO ließen sich gar nicht mehr erreichen: Hirte, NZG 2002, 1 (2); Hommelhoff, AG 2001, 279 (285); C. Jaeger, ZEuP 1994, 206 (217). 104 Blanquet, ZGR 2002, 20 (20 ff.); positiv wegen des dann ermöglichten Wettbewerbs der Regulierungsformen sieht die geringe Normendichte („Schweigen ist Gold“) Enriques, ZGR 2004, 735 (738 ff.); zum Wettbewerb auch el Mahi, Die Europäische Aktiengesellschaft, 2004, S. 22 ff. 105 Sagasser/Swienty, DStR 1991, 1222 (1226); Fleischer, AcP 204 (2004), 502 (508). 106 Vgl. Europäische Kommission, Aktionsplan: Europäisches Gesellschaftsrecht und Corporate Governance – ein moderner Rechtsrahmen für engagiertere Aktionäre und besser überlebensfähige Unternehmen, 12.12.2012, S. 16: „kurzfristig keine Revision“ des Rechts der SE beabsichtigt.
B. Präzisierung der Problemstellung
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Als Beleg für das Potenzial von Sprache, die Auslegung auch in einem nicht gewollten Sinn zu beeinflussen, folgen Ausführungen zu den Erscheinungsformen von Sprachverwirrung. Danach soll versucht werden, die Sprachverwirrung mit den Denkmustern der modernen Hermeneutik zu formulieren. 1. Sprachverwirrung: Erscheinungsformen und Beispiele Mit „Sprachverwirrung“ soll hier, wie soeben dargestellt, die Neigung von Juristen beschrieben werden, hinter Termini, die sie aus ihrer eigenen Rechtssprache kennen, auch Rechtskonzepte zu vermuten, die ihrer Rechtsordnung entstammen – auch wenn dies falsch ist, weil die Termini aus einer anderen (europäischen oder internationalen) Rechtssprache stammen. Im Bereich der Sprachwissenschaften wird der Einfluss der konkreten Sprache, in der eine Kommunikation stattfindet oder in der eine Person denkt, bereits seit langem diskutiert und auch belegt.107 In diesem Abschnitt soll es darum gehen zu zeigen, dass dies nicht als unbegründete Angst vor zu viel Naivität der Juristen abgetan werden sollte. Zu diesem Zweck wird eine Reihe von Bedenken aus der Literatur dargestellt, die in verschiedenen Zusammenhängen geäußert wurden und werden, die aber für die Zwecke dieser Untersuchung so zusammengefasst werden können, dass es jeweils um Bedenken wegen Sprachverwirrungen geht. a) Sprachverwirrung innerhalb einer Rechtsordnung Zum einen – man kann von einer „ersten Stufe“ sprechen – begegnen solche Bedenken bei Phänomenen innerhalb einer Rechtsordnung. Wenn ein Rechtsterminus in mehreren Zusammenhängen in derselben Rechtssprache verwendet wird, wird dann oft die als eingeschränkt angesehene „Einheit der Rechtsordnung“ 108 angeführt, das Dogma „der Einheitlichkeit und Widerspruchslosigkeit“ werde relativiert. 109 Während auf dieser Stufe meist eingeräumt wird, dass es einerseits dem Gesetzgeber nicht möglich sei, für jedes neue Konzept auch einen neuen Terminus einzuführen, weil er sich der Alltagssprache bedienen müsse, um allgemeinverständlich zu bleiben,110 wird gleichzeitig gefordert, 107 Zur sog. These des linguistischen Relativismus, die sich bis Wilhelm von Humboldt zurückverfolgen lässt, aus sprachwissenschaftlicher Sicht vgl. Glück (Hrsg.), Metzler Lexikon Sprache, 2016, S. 582 Stichwort „Sapir-Whorf-Hypothese“, für ausführliche Nachweisen zur Literatur; in Zusammenhang mit den Sprachfassungen in Europa Kjær, in: Sandrini (1999), 63 (67). 108 Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 1935, S. 45, der aber solch technischen Widersprüchen keine größere Bedeutung zumisst, wenngleich eine einheitliche Terminologie „bis zu einem gewissen Grade wünschenswert“ sei; zustimmend Zweigert, RabelsZ 15 (1949/1950), 5 (16); vgl. auch Engisch, in: Ferid (1958), 59 (68). 109 Grünhut, in: FS Frank 1930, 1 (19). 110 Engisch, in: Ferid (1958), 59 (70 f.); ähnlich Grünhut, in: FS Frank 1930, 1 (19).
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1. Kapitel: Methodik
dass zumindest die Rechtswissenschaft solche Konzepte terminologisch scharf voneinander trennen müsse, indem etwa von „Urkunde im Sinne des § 267 StGB“ gesprochen werde.111 b) Sprachverwirrung bei mehreren beteiligten Rechtsordnungen Die nächste Stufe sind Bedenken, weil ein neues Konzept postuliert wird, auf das der alte Terminus nicht mehr passt. Oft handelt es sich um Konzepte, die dem alten Konzept von seinem Anwendungsbereich her eng verwandt sind, aber einer neuen Rechtsordnung oder einem auf einer höheren Abstraktionsstufe angesiedelten System entstammen – solche Konzepte begegnen in vielen Zusammenhängen, etwa in der Rechtsgeschichte, Rechtsvergleichung, im Internationalen Privatrecht, im Recht internationaler Staatsverträge oder in staatenübergreifendem Recht, namentlich dem Europarecht.112 Diesen Gebieten ist gemeinsam, dass sie über mehrere Rechtsordnungen zugleich sprechen (mögen diese nebeneinander bestehen, wie bei der Rechtsvergleichung, oder nacheinander, wie in der Rechtsgeschichte). „Wollen wir etwa die historische Entwicklung des Kaufrechts vom römischen Recht zu einem mit dem römischen Recht historisch verbundenen modernen Recht untersuchen oder wollen wir die Kaufrechte der europäischen Staaten miteinander vergleichen, so bedürfen wir eines allgemeinen Begriffs des Kaufs, der weiter sein muß, als der Begriff des Kaufes nach deutschem bürgerlichen Recht“, schreibt Engisch113 und zeigt damit das Bedürfnis nach solchen übergeordneten Konzepten für Rechtsgeschichte und -vergleichung auf. Begriffe (nach der Ausdrucksweise dieser Untersuchung: Konzepte) dieser Art nennt Engisch „universale Rechtsbegriffe“.114 Sie tauchen nicht nur in den erwähnten Gebieten Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung, sondern insbesondere auch im Internationalen Privatrecht auf, 115 allgemeiner gesprochen also immer dann, wenn sich die Diskussion nicht innerhalb des festgefügten Rahmens einer einzigen Rechtsordnung bewegt, sondern mehrere Rechtsordnungen in den Blick nimmt. Auch hier wird im Folgenden von „universalen Rechtskonzepten“ gesprochen. 116 Mit „universal“ ist dabei keine weltweite Geltung gemeint, sondern es soll ein mehrere Einzelrechtsordnungen umfas111
Engisch, in: Ferid (1958), 59 (71). Terminologische Probleme bei Rechtsvergleichung und Europarecht erwähnt auch Moréteau, in: Schulze/Ajani (2003), 405 (409). 113 Engisch, in: Ferid (1958), 59 (63), der hier „Begriff“ für das verwendet, was in dieser Untersuchung (vgl. oben die Definitionen) mit „Konzept“ bezeichnen wird. 114 Engisch, in: Ferid (1958), 59 (63). 115 Zu Parallelen der Diskussion hier und den sog. „Autonomisten“ im IPR siehe unten 1. Kap., D IV 2, S. 97 ff. 116 Das Konzept (und der Terminus) werden unten im 1. Kap., D IV, S. 94 ff., wieder aufgegriffen. 112
B. Präzisierung der Problemstellung
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sender Gedanke ausgedrückt werden. In diesem Sinn lassen sich auch europäische Rechtskonzepte teilweise als „universale Rechtskonzepte“ darstellen (näher unten 1. Kap., D IV, S. 94 ff.). c) Ausweichversuche: neue Termini für neue Konzepte Doch solche Konzepte müssen benannt werden, und die alten Termini gehen an der Sache vorbei. Die Verwendung eines aus einer Rechtsordnung bereits bekannten Terminus möchte man möglichst vermeiden: Teilweise muss man sich dann „mit vergleichsweise unjuristischen Begriffsbestimmungen wie z.B. dem eher wirtschaftlichen Begriff: ‚Austausch von Ware und Geld‘ begnügen, wobei vieles für das konkrete Recht Charakteristische unter den Tisch fallen mag, wie z.B. die Tatsache, daß der Kauf nach heutigem deutschem Recht ein Verpflichtungsgeschäft ist, das von der Eigentumsübertragung scharf getrennt ist“.117 Weiterhin kann man versuchen, „solche übernationale[n] Verallgemeinerungen […] durch Häufung von technischen Ausdrücken zu erzielen“, etwa im Versailler Vertrag „tous délais quelconques de prescription, péremption ou forclusion de procédure“.118 Eine vergleichbare Technik kann auch angewendet werden, wenn die (vorgeordnete) Frage, ob ein Rechtskonzept eines Mitgliedstaates oder ein autonomes gemeint ist, offenbleiben soll.119 Oft genug passiert es freilich, dass der alte Terminus dennoch auch für das neue Konzept verwendet wird, was sich möglicherweise gar nicht vermeiden lässt:120 Schließlich setzt die aktive Vermeidung „besetzter“ Ausdrücke auch voraus, dass bereits bei der Abfassung des Vertrags die juristischen Probleme erkannt sind; daher ist die Verwendung neutraler Termini auf „Sternstunden“ der internationalen Vertragspraxis beschränkt.121 Es ist oft und bereits früh darauf hingewiesen worden, dass die so mit bereits besetzten Termini bezeichneten Konzepte dann oft nicht autonom ermittelt werden, sondern dass die Konzepte „heimwärtsstreben“122 – dass der befasste 117
Engisch, in: Ferid (1958), 59 (63 f.) Dabei sei angemerkt, dass die Verwendung von „Begriff“ m.E. hier uneinheitlich ist: „Begriffsbestimmungen“ sind sicherlich „Konzeptbestimmungen“, wobei unter dem „wirtschaftlichen Ausdruck“ m.E. ein „wirtschaftlicher Terminus“ zu verstehen ist. 118 Rabel, RabelsZ 5 (1931), 241 (279). 119 I. Scholz, Das Problem der autonomen Auslegung des EuGVÜ, 1998, S. 65 mit Beispiel. 120 So W. F. Bayer, RabelsZ 20 (1955), 603 (626). 121 Rauscher, Internationales Privatrecht, 2017, Rn. 115; Riese, RabelsZ 26 (1961), 604 hält solche Bestrebungen für „gutgemeint“, aber unrealistisch; etwas positiver Moréteau, in: Schulze/Ajani (2003), 405 (406); mit einem positiven Beispiel bei der EWIV auch MüllerGugenberger, in: Müller-Gugenberger/Schotthöfer, Die EWIV in Europa, 1995, „Europäisches Recht“ Rn. 92; am Beispiel des Wertpapierrechts Einsele, ZHR 177 (2013), 50 (64). 122 Wahl, in: FS Nipperdey II 1965, 915 (930); Zweigert, RabelsZ 16 (1951), 387 (395); W. F. Bayer, RabelsZ 20 (1955), 603 (626); Riese, RabelsZ 26 (1961), 604 (609); Linke,
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1. Kapitel: Methodik
Richter die Termini also so versteht, wie er es aus seiner Rechtsordnung gewohnt ist; manche sprechen hier auch von einer „von deutscher Pfadabhängigkeit bestimmte[n] Auslegung“.123 Bei der in vielerlei Hinsicht der SE ähnlichen EWIV wurde auch die Gefahr gesehen, dass der Rechtsanwender „den Text durch die ‚Brille seiner Rechtsordnung‘ sieht und mit der Vorprägung nationaler Begriffsbildung zu einer national gefärbten Lösung kommt“.124 Auch aus England wird berichtet, dass Richter sich mit der autonomen Auslegung (zumindest anfangs) schwer taten.125 Dabei handelt es sich um Sprachverwirrung im eigentlichen Sinne: Von der Terminologie verführt ordnen Rechtsanwender den Termini falsche Konzepte zu. Schon Rabel bemerkte im Jahr 1931, dass es zu unauflösbaren Problemen beim Verständnis der Kollisionsnorm führt, wenn der eine Weg eingeschlagen wird, „der in der Tat ungangbar ist, daß man nämlich in einer Rechtssprache [gemeint ist hier die des Kollisionsrechts], die sich derselben Termini bedient wie das eine oder andere [Sachrecht], einen Begriff wechselnden Inhalts [nämlich den des Sachrechts bzw. der verschiedenen Sachrechte] erfassen will“.126 Diese Sprachverwirrung ist auch der Grund für die bereits oben erwähnten Versuche, den bereits besetzten Termini auszuweichen. Die erwähnten Ausweichmanöver können sich daher als Reaktion auf dieses „Heimwärtsstreben“ – man kann insofern von einer dritten Stufe sprechen –
RIW 1977, 43 (43). Als Erster beobachtete diese Entwicklung wohl Bartin, der „Entdecker“ des Qualifikationsproblems, zitiert bei Wahl, in: Wolff (1950), 298 (306). In neuerer Zeit weisen auf Verständigungsprobleme bei der Verwendung bereits besetzter Termini hin: Nehne, Europäisches IPR, 2012, S. 15; Kaindl, in: Reichelt (2006), 37 (37 ff.). Ähnlich (verschiedene Auslegungsergebnisse wegen der verschiedenen Methoden) Rittner, in: FS Hüffer 2010, 843 (844); Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009. Eine andere Verwendung von „Heimwärtsstreben“ bezeichnet die Tendenz vor allem der Gerichte, möglichst zur Anwendung ihres eigenen Sachrechts zu gelangen, vgl. dazu mit zahlreichen Nachweisen Kropholler, Internationales Privatrecht, 2006, S. 42 f. (§ 7 I). Davon wird im Folgenden nicht die Rede sein. 123 Vossius, ZIP 2005, 741 (742, Fn. 15). 124 Müller-Gugenberger, in: Müller-Gugenberger/Schotthöfer, Die EWIV in Europa, 1995, „Europäisches Recht“ Rn. 172. Auch hier wird in einer „historisch-rechtsvergleichende[n] Methode“ eine Abhilfe gesehen, Rn. 173. 125 Vgl. den Fall R. v Henn and Darby [1978] 2 CMLR 688, 691, Rz. 18 ff., in dem der Court of Appeal zunächst Zweifel daran hatte, ob die Subsumtion eines Einfuhrverbots unter die „mengenmäßige Beschränkung“ in Art. 34 AEUV gegen den Grundsatz der „literal rule“ verstoße; bejahend mit europäischer Auslegung dann in der nächsten Instanz R. v Henn and Darby [1981] AC 850, 904 ff. per Lord Diplock. Hierzu und zum europäischen Einfluss auf die englische Methodik Schillig, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2015, § 25 Rn. 25; zum Grundsatz der literal rule siehe Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, Rn. 133 ff. 126 Rabel, RabelsZ 5 (1931), 241 (247 f.).
B. Präzisierung der Problemstellung
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dazu auswachsen, dass Termini aus einer einheitlichen Sprache gefordert werden. Dies kann eine in einem Mitgliedstaat bereits verwendete Sprache sein.127 Dabei ist dann darauf zu achten, dass damit nicht Rechtskonzepte aus der „Heimat“-Rechtsordnung übernommen werden; daher wird eine solche Sprache meistens abgelehnt.128 Andere verweisen auf die Existenz eines „international English“, das sich von England weitgehend abgekoppelt habe (etwa im Völkerrecht129) und gegenüber dem jetzigen Sprachenregime vorzugswürdig sei.130 Zur Vermeidung von Überschneidungen und (damit einhergehend) Missverständnissen ist auch gefordert worden, zu Terminologien auf Kunstsprachen (wie Esperanto oder Volapük131) überzugehen, besonders populär im akademischen Bereich ist auch nach wie vor das Lateinische.132
127
Meist geht es um Englisch – „of course, this common language is English“ – so Moréteau, in: Schulze/Ajani (2003), 405 (406) (siehe auch unten Fn. 130); Nehne, Europäisches IPR, 2012, S. 15; Reichelt, in: Sprache und Recht, 1 (7 f.). 128 Insbesondere Englisch aus diesem Grund ablehnend Nehne, Europäisches IPR, 2012, S. 16; Reichelt, in: Sprache und Recht, 1 (8); Sturm, EuLF 2002, 313 (318). Als wenig realistisch bezeichnet auch Moréteau, in: Schulze/Ajani (2003), 405 (415) Dänisch oder Finnisch, die er ohnehin nur deswegen in Erwägung zieht, weil sie besonders wenig gesprochene Sprachen sind, die daher eine europäische Rechtssprache relativ wenig prägen würden. 129 Moréteau, in: Schulze/Ajani (2003), 405 (405 f., 412) mit Nachweisen für Termini, die in England und im Völkerrecht auf verschiedene Konzepte verweisen; allgemein zu einem „World English“ Phillipson, English-only Europe?, 2003, S. 163 ff. 130 Insbesondere die hohen Kosten (S. 413) und die nur scheinbare Gleichberechtigung der Sprachen („an illusion“, S. 414) bewegen Moréteau, in: Schulze/Ajani (2003), 405 (416 f.) dazu, ein „international English“ oder „vehicular English“ zu verwenden und an den Universitäten weiterzuentwickeln, bis es von Rechtskonzepten des common law unabhängig ist. Moréteau plädiert daher dafür, das Deutungsmonopol der Engländer über das Englische zu brechen, da er bei der gegenwärtigen Situation die Gefahr sieht, dass auch englische Rechtskonzepte unbewusst und übermäßig in die europäische Rechtsordnung übernommen werden. Auch sein Plädoyer für die Sprache eines Mitgliedstaats ist daher der Versuch, die Sprachverwirrung durch die Verwendung der Rechtssprache eines Mitgliedstaats zu überwinden. 131 Esperanto aus allgemeinen sprachpolitischen Erwägungen begrüßend Phillipson, English-only Europe?, 2003, S. 171 ff.; dagegen Moréteau, in: Schulze/Ajani (2003), 405 (415); Martiny, ZEuP 1998, 227 (235). 132 Sturm, EuLF 2002, 313 (319 f.); Repgen, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1997, 9 (31) („wünschenswert, aber unwahrscheinlich“); nicht abgeneigt auch Zweigert, RabelsZ 16 (1951), 387 (396); Nehne, Europäisches IPR, 2012, S. 19 auch aus dem Gedanken heraus, dass bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts Latein noch eine lingua franca des Rechts in Europa darstellte (S. 17 f.); in diesem Sinne bereits Ajani, in: Schulze/Ajani (2003), 349 (351); Moréteau, in: Schulze/Ajani (2003), 405 (408). Auch Ajani, in: Schulze/Ajani (2003), 349 (350) sieht den Gebrauch von Latein auf Konferenzen und in Veröffentlichungen zur Rechtsvergleichung als Beleg für die Notwendigkeit einer neutralen und gemeinschaftlichen Terminologie. Kritisch dagegen Müller-Gugenberger, in: Müller-Gugenberger/Schotthöfer, Die EWIV in Europa, 1995, „Europäisches Recht“ Rn. 88.
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Die angeführten Lösungsansätze sollen hier vor allem zeigen, dass Bedenken wegen einer Sprachverwirrung eine verbreitete Sorge sind. Auch wenn die Klarheit und Unmissverständlichkeit der europäischen Rechtssprache ein rechtspolitisch wünschenswertes Ziel ist, sollen hier keine unrealistischen Forderungen wie die nach einer alternativen Rechtssprache erhoben werden. 133 Diese Untersuchung versteht sich als ein Beitrag zur Situation de lege lata und sieht ihre Aufgabe darin, für die Probleme und Schwierigkeiten, die sich aus dem geltenden Recht ergeben (und wohl auch noch lange ergeben werden), zu sensibilisieren. Im Übrigen muss jedenfalls die Forderung nach einer alternativen Rechtssprache immer gegen das legitime Interesse der Bürger an einem Recht in ihrer Sprache abgewogen werden. Recht, das für sie gilt, muss auch in ihrer Sprache verfügbar sein. Unionsbürger haben insofern ein „Recht auf Sprache“.134 Dabei ist es von nachrangiger Bedeutung, wenn das Recht dann nicht in der Rechtssprache der Juristen aus dem Heimatland der Bürgers verfasst ist. Den Juristen auch in ihrer Eigenschaft als „Übersetzer“ zwischen Rechtsordnung und Laien (vgl. dazu oben 1. Kap., A V, S. 38) ist es dabei in der Regel wohl eher zuzumuten, auch bei identischen Termini zwischen verschiedenen Rechtskonzepten zu unterscheiden, als dem Bürger ein (für die Juristen seines Heimatlandes möglicherweise weniger missverständliches, dafür für ihn selber aber gänzlich) unverständliches Recht.135 2. Sprache als Vorverständnis In diesem Abschnitt soll versucht werden, die These der Sprachverwirrung mit der Denkstruktur des Vorverständnisses neu zu formulieren.
133 Auch die meisten Vorschläge im Fazit (unten 5. Kap., S. 358) verstehen sich als Beiträge zur Situation de lege lata, und versuchen, Wege aufzuzeigen, die Terminologie im Rahmen des geltenden (Sprachverfassungs-)Rechts zu verbessern. 134 Vgl. zum Urteil „Skoma Lux“ des EuGH (keine Geltung von EU-Recht gegenüber Bürgern aus beigetretenen Staaten, wenn es noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht wurde) oben Einl. C, S. 15, Fn. 85; zum „Recht auf Sprache“ Pfeil, Lebende Sprachen 41 (1996), 1 (1 ff.) (noch offen); für Verfassungsrang schließlich Pfeil, in: de Groot/Schulze (1999), 125 (146 f.); affirmativ auch Berteloot, in: Schulze/Ajani (2003), 357 (361 ff.). Zu Grenzen der Berücksichtigung der Muttersprache in mehrsprachigen Gesetzestexten allgemein Dölle, RabelsZ 26 (1961), 4 (32 f.). 135 Vgl. in diesem Sinn auch Engisch, in: Ferid (1958), 59 (70 f.), der dem Gesetzgeber wegen der Allgemeinverständlichkeit seiner Sprache zubilligen will, auch mehrdeutige Termini zu verwenden, jedoch von der Rechtswissenschaft eine klare terminologische Trennung fordert.
B. Präzisierung der Problemstellung
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a) Vorververständnis als hermeneutisches Konzept Die Idee des „Vorverständnisses“ entstammt der philosophischen Disziplin der Hermeneutik, die sich mit dem Verstehen menschlicher Äußerungen befasst136 und daher auch für die Auslegung von (juristischen) Texten Relevanz hat. Mit „Vorverständnis“ ist dabei das Vorwissen gemeint, das eine notwendige Voraussetzung ist, um überhaupt ein Problem an einen Text „heranzutragen“.137 Ohne ein solches Vorverständnis sind schon das Begreifen des Problems und das Formulieren einer Fragestellung nicht möglich, daher kann sich der Verstehende von seinem Vorverständnis auch nicht freimachen, wenn er an den Text herantritt. Eine Norm wird nur interpretiert, wenn ein gewisses Vorverständnis darüber besteht, was diese Norm sinnvollerweise aussagen kann; dieses Vorverständnis ist eine notwendige Bedingung des Verstehensvorgangs.138 Zugleich fließt das Vorverständnis notwendigerweise in das Verständnis ein, da es schon die Fragestellung beeinflusst hatte. Auch das dem Verstehensvorgang folgende Verständnis ist daher nicht frei von Vorverständnis. In der Praxis werden etwa die Auslegung des Obersatzes und die Betrachtung des Sachverhalts nicht getrennt nacheinander geschehen, sondern als ineinander übergehend („Hin- und Herwandern des Blicks“).139 Aber selbst wenn der Vorgang wiederholt wird (also die nach und nach verstandene Äußerung das frühere Vorverständnis immer weiter anreichert), ist das Verständnis noch immer vom Vorverständnis beeinflusst. Diese Problematik ist als „hermeneutischer Zirkel“ 140 bekannt, der die wiederkehrende, sich im Kreis drehende Bewegung von Vorverständnis und Deutung kennzeichnen soll. b) Vorverständnis in der Rechtswissenschaft In der juristischen Literatur ist die Bedeutung der Hermeneutik für die Jurisprudenz bereits früh erkannt und unterstrichen worden.141 Besondere Aufmerk-
136
Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 116; zur Geschichte der Hermeneutik Dilthey, Gesammelte Schriften Bd. V, 1968. 137 Vgl. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 1970, S. 135. 138 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 1970, S. 135 (Gadamer paraphrasierend). 139 Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 1963, S. 15; Bydlinski, Methodenlehre, 1991, S. 421 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., 1975, S. 185; Dörner, StAZ 1988, 345 (346); ausführlicher Engisch, Einführung in das juristische Denken, 2010, S. 117 ff. (Fn. 5) auch zur Kritik, etwa: Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 1970, S. 76. 140 Vgl. dazu allgemein Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 116 f.; Müller/Christensen, Juristische Methodik I, 2013, Rn. 272. 141 Bereits vor Esser (und Gadamer) weist Coing auf die Bedeutung der modernen Hermeneutik auch für die juristische Auslegung hin: Coing, Die juristischen Auslegungsmethoden und die Lehren der allgemeinen Hermeneutik, 1959; Hassemer, Tatbestand und Typus, 1968; aus jüngerer Zeit Fleischer, RabelsZ 75 (2011), 700 (705 f.) m.w.N. Daneben werden
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1. Kapitel: Methodik
samkeit hat dabei Essers Konzept vom Vorverständnis im Besonderen erfahren,142 das auch für die sprachliche Seite des Vorverständnisses Aufschlüsse liefert. Esser beginnt sein 1970 erschienenes Werk „Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung“ mit einem verheerenden Befund der Anwendung der Methoden in der damaligen Rechtsprechung: Entscheidungen seien durch rechtspolitische Überlegungen oder durch das Bestreben nach „wirtschaftlich sinnvollen“ oder „sachlich gerechten“ Entscheidungen geprägt, während „unsere akademische Methodenlehre dem Richter weder Hilfe noch Kontrolle“ bedeute.143 Die Begründung greife dann zwar oft auf die überkommenen Argumentationsmuster zurück, doch handelte es sich dabei um „Leerformeln und bloße Bekenntnisaussagen“.144 Esser führt dies darauf zurück, dass die Wertungen, die bei „allen halbwegs problematischen Entscheidungen die zentrale Bedeutung“ 145 hätten, aus dem rationalen Kanon der Schulmethoden ausge-
auch Werke von Larenz, Kriele und F. Müller genannt, vgl. überblickshaft zur Geschichte der juristischen Hermeneutik Hassemer, ARSP 1986, 195 (insb. 201 ff.). Zur HermeneutikRezeption von Larenz, der sich von Esser insbesondere durch größeres Vertrauen in eine objektiv-teleologische Methodik unterscheidet, vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., 1975, (erst ab dieser Auflage, vgl. das Vorwort und den Abschnitt S. 181–192, zu Esser S. 187 f.); Larenz, in: FS E.-R. Huber 1973, 291 (297 ff.); Frommel, Hermeneutik-Rezeption bei Larenz und Esser, 1981; Canaris, in: Grundmann/Riesenhuber (2010), 263 (295 f., 303 f.); kritisch Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2015, Rn. 801 ff. 142 Allgemein zur Nachwirkung Essers vgl. Grundmann, in: Grundmann/Micklitz/Renner, Privatrechtstheorie, 2015, S. 45 ff.; Köndgen, in: Grundmann/Riesenhuber (2007), 103 (116–119). Zu zwei neueren Rezeptionen des Vorverständnisses durch Rüthers und Habermas vgl. Kübler, in: FS Esser 1995, 91 (95 ff.). Zur Bedeutung des Vorverständnisses auch Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 121 f.; die Forderung nach Offenlegung unterstützend auch Müller/Christensen, Juristische Methodik I, 2013, Rn. 268 ff.; Hassemer, ARSP 1986, 195 (210 f.); Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2015, Rn. 723 f., 801 ff., insb. 813 f.; Everling, EuR 1994, 127 (141); weitere Nachweise bei Picker, JZ 1988, 1 (3 f., insbesondere Fn. 23). Auch Rüthers’ Arbeiten zur „Ideologieanfälligkeit“ von Juristen teilen über weite Strecken Terminologie und Gedankengänge Essers, vgl. Rüthers, Ideologie und Recht im Systemwechsel, 1992, S. 114 ff. (zur jeweiligen Staatsideologie als „Vorverständnis“ sowie zu Folgerungen für die Methodik); NJW 1996, 1249 (1252) (zum „Vorverständnis“ bei vorgeblichem Argumentieren mit der „Natur der Sache“); Die unbegrenzte Auslegung, 2017 (Erstauflage 1968 schon vor „Vorverständnis und Methodenwahl“; vgl. insb. das Nachwort zur 8. Aufl., S. 514 f.); zu Rüthers kritisch Kübler, in: FS Esser 1995, 91 (95 ff.). 143 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 1970, S. 7 (Hervorhebung im Original). Zum Hintergrund und zur Wirkung des Werkes vgl. Grundmann, in: Grundmann/Micklitz/Renner, Privatrechtstheorie, 2015, S. 45 ff., zu letzterer auch Köndgen, in: Grundmann/Riesenhuber (2007), 103 (116–119). 144 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 1970, S. 9. 145 Esser, ebda., S. 9.
B. Präzisierung der Problemstellung
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schlossen seien, sodass für die Wertungen auf das Vorverständnis zurückzugreifen sei.146 Dieses „Vorverständnis des Rechtsanwenders ist weder homogen noch einheitlich, sondern entstammt Lernprozessen unterschiedlicher Art – vom Ausbildungsgang bis zu dem wichtigsten Lernmaterial, den exemplarisch begriffenen Konfliktfällen, mit denen er persönlich und beruflich, sei es selbst, sei es durch Identifizierung mit den Traditionen seines Gerichts und seiner Rechtsprechung, vertraut wurde“. 147 Neben der juristischen Ausbildung weist Esser auch auf die Sprache hin als „das Medium, in welchem sich die Urteilsvorstellungen bilden. Auch sie ist ein Stück Vorverständnis. In ihr sind kognitive und volitive Elemente der Beurteilung untrennbar verbunden in einem vorbestimmten Schema der Erfahrung […]. Das gilt für die Umgangssprache nicht weniger als für die technische Sprache des Juristen. Die einer Sprache eigentümlichen Modalitäten der Sozialanschauung werden mit jedem Gebrauch der Sprache wieder aktualisiert, ohne daß darüber Rechenschaft gegeben würde. Schon damit wird der Interpretationsvorgang gesteuert, worüber sich jedoch der Interpret keine Rechenschaft gibt. So konstituiert sich mit diesen der Sprache inhärenten Denkschemata ein ‚Traditionszusammenhang‘, der oft Generationen hindurch wirksam bleibt, bis sich plötzlich neue Zusammenhänge erschließen. Über solchen unbewußten Vollzug von Traditionen hat die Jurisprudenz bisher keine Klarheit“.148
Dieser Gedanke ist verallgemeinerbar149 und lässt sich auch auf die Sprachverwirrung anwenden: In einem mehrsprachigen Recht gehen Rechtsanwender aus verschiedenen Mitgliedstaaten von unterschiedlichen Seiten an die Norm heran. Nicht nur verfügen sie alle über unterschiedliche Ausbildungserfahrungen in ihren jeweiligen nationalen Rechtsordnungen, sie werden auch jeweils (zumindest hauptsächlich) die ihnen geläufige Sprachfassung heranziehen (jedenfalls ist ein Heranziehen aller Sprachfassungen illusorisch150). Diese Sprachfassung aktiviert dann die über die nationale Rechtssprache bekannten Rechtskonzepte als Teil des „Vorverständnisses“, die dann auch an die europäische Rechtsnorm „herangetragen“ werden. Es wird zumindest Teil auch der Fragestellung und -formulierung bei der autonomen Auslegung. Damit ist nicht gesagt, dass eine autonome Auslegung nicht mehr möglich wäre, allerdings besteht durch 146
Esser, ebda., S. 9 f. Esser, ebda., S. 10 (Hervorhebung im Original). 148 Esser, ebda., S. 10 (Hervorhebung im Original). 149 Esser bezog sich hauptsächlich auf die Frage, inwiefern Wertungen bei der Rechtsauslegung zu berücksichtigen seien, und bezog eine vermittelnde Position „zwischen einem streng dogmatisierten Recht und einem voll ideologisierten Recht“ (Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 1970, S. 138). Von beiden Seiten des damaligen gesellschaftlichen Diskurses wurde er in der Folge kritisiert: von der kritischen Frankfurter Schule als zu unpolitisch, von dogmatisch-positivistischer Seite als zu offen gegenüber Wertungen, ähnlich wie dies später Dworkin in den USA passierte, vgl. Grundmann, in: Grundmann/Micklitz/Renner, Privatrechtstheorie, 2015, S. 58 f.; Köndgen, in: Grundmann/Riesenhuber (2007), 103 (114 f.). 150 Vgl. Derlén, Multilingual Interpretation of European Union Law, 2009, S. 341 ff. 147
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1. Kapitel: Methodik
das nationale Vorverständnis eine gewisse Anfälligkeit für eine Sprachverwirrung im oben beschriebenen Sinn.151 c) Lösungsansatz: Offenlegen des Vorverständnisses Als Lösung dieses Problems der vermeintlichen Nichtausübung und tatsächlich bloßen Ausblendung der unvermeidlichen Wertungen schlägt Esser vor, die Bezugsrahmen, die das Vorverständnis bilden, explizit in Rechnung zu stellen152 und die „Herstellung eines Konsenses über die Vernünftigkeit einer Lösung im Rahmen der legal gegebenen Alternative“ als Teil des rationalen Auslegungsvorgangs zu akzeptieren. 153 Das Vorverständnis ist dabei nicht als (nicht mehr hinterfragbares) Vorurteil fehlzuverstehen,154 sondern ist ein als notwendig zu akzeptierender Teil des Erkenntnisvorgangs, aus dessen Notwendigkeit die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen sind. Die spätere Infragestellung des Vorverständnisses (insofern dann als Gegenbegriff zu einem „Vorurteil“) wird im Gegenteil durch das anfängliche Sich-Rechenschaft-Geben gerade erst ermöglicht. Bezogen auf diese Untersuchung führt das Offenlegen des sprachlich vermittelten Vorverständnisses zu Ergebnissen, die auch für Rechtsanwender mit anderem sprachlichen Vorverständnis eher akzeptabel sind. Ansonsten besteht jedoch die Gefahr, dass das Vorverständnis auch das Verständnis der europäischen Norm in ungebührlicher Weise prägt. Im Sinne Essers ist es also für die Auslegung europäischen Rechts hilfreich, sich über das (auch) sprachlich geprägte Vorverständnis im Klaren zu sein und dieses so weit wie möglich offenzulegen. Dabei geht es nicht darum, sich von jedem Vorverständnis freizumachen, dies ist nicht wünschenswert und wird auch etwa von Esser nicht befürwortet.155 Es ist jedoch hilfreich, sich klarzumachen, von welchem Vorverständnis 151 Ebenso (zum Europäischen IPR) Unberath/Cziupka, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, 2016, Einl. Rom II-VO Rn. 23: „Die Rechtsanwender in den einzelnen Mitgliedsstaaten sind zwangsläufig durch ein jeweils unterschiedliches nationales Vorverständnis normativer Zusammenhänge geprägt, vor dessen Hintergrund sie die Auslegung auch der Gemeinschaftsvorschriften vornehmen werden. Dieser hermeneutische Deutungsprozess erschwert eine genuin eigenständige Interpretation europäischer Begriffe“. 152 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 1970, S. 10 f. 153 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 1970, S. 9. 154 So tendenziell aber einige Kritiker, z.B. Picker, JZ 1988, 1 (9); ähnlich bereits vor Esser Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 1913, S. 82: „Die Auslegung ist das Resultat – ihres Resultats“. 155 Grundmann, in: Grundmann/Micklitz/Renner, Privatrechtstheorie, 2015, S. 12; I. Scholz, Das Problem der autonomen Auslegung des EuGVÜ, 1998, S. 161; Müller/Christensen, Juristische Methodik I, 2013, Rn. 269 („Die Forderung nach Objektivität meint nicht das Beseitigen, sondern Offenlegen der erforderlichen und der tatsächlich erfolgenden Wertungen“); Hassemer, ARSP 1986, 195 (211).
B. Präzisierung der Problemstellung
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aus man die Auslegung der europäischen Norm unternimmt, und gegebenenfalls auch, von welchem Vorverständnis Kollegen aus anderen Mitgliedstaaten eine solche Auslegung vornehmen. Inwieweit die Rechtsvergleichung im Rahmen des Auslegungskanons helfen kann, das Problem des Vorverständnisses zu lösen, wird unten diskutiert.156 II. Lösungsansatz: eine kohärente europäische Rechtssprache? Die Sprachverwirrung wird durch eine autonome Auslegung überwunden, die sich nicht an den Vorverständnissen der einzelnen Mitgliedstaaten orientiert. Dazu gehört auch die systematische Auslegung, der hier nicht vorgegriffen werden soll.157 Hier ist dennoch der Lösungsansatz zu nennen, den eine solche systematische Auslegung zumindest teilweise voraussetzt. Soweit es nämlich darum geht, einzelne Rechtstermini auszulegen – worauf diese Arbeit sich, wie bereits angemerkt,158 beschränken will –, kommt in Betracht, Termini im Sinn einer „Inter-Instrumental-Interpretation“159 so auszulegen, wie sie in anderen Rechtsakten derselben Rechtsordnung verstanden werden (für die SE käme also europäisches Primär- und Sekundärrecht in Betracht). Diese Form der systematischen Auslegung setzt eine konsequent verwendete Rechtssprache auf europäischer Ebene voraus. Denn wie oben dargelegt, 160 handelt es sich nur dann um denselben Terminus, wenn sämtliche Sprachfassungen übereinstimmen. Dies setzt voraus, dass dann, wenn ein neuer Rechtsakt verfasst wird, die Übersetzer161 wissen müssen, wo der Terminus in der Rechtsordnung – also im europäischen Primär- und Sekundärrecht – bereits verwendet wurde und ob bei dem neuen Rechtsakt dasselbe Konzept verwendet werden soll (was den exakt gleichen europäischen Terminus erfordert, also Abweichungen in allen Sprachfassungen ausschließt) oder nur ein ähnliches (auch dann sollte im Idealfall der Klarheit halber eine Abweichung in sämtlichen Sprachfassungen erfolgen, damit keine Verwirrung entsteht und nicht von jedem Rechtsanwender sämtliche Sprachfassungen herangezogen werden müssten). Eine solche kohärente Rechtssprache, die für gleiche Konzepte stets gleiche Termini verwendet, ist in einer mehrsprachigen Rechtsordnung nur mit erheblichem organisatorischem Aufwand zu erreichen, notwendige (wennngleich 156
Siehe 1. Kap., C I 2 und 3 und II 2, S. 59 f., S. 61 f., S. 64 ff. S. unten 1. Kap., C IV, S. 75 ff. 158 S. oben 1. Kap., A IV, S. 34. 159 Ausdruck nach Grundmann, RabelsZ 75 (2011), 882, dazu näher unten 1. Kap., C IV, S. 75 (Fn. 261). 160 S. oben 1. Kap., A III, S. 31. 161 Die hier der Verständlichkeit halber so genannt werden sollen – dogmatisch gesehen handelt es sich bei ihren Arbeitsergebnissen nicht um Übersetzungen, sondern um neue Originale. 157
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1. Kapitel: Methodik
möglicherweise nicht hinreichende) Bedingung ist jedenfalls eine Art „Wörterliste“ (wie das IATE-Wörterbuch der EU), die die vorhandenen Übersetzungen (bzw. Entsprechungen zwischen den Sprachfassungen) sammelt und zugänglich macht. Ist eine solche einheitliche Rechtssprache aber vorhanden, kann sie bei der autonomen Auslegung helfen und eine Orientierung an europäischen statt an nationalen Konzepten erleichtern. In dieser Arbeit soll auch anhand der noch zu diskutierenden Beispiele untersucht werden, ob eine kohärente Verwendung der Terminologie bereits existiert und inwiefern diese eine Hilfe bei der Auslegung darstellt.162 III. Lösungsansatz: Wörterbuch? Ein weiterer Lösungsansatz, um Sprachverwirrung zu vermeiden, könnte ein Wörterbuch sein. Ein solches Referenzwerk, das die Rechtsakte der EU begleiten würde, könnte ein Referenzwerk für Übersetzer und Rechtsanwender in ganz Europa werden. Allerdings ist die entscheidende Frage, wie ein solches Wörterbuch ausgestaltet sein müsste. Eine bloße Wörterliste wird in der juristischen Literatur als nicht ausreichend kritisiert, wenn es darum geht, zwischen verschiedenen Rechtsordnungen zu übersetzen. Einfache Wörterlisten seien nur innerhalb einer (mehrsprachigen) Rechtsordnung ausreichend,163 also z.B. in der Schweiz, und können dort die anerkannten Entsprechungen in der (mehrsprachigen) Rechtssprache aufzählen, wie sie auch in den Schweizer Gesetzen verwendet werden. Sie wenden sich dann an den Rechtsanwender aus dieser Rechtsordnung, etwa unseren Genfer Juristen, dem die Konzepte und die Termini in mindestens einer der Sprachen bereits bekannt sind. Wenn hingegen sich nicht nur die Sprachen unterscheiden, sondern auch die Rechtsordnungen, 164 sei dem Rechtsanwender durch das schlichte Aneinanderreihen von unkommentierten Übersetzungsvorschlägen nicht gedient, so die einhellige Meinung der Literatur.165 Der Rechtsanwender wisse dann noch immer nicht, welchen Übersetzungsvorschlag er im konkreten Fall verwenden solle. Daher sei vielmehr erforderlich, dass ein solches Wörterbuch auch Hinweise gebe, wie die verschiedenen Übersetzungsvorschläge anzuwenden seien, also auch das juristische Fachwissen entfalte und damit eine „Rechtsenzyklopädie“ (statt einer bloßen Wörterliste) darstelle.166 Neben den Rechtstermini müsste das Wörterbuch also 162
S. dazu näher unten 1. Kap., B IV, S. 56 ff., und 5. Kap., B, S. 361 ff. Lundmark, in: de Groot/Schulze (1999), 59 (63). 164 Vgl. oben 1. Kap., A V, S. 36 ff. zu den verschiedenen Konstellationen der Übersetzung. 165 Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, § 1 Rn. 26; Lundmark, in: de Groot/Schulze (1999), 59 (63). 166 Radbruch, Der Geist des englischen Rechts, 1965, S. 8 („Man kann ein englisch-deutsches Rechtswörterbuch nicht aufbauen auf die Übersetzung englischer in entsprechende 163
B. Präzisierung der Problemstellung
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auch die Rechtskonzepte (entsprechend definiert oder umschrieben) enthalten und diese gegenüberstellen, sodass dann im Einzelfall der Übersetzer entscheiden kann, ob Konzept und damit Terminus einer anderen Rechtsordnung und -sprache passen oder inwieweit eine Umschreibung nötig ist. Ein solches Wörterbuch wäre stets auf eine bestimmte Anzahl von Rechtsordnungen beschränkt;167 ein für die Rechtsordnungen Deutschland und England erstelltes deutsch-englisches Wörterbuch etwa könnte nicht ohne Weiteres auch von einem irischen oder österreichischen Juristen verwendet werden, wenn dieser keine Kenntnis seiner Nachbarrechtsordnung hat. Diese Überlegungen sind – von Versuchen in der Praxis, dennoch solche Wörterlisten auch für die Übersetzungen zwischen verschiedenen Rechtsordnungen zu erstellen, abgesehen – auf der theoretischen Ebene unwidersprochen, soweit es um die Übersetzung von einer Rechtsordnung in eine andere geht. Allerdings ist die Übertragung auf die europäische Ebene nicht ganz trivial. Auch hier geht es um eine Rechtsordnung (das europäische Recht, das die SE regelt), sodass ein Wörterbuch in Form einer Wörterliste möglich sein sollte.168 Allerdings besteht eine solche Wörterliste bereits in Form des IATE-Projekts der EU. Aus Sicht dieser Arbeit stellt sich aber die Frage, ob ein solches Wörterbuch nicht der geeignete Ort sein könnte, das Vorverständnis offenzulegen. Dann wäre eine Rechtsenzyklopädie nötig, die auch Konzepte der Mitgliedstaaten enthalten müsste. Im Laufe der Untersuchung soll zunächst geklärt werden, ob ein Bedarf für ein solches Wörterbuch besteht – insbesondere, ob ohne dieses Wörterbuch die zu befürchtende Sprachverwirrung tatsächlich existiert –, und dann ein Ergebnis dazu erarbeitet werden, ob und in welcher Form ein solches Wörterbuch für die SE-VO sinnvoll wäre.
deutsche Worte, sondern nur auf eine ausführliche Beschreibung der mit den Worten gemeinten Rechtsinstitutionen, so dass aus dem Wörterbuch unversehens ein Rechtslexikon wird.“); Lundmark, in: de Groot/Schulze (1999), 59 („Plädoyer für eine Rechtsenzyklopädie“); Schmidt-König, Die Problematik der Übersetzung juristischer Terminologie, 2005, S. 240 (Angabe von Definitionen nötig); ebenso Sandrini, in: Sandrini (1999), 9 (30 f.); Kaindl, in: Reichelt (2006), 37 (42) („Genauigkeit in der Rechtsterminologie kann nur durch rechtsvergleichende Kommentierung erzielt werden.“); Varano, in: Ajani u.a. (2007), 101 (102); gegen bloße Glossare (Wörterlisten) auch Nehne, Europäisches IPR, 2012, S. 15. 167 Darauf weist Schmidt-König, Die Problematik der Übersetzung juristischer Terminologie, 2005, S. 241 ff. hin (mit einer Untersuchung von Rechtswörterbüchern am Sprachenpaar Deutsch-Französisch und am Beispiel der Rechtsordnungen Deutschland und Frankreich). 168 Tatsächlich nennt auch Lundmark, in: de Groot/Schulze (1999), 59 (63) die Rechtsordnung der EU neben anderen mehrsprachigen – etwa Kanada oder Belgien – als eine, in der ein Wörterbuch in Form einer Liste möglich sei, freilich unter dem Vorbehalt (Fn. 18), dass dies „natürlich nur für die Gemeinschaftsebene, nicht aber für die noch mitgliedstaatlich geprägte Rechtsmaterie“ gelte.
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1. Kapitel: Methodik
IV. Lösung durch Rechtssetzung? Zum Verhältnis von Sprache und Recht Statt durch eine konsequente Auslegung (oben 1. Kap., B II, S. 53 f.) oder das Erstellen eines Wörterbuchs (1. Kap., B III, S. 54 f.) könnte die Lösung der Sprachverwirrungsproblematik auch vom Gesetzgeber kommen. Allerdings steht der europäische Gesetzgeber vor dem Problem, dass er nicht – wie dies in den einzelnen Mitgliedstaaten der Fall ist – eine bestehende Rechtsordnung und -sprache lediglich ausbauen und partiell anpassen muss, sondern dass die europäische Rechtsordnung (und -sprache) in weiten Teilen noch von ihm geschaffen werden muss. Einige Theoretiker gehen allgemein davon aus, dass sich Rechtskonzept und Rechtsterminus durch Koevolution miteinander entwickelt haben,169 doch taugt diese Sichtweise lediglich zur rückwärtsgewandten Beschreibung insbesondere nationaler, fertiger Rechtsordnungen, wo sich die Frage, was früher da war, das Recht oder die Sprache, nicht stellt. Als Handlungsanleitung für die noch im Entstehen begriffene europäische Rechtsordnung ist dies wenig hilfreich. Denn der europäische Gesetzgeber steht vor der Frage, wo genau er anfangen soll. Häufig ist es so, dass die Termini auf der europäischen Ebene früher entstehen als die Konzepte. Auf europäischer Ebene bestehen dann dank des Tätigwerdens des Gesetzgebers Gesetzestexte, die eine geringere Regelungsdichte aufweisen als nationale Regelungen. Definitionen fehlen oft; eine Einigung über Worte scheint einfacher zu sein als eine Einigung in der Sache. Der Gesetzgeber schafft also „Sprache ohne Recht“. Manche halten ein solches Tätigwerden des Gesetzgebers für voreilig.170 Aber wie soll sich der Gesetzgeber verhalten? Ist es vorzugswürdig, zunächst auf eine einheitliche Terminologie zu achten und darauf zu warten, dass sich die Konzepte dazu von selber einstellen – durch Diskussionen in der Rechtswissenschaft, vor allem aber durch Rechtsanwendung vor den Gerichten? Bis es dazu kommt, wären die europäischen Termini dann mit gar keinen oder gar den falschen Konzepten verbunden.171 Oder sollte der europäische Gesetzgeber besser mit der Gesetzgebung – den Worten – warten, bis eine Einigung über Konzepte erzielt ist? Dies scheint zunächst die bessere Alternative, allerdings stellt sich dann die Frage, wie eine Einigung in der Sache stattfinden soll, wenn keine Wörter bestehen, mit denen sie ausgedrückt werden kann? Wenn z.B. kein Rechtsakt durch die Verwendung eines Terminus Anlass gibt, über eine 169 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1997, S. 384 ff.; auch Hassemer, Tatbestand und Typus, 1968. 170 Vgl. insbesondere die rechtspolitische Kritik an der SE, bei der durch die zahlreichen Verweisungen das Problem der Regelungsarmut besonders ausgeprägt ist (dazu bereits oben Einl. B, S. 10, Fn. 57 und 58). 171 Vgl. Kjær, in: Sandrini (1999), 63 (71): „Die europäischen Rechtstexte sind sozusagen mit einer falschen Begrifflichkeit formuliert, die durch die Argumentationsprozesse des Europäischen Gerichtshofes allmählich in eine gemeinschaftsrechtliche Begrifflichkeit umzuwandeln ist.“
C. Methodik I: Europa
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bestimmte Frage zu diskutieren – etwa, was „Rechtspersönlichkeit“ auf europäischer Ebene heißen soll –, ist kaum vorstellbar, dass der EuGH dazu eine Definition erarbeitet, und auch eine wissenschaftliche Diskussion wird viel langsamer und weniger zielgerichtet verlaufen. Die angesprochenen Fragen berühren komplexe Zusammenhänge und können im Rahmen dieser Dissertation nicht in der gebotenen Tiefe in ihrer Allgemeinheit beantwortet oder auch nur behandelt werden. Die Untersuchung wird sich daher weder der Rechtssetzung im Allgemeinen widmen noch grundsätzlich über das Verhältnis von Sprache und Recht nachdenken können, sondern sich mit den konkreteren Fragen der Auslegung von Rechtstermini der SE-VO beschäftigen, wofür im Folgenden zunächst methodische Grundfragen zu klären sind. Zu den in diesem Abschnitt IV angesprochenen Fragen kann im Fazit (unten 5. Kap.) lediglich ein Ausblick erfolgen. V. Zusammenfassung und Lösungsansätze Ein mehrsprachiges Recht wie das der SE, das vor dem Hintergrund mehrerer verschiedensprachiger Rechtsordungen erst entsteht, erscheint anfällig für Sprachverwirrung durch sprachlich vermitteltes Vorverständnis der Rechtsanwender. Im Folgenden soll versucht werden, diese These zu belegen oder zu widerlegen. Dafür ist zunächst darzustellen, wie eine autonome Auslegung der SE-VO erfolgen kann, die Sprachverwirrung vermeidet. Dies erfolgt zweistufig, zunächst (C) abstrakt durch Darstellung der Auslegungsmethodik in Europa, wobei auf zwei der bereits erwähnten Lösungsansätze (das Offenlegen des Vorverständnisses sowie die systematische Interpretation) einzugehen ist, dann (D) unter spezieller Berücksichtigung der Besonderheiten der SE-VO. Danach (E) wird darauf eingegangen, für welche Termini autonome Konzepte ermittelt werden, um diese mit Auslegungen in der Literatur zu vergleichen und Belege für eine Sprachverwirrung zu finden.
C. Methodik Teil I: europäische Auslegungsmethoden C. Methodik I: Europa
Im Folgenden soll es darum gehen, die Auslegungsmethodik des europäischen Privatrechts darzustellen. Dabei kann eine umfassende oder allgemeingültige Darstellung nicht versucht werden, da dies den Schwerpunkt dieser Untersuchung verschieben würde.172 Vielmehr wird sich die folgende Skizzierung da-
172
Vgl. die deutlich umfangreicheren bzw. jedenfalls rein der Methodenlehre gewidmeten Werke etwa von Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2015; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013; Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009; Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009; zu einem breiteren Gebiet Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004.
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1. Kapitel: Methodik
rauf beschränken, die Auslegungsmethoden vorzustellen und die Besonderheiten zu würdigen, die sich aus den Eigenheiten der Regelung bei der SE-VO ergeben. Da auch dies bereits mehrfach unternommen wurde173 und den meisten Darstellungen kaum etwas Wesentliches hinzuzufügen ist, wird der folgende Abschnitt einen Schwerpunkt darauf legen, die Bedeutung und Einordnung der Rechtsvergleichung für die Auslegungsmethodik darzustellen, um die in diesem Kapitel erarbeiteten Fragen umzusetzen. Insbesondere soll es also darum gehen, wie eine autonome Auslegung möglich ist, die eine Sprachverwirrung durch das (durch die Rechtssprache vermittelte) Vorverständnis vermeidet. Die Notwendigkeit einer autonomen Auslegung des Gemeinschaftsrechts wird seit dem Urteil des EuGH „CILFIT“174 nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt. Als Ausdruck der Autonomie der Rechtsordnung der EU gilt dabei eine besondere Auslegungsmethodik, sodass man auch von einer sich zumindest entwickelnden europäischen Methodenlehre sprechen kann.175 Demzufolge ist auch die SE-VO anhand der Kriterien auszulegen, die für das europäische Sekundärrecht gelten, wobei innerhalb der einzelnen Auslegungsmethoden noch auf weitere Besonderheiten des Rechts zur SE einzugehen ist. Dabei sei nochmals darauf hingewiesen, dass eine autonome Auslegung keine von den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten isolierte Auslegung bedeutet.176 I. Kanon der einzelnen Auslegungsmethoden Die Methodik der Auslegung im Europarecht orientiert sich herkömmlicherweise maßgeblich an der des EuGH. Auch hier soll die Bedeutung des EuGH nicht in Frage gestellt werden, da die europäische Rechtsordnung zu einem größeren Teil als etwa die deutsche auf Richterrecht beruht.177 Dennoch sind 173
Zur Methodik der Auslegung speziell bei der SE-VO vgl. aus der Kommentarliteratur Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 9 SE-VO Rn. 16–19; Veil, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 9 SE-VO Rn. 81–87; aus der Aufsatzliteratur insbesondere Teichmann, ZGR 2002, 383 (402–409); sowie entsprechende Abschnitte in mehreren Dissertationen, etwa Lächler, Konzernrecht der SE, 2007, S. 71–76; Brandt, Hauptversammlung, 2004, S. 9–22; s.a. Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009. 174 EuGH, Rs. 283/81, Urt. vom 06.10.1982, Slg. 1982, 3415 („CILFIT“), Rz. 19 f. 175 Vgl. neben den oben in Fn. 172 genannten Werken auch Berger, ZEuP 2001, 4 („Auf dem Weg zu einem europäischen Gemeinrecht der Methode“); auch Schroeder, JuS 2004, 180; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 2016, Rn. 9.168; Fleischer, RabelsZ 75 (2011), 700 (701 ff., 708 f.). International sollte beachtet werden, dass „legal methodology“ dabei auch anders verstanden werden kann, vgl. Micklitz, Maastricht J. Eur. & Comp. L. 21 (2014), 589 (589 f.). 176 S. oben 1. Kap., A IV, S. 35 f.; zur autonomen Auslegung gerade auch der Verweisungsnormen siehe noch unten 1. Kap., D III und IV, S. 86 ff. 177 Dabei handelt es sich um eine faktische Entwicklung, eine Konsequenz insbesondere der geringen legislativen Regelungsdichte. Rein rechtsdogmatisch kommt einer Entscheidung des EuGH Bindungswirkung über das anhängige Verfahren hinaus nur insofern zu, als
C. Methodik I: Europa
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die oft sparsam begründeten Urteile des EuGH teilweise eine wenig dankbare Erkenntnisquelle für die Methodik.178 Im Folgenden wird daher versucht, von den zentralen Aussagen des Unionsrechts und des EuGH (insbesondere vom Urteil „CILFIT“) allgemeine Schlüsse zu ziehen und die Rechtsprechung des EuGH, insbesondere sich allgemein abzeichnende Tendenzen, als Beleg dafür heranzuziehen, ohne ein einzelnes Urteil, das dem nicht entspricht, sogleich als Gegenbeweis anzusehen. 1. Ausgangspunkt: Methoden nach von Savigny Meist wird die vom EuGH verwendete Auslegungsmethodik in der Literatur nach den auch im deutschen Recht verwendeten Methoden, die auf von Savigny zurückgehen,179 geordnet und im Detail als Abweichung (und gegebenenfalls Ergänzung) zu diesen Methoden beschrieben. Was auf den ersten Blick wie eine deutsche (und daher womöglich einseitige) Perspektive auf Europa klingt, ist jedoch schon deswegen berechtigt, weil auch der EuGH die Methoden in dieser Form beschreibt.180 Daher folgt auch die nachfolgende Darstellung dieser Einteilung. Nicht immer ganz unstreitig ist die Verwendung zusätzlicher, bei von Savigny nicht erwähnter Methoden. Die ökonomische Auslegung hat nicht zuletzt unter amerikanischem Einfluss erst in vergleichsweise jüngerer Zeit viel Aufmerksamkeit erfahren,181 lässt sich aber in den Methodenkanon einfügen, indem gesagt wird, Effizienz sei (je nach konkretem Rechtsgebiet) zumindest eines der Ziele des Gesetzgebers – letztlich lässt sich die ökonomische damit als teleologische Auslegung verstehen.182 2. Rechtsvergleichung als probates Auslegungsmittel? Klärungsbedarf besteht jedoch bezüglich der Frage, ob Rechtsvergleichung als Auslegungsmittel herangezogen werden kann. Zwar wird häufig darauf hingewiesen, bei der Auslegungsarbeit des EuGH spiele die Rechtsvergleichung (nach h.L.) Gerichte dann zur Vorlage verpflichtet sind, wenn sie davon abweichen wollen, Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 329 ff., besonders S. 339 m.w.N. 178 H. Roth, ZZP 113 (2000), 123 (124). 179 Vgl. von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Band I, 1840, S. 213 ff.: grammatisches, logisches, historisches und systematisches Element der Auslegung; dabei wurde insbesondere die „logische“ Auslegungsmethode weiter gebraucht als heute üblich, vgl. Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 115 f. zur Entwicklung. 180 Etwa EuGH, Rs. 283/81, Urt. vom 06.10.1982, Slg. 1982, 3415 („CILFIT“), Rz. 18– 20. 181 Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 2015; H.-B. Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 2012; m.w.N. auch die Beiträge von Taupitz, AcP 196 (1996), 114 (115 ff.); Fleischer, RabelsZ 75 (2011), 700 (724 f.). 182 Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 (532 f.).
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1. Kapitel: Methodik
keine besonders große Rolle.183 Doch damit wird die Bedeutung der Rechtsvergleichung leicht unterschätzt. Durch eine eigene Forschungsabteilung für Rechtsvergleichung und mit Richtern aus allen Mitgliedstaaten ist der EuGH nicht nur institutionell gut für rechtsvergleichende Arbeit gerüstet,184 bei Vorabentscheidungen äußern sich auch die Mitgliedstaaten zu den Verfahren, und in den Schlussanträgen der Generalanwälte sowie den Stellungnahmen der Kommission tauchen relativ häufig rechtsvergleichende Elemente auf.185 Auch wenn rechtsvergleichende Argumente in den Urteilen dann eher selten sind, spielen sie doch bei der Urteilsfindung, insbesondere in der Beratung, eine größere Rolle, wie (aktive und frühere) Richter des EuGH immer wieder beteuern.186 Aus normativer Sicht ist die Rechtsvergleichung als „universale Interpretationsmethode“187 allerdings umstritten. Zwar ist rechtspolitisch die rechtsvergleichende Auslegung deswegen wünschenswert, weil so zumindest vermieden werden kann, dass das Auslegungsergebnis im krassen Gegensatz zu den Gerechtigkeitsvorstellungen einer bestimmten Rechtsordnung steht und so die Akzeptanz des europäischen Rechts erhöht werden kann.188 Allerdings ist bei der Auslegung von dem auszugehen, was der für eine Rechtsordnung zuständige Gesetzgeber erlassen hat, nicht von den Gesetzen anderer Gesetzgeber.189 Für Europa wird daher teilweise vor einer unkritischen Übernahme unpassender Konzepte durch „Missbrauch“ der Rechtsvergleichung gewarnt190 und der autonome Charakter der Auslegung im EU-Recht betont; 191 hier kann auch 183
Hess, IPRax 2006, 348 (352 f.); Lächler, Konzernrecht der SE, 2007, S. 75. Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009, S. 293; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 (533); Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 200. 185 Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009, S. 293 mit Beispielen; Colneric, ZEuP 2005, 225 (229). 186 Pescatore, RIDC 32 (1980), 337 (337, 358); Kutscher, EuR 1981, 392 (401); Everling, RabelsZ 50 (1986), 193 (211); Everling, ZGR 1992, 376 (386); Everling, ZEuP 1997, 796 (802); Rodríguez Iglesias, NJW 1999, 1 (8); Lenaerts, ICLQ 52 (2003), 873 (905 f.); Colneric, ZEuP 2005, 225 (229); vgl. darüber hinaus aus der Literatur Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009, S. 293; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 189; Völter, Der Lückenschluß im Statut der Europäischen Privatgesellschaft, 2000, S. 226 ff. 187 So der Titel eines Aufsatzes von Zweigert, RabelsZ 15 (1949/1950), 5, der die Rechtsvergleichung universell anwenden will. 188 Allgemein zum internationalen Einheitsrecht Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 198 f. 189 Auch Bydlinski, Methodenlehre, 1991, S. 386 hält Rechtsvergleichung nicht bei einem positivistischen, sondern nur bei einem „wertbezogenen Rechtsbegriff“ für möglich. 190 Kahn-Freund, Mod. L. Rev. 37 (1974), 1 (2 ff.). 191 Das Argument findet sich etwa bei Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 (533), die dann eine „universale Auslegungsmethode“ der Rechtsvergleichung ablehnen, aber ihr eine Rahmen- und Kontrollfunktion zuerkennen wollen. 184
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nicht das Argument einer Offenheit gegenüber Konzepten aus den Nationalstaaten geltend gemacht werden, das sonst im Internationalen Einheitsrecht wegen dessen Kompromisscharakter überzeugt.192 3. Standpunkt dieser Untersuchung: Anwendbarkeit unter zwei Prämissen Der Streit kann jedoch entschärft und die Rechtsvergleichung unter zwei Vorbehalten als wertvoller Bestandteil des Auslegungsvorgangs anerkannt werden. Der erste Vorbehalt betrifft die Frage, inwieweit Ergebnisse der Rechtsvergleichung in das Auslegungsergebnis zu übernehmen sind. Vor einer vorschnellen Übernahme ist hier zu warnen. Mit dem Rechtsvergleich ist das Ergebnis der Auslegung noch nicht entschieden; einem solchen Verständnis könnte in der Tat mit Recht der Vorwurf der nicht-autonomen Auslegung entgegengehalten werden. Das Ergebnis der Rechtsvergleichung wird zwar selten so sein, dass in allen Rechtsordnungen der Terminus genau gleich verstanden, also mit einem jeweils identischen Konzept verknüpft wird. Aber auch in einem solchen unwahrscheinlichen Fall wäre das Auslegungsergebnis noch nicht vorgegeben. Wenngleich starke Gründe dafür sprechen, diese Auslegung auch für den europäischen Terminus vorzunehmen – immerhin hat der europäische Gesetzgeber den Wortlaut ja nicht zufällig gewählt –, können immer noch andere Auslegungskriterien ergeben, dass der europäische Gesetzgeber etwas anderes ausgedrückt hat. Im Regelfall wird der Rechtsvergleich aber ein breiteres Spektrum an Lösungen ergeben, die in den unterschiedlichen Rechtsordnungen zu finden sind.193 Diese verschiedenen Lösungen geben dann eine Art Rahmen vor, innerhalb dessen die europäische Lösung zunächst zu suchen sein wird. Die europäische Lösung könnte auch außerhalb des durch die nationalen Lösungen vorgegebenen Bereichs liegen.194 Die Rechtsvergleichung gibt aber in diesem Fall einen Ausgangspunkt vor. Eine Abstützung durch die anderen Auslegungsmethoden bleibt in jedem Fall erforderlich, die Rechtsvergleichung hat (lediglich) „Kontrollfunktion“.195 Eine so verstandene Rechtsvergleichung ist aus Sicht dieser Untersuchung zu begrüßen. Den oben genannten Argumenten der Befürworter ist ein weiteres hinzuzufügen. Im Hinblick auf die Sprachverwirrung handelt es sich dann um 192
So zum internationalen Einheitsrecht Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 199. 193 Dies vermutet auch W. F. Bayer, RabelsZ 20 (1955), 603 (627 f.). 194 Vgl. auch Bleckmann, in: Studien zum Europäischen Gemeinschaftsrecht (1986), 105 (121): „Es ist anzunehmen, daß die Gemeinsamkeiten der Rechtsbegriffe in den nationalen Rechtsordnungen den Kern des europäischen Begriffs bilden. Der europäische Begriff erstreckt sich aber auf diese Gemeinsamkeiten nicht notwendig. Außerdem kann er über diese Gemeinsamkeiten hinausgehen.“ 195 Gleichermaßen angesprochen bei Zweigert, RabelsZ 15 (1949/1950), 5 (17 f.), und Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 (533).
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1. Kapitel: Methodik
ein geeignetes Mittel, um das Vorverständnis eines jeden Rechtsanwenders offenzulegen. In einem Europa, in dem Rechtsanwender bis heute weit überwiegend zunächst in nationalen Rechtsordnungen ausgebildet werden, ist es hilfreich, sich zunächst bewusst zu machen, was jeder mehr oder minder unbewusst als selbstverständlich ansieht. Hier kommt die Fähigkeit der Rechtsvergleichung zum Tragen, dem Vergleichenden seinen eigenen Standpunkt bewusst zu machen.196 Insbesondere kann man die ja nicht gewollte unmodifizierte Übernahme des Konzepts eines einzelnen Mitgliedstaats überhaupt erst dann vermeiden, wenn man weiß, was die einzelnen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aussagen und wo sie sich unterscheiden, sodass sich eine Aussage darüber treffen lässt, wann eine Auslegung einseitig von einer Rechtsordnung beeinflusst ist. Ein zweiter Vorbehalt ergibt sich aus der Natur der auszulegenden Termini. Die Methode der Rechtsvergleichung kann nur dort fruchtbar sein, wo es um die Auslegung von Rechtstermini geht, die auch in der Rechtsordnung der Mitgliedstaaten eine Bedeutung haben.197 Sie kommt damit nur in den Fällen in Frage, in denen ein Rechtsterminus sowohl in der europäischen Rechtsordnung als auch in der mitgliedstaatlichen verwendet wird, und damit insbesondere in den hier relevanten Fällen, die eine Sprachverwirrung – so die Grundthese der „Sprachverwirrung“ – begünstigen. Gerade dort erscheint die Rechtsvergleichung zugleich als geeignetes Mittel, durch Offenlegen des Vorverständnisses eine Sprachverwirrung zu vermeiden. An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass diese Arbeit sich mit einer beschränkten Kategorie von Fällen der Auslegung befasst und sich auf Fälle der Auslegung einzelner Termini mit rechtlicher Bedeutung beschränkt (s.o. 1. Kap., A IV, S. 34). Damit beanspruchen die hier genannten Äußerungen auch keine Gültigkeit für alle denkbaren Fälle der Rechtsvergleichung, sondern lediglich für die, bei denen es um die Auslegung einzelner Termini geht. II. Rangordnung der Auslegungsmethoden Was das Verhältnis der vom EuGH verwendeten Methoden untereinander angeht, wird gewöhnlich in der Literatur gesagt, eine feste Rangordnung bestehe
196 Wird begründet, warum Rechtsvergleichung nötig oder nützlich sei, wird fast immer auch das vertiefte Verständnis von der eigenen Rechtsordnung genannt, vgl. nur Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, § 2 Rn. 20 f. 197 Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 201 nennt neben „normativen Merkmalen“ noch Generalklauseln; diese spielen jedoch für die SE-VO eine untergeordnete Rolle.
C. Methodik I: Europa
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nicht.198 Ein Konsens ist aber wohl dahingehend möglich, dass Wortlautauslegung 199 und historische Auslegung 200 weniger Bedeutung als im deutschen Recht zukommt, die teleologische dagegen deutlich wichtiger ist201 und teilweise mit der systematischen verschmilzt.202 Einigkeit besteht auch hinsichtlich der Prüfungsreihenfolge – zumindest teilweise: Hier wird in den Aufzählungen in der Literatur (fast) durchgehend der Wortlaut als erste Methode genannt.203 Auch in den Urteilen des EuGH bildet der Wortlaut regelmäßig den Ausgangspunkt der Prüfung. 204 Dies ist auch sachgerecht, da die Aufgabe des Wortlauts insbesondere ist, einen Rahmen für die Auslegung durch die anderen Methoden abzustecken.205
198
Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 (534), die aber eine Reihe von Richtlinien für verschiedene Konfliktfälle nennen; Lutter, JZ 1992, 593 (596); Fleischer, RabelsZ 75 (2011), 700 (719 f.). 199 Brandt, Hauptversammlung, 2004, S. 13; Anweiler, Auslegungsmethoden des EuGH, 1997, S. 168 ff.; Schroeder, JuS 2004, 180 (182); Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 9 SE-VO Rn. 16; Lächler, Konzernrecht der SE, 2007, S. 72; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 2016, Rn. 9.171. Dies scheint bei mehrsprachigen Gesetzestexten eine häufige Folge zu sein, Dölle, RabelsZ 26 (1961), 4 (19, 26). 200 Schroeder, JuS 2004, 180 (182); Brandt, Hauptversammlung, 2004, S. 15; Teichmann, ZGR 2002, 383 (404); Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 9 SE-VO Rn. 17; Lächler, Konzernrecht der SE, 2007, S. 75; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 2016, Rn. 9.174 f.; Veil, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 9 SE-VO Rn. 86; für eine zumindest im Sekundärrecht doch größere Rolle der historischen Auslegung dagegen Anweiler, Auslegungsmethoden des EuGH, 1997, S. 252 ff.; Riesenhuber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2015, § 10 Rn. 32. 201 Bleckmann/Pieper, in: Dauses, Hdb. EU-Wirtschaftsrecht (2016) B I Rn. 15; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 2016, Rn. 9.176; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 (531); Lutter, JZ 1992, 593 (602 f.). 202 Anweiler, Auslegungsmethoden des EuGH, 1997, S. 200; Brandt, Hauptversammlung, 2004, S. 14; Colneric, ZEuP 2005, 225 (227). 203 Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 2016, Rn. 9.170; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 (529 f.); Anweiler, Auslegungsmethoden des EuGH, 1997, S. 145 ff.; Schroeder, JuS 2004, 180 (182); Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 125 ff.; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 331; Riesenhuber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2015, § 10 Rn. 13 ff.; Bydlinski, Methodenlehre, 1991, S. 437 ff., auch schon S. 378 mit knapper Begründung (Ausgangspunkt ist das am einfachsten feststellbare Material); Brandt, Hauptversammlung, 2004, S. 11; Lächler, Konzernrecht der SE, 2007, S. 72; Teichmann, ZGR 2002, 383 (404); Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 9 SE-VO Rn. 16; Veil, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 9 SE-VO Rn. 82; anders lediglich Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, 1998, S. 145 ff., der mit der historischen Auslegung beginnt (ohne Begründung). 204 Vgl. Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 (529 m.w.N. in Fn. 7). 205 Zur Rahmenfunktion auch mit Nachweisen ausführlicher unten 1. Kap., C II 2, S. 67, Fn. 220.
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1. Kapitel: Methodik
1. Insbesondere: Die Einordnung der rechtsvergleichenden Auslegung Was die Rechtsvergleichung angeht, ist eine solche Einordnung dagegen schwieriger. In der Auslegungspraxis der deutschen Gerichte, aber auch der anderer europäischer Mitgliedstaaten spielt sie eine vernachlässigbare Rolle,206 sodass das Gemeinschaftsrecht eigene Kriterien für ihre Anwendung entwickeln muss.207 Meist wird die Rechtsvergleichung – bei von Savigny noch nicht vorgesehen – am Ende der klassischen Auslegungsmethoden als weitere ergänzende Methode genannt208 (seltener auch als Inspirationsquelle gewürdigt und der teleologischen Auslegung zugeordnet209). In den seltenen Fällen, in denen der europäischen Norm eine nationale als Vorbild diente,210 kann ein Rechtsvergleich als Mittel der historischen Auslegung eingeordnet werden. 2. Standpunkt dieser Untersuchung: Einordnung als Auslegung nach dem Wortlaut In diesem Abschnitt soll dargelegt werden, warum diese Untersuchung die Rechtsvergleichung als Bestandteil der Wortlautauslegung ansieht und warum es sich aus Sicht des Verfassers sogar um einen notwendigen Bestandteil handelt, sofern es um die Beurteilung rechtlicher Termini geht, die nicht definiert sind oder sonstwie ein europäisches Konzept erkennen lassen. In Gesetzen verwendete Ausdrücke können einen Alltagsgebrauch haben (im Alltagsgebrauch also mit einer bestimmten Bedeutung verknüpft sein) oder einer juristischen Fachsprache entnommen sein. Welcher Gebrauch maßgeb-
206 Vgl. mit Nachweisen Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 196–198; Ranieri, in: FS Nörr 2003, 777 (796 ff.). 207 Allgemein zum internationalen Einheitsrecht Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 223. 208 Martiny, RabelsZ 45 (1981), 427 (437 ff., 441 ff.); Schroeder, JuS 2004, 180 (183); Lächler, Konzernrecht der SE, 2007, S. 75; Lutter, JZ 1992, 593 (604 f.); ähnlich („Kontrollfunktion“) auch Zweigert, RabelsZ 15 (1949/1950), 5 (17); ihm folgend Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 224 („‚subsidiäres‘, wenngleich eigenständiges … Auslegungskriterium“). 209 Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 2016, Rn. 9.180, die die Rechtsvergleichung als Inspiration für mögliche Ziele des Gesetzgebers bei der teleologischen Auslegung einordnen; ebenso Bydlinski, Methodenlehre, 1991, S. 461 ff.; ähnlich Kropholler, Internationales Einheitsrecht, 1975, S. 278 („Namentlich bildet sie eine sinnvolle Ergänzung der teleologischen Auslegung, in deren Dienst sie letztlich steht.“); wieder anders (systematisch) mit konkretem Fallbeispiel M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569 (577 f.). 210 Der Rechtsvergleich stellt in diesem Fall also gerade keine eigenständige Auslegungsmethode dar; zu diesen beiden voneinander zu trennenden Verwendungsmöglichkeiten der Rechtsvergleichung vgl. Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 189 (ff.).
C. Methodik I: Europa
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lich ist, kann im Einzelfall danach zu beurteilen sein, an wen sich der Gesetzgeber mit seinem Gesetz primär wendet.211 Ein besonderer rechtstechnischer Sprachgebrauch ist vor allem in den „klassischen Materien des ‚Justizrechts‘, nämlich [im] Zivil-, Handels- und Strafrecht“ zu erwarten,212 da sich der Gesetzgeber dort speziell an Juristen richtet, die diese Normen anzuwenden und den Laien durch Beratung zu vermitteln haben. Dieser Sprachgebrauch geht dann dem Alltagsgebrauch vor.213 Außerdem ist auch bei Termini aus der Alltagssprache zu berücksichtigen, dass im Laufe der Zeit zunächst alltagssprachlich verwendete Ausdrücke durch die Verwendung in Gesetzen zunehmend konkreter definiert werden.214 Nach der Einteilung Bydlinskis ist die SE-VO als relativ technisches Recht primär an Juristen gerichtet und entsprechend technisch auszulegen. Dazu kommt, dass bei in hohem Maße rechtlich geprägten Termini wie „Aktie“ der Wortlaut ohne Rückgriff auf rechtliche Normen gar nicht ermittelbar ist. Der Terminus „Aktie“ hat außerhalb einer Rechtsordnung keine eigene Bedeutung – auch wenn er im alltäglichen Sprachgebrauch möglicherweise weniger präzise verwendet wird als im juristischen Bereich, ist damit doch stets das Rechtskonzept einer Rechtsordnung gemeint. Ähnlich ist dies etwa, wenn laiensprachlich der Grundstückseigentümer als „Hausbesitzer“ bezeichnet wird – wobei man beim Terminus „Besitz“ noch mit größerer Berechtigung von einem laiensprachlichen Gebrauch sprechen könnte, da dieser jedenfalls älter ist als die Ausbildung einer deutschen juristischen Fachterminologie. Dies ist bei den hier untersuchten Termini, etwa „Rechtspersönlichkeit“, nicht der Fall. Falls der Terminus überhaupt in der Laiensprache verwendet werden sollte, wäre damit wohl immer nur das entsprechende juristische Konzept gemeint, auch wenn der Verwender nicht genau wissen sollte, was darunter zu verstehen ist. Der Verweis auf die Alltagssprache hilft dann nicht weiter. Kernaussage des Urteils „CILFIT“ des EuGH ist jedoch, dass der Wortlaut in allen Sprachen verbindlich ist.215 Der Wortlaut wurde ja schließlich vom europäischen Gesetzgeber mit Bedacht gewählt und soll etwas bedeuten (und nicht bedeutungslos sein). Wenn aber die europäische Norm keine Definition aufweist (wie so oft) und Bedeutungen in Rechtsordnungen unberücksichtigt blieben, bedeutet der Wortlaut von Wörtern wie „Aktie“ – und nur um solche rechtlich relevanten
211 Bydlinski, Methodenlehre, 1991, S. 438 f.; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 129. 212 Bydlinski, Methodenlehre, 1991, S. 439. 213 Bydlinski, Methodenlehre, 1991, S. 439. 214 Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 129. 215 EuGH, Rs. 283/81, Urt. vom 06.10.1982, Slg. 1982, 3415 („CILFIT“), Rz. 18.
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1. Kapitel: Methodik
Termini geht es in dieser Untersuchung – nichts. Dies stünde mit „CILFIT“ nicht im Einklang.216 Anhaltspunkte für den Gehalt des Wortlautes können daher nur die verschiedenen Rechtsordnungen geben, die den Terminus kennen. Aus Sicht dieser Untersuchung spricht zudem noch ein weiterer Punkt für die Auseinandersetzung mit den Konzepten der Mitgliedstaaten: Die Konzepte sind ohnehin bereits Teil des Vorverständnisses. Es wäre weltfremd anzunehmen, dass „Rechtspersönlichkeit“ oder „Aktie“ in der SE-VO grundsätzlich völlig unabhängig von den Konzepten der Mitgliedstaaten jeden beliebigen Inhalt annehmen könnten, wenn dieser sich aus System und Telos ergäbe. Zum einen sind System und Telos ohnehin oft wenig ergiebig.217 Aber auch mit einer systematischen oder teleologischen Begründung würde kein Jurist je auf die Idee kommen, „Rechtspersönlichkeit“ der SE etwa zu verstehen als Antwort auf die Frage, ob die SE z.B. eine monistische oder dualistische Struktur haben kann. Es herrscht (meist) unausgesprochen, aber völlig unbestritten Einigkeit, dass „Rechtspersönlichkeit“ zunächst in der Richtung zu suchen ist, in der die Konzepte der Mitgliedstaaten zu diesem Terminus liegen. Darin liegt ein Vorverständnis. Aus Sicht dieser Arbeit ist zu befürchten, dass dieser Mechanismus, wenn er nicht offengelegt wird, verdeckt abläuft und sich in ungebührlicher Weise im Auslegungsergebnis niederschlägt. In den hier untersuchten Beispielen wird dieses Vorverständnis über den Terminus aktiviert (auch, da oft wenig anderes Auslegungsmaterial zur Verfügung steht). Daher hat auch die Offenlegung – durch Rechtsvergleich – im Wortlaut zu erfolgen. Es ist damit klar, dass die Rechtsvergleichung der Wortlautauslegung zuzuordnen ist.218 Es geht daher nicht um eine von den anderen getrennte, zusätzliche Auslegungsmethode, sondern die Wortlautauslegung erhält in den fraglichen Fällen (in denen Rechtstermini verwendet werden) einen „rechtsvergleichenden Aspekt“.219
216
Diese Schlussfolgerung aus dem Urteil „CILFIT“ zieht auch Kjær, in: Sandrini (1999), 63 (68 f.); ähnlich auch schon Frankenstein, IPR Bd. I, 1926, S. 296 zur Auslegung überstaatlicher Verträge: „… so bleibt nichts übrig, als dieselben Worte in einem neuen überstaatlichen Sinn zu verwenden. […] die technischen Ausdrücke […] [können] lediglich nach […] dem Gesamtinhalt aller verwandten Normen der beteiligten Rechtsordnungen ausgelegt werden […], niemals aber aus dem Wortlaut“. Frankensteins Gedanke entspricht auch dem Vorgehen dieser Untersuchung; ein Unterschied liegt lediglich darin, dass Frankenstein die Rechtsvergleichung nicht dem Wortlaut zuordnet. 217 Siehe z.B. unten 2. Kap., B III 8, S. 191, 4. Kap., B IV, S. 351 ff. 218 So auch Rauscher, Internationales Privatrecht, 2017, Rn. 114 a.E.: „Systembegriffe in den verschiedenen Sprachen habe oft ihre Wurzel in Systembegriffen des zugehörigen nationalen Rechts. Die Erkenntnis der Wortbedeutung kann dann nicht als philologische Aufgabe verstanden werden, sondern ist vor allem rechtsvergleichende Aufgabe.“ Ebenso Nehne, Europäisches IPR, 2012, S. 59. 219 Teichmann, ZGR 2002, 383 (404).
C. Methodik I: Europa
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Rechtsvergleichung ist somit dort, wo sie überhaupt zur Anwendung kommt – also bei rechtlichen Termini – ein wesentlicher Bestandteil der Wortlautauslegung und letztlich dadurch vorgegeben, dass der Wortlaut in allen Sprachfassungen verbindlich ist, wobei der europäische juristisch-technische Wortsinn gerade erst noch zu bestimmen ist. Dabei ist nochmals zu betonen, dass die Bedeutungen in den nationalen Rechtsordnungen das europäische Auslegungsergebnis nicht in einer Weise prädestinieren, dass Sorge um die autonome Auslegung angebracht wäre. Vielmehr geben die Bedeutungen einen Plausibilitätsspielraum220 vor, innerhalb dessen zunächst nach der Lösung zu suchen ist. Die Lösung kann dabei auch außerhalb gefunden werden; durch den Rechtsvergleich im Rahmen des Wortlauts wird jedoch ein Ausgangspunkt für die Auslegung festgelegt. Indem der Mechanismus offengelegt wird, kann sich der Rechtsanwender dort, wo es angebracht ist, bewusst gegen den Einfluss einer einzelnen Rechtsordnung entscheiden. Auf diese Weise sichert das frühzeitige Offenlegen des Vorverständnisses eine autonome Auslegung. Auch aus diesem Grund stellen die in den folgenden Kapiteln vorgenommenen Auslegungen den Rechtsvergleich an den Anfang der Auslegung. III. Wortlaut (mit Rechtsvergleich) Die europäische Auslegungsmethodik hat Einfluss auf die Anwendung aller vier klassischen Auslegungsmethoden. Im Wortlaut ist die augenscheinlichste Besonderheit die Notwendigkeit, alle Sprachfassungen als gleichberechtigte Originale zu berücksichtigen. Auf diese Anforderung, die auch an mitgliedstaatliche Gerichte gestellt wird, und das Verbot, Übersetzungsfehler durch „Mehrheitsentscheidungen“ zu beseitigen, ja sie überhaupt als Fehler anzusehen, wurde bereits hingewiesen.221 Die Wortlautauslegung hat auch insofern besondere Bedeutung, als sie nach Ansicht einiger222 die (im Einzelfall schwer zu bestimmende) Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung markiert. Bei Rechtstermini zwingt die Anforderung des EuGH aus dem Urteil „CILFIT“ zu einer Rechtsvergleichung, wenn die Rechtstermini bereits aus den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten bekannt sind. Die nachfolgenden Abschnitte erläutern die zugehörigen Methoden. 1. Ausgangspunkt: Methoden des EuGH bei der Rechtsvergleichung Die vom EuGH verwendete Methode sieht vor, bei Gemeinsamkeiten zwischen den Rechtsordnungen über den Inhalt eines Konzepts diesen Inhalt im 220 Um einen Ausdruck der strukturierenden Rechtslehre zu verwenden: Müller/Christensen, Juristische Methodik II, 2012, z.B. Rn. 42 (unter der Überschrift: „Ist der nationalsprachliche Wortlaut für den EuGH irrelevant?“); Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 125; ähnlich Bydlinski, Methodenlehre, 1991, S. 437 f., 441. 221 Siehe oben Einl. C, S. 18. 222 Dazu schon oben 1. Kap., A IV, S. 34.
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1. Kapitel: Methodik
Regelfall auch für das Gemeinschaftsrecht zu verwenden.223 Bei Unterschieden in den Definitionen muss man dagegen laut EuGH das Konzept „als ein[…] eigenständige[s] und damit der Gesamtheit der Mitgliedstaaten gemeinsame[s]“ ansehen und ihm „einen einheitlichen materiellen, an die Gemeinschaftsrechtsordnung anknüpfenden Gehalt“ geben. 224 Dies geschieht unter Rückgriff auf allgemeine Grundsätze der Mitgliedstaaten.225 Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen können daher auf die relative Willkür einzelner Lösungen hinweisen und gestatten dem Rechtsanwender auf europäischer Ebene einen größeren Spielraum.226 Bei Termini, die nicht allen Rechtsordnungen bekannt sind, ordnen die Richter zusammenfassend die Lösungen, die in den meisten Staaten anerkannt sind.227 Ziel einer Rechtsvergleichung ist dabei nicht, dass die Lösung einer der nationalen Rechtsordnungen entstammt (obwohl auch dies möglich ist, wenn eine Rechtsordnung sich durch eine besonders nützliche Lösung auszeichnet 228). Vielmehr geht es darum, dass die autonome Auslegung den Zielen des Gemeinschaftsrechts entspricht und – sofern es dafür nötig sein sollte, wie es etwa bei Verweisungen auf das Recht der Mitgliedstaaten der Fall ist – auch mit den nationalen Rechtsordnungen kompatibel ist.229 Auf diese Weise wird die Funktionsfähigkeit der supranationalen Norm gewahrt.230 2. Terminologische Methode In den hier untersuchten Fällen – in denen also die Bedeutung eines europäischen Rechtsterminus fraglich ist231 – ist der Ausgangspunkt der Rechtsvergleichung der Terminus. Für diesen im europäischen Gesetz verwendeten Terminus werden in den nationalen Rechtsordnungen Entsprechungen gesucht und die damit jeweils verknüpften Konzepte untersucht. Dies ergibt sich zwingend aus dem einzig zur Verfügung stehenden Ausgangspunkt, wenn eine Norm etwa „Die SE besitzt Rechtspersönlichkeit“ lautet und eine Definition, nähere Informationen über die damit beabsichtigte Funktion oder ein aus anderen Nor-
223
Martiny, RabelsZ 45 (1981), 427 (442); Pescatore, RIDC 32 (1980), 337 (353). EuGH, Rs. 150/77, Urt. vom 21.06.1978, Slg. 1978, 1431 („Bertrand/Ott“), Rz. 12/16; Martiny, RabelsZ 45 (1981), 427 (442); Pescatore, RIDC 32 (1980), 337 (354 f.). 225 Martiny, RabelsZ 45 (1981), 427 (442). 226 Pescatore, RIDC 32 (1980), 337 (354 f.). 227 So zum „Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist“ (Art. 5 Nr. 3 EuGVÜ) EuGH, Rs. 21-76, Urt. vom 30.11.1976, Slg. 1976, 1735, Rz. 20/23; Pescatore, RIDC 32 (1980), 337 (353); Martiny, RabelsZ 45 (1981), 427 (442). 228 Pescatore, RIDC 32 (1980), 337 (353 f.). 229 Martiny, RabelsZ 45 (1981), 427 (442). 230 Martiny, RabelsZ 45 (1981), 427 (446). 231 Siehe zu dieser Einschränkung bereits oben 1. Kap., A IV, S. 34. 224
C. Methodik I: Europa
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men bekanntes Konzept fehlen. Ein funktionaler Ansatz, wie er in der Rechtsvergleichung vorherrscht232 und der danach fragen würde, welche Funktion die „Rechtspersönlichkeit“ hat, käme zu keinem Ergebnis. Ein funktionaler Ansatz vergleicht Konzepte und berücksichtigt nicht deren Termini (oder deren systematische Einordnung in der jeweiligen Rechtsordnung). Er setzt aber gerade deswegen fertige Konzepte voraus. Weil im Beispiel das europäische Konzept zur „Rechtspersönlichkeit“ und damit auch die mögliche Funktion, die „Rechtspersönlichkeit“ innerhalb einer Rechtsordnung haben könnte, noch nicht feststehen, wäre der Ausgangspunkt eines funktionalen Vergleichs schon nicht klar. Auch ist anzunehmen, dass die verschiedenen Konzepte, die in den einzelnen Rechtsordnungen mit „Rechtspersönlichkeit“ (beziehungsweise „personnalité juridique“, „personalità giuridica“ etc.) verbunden werden, sich funktional voneinander unterscheiden. Auch hier wäre daher ein Vergleich funktionaler Äquivalente nicht möglich. Auch wenn die funktionale Methode die Rechtsvergleichung dominiert, ist an ihrer fehlenden Verwendbarkeit hier nicht zu zweifeln. Zum einen ist auch die funktionale Methode in der Rechtsvergleichung nicht mehr ohne Alternativentwürfe.233 Zum anderen wird die terminologische Methode von der Funktion der Rechtsvergleichung als Hilfsmittel der Auslegung vorgegeben: Weil Konzepte auf europäischer Ebene noch nicht definiert sind, sondern erst gefunden werden müssen, kann die Rechtsvergleichung nicht von Konzepten ausgehen (funktionaler Ansatz), sondern muss sich an die bis dahin allein bestehenden Termini halten (terminologische Methode). Dennoch kann nicht verheimlicht werden, dass beim Vergleich von funktional einander nicht entsprechenden Konzepten Spannungen auftreten können. Dies liegt aber nicht an der hier gewählten Arbeitsmethode, sondern ist eine logische Folge der EU-Rechtssetzung, sofern diese aus den nationalen Rechtsordnungen schon besetzte Termini durch Verwendung in einem Rechtsakt „gleichsetzt“, also bestimmt, dass diese Termini von nun an alle mit demselben europäischen Konzept verbunden sind. Dabei sind insbesondere Spannungen
232 Esser, Grundsatz und Norm, 1990, S. 349 f.: Das sei „der Weg der Rechtsvergleichung […]: in gleichen Ordnungsaufgaben unter vergleichbaren gesellschaftlichen Zuständen die Gemeinsamkeit von Lösungen zu entdecken, die je von ihrer Entstehungsgeschichte her in ihrer Systembedingtheit dem gleichen Ordnungsziel dienen“; Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 1996, S. 33 ff.; Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, Einl. Rn. 5: Rechtsvergleichung ist problembezogen und fragt nach den sachlichen Lösungen konkreter Lebensprobleme. 233 Zweigert, Studium generale 1960, 193 (198) (zweifelhaft, ob es überhaupt die eine Methode der Rechtsvergleichung gibt); in Auseinandersetzung mit der Kritik auch Michaels, in: Reimann/Zimmermann (2008), 339; zu Alternativen auch Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, § 3 Rn. 6 ff. Vgl. auch Pescatore, RIDC 32 (1980), 337 (359): Die Methode des EuGH, Rechtsvergleichung zu betreiben, unterscheidet sich von der herkömmlichen.
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1. Kapitel: Methodik
zu erwarten, wenn es an einer Definition mangelt, da anzunehmen ist, dass nationale (also untereinander funktional verschiedene) Konzepte vorschnell mit dem europäischen Terminus verbunden werden. Mit der hier gewählten Methode werden Spannungen, die sich daraus ergeben, kenntlich gemacht; auch die Sprachverwirrung wäre ein Resultat solcher Spannungen. Das Ausmaß der Spannungen hängt auch davon ab, welche Termini der europäische Gesetzgeber für die verschiedenen Sprachfassungen gewählt hat. Die Auswahl geschieht ja nicht zufällig und lässt erwarten, dass doch in gewisser Hinsicht vergleichbare Konzepte in die Auslegung einfließen können. Immerhin ist zu hoffen, dass sich zumindest das juristische Problem, das hinter dem Terminus und den nationalen Konzepten steckt, aufdecken lässt. 234 Die hier verwendete terminologische Methode ist dabei letztlich eine konsequente Umsetzung der Methode, die der Gesetzgeber anwendet, wenn er sich lediglich auf Worte einigt, ohne dass die dazugehörigen Konzepte irgendwie ersichtlich wären. Auch die Auslegung muss dann bei den Termini ansetzen und nach zugehörigen Konzepten suchen. Sind Ergebnisse auf diese Weise nicht zu erzielen, wäre dies nicht der Auslegungsmethode anzulasten, sondern wäre ein Urteil über die verwendete Methode des Gesetzgebers, „Sprache ohne Recht“ zu schaffen.235 In Fällen, in denen die damit beschriebene terminologische Methode nicht zu einem Ergebnis gelangt, weil der Terminus in der Rechtssprache eines Mitgliedstaates nicht verwendet wird, kann man sich für die autonome Auslegung auf den Standpunkt stellen, dass eine Untersuchung dann abzubrechen ist. Im Einzelfall können jedoch Gesichtspunkte dafür sprechen, ähnlich formulierte Konzepte, auf Richter- oder Gewohnheitsrecht beruhende Konzepte (ohne festen Terminus) oder sich sonstwie aufdrängende Konzepte mit einzubeziehen. Dies wird am konkreten Fall zu diskutieren sein.236 Grundsätzlich erscheint es aber nicht als ausgeschlossen, dass bei einer Rechtsvergleichung der EuGH nur auf eine beschränkte Anzahl von Ländern zurückgreift, weil z.B. Rechtsfragen nicht in allen Ländern diskutiert wurden.237 3. Geographische und zeitliche Eingrenzung Als weitere methodische Frage stellt sich das Problem, wie die Untersuchung mit Blick auf ihre Machbarkeit eingegrenzt werden kann, insbesondere in geographischer und zeitlicher Hinsicht.
234
W. F. Bayer, RabelsZ 20 (1955), 603 (628); Zweigert, RabelsZ 16 (1951), 387 (396). S. oben 1. Kap., B IV und unten 5. Kap., D, S. 56 ff. und S. 368 ff. 236 S. dazu z.B. unten 3. Kap., D I 3, S. 240 ff. (zur Frage, was im englischen Recht der „Hauptverwaltung“ entspricht). 237 Bleckmann, in: Studien zum Europäischen Gemeinschaftsrecht (1986), 83 (99); Martiny, RabelsZ 45 (1981), 427 (442). 235
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a) Beschränkung auf EU-Mitgliedstaaten Für einen Rechtsvergleich kommen lediglich Mitgliedstaaten der EU (oder des EWR), keine Drittstaaten in Betracht. 238 Während bei „offenem Einheitsrecht“ der Kreis der betroffenen Staaten so groß sein kann, dass zwischen einer globalen Rechtsvergleichung und einer Vergleichung der Rechtsordnungen nur der Vertragsstaaten wenig Unterschied besteht, und auch der Grund der Rechtsvergleichung ein anderer ist (nicht Achtung der nationalen Identität, sondern eine möglichst universelle Akzeptanz, sodass dort eine Einbeziehung von Drittstaaten angezeigt sein kann 239 ), ist dies im Unionsrecht bereits anders. Nicht zuletzt unterscheiden sich die Gründe für eine rechtsvergleichende Auslegung erheblich (dort (lediglich) eine – möglichst breite und auch auf den zukünftigen Beitritt weiterer Staaten vorbereitete – Akzeptanzfähigkeit des Ergebnisses,240 hier neben der lediglich auf die Mitgliedstaaten beschränkten Akzeptanzfähigkeit insbesondere auch die Beachtlichkeit des Wortlauts der in ihrer Anzahl begrenzten Amtssprachen). Dass sich mit dem Beitritt neuer Staaten die Rechtslage auch ändern kann, spricht nicht gegen eine solche Beschränkung.241 Soweit hier eine Rechtsvergleichung vorgenommen wird, wird sich der Vergleich aus Gründen der auch sprachlichen Machbarkeit auf die größten Rechtsordnungen Europas beschränken, namentlich Deutschland, Frankreich, Italien und England (und Wales).
238
So schon Pescatore, RIDC 32 (1980), 337 (350) (Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten nach dem jeweiligen Stand); diese Tendenz in Praxis und Literatur anerkennend, aber zumindest für die „Ermittlung allgemeiner Rechtsgrundsätze“ leicht anders Bleckmann, in: Studien zum Europäischen Gemeinschaftsrecht (1986), 105 (106 ff.), der einerseits den „alten“ (kontinentaleuropäischen) Mitgliedstaaten ein Übergewicht gegenüber den „neuen“ Staaten (insbesondere Irland und dem Vereinigte Königreich) zubilligen will, andererseits aber auch meint, bestimmte gemeinsame Rechtsprinzipien könnten etwa in den USA klarer formuliert sein als in einigen Mitgliedstaaten; wie hier dann über die Rechtsvergleichung „zur Auslegung“, S. 121: es sei „davon auszugehen, daß die durch die europäische Rechtsordnung geregelten Begriffe durch einen Vergleich aller Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten auszufüllen sind“ (gegen eine einseitige Bevorzugung einzelner, etwa der französischen, Rechtsordnungen; Hervorhebung im Original). 239 In diese Richtung Kropholler, Internationales Einheitsrecht, 1975, S. 279. 240 Vgl. Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 359: „Die Rechtsvergleichung dient als Basis für eine Konsensbildung.“ 241 So aber Kropholler, Internationales Einheitsrecht, 1975, S. 279. Für Fälle, in denen es sich um einen Verweis auf nationales Recht handelt, kommt die Anpassungsfähigkeit der sogenannten „universalen Rechtskonzepte“ zum Tragen, dazu unten 1. Kap., D IV 1, S. 94.
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1. Kapitel: Methodik
b) Insbesondere: unter Berücksichtigung von England und Wales trotz des sog. „Brexit“ Die Einbeziehung Englands erfolgte trotz der bei Abfassung der Arbeit 2015/2016 unsicheren Zukunftsaussichten, was den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union anbetraf. Das Votum für den „Brexit“ am 23. Juni 2016 kam dann für den Verfasser, wie für wohl viele seiner Zeitgenossen, tatsächlich eher überraschend. An der Einbeziehung Englands soll dennoch festgehalten werden, da auch die ursprüngliche Berücksichtigung Englands nicht lediglich aus der Hoffnung auf einen Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU erfolgte oder allein wegen der Tatsache, dass die gegenüber den anderen (auch als civil law zusammengefassten) Rechtsordnung verschiedene common-law-Tradition Englands wohl für jeden Rechtsvergleich bereichernd ist. Vielmehr fügt sich die Einbeziehung Englands auch methodisch in die Arbeit ein, sowohl mit Blick auf die Gegenwart als auch auf die absehbare Zukunft. Was den gegenwärtigen Stand der Dinge bei Drucklegung (Mitte 2018) angeht, ist zu konstatieren, dass durch das Votum selbst oder die Inkraftsetzung des Verfahrens nach Art. 50 EUV durch die Regierung des Vereinigten Königreichs im März 2017 selbst noch keine vollendeten Tatsachen geschaffen wurden.242 Nach wie vor ist das Vereinigte Königreich Mitgliedstaat der EU, sodass seine Rechtsordnung nach dem methodischen Verständnis dieser Arbeit gegenwärtig nach wie vor uneingeschränkt zu berücksichtigen ist. Auch was die Zukunft angeht, ist derzeit noch nicht abzusehen, in welcher Form das (als solches nicht bindende243) Votum zum Austritt des Vereinigten Königreichs umgesetzt werden wird. Auch wenn ein Verbleib in der EU wohl noch rechtlich möglich244 ist, erscheint dieser politisch doch äußerst unwahrscheinlich. Vorstellbar erscheint allerdings, dass das Vereinigte Königreich über den EWR mit dem Rest der EU verbunden bleibt245 (eine der diskutierten Formen eines „soft Brexit“), was für die Berücksichtigung Englands nach der Methodik dieser Arbeit nichts ändern würde, da auch Sprachfassungen und Rechtsordnungen von Mitgliedstaaten des EWR bei der autonomen Auslegung zu berücksichtigen sind.246 242 Ausführlicher zu den Rechtsfolgen der Austrittserklärung durch die Regierung des Vereinigten Königreichs Müller-Graff, integration 2016, 267 (274 ff.); Thiele, EuR 2016, 281 (291 ff.). 243 Michl, NVwZ 2016, 1365 (1366): genau genommen eine „Volksbefragung“. 244 Michl, NVwZ 2016, 1365 (1368): Auch nach der Erklärung über den Austritt ist ein Verbleib nach dem völkerrechtlichen favor contractus bei allseitigem Einverständnis möglich. 245 Zu den Details (ob das Vereinigte Königreich grundsätzlich im EWR verbleibt oder ob ein expliziter Beitritt notwendig wird) Schroeter/Nemeczek, EBLR 27 (2016), 921 (921 ff.). 246 S. zur Geltung der SE-VO in allen Ländern des EWR oben Einl. D, S. 19.
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Aber auch dann, wenn eine völlige Trennung des Vereinigten Königreichs erfolgen sollte, sodass nicht einmal eine Mitgliedschaft im EWR vorläge, würde die Berücksichtigung Englands nicht nur rückwärtsgewandt dazu dienen, den Verlust an rechtlicher Vielfalt aufzuzeigen, der bei einem Austritt des Vereinigten Königreichs zu beklagen wäre.247 Denn selbst nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs dürfte das Englische weiterhin Amts- und Vertragssprache der EU bleiben;248 und – was für die Methodik dieser Arbeit entscheidend ist – auch die Einflüsse der Rechtsordnung von England und Wales dürften nicht vom einen Tag auf den anderen verschwinden. Auch bei einem „hard Brexit“ blieben nämlich mit Irland, Malta sowie (im Fall eines Austritts aus dem Vereinigten Königreichs und eines darauf folgenden (Wieder-)Eintritts in die EU249) Schottland stark vom englischen Recht geprägte Rechtsordnungen in Mitgliedstaaten bestehen, die weiterhin, wenn auch indirekt, englische Einflüsse in die EU bringen würden. Stellvertretend für diese Einflüsse soll daher die Untersuchung Englands als der mutmaßlich originelleren250 und jedenfalls leichter zugänglichen Mutterrechtsordnung beibehalten werden. c) Präzisierung des Prüfungsumfangs in zeitlicher Hinsicht Dargestellt wird grundsätzlich die aktuelle Rechtslage in den anderen Mitgliedstaaten, nicht diejenige bei Erlass der SE-VO 2001. Zwar kann für den europäischen Gesetzgeber nur der Stand bis 2001 maßgeblich geworden sein.251 Für einen Nachweis der Sprachverwirrung ist es aber wahrscheinlicher, dass der jetzige Stand der Entwicklung des nationalen Rechts einen größeren Einfluss auf die Auslegung auch des europäischen Rechts hat als der von 2001. Zudem ist es denkbar, dass (etwa bei dynamischen Verweisen) auch Änderungen im
247 Zum Verlust an rechtlicher Vielfalt und dem unzureichenden Gewicht Irlands, diesen auszugleichen, s.a. Freitag/Korch, ZIP 2016, 1361 (1368). 248 Vgl. z.B. zu den politischen Schwierigkeiten, das Englische in Europa abzulösen, eine Stellungnahme der Vertretung Irlands bei der Europäischen Kommission unter , abgerufen am 21.10.2017, in Reaktion auf (vorwiegend französische) Vorstöße. 249 Vgl. entsprechende Überlegungen bei Müller-Graff, integration 2016, 267 (274). 250 Vorsichtig und mit Einschränkungen in diese Richtung Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 1996, S. 40 f. 251 In diesem Sinn spricht sich daher Lutter, JZ 1992, 593 (601) dafür aus, nur die Rechtslage bis zum Erlass der europäischen Norm zu beachten (jedoch in der hier nicht behandelten Konstellation, dass ein nationales Recht dem europäischen als Vorbild gedient hat).
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1. Kapitel: Methodik
nationalen Recht der Mitgliedstaaten in gewisser Weise Bedeutung für das europäische Recht erlangen.252 Gerade, wenn es um die Akzeptanz eines Auslegungsergebnisses253 geht, ist für die vom Gemeinschaftsrecht angestrebte dynamische Auslegung die „gemeinsame Zukunft“ eher maßgeblich als die Gegenwart oder gar die Vergangenheit, 254 sodass auch Entwicklungsprozesse wichtige Hinweise liefern können. Wenn man die Rechtsvergleichung bei normativen Termini als notwendige Folge der Wortlautauslegung begreift (wie hier), ist etwa darauf hinzuweisen, dass auch die Sprachfassungen der SE-VO in den Amtssprachen der seit 2001 hinzugetretenen Mitgliedstaaten verbindlich sind (dazu schon oben Einl. D, S. 19). Wenn schon in diesem Fall nicht auf das Jahr 2001 abgestellt werden kann (sondern frühestens auf den Beitritt des jeweiligen Staates), ist das Festhalten an dem Zeitpunkt des Erlasses ohnehin schon in Frage gestellt. In jedem Fall wird aber auf wichtige Veränderungen der Rechtslage, insbesondere dort, wo sie möglicherweise von der SE-VO beeinflusst worden ist, hingewiesen werden. 4. Sprache und Zitierweise Sofern die folgende Untersuchung fremdes Recht darstellt, ergab sich die Frage, in welcher Sprache Rechtstermini einer fremden Rechtsordnung wiederzugeben sind, wobei Kompromisse zwischen Lesbarkeit und Präzision einzugehen waren. Im Grundsatz wird versucht, die ausländischen Termini zumindest in Klammern wiederzugeben, wo dies die Lesbarkeit nicht übermäßig beeinträchtigt.255 Ähnlich wurde bei der Zitierweise verfahren,256 die sich im Grundsatz an der in der jeweiligen Rechtsordnung gebräuchlichen orientiert, und dabei auf Kohärenz zwischen den Zitierweisen verschiedener Rechtsordnungen verzichtet (so werden etwa englische Urteile, wie allgemein üblich, nicht mit Tag und Monat zitiert, anders als deutsche, italienische, französische und europäische; dagegen wird bei französischen und italienischen der Monatsname nicht ausgeschrieben, sondern als Zahl wiedergegeben, zumal auch in Frankreich und Italien hier unterschiedliche Gepflogenheiten herrschen). Die nicht aus 252 In diesem Sinn etwa Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 202. 253 Dies ist auch im Unionsrecht Ziel der rechtsvergleichenden Auslegung: Pescatore, RIDC 32 (1980), 337 (355 f.); Müller-Graff, NJW 1993, 13 (19). 254 Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 202 (explizit zum Gemeinschaftsrecht); Bleckmann, in: Studien zum Europäischen Gemeinschaftsrecht (1986), 83 (98); Bleckmann, in: Studien zum Europäischen Gemeinschaftsrecht (1986), 105 (109); ähnlich Müller-Graff, NJW 1993, 13 (19) („erwartbare Endpunkte konvergierender Rechtsentwicklungen […] berücksichtigen“). 255 Zur Aporie damit einhergehender Probleme s. Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, § 1 Rn. 26. 256 Vgl. zum Problem auch Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, § 3 Rn. 260.
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dem Literaturverzeichnis ersichtlichen ausländischen Abkürzungen sind im Abkürzungsverzeichnis aufgeführt. Der Verfasser trägt die Hoffnung (die sich, soweit er Gelegenheit hatte, dies zu überprüfen, auch bestätigt hat), dass die Zitate für deutsche Leser wie auch für (des Deutschen mächtige) Leser der jeweiligen Rechtsordnung gleichermaßen nachvollziehbar sind. IV. Systematik Die Systematik hat im Gemeinschaftsrecht eine große Bedeutung und gilt neben der teleologischen als wichtigste Auslegungsmethode, der EuGH bedient sich ihrer in etwa der Hälfte der Fälle.257 Bei der systematischen Auslegung lassen sich Schlüsse sowohl aus dem Verhältnis von Primär- zu Sekundärrecht ziehen als auch aus dem Verhältnis verschiedener Normen des Sekundärrechts untereinander. 258 Das Verhältnis Primär- zu Sekundärrecht ist hierarchisch in dem Sinne, dass bei einem Normenkonflikt das Primärrecht dem Sekundärrecht vorgeht und letzteres im Sinne des ersteren auszulegen ist, sog. primärrechtskonforme Auslegung, 259 wobei bei der SE die Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit im Vordergrund stehen.260 Beim Verhältnis mehrerer Normen des Sekundärrechts sind etwa Rechtsanalogien oder die Ausstrahlung der Auslegung einer Norm auf andere, die ein ähnliches Regelungsanliegen verfolgen, denkbar.261 Zwar wird teilweise explizit auf das SE-Statut bezogen eingewandt, dass Art. 9 Abs. 1 SE-VO gerade nicht auf die Harmonisierung der Rechte der Mitgliedstaaten ziele und dass daher die systematische Auslegung nicht „Einfallstor für eine Prinzipienbildung“ werden solle, die über den eigentlichen Regelungsgehalt hinausgehe. 262 Dies spricht jedoch nur gegen eine Überdehnung der systematischen Auslegung in dem Sinne, dass dort, wo kein Gesetz besteht, 257 Bleckmann/Pieper, in: Dauses, Hdb. EU-Wirtschaftsrecht (2016), B I Rn. 30; Lächler, Konzernrecht der SE, 2007, S. 73; Brandt, Hauptversammlung, 2004, S. 14; Veil, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 9 SE-VO Rn. 83; Hommelhoff, in: Schulze (1999), 29 (34). 258 Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 2016, Rn. 9.172 f. Anweiler, Auslegungsmethoden des EuGH, 1997, S. 173–198; Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, 1998, S. 177 ff.; Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 9 SE-VO Rn. 16; Teichmann, ZGR 2002, 383 (404); Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1999, S. 104 ff. 259 Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 2016, Rn. 9.173; bei Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 (532) Anwendungsfall der „teleologisch-systematischen Auslegung“. 260 Schön, RabelsZ 64 (2000), 1 (9 ff.); Schön, in: FS Lutter 2000, 685 (689 ff.); Schön, in: FS Hopt 2010, 1343 (1353); Teichmann, ZGR 2002, 383 (404). 261 Teichmann, ZGR 2002, 383 (404); Bleckmann, ZGR 1992, 364 (368 f.); grundlegend zur sogenannten „Inter-Instrumental-Interpretation“ Grundmann, RabelsZ 75 (2011), 882 (883 ff.). 262 Casper, in: FS Ulmer 2003, 51 (55).
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die Lücke mit Prinzipien gefüllt wird. Anders als eine „Rechtsregel“, die eine klare Verknüpfung von Tatbestand und Rechtsfolge vornimmt, kann ein „Rechtsprinzip“ eine grundsätzliche Aussage treffen, die im konkreten Fall gegen andere abzuwägen ist.263 So ist eine systematische Auslegung etwa insbesondere notwendig, wenn ein unklarer Wortlaut auszulegen ist.264 Daneben lassen sich auch konkrete Rechtsfolgen von Rechtsprinzipien oder Rechtsgrundsätzen diskutieren.265 Zumindest für das Gesellschaftsrecht auf europäischer Ebene lässt sich dabei sagen, dass die hier erreichte Regelungsdichte Ansätze einer Systembildung ermöglicht, die bei der Auslegung helfen können.266 Insofern gibt es bereits erste Ansätze einer Systematisierung, etwa im Bereich der Verfahrensregeln bei Umstrukturierungen267 oder im Bereich der Handelndenhaftung vor Eintragung der Gesellschaft.268 Bei der SE im Besonderen zeigen die vielen Verweise des Verordnungsgebers auf das harmonisierte Gesellschaftsrecht, dass dieser eine innere Abgestimmtheit des Normenkomplexes vorausgesetzt hat,269 oder fordern doch zumindest dazu auf, bei der Auslegung darauf zu achten, stimmige Grundlinien herauszuarbeiten und so Folgerichtigkeit und Widerspruchsfreiheit der Regelung zu bewahren,270 ohne die Dynamik des noch jungen Europäischen Privatrechts zu verkennen, die auch Verkehrungen einer Ausnahme in ein Prinzip zur Folge haben kann.271 Wichtiger als die Systembildung und Entwicklung allgemeiner Prinzipien ist für die hier interessierende Auslegung einzelner Termini die Verwendung
263
Schön, in: FS Hopt 2010, 1343 (1347 f.) (in Anlehnung an die Diktion Dworkins); ähnlich wohl Basedow, in: FS Hopt 2010, 27 (43 f.). 264 Schön, in: FS Hopt 2010, 1343 (1348); Veil, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 9 SEVO Rn. 85; so schließlich auch Casper, in: FS Ulmer 2003, 51 (55). 265 Befürwortend etwa Schön, in: FS Hopt 2010, 1343 (1349); Metzger, RabelsZ 75 (2011), 845 (855 f.); zur SCE Wulfers, GPR 2006, 106 (112). 266 Teichmann, ZGR 2002, 383 (404, 404 ff.); Bleckmann, ZGR 1992, 364 (369); siehe auch die Beiträge in Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, 2000. 267 Hommelhoff/Riesenhuber, in: Grundmann (2000), 259 (282); auf dieses und das folgende Beispiel weist auch Teichmann, ZGR 2002, 383 (405) hin. 268 Rechtsvergleichend Kersting, Die Vorgesellschaft im europäischen Gesellschaftsrecht, 2000. Die dazu vorfindlichen Normen im europäischen Gesellschaftsrecht (Art. 8 Erste Richtlinie, Art. 9 Abs. 2 EWIV-VO) können auch für das Verständnis etwa von Art. 16 Abs. 2 SE-VO fruchtbar gemacht werden, vgl. dazu unten 2. Kap., B III 6, S. 187 ff., und Kersting, DB 2001, 2079; C. Schäfer, NZG 2004, 785 (790 f.); Casper, in: FS Ulmer 2003, 51 (55, Fn. 30). 269 Schön, RabelsZ 64 (2000), 1 (7) (noch zum SE-VOV 1991); ähnlich Schön, in: FS Hopt 2010, 1343 (1361). 270 Teichmann, ZGR 2002, 383 (405) mit Beispielen im Text. 271 Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 (532).
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von Konzepten, die auch in anderen Rechtsakten verwendet werden. Dort erscheint es als naheliegend, gleichlautende Termini in verschiedenen Rechtsakten auch gleich auszulegen.272 Dabei ist allerdings die Mehrsprachigkeit des europäischen Rechts besonders zu beachten. Ein Terminus, der in der deutschen Sprachfassung übereinstimmt, kann, muss aber nicht gleich ausgelegt werden, wenn er in anderen Sprachfassungen abweicht; dies entspricht auch dem Bild in den internen Leitlinien der EU: Auch diesen kann entnommen werden, dass der EU-Gesetzgeber bemüht ist, Termini in sämtlichen Sprachen konsequent zu verwenden.273 Ein Terminus ist damit erst dann gleich, wenn er in allen Sprachfassungen übereinstimmt. Sofern hier eine systematische Untersuchung vorgenommen wird, werden zur Beurteilung, ob es sich um den gleichen Terminus handelt, stellvertretend neun Sprachen herangezogen und die Termini in diesen verglichen. Dafür wurden die nach Sprecherzahl gewichtigsten Amtssprachen der EU ausgewählt. Bei diesen Sprachen handelt es sich um Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Niederländisch, Portugiesisch, Schwedisch und Polnisch. Als einzige der mit der EU-Osterweiterung neu hinzugekommenen Amtssprachen ist damit das Polnische vertreten, das jedoch für die speziellen Probleme, die sich für die neuen Amtssprachen stellen, repräsentativ ist.274 Die Auswahl geschah trotz eines Bewusstsein dafür, dass die Sprecherzahl für die rechtliche Bedeutung einer Sprachfassung unerheblich ist275 und dass theoretisch sämtliche Sprachfassungen stets zu berücksichtigen sind. Jedoch ist bereits der Blick auf die hier herangezogenen Sprachen erhellend. V. Entstehungsgeschichte Der vergleichsweise geringe Stellenwert der Entstehungsgeschichte rührt auch daher, dass Gesetzgebungsmaterialien nicht oder nur in geringerem Umfang als bei der bundesdeutschen Gesetzgebung veröffentlicht werden.276 Unveröf-
272
Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 9 SE-VO Rn. 16; Veil, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 16 SE-VO Rn. 85; Grundmann, RabelsZ 75 (2011), 882 (894). 273 S. oben 1. Kap., A III a.E., S. 32. 274 Vgl. die Einschätzung bei Lasinski-Sulecki/Morawski, CMLR 45 (2008), 705 (705). Zu den Problemen bereits oben Einl. C, S. 14 f. (mit Fn. 83 und 85). 275 So explizit EuGH, Rs. 296/95, Urt. vom 02.04.1998, Slg. I-1998, 1605, Rz. 5 (Leitsatz). 276 Bleckmann/Pieper, in: Dauses, Hdb. EU-Wirtschaftsrecht, (2016), B I Rn. 40; Lutter, JZ 1992, 593 (600); Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 (530), die unter Verweis auf Art. 18 der Geschäftsordnung des Rates und Art. 21 der Satzung des EuGH daraus einen Hinweis ablesen wollen, dass der europäische Gesetzgeber eine Objektivierung der Auslegung wünscht.
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1. Kapitel: Methodik
fentlichtes Material wird dagegen, auch wenn es im Einzelfall vorliegt, überwiegend für nicht belastbar gehalten. 277 Als wenig aussagekräftig gilt etwa auch die Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses, da dieser nur anzuhören ist.278 Unmittelbar für die historische Auslegung relevant sind lediglich diejenigen Unterlagen, die den Willen der Gesetzgebungsorgane tragen, die die letztgültige Fassung der SE-VO schließlich verantwortet haben.279 Wenn die SE insofern eine „gewisse Sonderstellung“280 einnehmen soll, ist dies der langen Geschichte von Vorentwürfen geschuldet (dazu Einl. B, S. 6 ff.). Diese Materialien sollen nach einigen Autoren für die Auslegung herangezogen werden können, da auch hier der Schluss von einem geänderten Wortlaut auf eine geänderte Bedeutung naheliege.281 Jedoch ist Vorsicht geboten, da die früheren Entwürfe nicht verwirklicht wurden und somit den Willen des europäischen Gesetzgebers gerade nicht widerspiegeln. 282 Es ist daher problematisch, auf diese nicht verwirklichten Entwürfe zurückzugreifen und deren Inhalt in die gültige Fassung der SE-VO hineinzudeuten;283 insbesondere verbietet sich auf diesem Umweg ein Rückgriff auf Regelungen, die aus einem Mitgliedstaat stammen (etwa der relativ deutsch geprägte SE-VOV 1975, dazu oben Einl. B, S. 8, zur autonomen Auslegung s.o. 1. Kap., A IV, S. 35 f.). Auch angesichts der langen Zeitabstände zwischen den letzten Entwürfen und der verabschiedeten SE-VO ist im Einzelfall kritisch zu prüfen, inwiefern den Vorentwürfen ein Aussagewert zukommt.
277 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, 1998, S. 148; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 (530) (da nur dann Planungssicherheit für die Normbetroffenen besteht – ein Gedanke, der auch im Gesellschaftsrecht trägt); Herdegen, ZHR 155 (1991), 52 (63 f.); Pechstein, EuR 1990, 249 (255). 278 Lutter, JZ 1992, 593 (601); Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 (530); Brandt, Hauptversammlung, 2004, S. 16. 279 Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 (530); zurückhaltender mit Blick auf die unterschiedlichen Methodenlehren in den Mitgliedstaaten Fleischer, RabelsZ 75 (2011), 700 (718 f.). 280 Teichmann, ZGR 2002, 383 (404). 281 Teichmann, ZGR 2002, 383 (404); Lächler, Konzernrecht der SE, 2007, S. 75; Brandt, Hauptversammlung, 2004, S. 16 f.; Casper, in: FS Ulmer 2003, 51 (56). 282 Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 9 SE-VO Rn. 17. 283 In diese Richtung aber z.B. Oechsler/Mihaylova, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 5 SE-VO Rn. 3; Ziemons, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Anh. I Art. 5 SE-VO Rn. 10 (beide zum Konzept der Aktie).
D. Methodik II: Verweisungstechnik
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VI. Zweck der Norm Die Teleologie gilt klassischerweise als das maßgebliche Auslegungskriterium des Gemeinschaftsrechts284 und wird bei der Hälfte der Entscheidungen herangezogen,285 im Gesellschaftsrecht sogar noch öfter.286 Inhaltlich wird der Telos des Gesetzgebers durch die Erwägungsgründe näher geklärt; 287 möglicherweise ist auch die gewählte Kompetenznorm aufschlussreich.288 Schließlich sind auch die „allgemeinen Ziele nahezu jeder europäischen Norm heranzuziehen, nämlich die Rechtsvereinheitlichung und die Herstellung des Binnenmarktes“.289 Zu diesen allgemeinen Zielen einer Norm gehört damit auch der Auslegungsgrundsatz des effet utile, nach dem eine Norm so auszulegen ist, dass die Ziele des gemeinschaftsrechtlichen Gesetzgebers effizient umgesetzt werden.290 Für die SE-VO lässt sich dies dahingehend konkretisieren, dass – da durch die Gesetzgebung die europaweite Nutzung der Rechtsform SE ermöglicht werden soll – die Auslegung auch darauf hinzuwirken hat, eine „funktionsfähige supranationale Rechtsform“ zu erhalten;291 der „in der Verordnung angelegte[n] grenzüberschreitende[n] Natur der Gesellschaft“ 292 muss durch die Auslegung Geltung verschafft werden.
D. Methodik Teil II: die Verweisungstechnik der SE-VO und das IPR D. Methodik II: Verweisungstechnik
Nach den allgemein für EU-Recht geltenden Methodenfragen soll nun auf die spezifische Situation der SE eingegangen werden. Mit der ausgeprägten 284
S. bereits oben 1. Kap., C II, S. 63; deutlicher noch: Pescatore, ZEuP 1998, 1 (10): „Anfang und Abschluß“, alle anderen Kriterien demgegenüber „sinnlos und irreführend“; Brandt, Hauptversammlung, 2004, S. 14. 285 Bleckmann/Pieper, in: Dauses, Hdb. EU-Wirtschaftsrecht (2016), B I Rn. 15. 286 Hommelhoff, in: Schulze (1999), 29 (37) („in jedem seiner Urteile zum Gesellschaftsrecht“). 287 Teichmann, ZGR 2002, 383 (405); Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 (531); bei Brandt, Hauptversammlung, 2004, S. 16 stellen diese dagegen einen Ausgangspunkt für die historische Auslegung dar. 288 So allgemein Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 (531); zur (zunächst umstrittenen) Kompetenznorm für die SE-VO siehe Neye, ZGR 2002, 377. 289 Teichmann, ZGR 2002, 383 (405); Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 (531). 290 Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 2016, Rn. 9.178; für die SE Veil, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 9 SE-VO Rn. 88; Teichmann, ZGR 2002, 383 (405); zum Schuldvertragsrecht Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1999, S. 106. 291 Casper, in: FS Ulmer 2003, 51 (55, 57); Teichmann, ZGR 2002, 383 (405 f.). 292 Brandt, Hauptversammlung, 2004, S. 15 unter Hinweis auf die Erwägungsgründe 1, 3, 5, 6, 13 SE-VO.
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1. Kapitel: Methodik
Verweisungstechnik hat die SE-VO methodisch Neuland betreten, es wurde von einem „Eldorado der Methodenlehre“ gesprochen.293 Zwar ist die Verweisung als Rechtstechnik allgemein bereits seit langem bekannt und auch eingehend untersucht. Innerhalb einer Rechtsordnung stellt die Verweisung ein gesetzgebungstechnisches Mittel zur Vermeidung umständlicher Wiederholungen dar;294 für eine (dynamische) Verweisungen auf fremde Rechtsordnungen werden in der Literatur insbesondere verfassungsrechtliche Probleme beleuchtet.295 Die konkreten Probleme der Auslegung eines Tatbestands einer Verweisungsnorm, die auf eine andere Rechtsordnung verweist, sind jedoch, soweit ersichtlich, lediglich im Rahmen des IPR untersucht. Insbesondere hat die Verweisung aus dem Recht einer supranationalen Rechtsform auf nationales Recht noch keinen ersichtlich relevanten Vorläufer. Die Verweisungstechnik ist dabei aus Sicht dieser Untersuchung besonders interessant, weil der rechtsordnungsübergreifende Verweis besonders geeignet erscheint, eine Sprachverwirrung zu verursachen.296 Daher soll im Folgenden (II) untersucht werden, inwiefern Parallelen zwischen der Verweisungstechnik der SE-VO und den Kollisionsnormen des IPR bestehen. Die so gewonnenen Erkenntnisse sollen dann genutzt werden, um zwei Punkte näher zu erläutern, die autonome Auslegung von Verweisungsnormen (III) sowie den Umfang von Konzepten in Verweisungsnormen (IV). Zunächst aber soll das Verhältnis der SE-VO zum IPR der Mitgliedstaaten geklärt werden, da die Verweisungstechnik der SE-VO hier neue Denkschemata erforderlich macht (insbesondere den sog. Regelungsbereich, dazu unter I). I. Die SE und das IPR der Mitgliedstaaten Das Verhältnis der SE-VO zum IPR der Mitgliedstaaten ist nicht ganz einfach aus dem Gesetzestext ersichtlich. Da bei der nachfolgenden Untersuchung jedoch an mehreren Stellen darauf zurückzukommen sein wird,297 bietet sich eine grundsätzliche Darstellung an dieser Stelle an. 293 Die „methodenrechtlichen Konsequenzen aus den vielfachen Rückkopplungen ins nationale Recht und der damit verbundenen Gemengelage […] bieten ein Eldorado für die Methodenlehre“, Casper, in: FS Ulmer 2003, 51 (72); ähnlich („lawyer’s paradise“) zum Entwurf von 1970 bereits Sanders, in: Schmitthoff (1973), 83 (89). Freilich lässt sich dies auch negativ als „Rechtsunsicherheit“ beklagen, Bungert/Beier, EWS 2002, 1 (2); Hommelhoff/Teichmann, SZW/RSDA 2002, 1 (4); Heckschen, DNotZ 2003, 251 (252 ff., 269); schon zu den Vorentwürfen Trojan-Limmer, RIW 1991, 1010 (1012); Lutter, AG 1990, 413 (421). 294 Larenz/Canaris, Methodenlehre (Studienausgabe), 1995, S. 82. 295 Vgl. Karpen, Die Verweisung als Mittel der Gesetzgebungstechnik, 1970, S. 101 ff.; Debus, Verweisungen in deutschen Rechtsnormen, 2008, S. 106 ff. 296 Eine Sprachverwirrung lässt sich tatsächlich fast ausschließlich an solchen Schnittstellen beobachten, vgl. oben die Beispiele im 1. Kap., B I 1, S. 43 ff. 297 Insbesondere unten 3. Kap., D IV 1, S. 284 f. („Hauptverwaltung“ als Anknüpfungskriterium), 4. Kap., B IV, S. 352 f. (Auslegung von „Aktie“).
D. Methodik II: Verweisungstechnik
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Die Frage nach dem Verhältnis zwischen SE-VO und IPR stellt sich an zwei Stellen.298 Offensichtlicher stellt sich die Frage dann, wenn bereits klar ist, dass die SE-VO anwendbar ist. Besonders an der SE-VO ist, dass sie das anwendbare Recht auch für manche Fragen bestimmt, die sie selbst nicht beantwortet. Der Bereich, für den sie das anwendbare Recht bestimmt, wird in der Literatur als „Regelungsbereich“ bezeichnet. Da die SE-VO das Recht innerhalb ihres Regelungsbereichs nicht vollständig selbst regelt, verweist sie für einen Teil ihres Regelungsbereichs in Art. 9 SE-VO (und einer Reihe weiterer Normen) direkt auf das Sachrecht299 der Mitgliedstaaten, verdrängt also innerhalb des Regelungsbereichs das IPR der Mitgliedstaaten. Weniger offensichtlich stellt sich die Frage, wie das Verhältnis der SE-VO zum IPR ist, wenn die Anwendbarkeit der SE-VO noch nicht geklärt ist. Ist die SE-VO ohne Weiteres anwendbar, oder muss sie erst als Teil einer (mitglied-?)staatlichen Rechtsordnung vom IPR berufen werden? Hier ergibt sich die Lösung für Fälle zwischen Mitgliedstaaten aus der Normenhierarchie: Die SE-VO geht insofern nationalem IPR vor und bestimmt ihre Anwendbarkeit (nicht anders als sonstiges EU-Recht) selbst. 300 Fragen der Anwendbarkeit können sich nur in (hier nicht näher zu vertiefenden) Fällen mit Drittstaatenbezug stellen.301 Die Kollisionsnorm ist wiederum Art. 9 SE-VO, der insofern eine Doppelfunktion erfüllt. 302 Anknüpfungskriterium ist somit der dort genannte „Sitz“ (dazu näher unten 3. Kap., C I, S. 219 ff.), Anknüpfungsgegenstand ist grundsätzlich wieder der Regelungsbereich der SE-VO (mit wenigen hier zu vernachlässigenden Ausnahmen, die sich aus Besonderheiten in den Erwägungsgründen ergeben).303 Der Umfang des Regelungsbereichs ist nicht ganz eindeutig geklärt, die SEVO regelt diesen nicht ausdrücklich (vgl. Art. 9 SE-VO: das Recht des Sitzstaates findet Anwendung „… in Bezug auf die nicht durch diese Verordnung geregelten Bereiche oder, sofern ein Bereich nur teilweise geregelt ist, in Bezug auf die nicht von dieser Verordnung erfassten Aspekte“), jedoch können 298 Diese Zweiteilung ist am deutlichsten bei Engert, ZVglRWiss 104 (2005), 444, dessen Verständnis die sich oben anschließenden Absätze weitgehend folgen. 299 Nicht unumstritten, aber richtige und herrschende Meinung, vgl. dazu mit Begründung und weiteren Nachweisen unten 4. Kap., B IV, S. 352. 300 Engert, ZVglRWiss 104 (2005), 444 (450 f.): implizite Anwendungsnorm. 301 Dazu Engert, ZVglRWiss 104 (2005), 444 (452 f.). 302 Engert, ZVglRWiss 104 (2005), 444 (454 f.). 303 Umstritten ist wegen der Erwägungsgründe 15 f. SE-VO insbesondere, inwiefern das Konzernrecht zum Regelungsbereich der SE-VO gehört. Teilweise wird hier ausnahmsweise eine Gesamtverweisung angenommen, Lächler/Oplustil, NZG 2005, 381 (385 ff.); Brandi, NZG 2003, 889 (890). Eine Ausnahme vom Regelungsbereich sehen u.a. Habersack, ZGR 2003, 724 (742); Ebert, BB 2003, 1854 (1856). Wohl vorzugswürdig ist es, anzunehmen, die SE-VO regele nur das Konzernrecht der beherrschten SE, Engert, ZVglRWiss 104 (2005), 444; J. Wagner, NZG 2002, 985 (988).
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1. Kapitel: Methodik
u.a. die Überschriften und die Systematik herangezogen werden.304 Jedenfalls endet der Regelungsbereich dort, wo die SE wie jeder andere Teilnehmer am Geschäftsverkehr betroffen ist305 – etwa wird ein Kaufvertrag, an dem eine SE teilnimmt, selbstverständlich nicht zwingend vom Statut des Sitzstaates der SE geregelt, auch wenn das Kaufrecht nach dem Wortlaut des Art. 9 SE-VO ein „nicht durch diese Verordnung geregelte[r] Bereich“ ist. Richtigerweise ist aber auf diese Frage die gesamte SE-VO und damit auch Art. 9 SE-VO schon gar nicht anwendbar, das anwendbare Recht wird vielmehr nach dem IPR der Mitgliedstaaten (unter Einschluss des europäischen IPR, hier also der ROM IVO) bestimmt. Die Frage liegt nämlich außerhalb des Regelungsbereichs der SE-VO. Der Umfang des Regelungsbereichs umfasst jedenfalls gesellschaftsrechtliche Fragen (als Indiz kann herangezogen werden, dass eine Frage von den Mitgliedstaaten zum Gesellschaftsstatut gerechnet wird 306 ), ist aber im Einzelnen umstritten. Für diese Untersuchung ist eine umfassende Bestimmung entbehrlich, in Einzelfällen wird jedoch auf die Frage zurückzukommen sein. Wichtig für das zur systematischen und teleologischen Auslegung der SE-VO nötige Verständnis ist die Funktion des Regelungsbereichs: Innerhalb des Regelungsbereichs verdrängt die SE-VO das IPR der Mitgliedstaaten, außerhalb findet das IPR der Mitgliedstaaten Anwendung. Was der SE-VO durch Auslegung entnommen werden kann, liegt also jedenfalls innerhalb des Regelungsbereichs der SE-VO und wird gerade nicht nach dem IPR der Mitgliedstaaten angeknüpft. Die SE-VO verdrängt damit im Rahmen ihres Regelungsbereiches das IPR der Mitgliedstaaten. Zugleich verweist sie aber selbst für Teile ihres Regelungsbereiches auf das (Sach-)Recht der Mitgliedstaaten, verfährt also insofern ähnlich wie eine Kollisionsnorm des IPR. Dies führt zur Frage, ob und inwiefern bei der Anwendung der SE-VO auf die Methodik des IPR zurückgegriffen werden kann. II. Anleihen bei der Methodik des europäischen IPR In diesem Abschnitt sollen Parallelen zum (europäischen) Internationalen Privatrecht (IPR) aufgezeigt werden, um zu zeigen, dass die hier vertretenen Ergebnisse zum Umfang der autonomen Auslegung nicht auf die SE isoliert Anwendung finden, sondern darüber hinaus Geltung beanspruchen, in ähnlicher Form bereits in der Literatur vertreten werden und sich auch in der Rechtsprechung wiederfinden.
304 Brandt/Scheifele, DStR 2003, 547 (550 ff.) auch ausführlicher zur Bestimmung des Regelungsbereichs. 305 J. Wagner, NZG 2002, 985 (988). 306 Engert, ZVglRWiss 104 (2005), 444 (456 f.).
D. Methodik II: Verweisungstechnik
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Es ist bereits mehrfach auf die Parallele zwischen IPR und der Verweisungstechnik der SE-VO hingewiesen worden.307 Denen, die eine solche Gleichsetzung für „zumindest missverständlich“ halten,308 ist zuzugestehen, dass bei näherer Betrachtung tatsächlich Unterschiede zwischen beiden Systemen bestehen: Kollisionsnormen des IPR verweisen für einen Sachverhalt (etwa die Beziehung zweier Personen zueinander) auf eine Norm, die für diesen Zweck formuliert wurde (etwa französisches oder deutsches Familienrecht). Die Normen der SE-VO erklären dagegen auf einen Sachverhalt (die „SE“) Normen für anwendbar, die ursprünglich nicht für diesen formuliert wurden (etwa die Normen des deutschen Aktienrechts, die eigentlich für die AG formuliert sind).309 Ferner stellen die Verweise auf nationales Recht in der SE-VO einen „einseitigen Rechtsanwendungsbefehl“ dar, nicht eine Kollisionsnorm wie im IPR – man kann sich der Verweisung etwa nicht durch eine Rückverweisung entledigen,310 auch ein ordre-public-Vorbehalt ist nicht vorstellbar. Dennoch bestehen Parallelen zwischen den Rechtstechniken der IPR-Kollisionsnormen einerseits und den Verweisungen der SE-VO andererseits. Jeweils handelt es sich um die Berufung einer zivilrechtlichen Norm. Die dafür übliche IPR-Gesetzestechnik findet sich auch in der SE-VO wieder: Hier wird ebenfalls für einen Anknüpfungsgegenstand (bei der SE-VO je nach Norm verschieden, z.B. „Aktie“ für Art. 5 SE-VO, eine Auffangregelung ist in Art. 9 Abs. 1 lit. c (ii) SE-VO enthalten311) über ein Anknüpfungsmoment (in der SE-VO
307
So schon (mit Bezug auf SE-VOV 1991) Merkt, BB 1992, 652 (654) („Mischung aus Aktiengesetz und Aktienkollisionsgesetz“); Merkt, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1991, 169 (172); Schwarz, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2000, Rn. 960 („internationalprivatrechtliche Funktion“); mit Blick auf den Europäischen Verein J. Wagner, Der Europäische Verein, 2000, S. 58; zur SE J. Wagner, NZG 2002, 985 (987); Koke, Finanzverfassung der SE, 2005, S. 14 f.; ähnlich auch (für die Vorentwürfe) Kreuzer, in: MüllerGraff (1999), 457 (473); Seif, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1997, 225 (232 ff.). 308 Teichmann, ZGR 2002, 383 (396); ablehnend auch Casper, in: FS Ulmer 2003, 51 (65). 309 Vgl. Teichmann, ZGR 2002, 383 (395 f.). 310 Teichmann, ZGR 2002, 383 (396). 311 Der genaue Umfang des Regelungsbereichs von Art. 9 Abs. 1 lit. c (ii) SE-VO ist unklar und Gegenstand von Diskussionen in der Literatur. Als Faustregel lässt sich sagen, dass darunter fällt, was „Gesellschaftsrecht“ ist, Ficker, in: FS Sanders 1972, 37 (45); J. Wagner, NZG 2002, 985 (988); Engert, ZVglRWiss 104 (2005), 444 (456); Schürnbrand, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 9 SE-VO Rn. 25; Kindler, in: MüKoBGB Bd. 11, 2015, IntGesR Rn. 82; vom Ergebnis her ähnlich die Abgrenzung zwischen „Organisation der Gesellschaft“ und ihrer Tätigkeit, z.B. bei Lindacher, in: Lutter (1976), 1 (3 f.); Geßler, BB 1967, 381 (384). Zu Methoden, den Umfang präziser zu bestimmen, und für weitere Nachweise vgl. darüber hinaus Brandt/Scheifele, DStR 2003, 547; sowie Lächler/Oplustil, NZG 2005, 381; für Einzelfragen vgl. auch Schäfer, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 9 SE-VO Rn. 4; Schürnbrand, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 9 SE-
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1. Kapitel: Methodik
wäre dies gem. Art. 9 SE-VO v.a. der Satzungssitz, dazu ausführlicher unten 3. Kap., C I, D IV 1, S. 219 ff. und S. 284 ff.) eine Rechtsordnung eines Mitgliedstaates („Statut“ im IPR) berufen. Der „Anknüpfungsgegenstand“ besteht dabei im Bereich der SE meist aus vorformulierten Rechtsfragen.312 Davon unterscheiden sich die Verweisungsnormen des Internationalen Zivilverfahrensrechts (IZVR) nur insofern, als Rechtsfolge nicht die Anwendbarkeit einer bestimmten Rechtsordnung ist, sondern die Zuständigkeit eines Gerichts. Auch wenn sie deswegen (teilweise) nicht mehr als „Kollisionsnormen“ bezeichnet werden,313 ist der (für diese Untersuchung interessierende) Tatbestand der Normen jeweils gleich. Wenn im Folgenden Parallelen zwischen SE-VO und IPR gezogen werden, ist das IZVR daher jeweils mitgemeint. Beiden Rechtstechniken, IPR (und IZVR) einerseits und SE-VO andererseits, ist überdies – und bedeutsam für die hier verfolgte Fragestellung der Sprachverwirrung – gemeinsam, dass ein Rechtsakt auf einen anderen Rechtsakt verweist, der (möglicherweise) eine dem verweisenden Rechtsakt fremde Systematik aufweist. Im (nationalen) IPR gilt dies schon bei Verweisungen auf das eigene Sachrecht, da die „Funktionsbegriffe“ des IPR von den „Systembegriffen314 des Sachrechts zu entkoppeln sind.315 Diese Entkopplung wird aber nochmals deutlicher bei Verweisungen auf fremdes Sachrecht, da beispielsweise für die Frage, ob ein ausländisches Rechtsinstitut „Ehe“ i.S.d. deutschen IPR ist, das Konzept der „Ehe“ des deutschen IPR nicht (allein) durch das BGB bestimmt sein kann (ansonsten gäbe es wohl nur in Deutschland eine „Ehe“, VO Rn. 27. Zur streitigen Frage, ob das Konzernrecht in diesen Regelungsbereich fällt, vgl. die Literaturhinweise oben im 1. Kap., D I, S. 81, Fn. 303. 312 Dies ist auch im Bereich des nationalen IPR nicht unüblich, vgl. Rauscher, Internationales Privatrecht, 2017, Rn. 443: „Sachverhalt kann hierbei ein rechtlich noch nicht eingegrenzter Lebenssachverhalt sein; häufig ist es aber bereits eine konkrete Rechtsfrage, für die ein anwendbares Recht zu ermitteln ist“; Dörner, StAZ 1988, 345 (348–350). 313 I. Scholz, Das Problem der autonomen Auslegung des EuGVÜ, 1998, S. 179; Fehrenbach, in: Binder/Eichel (2013), 223 (229) („keine kollisionsrechtliche, sondern eine internationalzivilverfahrensrechtliche“ Qualifikation/Auslegung); H. Roth, in: FS Stree/Wessels 1993, 1045 (1046); D. Leipold, in: FS Baumgärtel, 291 (294); wie hier dagegen Kohler, in: Die Formung europäischen Kollisionsrechts durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 15 (16). 314 Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht, 2004, S. 327 (§ 7 I) definieren diese als „dem systematischen Aufbau des eigenen materiellen Rechts“ entnommene Begriffe. Diese Definition passt so auf die nationalen Internationalen Privatrechte, die auf Ebene der Mitgliedstaaten erlassen werden (daher „eigenes“ materielles Recht); ebenso wohl Dörner, StAZ 1988, 345 (349). Eine Verwendung unter der Überschrift „Auslegung völkervertraglichen IPR“ findet sich bei Rauscher, Internationales Privatrecht, 2017, Rn. 114; dieses Verständnis wird auch hier zugrundegelegt. Anders verwendet Nehne den Begriff, der darunter wissenschafts- und praxisintern gebildete Begriffe wie „Anknüpfungsgegenstand“ versteht im Gegensatz zu solchen, die sich in Gesetzen finden, Nehne, Europäisches IPR, 2012, S. 13. 315 von Hein, in: MüKoBGB Bd. 10, 2015, Einl. IPR Rn. 123; Dörner, StAZ 1988, 345 (350 m.w.N. in Fn. 36).
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das IPR soll aber gerade auch ausländische Rechtsinstitute erfassen). Bei der SE-VO ergibt sich dies schon aus den Systemunterschieden zwischen den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, sodass ein europäischer Rechtsakt jedenfalls zu einigen dieser Systeme Unterschiede aufweisen muss; schließlich wurde die Verweisungstechnik ja gerade für Rechtsgebiete verwendet, in denen die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten sich im politischen Einigungsprozess als unüberbrückbar erwiesen. 316 Für den hier interessierenden Aspekt der „Sprachverwirrung“ sind damit beide Fälle ähnlich: Jeweils gilt, dass bei dem Verweis auf eine andere Systematik ein einzelnes System die Antworten nicht mehr liefern kann, sondern dass auf Rechtskonzepte einer höheren Abstraktionsstufe zurückgegriffen werden muss. Weitere Parallelen ergeben sich etwa daraus, dass auch für die Verweisungen in der SE-VO darum gestritten wird, ob es sich dabei um Sachnorm- oder Gesamtverweisungen handelt – wobei die gleichen Argumente wie in IPR-Fragen bemüht werden, häufig auch dieselbe Literatur zitiert wird.317 Auch für die Bestimmung des Umfangs der Verweise in das nationale Recht (etwa für die Bestimmung des Regelungsbereichs der Generalverweisung aus Art. 9 SE-VO) ist in der Literatur bereits öfter auf die Methoden des IPR zurückgegriffen worden.318 Diese Parallelen legen es nahe, auch für die hier zu untersuchenden Fragen auf die Methodik des IPR zurückzugreifen. Zwar sind die Rechtsakte des europäischen IPR seit der EuGVO (2002) jünger als die SE-VO. Gleichwohl gibt es, bedingt durch die Möglichkeiten des Rückgriffs auf die in den verschiedenen Mitgliedstaaten schon zum IPR entwickelte Methodik oder auf Vorgängerregelungen wie das EuGVÜ (das der EuGH methodisch schon immer wie genuines Europarecht, nicht Völkerrecht behandelt hat319) zur Methodik des europäischen IPR in größerem Umfang Literatur und auch Rechtsprechung des EuGH. Dies gilt insbesondere für die nun im nächsten Abschnitt zu erörternde Frage der autonomen Auslegung des Tatbestands einer Verweisungsnorm, für die auf Beispiele aus dem (europäischen) IPR zurückgegriffen werden kann.
316
Vgl. dazu oben Einl. B, S. 9 f. Vgl. zum Streit mit weiteren Nachweisen unten 4. Kap., B IV, S. 352 (zutreffend ist nach der h.M. eine Sachnormverweisung). 318 von Caemmerer, in: FS Kronstein 1967, 171 (193); Ficker, in: FS Sanders 1972, 37 (15); Lindacher, in: Lutter (1976), 1 (5); Engert, ZVglRWiss 104 (2005), 444 (457); auf den methodischen Gleichlauf weist (für eine parallele Regelung beim Europäischen Verein) auch hin J. Wagner, Der Europäische Verein, 2000, S. 53. 319 Hess, IPRax 2006, 348 (351); B. von Hoffmann/Thorn, Internationales Privatrecht, 2007, Rn. 191; Martiny, RabelsZ 45 (1981), 427 (437); Kropholler, in: FS MPI 2001, 583 (589). 317
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1. Kapitel: Methodik
III. Autonome Auslegung von Kollisionsnormen Hier ist die Frage zu beantworten, inwiefern auch Verweisungsnormen in der SE-VO, die auf das Recht der Mitgliedstaaten verweisen, autonom auszulegen sind. Die Frage ist für diese Untersuchung deswegen von Bedeutung, weil die Verweisungsnormen bereits einen großen Teil der SE-VO ausmachen („Mischung aus Aktiengesetz und Aktienkollisionsgesetz“320), aber auch deswegen, weil die Rechtstermini ohne Definition – spätestens wegen der Generalverweisung in Art. 9 Abs. 1 lit. c (ii) SE-VO – ebenfalls so gelesen werden könnten, dass sie auf das Recht der Mitgliedstaaten verweisen. Wie im vorangegangenen Abschnitt (oben 1. Kap., D II, S. 82 ff.) dargestellt, kann dabei auf die Methodik des IPR, insbesondere des europäischen IPR, zurückgegriffen werden. 1. Gründe für die autonome Auslegung Eine solche Verweisungsnorm lässt sich (wie alle vollständigen Rechtsnormen321) auf ein WENN-DANN-Schema zurückführen.322 Auf Tatbestandsseite der Norm werden dabei die Rechtsfragen mit Rechtstermini umschrieben. Für diese Untersuchung wird noch maßgeblich werden, inwiefern diese Rechtstermini auf Tatbestandsseite autonom auszulegen sind. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Artikel 5 SE-VO sieht vor, dass „für Aktien… die Vorschriften, die für eine Aktiengesellschaft mit Sitz in dem Mitgliedstaat, in dem die SE eingetragen ist, gelten würden“. Bei Anwendung des Schemas lässt sich dies so darstellen: WENN (Rechtsfrage „Aktie“) DANN (Rechtsordnung „Sitz“). Innerhalb der DANN-Seite würden sich weitere WENN-DANN-Normen finden lassen, die der Rechtsordnung des Satzungssitzes zu entnehmen wären. Damit entstammt die DANN-Seite letztlich komplett dem nationalen Recht. Dann müssen aber wenigstens die auf der WENN-Seite der Verweisungsnorm enthaltenen Voraussetzungen der Norm europäisch bestimmt sein. Diese Voraussetzungen werden aber durch Konzepte gebildet, nicht durch Termini. Die Termini verweisen lediglich auf die Konzepte. Wenn die Konzepte keine europäischen wären, wäre der Charakter der Norm als ein europäischer Anwendungsbefehl, ja als europäische Norm überhaupt in Frage gestellt. Das europäische Recht hätte nicht mehr die Aufgabe, die Bedeutung des Tatbestands (also dessen Konzepte) festzulegen, sondern nur noch, wie diese Konzepte zu bezeichnen wären (die Termini). Den europäischen Termini könnte das mitgliedstaatliche Recht (fast) beliebig Konzepte zuweisen. Das 320 So schon mit Blick auf den Entwurf von 1991 Merkt, BB 1992, 652 (654); Merkt, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1991, 169 (172). 321 Allgemein zu Rechtsnormen (und zur Unterscheidung von vollständigen und unvollständigen Rechtsnormen) Larenz/Canaris, Methodenlehre (Studienausgabe), 1995, S. 71 ff., beispielsweise S. 72. 322 Explizit und ausführlich Dörner, StAZ 1988, 345 (346–348).
D. Methodik II: Verweisungstechnik
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Europäische würde sich dann in einer Sprachregelung erschöpfen, wie die mitgliedstaatlichen Konzepte zu bezeichnen wären. Die Norm verwiese kraft eines mitgliedstaatlich bestimmten Tatbestandes auf mitgliedstaatliches Recht. Mitgliedstaatliches Recht würde also letztlich seinen Anwendungsbereich selbst bestimmen. Dies aus einer europäischen Norm abzulesen, wäre dann nicht mehr nötig. Tatsächlich gilt aber mitgliedstaatliches Recht, in Deutschland etwa das AktG, für die SE nicht aus eigener Kraft oder auch nur „subsidiär“323 in den Lücken, die die SE-VO hat, sondern es hat – da es den fraglichen Sachverhalt, die SE, ja gar nicht selbst regelt – nur eine die SE-VO ergänzende Funktion, für die es auf einen europäischen Rechtsanwendungsbefehl angewiesen ist324 (für SEAG und SEBG gilt die Aussage eingeschränkt). Mit anderen Worten: Im Tatbestand der Verweisungsnorm muss nicht nur ein (europäischer) Rechtsterminus stehen, dort muss sich auch ein europäisches Rechtskonzept finden lassen – denn die Frage, auf was verwiesen wird, muss das europäische Recht beantworten. Dieses etwas kann aber nur mit einem Rechtskonzept bezeichnet werden, nicht mit einem bloßen Terminus. Der Sinn des Terminus ist lediglich, ein Konzept sprachlich fassbar und ausdrückbar zu machen. Würde die europäische Norm nicht-autonom ausgelegt, hieße das, dass die Mitgliedstaaten nur durch den Terminus gebunden sind, an diesen aber fast beliebig eigene Rechtskonzepte knüpfen können – eine wirkliche Aussage käme der europäischen Norm dann schon nicht mehr zu, sie wäre nur insofern überhaupt noch als „Norm“ zu bezeichnen, als man sagen kann: „Die Norm läuft leer.“ Martiny formuliert das entscheidende Argument wie folgt: Nicht nur gilt, dass eine einheitliche Anwendung der europäischen Norm durch die divergierenden Rechte der Mitgliedstaaten gefährdet wäre, sondern vielmehr würde das „Auslegungsproblem nur auf eine andere Ebene“ verschoben: „Umfang und Art der Verweisung müßten ebenfalls geklärt werden“.325 Mit anderen Worten ist auch beim Rückgriff auf mitgliedstaatliches Recht eine autonome Auslegung des Tatbestands der Verweisung nötig. 2. Autonome Auslegung bereits h.M. im europäischen IPR und IZVR Nicht umsonst ist daher die autonome Auslegung des Tatbestands von Verweisungsnormen (Kollisionsnormen) im europäischen IPR, das ja ebenfalls auf
323 Diese Terminologie benutzen etwa Thoma/Leuering, NJW 2002, 1449 (1450, 1451). Dagegen Koke, Finanzverfassung der SE, 2005, S. 14. 324 Koke, Finanzverfassung der SE, 2005, S. 13 f. 325 Martiny, RabelsZ 45 (1981), 427 (435).
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1. Kapitel: Methodik
Normen der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten verweist, und im IZVR herrschende Meinung im Schrifttum326 und wird auch vom EuGH so praktiziert.327 Auch für den Bereich des EuGVÜ, für den der EuGH zu Anfang die Gleichwertigkeit einer autonomen und einer nicht-autonomen Auslegung verkündete,328 hat der EuGH nicht nur in einer Reihe von Urteilen die autonome Auslegung gegenüber einer nicht-autonomen bevorzugt,329 sondern ist auch vom
326 Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 2014, Rn. 55, 98; Hein/Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, 2011, Einl. EuGVO Rn. 69; B. von Hoffmann/Thorn, Internationales Privatrecht, 2007, Rn. 191 f.; Martiny, RabelsZ 45 (1981), 427 (446); Hess, IPRax 2006, 348 (352, 363); für IPR und IZVR Fehrenbach, in: Binder/Eichel (2013), 223 (228); Kropholler, in: FS MPI 2001, 583 (590); zum IPR Heiss/Kaufmann-Mohi, in: Leible/Unberath (2013), 181 (190 f., 196 ff.); Bittmann/Gruber, GmbHR 2008, 867 (869); a.A. I. Scholz, Das Problem der autonomen Auslegung des EuGVÜ, 1998, S. 126, 198; Schlosser, in: Schlosser/Hess, EU-Zivilprozessrecht, 2015, Einl. Rn. 29 f.; Schlosser, RIW 1988, 987 (988). Besonders streitig ist die Frage, wie „Erfüllungsort“ zu verstehen ist (jew. Art. 5 EuGVÜ, LugÜ, vgl. nunmehr die autonome Bestimmung des Erfüllungsorts in Art. 7 Nr. 1 lit. b EuGVVO, dazu Schlosser, in: Schlosser/Hess, EU-Zivilprozessrecht, 2015, Art. 7 EuGVVO Rn. 1a; Kropholler/von Hinden, in: GS Lüderitz 2000, 401 (403 ff.)). Grund ist wohl, dass dies einer der wenigen Fälle war, in denen der EuGH gegen eine autonome Auslegung entschied (EuGH, Rs. 12/76, Urt. vom 06.10.1976, Slg. 1976, 1473 (Tessili), dazu Fn. 328). Für das Konzept des „Erfüllungsorts“ etwa in diesem Sinne früh bereits Lüderitz, in: FS Zweigert (1981), 233 (250); Schwenzer, IPRax 1989, 274 (276); Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 2014, Rn. 301; Valloni, Gerichtsstand der Erfüllungsorts, 1998, S. 292; Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, 1995, S. 679; Rüßmann, IPRax 1996, 402 (403 f.); a.A. Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 2015, Rn. 1462; Schlosser, in: GS Bruns 1980, 45 (57); für die frühere Rechtslage und unter Hinweis auf die EuGH-Rechtsprechung offenbar auch B. von Hoffmann/Thorn, Internationales Privatrecht, 2007, Rn. 233a (Fn. 416). Zur parallelen Streitigkeit, ob auch „Vertrag“ (Art. 5 EuGVVO, Art. 5 EuGVÜ) autonom auszulegen sei, vgl. einerseits (bejahend, wie hier) Stadler, in: FS Musielak 2004, 569 (575, 593 f.); skeptisch dagegen Schlosser, IPRax 1984, 65 (68). 327 EuGH, Rs. C-334/00, Urt. vom 17.09.2002, Slg. I-2002, 7357 („Tacconi“), Rz. 19 f. 328 EuGH, Rs. 12/76, Urt. vom 06.10.1976, Slg. 1976, 1473 (Tessili), Rz. 11. Das Urteil ist später fast durchgehend als „anfängliche Unsicherheit“ (von der er sich „bis heute nicht getraut“ habe abzuweichen) oder „tout à fait regrettable“ bezeichnet worden, so die Stellungnahmen in der Literatur und der Generalanwälte, vgl. zur Kritik Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 2014, Rn. 301; Kropholler/von Hinden, in: GS Lüderitz 2000, 401 (402); sowie (selbst dagegen den EuGH in Schutz nehmend) Schlosser, in: GS Bruns 1980, 45 (53). Allerdings hat der EuGH das Urteil 1994 (EuGH, Rs. C-288/92, Urt. vom 29.06.1994, Slg. I-1994, 2913 („Custom Made Commercial“)) und nochmals – gegen Generalanwalt, Kommission, deutsche und britische Regierung – 1999 bestätigt (EuGH, Rs. C440/97, Urt. vom 28.09.1999, Slg. I-1999, 6307 („Groupe Concorde“)), wiederum unter heftiger Kritik aus der Literatur („Flucht aus der Verantwortung“), D. Leipold, in: GS Lüderitz 2000, 431 (436); Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 2014, Rn. 301. 329 Erstmals EuGH, Rs. C-125/92, Urt. vom 13.07.1993, Slg. I-1993, 4075 („Mulox IBC Ltd“), Rz. 10; seitdem in vielen weiteren Urteilen bestätigt, u.a. EuGH, Rs. C-443-03, Urt.
D. Methodik II: Verweisungstechnik
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Grundsatz der Gleichwertigkeit abgerückt, sodass die nicht-autonome Auslegung zumindest rechtfertigungsbedürftig ist.330 In der Literatur werden teils einige wenige Fälle der Bestimmung des Tatbestands nach nationalem Recht als Ausnahmen angeführt.331 Bei näherem Hinsehen entpuppen sich diese Fälle jedoch als nur scheinbare Ausnahmen 332 oder bedauerliche Fehlgriffe des Gesetzgebers.333 Auf die Fälle wird später noch zurückzukommen sein, wenn die Rede davon sein wird, welche Fälle sich noch mit der Idee des „universalen Rechtskonzeptes“ fassen lassen.334 3. Verdeutlichung am Beispiel von aktuellen Fragen im IPR Die Problematik lässt sich verdeutlichen, wenn man eine Parallele zur aktuellen Diskussion um die sogenannten „insolvenznahen Haftungsinstrumente“335 vom 08.11.2005, Slg. I-2005, 9611, Rz. 45; EuGH, Rs. C-14/07, Urt. vom 08.05.2008, Slg. I-2008, 3367, Rz. 60; EuGH, Rs. C-167/08, Urt. vom 23.04.2009, Slg. I-2009, 3477, Rz. 19. 330 EuGH, Rs. C-443-03, Urt. vom 08.11.2005, Slg. I-2005, 9611, Rz. 45. Vgl. auch Schlussanträge des Generalanwalts Francesco Capotorti, Rs. 150/77, 31.05.1978 („Bertrand/Ott“), Rz. 2 („Methode des Rückgriffs… nur noch eine Auffangfunktion“). 331 von Hein, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, 2016, Einl Rom I-VO Rn. 55: „Ausnahmen muss der Grundsatz der autonomen Auslegung allerdings dort erfahren, wo die Rom I-VO selbst auf die lex fori (bzw deren IPR) verweist“; er nennt den ordre public oder „familienähnliche Rechtsverhältnisse“ in Art. 1 Abs. 2 lit. b und c Rom I-VO; Unberath/Cziupka, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, 2016, Einl. Rom II-VO Rn. 50 verweist auf die „Arbeitskampfmaßnahme“ (Art. 9 Rom II-VO, Erwägungsgrund 27 S. 1) und Rechtsverhältnisse, die Familienverhältnissen vergleichbar sind (Erwägungsgrund 10 S. 2 Rom II-VO); ebenso für Verweise auf nationales Recht Adolphsen, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 2015, § 1 Rn. 126. 332 M.E. stellt der erwähnte Verweis auf den ordre public der Mitgliedstaaten einen solchen Fall dar, da ein uneingeschränkter Verweis auch von den Autoren, die hier eine Ausnahme von der autonomen Auslegung machen wollen, nicht befürwortet wird. Vielmehr soll der EuGH auch hier Kriterien aufstellen, die bei der Auslegung des nationalen ordre public beachtet werden müssen, vgl. von Hein, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, 2016, Einl. Rom I-VO Rn. 42; I. Scholz, Das Problem der autonomen Auslegung des EuGVÜ, 1998, S. 50 f. Vgl. auch zu einem ähnlichen Fall (Art. 33 II EuGVÜ) den eingeschränkten Verweis des EuGH („Das Recht des Vollstreckungsstaats gilt jedoch vorbehaltlich der Beachtung der Ziele des Übereinkommens“), EuGH, Rs. 198/85, Urt. vom 10.07.1986, Slg. 1986, 2437 (Tenor). Unten 1. Kap., D IV 2, S. 96, wird diskutiert, inwiefern die vom EuGH aufzustellenden Mindestregeln ein autonomes Konzept darstellen. 333 Vgl. etwa zu Art. 9 Rom II-VO („Arbeitskampfmaßnahme“): „Der Mangel an einem autonomen Begriffsverständnis ist jedoch misslich, wenn bedacht wird, dass gerade dieser Terminus entscheidend die sachliche Reichweite des Art 9 festlegt“, Unberath/Cziupka/Pabst, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, 2016, Art. 9 Rom II-VO Rn. 7; Palao Moreno, YbPrivIntL IX (2007), 115 (119). Zu den Familienverhältnissen in Art. 1 Abs. 2 Rom I-VO vgl. die rechtspolitische Kritik bei Max Planck Institute for Comparative and International Private Law, RabelsZ 71 (2007), 225 (234). 334 Unten 1. Kap., D IV 2, S. 96 ff. 335 Begriff nach Hübner, IPRax 2015, 297 (303).
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1. Kapitel: Methodik
zieht. Insbesondere hat die Rechtsprechung des EuGH zur Niederlassungsfreiheit in den Urteilen „Centros“,336 „Überseering“337 und „Inspire Art“338 (dazu ausführlicher unten 3. Kap., B VI, S. 216 ff.) dazu geführt, dass als gesellschaftsrechtlich zu qualifizierende339 Haftungsinstitute für nicht mehr anwendbar gehalten wurden, sofern es um sogenannte (EU-)Auslandsgesellschaften ging, also Gesellschaften wie insbesondere englische Limited, die im EU-Ausland gegründet oder (zumindest) registriert und nach dortigem Recht organisiert sind, jedoch ihren Tätigkeitsschwerpunkt in Deutschland haben. Anders wäre dies bei insolvenz- oder deliktsrechtlichen Haftungsinstrumenten, da deren Anknüpfungskriterien (im Insolvenzrecht der Mittelpunkt der tatsächlichen Interessen des Schuldners i.S.d. Art. 3 Abs. 1 S. 1, Art. 4 EuInsVO,340 im Deliktsrecht die Anknüpfung gem. Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO, die ebenfalls regelmäßig auf den Sitzstaat verweist341) regelmäßig im Inland belegen sind. Delikts- und insolvenzrechtliche Institute könnten die durch die EuGH-Rechtsprechung entstandenen Schutzlücken daher wieder schließen.342 Mittlerweile hat die erste Welle der Limited-Euphorie (als Alternative zur GmbH) in Deutschland eine Reihe von insolvenzrechtlich abzuwickelnden Gesellschaften hinterlassen.343 Für eine englische Limited-Gesellschaft, die in Deutschland tätig ist
336
EuGH, Rs. C-212/97, Urt. vom 09.03.1999, Slg. I-1999, 1484 („Centros“). EuGH, Rs. C-208/00, Urt. vom 05.11.2002, Slg. I-2002, 9919 („Überseering“). 338 EuGH, Rs. C-167/01, Urt. vom 30.09.2003, Slg. I-2003, 10195 („Inspire Art“). 339 Unter Qualifikation soll im Folgenden – wie auch allgemein üblich – die Subsumtion eines Sachverhalts unter den Tatbestand der Kollisionsnorm verstanden werden. Weit ausführlicher wird sich diese Untersuchung mit der Auslegung des Tatbestands von Kollisionsnormen befassen, dafür aber den Begriff „Qualifikation“, der teilweise in diesem Zusammenhang verwendet wird, vermeiden. Zu den verschiedenen Begriffsverständnissen vgl. jeweils m.w.N. Martiny, RabelsZ 45 (1981), 427 (430, 431 (Fn. 21)); Nehne, Europäisches IPR, 2012, S. 171; Dörner, StAZ 1988, 345 (348); I. Scholz, Das Problem der autonomen Auslegung des EuGVÜ, 1998, S. 181, Fn. 44; Heiss/Kaufmann-Mohi, in: Leible/Unberath (2013), 181 (186); wie hier auch Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht, 2004, S. 327 (§ 7 I); Stadler, in: FS Musielak 2004, 569 (575); anders („Qualifizieren […] heißt […] auslegen“) von Bar/Mankowski, IPR I, 2003, § 7 Rn. 138. 340 VO 848/2015/EU des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren, ABl. Nr. L 141 vom 05.06.2015, S. 19–72. Das Anknüpfungskriterium ist – insbesondere auch unter seiner englischen Fassung „centre of main interest“ bzw. „COMI“ – Gegenstand ausführlicher Diskussionen in der Literatur, vgl. zuletzt überblickshaft Kohlmann/Keller, in: Gottwald, Insolvenzrechts-Handbuch, 2015, § 131 Rn. 31 ff. 341 Servatius, DB 2015, 1087 (1091). 342 Merkt, ZGR 2004, 305 (322 f.), der angesichts der großen systematischen Unterschiede etwa im Kapitalerhaltungsrecht zwischen Deutschland und den USA, aber mittlerweile auch anderen europäischen Staaten auf die Bedeutung des Kollisionsrechts hinweist und (auch mit Blick auf die neuere EuGH-Rechtsprechung) für ein europaweit einheitliches Haftungsinstitut plädiert; s.a. Schanze/Jüttner, AG 2003, 30 (34 f.). 343 Servatius, DB 2015, 1087 (1087). 337
D. Methodik II: Verweisungstechnik
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und über die das Insolvenzverfahren eröffnet wird, gilt somit das deutsche Insolvenzrecht, aber englisches Gesellschaftsrecht. Beide Rechtsordnungen sehen beispielsweise vor, dass derjenige, der die Geschäfte einer Gesellschaft führt, deren Gesellschafter nicht mit ihrem persönlichen Vermögen haften, der Gesellschaft gegenüber haftbar ist, wenn er nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft Zahlungen leistet. Im deutschen Recht ist diese Regelung in § 64 S. 1 GmbHG enthalten, im englischen Recht in Sec. 213, 214 Insolvency Act 1986 (fraudulent trading, wrongful trading).344 Vereinfacht lautet die maßgebliche europäische Kollisionsnorm: „Für das Insolvenzrecht gelten die Regeln des Mitgliedstaates, in dem der Schuldner den Mittelpunkt seiner tatsächlichen Interessen hat.“ Würde „Insolvenzrecht“ nach dem Verständnis der Mitgliedstaaten eingeordnet, käme es zu Normenmangel oder Normenhäufung. Das englische Institut etwa wird insolvenzrechtlich qualifiziert, 345 jedoch ist englisches Insolvenzrecht nicht anwendbar, da der Tätigkeitsschwerpunkt der Insolvenzschuldnerin in Deutschland liegt. Würde man „Insolvenzrecht“ in Deutschland nicht autonom auslegen, sondern etwa auf den Inhalt der InsO beschränken, wäre § 64 S. 1 GmbHG ebenfalls nicht anwendbar, da es sich dann um Gesellschaftsrecht handeln würde und der – insoweit maßgebliche – Satzungssitz der Gesellschaft in England belegen wäre. (Freilich geht auch in Deutschland die h.M. davon aus, dass § 64 S. 1 GmbHG als insolvenzrechtlich zu qualifizieren ist.346) Jedoch ist
344
Hübner, IPRax 2015, 297 (300). Hübner, IPRax 2015, 297 (300); Servatius, DB 2015, 1087 (1089). 346 An erster Stelle ist der Gesetzgeber zu nennen, der der Norm (anlässlich einer Ergänzung des § 64 GmbHG im Zuge des MoMiG, BT-Drs. 16/6140, S. 47) einen „starken insolvenzrechtlichen Bezug“ bescheinigte, der es erleichtere, „§ 64 als insolvenzrechtliche Norm zu qualifizieren“; ebenso BGH, II ZR 119/14, Beschl. vom 02.12.2014 = IPRax 2015, 334, 335; zustimmend etwa Servatius, DB 2015, 1087 (1088). Soweit der Gesetzgeber allerdings davon ausgeht, dies erleichtere auch die Anwendung von § 64 GmbHG „gemäß Art. 3 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1 und 2 Satz 1 der Europäischen Insolvenzverordnung (EuInsVO) auch in Insolvenzverfahren über das Vermögen ausländischer Gesellschaften“ (ebda.), ist mit Servatius, DB 2015, 1087 (1089) zu konstatieren, dass der deutsche Gesetzgeber die autonome Auslegung – also auf europäischer Ebene – nicht verbindlich vorgeben kann; ebenso Krolop, ZIP 2007, 1738 (1745) („Umtopfen“ reicht nicht); Fehrenbach, in: Binder/Eichel (2013), 223 (228 und 235 f.) („mehr Desiderat als Beweis“, S. 236); Bittmann/Gruber, GmbHR 2008, 867 (869); Behrens, IPRax 2010, 230 (231), vgl. aus der Rechtsprechung OLG Köln, 18 U 3/10, Urt. vom 28.09.2010 = ZIP 2010, 2016, 2017. Für eine insolvenzrechtliche Qualifikation der Insolvenzverschleppungshaftung weiter KG, 8 U 250/08, Urt. vom 24.09.2009 = ZIP 2009, 2156 (zu § 64 Abs. 2 GmbHG i.d.F. vor dem MoMiG); Spahlinger, in: FS Wegen 2015, 527 (538); Thole, Gläubigerschutz durch Insolvenzrecht, 2010, S. 866 ff.; Kindler, in: Sonnenberger (2007), 497 (506–509); Eidenmüller, NJW 2005, 23, 1618 (1620); Eidenmüller, RabelsZ 70 (2006), 474 (498); a.A. (gesellschaftsrechtlich) dagegen Ringe/Willemer, NZG 2010, 56 (56 f.); ebenso zum früheren § 64 Abs. 1 GmbHG a.F. (vor dem MoMiG) Ringe/Willemer, EuZW 2006, 20, 621 (624); Ulmer, NJW 2004, 1201 (1207 f.). 345
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1. Kapitel: Methodik
der Tatbestand der Kollisionsnorm (Art. 4 EuInsVO), „Insolvenzrecht“, autonom auszulegen, 347 auch der BGH legt bei Unsicherheiten die Frage dem EuGH vor.348 Durch eine solche Auslegung, die etwa durch Rückgriff auf bereits ergangene Rechtsprechung des EuGH oder systematischen Vergleich mit dem einschlägigen IZVR 349 erfolgen kann, wird ein letztlich von keiner Rechtsordnung gewollter Normenmangel vermieden.350 Das Argument lässt sich weiter zuspitzen. Eine nicht autonome Auslegung von europäischen Verweisungs- oder Kollisionsnormen würde den Mitgliedstaaten freie Hand lassen, etwa durch eine Umstellung der Systematik ihrer innerstaatlichen Rechtsordnung die Anwendung ihres eigenen Rechts auch in Bereichen zu steuern, wo diese Steuerung eigentlich dem europäischen Recht vorbehalten ist. Um in den Genuss der Anknüpfung aus Art. 3, 4 EuInsVO zu kommen, könnte ein Staat das, was gemeinhin unter Gesellschafts-, Wettbewerbs-, Delikts- oder Steuerrecht eingeordnet wird, zu „Insolvenzrecht“ deklarieren und damit auch auf ausländische Gesellschaften anwenden, selbst dort, wo dies der europäischen Idee widerspricht. Dies mag ein argumentum ad absurdum sein, jedoch lässt sich nicht sagen, dass dies eine völlig lebensfremde Absurdität darstellt. Das Unterfangen des deutschen Gesetzgebers, die Insolvenzverschleppungshaftung nicht mehr in den die Rechtsformen betreffenden Gesetzen, sondern in § 15a InsO (und damit rechtsformneutral) zu regeln351 und damit dank der „insolvenzrechtlichen Sitztheorie“ 352 auch auf (Schein-)Auslandsgesellschaften anzuwenden, 353 oder der Vorstoß des 347
BGH, II ZR 119/14, Beschl. vom 02.12.2014 = IPRax 2015, 334, 335; Hübner, IPRax 2015, 297 (298 f.); Servatius, DB 2015, 1087 (1089). 348 Vgl. Vorlagebeschluss BGH, II ZR 119/14, Beschl. vom 02.12.2014 = IPRax 2015, 334; dazu EuGH, Rs. C-594/14, Urt. vom 10.12.2015 und nachfolgend BGH, II ZR 119/14, Urt. vom 15.03.2016 – juris (jeweils insolvenzrechtliche Qualifikation). 349 Dort war die Frage bereits geklärt. Der BGH legte die Frage für das IPR dennoch dem EuGH vor, da die Tatsache, dass „sich die Fragenkreise überschneiden, […] die Vorlage […] nicht entbehrlich“ machte, BGH, II ZR 119/14, Beschl. vom 02.12.2014 = IPRax 2015, 334, 336. 350 Es sei hierfür vorausgesetzt, dass sich die Institute des englischen und des deutschen Rechts tatsächlich entsprechen, sodass beide Rechtsordnungen, hätten sie die Fälle jeweils in ihrer Gesamtheit zu beurteilen, stets zum gleichen Ergebnis kämen. 351 So geschehen im Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) vom 23.10.2008, BGBl. I, S. 2026. Zur auch auf das Kollisionsrecht zielenden Intention dieser Neuregelung vgl. unten 3. Kap., D I 1 a, S. 227. 352 Servatius, DB 2015, 1087 (1087). 353 Ebenso die h.M. in Deutschland, Haubold, in: Gebauer/Wiedmann, Zivilrecht unter europäischem Einfluss, 2010, Kap. 32 Rn. 92; Spahlinger, in: FS Wegen 2015, 527 (537); Kühnle/Otto, IPRax 2009, 117 (117 f.); Leible, in: Michalski, GmbHG, Kommentar Bd. I, 2017, Systematische Darstellung 2, Internationales Gesellschaftsrecht, Rn. 160; Balthasar, RIW 2009, 221 (226); a.A. (gesellschaftsrechtlich) dagegen Ringe/Willemer, NZG 2010, 56 (57); Bittmann/Gruber, GmbHR 2008, 867 (869–871); Fehrenbach, in: Binder/Eichel (2013), 223 (234 ff.); Hirte, in: FS Lüer 2008, 387 (388 ff.).
D. Methodik II: Verweisungstechnik
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BGH, 354 mit der „Existenzvernichtungshaftung“ eine formal an § 826 BGB aufgehängte, jedoch weitgehend konturenlose, deliktische Insolvenzverursachungshaftung355 zu kreieren, die dann möglicherweise die vom EuGH im Bereich des Gesellschaftsrechts gezogenen Beschränkungen umgeht, 356 zeigen zumindest, dass in den Mitgliedstaaten erkannt wird, welches Potenzial dem Kollisionsrecht innewohnt und dass dort womöglich auch Bestrebungen bestehen, dieses Potenzial im eigenen Interesse zu nutzen.357 An dieser Stelle soll kein Urteil über die beiden erwähnten Vorstöße gefällt werden, die ja auch die autonome Auslegung des europäischen Rechts anerkennen und nur versuchen, die für eine solche Auslegung notwendigen Tatbestandsmerkmale zur Verfügung zu stellen. Sie sollen lediglich beispielhaft zeigen, dass eine nicht autonome Auslegung von europäischen Kollisionsnormen wegen der zu erwartenden Reaktionen der Mitgliedstaaten den Sinn dieser Normen untergraben würde. 4. Ergebnis Auf den Punkt gebracht lässt sich sagen, dass alle in der SE-VO enthaltenen Termini auf ein irgendwie geartetes europäisches Konzept verweisen müssen, also autonom auszulegen sind.358
354 BGH, II ZR 3/04, Urt. vom 16.07.2007, BGHZ 173, 246 („Trihotel“); vgl. bereits vorher zur Existenzvernichtungshaftung (unabhängig von einer Konzernsituation, jedoch noch ohne klares Bekenntnis zur deliktischen Haftungsgrundlage) BGH, II ZR 178/99, Urt. vom 17.09.2001, BGHZ 149, 10 („Bremer Vulkan“); zur Entwicklung mit weiteren Zwischenschritten Casper, in: GroßkommGmbHG Bd. 2, 2016, Anh. § 77 GmbHG Rn. 97–105. 355 Für eine deliktische Qualifikation Thole, Gläubigerschutz durch Insolvenzrecht, 2010, S. 878 ff.; Pannen, in: FS Fischer 2008, 403 (423 f.); Schanze/Jüttner, AG 2003, 661 (669 f.); Balthasar, RIW 2009, 221 (225 f.); G. Wagner, in: FS Canaris 2007 Bd. II, 473 (500–502); D. Zimmer, NJW 2003, 3585 (3588); Casper, in: GroßkommGmbHG Bd. 2, 2016, Anh. § 77 Rn. 122; a.A. (gesellschaftsrechtlich) Leitzen, NZG 2009, 19, 728 (729). Eine gesellschaftsrechtliche Qualifikation befürworten Spahlinger, in: FS Wegen 2015, 527 (534–536); Schall, in: Schall, Companies Act, 2014, Sec. 1 Rn. 42 f.; für eine „Mehrfachqualifikation“ (gesellschaftsrechtlich, insolvenzrechtlich und deliktisch) Kindler, in: Sonnenberger (2007), 497 (529–532); insolvenzrechtlich Kienle, NotBZ 2008, 245 (256); vorsichtiger Kühnle/Otto, IPRax 2009, 117 (120 f.). 356 Diesen Zweck unterstellen etwa Drygala/Staake/Szalai, Kapitalgesellschaftsrecht, 2012, § 10 Rn. 37. 357 Zustimmend aus der Literatur etwa Weller, IPRax 2003, 207 (207 ff.) (zum Urteil „Bremer Vulkan“). 358 Allgemein zum Europäischen Gesellschaftsrecht Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, Rn. 103; für die SE-VO Oechsler/Mihaylova, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 5 SE-VO Rn. 3 („Der Tatbestand des Art. 5 ist wie alle Normen der SEVO autonom […] auszulegen“); so auch schon zur EWIV-VO Gleichmann, ZHR 149 (1985), 633 (639, Fn. 11).
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1. Kapitel: Methodik
IV. Konzepte in Verweisungsnormen der SE-VO: universale Rechtskonzepte 1. Umfang der europäischen Konzepte: universale Rechtskonzepte Dass eine Verweisungsnorm ein europäisches Konzept enthält, erscheint oft kontraintuitiv, weil die europäische Norm scheinbar keine eigene Regelung trifft. Grund für das Missverständnis ist, dass der Umfang des europäischen Konzepts ein anderer ist als der von Konzepten, die nur innerhalb einer Rechtsordnung verwendet werden, also nicht rechtsordnungsübergreifend verweisen. Eine Definition, die ähnlich präzise und umfangreich ist wie die der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, ist auf europäischer Ebene auch nicht zu erwarten. Auf europäischer Ebene ist lediglich ein gewisser Rahmen nötig, damit der Rechtsanwender weiß, wonach er – auf Ebene des nationalen Rechts – suchen muss. Dabei handelt es sich um ein seit langem bekanntes Denkmuster, das in vielen Zusammenhängen auftaucht (dazu sogleich). Es ist jedoch schwer greifbar, da sich, soweit ersichtlich, ein Terminus für diesen Gedanken noch nicht eingebürgert hat. 359 Hier wird der schon erwähnte 360 Ausdruck „universales Rechtskonzept“ verwendet. Es handelt sich um Konzepte, die abstrakter sind als diejenigen auf der Ebene der Mitgliedstaaten. Mit den zur Verweisung benutzten Konzepten lässt sich zwar mangels Konkretheit vielleicht nicht unbedingt eine Rechtsfrage für eine bestimmte Aktiengesellschaft lösen. Sie sind aber hinreichend abstrakt, um auf die in sich verschiedene Vielzahl von Konzepten aus den Mitgliedstaaten zu verweisen und dabei alle diese verschiedenen Konzepte gleichzeitig zu meinen. Der europäische Terminus „Aktie“/„action“/„share“ (etc.) und das damit verbundene europäische Konzept muss dabei keinesfalls zwingend auf das deutsche Konzept „Aktie“, das italienische „azione“, das englische „share“ usf. verweisen, sondern kann auch nur Teile dieser Konzepte meinen oder auf Konzepte verweisen, die in den Mitgliedstaaten mit einer abweichenden Terminologie bezeichnet werden. Die universalen Rechtskonzepte sind dabei von den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten nicht unabhängig, sondern – im Sinne einer Wechselwirkung – nur insofern autonom (dazu, auch zur Wechselwirkung, oben 1. Kap., A IV, S. 36), als mitgliedstaatliches Recht nicht zwingend zu übernehmen ist. Daher können die universalen Rechtskonzepte sich etwa auch verändern, weil sich die mitgliedstaatlichen Konzepte verändern oder weil neue Mitgliedstaaten hinzukommen.361 „Wie sehr sich die universalen Rechts[konzepte] von den konkre359 Zu einer Abgrenzung von Larenz’ „konkret-allgemeinen Begriffen“ unten 1. Kap., D IV 3, S. 101 f. 360 S. oben 1. Kap., B I 1 b, S. 44. 361 Einen solchen Sonderfall des Beitritts (damals des Vereinigten Königreichs und Irlands zum EuGVÜ) beschreibt für die Frage der „ordentlichen“/„außerordentlichen“ Rechtsbehelfe im Rahmen des EuGVÜ I. Scholz, Das Problem der autonomen Auslegung des
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ten Rechtsordnungen emanzipieren mögen, so bleibt ihnen doch eine Relativität immanent, die sich aus dem besonderen Charakter des Rechtssystems ergibt“. 362 Gleichzeitig wird nicht auf beliebig geänderte mitgliedstaatliche Konzepte verwiesen, sondern es erfolgt eine Missbrauchskontrolle oder eine Kontrolle an weiter formulierten Maßstäben, sodass die universalen Rechtskonzepte auch mehr (oder etwas anderes) sind als bloße Sammelkonzepte oder Mengen aller Konzepte der Mitgliedstaaten, wie sie etwa in völkerrechtlichen Abkommen benutzt werden,363 wo tatsächlich eine eigenständige Bedeutung des Konzeptes auf der höheren Ebene wenig plausibel ist, da diese höhere Ebene – anders als im Fall der EU – sich kaum verselbständigt hat. Mit dem universalen Rechtskonzept lässt sich auch sagen, dass ein Konzept eines Mitgliedstaates (mag es auch in der Rechtssprache des Mitgliedstaates mit demselben Rechtsterminus bezeichnet werden wie das universale Rechtskonzept in der fraglichen Sprachfassung) nicht mehr unter das universale Rechtskonzept fällt: So kommt den universalen Rechtskonzepten „eine doppelte Relativität [zu], eine Relatitivät nach außen und eine nach innen. Nach außen wirkt sie als Grenze, nach innen bedeutet sie Offenheit für Differenzierungen“.364 Auch das mögliche Gegenargument, dass eine autonome Auslegung kaum möglich sei, da es zu wenig Normen gebe, überzeugt daher nicht, da ein universales Rechtskonzept bereits ausreicht. Für das europäische Konzept ist also eine geringere Normendichte ausreichend. Zudem lassen sich gegebenenfalls eine rechtsvergleichende oder eine systematische Auslegungsmethode fruchtbar machen (dazu ausführlicher unten), sodass die autonome Auslegung der logisch nicht überzeugenden nicht-autonomen Auslegung vorzuziehen ist.365 Manchem mag es kleinlich vorkommen, dass der Terminus „Aktie“ in einer europäischen Norm nicht schlicht auf alle Konzepte verweisen soll, die in der deutschen Rechtsordnung mit „Aktie“ bezeichnet werden. Es ist ja nicht falsch, dass das deutsche Konzept eine Bedeutung für die Auslegung des europäischen Terminus hat. Im Sinne einer Wechselwirkung beeinflussen auch nationale Rechtsordungen die europäische (dazu schon oben 1. Kap., A IV, S. 36). Doch
EuGVÜ, 1998, S. 74 f., der freilich das hier vertretene Verständnis der universalen Rechtskonzepte ablehnen würde. 362 Engisch, in: Ferid (1958), 59 (73). 363 Zu „Sammelbegriffen“ in diesem Sinn Frankenstein, IPR Bd. I, 1926, S. 295 f.; sowie W. F. Bayer, RabelsZ 20 (1955), 603 (627) in völkerrechtlichem Kontext. Dieser lässt tatsächlich eine autonome Bedeutung weniger plausibel erscheinen, als dies in europäischem Kontext der Fall ist. Eine ähnliche Verwendung von „Sammelbezeichnung“ findet sich bei Grasmann, System des internationalen Gesellschaftsrechts, 1970, S. 66 (§ 1 Rn. 6). 364 Engisch, in: Ferid (1958), 59 (73). 365 Dies muss heute umso mehr gelten, als die Regelungsdichte europäischen Rechts gegenüber der Zeit, zu der Martiny, RabelsZ 45 (1981), 427 (435) auf dieses Problem hinwies, um ein Vielfaches größer geworden ist.
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deutsches Recht kann nicht allein ausschlaggebend für die Auslegung europäischen Rechts sein. Weniger kontraintuitiv wird dieses Ergebnis, wenn man sich vor Augen hält, dass „Aktie“ im europäischen Recht ja nur eine Sprachfassung ist, neben der aber (auch in Deutschland) gleichberechtigt die Termini „azione“, „share“ etc. gelten. Dass aber auch diese Termini unmittelbar das deutsche Rechtskonzept „Aktie“ meinen, erscheint bereits intuitiv viel fernliegender. 2. Beispiele für das Denkmuster des universalen Rechtskonzeptes Unter dieses Konzept des „universalen Rechtskonzepts“ lassen sich viele Äußerungen in der Literatur fassen, die in verschiedenen Zusammenhängen getätigt werden. Riesenhuber spricht etwa von einer „rahmenhaften Bindung“, die sich aus den Umsetzungspflichten der Mitgliedstaaten auch dort ergibt, wo EURecht auf Konzepte und Regeln nationalen Rechts verweist.366 In eine ähnliche Richtung gehen auch Bestrebungen, die Verweise auf nationales Recht abzumildern, wie etwa am Beispiel des ordre public in Art. 27 Nr. 1 EuGVÜ deutlich wird. Dort ist bestimmt, dass eine Entscheidung nicht anerkannt wird, „wenn die Anerkennung der öffentlichen Ordnung des Staates, in dem sie geltend gemacht wird, widersprechen würde“. Gegen ein rein an nationalen Kategorien orientiertes Verständnis von ordre public wird aber vorgebracht, die Zwecke des EuGVÜ müssten ebenfalls einfließen.367 Damit wird das Begriffsverständnis von ordre public nicht abschließend auf europäischer Ebene definiert, es werden aber gewisse Grenzen gezogen, um Extremfälle auszuschließen, auf die nicht mehr verwiesen wird: Das europäische Recht gibt insofern einen (autonom zu findenden) Rahmen vor, innerhalb dessen auf mitgliedstaatliches Recht verwiesen wird.368 Das gleiche Denkmuster findet dort Anwendung, wo über das Übersetzen von Rechtstexten gesprochen wird und funktionelle Äquivalente (aus einer anderen Rechtsordnung) vermieden werden sollen, sodass nach alternativen, „systemunabhängigen Äquivalenten“ gesucht werden muss,369 oder wo (wie bei Bleckmann) von „einem Miminum europäischer Begrifflichkeit“ der Konzepte gesprochen wird, die ihre nähere Konkretisierung durch die Mitgliedstaaten erfahren – aber eben nicht völlig uneingeschränkt.370 366
EuGH, Rs. C-393/10, Urt. vom 01.03.2012, Rz. 34–42; EuGH, Rs. 22/87, Urt. vom 02.02.1989, Slg. 1989, 143, Rz. 15–19; Riesenhuber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2015, § 10 Rn. 4 m.w.N. 367 So I. Scholz, Das Problem der autonomen Auslegung des EuGVÜ, 1998, S. 51. 368 Vgl. mit Bezug zum Gesellschaftsrecht die Differenzierung zwischen gemeinschaftsrechtlichem und nationalem ordre public bei Ebke, JZ 2003, 927 (931); entsprechend zur Beurteilung des Missbrauchs der Niederlassungsfreiheit Leible/Hoffmann, RIW 2002, 925 (929 f.); Hammen, WM 1999, 2487 (2494). 369 Kjær, in: Sandrini (1999), 63 (73, ähnlich S. 76 m.w.N.). 370 Bleckmann, in: Studien zum Europäischen Gemeinschaftsrecht (1986), 105 (121).
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Das Denkmuster des universalen Rechtskonzepts kehrt auch dann wieder, wenn etwa behauptet wird, eine Verweisungsnorm müsse nicht autonom ausgelegt werden, da die Mitgliedstaaten durch den bloßen Terminus bereits gebunden wären an das, was z.B. vernünftigerweise unter diesem Terminus verstanden werden kann: Denn sofern die Mitgliedstaaten selbst dieses „vernünftigerweise“ beurteilen, würde dies auf eine Preisgabe des Konzepts hinauslaufen. Reaktionen der Mitgliedstaaten auf Verschiebungen im europäisch geprägten IPR lassen, wie eben dargestellt,371 erahnen, welchen Reaktionen damit Tür und Tor geöffnet würde. Sofern aber der EuGH über dieses „vernünftigerweise“ entscheiden könnte, und sei es auch nur im Rahmen einer Missbrauchskontrolle, läge darin ein europäisches universales Rechtskonzept. Auch Martiny und Zweigert sprechen vom „bekannte[n] Problem“, „den einheitlichen Begriffen eine Weite der Fassung zu verleihen, welche die Vielfalt der nationalen Begriffe umfaßt, aber nichts an juristischer Schärfe verliert“.372 Mit diesem Zitat, das von Zweigert stammt (im Zusammenhang von Rechtsvergleichung und Rechtsvereinheitlichung) und das Martiny von Zweigert für die autonome Auslegung von Kollisionsnormen übernimmt, zeigt eine Verbindung von IPR und autonomer Auslegung, die schon oben angedeutet wurde.373 Tatsächlich lässt sich die Idee der universalen Rechtskonzepte schon bei den sog. „Autonomisten“374 im IPR der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wiederfinden. Nachdem Bartin auf das „Problem der Qualifikation“ hingewiesen hatte,375 vertraten diese Rechtswissenschaftler für das IPR der einzelnen Staaten (also nicht – wie heute – europäisches IPR, sondern für rein nationales Recht, in Deutschland etwa das EGBGB), dieses nicht an den Systembegriffen des nationalen Rechts orientiert auszulegen, sondern – im Wege möglichst umfassender Rechtsvergleichung – zu Verallgemeinerungen zu gelangen, um rechtssystemübergreifend auf Sachrecht verweisen zu können. So wollte sich Rabel bei der „Auslegung der Kollisionsnormen […] der Rechtsvergleichung bedienen“, 376 um „übernationale Verallgemeinerungen“ 377 zu erzielen, und auch Zweigert forderte bereits früh einen „übernationalen Begriffsapparat“, der nationale Terminologien ablösen sollte.378 Auf diese Weise sollten abstraktere 371
S. oben 1. Kap., D III 3, S. 89 ff. Martiny, RabelsZ 45 (1981), 427 (436); Zweigert, RabelsZ 16 (1951), 387 (395). 373 S. oben 1. Kap., B I 1 b, S. 44: Beide werden dann relevant, wenn der Rahmen einer Rechtsordnung verlassen wird, und sind damit beide auch unter dem Gesichtspunkt der Sprachverwirrung interessant. 374 Ausdruck nach Raape/Sturm, IPR I, 1977, S. 277. Zweigert, RabelsZ 15 (1949/1950), 5 (16) spricht von einer „autonom-rechtsvergleichenden Schule“. 375 Bartin, Clunet 24 (1897), 225; vorher bereits Kahn, JhJb 30 (1891), 1. 376 Rabel, RabelsZ 5 (1931), 241 (287). 377 Rabel, RabelsZ 5 (1931), 241 (279). 378 Zweigert, RabelsZ 16 (1951), 387 (395); ähnlich bereits Zweigert, RabelsZ 15 (1949/1950), 5 (grds. für „Rechtsvergleichung als universale Interpretationsmethode“, S. 12 372
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Konzepte erarbeitet werden, die sowohl eigenes als auch fremdes Sachrecht erfassen konnten. Damit handelt es sich bei den durch Auslegung der (nationalen) Kollisionsnormen erarbeiteten Konzepten ebenfalls um universale Rechtskonzepte. Diese Denkschule wird in ihrem zeitlichen Zusammenhang auch verständlich, wenn man sich vor Augen hält, dass im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts viele führende IPR-Wissenschaftler davon ausgingen, der Geltungsgrund des IPR liege im Völkerrecht, dessen Grundsätze gälten also weltweit (u.a. Story, Savigny, Foelix, L. von Bar, Zitelmann).379 Erst allmählich setzte sich im Zuge des Nationalismus und durch die nationalen Kodifikationen der partikularistische IPR-Ansatz durch 380 (der im Zuge der Europäisierung des IPR, wenn man so will, wieder auf dem Rückmarsch ist). In Deutschland hat sich diese Auffassung schließlich aus normativen (dazu gleich), überwiegend aber praktischen Gründen (also wegen einer Überforderung der Gerichte) 381 im nationalen IPR so nicht durchgesetzt. Stattdessen wurde einer („aufgeklärten“) Form der lex-fori-Interpretation der Vorzug gegeben (die freilich auch Einsichten der Autonomisten umsetzt).382 Für die autonome Auslegung des europäischen IPR ist die Methode allerdings zu Bedeutung gelangt.383 Dies erscheint auch sachgerecht, da die gegen die rechtsvergleichende Auslegung des mitgliedstaatlichen IPR vorgetragenen Argumente im Rahmen der Auslegung des europäischen Rechts nicht mehr tragen: Das normative Argument, dass ja die Benennung der Anknüpfungsgegenstände nicht wertneutral erfolge, sondern Ausdruck einer (als solcher zu beachtenden) Wertungsentscheidung des Gesetzgebers sei, mit welchem Statut ein Rechtsverhältnis die engste Verknüpfung aufweise, 384 geht bei der europäischen Norm insofern an der Sache vorbei, als gerade durch die (auch) rechtsverglei-
und 16 jedoch explizit für das Internationale Privatrecht); für die Rechtsvergleichung allgemein auch Zweigert, Studium generale 1960, 193 (199); Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 1996, S. 43 f.; zustimmend (allgemein für vereinheitlichte Normen) W. F. Bayer, RabelsZ 20 (1955), 603 (628). 379 Zu diesem Teil der Geschichte des IPR ausführlich Kadner Graziano, in: Schulze/Ajani (2003), 41 (47 ff.); auch Weller, IPRax 2009, 202 (204). Exemplarisch für die Bestrebungen zur Rechtsvereinheitlichung Zitelmann, AÖGZ 39 (1888), 193 (193 ff., 201 ff., 209 ff.) zur „Möglichkeit eines Weltrechts“. 380 Kadner Graziano, in: Schulze/Ajani (2003), 41 (63); Weller, IPRax 2009, 202 (204). 381 Raape/Sturm, IPR I, 1977, S. 277; Rauscher, Internationales Privatrecht, 2017, Rn. 466. A.A. („nur ephemere Berechtigung“ des Einwands der mangelnden Praktikabilität) bereits Zweigert, RabelsZ 15 (1949/1950), 5 (19). 382 von Hein, in: MüKoBGB Bd. 10, 2015, Einl. IPR Rn. 118 (ff.). 383 von Hein, in: MüKoBGB Bd. 10, 2015, Einl. IPR Rn. 117, 127. 384 Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht, 2004, § 7 III 3 a (S. 345); Dörner, StAZ 1988, 345 (350). Zu diesem Einwand bereits (mit naturrechtlicher Argumentation) Zweigert, RabelsZ 15 (1949/1950), 5 (20).
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chende Auslegung erst die Ansichten aller Mitgliedstaaten in das Auslegungsergebnis einfließen können. Was die Überforderung der Gerichte angeht, schreckt der EuGH bei der Auslegung europäischen Rechts vor hohen Anforderungen an die nationalen Gerichte ohnehin nicht zurück.385 Ein abschließendes Beispiel soll verdeutlichen, wie universale Rechtskonzepte in der Diskussion um einen oft erwähnten „Klassiker“386 immer wieder zum Vorschein kommen. Am 4. Januar 1882 hatte das Reichsgericht über eine Klage aus einem in Tennessee, USA, zahlbaren Wechsel zu entscheiden.387 Auf den Wechsel fand damit amerikanisches materielles Recht, aber deutsches Zivilprozessrecht Anwendung. Der Beklagte berief sich auf Verjährung – jedoch zu Unrecht, wie das Reichsgericht befand: Denn im amerikanischen Recht gab es lediglich remedy, ein Institut, das es nach einem gewissen Zeitablauf versagte, das Recht vor Gericht geltend zu machen.388 Das Reichsgericht ordnete remedy als prozessrechtliches Institut ein, das daher nicht anwendbar war. Ebenso wenig war das deutsche Institut der Verjährung anwendbar, da dieses materiell-rechtlicher Natur war und auf den in Tennessee zahlbaren Wechsel keine Anwendung fand. Im Ergebnis war der Wechsel damit unverjährbar, ein unglückliches, später fast einhellig kritisiertes Resultat, 389 das weder in der deutschen noch in der fremden Rechtsordnung bei jeweils konsequenter Anwendung so vorgesehen war.390 Kern des Problems war, dass das Reichsgericht in seinem Urteil den kollisionsrechtlichen Terminus „Verjährung“ (bzw. das „materielle Recht“, zu dem die Verjährung gehörte) im Sinn seines eigenen Sachrechts und damit zu eng 385
Vgl. das Gebot aus dem Urteil EuGH, Rs. 283/81, Urt. vom 06.10.1982, Slg. 1982, 3415 („CILFIT“), Rz. 18, sämtliche Sprachfassungen zur Auslegung heranzuziehen; dazu bereits oben in der Einl. C, S. 12, sowie im 1. Kap., C II 2, S. 65. 386 Das Problem wird in der IPR-Literatur häufig zitiert, vgl. nur Rauscher, Internationales Privatrecht, 2017, Rn. 452, 472, 487; von Bar/Mankowski, IPR I, 2003, § 7 Rn. 148; Meyer, Jura 2015, 270. 387 RG, Rep. I 636/81, Urt. vom 04.01.1882, RGZ 7, 21 („Tennessee-Wechsel“). 388 RG, Rep. I 636/81, Urt. vom 04.01.1882, RGZ 7, 21, 22 f.: Nach den Feststellungen des Richters der Vorinstanz hätte der Kläger also nach dem Ablauf der remedy-Frist in Tennessee den Wechsel gegebenenfalls in einem anderen Staat (z.B. Missouri) geltend machen können, wo die remedy-Frist zehn Jahre betrug (die Zuständigkeit des Gerichts des anderen Staates vorausgesetzt). 389 Zur Kritik vgl. nur von Hein, in: MüKoBGB Bd. 10, 2015, Einl. IPR Rn. 130; Heiss/Kaufmann-Mohi, in: Leible/Unberath (2013), 181 (189 f.); Ferid, Internationales Privatrecht, 1986, Rn. 4-2; Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, § 1 Rn. 44; Frankenstein, IPR Bd. I, 1926, S. 596 („eine Reihe arger Fehlsprüche“). 390 Im Fall war die remedy-Frist in Tennessee wohl noch gar nicht verstrichen, der Wechsel nach amerikanischem Recht noch gar nicht durch Zeitablauf uneinklagbar geworden, vgl. RGZ 7, 21, 22 f. Die Kritik am Urteil des Reichsgerichts ging in der Folgezeit denn auch mehr in die Richtung, das Reichsgericht habe einen für alle Zeiten „unverjährbaren Wechsel“ kreiert.
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ausgelegt hatte. Systemunterschiede wie den zwischen common law und civil law konnte es damit nicht erfassen. Richtig wäre es gewesen, ein kollisionsrechtliches Konzept von „Verjährung“ durch Auslegung zu ermitteln, dem auch das Institut von remedy unterfallen wäre, was nur gelingen kann, wenn – wie Rabel schreibt – „unsere Kollisionsnorm auf das englische Prozeßrecht verweist“.391 Insbesondere werde die limitation of action angewendet, jedoch nicht vollständig, sondern es werde die der Frage, wie man den Schuldner durch Zeitablauf schützen könne, zugewendete Seite der Rechtssätze ausgewählt.392 „Die Aufgabe, diese Auswahl anzuordnen, gebührt dem Tatbestand unserer Kollisionsnorm, der einerseits nicht auf die Verjährungseinrede des BGB allein zugeschnitten werden darf und nicht einmal auf irgendeine Endigung oder Entkräftung gerade des materiellen Anspruches, und andererseits nicht auf das ganze Recht der limitation, sondern auf die Frage, die sich gleicherweise aus dem deutschen Zivilrecht wie aus dem englischen Prozeßrecht herausschälen läßt, ob und unter welchen Voraussetzungen der Zeitablauf dem Anspruchsberechtigten entgegensteht.“393 Mit dieser Formulierung im letzten Halbsatz umschreibt Rabel ein durch Rechtsvergleichung ermittelbares universales Rechtskonzept, und ein solches wäre auch dem heute anwendbaren europäischen IPR zu entnehmen, das besagt, dass Verjährung materiell-rechtlich zu qualifizieren ist (Art. 12 Abs. 1 lit. d Rom I-VO, Art. 15 lit. h Rom II-VO). Auch mit einer solchen Norm und der entsprechenden autonomen Auslegung hätte das Reichsgericht die „unsterbliche Blamage“394 des Tennessee-Wechsels vermeiden können. Denn unter dieses europäische Konzept der „Verjährung“ fallen auch Institute etwa des englischen Rechts wie das estoppel.395 Beide Lösungsansätze des Problems (rechtsvergleichende Auslegung des nationalen IPR und autonome Auslegung des europäischen IPR) entsprechen sich nicht nur in ihrer Funktion, sie verwenden auch beide universale Rechtskonzepte.
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Rabel, RabelsZ 5 (1931), 241 (279). Rabel, RabelsZ 5 (1931), 241 (279). 393 Rabel, RabelsZ 5 (1931), 241 (279). 394 Ferid, Internationales Privatrecht, 1986, Rn. 4-2; von Hein, in: MüKoBGB Bd. 10, 2015, Einl. IPR Rn. 130 (Fn. 438); Heiss/Kaufmann-Mohi, in: Leible/Unberath (2013), 181 (188 f.); Meyer, Jura 2015, 270 (270). 395 Spellenberg, in: MüKoBGB Bd. 10, 2015, Art. 12 Rom I-VO Rn. 108. 392
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3. Abgrenzung zu konkret-allgemeinen Begriffen Die „universalen Rechtskonzepte“ ähneln entfernt den konkret-allgemeinen Begriffen (oder den Typusbegriffen396) etwa bei Larenz.397 Typusbegriffe beschreiben (nicht: definieren) die typischen Eigenschaften einer Reihe von Elementen, ohne dass jede Eigenschaft bei jedem Element vorkommen müsste; sie sind dabei in gewisser Weise wandelbar, wenn sich die von ihnen enthaltenen Elemente ändern.398 Für die hier verfolgten Zwecke der Untersuchung sind sie aber nicht tauglich. Zum einen sind sie auf einer niedrigeren Ebene der Abstraktion angesiedelt als die universalen Rechtskonzepte (konkret-allgemeine Begriffe enthalten verschiedene Erscheinungsformen eines Rechtsinstituts und verbleiben innerhalb einer Rechtsordnung, universale Rechtskonzepte sind Oberbegriffe über Rechtskonzepte verschiedener Rechtsordnungen). Zudem lassen sich aus universalen Rechtskonzepten keine Normen ableiten; sie werden – je nach Zusammenhang – entweder im Wege der rechtsvergleichenden oder -historischen Forschung postuliert oder – namentlich bei Verweisungsnormen – im Wege autonomer Auslegung ermittelt. Ein normatives Element 396
Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. Aufl., 1969, S. 423 (mit Fn. 5), 482 trennt beide Konzepte und sagt, „daß der Typus gleichsam das empirische Gegenstück zum konkret-allgemeinen Begriff darstellt“. Auch Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2015, Rn. 931 äußern im Rahmen ihrer Kritik, dass letztlich die gleichen Ideen unter veränderter Terminologie wieder auftauchten; auch Canaris, in: Grundmann/Riesenhuber (2010), 263 (296) rückt den Typus in die Nähe des konkret-allgemeinen Begriffs, dessen Aufgaben der Typus übernehmen sollte. Im Folgenden werden beide miteinander verwandten Konzepte gemeinsam beschrieben. 397 Diese wurden von einer Reihe von Neuhegelianern, insbesondere Larenz, geprägt; aus der Zeit des Dritten Reichs Larenz, Über Gegenstand und Methode des völkischen Rechtsdenkens, 1938; nach dem Krieg Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. Aufl., 1969, S. 476, 482; s.a. den Überblick bei Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 2017, S. 302 ff. Neben Larenz nennt Rüthers vor allem C. Schmitt, Binder und Erik Wolf (z.B. S. 315 f.). Im Dritten Reich konnten die konkret-allgemeinen Begriffe durch ihre Offenheit gegenüber Ideologien (damals der NS-Ideologie) zur Ausgrenzung von Juden und anderen „nicht-arischen“ Minderheiten verwendet werden; die konkret-allgemeinen Begriffe als solche sind jedoch ideologieneutral und vielmehr mögliche Einfallstore für jede denkbare Gesinnung; vgl. dazu ausführlich Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 2017, S. 322 ff. (zu Beispielen der Ausgrenzung), 313 f. (zur Ideologieneutralität); kritisch auch Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2015, Rn. 931 ff.; vgl. zur Auseinandersetzung zwischen Rüthers und dem Larenz-Schüler Canaris die Kritik von Rüthers, JZ 2011, 593; Rüthers, JZ 2011, 1149; gegen diese Kritik Canaris, JZ 2011, 879; auch schon Canaris, in: Grundmann/Riesenhuber (2010), 263. 398 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. Aufl., 1969, S. 439 f. (ein abstrakter Begriff wird definiert, ein Typus beschrieben); S. 487 (Subsumtion unter konkret-allgemeine Begriffe nicht möglich). Dagegen ist eine Definition universaler Rechtskonzepte grundsätzlich möglich, wenn auch nicht in der Konturenschärfe, die normalerweise Rechtskonzepten eigen ist, s. 1. Kap., D IV 1, S. 94 f.; zur „Offenheit“ (etwa im Fall des Beitritts neuer Mitgliedstaaten) vgl. oben 1. Kap., D IV 1, S. 94, Fn. 361.
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kommt ihnen nicht zu. Konkret-allgemeine Begriffe schließlich taugen als Konzepte, unter die nicht subsumiert werden kann, wenig für die Rechtsdogmatik.399 Die universalen Rechtskonzepte liefern dagegen stets eine nicht immer einfach zu ermittelnde, jedoch eindeutige Antwort. V. Einfluss der Verweisung auf die Sprachverwirrung Die Sprachverwirrung kann bei verschiedenen Termini in der SE-VO in verschiedenem Maße auftreten. Für die Zwecke dieser Untersuchung lassen sich in der SE-VO drei Arten von Rechtstermini unterscheiden. Auch hier kann auf die Erfahrungen des IPR und IZVR zurückgegriffen werden, wo sich eine ähnliche Dreiteilung beobachten lässt.400 Erstens gibt es solche, die in der SE-VO auch definiert werden. Ein Beispiel ist der Terminus der „Satzung“ in Art. 6 SE-VO: „Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck „Satzung der SE“ zugleich die Gründungsurkunde und, falls sie Gegenstand einer getrennten Urkunde ist, die Satzung der SE im eigentlichen Sinne.“
Für die zweite Art von Rechtstermini enthält die SE-VO keine Definition, es findet aber auch keine Verweisung auf das Recht der Mitgliedstaaten statt, wie etwa der Terminus der „Hauptverwaltung“, der in Art. 7 und 64 SE-VO verwendet wird.401 Eine dritte Art von Rechtstermini sind die, die keine Definition aufweisen und verwendet werden, um auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zu verweisen, etwa der Begriff der „Aktie“ in Art. 5 SE-VO:402 „Vorbehaltlich des Artikels 4 Absätze 1 und 2 gelten für […] die Aktien […] die Vorschriften, die für eine Aktiengesellschaft mit Sitz in dem Mitgliedstaat, in dem die SE eingetragen ist, gelten würden.“
Die drei Arten von Rechtstermini lassen eine Sprachverwirrung in unterschiedlichem Ausmaß befürchten. Wie bereits allgemein gesagt wurde (1. Kap., D III, IV, S. 86 ff., S. 94 ff.), sind in allen drei Fällen europäische Konzepte für die Termini der SE-VO zu suchen. Die Verweisungsstruktur der SE-VO führt jedoch dazu, dass in den Fallgruppen verschieden hohe Anreize bestehen, stattdessen auf nationale Konzepte zurückzugreifen. Am wenigsten Bedürfnis gibt es bei der ersten Fallgruppe, bei der die Definition ein europäisches Konzept nicht nur nahelegt, sondern schon fertig umreißt. Am Vorhandensein eines europäischen Konzepts können hier kaum Zweifel aufkommen.
399 400
Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. Aufl., 1969, S. 487. Zu den parallelen Fallgruppen im EuGVÜ Martiny, RabelsZ 45 (1981), 427 (428–
430). 401 402
Dazu ausführlicher unten 3. Kap., S. 206 ff. Dazu ausführlicher unten 4. Kap., S. 305 ff.
D. Methodik II: Verweisungstechnik
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Anders ist dies in der dritten Fallgruppe. Hier ist ein autonomes universales Rechtskonzept zu suchen. Doch die Versuchung ist hier ungleich größer, direkt das nationale Konzept anzuwenden – aus (mindestens) drei Gründen: Zum einen wird sowohl das nationale Konzept als auch das europäische universale Rechtskonzept mit „Aktie“ bezeichnet. (Beim europäischen Konzept ist dies genau genommen eine unvollständige Bezeichnung, da das europäische Konzept durch den mehrsprachigen europäischen Terminus bezeichnet wird, also „Aktie“/„action“/„share“/„azione“ usf. Dies zeigt sich aber erst beim Vergleich mehrerer Sprachfassungen.) Zweitens wird das Denkmuster des universalen Rechtskonzepts häufig nicht explizit formuliert, auch in den Fällen, in denen es tatsächlich angewendet wird. Drittens wird das europäische universale Rechtskonzept in vielen Fällen nicht relevant, da anzunehmen ist, dass das europäische Konzept doch in den meisten Fällen auf das deutsche Konzept „Aktie“ verweist. Man kann dies sogar als ein Kriterium für die Qualität des europäischen Rechts ansehen, da der europäische Gesetzgeber dann offenbar einen Terminus gewählt hat, bei dem Spannungen im oben beschriebenen Sinn403 nur in wenigen Fällen auftauchen. Was die zweite Fallgruppe angeht, steht diese auf den ersten Blick möglicherweise der ersten Fallgruppe näher, da auch hier keine explizite Verweisung erfolgt. Tatsächlich lässt sich aber argumentieren, dass eine solche ausdrückliche Verweisung in der Norm nicht erforderlich ist, da über die Generalklausel des Art. 9 Abs. 1 lit. c (i) und (ii) SE-VO die von der Verordnung nicht erfassten Aspekte (in den von der Verordnung nur teilweise geregelten Bereichen) ohnehin vom Recht der Mitgliedstaaten geregelt werden. Daher ließe sich argumentieren, dass auch die Definition etwa von „Hauptverwaltung“, die in der SE-VO gerade fehlt,404 vom Recht der Mitgliedstaaten bestimmt werden solle. Wie jedoch oben (1. Kap., D III, IV, S. 86 ff., S. 94 ff.) ausgeführt wurde, wäre auch in einem solchen Fall der Verweisung ein europäisches Konzept nötig, sodass eine solche Argumentation (die, soweit ersichtlich, auch nicht explizit und ernsthaft vertreten wird), jedenfalls zu kurz greifen würde. Eine besondere Relevanz für die Sprachverwirrung hat daher die dritte Fallgruppe, während die erste eher uninteressant erscheint. VI. Ergebnis Bei der SE-VO wirft die Verweisung bis dahin ungekannte Fragen auf. Bei näherer Betrachtung können sie aber auf ähnliche Probleme, die schon aus dem europäischen IPR und IZVR bekannt sind, zurückgeführt werden. Dies trifft insbesondere für die autonome Auslegung und den Umfang von Konzepten in Verweisungsnormen zu. Diese beiden Fragen lassen sich aus Sicht dieser Arbeit eindeutig beantworten. Allerdings zeigt die Umstrittenheit, dass gerade 403 404
S. oben 1. Kap., C III 2, S. 69. Dazu ausführlicher 3. Kap., C II, S. 221 ff.
104
1. Kapitel: Methodik
hier eine erhöhte Unsicherheit besteht. Da bei solchen Verweisungen Rechtssystemgrenzen überschritten werden, ist hier, bedingt durch ein „Heimwärtsstreben“ der Konzepte, eine Sprachverwirrung vermehrt zu erwarten.405
E. Gang der Untersuchung E. Gang der Untersuchung
Die oben genannte Grundhypothese eines Einflusses der Rechtssprache auf das Verständnis des europäischen Rechts soll an drei Termini aus der SE-VO untersucht werden. Für jeden Terminus wird zunächst eine autonome Auslegung erarbeitet und diese dann mit Auslegungen in der Literatur verglichen. Zur Erarbeitung der autonomen Auslegung, die eine Sprachverwirrung gerade zu vermeiden sucht, werden im Rahmen der Wortlautauslegung die Rechtskonzepte, die auf Ebene der Mitgliedstaaten dem Terminus zugeordnet werden, vergleichend dargestellt. Dem folgen die weiteren Auslegungsschritte (dazu oben 1. Kap., C IV–VI, S. 75–79). I. Zur Auswahl der Termini Dabei wurden Termini ausgewählt, die nach dem bisher Gesagten eine Sprachverwirrung grundsätzlich erwarten lassen. Eine Sprachverwirrung ist nur zu erwarten, wenn es sich um Rechtstermini handelt, also solche, deren Sinn sich nur aus der Verwendung im Kontext einer Rechtsordnung ergibt. Die Termini „Rechtspersönlichkeit“, „Hauptverwaltung“ und „Aktie“ sind solche Termini. Ferner muss es sich um Rechtstermini handeln, die auch für die Rechtsordnung zumindest einiger Mitgliedstaaten eine Bedeutung haben. Dies ist bei „Rechtspersönlichkeit“ und „Aktie“ der Fall, wie noch zu zeigen sein wird. Bei „Hauptverwaltung“ ist die Lage insofern besonders, als der Terminus zunächst relativ unbelastet erscheint. Allerdings wird ein näherer Blick zeigen, wieso allein damit die Gefahr einer Sprachverwirrung noch nicht gebannt ist. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass das Fehlen einer Definition eine Sprachverwirrung begünstigt.406 Bei der SE-VO hat dieses Kriterium die Auswahl allerdings nicht wesentlich eingeschränkt, weil für die meisten verwendeten Konzepte keine Definition besteht. Auch die hier gewählten Termini sind nicht näher definiert. Schließlich wurden die rechtssystemübergreifende Verweisungsstruktur der SE-VO und die damit einhergehenden Probleme als ein weiterer möglicher Faktor für die Sprachverwirrung benannt. Um dies zu untersuchen, wird mit „Aktie“ ein Konzept untersucht, das in der SE-VO im Wesentlichen dazu verwendet wird, auf das Recht der Mitgliedstaaten zu verweisen. Dem werden, 405 406
Siehe zum „Heimwärtsstreben“ schon oben 1. Kap., B I 1 c, S. 45 f. Oben 1. Kapitel, C III 2, S. 69 f.
E. Gang der Untersuchung
105
auch um den Einfluss der Verweisungsstruktur auf eine Sprachverwirrung untersuchen zu können, zwei Konzepte gegenübergestellt, die keine solche Verweisung aussprechen („Rechtspersönlichkeit“, „Hauptverwaltung“). II. Doppelte Rolle der Rechtsvergleichung In Zusammenfassung und Ergänzung von bereits Gesagtem soll dabei nochmals die doppelte Rolle klargestellt werden, die der Rechtsvergleich bei der Untersuchung eines jeden Konzepts zu spielen hat. Zum einen dient der Rechtsvergleich als Grundlage für eine autonome Auslegung, die jeweils am Anfang eines Kapitels unternommen wird. Dabei soll es nicht unbedingt darum gehen, aus der Rechtsvergleichung sogleich zwingende Ergebnisse für das europäische Konzept zu erhalten. Dies ist wegen der autonomen Auslegung nicht möglich. Vielmehr soll die Rechtsvergleichung eine gemeinsame Kommunikationsbasis schaffen, also etwa klarstellen, inwiefern sich der eigene – in diesem Fall deutsche – Standpunkt von anderen unterscheidet. In eine ähnliche Richtung geht die Aufgabe, die Bleckmann der Rechtsvergleichung zuweist, wenn er eine „vertiefte Vergleichung der Grundbegriffe“ fordert, um zu vermeiden, dass „Juristen der verschiedenen Mitgliedstaaten […] aneinander vorbei[reden]“. 407 Dies ermöglicht es, klarzustellen, welche Fragen, die von anderen Rechtsordnungen anders beantwortet werden, überhaupt zu stellen sind. Wenn im Internationalen Einheitsrecht die Rechtsvergleichung dem Ziel dienen soll, eine konsensfähige, für alle akzeptable Lösung zu finden,408 bei der dann eine Abweichung von nationalen Rechten als rechtfertigungsbedürftig erscheint,409 wäre hier das Ziel, sich zunächst dieses Abweichen überhaupt bewusst zu machen. Zum anderen dient die Rechtsvergleichung dazu, im Anschluss an die autonome Auslegung am Ende jedes Kapitels zu untersuchen, inwiefern die Auslegung innerhalb eines Sprachraums mehr dem Rechtskonzept der eigenen Rechtsordnung zuneigt als dem der anderen. Aufgrund der verfügbaren Literatur wird sich dieser Teil auf deutschsprachige Literatur zur Auslegung der SEVO konzentrieren und dabei versuchen, den deutschen Ausgangspunkt (das deutsche „Vorverständnis“) im Verhältnis zu dem anderer repräsentativer Rechtsordnungen zu ermitteln.410 Eine solche Ermittlung des Vorverständnis-
407
Bleckmann, in: Studien zum Europäischen Gemeinschaftsrecht (1986), 105 (126). Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 359. 409 Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 361 ff. 410 Vor dem Hintergrund der Rechtsvergleichung werden auch dann, wenn sie für die Auslegung nicht unmittelbar bedeutsam wird, die Besonderheiten des Rechts der höheren Ebene (hier der EU) transparent: so allgemein zum Internationalen Einheitsrecht Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 195; im Anschluss an Kropholler, Internationales Einheitsrecht, 1975, S. 279. Ähnlich auch Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, 408
106
1. Kapitel: Methodik
ses wäre durch Darstellung lediglich der Rechtslage in Deutschland nicht möglich: Das Vorverständnis wäre darin zwar enthalten, es wäre aber nicht als solches zu erkennen. Erst vor dem Hintergrund auch der ausländischen Rechtsordnungen wird das spezifisch Deutsche am deutschen Konzept erkennbar. III. Zu erwartende Ergebnisse Am Ende jedes Kapitels soll ein kurzes Fazit resümieren, ob eine Sprachverwirrung festzustellen war und inwiefern die Rechtssprache in diesem Bereich eine hilfreiche, die autonome Auslegung stützende Kohärenz (zur Frage oben 1. Kap., B II, S. 53 f.) aufweist. Die anderen oben im 1. Kap. unter B, S. 54 ff., aufgeworfenen Fragen, insbesondere die, ob eine Lösung durch ein Wörterbuch möglich ist sowie welchen Weg der Gesetzgeber beschreiten sollte, werden nicht am Ende jedes Kapitels beantwortet, sondern bleiben dem abschließenden Fazit (unten 5. Kap., S. 358 ff.) vorbehalten, wo auch die Frage der Sprachverwirrung und der Kohärenz der Rechtssprache zusammenfassend beantwortet werden sollen.
§ 1 Rn. 1: „Rechtsvergleichung kann so zu einem Schlüssel werden, der es erlaubt, auch die eigene Rechtsordnung besser zu verstehen“; ähnlich Zweigert, Studium generale 1960, 193 (194 f.); zur „Kontrastfunktion“ der Rechtsvergleichung auch Pescatore, RIDC 32 (1980), 337 (354); das Vorverständnis der europäischen Richter ansprechend Everling, EuR 1994, 127 (140 f.); ähnlich Everling, ZEuP 1997, 796 (803).
Kapitel 2
Rechtspersönlichkeit A. Einleitung: Einigung mit Worten statt auf Konzepte? A. Einleitung: Einigung nur auf Worte?
Als 1985 die EWIV-VO1 abgefasst wurde, wurde der Terminus „Rechtspersönlichkeit“ bei der Beratung sorgfältig gemieden und durch eine Umschreibung ersetzt (in der endgültigen Fassung Art. 1 Abs. 2 EWIV-VO) – man hatte bereits bei den Verhandlungen zum Übereinkommen über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften und juristischen Personen (1968)2 die verschiedenen Auffassungen der Mitgliedstaaten zur Rechtspersönlichkeit kennen gelernt3 und daher von einer Regelung in der EWIV-VO zunächst abgesehen.4 Umso erstaunlicher ist es, dass derselbe Terminus5 in der SE-VO verwendet wird, als hätte es die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten nie gegeben. Art. 1 Abs. 3 SE-VO bestimmt nun: „Die SE besitzt Rechtspersönlichkeit.“ Eine Definition oder Erläuterung folgt nicht. Dies erstaunt, da „Rechtspersönlichkeit“ als Konzept deutlich schillernder ist als das Konzept der „Rechtsfähigkeit“. Für „Rechtsfähigkeit“ beziehungs-
1 Verordnung (EWG) Nr. 2137/85 des Rates vom 25. Juli 1985 über die Schaffung einer Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV), ABl. L 199 vom 31.07.1985, S. 1–9. 2 Übereinkommen über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften und juristischen Personen, unterzeichnet am 29. Februar 1968, abgedruckt in Sonderbeilage zum Bulletin Nr. 2-1969 der Europäischen Gemeinschaften, Generalsekretariat der Kommission, Übereinkommen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften nach Artikel 220 des EWG-Vertrages, BGBl. II, S. 369 ff. vom 25.05.1972. 3 Müller-Gugenberger, in: Müller-Gugenberger/Schotthöfer, Die EWIV in Europa, 1995, Rn. EU 60, dort S. 81 ff., bes. S. 88 f. für Materialien zur Gesetzgebungsgeschichte; Manz, in: Selbherr/Manz, EWIV-Kommentar, 1995, Art. 1 EWIV-VO Rn. 21. 4 Später wurde dann freilich „Rechtspersönlichkeit“ doch noch in den nächsten Absatz aufgenommen, der die Aufgabe, über „Rechtspersönlichkeit“ zu entscheiden, den Mitgliedstaaten zuwies (Art. 1 Abs. 3 EWIV-VO). Die Regelung ist wenig überzeugend, vgl. ausführlicher unten 2. Kap., B III 5 a, S. 181. 5 Der in Art. 1 Abs. 3 EWIV-VO verwendete Terminus entspricht in allen Sprachfassungen dem auch in der SE-VO verwendeten Terminus, dazu unten 2. Kap., B III 5, S. 180.
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
weise die Umschreibung „Träger von Rechten und Pflichten sein zu können“ hätte sich wohl in jeder der hier untersuchten Rechtsordnungen ein entsprechendes Konzept finden lassen.6 Anders ist dies bei der „Rechtspersönlichkeit“, die in den verschiedenen Ländern funktionell unterschiedliche Konzepte bezeichnet, die nicht ohne weiteres in eins gesetzt werden können. Durch die SE-VO ist dies aber zumindest terminologisch geschehen. Aber sind mit dem einen Wort tatsächlich alle Unklarheiten beseitigt, alle (durchaus nicht unbeträchtlichen7) Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten überbrückt? Schließt die Einigung über die Terminologie die Einigung in der Sache ein? Das soll in diesem Kapitel untersucht werden. Bevor im Folgenden versucht wird zu klären, was „Rechtspersönlichkeit“ im Sinn der SE-VO ist, soll hier in Anwendung der oben (1. Kap., D III und IV, S. 86 ff.) dargelegten Methodik gesagt werden, was „Rechtspersönlichkeit“ nicht ist: Es handelt sich hier nicht um einen Terminus, dessen Aufgabe es ist, konturenlos auf gleichbetitelte Konzepte nationalen Rechts zu verweisen. Wie schon gesagt, wäre ein Verweis ohne europäisches Konzept nicht möglich oder nicht sinnvoll. Auch ist sehr fraglich, ob in Art. 1 Abs. 3 SE-VO überhaupt verwiesen werden soll: Von einem Verweis ist dort nichts zu lesen. Auch wenn man die Generalverweisungsnorm des Art. 9 Abs. 1 Nr. 1 lit. c (ii) SE-VO anwenden will, müsste zunächst geklärt werden, wie weit die Aussage des Art. 1 Abs. 3 SE-VO reicht, um die Lücken in der SE-VO festzustellen, für die verwiesen wird. Auf einen weiteren Punkt sei vorab noch hingewiesen: Ob eine Personenvereinigung Rechtsfähigkeit hat, wird nach überwiegender Meinung kollisionsrechtlich nach dem Personalstatut der Gesellschaft bestimmt – eine davon getrennte, vorgeschaltete „Anerkennung“ von Gesellschaften gibt es nach (u.a.
6
Dazu ausführlicher unten im Rechtsvergleich, hier nur statt vieler, für England: Rayner (Mincing Lane) Ltd v Department of Trade [1989] Ch 72, 100; Hallis, Corporate Personality, Nachdruck der 1. Aufl. London 1930 (1978), S. xxviii (introduction, zu „persona“); für Frankreich: Topor, in: Répertoire de droit civil, 2014, État et capacité des personnes, Rn. 296; für Italien: C. Perlingieri, in: Perlingieri, Codice Civile, Bd. 1, 3. A (2010) Art. 1 c.c. Rn. 2; Dogliotti, in: Cendon, Commentario al Codice Civile, Volume primo, Artt. 1–455, 1991, Art. 1 c.c. Rn. 3; D. Leipold, in: FS Canaris 2007 Bd. II, 221 (225): „Die Rechtsfähigkeit zu definieren ist einfach genug. Sie stellt die Fähigkeit dar, Träger von Rechten und Pflichten zu sein“; Hadding, in: FS Kraft 1998, 137 (138, Fn. 6 m.w.N.); Lehmann, AcP 207 (2007), 225 (226 m.w.N.). 7 Die Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen werden als so groß angesehen, dass sie das Zusammenwachsen Europas erschweren könnten: Lehmann, AcP 207 (2007), 225 (242); vorsichtig zustimmend Rittner, in: FS Hüffer 2010, 843 (849).
A. Einleitung: Einigung nur auf Worte?
109
in Deutschland8) herrschender Meinung nicht.9 Abgesehen davon, dass von einem Teil der Literatur „Anerkennung“ abweichend von dem hier zu Grunde gelegten Verständnis im Sinn von „Anknüpfung des Personalstatuts“ verwendet wird, 10 vertritt lediglich eine Mindermeinung, namentlich Großfeld, die Ansicht, dass „Rechtsfähigkeit“ gesondert zu bestimmen sei.11 Sie folgt damit dem „fremdenrechtlichen“ Gegenentwurf zur kollisionsrechtlichen Bestimmung: 12 Für die Rechtsfähigkeit einer Gesellschaft verweist nicht eigenes Recht (IPR) auf das Recht, das hierüber bestimmt, sondern eigenes Recht (sog. Fremdenrecht) bestimmt für bestimmte Gesellschaften, dass deren Rechtsfähigkeit anerkannt wird. Dem werden insbesondere Gründe der Systematik entgegengehalten – auf eine Gesellschaft könnten nicht zwei Rechtsordnungen Anwendung finden 13 – sowie dass die Auffassung bei einer „automatischen Anerkennung“14 bei Erfüllung der kollisionsrechtlichen Voraussetzungen eine unnötige Verdopplung darstelle.15 Da die Meinung von Großfeld von der h.M. zutreffend abgelehnt wird,16 wird im Folgenden auf die Anerkennungsproblematik nicht mehr eingegangen. 8 Auch in Frankreich, auf das sich früher als Beleg für die „Anerkennung“ verweisen ließ (statt vieler Großfeld, RabelsZ 41 (1977), 399 (401 f.)), besteht mittlerweile kein Erfordernis mehr nach einer „Anerkennung“ durch Gesetz oder Dekret, s. dazu unten 3. Kap., D I 4 b, S. 250. Wer freilich die Rechtslage in Deutschland so interpretiert, dass hier eine „automatische Anerkennung“ stattfindet, wird dies wohl auch mit der französischen Rechtslage nach der Gesetzesänderung 2008 tun. 9 Drobnig, ZHR 129 (1967), 93 (104 ff.); Behrens, IPRax 2003, 193 (204); Behrens, ZGR 1978, 499 (499 ff., 514); Travers, Tatsächlicher Sitz der Hauptverwaltung, 1998, S. 28; Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht, 2004, S. 577 (§ 17 II 2). 10 Zu den verschiedenen Verwendungsmöglichkeiten des Terminus Kindler, in: MüKoBGB Bd. 11, 2015, IntGesR Rn. 316. 11 Großfeld, RabelsZ 31 (1967), 1 (3 ff.); Großfeld, RabelsZ 41 (1977), 399 (401); Großfeld, in: FS Westermann 1974, 199 (199, Fn. 2); Grasmann, System des internationalen Gesellschaftsrechts, 1970, Rn. 63; Beitzke, in: FS Lutter 1976, 1 (12); so auch allgemein Pohlmann, Das französische Internationale Gesellschaftsrecht, 1988, S. 98 f. (in seiner Dissertation bei Großfeld). 12 Vgl. zu dieser Einteilung H. Wiedemann, in: FS Kegel 1977, 187 (190 ff.); Behrens, ZGR 1978, 499 (500). 13 Ebenroth/Sura, RabelsZ 43 (1979), 315 (317 f.). 14 Dazu Großfeld, RabelsZ 31 (1967), 1 (8 f. (Frankreich), 10 f. (in diesem Sinn die Rechtslage in Deutschland interpretierend); ebenso Pohlmann, Das französische Internationale Gesellschaftsrecht, 1988, S. 100. 15 Behrens, ZGR 1978, 499 (509). 16 Kindler, in: MüKoBGB Bd. 11, 2015, IntGesR Rn. 316 ff.; Ebenroth/Sura, RabelsZ 43 (1979), 315 (317 f.); Ebenroth/Bippus, NJW 1988, 35, 2137 (2142); Michalski, NZG 1998, 762 (763); H. Wiedemann, in: FS Kegel 1977, 187 (193); allgemein zur Zeitverhaftetheit der Anerkennungsdoktrin Drobnig, in: FS von Caemmerer 1978, 687 (688 ff.). Auch die Aussage des BGH, VII ZR 370/98, Urt. vom 13.03.2003, BGHZ 154, 185, 190 („Überseering“), eine ausländische Gesellschaft sei „hinsichtlich ihrer Rechtsfähigkeit“ dem Gründungsstatut zu unterstellen, ist nicht als Sonderanknüpfung zu lesen; vielmehr macht auch in diesem
110
2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
B. Autonome Auslegung B. Autonome Auslegung
Zunächst soll eine autonome Auslegung ergeben, was unter „Rechtspersönlichkeit“ zu verstehen ist. I. Wortlautauslegung Bei dem Terminus „Rechtspersönlichkeit“ handelt es sich nicht um einen dem normalen Sprachgebrauch entnommenen Ausdruck. Falls doch ein nicht spezifisch juristischer Sprachgebrauch existieren sollte, wäre dies nur eine weniger präzise Bezugnahme auf ein juristisches Konzept, ähnlich wie mit „Hausbesitzer“ der Bewohner, nicht der (Grundstücks-)Eigentümer gemeint sein kann.17 In allen hier untersuchten Sprachfassungen zerfällt der Terminus „Rechtspersönlichkeit“ in zwei Teile, deren eines auf das Recht Bezug nimmt, während das andere mit „Person“ eine im normalen Sprachgebrauch nur den Menschen zukommende Eigenschaft anspricht. Auch daraus lässt sich aber noch kein hinreichend klar definiertes Konzept ableiten. Will man sich von diesem Ausgangspunkt weiterbewegen, ist ein Rückgriff auf nationale Rechtsordnungen unabdingbar.18 Aus einem Rechtsvergleich sollen im Folgenden zumindest Anhaltspunkte für einen möglichen Gehalt des Wortlauts gewonnen werden. 1. Deutschland Im deutschen Rechtssystem wird „Rechtspersönlichkeit“ verwendet, um den besonderen Status einer Personenvereinigung auszudrücken; gleichbedeutend (und weitaus häufiger) wird auch die Bezeichnung „juristische Person“ verwendet: Rechtspersönlichkeit kommt einer Gesellschaft zu, wenn sie eine juristische Person ist.19
Urteil der BGH deutlich, dass er die Rechtsfähigkeit als Teil des Personalstatuts der Gesellschaft ansieht; dazu näher Leible/Hoffmann, ZIP 2003, 925 (928 f.). 17 Vgl. allgemein zur Frage des laienhaften Sprachgebrauchs oben 1. Kap., C II 2, S. 64 f. 18 Ebenso Lutter, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 1 SE-VO Rn. 13: „Da weder der Wortlaut noch die Erwägungsgründe hilfreich sind, spielt dabei erneut das Verständnis von ‚Rechtspersönlichkeit‘ in den nationalen Rechten eine gewichtige Rolle“; ebenso Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 1 SE-VO Rn. 35: „Mit Rücksicht auf die in den Mitgliedstaaten bestehenden Unterschiede und Gemeinsamkeiten hinsichtlich des Begriffs Rechtspersönlichkeit bedeutet Rechtspersönlichkeit …“; ähnlich wohl auch Siems, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 1 SE-VO Rn. 23 („Im Rechtsvergleich ist dabei zunächst zu bestimmen, was dies konzeptionell bedeutet“). 19 Beuthien, JZ 2003, 715 (718); Lehmann, AcP 207 (2007), 225 (240) (Umkehrschluss aus § 11 Abs. 1, 2 Nr. 1 InsO); ähnlich Tolani, Teilrechtsfähigkeit, 2009, S. 32: „Die Rechtspersönlichkeit ist das Wesensmerkmal der juristischen Person“; vgl. zur Synomymität bereits H. J. Wolff, Organschaft und juristische Person I, 1933, S. 128; vgl. auch die Überschrift bei Lutter, in: K. Schmidt/Lutter, AktG-Kommentar Bd. I, 2015, § 1 AktG vor Rn. 4.
B. Autonome Auslegung
111
„Person“ bezeichnet in diesem Zusammenhang die Rechtsträgerschaft, nicht die Person im ethischen Sinn (Wolf/Neuner sprechen von einer „Formalisierung“ des ethischen Personenkonzepts, wie es sonst auch dem BGB zugrundeliegt).20 Mit dem Terminus „juristische Person“ (oder eben Rechts-persönlichkeit) soll dabei gekennzeichnet werden, dass die Person (Rechtsfähigkeit) nur zu juristischen Zwecken erdacht worden war; der (früher gebräuchliche) Terminus „moralische Person“ war dazu ungeeignet und überdies irreführend, bereits von Savigny lehnte ihn ab.21 a) Rechtsgeschichte: der Theorienstreit Über das Konzept der „juristischen Person“ wurde schon lange gestritten. Der Streit, der insbesondere die Bibliotheken des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gefüllt hat, sodass ein englischer Autor 1938 spöttisch feststellte: „on the Continent […] legal authors may be divided into two groups: those who have written on the nature of legal persons and those who have not yet done so“,22 soll hier überblickshaft nachgezeichnet werden, ohne tiefer ins Detail zu gehen, als für die Zwecke dieser Untersuchung notwendig ist,23 wobei aber auch zu berücksichtigen ist, dass der Streit teilweise in anderen Ländern ebenfalls Anklang gefunden hat.24 Als die beiden Pole der Diskussion werden meist die Fiktions- und die Genossenschaftstheorie genannt. Mit „Fiktionstheorie“ werden dabei eine Reihe von (in sich durchaus unterschiedlichen, zu den Unterschieden sogleich) Theorien „von Savigny bis Windscheid“25 zusammengefasst.
20 Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2016, § 10 Rn. 7; Panthen, Sitzbegriff, 1988, S. 36 Fn. 18; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., 1975, S. 437 (durchaus kritisch); Larenz/Canaris, Methodenlehre (Studienausgabe), 1995, S. 284 f.; zum rechtsethischen Konzept sowie zur Person im Sinn von Rechtsträgerschaft siehe auch H. J. Wolff, Organschaft und juristische Person I, 1933, S. 128 ff. 21 von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Band II, 1840, S. 240. Den Terminus „moralische Person“ hatte Pufendorf eingeführt, vgl. Flume, AT I, 2: Die juristische Person, 1983, S. 1; zur Wortgeschichte auch Rittner, in: FS Hüffer 2010, 843 (845 ff.). 22 M. Wolff, LQR 54 (1938), 494 (494). 23 Für einen Überblick über die Literatur vgl. K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2003, § 8 II (S. 186 ff.); Flume, AT I, 2: Die juristische Person, 1983, S. 1 ff.; Henkel, Theorie der juristischen Person, 1973. 24 S. dazu noch ausführlicher 2. Kap., B I 2 a, B I 4 b, S. 135 und S. 154 ff., sowie die Darstellung von H. J. Wolff, Organschaft und juristische Person I, 1933, S. 1–87; außerdem die Nachweise bei Flume, AT I, 2: Die juristische Person, 1983, S. 24; Gutzwiller, in: Gutzwiller, Schweizerisches Privatrecht II, 1967, S. 443 ff. 25 Flume, AT I, 2: Die juristische Person, 1983, S. 3 (sich von dieser Zusammenfassung distanzierend, m.w.N.); eine solche Zusammenfassung findet sich z.B. bei Regelsberger, Pandekten I, 1893, S. 299; Enneccerus/Nipperdey, AT I, 1959, S. 608 Fn. 2 (§ 103 I).
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
Als prominenter Begründer wird meist Friedrich Carl von Savigny (1779– 1861) genannt. Von Savigny beschränkt sich in seiner Darstellung auf die privatrechtliche Seite von Wesenheiten.26 Für ihn lag das Wesen der juristischen Person hierbei in der Vermögensfähigkeit.27 Diejenigen juristischen Personen, die „eine sichtbare Erscheinung in einer Anzahl einzelner Mitglieder“ haben, nennt von Savigny „Corporationen“ (im Gegensatz zu Stiftungen); bei Corporationen wird durch den Wechsel selbst aller Mitglieder weder das Wesen noch die Einheit berührt.28 Rechte stehen der juristischen Person nach von Savigny als solcher ungeteilt (und nicht etwa anteilig den Mitgliedern) zu.29 Die Notwendigkeit einer staatlichen Genehmigung lag für von Savigny darin, dass jeder Mensch „in seiner leiblichen Erscheinung“ seinen „Anspruch auf Rechtsfähigkeit“ bereits mit sich herumtrage. 30 Diese „natürliche Beglaubigung“ fehle aber, wenn „die natürliche Rechtsfähigkeit des einzelnen Menschen durch Fiction auf ein ideales Subject übertragen“ werde; hier müsse dann die „höchste Gewalt“ (also der Staat) durch die Schaffung künstlicher Rechtssubjekte einschreiten, um der „Privatwillkühr“ und der damit einhergehenden „höchste[n] Ungewißheit des Rechtszustandes“ vorzubeugen;31 zudem nennt von Savigny „politische und staatswirtschaftliche“ Gründe, namentlich dass der Staat die Ausübung von unerwünschten Tätigkeiten so besser kontrollieren könne.32 Durch Fiktion wird dann aber nur die Rechtsfähigkeit, nicht das soziale Gebilde, das hinter der juristischen Person steht, geschaffen.33 Von Savigny geht von einer natürlichen Handlungsunfähigkeit der juristischen Person aus: Handlungen setzten „ein denkendes und wollendes Wesen, einen einzelnen Menschen, voraus, was eben die juristischen Personen als bloße Fictionen nicht sind“.34 Rechte kann eine juristische Person nur durch „Vertretung, als künstliche Anstalt“, ähnlich wie bei handlungsunfähigen Menschen (Unmündigen und Wahnsinnigen) erwerben, bei juristischen Personen aber nicht durch Vormundschaft, sondern „durch ihre Verfassung“. 35 Auch beim Besitz gilt (was wegen der faktischen Natur des Besitzes streitig war) laut
26
von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Band II, 1840, S. 236: „der Mangel einer solchen Begränzung hat nicht wenig Verwirrung in die Behandlung dieses Gegenstandes gebracht“. 27 von Savigny, ebda., S. 237, 238, 282. 28 von Savigny, ebda., S. 243 f. 29 von Savigny, ebda., S. 284. 30 von Savigny, ebda., S. 277: anders als bei den Römern, „deren zahlreiche Sklaven eine so wichtige Ausnahme bildeten“. 31 von Savigny, ebda., S. 278. 32 von Savigny, ebda., S. 278 f. 33 So die Lesart von Flume, AT I, 2: Die juristische Person, 1983, S. 12. 34 von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Band II, 1840, S. 283. 35 von Savigny, ebda., S. 283 f.
B. Autonome Auslegung
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von Savigny der Grundsatz, dass juristischen Personen „die juristischen Handlungen ihrer Vertreter als eigene Handlungen angerechnet werden; darin besteht eben ihr Wesen“.36 Straf- oder deliktsfähig ist eine juristische Person daher folglich auch nicht, da auch die Straf- und Deliktsfähigkeit von einem Menschen „als einem denkenden, wollenden, fühlenden Wesen“ abhängen.37 Bei von Savigny findet sich auch der Satz, juristische Personen seien „künstliche, durch bloße Fiction angenommene Subjecte […] welche blos zu juristischen Zwecken angenommen“ werden.38 Später wurde von Savigny daher vorgeworfen (oder zumindest bescheinigt), er habe „die Realität der verfaßten Körperschaft“ verkannt.39 Insbesondere Flume und K. Schmidt verteidigen von Savigny gegen diese Vorwürfe 40 und verweisen auf Stellen, an denen von Savigny manchen Wesenheiten ein „natürliches oder auch notwendiges Dasein“ zuschreibt (insbesondere Gemeinden, Städten, Dörfern), anderen dagegen „ein künstliches oder willkürliches“.41 Tatsächlich behandelt von Savigny die Realität der einzelnen Verbände gar nicht, sondern beschränkt sich auf ihre (privat-)rechtliche Seite, wo er die Vermögensfähigkeit, also die Möglichkeit der Teilnahme am privatrechtlichen Rechtsverkehr (wodurch nicht rein auf Vermögen beschränkte familienrechtliche Beziehungen ausgeschlossen sind42), als den Kern der juristischen Person ausmacht.43 Die juristische Frage sei für von Savigny, so die Lesart von Flume und K. Schmidt, also nur die nach der Rechtsfähigkeit bestimmter Wesenheiten, nicht die nach deren Wesen. In dem Satz, juristische Personen seien „durch bloße Fiction angenommene Subjecte“, meint „Subject“ nach dieser Lesart daher lediglich die Rechtsfähigkeit zur Teilnahme am privatrechtlichen Rechtsverkehr. Unterschiede zwischen von Savigny und den späteren Genossenschaftstheorien bestehen demnach nicht so sehr auf der Seite des (soziologischen) Tatbestands, bei dem auch von Savigny dem Verband die soziale Realität nicht abspricht, sondern eher auf der Rechtsfolgenseite,44 wo er eine staatliche Konzession als notwendig ansieht.
36
von Savigny, ebda., S. 292. von Savigny, ebda., S. 312, 317. 38 von Savigny, ebda., S. 236. 39 Henkel, Theorie der juristischen Person, 1973, S. 109. 40 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2003, § 8 II 2 (S. 188 f.); Flume, AT I, 2: Die juristische Person, 1983, S. 3 ff.; so auch Panthen, Sitzbegriff, 1988, S. 36: „Die Fiktionstheorie im Sinne SAVIGNY’s erkennt die juristische Person als tatsächliches Gebilde an […] Ihr tatsächliches Dasein wurde nicht geleugnet, so daß nur die Rechtsfähigkeit im Sinne einer Vermögensfähigkeit fingiert werden mußte“. 41 von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Band II, 1840, S. 242. 42 von Savigny, ebda., S. 238 f.: etwa kann auch eine juristische Person durch Erbschaft Rechte erwerben, doch die „an rein menschliche Zustände“ angeknüpften Rechtsverhältnisse sind für juristische Personen nicht möglich. 43 von Savigny, ebda., S. 239 f. 44 Zu dieser Unterscheidung K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2003, § 8 II 2 (S. 188 f.). 37
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
Der Streit im 19. Jahrhundert drehte sich jedoch wesentlich um „die Frage nach der Beschaffenheit der unter einander überaus ungleichartigen Gebilde, die wir dem Gattungsbegriff der gesellschaftlichen Körper unterstellen“, die „Kernfrage“ nach dem „Wesen der Verbände“, 45 also die Frage, die „von Savigny gar nicht gestellt wird“.46 Spätere Vertreter, auf die der Terminus „Fiktionstheorie“ jedenfalls passt, nehmen allerdings tatsächlich an, dass eine juristische Person einen Menschen fingiere. Insbesondere für Windscheid ist die juristische Person eine bloße Fiktion, eine Reaktion auf ein juristisches Bedürfnis: Damit nicht „Rechte ohne Subjekt“ entstehen, werde für diese Rechte „ein tragendes Subject […] in einer künstlich, durch Gedankenoperation, geschaffenen, einer vorgestellten Person“47 kreiert. Eine Ähnlichkeit mit der Fiktionstheorie haben die Zweckvermögenstheorie und die „Genießertheorie“.48 Vertreter der „germanistischen Genossenschaftstheorie“49 dagegen nahmen für sich in Anspruch, vom deutschen Rechtsdenken auszugehen, wie es sich in der Bildung von Zünften und anderen Verbänden seit dem ausgehenden Mittelalter manifestiert hatte. Otto Gierke formuliert als prominentester Vertreter dieser auch „Theorie der realen Verbandspersönlichkeit“ genannten Richtung, dass hinter der juristischen Person eine reale Lebenswirklichkeit steht.50 Diese „reale Verbandspersönlichkeit“ sei nicht nur rechtsfähig, sondern könne auch einen eigenen Willen bilden und selbst handeln.51 Damit sollte das Verhältnis zur juristischen Person, das man bei der Fiktionstheorie als unstimmig ansah, geradegerückt werden. Insbesondere dass ein König für seinen Staat handelt
45
Gierke, Rektoratsrede, 1902, S. 2, 3. Flume, AT I, 2: Die juristische Person, 1983, S. 16. 47 Windscheid, Pandektenrecht I, 1862, S. 106 f. (§ 49). 48 S. dazu von Jhering, Geist des römischen Rechts III, 1, 1871, S. 341 ff., besonders S. 343 für die „Genießertheorie“; und Brinz, Lehrbuch der Pandekten I, 1873, S. 194–208 für die Zweckvermögenstheorie. Für Gierke, Rektoratsrede, 1902, S. 6 sind beide Theorien Fortführungen der Fiktionstheorie; ebenso zumindest die Zweckvermögenstheorie laut Raiser, AcP 199 (1999), 104 (112); laut Gierke, Genossenschaftstheorie, 1887, S. 6 f. verdanken sie andererseits aber auch ihre Existenz der Genossenschaftstheorie. Laut K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2003, § 8 II (S. 188) befassen sich diese Theorien nicht wirklich mit der Frage der Rechtssubjektivität. Aus Platzgründen kann hier auf diese Theorien nicht näher eingegangen werden. 49 Beseler, Volksrecht und Juristenrecht, 1843, S. 158 ff.; Beseler, System d. gem. dt. Privatrechts I, 1847, S. 353 ff.; Bluntschli, Deutsches Privatrecht I, 1853, S. 110 f.; Salkowski, Lehre von den juristischen Personen, 1863, S. 6 f.; Baron, Gesammtrechtsverhältnisse, 1864, S. 5 f.; Regelsberger, Pandekten I, 1893, S. 298 ff. 50 Gierke, Rektoratsrede, 1902, S. 9 f. 51 Beseler, Volksrecht und Juristenrecht, 1843, S. 181 ff.; Salkowski, Lehre von den juristischen Personen, 1863, S. 7 f.; Gierke, Genossenschaftstheorie, 1887, S. 603 ff.; Gierke, Rektoratsrede, 1902, S. 29. 46
B. Autonome Auslegung
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wie ein Vormund für einen Wahnsinnigen, wollten die Vertreter der Genossenschaftstheorie so nicht akzeptieren.52 Entsprechend wurde die juristische Person als geschäfts- und deliktsfähig angesehen. 53 Gegen die Fiktionstheorie wurde ferner das Argument vorgetragen, dass der Staat sich nicht selbst die Eigenschaft einer juristischen Person verleihen könne (sog. Münchhausen-Argument).54 Zweite Kernaussage der Genossenschaftstheorie ist, dass die Entstehung der juristischen Person nicht der Staatswillkür unterliegt.55 Dementsprechend kommt der Rechtsverleihung durch staatlichen Hoheitsakt nur deklaratorische Bedeutung zu.56 Seit Inkrafttreten des BGB ist der Theorienstreit „abgeklungen“.57 Eine gewisse Ähnlichkeit mit der Fiktionstheorie haben die Lehren von Kelsen58 und H.J. Wolff,59 Anklänge an die Theorie der realen Verbandspersönlichkeit finden sich bei Rittner.60 Ein Verständigungsversuch liegt in der Formel von der „Zweckpersonifikation“ von Ennercerus/Nipperdey (die die Realitäts- mit der Fiktionsheorie zu vereinigen versuchen), 61 die auch weitgehend akzeptiert
52
Gierke, Rektoratsrede, 1902, S. 6 f. Gierke, Rektoratsrede, 1902, S. 29. 54 Beseler, Volksrecht und Juristenrecht, 1843, S. 173; Beseler, System d. gem. dt. Privatrechts I, 1847, S. 354; H. J. Wolff, Organschaft und juristische Person I, 1933, S. 63 f.; in Frankreich Teyssié, Droit civil, Les personnes, 2014, Rn. 885; Guyon, Droit commercial général et sociétés, 2001, S. 133 (Rn. 128). Dagegen meint von Savigny: „Nicht bey allen juristischen Personen ist eine positive Regel über die Bedingungen ihrer rechtsgültigen Entstehung nöthig. […] Auch bey dem Fiscus wird Niemand nach der Art seiner Entstehung fragen.“ (von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Band II, 1840, S. 275). 55 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2003, § 8 II 3 (S. 190). 56 Gierke, Genossenschaftstheorie, 1887, S. 114 ff., besonders S. 118 f.; Bluntschli, Deutsches Privatrecht I, 1853, S. 111: „Selbst in den Fällen, wo die Staatsgenehmigung nothwendig, ist sie doch in der Regel nur Zulassung, Gewährung, nicht eigentliche Begründung“; strenger dagegen andere Vertreter der Genossenschaftstheorie, vgl. Salkowski, Lehre von den juristischen Personen, 1863, S. 19 ff. 57 Raiser, AcP 194 (1994), 495 (496); Raiser, AcP 199 (1999), 104 (105); H. Wiedemann, in: FS Hüffer 2010, 1091 (1091): „eingeschlafen“; vgl. hierzu und zu den folgenden Ausführungen Flume, AT I, 2: Die juristische Person, 1983, S. 21. 58 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Unveränderter Nachdruck der 1. Aufl. Berlin 1925 (1966), S. 62 ff.; vgl. dazu auch die eingehende Analyse von H. J. Wolff, Organschaft und juristische Person I, 1933, S. 64 ff. 59 H. J. Wolff, Organschaft und juristische Person I, 1933, S. 229 f.; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2003, § 8 II 2 Fn. 30 (S. 188) spricht demgegenüber von einer Ersatzkonstruktion für die Rechtssubjektivität. 60 Rittner, Die werdende juristische Person, 1973, S. 210 ff. 61 Enneccerus/Nipperdey, AT I, 1959, S. 611, auch schon S. 610, Fn. 2 von S. 607, dort unter 6 (§ 103 I). 53
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
wurde.62 Mit dieser „pragmatische[n], wenngleich mehr verhüllende[n] als klärende[n] Formel“,63 die juristische Person sei eine Zweckschöpfung des Rechts, wurde vorläufig ein Schlussstrich unter die nach der positivrechtlichen Regelung nicht mehr als derart klärungsbedürftig angesehene Frage gezogen. b) Verwendung von „Rechtspersönlichkeit“ im Gesetz Das BGB verwendet „juristische Personen“ nur an wenigen Stellen,64 insbesondere in der Überschrift vor § 21 BGB; der Ausdruck kehrt aber auch in der Überschrift vor § 13 GmbHG wieder („Juristische Person; Handelsgesellschaft“). Dessen Abs. 1 bestimmt: „Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung als solche hat selbständig ihre Rechte und Pflichten; sie kann Eigentum und andere dingliche Rechte an Grundstücken erwerben, vor Gericht klagen und verklagt werden.“ § 1 AktG bestimmt: „Die Aktiengesellschaft ist eine Gesellschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit.“ Im Gesetz fehlt eine Definition von „Rechtspersönlichkeit“.65 Unklar ist daher auch insbesondere das Verhältnis zur Rechtsfähigkeit; darauf wird noch ausführlich zurückzukommen sein. Klar ist zumindest, dass Rechtsfähigkeit eine (wichtige, wenn nicht gar die wesentliche) Rechtsfolge von Rechtspersönlichkeit ist. 66 Relative Einigkeit besteht auch hinsichtlich des Konzepts der Rechtsfähigkeit: Darunter versteht die h.M. die Fähigkeit, Träger von Rechten und Pflichten zu sein;67 dem entspricht auch die Definition in § 14 Abs. 2 BGB. Diesem Verständnis wird teilweise die Rechtssubjektivität gleichgesetzt.68 Ei-
62
Reuter, in: MüKoBGB Bd. 1, 2015, Vor § 21 BGB Rn. 2 ff.; Fock, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, § 1 AktG Rn. 12; ähnlich K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2003, § 8 II 1 (S. 186); h.M. auch laut H. Wiedemann, in: FS Hüffer 2010, 1091 (1092); Raiser, AcP 194 (1994), 495 (496). 63 Raiser, AcP 194 (1994), 495 (496). 64 Die meisten anderen Stellen betreffen Spezialvorschriften, etwa im Miet- (§ 549 BGB), Arbeits- (§ 613a Abs. 2 BGB) oder Sachenrecht (§§ 1059a, 1059e, 1061, 1092 BGB); viele davon wurden erst nach Erlass des BGB eingefügt, z.B. auch § 14 BGB („Unternehmer ist eine natürliche oder juristische Person…“); vgl. auch Raiser, AcP 199 (1999), 104 (115, Fn. 25); Beuthien, JZ 2011, 124 (125); Cordes, JZ 1998, 545 (549 f.). 65 Raiser, AcP 199 (1999), 104 (115 f.); dagegen will Lehmann, AcP 207 (2007), 225 (227) § 14 Abs. 2 BGB eine der h.M. entsprechende, nachträglich eingefügte Definition durch den Gesetzgeber entnehmen. 66 Flume, AT I, 2: Die juristische Person, 1983, S. 21; Raiser, AcP 199 (1999), 104 (116). 67 Ganz h.M., vgl. nur Hadding, in: FS Kraft 1998, 137 (138, Fn. 6 m.w.N.); Lehmann, AcP 207 (2007), 225 (226 m.w.N.); K. Schmidt, NJW 2001, 993 (997); so auch schon von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Band II, 1840, S. 1. 68 Timm, NJW 1995, 3209 (3210); D. Leipold, in: FS Canaris 2007 Bd. II, 221 (225); kritisch gegenüber einem davon abweichenden Sprachgebrauch auch Beuthien, JZ 2003, 715 (717 f.): Der Terminus werde verwendet, um Rechtsfähigkeit auszudrücken, ohne die Personengesellschaften in den Rang einer juristischen Person zu erheben.
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nige abweichende Definitionen entsprechen entweder weitgehend dem herrschenden Verständnis von Rechtsfähigkeit 69 oder haben sich nicht durchgesetzt. 70 Eine „Begriffsverwirrung“ 71 oder zumindest „Irritationen“ 72 sind zumeist Folge des unklaren Verhältnisses zwischen Rechtsfähigkeit und Rechtspersönlichkeit. Rechtsfähigkeit hat gem. § 1 BGB der Mensch ab Vollendung der Geburt, sie kann daneben aber auch Verbänden zukommen.73 Auch wenn § 14 Abs. 2 BGB die OHG als „rechtsfähige Personengesellschaft“ bezeichnet, 74 spricht der Gesetzgeber in § 11 Abs. 2 Nr. 1 InsO dennoch von der OHG als einer „Gesellschaft ohne Rechtspersönlichkeit“, differenziert also offenbar zwischen Rechtsfähigkeit und Rechtspersönlichkeit.75 Juristische Personen des Privatrechts lassen sich in Körperschaften und Stiftungen einteilen.76 Das BGB regelt den Verein als Prototyp der Körperschaften (§§ 21 ff. BGB) und die Stiftung (§§ 80 ff. BGB). Anstalten sind nur im öffentlichen Recht bekannt.77 Eine Stiftung ist eine Organisation, durch die mit einem Vermögen ein durch das Stiftungsgeschäft bestimmter Zweck dauerhaft gefördert werden soll.78 69 H. Wiedemann, WM-Sonderbeilage Nr. 4/1994, 1 (6 f.): „Fähigkeit, Träger von Rechten und Pflichten oder allgemeiner formuliert, Zurechnungsendpunkt von Rechtsbeziehungen zu sein“; die Aussage, dies entspreche der h.M., steht auch bei Lehmann, AcP 207 (2007), 225 (226). 70 Einige trennen etwa zwischen Rechtssubjektivität und Rechtsfähigkeit: so Fabricius, Relativität der Rechtsfähigkeit, 1963, S. 44 (in Vorbereitung eines Konzepts von „Teilrechtsfähigkeit“, dazu unten 2. Kap., B I 1 c) cc), S. 125 ff.): Rechtsfähigkeit sei „die Fähigkeit eines Menschen oder einer als Rechtssubjekt anerkannten sozialen Einheit, sich rechtlich wirksam zu verhalten, sei es auch durch einen Boten, Vertreter oder ein Organ“; leicht anders Weber-Grellet, AcP 182 (1982), 316 (328). Fabricius’ Konzept kritisiert Lehmann, AcP 207 (2007), 225 (226) als zu nah an der Handlungsfähigkeit. Ein an den Kriterien Handlungsorganisation, Haftungsverband und Identitätsausstattung orientiertes, differenzierendes Rechtsfähigkeitskonzept schlägt John, Die organisierte Rechtsperson, 1977, S. 221 f., 225 f. vor; dieses eignet sich jedoch mehr zur Analyse insbesondere der organisierten Rechtsperson, weniger zur Dogmenbildung. 71 Beuthien, JZ 2003, 715 (715 ff.). 72 Lehmann, AcP 207 (2007), 225 (225). 73 Zur Notwendigkeit einer Zuerkennung bei Menschen und Verbände gleichermaßen Lehmann, AcP 207 (2007), 225 (227 ff.), wobei dann unterschieden werden kann, ob die Rechtsfähigkeit (bei juristischen Personen) „gewährt“ oder – wie bei den natürlichen Personen – nur „gewährleistet“ wird, H. Wiedemann, WM-Sonderbeilage Nr. 4/1994, 1 (7). 74 Dass die OHG (und die KG) gemeint sind, ergibt sich aus der Gesetzesbegründung, BT-Drs. 13/3604, S. 7. 75 Reuter, AcP 207 (2007), 673 (674). 76 Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2016, § 16 Rn. 20. 77 Bork, BGB AT, 2016, Rn. 196 ff.; Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2016, § 16 Rn. 20. 78 Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2016, § 18 Rn. 1.
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
Körperschaften unterscheiden sich insbesondere dadurch von den Personengesellschaften, dass bei Ersteren die Person des Gesellschafters für seine Rechte und Pflichten nicht bedeutsam ist.79 Allerdings sind nicht alle Körperschaften auch juristische Personen: Diese Eigenschaft fehlt etwa der Vorgesellschaft oder dem nichtrechtsfähigen Verein.80 c) Rechtsfähigkeit und Abgrenzung gegenüber Außenpersonengesellschaften Rechtsfähig sind nach (noch) h.M. drei Arten von Rechtsträgern: Menschen (natürliche Personen), juristische Personen und Außen-Personengesellschaften (auch „Gesamthandsgesellschaften“).81 Diese Dreiteilung der Rechtsträger ist Folge der Anerkennung der rechtsfähigen Außenpersonengesellschaft. Bereits im HGB wurde die Rechtsfähigkeit mancher Personengesellschaften in § 124 HGB anerkannt (OHG, KG).82 Dies ließ sich allerdings noch als Hinweis darauf lesen, Personengesellschaften seien grundsätzlich nicht rechtsfähig;83 es entspricht auch heute noch der h.M. zu Erben- und ehelicher Gütergemeinschaft.84 Von europäischem Recht ist diese Dogmatik bisher relativ unberührt geblieben. Die EWIV etwa fällt seit 1989 in die gleiche Kategorie wie OHG und KG, war also (nach europäischem Recht, Art. 1 Abs. 2 EWIV-VO 85 ) ebenfalls
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Grunewald, Gesellschaftsrecht, 2014, Rn. 4.12. Grunewald, Gesellschaftsrecht, 2014, Rn. 4.12. 81 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2003, § 8 I 1 (S. 181). 82 Bis 2013 war nach damals §§ 489 ff., 494 HGB a.F. auch die Partenreederei als rechtsfähige Personengesellschaft anerkannt, vgl. m.w.N. Raiser, AcP 194 (1994), 495 (504). 83 Bork, BGB AT, 2016, Rn. 195; a.A. Ulmer, AcP 198 (1998), 113 (151): nur deklaratorische Bedeutung des § 124 HGB; noch weitergehend als Bork Weber-Grellet, AcP 182 (1982), 316 (328 f.) (§ 124 HGB verleiht auch der OHG selbst nicht Rechtsfähigkeit, nur Rechtssubjektivität); dagegen wiederum Timm, NJW 1995, 3209 (3210) (unter II 1. und in Fn. 15). 84 BGH, XII ZR 187/00, Urt. vom 11.09.2002 = NJW 2002, 3389; BGH, VIII ZB 94/05, Beschl. vom 17.10.2006 = NJW 2006, 3715 (beide zur Erbengemeinschaft); BayObLG, 3Z BR 238/02, 239/02 und 240/02, Beschl. vom 22.01.2003 = NZG 2003, 431 (zur ehelichen Gütergemeinschaft); aus der Literatur zur Erbengemeinschaft Ulmer, AcP 198 (1998), 113 (124–133); Bork, in: 100 Jahre BGB – 100 Jahre Staudinger, Symposion, 181 (194 f.); Reuter, AcP 207 (2007), 673 (704 ff.); a.A. (für die Rechtsfähigkeit der Erbengemeinschaft) Grunewald, AcP 197 (1997), 305; in diese Richtung (Kaufmannseigenschaft der Erbengemeinschaft bejahend) Flume, AT I, 1: Die Personengesellschaft, 1977, S. 59 (Fn. 48); für die unternehmenstragende Erbengemeinschaft K. Schmidt, NJW 1985, 2785 (2788 f.). 85 Verordnung (EWG) Nr. 2137/85 des Rates vom 25. Juli 1985 über die Schaffung einer Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV), ABl. L 199 vom 31.07.1985, S. 1–9. 80
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rechtsfähig, aber (in Deutschland) nicht als „Rechtspersönlichkeit“ ausgestaltet.86 Rückschlüsse auf die deutsche Dogmatik wurden aus der EWIV jedoch lediglich vereinzelt gezogen87 und teilweise auch generell angezweifelt.88 Allerdings hat der BGH 2001 die Rechtsfähigkeit der (Außen-)GbR anerkannt.89 Er ist damit einer bis dahin in der Literatur (zunächst gestützt auf die sog. „Gruppenlehre“ Flumes,90 später auch die UmwG-Reform 199491) und zusehends auch in der Rechtsprechung 92 schon vertretenen Meinung gefolgt. 86 Der deutsche Gesetzgeber hat im EWIV-AG (EWIV-Ausführungsgesetz vom 14. April 1988 (BGBl. I S. 514), das zuletzt durch Artikel 16 des Gesetzes vom 23. Oktober 2008 (BGBl. I S. 2026) geändert worden ist) keinen Gebrauch von seinem Wahlrecht gem. Art. 1 Abs. 3 EWIV-VO gemacht, die EWIV mit „Rechtspersönlichkeit“ auszustatten (zur Frage der Rechtspersönlichkeit bei der EWIV noch ausführlicher 2. Kap., B III 5 a, S. 181 ff.), s.a. Grüninger, in: Müller-Gugenberger/Schotthöfer, Die EWIV in Europa, 1995, Rn. D 7. Bezüglich der Einordnung in die Kategorie der übrigen Personengesellschaften vgl. die Erwähnung z.B. bei Mülbert, AcP 199 (1999), 38 (39). 87 So ließ sich etwa die Teilnahmefähigkeit einer GbR an einer EWIV wegen europäischer Normen als (Teil-)Rechtsfähigkeit der GbR deuten: Timm, NJW 1995, 3209 (3213). 88 Reuter, AcP 207 (2007), 673 (695); kritisch, da die EWIV Kooperationsinstrument, nicht Unternehmensträger sei, auch A. Bergmann, Fremdorganschaftlich verfasste OHG, KG und GbR, 2002, S. 539. 89 BGH, II ZR 331/00, Urt. vom 29.01.2001, BGHZ 146, 341. Unklar ist noch, ob dies immer für alle GbR gilt. Der BGH hat im Fall zwar hier ausreichen lassen, dass die GbR „eigene Rechte und Pflichten begründet“; fraglich bleibt aber, ob lediglich der Fall keinen Anlass zu weiteren Erörterungen bot, Ulmer, ZIP 2001, 585 (592 f.). Für eine Beschränkung auf GbR, die unterscheidbar als von den Gesellschaftern verschiedenes Rechtssubjekt auftreten, Ulmer, AcP 198 (1998), 113 (150); Reuter, AcP 207 (2007), 673 (683, 714). 90 Sog. „Gruppenlehre“, insb. bei Flume, AT I, 1: Die Personengesellschaft, 1977, S. 54 ff.; Flume, ZHR 136 (1972), 177 (184 ff.); Flume, in: FS Westermann 1974, 119 (119 ff.); Schäfer, in: MüKoBGB Bd. 6, 2017, § 705 BGB Rn. 160, 289 ff.; Ulmer, AcP 198 (1998), 113 (134 ff.); Huber, in: FS Lutter 2000, 107 (122 ff.); K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2003, § 8 III (S. 196 ff., S. 206); K. Schmidt, AcP 209 (2009), 181 (204). 91 Gesetz zur Bereinigung des Umwandlungsrechts (UmwBerG) vom 28. Oktober 1994, BGBl. I S. 3210. §§ 191, 202 Abs. 1 Nr. 1 UmwG erlauben seit 1994 die identitätswahrende Umwandlung von (unbestritten rechtsfähigen) Kapital- in Personengesellschaften, woraus die Rechtsfähigkeit auch der letzteren gefolgt wurde, vgl. zuerst (zu einem Gesetzesentwurf) Lutter, ZGR 1990, 392 (395 f.); Timm, NJW 1995, 3209 (3214 f.); Timm, ZGR 1996, 247 (251); K. Schmidt, ZIP 1998, 2 (2 f.); Mülbert, AcP 199 (1999), 38 (63 ff., 66). Die Ableitung aus dem UmwG lehnt H. Wiedemann, ZGR 1996, 286 (290) ab; der Gesetzgeber habe nur das Umwandlungsrecht, nicht die Gesamthand regeln wollen; dennoch bejaht er i.E. die (Teil-)Rechtsfähigkeit der GbR, vgl. H. Wiedemann, WM-Sonderbeilage Nr. 4/1994, 1 (6 ff.). Zu weitergehenden Schlussfolgerungen aus dem neuen UmwG siehe oben im Text im folgenden Abschnitt. 92 BGH, XI ZR 154/96, Urt. vom 15.07.1997, BGHZ 136, 254 zur Scheckfähigkeit; BGH, II ZR 249/96, Urt. vom 02.10.1997 = WM 1997, 2220 (Fähigkeit der Außen-GbR, an einer anderen GbR beteiligt zu sein); auch schon BGH, II ZB 10/91, Beschl. vom 04.11.1991, BGHZ 116, 86 (die GbR könne an Personengesellschaften teilnehmen; sie sei grundsätzlich rechtsfähig, wenn nicht „spezielle rechtliche Gesichtspunkte entgegenstehen“ (Rn. 7).
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
Auch der Gesetzgeber hat mittlerweile mit § 899a BGB die (Außen-)GbR als rechtsfähig anerkannt, wodurch die Diskussion über die Frage der Rechtsfähigkeit der GbR zumindest de lege lata vorläufig überholt erscheint.93 Allerdings hat sich durch die Rechtsprechungsänderung eine neue Diskussion ergeben, die den Theorienstreit des 19. Jahrhunderts in gewisser Weise beerbt hat.94 aa) Zweiteilung der Rechtsträger (natürliche und juristische Personen) Die oben genannte Dreiteilung wird dennoch von manchen mit der Begründung abgelehnt, auch die (Außen-)GbR (und damit auch die anderen Außen-Personengesellschaften) seien nun juristische Personen.95 Diese Meinung stützt sich u.a. auf das 1994 geänderte Umwandlungsrecht, das eine (identitätswahrende) Umwandlung von juristischen Personen und Personengesellschaften zulässt (§§ 191, 202 Abs. 1 Nr. 1 UmwG).96 Daneben wird aber geltend gemacht, dass sich Personengesellschaften und juristische Personen nicht mehr durch klare Kriterien voneinander abgrenzen ließen. 97 Die dogmatische Unterscheidung zwischen Gesamthand und juristischer Person sei anderen Rechtsordnungen unbekannt (etwa Frankreich und England).98 Unterscheidungen bei der inneren Verfassung, etwa der Struktur der Mitgliedschaft, zwischen Gesellschaftsvertrag und Satzung, beim Bestandsschutz (beim Ausscheiden von Mitgliedern) und bei der (Fremd- oder Selbst-)Organschaft würden durch die Kautelarpraxis verwässert und faktisch eher durch „die Realstruktur und die konkreten Umstände und Bedürfnisse der Beteiligten“ entschieden als durch dogmatische Trennlinien.99 Auf eine „körperschaftliche Struktur“, die „auf einen fluktuierenden Mitgliederbestand angelegt ist“, komme es nicht an.100 Trotz körperschaftlicher Struktur seien etwa der nicht eingetragene Verein, der nicht kon-
93 Vgl. etwa die bedauernden Äußerungen von Bork, BGB AT, 2016, Rn. 195a; „überholt“ auch laut K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2003, § 8 I 1 (S. 182). 94 Vgl. auch die Äußerung bei K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2003, § 8 III 1 (S. 196). 95 Raiser, AcP 194 (1994), 495; Raiser, in: FS Zöllner 1998, 469; Raiser, AcP 199 (1999), 104; Timm, ZGR 1996, 247 (251 ff.); Hadding, in: FS Kraft 1998, 137 (145 f.); Hadding, in: Festgabe Zivilrechtslehrer 1934/1935 (1999), 147 (176); Hadding, ZGR 2001, 712 (718 ff.); Sympathie für diese These zeigend auch K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2003, § 8 I 3 (S. 184 f.) (a.A. noch die Vorauflagen); K. Schmidt, NJW 2001, 993 (996); K. Schmidt, AcP 209 (2009), 181 (201), dort auch S. 200, Fn. 103 m.w.N. zu Vertretern dieser These in den Jahren 1913–1921. 96 Raiser, AcP 194 (1994), 495 (498 f.). 97 Neben den folgenden auch Beuthien, JZ 2011, 124 (126) („schwindende Abgrenzung von Persongesellschaften und Körperschaften“). 98 Raiser, AcP 194 (1994), 495 (498, 500). 99 Raiser, AcP 194 (1994), 495 (506 ff., Zitat S. 508). 100 Hadding, in: FS Kraft 1998, 137 (143); Hadding, in: Festgabe Zivilrechtslehrer 1934/1935 (1999), 147 (166 ff.).
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zessionierte Verein und die nicht eingetragene Genossenschaft keine juristischen Personen. 101 Dagegen habe etwa die GmbH, gem. §§ 13 Abs. 1, 11 Abs. 1 GmbHG eine juristische Person, wegen der fehlenden Möglichkeit eines einseitigen Austritts sowie der erschwerten Übertragbarkeit der Mitgliedschaft nicht den Charakter einer Körperschaft.102 Auch dass eine juristische Person „Organe“ haben könne, sei nicht ausschlaggebend, da auch bei der OHG und GbR z.B. von „organschaftlicher Vertretungsmacht“ der Gesellschafter gesprochen werde. 103 Eine „Fremdorganschaft“ sei ebenfalls wegen §§ 146 Abs. 1 S. 2, 492 Abs. 1 a.F. HGB, der Fremdorganschaft bei der Vorgesellschaft sowie bei der EWIV (Art. 19 Abs. 1 S. 1 EWIV-VO) kein Alleinstellungsmerkmal der juristischen Personen.104 Die Unzulässigkeit der Einpersonengesamthand (bei Zulässigkeit der EinPersonen-juristischen Person) sei eine petitio principii.105 Eingetragene Vereine seien gem. § 73 BGB gerade nicht vom Mitgliederbestand unabhängig.106 Auch die Haftungsverfassung sei nicht entscheidend; zwar passe die Unterscheidung nach „Haftungsbeschränkung“ für die körperschaftlich verfassten „juristischen Personen“ (wenn man von einer Dreiteilung ausgeht) und persönlicher Haftung bei den personengesellschaftsrechtlichen Gesellschaften für die „Archetypen“ wie AG und KG, die KGaA jedoch passe nicht mehr ins Bild,107 ebensowenig eingetragene Vereine und Stiftungen, die keinen gesetzlich garantierten Haftungsfonds aufwiesen.108 Teilweise wird das Kriterium der Haf-
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Hadding, in: FS Kraft 1998, 137 (143 f.). Hadding, in: FS Kraft 1998, 137 (143 f.); ähnlich Reuter, AcP 207 (2007), 673 (697 f.); vorsichtiger K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2003, § 8 IV 2 (S. 210): „fragwürdig geworden sind die Unterschiede in der Übertragung und Vererbung von Mitgliedschaftsrechten …“ 103 Auf diesen Sprachgebrauch weisen hin Hadding, in: FS Kraft 1998, 137 (144); Beuthien, JZ 2011, 124 (126); kritisch gegenüber einem solchen „allgemein unreflektiert[en]“ Sprachgebrauch noch H. Wiedemann, WM-Sonderbeilage Nr. 4/1994, 1 (11) (Fn. 48); großzügiger dann H. Wiedemann, in: FS Hüffer 2010, 1091 (1095) („Eine solche Begriffsverengung ist heute nicht mehr empfehlenswert“) mit Nachweisen zur Herkunft der Ansicht bei Gierke. Zöllner (zu seiner Auffassung näher unten, 2. Kap., B I 1 c aa), S. 122, Fn. 114) fügt hinzu, Fremdorganschaft sei bei der KGaA (laut ihm keine juristische Person, s. dazu gleich Fn. 107) gerade erlaubt, Zöllner, in: FS Kraft 1998, 701 (708). 104 A. Bergmann, Fremdorganschaftlich verfasste OHG, KG und GbR, 2002, S. 549 ff.; ähnlich Raiser, in: FS Zöllner 1998, 469 (485); Hadding, in: Festgabe Zivilrechtslehrer 1934/1935 (1999), 147 (170 f.). 105 Raiser, AcP 194 (1994), 495 (509 f.). 106 Zöllner, in: FS Kraft 1998, 701 (708). 107 So übereinstimmend Zöllner, in: FS Kraft 1998, 701 (708) (der die KGaA nicht als „juristische Person“ sieht); und K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2003, § 8 IV 2 (S. 211) (KGaA ist juristische Person); zur ambivalenten Rolle der KGaA (auch bei Gierke) s. auch Raiser, in: FS Zöllner 1998, 469 (477). 108 Zöllner, in: FS Kraft 1998, 701 (708). 102
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
tungsverfassung ganz abgelehnt: Ob sich die Rechtsordnung auf die Haftungsbeschränkung ohne Rückgriff einlassen könne, müsse unabhängig von der Rechtsnatur des Verbandes beantwortet werden.109 Abgelehnt wird auch das Kriterium des Registereintrags, das einige noch als maßgeblich für die Unterscheidung zwischen juristischen Personen und anderen Rechtsträgern anführen: Juristische Personen erhielten ihre (volle) Rechtsfähigkeit erst mit Eintragung ins Register (oder durch Verwaltungsakt), während bei anderen Rechtsträgern – etwa der OHG oder der GbR – die Rechtsfähigkeit aus dem Gesetz folge.110 Gegen diese Unterscheidung werden mehrere Einwände geltend gemacht: Zum einen erlangen AG und GmbH wegen der Rechtsfähigkeit der Vorgesellschaft wohl schon vor Eintragung Rechtsfähigkeit und sind dennoch unbestritten „juristische Personen“, während andererseits auch die Partnerschaftsgesellschaft (keine juristische Person) mit Eintragung (§ 7 Abs. 1 PartGG) Rechtsfähigkeit erwirbt.111 Zum anderen wird dagegen vorgebracht, dass „juristische Person“ ansonsten nur mehr eine Sammelbezeichnung für alle Fälle der Verleihung von Rechtsfähigkeit durch Registereintrag oder Verwaltungsakt sei. 112 Eine solche Unterscheidung wird als Vorwand abgelehnt, für den „eine sachliche Rechtfertigung schlechterdings nicht erkennbar wäre“.113 Als allein tragfähige Unterscheidung erweise sich die Rechtsfähigkeit.114 Da aber teilweise die Rechtsfähigkeit von Gesamthandsgemeinschaften durch das Gesetz ausdrücklich anerkannt werde, sei die Gesamthand als Kategorie heute auch in Deutschland jedenfalls für das Gesellschaftsrecht verzichtbar und stelle allenfalls etwa für die Erben- oder eheliche Gütergemeinschaft eine hilfreiche Kennzeichnung dar.115 Auch die Untersuchung von John, der als entscheidende 109 Raiser, AcP 194 (1994), 495 (505); ebenso Raiser, AcP 199 (1999), 104 (135): „Die Beschränkung der Haftung auf das eigene Vermögen gehört vielmehr nicht zum Begriff der juristischen Peron“; Hadding, ZGR 2001, 712 (739); Beuthien, JZ 2003, 969 (977); Beuthien, NZG 2011, 481 (487). 110 Hadding, in: FS Kraft 1998, 137 (140–142); Bork, BGB AT, 2016, Rn. 195; Ulmer, AcP 198 (1998), 113 (123). 111 Grunewald, Gesellschaftsrecht, 2014, Rn. 1.106, die gleichwohl wegen des unterschiedlichen Gläubiger- und Gesellschafterschutzes an der Unterscheidung zwischen juristischer Person und Personengesellschaften festhalten will. 112 Hadding, in: FS Kraft 1998, 137 (143). 113 Timm, ZGR 1996, 247 (252); i.E. auch Hadding, in: FS Kraft 1998, 137 (145 f.). 114 Raiser, AcP 194 (1994), 495 (510 f.); Hadding, in: Festgabe Zivilrechtslehrer 1934/1935 (1999), 147 (154). In eine ähnliche Richtung gehen Überlegungen bei Zöllner, der freilich schon die Rechtsfähigkeit der GbR ebenso ablehnt wie den Status als juristische Person. Mit seinen Überlegungen wendet er sich insbesondere gegen die nachfolgend näher dargestellte Meinung (insbesondere von Ulmer), deren Aussage „Rechtspersönlichkeit nein, Rechtsfähigkeit ja“ er wegen „Perplexität“ abtun möchte; vgl. Zöllner, in: FS Gernhuber 1993, 563 (569); ebenso Zöllner, in: FS Kraft 1998, 701 (707 f., 709). 115 Raiser, AcP 194 (1994), 495 (511 f.).
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Elemente der „organisierten Rechtspersonen“ Handlungsorganisation, Haftungsverband und Identitätsausstattung ansieht,116 aber betont, diese Kriterien lägen bei Gesamthands-, Personenhandelsgesellschaften und juristischen Personen (und noch anderen) gestuft vor,117 interpretiert Raiser als einen deutlichen „Hinweis darauf, daß auf diesem Weg die Unterscheidung zwischen Gesamthand und juristischer Person sinnwidrig wird“.118 Rechtspersönlichkeit würde dann die Zuerkennung derselben Rechtsfähigkeit wie der des Menschen bedeuten, mit Ausnahme der Folgen, die natürliche Eigenschaften des Menschen (wie Geschlecht, Alter, Verwandtschaft) zur Voraussetzung haben.119 Dazu gehören die Verpflichtungs-, Vermögens- und Parteifähigkeit sowie die Haftung mit dem eigenen Vermögen, nicht aber die Beschränkung der Haftung auf das eigene Vermögen der Person unter Ausschluss der Mithaftung anderer (also der Gesellschafter).120 bb) Dreiteilung der Rechtsträger (h.M.) Dagegen hält die h.M. an der Dreiteilung weiter fest.121 Terminologisch wird die Trennung häufig an den Ausdrücken „Personenverband“ für die Personengesellschaften einerseits und „Verbandsperson“ für die juristischen Personen andererseits festgemacht. 122 Nach der neueren Meinung soll die GbR zwar Rechtssubjekt, aber keine juristische Person sein.123 Die Gruppe der Gesamthand sei auch keine „persona mystica“.124 Nach der Gruppenlehre nehmen die
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John, Die organisierte Rechtsperson, 1977, S. 72 ff. John, Die organisierte Rechtsperson, 1977, S. 149 f., 160 ff., auch 218 ff. Auch Raiser, AcP 199 (1999), 104 (125) verkennt nicht die zurückhaltenden Ergebnisse bei John, deutet sie aber offenbar als Zwischenstufe in einem dynamischen Prozess. 118 Raiser, AcP 199 (1999), 104 (125); für die Abgrenzung gegenüber nicht-rechtsfähigen Personengesellschaften (etwa der Erbengemeinschaft) beruft sich auch Ulmer, AcP 198 (1998), 113 (126) auf diese Kriterien, auch wenn er i.E. an der Unterscheidung zwischen Gesamthand und juristischer Person festhält. 119 Raiser, AcP 199 (1999), 104 (134). 120 Raiser, AcP 199 (1999), 104 (134 f.). 121 Aus der Rechtsprechung vgl. BGH, II ZR 331/00, Urt. vom 29.01.2001, BGHZ 146, 341, 343; ähnlich (die Wohnungseigentümergemeinschaft hat sich der juristischen Person angenähert) BGH, V ZB 32/05, Beschl. vom 02.06.2005, BGHZ 163, 154, 162; BGH, V ZB 74/08, Beschl. vom 04.12.2008, BGHZ 179, 102, Rn. 10; zur Literatur vgl. die Belege in den folgenden Fußnoten. 122 Flume, AT I, 1: Die Personengesellschaft, 1977, S. 90; so auch schon Schönfeld, in: FS Reichsgericht II, 191 (226); ähnlich auch bereits Gierke, Deutsches Privatrecht I, 1895, S. 469 („Verbandsperson“), 682 („verbundene Personenmehrheit“); skeptisch gegenüber der Aussagekraft dieser Terminologie dagegen Raiser, AcP 194 (1994), 495 (502 f.). 123 Flume, AT I, 1: Die Personengesellschaft, 1977, S. 56. 124 Flume, ZHR 136 (1972), 177 (189). 117
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Gesellschafter vielmehr „in ihrer Verbundenheit“, das heißt als „Gruppe“, am Rechtsverkehr teil.125 Zahlreiche Stimmen verweisen auf die gewachsene Struktur des Gesetzes, die zwischen juristischen Personen und Gesamthandsgemeinschaften unterscheide.126 Auch Normen wie §§ 14, 1059a Abs. 2 BGB unterschieden zwischen „juristischen Personen“ einerseits und „rechtsfähigen Personengesellschaften“ andererseits.127 Wenngleich dem Gesetzgeber eine einheitliche Regelung möglich sei, sei eine solche jedenfalls nicht aus der UmwG-Reform 1994 herauszulesen.128 Zurückgewiesen wird auch das Argument einer Verwässerung der Trennlinien durch die Kautelarpraxis, die ansonsten auch andere Abgrenzungen in Frage stellen würde.129 Während nach außen hin die GbR der juristischen Person gleichstehe, fänden sich insbesondere im Innenrecht wesentliche materielle Unterschiede.130 Die Trennlinien zwischen Selbst- und Fremdorganschaft, Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der Einmanngesellschaft und Unabhängigkeit oder Abhängigkeit des Fortbestehens bei einem Wechsel von Mitgliedern trennten daher weiterhin juristische Personen und Gesamthand;131 auch wenn die Unterschiede verschieden stark ausgeprägt sein könnten, würden damit doch unterschiedliche Typen beschrieben. 132 Andere wollen dagegen den wesentlichen Unterschied in dem Grad der rechtlichen Verselbständigung sehen: Die vollständige Verselbständigung einer Organisation von der Gesamtheit ihrer Mitglieder sei nach derzeitigem deutschen Recht nur als juristische Person möglich, während die Gesamthand lediglich nah an diese heranreichen könne,133 andere ziehen 125
Flume, AT I, 1: Die Personengesellschaft, 1977, S. 56 f.; auch schon Flume, ZHR 136 (1972), 177 (189). 126 Ulmer, AcP 198 (1998), 113 (120). 127 Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2016, § 16 Rn. 31. 128 Ulmer, AcP 198 (1998), 113 (120 f.); Zöllner, in: FS Gernhuber 1993, 563 (566) (hätte „etwas Gewaltsames“); Zöllner, in: FS Claussen 1997, 423 (429 f.); Cordes, JZ 1998, 545 (549); ablehnend auch H. Wiedemann, ZGR 1996, 286 (289 f.). 129 Ulmer, AcP 198 (1998), 113 (122). 130 Vgl. zu den Unterschieden im Innenverhältnis Flume, AT I, 1: Die Personengesellschaft, 1977, S. 89 ff., zum Außenverhältnis S. 93. 131 Ulmer, AcP 198 (1998), 113 (122); Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2016, § 16 Rn. 31. 132 Lehmann, AcP 207 (2007), 225 (245, 247, 255); Beuthien, NJW 1999, 1142 (1144): „jedenfalls im Grundsatz klare Abgrenzung“; dann aber S. 1145 f.: jedenfalls insofern auch Organhandeln bei der Personengesellschaft, wie man ihr Teilrechtsfähigkeit beimisst. 133 Schäfer, in: Staub, HGB-Großkomm Bd. 3, 2009, § 105 HGB Rn. 38 f.; Schäfer, in: MüKoBGB Bd. 6, 2017, § 705 BGB Rn. 308 f.; Hadding/Kießling, in: Soergel, Bd. 11/1, 2012, Vor § 705 BGB Rn. 21; Westermann, in: Erman, 2014, Vor § 705 BGB Rn. 18; Reuter, AcP 207 (2007), 673 (698); Huber, in: FS Lutter 2000, 107 (113 f.). Etwa könnte die Gesamtheit der Gesellschafter einer juristischen Person nicht über Gegenstände des Gesellschaftsvermögens verfügen, anders sei dies bei Gesamthandsgemeinschaften.
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das Haftungsregime heran (die Bildung eines Sondervermögens, das nur den Gläubigern haftet, auf das die Haftung aber auch beschränkt ist, sei kein notwendiger, aber wohl doch ein hinreichend typischer Inhalt der juristischen Person).134 cc) Teilrechtsfähigkeit Sieht man als wesentliches Unterscheidungskriterium doch die Rechtsfähigkeit an, hält aber an einer Dreiteilung der Rechtsträger mit der h.M. fest, bedeutet dies ein Auseinanderfallen von Rechtsfähigkeit und Rechtspersönlichkeit.135 Die Rechtsfähigkeit kommt neben dem Menschen nicht mehr nur dem Verband mit Rechtspersönlichkeit zu. Entweder müssen den juristischen Personen also andere Eigenschaften zugeschrieben werden, so wie oben dargestellt; ob dies im Einzelfall überzeugt, ist fraglich. Die Alternative dazu ist, der juristischen Person ein besonderes Verhältnis zur Rechtsfähigkeit zuzuschreiben, etwa dass nur ihr „als solcher“ Rechtsfähigkeit zukomme. Allerdings bleibt unklar, worin der Nutzen einer solchen Rechtsfigur liegen soll, wenn einem Rechtsträger nicht „als solchem“ Rechtsfähigkeit zugesprochen wird.136 Andere Versuche gehen dahin, den Personengesellschaften „Rechtssubjektivität“ oder „Rechtszuständigkeit“ zuzuschreiben, ihr aber Rechtsfähigkeit (und damit die Rechtspersönlichkeit, also die Stellung als juristische Person) zu verweigern.137 Dabei bleibt allerdings das genaue Konzept von Rechtssubjektivität bzw. -zuständigkeit unklar.138 Teilweise wird dieser Zwischenzustand auch als „Teilrechtsfähigkeit“ der GbR beschrieben.139 Während neuere Publikationen häufig eine gewisse auch terminologische Zurückhaltung gegenüber der Teilrechtsfähigkeit an den Tag legen (etwa „‚(Teil-)Rechtsfähigkeit‘“ in Anführungszeichen setzen), 140 hat 134 H. Wiedemann, in: FS Hüffer 2010, 1091 (1097 ff.); ähnlich D. Leipold, in: FS Canaris 2007 Bd. II, 221 (229). 135 So explizit z.B. Rittner, in: FS Hüffer 2010, 843 (849). 136 K. Schmidt, NJW 2001, 993 (997). 137 Fabricius, Relativität der Rechtsfähigkeit, 1963, S. 44; Weber-Grellet, AcP 182 (1982), 316 (328). 138 Beuthien, JZ 2003, 715 (717 f.) möchte diese Termini daher am liebsten vermeiden (und sie freilich durch den der „Gesamtrechtsfähigkeit“ ersetzen); gegen einen Unterschied zwischen Rechtssubjektivität und -fähigkeit auch Timm, NJW 1995, 3209 (3210). 139 So zuerst Flume, AT I, 1: Die Personengesellschaft, 1977, S. 90; auch Rittner, Die werdende juristische Person, 1973, S. 269 ff.; ähnlich (mit anderer Terminologie) John, Die organisierte Rechtsperson, 1977, S. 221 ff., 225 f., der sich statt am „Habenkönnen von Rechten“ lieber an den Kriterien Handlungsorganisation, Haftungsverband und Identitätsausstattung orientieren will; H. Wiedemann, WM-Sonderbeilage Nr. 4/1994, 1 (7); Kannowski, in: Staudinger, 13./14. Bearbeitung, 2013, Vor § 1 BGB Rn. 3. 140 BGH, V ZB 74/08, Beschl. vom 04.12.2008, BGHZ 179, 102, Rn. 10; aus der Literatur Habersack, JuS 1990, 179 (182); Habersack, JuS 1993, 1 (2); Ulmer, AcP 198 (1998), 113
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Fabricius versucht, das Konzept der Teilrechtsfähigkeit als Alternative zum Dualismus „rechtsfähig oder nicht“ zu etablieren. Seine Definition von Rechtsfähigkeit ist dabei „die Fähigkeit eines Menschen oder einer als Rechtssubjekt anerkannten sozialen Einheit, sich rechtlich wirksam zu verhalten, sei es auch durch einen Boten, Vertreter oder ein Organ“,141 trennt also zwischen Rechtssubjektivität und -fähigkeit. Da nicht allen Rechtssubjekten der gleiche Umfang von Rechten zukommt oder zukommen könne, sei es eine sinnvolle Kategorie, für manche eine „Teilrechtsfähigkeit“ anzuerkennen, also die Fähigkeit, sich so zu verhalten, dass nur eine oder mehrere bestimmte Normen auf das Rechtssubjekt anzuwenden wären.142 Eine solche Teilrechtsfähigkeit soll einigen Rechtssubjekten, etwa dem nasciturus, aber insbesondere auch der Gesamthand, zukommen, und soll Erklärungen etwa für die Erbfähigkeit der Gesamthand liefern.143 Von dieser quantitativen Teilrechtsfähigkeit (die GbR ist (noch) nicht für alle Aufgaben rechtsfähig) kann dabei eine qualitative Teilrechtsfähigkeit (wegen der Gesamthandsverfassung verbleibt – trotz der Aussagen etwa in §§ 124 Abs. 1 HGB, 7 Abs. 2 PartGG, 899a BGB – die „eigentliche“ Zuständigkeit bei den Gesellschaftern) unterschieden werden;144 ein der „Teilrechtsfähigkeit“ ähnlicher Versuch, ein Zwischenstadium zwischen Rechts- und Nicht-Rechtsfähigkeit zu schaffen, liegt in Beuthiens „Gesamtrechtsfähigkeit“.145 Bejaht man eine Teilrechtsfähigkeit, würde zum Konzept der juristischen Person gehören, dass ihr (als einzigem Rechtsträger neben den Menschen) ungeteilte Rechtsfähigkeit zugeschrieben würde. Andere lehnen dagegen Konzepte der Teilrechtsfähigkeit ab.146 Sie beruhten auf einer „unzutreffenden Überhöhung des Begriffs der ‚Rechtssubjektivität‘“, denn „Rechtsfähigkeit“ als solche gebe es nicht.147 Wenn Befürworter einer „Teilrechtsfähigkeit“ behaupten, der Gesetzgeber habe keine Veranlassung, (115); Bork, in: 100 Jahre BGB – 100 Jahre Staudinger, Symposion, 181 (195); vgl. zu diesem Sprachgebrauch Mülbert, AcP 199 (1999), 38 (44); Lehmann, AcP 207 (2007), 225 (235) (der darin eine Unsicherheit der Autoren sieht); sowie sehr kritisch („zur weiteren Verunklarung“) Zöllner, in: FS Kraft 1998, 701 (704); zu den verschiedenen in der Literatur verwendeten Termini Tolani, Teilrechtsfähigkeit, 2009, S. 31. 141 Fabricius, Relativität der Rechtsfähigkeit, 1963, S. 44. 142 Fabricius, Relativität der Rechtsfähigkeit, 1963, S. 61. 143 Fabricius, Relativität der Rechtsfähigkeit, 1963, S. 111 ff. (zum nasciturus), 117 ff. (Gesamthand), 236 f. (Erbfähigkeit der Gesamthand); gegen letztere Ableitung bereits Flume, AT I, 1: Die Personengesellschaft, 1977, S. 91 Fn. 14 (eine Frage des Erbrechts, nicht der Gesamthand). 144 Zur Unterscheidung Mülbert, AcP 199 (1999), 38 (44–47); auch D. Leipold, in: FS Canaris 2007 Bd. II, 221 (224 ff., 227 ff.), der jedoch beide Formen ablehnt. 145 Beuthien, JZ 2003, 715 (720 ff.); dagegen Lehmann, AcP 207 (2007), 225 (239 f.). 146 Ausführlich gegen beide Formen von Teilrechtsfähigkeit D. Leipold, in: FS Canaris 2007 Bd. II, 221 (224 ff.) sowie die im Folgenden zitierten Autoren. 147 Timm, NJW 1995, 3209 (3211); Huber, in: FS Lutter 2000, 107 (112 f.).
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von einer „Teilrechtsfähigkeit“ zu sprechen, da er ohnehin stets die konkrete Rechtsfähigkeit eines Subjekts innerhalb des „umfangsallgemeinen Begriffs“ der (größtmöglich denkbaren) Rechtsfähigkeit festlegen müsse,148 verwahren sich andere gegen eine Rechtsfortbildung zur Teilrechtsfähigkeit insbesondere durch die Gerichte 149 und eine solche „Verdunkelung“ durch die Rechtswissenschaft.150 Auch in den einschlägigen Urteilen sei damit nicht eine tatsächliche Einschränkung der Rechtsfähigkeit gemeint, da der Außen-GbR noch kein Recht verwehrt worden sei,151 sondern damit solle eine Distanz zur juristischen Person ausgedrückt werden (etwa, dass nicht die Gesellschaft Anfechtungsgegner sei).152 Zwar sei zutreffend, dass manche Rechtsträger manche Rechte nicht haben könnten (etwa können Neugeborene nicht heiraten). Die Rechtsordnung wolle daraus aber gerade keine allgemeinen Schlüsse ziehen.153 Wenn einige Autoren die Zuerkennung von Rechtsfähigkeit an Neugeborene als „Fiktion“ bezeichnen, 154 halten Gegner der „Teilrechtsfähigkeit“ dem entgegen, die Zuerkennung von Rechtsfähigkeit sei stets eine Fiktion. Aus faktischen Umständen Rückschlüsse auf normativer Ebene zu ziehen sei nicht zulässig.155 Ein (der Teilrechtsfähigkeit möglicherweise ähnliches) Konzept einer „ultra vires-Lehre“ hat sich im deutschen Gesellschafts(privat)recht nicht durchgesetzt.156 Auch Ansätze, die eine solche insbesondere im öffentlichen Recht befürworten, beschränken eher die Handlungs- als die Rechtsfähigkeit.157 Es würden den Rahmen dieser Untersuchung sprengen, hier Versuche zu vertiefen, die „juristische Person“ von ihrer rechtstatsächlichen oder soziologischen Seite her näher zu konkretisieren. Neben dem schon erwähnten Ansatz 148
Fabricius, Relativität der Rechtsfähigkeit, 1963, S. 57, 111. Tolani, Teilrechtsfähigkeit, 2009, S. 171–173. 150 Zöllner, in: FS Kraft 1998, 701 (704); Beuthien, JZ 2003, 715 (718). 151 BGH, II ZR 331/00, Urt. vom 29.01.2001, BGHZ 146, 341 ((Teil-)Rechtsfähigkeit der Außen-GbR); BGH, II ZR 56/02, Urt. vom 07.04.2003, BGHZ 154, 370 (Haftung neuer Gesellschafter für Altschulden); BGH, II ZR 285/99, Urt. vom 24.02.2003, BGHZ 154, 88 (Haftung analog § 31 BGB); BGH, II ZR 218/05, Urt. vom 25.09.2006 = NJW 2006, 3716 (zur Grundbuchfähigkeit); zu dieser Rechtsprechungslinie Reuter, AcP 207 (2007), 673 (675 f.). 152 Reuter, AcP 207 (2007), 673 (676) zum Urteil BGH, V ZB 32/05, Beschl. vom 02.06.2005, BGHZ 163, 154 (jetzt in § 10 Abs. 6, 7 WEG übernommen). 153 Lehmann, AcP 207 (2007), 225 (234). 154 Fabricius, Relativität der Rechtsfähigkeit, 1963, S. 80. 155 Lehmann, AcP 207 (2007), 225 (235). 156 Spindler, in: W. Bayer/Habersack, Aktienrecht im Wandel I, 2007, § 13 Rn. 228; Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 2015, Rn. 9.5; Lehmann, AcP 207 (2007), 225 (236) m.w.N. 157 Mit einem Überblick zur Literatur Ehlers, Teilrechtsfähigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts, 2000, siehe dort das Ergebnis S. 79 f. 149
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
von John verdient insbesondere der von Ott Erwähnung, der eine Wahrnehmung insbesondere großer Korporationen als „Zwischengewalten“ zwischen Individuen und Staat in Recht und Gesetz vermisst.158 Eine systemtheoretische Sichtweise des Unternehmens findet sich bei Teubner 159 sowie in ähnlicher Form bei Raiser, der das Recht der juristischen Personen „als höherstufiges autopoietisches Sozialsystem“ versteht.160 d) Handlungsfähigkeit Unter der Frage der „juristischen Person“ kann entweder nur die Rechtsfähigkeit verstanden werden, oder diese kann auch die „Willensfähigkeit“ mit umfassen.161 (Auch) bei der Frage nach der Handlungsfähigkeit der juristischen Person enthielt sich der BGB-Gesetzgeber allerdings einer Stellungnahme und verwies die nähere Bestimmung der „juristischen Person“ an die Wissenschaft.162 Daher wollte man sich nicht festlegen, ob der Vorstand eines Vereins für das handlungsunfähige (da fiktive) Gebilde des Vereins handele oder ob der Verein selbst handele: Entsprechend gewunden bestimmt § 26 Abs. 1 S. 2 HS 2 BGB, der Vorstand habe „die Stellung eines gesetzlichen Vertreters“.163 Andere Normen neigen mal der Theorie der realen Verbandspersönlichkeit zu (§ 31 BGB, dazu gleich), mal der Fiktionstheorie (§ 22 BGB: Konzessionsvorbehalt für wirtschaftliche Vereine, § 54 BGB: Diskriminierung der nicht eingetragenen Vereine).164 Was die Handlungsfähigkeit der juristischen Person angeht, ist heute die „Organtheorie“ herrschend, der zufolge die juristische Person selbst handeln kann (Theorie der realen Verbandsperson) und dies durch ihre Organe tut.165 Insofern ist es auch falsch, von einer „organschaftlichen Stellvertretung“ zu sprechen; organschaftliches Eigenhandeln durch die Körperschaft selbst und Vertretenwerden durch einen Stellvertreter schließen sich gegenseitig aus.166 Die Vertretertheorie (als Fortsetzung der Fiktionstheorie) meint, dass Vertreter
158 Ott, Recht und Realität der Unternehmenskorporation, Ein Beitrag zur Theorie der juristischen Person, 1977, S. 298 ff. 159 Teubner, KritV 1987, 61 (61 ff.). 160 Raiser, AcP 199 (1999), 104 (136); ähnlich auch schon Raiser, Das Unternehmen als Organisation, 1969. 161 Enneccerus/Nipperdey, AT I, 1959, S. 615 f. (§ 103 IV). 162 Mot. I, 78 = Mugdan I, 395, Prot. I, S. 509 ff. 163 Zu den Hintergründen vgl. Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2016, § 16 Rn. 11; Flume, AT I, 2: Die juristische Person, 1983, S. 20; Beuthien, NJW 1999, 1142 (1142). 164 Raiser, AcP 199 (1999), 104 (116). 165 Beuthien, NJW 1999, 1142 (1143 ff., 1142 m.w.N. in Fn. 8); Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2016, § 16 Rn. 11. 166 Beuthien, NJW 1999, 1142 (1142 ff.); Beuthien, JZ 2011, 124 (126).
B. Autonome Auslegung
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(Organe) für die selbst nicht handlungsfähige juristische Person handeln müssen;167 demgegenüber weist die h.M. jedoch auf den Bedarf nach einer auch handlungsfähigen juristischen Person hin, damit diese am Rechtsverkehr teilnehmen kann.168 Relevant wird der Streit jedoch vor allem bei der Deliktsfähigkeit, die die h.M., der Organtheorie entsprechend,169 aus § 31 BGB ableitet, der – neben dem Verein – auch auf alle anderen juristischen Personen,170 darüber hinaus aber auch auf sonstige rechtsfähige Rechtsformen171 analog angewendet wird. § 31 BGB regelt, dass ein Verein für einen Schaden selbst verantwortlich ist, „den der Vorstand, ein Mitglied des Vorstands oder ein anderer verfassungsmäßig berufener Vertreter durch eine in Ausführung der ihm zustehenden Verrichtungen begangene, zum Schadensersatz verpflichtende Handlung einem Dritten zufügt.“ Dies wird als Haftung für den eigenen Willen der juristischen Person gedeutet. 172 Eine juristische Person kann nach deutschem Verständnis auch Besitzer sein. Ihr wird der Besitz, den Organe für sie tatsächlich ausüben, unmittelbar zugerechnet.173 Nach dem Kriminalstrafrecht i.e.S. kann sich eine juristische Person in Deutschland derzeit nicht strafbar machen, sie kann jedoch nach dem OWiG (§§ 30, 88) belangt werden. Dort werden jedoch nicht nur juristische Personen als solche, sondern auch nicht rechtsfähige Vereine und rechtsfähige Personenvereinigungen für sanktionierbar erklärt (§ 30 Abs. 1 Nr. 2, 3 OWiG). Denkbar ist aber für manche auch eine Ausdehnung der Strafmündigkeit auf das eigentliche Kernstrafrecht, wie sie auch mitunter gefordert wird, da das Ordnungswidrigkeitenrecht kein aliud, sondern nur ein „wesensgleiches Minus“ darstellt;174 ergänzend wird auch die besondere Bedeutung des § 75 StGB (An-
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Flume, AT I, 2: Die juristische Person, 1983, S. 377 ff. Beuthien, NJW 1999, 1142 (1143). 169 Enneccerus/Nipperdey, AT I, 1959, S. 617 f. (§ 103 IV 2); Raiser, AcP 199 (1999), 104 (116). 170 Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2016, § 16 Rn. 11. 171 Zur Ausdehnung auf die GbR BGH, II ZR 285/99, Urt. vom 24.02.2003, BGHZ 154, 88, 93 ff.; H. Wiedemann, in: FS Kellermann 1991, 529 (543); H. Wiedemann, WM-Sonderbeilage Nr. 4/1994, 1 (13 f.); Ulmer, ZIP 2003, 1113 (1114); Altmeppen, NJW 2003, 22, 1553 (1553), jedoch gegen eine Haftung auch der Gesellschafter analog § 128 HGB; ebenso Canaris, ZGR 2004, 69 (109 ff.); zur Ausdehnung auf den nichtrechtsfähigen Verein vgl. Enneccerus/Nipperdey, AT I, 1959, S. 708 f. (§ 116 IV 7); Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2016, § 16 Rn. 11; Weick, in: Staudinger, 13./14. Bearbeitung, 2005, § 54 BGB Rn. 71. 172 Enneccerus/Nipperdey, AT I, 1959, S. 618 (§ 103 IV 2). 173 BGH, VIII ZR 256/69, Urt. vom 31.03.1971, BGHZ 56, 73, 77; Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 2015, Rn. 9.11 f. K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2003, § 10 III 2 a (S. 269). 174 BVerfG, 2 BvL 7/78, Beschl. vom 27.03.1979, BVerfGE 51, 60, 74; Beuthien, NJW 1999, 1142 (1143, Fn. 17). 168
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
wendbarkeit von Verfall und Einziehung auch bei juristischen Personen) hervorgehoben, da hier eine Kriminalstrafe für juristische Personen bereits anerkannt ist.175 Forderungen nach einer Einführung eines Verbandsstrafrechts und entsprechende Vorschläge werden seit dem Zweiten Weltkrieg – damals noch unter dem Eindruck des (anglo-amerikanischen) Besatzungsrechts176 – immer wieder vorgebracht;177 bisher wurden solche Vorschläge aber stets abgelehnt, u.a. aus dogmatischen Gründen wie der Unvereinbarkeit insbesondere mit dem Schuldmodell, aber auch mit den sonstigen Strafzwecken.178 e) Vorgesellschaft Ein besonderes Problem für eine genaue Definition der „juristischen Person“ stellt auch das „Rätsel Vorgesellschaft“179 dar. Darunter wird eine sich noch in Gründung befindliche juristische Person verstanden, die noch nicht eingetragen ist, aber – möglicherweise – bereits als Vorgesellschaft existiert und eventuell rechtsfähig ist. Das Problem der Vorgesellschaft lässt sich auf mehrere Arten formulieren: Die Vorgesellschaft ist eine Körperschaft, aber keine juristische Person180 und ist so eine (weitere) Ausnahme zum Prinzip, dass juristische Personen durch eine körperschaftliche Verfassung ausgezeichnet sein sollen. Zum anderen würde die Zuerkennung von Rechtsfähigkeit für die Vorgesellschaft bedeuten, dass die werdende Gesellschaft gerade nicht erst mit Eintragung Rechtsfähigkeit erlangt – sodass auch dieses Kriterium, nämlich dass die juristische Person erst mit Eintragung Rechtsfähigkeit erlangt, nicht mehr durchgehend richtig wäre. Ursprünglich galt in Deutschland das sog. Vorbelastungsverbot, dem zufolge die neu entstehende juristische Person nur mit den Verbindlichkeiten be-
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R. Scholz, ZRP 2000, 435 (437 f.). R. Scholz, ZRP 2000, 435 (436). 177 Vgl. (kritisch) zu einem Vorschlag des Landes Hessen Hamm, NJW 1998, 662; den jüngsten Vorstoß des Landes Nordrhein-Westfalen 2014 stellen Witte/Wagner, BB 2014, 643 vor. 178 Ablehnend bereits Verhandlungen des 40. Deutschen Juristentages, vgl. Deutscher Juristentag, NJW 1953, 1462 (1463); ausführlich zu dogmatischen Gründen allgemein Schünemann, ZIS 2014, 1 (3 ff.); kritisch zur NRW-Initiative 2014 die meisten Stimmen, vgl. die Nachweise bei Witte/Wagner, BB 2014, 643 (643, Fn. 8); Zieschang, GA 161 (2014), 91 (97 ff.); Mansdörfer, ZIS 2015, 23 (31); K. Leipold, NJW-Spezial 2013, 696; auch Schünemann, ZIS 2014, 1 (7 ff.); aus zivilrechtlicher Sicht mit teils positivem, teils negativem Ergebnis G. Wagner, ZGR 2016, 112 (117 ff.); für eine Verbandsstrafbarkeit auf Grundlage des Zurechnungsmodells dagegen R. Scholz, ZRP 2000, 435 (438 ff.). 179 Flume, NJW 1981, 1753 (1753) nach einer Stelle von Wiedemann. 180 Grunewald, Gesellschaftsrecht, 2014, Rn. 4.12; Beuthien, WM 2013, 1485 (1485, 1494). 176
B. Autonome Auslegung
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lastet wurde, die im Gesetz oder in der Satzung (etwa im Falle von Sachgründungen) vorgesehen waren.181 Mit einem Urteil des BGH 1981 wurde das Vorbelastungsverbot aufgegeben; auch in anderen Fragen bildete der BGH das Recht fort: Er postulierte eine Unterbilanzhaftung der Gründer und einen automatischen Übergang der Verbindlichkeiten der Vorgesellschaft auf die spätere Gesellschaft.182 Eine Schuldübernahme ist weder nötig noch möglich, die Vorgesellschaft ist seitdem selbst als rechtsfähig anerkannt und kann (Aktiv- und Passiv-)Vermögen haben, das die spätere juristische Person übernimmt. Entsprechend haftet die Vorgesellschaft selbst den Gläubigern, nicht die Gesellschafter, die lediglich im Innenverhältnis eine Unterbilanzhaftung gegenüber der Vorgesellschaft trifft.183 Die Haftung erfasst dabei den Betrag, um den das Gesellschaftsvermögen das Nennkapital bei Eintragung184 unterschreitet (Unterbilanz). Diese Grundsätze, die die Rechtsprechung anhand Fällen, die jeweils eine GmbH betrafen, entwickelt hat, gelten, da nicht GmbH-spezifisch, auch für die Vor-AG.185 Einige Stimmen aus der Literatur treten für eine Außenhaftung analog § 128 HGB ein; 186 jedoch hat die Rechtsprechung des BGH auch in der Literatur überwiegend Zustimmung erfahren.187 Bei der Vorgesellschaft handelt es sich somit seitdem um ein rechtsfähiges Gebilde,188 das meistens als körperschaftlich strukturierter Verband sui generis
181 RG, Rep. I 15/04, Urt. vom 20.04.1904, RGZ 58, 55; RG, VII 762/21, Urt. vom 17.10.1921, RGZ 105, 228, 229; BGH, II ZR 300/53, Urt. vom 16.06.1955, BGHZ 17, 385, 391; BGH, II ZR 137/69, Urt. vom 09.02.1970, BGHZ 53, 210, 212; dagegen schon Rittner, Die werdende juristische Person, 1973, S. 364 ff. 182 BGH, II ZR 54/80, Urt. vom 09.03.1981, BGHZ 80, 129. 183 BGH, II ZR 123/94, Urt. vom 27.01.1997, BGHZ 134, 333. 184 Kommt es nicht zur Eintragung, wird die Unterbilanzhaftung durch eine Verlustdeckungspflicht flankiert, vgl. Koch, in: Hüffer, Aktiengesetz, 2016, § 41 Rn. 9a m.w.N. 185 H.M., vgl. Koch, in: Hüffer, Aktiengesetz, 2016, § 41 Rn. 2; Hoffmann-Becking, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 3 Rn. 37; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2003, § 27 II 3 (S. 788); Hüffer, ZGR 1993, 474 (488); Weimar, AG 1992, 69 (71); Lutter, NJW 1989, 2649 (2653). 186 Pentz, in: MüKoAktG Bd. 1, 2016, § 41 AktG Rn. 60 ff.; K. Schmidt, ZIP 1996, 353 (356 ff.); K. Schmidt, ZIP 1996, 593 (593 f.); Kersting, Die Vorgesellschaft im europäischen Gesellschaftsrecht, 2000, S. 29 f.; Altmeppen, NJW 1997, 3272 (3275); Flume, DB 1998, 45 (46 f.); Wilhelm, DB 1996, 921 (922); Raiser/Veil, BB 1996, 1344 (1346 f.). 187 Koch, in: Hüffer, Aktiengesetz, 2016, § 41 Rn. 14 m.w.N.; für eine Innenhaftung auch schon Weimar, AG 1992, 69 (79); Ulmer, ZIP 1996, 733 (733 ff.); Goette, DStR 1997, 628 (628 f.). 188 BGH, II ZR 218/54, Urt. vom 12.07.1956, BGHZ 21, 242, 246; BGH, II ZB 17/91, Beschl. vom 16.03.1992, BGHZ 117, 323, 326 f.; auf derselben Linie, aber mit m.E. missverständlicher Formulierung auch BGH, XI ZR 71/99, Urt. vom 18.01.2000, BGHZ 143, 314, 319; BGH, II ZR 162/05, Urt. vom 23.10.2006, BGHZ 169, 270, Rn. 10 und auch h.L. – s. statt aller Koch, in: Hüffer, Aktiengesetz, 2016, § 41 AktG Rn. 4.
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
eingeordnet wird. Andere wollen darin eine Gesamthand sehen;189 die Vorgesellschaft wird insofern auch als „teilrechtsfähig“ bezeichnet – eine Begrifflichkeit, gegen die sich wieder andere verwahren, da sie dem Stand der Rechtsentwicklung nicht entspreche.190 Die Rechtsfähigkeit der Vorgesellschaft wird auch aus der mittlerweile anerkannten Rechtsfähigkeit der GbR hergeleitet und ist in der Literatur weitgehend unstreitig. 191 Insbesondere können Einlagen (§§ 36, 36a AktG) an die Vorgesellschaft geleistet werden. Neben die Haftung der Vorgesellschaft und die Binnenhaftung der Gesellschafter tritt eine Haftung der handelnden Organmitglieder gem. §§ 41 Abs. 1 S. 2 AktG, 11 Abs. 2 GmbHG,192 die jedoch mit Eintragung ins Handelsregister erlischt, da sie lediglich eine „Notlösung“ für Gläubiger in den Fällen bereitstellen will, in denen die Gesellschaft nicht eingetragen wird.193 f) Zwischenergebnis zum deutschen Recht In Deutschland lässt sich die Abgrenzung der Rechtspersönlichkeit bis zum Theorienstreit zurückverfolgen. Nach wie vor nicht abschließend geklärt ist das Verhältnis von Rechtspersönlichkeit zur Rechtsfähigkeit; dass Rechtspersönlichkeit zwingend Rechtsfähigkeit nach sich zieht, ist dagegen ebenso wie weitere Rechtsfolgen (etwa Handlungsfähigkeit) und das Gebilde der Vorgesellschaft weitgehend anerkannt. 2. Italien Die gesetzlichen Grundlagen des italienischen Gesellschaftsrecht194 liegen im Wesentlichen im Fünften Buch des Codice Civile (c.c., italienisches
189 Pentz, in: MüKoAktG Bd. 1, 2016, § 41 AktG Rn. 24 m.w.N.; Ulmer/Habersack, in: GroßkommGmbHG Bd. 1, 2013, § 11 GmbHG Rn. 10. 190 Vgl. speziell zur Vorgesellschaft neben den oben in 2. Kap., B I 1 c cc), S. 126 f., Fn. 146 ff. Genannten Koch, in: Hüffer, Aktiengesetz, 2016, § 41 AktG Rn. 4; K. Schmidt, in: F. Scholz, GmbH-Kommentar, 2012, § 11 GmbHG Rn. 34. 191 Jew. m.w.N. Koch, in: Hüffer, Aktiengesetz, 2016, § 41 AktG Rn. 4; Heidinger, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, § 41 AktG Rn. 28. 192 BGH, II ZR 276/83, Urt. vom 07.05.1984, BGHZ 91, 148, 149; BGH, II ZR 54/80, Urt. vom 09.03.1981, BGHZ 80, 129, 142 f.; BGH, II ZR 59/80, Urt. vom 16.03.1981, BGHZ 80, 182, 183. 193 BGH, II ZR 54/80, Urt. vom 09.03.1981, BGHZ 80, 129, 144; BGH, II ZR 59/80, Urt. vom 16.03.1981, BGHZ 80, 182, 184. 194 Das italienische Pendant „diritto delle società“ wird dabei teils enger als das deutsche Gesellschaftsrecht verstanden und insbesondere auf private Zweckverbände mit Gewinnerzielungsabsicht beschränkt (soweit ersichtlich ohne Bedeutung für diese Untersuchung), vgl. Grundmann/Massari, in: Grundmann/Zaccaria, Einführung in das italienische Recht, 2007, S. 385 f.
B. Autonome Auslegung
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Bürgerliches Gesetzbuch 195 ), betitelt „Del lavoro“, Titel 5 (Art. 2247–2510 c.c.). Mit Wirkung zum 01.01.2004 wurde das Gesellschaftsrecht in Italien tiefgreifend reformiert,196 insbesondere wurden nach Vorbild der SE eine monistische und eine dualistische Alternative zum traditionellen Leitungssystem eingeführt. Eine explizite Umsetzung der SE findet sich bisher lediglich für die SE-RL, nicht jedoch für die SE-VO. Unter Notaren in Italien ist jedoch unstreitig, dass eine italienische SE gegründet werden kann,197 es bestehen auch bereits italienische SE.198 Unter den im c.c. geregelten Rechtsformen (es besteht Rechtsformenzwang199), darunter insbesondere also die società semplice als gesetzgebungstechnische Grundform, ferner die società in nome collettivo, die società in accomandita semplice, die società per azioni, die società in accomandita per azioni und die società a responsabilità limitata, ist im Anhang I der SEVO nur die società per azioni genannt. a) Terminus für „Rechtspersönlichkeit“ und Verwendung In der italienischen Sprachfassung wird „Rechtspersönlichkeit“ im Sinn von Art. 1 Abs. 3, 16 Abs. 1 SE-VO mit „personalità giuridica“ wiedergegeben. Auch das italienische Recht kennt den Ausdruck „personalità giuridica“ (z.B. Art. 2331 Abs. 1 c.c.). Eine Definition dazu gibt es im Gesetz nicht, vielmehr wird das Konzept vom Gesetzgeber vorausgesetzt. 200 Personalità giuridica schließt zum einen sicherlich die Zuerkennung einer von den Gesellschaftern getrennten Rechtssubjektivität ein („l’attribuzione … della qualità di soggetto di diritti distinto dalle persone dei soci“).201 Da jedoch teilweise auch anderen Verbänden Rechtssubjektivität zugesprochen wird (s. ausführlicher unten), kann die Erforschung dessen, was „personalità giuridica“ bedeutet, nicht an dieser Stelle stehenbleiben. Terminologisch eng verwandt ist das Konzept der persona giuridica. Als persona giuridica werden Körperschaften bezeichnet, die Inhaber von Rechten und Pflichten sein können. Diese werden vom Gesetzgeber weiter unterteilt,
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Regio decreto 16 marzo 1942, n. 262, Approvazione del testo del Codice civile, GU n. 79 del 04.04.1942. 196 Zur Reform von 2004 aus deutscher Sicht u.a. Kindler, ZEuP 2012, 72 (73 ff.). 197 Vgl. dazu näher Rescio, Società 2007, 359 m.w.N. 198 Vgl. , zuletzt abgerufen am 21.10.2017. 199 Art. 2249 Abs. 1 c.c.; Pitter, in: Cian/Trabucchi, Commentario breve al Codice civile, 2016, Art. 2249 Rn. 1. 200 Di Sabato, Diritto delle società, 2003, S. 49. 201 La Rosa/Nigro, in: Colombo/Portale, Trattato, 1*, 2004, S. 403.
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
wobei die Terminologie aber keine dogmatische Unterscheidung mehr reflektiert, sondern historisch zu verstehen ist.202 Differenziert wird etwa zwischen persone giuridiche im engeren Sinn (deren Rechtspersönlichkeit formell anerkannt wurde, Art. 11–35 c.c.) und den enti di fatto (oder enti non personificati); als Überbegriff ist auch (statt persone giuridiche im weiteren Sinn) zur Vermeidung von Verwechslungen enti giuridici gebräuchlich. 203 Ferner unterscheidet das Gesetz zwischen Vereinen und Stiftungen einerseits (associazioni e fondazioni, in Art. 11 ff. c.c. als „persone giuridiche“ bezeichnet; hier wird das engere Konzept von persone giuridiche verwendet) und società di personalità giuridica, Gesellschaften mit Rechtspersönlichkeit andererseits. Es lässt sich also sagen, dass personalità giuridica selbst kein Objekt, sondern eine Art und Weise der Existenz bezeichnet, die Verbänden zugeschrieben werden kann204 (wodurch diese zu „persone giuridiche“ werden). Von personalità giuridica ist capacità giuridica terminologisch unterschieden (in etwa „Rechtsfähigkeit“, Art. 1 c.c.), die natürlichen Personen zukommt,205 aber (nach Überwindung der sehr restriktiven Folgerungen, die die Anhänger der Fiktionstheorie aus der Rechtsnatur der persone giuridiche ziehen) auch den persone giuridiche.206 In der Literatur wird bei Personengesellschaften meist die Frage nach der soggettività giuridica (Rechtssubjektivität) gestellt (dazu sogleich), wobei aber Einigkeit darüber zu bestehen scheint, dass die Anerkennung als soggetto di diritto (Rechtssubjekt, also Verband, dem soggettività giuridica zukommt) auch zur Zubilligung von capacità giuridica zwingt.207 Einer juristischen Person werden Eigenschaften wie Bösgläubigkeit, Undankbarkeit oder guter Ruf zugeschrieben (mala fede, ingratitudine, reputazione).208 Grenzen hat dies selbstverständlich dort, wo Eigenschaften die „phy-
202
Galgano, in: Digesto delle discipline privatistiche, Sez. Civile XIII, 1995, S. 397 (Lemma „Persona giuridica“). 203 Troiano, in: Grundmann/Zaccaria, Einführung in das italienische Recht, 2007, S. 135. 204 Galgano, in: Digesto delle discipline privatistiche, Sez. Civile XIII, 1995, S. 397 (Lemma „Persona giuridica“). 205 Vgl. Troiano, in: Grundmann/Zaccaria, Einführung in das italienische Recht, 2007, S. 135. 206 Galgano, in: Digesto delle discipline privatistiche, Sez. Civile XIII, 1995, S. 405 ff. (Lemma „Persona giuridica“). 207 Dies konstatiert Di Sabato, Diritto delle società, 2003, S. 53. 208 Galgano, in: Digesto delle discipline privatistiche, Sez. Civile XIII, 1995, S. 405 ff. (Lemma „Persona giuridica“); Galgano, Diritto civile e commerciale I, 2004, S. 211 (den Fiktionscharakter dieser Zuschreibung betonend).
B. Autonome Auslegung
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sische Präsenz des Rechtssubjekts“ voraussetzen, etwa in Familienbeziehungen. 209 Die Handlungsfähigkeit der juristischen Person ist allgemein anerkannt.210 Juristische Personen sind auch deliktsfähig.211 Der Theorienstreit um die Frage nach der Rechtsnatur der juristischen Person ist auch in Italien bekannt und wurde von italienischen Autoren ebenfalls aufgegriffen, wenngleich heute Einigkeit besteht, dass die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegen muss.212 Eine Strafbarkeit i.e.S. von juristischen Personen ist wegen der italienischen Verfassung problematisch, die in Art. 27 Abs. 1 vorsieht, dass jeder für Straftaten persönlich verantwortlich ist. Auf das gesteigerte Bedürfnis nach einer Verbandssanktionierung hat der Gesetzgeber mit einem gesetzesvertretenden Dekret213 reagiert, das eine Art „dritten Weg“ zwischen straf- und verwaltungsrechtlicher Verantwortlichkeit einschlagen soll.214 Es orientiert sich an Straftatbeständen und gewährleistet die Einhaltung von EMRK-Garantien. 215 Als Sanktionen sind Vermögens- und Untersagungssanktionen sowie Beschlagnahme und Veröffentlichung des Urteils vorgesehen (Art. 9 Abs. 1 des Dekrets). b) Wer hat personalità giuridica? Personalità giuridica kommt den Kapitalgesellschaften (società di capitali, also società per azioni, società in accomandita per azioni und società a responsabilità limitata) sowie den Genossenschaften (società cooperative) zu, nicht aber den Personengesellschaften (società di persone, also società semplice, società in nome collettivo und società in accomandita semplice), denen der Gesetzgeber sie ausdrücklich verweigert hat.216 Personengesellschaften haben 209
Di Sabato, Diritto delle società, 2003, S. 53. Di Sabato, Diritto delle società, 2003, S. 53. 211 Cass. civ. 24.09.1977, Nr. 4069, Foro it., Rep., Responsabilità civile, Nr. 126. Die Zurechnung erfolgt gem. Art. 2049 c.c. 212 Vgl. jew. m.w.N. die Darstellungen von Galgano, in: Digesto delle discipline privatistiche, Sez. Civile XIII, 1995, S. 393 f. (Lemma „Persona giuridica“); La Rosa/Nigro, in: Colombo/Portale, Trattato, 1*, 2004, S. 403 ff., 408 ff. 213 Decreto legislativo 8 giugno 2001, n. 231, Disciplina della responsabilità amministrativa delle persone giuridiche, delle società e delle associazioni anche prive di personalità giuridica, a norma dell’articolo 11 della legge 29 settembre 2000, n. 300. (GU n. 140 del 19.06.2001). 214 Der Strafrechtscharakter der Norm ist damit unklar, vgl. Galgano, Diritto civile e commerciale I, 2004, S. 213; Engelhart, NZWiSt 2015, 201 (203, Fn. 28); Nisco, GA 157 (2010), 525 (526). 215 Näher zum Dekret Galgano, Diritto civile e commerciale I, 2004, S. 212 ff.; Nisco, GA 157 (2010), 525 (525 ff.). 216 Campobasso/Campobasso, Diritto delle società, 2012, S. 41; Di Sabato, Diritto delle società, 2003, S. 49. Vgl. auch die Gesetzesbegründung zum c.c. von 1942, zitiert bei Di Sabato. 210
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
dagegen lediglich Vermögensautonomie (autonomia patrimoniale in Literatur und Rechtsprechung; sie kommt neben den Personengesellschaften auch den Kapitalgesellschaften zu217), was bedeutet, dass der direkte Zugriff für Gläubiger der Gesellschaft einerseits und der unbeschränkt haftenden Gesellschafter andererseits auf das Vermögen des jeweils anderen erschwert ist. Die Gläubiger der Gesellschafter können nicht auf das Gesellschaftsvermögen zugreifen,218 die Gläubiger der Gesellschaft nicht auf das Vermögen der Gesellschafter, denen die Einrede der Vorausklage zusteht. 219 Bei den Personengesellschaften ist die Vermögensautonomie insofern abgeschwächt, als bei der società semplice die Gläubiger einzelner Gesellschafter immerhin die Liquidation des Gesellschaftsanteils und damit den Austritt aus der Gesellschaft erzwingen können, Art. 2270 Abs. 2, 2288 Abs. 2 c.c., bei der società in nome collettivo und der società in accomandita semplice ist dies zumindest unter bestimmten Voraussetzungen möglich, Art. 2305, 2315 c.c.220 Nicht in vollem Umfang geklärt ist dagegen, ob bzw. inwieweit den Personengesellschaften auch Rechtssubjektivität (soggettività giuridica) zukommt, wenngleich dies in jüngerer Zeit immer stärker befürwortet wird.221 Unter soggettività giuridica wird dabei verstanden, dass die Gesellschaft Trägerin der Rechte und Pflichten aus dem Gesellschaftsvermögen ist.222 Auch die Rechtsprechung hat bereits 1971 die Ansicht als falsch abgelehnt, dass „eine Identität zwischen Rechtssubjekt und natürlicher oder juristischer Person“ bestehe, und zumindest zum Schutz Dritter (die etwa auch nach dem Wechsel von Gesellschaftern noch die Gesellschaft verklagen wollen) eine autonomia patrimoniale anerkannt.223 Die Rechtsprechung erkennt nun zumindest in einzelnen Urteilen auch Personengesellschaften die Fähigkeit zu, Eigentümerin der Gegenstände des Gesellschaftsvermögens zu sein;224 die Gesellschaft ist zur Zahlung der Liquidationsquote für den ausgeschiedenen, ausgeschlossenen oder verstorbenen Gesellschafter verpflichtet (und nicht die Gesellschafter);225 für eine
217
Di Sabato, Diritto delle società, 2003, S. 52 f. Vgl. zur autonomia patrimoniale noch oben im Text. 218 Art. 2270, 2307 c.c.; Campobasso/Campobasso, Diritto delle società, 2012, S. 45; Kindler, Italienisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2014, § 4 Rn. 22. 219 Art. 2268, 2304 c.c.; Campobasso/Campobasso, Diritto delle società, 2012, S. 46; Kindler, Italienisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2014, § 4 Rn. 22. 220 Siehe Di Sabato, Diritto delle società, 2003, S. 53; Galgano, Diritto civile e commerciale III, 1, 2004, S. 319. 221 Campobasso/Campobasso, Diritto delle società, 2012, S. 46 f. 222 Kindler, Italienisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2014, § 4 Rn. 21. 223 Cass. civ. 05.03.1971, Nr. 581, Giur. it. 1971, I, 1, 959; Cass. civ. 29.01.1971, Nr. 228, Giur. it. 1971, I, 989; Cass. civ. 22.01.1971, Nr. 118, Giur. it. 1971, I, 1, 999. 224 Cass. civ. 24.07.1989, Nr. 3498, Foro it. 1990, I, 1617. 225 Cass. civ. (S.U.), 26.04.2000, Nr. 291/SU, Rep. Foro it. 2001, „Società“ Nr. 885 = Foro it. 2001, I, 247.
B. Autonome Auslegung
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gewisse Eigenständigkeit spricht auch, dass die Gesellschafter für die Gesellschaft bürgen können (was auch nach italienischem Recht eine „dritte Person“ voraussetzt).226 Im Gesetz findet diese Rechtsprechung etwa in Art. 2266 Abs. 1 c.c. eine Stütze, der auch den Personengesellschaften immerhin zugesteht, Rechte und Pflichten „durch die Gesellschafter“ (per mezzo dei soci) zu erwerben.227 Daraus kann man jedenfalls eine gewisse rechtliche Verselbständigung der Personengesellschaft (im Sinne von soggettività giuridica) ableiten;228 eine implizite Verleihung von personalità giuridica wird darin aber wegen ihrer bewussten Zuweisung durch den Gesetzgeber an ausgewählte Gesellschaftsformen eher nicht gesehen.229 Andererseits werden aber Personengesellschaften insbesondere im Prozessrecht als nicht völlig von den Gesellschaftern getrennt betrachtet, sondern mitunter als Prozesspartei angesehen, wenn alle Gesellschafter verklagt werden;230 ebenso sollen Gesellschafter keinen Drittwiderspruch i.S.d. Art. 404 ff. c.p.c. 231 (italienische Zivilprozessordnung) einlegen können; 232 ein Mietvertrag mit einer aufgelösten Gesellschaft wird ohne Wechsel der Vertragspartei mit dem einzigen Gesellschafter fortgesetzt.233
226
Cass. civ. 08.11.1984, Nr. 5642, Rep. Foro it. 1984, „Concordato preventivo“ Nr. 76. Art. 1936 Abs. 1 c.c. spricht von „obbligazione altrui“, also von einer „fremden“ oder „Drittverpflichtung“. 227 Die Norm gilt unmittelbar für die società semplice, auf sie wird aber auch für die società in nome collettivo (Art. 2293 c.c.) und die società in accomandita semplice (Art. 2315 c.c.) verwiesen. 228 Campobasso/Campobasso, Diritto delle società, 2012, S. 47; Galgano, Diritto civile e commerciale III, 1, 2004, S. 319. Aus Deutschland weitergehend etwa H. Wiedemann, der darin eine vorbildliche Regelung von Teilrechtsfähigkeit einer Gesellschaft, die nicht rechtsfähig ist, aber vor Gerichten auftreten kann, sieht, vgl. H. Wiedemann, in: FS Kellermann 1991, 529 (546); H. Wiedemann, WM-Sonderbeilage Nr. 4/1994, 1 (6). 229 Di Sabato, Diritto delle società, 2003, S. 50 ff. 230 Cass. civ. 05.04.2006, Nr. 7886, Foro it. 2007, I, 527; Cass.civ. 07.03.1990, Nr. 1799, Foro it., Rep., Società, Nr. 393 = Giur. comm. 1992, II, 231 = RIW 1991, 250 f. (Kindler); Cass.civ. 01.08.1990, Nr. 7663, Le società 1991, 185, anders dagegen (wegen der fehlenden „personalità giuridica“ der Personengesellschaft) Cass. civ. 24.07.1989, Nr. 3498, Foro it. 1990, I, 1617; Cass. civ. 23.05.2006, Nr. 12125, Foro it. 2007, I, 527 m. Anm. Gallo (nur bei so zu interpretierendem Willen des Klägers). 231 Regio decreto 28 ottobre 1940, n. 1443, Codice di procedura civile, GU n. 253 del 28.10.1940. 232 Cass. civ. 29.01.1971, Nr. 228, Giur. it. 1971, I, 1, 989. 233 Cass. civ. 06.02.1984, Nr. 907, Rep. Foro it. 1984, „Società“ Nr. 225 = Giur. comm. 1984, II, 240.
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
Insgesamt beklagt die Literatur eine wenig einheitliche Rechtsprechung.234 Insbesondere wird kritisiert, dass personalità giuridica durch die Rechtsprechung als Scheinargument bei Problemen verwendet werde, die sich auch ohne Rückgriff auf diese hätten lösen lassen.235 Nach alledem ist fraglich, was für einen Inhalt die personalità giuridica hat. Abstrakte Formulierungsversuche finden sich vor allem in der Literatur. Diese lässt sich insofern in drei Kategorien einteilen: Vergleichsweise wenige Stimmen wollen den nicht als persona giuridica anerkannten Gesellschaften nach wie vor die Stellung als soggetto di diritto verweigern.236 Ein anderer Teil der Literatur nimmt an, dass die Terminologie des Gesetzgebers überholt sei,237 und will entweder das Konzept der persona giuridica (gerade auch mit Blick auf Spanien oder Frankreich) auf den Prüfstand stellen,238 ihm keine Aussage über die Verfassung einer Gesellschaft beimessen239 (die Eigenschaften einer Gesellschaft würden vom jeweiligen Typ bestimmt, nicht von der Eigenschaft als persona giuridica oder deren Abwesenheit240) oder die personalità giuridica auch den Personengesellschaften zuerkennen.241 Die meisten Stimmen bemühen sich, (materielle) Kriterien für die Unterscheidung aufzustellen; teilweise wird dabei auch die Kategorie der semi-personalità verwendet (auch: personalità di secondo grado, di grado meno evoluto, limitata, in etwa: HalbPersönlichkeit, Persönlichkeit zweiten oder weniger entwickelten Ranges oder
234 Überblicksweise dazu Campobasso/Campobasso, Diritto delle società, 2012, S. 46 f.; kritisch auch Galgano, Diritto civile e commerciale III, 1, 2004, S. 322 f. 235 Galgano, Diritto civile e commerciale III, 1, 2004, S. 327–331; Di Sabato, Diritto delle società, 2003, S. 49 f. 236 Pellizzi, Riv. d. dir. civ. 1981, I, 481 (489 f.); vgl. für weitere Nachweise Campobasso/Campobasso, Diritto delle società, 2012, S. 46 (Fn. 79). 237 Besonders deutlich Galgano, in: Digesto delle discipline privatistiche, Sez. Civile XIII, 1995, S. 397, 401 f. (Lemma „Persona giuridica“). 238 Dies klingt an bei M.S. Richter jr, in: Colombo/Portale, Trattato, 1*, 2004, S. 415 f., der dann aber doch die alte Einteilung verteidigt. 239 Insbesondere Galgano, Diritto civile e commerciale III, 1, 2004, S. 320 f. nach einem Rechtsvergleich mit Deutschland und Frankreich; Galgano/Genghini, in: Galgano, Trattato di diritto commerciale 29, 2006, S. 163: Gehalt der Rechtspersönlichkeit sei lediglich, dass der Gesetzgeber mit der Zuerkennung von personalità giuridica dann für die konkret geregelte Situation eine Analogie zu den natürlichen Personen ziehe. Es handele sich aber um eine „besonders nützliche“ Verdinglichung im juristischen Sprachgebrauch. 240 Galgano, Diritto civile e commerciale III, 1, 2004, S. 326. 241 Ascarelli, Problemi giuridici I, 1959, S. 245 f.; Scarpelli, Contributo alla semantica del linguaggio normativo, 1959, S. 121; mit Sympathie für diese Meinung zumindest de lege ferenda auch Galgano, Diritto civile e commerciale III, 1, 2004, S. 325 f., der auch die Urteile Cass., 12 marzo 1973, n. 427, Dir. fall. 1974, II, 44 und Cass., 19 gennaio 1973, n. 196, Giur. it. 1973, I, 1, 1444 in diesem Sinne liest.
B. Autonome Auslegung
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eingeschränkte Persönlichkeit).242 Traditionell ist häufig die korporative Struktur der persone giuridiche betont worden;243 allerdings wird dies durch neuere Gesetze (etwa die Möglichkeiten, eine Gesellschaft durch einseitigen Akt zu gründen oder die Hauptversammlung z.B. durch Delegation des Stimmrechts zu ersetzen) zunehmend in Frage gestellt.244 Die neueren Abgrenzungsversuche sind bescheidener und sprechen von der Zuweisung typischer Eigenschaften, etwa dass bei persone giuridiche die Verselbständigung der Gruppe die Regel sei, während sich die Situation bei Gesellschaften ohne personalità giuridica „in gewisser Weise umgekehrt darstellt“,245 oder dass persone giuridiche „durch die Einrichtung von Organen und ihren Zuständigkeiten charakterisiert sind“ und auf die institutionelle Übernahme der Methode des Kollegiums gegründet sind, um den Willen der Gruppe durch Mehrheitsentscheidung zu bilden.246 Eine gewisse Beschränkung der Rechtsfähigkeit (capacità giuridica) lässt sich nach Ansicht einiger auch aus dem Gesellschaftsgegenstand (oggetto sociale) ableiten. Zumindest bis 2004 enthielt Art. 2384 c.c. die Formulierung, die „Verwalter mit Vertretungsmacht für die Gesellschaft“ könnten „alle Geschäfte, die zum Gesellschaftszweck gehören, ausführen“.247 Auch damals gab es jedoch schon einen Verkehrsschutz dadurch, dass Beschränkungen im atto costitutivo oder im statuto Dritten nur entgegengehalten werden konnten, wenn
242 App. Venezia, 16.11.1965, Giur. it. 1966, I, 2, 350; Santini, I diritti della personalità nel diritto industriale, 1959, S. 149 f.; Pugliatti, La proprietà nel nuovo diritto, 1954, S. 191 („semisoggettività“); von „personalità ridotta“ (reduzierter Persönlichkeit) spricht auch Scarpelli, Contributo alla semantica del linguaggio normativo, 1959, S. 121; Pellizzi, Riv. d. dir. civ. 1981, I, 481 (488) („personalità minore“, i.E. jedoch ablehnend); gegen eine solche Aufspaltung der soggettività di diritto M.S. Richter jr, in: Colombo/Portale, Trattato, 1*, 2004, S. 418 (Fn. 180). 243 So noch Galgano, Degli amministratori di società personali, 1963, S. 37 ff., 188 ff.; Rivolta, La partecipazione sociale, 1965, S. 60; ähnlich auch Pellizzi, Riv. d. dir. civ. 1981, I, 481 (489 f.) (entscheidend ist die Verselbständigung der Gruppe, „alterità“); vgl. auch M.S. Richter jr, in: Colombo/Portale, Trattato, 1*, 2004, S. 412 (Fn. 162) m.w.N. 244 Dazu M.S. Richter jr, in: Colombo/Portale, Trattato, 1*, 2004, S. 414 f.; ähnlich zur Ein-Personen-GmbH (mangels Vertrag keine società, aber noch persona giuridica) Oppo, Riv. d. dir. civ. 1993, II, 183 (184 und 191). Auch frühere Unterscheidungen wie die (den persone giuridiche vorbehaltenen) Möglichkeiten des Erwerbs durch Erbrecht oder des (unentgeltlichen) Grundstückserwerbs wurden mit der Legge 15 maggio 1997, n. 127, come modicificata dalla legge 22 giugno 2000, n. 192 abgeschafft und obsolet; vgl. zu einem Zwischenstand Galgano, Diritto privato, 1999, S. 639. 245 M.S. Richter jr, in: Colombo/Portale, Trattato, 1*, 2004, S. 418 ff. Art. 2331 Abs. 1 c.c. habe damit lediglich als Orientierungs- oder programmatische Vorgabe Bedeutung. 246 Di Sabato, Diritto delle società, 2003, S. 50. 247 Art. 2384 Abs. 1 c.c. a.F. lautete vollständig und im Original: „Gli amministratori che hanno la rappresentanza della società possono compiere tutti gli atti che rientrano nell’oggetto sociale, salvo le limitazioni che risultano dalla legge o dall’atto costitutivo.“
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
ihnen Schädigungsabsicht gegenüber der Gesellschaft nachweisbar war.248 Die Reform 2004 hat die Vertretungsbefugnis der Verwalter neu und weit formuliert („Die Vertretungsmacht … ist eine allgemeine“249). Teilweise wird dies so gedeutet, dass eine Einschränkung der Rechtsfähigkeit damit völlig abgeschafft wurde.250 Da Abs. 2 des Art. 2384 c.c. diesen Verkehrsschutz gegenüber solchen Dritten einschränkt, die bewusst zum Nachteil der Gesellschaft gehandelt haben,251 lässt sich aber auch nach der Reform noch darüber diskutieren, ob der Gesellschaftszweck nicht immer noch einen Maßstab auch für das rechtliche Können der Verwalter darstellt.252 c) Vorgesellschaft Ob es bei der Aktiengesellschaft eine Vorgesellschaft (società costitutuenda) gibt, ist unklar. Die wohl überwiegende Meinung in der Literatur geht davon aus, dass die società per azioni erst mit Eintragung entsteht, da ihre Existenz untrennbar mit der Rechtspersönlichkeit verbunden sei.253 Andere beteuern die Möglichkeit einer società per azioni ohne die Merkmale einer personalità giuridica;254 beim Auftreten nach außen in gemeinsamem Namen wäre dann auch vor Eintragung eine Vorgesellschaft möglich, entweder in Form einer irregulären Kapitalgesellschaft oder in Form einer Personengesellschaft, also grundsätzlich einer società in nome collettivo, beziehungsweise in den Fällen, in denen die Haftung (mindestens) eines Gesellschafters (zulässigerweise) beschränkt wird, eine società in accomandita semplice.255 Während Bareinlagen für diesen Zeitraum zu hinterlegen sind und damit Eigentum der Bank werden 248
Art. 2384bis c.c. a.F. lautete vollständig und im Original: „L’estraneità all’oggetto sociale degli atti compiuti dagli amministratori in nome dela società non può essere opposta ai terzi in buona fede.“ Art. 2384 Abs. 2 c.c. a.F.: „Le limitazioni al potere di rappresentanza che risultano dall’atto costitutivo o dallo statuto, anche se pubblicate, non sono opponibili ai terzi, salvo che si provi che questi abbiano intenzionalmente agito a danno della società.“ 249 Art. 2384 Abs. 1 c.c. lautet in seiner neuen Fassung: „Il potere di rappresentanza attribuito agli amministratori dallo statuto o dalla deliberazione di nomina è generale.“ 250 Kindler, Italienisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2014, § 4 Rn. 122. 251 „Le limitazioni ai poteri degli amministratori che risultano dallo statuto o da una decisione degli organi competenti non sono opponibili ai terzi, anche se pubblicate, salvo che si provi che questi abbiano intenzionalmente agito a danno della società.“ 252 Di Sabato, Diritto delle società, 2003, S. 53. 253 Cass. civ., 24.09.1956, Nr. 3254, Foro it. 1956, I, 1800; Cass. civ., 18.04.1984, Nr. 2515, Rep. Foro it. 1984, Società Nr. 310; Zaccaria, in: Cian/Trabucchi, Commentario breve al Codice civile, 2016, Art. 2331 Rn. 3; Campobasso/Campobasso, Diritto delle società, 2012, S. 166; Galgano/Genghini, in: Galgano, Trattato di diritto commerciale 29, 2006, S. 162 m.w.N. in Fn. 1. 254 Oppo, Riv. d. dir. civ. 1966, I, 119 (109 ff. m.w.N. in Fn. 3); Angelici, in: Rescigno, Trattato, Bd. 16, 1985, S. 265. 255 App. Firenze, 28.06.1962, Giur. it. 1963, I, 2, 94; La Rosa/Nigro, in: Colombo/Portale, Trattato, 1*, 2004, S. 437.
B. Autonome Auslegung
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(Art. 1766 ff., 1782 c.c.), muss die Eigentumslage an Sacheinlagen im Zeitraum zwischen Erbringung und Eintragung als weitgehend ungeklärt gelten.256 In jedem Fall haften die für die Gesellschaft vor Eintragung Handelnden gem. Art. 2331 Abs. 2 c.c. unbeschränkt und gesamtschuldnerisch (entsprechend der Ersten Richtlinie257).258 Das Verständnis vom „Handelnden“ ist dabei weit und erfasst auch Auftraggeber und andere Personen außerhalb der Gesellschaftsorgane.259 Ein Unterschied zwischen Handeln im Namen der zukünftigen Gesellschaft und Handeln unter Offenlegung des Gründungsvorgangs wird soweit ersichtlich nicht gemacht.260 d) Zwischenergebnis zum italienischen Recht Während in Italien der genaue Gehalt der personalità giuridica in theoretischer Hinsicht wohl nicht abschließend geklärt sein dürfte, taucht die Formulierung in der Praxis häufiger in verschiedenen Zusammenhängen auf. Personalità giuridica umfasst jedenfalls capacità giuridica. 3. England Wichtigste einzelne Rechtsquelle für das Kapitalgesellschaftsrecht von England ist der Companies Act 2006261 (im Folgenden: CA 2006). Trotz umfangreicher Regelungen262 entspricht dieser wohl nicht dem deutschen Verständnis 256
Kersting, Die Vorgesellschaft im europäischen Gesellschaftsrecht, 2000, S. 126. Richtlinie 2009/101/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 48 Absatz 2 des Vertrags im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. L 258 vom 01.10.2009, S. 11–19, ersetzt die frühere Erste Richtlinie 68/151/EWG des Rates vom 9. März 1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. L 65 vom 14.03.1968, S. 8–12 (im Folgenden „Erste Richtlinie“, häufig auch als Publizitätsrichtlinie bezeichnet), jetzt neu kodifiziert in Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts (Text von Bedeutung für den EWR), ABl. L 169 vom 30.06.2017, S. 46– 127. 258 Grundmann/Massari, in: Grundmann/Zaccaria, Einführung in das italienische Recht, 2007, S. 412; mit ausführlicher Begründung La Rosa/Nigro, in: Colombo/Portale, Trattato, 1*, 2004, S. 440. 259 Kersting, Die Vorgesellschaft im europäischen Gesellschaftsrecht, 2000, S. 129 f. 260 Kersting, Die Vorgesellschaft im europäischen Gesellschaftsrecht, 2000, S. 130 f. 261 Companies Act 2006 vom 08.11.2006, Statutory Instrument 2006, Nr. 46, abrufbar unter , zuletzt abgerufen am 21.10.2017. 262 Mit 1300 Paragraphen und 16 Anhängen ist der CA das umfangreichste Gesetzgebungsprojekt im Vereinigten Königreich, P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and 257
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
von Kodifikation,263 was dem englischen Rechtsverständnis vom common law als eigentlicher Rechtsquelle geschuldet ist. 264 Ungewohnt für deutsche Rechtsanwender ist weiter, dass mit der company nur eine einzige Gesellschaftsrechtsform geregelt wird, die lediglich unter europäischem Einfluss in zwei Formen, gem. Sec. 4 CA 2006 die public company und die private company, aufgespalten wurde. 265 Die SE, die in England trotz der Umsetzung 2004266 bisher keine große Rolle zu spielen scheint,267 folgt dabei vorbehaltlich Sonderregelungen den Regeln der public company (Anhang I SE-VO).268 a) „Rechtspersönlichkeit“ in SE-VO und im englischen Recht Der englische CA 2006 benutzt den Terminus „legal personality“ nicht. Das Gesetz sieht stattdessen vor, dass mit der Eintragung (registration) die Gründer zu einem body corporate werden.269 Was body corporate ist, wird im Gesetz jedoch nicht mehr erläutert, meist wird der Terminus gleichbedeutend mit legal entity verwendet.270 Das Gesetz drückt sich an dieser Stelle möglicherweise auch deswegen „in gewundener Form“ aus, um nicht die gewachsene vorfind-
Davies’ Principles, 2012, Rn. 3-3; Vogenauer, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handelsund Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 2.35. 263 Verneinend Ringe/Otte, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 5.5; P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 3-10; bejahend dagegen Vogenauer, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 2.35; wohl auch Schall, in: Schall, Companies Act, 2014, S. LXIX (Einleitung). 264 Der Terminus „common law“ ist mehrdeutig. Hier wird er als Gegenbegriff zu „statutory law“ gebraucht, um das Fallrecht zu bezeichnen. Gebräuchlich ist aber auch die Verwendung als Gegenbegriff zu „civil law“ (als dem kontinentaleuropäischen Recht – „common law“ meint dann das gesamte englische Recht) und zu „equity“ (Abgrenzung innerhalb des englischen Rechts), s.a. Just (Hrsg.), Englisches Gesellschaftsrecht, 2008, S. 3. 265 Ringe/Otte, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 5.29. 266 The European Public Limited-Liability Company Regulations 2004 vom 13.09.2004, Statutory Instrument 2004, Nr. 2326, abrufbar unter , zuletzt abgerufen am 21.10.2017. 267 P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 1-36 sprechen von „discouraging figures“. 268 Die Erscheinungsform als „public company limited by guarantee having a share capital“ ist dabei weniger wichtig als die „public company limited by shares“ und betrifft nur noch Altfälle; sie kann daher für die Zwecke dieser Untersuchung vernachlässigt werden, vgl. näher Ringe/Otte, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 5.25. 269 Sec. 16 (2) CA 2006. 270 French/Mayson/Ryan, Company Law, 2015, Rn. 5.1: „It is by this provision that a separate legal entity – the body corporate – is created“.
B. Autonome Auslegung
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liche Struktur des common law aus Rechtspersönlichkeit (separate legal personality) und Durchgriffshaftung (piercing bzw. lifting the corporate veil271) zu zerstören.272 Der Ausdruck „(separate) legal personality“ – teilweise wird „corporate personality“ gleichbedeutend verwendet273 – ist im common law seit dem 19. Jahrhundert bekannt. Das Konzept der separate legal personality geht auf das Urteil Salomon v Salomon & Co.274 zurück.275 In dem diesem Urteil zugrundeliegenden Fall war die Haftungsbeschränkung angezweifelt worden, weil ein Unternehmer sein Unternehmen in eine Gesellschaft überführt hatte, die nur von ihm und sechs Familienmitgliedern gegründet worden war. (Sieben war nach damaligen Recht die Mindestmitgliederzahl einer Gesellschaft.) Das House of Lords erkannte aber darin keinen Missbrauch der Gesellschaftsform. Die Haftungsbeschränkung war damit als Folge der legal personality anerkannt. Die legal personality wird mit Eintragung der Gesellschaft (registration) erworben: Mit Abschluss der registration wird der Gesellschaft legal personality zuerkannt.276 Folge der legal personality ist auch, dass die Gesellschaft als eigene legal entity anerkannt ist, also Rechte und Pflichten haben kann.277 In England ist der Theorienstreit um das Wesen der juristischen Person weniger stark rezipiert worden als auf dem Kontinent. Wenngleich entsprechende Stellungnahmen in der Literatur mit Vorsicht zu genießen sind, weil nicht wenige Autoren, insbesondere englische, damit kokettieren, das englische Recht sei praxisorientierter und habe für philosophisch-theoretische Fragen wenig Sinn,278 scheint der Theorienstreit zwar wahrgenommen worden zu sein. Insbesondere die Frage nach dem „Wesen“ juristischer Personen wird aber als 271 Meist werden die Termini gleichbedeutend verwendet, vgl. Schall, in: Schall, Companies Act, 2014, Sec. 1 Rn. 30 (Fn. 35). Teilweise wird „lifting“ als britisches, „piercing“ als amerikanisches Englisch bezeichnet, Ringe/Otte, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 5.95. Anders in Atlas Martime Co SA v Avalon Maritime Ltd (The Coral Rose) (No 1) [1991] 4 All ER 769 per Staughton LJ („piercing“ bezeichnet den Haftungsdurchgriff, „lifting“ sonstige Rückgriffe auf die Hintermänner), dazu auch Schall, in: Schall, Companies Act, 2014, Sec. 1 Rn. 30 (Fn. 35); zur uneinheitlichen Terminologie auch Dähnert, NZG 2015, 258 (261). 272 Schall, in: Schall, Companies Act, 2014, Sec. 1 Rn. 30, Sec. 16 Rn. 2. 273 P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 2-1; French/Mayson/Ryan, Company Law, 2015, Rn. 5.2. 274 Aron Salomon v Salomon & Co. [1897] AC 22 (HL). 275 In diesem Sinn wohl auch P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, S. Rn. 2-1: „it was not until Salomon v Salomon at the end of the ninteenth century that its implications [of the corporate personality] were fully grasped even by the courts“. 276 Clark, in: Boyle & Birds’ Company Law, 2014, Kapitel 3.2 (S. 53). 277 P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 2-1. 278 Maitland, Collected Papers III, 1911, S. 315 f. („Theorising, of course, there has been. I need not say so, nor that until lately it was almost exclusively German.“); Paton/Derham,
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
praktisch kaum relevant abgelehnt. 279 Die meisten englischen Autoren beschränken sich auf eine Wiedergabe der vom Kontinent stammenden Theorien ohne eigene Stellungnahme.280 Auch für die Deutung des englischen Rechts wurden verschiedene Theorien bei verschiedenen Einzelfragen herangezogen oder als Erklärungsmodelle verwendet, ohne dass sich jedoch eine einheitliche Tendenz herausgebildet hätte. 281 Beispielsweise wurde die ultra vires-Lehre als Ausfluss der Fiktionstheorie gedeutet,282 wogegen sich wenig einwenden lässt, was aber für die Praxis wenig Relevanz hat. Für die konkreten Entscheidungen sind meist praktische Überlegungen entscheidender. Etwa halten es die Gerichte in Fällen, in denen Angestellte einer company außerhalb deren Gesellschaftszweck (also ultra vires) handeln und dabei Dritte schädigen, für richtig, diesen Dritten einen Schadensersatzanspruch gegen die Gesellschaft zuzugestehen, auch wenn das der ultra vires-Lehre (oder der Fiktionstheorie) widersprechen sollte.283 Pragmatische Erwägungen sind auch entscheidend für das, was eine legal personality ausmacht. „It follows from the fact that a corporation is a separate person that its members are not as such liable for its debts.“284 Dieser Satz drückt für das englische Recht den Kern der legal personality aus: Nicht die
The text-book of jurisprudence, 1964, S. 366 ff.; Duff, Personality in Roman private law, 1938, S. 207, ähnlich zur Bedeutungslosigkeit des Theorienstreits S. 215: „Like most English cases […] Salomon v. Salomon and Co. can be reconciled with any theory and is authority for none“; M. Wolff, LQR 54 (1938), 494 (494 (s.o.), versöhnlicher 521). 279 Paton/Derham, The text-book of jurisprudence, 1964, S. 367, 366: „Most of the theories … suffer from the common defect that they have attempted to answer the question“ (of „what is the nature of the entity“); dezidiert gegen die Aussage, das common law habe die Fiktionstheorie übernommen, dagegen Pollock, LQR 27 (1911), 219. 280 Z.B. Maitland, Collected Papers III, 1911, S. 321 ff. mit einer detaillierten Wiedergabe insbesondere von Gierkes Werken; Duff, Personality in Roman private law, 1938, S. 206 ff. (am Ende resümierend, Engländer wie Römer hätten eine funktionierende Rechtsordnung ohne viel abstrakte Rechtstheorie errichtet). 281 Paton/Derham, The text-book of jurisprudence, 1964, S. 376 f. m.w.N. 282 Vgl. die Äußerungen von Bramwell LJ in Abrath v North Eastern Railway Co. [1886] 2 AC 247, 251 per Bramwell LJ; Hallis, Corporate Personality, Nachdruck der 1. Aufl. London 1930 (1978), S. xlvi (Einleitung); Paton/Derham, The text-book of jurisprudence, 1964, S. 367 m.w.N. 283 Campbell v Paddington Corp [1911] 1 KB 869; Limpus v London General Omnibus Co. [1862] 1 Hurl. & C. 526; Paton/Derham, The text-book of jurisprudence, 1964, S. 380 f. m.w.N.; Hallis, Corporate Personality, Nachdruck der 1. Aufl. London 1930 (1978), S. xliv (Einleitung), vgl. auch die undoktrinären Überlegungen auf S. xlvi: „The crux of the problem is not, as his Lordship thought, the difficulty of attributing mens rea to an artificial entity, but the vital need of protecting society from the noxious consequences of the real activities which go on under cover of that artificial entity“. 284 Rayner (Mincing Lane) Ltd v Department of Trade [1989] Ch 72, 176 per Kerr LJ, der seinerseits die 4. Aufl. von Gowers Lehrbuch zitiert (siehe nächste Fn.).
B. Autonome Auslegung
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Rechtsfähigkeit, sondern die Haftungsbeschränkung ist maßgebliche Bedeutung. Im englischen Recht wird dies als denknotwendige Folge aus der legal personality angesehen,285 wobei man sich durchaus bewusst ist, dass dies international nicht zwingend ist, doch ein Konzept wie die schottische partnership gibt es im englischen Recht nicht, eine legal entity bedingt hier immer auch eine limited liability.286 Diese wichtigste Auswirkung der legal personality, die Trennung der Vermögensmassen,287 gilt neben den damit angesprochenen Verbindlichkeiten auch für das Eigentum: Die Gesellschaft ist selbst unbeschränkte Eigentümerin ihres Eigentums („legal and beneficial owner of that property“).288 Die Existenz der unlimited company ist kein Argument dagegen, dass legal personality in erster Linie die Haftungsbeschränkung meint:289 Unter einer solchen versteht der CA 2006 eine company, die die Anforderungen an eine Beschränkung der Haftung nicht erfüllt (Sec. 3 (4) CA). Rechtsfolge ist jedoch keine Haftung im Außenverhältnis, sondern eine Innenhaftung im Fall der Insolvenz, die eher der Nachschusspflicht in § 26 GmbHG vergleichbar ist.290 Die legal personality ist wesentliches Merkmal der company, kommt aber auch der moderneren Mischform der Limited Liability Partnership zu,291 die im Limited Liability Partnerships Act 2000292 geregelt ist. Die Partner einer solchen Limited Liability Partnership genießen ebenfalls limited liability.293 Die legal personality ist ihrerseits maßgeblich durch die Trennung der Vermögensmassen und der Verbindlichkeiten bestimmt; daher wird sie auch nicht al285 P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 2-4: „accurate statement of English law“. 286 Rayner (Mincing Lane) Ltd v Department of Trade [1989] Ch 72, 176 per Kerr LJ („the English common law has not developed any concept similar to a Scottish partnership“). 287 Macaura v Northern Insurance [1925] AC 619 (HL): Versicherungspolice des Alleingesellschafters schützt nicht das Vermögen der Gesellschaft; Short v Treasury Commissioners [1948] 1 KB 116, 122 (CA) per Evershed LJ (affd [1948] AC 534 (HL): „Shareholders are not, in the eye of the law, part owners of the undertaking“. Clark, in: Boyle & Birds’ Company Law, 2014, Kapitel 3.2.2 (S. 58); Schall, in: Schall, Companies Act, 2014, Sec. 1 Rn. 31. 288 JJ Harrison (Properties) Ltd v Harrison [2001] EWCA Civ 1467, Rn. 25; Short v Treaury Commissioners [1948] 1 KB 116, 122 (CA) per Evershed LJ. 289 Zum Folgenden Schall, in: Schall, Companies Act, 2014, Sec. 1 Rn. 32. 290 Vgl. Sec. 74 Insolvency Act 1986 vom 25.07.1986, Statutory Instrument 1986, Nr. 45, abrufbar unter , zuletzt abgerufen am 21.10.2017; Schall, in: Schall, Companies Act, 2014, Sec. 1 Rn. 32. 291 Just, Limited, 2012, Rn. 7; P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 1-4. 292 Limited Liability Partnerships Act 2000 vom 08.11.2000, Statutory Instrument 2000, Nr. 12, abrufbar unter , zuletzt abgerufen am 21.10.2017. 293 P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 1-4.
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
len Personengesellschaften zuerkannt, dies gilt etwa für die Personengesellschaften des romanischen Rechtskreises, die nach dortigem Recht Rechtspersönlichkeit haben. In England wird ihnen keine legal personality zuerkannt, sie bilden damit keine overseas company294 (im Sinn von Sec. 1 (3) CA). Auch die Grenzen der Haftungsbeschränkung gehören zum Konzept der legal personality; als Auswirkung des Fallrechts ist die legal personality sogar gerade durch diese streitigen Fälle geprägt.295 Einerseits wird in einer Reihe von Fällen der „Schleier der Gesellschaft durchstoßen“: Unter piercing the corporate veil versteht man Fälle einer Durchgriffshaftung, die das englische Fallrecht entwickelt hat. Die Diskussion um die Grenzen ist so alt wie das Konzept der legal personality selbst, schon im Fall Salomon v Salomon & Co. klang an, dass jedenfalls in Missbrauchsfällen (dafür war im konkreten Fall nichts erkennbar) ein Durchgriff möglich sei.296 In der Folge haben sich einige Fallgruppen entwickelt,297 von denen der Durchgriff wegen betrügerischen Handelns – fraud – die wichtigste Fallgruppe darstellt.298 Gegenüber einer Durchgriffshaftung hat die englische Rechtsprechung in jüngeren Fällen allerdings wieder eine restriktive Tendenz vertreten und das Prinzip des Haftungsschotts aus Salomon v Salomon & Co. gestärkt.299 Weitere Auswirkungen der legal personality sind, dass die Gesellschaft potenziell ewig bestehen kann, sofern sie nicht aufgelöst wird (winding up).300 Sie kann unter eigenem Namen klagen und verklagt werden, und die Gesellschafter können auch keinen Anspruch anstelle der Gesellschaft einklagen.301 294 Schall, in: Schall, Companies Act, 2014, Sec. 1 Rn. 33; für ein weites „company“Verständnis bei Sec. 1044 CA 2006 dagegen Ringe, in: Schall, Companies Act, 2014, Sec. 1044 Rn. 3. 295 Birds u.a. (Hrsg.), Annotated Companies Legislation, 2013, Rn. 2.16.02: „Understandably, the full consequences of a company’s separate legal personality have been worked out mostly through those cases which have sought to challenge the separateness of the company from its members or directors, by seeking to ‚pierce the veil of incorporation‘.“ 296 Aron Salomon v Salomon & Co. [1897] AC 22 (HL), 35 (Lord Watson), 52 f. (Lord MacNaghten). 297 Vgl. Adams v Cape Industries Plc [1990] Ch 433 (CA). 298 Schall, in: Schall, Companies Act, 2014, Sec. 1 Rn. 40 ff. 299 VTB Capital plc v Nutritek International Corp and others [2013] 2 AC 337, Rn. 131 ff.; Prest v Petrodel Resources Ltd & Ors [2013] UKSC 34; Linsen International Ltd v Humpuss Transportasi Kimia [2011] EWCA Civ 1042. Schall, in: Schall, Companies Act, 2014, Sec. 1 Rn. 42 konstatiert daher, diese Durchgriffshaftung sei „praktisch abgeschafft“; ähnlich Dähnert, NZG 2015, 258 (263), der allerdings auf die Möglichkeit des „umgekehrten Durchgriffs“ (auf die Gesellschaft, wegen Gesellschafterschulden) hinweist. 300 Re Noel Tedman Holdings Pty Ltd [1967] QdR 561 (ein australischer Fall, in dem die einzigen beiden Mitglieder einer Gesellschaft getötet wurden, die Gesellschaft aber fortbestand); P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 2-11. 301 Foss v Harbottle [1843] 2 Hare 461; Clark, in: Boyle & Birds’ Company Law, 2014, Kapitel 3.2 (S. 54).
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Eine Gesellschaft kann im englischen Recht auch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, und zwar auch dann, wenn für die Straftat eine besondere geistige Verfassung nötig ist (proof of mens rea). Hierfür wurde die sog. alter ego doctrine entwickelt, nach der die geistige Verfassung der im Einzelfall die Gesellschaft tatsächlich beherrschenden Personen (meist ein oder mehrere directors oder andere leitende Angestellte) der Gesellschaft zugeschrieben werden kann (directing mind and will).302 Während strafrechtliche Verurteilungen wegen unehrlichen Verhaltens damit möglich waren,303 wurde für Tötung durch eine Gesellschaft wegen der nur unbefriedigenden Lösungen durch das common law 2007 ein eigenes Gesetz geschaffen. 304 Schließlich wurde das alter-ego-Prinzip auch auf die zivilrechtliche Haftung übertragen, erfasst dort aber nicht alle Haftungsfälle, die grundsätzlich über vicarious liability (englisches Deliktsrecht) oder nach der „rule in Turquand’s Case“ 305 (englisches Vertragsrecht) gelöst werden, sondern lediglich diejenigen, bei denen ein besonderer Geisteszustand des Schädigers nachgewiesen werden muss.306 b) Ultra vires-Lehre Aus deutscher Sicht wäre in diesem Abschnitt auch auf die sogenannte ultra vires-Lehre einzugehen. Darunter wird die Beschränkung der Rechtsfähigkeit der Gesellschaft durch den Unternehmensgegenstand verstanden, der im memorandum genannt wurde. Allerdings ist unklar, ob nach englischem Rechtsverständnis die ultra viresLehre überhaupt als Frage der „Rechtspersönlichkeit“ im englischen Sinn, also der legal personality, zu diskutieren ist. Sie berührt die Trennung der Vermögensmassen oder die Haftungsbeschränkung nicht. Auch in den englischen Lehrbüchern zum company law wird die ultra vires-Lehre nicht in Verbindung
302 Pearks, Gunston & Tee Ltd v Ward [1902] 2 KB 1; Chuter v Freeth & Pocock Ltd [1911] 2 KB 832, Mousell Bros Ltd v London & North Western Railway Co [1917] 2 KB 836; zum Ganzen Clark, in: Boyle & Birds’ Company Law, 2014, Kapitel 3.4 (S. 80 ff.). 303 DPP v Kent & Sussex Contractors Ltd [1944] KB 146; R v ICR Haulage [1944] KB 551. 304 Corporate Manslaughter and Corporate Homicide Act 2007 vom 26.07.2007, Statutory Instrument 2007, Nr. 19, abrufbar unter , zuletzt abgerufen am 21.10.2017, dazu auch Clark, in: Boyle & Birds’ Company Law, 2014, Kapitel 3.4.1 (S. 82). 305 Royal British Bank v Turquand [1856] 5 E & B 248; jetzt auch Sec. 40 CA 2006. 306 Lennard’s Carrying Company v Asiatic Petroleum Ltd [1915] AC 705 (HL), wo die Frage streitig war, ob eine Gesellschaft als Schiffseigentümer „without his actual default or privity“ im Sinne der Sec. 502 Merchant Shipping Act 1894 gehandelt hatte; dazu auch Clark, in: Boyle & Birds’ Company Law, 2014, Kapitel 3.4.2 (S. 83).
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
mit Fragen der legal personality dargestellt.307 Die Frage, ob die ultra viresLehre überhaupt darzustellen ist, stellt ein Vorverständnis-Problem dar: Zur Ermittlung des europäischen Rechts ist auch und gerade das nationale Recht zu untersuchen – da aber das europäische Konzept (noch) unbestimmt ist, stellt sich die Frage, wie man überhaupt im nationalen Recht aussondern soll, was für eine Umschau aufzunehmen ist. Der terminologische Ansatz dieser Untersuchung würde zwar zunächst gegen eine Berücksichtigung von Konzepten sprechen, die nicht von legal personality erfasst sind. Doch hat europäisches Recht auf die Lehre einen wesentlichen Einfluss gehabt hat, unter anderem auf Artikel 8 und 9 Erste Richtlinie, die in der englischen Sprachfassung ebenfalls den Terminus „legal personality“ aufweisen. Daher soll hier doch kurz auf das Konzept eingegangen werden. Die Lehre stützte sich im Wesentlichen auf Fallrecht. Kerngedanke war ursprünglich das englische Konzessionssystem: Da eine company nur für bestimmte Zwecke zulässig war, so die Vorstellung, hatte sie auch nur die Befugnisse, die für die Erreichung dieser Zwecke nötig waren.308 Geschäfte, die die Gesellschaft jenseits dieses im memorandum darzustellenden Gesellschaftszwecks abschloss, waren unwirksam.309 Nach dem Wegfall des Konzessionssystems änderte sich die Funktion der Lehre und diente dem Schutz der Gläubiger und Gesellschafter, deren Investitionen nicht unterlaufen werden sollten.310 Ihr Schutz wurde damit über den Schutz des Rechtsverkehrs gestellt – Vertragspartnern der Gesellschaft wurde zugemutet, sich nach dem Gesellschaftszweck zu erkundigen.311 Viele Gesellschaften formulierten ihre Zwecke daraufhin bewusst weit, was zunächst eine umfangreiche Rechtsprechung zu deren Auslegung nach sich zog; 1985 wurde dann eine Generalklausel für gewerbliche Zwecke im Gesetz
307 Vgl. statt vieler Boyle & Birds’ Company Law, 2014, S. 53 ff. einerseits, S. 151 ff. andererseits; French/Mayson/Ryan, Company Law, 2015, Kapitel 3.8 einerseits (ultra viresLehre bei den articles of association), Kapitel 5 andererseits („Corporate personality“); vgl. aus deutscher Sicht aber Schall, in: Schall, Companies Act, 2014, Sec. 31 Rn. 3, der fragt, ob die ultra vires-Lehre mit der legal personality vereinbar ist; auch Lehmann, AcP 207 (2007), 225 (236). 308 Ashbury Railway Carriage and Iron Co Ltd v Riche [1875] LR 7 HL 653; Rolled Steel Products (Holdings) Ltd v British Steel Corporation [1986] Ch 246 (CA); Merkt, US-amerikanisches Gesellschaftsrecht, 2013, Rn. 345; Lehmann, AcP 207 (2007), 225 (236). 309 Ringe/Otte, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 5.91. 310 Lehmann, AcP 207 (2007), 225 (236). 311 Ringe/Otte, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 5.91.
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aufgenommen.312 Schließlich erfolgte die Abkehr von der Lehre im Companies Act 1989.313 Dies geschah nicht zuletzt auch unter europäischem Einfluss, da die ultra vires-Lehre gegen die Vorgaben zum Verkehrsschutz aus der Ersten Richtlinie verstieß.314 Im CA 2006 wurde die Lehre weiter zurückgedrängt. Der Unternehmenszweck ist nun grundsätzlich unbestimmt315 und auch etwaige Beschränkungen in der Satzung sind von den für die company handelnden directors nur noch im Innenverhältnis zu beachten.316 Teilweise wird sogar von einem „endgültigen Bruch“ mit der ultra vires-Lehre gesprochen.317 Im geltenden Recht hat die ultra vires-Lehre damit wenig Bedeutung. Verbleibende Wirkungen beschränken sich entweder auf Altfälle318 oder auf das Innenverhältnis der Gesellschaften319 – und damit auf das, was sich dem Konzept der legal personality in Art. 8 Erste Richtlinie entzieht. Auch für diese Untersuchung sind die Wirkungen daher weniger relevant. c) Vorgesellschaft Eine Vorgesellschaft nach etwa deutschem Verständnis gibt es in England praktisch nicht, da die Eigenschaft als body corporate bereits mit der registration verliehen wird (Sec. 16 (2), (3) CA 2006).320 Für diese sind lediglich formale Kriterien wie die Beibringung von Dokumenten erforderlich (Sec. 9–13, 312 Sec. 3A Companies Act 1985 vom 11.03.1985, Statutory Instrument 1985, Nr. 6, abrufbar unter , zuletzt abgerufen am 21.10.2017. 313 Companies Act 1989 vom 16.11.1989, Statutory Instrument 1989, Nr. 40, abrufbar unter , zuletzt abgerufen am 21.10.2017; zur Abkehr von der ultra vires-Lehre Ringe/Otte, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 5.92; Schall, in: Schall, Companies Act, 2014, Sec. 31 Rn. 3. In Sec. 39, 40 Companies Act 1989 wurde festgelegt, dass der Gesellschaftszweck die directors nur noch intern band. 314 Art. 10 Erste Richtlinie; auch Schall, in: Schall, Companies Act, 2014, Sec. 31 Rn. 3. 315 Sec. 31 (1) CA 2006 (zudem wurde vorgesehen, dass die company’s objects nunmehr in den articles of association statt im memorandum abzudrucken sind). 316 Sec. 39 (1), 40 CA 2006. 317 Schall, in: Schall, Companies Act, 2014, Sec. 31 Rn. 2, einschränkend dann Rn. 5; Clark, in: Boyle & Birds’ Company Law, 2014, Kapitel 6.1 (S. 149); zurückhaltender auch Birds u.a. (Hrsg.), Annotated Companies Legislation, 2013, Rn. 3.31.02 („reports of the doctrine’s death would still be a little premature“). 318 Die objects clauses in früheren memorandums werden wie articles of association behandelt. Die objects clause hat dann nur noch Begrenzungs-, keine Ermächtigungsfunktion mehr, vgl. Schall, in: Schall, Companies Act, 2014, Sec. 31 Rn. 9; Clark, in: Boyle & Birds’ Company Law, 2014, Kapitel 6.2 (S. 151). 319 Birds u.a. (Hrsg.), Annotated Companies Legislation, 2013, Rn. 3.31.04. 320 Zur vergleichbaren Lage nach dem CA 1985 vgl. Kersting, Die Vorgesellschaft im europäischen Gesellschaftsrecht, 2000, S. 141 ff.
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
14 CA 2006), Kapital muss noch keines aufgebracht werden. Entsprechend kann der Vorgang bereits an einem Tag erledigt werden. Dem EU-rechtlichen Erfordernis der Kapitalaufbringung von 25 % wird durch die Sec. 761 ff. CA 2006 Rechnung getragen, die für die Aufnahme der Geschäftstätigkeit (doing business) die Erteilung eines sog. trading certificate vorsehen (vgl. Art. 9 Abs. 1 2. Alt. Zweite Richtlinie:321 „im Zeitpunkt der Gründung der Gesellschaft oder der Erteilung der Genehmigung zur Aufnahme ihrer Geschäftstätigkeit“). Für die Aufnahme von Geschäften nach Entstehung der Gesellschaft, aber vor Erteilung des trading certificate ist in Sec. 767 (3) CA 2006 eine gesamtschuldnerische Haftung der directors vorgesehen (in Umsetzung von Art. 4 Zweite Richtlinie). d) Zwischenergebnis zum englischen Recht Im englischen Recht ist die Haftungsbeschränkung der Ausgangspunkt der legal personality. Während aus praktischen Gründen hier die Vorgesellschaft nie eine große Rolle gespielt hat, wurde die deliktsrechtliche und strafrechtliche Verantwortung der legal personality hier durch common law und Gesetze bejaht und fortentwickelt. 4. Frankreich Die französischen Regelungen zum Gesellschaftsrechts sind im Code civil (CC) und im Code de commerce (CCom)322 zusammengefasst. Ein allgemeiner Teil des Gesellschaftsrechts findet sich in den Art. 1832 bis 1844-17 CC, der für alle Gesellschaftsformen gilt. Die einfachste Form der société civile (etwa: Gesellschaft bürgerlichen Rechts) ist im CC geregelt (Art. 1845 ff. CC), die Handelsgesellschaften im CCom, unterteilt in Personenhandelsgesellschaften (sociétés en nom collectif und sociétés en commandite simple), sociétés à responsabilité générale, und sociétés par actions.323
321
Richtlinie 2012/30/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 54 Absatz 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (Neufassung), ABl. L 315 vom 14.11.2012, S. 74, jetzt neu kodifiziert in Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts (Text von Bedeutung für den EWR), ABl. L 169 vom 30.06.2017, S. 46–127. 322 Französische Kodifikationen, Gesetze und Rechtsprechung sind unter abrufbar, zuletzt abgerufen am 21.10.2017. 323 Einen Überblick über die große Vielfalt der verschiedenen Rechtsformen geben Sonnenberger/Dammann, Französisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2008, Rn. III 1 ff.
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Es gibt mehrere Formen von sociétés par actions, Grundform ist die société anonyme (SA, Art. L. 225-1 – L. 225-270 CCom), deutlich weniger umfangreich sind die darauf aufbauenden sociétés en commandite par actions (SCA) und die sociétés par actions simplifiées (SAS) geregelt. Für beide wird grundsätzlich auf die regulatorische Grundform der SA verwiesen (Art. L. 226-1 Abs. 2 CCom für die SCA, Art. 227-1 Abs. 2 CCom für die SAS); in der Rechtswirklichkeit ist die SAS dabei zahlenmäßig sogar bedeutender als die SA.324 Die SE ist als weitere Form der Aktiengesellschaft in einem eigenen Kapitel geregelt (Art. L. 229-1 – Art. L. 229-15 CCom, zudem Art. R. 229-1 – Art. R. 229-26 CCom). Auch für sie wird auf die Regeln der SA verwiesen (Art. 229-1 Abs. 2 CCom). Zudem wurde in die Strafvorschriften des zweiten Buchs des CCom ein Kapitel für die SE eingefügt (Titre IV, Chapitre IVbis, Art. L. 244-5 CCom) und einige Vorschriften bezüglich der SA wurden für die SE angepasst.325 Die im Anhang I der SE-VO genannte Rechtsform des französischen Rechts ist nur die SA. a) Terminus für „Rechtspersönlichkeit“ und Verwendung im nationalen Recht „Rechtspersönlichkeit“ im Sinn von Art. 1 Abs. 3, 16 Abs. 1 SE-VO wird in der französischen Sprachfassung mit „personnalité juridique“ wiedergegeben. Das Gesetz verwendet „personnalité juridique“ im CC gar nicht, im CCom außer an den Stellen, die sich auf die SE (Art. L. 229-1 CCom) und die EWIV (Art. L. 252-1 CCom) beziehen, nur (in den Anhängen zum CCom sowie) in Art. L. 225-97, der die Sitzverlegung ins Ausland behandelt. Dennoch wäre eine Abhandlung an dieser Stelle unvollständig, wenn sie nicht auch auf das Konzept der personnalité morale einginge. Beide sind so eng miteinander verknüpft, dass sich auch französischen Juristen offenbar der Gebrauch von „personnalité morale“ geradezu aufdrängt. So wird auch in Abhandlungen zur SE (in Frankreich) von „personnalité morale“ gesprochen, wenn die Rede von Art. 1, 16 SE-VO ist (obwohl dort im Französischen jeweils „personnalité juridique“ steht); 326 teilweise geschieht dies sogar, wenn von Art. L. 225-97
324
Sonnenberger/Dammann, Französisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2008, Rn. III
11. 325
Cathiard, Dr. sociétés 2005, 12, 7 (7); Fages/Menjucq, JCP-E 2005, 39, 1571 (1572). Colombani/Favero, Societas Europaea, 2002, S. 66 (Rn. 235); Menjucq, Rev. sociétés 2002, 225 (238); Cathiard, Dr. sociétés 2006, 1, 5 (6) (Rn. 15); Cathiard, JCP-E 2012, 13, Artikel 212, 9 (9); Cathiard, Bull. Joly Soc. 2007, 539 (539); Lefebvre/Charvériat u.a., Sociétés commerciales, 48. Aufl., 2016, Rn. 98512; anders dagegen Lenoir (Hrsg.), La Societas Europaea ou SE, 2007, S. 19, 37, die bei der SE stets von „personnalité juridique“ spricht; ebenso Cozian/Viandier/Deboissy, Droit des sociétés, 2017, Rn. 1822; Mustaki/Engammare, Droit européen des sociétés, 2009, S. 379. 326
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
CCom die Rede ist.327 Hintergrund ist, dass neben der terminologischen Ähnlichkeit auch eine zumindest starke Ähnlichkeit bzw. weitgehende Überschneidung auf Ebene des Konzeptes vorliegt. Der traditionelle Gebrauch des Ausdrucks „personnalité juridique“ findet sich insbesondere in der älteren Literatur sowie in der, die sich mit dem allgemeinen Teil des Zivilrechts in Frankreich befasst. Personnalité (bzw. personne) drückt dort einerseits die Fähigkeit aus, Rechtssubjekt, also Träger von Rechten und Pflichten zu sein,328 und stellt zugleich klar, dass diese Eigenschaft nicht-menschlichen Lebewesen nicht zukommt (sondern nur Personen).329 Diese Eigenschaft wird auch als „capacité (juridique)“ bezeichnet; teilweise wird hier nochmals zwischen der „capacité de jouissance“ (Fähigkeit, Träger von Rechten zu sein) und der „capacité d’exercice“ (Fähigkeit, diese Rechte in die Tat umzusetzen, aptitude à mettre en oeuvre ces droits subjectifs) unterschieden.330 Capacité juridique stellt zumindest den Hauptbestandteil der personnalité juridique dar 331 und wird teilweise auch gleichbedeutend verwendet,332 kann aber auch eingeschränkt vorhanden sein (Art. 1124, 488 CC).333 Personnalité juridique kommt Menschen (spätestens) ab der Geburt zu.334
327
Menjucq, Rev. sociétés 2002, 225 (243). Dondero, Droit des sociétés, 2015, Rn. 89: „la qualité de sujet de droit, l’aptitude à être titulaire de droits et d’obligations“; Marty/Raynaud, Les personnes, 1976, S. 1; Teyssié, Droit civil, Les personnes, 2014, Rn. 11; Topor, in: Répertoire de droit civil, 2014, État et capacité des personnes, Rn. 296. 329 Ferid/Sonnenberger, Französisches Zivilrecht Bd. 1/1, 1994, Rn. 1 D 5. 330 Saleilles, De la personnalité juridique, 1922, S. 49; Topor, in: Répertoire de droit civil, 2014, État et capacité des personnes, Rn. 296; ähnlich Peifer, Kapitalgesellschaften in Frankreich, 2009, Rn. 195, der zunächst meint, „capacité“ umfasse Rechts- und Geschäftsfähigkeit nach deutschem Verständnis, dann aber den Terminus im Sinn von „Geschäftsfähigkeit“ gebrauchen will. 331 Marty/Raynaud, Les personnes, 1976, S. 1 (Rn. 2); Dondero, Droit des sociétés, 2015, Rn. 92. 332 Ferid/Sonnenberger, Französisches Zivilrecht Bd. 1/1, 1994, Rn. 1 D 4; explizit auch („se confond avec …“) Topor, in: Répertoire de droit civil, 2014, État et capacité des personnes, Rn. 296. 333 Topor, in: Répertoire de droit civil, 2014, État et capacité des personnes, Rn. 307 ff.; Peifer, Kapitalgesellschaften in Frankreich, 2009, Rn. 195 ff.; zum Verhältnis von personnalité und capacité auch Marty/Raynaud, Les personnes, 1976, S. 1 f.; vgl. auch Cozian/Viandier/Deboissy, Droit des sociétés, 2017, Rn. 164 f., wo die spezielle Fähigkeit von Menschen und personnes morales diskutiert wird, Gesellschafter einer Gesellschaft zu werden. 334 Ausnahmen bestehen insbesondere für das Erbrecht des nasciturus, Marty/Raynaud, Les personnes, 1976, S. 14 f.; Teyssié, Droit civil, Les personnes, 2014, Rn. 16 ff. 328
B. Autonome Auslegung
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Eine personne morale ist dagegen eine Gruppierung oder Einheit (groupement ou entité), die als Rechtssubjekt anerkannt ist; auch sie hat dann personnalité juridique.335 Diese Zuerkennung von personnalité juridique an eine nicht-natürliche Person wird personnalité morale genannt.336 Diese ist damit personne morale, einen Ausdruck wie „personne juridique“ kennt das französische Recht dagegen ursprünglich nicht. Sprachlich kann man den Terminus „personnalité morale“ als misslungen bezeichnen, weil unklar bleibt, inwiefern ein Bezug zur Moral hergestellt wird. 337 Wegen der unterschiedlich weiten Konzepte, auf die Bezug genommen wird, kann dennoch nicht einfach stattdessen der Ausdruck „personnalité juridique“ gebraucht werden.338 Von vielen werden die Ausdrücke „personne morale“ und „personne juridique“ sogar explizit gleichgesetzt, 339 wobei der Ausdruck „personne juridique“ auf eine Lehnübersetzung des deutschen „juristische Person“ zurückgeführt wird. 340 Die Termini „personnalité morale“ und „personnalité juridique“ dagegen werden, insbesondere in jüngerer Zeit, häufig nicht definiert und (zumindest im Gesellschaftsrecht) gleichbedeutend gebraucht. 341 (Eine Verwendung von „personnalité morale“ für Menschen findet sich dagegen nicht.) Diese sprachliche Ungenauigkeit wird dem Einfluss des Unionsrechts zugeschrieben, das über Art. L. 252-1 CCom, der die Terminologie der französischen Fassung der EWIV-VO schon länger ohne jede Anpassung an die französische Terminologie übernommen hat (jetzt ebenso Art. L. 229-1 CCom für die SE-VO), in die französische Rechtsordnung eindringt342 – ein interessanter 335
Marty/Raynaud, Les personnes, 1976, S. VII. So explizit Dondero, Droit des sociétés, 2015, S. 96 f.; ähnlich schon Savatier, in: Planiol/Ripert, Traité pratique III, 1952, S. 80 f. 337 Guyon, Droit commercial général et sociétés, 2001, S. 132 (Rn. 127); ähnlich Peifer, Kapitalgesellschaften in Frankreich, 2009, Rn. 168. 338 Guyon, Droit commercial général et sociétés, 2001, S. 132 (Rn. 127); Peifer, Kapitalgesellschaften in Frankreich, 2009, Rn. 168. 339 Carbonnier, Droit civil I, 2000, S. 365; eine Gleichsetzung von personne morale und juridique auch bei Savatier, in: Planiol/Ripert, Traité pratique III, 1952, S. 80 f. sowie Ferid, Französisches Zivilrecht I, 1971, Rn. 1 D 124 („personnes morales, civiles, juridiques oder auch fictives“); anders (ohne Erwähnung der personnalité juridique) Ferid/Sonnenberger, Französisches Zivilrecht Bd. 1/1, 1994, Rn. 1 D 312. 340 So bereits Planiol, Traité élémentaire I, 1928, Rn. 3008. 341 Cozian/Viandier/Deboissy, Droit des sociétés, 2017, Rn. 269 (unter der Überschrift „L’acquisition de la personnalité morale“ beginnt der Text mit „La société … acquiert la personnalité juridique …“); vgl. ferner das Falschzitat Rn. 262: bei einem wörtlichen Zitat der Cour de cassation wird (fälschlich) „personnalité morale“ statt „civile“ wiedergegeben; auf unterschiedslose Verwendung in der Literatur weisen auch Peifer, Kapitalgesellschaften in Frankreich, 2009, Rn. 168; sowie Guyon, Droit commercial général et sociétés, 2001, S. 132 (Rn. 127, Fn. 4) hin. 342 Mit ausdrücklichem Verweis auf die EWIV-Stelle Guyon, Droit commercial général et sociétés, 2001, S. 132 (Rn. 127). 336
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
Beleg für einen Fall der Verwirrung durch Sprache wegen der unsensiblen Umsetzung von Unionsrecht!343 Allerdings ist die gleichbedeutende Verwendung auch insofern verständlich, als beide Konzepte sich weitgehend überlappen. Im Ausgangspunkt wird die Rechtsfähigkeit (capacité juridique) allgemein-abstrakt (wenn von Menschen und personnes morales die Rede ist) als personnalité juridique bezeichnet, diejenige von personnes morales im Speziellen als personnalité morale. Dies mag der Grund sein, warum für viele französische Juristen beide Termini austauschbar erscheinen. Daher gehen die folgenden Ausführungen dem Konzept von personnalité morale nach. b) Dogmatik und Rechtsgeschichte Auch in Frankreich ist der Streit um die Rechtsnatur der personnalité morale bekannt, wird aber meist nur kurz referiert344 und als nicht mehr aktuell angesehen. Auch in Frankreich bilden oder bildeten Fiktions- und Realitätstheorie die Pole der Diskussion. Teilweise als besondere Spielart der Fiktionstheorie eingeordnet,345 findet sich in Frankreich aber darüber hinaus eine Meinung, die die personnalité morale gänzlich ablehnt und die Rechtspersönlichkeit zu einem Gemeinschaftseigentum (propriété collective) reduzieren will, nicht selten dabei eine „Sprachverwirrung“ in dem Sinn beklagend, dass mit dem Aufkommen des Wortes „personne“ der Blick auf die Realität verstellt worden sei.346 Die Ablehnung der Fiktionstheorie ist dagegen wohl die herrschende Meinung in Frankreich. Insbesondere findet sich das schon oben erwähnte
343 Dabei soll auch der Ausdruck „personne morale“ aus dem Deutschen stammen, jedoch bereits früher, zur Zeit des Naturrechts, übersetzt worden sein; vgl. mit Nachweisen Gierke, Genossenschaftstheorie, 1887, S. 51. 344 Etwa bei Guyon, Droit commercial général et sociétés, 2001, S. 133 f. (Rn. 128); Cozian/Viandier/Deboissy, Droit des sociétés, 2017, Rn. 259 ff.; Merle, Sociétés commerciales, 20. Aufl., 2016, Rn. 96. Siehe auch die Hinweise bei Gutzwiller, in: Gutzwiller, Schweizerisches Privatrecht II, 1967, S. 443 f.; für eine ausführlichere Darstellung vgl. Marty/Raynaud, Les personnes, 1976, S. 913 ff. 345 Gutzwiller, in: Gutzwiller, Schweizerisches Privatrecht II, 1967, S. 443 m.w.N. 346 Z.B. Planiol, Traité élémentaire I, 1928, Rn. 3005 ff., bes. Rn. 3016 f. (dort auch zur Sprachkritik); Lévy-Ullmann/Grunebaum-Ballin, Rev. trim. 1904, 253 (253 ff., 280), daneben auch F. Laurent, H. Berthélémy, zitiert bei Teyssié, Droit civil, Les personnes, 2014, Rn. 886; Savatier, in: Planiol/Ripert, Traité pratique III, 1952, S. 82 ff. Eine solche Sichtweise widerspricht allerdings den Willensbildungsregeln bei der Mehrzahl der Gruppen und erscheint insbesondere bei großen Gebilden (wie dem Staat) als realitätsfremd, Teyssié, Droit civil, Les personnes, 2014, Rn. 887.
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„Münchhausen-Argument“ in fast jeder Diskussion der These wieder.347 Auch in Frankreich wurden dabei Werke von Beseler und Gierke rezipiert und von E. Durkheim zu einer Theorie der réalité sociologique ausgebaut.348 Daneben hat sich eine spezifisch französische Ausrichtung etabliert, die von einer réalité technique ausgeht, beruhend auf der juristischen Notwendigkeit, auf den gemeinsamen Willen der Personenvereinigung zu reagieren; 349 diese letztere Meinung hat sich inzwischen in der Rechtsprechung und Literatur weitgehend durchgesetzt. Bedeutung erlangt der Streit um die Fiktions- oder Realitätstheorie dort, wo der Gesetzgeber aufhört, die personnalité morale ausdrücklich zuzuerkennen, und wo sich die Frage stellt, ob die Rechtsprechung dies aus der Realität einer solchen Gesellschaft folgern darf oder an die Fiktion des Gesetzgebers gebunden ist.350 Ungeachtet der früheren Fassung des Art. 1832 CC, der die Gesellschaft als vertragliches Gebilde betrachtete, hat die Cour de cassation das Schweigen des Gesetzgebers zur personnalité juridique 1891 erstmals übergangen;351 seitdem hat die Rechtsprechung in einer Reihe von Urteilen auch sonstigen Personenverbänden personnalité morale,352 meist aber personnalité civile zugesprochen.353 Dabei hat die Cour de cassation entscheidend auf die Möglichkeit abgestellt, gemeinschaftlich aufzutreten („possibilité d’expression collective“).354 Der Ausdruck „personnalité juridique“ wurde in den Urteilen eher selten erwähnt. 355 Trotz der knappen Urteilsbegründungen wird die
347
Guyon, Droit commercial général et sociétés, 2001, S. 133 (Rn. 128); Peifer, Kapitalgesellschaften in Frankreich, 2009, Rn. 170; Teyssié, Droit civil, Les personnes, 2014, Rn. 885. 348 Vgl. dazu die Hinweise bei Teyssié, Droit civil, Les personnes, 2014, Rn. 889; Planiol, Traité élémentaire I, 1928, Rn. 3014. 349 Vgl. Gény, Science et technique III, 1922, S. 212 ff. (Rn. 224); Saleilles, De la personnalité juridique, 1922, S. 572 ff., besonders S. 608 f.; Michoud, Théorie de la personnalité, 2. Aufl. (1924), S. 199; Capitant, Introduction à l’étude du droit civil, Notions générales, 1925, S. 218 ff. (Rn. 160); Savatier, in: Planiol/Ripert, Traité pratique III, 1952, S. 84 ff.; weitere Nachweise bei Teyssié, Droit civil, Les personnes, 2014, Rn. 891. 350 Vgl. Cozian/Viandier/Deboissy, Droit des sociétés, 2017, Rn. 262. 351 Cass. req. 23.02.1891, Recueil Sirey 1892, 73. 352 Cass. 2e civ. 28.01.1954, 54-07081; Cass. soc. 23.01.1990, 86-14947. 353 Cass. soc. 23.01.1990, 86-14.947, Rev. sociétés 1990, 444 (m. Anm. Vatinet); Cass. 1re civ. 18.01.2005, 01-17.059 mit Anm. Caussain/Deboissy/Wicker, JCP-E 2005, 50, 2157 (2165). 354 Cass. 2e civ. 28.01.1954, 54-07081; Cass. soc. 23.01.1990, 86-14.947, Rev. sociétés 1990, 444. 355 Vgl. die abgelehnte referierte Meinung der Vorinstanz, der fragliche Verband habe seine „personnalité juridique“ nicht nachgewiesen (beantwortet mit dem lakonischen Hinweis, ihr komme „personnalité morale“ zu), Cass. 1re civ. 18.01.2005, 01-17.059.
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
Rechtsprechung damit der Theorie der réalité technique zugerechnet, 356 die also von einer „technischen Realität“ des Personenverbandes ausgeht, sodass ihr auch ohne eine Äußerung des Gesetzgebers personnalité morale zuerkannt werden kann. Personnalité morale kommt daher allen Personenverbänden zu, die einen einheitlichen Willen bilden können und eine erlaubte Tätigkeit ausüben.357 Kritische Stimmen weisen darauf hin, dass die Rechtsprechung sich bisher um thematisch eingegrenzte Fälle gedreht hat;358 positive Stimmen hoffen etwa auf eine Ausweitung der Rechtsprechung auch auf andere Personenverbände (groupements).359 Der Gesetzgeber ist dem inzwischen zumindest teilweise gefolgt und hat mit dem 1978 reformierten Art. 1842 CC sowie in Art. L. 210-6 CCom die personnalité morale der Gesellschaft, die durch Eintragung (immatriculation) im Handelsregister erworben wird, schließlich gesetzlich normiert.360 Personnalité morale kommt jetzt auch laut dem Gesetzgeber gem. Art. 1842 CC grundsätzlich allen Gesellschaften, insbesondere auch der société civile, 361 zu. Rechtsgeschichtlich stellt die Anerkennung der personnalité morale einen Fortschritt gegenüber der ursprünglich das französische Gesellschaftsrecht prägenden Vertragstheorie der Gesellschaft dar und führt dazu, dass der Vertrag Dritten entgegengehalten werden kann (opposabilité).362 Da es dabei auf die Eintragung im Register ankommt, also eine Formalität, lässt sich die Vorschrift des Gesetzgebers der Fiktionstheorie zuschreiben.363 356 Teyssié, Droit civil, Les personnes, 2014, Rn. 894; Caussain/Deboissy/Wicker, JCP-E 2005, 50, 2157 (2165); Peifer, Kapitalgesellschaften in Frankreich, 2009, Rn. 172; Merle, Sociétés commerciales, 20. Aufl., 2016, Rn. 96. 357 Teyssié, Droit civil, Les personnes, 2014, Rn. 895: „tout groupement satisfaisant à deux conditions: 1) il est parvenu à un degré d’organisation suffisant pour qu’à la cacophonie des expressions individuelles succède une expression collective, traduisant les orientations et décisions arrêtées en commun; 2) il déploie une activité licite …“ 358 Ferid/Sonnenberger, Französisches Zivilrecht Bd. 1/1, 1994, Rn. 1 D 309 weisen darauf hin, dass die Urteile sich schwerpunktmäßig um Fälle der Arbeitnehmervertretung drehten; dies ist nach dem neuesten Urteil Cass. 1re civ. 18.01.2005, 01-17.059 zumindest nicht mehr ausschließlich der Fall. 359 Teyssié, Droit civil, Les personnes, 2014, Rn. 880. 360 Vgl. dazu auch Sonnenberger/Dammann, Französisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2008, Rn. III 47. 361 Dabei ist jedoch zu beachten, dass die französische société civile an strengere Vorgaben gebunden ist als die oft als Pendant angesehene Gesellschaft deutschen bürgerlichen Rechts: Auch die société civile setzt eine wirtschaftliche Absicht voraus (vgl. Art. 1832 Abs. 1 CC: „en vue de partager le bénéfice ou de profiter de l’économie qui pourra en résulter“), und auch die personalité morale wird erst durch Eintragung (immatriculation, Art. 1842 Abs. 1 CC) erlangt; darauf weist bereits Großerichter, in: Sonnenberger/Classen, Einführung in das französische Recht, 2012, S. 332 hin. 362 Cozian/Viandier/Deboissy, Droit des sociétés, 2017, Rn. 11; Sonnenberger, RIW 1983, 233 (234). 363 Merle, Sociétés commerciales, 20. Aufl., 2016, Rn. 96.
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Zur Beschreibung von personnalité morale werden häufig die Rechtsfiguren der société de fait (eines Verbandes, dem Tatbestandsmerkmale zu einer Gesellschaft fehlen, der aber ins Leben getreten ist) und der société créée de fait (die alle Tatbestandsmerkmale einer Gesellschaft aufweist, aber nicht durch den notwendigen rechtsgeschäftlichen Akt gegründet worden ist) angeführt.364 Letztere wird gem. Art. 1873 CC nach den Regeln zur société de participation (Beteiligungsgesellschaft, der stillen Gesellschaft deutschen Rechts ähnlich) behandelt (ihr kommt damit ausdrücklich keine personnalité morale zu, Art. 1842 CC), während zur société de fait im Gesetz keine Regelung enthalten ist. Zumindest wurden 1966 die Nichtigkeitsgründe und damit der Anwendungsbereich der société de fait eingeschränkt.365 Da die Nichtigkeit nicht in der Zeit zurückwirkt (vgl. Art. 1844-15 CC), lässt sich diskutieren, ob ihr zumindest bis zur Liquidation doch eine personnalité morale zukommt, wobei jedoch fraglich ist, ob der Verkehrsschutz (der ohnehin eingeschränkt ist) tatsächlich so weit reicht.366 Relativ klar ist nach alledem der Ausgangspunkt: Im französischen Recht bedeutet personnalité morale insbesondere capacité (juridique und d’exercise). Weniger klar ist dagegen, wem personnalité morale zukommt, da die Rechtsprechung einerseits bei der Zuerkennung von personnalité morale großzügig ist367 und andererseits der Gesetzgeber nicht alle Fälle geregelt hat. c) Weitere Eigenschaften von personnalité morale Eine Haftungsbeschränkung ist mit der personnalité morale nach französischem Recht nicht denknotwendig verbunden.368 Die Gesellschafter von Personengesellschaften, denen nach Art. 1842 CC ebenfalls personnalité morale zukommt, müssen dennoch auch für deren Schulden einstehen, wobei im Detail Unterschiede in der Regelung bestehen.369 Die gleiche Transparenz besteht im Steuerrecht.370
364 So Sonnenberger/Dammann, Französisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2008, Rn. III 47; anders formuliert Peifer, Kapitalgesellschaften in Frankreich, 2009, Rn. 234: Die société de fait beruhe auf einem nichtigen, die société créée de fait auf gar keinem Vertrag. 365 Peifer, Kapitalgesellschaften in Frankreich, 2009, Rn. 234. 366 Vgl. dazu auch Sonnenberger/Dammann, Französisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2008, Rn. III 47. 367 Ähnlich Peifer, Kapitalgesellschaften in Frankreich, 2009, Rn. 175: „nahezu konturenlos“. 368 Großerichter, in: Sonnenberger/Classen, Einführung in das französische Recht, 2012, S. 329; Peifer, Kapitalgesellschaften in Frankreich, 2009, Rn. 177. 369 Sonnenberger/Dammann, Französisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2008, Rn. III 49. 370 Cozian/Viandier/Deboissy, Droit des sociétés, 2017, Rn. 129 ff.; Sonnenberger/Dammann, Französisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2008, Rn. III 49.
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
Das französische Gesetz sieht die Strafbarkeit und -fähigkeit von Gesellschaften vor.371 Voraussetzung für die Strafbarkeit ist dabei das Kriterium der personnalité morale. Der Gesetzgeber folgte mit der Einführung der damals herrschenden Auffassung in der Literatur und entschied sich 1994 gegen die Rechtsprechung durch Einführung der entsprechenden Vorschriften.372 Diesen zufolge können personnes morales durch ihre Organe oder Vertreter (organes ou représentants) Tatbestände erfüllen (Art. 121-2 Code pénal), sofern die Vertreter „pour leur compte“ gehandelt haben (Art. 121-2 Abs. 1 Code pénal).373 Die Gesellschaften können zu Geldstrafen, aber auch zur Auflösung verurteilt werden (Art. 131-37 bis Art. 131-49 Code pénal); die Strafen werden zudem in eine Art Vorstrafenregister (casier judiciaire, Art. 768-1 ff. Code de procédure pénale) eingetragen. Bestraft werden können auch „ausländische“ Gesellschaften (also solche, die ihren siège social nach französischem Verständnis im Ausland haben), vorausgesetzt, der Straftatbestand wird (zumindest teilweise) auf französischem Territorium erfüllt (Art. 113-2 Code pénal) und die Gesellschaft ist nach französischem Verständnis als personnalité morale anzusehen.374 Eine Gesellschaft kann nur für maximal 99 Jahre eingegangen werden; eine Frist ist anzugeben, andernfalls gilt die Gesellschaft als für die Dauer des Zwecks oder für maximal 99 Jahre gegründet (Art. L. 210-2 CCom; Art. 1838 CC). Allerdings ist eine Verlängerung der Frist durch prorogation durch eine Satzungsänderung möglich, Art. 1844-6 CC. Das Ausbleiben (oder die Verspätung) einer solchen prorogation hat die Auflösung der Gesellschaft zur Folge (Art. 1844-7 Nr. 1 CC). Um nicht Minderheitsgesellschaftern eine Blockademöglichkeit in die Hand zu geben, sind Rückkaufklauseln in den statuts angeraten.375 Die steuerlichen Kosten einer prorogation sind überschaubar.376 Auch im französischen Gesellschaftsrecht ist die Vertretungsmacht vom Gesellschaftsgegenstand (objet social) nicht ganz unabhängig. Das Gesetz erlaubte bis 1966 eine auch Dritten gegenüber wirksame Beschränkung der Vertretungsmacht der Organe, dann änderte der französische Gesetzgeber (auch 371 Vgl. dazu Lefebvre/Charvériat u.a., Sociétés commerciales, 48. Aufl., 2016, Rn. 4590 ff.; Peifer, Kapitalgesellschaften in Frankreich, 2009, Rn. 178; zur Einführung der Strafbarkeit im Jahr 1995 Klein, RIW 1995, 373 (373 ff.); kritisch zur der Einführung folgenden Ausweitung der Strafbarkeit durch Gesetzgebung und Justiz Matsopoulou, Rev. sociétés 2004, 283 (283 ff.). 372 Merle, Sociétés commerciales, 20. Aufl., 2016, Rn. 120 m.w.N. 373 Vgl. zu den Details näher Lefebvre/Charvériat u.a., Sociétés commerciales, 48. Aufl., 2016, Rn. 4670 ff. 374 Lefebvre/Charvériat u.a., Sociétés commerciales, 48. Aufl., 2016, Rn. 4598. 375 Solche Rückkaufklauseln wurden sogar ausdrücklich vom Justizminister empfohlen, vgl. Lefebvre/Charvériat u.a., Sociétés commerciales, 46. Aufl., 2014, Rn. 7190. 376 Maximal 500 Euro, sofern das Grundkapital über 225.000 Euro liegt, Art. 811 Nr. 1 Code général des impôts, Lefebvre/Charvériat u.a., Sociétés commerciales, 46. Aufl., 2014, Rn. 7220.
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unter dem Eindruck der bevorstehenden Ersten Richtlinie) sein Konzept.377 Bei Personengesellschaften ist die Vertretungsmacht von Organen seitdem auf den Satzungszweck beschränkt (Art. 1849 CC für die société civile, Art. L. 221-5 Abs. 1 CCom für die société en nom collectif, kraft Verweis in Art. L. 222-2 CCom auch für die société en commandite simple), bei Kapitalgesellschaften nur dann, wenn Dritte die Situation hätten erkennen können (Art. L. 223-18 Abs. 5 CCom für die société à responsabilité limitée, Art. L. 225-35, L. 22556 Abs. 2, L. 225-64 Abs. 2 CCom für die société anonyme, Art. L. 226-7 Abs. 2 CCom für die société en commandite par actions, Art. L. 227-6 Abs. 2 für die société par actions simplifiées).378 Daher wird auch heute noch in der Literatur eine sog. specialité legale angenommen, die die capacité der Gesellschaft beschränkt.379 d) Vorgesellschaft Vor Eintragung werden die Beziehungen der Gesellschafter untereinander vom Vertragsrecht bestimmt (Art. 1842 Abs. 2 CC). Es gibt keine Teilrechtsfähigkeit im französischen Recht und folglich keine teilrechtsfähige Gesellschaft vor Eintragung.380 Mehrheitsentscheidungen zur Änderung des Vertrags sind aber trotzdem möglich, sofern sie dort vorgesehen sind; dies wird als vertragliche Abbedingung des Grundsatzes gesehen, dass Verträge grundsätzlich nur mit Zustimmung aller geändert werden können.381 Klauseln, die die Existenz einer personne morale (also der fertig gegründeten Gesellschaft) voraussetzen, sind in diesem Zeitraum aber noch nicht anwendbar.382 Für den Zeitraum zwischen Vertragsabschluss und Eintragung der Gesellschaft grenzt die Rechtsprechung die Vorgesellschaft (société en formation) und die société créée de fait nach dem Umfang der wirtschaftlichen Aktivität und der affectio societatis ab: Werden mehr Aktivitäten entfaltet als für eine Gesellschaftsgründung typisch und ist die affectatio societatis stärker, spricht
377
Vgl. zur Gesetzgebungsgeschichte van Ommeslaghe, CDE 5 (1969), 495 (624–627). Großerichter, in: Sonnenberger/Classen, Einführung in das französische Recht, 2012, S. 330. 379 Etwa Caussain/Deboissy/Wicker, JCP-E 2005, 50, 2157 (2165); Cozian/Viandier/Deboissy, Droit des sociétés, 2017, Rn. 166; Dondero, Droit des sociétés, 2015, S. 74 (Rn. 97). 380 Kersting, Die Vorgesellschaft im europäischen Gesellschaftsrecht, 2000, S. 88; Peifer, Kapitalgesellschaften in Frankreich, 2009, Rn. 255. Theorien zur Teilrechtsfähigkeit („une certaine personnalité“) wurden allerdings vertreten, bis das Gesetz 1966 klarstellte, dass die personnalité morale mit Eintragung verliehen wird, vgl. dazu m.w.N. Kersting, Die Vorgesellschaft im europäischen Gesellschaftsrecht, 2000, S. 97 f. 381 Cozian/Viandier/Deboissy, Droit des sociétés, 2017, Rn. 274; Lefebvre/Charvériat u.a., Sociétés commerciales, 46. Aufl., 2014, Rn. 5010. 382 Lefebvre/Charvériat u.a., Sociétés commerciales, 48. Aufl., 2016, Rn. 4007 f. 378
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dies für eine société créée de fait.383 Aus der fehlenden Rechtsfähigkeit der Vorgesellschaft folgt, dass die Vorgesellschaft weder klagen noch verklagt werden kann;384 auch die Gesellschaft kann erst mit Eintragung Rechte erwerben (dann allerdings auch rückwirkend).385 Bei einer entsprechenden Übernahmeerklärung der Gesellschaft (reprise) werden vorher im Namen der Gesellschaft abgeschlossene Geschäfte so angesehen, als hätte die Gesellschaft die Geschäfte von Anfang an bewirkt.386 Einlagen verbleiben zunächst im Eigentum des Leistenden und gehen erst mit Eintragung an die Gesellschaft über; der Leistende haftet der Gesellschaft dann wie ein Verkäufer, der die Kaufsache noch nicht übergeben hat (Art. 1843-3 Abs. 3 CC).387 Allerdings werden der Vorgesellschaft von der Rechtsprechung doch gewisse Rechtspositionen zugestanden: Im Hinblick auf ihre künftige Rechtsposition kann die société en formation bereits Adressatin von Genehmigungen oder ähnlichen Verwaltungsakten sein (décisions ministérielles, appels d’offres).388 Handlungen für die Gesellschaft während der Gründung können gutgläubigen Dritten nicht entgegengehalten werden (Art. L. 210-5 Abs. 1 CCom), und die Personen, die im Namen der Vorgesellschaft gehandelt haben („qui ont agi au nom d’une société en formation“), haften für diese Handlungen grundsätzlich gemeinsam und unbeschränkt („sont tenues solidairement et indéfiniment responsables“, Art. L. 210-6 Abs. 2 CCom), es sei denn, die Gesellschaft übernimmt die Haftung („reprenne les engagements soucrits“, sog. reprise, Art. L. 210-6 Abs. 2 S. 1 HS 2 CCom).389 In einer Reihe von Fällen wird die
383
Cass. comm. 04.12.2001, 98-17584; Cass. 1re civ. 07.04.1992, 87-16137; Cass. comm. 02.12.1982, Rev. sociétés 1983, 325; Lefebvre/Charvériat u.a., Sociétés commerciales, 48. Aufl., 2016, Rn. 2510 ff.; Cozian/Viandier/Deboissy, Droit des sociétés, 2017, Rn. 300; Peifer, Kapitalgesellschaften in Frankreich, 2009, Rn. 251; Kersting, Die Vorgesellschaft im europäischen Gesellschaftsrecht, 2000, S. 93 f., dort auch S. 95 f. m.w.N. zur Frage, ob eine Rückumwandlung in eine Vorgesellschaft möglich ist. 384 Cass. comm. 07.06.1994, Nr. 1347, Bull. Joly 1994, 1225; Lefebvre/Charvériat u.a., Sociétés commerciales, 48. Aufl., 2016, Rn. 4007 ff.; Peifer, Kapitalgesellschaften in Frankreich, 2009, Rn. 256. 385 Vgl. Art. 210-6 Abs. 2 S. 2 CCom, auch Sonnenberger/Dammann, Französisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2008, Rn. III 52; Peifer, Kapitalgesellschaften in Frankreich, 2009, Rn. 259. 386 Cass. 3e civ. 07.12.2011, 10-26.726; Cozian/Viandier/Deboissy, Droit des sociétés, 2017, Rn. 298; Kersting, Die Vorgesellschaft im europäischen Gesellschaftsrecht, 2000, S. 109. 387 Kersting, Die Vorgesellschaft im europäischen Gesellschaftsrecht, 2000, S. 99 f. 388 Conseil d’Etat, 23.01.2006, Nr. 284788, RJDA 12/06, Nr. 1221; Conseil d’Etat, 13.05.1992, Nr. 89858, RJDA 8-9/92, Nr. 823; Lefebvre/Charvériat u.a., Sociétés commerciales, 48. Aufl., 2016, Rn. 4010. 389 Mit Art. L. 210-6 CCom soll die Erste Richtlinie umgesetzt werden, vgl. Merle, Sociétés commerciales, 20. Aufl., 2016, Rn. 97.
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Haftung sogar automatisch übernommen.390 Dagegen ist ein Handeln im Namen der zukünftigen Gesellschaft nicht möglich, da in der Gegenwart kein rechtsfähiger Vertragspartner vorhanden ist; das Geschäft ist dann nichtig.391 Das Konzept der „Handelnden“ wird dabei weit verstanden, darunter fallen regelmäßig sämtliche Gesellschafter.392 e) Zwischenergebnis zum französischen Recht Während in Frankreich die Haftungsbeschränkung keine notwendige Folge der personnalité morale ist, sind die Folgen der capacité juridique, der Deliktsund Straffähigkeit relativ klar definiert. Eher komplex ist das französische Verständnis der Vorgesellschaft. 5. Rechtsvergleichung a) Unterschiede Hinter dem Wort „Rechtspersönlichkeit“ verbergen sich auf den ersten Blick durchaus verschiedene Konzepte. In Frankreich scheint die Rechtslage am klarsten zu sein: Dort wird mit „personnalité morale“ die Zuerkennung der Fähigkeit, Träger von Rechten und Pflichten zu sein, an eine Personenvereinigung bezeichnet.393 Haftungsfolgen sind damit grundsätzlich nicht verbunden. In England ist ebenfalls die Rechtsfähigkeit vom Konzept umfasst,394 doch hat eine separate legal entity nicht nur stets Auswirkungen auf das Haftungssystem (sog. Haftungsschott), diese Haftungsfolgen werden auch als die wohl zentrale Eigenschaft der legal personality angesehen. In Deutschland dagegen besteht zwar eine (möglicherweise „im Vordringen befindliche“) Literaturmeinung, die dafür plädiert, (wieder) einen Gleichlauf zwischen Rechtspersönlichkeit und Rechtsfähigkeit herzustellen. Nach der gegenwärtigen Gesetzeslage und dem aktuellen Stand der Rechtsprechung ist dies aber nicht so. „Rechtspersönlichkeit“ meint demnach in Deutschland zwar auch die über die Teilrechtsfähigkeit hinausgehende volle Rechtsfähigkeit einer juristischen Person; mit dem Konzept wird darüber hinaus aber eine Reihe von (wechselnden) Eigenschaften erfasst, die juristischen Personen jedenfalls typischerweise zukommen sollen, 390 Cozian/Viandier/Deboissy, Droit des sociétés, 2017, Rn. 295; Peifer, Kapitalgesellschaften in Frankreich, 2009, Rn. 257 f.; Kersting, Die Vorgesellschaft im europäischen Gesellschaftsrecht, 2000, S. 113 ff. 391 Cass. 3e civ. 28.10.1992, Bull. Joly 1993, 85 m. Anm. Le Cannu; Kersting, Die Vorgesellschaft im europäischen Gesellschaftsrecht, 2000, S. 106; Mülbert/Nienhaus, RabelsZ 65 (2001), 513 (521). 392 Kersting, Die Vorgesellschaft im europäischen Gesellschaftsrecht, 2000, S. 104 f.; ähnlich Cozian/Viandier/Deboissy, Droit des sociétés, 2017, Rn. 300. 393 So auch Lehmann, AcP 207 (2007), 225 (241); Rittner, in: FS Hüffer 2010, 843 (847). 394 Nach Lehmann, AcP 207 (2007), 225 (241) ist sie sogar mit der „legal personality“ gleichzusetzen.
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
insbesondere eine „körperschaftliche Verfassung“ mit der Möglichkeit der (Fremd-)Organschaft. Die beschränkte oder Teilrechtsfähigkeit, die Gebilden wie der GbR oder dem nicht eingetragenen Verein zukommt, ist etwa in Frankreich unbekannt.395 Eine frühere sog. demi-personnalité ist bereits vor über 100 Jahren wieder abgeschafft worden. 396 Auch das englische Recht kennt eine semi-personality nicht.397 Ähnlich wie in Deutschland ist die Lage dagegen in Italien, wo ebenfalls möglicherweise Personenvereinigungen, denen (nach dem Gesetz ausdrücklich) keine Rechtspersönlichkeit zukommen soll, doch eine gewisse rechtliche Verselbständigung erfahren (was unter den Stichwörtern „soggettività giuridica“ oder „autonomia patrimoniale“ diskutiert wird). b) Gemeinsamkeiten: vom Theorienstreit zur Rechtsfähigkeit als Mindestinhalt Erstaunlich sind die Unterschiede, wenn man sich die gemeinsamen Ursprünge zumindest der kontinentalen Rechtsordnungen vergegenwärtigt. Der Theorienstreit ging zwar von Deutschland aus398, wurde aber zumindest auch in Italien und Frankreich wahrgenommen und fortgeführt, oft mit eigenen Lösungen. Dass dieser Streit dennoch nicht zu einem einheitlichen Konzept von „Rechtspersönlichkeit“ geführt hat, liegt weniger daran, dass in dem Streit je nach Land mal die eine, mal die andere Theorie die Oberhand gewonnen hätte. Vielmehr ist der Streit um das „Wesen der menschlichen Verbände“399 nicht identisch mit der (hier untersuchten) Frage nach dem Konzept von Rechtspersönlichkeit. 400 Geht es in dieser Untersuchung um ein juristisches Konzept, geht es bei der Frage nach dem Wesen der juristischen Personen um die hinter dem Recht sich verbergende Wirklichkeit, um das „soziologische Substrat“ und daraus abzuleitende, meist rechtspolitische Forderungen, ob der Staat Personenvereinigungen die Rechtsfähigkeit zuerkennen und verweigern können soll oder ob er sie unter bestimmten Voraussetzungen hinzunehmen hat. Über die Rechtsfolge, die sich aus dem Tatbestand „juristische Person“ ergibt, herrschte dagegen ursprünglich zumindest auf dem Kontinent mehr Klarheit. Mit „Person“ war (jedenfalls auch) die Rechtsfähigkeit, also die Fähigkeit, Träger von Rechten und Pflichten zu sein, gemeint; dies war der unbestrittene Ausgangspunkt von Anhängern sowohl der Fiktions- als auch der 395
Peifer, Kapitalgesellschaften in Frankreich, 2009, Rn. 176. Vgl. m.w.N. Paton/Derham, The text-book of jurisprudence, 1964, S. 386; zu Fragen einer teilrechtsfähigen Vorgesellschaft im französischen Recht vgl. Kersting, Die Vorgesellschaft im europäischen Gesellschaftsrecht, 2000, S. 97 f. 397 Paton/Derham, The text-book of jurisprudence, 1964, S. 383. 398 Flume hält den Theorienstreit sogar für einen völlig deutschen Gegenstand: Flume, AT I, 2: Die juristische Person, 1983, S. 24. 399 So der Titel von Gierke, Rektoratsrede, 1902. 400 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2003, § 8 II 2 (S. 188 f.). 396
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Realitätstheorie.401 Ob diese Rechte und Pflichten von der juristischen Person selbst begründet werden konnten oder ob sie dazu vertreten werden musste, war zwar wiederum Gegenstand von Streit zwischen den Anhängern beider Theorien. Im Kern ging es aber bei der Verleihung von Rechtspersönlichkeit um die Stellung einer Personenvereinigung als Zurechnungssubjekt. Von einem anderen Winkel aus näherte sich die englische Rechtsordnung der Frage. Das Konzept stammt fast vollständig aus dem case law, das von weitaus praktischeren Fragestellungen getrieben wurde. Solange ein Kaufvertrag reibungslos vollzogen wird, kann schließlich offenbleiben, ob die Gesellschaft oder die Gesellschafter den Kaufpreis schulden. Es verwundert daher nicht, dass die Entwicklung in England vor allem von Haftungsfällen geprägt wurde und dass auch heute noch die praktische Haftungsfolge im Vordergrund der Wahrnehmung steht. Aber auch für das Haftungsschott als die eine englische legal personality prägende Eigenschaft ist die Rechtsfähigkeit, also die Fähigkeit, Träger von Rechten und Pflichten zu sein, unabdingbar. Zwar ist eine Rechtsfähigkeit ohne Haftungsfolgen denkbar (wie das Beispiel einiger französischer Rechtsformen zeigt). Dagegen setzt aber die Eigenschaft, für etwas zu haften, die Vermögensfähigkeit voraus, andernfalls gäbe es keine Haftungsmasse.402 Auch in England gehört daher die Rechtsfähigkeit zur Grundausstattung der legal personality. Es zeigt sich also, dass die Rechtsfähigkeit das gemeinsame Merkmal der Rechtspersönlichkeit in allen Rechtsordnungen ist. 403 Rechtsfähigkeit mag nicht ausschließlich juristischen Personen zukommen (wie in Deutschland) oder nicht die als zentral angesehene Folge der Rechtspersönlichkeit sein (wie in England), stellt aber einen gemeinsamen Kern der Rechtspersönlichkeit dar, die – je nach Rechtsordnung – diesem Kern noch weitere Aspekte hinzufügt. c) Erklärungsversuche für landesspezifische Besonderheiten: Haftung, Vorgesellschaft Einige Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen können mit Besonderheiten der jeweiligen Länder erklärt werden.
401 Gierke, Deutsches Privatrecht I, 1895, S. 265; Lehmann, AcP 207 (2007), 225 (241); ebenso für alle Länder des Code Napoléon Gambino, in: Abbadessa/Portale, Nuovo diritto delle società I, 2006, S. 44. 402 Es soll hier nicht ausgeschlossen werden, dass dieser Schluss nicht für alle denkbaren oder bestehenden Rechtsordnungen Gültigkeit hat. Er trifft jedenfalls auf die hier untersuchten vier Rechtsordnungen zu. Vgl. auch Raiser, AcP 194 (1994), 495 (505); H. Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, S. 203 (§ 4 I 3). 403 So auch (dazu noch ausführlicher unten 2. Kap., C II, S. 198 ff.) Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 1 SE-VO Rn. 35, Fn. 35; Lutter, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SEKommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 1 SE-VO Rn. 13; Siems, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 1 SE-VO Rn. 23.
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
Eine deutsche Besonderheit etwa ist die Existenz von Gesamthandsgemeinschaften,404 die historisch zu erklären ist. Als aus der Zeit des Mittelalters stammender germanistischer Gegenentwurf zur (vermeintlich) römischen universitas405 wurden die Gesamthandsgemeinschaften 1900 in das BGB übernommen und im Schuldvertragsrecht geregelt. Eine verselbständigte Rechtsstellung der von den Gesellschaftern emanzipierten Gruppe wurde erst ab 1972406 zunächst in der Literatur propagiert, schließlich von der Rechtsprechung übernommen und anschließend auch vom Gesetzgeber teilweise umgesetzt.407 Eine umfassende Reform der Regelungen zur Gesamthand wurde aber nicht in Angriff genommen, sodass heute das Gesetz zwischen rechtsfähigen Personengesellschaften und juristischen Personen unterscheidet. Dies hat zu einer Diskussion über die Abgrenzung und Überschneidung von Rechtspersönlichkeit und Rechtsfähigkeit geführt, die, wie sich an der starken Gegenmeinung zur in Deutschland herrschenden Meinung ablesen lässt, noch nicht zu einem Ende gekommen ist. Diese historische Entwicklung führt dazu, dass die juristische Person in Deutschland die Rechtsfähigkeit (neben den natürlichen Personen) nicht exklusiv hat, sondern durch zusätzliche Merkmale von der rechtsfähigen Personengesellschaft abgegrenzt werden muss. Ähnlich ist die Entwicklung in Italien, wo das Gesetz personalità giuridica ebenfalls nur einigen Gesellschaften zuerkennt; diese Gemeinsamkeit ist auch historisch zu erklären, da sich der italienische Gesetzgeber bei Erlass des Codice Civile (1942) in ebendieser Frage an Deutschland orientierte.408 Auch die Unterschiede zwischen England und Frankreich, insbesondere was die Haftung angeht – dem offensichtlichsten Unterschied zwischen diesen beiden Rechtsordnungen –, können mit der geschichtlichen Entwicklung erklärt oder zumindest nachvollzogen werden. In England hat sich die Rechtspersönlichkeit weitgehend parallel mit der Haftungsbeschränkung, um nicht zu sagen als deren Anhängsel, entwickelt. In Frankreich wurde Rechtspersönlichkeit dagegen 1978 den meisten Gesellschaften, auch der société civile, vom Gesetzgeber verliehen; deren bestehende, sich voneinander unterscheidende Haftungssysteme wurden dabei nicht wesentlich verändert. 409 Daher ist in 404 In der Literatur wird das Fehlen einer Gesamthand etwa in Frankreich oder England häufig als Beleg für die rein deutsche, nicht denknotwendige Systematik angeführt, vgl. Raiser, AcP 194 (1994), 495 (498, 500); K. Schmidt, AcP 209 (2009), 181 (201 f.); K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2003, § 8 I 2 (S. 182), § 8 I 3 (S. 184, Fn. 16). 405 Vgl. Gierke, Genossenschaftstheorie, 1887, S. 603 ff., zum Beispiel S. 607. 406 Damals erschien der Aufsatz von Flume, ZHR 136 (1972), 177; vgl. zur Wirkungsgeschichte K. Schmidt, AcP 209 (2009), 181 (183 ff., besonders S. 204). 407 S. ausführlicher oben 2. Kap., B I 1 c, S. 118. 408 Galgano, Diritto civile e commerciale III, 1, 2004, S. 320. 409 Insbesondere wurde an der unbeschränkten anteiligen (gerade nicht gesamtschuldnerischen) Haftung der Gesellschafter festgehalten. Angepasst wurde die Haftung insofern an die neue Realität der société civile als personne morale, als Gläubiger der Gesellschaft sich
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Frankreich die Rechtsfähigkeit von der Haftung klar getrennt,410 während sie nach englischem Verständnis bis heute Kehrseiten derselben Medaille sind. Somit zeigt sich, dass Haftung nicht denknotwendig mit Rechtsfähigkeit einhergehen muss und auch von „Rechtspersönlichkeit“ nicht notwendig umfasst sein muss. Neben dem französischen Gesetzgeber stimmen darin auch englische, italienische und deutsche Stimmen überein.411 Bereits der Rechtsvergleich ergibt daher, dass „Rechtspersönlichkeit“ in den verschiedenen Mitgliedstaaten nicht zwingend eine ausschließliche Haftung der juristischen Person voraussetzt. Gegenstimmen, die (für Deutschland) die Haftungsstruktur als wesentlich für die „Rechtspersönlichkeit“ ansehen,412 wäre zu entgegnen, dass dann jedenfalls im Rahmen der Auslegung von Art. 1 Abs. 3 SE-VO, die hier vorgenommen werden soll, nur eben an späterer Stelle darauf zu verweisen wäre, dass die SE-VO die Haftungsbeschränkung in Art. 1 Abs. 2 S. 2 regelt, also offenbar gerade nicht als denknotwendigen Bestandteil der Rechtspersönlichkeit ansieht. In ähnlicher Weise lassen sich Unterschiede bei der Vorgesellschaft erklären, für die „kein einheitliches mitgliedstaatliches […] Verständnis“ existiert. 413 Auch wenn die Frage, zu welchem Zeitpunkt Rechtspersönlichkeit und zu welchem Zeitpunkt Rechtsfähigkeit verliehen bzw. erlangt wird, einen Einfluss auf das Verständnis von Vorgesellschaft hat, werden die verschiedenen Konzepte zur Vorgesellschaft doch mehr von anderen Umständen der jeweiligen Rechtsordnung mitbestimmt. Etwa bedingt in England das großzügige Kapitalaufbringungs- und Gründungsrecht, dass eine Vorgesellschaft nicht nötig ist, während in Frankreich die Frage, wer Eigentümer der Einlagen ist, bevor die Gesellschaft als juristische Person entsteht, durch eine rückwirkende Fiktion sowie eine an die Verkäuferhaftung angelehnte Regelung gelöst wird – ein Schwebezustand, der dem französischen Recht möglicherweise wegen seiner generell anderen, ohne Abstraktionsprinzip auskommenden Regelungen zur Eigentumsübertragung (die einen solchen Zustand häufiger hervorbringen) leichter zunächst an diese halten müssen, die Haftung der Gesellschafter also zu einer Ausfallhaftung abgeändert wurde, Sonnenberger, RIW 1983, 233 (238, 240); H. Wiedemann, in: FS Kellermann 1991, 529 (530). 410 Diese Trennung kann auch als Ursache gesehen werden, die – vermittelt durch den Einfluss der Rechtsprechnung – zur heute geltenden gesetzlichen Regelung überhaupt erst geführt hat (sodass die Trennung keine bloße Folge der gesetzlichen Regelung darstellt): so etwa H. Wiedemann, WM-Sonderbeilage Nr. 4/1994, 1 (6). Jedenfalls hängen beide Tatsachen eng miteinander zusammen. 411 Rayner (Mincing Lane) Ltd v Department of Trade [1989] Ch 72, 176 per Kerr LJ; H. Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, S. 202 (§ 4 I 3); H. Wiedemann, in: FS Kellermann 1991, 529 (530); Raiser, AcP 194 (1994), 495 (505); Gambino, in: Abbadessa/Portale, Nuovo diritto delle società I, 2006, S. 44. 412 Etwa H. Wiedemann, in: FS Hüffer 2010, 1091 (1097 ff.). 413 Mülbert/Nienhaus, RabelsZ 65 (2001), 513 (521); Kersting, GmbHR 2003, 1466 (1469).
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
fällt.414 In Deutschland mag dagegen die bereits für die GbR entwickelte Teilrechtsfähigkeit Pate gestanden haben, auch der Vorgesellschaft eine solche Kompromisslösung zwischen fehlender Rechtsfähigkeit und Rechtspersönlichkeit zuzugestehen. Als Zwischenergebnis gilt damit für die Vorgesellschaft Ähnliches wie bei der Haftung: Es handelt sich bei den Vorgesellschaftsfragen nicht um denknotwendige Bestandteile von „Rechtspersönlichkeit“, sodass die Unterschiede an dieser Stelle nicht näher verfolgt zu werden brauchen. Auf Fragen der Vorgesellschaft wird ohnehin noch später415 zu sprechen zu kommen sein, da sowohl die SE-VO als auch anderes europäisches Sekundärrecht im Rahmen systematischer Auslegung Aufschlüsse über das Rechtspersönlichkeitskonzept der SEVO liefern können. Dort kann sich die Prüfung dann aber auf die Frage beschränken, ob die Regelungen zur Vorgesellschaft es erforderlich machen, den in diesem Kapitel erarbeiteten Ausgangspunkt abzuändern. d) Handlungsfähigkeit der juristischen Person Neben der Fähigkeit, Träger von Rechten und Pflichten zu sein, wird als Eigenschaft der juristischen Person insbesondere diskutiert, ob diese fähig ist, einen eigenen Willen zu bilden und selbst zu handeln. Dies stellt eine der Trennlinien zwischen Fiktionstheorie (die dies ablehnt) und Realitätstheorie (die dies bejaht) dar. Eine Gemeinsamkeit der hier untersuchten Rechtsordnungen ist, dass sie, wie sich etwa an der Deliktsfähigkeit der juristischen Person zeigt, eher der Realitätstheorie zuneigen. Eine juristische Person ist etwa in Deutschland nach § 31 BGB (analog) deliktsfähig und für das Handeln ihrer Organe selbst verantwortlich, ebenso in Italien, Frankreich und England. Entsprechend ist eine juristische Person auch in allen Rechtsordnungen handlungsfähig; teilweise wird die Handlungsfähigkeit sogar noch enger als in Deutschland an die Rechtsfähigkeit der juristischen Person geknüpft; etwa unterfallen in Frankreich beide Fragen der „capacité“ (capacité de jouissance und capacité d’exercise).416 Eine weitere Gemeinsamkeit (und, wenn man den Streit in die alten Kategorien von Fiktions- und Realitätstheorie einordnen will, ein weiterer Beleg für 414
Zu Details Kersting, Die Vorgesellschaft im europäischen Gesellschaftsrecht, 2000, S. 99 f.; aus rechtsvergleichender Perspektive kritisch zur französischen Regelung Ulmer, AcP 198 (1998), 113 (123) („große Unsicherheit und […] Mangel klarer Strukturen“, was sich „nicht zuletzt auf das Fehlen einer der Gesamthand entsprechenden Rechtsfigur im französischen Recht zurückführen läßt“). 415 Vgl. unten 2. Kap., B III 6, S. 187 ff. 416 Ausführlicher zu dieser Frage, die den Rahmen dieser Untersuchung, die sich hier auf „Rechtspersönlichkeit“ beschränken muss, sprengen würde, mit Bezug auch zu England Fabricius, Relativität der Rechtsfähigkeit, 1963, S. 43 (ff.) m.w.N.; Husserl, AcP 127 (1927), 129 (197 ff.).
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die Ablehnung der Fiktionstheorie) ist der Rückgang der ultra vires-Lehre, der zumindest als Tendenz in allen Staaten zu beobachten ist. Während die Fähigkeit der Gesellschaft, wirksam Rechtsakte vorzunehmen, die über den Unternehmensgegenstand hinausgehen, in Deutschland ohnehin nie eingeschränkt war, haben sich die Verhältnisse in Italien und England nun ebenfalls in diese Richtung hin verändert. Anlass dazu war neben dem Funktionswechsel der Lehre in England (nach dem Wegfall des Konzessionensystems) insbesondere auch europäischer Einfluss (Erste Richtlinie), der die Durchsetzung des (ursprünglich deutschen) Konzepts der unbeschränkten Organkompetenz befördert hat;417 mittlerweile kann die ultra vires-Lehre dort zumindest im hier interessierenden Zusammenhang als obsolet gelten.418 Etwas anders ist die Lage in Frankreich, wo zwar für Personengesellschaften nach wie vor an der Lehre der specialité legale festgehalten wird. Allerdings ist dort durch die Erste Richtlinie ebenfalls das vorher noch extremere Regime eingeschränkt worden. Unterschiede bestehen aber in der Frage, ob der juristischen Person auch strafrechtliche Verantwortlichkeit zukommt. 419 Während das Gesetz diese Frage in Frankreich bejaht und in Deutschland (zumindest für das Kernstrafrecht) verneint, beruht die englische Lösung auf dem case law, wohingegen Italien eine schwer zu verortende Mittellösung umgesetzt hat. Allerdings scheinen auch diese Unterschiede nicht auf im Kern verschiedene Auffassungen von „Rechtspersönlichkeit“ hinzudeuten (etwa, was die Handlungsfähigkeit einer juristischen Person angeht), sondern eher durch verfassungs- und strafrechtliche Besonderheiten der Länder bedingt (insbesondere im angloamerikanischen Strafrecht, das „nicht in erster Linie auf die sozialethische Vorwerfbarkeit des inkriminierten Handelns“ gründet, im Gegensatz zu Deutschland;420 vgl. in diesem Sinn auch Art. 27 Abs. 1 italienische Verfassung421). Auch das europäische Recht hat diese Systemunterschiede bisher nicht angetastet.422 Die Abweichungen zwischen den Ländern sind daher für die hier interessierende Frage nicht überzubewerten. 417
Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, Rn. 213 f. Vgl. die Darstellung unter 2. Kap., B I 2 b, B I 3 b, S. 139 f. und S. 147 ff., insbesondere die Reformen des Gesetzgebers 1985 und 2006 in England und 2004 in Italien, zudem die Entwicklung in der Vertrags- und Rechtsprechungspraxis in England bereits vor diesen Reformen. 419 Dies trotz der ursprünglich gemeinsamen theoretischen Grundlagen in der Realitätstheorie; hier lässt sich insbesondere auf die Arbeiten von Gierke und Beseler zur Theorie der realen Verbandskörperschaft verweisen, vgl. dazu oben 2. Kap., B I 1 a, S. 114 f., sowie Engelhart, NZWiSt 2015, 201 (202 m.w.N. in Fn. 21). 420 R. Scholz, ZRP 2000, 435 (435); ähnlich Engelhart, NZWiSt 2015, 201 (203). 421 Dazu schon oben 2. Kap., B I 2 a, S. 135. 422 Etwa fordert Art. 7 Richtlinie 2014/57/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über strafrechtliche Sanktionen bei Marktmanipulation (Marktmissbrauchsrichtlinie), ABl. L 173 vom 12.06.2014, S. 179–189, die (Möglichkeit der Verhängung von) „strafrechtliche Sanktionen“ gegen „juristische Personen“ (personnes morales, 418
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e) Ergebnis Nach dem Rechtsvergleich stellt sich die Rechtsfähigkeit als der gemeinsame Ausgangspunkt und gemeinsame Grund der Rechtspersönlichkeit in den verschiedenen Mitgliedstaaten dar. Abweichungen davon lassen sich häufig mit dem Umfeld der verschiedenen Rechtsordnungen erklären. Es erscheint daher naheliegend, dies auch als Ausgangspunkt einer Auslegung der europäischen Norm zu verwenden. „Ausgangspunkt“ bedeutet dabei nicht, dass die europäische Norm nicht einen davon abweichenden Gehalt haben könnte. Dieser müsste sich jedoch aus den im Folgenden anzuwendenden anderen Auslegungsmethoden ergeben. II. Historische Auslegung – Vorentwürfe der SE-VO Auch die Vorentwürfe zur SE-VO haben sich bereits mit der Frage der Rechtspersönlichkeit auseinandergesetzt. Dabei hat sich der Terminus nicht verändert: In allen Sprachfassungen (die freilich wegen der zu verschiedenen Zeitpunkten erfolgten Beitritte verschiedener Mitgliedstaaten unterschiedlich weit zurückreichen423) wird stets der Terminus gebraucht, der heute in Art. 1 Abs. 3, 16 Abs. SE-VO Verwendung findet. Auch der Wortlaut der Vorgänger von Art. 1 Abs. 3 SE-VO hat sich wenig verändert, die Vorschriften lauteten stets: „Die SE besitzt (eigene) Rechtspersönlichkeit“. Insofern können möglicherweise auch die Materialien zu den Vorentwürfen Hinweise auf das europäische Verständnis von „Rechtspersönlichkeit“ liefern. 1. Sanders-VOV (1966) Die deutsche und französische Sprachfassung gehen bis zum Sanders-VOV zurück. Dort bestimmte Art. I-1 Abs. 3: „Die SE besitzt eigene Rechtspersönlichkeit und genießt in allen Vertragsstaaten die gleichen Rechte und Befugnisse wie die Aktiengesellschaften nationalen Rechts.“
Im Kommentar dazu meinte Sanders lapidar, die „Bestimmung, dass die S.E. Rechtspersönlichkeit besitzt, bedeutet, daß sie Trägerin von Rechten und Pflichten sein kann“.424 Dies erschien so selbstverständlich, dass es nicht notwendig erschien, „dies hier ausdrücklich zu erwähnen. Der Begriff der Rechtspersönlichkeit schließt dies alles ein. Er bedeutet auch, daß die S.E. vor Gericht legal persons). Jedoch ist „strafrechtliche Sanktion“ als europäisches Konzept so dehnbar, dass auch eine deutsche Umsetzung durch Ordnungswidrigkeitenrecht als rechtmäßig angesehen wird, vgl. Zieschang, GA 161 (2014), 91 (97); Engelhart, NZWiSt 2015, 201 (203). 423 Eine englische Sprachfassung wurde bereits für den SE-VOV 1970 erstellt, offenbar unter dem Eindruck des sich abzeichnenden Beitritts des Vereinigten Königreichs und Irlands, der erst 1973 erfolgte. Im Übrigen finden sich Sprachfassungen der Entwürfe lediglich in den Amtssprachen nach dem jeweiligen Stand. 424 Sanders-VOV, S. 19.
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verklagt werden kann.“425 Für die Gleichsetzung von Rechtspersönlichkeit und Rechtsfähigkeit wurde auch auf ein damals geplantes Übereinkommen verwiesen, das zwar den Ausdruck „Rechtspersönlichkeit“ nicht enthielt, aber als maßgebliche Voraussetzung für die Anerkennung einer ausländischen Gesellschaft die Rechtsfähigkeit paraphrasierte als die „Fähigkeit […], Träger von Rechten und Pflichten zu sein“.426 Bei Sanders scheinen Zweifel daran, dass mit „Rechtspersönlichkeit“ die „Rechtsfähigkeit“ gemeint war, gar nicht aufkommen zu können. Andere Konnotationen schwangen damals nicht mit. Dies ist auch vor dem Hintergrund verständlich, dass damals auch in der deutschen Rechtssprache über „Rechtsfähigkeit“ hinausgehende Aussagen mit dem Terminus „Rechtspersönlichkeit“ wohl noch nicht gemeint waren. Der Sanders-VOV wurde veröffentlicht, bevor in Deutschland die Diskussion um die Rechtsfähigkeit der Gesamthand begonnen wurde und damit überhaupt ein Bedarf geschaffen wurde, „Rechtspersönlichkeit“ über weitere Kriterien zu definieren.427 Bei Sanders wird die Rechtsfähigkeit noch näher präzisiert. Insbesondere soll sie die Fähigkeit umfassen, „Verträge [zu] schließen und andere Rechtshandlungen vor[zu]nehmen“428 und vor Gericht verklagt zu werden.429 Dagegen sollten sich Eigenschaften wie der Zugang zum Aktienmarkt oder die Stellung gegenüber der Verwaltung nicht aus der Rechtspersönlichkeit ergeben, sondern daraus, dass in Art. I-1 Abs. 3 Sanders-VOV a.E. die SE die Rechtsstellung der „Aktiengesellschaften nationalen Rechts“ innehaben sollte (also gerade nicht die Stellung der Aktiengesellschaft des Sitzstaates, sondern eine sog. pluri-nationale Rechtsstellung430). Die Terminologie sollte also (auch im Deutschen) gerade und nur die hier näher präzisierte Rechtsfähigkeit (inklusive Prozess- und Handlungsfähigkeit) bezeichnen, nicht darüber hinausgehende sonstige Merkmale einer Gesellschaft.
425
Sanders-VOV, S. 20. So schließlich in Art. 1 Abs. 3 des Übereinkommens über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften und juristischen Personen, 1968. Sanders zitiert aus einem Vorentwurf des Übereinkommens, der letztlich nicht verabschiedet wurde. 427 Als Anfangspunkt der Diskussion um die sog. „Gruppenlehre“ lässt sich wohl der Aufsatz von Flume, ZHR 136 (1972), 177 nennen; zur Wirkungsgeschichte ausführlicher K. Schmidt, AcP 209 (2009), 181 (204) sowie oben 2. Kap., B I 1 c, S. 119 f. 428 Sanders-VOV, S. 19. 429 Sanders-VOV, S. 20. 430 Die Konzepte und Termini „pluri-national“ sowie „Rechtsstellung“ sind von Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 1 SE-VO Rn. 29 ff. übernommen. Vgl. dazu auch ausführlicher unten 2. Kap., B III 2, C I und II, S. 173 und S. 198 ff. 426
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
2. Spätere Entwürfe Die Vorschrift wurde in kaum veränderter Form in die frühen Entwürfe von 1970 und 1975 sowie in die von 1989 und 1991 übernommen (jeweils Art. 1 Abs. 4). Offenbar gingen auch diese späteren Fassungen noch von einem einheitlichen europäischen Verständnis von „Rechtspersönlichkeit“ aus, wie sich an der Entwicklung einer weiteren Vorschrift ablesen lässt, die die Vorgängerregelung zum heutigen Art. 16 Abs. 1 SE-VO darstellt. Im SE-VOV 1989 lautete Art. 16 noch: „Die SE hat Rechtspersönlichkeit ab dem Tag, den das an ihrem Sitz geltende nationale Recht bestimmt.“
Es ist zu betonen, dass es noch keine Preisgabe der europäischen Definitionshoheit über das Konzept der „Rechtspersönlichkeit“ bedeutet, wenn die Frage, zu welchem Zeitpunkt diese eintritt, den Mitgliedstaaten überlassen wird. Auf europäischer Ebene ist ein Konzept nötig, das angibt, worauf sich der Zeitpunkt bezieht, der sich nach dem Recht der Mitgliedstaaten richtet. Dafür spricht auch der Gedanke des Schutzes von Gläubigern und Aktionären aus anderen Ländern. Denn es ist nicht ersichtlich, weshalb Gläubiger anderer Staaten sich über den Zeitpunkt des Eintritts nicht der Rechtsfähigkeit, sondern der Rechtspersönlichkeit nach z.B. deutschem Verständnis Gedanken machen sollten, wenn sie dieses deutsche Konzept gar nicht kennen. Im Entwurf von 1989 vermisste dann offenbar auch der Gesetzgeber eine weitergehende inhaltliche Regelung auf europäischer Ebene. In der Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum SE-VOV 1989 heißt es zu Artikel 16:431 „2.13. Da über den Zeitpunkt der Entstehung der Rechtsfähigkeit einer Gesellschaft in den Mitgliedstaaten unterschiedliche Regeln bestehen, kann dies bei Gläubigern und Aktionären aus anderen Mitgliedstaaten als dem Sitzland der SE zu Unsicherheiten führen.“
Hier ist die Wortwahl bemerkenswert. Denn im Deutschen spricht der Wirtschafts- und Sozialausschuss explizit von „Rechtsfähigkeit“, was als Hinweis darauf gelesen werden kann, was eigentlich nach wie vor mit „Rechtspersönlichkeit“ gemeint war. Die meisten anderen Sprachfassungen der Stellungnahme (Englisch, Italienisch, Spanisch, Niederländisch, Portugiesisch) verwenden den Terminus des SE-VOV 1989. Lediglich im Französischen wird statt „personnalité juridique“ der Terminus „personnalité morale“ verwendet, also der Terminus, der in der Ersten Richtlinie verwendet wird (dort steht auch auf Deutsch „Rechtsfähigkeit“ statt „Rechtspersönlichkeit“, dazu nochmals unten 2. Kap., B III 6, S. 187).
431
Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses, ABl. Nr. C 124 vom 21.05.1990, S. 34 ff., S. 38.
B. Autonome Auslegung
171
Wenngleich Stellungnahmen des Wirtschafts- und Sozialausschusses nicht verbindlich sind und daher als für die historische Auslegung im Allgemeinen wenig aufschlussreich gelten,432 hat jedenfalls in diesem Fall der europäische Gesetzgeber die Anregung des Wirtschafts- und Sozialausschusses zunächst in Art. 16 SE-VOV 1991 aufgegriffen 433 („Die SE hat Rechtspersönlichkeit ab dem Tag ihrer Eintragung in das in Artikel 8 genannten [sic] Register.“) und schließlich auch in Art. 16 Abs. 1 SE-VO übernommen. 3. Ergebnis Auch die früheren Entwürfe – insbesondere der Sanders-VOV – deuten also darauf hin, dass „Rechtspersönlichkeit“ mit „Rechtsfähigkeit“ gleichzusetzen ist, wie auch schon die Rechtsvergleichung nahelegt. Auch die späteren Entwürfe und die endgültige SE-VO sind mit diesem Verständnis in Einklang zu bringen. III. Systematik 1. Systematik: Art. 1 Abs. 2 S. 2 SE-VO Art. 1 Abs. 2 S. 2 SE-VO bestimmt: „Jeder Aktionär haftet nur bis zur Höhe des von ihm gezeichneten Kapitals.“ Dies wird von der h.M. zutreffend als Haftungsbeschränkung gelesen, sodass (grundsätzlich) den Gläubigern nur die SE selbst haftet.434 Für die hier interessierende Frage der Rechtspersönlichkeit ergibt sich daraus, dass die Frage des „Haftungsschotts“ nicht schon der „Rechtspersönlichkeit“ zu entnehmen ist (wie dies auch der Rechtsvergleich nahegelegt hatte, dazu oben 2. Kap., B I 5 b, S. 163). Andererseits setzt eine Haftungsbeschränkung auf die SE deren Rechtsfähigkeit voraus (da sie sonst über keine Haftungsmasse verfügen könnte). Auch dies bestätigt das vorläufige Ergebnis des Rechtsvergleichs. 2. Systematik: Art. 10 SE-VO Anhaltspunkte für eine systematische Auslegung könnten sich ferner aus Art. 10 SE-VO ergeben. Die Norm lautet: 432
Lutter, JZ 1992, 593 (601); Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 (530); Brandt, Hauptversammlung, 2004, S. 16. 433 Vgl. die Begründung bei BT-Drs. 12/1004, S. 3, die explizit auf die Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses verweist. 434 Die in Deutschland h.M. nimmt an, dass eine Außenhaftung der Aktionäre auf spezielle Fälle des Durchgriffs beschränkt ist, vgl. Habersack, in: Habersack/Drinhausen, SERecht, 2016, Art. 1 SE-VO Rn. 6; Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 1 SE-VO Rn. 5 f.; Lutter, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 1 SE-VO Rn. 12; offen auch Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 1 SEVO Rn. 27.
172
2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
„Vorbehaltlich der Bestimmungen dieser Verordnung wird eine SE in jedem Mitgliedstaat wie eine Aktiengesellschaft behandelt, die nach dem Recht des Sitzstaats der SE gegründet wurde.“
Daraus lässt sich ein Grundsatz der Gleichbehandlung bzw. Nichtdiskriminierung ableiten.435 Art. 10 SE-VO könnte daher zu der Aussage verleiten, dass eine deutsche SE (jedenfalls von Deutschland436) hinsichtlich ihrer Rechtspersönlichkeit wie eine deutsche AG behandelt werden muss. Allerdings wird mit einem solchen Verständnis der Gehalt des Art. 10 SEVO überdehnt. Art. 10 SE-VO verlangt eine solche Gleichbehandlung lediglich in den Fällen, in denen die SE-VO keine Regelung trifft. Die Rechtspersönlichkeit der SE ist aber in Art. 1 Abs. 3 SE-VO gerade geregelt. Auch wenn dort eine Definition fehlt, wäre es verfehlt zu denken, damit sei nur ein Mindeststandard geregelt oder es werde teilweise auf Recht der Mitgliedstaaten verwiesen.437 Denn einerseits enthält Art. 1 Abs. 3 SE-VO seinem klaren Wortlaut nach gerade keine Verweisung. Als Teil der europäischen Norm ist „Rechtspersönlichkeit“ i.S.d. Art. 1 Abs. 3 SE-VO autonom auszulegen.438 Im Rahmen des so zu ermittelnden Konzepts verdrängt die autonome Regelung etwaig entgegenstehendes nationales Recht. Dies ergibt sich aus dem Konzept der Art. 9, 10 SE-VO,439 die jeweils der europäischen Regelung Vorrang einräumen – auch dort, wo das Konzept nicht durch eine Definition geklärt wird, sondern erst wie hier durch eine ausführlichere Auslegung gewonnen werden muss. Auf eine Definition kann es schon deswegen nicht ankommen,440 weil auch sie eine Auslegung mitnichten unnötig machen würde; es 435
Allgemeine Meinung, vgl. nur Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 10 Rn. 2 sowie Überschrift zu Art. 10; Hommelhoff/Teichmann, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SEKommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 10 SE-VO Rn. 1 f.; Schürnbrand, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 10 SE-VO Rn. 6 ff.; Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 10 SE-VO Rn. 2 f. 436 Zum genauen Umfang des Nichtdiskriminierungsgebots siehe unten bei Fn. 447 ff. 437 So aber ein Teil der Literatur in Deutschland; zu einem mutmaßlich durch Sprachverwirrung begünstigten Missverständnis als Grund dieser Interpretation vgl. m.w.N. ausführlicher unten 2. Kap., D, S. 204 f. 438 Zur autonomen Auslegungsbedürftigkeit aller Termini in der SE-VO siehe bereits oben 1. Kap., D III, S. 86 ff. 439 Auf das ungeklärte, aber für Fragen der praktischen Anwendung nicht relevante Verhältnis von Art. 9 und 10 SE-VO zueinander muss hier nicht eingegangen werden; vgl. zu dieser Frage Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, 2006, S. 297; Schäfer, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 10 SE-VO Rn. 1 ff.; J. Wagner, NZG 2002, 985 (990); zuletzt übersichtlich m.w.N. Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 10 SE-VO Rn. 1. 440 Dies wird hier deshalb hervorgehoben, weil sich der Eindruck aufdrängt, dass insbesondere bei dem Fehlen einer Definition ein Rückgriff auf nationales Recht besonders verlockend erscheint; vgl. auch zum Fehlen einer Definition als einem die Sprachverwirrung begünstigenden Faktor oben 1. Kap., C III 2, S. 69 f.
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würden sich Fragen der Auslegung der Merkmale der Definition stellen, ob es Ausnahmen gibt, ob die Definition abschließend ist etc. Nähme man dagegen an, dass „Rechtspersönlichkeit“ (auch) über nationales Recht zu definieren wäre, wäre nämlich fraglich, welchen Sinn Art. 1 Abs. 3 SE-VO überhaupt noch hätte. Um nicht das oben Gesagte441 in vollem Umfang zu wiederholen, sei nur nochmal darauf hingewiesen, dass sich die Norm dann entweder darin erschöpfen würde, den Mitgliedstaaten bei ansonsten freier Ausgestaltung der Rechtslage lediglich den Gebrauch eines Terminus ohne inhaltliche Vorgaben vorzuschreiben (also eine sinnentleerte Norm wäre: Die Norm würde dann bedeuten „Die Mitgliedstaaten müssen eine Eigenschaft der SE mit ‚Rechtspersönlichkeit‘ bezeichnen“), oder aber doch inhaltliche Vorgaben machen müsste, wofür dann ein autonomes Konzept im Sinn eines universalen Rechtskonzeptes gerade nötig wäre, ein Mindeststandard also nicht ausreichen würde.442 Es wäre auch nicht verständlich, worin sich „Rechtspersönlichkeit“ von anderen Termini der SE-VO unterscheiden sollte, weshalb also nicht alle Konzepte der SE-VO lediglich Verweisungen oder einen Mindeststandard darstellen sollten.443 Weitergedacht würde eine solche Interpretation, „Rechtspersönlichkeit“ nur als Mindeststandard zu sehen, daher zu einer Aushöhlung so gut wie aller Normen der SE-VO führen (dazu auch ausführlicher unten 2. Kap., C II, S. 198 ff.). Während die „Rechtspersönlichkeit“ also autonom zu bestimmen ist, kann die rechtliche Situation im Übrigen, sofern die SE-VO dazu keine Regelung enthält, nach nationalem Recht i.V.m. Art. 10 SE-VO bestimmt werden.444 Es bietet sich insofern an, zwischen „Rechtspersönlichkeit“ (die von Art. 1 Abs. 3 SE-VO abschließend bestimmt wird) und der „Rechtsstellung“ der SE (die
441
Zum „universalen Rechtskonzept“ s. oben 1. Kap., D IV, S. 94 ff. In Abgrenzung zum Mindeststandard lässt sich formulieren, dass der Mindeststandard einen Ausgangspunkt nennt, der vom Konzept miteinbezogen werden muss, während das universale Rechtskonzept einen Bereich beschreibt, dem das Konzept zu entnehmen sein muss. 443 Der Rechtfertigungsgrund, den etwa Lutter, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SEKommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 1 SE-VO Rn. 12 dafür angibt, beruht denn auch auf einem Missverständnis. Darauf deutet bereits der Verweis auf Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 1 SE-VO Rn. 34 ff. (bei Lutter in Fn. 60). Schwarz bezieht sich gerade nicht auf die Rechtspersönlichkeit, sondern auf die übrige Rechtsstellung, vgl. dazu noch ausführlicher unten 2. Kap., C, D, S. 198 ff. Außerdem finden sich die bei Lutter nur erwähnten, nicht aufgeführten Beispiele (möglicherweise zitiert nach Schwarz, dort im Text Rn. 36 und Fn. 36) im Sanders-VOV ebenfalls nicht im vorgeschlagenen Gesetzestext des SandersVOV, sondern lediglich in der Begründung und sie betreffen gerade nicht die „Rechtspersönlichkeit“, sondern die (schon bei Sanders davon getrennte) Rechtsstellung (Sanders-VOV, S. 20). 444 Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 1 SE-VO Rn. 28 ff., deutlich z.B. Rn. 34. 442
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
auch durch nationales Recht geregelt werden kann) zu unterscheiden. 445 „Rechtsstellung“ umfasst als Kern die „Rechtspersönlichkeit“, darüber hinaus aber noch weitere Eigenschaften. Es kann nicht eindringlich genug darauf hingewiesen werden,446 dass beide Termini europäische Konzepte bezeichnen. Verwirrend könnte ansonsten insbesondere sein, dass „Rechtsstellung“ der SE (also ein europäisches Konzept) weitgehend dem entspricht, was in der deutschen Rechtssprache mit „Rechtspersönlichkeit“ bezeichnet wird (nämlich über die reine Rechtsfähigkeit hinausgehende Eigenschaften einer Personenvereinigung). Die Abgrenzung zwischen beiden Konzepten kann im Einzelfall schwierig sein; theoretisch ist sie klar dadurch vorgegeben, dass, soweit „Rechtspersönlichkeit“ i.S.d. Art. 1 Abs. 3 SE-VO reicht, nationales Recht verdrängt ist; das Unionsrecht bestimmt insofern seinen Anwendungsbereich selbst. Was die Reichweite des Nichtdiskriminierungsgebots des Art. 10 SE-VO angeht, ist umstritten, ob die SE wie eine AG des Sitzstaates behandelt werden muss447 oder ob jeder Mitgliedstaat sie wie eine Aktiengesellschaft nach seinem eigenen Recht behandeln muss,448 ob also eine SE mit Sitz in Deutschland von Frankreich wie eine deutsche AG oder wie eine französische SA behandelt werden soll. Der relativ klare Wortlaut, der besagt, dass die SE „in jedem Mitgliedstaat“ – im Beispiel also auch Frankreich – wie eine Aktiengesellschaft nach dem Recht des Sitzstaates – hier Deutschland, also eine deutsche AG – behandelt werden muss, weist bereits darauf hin, dass die Rechtsstellung der SE in Europa einheitlich nach dem Recht des einen Sitzstaates bestimmt werden soll. Auch für einen eigenständigen Gehalt gegenüber Art. 9 SE-VO erscheint dies nicht nötig; dieser kommt Art. 10 SE-VO schon deswegen zu, weil dieser über
445 Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 1 SE-VO Rn. 28 ff. verwendet diese Terminologie konsequent, hätte m.E. aber deutlicher auf die beiden unterschiedlichen Konzepte hinweisen können. Zu hieraus entstehenden Missverständnissen siehe noch unten 2. Kap., C und D, S. 198 ff. 446 Zur Sprachverwirrung, zu der diese Ähnlichkeit beiträgt, sogleich noch unten 2. Kap., D, S. 204 f. 447 So die wohl h.M., Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 10 SE-VO Rn. 1; Schürnbrand, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 10 SE-VO Rn. 2; Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 10 SE-VO Rn. 2; Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, 2006, S. 297; Hommelhoff/Teichmann, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 10 SE-VO Rn. 6. 448 Schäfer, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 10 SE-VO Rn. 4 (um Art. 10 einen gegenüber Art. 9 eigenständigen Gehalt zu geben); ebenso wohl Schröder, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SE-Kommentar, 2010, Art. 10 SE-VO Rn. 3; A. Schulz/Geismar, DStR 2001, 1078 (1080); i.E. ebenso, aber über eine analoge Anwendung des Art. 10 SE-VO, um die „praktische Wirksamkeit des Diskriminierungsgebots zu gewährleisten“ Veil, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 10 SE-VO Rn. 10.
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den Sitzstaat hinaus auch die anderen Mitgliedstaaten adressiert.449 Dies stützt auch die Gegenüberstellung mit den früheren Versionen, die eine solche „plurinationale“ Rechtsstellung der SE (wie von der Gegenmeinung angestrebt) noch ausdrücklich normierten.450 Abermals erscheint ein Rückgriff auf die Terminologie von Schwarz hilfreich, der diese nach nur einem Mitgliedstaat (im Beispiel Deutschland) sich richtende Rechtsstellung als „mononational“ bezeichnet.451 Diese mononationale Rechtsstellung der SE bedingt aber keinen Verzicht auf die Regelung etwa der „Rechtspersönlichkeit“ im europäischen Sinn. Die Rechtsstellung wird vom nationalen Recht nur unter dem „Vorbehalt der Bestimmungen dieser Verordnung“ geregelt. Art. 1 Abs. 3 SE-VO stellt aber gerade eine solche Bestimmung dar. Es wäre nach alledem verfehlt, aus Art. 10 SE-VO systematische Schlüsse auf einen „Mindestinhalt“ von „Rechtspersönlichkeit“ (im europäischen Sinn) zu ziehen.452 Allenfalls kann sich aus dem Umstand, dass die Rechtsstellung außerhalb der Rechtspersönlichkeit von den potenziell divergierenden Rechten der Mitgliedstaaten geregelt werden kann, ergeben, wie weit der Umfang der „Rechtspersönlichkeit“ reichen muss.453
449
Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, 2006, S. 297; Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 10 SE-VO Rn. 2. 450 Dort ist stets die Rede von „den Aktiengesellschaften nationalen Rechts“ oder „einer Aktiengesellschaft nationalen Rechts“, nicht „nach dem Recht des Sitzstaates“. Dies wurde erst 1998 geändert, nach einer offenbar bewussten Entscheidung des Gesetzgebers für eine europaweit nach einem Recht bestimmte Rechtsstellung der SE, so schon Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 1 SE-VO Rn. 29. Die Vorentwürfe lauten im Wortlaut: Art. I-1 Abs. 3 Sanders-VOV: „Sie [die SE] besitzt eigene Rechtspersönlichkeit und genießt in allen Vertragsstaaten die gleichen Rechte und Befugnisse wie die Aktiengesellschaften nationalen Rechts.“ Art. 1 Abs. 4 SE-VOV 1970 (unverändert in den SE-VOV 1975 übernommen): „Die S.E. besitzt eigene Rechtspersönlichkeit. Vorbehaltlich der Vorschriften dieses Statuts hat sie in allen Mitgliedstaaten in jeder Hinsicht die gleichen Rechte und Befugnisse wie eine Aktiengesellschaft nationalen Rechts.“ Art. 7 Abs. 4 SE-VOV 1989 (unverändert in den SE-VOV 1991 übernommen): „Hinsichtlich ihrer Rechte, Befugnisse und Verpflichtungen wird die SE in jedem Mitgliedstaat und vorbehaltlich der besonderen Bestimmungen dieser Verordnung wie eine Aktiengesellschaft nationalen Rechts behandelt.“ 451 Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 1 SE-VO Rn. 37. 452 Ausführlicher zur Auseinandersetzung mit dieser These noch unten 2. Kap., C II, S. 201. 453 Vgl. zu diesem Gedanken näher bei der teleologischen Auslegung, unten 2. Kap., B IV, S. 192 ff.
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
3. Systematik: Primärrecht (Art. 47 EUV) Auch im Primärrecht wird der Terminus „Rechtspersönlichkeit“ verwendet. Art. 47 EUV lautet: „Die Union besitzt Rechtspersönlichkeit.“ Die Vorschrift entspricht dem früheren Art. 281 EGV, der damals der EG „Rechtspersönlichkeit“ verlieh (die EU hatte bis zu den Änderungen durch den Vertrag von Lissabon nach dem Vertragswortlaut nicht ausdrücklich „Rechtspersönlichkeit“454). Der verwendete Terminus ist in beiden Verträgen und allen Sprachfassungen identisch mit dem der SE-VO. Art. 47 EUV muss dabei in Zusammenhang gelesen werden mit Art. 335 AEUV, der die Rechtsstellung gegenüber den Mitgliedstaaten festlegt (früher Art. 282 EGV): „Die Union besitzt in jedem Mitgliedstaat die weitestgehende Rechts- und Geschäftsfähigkeit, die juristischen Personen nach dessen Rechtsvorschriften zuerkannt ist […]“. Demnach legt Art. 47 EUV im Gegensatz dazu die Rechtsstellung der EU nach außen hin, also die Völkerrechtspersönlichkeit der EU fest.455 Darunter wird in der einschlägigen Literatur einhellig „Fähigkeit, im völkerrechtlichen Rechtsverkehr Trägerin von Rechten und Pflichten zu sein“, also mit anderen (Völker-)Rechtssubjekten z.B. vertragliche Beziehungen einzugehen; auch ist die EU (aktiv und passiv) deliktsfähig. 456 Mit „Rechtspersönlichkeit“ ist also auch hier die „(Völker-)Rechtsfähigkeit“ gemeint.457 Verwirrung könnte auf den ersten Blick die Terminologie stiften. Denn in Art. 335 AEUV wird „Rechts- (und Geschäfts-)fähigkeit“ auf Deutsch und auch in den anderen Sprachfassungen mit einem von „Rechtspersönlichkeit“ gerade verschiedenen Terminus458 wiedergegeben. Dies spricht aber nicht
454 Zum jetzt obsolet gewordenen Streit über die Völkerrechtsfähigkeit der EU vor dem Vertrag von Lissabon vgl. m.w.N. Dörr, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 2015, Art. 47 EUV Rn. 3. 455 So auch implizit EuGH, Rs. 22/70, Urt. vom 31.03.1971, Slg. 1971, 263, Rz. 13/14; EuGH, Rs. 3,4,6/76, Urt. vom 14.07.1976, Slg. 1976, 1279, Rn. 17/18; EuGH, Rs. C-327/91, Urt. vom 09.08.1994, Slg. I-1994, 3641, Rz. 24; Dörr, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 2015, Art. 47 EUV Rn. 4; Meng, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 2015, Art. 47 EUV Rn. 2; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV, 2016, Art. 47 EUV Rn. 4. 456 Dörr, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 2015, Art. 47 EUV Rn. 4; Meng, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 2015, Art. 47 EUV Rn. 10 ff.; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV, 2016, Art. 47 EUV Rn. 9 ff.; Geiger, in: Geiger/Khan/Kotzur, European Union treaties, 2015, Art. 47 EUV Rn. 1. 457 Dörr, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 2015, Art. 47 EUV Rn. 4; Meng, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 2015, Art. 47 EUV Rn. 5. 458 Englisch „legal capacity“ statt „legal personality“, Französisch „capacité juridique“ statt „personnalité juridique“, Italienisch „capacità giuridica“ statt „personalità giuri-
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dagegen, „Rechtspersönlichkeit“ als Rechtsfähigkeit zu verstehen. Zum einen ist „Rechtspersönlichkeit“ ein aus dem Völkerrecht bekannter Terminus; 459 eine Definition durch eine vergleichbare Formel wie in Art. 335 AEUV (d.h. durch Verweis auf die Rechte der juristischen Personen in den Mitgliedstaaten) wäre bei Art. 47 AEUV zudem nicht möglich gewesen. Zum anderen wird bei der Europäischen Zentralbank und der Europäischen Investitionsbank gerade die „Rechtspersönlichkeit“ durch dieselbe Formel näher konkretisiert (dazu noch im Folgenden), was als Beleg dafür gelesen werden kann, dass „Rechtspersönlichkeit“ auch in den Verträgen „Rechtsfähigkeit“ meint. Eine funktionelle Beschränkung erfährt die Zuständigkeit der EU durch die Verfassungsprinzipien der begrenzten Einzelermächtigung, der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 2 bis 4 EUV). 460 Auch in Erklärung 24 zum EUV hat die Konferenz der Mitgliedstaaten ausgesprochen, „dass der Umstand, dass die Europäische Union Rechtspersönlichkeit hat, die Union keinesfalls ermächtigt, über die ihr von den Mitgliedstaaten in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten hinaus gesetzgeberisch tätig zu sein oder über diese Zuständigkeiten hinaus zu handeln.“ Überschreitet die EU diese Kompetenzen, wird angenommen, dass dieses Handeln nach außen (außer bei Offenkundigkeit) gültig ist, aber die Mitgliedstaaten nicht nach Art. 216 Abs. 2 AEUV bindet.461 Neben der EU wird auch die Rechtspersönlichkeit einiger anderer Institutionen der EU erwähnt, etwa der Europäischen Zentralbank (Art. 282 Abs. 3 AEUV) oder der Europäischen Investitionsbank (Art. 308 Abs. 1 AEUV). Dabei wird nicht näher spezifiziert, ob damit ein Tätigwerden nach Völker- oder nach nationalem Recht gemeint ist; beides ist denkbar, wenngleich der Schwerpunkt auf nationalem Recht liegen dürfte. 462 Was die „Rechtspersönlichkeit“ nach nationalem Recht angeht, wird in Art. 9.1 ESZB-Satzung und in
dica“, Spanisch „capacidad jurídica“ statt personalidad jurídica, Schwedisch „rättskapacitet“ statt „juridisk person“, Niederländisch „handelingsbevoegdheid“ statt „rechtspersoonlijkheid“, Polnisch „zdolność prawna“ statt „osobowość prawna“, Portugiesisch „capacidade jurídica“ statt „personalidade jurídica“. 459 Zumindest auf Englisch, Französisch und Italienisch scheint der jeweilige Terminus gebräuchlicher zu sein; im Deutschen ist meist von „Völkerrechtsfähigkeit“ oder „Völkerrechtssubjektivität“ die Rede; vgl. nur Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht I/1, 1989, S. 21 f.; Akande, in: Evans, International Law, 2014, S. 251 ff. 460 Meng, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 2015, Art. 47 EUV Rn. 6 f.; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV, 2016, Art. 47 EUV Rn. 7; Terhechte, in: Schwarze, EU-Kommentar, 2012, Art. 47 EUV Rn. 7; Geiger, in: Geiger/Khan/Kotzur, European Union treaties, 2015, Art. 47 EUV Rn. 4. 461 Meng, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 2015, Art. 47 EUV Rn. 7 f. 462 Meng, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 2015, Art. 47 EUV Rn. 19.
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
Art. 26 Abs. 1 EIB-Satzung klargestellt, dass damit wieder die „weitestgehende Rechts- und Geschäftsfähigkeit“ gemeint ist.463 Hier wird also „Rechtspersönlichkeit“ gerade mit „Rechtsfähigkeit“ gleichgesetzt. Im Ergebnis ist gerade wegen der eigenständigen Dogmatik des Völkerrechts, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann,464 Vorsicht angebracht gegenüber einer unhinterfragten Übernahme von Ergebnissen der Auslegung von EUV und AEUV. Allerdings ist auch die Terminologie der Verträge geeignet, die Terminologie des Gesellschaftsrechts zu beeinflussen. 465 Bei aller Vorsicht spricht das Vertragsrecht zumindest nicht dagegen, sondern lässt sich eher als Hinweis darauf lesen, dass „Rechtspersönlichkeit“ (im europäischen Sinn) abweichend vom deutschen Verständnis eher als Rechtsfähigkeit zu verstehen ist. 4. Systematik: Übereinkommen über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften und juristischen Personen (Entwurf 1968) Auch in einem Entwurf zu einem Übereinkommen zwischen den Staaten des damaligen EWG von 1968466 hatte man sich mit der Frage der Rechtspersönlichkeit auseinandersetzen müssen. Wenngleich es sich beim Abkommen nicht um Recht der EWG im engeren Sinn, sondern um ein völkerrechtliches Abkommen handeln sollte, ist dieses doch wegen der großen zeitlichen Nähe zum Sanders-VOV sowie zu den nachfolgenden frühen Entwürfen der SE-VO interessant. Ziel des Abkommens war ursprünglich die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften und juristischen Personen; diese wurde allerdings nicht verwirklicht, weil die Niederlande das Übereinkommen aus Sorge um ihr liberales
463
Häde, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV, 2016, Art. 282 AEUV Rn. 34; Binder, in: Schwarze, EU-Kommentar, 2012, Art. 308 AEUV Rn. 4. 464 Ausführlicher zur Problematik der Rechtsfähigkeit internationaler Organisationen als Ausfluss des Grundsatzes pacta tertiis nec prosunt nec nocent Meng, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 2015, Art. 47 EUV Rn. 3 f. vgl. auch Thürer/Marro, in: H.-J. Blanke/Mangiameli, The Treaty on European Union (TEU), 2013, Art. 47 EUV Rn. 3 („With respect to the international legal personality of international organisations, traditional doctrine tends to mix their international legal personality and their capacity to act“), Rn. 8–12; Akande, in: Evans, International Law, 2014, S. 254 f.; Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht I/2, 2002, S. 193 ff. 465 Eine entsprechende „Begriffsverwirrung“ u.a. in der europarechtlichen Literatur (mit Nachweisen bei Oppermann), wo man „über die ‚Rechtspersönlichkeit‘ der Europäischen Union [schreibt], wenn man deren Rechtsfähigkeit meint“, mit Folgen auch für die gesellschaftsrechtliche Terminologie beklagt auch Lehmann, AcP 207 (2007), 225 (242). 466 Übereinkommen über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften und juristischen Personen, unterzeichnet am 29. Februar 1968, Sonderbeilage zum Bulletin Nr. 2-1969 der Europäischen Gemeinschaften, BGBl. II, S. 369 ff. vom 25.05.1972; siehe dazu bereits oben 2. Kap., A, S. 107.
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Gesellschaftsrecht zunächst nicht ratifizierten;467 später wurden die Verhandlungen durch sich abzeichnende Beitritte (insbesondere Spaniens und Portugals) verkompliziert und daher abgebrochen.468 Grundmodell war auch hier die „Fähigkeit, Träger von Rechten und Pflichten zu sein“. Dies war notwendige Voraussetzung für die Anerkennung einer Gesellschaft in einem anderen Staat (Art. 1) und Teil des Mindestmaßes, das Gesellschaften in anderen Staaten zuzubilligen war (Art. 7 Abs. 1 S. 2). Das Mindestmaß umfasste ferner die Fähigkeit, Verträge abzuschließen, andere Rechtshandlungen vorzunehmen und vor Gericht zu stehen. Auf dieses Mindestmaß bezog sich auch Sanders, der in der Begründung zu Art. I-1 Abs. 3 diese Elemente als offenbar selbstverständliche Bestandteile von „Rechtspersönlichkeit“ nennt.469 Eine über diesen Mindeststandard hinausgehende Rechtsstellung (als „Rechts-, Geschäfts- und Handlungfähigkeit“ umschrieben, französisch „capacité“, italienisch „capacità“, Art. 6 470 ) hatten Gesellschaften nach dem Übereinkommen, wenn ihr Herkunftsstaat sie ihnen zuschrieb (Art. 6) und der Aufnahmestaat dies nicht beschränkte, wobei solche Beschränkungen ausländische Gesellschaften nicht diskriminieren durften (Art. 7 Abs. 1 S. 1).471 „Rechtspersönlichkeit“ verwendet das Übereinkommen aber anders als Sanders und nur in einer eher speziellen Regel. Anerkannten Gesellschaften durften Rechte nicht deswegen verwehrt werden, weil eine Gesellschaft nach dem Recht, „nach dem sie gegründet worden ist, keine Rechtspersönlichkeit hat“ (Art. 8). „Rechtspersönlichkeit“ wurde nicht näher definiert, bezog sich aber auf Konzepte der Mitgliedstaaten (Recht der Gründung).472 Insbesondere waren mit Gesellschaften mit Rechtsfähigkeit i.S.d. Art. 1, jedoch ohne „Rechtspersönlichkeit“ die OHG, aber auch die società semplice sowie eine niederländische Rechtsform gemeint, wie einem Begleitbericht des Übereinkommens zu entnehmen ist.473
467 Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, Rn. 188; Panthen, Sitzbegriff, 1988, S. 5 f.; zur niederländischen Position ausführlicher Timmermans, RabelsZ 48 (1984), 1 (37 ff.). 468 Timmermans, RabelsZ 48 (1984), 1 (39 f.); Panthen, Sitzbegriff, 1988, S. 6. 469 „Die S.E. kann Verträge schließen und andere Rechtshandlungen vornehmen“, „bedeutet auch, daß die S.E. vor Gericht verklagt werden kann“, Sanders-VOV S. 19 f. 470 Die fremdsprachigen Fassungen sind zitiert nach Drobnig, AG 1973, 90 (126). 471 Die betroffenen Gesellschaften durften sich auf diese Regel aber nicht berufen, Art. 7 Abs. 2, vgl. zu weiteren Schranken auch Drobnig, ZHR 129 (1967), 93 (98). 472 Es ist wohl von einem universalen Rechtskonzept auszugehen, auch wenn die Voraussetzung dafür – eine einheitliche Auslegung des Übereinkommens – durch die fehlende Zuständigkeit eines einzelnen Gerichts wohl unterlaufen worden wäre; vgl. zum ebenfalls noch nicht in Kraft getretenen Protokoll zur Auslegung durch den EuGH vom 03.06.1971 Beitzke, AWD 1968, 91 (96). 473 Vgl. Goldman, CMLR 6 (1968/1969), 104 (116 f.); Drobnig, ZHR 129 (1967), 93 (97); Drobnig, AG 1973, 90 (93) erwähnt daneben auch die KG. Beitzke, AWD 1968, 91
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
Terminologisch stützt das Übereinkommen die hier durch den Rechtsvergleich nahegelegte Interpretation nicht, allerdings stimmt inhaltlich überein, dass die Rechtsfähigkeit den Grundkonsens in Europa darstellt. Jedoch warf die konkrete Umsetzung dieses Mindeststandards Fragen auf, die – da das Abkommen nie Rechtswirklichkeit wurde – letztlich ungeklärt blieben. Insbesondere war unklar, inwieweit das Abkommen von der dogmatischen Grundauffassung getragen war, dass mit der „Anerkennung“ einer Gesellschaft ein Teil des Personalstatuts (insbesondere die Rechtsfähigkeit, in der konkreten Form des Abkommens aber wohl auch die Handlungs- und Geschäftsfähigkeit) vom Kollisionsrecht getrennt beurteilt wird, 474 ob also das Abkommen das gesamte Personalstatut einer Gesellschaft regeln wollte475 oder nur einen Teil.476 Für die Frage der Rechtspersönlichkeit verbleibt nach alledem wenig mehr als die bereits erwähnte Vorbildwirkung für den Sanders-VOV.477 Insbesondere wurde der genaue Bereich des Mindeststandards, an dem sich Sanders offenbar orientierte, nicht näher geklärt. Ebenso wenig wurde geklärt, ob unter die in Art. 6 erwähnte „Handlungsfähigkeit“ auch die Fähigkeit zur Vornahme von anderen Handlungen als Rechtshandlungen zählt (wozu Drobnig etwa die Fähigkeit, Vorstand zu sein, rechnet); dafür würde der systematische Vergleich mit Art. 7 Abs. 1 S. 2 des Übereinkommens sprechen, der Rechtshandlungen zum Mindeststandard zählt, dagegen Komplikationen im Gefüge der Rechtsordnungen.478 Für die systematische Auslegung ist das Abkommen damit wenig ergiebig. 5. Systematik: andere Gesellschaftsformen Bei den übrigen Gesellschaftsformen kann einerseits die EWIV-VO (1985) als Vergleich herangezogen werden, zum anderen die 1992 veröffentlichten Entwürfe für sonstige Rechtsformen. Alle Rechtsakte verwenden den Terminus „Rechtspersönlichkeit“ und stimmen in allen Sprachfassungen mit der SE-VO überein, sind jedoch unterschiedlich aufschlussreich für die Auslegung der SEVO.
(93) stellt fest, dass Art. 1 also nicht „eng im Sinne einer echten Rechtsfähigkeit aufzufassen“ sei. 474 Dazu kritisch Drobnig, ZHR 129 (1967), 93 (104 ff.); ähnlich Behrens, ZGR 1978, 499 (506); das (maßgeblich von ihm formulierte) Übereinkommen gegen diese Kritik verteidigend Goldman, CMLR 6 (1968/1969), 104 (106 ff.). 475 In Deutschland insbesondere Beitzke, AWD 1968, 91 (95). 476 Siehe für weitere Nachweise Drobnig, AG 1973, 90 (127 f.). Siehe zur Frage der Anerkennung auch schon oben 2. Kap., A, S. 108 f. 477 Vgl. zum Sanders-VOV oben 2. Kap., B II 1, S. 168 f. 478 Ablehnend daher auch Drobnig, AG 1973, 90 (126).
B. Autonome Auslegung
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a) EWIV-VO Wenig passend erscheint die Verwendung von „Rechtspersönlichkeit“ bei der EWIV. Die Absätze 2 und 3 von Art. 1 EWIV-VO lauten: „(2) Die so gegründete Vereinigung hat von der Eintragung nach Artikel 6 an die Fähigkeit, im eigenen Namen Träger von Rechten und Pflichten jeder Art zu sein, Verträge zu schließen oder andere Rechtshandlungen vorzunehmen und vor Gericht zu stehen. (3) Die Mitgliedstaaten bestimmen, ob die in ihren Registern gemäß Artikel 6 eingetragenen Vereinigungen Rechtspersönlichkeit haben.“
Die in Art. 1 Abs. 2 EWIV-VO umrissene Fähigkeit entspricht der Rechtsfähigkeit. Diese soll der EWIV in jedem Fall zukommen. 479 In Art. 1 Abs. 3 EWIV-VO wird dann aber „Rechtspersönlichkeit“ den Mitgliedstaaten überlassen. Für „Rechtspersönlichkeit“ wird dabei in allen hier untersuchten Sprachfassungen der gleiche Terminus verwendet wie in der SE-VO in Art. 1 Abs. 3, Art. 16 Abs. 1. Ganz offensichtlich scheint aber mit „Rechtspersönlichkeit“ dabei etwas anderes gemeint zu sein als „Rechtsfähigkeit“, die ja schon in Abs. 2 zugesprochen wird. Was das genau ist, scheint die EWIV-VO im Detail den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen zu wollen, jedenfalls ist aber wohl ein universales Rechtskonzept auf europäischer Ebene vorhanden, das die Frage umreißt, die den Mitgliedstaaten überantwortet wird. Die Regelung erscheint als solche nicht vereinbar mit dem Verständnis von „Rechtspersönlichkeit“, wie es sich für die SE-VO aus dem Rechtsvergleich und der Gesetzgebungsgeschichte ergibt. Auch in der Literatur wird die Regelung als befremdlich empfunden.480 Es ist unklar, ob ihr überhaupt praktische Relevanz zukommt oder ob es sich nicht lediglich um eine Frage der dogmatischen Einordnung handelt.481 Hintergrund der Regelung war, dass sich bei den Verhandlungen zum Anerkennungsübereinkommen 1968 erwiesen hatte, dass ein einheitliches Verständnis von „Rechtspersönlichkeit“ nicht erreichbar war.482 Ursprünglich war daher eine bereits dem Art. 1 Abs. 2 EWIV-VO entsprechende, den Terminus „Rechtspersönlichkeit“ wegen der Divergenzen bewusst vermeidende Lösung favorisiert worden, die inhaltlich an die Definition von „Rechtsfähigkeit“ im 479 M.E. unpräzise daher Manz, in: Selbherr/Manz, EWIV-Kommentar, 1995, Einl. EWIV-VO Rn. 23: „Daß die EWIV in den Mitgliedstaaten in bezug auf ihre Rechtsfähigkeit unterschiedlich behandelt werden kann …“ 480 Gleichmann, ZHR 149 (1985), 633 (641); K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2003, § 66 II 3 (S. 1908); Müller-Gugenberger, in: Müller-Gugenberger/Schotthöfer, Die EWIV in Europa, 1995, Rn. EU 60. 481 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2003, § 66 II 3 (S. 1908); ähnlich Gleichmann, ZHR 149 (1985), 633 (641 f.): „Da [die Frage] aber in der Sache keine Bedeutung hat, wäre eine Verzögerung der Verabschiedung der Verordnung durch eine weitere Diskussion nicht gerechtfertigt gewesen.“ 482 Manz, in: Selbherr/Manz, EWIV-Kommentar, 1995, Einl. EWIV-VO Rn. 21.
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
Sinn des Anerkennungsübereinkommens anknüpfte.483 Dieses Bestreben, das auch in Art. 1 Abs. 2 EWIV-VO Niederschlag gefunden hat, wird freilich durch Art. 1 Abs. 3 EWIV-VO konterkariert. Tatsächlich scheint die Regelung des Art. 1 Abs. 3 EWIV-VO vor allem aus Rücksicht auf (u.a.) deutsche Besonderheiten getroffen worden zu sein.484 Sofern dabei steuerrechtliche Gründe angeführt werden (also dass die Regelung Deutschland ermöglichen sollte, die EWIV wie eine OHG zu behandeln),485 verbleibt die Argumentation an der Oberfläche. Schließlich wird das Ergebnis der Tätigkeit der EWIV gem. Art. 40 EWIV-VO „nur bei ihren Mitgliedern besteuert“.486 Die eigentlichen Gründe sind wohl dogmatischer Natur,487 da sie Deutschland (scheinbar) ermöglichten, der EWIV Rechtsfähigkeit zuzuerkennen, ohne ihr Rechtspersönlichkeit (deutschen Verständnisses, inklusive der mit Art. 40 EWIV-VO nicht vereinbaren Folgen für die Körperschaftssteuer) zubilligen zu müssen. Aus Sicht dieser Arbeit handelt es sich dabei freilich um ein Missverständnis.488 Die Zubilligung von „Rechtspersönlichkeit“ im Sinn von Rechtsfähigkeit durch die EWIV-VO hätte das dogmatische Gefüge in Deutschland nicht verändert, da es sich bei „Rechtspersönlichkeit“ in der EWIV-VO immer um ein europäisches Konzept gehandelt hätte. Über eine „Rechtspersönlichkeit“ nach deutschem Verständnis wäre damit noch nichts ausgesagt gewesen. Selbst wenn auch nach deutschem Recht eine „Rechtspersönlichkeit“ anzunehmen gewesen wäre (etwa nach einer Subsumtion unter die weiteren, über „Rechtsfähigkeit“ hinausgehenden Kriterien einer Gesellschaft 489), hätte die
483 Vgl. Vorschlag einer Verordnung (EWG) des Rates über die Europäische Kooperationsvereinigung (EKV), Von der Kommission dem Rat vorgelegt am 21. Dezember 1973, ABl. Nr. C 14/30 vom 15.02.1974, mit Begründung abgedruckt bei Müller-Gugenberger/Schotthöfer, Die EWIV in Europa, 1995, S. 81 ff., zur hier interessierenden Frage vgl. S. 88 f. 484 Manz, in: Selbherr/Manz, EWIV-Kommentar, 1995, Einl. EWIV-VO Rn. 21. 485 Ganske, DB-Beilage Nr. 20/1985, 1 (2); Manz, in: Selbherr/Manz, EWIV-Kommentar, 1995, Einl. EWIV-VO Rn. 21. 486 Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, § 12 Rn. 17; näher dazu von der Heydt, in: von der Heydt/von Rechenberg, Die europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung, 1991, S. 107 ff. 487 So auch K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2003, § 66 II 3 (S. 1908); ähnlich van Gerven, in: van Gerven/Aalders, European economic interest groupings, 1990, S. 7 f., der davon ausgeht, die Regelung habe lediglich (begrifflich-dogmatische) „inconsistencies“ zwischen dem Steuerrecht (West-)Deutschlands und Italiens einerseits und Art. 40 EWIV-VO andererseits vermeiden sollen. 488 Auch Gleichmann, ZHR 149 (1985), 633 (641) sieht die maßgebliche Ursache im „Denken in nationalen Kategorien der meisten Verhandlungsteilnehmer“. 489 Diese sind abgesehen davon, dass streitig ist, ob es überhaupt welche gibt, auch im Einzelnen unklar, vgl. zu beiden Fragen oben 2. Kap., B I 1 c, S. 118 ff.
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Unstimmigkeit insbesondere im Steuerrecht durch schlichten Anwendungsvorrang des europäischen Art. 40 EWIV-VO vor dem deutschen Körperschaftssteuergesetz leichter gelöst werden können als durch die seltsamen letztlich verabschiedeten Regelungen. Auch dieses Missverständnis ist auf Sprache zurückzuführen, da offenbar angenommen wurde, der Terminus „Rechtspersönlichkeit“ müsse für die EWIV auf europäischer Ebene vermieden werden, um Verwerfungen in Deutschland zu verhindern. Nach dem Stand des geltenden Rechts ist allerdings „Rechtspersönlichkeit“ im Sinn des Art. 1 Abs. 3 EWIV-VO ein europäisches (universales Rechts-)Konzept.490 Es würde nach dem soeben Gesagten alle Eigenschaften umfassen, die Mitgliedstaaten einigen Gesellschaften über die Rechtsfähigkeit hinaus zuschreiben, um sie aus Gründen dogmatischer Tradition von anderen rechtsfähigen Gesellschaften zu unterscheiden. Bezeichnenderweise sind ja auch die einzigen Staaten, die von der Option des Art. 1 Abs. 3 EWIV-VO keinen Gebrauch gemacht haben – die EWIV also als rechtsfähige Gesellschaft ohne Rechtspersönlichkeit ansehen – Italien und Deutschland491 (sowie Österreich nach dessen Beitritt),492 also insbesondere die beiden Staaten, auf deren ähnliche Probleme im Umgang mit Rechtsfähigkeit und -persönlichkeit bereits oben hingewiesen worden ist.493 Eine Übertragung dieses Verständnisses auf die SE-VO würde seltsam anmuten. In der EWIV richtet sich die Option, „Rechtspersönlichkeit“ zuzubilligen, hauptsächlich an die in dieser Hinsicht eher speziellen Fälle Italien und Deutschland. Eine solche Sonderregelung auch für Art. 1 Abs. 3 SE-VO anzunehmen, würde nicht nur deswegen keinen Sinn machen, weil Art. 1 Abs. 3 SE-VO gerade nicht auf Recht der Mitgliedstaaten verweist (die Norm muss also aus sich selbst heraus verständlich sein, es ist ein echtes europäisches Rechtskonzept nötig, ein universales Rechtskonzept reicht hier nicht aus). Darüber hinaus wäre es auch seltsam, dass die Rechtsfähigkeit der SE (an der man wohl vernünftigerweise nicht zweifeln kann494) gar nicht in der SE-VO stehen würde.
490
Allgemein zu den „universalen Rechtskonzepten“ oben 1. Kap., D IV, S. 94 ff. Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, Rn. 1099 (Fn. 5); Manz, in: Selbherr/Manz, EWIV-Kommentar, 1995, Einl. EWIV-VO Rn. 22 (Fn. 64); Müller-Gugenberger, in: Müller-Gugenberger/Schotthöfer, Die EWIV in Europa, 1995, Rn. EU 62. 492 Österreich hat nach seinem Beitritt zur EU 1995 ebenfalls von Art. 1 Abs. 3 EWIVVO Gebrauch gemacht und auf die OHG (österreichischen Rechts) verwiesen, § 1 EWIVG, die traditionell ebenfalls nicht als „Rechtspersönlichkeit“ angesehen wird, vgl. dazu Zahorka, Gründung und Betrieb einer EWIV (Internet-Ressource), 2010, S. 8. 493 S. oben 2. Kap., B I 5 a, c, S. 162, S. 164. 494 Vgl. noch unten 2. Kap., B IV 1, 2, S. 192 ff., die teleologischen Erwägungen sowie die einhelligen Stellungnahmen der (deutschen) Literatur unten 2. Kap., C II, S. 198 ff. 491
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
Insgesamt handelt es sich um eine sprachlich und dogmatisch verunglückte Norm. Da die EWIV nicht nur rechtstatsächlich wenig Erfolg gehabt hat,495 sondern auch dogmatisch hinter der Bedeutung des „Flaggschiffs“ SE zurücksteht,496 scheint eine Übertragung des Verständnisses der EWIV-VO auf die SE-VO als wenig hilfreich. Die EWIV-VO ist daher für die Zwecke dieser Untersuchung als nicht weiterführend anzusehen. b) Sonstige Entwürfe 1992 sowie die SCE-VO 2003 1992 wurden Entwürfe für drei weitere europäische Rechtsformen veröffentlicht. Es handelt sich dabei um Vorentwürfe für den Europäischen Verein (EUV),497 die Europäische Genossenschaft (EUGEN)498 sowie die Europäische Gegenseitigkeitsgesellschaft (EUGGES). 499 Die Entwürfe von 1992 wurden sämtlich nicht in Kraft gesetzt und sind daher für eine systematische Auslegung grundsätzlich weniger interessant; Rechtsprechung ist zu ihnen ohnehin nicht ergangen, und auch in der Literatur finden sich keine ausführlichen Kommentare. Sie können jedoch als Ausgangspunkt für eine historische Auslegung dienen: Als Anhaltspunkt für eine (möglicherweise bewusste) Entscheidung des Gesetzgebers. Inhaltlich passen die 1992 veröffentlichten Vorentwürfe für weitere Gesellschaftsformen ebenso wie die 2003 verabschiedete SCE-VO (über die Europäische Genossenschaft, Societas Cooperativa Europaea, SCE) zum hier genannten Verständnis. In allen diesen Rechtstexten wird „Rechtspersönlichkeit“ bzw. deren Äquivalent in der SE-VO verwendet. Es handelt sich um denselben europäischen Terminus, der in allen Sprachfassungen der gleiche ist wie der der SE-VO. Auch die Art und Weise, in der der Terminus verwendet wird, stützt das hier genannte Verständnis von Rechtspersönlichkeit. Bei der Verwendung lassen sich deutliche Parallelen zum SE-VOV 1991 erkennen, lediglich die SCE-VO (von 2003) ist teilweise näher an der SE-VO. 495 Vgl. nur Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, Rn. 1100 („weit gehender Fehlschlag“). 496 Vgl. als weiteren Beleg die im Folgenden im Text dargelegte Orientierung des europäischen Gesellschaftsrechts an der SE-VO (bzw. den Vorentwürfen), insbesondere an deren Verwendung von „Rechtspersönlichkeit“. 497 Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates über das Statut des Europäischen Vereins (92/C 99/01), KOM(91) 273 endg. – SYN 386, von der Kommission vorgelegt am 6. März 1992, ABl. C 99 vom 21.04.1992, S. 1 (EUV-VOV). 498 Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates über das Statut der Europäischen Genossenschaft (92/C 99/03), KOM(91) 273 endg. – SYN 388, von der Kommission vorgelegt am 6. März 1992, ABl. C 99 vom 21.04.1992, S. 17 (EUGEN-VOV). 499 Vorschlag für eine Verordnung des Rates über das Statut der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft (92/C 99/05), KOM(91) 273 endg. – SYN 390, von der Kommission vorgelegt am 6. März 1992, ABl. C 99 vom 21.04.1992, S. 40 (EUGGES-VOV).
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Auch die genannten vier Gesellschaftsformen haben demnach „Rechtspersönlichkeit“ (die Normen ähneln dabei Art. 1 Abs. 3 SE-VO)500 und erwerben diese durch Eintragung in das Register (wie dies auch Art. 16 Abs. 1 SE-VO vorsieht).501 Für Handlungen vor der Erlangung dieser Rechtspersönlichkeit ist eine Haftung der Handelnden vorgesehen (wie in Art. 16 Abs. 2 SE-VO).502 Die Entwürfe von 1992 lassen die Rechtsfähigkeit mit Ende der Liquidation erlöschen (entspricht Art. 121 Abs. 4 SE-VOV 1991),503 die SCE-VO dagegen verweist auf das Recht der Mitgliedstaaten (entspricht der Art. 63 heutigen SEVO).504 Die deutlichen Parallelen in Bezug auf Rechtspersönlichkeit, deren Beginn und Ende sowie die offenbar als notwendig angesehenen Haftungsfolgen für den Zeitraum vor Erwerb der Rechtspersönlichkeit (sog. „Vorgesellschaft“, dazu unten 2. Kap., B III 6, S. 187 ff.) zeigen, dass der europäische Gesetzgeber den Terminus bewusst und mit Konsequenz hinsichtlich des Zusammenhangs verwendet. Dies deutet auf ein geschlossenes, für alle europäischen Rechtsformen geltendes, einheitliches Konzept von „Rechtspersönlichkeit“ hin und legt nahe, dass auch aus diesen Rechtsakten auf Inhalte der SE-VO geschlossen werden kann. Anhaltspunkte dafür, wie „Rechtspersönlichkeit“ bei EUV, EUGEN etc. zu verstehen ist, können sich aus der systematischen Stellung und Verwendung innerhalb des jeweiligen Rechtsaktes ergeben. Allerdings entspricht diese Verwendung gerade derjenigen bei der SE-VO, sodass insofern auf die Ausführungen oben im 2. Kap., B III 1 und 2, S. 171 ff., verwiesen werden kann. Darüber hinausgehende Anhaltspunkte ergeben sich insbesondere aus dem EUVVOV von 1992, in dem in Art. 2 Abs. 2 die „Rechtspersönlichkeit“ näher definiert wird. Dort heißt es: „Die Rechtspersönlichkeit des EUV beinhaltet unter der Bedingung, daß die Handlungen für die Verwirklichung des Zwecks des EUV notwendig sind, folgende Rechte: a) das Recht, Verträge zu schließen und andere Rechtsakte zu tätigen, b) das Recht zum Erwerb von beweglichem und unbeweglichem Vermögen, c) das Recht, Schenkungen und Vermächtnisse anzunehmen, d) das Recht zur Beschäftigung von Personal, e) das Klagerecht.“
500 Art. 2 Abs. 1 EUV-VOV, Art. 1 Abs. 7 EUGEN-VOV, Art. 1 Abs. 4 EUGGES-VOV, Art. 1 Abs. 5 SCE-VO. 501 Art. 2 Abs. 1 EUV-VOV, Art. 1 Abs. 7 EUGEN-VOV, Art. 1 Abs. 4 EUGGES-VOV, Art. 18 Abs. 1 SCE-VO. 502 Art. 7 Abs. 5 EUV-VOV, Art. 5 Abs. 5 EUGEN-VOV, Art. 8 Abs. 5 EUGGES-VOV, Art. 18 Abs. 2 SCE-VO. 503 Art. 44 Abs. 4 EUV-VOV, Art. 63 Abs. 3 EUGEN-VOV, Art. 51 Abs. 3 EUGGESVOV. 504 Art. 72 SCE-VO.
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
Diese Definition entspricht weitgehend dem, was auch unter Rechtsfähigkeit verstanden wird, erläutert aber die Rechtspersönlichkeit des EUV genauer. Sie präzisiert insbesondere den Umfang, was die Prozessfähigkeit (lit. e) angeht. Auch lassen sich lit. a bis c als Hinweise darauf lesen, dass auch die Handlungsfähigkeit von der Rechtspersönlichkeit nach europäischem Verständnis umfasst sein soll – immerhin wird doch nicht davon gesprochen, dass dem EUV „Rechte und Pflichten aus Verträgen zustehen können sollen“, sondern dass der EUV diese Verträge auch selbst abschließen kann. Die in lit. b bis d genannten speziellen Ausprägungen der Rechtsfähigkeit könnten Klarstellungen sein, die sich auf Gebiete beziehen, bei denen in einigen Mitgliedstaaten unklar ist bzw. war, ob auch juristische Personen diese Rechte haben können (etwa die Erbfähigkeit in Italien).505 Die Definition deckt sich auch mit dem, was dem Sanders-VOV an Präzisierungen zu entnehmen ist, und weist damit auf ein europäisches Konzept von „Rechtspersönlichkeit“ hin. Daher spricht viel dafür, die Definition auch für die SE-VO zu verwenden, wenngleich – auch, weil der Aussagewert des EUVVOV dadurch eingeschränkt ist, dass dieser nicht Rechtswirklichkeit wurde – das Ergebnis noch durch teleologische Erwägungen abgestützt werden sollte (dazu unten 2. Kap., B IV, S. 192 ff.). Was allerdings die Einschränkung der Rechtspersönlichkeit auf den Zweck des Vereins angeht – dass also die näher präzisierten Rechtsfähigkeiten dem Verein nur zustehen unter der „Bedingung, daß die Handlungen für die Verwirklichung des Zwecks des EUV notwendig sind“ – kann dies nicht ohne weiteres auf die SE-VO übertragen werden. Denn hier ist der Rechtsformunterschied zwischen dem Verein und der SE als Aktiengesellschaft bedeutsam: Für letztere gilt in Europa gem. Art. 10 Erste Richtlinie, dass die „Gesellschaft […] Dritten gegenüber durch Handlungen ihrer Organe verpflichtet [wird], selbst wenn die Handlungen nicht zum Gegenstand des Unternehmens gehören“. Eine Beschränkung der Rechtsfähigkeit auf den Gesellschaftszweck ist daher bei Aktiengesellschaften ausgeschlossen; diese Norm hat, dem deutschen Vorbild folgend, auch die bis zum Erlass der Urfassung der Ersten Richtlinie 1968 noch weiter verbreiteten Beschränkungen in mehreren Mitgliedstaaten zurückgedrängt.506 Von diesem Grundsatz sind lediglich für Fälle der nachweislichen Kenntnis des Dritten Ausnahmen zugelassen (Art. 10 Abs. 1 U-Abs. 2 Erste Richtlinie). Auch für die SE gilt das für Aktiengesellschaften in Umsetzung der Richtlinien erlassenes Recht der Mitgliedstaaten verbindlich (vgl. Art. 9 505
In Italien war zum fraglichen Zeitpunkt die Erbfähigkeit von (rechtsfähigen) Gesellschaften ohne personalità giuridica gem. Art. 600, 786 c.c. a.F. eingeschränkt, vgl. dazu Galgano, Diritto privato, 1999, S. 639, 642. Mit der Legge 15 maggio 1997, n. 127, come modicificata dalla legge 22 giugno 2000, n. 192 wurden diese Normen Mitte 2000 abgeschafft. 506 Dazu ausführlicher oben 2. Kap., B I 5 d, S. 167; insbesondere wurde die sog. „ultra vires-Lehre“ in England und Italien weit zurückgedrängt oder sogar abgeschafft.
B. Autonome Auslegung
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Abs. 2 SE-VO), sodass davon auszugehen ist, dass eine solche Einschränkung der Rechtspersönlichkeit der SE nicht gewollt ist. 6. Systematik: Vor-SE und Vorgesellschaft im europäischen Gesellschaftsrecht Umstritten ist die Frage, inwiefern das europäische Gesellschaftsrecht eine Vorgesellschaft anerkennt oder gar voraussetzt. Dreh- und Angelpunkt bisheriger Diskussion war bisher Art. 8 Erste Richtlinie (Neufassung, in der Fassung der Richtlinie 1968/151/EWG Artikel 7, fast wortgleich). In Art. 8 Erste Richtlinie heißt es: „Ist im Namen einer in Gründung befindlichen Gesellschaft gehandelt worden, ehe diese die Rechtsfähigkeit erlangt hat, und übernimmt die Gesellschaft die sich aus diesen Handlungen ergebenden Verpflichtungen nicht, so haften die Personen, die gehandelt haben, aus diesen Handlungen unbeschränkt als Gesamtschuldner, sofern nichts anderes vereinbart worden ist.“
Die Norm beruht auf italienischen und deutschen Vorbildern.507 Die „Personen, die gehandelt haben“ sind nach überwiegender Auffassung nicht sämtliche Gründungsgesellschafter, sondern lediglich die konkret Handelnden.508 Denn eine auf Sicherung der realen Kapitalerhaltung zielende Gründerhaftung sollte mit der Ersten Richtlinie nicht normiert werden (die Kapitalaufbringung wurde ja auch erst nachträglich von der Zweiten Richtlinie erfasst).509 Dem Schutzzweck von Art. 8 soll es entsprechen, wenn die Haftung sowohl durch ein Handeln im Namen der zukünftigen Gesellschaft als auch im Namen einer etwaigen Vorgesellschaft ausgelöst wird;510 dies ergibt sich u.a. auch aus einem Sprachvergleich mit der englischen Fassung, die insofern eindeutig ist. Dass die englische Fassung bei Erlass der (Ursprungsfassung der) Ersten Richtlinie 1968 noch nicht amtlich war, ist unbeachtlich,511 da sie es später mit dem Beitritt des Vereinigten Königreichs und Irlands 1973 wurde,512 immerhin mit dem Neuerlass der Richtlinie 2009 (auch auf Englisch, mit weitgehend gleichem Wortlaut) dürfte sich das Problem aber erledigt haben. Die wohl h.M. lässt daher 507 Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, § 5 Rn. 26; Casper, Der Konzern 2007, 244 (247); Edwards, EC Company Law, 1999, S. 31. 508 Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, § 5 Rn. 26; Casper, Der Konzern 2007, 244 (246); a.A. (Haftung der Gesellschafter und der Vertretungsorgane) Kersting, Die Vorgesellschaft im europäischen Gesellschaftsrecht, 2000, S. 281; speziell zur SE Kersting, DB 2001, 2079 (2082); ihm folgend Hirte, NZG 2002, 1 (4, Fn. 37). 509 C. Schäfer, NZG 2004, 785 (791). 510 Kersting, Die Vorgesellschaft im europäischen Gesellschaftsrecht, 2000, S. 269 m.w.N.; Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, § 5 Rn. 27; a.A. Mülbert/Nienhaus, RabelsZ 65 (2001), 513 (532): Handeln nur im Namen der zukünftigen Gesellschaft erfasst. 511 Wohl Bedenken insoweit bei Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, Rn. 209 (Fn. 33). 512 Vgl. zur parallelen Frage bei der SE-VO oben Einl. D, S. 19.
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
auch ein Handeln im Namen der Vorgesellschaft genügen, 513 andere lehnen dies ab.514 Interessant hieran ist, dass für das deutsche Wort „Rechtsfähigkeit“ in den anderen Sprachfassungen der Terminus steht, der sonst für „Rechtspersönlichkeit“ in Art. 1 SE-VO verwendet wird; von den untersuchten Sprachfassungen unterscheiden sich neben der deutschen Sprachfassung lediglich die schwedische („rättskapacitet“ statt „juridisk person“) und die französische: Hier steht „personnalité morale“ statt „personnalité juridique“, also der Terminus, der in der französischen Literatur häufig an Stelle von „personnalité juridique“ verwendet wird und der in der französischen Rechtsordnung für ein Konzept steht, das sich von dem der Rechtsfähigkeit, wie es in Deutschland bekannt ist, allenfalls sehr geringfügig unterscheidet. Aus Sicht der Kohärenz der europäischen Rechtssprache ist eine solche teilweise Überschneidung bedauerlich. Vor dem Hintergrund des Rechtsvergleichs kann sie jedoch als Hinweis darauf gelesen werden, dass „Rechtspersönlichkeit“ und „Rechtsfähigkeit“ auf europäischer Ebene nicht weit auseinander liegen oder sogar austauschbar erscheinen, was das bisherige vorläufige Ergebnis bestätigen würde. Teilweise wird in der Art. 8 Erste Richtlinie eine Anerkennung einer Vorgesellschaft gesehen, die sich allerdings von der deutschen deutlich unterscheiden soll.515 Europäisches Recht setze eine (teil-)rechtsfähige Vorgesellschaft zwar nicht voraus, lasse sie aber (je nach dem Recht des Mitgliedstaates) zu. Nach Art. 9 Zweite Richtlinie können Einlagen (je nach Recht des Mitgliedstaates) auch erst mit Eintragung an die bereits rechtsfähige Gesellschaft geleistet werden; die Konstruktion einer rechtsfähigen Vorgesellschaft ist in solchen Staaten dann entbehrlich.516 Je nach Mitgliedstaat ist die Vorgesellschaft dann lediglich Bezugspunkt für Haftung und Übernahme dieser Haftung, kann jedoch auch als (teil-)rechtsfähige Vorgesellschaft ausgestaltet sein. 517 Die zwingende Ausgestaltung der Haftung als Innenhaftung soll damit jedoch nicht vereinbar sein; da dies in Mitgliedstaaten ohne rechtsfähige Vorgesellschaft 513
Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, § 5 Rn. 27 mit Hinweis auf die h.M. in Deutschland; Kersting, Die Vorgesellschaft im europäischen Gesellschaftsrecht, 2000, S. 269; vorsichtig auch Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, Rn. 215 (s.a. nächste Fn.). 514 Insbesondere Mülbert/Nienhaus, RabelsZ 65 (2001), 513 (532): Haftung nur im Namen der zukünftigen Gesellschaft. Auf die geringen praktischen Unterschiede weist Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, Rn. 215 hin: Der Handelnde wird klar machen müssen, dass er nur für die Vorgesellschaft haftet, was dann fast wieder als eigene Haftungsbeschränkung anzusehen wäre. 515 Kersting, DB 2001, 2079 (2081) zur Vorgängerregelung (Art. 7 RL 1968/151/EWG); dem folgend für die SE Drees, Gründung der SE und Vor-SE, 2006, S. 141 ff. 516 Kersting, DB 2001, 2079 (2082); Kersting, Die Vorgesellschaft im europäischen Gesellschaftsrecht, 2000, S. 211 ff. 517 Kersting, DB 2001, 2079 (2082); für die SE mit Sitz in Deutschland ebenso Drees, Gründung der SE und Vor-SE, 2006, S. 175 ff.
B. Autonome Auslegung
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nicht möglich ist, würde eine solche Auslegung der unmittelbar anwendbaren Norm zu uneinheitlichen Ergebnissen führen.518 Die Vorgesellschaft soll mit dem Gründungsgeschäft beginnen, da durch dieses – insbesondere durch Datum und beteiligte Gründer – feststellbar ist, ob die spätere Gesellschaft aus dieser hervorgegangen ist; durch diese Identifizierung der Gesellschaft werden auch die Gläubiger, die der (konkreten) SE in Gründung ihr Vertrauen geschenkt haben, geschützt.519 Überwiegend wird jedoch eine solche Konstruktion einer „noch weniger wichtige[n] supranationale[n] Gesellschaftsform als die EWIV“ ganz abgelehnt, da europäisches Gesellschaftsrecht immer für wichtige, Integration versprechende Projekte erlassen wurde.520 Es sei daher überzogen, in Art. 8 Erste Richtlinie eine Anerkennung einer Vorgesellschaft hineinzulesen. Die Norm wolle lediglich für den Fall, dass es zu einer Eintragung nicht komme und daher auch keine Kapitalgesellschaft für die Vorgründungsverbindlichkeiten hafte, die Haftung der Handelnden sicherstellen.521 Da jedenfalls nationales Recht die Rechtsfähigkeit der Vorgesellschaft bestimme,522 komme es ansonsten zu einer komplizierten Gemengelage aus nationalem und europäischem Recht.523 Für die hier interessierende Fragestellung ist aber eher relevant, ob Art. 8 Erste Richtlinie eine Aussage dazu trifft, ab welchem Zeitpunkt die Gesellschaft rechtsfähig ist. Die Kommission geht davon aus, dass die Richtlinie den Zeitpunkt des Erwerbs der Rechtsfähigkeit nicht vorschreibe.524 Demgegenüber ist zwar darauf hingewiesen worden, die Art. 11, 12 Erste Richtlinie würden zumindest für Fälle der Nichtigkeit Vorgaben für die Verleihung oder Entziehung von Rechtsfähigkeit machen. 525 Im Übrigen wird die Meinung der Kommission von der wohl h.M. geteilt.526
518
Kersting, Die Vorgesellschaft im europäischen Gesellschaftsrecht, 2000, S. 272 ff.; Kersting, DB 2001, 2079 (2084); Kersting, GmbHR 2003, 1466 (1469 f.). 519 Ausführlich und unter Zuhilfenahme rechtsvergleichender Auslegung Kersting, Die Vorgesellschaft im europäischen Gesellschaftsrecht, 2000, S. 199 ff., 205 f.; für die SE Kersting, DB 2001, 2079 (2081). 520 Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, Rn. 199; Mülbert/Nienhaus, RabelsZ 65 (2001), 513 (527 f.); Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, § 5 Rn. 26. 521 Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, § 5 Rn. 26. 522 Kersting, DB 2001, 2079 (2082). 523 Casper, Der Konzern 2007, 244 (248). 524 Vgl. die Stellungnahme der Kommission, referiert bei EuGH, Rs. 136/87, Urt. vom 20.09.1988, Slg. 1988, 4665, 4670 („Ubbink Isolatie BV“). 525 Mülbert/Nienhaus, RabelsZ 65 (2001), 513 (530). 526 Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, § 5 Rn. 26.
190
2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
7. Systematik: Art. 16 Abs. 2 SE-VO Bei der SE verläuft die Diskussion weitgehend entsprechend den soeben dargestellten Linien. Teilweise wird allerdings auch mit dem speziellen Normenbestand der SE-VO argumentiert. So ist es wohl weitgehend anerkannt, dass bei einigen Gründungsformen (insbesondere dem Formwechsel, aber auch der Verschmelzung durch Aufnahme) ein Bedürfnis nach einer Vor-SE nicht besteht, weil stets ein haftender Rechtsträger zur Verfügung steht.527 Befürworter einer europäischen Vor-SE verweisen darauf, dass Art. 16 Abs. 2 SE-VO eine Übernahmemöglichkeit voraussetze; daher verlange Art. 16 Abs. 2 SE-VO, dass eine Vor-SE möglich sein müsse. Andernfalls würden die Handelnden möglicherweise als Vertreter ohne Vertretungsmacht handeln, was etwa in Frankreich die Nichtigkeit des Handelns nach sich ziehen würde.528 Demgegenüber will die h.M. aus Art. 16. Abs. 2 SE-VO lediglich ablesen, dass solche nationalen Vorschriften, die die Handelndenhaftung nach Art. 16 Abs. 2 SE-VO vereiteln würden, im Fall der SE nicht anwendbar seien.529 Die h.M. geht von einer SE nationaler Prägung aus, in Deutschland also einer (teil-)rechtsfähigen Vorgesellschaft, deren Aktiv- und Passivvermögen nach deutschem Recht mit Eintragung auf die SE übergeht.530 Teilweise wird dagegen gerade bei der SE die Möglichkeit einer Vorgesellschaft europäischer oder nationaler Ausprägung abgelehnt.531 Dies wird u.a. auf eine Ähnlichkeit zur französischen Konzeption gestützt, bei der Verträge im Namen der zukünftigen Gesellschaft geschlossen werden und dann von dieser übernommen werden könnten; im Übrigen hafteten die Handelnden. Daneben sei für eine Vorgesellschaft deutscher Prägung kein Raum. 532 Dagegen wird argumentiert, dass auch im deutschen Recht die Existenz einer Vorgesellschaft von niemandem mit dem Argument abgelehnt werde, § 41 Abs. 1 S. 2 AktG normiere eine Haftung der Handelnden;533 dem lässt sich entgegenhalten, 527 Casper, Der Konzern 2007, 244 (249); Schäfer, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 16 SE-VO Rn. 6; C. Schäfer, NZG 2004, 785 (790); Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 16 Rn. 9; Jannott, in: Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 2. Aufl., 2014, Rn. 3.315; Schröder, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SE-Kommentar, 2010, Art. 16 Rn. 4; Drees, Gründung der SE und Vor-SE, 2006, S. 156 ff.; wohl a.A. Kersting, DB 2001, 2079 (2084) (Art. 16 Abs. 2 SE-VO steht im „Allgemeinen Teil“ des Gründungsrechts, dient ggf. der Klarstellung). 528 Kersting, DB 2001, 2079 (2084) m.w.N. zum englischen und französischen Recht. 529 Casper, Der Konzern 2007, 244 (248); Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, Rn. 209. 530 Casper, Der Konzern 2007, 244 (249). 531 Am deutlichsten Vossius, ZIP 2005, 741 (742); oft in diesem Sinne zitiert, in Fn. 40 aber möglicherweise gegenüber Spielräumen für eine Teilrechtsfähigkeit zumindest für die Entgegennahme der Einlagen offen Hirte, NZG 2002, 1 (4). 532 Vossius, ZIP 2005, 741 (742). 533 C. Schäfer, NZG 2004, 785 (790); Casper, Der Konzern 2007, 244 (247).
B. Autonome Auslegung
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auch die deutsche Vorgesellschaft sei gegen, nicht am Wortlaut entwickelt worden.534 Tatsächlich spricht mehr für die h.M. Indem auf den Gründungsvorgang gem. Art. 15 Abs. 1 SE-VO überwiegend nationales Recht Anwendung findet, liegt es nahe, auch die Vorgesellschaft dem nationalen Recht zu entnehmen, da diese – wie bereits oben angesprochen535 – eine Funktion im konkreten Gefüge des Gründungsrechts erfüllt. Mit der Auslegung von „Rechtspersönlichkeit“ im Sinn von „Rechtsfähigkeit“ lässt sich diese Auffassung vereinbaren,536 da die Vor-SE von der SE-VO gar nicht geregelt wird. Art. 16 Abs. 1 SE-VO stellt lediglich klar, dass die Rechtspersönlichkeit (zu lesen als: Rechtsfähigkeit) der SE mit dem Registereintrag beginnt; dies spricht nicht dagegen, dass nicht vorher schon eine (rechtsfähige) Vor-SE bestehen soll. Über deren Rechtsfähigkeit wird von der SE-VO nichts ausgesagt. 8. Fazit systematische Auslegung Auffällig beim Terminus „Rechtspersönlichkeit“ ist seine weitgehend konsequente Verwendung im sonstigen EU-Recht. Geringfügige Abweichungen gibt es lediglich bei den hier untersuchten Rechtsakten lediglich bei der Ersten Richtlinie (sowohl in der Ur- als auch in der Neufassung), die in Französisch, Deutsch und Schwedisch abweicht, während in den übrigen Sprachen der gleiche Terminus verwendet wird, sodass unklar bleibt, ob die Rede vom gleichen Konzept sein soll. Der Nutzen für die autonome Auslegung ist allerdings auch in den Fällen sprachlich einheitlicher Verwendung begrenzt, sofern das Konzept dort nicht definiert ist. Dies gilt insbesondere für die nicht Rechtswirklichkeit gewordenen Rechtsformenvorschläge von 1992, bei denen weder Rechtsprechnung noch eine vertiefte Auseinandersetzung in der Literatur als Anhaltspunkte für eine Auslegung herangezogen werden können. Als Ergebnis aus diesen Rechtsakten lässt sich lediglich festhalten, dass keiner der hier untersuchten Rechtsakte dagegen spricht, „Rechtspersönlichkeit“ im europäischen Sinn mit „Rechtsfähigkeit“ gleichzusetzen, wie Wortlaut/Rechtsvergleichung und Rechtsgeschichte es nahelegen. Positive Anhaltspunkte ergeben sich jedoch aus der Definition in Art. 2 Abs. 2 EUV-VOV, der dieses Verständnis bekräftigt und zugleich näher präzisiert. Diese systematische Auslegung spricht dafür, auch bei der SE-VO unter „Rechtspersönlichkeit“ Handlungs-, Prozess- und unbeschränkte Rechtsfähigkeit zu verstehen. Da der EUV-VOV jedoch nicht verabschiedet wurde, sollte diese Übertragung jedenfalls durch teleologische Erwägungen abgestützt werden. 534
Vossius, ZIP 2005, 741 (742). Oben 2. Kap., B I 5 c, S. 165 f. 536 Dies gilt im Übrigen erst recht für die hier abgelehnte Gegenauffassung. 535
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
IV. Telos Für die teleologische Auslegung ist danach zu fragen, welchen Sinn die Verleihung von „Rechtspersönlichkeit“ an die SE hat. 1. Auslegung im Sinne einer funktionierenden Rechtsform „Rechtspersönlichkeit“ wird der SE in Art. 1 SE-VO verliehen, wo die „gesellschaftsrechtliche Grundausstattung“ der SE geregelt ist. Hier wird etwa die SE als Kapitalgesellschaft charakterisiert und ihre Haftung näher definiert. Ziel dieser Regelungen ist es, die Grundstruktur der SE festzulegen, um eine funktionierende Gesellschaftsform zu schaffen. Die Funktionsfähigkeit der Rechtsform SE ist daher eine Leitlinie bei der Auslegung der gesamten SEVO,537 gilt aber besonders für die Grundstrukturen. Auch die bisher gefundenen Auslegungsergebnisse können daran überprüft und präzisiert werden. Die bisherig verwendeten Auslegungsmethoden legen nahe, dass unter „Rechtspersönlichkeit“ die „Rechtsfähigkeit“ verstanden werden soll, also die Fähigkeit, Träger von Rechten und Pflichten zu sein. Die Rechtsfähigkeit ist für die Teilnahme einer Gesellschaft am modernen Rechtsleben sicherlich eine als unabdingbar anzusehende Voraussetzung, wie sich auch daran zeigt, dass sie etwa allen Aktiengesellschaften nationalen Rechts in den hier verglichenen Rechtsordnungen zukommen soll. Sie ist für die SE auch schon deswegen nötig, weil die SE auch selbst haften soll (vgl. Art. 1 Abs. 2 S. 2 SE-VO);538 würde man die Rechtsfähigkeit nicht in „Rechtspersönlichkeit“ hineinlesen, wäre auch nicht ersichtlich, wo die Rechtsfähigkeit der SE sonst normiert sein sollte. Insofern bestätigt die teleologische Auslegung das bisher gefundene Ergebnis, dass „Rechtspersönlichkeit“ die Rechtsfähigkeit der SE zumindest mit umfasst. Die systematische Auslegung hat gezeigt, dass derjenige Teil der Rechtsstellung der SE, der über „Rechtspersönlichkeit“ (im europäischen Sinn) hinausgeht, nach dem Recht des jeweiligen Sitzstaates bestimmt wird, also nicht für alle SE einheitlich (mono-national, nicht pluri-national, s.o. 2. Kap., B III 2, S. 171 ff.). Dies kann zur weiteren Präzisierung der „Rechtspersönlichkeit“ herangezogen werden. Liest man eine Eigenschaft der SE in „Rechtspersönlichkeit“ hinein, würde das bedeuten, dass sie europaweit gilt. Wo die „Rechtspersönlichkeit“ im europäischen Sinn dagegen endet, beginnt die mononationale Rechtsstellung der SE, die gem. Art. 10 SE-VO von dem Sitzstaat abhängt und damit nicht europaweit einheitlich ist. Aus teleologischer Sicht ist zu fragen, welche Eigenschaften der SE, die möglicherweise unter „Rechtspersönlichkeit“ zu fassen sind, europaweit einheitlich geregelt sein müssen, um ein Funktionieren zu sichern. 537
Dazu bereits oben 1. Kap., C VI, S. 79. Vgl. den Gedankengang oben bei 2. Kap., B I 5 b, S. 163, dass Haftung stets Rechtsfähigkeit voraussetzt. 538
B. Autonome Auslegung
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Insofern hat der Rechtsvergleich etwa ergeben, dass grundsätzlich auch Fragen wie Handlungsfähigkeit, Strafbarkeit, zeitliche Begrenzung der „Rechtspersönlichkeit“ oder Begrenzung der Rechtsfähigkeit durch den Gesellschaftszweck von „Rechtspersönlichkeit“ umfasst sein könnten. Da die SE, soweit auf die Rechte der Mitgliedstaaten verwiesen wird, auch Züge eines Kollisionsrechts trägt, können dabei auch Abgrenzungen zum Tragen kommen, die dem Internationalen Privatrecht entnommen worden sind.539 Bei der Frage des Inhalts der „Rechtspersönlichkeit“ der SE sowie der Bestimmung des Personalstatuts einer Gesellschaft geht es jeweils um die Frage, wie eine Gesellschaft am besten in verschiedene Rechtsordnungen einzupassen ist. Zumindest bei denjenigen Fragen, bei denen es im IPR für hinnehmbar erachtet wird, dass eine Gesellschaft hier in verschiedenen Staaten unterschiedlich behandelt wird, die also nicht dem Personalstatut zugehören, spricht viel dafür, sie auch bei der SE-VO nicht in die „Rechtspersönlichkeit“ hineinzulesen.540 2. Grundinhalt Das Ziel einer möglichst ungehinderten Teilnahme der SE am Wirtschaftsverkehr in ganz Europa spricht dafür, ihr eine möglichst uneingeschränkte Rechtsfähigkeit zuzusprechen. Sie sollte daher auch die sogenannten „speziellen Rechtsfähigkeiten“ einschließen, namentlich die passive Erbfähigkeit sowie die Fähigkeit, Grundstückseigentum zu haben. Gleiches gilt auch für die Fähigkeit, vor Gericht zu stehen und Verträge und andere Rechtshandlungen abzuschließen. Auch unter Berücksichtigung der Möglichkeit von mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, die hier nicht untersucht werden konnten und die die genannten Fähigkeiten eventuell nicht oder nur eingeschränkt verleihen, ist davon auszugehen, dass diese Fähigkeiten in einer Vielzahl der Mitgliedstaaten als Bestandteile von „Rechtspersönlichkeit“ angesehen werden. Wenn bei einer SE, die auch in anderen Mitgliedstaaten als dem Sitzstaat tätig werden soll, die genannten Fähigkeiten nicht über die „Rechtspersönlichkeit“ garantiert sein sollten, sondern als Teil der „Rechtsstellung“ vom Sitzstatut abhängen würden, würde dies die Möglichkeiten der SE, auch in anderen Mitgliedstaaten aufzutreten, einschränken. Könnte eine SE mit Sitz in einem bestimmten Mitgliedstaat etwa keine Grundstücke erwerben oder nicht verklagt werden, würde dies das Vertrauen in die Rechtsform „SE“ untergraben. Auch wenn ein solches Vertrauen in die Rechtsform durch die weitgehenden Verweise auf nationales Recht nur sehr eingeschränkt berechtigt ist, geht der Rechtsverkehr doch davon aus, dass davon insbesondere spezifisch gesellschaftsrechtliche Fragen – wie 539 Allgemein zur methodischen Nähe von IPR und SE-VO siehe bereits oben 1. Kap., D II, S. 82 ff. 540 Zum Regelungsbereich als äußerster Grenze der Auslegung und dessen Zusammenhang mit dem IPR schon allgemein oben 1. Kap., D I, S. 81 f.
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
etwa die Fragen der Vertretung durch die Organe – betroffen sind. Bei einem Wegfall der exemplarisch genannten elementaren Fähigkeiten wäre aber das Vertrauen in fast alle denkbaren Teilnahmemöglichkeiten der SE am Rechtsverkehr eingeschränkt. Die SE könnte dann ihr Ziel, eine funktionierende, europaweit tätige Gesellschaftsform zu sein (vgl. Erwägungsgründe 1, 4, 6 SEVO), nicht mehr erreichen. Aus Sicht der mit der SE zu erreichenden Ziele ist daher wünschenswert, dass auch diese Fähigkeiten von Rechtspersönlichkeit umfasst sein sollen. Diese teleologischen Erwägungen bestätigen damit die Ergebnisse, die der Wortlaut (die Rechtsvergleichung), die Geschichte (der Sanders-VOV, insbesondere durch die Erläuterungen von Sanders, S. 19 f.) und die Systematik (dort Art. 2 Abs. 2 EUV-VOV) nahelegen. Es ist daher davon auszugehen, dass auch die Handlungs- und Prozessfähigkeit neben der nicht auf bestimmte Rechtsgebiete eingeschränkten Rechtsfähigkeit zum Bestand der „Rechtspersönlichkeit“ europäischen Rechts gehören. 3. Denkbare Einschränkungen der Rechtsfähigkeit Durch den Gesellschaftszweck sollte die Rechtsfähigkeit der SE nicht eingeschränkt sein. Um einen europaweiten, möglichst reibungslosen Zugang zum Wirtschaftsverkehr zu erhalten, sollten alle Geschäftspartner einer SE darauf vertrauen können, dass die europäische „Rechtspersönlichkeit“ nicht durch den Gesellschaftszweck eingeschränkt wird. Dafür sprechen auch die bereits oben erwähnten systematischen Argumente, insbesondere die Stellungnahmen des europäischen Gesellschaftsrechts gegen die sog. ultra vires-Lehre541 sowie ein argumentum e contrario aus der explizit anders formulierten Vorschrift des Art. 2 Abs. 2 EUV-VOV, die die Rechtspersönlichkeit des Europäischen Vereins ausdrücklich auf den Zweck des Vereins beschränkt.542 Fraglich ist etwa weiter, ob eine französische SE in ihrer Rechtsfähigkeit zeitlich beschränkt ist, also nur auf 99 Jahre abgeschlossen werden kann. Dies lässt sich als Lückenproblem deuten,543 da die Frage der zeitlichen Begrenzung der SE in der SE-VO nicht geregelt ist, es lässt sich aber auch – positiv – als Auslegung von „Rechtspersönlichkeit“ verstehen, da dann, wenn die Frage von „Rechtspersönlichkeit“ umfasst wäre, schon keine Lücke vorläge. In den anderen drei Ländern außer Frankreich ist die von „Rechtspersönlichkeit“ umfasste Rechtsfähigkeit (potenziell) unendlich. 541
S. dazu oben 2. Kap., B I 5 d, S. 166 f., sowie 2. Kap., B III 5 b, S. 186. Dazu ausführlicher oben 2. Kap., B III 5 b, S. 185 f. 543 Zur Annäherung an ähnliche Probleme unter der Fragestellung eines „Lückenschlusses“ vgl. speziell zur SE Teichmann, ZGR 2002, 383 (406 ff.); Casper, in: FS Ulmer 2003, 51 (65 ff.); Wirtz, Die Lückenfüllung im Recht der SE und der SPE, 2012; zur SPE (aber wegen der ähnlichen Regelung auch oft zur Lösung von Problemen bei der SE zitiert) Völter, Der Lückenschluß im Statut der Europäischen Privatgesellschaft, 2000. 542
B. Autonome Auslegung
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Auch diese Frage betrifft allerdings nur einen geringen Teil des Lebens einer SE. Es ist anzunehmen, dass auch SE in Frankreich meist – wie auch sonstige Gesellschaften – auf 99 Jahre abgeschlossen und dann wie auch andere Gesellschaften in der Regel ohne größere Probleme verlängert werden. Zudem wird die Frage frühestens am Anfang des 22. Jahrhunderts stellen, sodass davon auszugehen ist, dass sie wegen des Fortschritts (oder Rückbaus?) des EU-Rechts ohnehin obsolet sein wird. Aus teleologischer Sicht zwingen die hier gefundenen Abweichungen daher nicht dazu, für einen reibungslosen Ablauf im Wirtschaftsleben die Frage der zeitlichen Beschränkung der Rechtsfähigkeit europaweit einheitlich zu regeln. Dies kann daher den Ländern überantwortet werden. Von „Rechtspersönlichkeit“ wäre eine eventuelle zeitliche Beschränkung dann nicht mehr umfasst. 4. Deliktsfähigkeit und die Strafbarkeit von Verbänden Bei der Deliktsfähigkeit sprechen zunächst ähnliche Gründe wie bei der Handlungs- und Prozessfähigkeit für eine einheitliche europäische Rechtsposition der SE, und auch der Rechtsvergleich legt nahe, dass die Deliktsfähigkeit juristischer Personen auch in den nationalen Rechtsordnungen anerkannt ist. Dies spricht dafür, dass auch die SE kraft ihrer „Rechtspersönlichkeit“ gem. Art. 1 Abs. 3 SE-VO in allen Staaten deliktsfähig sein sollte. Allerdings greift die Frage des Deliktsrechts tief in das Zivilrecht der jeweils betroffenen Rechtsordnung ein, sodass sich die Frage stellt, ob eine SE sich nicht leichter in eine solche Rechtsordnung einfügen würde, wenn die Deliktsfähigkeit von der betreffenden Rechtsordnung beurteilt würde. Die Frage würde dann nicht nur nicht von Art. 1 Abs. 3 SE-VO gelöst, sondern auch aus dem Regelungsbereich der SE-VO (und damit auch von Art. 9 SE-VO) herausfallen und vom IPR der Mitgliedstaaten gelöst werden.544 Spannungen mit dem Deliktsrecht des jeweiligen Mitgliedstaats ließen sich so vermeiden. Dieses Ergebnis wird durch die Überlegung bestätigt, dass die Deliktsfähigkeit herkömmlicherweise nicht dem Personalstatut einer Gesellschaft zugeordnet wird. 545 Dies spricht dafür, die Deliktsfähigkeit der SE nicht Art. 1 Abs. 3 SE-VO zu entnehmen. Ähnlich ist dies im Strafrecht, wobei hier bei der Frage der Verbandsstrafbarkeit noch größere Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bestehen. Das europäische Recht hält sich für diesen Bereich mit Vorgaben bewusst zurück (s. oben 2. Kap., B I 5 d, S. 166 f.). Zudem setzt die Strafbarkeit von Gesellschaften einen Bestand an Normen (wie die Regelungen in Italien oder Frank-
544
Siehe zu dieser Frage bereits oben 1. Kap., D I, S. 81. Im Geltungsbereich der Rom II-VO wird das Statut des Staates berufen, in dem der Schaden eingetreten ist, vgl. Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO, s.a. Leible, in: Michalski, GmbHG, Kommentar Bd. I, 2017, Systematische Darstellung 2, Internationales Gesellschaftsrecht, Rn. 129. 545
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
reich, aber auch die geplanten Reformen in Deutschland zeigen) oder eine nähere Präzisierung in der Rechtsprechung (wie in England) voraus, die für die SE auf europäischer Ebene (noch) nicht vorliegt.546 Der Erlass solcher Vorschriften dürfte auch an der Kompetenz der EU scheitern, die für das Strafrecht lediglich Annexkompetenzen besitzt547 und in Art. 82, 83 AEUV über einige Harmonisierungskompetenzen verfügt, die ein Unternehmensstrafrecht nicht abdecken würden.548 Die von der EU verhängten oder verlangten Sanktionen werden regelmäßig nicht als echtes Kriminalstrafrecht nach z.B. deutschem Verständnis eingeordnet.549 Es wäre also zu viel, eine Strafbarkeit der SE (die auch eine Verbandsstrafbarkeit etwa in Deutschland umfassen würde) in den Terminus „Rechtspersönlichkeit“ hineinzulesen, da eine SE dann auch in Ländern zu bestrafen wäre, wo eine solche Strafbarkeit nicht näher geregelt und mangels Normenbestand daher gar nicht umzusetzen wäre. Eher wäre es mit den verschiedenen Rechtsordnungen zu vereinbaren, wenn in „Rechtspersönlichkeit“ hineingelesen würde, dass die SE generell nicht strafbar wäre (weil die (europäische) „Rechtspersönlichkeit“ dies nicht erlaube). Es ist fraglich, ob den Ländern, die eine Verbandsstrafbarkeit normiert haben, eine Bestrafung gerade der SE zu versagen wäre. Wie sich gezeigt hat, kennt eine Mehrzahl von Rechtsordnungen eine Verbandsstrafbarkeit.550 Dies würde eine klare Privilegierung der SE gegenüber nationalen Gesellschaften bedeuten, für die wohl deutlichere Anhaltspunkte in der SE-VO – etwa in den Erwägungsgründen – zu erwarten wären. Zudem würde dies auch einen starken Eingriff in die Strafrechtsdogmatik der jeweiligen Länder bedeuten: Denkbar ist, dass die Existenz einer Verbandsstrafbarkeit auch die Voraussetzungen der
546 Zur Auslotung der Möglichkeiten eines europäischen „Strafrecht-AT“ siehe Vogel, JZ 1995, 331 (332 ff.) (solche Ansätze auf dem Gebiet des Verwaltungssanktionenrechts anerkennend); kritisch zu einem neueren Vorstoß (sog. „Corpus Iuris“) aus der Wissenschaft Jung, JuS 2000, 417 (423 f.); noch deutlicher Braum, JZ 2000, 493 (498) („illegitim, nicht erforderlich, juristisch undurchsetzbar“). 547 So auch der EuGH (grundsätzlich keine Kompetenz): EuGH, Rs. C-176/03, Urt. vom 13.09.2005, Slg. I-2005, 7879; EuGH, Rs. C-440/05, Urt. vom 23.10.2007, Slg. I-2007, 9097. 548 Insbesondere wären hier wohl „grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung“ u.a. der deutschen Strafrechtsordnung i.S.d. Art. 83 Abs. 3 AEUV berührt, Kelker, in: FS Krey 2010, 221 (247); Heger, ZIS 2009, 406 (414); Rogall, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 2014, § 30 OWiG Rn. 279. 549 Rogall, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 2014, § 30 OWiG Rn. 279. Zu ausweichenden Formulierungen in aktuellen Rechtsakten der EU siehe schon oben 2. Kap., B I 5 d, S. 167 (Fn. 422). 550 Teilweise wird sogar von einer „Schlusslicht“-Stellung Deutschlands gesprochen; gegen die „Schlusslichtthese“ Schünemann, ZIS 2014, 1 (12).
B. Autonome Auslegung
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Strafbarkeit von Vorständen etc. beeinflusst,551 was bei der SE dann nicht gerechtfertigt wäre. Daher ist zu fragen, ob es aus teleologischer Sicht nötig ist, dass die Strafbarkeit einer SE europaweit einheitlich beurteilt wird, oder ob es als hinnehmbar erscheint, dass etwa eine deutsche SE in Deutschland nicht strafbar ist, eine französische in Frankreich dagegen schon. Dabei ist zu beachten, dass die Strafbarkeit von Unternehmen (im Idealfall) ohnehin einen nur geringen Teil des Wirtschaftlebens einer Gesellschaft beeinflusst. Auch das Personalstatut einer Gesellschaft erfasst diese Frage nicht. Im Strafrecht gelten wegen des Bestimmtheitsgrundsatzes andere Grundsätze als im IPR, über die Anwendung bestimmt das Internationale Strafrecht, nicht das Internationale Gesellschaftsrecht. 552 Es wird also auch vom IPR als hinnehmbar angesehen, dass diese Frage dem Wirkungsstatut oder anderen Statuten, aber nicht dem Personalstatut untersteht. Die Frage der Verbandsstrafbarkeit wird daher nicht von der „Rechtspersönlichkeit“ der SE entschieden. 5. Fazit teleologische Auslegung Die teleologische Auslegung stützt die durch die vorher erörterten Auslegungsmethoden erzielten Ergebnisse und kann zur weiteren Präzisierung herangezogen werden. Grenzen ergeben sich insbesondere aus den Grenzen des Personalstatuts des Gesellschaft. V. Fazit autonome Auslegung Nach der autonomen Auslegung kann als gesichert gelten, dass die europäische „Rechtspersönlichkeit“ der SE die Rechtsfähigkeit umfasst. Daneben ist aus teleologischer Sicht auch dafür zu plädieren, die Handlungs- und Geschäftsfähigkeit ebenfalls der europaweit einheitlichen Einordnung als „Rechtspersönlichkeit“ zu unterstellen. Die anderen Eigenschaften einer Gesellschaft, u.a. die Deliktsfähigkeit oder die Strafbarkeit von Verbänden, würden sich dagegen als Teil der sogenannten „Rechtsstellung“ gem. Art. 9 und 10 SE-VO aus dem jeweiligen Sitzstaatsrecht ergeben bzw. außerhalb des Anwendungsbereichs der SE-VO liegen und damit dem vom IPR der Mitgliedstaaten bestimmten Recht unterfallen.
551 Vgl. entsprechende Überlegungen zum französischen Recht bei Matsopoulou, Rev. sociétés 2004, 283 (284 f.); Klein, RIW 1995, 373 (374). 552 Vgl. dazu ausführlicher Großfeld, in: Staudinger, 13./14. Bearbeitung IntGesR, 1993, Rn. 369 ff.
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
C. Auslegungen in der Literatur C. Auslegungen in der Literatur
I. Prägung der h.M. durch die Kommentierung von Schwarz In der deutschen Kommentarliteratur hat bei der Auslegung der „Rechtspersönlichkeit“ die Interpretation von Schwarz (2006) den größten Einfluss, wohl auch, da es sich dabei um einen der ersten Kommentare zur SE handelte (die Erstauflage von Manz/Mayer/Schröder erschien bereits 2005, hatte aber in späteren Kommentierungen nicht den Einfluss von Schwarz’ Interpretation, wenn Zitate durch andere Kommentare (auch indirekt über Zitate bei Dritten) als Maßstab für den Einfluss genommen werden können). Die meisten darauffolgenden Kommentare zitieren Schwarz direkt, so Lutter in Lutter/Hommelhoff, 2. Aufl., 2008, Oechsler im Münchener Kommentar AktG, 3. Aufl., 2012, Siems im Kölner Kommentar, 3. Aufl., 2012, Habersack in Habersack/Drinhausen, 2013, sowie die Neuauflagen Lutter/Hommelhoff/Teichmann (2. Aufl., 2015), Habersack/Drinhausen (2. Aufl., 2016) und Münchener Kommentar AktG (4. Aufl., 2017). Wo Schwarz nicht direkt zitiert wird,553 werden andere Werke zitiert (insbesondere Lutters Kommentierung in Lutter/Hommelhoff), die wiederum Schwarz’ Interpretation folgen (Lutter besonders deutlich in der Neuauflage 2015, aber auch schon in der ersten Auflage 2008). II. Die h.M.: Rechtsfähigkeit als Mindeststandard – ein Missverständnis Wohl unbestritten anerkannt ist, dass „Rechtspersönlichkeit“ zumindest auch die Rechtsfähigkeit umfasst. 554 Daneben soll nach der h.M. in Deutschland auch die Anerkennung als „juristische Person“ davon umfasst sein, ohne dass allerdings näher erläutert würde, was für ein Konzept von juristischer Person damit gemeint ist.555
553 Insbesondere Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 1 SE-VO Rn. 4 (mit Verweis auf die Kommentierungen bei Lutter/Hommelhoff und Habersack/Drinhausen); ähnlich Schröder, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SE-Kommentar, 2010, Art. 1 Rn. 31 f. 554 So i.E. („Fähigkeit, Träger von Rechten und Pflichten […] zu sein“) auch Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 1 SE-VO Rn. 35; Schröder, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SEKommentar, 2010, Art. 1 SE-VO Rn. 31; Habersack, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 1 SE-VO Rn. 7; dies meint wohl auch Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 1 SE-VO Rn. 4 („Weiterhin folgt aus Art. 3 [wohl zu lesen als: Abs. 3] die Rechtsfähigkeit der SE“). 555 Schröder, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SE-Kommentar, 2010, Art. 1 SE-VO Rn. 31; Oechsler/Mihaylova, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 1 SE-VO Rn. 5; noch weniger auf einen Unterschied zwischen Rechtsfähigkeit und -persönlichkeit eingehend die Vorauflage, Oechsler, in: MüKoAktG Bd. 7, 3. Aufl., 2012, Art. 1 SE-VO Rn. 5, wo es unter der Überschrift „Rechtsfähigkeit“ heißt: „Die SE ist als juristische Person rechtsfähig (Abs. 3)“; Siems, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 1 SE-VO Rn. 23; Habersack, in: Ha-
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Allerdings wird die Zuerkenung von Rechtsfähigkeit häufig als eine Art gemeinschaftsrechtlich einheitlicher „Mindeststandard“ angesehen; dies lässt sich als h.M. bezeichnen, wobei die Stimmen sich jeweils auf Schwarz berufen.556 Allerdings nimmt Schwarz in seiner Auslegung von „Rechtspersönlichkeit“ eine feinsinnige, aber doch deutliche, auch terminologisch nachvollziehbare Abgrenzung zwischen „Rechtspersönlichkeit“ der SE und „Rechtsstellung“ im Übrigen vor. 557 „Rechtspersönlichkeit“ (im europäischen Sinn) ist laut Schwarz mit „Rechtsfähigkeit“ gleichzustellen; darauf deutet zum einen der Vorentwurf von Sanders hin, der „Rechtspersönlichkeit“ in diesem Sinn verstehen wollte, zum anderen ergibt sich dies aus einer rechtsvergleichenden Umschau: Dies sei die einzige Gemeinsamkeit zwischen den Konzepten der Mitgliedstaaten; Unterschiede bestünden vor allem bei der Haftung (etwa haftungsrechtliche Durchlässigkeit der personne morale in Frankreich) und der Abstraktion von Gesellschaftern und Gesellschaft (etwa Deutschland, wo Rechtspersönlichkeit über die (Teil-)Rechtsfähigkeit anderer Handelsgesellschaftsformen hinaus die völlig von den Gesellschaftern losgelöste Rechtssubjektivität beinhalte).558 Von dieser Rechtspersönlichkeit unterscheidet Schwarz die Rechtsstellung: Damit ist die über die bloße Rechtsfähigkeit hinausgehende rechtliche Ausgestaltung der SE gemeint, die die Integration in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ermöglicht; als Beispiele nennt Schwarz den Zugang zum Kapitalmarkt und die Rechtsstellung gegenüber der nationalen Verwaltung,559 daneben wohl auch Fragen wie die Abstraktion der Gesellschaft
bersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 1 SE-VO Rn. 7; Lutter, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 1 SE-VO Rn. 13; Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 1 SE-VO Rn. 4; wohl anders Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 1 SE-VO Rn. 33: „die Rechtspersönlichkeit als solche wird außer Frage gestellt“; damit ist wohl „Rechtsfähigkeit“ gemeint, vgl. Rn. 35: „… bedeutet Rechtspersönlichkeit die Fähigkeit, Träger von Rechten und Pflichten […] zu sein“. 556 Der Ausdruck „Mindeststandard“ findet sich erstmals bei Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 1 SE-VO Rn. 35; Oechsler/Mihaylova, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 1 SE-VO Rn. 5; Siems, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 1 SE-VO Rn. 25 f.; Habersack, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 1 SE-VO Rn. 7; so explizit auch Lutter, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 1 SE-VO Rn. 13; weniger deutlich, aber i.E. ähnlich in der Vorauflage: Lutter, in: Lutter/Hommelhoff, SE-Kommentar, 1. Aufl., 2008, Art. 1 SE-VO Rn. 13. 557 Zu dieser Unterscheidung bereits oben 2. Kap., B III 2, S. 173 f. 558 Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 1 Rn. 35 (mit dem Rechtsvergleich in Fn. 35). 559 Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 1 SE-VO Rn. 36; dagegen folgt die Börsenfähigkeit der SE bereits aus dem Gründungsrecht, siehe mit ausführlicher Begründung Merkt, in: Lutter/Hommelhoff (2005), 179 (185 f.).
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von ihren Gesellschaftern (Haftungsdurchgriff) sowie die ausnahmsweise Haftung der Gesellschafter.560 Der Kern dieser Rechtsstellung ist die „Rechtspersönlichkeit“ im europäischen Sinne, gleichzusetzen mit der Rechtsfähigkeit (im u.a. deutschen Sinne), insofern bildet also die „Rechtspersönlichkeit“ bzw. „-fähigkeit“ einen „Mindeststandard“ – für die Rechtsstellung im Übrigen.561 Diese Rechtsstellung im Übrigen werde von Art. 10 SE-VO bestimmt, demzufolge die SE wie eine Aktiengesellschaft des Sitzstaates behandelt werde, woraus ihre mononationale Rechtsstellung folge.562 In der restlichen Kommentarliteratur, die, wie erwähnt, unter dem Einfluss von Schwarz’ Interpretation steht, wird diese Unterscheidung allerdings nicht mehr vorgenommen; vielmehr wird „Rechtsfähigkeit“ als Mindeststandard von „Rechtspersönlichkeit“ im europäischen Sinn angesehen, während im Übrigen die Mitgliedstaaten diese „Rechtspersönlichkeit“ bestimmen können sollen. Dass dabei ein Missverständnis vorliegt, wird daran deutlich, dass die Kommentarliteratur Schwarz dabei erwähnt, die von ihm gezogene Unterscheidung aber offenbar gar nicht zur Kenntnis nimmt.563 Um die Verschiebung, die hier eintritt, noch einmal anders zu formulieren: Schwarz deutet die europäische „Rechtspersönlichkeit“ als den Kern der Rechtsstellung im Sinn von Rechtsfähigkeit, während bei den restlichen Kommentaren „Rechtspersönlichkeit“ gleichbedeutend mit der Rechtsstellung verwendet wird – als ein relativ konturenloses Konzept, das jedenfalls die Rechtsfähigkeit beinhalten muss, ansonsten aber relativ frei von den Mitgliedstaaten bestimmt werden kann. Auch diese Rechtsposition wird teilweise mit einer Rechtsvergleichung nach dem Vorbild von Schwarz begründet. 564 Für die nähere Ausgestaltung werde, so die h.M., auf das Recht der Mitgliedstaaten verwiesen, meist werden die Art. 1 Abs. 3, 9 Abs. 1 lit. c (ii) SE-VO zitiert.565 Eine Einschränkung folge 560
Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 1 SE-VO Rn. 35. Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 1 SE-VO Rn. 35. 562 Ausführlich unter Auseinandersetzung mit der Geschichte der Vorentwürfe, die ursprünglich eine plurinationale Rechtsstellung vorgesehen hatten, Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 1 SE-VO Rn. 28 ff.; zu dieser Interpretation bereits oben 2. Kap., B III 2, S. 173 f. 563 Oechsler/Mihaylova, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 1 SE-VO Rn. 5; Siems, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 1 SE-VO Rn. 25 f.; Habersack, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 1 SE-VO Rn. 7; Lutter, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 1 SE-VO Rn. 13. 564 In Anlehnung an die Interpretation von Schwarz für die Bedeutsamkeit der nationalen Rechte auch Lutter, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 1 SE-VO Rn. 13, der den Rechtsvergleich von Schwarz übernimmt (auch schon Vorauflage); einen ähnlichen Vergleich mit Frankreich, Schottland und England nimmt auch Siems, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 1 SE-VO Rn. 23 vor, mit gleichem Ergebnis. 565 Meist unter Berufung auf Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 1 SE-VO Rn. 37 f., der diese Normen aber für die Ausgestaltung der Rechtsstellung im Übrigen, also gerade nicht für die Rechtspersönlichkeit zitiert; demgegenüber für die Rechtspersönlichkeit auf Art. 9 SE-VO verweisend Habersack, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 1 SE-VO 561
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aus Art. 10 SE-VO, demzufolge die SE „wie eine Aktiengesellschaft“ des Sitzstaates behandelt werden müsse.566 Dies wird auch mit systematischen Erwägungen abgestützt: Die Haftungsbeschränkung folge bereits aus Art. 1 Abs. 2 S. 2 SE-VO; 567 für den Mindeststandard lasse sich auch auf Art. 1 Abs. 2 EWIV-VO verweisen, hinter dem die SE nicht zurückbleiben dürfe.568 Als Argument wird auch angeführt, dass Art. 1 Abs. 3 SE-VO nicht deswegen vollständig europarechtlich ausgelegt werden dürfe, weil sonst über Art. 10 SE-VO den Mitgliedstaaten vorgeschrieben würde, wie sie die „Rechtspersönlichkeit“ nach nationalem Verständnis auszugestalten hätten. 569 Eine solche Hebelwirkung des Art. 10 SE-VO ist allerdings ausgeschlossen, da das Gleichbehandlungsgebot gem. Art. 10 SE-VO „vorbehaltlich der Bestimmungen“ der SE-VO gilt, also gerade nicht für die „Rechtspersönlichkeit“. Es wirkt also nur dort, wo gar keine europäische Regelung besteht.570 Sollte Art. 10 SE-VO tatsächlich einen solchen Inhalt haben, dass er zu solchen Befürchtungen Anlass gäbe, dürften auch sämtliche anderen Normen der SE-VO nicht „vollständig europaeinheitlich“ ausgelegt werden, da sie sonst die Mitgliedstaaten zu einer Gleichbehandlung zwängen. Besondere Vorsicht wäre dann wohl bei Art. 11 Abs. 1 SE-VO angebracht, da ansonsten schlimmstenfalls die Mitgliedstaaten gezwungen sein könnten, wegen Art. 10 SE-VO auch bei allen Aktiengesellschaften nationalen Rechts den Firmenzusatz „SE“ zu verlangen. Auch andere logische Brüche, etwa mit sonstigen Auslegungsergebnissen, werden bei der Befürwortung eines „Mindeststandards“ hingenommen, wenn etwa zur Rechtfertigung, warum man beim Durchgriff eine europarechtliche Auslegung befürwortet, bei „Rechtspersönlichkeit“ aber nicht, auf Schwarz’ Darstellung der Vorentwürfe verwiesen wird.571 Eine explizite Ablehnung des „Mindeststandards“ findet sich in der Literatur, soweit ersichtlich, nicht.572 Lediglich Casper meint, dies sei „angesichts des weitgehenden Gleichlaufs innerhalb der Mitgliedstaaten zum Verständnis der juristischen Person“ ohnehin eine eher theoretische Frage.573 Rn. 7; Lutter, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 1 SEVO Rn. 13. 566 Schwarz, SE-Kommentar, 2006, S. Habersack Art. 1 SE-VO Rn. 7 (für die Rechtsstellung im Übrigen); Habersack, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 1 SE-VO Rn. 7. 567 Siems, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 1 SE-VO Rn. 23. 568 Siems, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 1 SE-VO Rn. 26. 569 Siems, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 1 SE-VO Rn. 25. 570 Ausführlicher zur Funktion des Art. 10 SE-VO bereits oben 2. Kap., B III 2, S. 172. 571 Lutter, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 1 SEVO Rn. 13: „Dies könnte als Widerspruch angesehen werden, ist es aber nicht“. 572 Zu Interpretationen, die eine mögliche Divergenz zwischen einem europäischen und einem nationalen Konzept nicht ansprechen, sogleich noch unten 2. Kap., C IV, S. 203 f. 573 Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 1 SE-VO Rn. 4.
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
III. Weitere Präzisierungen der h.M. Zur Rechtspersönlichkeit der SE soll jedenfalls (zumindest als sog. Mindeststandard) die Konto- und Grundbuchfähigkeit gehören, weil „andernfalls ihre wirtschaftliche Tätigkeit unzumutbar behindert wäre“.574 Dagegen soll die Prozess- und Besitzfähigkeit aus nationalem Recht folgen.575 Ob die SE selbst handlungsfähig sein soll, ist unklar. Teilweise finden sich Hinweise auf die Vertretertheorie576 oder die Organtheorie.577 Auch die Deliktsfähigkeit der SE wird, soweit ersichtlich, nicht diskutiert. Während das Entstehen der Rechtspersönlichkeit in Art. 16 Abs. 1 SE-VO geregelt sei (konstitutiver Registereintrag),578 wobei die SE-VO einem System der Normativbestimmungen folge,579 herrscht Uneinigkeit darüber, ob das Erlöschen der Rechtspersönlichkeit nationalem Recht überlassen werde, wie einige behaupten. 580 Andere halten dagegen, Art. 63 SE-VO verweise nur für Auflösung und Löschung, nicht aber für das Erlöschen der Rechtsfähigkeit auf nationales Recht.581 Sie folgern aus der Verpflichtung, die Löschung zu registrieren (Art. 14 SE-VO) und der Anknüpfung des Entstehens der Rechtspersönlichkeit an die Registrierung in Art. 16 Abs. 1 SE-VO, dass sich aus europäi-
574 Siems, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 1 SE-VO Rn. 26; i.E. ebenso Lutter, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 1 SE-VO Rn. 17 (mit Herleitung aus nationalem Recht über Art. 10 SE-VO). 575 Siems, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 1 SE-VO Rn. 26; unklar Schröder, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SE-Kommentar, 2010, Art. 1 SE-VO Rn. 31 (Besitzfähigkeit bejaht, aber unklar, ob wegen nationalen oder europäischen Rechts). 576 Lutter, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 1 SEVO Rn. 13a: „Als juristische Person ist die SE selbst nicht handlungsfähig und wird deshalb durch ihre Organe vertreten“. 577 Schröder, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SE-Kommentar, 2010, Art. 1 SE-VO Rn. 31: „Die SE handelt und besitzt durch ihre Organe“. 578 Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 1 SE-VO Rn. 39; Habersack, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 1 SE-VO Rn. 8; Siems, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 1 SE-VO Rn. 24; Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 1 SE-VO Rn. 4; Lutter, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 1 SE-VO Rn. 14. 579 Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 1 SE-VO Rn. 42 f.; Lutter, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 1 SE-VO Rn. 14; Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 1 SE-VO Rn. 4. 580 Siems, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 1 SE-VO Rn. 24; ebenso Lutter, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 1 SE-VO Rn. 16 (dann zweistufiger Erlöschensbegriff: Löschung im Register und Vermögenslosigkeit notwendig); unentschieden dagegen Oechsler/Mihaylova, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 1 SE-VO Rn. 5. 581 Habersack, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 1 SE-VO Rn. 8.
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schem Recht ergebe, dass die Rechtspersönlichkeit mit Eintragung der Löschung erlösche (wobei die Voraussetzungen der Löschung sich allerdings aus nationalem Recht ergeben müssten).582 Nicht in der SE-VO geregelte Fragen wie die nach einem Haftungsdurchgriff richteten sich nach nationalem Recht.583 Die Einordnung der SE als „Korporation“ sei möglich, auf europäischer Ebene (wegen der geringen Regelungsdichte) aber unwichtig und eine „bloße Beschreibung“, dagegen auf nationaler Ebene, zumindest in Deutschland, bedeutsam.584 IV. Aufsatz- und sonstige Literatur In manchen Literaturstellen klingt an, dass auch dort „Rechtspersönlichkeit“ so verstanden werden soll wie hier, wobei allerdings meist auf eine Auseinandersetzung mit anderen Rechtsordnungen verzichtet wird: Teilweise wird anstatt des Terminus „Rechtspersönlichkeit“ gleich der Terminus „Rechtsfähigkeit“ gebraucht585 oder beide Termini werden gleichgesetzt, etwa bei Pluskat: „Die Europäische Aktiengesellschaft erwirbt als juristische Person Rechtsfähigkeit (bzw. ‚Rechtspersönlichkeit‘ nach Art. 1 III VOE, vgl. § 1 Abs. 1 S. 1 AktG) mit […] Registereintragung“.586 In einer Vielzahl von Fundstellen wird „Rechtspersönlichkeit“ zwar erwähnt (etwa unter Verweis auf Art. 1 Abs. 3 SE-VO), das Konzept wird aber nicht näher problematisiert, sodass (wo diesen Gedanke nicht schon der Verfasser der jeweiligen Stelle hatte) spätestens beim Leser der Eindruck entstehen kann, hier handele es sich um das nationale Konzept.587 Teilweise wird auch auf Literatur verwiesen, die deutsches Recht behandelt, um etwa zu belegen, dass
582 Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 1 SE-VO Rn. 40; Habersack, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 1 SE-VO Rn. 8; Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 1 SE-VO Rn. 4. 583 Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 1 SE-VO Rn. 41; einschränkend Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 1 SE-VO Rn. 6: möglicherweise auch Nichtanwendung nationalen Rechts wegen europäisch abgeleiteter teleologischer Reduktion; ebenso einschränkend Habersack, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 1 SE-VO Rn. 6. 584 Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 1 SE-VO Rn. 44 f. 585 Mülbert/Nienhaus, RabelsZ 65 (2001), 513 (523); ebenso Oechsler/Mihaylova, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 1 SE-VO Rn. 5. 586 Pluskat, EuZW 2001, 524 (526). 587 Schröder, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SE-Kommentar, 2010, Art. 1 SE-VO Rn. 31; Austmann, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 83 Rn. 1; Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, § 13 Rn. 12; Hirte, NZG 2002, 1 (2); Kalss/Klampfl, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2015, Rn. 557, vgl. demgegenüber dann aber Rn. 615, Fn. 1960 (zur „juristischen Person“ bei der EWIV); ähnlich auch Drees, Gründung der SE und Vor-SE, 2006, S. 176 (die Vor-SE hat laut ihr noch keine „Rechtspersönlichkeit“ im europäischen Sinn, erwogen wird aber, ob sie rechtsfähig sein kann).
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2. Kapitel: Rechtspersönlichkeit
„Rechtspersönlichkeit und Rechtsfähigkeit nicht gleichlaufen müssen“.588 Indem auf Literatur zum deutschen Recht verwiesen wird, wird damit letztlich implizit das europäische Konzept mit nationalen Mitteln bestimmt.
D. Zwischenergebnis zur Sprachverwirrung D. Zwischenergebnis zur Sprachverwirrung
Bei „Rechtspersönlichkeit“ waren die Ausgangsbedingungen für eine Sprachverwirrung besonders „günstig“. Mit „Rechtspersönlichkeit“ hat der europäische Gesetzgeber einen Terminus gewählt, der so oder so ähnlich in sämtlichen hier untersuchten Rechtssprachen bereits Verwendung findet. Die Unterschiede zwischen den Konzepten der Mitgliedstaaten waren bekannt und so groß, dass etliche Projekte bereits daran gescheitert waren (etwa das Anerkennungsübereinkommen 1968); bei anderen Gesetzgebungsvorhaben hatte man den Terminus noch explizit vermieden (vgl. Art. 1 Abs. 2 EWIV-VO, dazu oben 2. Kap., A, S. 107), schließlich aber doch noch verwendet – noch dazu in einer mit der SE-VO nicht vereinbaren Weise (vgl. dazu oben 2. Kap., B III 5 a, S. 181 ff.), sodass sich auch die systematische Auslegung als wenig hilfreich erweisen musste (2. Kap., B III 8, S. 191). Eine Definition findet sich nicht, obwohl sie – wie die Formulierung in Art. 1 Abs. 2 EWIV-VO zeigt – relativ leicht möglich gewesen wäre, ja eigentlich schon gefunden war. Positiv hervorzuheben ist allein, dass der Terminus deutlich einheitlicher gebraucht wird als etwa „Hauptverwaltung“ 589 – sodass eine systematische Auslegung grundsätzlich möglich wäre, auch wenn sie dann doch an der Zurückhaltung des europäischen Gesetzgebers gegenüber Definitionen scheitert. Ein besserer Nährboden für eine Sprachverwirrung lässt sich kaum denken. Dass eine solche dennoch nicht zwingend eintreten muss, zeigt sich an der Interpretation von Schwarz, der insbesondere nach einer rechtsvergleichenden Umschau zunächst den gesamteuropäischen kleinsten gemeinsamen Nenner zum Terminus herausarbeitet und das Ergebnis – vom deutschen Verständnis des Terminus „Rechtspersönlichkeit“ abweichend die „Rechtsfähigkeit“ – auch mit einer Untersuchung der Gesetzgebungsmaterialien abstützen kann. Zugleich zeigt sich aber auch, dass mit einer solchen Interpretation die Gefahr einer Sprachverwirrung offenbar noch nicht gebannt ist. Denn alle späteren Kommentare missverstehen Schwarz’ eindeutige Auslegung und legen die europäische „Rechtspersönlichkeit“ so aus, dass sie eher dem deutschen (Vor-)Verständnis entspricht, nämlich dass „Rechtsfähigkeit“ nur einen Mindeststandard der europäischen „Rechtspersönlichkeit“ darstellt. Die plausibelste Erklärung dafür ist eine Sprachverwirrung, die erklären würde, warum 588 Casper, Der Konzern 2007, 244 (246) (Verweis auf K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 3 I 3, S. 47 f.). 589 Dazu noch unten das 3. Kap., dort D III 10, S. 282, und F III, S. 304.
D. Zwischenergebnis zur Sprachverwirrung
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deutsche Autoren meinen, „Rechtspersönlichkeit“ müsse doch mehr sein (oder zumindest mehr sein können) als die bloße Rechtsfähigkeit. Schließlich ist in Deutschland die Rechtsfähigkeit nur der Kern eines nicht endgültig definierten Konzepts von „Rechtspersönlichkeit“, um das noch immer gestritten wird. Die Gefahr einer Sprachverwirrung scheinen auch einige Darstellungen in anderen Veröffentlichungen, hauptsächlich Aufsatzliteratur, zu belegen, in denen implizit oder explizit die Termini beider Rechtssprachen, der deutschen und der europäischen, nicht unterschieden werden. Auch dies birgt die Gefahr, dass beide Konzepte letztlich gleichgesetzt werden, wobei nicht von vorneherein klar ist, ob dies im Einzelfall zu Lasten des nationalen Konzepts – wie teilweise befürchtet590 – oder des europäischen Konzepts – wie hier an der Kommentarliteratur gezeigt – gehen würde. Ob Sprachverwirrung dafür eine plausible Erklärung liefert, soll abschließend im Fazit (unten 5. Kap., A II, S. 359 ff.) entschieden werden. Was die Kohärenz der Rechtssprache angeht, lässt sich „Rechtspersönlichkeit“ als Beleg dafür anführen, dass auch eine (relativ) konsequente Verwendung von Termini in mehreren Rechtsakten noch nicht davor schützt, dass beim Fehlen einer Definition doch auf nationale Konzepte zurückgegriffen wird. Obwohl mehrere Rechtsakte sich in dem Sinn lesen lassen, dass mit „Rechtspersönlichkeit“ in Europa die „Rechtsfähigkeit“ gemeint ist, hat ohne eine explizite Definition das europäische Konzept offenbar nicht die Kraft, sich gegenüber den verlockenderen nationalen Konzepten durchzusetzen.
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Konkret für den Terminus „Rechtspersönlichkeit“ befürchtet dies etwa Lehmann, AcP 207 (2007), 225 (242): „Dieser internationale Sprachgebrauch hat durchaus Konsequenzen für unsere Rechtssprache. Man schreibt beispielsweise auch in der deutschen Literatur über die ‚Rechtspersönlichkeit‘ der Europäischen Union, wenn man deren Rechtsfähigkeit meint. [Fn. m.w.N.] Die neue, im Gesellschaftsrecht eingeführte Unterscheidung zwischen Rechtspersönlichkeit und Rechtsfähigkeit wird es schwer haben, sich gegenüber der internationalen Terminologie durchzusetzen. Tatsächlich entsteht hier eine neue ‚Begriffsverwirrung‘“.
Kapitel 3
Hauptverwaltung A. Einleitung: Bedeutung der Sitzverlegung für die Rechtsform der SE A. Bedeutung der Sitzverlegung für die SE
„Hauptverwaltung“ wird in der SE-VO u.a. im Kontext der Art. 7, 8 SE-VO verwendet, die die identitätswahrende grenzüberschreitende Sitzverlegung ermöglichen. Diese Möglichkeit macht angesichts der im Übrigen wenigen greifbaren Vorteile einen großen Teil der Attraktivität der neuen Rechtsform SE aus.1 Bisher sollen ca. 4 % aller SE ihren Sitz verlegt haben, darunter waren zehn Sitzverlegungen nach Deutschland.2 Die Frage, ob eine identitätswahrende Sitzverlegung möglich ist, ist eines der zentralen Themen im europäischen Gesellschaftsrecht. Der EuGH hat dem Thema unter dem Gesichtspunkt der Niederlassungsfreiheit eine Reihe viel beachteter Urteile gewidmet. 3 Auch wenn die grundsätzliche primärrechtliche 1
Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), Brüssel, den 17.11.2010, KOM(2010) 676 endgültig, S. 4; aus der Literatur: Blanquet, ZGR 2002, 20 (42) („Rückgrat der SE“); ähnlich auch schon Blanquet, Rev. sociétés 2000, 115 (115 ff., 121 ff.); Kallmeyer, AG 1998, 88 (88); Werlauff, SE: The Law of the European Company, 2003, S. 119; Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 7; H. Zimmer, EWS 2010, 222 (225); Cathiard, Bull. Joly Soc. 2007, 539 (545); Cathiard, JCP-E 2012, 13, Artikel 212, 9 (9) („un atout non négligeable“); letztlich auch positiv Behme, BB 2008, 70 (73); aus demselben Gedanken heraus auch Braun, Jura 2005, 150, die fragt, ob die SE nach „Inspire Art“ bereits ein „Auslaufmodell“ sei. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Erwägungsgründe 24 und 25. Dabei wurde die Regelung zur Sitzverlegung erst 1991 aufgenommen und trat an die Stelle der früheren ablehnenden Haltung der Kommission, die vor dem Übergang vom Vollstatut zur Rahmenregelung noch eine „Erschleichung einer identitätswahrenden Sitzverlegung“ zu verhindern suchte, vgl. Oechsler, NZG 2005, 697 (373). 2 So der Stand am 21.10.2017 laut , zuletzt abgerufen am 21.10.2017; W. Bayer, in: Bergmann u.a. (2015), 230 (236); Schuberth/von der Höh, AG-Report 2014, 439 (442) (7 Sitzverlegungen nach Deutschland bis 2014); mit französischen Beispielen Cathiard, JCP-E 2012, 13, Artikel 212, 9 (212/11); Cathiard, Journal des sociétés 2011, 39 (39 ff.); vgl. aus der Praxis Aila, in: Lenoir (2007), 219 (220) (Elcoteq SE). 3 EuGH, Rs. 81/87, Urt. vom 27.09.1988, Slg. 1988, 5483 („Daily Mail“); EuGH, Rs. C212/97, Urt. vom 09.03.1999, Slg. I-1999, 1484 („Centros“); EuGH, Rs. C-208/00, Urt. vom
A. Bedeutung der Sitzverlegung für die SE
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Zulässigkeit einer (Verwaltungs-4)Sitzverlegung damit näher geklärt ist, bleiben insbesondere im Bereich des Wegzugs viele konkrete Fragen offen.5 Das IPR der Mitgliedstaaten erklärt für denselben Sachverhalt teilweise verschiedene Rechtsordnungen für anwendbar, zudem wird durch das Recht der Mitgliedstaaten insbesondere der Wegzug von Gesellschaften erschwert, sodass ein Sitzwechsel außerhalb der SE-VO häufig unmöglich6 ist. Weiterhin bleiben nach dem Urteil „Cartesio“7 des EuGH Wegzugsbeschränkungen zulässig, und schließlich hält das Primärrecht auch kein Verfahren für die Sitzverlegung bereit.8 Gerade bei heiklen Vorgängen wie der Sitzverlegung ins Ausland und dem damit verbundenen Wechsel der Rechtsordnung ist jedoch der Bedarf nach Rechtssicherheit bei Unternehmen besonders groß. Alternativen sind rar. Bemühungen um konkrete Verfahren zur Wahrnehmung der Niederlassungsfreiheit reichen zwar bis in die 1960er Jahre zurück, als man mit zwischenstaatlichen Übereinkommen9 (letztlich vergeblich) Einigkeit herzustellen suchte. Ein ähnliches Schicksal teilt derzeit die Vierzehnte Richtlinie, 10 die wohl auch auf absehbare Zeit ein Entwurf bleiben wird 11 – 05.11.2002, Slg. I-2002, 9919 („Überseering“); EuGH, Rs. C-167/01, Urt. vom 30.09.2003, Slg. I-2003, 10195 („Inspire Art“); EuGH, Rs. C-210/06, Urt. vom 16.12.2008, Slg. I-2008, 9641 („Cartesio“); EuGH, Rs. C-371/10, Urt. vom 29.11.2011, Slg. I-2011, 12307 („National Grid Indus“). Ähnliche Fälle betrafen die Urteile EuGH, Rs. C-411/03, Urt. vom 05.12.2005, Slg. I-2005, 10825 („SEVIC“); EuGH, Rs. C-378/10, Urt. vom 12.07.2011 („VALE“). 4 Siems, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Vor Art. 1 SE-VO Rn. 80 weist darauf hin, dass damit eine Änderung des Satzungssitzes noch nicht möglich ist. 5 Zum Stand nach „Inspire Art“ Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 8–10; sowie Grohmann/Gruschinske, GmbHR 2008, 27 (28); dies gilt nach „Cartesio“ umso mehr: Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, Rn. 836, 876 m.w.N.; ebenso H. Zimmer, EWS 2010, 222 (225); Lutter, BB 2003, 7 (10). 6 Grohmann/Gruschinske, GmbHR 2008, 27 (28). 7 EuGH, Rs. C-210/06, Urt. vom 16.12.2008, Slg. I-2008, 9641 („Cartesio“). 8 Grohmann/Gruschinske, GmbHR 2008, 27 (31). 9 Übereinkommen über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften und juristischen Personen, unterzeichnet am 29. Februar 1968, Sonderbeilage zum Bulletin Nr. 2-1969 der Europäischen Gemeinschaften; siehe dazu bereits oben 2. Kap., B III 4, S. 178 ff.; zuvor war schon auf der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht 1951 ein (nicht in Kraft getretener) Entwurf verfasst worden, abgedruckt als „Projet de Convention concernant la reconnaissance de la personnalité juridique des sociétés, associations et fondations étrangères“ in RabelsZ 17 (1952), 270 ff. 10 Vorschlag für eine Vierzehnte Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verlegung des Sitzes einer Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat mit Wechsel des für die Gesellschaft maßgebenden Rechts, 22.04.1997, abgedruckt in ZIP 1997, 1721. Zum Übereinkommen und zur Vierzehnten Richtlinie ausführlicher unten 3. Kap., D III 7, D III 9, S. 280 f. und S. 281 f. 11 Zur neueren Entwicklung W. Bayer, in: Bergmann u.a. (2015), 230 (250); W. Bayer/Schmidt, BB 2014, 1219 (1225).
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
nicht zuletzt, weil mit der SE jetzt ein gangbarer Weg ja besteht.12 Die verabschiedete Zehnte Richtlinie13 dagegen ist trotz großer Ähnlichkeiten zwischen Sitzverlegung und Fusion14 kein vollwertiger Ersatz, sondern ein aliud. Dies stärkt auch insgesamt die Bedeutung der SE. Die Auslegung von Termini wie „Hauptverwaltung“ ist daher für die SE von besonderer Bedeutung.
B. Hintergrund: Sitz- und Gründungstheorie(n) B. Hintergrund: Sitz- und Gründungstheorie(n)
Bei bisherigen Versuchen, eine grenzüberschreitende Sitzverlegung in Europa zu ermöglichen, hat sich insbesondere das Problem gestellt, dass die Internationalen Privatrechte der Mitgliedstaaten verschiedene Vorstellungen haben, welches das maßgebliche Anknüpfungskriterium sein soll, von dem das auf eine Gesellschaft anwendbare Gesellschaftsrecht abhängt. Da sich somit auch die SE-VO diesem Thema stellen musste, soll im Folgenden kurz dieser Hintergrund skizziert werden, der das europäische Recht beeinflusst hat. I. Terminologische Vorfrage: Gibt es „die eine“ Sitztheorie? Meist findet sich die Aussage, die europäischen Länder ließen sich in solche einteilen, die „der Gründungstheorie“ folgten, und andere, in denen „die Sitztheorie“ herrschend ist. 15 Diese Aussage macht auch an der deutschen Sprachgrenze nicht halt; „Sitztheorie“ wird auf Französisch „théorie du siège réel“, auf Englisch „real seat-theory“, italienisch „teoria della sede reale“ genannt. Damit wird suggeriert, dass eine gewisse Einheitlichkeit zwischen den Theorien der jeweiligen Länder bestehe; tatsächlich werden die Konzepte für 12
Europäische Kommission, Impact assessment on the Directive on the cross-border transfer of registered office, SEC(2007) 1707, abrufbar unter , zuletzt abgerufen am 21.10.2017; ebenso die Rede des EU-Kommissars Charlie McGreevy am 03.10.2007 vor dem Rechtsausschuss des EU-Parlaments, zitiert nach Grohmann/Gruschinske, GmbHR 2008, 27 (27); dort S. 31 allerdings kritisch zu den Möglichkeiten für kleine und mittlere Unternehmen, für die die SE oft keine wirkliche Option darstellt; ähnlich Behme, BB 2008, 70 (73). 13 Richtlinie 2005/56/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2005 über die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten, ABl. L 310 vom 25.11.2005, S. 1–9, jetzt neu kodifiziert in Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts (Text von Bedeutung für den EWR), ABl. L 169 vom 30.06.2017, S. 46– 127. 14 Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, Rn. 836 (Fn. 7). 15 Vgl. statt vieler Wenz, in: Theisen/Wenz, Die europäische Aktiengesellschaft, 2005, S. 207 ff.; Ebenroth/Sura, RabelsZ 43 (1979), 315 (322); Eidenmüller, ZIP 2002, 2233 (2234); Leible/Hoffmann, RIW 2002, 925 (925); Knobbe-Keuk, ZHR 154 (1990), 325 (326).
B. Hintergrund: Sitz- und Gründungstheorie(n)
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die jeweiligen Anknüpfungskriterien aber von den jeweiligen Ländern bestimmt, also potenziell unterschiedlich. In Stellungnahmen des Generalanwalts beim EuGH16 sowie in der Literatur17 wurde bereits darauf hingewiesen, dass das Verwaltungssitzkriterium von den einzelnen Ländern unterschiedlich bestimmt werden kann. Auch wenn der Terminus „Sitztheorie“ gleichermaßen für die deutsche Sitztheorie und als Sammelbegriff für die Theorien der Mehrheit der Länder Kontinentaleuropas verwendet wird, handelt es sich jeweils um verschiedene Konzepte;18 Ähnliches dürfte für den Terminus „Gründungstheorie“ gelten.19 Wird „Sitztheorie“ übernational gebraucht, wird damit ein eher an tatsächlichen Gesichtspunkten orientiertes Anknüpfungskriterium beschrieben, das (insbesondere) die gegenwärtige Situation einer Gesellschaft auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten in den Blick nimmt, während „Gründungstheorie“ eine eher formelle Abgrenzung meint, die meist an Tatbestände des Gründungsvorgangs anknüpft.20 16 Schlussanträge des Generalanwalts Marco Darmon, Rs. 81/87, 07.06.1988 („Daily Mail“), Rz. 2: „Unterschiede zwischen den Referenzbegriffen“, die die Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten noch verschärfen. 17 Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, Rn. 170 (Fn. 5); Pohlmann, Das französische Internationale Gesellschaftsrecht, 1988, S. 54; Rohde, Europäische Integration und Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften von und nach Deutschland, 2002, S. 279 f.; Allotti, in: Corapi/Pernazza, Società europea, 2011, S. 48. Ebenso Drury, E.L. Rev. 24 (1999), 354 (362), der sich auf den KPMG-Bericht von 1993 beruft (K.P.M.G. European Business Centre, Brussels, KPMG-Report 1993, 1993.). M.E. ist die dort fragliche Stelle (Drury bezieht sich hier wohl auf S. 28) aber so zu lesen, dass zwar zu befürchten ist, dass die Behörden verschiedener Mitgliedstaaten zu verschiedenen Ergebnissen kommen, dies jedoch an den Problemen liegt, das Kriterium der Hauptverwaltung im Einzelfall faktisch festzustellen; vgl. ferner Europäische Kommission, Impact assessment on the Directive on the cross-border transfer of registered office, SEC(2007) 1707, abrufbar unter , zuletzt abgerufen am 21.10.2017, S. 42. 18 Ausführlicher zu den verschiedenen Konzepten unten 3. Kap., D I, S. 223–258. 19 Vgl. bereits in diesem Sinne zu den verschiedenen „Schattierungen der Gründungstheorie“ (bzw. Gründungstheorien), deren Unterschiede in der Diskussion jedenfalls in Deutschland verkannt werden, J. Hoffmann, ZVglRWiss 101 (2002), 283 (283 ff.), vgl. dort auch S. 300: „Die kontinentaleuropäischen Gründungs- und Registrierungstheorien“; vgl. ferner die distanzierende Erwähnung „‚der‘ Gründungstheorie“ bei Engert, ZVglRWiss 104 (2005), 444 (456, Fn. 55); zur Verwendung des Plurals sogleich im Text. 20 Mit dieser weiten Formulierung ließe sich auch die Satzungssitzanknüpfung noch als „Spielart der Gründungstheorie“ verstehen, so wohl D. Zimmer, in: FS Buxbaum 2000, 655 (656) Fn. 5; Engert, ZVglRWiss 104 (2005), 444 (456); wohl auch Neumayer, ZVglRWiss 83 (1984), 129 (137 ff.); dagegen weist J. Hoffmann, ZVglRWiss 101 (2002), 283 (283 ff.) darauf hin, dass der Satzungssitz bei den meisten Gründungstheorien, insbesondere in England und den USA, für die Bestimmung des anwendbaren Gesellschaftsrecht keine Rolle spielt. Unten wird noch darauf zurückzukommen sein, dass gerade im Kontext der SE aus Gründen sprachlicher Klarheit hier von der „Satzungssitzanknüpfung“ als einer dritten Methode gesprochen werden sollte, 3. Kap., D IV 1, S. 285.
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
Im Folgenden wird der Terminus „Sitztheorie“ daher für die Anknüpfungsmethode des IPR eines einzelnen Staates benutzt, während die Gesamtheit dieser Theorien mit „Sitztheorien“ im Plural bezeichnet wird. Auf die unglückliche Praxis, sowohl ein nationales Konzept als auch ein übernationales Phänomen mit demselben Terminus zu erfassen, wird noch zurückzukommen sein.21 II. Darstellung nach kollisionsrechtlichen und sonstigen Gesichtspunkten getrennt Im Folgenden soll dargestellt werden, was es bedeutet, im europäischen Recht nach Antworten auf Fragen zu suchen, die von den Mitgliedstaaten gestellt werden. Dabei ist zu beachten, dass es sich um verschiedene Fragen handelt, die miteinander verwoben sind. Ausgangspunkt von Sitz- und Gründungstheorien ist das Kollisionsrecht. Gleichwohl werden an diese auch materiell-rechtliche Folgen für die Sitzverlegung ins Ausland geknüpft. Dies ist offensichtlich, sofern es um die bloße Verlegung des Verwaltungssitzes ins Ausland geht: Eine solche ist nach den Gründungstheorien ohne Weiteres möglich, insbesondere ohne Folgen für die anwendbare Rechtsordnung, nicht jedoch nach den Sitztheorien, für die sich das Anknüpfungskriterium ändert. Sofern es aber um die Möglichkeit einer identitätswahrenden Sitzverlegung in eine andere Rechtsordnung geht, sind die materiell-rechtlichen Folgen von der kollisionsrechtlichen Anknüpfung unabhängig. Hier können Gründungstheoriestaaten wie etwa England die Freiheit der Gesellschaft einschränken, während eine Verlegung in manchen Sitztheoriestaaten wie Frankreich denkbar ist.22 Daher empfiehlt sich eine getrennte Darstellung.23 III. Sitztheorien: Kollisionsrecht Das Kollisionsrecht hat die Aufgabe, unter Verwendung eines Anknüpfungskriteriums das auf eine Gesellschaft anwendbare Recht (Personalstatut) festzulegen. Die Sitztheorien stellen für das anwendbare Gesellschaftsrecht24 auf den Verwaltungssitz der Gesellschaft ab.25 Den Sitztheorien werden klassischerweise die Länder des kontinentalen Europas (mit Ausnahme etwa Dänemarks
21
S. unten 3. Kap., F I, S. 302. Dazu näher unten 3. Kap., D I 4 a, S. 247. 23 Vgl. etwa die Darstellungen von Drury, E.L. Rev. 24 (1999), 354 (358 ff.); Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 26 f.; J. Hoffmann, ZIP 2007, 1581 (1583 u. ff.). Eine solche Trennung fehlt dagegen zum Beispiel bei Drygala/Staake/Szalai, Kapitalgesellschaftsrecht, 2012, § 2 Rn. 29. 24 Zum Anknüpfungsgegenstand „Gesellschaftsrecht“ vgl. Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, S. 174. 25 In Deutschland: aus der Rechtsprechung vgl. nur BGH, V ZR 139/68, Urt. vom 30.01.1970, BGHZ 53, 181, 183; BGH, VIII ZR 155/02, Urt. vom 29.01.2003, BGHZ 153, 22
B. Hintergrund: Sitz- und Gründungstheorie(n)
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und der Niederlande) zugerechnet, insbesondere also Frankreich sowie zumindest ursprünglich auch Italien und Deutschland.26 Andererseits sind auch die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten vom europäischen Recht nicht unbeeinflusst geblieben; seit den späten 1980er Jahren hat gerade auch das europäische Recht die Sitztheorien zurückgedrängt.27 Ursprung der Sitztheorien war das Bestreben Frankreichs und anderer Länder Mitte des 19. Jahrhunderts, das Abwandern von Kapitalgesellschaften aus dirigistischen Wirtschaftssystemen und ihren Rechtsordnungen in liberalere (namentlich England) zu vermeiden; dies war nach der dort bis dahin geltenden
353, 355; BGH, II ZR 158/06, Urt. vom 27.10.2008, BGHZ 178, 192 („Trabrennbahn“) sowie unten 3. Kap., D I 1 a, S. 225 f. ausführlicher zur Rechtsprechung in Deutschland; in der Literatur etwa vertreten von Kindler, in: MüKoBGB Bd. 11, 2015, IntGesR Rn. 420–425; Kindler, NJW 2003, 1073 (1079); Altmeppen/Wilhelm, DB 2004, 1083 (1085 ff.); Großfeld, RabelsZ 31 (1967), 1 (22 ff.); Großfeld, in: Staudinger, 13./14. Bearbeitung IntGesR, 1998, Rn. 38–77; W. Bayer, BB 2003, 2357 (2363 f.); Hohloch, in: Erman, 2014, Anh II Art. 12 EGBGB Rn. 11; Koch, in: Hüffer, Aktiengesetz, 2016, § 1 AktG Rn. 36; Thorn, in: Palandt, 2017, (IPR) Anh EGBGB 12 Rn. 10; Assmann, in: Hopt/Wiedemann, GroßkommAktG, 2004, Einl. AktG Rn. 540–549; Schlenker, Gestaltungsmodelle einer identitätswahrenden Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften über die Grenze, 1998, S. 61 f.; Ebke/Neumann, JZ 1980, 652 (652); Ebke, JZ 2003, 927 (930); Ebke, in: FS Sandrock 2011, 175 (198 ff.); Weller, IPRax 2003, 324 (328); Weller, IPRax 2009, 202 (207); Ebenroth/Sura, RabelsZ 43 (1979), 315 (340 f.); wohl auch Michalski, NZG 1998, 762 (762). 26 Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, Rn. 173. 27 1988 konstatierten Ebenroth/Bippus noch, Gründungs- und Sitztheorien hätten „zur Zeit noch in etwa gleiche Bedeutung im Internationalen Gesellschaftsrecht“, jedoch bereits mit dem Hinweis, zumindest „im EG-Bereich“ sei „die Sitztheorie“ (wegen der zunehmenden Rechtsharmonisierung zunehmend an Legitimation einbüßend) nur noch eine „Theorie auf Zeit“, Ebenroth/Bippus, JZ 1988, 677 (677); ähnlich Leupold, Europäische Aktiengesellschaft, 1993, S. 30; Großfeld/König, IPRax 1991, 380 (380); Großfeld/König, RIW 1992, 432 (435); Großfeld, AG 1987, 261 (263); Ebke, JZ 1999, 656 (661). Seit 1987 wendet z.B. die Schweiz eine Sitztheorie nur noch subsidiär an (vgl. Großfeld, in: Staudinger, 13./14. Bearbeitung, IntGesR, 1993, Rn. 151; Moor, Italienisches Internationales Gesellschaftsrecht, 1997, S. 21), ebenso Liechtenstein, Drury, E.L. Rev. 24 (1999), 354 (356). Zu durch den europäischen Kontext angeregten „Blitz-GmbH“ in Spanien Vietz, GmbHR 2003, 26; Vietz, GmbHR 2003, 523; in Frankreich Becker, GmbHR 2003, 706. Solche Tendenzen in Reaktion auf die EuGH-Rechtsprechung will auch Peifer, Kapitalgesellschaften in Frankreich, 2009, Rn. 147 in der französischen Rechtsprechung erkannt haben, nennt jedoch nur Urteile von 1990/1991; zu Frankreich auch Grundmann, in: Rosen/DAI (2003), 47 (52); aus Österreich OGH, 6 Ob 123/99b, Beschl. vom 15.07.1999, NZG 2000, 36 m. krit. Anm. Kieninger, NZG 2000, 39. Ein Überblick findet sich bei Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, Rn. 173; Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 80; Albers, Die Begriffe der Niederlassung und Hauptniederlassung, 2010, S. 263 ff.; zu osteuropäischen Staaten Kalss (Hrsg.), „Centros“ und die Beitrittswerber, 2000. Zur Entwicklung in Italien und Deutschland s.u. 3. Kap., D I 1 und 2, S. 224 ff., 234 ff.
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
Gründungstheorie noch möglich, ohne die Hauptverwaltung aus dem Herkunftsstaat (im Beispiel also Frankreich) zu verlegen.28 Auch heute noch ist einer der häufig aufgeführten Gründe für die Sitztheorien, Missbrauchsfälle zu vermeiden, etwa unter dem Stichwort sog. „pseudo-foreign corporations“, bei denen sich die Tätigkeit im Ausland im Vorhalten eines Briefkastens erschöpft.29 Dass nicht einmal der tatsächliche Verwaltungssitz im Gebiet der Heimatrechtsordnung gewählt werden muss, lässt weiter großen Spielraum für einen „Wettbewerb der Rechtsordnungen“ nach US-amerikanischem Vorbild,30 in dem Pessimisten ein „race to the bottom“ befürchten.31 Tatsächlich haben in den USA – also einem Land, in dem traditionell eine Gründungstheorie gilt – mehrere Bundesstaaten, darunter New York und Kalifornien, Anlass gesehen, sich gegen das aus anderen Bundesstaaten (meist Delaware) im Wege von Briefkastengesellschaften importierte Gesellschaftsrecht zu wehren, und mit speziellen Vorschriften, die je nach dem tatsächlichen Tätigkeitsschwerpunkt angeknüpft werden, auf Scheinauslandsgesellschaften reagiert.32 Befürworter der Sitztheorien nehmen weiter für sich in Anspruch, sachgerechtere Ergebnisse zu erhalten, da die Rechtsordnung, in der die Gesellschaft typischerweise tätig wird, dann auch diejenige ist, die das auf sie anwendbare
28 Zur Geschichte der Sitztheorien Merkt, RabelsZ 59 (1995), 545 (560 f.); Großfeld, in: FS Westermann 1974, 199 (208 ff.). 29 Vgl. z.B. Schlenker, Gestaltungsmodelle einer identitätswahrenden Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften über die Grenze, 1998, S. 9 f.; Ebenroth/Sura, RabelsZ 43 (1979), 315 (340 f.); K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2003, § 1 II 8 (S. 27 f.); Batiffol/Lagarde, DIP Band I, 1993, Rn. 193; Ausdruck nach Latty, Yale L.J. 65 (1955/1956), 137. 30 Darstellungen zum Wettbewerb der Rechtsformen finden sich bei Merkt, RabelsZ 59 (1995), 545 (dort auch S. 560 f. zu den in Europa herrschenden Sitztheorien als den Wettbewerb im Vergleich zu den USA bremsenden Faktor); Sandrock, RabelsZ 42 (1978), 227 (229 ff.). 31 BGH, VII ZR 370/98, Beschl. vom 30.03.2000, NZG 2000, 926, 927 (Vorlagebeschluss „Überseering“), im Anschluss an die Literatur insbesondere in den USA: zuerst Cary, Yale L.J. 83 (1974), 663; für einen optimistischeren Ansatz dagegen Winter, J. Legal Stud. 6 (1977), 251; vermittelnd Romano, J. Law Econ. Organ 1 (1985), 2, 225; Bratton, The University of Toronto Law Journal 44 (1994), 4, 401. Pessimistisch aus der deutschen Literatur z.B. Kieninger, ZEuP 2004, 685 (692 f.) zur konkreten Ausgestaltung des Wettbewerbs durch die EuGH-Rechtsprechung; H. Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, S. 783; Kindler, AG 2007, 721 (726); skeptisch auch Weller, IPRax 2003, 324 (328); Buxbaum, in: FS Sandrock 2000, 149 (160). 32 Unter Rückgriff auf die Vorarbeiten von Latty, Yale L.J. 65 (1955/1956), 137 aus deutscher Sicht dazu: Sandrock, RabelsZ 42 (1978), 227 (246 ff.) (dort auch zur Überlegenheit solcher kollisionsrechtlicher Abhilfen gegenüber materiell-rechtlicher Regulierung; dies nimmt er als „Lehrstück“ für seine Überlagerungstheorie); H. Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, S. 783; Ebke, in: FS Sandrock 2011, 175 (186); m.w.N. Merkt, US-amerikanisches Gesellschaftsrecht, 2013, Rn. 227 ff.
B. Hintergrund: Sitz- und Gründungstheorie(n)
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Recht enthält.33 Schutznormen insbesondere für Minderheitsgesellschafter oder Gläubiger lassen sich so nicht so leicht umgehen.34 Die Sitztheorien hätten überdies den Vorzug einer wirksameren staatlichen Kontrolle.35 Zudem wird darauf hingewiesen, dass nach den Gründungstheorien der Tatbestand der „Gründung“ vom jeweiligen nationalen Recht abhängt.36 Problematisch wird es insbesondere, wenn die Registrierung in einem anderen Staat erfolgt als in dem, in dem zuvor der Gesellschaftsvertrag abgeschlossen wurde – wegen der unterschiedlichen Notarkosten soll dies durchaus vorkommen. 37 Dies kann dazu führen, dass bei Unterschieden bezüglich der Frage, wann die Gründung einer Gesellschaft als abgeschlossen betrachtet werden kann (wie etwa zwischen Deutschland und Italien), mehrere Rechtsordnungen oder gar keine auf eine Gesellschaft anwendbar sein können.38 IV. Gründungstheorien: Kollisionsrecht Die Gründungstheorien dagegen stellen grundsätzlich darauf ab, wo die Gesellschaft gegründet wurde und folglich seitdem registriert ist (engl. sog. registered oder registration office). Sie gelten neben Dänemark, den Niederlanden, Schweden und Finnland namentlich im angloamerikanischen Rechtskreis, in Europa also insbesondere in England und Wales sowie in Irland.39 Auch in der deutschen Literatur wird eine Gründungstheorie von einer Reihe von Autoren vertreten.40 Die Gründungstheorien erlauben durch die bloß formelle Registrierung in einem Staat, der von dem Staat der Hauptverwaltung verschieden 33
BGH, VII ZR 370/98, Beschl. vom 30.03.2000, NZG 2000, 926, 927. BGH, VII ZR 370/98, Beschl. vom 30.03.2000, NZG 2000, 926, 927; Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, S. 170; Schlenker, Gestaltungsmodelle einer identitätswahrenden Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften über die Grenze, 1998, S. 9 f. 35 BayObLG, 3 Z BR 14/92, Beschl. vom 07.05.1992 = GmbHR 1992, 529, Rz. 10; BayObLG, 3 Z BR 78/98, Beschl. vom 26.08.1998 = IPRax 1999, 364, 365; H. Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, S. 784. 36 Kindler, RabelsZ 61 (1997), 227 (283). 37 Kindler, RabelsZ 61 (1997), 227 (283). 38 Kindler, RabelsZ 61 (1997), 227 (283) mit einem Beispiel für solche Fälle positiver und negativer Kompetenzkonflikte: „So wäre etwa eine in Deutschland errichtete und in Italien eingetragene Gesellschaft in beiden Staaten ‚gegründet‘, eine in Italien errichtete und in Deutschland eingetragene Gesellschaft verfügte über keinen Gründungsort.“ 39 Merkt, RabelsZ 59 (1995), 545 (650); Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, S. 173. 40 Kötz, GmbHR 1965, 69 (70); Sturm, NJW 1974, 1036 (1037); Knobbe-Keuk, ZHR 154 (1990), 325 (325 ff., besonders S. 355 f.); für das internationale Konzernrecht Neumayer, ZVglRWiss 83 (1984), 129 (139 ff.); so auch (neben der Berücksichtigung der EuGH-Rechtsprechung) mit dem Argument, die Gründungstheorie begünstige einen Wettbewerb der Gesellschaftsformen, Eidenmüller, ZIP 2002, 2233 (2235). Zu einer Reihe von Autoren, die unter dem Eindruck der EuGH-Rechtsprechung seit dem Urteil „Centros“ einen Übergang zur Gründungstheorie für notwendig oder angezeigt halten, s.u. 3. Kap., B VI, S. 218 f. 34
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
sein kann, eine größere, praktisch uneingeschränkte Rechtswahlfreiheit.41 Aus staatlicher Sicht entspricht sie am besten den Interessen der Länder, die (Kapital und) Rechtsformen exportieren (insbesondere England als Kolonialmacht im 18. und 19. Jahrhundert)42 und im Gegenzug ausländische Gesellschaften anerkennen (was oft im Theoretischen verbleibt). 43 Zudem verweisen auch Vertreter der Gründungstheorien auf die Rechtssicherheit – die Feststellung eines tatsächlichen Sitzes kann im Einzelfall zu Abgrenzungsproblemen führen.44 Darüber hinaus ist zu beachten, dass bereits vor der Subsumtion im Einzelfall bereits „die abstrakte Präzisierung des Begriffs“ (des tatsächlichen Sitzes) nicht einfach ist.45 Die meisten Mitgliedstaaten folgen in ihrem IPR einer Sitz- oder Gründungstheorie oder kombinieren beide Kriterien.46 Substantiell andere Anknüpfungskriterien werden kaum noch verwendet;47 auch die in der Literatur genannten Alternativen kombinieren meist Gründungs- und Sitztheorien und spalten den einheitlichen Anknüpfungsgegenstand „Gesellschaftsrecht“ verschieden auf.48 Für die Zwecke dieser Untersuchung ist eine nähere Darstellung nicht erforderlich. 41 Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, S. Rn. 171; Panthen, Sitzbegriff, 1988, S. 51. 42 Großfeld, in: FS Westermann 1974, 199 (203); Panthen, Sitzbegriff, 1988, S. 52; Knobbe-Keuk, ZHR 154 (1990), 325 (326). 43 Batiffol/Lagarde, DIP Band I, 1993, Rn. 194; H. Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, S. 783; Pohlmann, Das französische Internationale Gesellschaftsrecht, 1988, S. 42. 44 Vgl. etwa die Schlussanträge des Generalanwalts Marco Darmon, Rs. 81/87, 07.06.1988 („Daily Mail“) Rz. 5 („Der Begriff der Geschäftsleitung ist schlecht in den Griff zu bekommen“); Noack, ZGR 1998, 592 (615 f.) („spielt keine Rolle mehr“, „geht ins Leere“); zustimmend D. Zimmer, in: FS Buxbaum 2000, 655 (667, 659 ff. zu Beispielen aus der Rechtsprechung). U.a. war dies auch der Grund für Italien, 1995 von seiner Sitztheorie weitgehend Abstand zu nehmen, vgl. Kindler, RabelsZ 61 (1997), 227 (282) (mit Fn. 332). Vgl. dazu unten 3. Kap., D, S. 223 ff., zum Versuch, eine europaweit gültige Definition von „Hauptverwaltung“ zu finden. 45 D. Zimmer, in: FS Buxbaum 2000, 655 (658 f.); Grasmann, System des internationalen Gesellschaftsrechts, 1970, S. 114 ff. (Rn. 102 ff.) zu den verschiedenen Varianten der Sitztheorie (innerhalb der deutschen Literatur und Rechtsprechung). Dazu unten 3. Kap., D I 1 c, S. 229 ff. 46 Vgl. für einen Überblick Leible, in: Michalski, GmbHG, Kommentar Bd. I, 2017, Systematische Darstellung 2, Internationales Gesellschaftsrecht, Rn. 11 ff. 47 Zur Satzungssitzanknüpfung bereits oben 3. Kap., B I, S. 209, Fn. 20, sowie unten bei 3. Kap., D IV 1, S. 285. Zu einer Reihe von überkommenen Anknüpfungslehren mit gesonderten Anknüpfungskriterien, die jedoch so nicht mehr vertreten werden, vgl. Panthen, Sitzbegriff, 1988, S. 46 f. 48 So etwa die „Differenzierungslehre“ (trennt Innenbeziehungen (Gründungsrecht) von Außenbeziehungen („Wirkungsstatut“), Grasmann, System des internationalen Gesellschaftsrechts, 1970, S. 343 ff.), ähnlich die Überlagerungstheorie (grds. Gründungstheorie, aber Überlagerung durch zwingende Normen des Sitzstaates, Sandrock, RabelsZ 42 (1978),
B. Hintergrund: Sitz- und Gründungstheorie(n)
215
V. Materiell-rechtliche Folgen der Sitz- und Gründungstheorien Neben der Frage nach dem maßgeblichen Anknüpfungskriterium beantworten die einzelnen Sitz- und Gründungstheorien mindestens zwei weitere, materiellrechtliche Fragestellungen. Eine Frage ist die, ob Hauptverwaltung und Satzungssitz (bzw. Gründungsort) sich stets am selben Ort befinden müssen (Sitzkopplung). Sie wird von den Gründungstheorien verneint, von den Sitztheorien dagegen bejaht. Andere materiell-rechtliche Folgen sind von der Anknüpfung an eines der Kriterien unabhängig, etwa die Frage, ob eine grenzüberschreitende identitätswahrende (Verwaltungs-)Sitzverlegung möglich ist oder nicht. Diese Frage kann für die Sitz- und Gründungstheorien jeweils mit „ja“ oder „nein“ beantwortet werden, sodass sich insgesamt vier Kombinationsmöglichkeiten ergeben. Staaten, die den Sitztheorien folgen, können entweder eine Sitzverlegung über die Grenze des Herkunftsstaates hinaus ermöglichen – sie fordern hierfür die Verlegung des Satzungs- und des Verwaltungssitzes –, wie dies etwa in Frankreich vertreten wird (dazu s. unten 3. Kapitel, D I 1 a, S. 225 ff.). Dementsprechend sind dann auch Verlegungen des Sitzes in das betreffende Land hinein möglich.49 Andere Sitztheoriestaaten wie Deutschland betrachten oder betrachteten traditionell die Verlegung des Verwaltungssitzes über die eigene Grenze hinaus als Auflösungsgrund der Gesellschaft, sodass eine identitätswahrende Sitzverlegung nicht möglich ist.50 Gründungstheoriestaaten erlauben stets die Verlegung der Hauptverwaltung über die Grenze hinweg, da es nach ihrem Recht auf diese nicht ankommt. Eine andere Frage ist aber, ob eine Verlegung des Gründungssitzes möglich ist, die 227 (250 ff.); Sandrock, Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 18 (1978), 169 (191 ff.); Sandrock, in: FS Beitzke 1979, 669 (669 ff.), ähnlich H. Wiedemanns Fallgruppenlehre (H. Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, S. 791 ff.: für nach deutschem Recht gegründete Gesellschaften soll eine Gründungstheorie gelten (S. 792 f.), EG-Gesellschaften werden bei Satzungs- und tatsächlichem Sitz im Gebiet der EG anerkannt (S. 793 ff.), ausländische Gesellschaften aus Drittstaaten nur bei einem Staatsvertrag (S. 796), ansonsten gilt die Sitztheorie (S. 798, auch bereits S. 785).; dazu noch unten 3. Kap., D I 1 a, S. 225 ff.); etwas anders die „Kombinationslehre“: D. Zimmer, Internationales Gesellschaftsrecht, 1996, S. 232 ff.; ihm zustimmend Behrens, RabelsZ 93 (1999), 391 (400); sowie Koppensteiner, ZEuP 1999, 188 (190). Vom Ausgangspunkt Gründungstheorie wird (durch Statutenwechsel) abgewichen, sobald nur noch zu einem Staat substantielle Beziehungen bestehen, die u.a. durch „tatsächlichen Verwaltungssitz in jedem Fall“ begründet werden. 49 Drury, E.L. Rev. 24 (1999), 354 (359). 50 BayObLG, 3 Z BR 14/92, Beschl. vom 07.05.1992 = GmbHR 1992, 529; OLG Hamm, 15 W 91/97, Beschl. vom 30.04.1997 = IPRax 1998, 363; dazu kritisch Knobbe-Keuk, ZHR 154 (1990), 325 (327 ff.); s.a. Schlenker, Gestaltungsmodelle einer identitätswahrenden Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften über die Grenze, 1998, S. 22 f., 48 ff. m.w.N.; Drury, E.L. Rev. 24 (1999), 354 (358).
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
zur Folge hätte, dass die Gesellschaft nunmehr identitätswahrend in die Rechtsform einer anderen Rechtsordnung umgewandelt würde. Die englische Rechtsordnung etwa erlaubt dies grundsätzlich nicht;51 der maßgebliche Ort, an dem die Gesellschaft gegründet wurde – ein einmaliger Vorgang – kann nicht nachträglich geändert werden. Eine Abänderung in Anlehnung an das Sitzverlegungsverfahren der SE war etwa in England für die Gesellschaftsrechtsneuregelung 2006 erwogen, aber letztlich (aus Sorge, dies könne zu Steuerflucht führen) abgelehnt worden.52 In anderen Rechtsordnungen ist eine re-registration dagegen denkbar.53 VI. Rechtsprechung des EuGH: Stellungnahme zur Sitztheorie? Der EuGH hat in einer Reihe von Urteilen Anlass gehabt, zu den Auswirkungen des Europäischen Primärrechts – konkret der Niederlassungsfreiheit – auf die Sitzverlegungsproblematik Stellung zu nehmen. In einer Reihe von Urteilen, die 1988 mit „Daily Mail“54 beginnt, sich mit der „Urteilstrias“ „Centros – Überseering – Inspire Art“55 fortsetzt und in „Cartesio“56 2008 fortgeführt wird, hat der EuGH über die (Un-)Zulässigkeit von Maßnahmen von Mitgliedstaaten geurteilt, die Sitzverlegungen von Gesellschaften zwischen Mitgliedstaaten erschwert haben. Die Urteile lassen sich in zwei Gruppen einteilen: In den „Wegzugsfällen“ ließ der EuGH, erstmals in „Daily Mail“ 1988, Beschränkungen für den
51 Gasque v Inland Revenue Commissioners [1940] 2 KB 80, 84; Re Irrigation Company of France Ltd ex P. Fox [1871] LR 6 Ch App 176; Smart, JBL 1990, 126 (126); Drury, E.L. Rev. 24 (1999), 354 (358); Höfling, Das englische internationale Gesellschaftsrecht, 2002, S. 126. Ein in England gelegenes registered office kann also nicht einmal nach Schottland oder Nordirland verlegt werden. Eine Verlegung nach Wales ist möglich (Sec. 88 CA 2006), hat aber nur Änderungen der Sprachregelungen zur Folge, die Rechtsordnung ändert sich nicht, P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 6-18 (mit Fn. 123). 52 Ringe/Otte, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 5.84 m.w.N. 53 Vgl. für Nachweise zu verschiedenen Ländern des common law, namentlich einigen australischen Bundesstaaten, J. Hoffmann, ZVglRWiss 101 (2002), 283 (291 f.). Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 40 f. zieht es für diese Konstellation vor, von einer „Satzungssitzanknüpfung“ zu sprechen. Diese sei zwar den Gründungstheorien näher als den Sitztheorien, jedoch sei der Satzungssitz gerade verlegbar. Ähnlich D. Zimmer, in: FS Buxbaum 2000, 655 (656): wenn der satzungsmäßige Sitz der Gesellschaft entscheidend sein soll, spricht er von einer „Spielart der Gründungstheorie“. 54 EuGH, Rs. 81/87, Urt. vom 27.09.1988, Slg. 1988, 5483 („Daily Mail“). 55 EuGH, Rs. C-212/97, Urt. vom 09.03.1999, Slg. I-1999, 1484 („Centros“); EuGH, Rs. C-208/00, Urt. vom 05.11.2002, Slg. I-2002, 9919 („Überseering“); EuGH, Rs. C-167/01, Urt. vom 30.09.2003, Slg. I-2003, 10195 („Inspire Art“). 56 EuGH, Rs. C-210/06, Urt. vom 16.12.2008, Slg. I-2008, 9641 („Cartesio“).
B. Hintergrund: Sitz- und Gründungstheorie(n)
217
Wegzug von Gesellschaften zu.57 An dieser Unterscheidung hielt der EuGH auch 2008 in „Cartesio“ – gegen die Stellungnahme des Generalanwalts58 – fest,59 obwohl der EuGH inzwischen in den sog. „Zuzugsfällen“ geurteilt hatte, dass es gegen EU-Recht verstößt, wenn der aufnehmende Mitgliedstaat auf Grundlage seiner Sitztheorie den Zuzug einer nach ausländischem Recht gegründeten Gesellschaft etwa durch Auflagen60 oder die Aberkennung der Parteifähigkeit61 erschwert – unabhängig davon, ob dieser „Zuzug“ dadurch geschieht, dass eine Zweigniederlassung eingetragen werden soll,62 oder ob die Tätigkeit der Gesellschaft sich (inklusive des „Verwaltungssitzes“) auf dem Gebiet des aufnehmenden Staates entfaltet, während die Gesellschaft weiterhin dem Gründungsrecht des Herkunftsmitgliedstaates untersteht.63 Diese Aussagen wurden durch weitere Urteile abgerundet: In „SEVIC“ wurde im Wesentlichen die in „Centros“, „Überseering“ und „Inspire Art“ näher umrissene Niederlassungsfreiheit auch auf grenzüberschreitende Verschmelzungen (zumindest in der Zuzugskonstellation) erstreckt, 64 sofern der aufnehmende Mitgliedstaat generell Verschmelzungen ermöglicht;65 eine 57
EuGH, Rs. 81/87, Urt. vom 27.09.1988, Slg. 1988, 5483 („Daily Mail“), Rz. 19–23. Schlussanträge des Generalanwalts Maduro, Rs. C-210/06, 22.05.2008 („Cartesio“), Rz. 27 ff., Rz. 36. 59 EuGH, Rs. C-210/06, Urt. vom 16.12.2008, Slg. I-2008, 9641 („Cartesio“), Rz. 108 ff. 60 Die Niederlande (die eigentlich einer Gründungstheorie folgen) hatten formal ausländischen Gesellschaften Vorgaben gemacht (insbesondere Register- und Offenlegungspflichten), der EuGH lehnte dies als Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit ab: EuGH, Rs. C167/01, Urt. vom 30.09.2003, Slg. I-2003, 10195 („Inspire Art“), Rz. 22 ff. (zum niederländischen WFBV), Rz. 99 ff. (zum Verstoß). 61 Ein deutsches Gericht hatte der nach niederländischem Recht gegründeten und auch in den Niederlanden tätigen Gesellschaft „Überseering“ die Parteifähigkeit in Anwendung der deutschen Sitztheorie (dazu unten 3. Kap., D I 1 a, S. 226) verweigert, da es zur Ansicht gekommen war, die Hauptverwaltung befinde sich in Deutschland. Der EuGH sah dies als Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit an, EuGH, Rs. C-208/00, Urt. vom 05.11.2002, Slg. I-2002, 9919 („Überseering“), Rz. 94 f. 62 Im Urteil „Centros“ hatte Dänemark die Eintragung der Zweigniederlassung einer nach englischem Recht gegründeten Limited verweigert, da diese in England keinerlei Geschäftstätigkeit entfaltete und es sich daher in Wahrheit um die Hauptniederlassung gehandelt hätte. Der EuGH entschied aber, dass sich die Niederlassungsfreiheit auch auf Zweigniederlassungen erstrecke und dagegen lediglich eine Abwehr von – hier jedoch nicht gegebenen – Missbräuchen möglich sei, EuGH, Rs. C-212/97, Urt. vom 09.03.1999, Slg. I-1999, 1484 („Centros“), Rz. 19 f., 24 ff. 63 Dieses Merkmal – dass auch die Gesellschaft eine Sitzverlegung beabsichtigte – unterscheidet die Sachverhalte in „Cartesio“ und „Inspire Art“ von „Überseering“; vgl. Schuster/Binder, WM 2004, 1665 (1665). 64 Nicht umsonst hat der EuGH, Rs. C-210/06, Urt. vom 16.12.2008, Slg. I-2008, 9641 („Cartesio“), Rz. 121–123, den Fall „SEVIC“ in die Nähe der erwähnten Urteilstrias gerückt. 65 Vgl. die entsprechende Präzisierung der Vorlagefrage in EuGH, Rs. C-411/03, Urt. vom 05.12.2005, Slg. I-2005, 10825 („SEVIC“), Rz. 11–15. 58
218
3. Kapitel: Hauptverwaltung
ähnliche Ausdehnung auf grenzüberschreitende Formwechsel erfolgte – trotz eines Sachverhalts,66 der Anlass zu Spekulationen bot67 – im Urteil „VALE“.68 Präzisierungen insbesondere zu Steuerfragen in Wegzugsfällen ergaben sich aus „National Grid Indus“.69 Diese Aussagen – grob vereinfacht: Wegzugsbeschränkungen sind zulässig, Zuzugsbeschränkungen nicht – sind als solche anerkannt. Große Diskussionen hat es allerdings in der Frage gegeben, inwieweit den Urteilen eine Stellungnahme für oder gegen die Sitztheorie zu entnehmen ist. Der Streit soll hier nicht vollständig nachgezeichnet werden.70 Konsensfähig scheint zu sein, dass der EuGH nicht explizit zu den Sitztheorien im Allgemeinen Stellung bezogen hat, allerdings einige Folgen der Sitztheorien, insbesondere ihrer deutschen Ausprägung, für unzulässig erklärt hat.71 Daraus ziehen einige die Schlussfolgerung, die (deutsche) Sitztheorie sei als Ganzes obsolet oder jedenfalls nicht mehr zu halten,72 andere halten sie für in den vom EuGH gezogenen Grenzen
66
Zum Sachverhalt: EuGH, Rs. C-378/10, Urt. vom 12.07.2011 („VALE“), Rz. 9–15, Schlussanträge des Generalanwalts Jääskinen, Rs. C-378/10, 15.12.2011 („VALE“), Rz. 9– 17. 67 Der lange Zwischenzeitraum zwischen Löschung der vorigen Gesellschaft und Antrag auf Eintragung der neuen hat Anlass zu Spekulationen gegeben, VALE Costruzioni Srl habe gar nicht von Anfang an eine Neugründung in Ungarn beabsichtigt. Auch die zeitliche Nähe zur Urteilsverkündung von „Cartesio“ sowie die Tatsache, dass mit Ungarn und Italien die gleichen Mitgliedstaaten beteiligt waren, haben zu Vermutungen Anlass gegeben, dass es sich um einen „Testfall“ für den EuGH handele, so etwa Behme, Rechtsformwahrende Sitzverlegung und Formwechsel von Gesellschaften über die Grenze, 2015, S. 145. 68 EuGH, Rs. C-378/10, Urt. vom 12.07.2011 („VALE“), Rz. 37–41. 69 EuGH, Rs. C-371/10, Urt. vom 29.11.2011, Slg. I-2011, 12307 („National Grid Indus“). 70 Vgl. für weitere Nachweise in jüngerer Zeit ausführlich Behme, Rechtsformwahrende Sitzverlegung und Formwechsel von Gesellschaften über die Grenze, 2015; Berner, Interdependenz von Primär- und Kollisionsrecht, 2015. 71 Nur wenige Stimmen vertreten, dass die Rechtsprechung des EuGH zur Niederlassungsfreiheit gänzlich folgenlos für das deutsche Kollisionsrecht sei, insbesondere frühe Stimmen (nach „Centros“, aber vor „Überseering“), vgl. Flessner, ZEuP 2000, 1 (4); Ebke, JZ 1999, 656 (660) (der EuGH habe „zu der kollisionsrechtlichen Frage weder direkt noch indirekt Stellung bezogen“); für eine sehr restriktive Auslegung der EuGH-Rechtsprechung auch Kindler, RIW 2000, 649 (652 f.) (EU-Recht verlange nur „Anerkennung“, also Rechtsfähigkeit, die auch bei einer Umdeutung ex lege in eine OHG gegeben sei). 72 Ebke, JZ 2003, 927 (929); Behrens, IPRax 2000, 384 (384 f.); Behrens, IPRax 2003, 193 (204); Schanze/Jüttner, AG 2003, 30 (36); Eidenmüller, JZ 2003, 526 (528); Eidenmüller, RabelsZ 70 (2006), 474 (475 f.); ähnlich auch schon Eidenmüller, ZIP 2002, 2233 (2233 ff.); ähnlich (der einzig sinnvoll vorgezeichnete Weg) Großerichter, DStR 2003, 159 (166); Forsthoff, DB 2002, 2471 (2475 ff.); Leible/Hoffmann, ZIP 2003, 925 (930 f.); Leible/Hoffmann, RIW 2002, 925 (930 f., 934 f.); etwas vorsichtiger D. Zimmer, BB 2003, 1 (1 ff.).
C. „Hauptverwaltung“ in der SE-VO
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weiterhin zulässig; insbesondere habe der EuGH nicht zum Internationalen Gesellschaftsrecht (das ein nationales Kriterium darstelle) geurteilt.73 Für Letzteres sprechen auch die Aussagen des EuGH, sämtliche Anknüpfungskriterien der Mitgliedstaaten gleich zu achten.74 Zumindest die von einigen EU-Mitgliedstaaten ausgeübte Praxis, eine Sitztheorie auch weiterhin gegenüber Drittstaaten anzuwenden,75 scheint auch in absehbarer Zeit vom EU-Recht nicht abgeschafft zu werden. Für die Zwecke dieser Untersuchung gilt es festzuhalten, dass die Sitztheorien in den Mitgliedstaaten daher nach wie vor Bestand haben. Eine europäische Sitz- oder Gründungstheorie gibt es dagegen derzeit nicht;76 die Kommission sondiert allerdings die Möglichkeiten einer Harmonisierung.77
C. „Hauptverwaltung“ in der SE-VO C. „Hauptverwaltung“ in der SE-VO
I. Sitz und Hauptverwaltung bei der SE-VO Die Frage, wo der Sitz einer Europäischen Aktiengesellschaft sein soll, ist angesichts der verschiedenen in den europäischen Mitgliedstaaten zu dieser Frage vertretenen Auffassungen heikel. Die SE-VO enthält dazu folgende Vorschriften:
73
Zurückhaltend war insbesondere auch die deutsche BGH- und Instanzenrechtsprechung zumindest nach dem Urteil „Centros“; vgl. LG Potsdam, 31 O 134/98, Urt. vom 30.09.1999 = ZIP 1999, 2021; zu einer Sonderfrage bei der Vorgesellschaft LG München I, 5 HKO 7187/99, Urt. vom 22.07.1999 = ZIP 1999, 1680; nach dem Urteil „Überseering“ des EuGH dann aber BGH, VII ZR 370/98, Urt. vom 13.03.2003, BGHZ 154, 185, 189 f. („Überseering“): eine Umdeutung ex lege einer nach dem Recht eines EU-Mitgliedstaats gegründeten Kapital- in eine Personengesellschaft ist nicht mehr möglich; vgl. aus der Literatur zustimmend Weller, IPRax 2003, 324 (326 m.w.N. in Fn. 41); Behrens, IPRax 2003, 193 (200); Ebke, JZ 2003, 927 (929); M. Schulz, NJW 2003, 38, 2705 (2705); Forsthoff, DB 2002, 2471 (2475 ff.); D. Zimmer, BB 2003, 1 (5); Lutter, BB 2003, 7 (8). Wohl a.A. (für einen Umsetzungsspielraum des BGH) Kindler, NJW 2003, 1073 (1076). 74 EuGH, Rs. 81/87, Urt. vom 27.09.1988, Slg. 1988, 5483 (Daily Mail“), Rz. 21; zitierend EuGH, Rs. C-210/06, Urt. vom 16.12.2008, Slg. I-2008, 9641 („Cartesio“), Rz. 108; dazu ausführlicher unten 3. Kap., D III 2, S. 264 f. 75 Vgl. zum nach Fallgruppen unterscheidenden deutschen Modell unten 3. Kap., D I 1, S. 224 ff. 76 So auch i.E. mit ausführlicher Begründung Behme, Rechtsformwahrende Sitzverlegung und Formwechsel von Gesellschaften über die Grenze, 2015, S. 227 ff.; Berner, Interdependenz von Primär- und Kollisionsrecht, 2015, S. 263 f.; vermittelnd auch Weller, IPRax 2009, 202 (205 f.): versteckte Kollisionsregel des Primärrechts nur für Zuzugsfälle. 77 Vgl. die Ausschreibung einer „Studie in Bezug auf das geltende Recht für Unternehmen mit dem Ziel einer möglichen Harmonisierung der diesbezüglichen Kollisionsnormen“ vom August 2014, dazu W. Bayer, in: Bergmann u.a. (2015), 230 (251 m.w.N.).
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
Erwägungsgrund 27 SE-VO: „In Anbetracht des spezifischen und gemeinschaftlichen Charakters der SE lässt die in dieser Verordnung für die SE gewählte Regelung des tatsächlichen Sitzes die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten unberührt und greift der Entscheidung bei anderen Gemeinschaftstexten im Bereich des Gesellschaftsrechts nicht vor.“
Art. 7 Abs. 1 SE-VO: „Der Sitz der SE muss in der Gemeinschaft liegen, und zwar in dem Mitgliedstaat, in dem sich die Hauptverwaltung der SE befindet.“
Art. 9 Abs. 1 SE-VO: „Die SE unterliegt a) den Bestimmungen dieser Verordnung, b) sofern die vorliegende Verordnung dies ausdrücklich zulässt, den Bestimmungen der Satzung der SE, c) in Bezug auf die nicht durch diese Verordnung geregelten Bereiche oder, sofern ein Bereich nur teilweise geregelt ist, in Bezug auf die nicht von dieser Verordnung erfassten Aspekte i) den Rechtsvorschriften, die die Mitgliedstaaten in Anwendung der speziell die SE betreffenden Gemeinschaftsmaßnahmen erlassen, ii) den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, die auf eine nach dem Recht des Sitzstaats der SE gegründete Aktiengesellschaft Anwendung finden würden, iii) den Bestimmungen ihrer Satzung unter den gleichen Voraussetzungen wie im Falle einer nach dem Recht des Sitzstaats der SE gegründeten Aktiengesellschaft.“
Artikel 64 SE-VO: „(1) Erfüllt eine SE nicht mehr die Verpflichtung nach Artikel 7, so trifft der Mitgliedstaat, in dem die SE ihren Sitz hat, geeignete Maßnahmen, um die SE zu verpflichten, innerhalb einer bestimmten Frist den vorschriftswidrigen Zustand zu beenden, indem sie a) entweder ihre Hauptverwaltung wieder im Sitzstaat errichtet b) oder ihren Sitz nach dem Verfahren des Artikels 8 verlegt. (2) Der Sitzstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass eine SE, die den vorschriftswidrigen Zustand nicht gemäß Absatz 1 beendet, liquidiert wird. (3) Der Sitzstaat sieht vor, dass ein Rechtsmittel gegen die Feststellung des Verstoßes gegen Artikel 7 eingelegt werden kann. Durch dieses Rechtsmittel werden die in den Absätzen 1 und 2 vorgesehenen Verfahren ausgesetzt. (4) Wird auf Veranlassung der Behörden oder einer betroffenen Partei festgestellt, dass sich die Hauptverwaltung einer SE unter Verstoß gegen Artikel 7 im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats befindet, so teilen die Behörden dieses Mitgliedstaats dies unverzüglich dem Mitgliedstaat mit, in dem die SE ihren Sitz hat.“
Die SE-VO nennt den Sitz in Art. 7 SE-VO, bezeichnet damit aber einen Gegenbegriff zu „Hauptverwaltung“. Dies deutet bereits darauf hin, dass „Sitz“ nicht im Sinn der Sitztheorien zu verstehen ist. Andere Sprachfassungen sprechen deutlicher aus, dass der „Sitz“ i.S.v. Art. 7 SE-VO derjenige ist, der in der Satzung genannt ist (französisch „siège statutaire“, von „statuts“, dem
C. „Hauptverwaltung“ in der SE-VO
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Pendant zu „Satzung“).78 Auch die deutschsprachige Fassung der Vorgängervorschriften war durch den Ausdruck „satzungsmäßiger Sitz“ noch klarer (jew. Art. 2 SE-VOV 1989, 1991) und enthielt ebenfalls die Gegenüberstellung mit „Hauptverwaltung“.79 Die SE-VO sieht zwar eine Nennung des Sitzes in der Satzung nicht vor;80 jedoch fordern dies in Umsetzung der Zweiten Richtlinie 81 alle nationalen Aktienrechte (in Deutschland § 23 Abs. 3 Nr. 1 AktG). Dieser Satzungssitz bestimmt auch die Registerzuständigkeit (in Deutschland gem. § 4 SEAG, §§ 376, 377 FamFG); auf das Register wiederum nehmen weitere Sprachfassungen Bezug, etwa die englische („registered office“). Somit ist allgemeine Meinung, dass mit „Sitz“ der Satzungssitz gemeint ist.82 Unklar ist damit noch, ob und, wenn ja, wie die SE-VO Stellung zum Streit zwischen Gründungs- und Sitztheorien bezieht und was dies für die Auslegung von „Hauptverwaltung“ bedeutet (dazu unten 3. Kap., D IV 1, 4, 5, 6, S. 284 f., 287 ff.). II. Fehlen einer Definition Die SE-VO enthält keine Definition von „Hauptverwaltung“.83 Dies ist insbesondere deswegen überraschend, weil der Sachverhalt insofern gerade bei multinationalen Unternehmen unklar sein kann, da dort die Vorgänge, die man als „Hauptverwaltung“ verstehen könnte, über mehrere Staaten verteilt sein können.84 Dabei wurden gerade bei der SE die Möglichkeiten, sie zu gründen, in Art. 2 SE-VO bewusst auf Sachverhalte der Mehrstaatlichkeit beschränkt; so sollten eine Öffnung der SE für weitere, rein nationale Sachverhalte und der von manchen Mitgliedstaaten befürchtete uneingeschränkte Wettbewerb und
78 Weitere Sprachfassungen sind abgedruckt bei Zang, Sitz und Verlegung des Sitzes einer Europäischen Aktiengesellschaft mit Sitz in Deutschland, 2005, S. 18–20. 79 Im Englischen wurde damals allerdings noch „central administration“ statt „head office“ verwendet, s. unten 3. Kap., D II, S. 260. 80 Gößl, Satzung der SE, 2010, S. 158. 81 Art. 3 Richtlinie 2012/30/EU. 82 Schwarz, ZIP 2001, 1847 (1849); Teichmann, ZGR 2002, 383 (456); Bungert/Beier, EWS 2002, 1 (3); Brandt, NZG 2002, 991 (994); Kloster, EuZW 2003, 293 (295); Lange, EuZW 2003, 301 (303, Fn. 31); Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 7 SE-VO Rn. 4; Gößl, Satzung der SE, 2010, S. 34; Diekmann, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 7 Rn. 1. 83 Werlauff, SE: The Law of the European Company, 2003, S. 113; Zang, Sitz und Verlegung des Sitzes einer Europäischen Aktiengesellschaft mit Sitz in Deutschland, 2005, S. 43; Colangelo, Europa e diritto privato 2005, 147 (159); Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 198 f.; Ringe, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 7 SE-VO Rn. 9; Allotti, in: Corapi/Pernazza, Società europea, 2011, S. 48; ähnlich („termes des plus imprécis“) Colombani/Favero, Societas Europaea, 2002, S. 65; vgl. aus der Praxis (Elcoteq SE) Aila, in: Lenoir (2007), 219 (219). 84 Colangelo, Europa e diritto privato 2005, 147 (159).
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
Anpassungsdruck vermieden werden. 85 Daher kommt es gerade bei der SE praktisch immer zu einer Einbindung in internationale Konzerne.86 Insbesondere „moderne Kommunikationsformen vor den Toren des Unternehmensrechts“87 erschweren dabei oft die genaue Eingrenzung der Hauptverwaltung. Der Nationalstaatsgrenzen überschreitende Charakter der SE führt dazu, dass die Mitglieder der Leitungsorgane häufig aus verschiedenen Mitgliedstaaten stammen. 88 Wegen der Kosten und des Zeitaufwands von Zusammenkünften der Mitglieder der Leitungsorgane an einem Ort werden Entscheidungen häufig über Video- oder Telefonkonferenzen abgehalten. Die so getroffenen Entscheidungen lassen sich dann nicht mehr ohne weiteres einem Ort zuordnen. 89 Problematisch kann auch der Geschäftsgegenstand der Holding sein – immerhin eine der Gründungsmöglichkeiten der SE –, die keine nach außen sichtbaren Aktivitäten der Organwalter des Leitungs- oder Aufsichtsorgans nach sich zieht.90 85 Näher zu den Möglichkeiten der Gründung Vossius, ZIP 2005, 741 (741). Zum Gesetzgebungsvorgang vgl. Oechsler, NZG 2005, 697 (698 f.). Zur Erweiterung der Handlungsspielräume durch die Beratungspraxis (unter Verwendung von Vorratsgesellschaften) vgl. Kuhn, in: Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 2. Aufl., 2014, Rn. 3.304 ff. Zur rechtspolitischen Kritik (überwiegend wird ein Abrücken vom Kriterium der Mehrstaatlichkeit gefordert): stellvertretend Arbeitskreis Aktien- und Kapitalmarktrecht (AAK), ZIP 2009, 698 (698); Casper, AG 2007, 97 (98); Oechsler, NZG 2005, 697 (698 f.); Schön, ZHR 160 (1996), 221 (238); Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 100; s.a. bereits Kallmeyer, AG 1990, 103 (106); kritisch auch Scarchillo, in: Corapi/Pernazza, Società europea, 2011, S. 21 f.: erstens sei das Kriterium leicht zu umgehen, zweitens bestimme sich „Nationalität“ nach nationalem IPR, was zur Rechtsunsicherheit beitrage. Vgl. dazu auch – aus gewissermaßen umgekehrter Perspektive – den Verweis der deutschen Regierung auf die Sitzkopplung in verschiedenen sekundärrechtlichen Regelungen des Gemeinschaftsrechts, die für eine – vom EuGH dann gerade abgelehnte – Auslegung der Niederlassungsfreiheit spreche, EuGH, Rs. C-208/00, Urt. vom 05.11.2002, Slg. I-2002, 9919 („Überseering“), Rz. 86. 86 Brandi, NZG 2003, 889 (890). 87 So der Titel eines Beitrags von Noack, ZGR 1998, 592 (592 ff.). 88 Als Beispiel sei auf die DaimlerChrysler-AG verwiesen, dazu ausführlich D. Zimmer, in: FS Buxbaum 2000, 655 (665 f.); speziell zur SE Ringe, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 7 SE-VO Rn. 15. 89 So allgemein zum Problem bereits im Jahr 1988 Schlussanträge des Generalanwalts Marco Darmon, Rs. 81/87, 07.06.1988 („Daily Mail“) Rz. 5 sowie Ebenroth/Bippus, JZ 1988, 677 (678); ihnen folgend speziell für die SE etwa Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 205; Ringe, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 7 SE-VO Rn. 15; Hagemann/Tobies, in: Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 2. Aufl., 2014, Rn. 4.41; Hinweise auf Auslegungsprobleme auch bei H. Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, S. 786; Ebke, in: FS Sandrock 2011, 175 (201). Vgl. auch ähnliche Bedenken der EFTA-Überwachungsbehörde anlässlich der Rechtssache „Überseering“, EuGH, Rs. C-208/00, Urt. vom 05.11.2002, Slg. I-2002, 9919 („Überseering“), Rz. 51. 90 Oechsler/Mihaylova, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 7 SE-VO Rn. 3. Zur Konkretisierung auch bei einer Holding-SE siehe Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 206.
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
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Teilweise wird die dadurch entstehende Unschärfe auch positiv gesehen im Sinne einer größeren Flexibilität – „die Sitztheorie“ stelle gerade für die multinationalen Unternehmen, die keine Schwierigkeiten hätten, „ihre Hauptverwaltung einzurichten, wo immer sie wollen“, „kein ernsthaftes Hindernis dar“.91 Dennoch ist für die Rechtsfolgen aus Art. 64 SE-VO eine praxistaugliche Abgrenzung nötig.
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“ D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
Im Folgenden soll versucht werden, eine autonome Definition von „Hauptverwaltung“ zu erarbeiten. Abschließend wird (im 3. Kapitel, E und F, S. 294 ff.) zur Beurteilung einer möglichen Sprachverwirrung untersucht, inwiefern sich in der deutschen Literatur deutsch geprägte Konzepte verbergen. I. Wortlaut Der Wortlaut ist in allen untersuchten Sprachen zweigeteilt. Ein Element entspricht dem deutschen „Haupt-“, eines eher der „Verwaltung“. Eine wesentliche Klärung schafft dies aber nicht. „Verwaltung“ lässt sich, zumindest im Deutschen, bereits in zweierlei Hinsicht verstehen, und kann entweder die Spitze der Organisation (Geschäftsleitung) oder untergeordnete Verwaltungstätigkeiten meinen. 92 Demgegenüber sind Verweise auf die etymologische Herkunft des Wortes wenig hilfreich;93 ein Wort bedeutet nicht etwas, weil es das einmal bedeutet hat, sondern weil es in einer bestimmten Weise gebraucht wird.94 Auch Blicke auf andere Sprachfassungen zeigen, dass jedenfalls nicht nur untergeordnete Verwaltungstätigkeiten gemeint sind; für die deutsche Sprachfassung legt dies auch die Bezeichnung „Verwaltungsorgan“ (Art. 38 SE-VO) nahe, das im monistischen SE-Modell u.a. gerade die Aufgabe der Geschäftsleitung innehat. In manchen Sprachfassungen, darunter der deutschen und der englischen, lässt sich nach dem zweiten Wortbestandteil, „Haupt-“ (englisch head office), nach normalem Sprachgebrauch noch nicht unbedingt sagen, ob damit die Spitze der Organisation oder die (etwa nach Zahl der Geschäftsführer) größte oder sonst wichtigste Stelle gemeint ist. Eindeutiger sind dagegen etwa die französische und italienische Sprachfassung, bei denen (jeweils) der Zusatz
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Enriques, ZGR 2004, 735 (740 und 739). Vgl. zur entsprechenden Praxis des BGH die (kritische) Darstellung bei Panthen, Sitzbegriff, 1988, S. 242 ff., insbes. S. 254–257. 93 So aber Panthen, Sitzbegriff, 1988, S. 292 ff. 94 Braselmann, EuR 1992, 55 (65). 92
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
„centrale“ auf die zentrale Stelle hinweist, die innerhalb der Organisationsstruktur eine singuläre Stellung einnimmt, also auf die hierarchisch höchste Stelle hinweist. Damit ist aber noch nicht geklärt, um welchen Teil der Spitze der Hierarchie (oberste Spitze, Ebene der höchstrangigen Weisungsempfänger) es sich genau handelt und wie dieser Teil bestimmt und mit einem Ort verknüpft wird, sodass weiterer Klärungsbedarf besteht. Zudem bestimmt Erwägungsgrund 27 SE-VO: „In Anbetracht des spezifischen und gemeinschaftlichen Charakters der SE lässt die in dieser Verordnung für die SE gewählte Regelung des tatsächlichen Sitzes die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten unberührt und greift der Entscheidung bei anderen Gemeinschaftstexten im Bereich des Gesellschaftsrechts nicht vor.“
Die angesprochenen „Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten“, die von der „Regelung des tatsächlichen Sitzes“ betroffen sein könnten, sind offenbar die Rechtsnormen der Mitgliedstaaten zu den Sitztheorien. Nicht ganz klar ist, was mit „lässt … unberührt“ gemeint ist. Teilweise wurde die Stelle so gedeutet, dass sie für eine Berücksichtigung der Sitztheorien der Mitgliedstaaten spricht, wenn es um die Auslegung von Hauptverwaltung geht.95 Unabhängig davon, ob dem zuzustimmen ist (dazu noch näher unten 3. Kap., D IV 5, S. 289 f.), ist deutlich, dass damit jedenfalls Bezug auf die Sitztheorien genommen wird und dass diese jedenfalls das Vorverständnis der Rechtsanwender prägen, wenn es um die Anwendung von „Hauptverwaltung“ geht. Daher schließt sich im Sinn der oben dargelegten Methodik96 eine rechtsvergleichende Untersuchung der Rechtsordnungen von vier Mitgliedstaaten an. 1. Deutschland In Deutschland wird der Terminus „Hauptverwaltung“ im Gesetz, soweit ersichtlich, nicht an relevanter Stelle gebraucht.97 Dennoch drängt sich – auch wegen des erwähnten Erwägungsgrunds 27 SE-VO – eine Auseinandersetzung mit dem Anknüpfungskriterium der deutschen Sitztheorie geradezu auf,98 sodass es an dieser Stelle falsch wäre, das Kriterium zu übergehen. Die (deutsche) 95 Zang, Sitz und Verlegung des Sitzes einer Europäischen Aktiengesellschaft mit Sitz in Deutschland, 2005, S. 47 (dazu noch ausführlicher unten 3. Kap., E I, S. 294 ff.). 96 Siehe oben 1. Kap., E, S. 104 (ff.). 97 Der frühere (nicht umgesetzte) RefE-EGBGB von 2008 knüpfte gerade an den Gründungssitz an. In den (nunmehr aufgehobenen) §§ 4a Abs. 2 GmbHG a.F., 5 Abs. 2 AktG a.F. wurde das Konzept umschrieben. Siehe zu beiden Themen ausführlicher im nächsten Abschnitt 3. Kap., D I 1 a, S. 225 ff. 98 So auch die Literatur: explizit etwa Zang, Sitz und Verlegung des Sitzes einer Europäischen Aktiengesellschaft mit Sitz in Deutschland, 2005, S. 44 („Sitztheorie definiert die Hauptverwaltung als den Ort, an dem die grundlegenden Entscheidungen der Unternehmensleitung effektiv durch das zur Geschäftsführung berufene Vertretungsorgan nach außen in
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
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Sitztheorie ist reines Gewohnheitsrecht99 – bei der IPR-Reform 1986 wurde bewusst auf eine Regelung im Gesetz verzichtet.100 Daher hat auch das dort verwendete Konzept keinen festen Terminus; häufig wird es mit „tatsächlicher Verwaltungssitz“ oder „Schwerpunkt der gewerblichen Tätigkeit“ umschrieben.101 Da es aber kein geschriebenes Gesetz gibt, ist der unterschiedliche Terminus nicht überzubewerten. Tatsächlich finden sich auch in der Rechtsprechung Fundstellen, die gerade den Terminus „(tatsächliche) Hauptverwaltung“ entscheidend nennen.102 Aus diesen Gründen schließt sich eine Darstellung der deutschen Sitztheorie an. a) Die deutsche Sitztheorie: Anwendungsbereich In Deutschland stand die Rechtsprechung lange Zeit fest auf dem Boden der Sitztheorie. Hatte das Reichsgericht noch zwischen Satzungssitz- und Verwaltungssitzanknüpfung geschwankt, 103 stellte der BGH seit 1970 auf den „tatsächlichen Verwaltungssitz“ ab.104 Inzwischen hat auch die Rechtsprechung auf die zwischenzeitlich ergangene EuGH-Rechtsprechung reagiert und wendet bei Zuzugsfällen aus Mitgliedstaaten der EU, 105 des EWR 106 sowie laufende Geschäftsführungsakte umgesetzt werden“); ähnlich Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 7 SE-VO Rn. 11 (Fn. 25, 26, 29 jew. a.E.); Rohde, Europäische Integration und Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften von und nach Deutschland, 2002, S. 265. Siehe im Übrigen ausführlich unten 3. Kap., E, S. 294 ff. 99 Kindler, in: MüKoBGB Bd. 11, 2015, IntGesR Rn. 5 (m.w.N. in Fn. 15 a.E.); Hohloch, in: Erman, 2014, Anh II Art. 12 EGBGB Rn. 2; Bungert, EWS 1993, 17 (18); eingehend zur verfassungsrechtlichen Bindung der Gerichte auch an Gewohnheitsrecht über Art. 20 Abs. 3 GG Weller, IPRax 2009, 202 (203, 206 f.). Vgl. ausführlich zu den Folgen durch das MoMiG Fingerhuth/Rumpf, IPRax 2008, 90 (94). 100 D. Zimmer, in: FS Buxbaum 2000, 655 (656). 101 Zur Terminologie des BGH vgl. die Darstellung bei Panthen, Sitzbegriff, 1988, S. 242 ff. 102 Z.B. BGH, V ZR 139/68, Urt. vom 30.01.1970, BGHZ 53, 181, 184. 103 Auf tatsächliche Umstände stellen ab RG, Rep. IV 600/10, Urt. vom 29.06.1911, RGZ 77, 19, 22; RG, Rep. II 523/13, Urt. vom 16.12.1913, RGZ 83, 367, 369; unklar dagegen RG, II 346/26, Urt. vom 03.06.1927, RGZ 117, 215, 217: „Sitz der Verwaltung“ ist an einem anderen Ort als der „Geschäftssitz“; vgl. dazu auch D. Zimmer, in: FS Buxbaum 2000, 655 (657, Fn. 13). 104 BGH, V ZR 139/68, Urt. vom 30.01.1970, BGHZ 53, 181, 183; BGH, V ZR 81/77, Urt. vom 23.03.1979 = WM 1979, 692, 693; BGH, VIII ZR 230/79, Urt. vom 05.11.1980, BGHZ 78, 318, 334; BGH, V ZR 10/85, Urt. vom 21.03.1986, BGHZ 97, 269, 271; BGH, VIII ZR 155/02, Urt. vom 29.01.2003, BGHZ 153, 353, 355. 105 BGH, VII ZR 370/98, Urt. vom 13.03.2003, BGHZ 154, 185, 189 f. (Überseering); BGH, II ZR 5/03, Urt. vom 14.03.2005 = JZ 2005, 848 mit zustimmender Anmerkung Rehberg, JZ 2005, 849 (849 ff.), und BGH, IX ZR 227/06, Beschl. vom 08.10.2009 = ZIP 2009, 2385 („Singapur“). 106 BGH, II ZR 372/02, Urt. vom 19.09.2005, BGHZ 164, 148 (für eine liechtensteinische Gesellschaft).
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
Drittstaaten mit entsprechenden Staatsverträgen (namentlich den USA)107 eine Gründungstheorie an. Zum EWR gehört allerdings bekanntlich nicht die Schweiz. Einem Vorstoß des OLG Hamm, auch schweizerische Aktiengesellschaften nach Gründungsrecht zu beurteilen,108 hat der BGH in der Revisionsinstanz eine Absage erteilt.109 Damit gilt für Drittstaaten ohne Staatsverträge weiterhin die Sitztheorie.110 Neben dieser Entwicklung in der Rechtsprechung wurden mit dem MoMiG111 2008 die früheren §§ 4a Abs. 2 GmbHG und 5 Abs. 2 AktG gestrichen, die vorgesehen hatten, dass durch die Satzung als Sitz „in der Regel“ der Ort zu bestimmen sei, „wo die Gesellschaft einen Betrieb hat, oder […] wo sich die Geschäftsleitung befindet oder die Verwaltung geführt wird“. Damit wollte der Gesetzgeber laut der Regierungsbegründung ausdrücklich erreichen, dass der Verwaltungssitz auch außerhalb Deutschlands gewählt werden kann, um unter dem Eindruck der EuGH-Urteile, namentlich „Überseering“112 und „Inspire Art“,113 auch deutschen Gesellschaften ein „level playing field“ zu ebnen.114 Damit ergibt sich erst aus der Regierungsbegründung die eigentliche Bedeutung der Streichung der früheren Absätze 2 in §§ 4a GmbHG, 5 AktG: Da trotz des Wegzugs GmbHG bzw. AktG anwendbar bleiben sollen, ein Wegzug des Verwaltungssitzes aber gerade ermöglicht werden soll, sind die neuen 107
BGH, VIII ZR 155/02, Urt. vom 29.01.2003, BGHZ 153, 353, 357 f.; kritisch dazu Ebke, in: FS Sandrock 2011, 175 (194). 108 OLG Hamm, 30 U 166/05, Urt. vom 26.05.2006 = ZIP 2006, 1822; dazu kritisch Weller, IPRax 2009, 202 (203). 109 BGH, II ZR 158/06, Urt. vom 27.10.2008, BGHZ 178, 192 („Trabrennbahn“). Allerdings spielte bei dieser Entscheidung möglicherweise eine Rolle, dass der BGH dem laufenden Gesetzgebungsverfahren zum IPR nicht vorgreifen wollte, vgl. Rz. 22 des Urteils sowie die zustimmende Anmerkung von Kieninger, NJW 2009, 292 (292 f.). Zum IPR-Entwurf 2008 s.u. in diesem Abschnitt. 110 So bereits zuvor (für eine Gesellschaft von der Isle of Man) OLG Hamburg, 11 U 231/04, Zwischenurt. vom 30.03.2007 = NZG 2007, 597. Zu den verschiedenen Fallgruppen ausführlich J. Hoffmann, ZIP 2007, 1581 (1586); Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, Rn. 170; Fleischer/Schmolke, JZ 2008, 233 (236–238); W. Bayer/Schmidt, ZHR 173 (2009), 735 (739 ff.); Ebke, in: FS Sandrock 2011, 175 (188 ff.); mit Eingehen auf die verschiedenen rechtsdogmatischen Quellen des IPR Weller, IPRax 2009, 202 (204 ff.). Das gleiche Ergebnis nach Fallgruppen findet sich bereits 28 Jahre vor dem MoMiG und acht Jahre vor dem Urteil des EuGH zu „Daily Mail“ bei H. Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, S. 791 ff. (s. dazu ausführlicher 3. Kap., B IV, S. 214 f., Fn. 48). 111 Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) vom 23.10.2008, BGBl. I, S. 2026. 112 EuGH, Rs. C-208/00, Urt. vom 05.11.2002, Slg. I-2002, 9919 („Überseering“). 113 EuGH, Rs. C-212/97, Urt. vom 09.03.1999, Slg. I-1999, 1484 („Centros“). 114 BT-Drs. 16/6140, S. 29. Der deutsche Gesetzgeber geht – angestoßen durch die EuGH-Rechtsprechung – gleichwohl über die Vorgaben des europäischen Rechts hinaus: Dort gilt ja nach wie vor die sog. „Daily-Mail“-Doktrin, die in Wegzugsfällen eine Auflösung der Gesellschaft erlaubt, vgl. dazu J. Hoffmann, ZIP 2007, 1581 (1581 f.).
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
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§§ 4a GmbHG, 5 AktG (ggf. auf diese beiden Rechtsformen beschränkt) kollisionsrechtlich zu interpretieren, sodass es zumindest in Wegzugsfällen von GmbH oder AG auf den Gründungsort ankommen soll.115 Im selben Jahr 2008 war sogar in einem Referentenentwurf116 die Einführung eines Art. 10 EGBGB erwogen worden, der eine Gründungstheorie gegenüber ausländischen Gesellschaften angewendet hätte.117 Der Entwurf hatte in der Literatur überwiegend Zustimmung erfahren.118 Gleichwohl wurde das Gesetzgebungsverfahren nicht weiterbetrieben.119 Dennoch ergibt sich bereits de lege lata der Eindruck, dass die Sitztheorie in Deutschland erheblich „durchlöchert“ ist.120 b) Staatsangehörigkeit und Sitzverlegung Eine Staatsangehörigkeit von Gesellschaften ist in Deutschland diskutiert worden, jedoch besteht Einigkeit, dass eine „echte“ Staatsangehörigkeit nicht
115 So zuerst zum (insoweit später nicht mehr veränderten) Entwurf des MoMiG J. Hoffmann, ZIP 2007, 1581 (1584 ff.); ihm folgend: Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, Rn. 170; Fingerhuth/Rumpf, IPRax 2008, 90 (92); Däubler/Heuschmid, NZG 2009, 493 (494); W. Bayer/Schmidt, ZHR 173 (2009), 735 (749 ff. m.w.N.); W. Bayer, in: Bergmann u.a. (2015), 230 (232); Leitzen, NZG 2009, 19, 728 (728, 733); Verse, ZEuP 2013, 458 (466 f.); rechtspolitisch kritisch Kindler, AG 2007, 721 (722); gegen eine kollisionsrechtliche Auslegung schließlich Kindler, IPRax 2009, 189 (198); Peters, GmbHR 2008, 245 (249); Lieder/Kliebisch, BB 2009, 338 (343). Eine Regelung über die Anerkennung ausländischer Gesellschaften mit Verwaltungssitz im Inland ist dem Gesetz allerdings nicht zu entnehmen, so Kindler, AG 2007, 721 (725); ihm folgend BGH, II ZR 158/06, Urt. vom 27.10.2008, BGHZ 178, 192, 198 („Trabrennbahn“). Auf das frühe Urteil des RG, III 72/34, Urt. vom 10.07.1934, IPRspr. 1934, Nr. 14 zur bloßen Verwaltungssitzverlegung ins Ausland, bei dem das RG keinen Statutenwechsel annahm, weist W.-H. Roth, in: FS Heldrich 2005, 973 (978) hin, der dies noch immer für „good law“ hält. 116 Referentenentwurf, Gesetz zum Internationalen Privatrecht der Gesellschaften, Vereine und juristischen Personen, Stand 07.01.2008, abrufbar unter (zuletzt abgerufen am 21.10.2017). 117 Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, Rn. 173; Drygala/Staake/Szalai, Kapitalgesellschaftsrecht, 2012, § 2 Rn. 40; ausführlich R. Wagner/Timm, IPRax 2008, 81 (81 ff.). 118 Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, Rn. 173 Fn. 30 m.w.N.; R. Wagner/Timm, IPRax 2008, 81 (84); Fingerhuth/Rumpf, IPRax 2008, 90 (96); H. Zimmer, EWS 2010, 222 (225); Rotheimer, NZG 2008, 181 (182); W. Bayer/Schmidt, ZHR 173 (2009), 735 (772); Kußmaul/Richter/Ruiner, DB 2008, 451 (454 ff.); Bollacher, RIW 2008, 200 (205); Balthasar, RIW 2009, 221 (227); wohl auch Kieninger, NJW 2009, 292 (292 f.); im Vorfeld für eine Sitztheorie plädiert hatte Kindler, in: Sonnenberger (2007), 389. 119 Drygala/Staake/Szalai, Kapitalgesellschaftsrecht, 2012, § 2 Rn. 40. 120 Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, Rn. 170; Fingerhuth/Rumpf, IPRax 2008, 90 (91 f.).
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
möglich oder nicht nötig ist („unnötiges Zwischenglied“).121 Sofern eine Zuordnung zu einem Staat nötig ist, etwa im Außenhandelsrecht, 122 wird von „Staatszugehörigkeit“ gesprochen123 und diese grundsätzlich ebenfalls an den Sitz angeknüpft.124 Für das Feindesrecht dagegen, das den Durchgriff auf hinter der Gesellschaft mit Sitz in Deutschland stehende, „feindliche“ Gesellschafter insbesondere im Ersten Weltkrieg ermöglichen sollte, wurde maßgeblich darauf abgestellt, wer die Gesellschaft kontrollierte, um festzustellen, ob es sich um eine feindliche Gesellschaft handelte (die Staatszugehörigkeit der Gesellschaft blieb davon unberührt).125 Eine identitätswahrende Sitzverlegung aus Deutschland heraus wurde traditionell als unmöglich angesehen; ein solches Bestreben zog die Auflösung der Gesellschaft nach sich.126 Spiegelbildlich wurde auch eine nach Deutschland hinein verlegte Kapitalgesellschaft nach herkömmlicher Auffassung als nicht formgerecht gegründet behandelt. 127 Ohne Neugründung wurde eine solche Gesellschaft daher als nicht rechtsfähig gewertet.128 Der BGH hatte ihr zwischenzeitlich (wohl in einer Reaktion auf die Rechtsprechung des EuGH129)
121
Großfeld, RabelsZ 31 (1967), 1 (4); Panthen, Sitzbegriff, 1988, S. 14. Panthen, Sitzbegriff, 1988, S. 14 f. 123 Grasmann, System des internationalen Gesellschaftsrechts, 1970, S. 68 (Fn. 21); Panthen, Sitzbegriff, 1988, S. 14. 124 Panthen, Sitzbegriff, 1988, S. 13 f. 125 Panthen, Sitzbegriff, 1988, S. 182 f. 126 BayObLG, 3 Z BR 14/92, Beschl. vom 07.05.1992 = GmbHR 1992, 529; OLG Hamm, 15 W 91/97, Beschl. vom 30.04.1997 = IPRax 1998, 363; s.a. bereits oben 3. Kap., B V, S. 215, Fn. 50. 127 BGH, V ZR 10/85, Urt. vom 21.03.1986, BGHZ 97, 269, 271 f.; OLG Zweibrücken, 3 W 43/90, Urt. vom 27.06.1990 = IPRax 1991, 406; BayObLG, 3 Z BR 78/98, Beschl. vom 26.08.1998, IPRax 1999, 364, 365; Schlenker, Gestaltungsmodelle einer identitätswahrenden Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften über die Grenze, 1998, S. 23 f.; Fleischer/Schmolke, JZ 2008, 233 (235). 128 BayObLG, 3 Z BR 78/98, Beschl. vom 26.08.1998 = IPRax 1999, 364. 129 Um „die Sitztheorie vor dem Verdikt der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit zu bewahren“: so Fleischer/Schmolke, JZ 2008, 233 (236); W. Bayer, in: Bergmann u.a. (2015), 230 (231); Kieninger, ZEuP 2004, 685 (689); Behrens, IPRax 2003, 193 (199): „Entlastungsmanöver“; ähnlich Heidenhain, NZG 2002, 24, 1141 (1142); Ebke, in: FS Thode 2005, 593 (611); Schanze/Jüttner, AG 2003, 30 (32). Ausdrücklich bezog sich der BGH nur auf seine Rechtsprechung zur Rechts- und Parteifähigkeit der GbR (s. dazu 2. Kap., B I 1 c, S. 119), mit der frühere Bedenken gegen diese Rechtsanwendung weggefallen seien (BGH, II ZR 380/00, Urt. vom 01.07.2002, BGHZ 151, 204, 207). Die Entscheidung erging zwischen dem Vorlagebeschluss in der Rechtssache „Überseering“ (am 30.03.2002) und dem Urteil des EuGH (am 05.11.2002). Der EuGH berücksichtigte die neue Rechtslage jedoch nicht mehr; vgl. auch Weller, IPRax 2003, 324 (325 f.). 122
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
229
den Status einer Personengesellschaft zugebilligt, freilich mit den entsprechenden Haftungsfolgen für die Gesellschafter.130 Eine solche Umdeutung ist jedoch insbesondere bei Publikumsgesellschaften wenig praktikabel und führt zudem zu einer Statutenverdoppelung, da die Gesellschaft nach ausländischem Recht weiterhin als Kapitalgesellschaft anerkannt wird (sog. „hinkendes Rechtsverhältnis“).131 Nach der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Überseering“132 gestand der BGH ein, dass eine die vom EuGH geforderte Rechtsanwendung auf diesem Wege nicht mehr zu erreichen sei und dass die Rechtsfähigkeit EU-ausländischer Gesellschaften anzuerkennen sei.133 c) „Hauptverwaltung“ Die maßgebliche Definition für das Hauptverwaltungskriterium stammt von Sandrock134 und wird inzwischen so auch vom BGH und in der Rechtsprechung verwendet: Maßgeblich ist demzufolge der „Tätigkeitsort der Geschäftsführung und der dazu berufenen Vertretungsorgane, also der Ort, wo die grundlegenden Entscheidungen der Unternehmensleitung effektiv in laufende Geschäftsführungsakte umgesetzt werden“. 135 Zwar hatte Sandrock die Formel noch für die sog. „Überlagerungstheorie“ entwickelt, der zufolge grundsätzlich eine Gründungstheorie gilt, die zum Schutz der nationalen Interessen in einigen Fällen von der Anknüpfung an den wie bezeichnet präzisierten „tatsächlichen Verwaltungssitz“ „überlagert“ wird; 136 Verbreitung hat die Formel jedoch durch die Sitztheorie gefunden, da Rechtsprechung und die überwiegende Ansicht in der Literatur die Hauptverwaltung im Sinn der deutschen Sitztheorie mit Sandrocks Formel bestimmen.137 130 BGH, II ZR 380/00, Urt. vom 01.07.2002, BGHZ 151, 204; OLG Düsseldorf, 6 U 59/94, Urt. vom 15.12.1994 = WM 1995, 808; LG Marburg, 1 O 115/92, Urt. vom 17.09.1992 = RIW 1994, 63; Drury, E.L. Rev. 24 (1999), 354 (357); Schlenker, Gestaltungsmodelle einer identitätswahrenden Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften über die Grenze, 1998, S. 24 ff. Diese Umdeutung einer AG in eine Personengesellschaft ex lege wird auch als „Wechselbalgtheorie“ oder „modifizierte Sitztheorie“ bezeichnet, Weller, IPRax 2009, 202 (203, 207). 131 Weller, IPRax 2009, 202 (208); Behrens, IPRax 2003, 193 (200). 132 EuGH, Rs. C-208/00, Urt. vom 05.11.2002, Slg. I-2002, 9919 („Überseering“). 133 BGH, VII ZR 370/98, Urt. vom 13.03.2003, BGHZ 154, 185, 189 f. („Überseering“). 134 Sandrock, in: FS Beitzke 1979, 669 (683). 135 BGH, V ZR 10/85, Urt. vom 21.03.1986, BGHZ 97, 269, 272; OLG Düsseldorf, 6 U 59/94, Urt. vom 15.12.1994 = WM 1995, 808, 810. 136 So erstmals Sandrock, RabelsZ 42 (1978), 227 (250 ff.); in Anlehnung an: Latty, Yale L.J. 65 (1955/1956), 137; ausführlicher dann nochmals Sandrock, in: FS Beitzke 1979, 669. Interessanterweise hält Sandrock selbst die Überlagerungstheorie in der EU mittlerweile für überholt und plädiert für eine Anwendung einer Gründungstheorie und regulatory competition in Europa, vgl. den Tagungsbericht bei Rehberg, IPRax 2003, 175 (178). 137 Thorn, in: Palandt, 2017, IPR, Anh EGBGB 12 Rn. 11; Assmann, in: Hopt/Wiedemann, GroßkommAktG, 2004, Einl. AktG Rn. 552; Großfeld, in: Staudinger, 13./14. Bearbeitung
230
3. Kapitel: Hauptverwaltung
Andere Formulierungen haben sich nicht durchgesetzt. Die Formel „der Mittelpunkt, von dem die Tätigkeit der juristischen Person ausgeht“, dient mehr der Rechtfertigung der Sitztheorie im Sinn des „Sitzes des Rechtsverhältnisses“ nach von Savigny als der konkreten Bestimmung des Anknüpfungskriteriums.138 Früher wurde das Kriterium auch als „Ort der tatsächlichen Verwaltungsführung“ definiert.139 Auch die früher von Ebenroth und Sura vertretene Auffassung, Sitz sei der Ort, „wo die Willensbildung des Leitorgans erfolgt, wobei temporäre Ortsveränderungen nicht zu berücksichtigen sind“, also nicht der Ort, „wo die Weisungen der Geschäftsleitung ihre Wirksamkeit entfalten, sondern […] wo sie erteilt worden sind“,140 ist mittlerweile von Ebenroth selbst zu Gunsten der Sandrock’schen Formel aufgegeben worden.141 Unter der Sandrock’schen Formel soll nicht der Ort der internen Willensbildung zu verstehen sein, sondern der, an dem „die Beschlußfassung nach außen erkennbar wird“, also „dort, wo die Leitungsanordnungen durch die dem Organ unmittelbar nachgeordneten Organisationseinheiten umgesetzt werden“.142 Es geht also nicht um die Spitze der Entscheidungspyramide, sondern um eine Ebene darunter. Allerdings ist unklar, wie dies bei den verschiedenen Rechtsformen zu konkretisieren ist. Die meisten Fälle aus der Rechtsprechung betrafen kleinere Gesellschaften (OHG, GmbH deutschen Rechts beziehungsweise deren ausländische Pendants), darunter eine Vielzahl von Briefkastengesellschaften mit relativ wenig (Führungs-)Personal, das sich recht eindeutig nicht im Staat der Gründung aufhielt.143 In diesen Fällen konnte unproblematisch auf den Aufenthalts- oder Tätigkeitsort der Geschäftsführer abgestellt werden; teilweise ließ sich die Sandrock’sche Formel hier auch so konkretisieren, dass die IntGesR, 1998, Rn. 228; ähnlich auch Hohloch, in: Erman, 2014, Anh II Art. 12 EGBGB Rn. 13, der ebenfalls die maßgeblichen BGH-Stellen zitiert. 138 Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht, 2004, S. 572 (§ 17 II 1); Kindler, in: MüKoBGB Bd. 11, 2015, IntGesR Rn. 421. 139 OLG Nürnberg, 7 U 169/66, Urt. vom 25.04.1967 = DB 1967, 1411; ebenso für eine (von der Sitztheorie teilweise abweichende Lehre, s.o. 3. Kap., B IV, S. 214 f., Fn. 48) H. Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, S. 783. 140 Ebenroth/Sura, RabelsZ 43 (1979), 315 (324). 141 Ebenroth, JZ 1988, 18 (22); Ebenroth/Bippus, JZ 1988, 677 (678). 142 Sandrock, in: FS Beitzke 1979, 669 (684); Großfeld, in: Staudinger, 13./14. Bearbeitung, IntGesR, 1993, Rn. 220; Ebenroth, JZ 1988, 18 (22); so auch aus der Rechtsprechung BayObLG, BReg. 3 Z 62/5, Beschl. vom 18.07.1985, BayObLGZ 1985, 272, 280: auf den „Ort der internen Willensbildung“ kommt es nicht an. 143 KG, 17 U Entsch. 2112/65, Urt. vom 28.06.1966 = IPRspr 1966/67, Nr. 210 (OHG); BGH, V ZR 81/77, Urt. vom 23.03.1979 = WM 1979, 692 (Anstalt liechtensteinischen Rechts); BayObLG, BReg. 3 Z 62/5, Beschl. vom 18.07.1985, BayObLGZ 1985, 272 (Limited englischen Rechts); OLG München, 5 U 2562/85, Urt. vom 06.05.1986 = NJW 1986, 2197 (Limited englischen Rechts); OLG Hamm, 15 W 209/94, Beschl. vom 18.08.1994 = DB 1995, 137 (Liechtenstein, Rechtsform nicht erwähnt); OLG Frankfurt a. M., 22 U 219/97, Urt. vom 23. 6. 1999 = NZG 1999, 1097 (englische Limited).
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
231
„Weisungen“ die des beherrschenden Gesellschafters waren.144 Allerdings finden sich kaum Urteile zu Aktiengesellschaften; dort ist eine solche „Weisung“ der Hauptversammlung schon nicht möglich, „Weisungen“ eines Organs an die ihm „unmittelbar nachgeordneten Organisationseinheiten“145 sind vielmehr diejenigen, die der Vorstand erteilt. Zudem ist nicht zu erwarten, dass eine Aktiengesellschaft lediglich als Briefkastengesellschaft eingerichtet wird, vielmehr ist (zumindest außerhalb von Konzernstrukturen) ein tatsächlicher Geschäftsbetrieb mit einer Geschäftsspitze mit größerem Personal zu erwarten. Bei internationalen Unternehmen ist zudem zu erwarten, dass der Vorstand nicht statisch an einem Ort tätig wird.146 Wendet man die Sandrock’sche Formel auf eine Aktiengesellschaft an, liegt es daher näher, sofern es ein zentrales Büro gibt, eher auf dieses als auf den Aufenthaltsort der Vorstandsmitglieder abzustellen,147 personell also eher auf die dem Vorstand nachgeordnete Ebene (die Befehlsempfänger, die auch dann im Büro bleiben, wenn der Vorstand verreist) als auf den Vorstand selbst, oder, um mit Sandrock zu formulieren, nicht auf den Ort, an dem der Vorstand „die großen Richtlinien-Entscheidungen“ fällt, sondern wo sie (von der Geschäftsleitung, dem höheren Management, der Firmenzentrale) „in tägliches Verwaltungshandeln umgesetzt werden“.148 Anders ist dies, wenn man den „Verwaltungssitz“ primär über steuerrechtliche Kriterien (etwa § 1 Körperschaftssteuergesetz, § 10 Abgabenordnung) konkretisiert; diese legen ein Abstellen auf den Ort nahe, an dem die Weisungen erteilt werden.149 Tatsächlich wird zur Konkretisierung von „Verwaltungssitz“ meist eine Reihe von Kriterien aufgezählt, die in den Urteilen angewendet wurden und die auch laut der Literatur zu berücksichtigen sind. Genannt werden etwa der Sitz der Generaldirektion, der Tagungsort des Vorstands und des Aufsichtsrats, der Ort der Hauptversammlung und der Geschäftsleitung.150 Unerheblich ist
144
BGH, V ZR 81/77, Urt. vom 23.03.1979 = WM 1979, 692, 693. Ebenroth, JZ 1988, 18 (22). 146 Zu diesem Problem schon ausführlicher oben 3. Kap., C II, S. 222. 147 So auch BayObLG, BReg. 3 Z 62/5, Beschl. vom 18.07.1985, BayObLGZ 1985, 272, 280. 148 Sandrock, in: FS Beitzke 1979, 669 (684). 149 Ebenroth/Sura, RabelsZ 43 (1979), 315 (324). Wegen der unterschiedlichen Funktion von Internationalem Gesellschafts- und Steuerrecht ist jedoch fraglich, ob eine Konkretisierung tauglich ist, vgl. unten 3. Kap., D I 5 e, S. 256. 150 Thorn, in: Palandt, 2017, Anh. Art. 12 EGBGB (IPR) Rn. 11. 145
232
3. Kapitel: Hauptverwaltung
dagegen eine Reihe von anderen Faktoren: insbesondere eine Briefkastenadresse,151 ebenso wie „sekundäre Verwaltungstätigkeiten“, namentlich Buchhaltung oder Steuerangelegenheiten;152 auch auf den Betriebsort (lieu d’exploitation) kommt es nicht an;153 ebensowenig ist der bloße Wohnort der Geschäftsführer entscheidend, selbst wenn dort einzelne Geschäftshandlungen getätigt werden.154 Der Verwaltungssitz ist für jede Gesellschaft einzeln zu bestimmen, auch bei Konzernen, sodass für eine Tochtergesellschaft der Sitz der Holding nicht maßgeblich ist. 155 Der Verwaltungssitz kann zwar gegebenenfalls fehlen, 156 aber – schon wegen der nicht zu bewältigenden Folgeprobleme, namentlich Normenhäufung – nicht auf zwei Orte aufgespalten sein.157 (Im Zweifel entscheidet der Sitz der „Hauptverwaltung bzw. effektiven Verwaltung“158). Eine Zweifelsregelung wird für den Fall angenommen, dass eine juristische Person
151 FG Düsseldorf, XV 370/83 F, Urt. vom 06.11.1986, IPRspr 1986, Nr. 23; präzisierend OLG Hamm, 15 W 209/94, Beschl. vom 18.08.1994 = DB 1995, 137: der Vortrag „Briefkastenfirma“ sei nicht ausreichend, wenn nicht dargelegt werde, dass tatsächliche Geschäftstätigkeit von einem anderen Ort aus gelenkt werde; Thorn, in: Palandt, 2017, Anh. Art. 12 EGBGB (IPR) Rn. 11; Hohloch, in: Erman, 2014, Anh II Art. 12 EGBGB Rn. 13; Bungert, DB 1995, 963 (963). 152 LG Essen, 2 O 315/93, Urt. vom 10.03.1994, NJW 1995, 1500, 1501; OLG Celle, 9 U 67/02, Urt. vom 14.08.2002 = IPrax 2003, 252; Thorn, in: Palandt, 2017, Anh. Art. 12 EGBGB (IPR) Rn. 11; Hohloch, in: Erman, 2014, Anh II Art. 12 EGBGB Rn. 13. 153 RG, Rep. V 243/17, Urt. vom 19.01.1918, RGZ 92, 73, 74; BayObLG, BReg. 3 Z 62/5, Beschl. vom 18.07.1985, BayObLGZ 1985, 272, 280; Sandrock, in: FS Beitzke 1979, 669 (679); Hohloch, in: Erman, 2014, Anh II Art. 12 EGBGB Rn. 13; Assmann, in: Hopt/Wiedemann, GroßkommAktG, 2004, Einl. AktG Rn. 551. 154 KG, 17 U Entsch. 2112/65, Urt. vom 28.06.1966 = IPRspr 1966/67, Nr. 210; Großfeld, in: Staudinger, 13./14. Bearbeitung, IntGesR, 1993, Rn. 220. 155 Hohloch, in: Erman, 2014, Anh II Art. 12 EGBGB Rn. 13; Thorn, in: Palandt, 2017, Anh Art. 12 EGBGB (IPR) Rn. 11; Assmann, in: Hopt/Wiedemann, GroßkommAktG, 2004, Einl. AktG Rn. 553; Ebenroth, JZ 1988, 18 (23); H. Wiedemann, in: FS Kegel 1977, 187 (197). 156 OLG Frankfurt a. M., 22 U 219/97, Urt. vom 23. 6. 1999 = NZG 1999, 1097, 1098; KG, 1 W 2905/97, Beschl. vom 26.08.1997, IPRspr 1997, Nr. 21 (Sitz im fiktiven Staat „Melchisedek“); a.A.: Thorn, in: Palandt, 2017, Anh. Art. 12 EGBGB (IPR) Rn. 11. 157 Ebenroth/Bippus, JZ 1988, 677 (679); Thorn, in: Palandt, 2017, Anh. Art. 12 EGBGB (IPR) Rn. 11; Panthen, Sitzbegriff, 1988, S. 307; a.A. Pluskat, WM 2004, 13, 601. 158 LG Essen, 2 O 315/93, Urt. vom 10.03.1994, NJW 1995, 1500; OLG Hamm, 15 W 209/94, Beschl. vom 18.08.1994 = DB 1995, 137, Rz. 17; Hohloch, in: Erman, 2014, Anh II Art. 12 EGBGB Rn. 13.
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
233
sich erkennbar nach dem Recht eines Staates organisiert hat;159 dies soll allerdings nicht für Staaten der Gründungstheorien gelten.160 d) Vermutung zu Gunsten des Satzungssitzes Ob eine Vermutung dafür besteht, dass eine Gesellschaft dort ihren Verwaltungssitz hat, wo sie gegründet ist, beziehungsweise wer beweisen muss, wo der Verwaltungssitz ist, ist umstritten. Die Rechtsprechung hat in einer Reihe von Urteilen Vermutungen dahingehend aufgestellt, dass eine ausländische Gesellschaft ihren tatsächlichen Sitz auch im Gründungsstaat habe.161 Ein Teil der Literatur hat dies zu einer grundsätzlichen Vermutungsregel verallgemeinert.162 Ein anderer Teil der Literatur hat eine solche Vermutungsregel und die entsprechenden Urteile dagegen abgelehnt.163 Insbesondere wurde darauf verwiesen, außenstehende Dritte könnten einen solchen Beweis kaum jemals führen („probatio diabolica“). 164 Zumindest bei Gründungstheoriestaaten – namentlich „Oasenstaaten“, etwa Liechtenstein – sei gerade nicht zu erwarten, dass die Gesellschaft auch dort tätig sei.165 Die Meinung hat sich jedoch bisher zumindest in der Rechtsprechung nicht durchgesetzt. Für das geltende Recht ist davon auszugehen, dass eine Vermutung zu Gunsten des Satzungssitzes besteht.
159
OLG München, 5 U 2562/85, Urt. vom 06.05.1986 = NJW 1986, 2197; OLG Düsseldorf, 6 U 59/94, Urt. vom 15.12.1994 = WM 1995, 808, 810; KG, 1 W 2905/97, Beschl. vom 26.08.1997, IPRspr 1997, Nr. 21; offenlassend OLG Hamm, 15 W 209/94, Beschl. vom 18.08.1994 = DB 1995, 137, Rz. 20; Thorn, in: Palandt, 2017, Anh. Art. 12 EGBGB (IPR) Rn. 11. 160 OLG Hamm, 8 U 87/01, Urt. vom 24.04.2002, juris, Rz. 30; Hohloch, in: Erman, 2014, Anh II Art. 12 EGBGB Rn. 13; Kindler, in: MüKoBGB Bd. 11, 2015, IntGesR Rn. 471. 161 BGH, V ZR 10/85, Urt. vom 21.03.1986, BGHZ 97, 269, 273; für das Grundbuchrecht OLG Hamm, 15 W 209/94, Beschl. vom 18.08.1994 = DB 1995, 137, Rz. 19 (allgemeiner Erfahrungssatz); zustimmend Bungert, DB 1995, 963 (963 ff.). 162 So zuerst Lüderitz, in: Soergel, Bd. 8, 1984, vor Art. 7 EGBGB Rn. 203 f.; für eine solche Regel de lege ferenda auch D. Zimmer, RabelsZ 67 (2003), 298 (312 f.); Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 211. 163 Großfeld, EWiR 1986, 627 (628); Ebenroth/Eyles, DB-Beilage Nr. 2/1988, 1 (5 f.); Ebenroth/Bippus, JZ 1988, 677 (681). 164 Großfeld, EWiR 1986, 627 (628); Großfeld/Piesbergen, in: FS Mestmäcker 1996, 881 (884). 165 Travers, Tatsächlicher Sitz der Hauptverwaltung, 1998, S. 227 f.; Großfeld/Piesbergen, in: FS Mestmäcker 1996, 881 (884); a.A. („muß auch für Rechtsordnungen gelten, die in der Praxis gerne für sog. Briefkastengesellschaften […] verwandt werden“) Bungert, DB 1995, 963 (964) (am Beispiel von Liechtenstein).
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
e) Zusammenfassung zum deutschen Recht Im deutschen Recht ist für die Formulierung der „Hauptverwaltung“ die Sandrock’sche Formel maßgeblich, wobei der Anwendungsbereich durch europäische Rechtsprechung und nationale Gesetzgebung deutlich eingeengt wurde. Maßgeblich ist demnach der Ort, „wo die grundlegenden Entscheidungen der Unternehmensleitung effektiv in laufende Geschäftsführungsakte umgesetzt werden“. 2. Italien Auch in Italien finden sich Konzepte unter ähnlichem Terminus im internationalen Gesellschaftsrecht. a) Gesetzgebungsgeschichte (des italienischen IPR): Lage bis 1995 Interessant ist ein Blick auf die Gesetzgebungsgeschichte des italienischen IPR, die auch terminologische Ähnlichkeiten mit dem in der SE-VO verwendeten Ausdruck enthüllt. Bis zur Reform des Internationalen Privatrechts 1995 bestimmte Art. 2505 c.c.: „Le società costituite all’estero, le quali hanno nel territorio dello Stato la sede dell’amministrazione ovvero l’oggetto principale dell’impresa sono soggette, anche per i requisiti di validità dell’atto costitutivo, a tutte le disposizioni della legge italiana.“ Übers. d. Verf.: Die im Ausland gegründeten Gesellschaften, die ihren Verwaltungssitz oder das Hauptziel ihres Unternehmens im Gebiet des [italienischen] Staates haben, sind auch in Bezug auf die Voraussetzungen für die Gültigkeit ihres Gründungsaktes allen Regelungen des italienischen Gesetzes unterworfen.
In Art. 2509 c.c. war bestimmt, dass in Italien gegründete Gesellschaften jedenfalls italienischem Recht unterstanden: „Le società che si costituiscono nel territorio dello Stato, anche se l’oggetto della loro attività è all’estero, sono soggette alle disposizioni della legge italiana.“ Übers. d. Verf.: Gesellschaften, die sich auf dem [italienischen] Staatsgebiet gründen, sind – auch wenn der Gegenstand ihrer Tätigkeit sich im Ausland befindet – den Vorschriften der italienischen Gesetze unterworfen.
Ob die Antwort auf die Frage, welche ausländischen Unternehmen in Italien als rechtsfähig anzuerkennen waren, daraus zu entnehmen war, war nicht unstreitig; jedenfalls wurde von einer breiten Mehrheit auf Art. 2505, 2509 c.c. rekurriert, entweder als Kollisionsnormen oder über den Umweg der nazionalità, die für die Anerkennung (riconoscimento) fremder Gesellschaften entscheidend war und den Art. 2505, 2509 c.c. zu entnehmen sein sollte.166 Die 166
Vgl. überblicksweise über den damaligen Streitstand, der aufgrund der zwischenzeitlich ergangenen Reformen im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter vertiefenswert erscheint,
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
235
Rechtslage in Italien wurde damit als eine Kombination von Sitz- und Gründungstheorie eingeordnet.167 b) Reformvorschläge In einem Entwurf zur späteren Reform von 1995 hatte eine von der italienischen Regierung eingesetzte Expertenkommission am 26.10.1989 einen Artikel (Art. 23 der damaligen Fassung) zur Regelung des internationalen Gesellschaftsrechts vorgeschlagen. Dieser stellte in Abs. 1 S. 1 entscheidend auf die Hauptverwaltung („l’amministrazione centrale“) ab. Diese Anknüpfung wurde in S. 2 von einer (widerleglichen) Vermutung, 168 dass die Hauptverwaltung sich an dem Ort befindet, wo die Satzung ihn festsetzt („luogo della sede statutaria“), und in S. 3 von einer ergänzenden Anknüpfung an die Geschäftstätigkeit begleitet: „Le società, le associazioni, le fondazioni ed ogni altro ente, pubblico o privato, anche privo di natura associativa, sono sottoposti al diritto dello Stato nel quale si trova la loro amministrazione centrale. Salvo prova contraria si presume che l’amministrazione centrale si trovi nel luogo della sede societaria. In ogni caso si applica il diritto italiano se l’attività di tali enti si svolge prevalentemente in Italia.“169 Übers. d. Verf.: Gesellschaften, Vereine, Stiftungen und alle anderen Verbände, seien sie öffentlich oder privat, auch solche ohne vereinsrechtliche Natur, unterliegen dem Recht des Staates, an dem sich ihre Hauptverwaltung befindet. Bis zum Beweis des Gegenteils wird vermutet, dass sich die Hauptverwaltung am Ort des Satzungssitzes befindet. Italienisches Recht findet jedenfalls dann Anwendung, wenn die Tätigkeit des Verbands überwiegend in Italien stattfindet.
Hier wurde also explizit der Terminus („amministrazione centrale“) verwendet, der sich auch in der italienischen Fassung der EWIV-VO und der SE-VO wiederfindet. Die Regierung präsentierte einen leicht veränderten Entwurf am 29.04.1993, in dem sie in dem Artikel inhaltlich keine Änderungen vornahm,
Ebenroth/Kaiser, ZVglRWiss 91 (1992), 223 (226 ff.); Moor, Italienisches Internationales Gesellschaftsrecht, 1997, S. 22 ff.; Coscia, Riconoscimento, 1984; Königshöfer, Wechsel des Gesellschaftstatuts in Italien, 1980, S. 23 ff. 167 Großfeld, in: Staudinger, 13./14. Bearbeitung IntGesR, 1993, Rn. 147; auch zum Stand vor 1995 Kindler, RabelsZ 61 (1997), 227 (281); Moor, Italienisches Internationales Gesellschaftsrecht, 1997, S. 33; Ebenroth/Kaiser, ZVglRWiss 91 (1992), 223 (234 (Fn. 58)); Ebenroth/Sura, RabelsZ 43 (1979), 315 (327). 168 Mosconi/Campiglio, Diritto internazionale privato e processuale II, 2011, S. 62; Moor, Italienisches Internationales Gesellschaftsrecht, 1997, S. 34; Ebenroth/Kaiser, ZVglRWiss 91 (1992), 223 (234). 169 Der Gesetzesentwurf ist abgedruckt in Riv. di dir. priv. e proc. 1989, 932; Art. 23 findet sich dort auf S. 936; sowie in einer Synopse bei Pocar, Nuovo DIP italiano, 2002, S. 88 ff. (Art. 23 auf S. 106). S. 1 und S. 3 sind übersetzt bei Ebenroth/Kaiser, ZVglRWiss 91 (1992), 223 (234 f.), S. 2 ist dort nur paraphrasiert.
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
aber einige Termini auswechselte. Insbesondere wurde „amministrazione centrale“ durch „amministrazione“ (Verwaltung) ersetzt, ähnlich auch „luogo della sede statutaria“ (Ort des Satzungssitzes) durch „ove, per lo statuto, è stata fissata la sede“ (wo der Sitz durch die Satzung bestimmt worden ist). Die terminologischen Änderungen sollten möglicherweise bewirken, dass das Gesetz auf alle Gesellschaften anwendbar ist und die Kriterien nicht zu sehr auf Kapitalgesellschaften zugeschnitten sind.170 c) Heutige Regelung (seit 1995) Schließlich entschied sich der parlamentarische Gesetzgeber aber gegen die Hauptanknüpfung an die Hauptverwaltung.171 Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur IPR-Reform 1995 in Italien172 (im Folgenden: i-IPRG) bestimmt nunmehr dessen Art. 25: „Le società, le associazioni, le fondazioni ed ogni altro ente, pubblico o privato, anche se privo di natura associativa, sono disciplinati dalla legge dello Stato nel cui territorio è stato perfezionato il procedimento di costituzione. Si applica, tuttavia, la legge italiana se la sede dell’amministrazione è situata in Italia, ovvero se in Italia si trova l’oggetto principale di tali enti. […]“ Übers. d. Verf.: Gesellschaften, Vereine, Stiftungen und alle anderen juristischen Personen, seien sie öffentlicher oder privater Natur, unterliegen, auch wenn sie keinen Verbandscharakter haben, den Gesetzen des Staates, in dessen Herrschaftsbereich das Verfahren ihrer
170
Die terminologischen Änderungen sind explizit benannt im Bericht der Regierung zum Gesetzesentwurf, wo sich auch der Gedanke findet, die Kriterien sollten auf jedwede Gesellschaftsform anwendbar sein („applicabile a qualsiasi tipo di società“), im Abdruck bei Pocar, Nuovo DIP italiano, 2002, S. 153 ff., 169. Art. 25 des Gesetzesentwurfs lautet im Original: „Le società, le associazioni, le fondazioni ed ogni altro ente, pubblico o privato, anche se privo di natura associativa, sono disciplinati dalla legge dello Stato nel quale si trova la loro amministrazione. Salvo prova contraria, si presume che l’amministrazione si trovi nel luogo ove, per statuto, è fissata la sede. In ogni caso si applica la legge italiana se l’attività di tali enti si svolge prevalentemente in Italia“; vgl. den Abdruck des Entwurfs bei Pocar, Nuovo DIP italiano, 2002, S. 88 ff. (Art. 25 auf S. 106). Eine Übersetzung des Schweizer Autors Moor findet sich bei Moor, Italienisches Internationales Gesellschaftsrecht, 1997, S. 33 f. Von einer Verwendung dieser Übersetzung wurde abgesehen, da sie den oben im Text beschriebenen terminologischen Wandel nicht reflektiert. Möglicherweise ist dies darauf zurückzuführen, dass Moor von einem italienischen Original ausgeht, das Teile beider Versionen verwendet (vgl. bei Moor S. 34 Fn. 21). 171 Mosconi/Campiglio, Diritto internazionale privato e processuale II, 2011, S. 62; Pocar, Nuovo DIP italiano, 2002, S. 76. 172 Legge 31 maggio 1995, n. 218, Riforma del sistema italiano di diritto internazionale privato, GU n. 128 del 03.06.1995 – Suppl. Ordinario n. 68; Übersetzung bei Jayme/Siehr/Kronke, RabelsZ 61 (1997), 344 (344 ff.); zur Reform Kindler, RabelsZ 61 (1997), 227 (227 ff.).
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
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Gründung beendet worden ist. Jedoch ist italienisches Recht anwendbar, wenn der Verwaltungssitz in Italien ist oder wenn sich der Hauptgegenstand dieser juristischen Personen in Italien befindet.173 […]
Maßgeblicher Terminus ist jetzt also „sede dell’amministrazione“. Dies weist noch eine gewisse Nähe zum (erwogenen, aber wieder verworfenen) „amministrazione centrale“ auf; welche Bedeutung genau der (in letzter Minute erfolgten) Änderung (auch) der Terminologie im Gesetzgebungsverfahren zukommt, bleibt unklar, auch, da (soweit aus den Unterlagen ersichtlich) hauptsächlich die mit der letzten Änderung einhergehenden materiellen Änderungen diskutiert wurden.174 Im Ergebnis wurde also die bereits aus dem c.c. bekannte Anknüpfung beibehalten, wodurch insbesondere Beweisprobleme vermieden werden sollten; auch wurde europäischer Einfluss als Begründung angeführt. 175 Geändert wurde die Reihenfolge der Anknüpfungspunkte – nunmehr ist der Gründungsort primär maßgeblich, der Verwaltungssitz (als das Kriterium, das als schwerer zu ermitteln angesehen wurde176) erst in zweiter Linie. Italien hat damit einen Schritt weg von seiner Sitztheorie und hin in Richtung Gründungstheorien gemacht.177 Jedoch sind die Anknüpfungsgesichtspunkte auch in der Formulierung gleich geblieben. Auch die Literatur geht davon aus, dass Interpretationen zu Art. 2505 c.c. a.F. ungeachtet der neuen Reihenfolge der Anknüpfungskriterien weiterhin herangezogen werden können.178 Das alternative Kriterium des „Hauptgegenstandes“ (oggetto principale) in Italien, das ebenfalls zur Anwendung inländischen Sachrechts führt, soll dagegen eng auszulegen
173
Übersetzung von Kurt Siehr, in Jayme/Siehr/Kronke, RabelsZ 61 (1997), 344 (350). Insbesondere ist der Expertenbericht, der nur für den Vorentwurf verfasst wurde, von dem jedoch abgewichen wurde, hier keine Hilfe, vgl. Moor, Italienisches Internationales Gesellschaftsrecht, 1997, S. 39; Bariatti, Riv. di dir. int. priv. e proc. 2011, 650 (650). Die Änderung erfolgte erst in einer Parlamentssitzung am 06.04.1995, vgl. den Bericht bei Pocar, Nuovo DIP italiano, 2002, S. 244–247. 175 Kindler, Italienisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2014, Rn. 7.39; Kindler, RabelsZ 61 (1997), 227 (282); Moor, Italienisches Internationales Gesellschaftsrecht, 1997, S. 42 f.; Angelici, in: Riforma del sistema di DIP (1996), 111 (113 f.); Pocar, Nuovo DIP italiano, 2002, S. 76; Santa Maria, Riv. di dir. int. priv. e proc. 1995, 1036 (1037, 1039). 176 Kindler, RabelsZ 61 (1997), 227 (282). 177 Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, Rn. 173; ähnlich D. Zimmer, RabelsZ 67 (2003), 298 (303) („Kombination aus Gründungs- und Sitztheorie“); zustimmend Moor, Italienisches Internationales Gesellschaftsrecht, 1997, S. 42 f.; bedauernd Kindler, RabelsZ 61 (1997), 227 (282). 178 Kindler, RabelsZ 61 (1997), 227 (284 f.); Moor, Italienisches Internationales Gesellschaftsrecht, 1997, S. 41; Armellini, in: Cian/Trabucchi, Commentario breve al Codice civile, 2009, Art. 25 i-IPRG Rn. VII 2; Ballarino, Diritto internazionale privato, 1999, S. 361 ff.; zum ähnlich formulierten Entwurf von 1989 (s.o.) auch Ebenroth/Kaiser, ZVglRWiss 91 (1992), 223 (237). 174
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
sein.179 Als weitere Einschränkungen zur Sitztheorie wird in der Literatur auch vertreten, dass Art. 25 Abs. 1 S. 2 I-IPRG 1995 nur die zwingenden Normen des Gesellschaftsrechts zur Anwendung bringen wolle, die die Tätigkeit in Italien regeln oder zumindest Effekte ausländischer Tätigkeit in Italien betreffen;180 ferner wurden Bedenken wegen einer EU-Rechtswidrigkeit der Regelung geltend gemacht.181 d) Bestimmung von „sede“ „Sede“ wird vom Gesetzgeber nicht definiert, sodass Definitionsversuche – in Ermangelung eines normativen Sprachgebrauchs – meist auf den nicht-technischen Sprachgebrauch zurückgreifen. 182 In der Rechtsprechung wird sede dell’amministrazione verstanden als der Ort, von dem die der Gesellschaftstätigkeit innewohnenden Willensimpulse ausgehen,183 was gleichbedeutend sein soll mit dem Ort, an dem die Akte des Gesellschaftswillens durch die dafür institutionell vorgesehen Organe gebildet werden.184 Ein solcher Verwaltungssitz wurde etwa in einem Fall einer Gesellschaft aus Panama angenommen, deren (italienische) Geschäftsführer jedoch ausschließlich in Italien Rüstungsgeschäfte tätigten. 185 Auch die Literatur befürwortete überwiegend den Ort, von dem die Willensimpulse ausgehen (während oggetto principale, Hauptgegenstand, an dem Ort anzusiedeln war, an dem diese umgesetzt wurden).186 Der Ort, an dem Gesellschafterbeschlüsse umgesetzt werden, soll demnach nicht entscheidend sein. 187 Teilweise wurde aber sede dell’amministrazione auch umschrieben als „der Ort, an dem das Verwaltungsorgan der Gesellschaft seine
179 Kindler, Italienisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2014, § 7 Rn. 41; Kindler, RabelsZ 61 (1997), 227 (283 f.); Ballarino, Diritto internazionale privato italiano, 2011, S. 142; Ballarino, Diritto internazionale privato, 1999, S. 365. 180 Bariatti, Riv. di dir. int. priv. e proc. 2011, 650 (653); für weitere Nachweise Kindler, Italienisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2014, § 7 Rn. 41. 181 Gestri, Riv. d. dir. int. 2000, 71 (110); tendenziell keinen Verstoß sehend Ballarino, Diritto internazionale privato italiano, 2011, S. 139, 147. 182 Levi, in: Digesto delle discipline privatistiche, Sez. Commerciale XIII, 1996, S. 292 (Lemma „Sede secondaria“). 183 „… il luogo dal quale provengono gli impulsi volitivi inerenti all’attività sociale“, Trib. Genova 31.03.1967, Riv. di dir. priv. e proc. 1967, 802, 806; Ballarino, Diritto internazionale privato italiano, 2011, S. 140; Ballarino, Diritto internazionale privato, 1999, S. 363; Moor, Italienisches Internationales Gesellschaftsrecht, 1997, S. 41. 184 Trib. Genova 31.03.1967, Riv. di dir. priv. e proc. 1967, 802, 806; Gestri, Riv. d. dir. int. 2000, 71 (77). 185 Trib. Genova 31.03.1967, Riv. di dir. priv. e proc. 1967, 802, 807. 186 Ebenroth/Kaiser, ZVglRWiss 91 (1992), 223 (237, 239); Armellini, in: Cian/Trabucchi, Commentario breve al Codice civile, 2009, Art. 25 i-IPRG Rn. V 1, VII 2; Königshöfer, Wechsel des Gesellschaftstatuts in Italien, 1980, S. 45 ff. m.w.N. 187 Ebenroth/Kaiser, ZVglRWiss 91 (1992), 223 (237 f.).
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
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Gewalt und Funktionen tatsächlich und dauerhaft ausübt, um die gesamte Gesellschaftstätigkeit einheitlich zu lenken“.188 In einer internationalprivatrechtlichen Abhandlung findet sich auch der Ausdruck „centro dell’amministrazione“, „Verwaltungszentrale“, um das Kriterium des siège social zu umschreiben, also „die Sitztheorie“, unter die dann die Länder Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien und Österreich gefasst werden.189 Offenbar wird hier von einer einheitlichen Sitztheorie ausgegangen, denn das Kriterium wird dort (für alle Länder, die der Sitztheorie folgen) umschrieben als der Ort, „wo die Funktionen der zentralen Steuerung und Kontrolle ausgeübt werden“, wobei ausländische (in diesem Fall deutsche) Literatur zitiert wird.190 Neben dem internationalprivatrechtlichen Gebrauch von sede gibt es im Gesellschaftsrecht die sede della società (in der Literatur auch sede sociale191), eine im Gründungsakt (atto costitutivo) zu veröffentlichende Angabe (Art. 2328 Abs. 1 c.c.). Die Nennung der Gemeinde (comune) ist seit der Neufassung 2004 ausdrücklich ausreichend.192 Darunter wird der Ort verstanden, an dem sich das Verwaltungsorgan (organo amministrativo) und die leitenden Büros (uffici direttivi) der Gesellschaft befinden.193 In jedem Fall gehört zum Konzept von sede eine Beständigkeit (stabilità) der Bestimmung des Ortes und der dort arbeitenden Personen sowie der Arbeitsmittel für die Ausübung des wirtschaftlichen Zwecks; dieses Kriterium der stabilità findet sich auch in ähnlicher Form in der Steuergesetzgebung und ist dort Gegenstand von wissenschaftlicher Diskussion und Rechtsprechung.194 Laut der Rechtsprechung besteht eine Vermutung, dass der tatsächliche Sitz sich an dem Ort befindet, der in der Gründungsurkunde (atto costitutivo) angegeben ist, solange keine gegenteiligen sicheren Beweise vorliegen.195 Neben der sede kann es auch sedi secondarie (Zweitsitze) geben; diese sind kein eigenes Unternehmen, sondern wirtschaftlich und verwaltungstechnisch vom Hauptsitz abhängig, unterliegen 188 Cagnasso/Irrera, in: Perlingieri, Codice Civile, Bd. 5, 1991, Art. 2505 c.c., S. 614 m.w.N., Übers. d. Verf. 189 Ballarino, in: Colombo/Portale, Trattato, 9*, 1994, S. 11. 190 Namentlich Rabel und Ebenroths Kommentierung im Münchener Kommentar, zitiert bei Ballarino, in: Colombo/Portale, Trattato, 9*, 1994, S. 11 (Fn. 11). 191 Vgl. Zaccaria, in: Cian/Trabucchi, Commentario breve al Codice civile, 2016, Art. 2328 Rn. III 12. 192 Vgl. auch Zaccaria, in: Cian/Trabucchi, Commentario breve al Codice civile, 2016, Art. 2328 Rn. III 14; a.A. zum früheren Recht (damals h.M.) App. Roma 07.02.1991, Foro it. 1991, I, 1859; Marchetti, Riv. d. Soc. 1981, 1033 (1039). 193 Campobasso/Campobasso, Diritto delle società, 2012, S. 155. 194 Levi, in: Digesto delle discipline privatistiche, Sez. Commerciale XIII, 1996, S. 293 m.w.N. (Lemma „Sede secondaria“). 195 So für einen Fall aus dem Insolvenzrecht Cass. civ. 26.11.1984, Nr. 6117, Rep. Foro it. 1984, „Fallimento“, Nr. 149; Zaccaria, in: Cian/Trabucchi, Commentario breve al Codice civile, 2016, Art. 2328 Rn. III 12.
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
also deren Befehlsgewalt und führen keine eigene Firma 196 (dies gilt auch, wenn sich der Hauptsitz im Ausland und nur die sede secondaria sich in Italien befindet 197 ); das Gesetz verlangt dann eine Hinterlegung der Adresse des Hauptsitzes (sede) beim Register des Ortes, in dem sich der Zweitsitz (sede secondaria) befindet (Art. 2299 c.c.). e) „Nazionalità“ von Gesellschaften Das italienische Gesellschaftsrecht kommt damit ohne ein Konzept der nazionalità (Nationalität) von Gesellschaften aus. Bis zur Reform 1995 war das Kriterium noch in Rechtsprechung und Lehre gebräuchlich und bezeichnete das auf eine Gesellschaft anwendbare Recht (also das Ergebnis der Anknüpfung, nicht ein Anknüpfungskriterium).198 Mit dem IPRG 1995 ist der italienische Gesetzgeber einer Empfehlung der Expertenkommission gefolgt, die das Konzept der Nationalität ausdrücklich verworfen hat, und hat Art. 25 IPRG unter Verzicht auf das Kriterium der Nationalität ausgestaltet.199 Trotz einiger Autoren, die nach wie vor von der nazionalità von Gesellschaften sprechen,200 kann das Konzept mit der Reform als überwunden gelten.201 f) Zusammenfassung zum italienischen Recht Im italienischen Recht ist ein Pendant zur „Hauptverwaltung“ (im europäischen Sinn) mit der amministrazione centrale schnell gefunden; allerdings hat dieses Kriterium nicht die gleiche Bedeutung wie etwa die „Hauptverwaltung“ in Deutschland. Für seine Bestimmung wird in Italien auf den Ort abgestellt, von dem die Willensimpulse ausgehen. 3. England Die SE-VO verwendet in der englischen Sprachfassung im Englischen den Terminus „head office“. In den Gesetzestexten zum englischen Gesellschaftsrecht taucht dieser Terminus, soweit ersichtlich, nicht auf. 196
Pitter, in: Cian/Trabucchi, Commentario breve al Codice civile, 2016, Art. 2197 Rn. I
4. 197 Levi, in: Digesto delle discipline privatistiche, Sez. Commerciale XIII, 1996, S. 297 (Lemma „Sede secondaria“). 198 Cass. (S.U.) 26.05.1969, Nr. 1857, Rev. dir. int. priv. proc. 1970, 359; Moor, Italienisches Internationales Gesellschaftsrecht, 1997, S. 27 m.w.N. 199 Vgl. den Bericht der Expertenkommission, abgedruckt in Riv. Di dir. Priv. e proc. 1989, 947, 959; siehe zur Frage auch Moor, Italienisches Internationales Gesellschaftsrecht, 1997, S. 27. 200 Insbesondere Ballarino, Diritto internazionale privato italiano, 2011, S. 138; ähnlich Scarchillo, in: Corapi/Pernazza, Società europea, 2011, S. 21 f. 201 Armellini, in: Cian/Trabucchi, Commentario breve al Codice civile, 2009, Art. 25 i-IPRG Rn. II; Moor, Italienisches Internationales Gesellschaftsrecht, 1997, S. 27.
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
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a) Domicile Der für das internationale Gesellschaftsrecht maßgebliche Anknüpfungsgegenstand ist das domicile.202 Domicile bezeichnet bei natürlichen Personen deren frei gewählten Wohnsitz (domicile of choice) oder – falls ein solcher fehlt, etwa bei Minderjährigen – das sog. domicile of origin (fingierter Wohnsitz bei den Eltern).203 Gesellschaften können dagegen ein solches domicile nicht wählen (ein domicile of choice existiert für Gesellschaften nicht; das „domicile“ einer Gesellschaft wird in Analogie zum domicile of origin bestimmt). 204 Hierbei handelt es sich um den Gründungsort der Gesellschaft, an dem diese ihr registered office hat. Das registered office ist dabei im Wesentlichen eine Briefkastenadresse, an der keinerlei Geschäftstätigkeit ausgeübt werden muss.205 Dort können Schriftstücke zugestellt werden (deswegen ist die Adresse, neben Registrierungsnummer und -stelle, auch auf Schriftstücken der Gesellschaft stets anzugeben), 206 außerdem sind am registered office bestimmte Publizitätspflichten für Gläubiger, Gesellschafter und Dritte zu erfüllen.207 Insbesondere müssen dort die folgenden Dokumente geführt werden: das Verzeichnis der Gesellschafter (Sec. 113 CA 2006), Protokolle der Gesellschafterversammlungen (Sec. 355 ff. CA 2006), Verzeichnis von directors und secretaries (Sec. 162 ff. CA 2006), Abschriften der Anstellungsverträge der directors (Sec. 228 CA 2006), Verzeichnis der Inhaber von debentures (Sec. 743 f. CA 2006), Abschriften von Urkunden, die eine eintragungsbedürftige Belastung des Gesellschaftsvermögens begründen (Sec. 875 CA 2006), eine Liste aller
202 Gasque v Inland Revenue Commissioners [1940] 2 KB 80; Bank of Ethiopia v National Bank of Egypt and Liguori [1937] Ch 513; Banco di Bilbao v Sancha [1938] 2 KB 176; North/Fawcett/Cheshire, Cheshire and North’s Private International Law, 1999, S. 175; Paton/Derham, The text-book of jurisprudence, 1964, S. 382; Drury, E.L. Rev. 24 (1999), 354 (355). 203 Panthen, Sitzbegriff, 1988, S. 145 ff. 204 Gasque v Inland Revenue Commissioners [1940] 2 KB 80 84: „The domicile of origin […] clings to it throughout its existence“; Dicey, Morris and Collins on The Conflict of Laws, 2012, Rn. 30-002; North/Fawcett/Cheshire, Cheshire and North’s Private International Law, 1999, S. 175; Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 22; Panthen, Sitzbegriff, 1988, S. 151; Richter, Rechtsstellung ausländischer Kapitalgesellschaften, 1980, S. 24; J. Hoffmann, ZVglRWiss 101 (2002), 283 (288). 205 Ringe/Otte, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 5.81 (Fn. 199). 206 Sec. 82 CA 2006 und Companies (Trading Disclosures) Regulations 2008 vom 23.02.2008, Statutory Instrument 2008, Nr. 495, abrufbar unter , zuletzt abgerufen am 21.10.2017. 207 Ringe/Otte, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 5.81 (Fn. 199).
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Belastungen des Gesellschaftsvermögens (Sec. 876 f. CA 2006) und ein Verzeichnis der Gesellschafter in den letzten drei Jahren (Sec. 808 f. CA 2006).208 Davon sind Gläubigern, gegen Gebühr auch Dritten, Abschriften zu erteilen (Sec. 877 (4) CA 2006). Das registered office hat jedoch keine kollisionsrechtliche Bedeutung, sondern ist als Zustelladresse nur einschlägig, wenn die Anwendbarkeit des CA 2006 bereits feststeht.209 Dass das EU-Recht (etwa Art. 7 SE-VO) das registered office mit dem (Satzungs-)„Sitz“ (wie er in Deutschland verstanden würde) gleichsetzt, ist eine (potenziell Sprachverwirrung stiftende) Gleichsetzung von Ungleichem.210 Eine Verlegung des domicile ist (nach englischem Recht) nicht möglich.211 b) Residence im case law Im Internationalen Gesellschaftsrecht gibt es in England damit keine der Sache nach vergleichbaren Konzepte wie in Deutschland. Um Konzepte zu finden, die – im Sinn der „Sitztheorien“ in ihrer übernationalen Bedeutung – dazu dienen, eine Gesellschaft anhand einer aktuellen, tatsächlichen Betrachtung mit einem Ort zu verbinden, muss man das Internationale Gesellschaftsrecht verlassen. Im Steuerrecht wird an die residence angeknüpft, doch die Bedeutung von residence im Steuerrecht ist auch für andere Bereiche des englischen Rechts gültig;212 etwa findet residence auch im Übernahmerecht Anwendung.213 Residence ist dabei anders als domicile ein rein durch Tatsachen bestimmtes Konzept, auch wenn diese Tatsachen im Widerspruch zur Satzung stehen.214 Vom Vorliegen des domicile ist residence unabhängig.215 Bis 1988 wurde residence ausschließlich vom case law definiert, namentlich durch das Urteil De Beers Consolidated Mining Ltd v Howe (1906): „a company resides for purposes of income tax where its real business is carried on 208 Vgl. die Aufzählung bei Ringe/Otte, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handelsund Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 5.260. 209 J. Hoffmann, ZVglRWiss 101 (2002), 283 (293). 210 Darauf weist J. Hoffmann, ZVglRWiss 101 (2002), 283 (292–295) hin. 211 Dicey, Morris and Collins on The Conflict of Laws, 2012, Rn. 30-003; Paton/Derham, The text-book of jurisprudence, 1964, S. 382. Möglich sind dagegen Verlegungen etwa nach dem Recht einiger australischer Bundesstaaten, vgl. für weitere Nachweise J. Hoffmann, ZVglRWiss 101 (2002), 283 (292). 212 R v Barnet L.B.C., ex p. Shah [1983] 2 AC 309, HL; F. R. Davies, Introduction to Revenue Law, 1985, S. 399. 213 D. Zimmer, RabelsZ 67 (2003), 298 (305). 214 De Beers Consolidated Mining Ltd v Howe [1906] AC 455, 455 und 458; Farnsworth, The Residence and domicil of corporations, 1939, S. 203 f.; Paton/Derham, The text-book of jurisprudence, 1964, S. 382; Panthen, Sitzbegriff, 1988, S. 158 f.; K. Schmidt, RIW 1987, 35 (36); Richter, Rechtsstellung ausländischer Kapitalgesellschaften, 1980, S. 23. 215 Cesena Sulphur Co Ltd v Nicholson [1876] 1 Ex. D. 428.
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[…] and the real business is carried on where the central management and control actually abides“.216 In der Folgezeit wurde auf das (missverständliche) Kriterium des „carrying on business“ ganz verzichtet und nur noch auf das in De Beers Consolidated Mining Ltd v Howe entwickelte Kriterium von „central management and control“ abgestellt.217 In dieser Form spielte das Kriterium auch während des Ersten Weltkriegs bei der Beurteilung der „Feindeseigenschaft“ von Gesellschaften eine Rolle.218 So formuliert ist das Kriterium jedenfalls sprachlich nahe an der in den Vorentwürfen und dem AEUV verwendeten Fassung 219 „central administration“. Umschrieben wird es auch als Aufenthaltsort der directors220 oder als „head and brains of the company“,221 was wiederum näher am jetzt verwendeten „head office“ ist. Häufig orientieren sich englische Gerichte für die Feststellung an der in der Satzung der Gesellschaft (memorandum of association, articles of association) festgeschriebenen Kompetenzverteilung und stellen regelmäßig entscheidend auf den Versammlungsort des board of directors als des Organs ab, dem die leitende Geschäftsführung zugewiesen ist.222 Residence scheint dabei auf eine Stufe in der Hierarchie des Unternehmens abzustellen, die noch etwas höher liegt als head office. So war in einem Fall223 laut der Sachverhaltsaufnahme des Gerichts das head office in Südafrika; dass aber größere Entscheidungen von den directors getroffen wurden, die mehrheitlich in England wohnten, gab den Ausschlag für die residence in England. Hier wurde head office also als Gegenbegriff zu residence gebraucht, hatte aber keinen besonderen juristischen Wortsinn, sondern wurde lediglich als deskriptiver Terminus verwendet.
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De Beers Consolidated Mining Ltd v Howe [1906] AC 455, 458; Dicey, Morris and Collins on The Conflict of Laws, 2012, Rn. 30R-001; Höfling, Das englische internationale Gesellschaftsrecht, 2002, S. 124; F. R. Davies, Introduction to Revenue Law, 1985, S. 400. 217 Panthen, Sitzbegriff, 1988, S. 163. 218 Daimler Co Ltd v Continental Tyre & Rubber Co (Great Britain) Ltd [1916] 2 AC 307. Hier wurde über die Kontrolle die „enemy residence“ einer britischen Tochtergesellschaft festgestellt, die von Deutschland aus gelenkt wurde. Die Staatszugehörigkeit der Gesellschaft blieb davon – anders als dies nach deutschem Feindesrecht der Fall gewesen wäre – unberührt; vgl. Panthen, Sitzbegriff, 1988, S. 195 ff. 219 Siehe zu den englischen Sprachfassungen im Text unten 3. Kap., D III 3, S. 266 ff. sowie für einen Überblick die Tabelle im Anhang. 220 San Paulo (Brazilian) Railway Co Ltd v Carter (Surveyor of Taxes) [1896] AC 31, 41. 221 Paton/Derham, The text-book of jurisprudence, 1964, S. 382. 222 Cesena Sulphur Co Ltd v Nicholson [1876] 1 Ex. D. 428; De Beers Consolidated Mining Ltd v Howe [1906] AC 455, 459 f.; San Paulo (Brazilian) Railway Co Ltd v Carter (Surveyor of Taxes) [1896] AC 31; Panthen, Sitzbegriff, 1988, S. 167–171. 223 De Beers Consolidated Mines v Howe [1906] AC 455; gleiche Wortwahl bei Dicey, Morris and Collins on The Conflict of Laws, 2012, Rn. 30-008.
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
Ferner soll residence an mehreren Orten, also z.B. in zwei Ländern, zugleich vorliegen können.224 Zudem weist der Court of Appeal darauf hin, „central management and control“ sei nicht mit „the power of final arbitrament“ gleichzusetzen,225 allerdings wird „central management and control“ auch mit „place of paramount authority“ umschrieben, sodass eine weitere Differenzierung als wenig überzeugend angesehen wird.226 Jedenfalls sind wohl außergewöhnliche Umstände nötig, sodass residence geteilt oder sogar „wandernd“ (peripatetic), also potenziell auch an mehr als einem Ort befindlich sein kann.227 c) Residence in Gesetzen 1988 wurde „residence“ erstmals im Gesetz aufgenommen, damals im Finance Act 1988.228 Seitdem gelten auch im Ausland tätige, aber in England gegründete Gesellschaften grundsätzlich als UK resident, können sich aber auf Doppelbesteuerungsabkommen berufen.229 Mittlerweile ist eine Definition von „residence“ im Sec. 14 Corporation Tax Act 2009230 enthalten; das Kontrollkriterium ist weiterhin maßgeblich.231 Damit steht residence dem (deutschen) Konzept der Hauptverwaltung näher als den Konzepten domicile oder „Satzungssitz“.232 Head office wird dagegen, soweit ersichtlich, als mehr deskriptiver Terminus verstanden,233 ist aber auch als spezifisch europäisches Konzept bekannt und wird dann im Kontext mit
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Swedish Central Railway v Thompson [1925] AC 495; Dicey, Morris and Collins on The Conflict of Laws, 2012, Rn. 30-008; Farnsworth, The Residence and domicil of corporations, 1939, S. 82, 120; Panthen, Sitzbegriff, 1988, S. 174. 225 Union Corp v Inland Revenue Commissioners [1952] 1 All ER 646, 654–663 (CA). 226 Farnsworth [1952] 68 LQR 307; Dicey, Morris and Collins on The Conflict of Laws, 2012, Rn. 30-006. 227 Swedish Central Railway v Thompson [1925] AC 495; Unit Construction Co Ltd v Bullock (Inspector of Taxes) [1960] AC 351, 366; Dicey, Morris and Collins on The Conflict of Laws, 2012, Rn. 30-006; Panthen, Sitzbegriff, 1988, S. 174. 228 Finance Act 1988 vom 29.07.1988, Statutory Instrument 1988, Nr. 39, abrufbar unter , zuletzt abgerufen am 21.10.2017. 229 French/Mayson/Ryan, Company Law, 2015, Rn. 19.8.7.2; zur Neuregelung vgl. K. Schmidt, RIW 1988, 832 (832 f.). 230 Corporation Tax Act 2009 vom 26.03.2009, Statutory Instrument 2009, Nr. 4, abrufbar unter , zuletzt abgerufen am 21.10.2017. 231 Heinz/Hartung, in: Heinz/Hartung, Englische Limited, 2012, Rn. 16.35 f. 232 Ringe/Otte, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 5.82 (Fn. 200); Panthen, Sitzbegriff, 1988, S. 159 f. 233 Vgl. etwa oben die Nennungen etwa bei De Beers Consolidated Mines v Howe [1906] AC 455 oder bei Dicey/Morris; auch P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 6-25 verwenden „headquarters“ gleichbedeutend mit „head office“ im Sinn der SE-VO.
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
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„establishment“, „place of business“ und „branch office“ verwendet. 234 So knüpft etwa der Overseas Act 2009235 nunmehr236 an establishment an, also an einen Überbegriff zu branch (im Sinn der Elften Richtlinie237) und place of business which is not a branch (Sec. 2, 3, 30, 68). In diesem Sinn soll head office ein solches place of business zwingend mit einschließen, gleichzeitig aber ausschließen, dass ein branch vorliegt, weil dies implizieren würde, dass das head office sich an einem anderen Ort befindet.238 d) Zusammenfassung zum englischen Recht Im englischen Recht findet sich mit domicile ein stärker rechtlich und mit residence ein stärker tatsächlich geprägtes Kriterium. Der Terminus head office, den die SE-VO verwendet, spielt dagegen im englischen Recht bisher keine prägende Rolle. 4. Frankreich Die französische Sprachfassung der SE-VO verwendet in Art. 7 SE-VO den Terminus „administration centrale“. a) Verwendung im Gesetz In Frankreich wird für die Regelung des internationalen Privatrechts der Terminus „siège social“ gebraucht (Art. L. 210-3 Abs. 1 CCom, Art. 1837 CC). Auch in der Rechtsprechung ist an die Stelle des früheren Anknüpfungskriteriums des lieu d’exploitation bereits seit dem 19. Jahrhundert der siège social
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So P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 6-4. Diese Termini sind meist selbst nicht näher definiert, siehe aber für eine Definition etwa von „branch“ (deutsch: „Zweigstelle“) im Bankenrecht Art. 2 Abs. 1 Nr. 10 Richtlinie 2014/49/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über Einlagensicherungssysteme, ABl. L 173 vom 12.06.2014, S. 149 ff. 235 The Overseas Companies Regulations 2009, Statutory Instrument 2009, Nr. 1801, abrufbar unter , zuletzt abgerufen am 21.10.2017. 236 Bis 2009 waren verschiedene Anknüpfungskriterien vorgesehen; die Regelung wurde als unglücklich empfunden, vgl. P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 6-3. 237 Elfte Richtlinie 1989/666/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 über die Offenlegung von Zweigniederlassungen, die in einem Mitgliedstaat von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen errichtet wurden, die dem Recht eines anderen Staates unterliegen, ABl. L 395 vom 30.12.1989, S. 36–39, jetzt neu kodifiziert in Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts (Text von Bedeutung für den EWR), ABl. L 169 vom 30.06.2017, S. 46–127. 238 P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 6-4.
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
getreten.239 Dieser siège social muss auch in der Satzung angegeben werden, Art. L. 210-2 CCom, Art. 1835 CC. Bei einer Angabe eines siège social in der Satzung, der nicht mit dem siège réel übereinstimmt, wird die Gesellschaft aber zugleich an ihrem angegebenen, fiktiven Sitz (siège fictif) festgehalten, ohne sich umgekehrt gegenüber Dritten darauf berufen zu können (Art. L. 210-3 Abs. 2 CCom).240 Die Eröffnung eines Sanierungs- oder Auflösungsverfahrens (procédure de sauvegarde, de redressement ou de liquidation judiciaire) dagegen erfolgt immer am siège réel.241 „Administration centrale“ wird dagegen hauptsächlich in Zusammenhang mit den Regelungen zur SE verwendet, daneben auch in sonstigen Fällen, in denen EU-Recht (Art. 54 AEUV) paraphrasiert wird (Art. L. 321-4 CCom), im Übrigen nur vereinzelt (Art. R. 743-174 CCom, eine wohl eher untechnisch gemeinte Umschreibung). Obwohl sich beide Termini unterscheiden, werden in der französischen Literatur dort, wo administration centrale näher erläutert wird, meistens administration centrale- und siège social-Konzepte ohne längere Erläuterungen gleichbedeutend verwendet.242 Die wenigen anderen Stellen äußern lediglich, administration centrale sei der Ort der „tatsächlichen Leitung“ („l’administration de la société, c’est-à-dire sa direction effective“).243 Da also zum einen offenbar das französische Vorverständnis zu Art. 7 SE-VO von siège social bestimmt wird und auch die u.a. von Erwägungsgrund 27 SE-VO in Bezug genommenen Sitztheorien für die Berücksichtigung des Anknüpfungskriteriums sprechen, wird im Folgenden das Konzept des siège social näher untersucht. An den siège social sind einerseits Publizitätspflichten geknüpft, andererseits kann die Gesellschaft hier verklagt werden (Art. 42, 43 CPC); Benachrichtigungen an die Gesellschaft im Zivilprozess sind nach Art. 690 CPC an
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Cass. civ. 20.06.1870, S. 70.1.373; Batiffol/Lagarde, DIP Band I, 1993, Rn. 193 m.w.N. 240 Dazu auch Peifer, Kapitalgesellschaften in Frankreich, 2009, Rn. 230. Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 211 sieht dies als eine gesetzliche Vermutung zu Gunsten des Satzungssitzes. 241 Lefebvre/Charvériat u.a., Sociétés commerciales, 48. Aufl., 2016, Rn. 1365. 242 Cathiard, Dr. sociétés 2005, 12, 7 (11); Cathiard, in: Répertoire de droit des sociétés, 2014, Transfert intracommunautaire de siège social Rn. 19; Menjucq, Recueil Dalloz 2003, 2874 (2874); Menjucq, in: Répertoire de droit des sociétés, 2014, Société européenne, Rn. 29; implizit auch Lenoir (Hrsg.), La Societas Europaea ou SE, 2007, S. 38; wohl auch Fages/Menjucq, JCP-E 2005, 39, 1571 (1571); mit (trotz?) kurzer Erwägung auch Mustaki/Engammare, Droit européen des sociétés, 2009, S. 384. 243 Lefebvre/Charvériat u.a., Sociétés commerciales, 48. Aufl., 2016, Rn. 98880.
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
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diesen Ort zu schicken.244 Insbesondere ist der siège social für das Internationale Gesellschaftsrecht und die „Nationalität“ der Gesellschaft das maßgebliche Anknüpfungskriterium (Art. L. 210-3 Abs. 1 CCom). Nicht zuletzt ist der siège social für das Steuerrecht entscheidend; die Verlegung des siège social ins Ausland „stellt für den Fiskus einen Akt des Verrats (Übergehen zum Feind) dar, der mit dem Tode bestraft wird“ (mit den steuerlichen Folgen einer Unternehmensauflösung: Sämtliche Liquidationssteuern werden fällig, wobei auf die Vorgaben des EuGH insbesondere aus dem Urteil „National Grid Indus“ 245 Rücksicht genommen wird und die Steuern auch ratenweise bezahlt werden können).246 Die Möglichkeit einer Verlegung des siège social ins Ausland wurde in Frankreich von der klassischen Auffassung abgelehnt.247 Auch wenn mittlerweile einige Stimmen eine Sitzverlegung befürworten (wenn auch mit Hinweis auf die steuerrechtlichen Konsequenzen, die denen einer Auflösung gleichkommen),248 ist wohl noch immer herrschende Meinung, dass die Änderung der Nationalität der Gesellschaft (durch Verlegung des siège social ins Ausland) die Auflösung der Gesellschaft nach sich zieht (weswegen eine solche Entscheidung von den Gesellschaftern auch nur einstimmig getroffen werden kann, Art. L. 222-9 CCom).249 Der teilweise250 angesprochene Art. L. 225-97 CCom erlaubt eine solche Verwaltungssitzverlegung ins Ausland zwar identitätswahrend in Staaten, mit denen ein diesbezüglicher Staatsvertrag geschlossen wurde; da bisher aber keine entsprechenden Verträge geschlossen wurden, ist die Regelung „lettre morte“ geblieben.251 244
Vgl. auch den Überblick bei Cozian/Viandier/Deboissy, Droit des sociétés, 2017, Rn. 314; Merle, Sociétés commerciales, 20. Aufl., 2016, Rn. 104; Lefebvre/Charvériat u.a., Sociétés commerciales, 48. Aufl., 2016, Rn. 1320. 245 EuGH, Rs. C-371/10, Urt. vom 29.11.2011, Slg. I-2011, 12307 („National Grid Indus“), Rz. 65 ff. 246 Cozian/Viandier/Deboissy, Droit des sociétés, 2017, Rn. 320. 247 Vavasseur, Rev. sociétés 1914, 321 (324); Moreau, SA, Traité Pratique, Bd. III, 1960, S. 318; Batiffol/Lagarde, DIP Band I, 1993, Rn. 197-1 (die als einzige Möglichkeit des Nationalitätswechsels den (mehr oder minder) geregelten Wechsel der Macht über das Territorium des Sitzes nennen, etwa, dass die elsässischen Gesellschaften nach 1918 und den Verträgen von 1919 französisch wurden); s.a. Niboyet, Traité de droit international privé français II, 1938, Rn. 783. 248 Loussouarn/Bourel, Droit international privé, 10. Aufl., 2013, Rn. 1194; Merle, Sociétés commerciales, 20. Aufl., 2016, Rn. 109 f.; Drury, E.L. Rev. 24 (1999), 354 (358 f.); Peifer, Kapitalgesellschaften in Frankreich, 2009, Rn. 152. Ausführlicher zu den steuerrechtlichen Folgen Lefebvre/Charvériat u.a., Sociétés commerciales, 48. Aufl., 2016, Rn. 20540, 20545. 249 Cozian/Viandier/Deboissy, Droit des sociétés, 2017, Rn. 329. 250 Drury, E.L. Rev. 24 (1999), 354 (359). 251 Cozian/Viandier/Deboissy, Droit des sociétés, 2017, Rn. 329; P. Mayer/Heuzé, Droit international privé, 2014, Rn. 1120.
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
b) Verwandte Konzepte „Nationalität“ (nationalité, bei Niboyet auch allegéance oder statut politique im Gegensatz zum statut juridique) von Gesellschaften ist im französischen Recht seit langem ein Bestandteil der Diskussion und wird regelmäßig als wichtiger Teil einer personne morale gesehen, wenn auch das Konzept als Ganzes von zahlreichen Autoren in Frage gestellt wird.252 Aufgekommen ist das Konzept erst im Ersten Weltkrieg, als die Anknüpfung an den Sitz bei von Deutschen kontrollierten Gesellschaften nicht mehr befriedigend war. Hinter diesen „ganz oder überwiegend in Feindeshand befindlichen Gesellschaften“ verberge sich der Feind, hieß es in einem Rundschreiben des Justizministers 1916,253 sodass über das Kontrollkriterium die entsprechenden Rechtsfolgen wie die Beschlagnahme von Feindesvermögen angeknüpft wurden. Im Rundschreiben klang die Fiktionstheorie an, als deren logische Folge es erschien, auf die hinter der Fiktion stehenden Gesellschafter zurückzugreifen.254 Die Nationalität war dabei vom Personalstatut völlig unabhängig.255 Nach dem Krieg verschwand das Konzept jedoch nicht einfach, sondern hielt sich, nachdem der Krieg die Gefahren einer Infiltration aufgedeckt hatte und nun auch einige Gesetze an Gesellschaften „französischer Nationalität“ anknüpften,256 als dogmatische Kategorie, bei der spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr restlos klar ist, welche Aufgabe sie erfüllt.257 Teilweise werden der Kategorie der „Nationalität“ Sonderaufgaben zugewiesen, etwa im Aufsichtsrecht; 258 erwähnt werden auch der diplomatische
252 Batiffol/Lagarde, DIP Band I, 1993, Rn. 192 m.w.N. zur Diskussion; Peifer, Kapitalgesellschaften in Frankreich, 2009, Rn. 147; Pohlmann, Das französische Internationale Gesellschaftsrecht, 1988, S. 22 f. 253 Circulaire de Garde de sceaux, 29.02.1916, Clunet 1916, 701; s.a. Niboyet, Traité de droit international privé français II, 1938, Rn. 761; Batiffol/Lagarde, DIP Band I, 1993, Rn. 195. 254 „… derrière la fiction du droit privé se dissimulent, vivantes et agissantes, les personnalités ennemies elles-mêmes“; zit. bei Niboyet, Traité de droit international privé français II, 1938, Rn. 761; siehe auch Pohlmann, Das französische Internationale Gesellschaftsrecht, 1988, S. 36 m.w.N. 255 Niboyet, Traité de droit international privé français II, 1938, Rn. 761. 256 Z.B. die Loi du 30 juin 1926 réglant les rapports entre locataire et bailleurs; vgl. auch Loussouarn/Bourel, Droit international privé, 10. Aufl., 2013, Rn. 1191, 1200; Niboyet, Traité de droit international privé français II, 1938, Rn. 761 ff. 257 So aus deutscher Sicht Peifer, Kapitalgesellschaften in Frankreich, 2009, Rn. 147; Pohlmann, Das französische Internationale Gesellschaftsrecht, 1988, S. 23. 258 Cozian/Viandier/Deboissy, Droit des sociétés, 2017, Rn. 328; die gleichen Kriterien gelten auch bei Beschlagnahme feindlichen Vermögens in Kriegszeiten; Peifer, Kapitalgesellschaften in Frankreich, 2009, Rn. 149.
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
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Schutz, der nur Gesellschaften mit französischer Nationalität zustehe,259 sowie einige Sondergesetze.260 Laut anderen vermengt sich seit dem Krieg die Kategorie der Nationalität mit der (ursprünglich getrennten) Frage des anwendbaren Rechts;261 auch die Rechtsprechung hat in manchen Urteilen (aus Friedenszeiten) „Nationalität“ nach dem siège social bestimmt;262 andere ziehen aus dieser Vermengung den Schluss, dass die Kategorie unnötig und – wie das Kontrollkriterium, das die Rechtsprechung ebenfalls nicht zur Ermittlung des anwendbaren Rechts heranzieht263 und das damit seit dem Zweiten Weltkrieg kaum noch Bedeutung hat264 – abzuschaffen sei.265 Die SE (und andere, auf Grundlage von zwischenstaatlichen Verträgen gegründete, internationale Gesellschaften) sollen eine Ausnahme zu dem Prinzip bilden. Hier soll die Nationalität der Gesellschaft nicht von ihrem Sitz abhängen.266 Allerdings bleibt offen, wie sich auswirken soll, dass eine SE mit Sitz (i.S.v. Art. 7 SE-VO) in Frankreich keine französische Nationalität haben soll. Auch sie würde maßgeblich durch französisches Recht geregelt (vgl. Art. 9 Abs. 1 lit. c (iii) SE-VO für die „Lücken“ in der SE-VO; auch über die Frage,
259
Lefebvre/Charvériat u.a., Sociétés commerciales, 48. Aufl., 2016, Rn. 1402; Batiffol/Lagarde, DIP Band I, 1993, Rn. 192. 260 Merle, Sociétés commerciales, 20. Aufl., 2016, Rn. 108 a.E. 261 So Dondero, Droit des sociétés, 2015, Rn. 109; Batiffol/Lagarde, DIP Band I, 1993, Rn. 192; wohl auch Loussouarn/Bourel, Droit international privé, 10. Aufl., 2013, Rn. 1192 f. 262 Cass. civ. 29.05.1937, S. 1937, 1, 365; Cass. civ. 29.05.1938, JCP 1939, 2, 1284; Loussouarn/Bourel, Droit international privé, 10. Aufl., 2013, Rn. 1191. 263 Dieser Grundsatz wird etwa bestätigt von Cass. 1re civ. 30.03.1971, Nr. 67-13873; s.a. Batiffol/Lagarde, DIP Band I, 1993, Rn. 196 f.; zu einigen Unsicherheiten bei der Rechtsprechung in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg Niboyet, Traité de droit international privé français II, 1938, Rn. 771 ff.; eine solche Anknüpfung wäre auch unpraktikabel, da bei Inhaberaktien oder häufigen Anteilseignerwechseln das Gesellschaftsstatut kaum zu ermitteln wäre, Loussouarn/Bourel, Droit international privé, 2. Aufl., 1980, Rn. 707. 264 Peifer, Kapitalgesellschaften in Frankreich, 2009, Rn. 149; Cozian/Viandier/Deboissy, Droit des sociétés, 2017, Rn. 328; Batiffol/Lagarde, DIP Band I, 1993, Rn. 197. 265 So schon die damalige Diskussion zusammenfassend Niboyet, Rev. DIP 1927, 402 (402 ff.), bereits die Existenz einer solchen Kategorie vorsichtig verneinend mit dem Argument, die gestellten Probleme ließen sich mit den herkömmlichen Konzepten des IPR lösen; ähnlich Niboyet, Traité de droit international privé français II, 1938, Rn. 793; Vignal, Droit international privé, 2014, Rn. 851 f. unter Hinweis darauf, es gebe keine Fälle, in denen Nationalität und anwendbares Recht auseinanderfielen; ähnlich P. Mayer/Heuzé, Droit international privé, 2014, Rn. 1084; weitere Nachweise bei Batiffol/Lagarde, DIP Band I, 1993, S. 250 Rn. 192. 266 Lefebvre/Charvériat u.a., Sociétés commerciales, 48. Aufl., 2016, Rn. 1401, 98510; Menjucq, in: Lenoir (2007), 306 (306 ff.).
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
ob die SE-VO selbst nicht ebenfalls Teil (auch) der französischen Rechtsordnung wird, ließe sich streiten267). Vor die Anknüpfung des Personalstatuts war in Frankreich – zumindest dogmatisch – lange Zeit noch eine reconnaissance (Anerkennung) geschaltet; eine nach ausländischem Recht gegründete Gesellschaft wurde also zunächst als rechtsfähig anerkannt, ehe in einem nächsten Schritt darüber entschieden werden konnte, welches Gesellschaftsrecht nun auf die Gesellschaft Anwendung fand.268 Die Anerkennungsregelungen waren dem Fremdenrecht entnommen, unterscheiden also nach dem Herkunftsstaat jeder Gesellschaft, und spiegelten dogmatisch den Stand Mitte des 19. Jahrhunderts wider,269 als die internationale Geschäftswelt durch ein Urteil des belgischen Gerichtshofs 270 aufgeschreckt wurde, in dem einer französischen Gesellschaft die Anerkennung versagt wurde. Dem wurde durch einen Staatsvertrag, ein darauf folgendes Gesetz und Dekrete abgeholfen;271 mittlerweile leitet die Rechtsprechung jedoch die „Anerkennung“ aus der EMRK ab, 272 sodass besagtes Gesetz wieder abgeschafft werden konnte.273 In der heutigen Geschäftspraxis spielt die „Anerkennung“ jedenfalls keine Rolle mehr.274
267 Dies wäre nicht der Fall nach der oben 1. Kap., A III, S. 27, genannten Definition von „Rechtsordnung“, die „horizontal“ europäisches und deutsches Recht abgrenzt; dagegen ist die SE-VO Teil des Statutes im Sinn des IPR, also – bei „vertikaler“ Abgrenzung – des jeweils berufenen Sachrechts, Engert, ZVglRWiss 104 (2005), 444 (451). 268 Vgl. Batiffol/Lagarde, DIP Band I, 1993, Rn. 201. 269 So Loussouarn/Bourel, Droit international privé, 10. Aufl., 2013, Rn. 1201; ähnlich Bureau, Rev. crit. DIP 2008, 161 (162): „un accident de l’histoire“. 270 Cass. civ. belge, 08.02.1849, Pasicrisie 1849, I, 221. 271 Staatsvertrag zwischen Frankreich und Belgien vom 27.02.1854, Gesetz vom 30.05.1857 und zahlreiche Verordnungen; Nachweise bei Niboyet, Traité de droit international privé français II, 1938, Rn. 798 ff., 808. 272 Cass. comm. 05.12.1989, Rev. crit. DIP 1991, 667; Cass. crim. 12.11.1990, Rev. crit. DIP 1991, 667; Cass civ. 1re, 25.06.1991, Rev. crit. DIP 1991, 667, jew. m. zust. Anm. Khairallah, Rev. crit. DIP 1991, 672; zum zweiten Urteil wie hier auch Bungert, EWS 1993, 17 (17 ff.) (gegen eine kollisionsrechtliche Lesart). 273 Art. 27 II Nr. 4 Loi n° 2007-1787 du 20 décembre 2007 relative à la simplification du droit; s. dazu Bureau, Rev. crit. DIP 2008, 161 (161 ff.): Auch nach der Anerkennung über die EMRK verblieb dem Gesetz vom 30.05.1857 noch ein Anwendungsfeld für die nicht von der EMRK erfassten Rechte, sodass zumindest die vom Gesetzgeber gewählte Formulierung „sont et demeurent abrogés“, die auf eine deklaratorische Abschaffung hindeutet, zumindest zu hinterfragen war. Für die Anerkennungsproblematik ist dies unbeachtlich. 274 P. Mayer/Heuzé, Droit international privé, 2014, Rn. 1106 ff.; Khairallah, Rev. crit. DIP 1991, 672 (677). Die Rechtslage entspricht damit derjenigen in Deutschland; wer also hier eine „automatische Anerkennung“ sieht, wird dies auch nach wie vor in Frankreich tun (vgl. dazu ausführlicher 2. Kap., A, S. 108 f.).
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
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c) Bestimmung des siège social Siège social (also „sozialer Sitz“, „Sitz der Gesellschaft“) ist (wie „Sitz“ im Deutschen) nicht eindeutig und könnte grundsätzlich für Verwaltungs- oder Gründungssitz stehen. Dies zeigt sich u.a. daran, dass auch bei Gesellschaften, deren Satzungssitz vorrangig ist, dieser als siège social bezeichnet wird, etwa im Falle der SE. 275 Ist vom französischen Recht die Rede, ist jedoch herrschende Meinung, dass mit siège social immer auf den Verwaltungs- oder tatsächlichen Sitz (siège réel) Bezug genommen wird.276 Dagegen hat sich eine „Gründungstheorie“ betitelte Anknüpfung in Frankreich nie durchgesetzt.277 Der siège réel wird definiert als der Ort, von dem die Gesellschaft aus geführt wird, der Ort seiner finanziellen und verwaltungstechnischen Leitung („le lieu où la société est gouvernée, le lieu de sa direction financière et administrative“).278 Er fällt insbesondere nicht notwendigerweise mit den Betriebsstätten (lieu d’exploitation) zusammen,279 sondern soll sogar stabiler und einfacher zu ermitteln sein als diese, die leicht verlegt werden oder sich an verschiedenen Orten befinden könnten.280 Bei einer Aufteilung der Leitung der Gesellschaft ist der Ort der obersten Leitung („la où se trouvent ‚la direction supérieure et le contrôle de la société‘“281) maßgeblich. Die Rechtsprechung fordert für einen siège social einen caractère réél und caractère sérieux; zur Beurteilung im Einzelfall wird eine Gesamtschau möglicher Kriterien vorgenommen, die eine Verbindung zu einem Staat herstellen könnten, darunter auch Nationalität und Wohnort der Gesellschafter und Geschäftsführer, Ort der Gründung, der geschäftlichen Tätigkeit und der Ausgabe der Papiere der Gesellschaft. 282 Reine Briefkastenadressen können für den siège social nicht benannt werden.283 Die Rechtsprechung bestimmt in einem 275
Cozian/Viandier/Deboissy, Droit des sociétés, 2017, Rn. 1820: „le siège social de la SE immatriculée en France, autrement dit le siège statutaire, doit être situé au même endroit que l’administration centrale (C. com., Art. L. 229-1, in fine)“. 276 Peifer, Kapitalgesellschaften in Frankreich, 2009, Rn. 147; Pohlmann, Das französische Internationale Gesellschaftsrecht, 1988, S. 46–49 m.w.N. 277 Pohlmann, Das französische Internationale Gesellschaftsrecht, 1988, S. 44–46 m.w.N. 278 Cozian/Viandier/Deboissy, Droit des sociétés, 2017, Rn. 313. 279 Merle, Sociétés commerciales, 20. Aufl., 2016, Rn. 105. 280 Batiffol/Lagarde, DIP Band I, 1993, Rn. 193. 281 Cass. Req. 28.10.1941, G.P. 1942.1.18; zit. bei Batiffol/Lagarde, DIP Band I, 1993, Rn. 194. 282 Cass. comm. 12.12.1972, 71-11682; Cass. 2e civ. 28.02.2006, 04-14.696; Merle, Sociétés commerciales, 20. Aufl., 2016, Rn. 105; Peifer, Kapitalgesellschaften in Frankreich, 2009, Rn. 230; Pohlmann, Das französische Internationale Gesellschaftsrecht, 1988, S. 51 m.w.N. 283 Cass. 2e civ. 28.02.2006, 04-14.696; Cour d’appel de Paris, 05.12.2007, RJDA 2008, Nr. 408; Peifer, Kapitalgesellschaften in Frankreich, 2009, Rn. 230; Merle, Sociétés commerciales, 20. Aufl., 2016, Rn. 105.
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
solchen Fall (eines sog. siège fictif) den tatsächlichen Sitz (siège réel) anhand der genannten Kriterien.284 d) Bedeutung des Satzungssitzes Auffällig ist dabei die Rolle des in der Satzung angegebenen Sitzes. Er ist nicht nur – trotz des caractère réel des siège social – überhaupt Bestandteil der maßgeblichen Kriterien, sondern bildet regelmäßig auch den Ausgangspunkt der Untersuchung; dies ist erklärlich als Folge einer Betonung der vertraglichen Elemente der Gesellschaft, insbesondere vor 1985.285 Darüber hinaus halten die meisten Beobachter den Satzungssitz auch für das wichtigste Kriterium. Teilweise wird dies so gedeutet, dass zumindest eine „Vermutung“ zu Gunsten des Satzungssitzes bestehe,286 teils wird der Satzungssitz für noch wichtiger gehalten: Eine Widerlegung sei überhaupt nur durch den Nachweis des Betrugs möglich, in Wahrheit werde daher in Frankreich an den Satzungssitz bis zur Grenze des Betrugs angeknüpft (siège statutaire, tempéré par l’utilisation de la fraude). 287 Aus deutscher Sicht drängt sich diese Beurteilung sogar noch eher auf.288 Diese Rolle des Satzungssitzes wird dabei noch unterstrichen durch weitere Vorschriften zur domiciliation, die in gewissen Grenzen die Bestimmbarkeit des siège social durch Satzungsbestimmung weiter erleichtern. Durch eine Reihe von Gesetzen wurden die Anforderungen an den siège social einer Gesellschaft gelockert (domiciliation).289 Damit sollte eine Hürde bei der Gründung von Unternehmen abgebaut werden, die insbesondere im 284
Cass. comm. 12.12.1972, 71-11682; Cass. 2e civ. 28.02.2006, 04-14.696. Pohlmann, Das französische Internationale Gesellschaftsrecht, 1988, S. 50. 286 P. Mayer/Heuzé, Droit international privé, 2014, Rn. 1100 (vgl. aber nächste Fußnote); D. Zimmer, RabelsZ 67 (2003), 298 (303). 287 Z.B. Cour d’appel de Paris, 07.03.2001, RJDA 7/01, Nr. 830; aus der Literatur P. Mayer/Heuzé, Droit international privé, 2014, Rn. 1090; ähnlich Menjucq, in: FS Hopt 2010, 3167 (3167, 3175): eine „Entwicklung hin zur Gründungsanknüpfung“, der (nur) noch die offizielle Anerkennung fehle; so auch schon Batiffol, in: Annuaire de l’Institut de droit international, Session de Varsovie, I (1965), 265 (266) („ce siège est présumé, jusqu’à preuve contraire, être celui qui résulte des statuts“). 288 Grundmann, in: Rosen/DAI (2003), 47 (52); Kieninger, RabelsZ 73 (2009), 607 (611 f.); Neumayer, ZVglRWiss 83 (1984), 129 (135 f.); für zumindest eine Vermutung zugunsten des Satzungssitzes auch D. Zimmer, RabelsZ 67 (2003), 298 (303). 289 Loi n°84-1149 du 21 décembre 1984 modifiant l’ordonnance 581352 du 27.12.1958 et rélative à la domiciliation des entreprises (en vue de son inscription au registre du commerce et des sociétés); Décret n°85-1280 du 5 décembre 1985 rélatif à la domiciliation des entreprises et modifiant le décret 84406 du 30-05-1984 rélativ au registre du commerce et des sociétés; Loi n° 2003-721 du 1er août 2003 pour l’initiative économique; dazu Merle, Sociétés commerciales, 20. Aufl., 2016, Rn. 106; Pasqualini, Rev. sociétés 1987, 569; Recq/Hoffmann, GmbHR 2004, 1070 (1072). Vgl. außerdem die Auskunft der französischen Verwaltung, , zuletzt abgerufen am 21.10.2017. 285
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
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Großraum Paris Schwierigkeiten hatten, passende Örtlichkeiten zu finden, und daher ähnliche Praktiken der domiciliation auch vor der gesetzlichen Anerkennung bereits praktizierten.290 Nach wie vor ist aber domiciliation wohl eher die Ausnahme als die Regel.291 Aufgrund der domiciliation können Gesellschaften ihren Sitz (siège social) nunmehr auch dort angeben, wo ihre Vertreter ihren Wohnsitz haben (Art. L. 123-11-1 CCom), für einen beschränkten Zeitraum sogar dann, wenn andere Vorschriften oder Verträge entgegenstehen (meist geht es um Probleme aus dem Bau- oder Mietrecht), oder können über einen genauer reglementierten Vertrag (vgl. Art. R. 123-167–169 CCom) mit anderen Gesellschaften gemeinsam ihren Sitz in einem centre domiciliataire nehmen. Dabei hat der Gesetzgeber mit Nachbesserungen versucht zu verhindern, dass solche centres domiciliataires zu reinen Briefkastenadressen verkommen.292 Der Vertrag mit dem Anbieter solcher domiciliations (domiciliataire) ist dem Handelsregister gegenüber offenzulegen (Art. L. 123-11 CCom). Der domiciliataire hat der Gesellschaft einen Raum zur Verfügung zu stellen, in dem sie ihre jährliche Hauptversammlung (assemblée générale annuelle) abhalten kann; dabei wurden von der Rechtsprechung aber auch Fälle gebilligt, in denen ein 38 Quadratmeter großes Büro zur Verfügung gestellt wurde.293 Als unzulässig wurde allerdings die Unterbringung von 58 Gesellschaften in einem ähnlich großen Büro angesehen.294 In jedem Fall ist aber der Vortrag, die Gesellschaft habe ihren Sitz in einem solchen centre domiciliataire, nicht ausreichend, um einen siège fictif anzunehmen.295 Erleichterungen gelten auch für Tochtergesellschaften, die ihren Sitz an dem der Muttergesellschaft angeben können, womit Kosten für einen eigenen Domizilierungsvertrag gespart werden können.296 e) Zusammenfassung zum französischen Recht Während in Frankreich der Terminus „administration centrale“ im nationalen Recht kaum verwendet wird, scheint das Pendant mit dem siège social dennoch leicht gefunden. Dieses zielt zwar eigentlich auf den siège réel, jedoch ermöglicht u.a. die domiciliation eine großzügige Auslegung des siège social. 290
Pasqualini, Rev. sociétés 1987, 569 (570, 577). Merle, Sociétés commerciales, 20. Aufl., 2016, Rn. 106; Pasqualini, Rev. sociétés 1987, 569 (570). 292 Décret n° 2007-750 du 9 mai 2007 relatif au registre du commerce et des sociétés et modifiant le code de commerce; Merle, Sociétés commerciales, 20. Aufl., 2016, Rn. 106. 293 Cour d’appel de Paris 25.10.2002 Nr. 02-7384, RJDA 5/03 n. 493; Lefebvre/ Charvériat u.a., Sociétés commerciales, 48. Aufl., 2016, Rn. 1331. 294 Cour d’appel de Paris, 31.03.2003 Nr. 02-7385, RJDA 7/03 n. 723; Lefebvre/ Charvériat u.a., Sociétés commerciales, 48. Aufl., 2016, Rn. 1331. 295 Cour d’appel de Paris, 07.03.2001, RJDA 7/01, Nr. 830; Lefebvre/Charvériat u.a., Sociétés commerciales, 48. Aufl., 2016, Rn. 1360. 296 Guyon, ZGR 2009, 218 (221 f.). 291
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
5. Rechtsvergleich Bei der „Hauptverwaltung“ scheint es dem europäischen Gesetzgeber insbesondere auch im Vergleich zu den anderen hier untersuchten Termini gelungen zu sein, einen Ausdruck zu finden, der in den hier untersuchten Rechtssprachen noch nicht verwendet wurde. In den Ländern der Sitztheorien, für die Zwecke dieses Kapitels also Deutschland, Frankreich und auch Italien, ist ein das nationale Vorverständnis prägendes Konzept dennoch leicht aufzufinden, weil auch Erwägungsgrund 27 SE-VO sich relativ deutlich auf die Sitztheorien bezieht. Im Fall von England stellt sich die methodische Frage, ob englisches Recht überhaupt zu berücksichtigen ist, da England keiner Sitztheorie folgt. Die oben dargelegte Methode, von den Termini auszugehen, stößt bereits wegen des Fehlens eines solchen Terminus an ihre Grenzen (wobei auch hier zuzugeben ist, dass in den anderen Rechtsordnungen solche Termini fehlen). Aber auch eine funktionale Methode käme hier nicht zu eindeutigen Ergebnissen. 297 Fragt man nach dem Anknüpfungskriterium im IPR, wäre domicile maßgeblich (für die hiesige Diskussion aber sicherlich wenig hilfreich). Fragt man nach Konzepten, die eine Gesellschaft anhand der gegenwärtigen, tatsächlichen wirtschaftlichen Situation mit einem Ort zu verknüpfen suchen, könnte die residence die Diskussion bereichern. Denn dieser Funktion scheint auch „Hauptverwaltung“ zu entsprechen, ein Konzept, das gerade auch durch die Gegenüberstellung mit „Sitz“ in Art. 7 SE-VO den „tatsächlichen Sitz“ bestimmen soll (so auch Erwägungsgrund 27). Allerdings wird die Funktion von „Hauptverwaltung“ noch unten (3. Kap., D IV, S. 283 ff.) näher zu bestimmen sein. Zumindest kann aber ein Vergleich auch von residence Hinweise liefern, wie die Funktion innerhalb einer Rechtsordnung die Ausgestaltung eines Konzepts beeinflusst. a) Zu vernachlässigende Aspekte Einige Aspekte können für die weitere Betrachtung vernachlässigt werden, namentlich diejenigen zur Nationalität von Gesellschaften. Tendenzen zur Überwindung des Konzeptes, insbesondere in Italien (mit der IPR-Reform 1995), aber auch in der französischen oder deutschen Literatur, legen nahe, dass das Konzept jedenfalls keine zentrale Rolle (mehr) spielt. Da ohnehin Nationalität vornehmlich im Feindesrecht eine Rolle spielt und dort auch das Hauptverwaltungskriterium weniger wichtig ist, kann für die Zwecke dieser Untersuchung auf eine nähere Erörterung verzichtet werden.
297 Vor den politischen und kulturellen Differenzen, die eine Rechtsvergleichung im Bereich der „Sitz- oder Gründungstheorie“ erschweren, warnt auch Großfeld, in: Staudinger, 13./14. Bearbeitung IntGesR, 1998, Rn. 148.
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
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b) Diffuse Kriterien In jeder der Rechtsordnungen hat sich gezeigt, dass der Sache nach ähnliche Konzepte verwendet werden, die jedoch gemein haben, dass eine unbestrittene Definition schwer greifbar ist. Meist erfolgt die Konkretisierung über die Rechtsprechung, sodass sich ein je nach Fall leicht unterschiedliches und im Ergebnis diffuses Bild ergibt. Dennoch lassen sich auch Verschiedenheiten zwischen den Rechtsordnungen aufzeigen. c) Maßgeblichkeit verschiedener Ebenen Tendenziell unterschiedlich wird etwa die entscheidende Ebene beurteilt. In Frankreich und Italien wird für das jeweilige Kriterium der Sitztheorien meist auf die Spitze der Befehlspyramide abgestellt. So wird etwa in Italien gerade nicht auf den Ort abgestellt, an dem die zentralen Willensimpulse umgesetzt werden (wie dies der Sandrock’schen Formel entspräche), auch, da dies bereits durch das Konzept des oggetto principale abgedeckt ist, sondern auf den Ort, von dem diese stammen. Ähnlich ist es in Frankreich, wo der siège social etwa dort festgelegt werden kann, wo ein Geschäftsführer (dirigéant) seinen Wohnsitz hat. In Deutschland dagegen wird auf den Ort abgestellt, an dem die an der Spitze der Befehlspyramide getroffenen Regelungen – um ein weiteres Mal Sandrocks Formel zu beanspruchen – in laufende Geschäftsführungsakte umgesetzt werden; dies wäre also eine Stufe weiter „unten“. Daher sind auch die Wohnorte der Geschäftsführer regelmäßig irrelevant. Hintergrund ist dabei möglicherweise auch die Vorstellung, diese Orte seien, zumal in der heutigen von modernen Kommunikationsmitteln beherrschten Zeit, wandelbar und flüchtig, der Standpunkt einer (etwas weiter unten in der Befehlspyramide und daher entsprechend größeren) Verwaltungsebene dagegen weniger wandelbar. d) Vermutungregeln Dasselbe Bedürfnis nach Stabilität wird im französischen Recht durch Begleitregeln etwa zur domiciliation befriedigt, die eine unter gewissen Voraussetzungen uneingeschränkt mögliche Festlegung des Sitzes vorsehen, aber auch durch eine Rechtsprechung, die dem Satzungssitz eine Stellung als gewichtiges Indiz einräumt. Solche Vermutungsregeln werden nicht überall einheitlich verwendet. Es soll in diesem Abschnitt nicht um Regeln der (prozessualen) Beweislast gehen; diese werden im konkreten Einzelfall davon abhängen, wer sich auf welche für ihn günstigen Regeln beruft und wo der „Verwaltungssitz“ der Gesellschaft sich dafür befinden muss. Hier wird nur untersucht, ob speziell für den „tatsächlichen Sitz“ eine Vermutung besteht, dass dieser sich dort befindet, wo er in der „Gesellschaftssatzung“ niedergelegt wurde. Im englischen Recht sind für das residence-Konzept solche Vermutungsregeln nicht ersichtlich. Im italienischen Recht findet sich zwar ein Urteil, das
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
eine solche Vermutung bestätigt; allerdings bezieht sich dieses auf das Insolvenzrecht. Für das anwendbare Gesellschaftsrecht findet sich dagegen im Gesetz keine Vermutungsregelung (auch in der Rechtsprechung ist noch kein solches Urteil ergangen). Im Gesetzgebungsverfahren wurde eine solche Regelung erwogen, letztlich aber verworfen. In Deutschland wird eine solche Vermutung zwar häufig der Rechtsprechung entnommen; allerdings wird auch eine starke Gegenmeinung vertreten. e) Erklärungsansatz: verschiedene Funktionen der Konzepte in den jeweiligen Ländern Es lassen sich somit durchaus Verschiedenheiten zwischen den Konzepten erkennen, insbesondere was die maßgebliche Ebene der Entscheidungsfindung und die Abmilderungen des tatsächlichen Kriteriums durch Fiktionen oder Vermutungen angeht. Als Erklärung bieten sich die verschiedenen Funktionen an, die die Konzepte in den verschiedenen Rechtsordnungen erfüllen. Etwa mag der Verzicht auf Vermutungsregeln im englischen Recht daran liegen, dass dort mit dem residence-Konzept über die Anwendbarkeit des Steuer- und nicht des Gesellschaftsrechts entschieden wird. Hier ist ein häufigerer Wechsel des Statuts weniger problematisch, und auch eine Spaltung der residence erscheint eher denkbar als im Gesellschaftsrecht, wo ein häufiger Statutenwechsel, jedenfalls aber eine Statutenverdopplung, zu komplexen Problemen führen kann. Dies bestätigt etwa Knobbe-Keuk, die darauf hinweist, dass die Präzisierung der deutschen Sitztheorie über für das Steuerrecht entwickelte Anknüpfungskriterien wegen der verschiedenen Funktionen äußerst fragwürdig sei.298 In Italien wurde eine gesetzliche Vermutung, dass die Hauptverwaltung sich am Satzungssitz befindet („…si presume che l’amministrazione centrale si trovi nel luogo della sede societaria“), im Gesetzgebungsverfahren erwogen, schließlich jedoch verworfen. Dabei ist der Zusammenhang mit der damals erwogenen Regelung erhellend: Als noch erwogen wurde, primär auf die Hauptverwaltung abzustellen, wurde diese durch eine entsprechende Vermutung flankiert. Damit wäre Abhilfe geschaffen worden für Situationen der Unklarheit darüber, ob die Gesellschaft ins Ausland verlegt worden war – bis zur Widerlegung wäre durch den Satzungssitz klargestellt gewesen, wo die Gesellschaft ansässig war. Mit der Gesetzesänderung, verbunden mit dem lediglich subsidiären Abstellen auf den Verwaltungssitz, wurde offenbar auch die Vermutung als entbehrlich angesehen. Eine solche Vermutungsregel scheint damit dann nötig zu sein, wenn mit dem Verwaltungssitz über das anwendbare Gesellschaftsrecht bestimmt wird, da dann ein besonderes Bedürfnis nach Stabilität des Verwaltungssitzes besteht, 298
Knobbe-Keuk, ZHR 154 (1990), 325 (355).
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
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dem eine solche Vermutungsregel entgegenkommt. Dies bestätigt ein Blick auf Frankreich und Deutschland: Hier hat die Rechtsprechung entsprechende Vermutungsregeln entwickelt, da das Gesellschaftsstatut grundsätzlich über den Verwaltungssitz bestimmt wird. Während in Frankreich jedoch nicht nur in Fällen der Unsicherheit, sondern auch bei sonstigen Anhaltspunkten (gerade auch) auf den Satzungssitz abgestellt wird, wird der Satzungssitz in Deutschland eher selten relevant. Allerdings ist hier die Funktion der (deutschen) Sitztheorie nochmals von der in Frankreich leicht verschieden, insbesondere ist die deutsche Sitztheorie gerade in wichtigen Fallgruppen (EU-ausländische Gesellschaften, GmbH und AG gem. den neuen §§ 4a GmbHG, 5 AktG) durchbrochen, und die Tendenz, eher auf die Ebene der Weisungsempfänger abzustellen, führt möglicherweise zu stabileren Ergebnissen auch ohne Berücksichtigung des Satzungssitzes. Bei aller Ähnlichkeit auf den ersten Blick erfüllen die hier untersuchten Kriterien somit letztlich doch unterschiedliche Funktionen, die sich auch auf ihre Ausgestaltung auswirken. Dass diese sprachlich durch den Terminus „Sitztheorie“ gleichgesetzt werden und dieses Verständnis von der SE-VO übernommen wird, indem diese in den Erwägungsgründen auf die Sitztheorien verweist (dazu noch ausführlicher unten 3. Kap., D IV 5, S. 289 f.), erweist sich damit als problematische Gleichsetzung von Ungleichem.299 f) Fazit I: Relativität der deutschen Position Die Rechtsvergleichung zeigt damit einerseits, dass die deutsche Position – die in etwa mit der Sandrock’schen Formel wiedergegeben werden kann – sich vor dem europäischen Hintergrund insbesondere in Hinblick auf die maßgebliche Ebene und das Bestehen einer konkreten Vermutung zu Gunsten des Satzungssitzes als besonders darstellt. Bei der Übertragung dieser Ergebnisse auf die europäische Ebene ist dort besondere Vorsicht angebracht, ob es sich nicht letztlich doch um eine Übertragung der deutschen Position handelt. Der Rechtsvergleich erfüllt auf diese Weise die Funktion, das eigene Vorverständnis offenzulegen und es zu hinterfragen. g) Fazit II: Rahmen für die weitere Auslegung Für einen gemeinsamen europäischen Standpunkt ist der Vergleich der vier beschriebenen Rechtsordnungen dagegen weniger ergiebig. Ein gemeinsamer Standpunkt oder kleinster gemeinsamer Nenner lässt sich kaum finden. Die verschiedenen Positionen scheinen wenig miteinander vereinbar. Dass mit der 299 Ähnlich das Fazit bei Ansay, in: FS Martiny 2014, 1007 (1017): „Dagegen wird die Auslegung der Begriffe ‚Hauptverwaltung‘ bzw. ‚Hauptniederlassung‘ ein einheitliches Verständnis erschweren, auch wenn eine einheitliche Auslegung verordnet wurde. Die aktienrechtlichen Vorschriften sind weder weltweit noch regional in der EU vereinheitlicht.“
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
europäischen Regelung sämtliche Sitztheorie-Positionen erfasst würden, wie Erwägungsgrund 27 dies möglicherweise beabsichtigt, erscheint schwer vorstellbar. Das Hauptverwaltungskonzept der SE-VO lässt sich nicht so definieren, dass eine SE mit domiciliation in Frankreich, bei der die „Willensimpulse“ von einer Villa in einem Mailänder Vorort ausgehen, aber in Frankfurt in laufende Geschäftsleitungsakte umgesetzt werden, zum gleichen Ergebnis kommt wie alle, sich im Beispielsfall wohl widersprechenden, Sitztheorien der Mitgliedstaaten. Allerdings führt die Rechtsvergleichung zu Ergebnissen, die bei der weiteren Auslegung verwendet werden können. Bei der Frage, ob die europäische Position davon abweichen sollte, ist auch darauf zu achten, wie das Bedürfnis nach Stabilität gewahrt werden kann. Die Rechtsvergleichung legt nahe, dass zumindest für das anwendbare Gesellschaftsrecht ein Abstellen auf die oberste Stufe der Willensbildung ohne Regeln, die dies abmildern (etwa Vermutungsregeln oder zumindest eine solche Praxis in der Rechtsprechung), wohl eher eine Ausnahme bildet. Allerdings ist stets auch die Funktion des Kriteriums in der SE-VO zu beachten, und inwiefern sich diese von der des nationalen Rechts unterscheidet. Darauf wird unten bei der systematischen und vor allem der teleologischen Auslegung zurückzukommen sein. II. Gesetzgebungsgeschichte Die Regelung des Art. 7 SE-VO war nicht immer Teil der Entwürfe für das Statut der Europäischen Aktiengesellschaft. Zwar hatte Sanders in seinem Vorentwurf 1966 in Art. I-4 Abs. 1 S. 2 folgende Regelung vorgeschlagen: „Die Satzung hat als Sitz innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft den Ort zu bestimmen, an dem sich die Hauptverwaltung der S.E. befindet.“
Für die Wortwahl „Hauptverwaltung“ (französisch: administration centrale) lehnte er sich dabei an den Vorentwurf des Übereinkommens über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften und juristischen Personen 1968 300 an.301 (Vgl. für einen Überblick über die Sprachfassungen zu „Hauptverwaltung“ die Tabelle im Anhang.) Dass Sanders deswegen den Terminus „Hauptverwaltung“ im Sinne „der“ Sitztheorie verstanden haben soll, leuchtet aber nicht ein.302 Schließlich ist bereits bei Sanders aus Gründen der Rechtssicherheit der in der Satzung bestimmte Sitz maßgeblich (nicht als Kollisionsregel
300 Übereinkommen über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften und juristischen Personen, unterzeichnet am 29. Februar 1968, Sonderbeilage zum Bulletin Nr. 2-1969 der Europäischen Gemeinschaften; siehe dazu bereits oben 2. Kap., B III 4, S. 178 ff. 301 Sanders-VOV, S. 21 (Begründung zu Art. I-4). 302 So aber Zang, Sitz und Verlegung des Sitzes einer Europäischen Aktiengesellschaft mit Sitz in Deutschland, 2005, S. 47 f.
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
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für die Lückenfüllung, aber für Gerichtsstand, Steuerveranlagung und dergleichen); 303 die Hauptverwaltung sollte sich lediglich am selben Ort befinden. Gründe für diese Regelung nannte Sanders in der Begründung des Vorentwurfs nicht. Auch das zitierte Abkommen bekennt sich nicht eindeutig zu den Sitztheorien.304 In Art. 5 wird lediglich definiert, dass sich der „tatsächliche Sitz“ am Ort der „Hauptverwaltung“ befinden solle. Rechts-, Geschäfts- und Handlungsfähigkeit bestimmten sich aber (grundsätzlich305) nach dem Gründungsrecht (Art. 6). Diese Regelung wurde aber ohnehin nicht in die ersten offiziellen Vorentwürfe übernommen. Die Entwürfe von 1970 und 1975 sprechen lediglich vom „Sitz“ der Gesellschaft und erwähnen die Hauptverwaltung nicht. Die SE konnte gem. Art. 5 Abs. 2 SE-VOV 1970 und (dem gleichlautenden) Art. 5 Abs. 2 SE-VOV 1975 mehrere Sitze haben. Eine Unterscheidung zwischen Sitz und Hauptverwaltung (in der englischen Fassung der Gesetzesbegründung heißt es erstmals: registered office und head office) wurde für nicht nötig befunden, da aufgrund der Ausgestaltung als Vollentwurf keine Beziehung zum Recht eines Mitgliedstaats nötig war.306 Eine dem heutigen Art. 7 SE-VO inhaltlich entsprechende Regelung findet sich erstmals in Art. 5 des Vorentwurfs 1989 sowie im insoweit unverändert gelassenen Entwurf von 1991 (auch dort Art. 5), wo auch erstmals im damaligen Art. 5a eine dem heutigen Art. 8 SE-VO entsprechende Regelung zur Sitzverlegung eingeführt wurde, die nicht zur Auflösung der juristischen Person führte. Die Kommission entsprach damit einem Wunsch des Europäischen Parlaments.307 Die Einfügung war notwendig geworden, weil in diesen Entwürfen erstmals zur Lückenfüllung umfangreich auf das Recht des Sitzstaates verwiesen wurde (erstmals Art. 7 Abs. 1 Nr. 1 lit. b SE-VOV 1989, vgl. zur Geschichte oben Einl. B, S. 6 f.). In der Begründung wurde darauf hingewiesen,
303
Sanders-VOV, S. 21 (Begründung zu Art. I-4). So aber Zang, Sitz und Verlegung des Sitzes einer Europäischen Aktiengesellschaft mit Sitz in Deutschland, 2005, S. 47 f., der den Sanders-VOV zitiert. Dort findet sich die Aussage aber nur zu einem anderen Abkommen (S. 21, Begründung zu Art. I-4). 305 Davon konnte gem. Art. 4 des Übereinkommens der Staat, auf dessen Hoheitsgebiet sich der tatsächliche Sitz befand, Ausnahmen für die „von ihm [!] als zwingend angesehenen Vorschriften“ vorsehen. Zu dieser eigentümlichen Mischung aus Sitz- und Gründungstheorien kritisch Panthen, Sitzbegriff, 1988, S. 78 m.w.N.; kritisch Drobnig, AG 1973, 90 (97 f.) (Statutenverdopplung möglich); das Abkommen gegen diese Kritik verteidigend (auf Grundlage einer Interpretation im Sinne seiner „Überlagerungstheorie“) Sandrock, Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 18 (1978), 169 (206 ff.). 306 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Vorschlag einer Verordnung (EWG) des Rates über das Statut für europäische Aktiengesellschaften vom 30.07.1970, Beilage 8/1970 zum Bulletin der EG, S. 12. 307 Vgl. zum Kontext der Regelung Trojan-Limmer, RIW 1991, 1010 (1015 f.); Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 103 ff. 304
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
das Kriterium der „Hauptverwaltung“, also das des tatsächlichen und effektiven Sitzes, sei erstens das in den Mitgliedstaaten vorherrschende Konzept und ermögliche zweitens die (hilfsweise) Anknüpfung an das Recht eines Mitgliedstaates. 308 Allerdings wurde auch im SE-VOV 1989 an das Recht des (Satzungs-)Sitzstaates angeknüpft, sodass die Begründung wenig überzeugend erscheint.309 Interessant ist, dass die englischen Fassungen der Vorentwürfe 1989 und 1991 noch die Bezeichnung „central administration“ verwenden, die auch z.B. in Art. 54 AEUV (bzw. den entsprechenden Vorgängerregelungen im EGV, Art. 48, später 58 EGV) verwendet wird. Der Wechsel wurde erst mit der letztgültigen Fassung 2001 vollzogen. Ob damit aber ein anderes (etwa von dem des Primärrechts verschiedenes) Konzept gemeint sein sollte, oder ob an eine Gegenüberstellung von registered office einerseits und head office andererseits gedacht war, und – vor allem – warum dieser Wechsel dann nicht auch in den anderen Sprachen reflektiert wurde, ist unklar. Zu den Hintergründen dieses terminologischen Wechsels brachte auch eine Anfrage beim Generaldirektorat Übersetzung keine Klärung. Damit bringt die Gesetzgebungsvorgeschichte wenig Einsichten, was die Wortwahl und die dahinter zu suchenden Konzepte angeht. Abgesehen von Sanders' in dieser Hinsicht nicht begründetem Vorentwurf findet sich ein von „Sitz“ verschiedenes Kriterium der Hauptverwaltung zwar nur dann, wenn es darum ging, auf eine Rechtsordnung zu verweisen. Allerdings wurde und wird „Hauptverwaltung“ nicht direkt als Anknüpfungskriterium verwendet, sodass auch der Verweis auf die Sitztheorien in der Begründung zum SE-VOV 1989 unklar bleibt. Zudem verbleiben terminologische Fragen offen. Zu den möglichen Gründen der Sitzkopplung s. unten 3. Kap., D IV, S. 283 ff. III. Systematik Es wurde bereits oben (3. Kap., C I, S. 220 f.) darauf verwiesen, dass sich aus der Gegenüberstellung mit „(Satzungs-)Sitz“ ergibt, dass „Hauptverwaltung“ das eher tatsächliche Kriterium darstellt. Weitere systematische Argumente können sich aus anderen Normen der SE-VO oder anderen europäischen Rechtsakten ergeben. Insbesondere bei letzteren sind jeweils die verschiedenen Sprachfassungen zu berücksichtigen.
308 Begründung der Kommission, abgedruckt in der Unterrichtung durch die Bundesregierung, BT-Drs. 11/5427, S. 5. 309 Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 79–81.
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
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1. Systematische Auslegung: Rechtsfolgen des Hauptverwaltungskriteriums in der SE-VO An das (Nicht-)Einhalten des Kriteriums sind konkrete Rechtsfolgen geknüpft: Gem. Art. 64 Abs. 1 SE-VO wirkt der Mitgliedstaat, in dem der (Gründungs-)Sitz liegt, darauf hin, dass eine SE, die dem Gebot nach Art. 7 SE-VO nicht Folge leistet, entweder (auch) ihren Sitz verlegt oder ihre Hauptverwaltung in den Mitgliedstaat zurückverlegt. Als letzte Konsequenz aus einem Nichteinhalten des Kopplungsgebots aus Art. 7 SE-VO ist die Liquidation der SE vorgesehen (Art. 64 Abs. 2 SE-VO). In Deutschland etwa ist in § 52 SEAG ein der Amtsauflösung wegen Satzungsmängeln (§ 399 FamFG) nachempfundenes Verfahren vorgesehen.310 Die Aufgabe, auf die Einhaltung des Kopplungsgebots zu achten oder gegebenenfalls die Liquidation einzuleiten, ist dabei dem Mitgliedstaat anvertraut, in dem der Sitz der SE liegt (Art. 64 Abs. 4 SE-VO). Die Effektivität dieser Vorschrift wird deswegen angezweifelt, weil dieser Mitgliedstaat kein Interesse daran hat, eine säumige SE zu „verfolgen“311 und so womöglich zur Abwanderung zu veranlassen, da eine Verlegung des Satzungssitzes möglicherweise wirtschaftlich attraktiver ist als eine Rückverlegung der Hauptverwaltung. In diesem Fall ginge dem verfolgenden Mitgliedstaat die SE – typischerweise ein großes Unternehmen – als Steuerzahler verloren.312 Dennoch lässt sich aus der in Art. 64 Abs. 4 SE-VO normierten Hinweispflicht für andere Mitgliedstaaten schließen, dass lediglich der Mitgliedstaat, in dem sich der Satzungssitz befindet, das Recht hat, die Maßnahmen nach Art. 64 Abs. 1 und 2 SE-VO zu ergreifen. So ist zu erklären, warum der Gesetzgeber das eigentlich selbstverständlich jedem zustehende Recht, einen Hinweis zu geben, als Pflicht ausgestaltet und diese Pflicht zugleich nur dem Mitgliedstaat, in dem sich die Hauptverwaltung befindet, zugewiesen hat (vgl. die Formulierung „wird auf Veranlassung der Behörden oder einer betroffenen Partei festgestellt… teilen die Behörden dieses Mitgliedstaats … mit“).313 Andere Parteien sind also auf ein Tätigwerden im Rahmen des insoweit abschließenden Art. 64 Abs. 4 SE-VO beschränkt,314 dürfen also lediglich die Behörden auf die Diskrepanz aufmerksam machen. Auch der Mitgliedstaat, in dem sich die Hauptverwaltung befindet, kann keine weiteren Sanktionen ergreifen, sondern nur den Satzungssitzstaat auf die Diskrepanz hinweisen; tut
310
Vgl. dazu näher Ehricke, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 64 SE-VO Rn. 17; H. Zimmer, EWS 2010, 222 (225 f.). 311 Enriques, ZGR 2004, 735 (740): „die Gefahr einer Durchsetzung“ sei gering, da anzunehmen sei, „dass dieser Staat wenig Neigung hat, die Theorie effektiv durchzusetzen“. 312 A. Schulz/Geismar, DStR 2001, 1078 (1082 und 1084 f.). 313 Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 196 f. 314 Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 196 f.
262
3. Kapitel: Hauptverwaltung
dieser nichts, könnte er lediglich gem. Art. 259 AEUV wegen Vertragsverletzung klagen oder – diese zweite Möglichkeit wäre auch für Privatleute möglich – eine Klage der Kommission nach Art. 258 AEUV veranlassen.315 Ferner ist das Konzept der Hauptverwaltung bereits bei Gründung der SE von Bedeutung. Art. 2 SE-VO sieht für die verschiedenen Gründungsformen vor, dass sich sowohl Hauptverwaltung als auch Sitz der entsprechenden Gesellschaften im Gebiet der Gemeinschaft befinden müssen. Sitz und Hauptverwaltung der Gründungsgesellschaften können sich zwar noch in verschiedenen Mitgliedstaaten befinden, 316 jedoch muss die SE von Anfang an Sitz und Hauptverwaltung im gleichen Mitgliedstaat haben. Ein Nichteinhalten dieser Vorschriften würde etwa dazu führen, dass die Eintragung verweigert werden würde. Sollte die SE dennoch eingetragen werden, ist sie aus Gründen der Rechtssicherheit zwar zunächst wirksam entstanden und auch rechtsfähig.317 Allerdings muss der zuständige Mitgliedstaat auch in diesem Fall nach Art. 64 SE-VO vorgehen und Sorge tragen, dass der rechtswidrige Zustand beendet wird. Aus diesen Rechtsfolgen lassen sich in vorsichtiger Weise Schlüsse für die Auslegung von „Hauptverwaltung“ ziehen. Die Kommunikation zwischen verschiedenen Mitgliedstaaten, die in Art. 64 Abs. 4 SE-VO vorgesehen ist, legt nahe, dass eine autonome Auslegung notwendig ist. Zwar sind andere Mitgliedstaaten nach der Vorschrift des Art. 64 SE-VO nicht befugt, selbst Maßnahmen zu ergreifen; dies kann aber nicht bedeuten, dass der Staat, in dem der Satzungssitz liegt, „sein“ Hauptverwaltungskonzept (etwa aus seiner „Sitztheorie“) zum Maßstab erhebt. Zum einen ist dies schon deswegen nicht möglich, weil der Satzungssitzstaat möglicherweise einer Gründungstheorie folgt und daher ein solches „eigenes“ Konzept überhaupt nicht aufweist. Zum anderen wäre ansonsten die Kommunikation zwischen den Mitgliedstaaten sinnlos: Bei einer nicht-autonomen Auslegung wäre es sowohl sinnlos, wenn der dritte Mitgliedstaat (der meint, die „Hauptverwaltung“ befinde sich jetzt auf seinem Gebiet) unter sein eigenes Konzept von „Hauptverwaltung“ subsumiert (das den Sitzstaat dann gar nicht zu interessieren bräuchte), als auch, wenn er unter das Konzept von „Hauptverwaltung“ des Sitzstaates subsumiert (das er eventuell gar nicht kennt, das nicht existiert oder das er nicht beurteilen kann).
315
Darauf weist Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 197 hin; ähnlich Ringe, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 7 SE-VO Rn. 14. 316 Habersack, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 2 SE-VO Rn. 8. 317 Diekmann, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 7 SE-VO Rn. 19; Schröder, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SE-Kommentar, 2010, Art. 7 Rn. 10; so auch schon zum Vorentwurf 1989 Grote, Das neue Statut der Europäischen Aktiengesellschaft zwischen europäischem und nationalem Recht, 1990, S. 157 f.
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
263
2. Primärrecht (Art. 54 AEUV) „Hauptverwaltung“ wird auch in anderen Rechtsakten der EU verwendet und kann – vorausgesetzt, es handelt sich tatsächlich um denselben Terminus, der nicht etwa in anderen Sprachfassungen abweicht318 – zur systematischen Auslegung herangezogen werden. Im Primärrecht wird der deutsche Terminus „Hauptverwaltung“ etwa auch in Art. 54 AEUV verwendet. In der Literatur – etwa in der Arbeit von Ringe – wird der Terminus (damals noch in der Fassung des Art. 48 EGV) als „Parallelbegriff“ zum Terminus der SE-VO bezeichnet319 und auch Literatur, die sich ausdrücklich auf Art. 48 EGV bezieht, zur Präzisierung (auch) des Konzepts der SE-VO herangezogen.320 Dies mag auch gerechtfertigt erscheinen, da der Terminus auch auf Französisch („administration centrale“), Italienisch („amministrazione centrale“), Spanisch („administración central“), Portugiesisch („administração central“), Schwedisch („huvudkontor“) und Niederländisch („hoofdbestuur“) dem Terminus entspricht, der in Art. 2, 7, 64 SE-VO verwendet wird. Der englische Terminus dagegen ist unterschiedlich („central administration“ in Art. 54 AEUV und auch im früheren Art. 48 EGV, „head office“ in der SE-VO), ebenso der polnische (statt „siedziba zarządu“ in Artt. 2, 7, 64 SEVO „zarząd“ in Art. 54 AEUV und auch schon im früheren Art. 48 EGV). Der erst nach der Verabschiedung der SE-VO erfolgte Beitritt Polens zur EU 2004 ist dabei kein Argument gegen die Bedeutung der polnischen Sprache;321 aus Sicht des Europarechts ist das Denkmodell des Übersetzungsfehlers nicht gangbar, da es sich auch bei der polnischen Sprachfassung um ein Original, nicht eine Übersetzung handelt. Unklar ist somit, was die Abweichung zu bedeuten hat. Bisher wird das Problem, soweit ersichtlich, in der Literatur nicht diskutiert, obwohl die Abweichung greifbar erscheint, da sie gerade auch die leicht zugängliche englische Sprachfassung betrifft. Dennoch wird in der Literatur überwiegend auf Art. 54 AEUV zurückgegriffen.322 Tatsächlich spricht dafür, dass die Abweichung nur in zwei der verglichenen Sprachfassungen auftauchen. Das Englische verwendete bis zur Fassung von 2001 auch den Terminus des Primärrechts, was für ein Redaktionsversehen bei der Abfassung der letztgültigen Fassung sprechen könnte. Zudem entstammen beide Termini mit dem Gesellschafts-
318 Vgl. allgemein zu den Problemen oben 1. Kap., A III, B II, S. 31 und S. 53 f. Für einen Überblick über die Sprachfassungen vergleiche die Tabelle im Anhang. 319 Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 201. 320 Diekmann, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 7 SE-VO Rn. 14; Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 202 f. 321 Dazu bereits oben Einl. D, S. 19. 322 Zweifelnd Enriques, ZGR 2004, 735 (739) („Falls ‚Hauptverwaltung‘ wie in Art. 48 EGV für […] steht“).
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
recht dem gleichen Rechtsgebiet. Auch in England scheint man der Abweichung nicht viel Bedeutung beizumessen. In Palmer’s Company Law heißt es zur SE, weder nationales noch europäisches Recht definierten „head office“, der Ausdruck sei aber wohl in den meisten Fällen gleichbedeutend mit „central administration“.323 Auch eine Anfrage bei der Europäischen Kommission konnte die Sprachdivergenzen nicht restlos aufklären; denkbare Ursachen für Abweichungen im Sekundärrecht könnte sein, dass dieses zunehmend auf Englisch, nicht auf Französisch entworfen wird. Möglich ist daneben auch ein Einfluss der internationalen Praxis der Vertragsgestaltung, insbesondere im Bank- und Versicherungsrecht, das sich auf das Aufsichtsrecht ausgewirkt haben und dadurch Abweichungen zwischen Sekundär- und Primärrecht verursacht haben könnte.324 Die Übereinstimmung in einer Reihe von Sprachfassungen sowie die zentrale Stellung des Primärrechts sprechen doch dafür, die Ergebnisse vorsichtig auch bei der SE-VO zu verwerten. Allerdings ist die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 54 AEUV wenig hilfreich, um das Konzept der „Hauptverwaltung“ zu konkretisieren. Bei den meisten Stellen, in denen der EuGH diesen oder ähnliche Termini verwendet, geht es um Rechte der Mitgliedstaaten – ohne dass der EuGH ein universales Rechtskonzept formulieren würde. So bezieht sich eine Stelle aus „Cartesio“, die teilweise auch für die SE herangezogen wird,325 eindeutig nicht auf europäisches Recht, sondern die Rechte der Mitgliedstaaten.326 Ähnlich ist es in „Daily Mail“, wo der EuGH ausführt, bei „der Definition der Gesellschaften, denen die Niederlassungsfreiheit zugute kommt, in Artikel 58 EWG-Vertrag“ würden „der satzungsmäßige Sitz, die Hauptverwaltung und die Hauptniederlassung einer Gesellschaft als Anknüpfung gleich geachtet“.327 Der EuGH versteht demnach die im Primärrecht genannten Kriterien als Referenz gegenüber den Theorien der Mitgliedstaaten. Die Niederlassungsfreiheit löse dabei die Probleme der unterschiedlichen Anknüpfung und Möglichkeiten der Verlegung des Sitzes nicht, dies bleibe Rechtssetzung oder Vertragsschlüssen überantwortet.328 Dies wird in „Cartesio“ aufgegriffen329 und dahingehend 323
Palmer’s Company Law (2012), Rn. 17.021. Für die Auskunft der Europäischen Kommission habe ich stellvertretend Frau Dorota Łyszkowska-Becher zu danken. Zum Einfluss des Aufsichtsrechts auf die SE-VO siehe unten 3. Kap., D III 5, S. 275 ff. 325 Schröder, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SE-Kommentar, 2010, Art. 2 SE-VO Rn. 30. 326 EuGH, Rs. C-210/06, Urt. vom 16.12.2008, Slg. I-2008, 9641 („Cartesio“), Rz. 105: „der wahre Sitz, also die Hauptverwaltung“. 327 EuGH, Rs. 81/87, Urt. vom 27.09.1988, Slg. 1988, 5483 („Daily Mail“), Rz. 21. 328 EuGH, Rs. 81/87, Urt. vom 27.09.1988, Slg. 1988, 5483 („Daily Mail“), Rz. 23. 329 Die eben genannte Stelle Rz. 21 aus „Daily Mail“ zitierend EuGH, Rs. C-210/06, Urt. vom 16.12.2008, Slg. I-2008, 9641 („Cartesio“), Rz. 108. 324
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
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präzisiert, dass es noch immer an „einer einheitlichen gemeinschaftsrechtlichen Definition der Gesellschaften mangele, denen die Niederlassungsfreiheit zugutekommt, anhand einer einheitlichen Anknüpfung, nach der sich das auf eine Gesellschaft anwendbare Recht bestimmt“.330 Daher, so der EuGH weiter, sei die Frage, ob Art. 43 EGV auf eine Gesellschaft anwendbar sei, „gemäß Art. 48 EGV eine Vorfrage, die beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts nur nach dem geltenden nationalen Recht beantwortet werden“ könne.331 Jedenfalls „Gesellschaft“ soll nach dem EuGH also wohl rein nach dem Recht der Mitgliedstaaten bestimmt werden;332 naheliegend ist, dass dies auch für die Anknüpfungskriterien – darunter eben „Hauptverwaltung“ – gelten soll.333 Auch in „Überseering“ umschrieb der EuGH „Sitzverlegung“ als „Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes nach dem Recht eines Mitgliedstaates“, 334 überließ die Definition also insoweit den Mitgliedstaaten und setzte sich auch sprachlich vom Terminus „Hauptverwaltung“ ab – in allen überprüften Sprachen verwendete er eine andere Umschreibung, auf Deutsch eben „Verwaltungssitz“, um klarzustellen, dass es hier um ein Konzept des nationalen Rechts ging.335 Generalanwalt Ruiz-Jarabo hatte in seinem Schlussantrag noch auf die terminologischen Schwierigkeiten hingewiesen, indem er die Termini „tatsächlicher Sitz“, „tatsächlicher Verwaltungssitz“ und „Mittelpunkt der Geschäftsleitung“ jeweils als Synonyme definierte, die den Ort bezeichnen
330
EuGH, Rs. C-210/06, Urt. vom 16.12.2008, Slg. I-2008, 9641 („Cartesio“), Rz. 109. EuGH, Rs. C-210/06, Urt. vom 16.12.2008, Slg. I-2008, 9641 („Cartesio“), Rz. 109; später bestätigt in EuGH, Rs. C-371/10, Urt. vom 29.11.2011, Slg. I-2011, 12307 („National Grid Indus“), Rz. 26, und EuGH, Rs. C-378/10, Urt. vom 12.07.2011 („VALE“), Rz. 28. 332 Für eine Interpretation des EuGH in diesem Sinne Weller, IPRax 2009, 202 (205 f.). Diese Interpretation von „Gesellschaft“ in Art. 54 AEUV entspricht auch der h.L., vgl. nur Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 2009, Art. 48 EGV Rn. 10; Forsthoff, EuR 2000, 167 (173). Wie jedoch oben 1. Kap., D IV, S. 94 ff., allgemein dargelegt wurde, ist hier auf europäischer Ebene ein sog. „universales Rechtskonzept“ erforderlich. Dass der EuGH hier noch kein solches aufgestellt hat – also etwa Kriterien dafür aufgestellt hat, was im Recht der Mitgliedstaaten zulässigerweise ein solches Konzept sein könnte – liegt daran, dass es im konkreten Fall darauf nicht ankam. 333 So wohl auch Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, S. 788. Auch Albers, Die Begriffe der Niederlassung und Hauptniederlassung, 2010, S. 260 f. geht davon aus, ein kollisionsrechtlicher Gehalt sei Art. 54 AEUV nicht zu entnehmen. Denn mangels einer Hauptanknüpfung würde Art. 54 AEUV ansonsten schon auf mehrere Rechtsordnungen verweisen. Eine kollisionsrechtliche Auslegung der Norm sei daher nicht angezeigt. 334 EuGH, Rs. C-208/00, Urt. vom 05.11.2002, Slg. I-2002, 9919 („Überseering“), an mehreren Stellen im Urteil, u.a. Rz. 9, 22, 23, 36, 46, 48, 71, 72, 73, 94. 335 Eine Gleichsetzung von tatsächlichem Verwaltungssitz und Hauptverwaltung erfolgt lediglich in Rz. 45 des Urteils, wo die Stellungnahme der niederländischen Regierung wiedergegeben wird. 331
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
sollten, „an dem sich das Leben der Gesellschaft abspielt und an dem ein großer Teil der Geschäfte mit Dritten getätigt wird“.336 Eine Definition ergibt sich damit aus der Rechtsprechung des EuGH nicht, weil es noch in keinem Fall entscheidend auf sie ankam. In vielen Urteilen reichte es für die Niederlassungsfreiheit aus, wenn eine „Hauptverwaltung“ überhaupt im Gebiet der EU lag; dies war auch ohne präzisere Definition leicht zu entscheiden. Weiter lässt sich dieser Befund auch mit der Zurückhaltung des Europäischen Primär- wie Sekundärrechts erklären,337 das neben die „Hauptverwaltung“ oft – wie in Art. 54 AEUV, oder eben in Art. 7 SE-VO – gleichberechtigt den „satzungsmäßigen Sitz“ stellt und so die Rechtsprechung selten in Verlegenheit bringt, eines der Kriterien klarer zu definieren. In der Literatur zum Primärrecht wird „Hauptverwaltung“ etwa definiert als „der Ort, an dem die Willensbildung und – für Dritte objektiv erkennbar – die eigentliche unternehmerische Leitung der Gesellschaft erfolgt, also meist der Sitz der Organe“338 bzw. ähnlich als „der Ort, an dem die Leitungsorgane (Geschäftsführung, Vorstand, Verwaltungsrat) regelmäßig zusammentreten und die wirtschaftliche Tätigkeit der Gesellschaft tatsächlich durch ihre Entscheidungen leiten“. 339 Maßgebend ist also das physische Zusammentreffen der Führungsorgane. 3. Andere europäische Rechtsformen Auch andere europäische Rechtsformen verwenden den Terminus „Hauptverwaltung“. Diese mögen im Einzelfall weniger ergiebig sein als teilweise angenommen,340 können aber gleichfalls Aufschluss geben über die Möglichkeiten einer systematischen Auslegung im Europarecht. So wird in Art. 4 und 12 der EWIV-VO 341 von 1985 in der deutschen Sprachfassung ebenfalls der Terminus „Hauptverwaltung“ verwendet. Dies gilt allerdings nicht für alle Sprachen. Während auch das Italienische, Französische, 336
Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer, Rs. C-208/00, 04.12.2001 („Überseering“), Rz. 2 (Fn. 4). 337 Ringe, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 7 SEVO Rn. 12; Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 201. 338 Tiedje, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 2015, Art. 54 AEUV Rn. 28; fast wortgleich bereits Troberg/Tiedje, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, 2003, Art. 48 EG Rn. 9. 339 Jung, in: Schwarze, EU-Kommentar, 2012, Art. 54 AEUV Rn. 15. 340 Vgl. den Rückgriff auf einen vermeintlichen Inhalt von Art. 12 S. 2 lit. a EWIV-VO (Zitat nächste Fn.) bei Diekmann, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 7 SE-VO Rn. 14; dieser wiederum „statt vieler“ zitiert bei Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 7 SE-VO Rn. 3. 341 Verordnung (EWG) Nr. 2137/85 des Rates vom 25. Juli 1985 über die Schaffung einer Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV), ABl. L 199 vom 31/07/1985, S. 1–9.
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
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Spanische, Portugiesische und Schwedische jeweils den Terminus verwenden, der auch in der SE-VO oder dem AEUV verwendet wird, verwendet das Niederländische einen anderen Terminus („hoofdkantoor“ in der EWIV-VO statt „hoofdbedstuur“ wie in der SE-VO und dem AEUV). Das Englische und Polnische verwenden den Terminus aus dem AEUV („central administration“ bzw. „zarząd“), der sich jedoch nicht mit dem der SE-VO deckt. Die von 1992 stammenden Entwürfe für weitere europäische Rechtsformen, den Europäischen Verein (EUV), die Europäische Genossenschaft (EUGEN) sowie die Europäische Gegenseitigkeitsgesellschaft (EUGGES) wurden im gleichen Amtsblatt veröffentlicht und entsprechen sich auch inhaltlich in Bezug auf die Sitzkopplung: Dem Art. 7 SE-VO (2001) entsprechende Vorschriften finden sich in Art. 4 EUV-VOV, Art. 2 EUGEN-VOV sowie Art. 5 EUGGES-VOV. Terminologisch sind die Vorschriften auf dem Stand des Entwurfs zur SE von 1991. Dies bedeutet, dass bis auf das Englische die für „Hauptverwaltung“ verwendeten Termini denen der heute gültigen SE-VO entsprechen, im Englischen wird „central administration“ verwendet (wie im Primärrecht sowie in den früheren SE-Entwürfen). Auch wenn die Entwürfe von 1992 nicht in Kraft gesetzt wurden, können sie jedoch als Ausgangspunkt für eine historische Auslegung dienen: als Anhaltspunkt für eine (möglicherweise bewusste) Entscheidung des Gesetzgebers. So ist interessant, dass in dem Projekt, das als einziges später umgesetzt wurde – dem der Europäischen Genossenschaft –, der englische Wortlaut geändert wurde. In der 2003 – also nach dem Inkrafttreten der SE-VO – verabschiedeten SCE-VO342 wird „Hauptverwaltung“ im Englischen nicht mehr mit „central administration“ (wie im Primärrecht und in den Vorentwürfen 1989 und 1991 zur SE) wiedergegeben, sondern ebenfalls mit „head office“ wie in der aktuell gültigen SE-VO. Im Übrigen stimmt bei der SCE-VO sowie dem Entwurf für eine Europäische Privatgesellschaft (EPG-VO (V)343) von 2008 der Wortlaut für „Hauptverwaltung“ jeweils mit dem der SE-VO überein, mit Ausnahme des Polnischen. Im Polnischen werden zwei weitere Termini verwendet, die aus keinem der hier untersuchten Rechtsakte bekannt sind (bzw. mit „główny zarząd“ und „zarząd główny“ zwei Kombinationen der gleichen zwei Wörter „główny“ (in etwa: Haupt-) und „zarząd“ (in etwa: Verwaltung, Vorstand); beide Kombinationen sind dabei inhaltlich gleichbedeutend344). Dass die beiden nach 2001 zumindest veröffentlichten Dokumente zu europäischen Gesellschaftsformen in der Terminologie der SE folgen und nicht der 342
Verordnung (EG) Nr. 1435/2003 des Rates vom 22. Juli 2003 über das Statut der Europäischen Genossenschaft (SCE), ABl. L 207 vom 18.08.2003, S. 1–24. 343 Vorschlag für eine Verordnung des Rates über das Statut der Europäischen Privatgesellschaft, KOM/2008/0396 endg. 344 Vgl. Köbler, Rechtspolnisch, 2001, S. 175 und 295. Für die Bestätigung, dass beide Kombinationen gleichbedeutend sind, bin ich wie für das Auffinden der Grundformen sämtlicher polnischer Termini Frau Agnieszka Smolenska, Florenz, zu Dank verpflichtet.
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
EWIV, kann man als Hinweis darauf verstehen, dass die SE nicht nur im Kapitalgesellschaftsrecht, sondern im gesamten europäischen Gesellschaftsrecht eine Vorbildfunktion als „Flaggschiff“345 des europäischen Gesellschaftsrechts einnimmt. Es erscheint auch nicht vermessen, das Ausscheren des Polnischen mit einem Fehlgriff der jeweiligen Übersetzer zu erklären. Bei der 2003 veröffentlichten SCE-VO war die polnische Fassung erst in der 2004 mit dem Beitritt Polens veröffentlichten Sonderausgabe des europäischen Sekundärrechts enthalten, deren Abfassung einen gewaltigen Übersetzungsaufwand bedeutete, der die Übersetzer teilweise überforderte.346 Die polnische Fassung der EPGVO betrifft ohnehin nur einen bisher noch nicht in Kraft getretenen Entwurf. Damit lässt sich sagen, dass die SE die Terminologie im Gesellschaftsrecht deutlicher prägt als etwa das Primärrecht. Dies legt nahe, dass auch inhaltlich die Termini der SE in Wechselwirkung mit den Termini der übrigen Rechtsformen auszulegen sind. Daher ist danach zu fragen, welche Ergebnisse sich zu den anderen Rechtsformen finden lassen. Als bereits in den 1980er Jahren verabschiedete Rechtsform ist die EWIV die früheste europäische Rechtsform347 und hat in der Literatur auch erhöhte Aufmerksamkeit erfahren. 348 Ausführlichere Erwähnungen des Terminus „Hauptverwaltung“ finden sich jedoch im Wesentlichen im Kommentar von Selbherr/Manz und in der Dissertation von Meyer-Landrut, daneben noch in einer Arbeit von Löffler. Allen Werken ist jedoch nicht nur das Ergebnis gemeinsam, sondern auch, dass sie dieses relativ direkt aus nationalen Konzepten beziehen. Bei Selbherr/Manz wird der Ort der Hauptverwaltung definiert als „dort, wo die laufenden Geschäftsführungsakte vorgenommen werden. Nicht maßgeblich ist, wo die Geschäftsführungsmaßnahmen letztlich Wirkung entfalten. Kriterien für eine Abgrenzung sind […] der Ort, an dem die grundlegenden Entscheidungen der Unternehmensleitung umgesetzt werden.“349 Als Beleg wird auf einen Aufsatz von Kaligin verwiesen, der sich schon ausweislich seines Titels mit dem internationalen Gesellschaftsrecht der Bundesrepublik Deutschland befasst, mit diesen Kriterien also die (deutsche) Sitztheorie umschreibt.350 In Fußnote 237 fügt Manz lediglich lapidar hinzu: „diese Grundsätze dürften 345
Hopt, ZIP 1998, 98 (99). Vgl. zu den gerade das Polnische betreffenden Übersetzungsgproblemen bereits oben Einl. C, S. 14. 347 Dem deutschen Rechtsanwender stand die Rechtsform ab dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Ausführung der EWG-Verordnung über die Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung (EWIV-Ausführungsgesetz) vom 14.04.1988 am 01.01.1989 zur Verfügung. 348 Vgl. nur die Übersicht bei Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, zu § 30. 349 Manz, in: Selbherr/Manz, EWIV-Kommentar, 1995, Art. 12 EWIV-VO Rn. 3. 350 Kaligin, DB 1985, 1449 (1449 ff.). 346
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
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auch für den Sitzbegriff der [EWIV-]VO Geltung haben“.351 Eine nähere Begründung dieser Aussage findet sich nicht. Tatsächlich wird also der nationalen Sitztheorie Bedeutung auch für die EWIV-VO zugemessen, und dies, obwohl in der Einleitung noch eine eigenständige, den Zielen und der Zwecksetzung der Verordnung entsprechende Auslegung angemahnt, eine – etwa am teilweise wortgleich lautenden französischen Recht des groupement d’intérêt économique orientierte – Auslegung ausdrücklich abgelehnt wird.352 Noch offener ist der Rückgriff bei Meyer-Landrut. Der maßgebliche Passus lautet: „Wenn auch die Begriffe Hauptverwaltung und Haupttätigkeit hier gemeinschaftsrechtliche Begriffe sind, so sind sie doch bewußt unter dem Eindruck der IPRrechtlich und international bekannten Problematik um die Sitz- und Gründungstheorien verwendet worden, so daß nichts dagegen spricht, zur Auslegung die in diesem Zusammenhang entwickelten Kriterien heranzuziehen, wobei natürlich die Entscheidung der Verordnung für eine abgeschwächte Sitztheorie, so wie sie in Art. 12 zum Ausdruck kommt, berücksichtigt werden muß.“353 Der tatsächliche Sitz der Hauptverwaltung sei damit „der Tätigkeitsort der Geschäftsführung und der Vertretungsorgane […], wobei es auf den Ort der von außen erkennbaren Umsetzung des Willens dieser Organe in Geschäftsführungsakte ankommt“; zum Beleg wird deutsche IPR-Literatur zitiert.354, 355 Auch die Definition von Löffler stammt aus dem nationalen (österreichischen) IPR, das sich inhaltlich wenig vom deutschen unterscheidet.356
351
Manz, in: Selbherr/Manz, EWIV-Kommentar, 1995, Art. 12 EWIV-VO Rn. 3 (Fn. 237). Ringe, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 7 SE-VO Rn. 13 (Fn. 22) hält dies für eine „analoge Anwendung“ der deutschen Grundsätze. Nähere Erläuterungen zum Hintergrund der EWIV-VO als Kompromiss zwischen den verschiedenen Theorien in den Mitgliedstaaten zum internationalen Gesellschaftsrecht finden sich bei Manz, in: Selbherr/Manz, EWIV-Kommentar, 1995, Art. 4 EWIV-VO Rn. 6–8. 352 Manz, in: Selbherr/Manz, EWIV-Kommentar, 1995, Einleitung EWIV-VO Rn. 29 f. 353 Meyer-Landrut, Die EWIV, 1988, S. 32. Er beruft sich dabei auch auf den Beitrag von Ganske, DB-Beilage Nr. 20/1985, 1 (5), der (insb. in Fn. 64) ebenfalls eine – im Detail aber unklar und an der Oberfläche bleibende – Nähe zwischen „Hauptverwaltung“ in der EWIVVO und der (deutschen?) Sitztheorie herstellt. 354 Meyer-Landrut, Die EWIV, 1988, S. 33. 355 Zu ergänzen ist noch, dass der – in der deutschen Literatur allerdings kaum auf Beachtung gestoßene – Praxiskommentar von Fritz ebenfalls ohne Begründung und in seiner Knappheit kryptisch davon ausgeht, die EWIV-VO normiere den Sitz „mit Verweis auf das ‚innerstaatliche‘ Recht“: Fritz, Die Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung, 1997, S. 57. 356 Löffler, EWIV in Österreich, 1998, S. 46; vgl. dazu den Hinweis bei Greda, in: Kalss/Hügel, SE-Kommentar, 2004, § 5 SEG Rn. 4, Fn. 7: „die Definition ist aus dem [österreichischen] IPRG entlehnt“. § 10 ö-IPRG lautet: „Das Personalstatut einer juristischen Person oder einer sonstigen Personen- oder Vermögensverbindung, die Träger von Rechten und Pflichten sein kann, ist das Recht des Staates, in dem der Rechtsträger den tatsächlichen Sitz seiner Hauptverwaltung hat.“ „Hauptverwaltung“ wird dazu verstanden als „der Ort, wo
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
Ähnlich ist es bei einem Blick auf die Literatur in Frankreich oder England. In Frankreich lag es ohnehin nahe, aufgrund der Vorbildwirkung des französischen groupement d’interêt économique generell auf zu diesem Rechtsinstitut ergangene Rechtsprechung und Literatur auch für die EWIV zurückzugreifen.357 Aus englischer Sicht scheinen die verschiedenen kontinentalen Sitztheorien möglicherweise ohnehin ähnlicher, sodass davon ausgegangen wird, dass „Hauptverwaltung“ mit den Gesetzen der Mitgliedstaaten übereinstimme. 358 Auch in italienischer Literatur finden sich Belege, dass „amministrazione centrale“ – der Terminus aus der EWIV-VO – ebenso verstanden wird wie der entsprechende nationale Terminus („sede dell’amministrazione“ aus Art. 2505 c.c. a.F., nunmehr ersetzt durch Art. 25 I-IPRG, vgl. dazu oben 3. Kap., D I 2 c, S. 236).359 Die Auslegungen der EWIV-VO, auf die sich eine systematische Interpretation der SE-VO stützen könnte,360 legen also die maßgebliche Stelle gerade nicht autonom aus, sondern greifen mehr oder minder unverhohlen auf nationale Konzepte zurück. Nachdem es den Umfang dieser Arbeit sprengen würde, auch die Termini der EWIV-VO autonom auszulegen, mag hier dahinstehen, ob die Auslegung für die EWIV-VO ihre Berechtigung hat, auch wenn dagegen letztlich die gleichen Bedenken bestehen wie bei der SE-VO und davon auszugehen ist, dass sämtliche Termini auch in der EWIV-VO autonom auszulegen sind.361 Jedenfalls bleibt aber als Ergebnis festzuhalten, dass eine Heranziehung von nicht-autonom ausgelegten Termini im Rahmen einer Auslegung, die gerade autonom sein soll, ausscheiden muss. Durch den Rückgriff auf vermeintlich europäische Konzepte in anderen Rechtsnormen würde tatsächlich nur die nationale Herkunft der Konzepte verschleiert. Somit entpuppen sich die vermeintlichen Anhaltspunkte für eine systematische Auslegung bei näherer Betrachtung lediglich als das, was man bei der SEVO gerade versucht zu vermeiden: Hineinlesen eines nationalen Konzeptes in
die grundlegende Entscheidung zur Unternehmensleitung effektiv in laufende Geschäftsführungsakte umgesetzt werden“ [sic], vgl. östOGH, Entscheidung vom 28.08.1997 – 3Ob2029/96w, ECLI:AT:OGH0002:1997:0030OB02029.96W.0828.000. 357 Woodland, La semaine juridique Edition Générale 1986, 24, I Fn. 37. 358 van Gerven, in: van Gerven/Aalders, European economic interest groupings, 1990, S. 8 (mit Verweis auf Woodland). 359 Mongiello, Il GEIE, 1994, S. 63 (Fn. 18). Dort findet sich der Hinweis, „sede effettiva“ als auch „amministrazione centrale“ seien lediglich terminologisch, nicht der Sache nach unterschiedlich. Im Text werden dann „amministrazione centrale“ und „sede dell’amministrazione“ wie Synonyme verwendet. 360 Vgl. zu den Problemen einer (vermeintlich) autonomen Auslegung noch ausführlicher unten 3. Kap., E II, S. 298 ff. 361 So explizit auch Gleichmann, ZHR 149 (1985), 633 (639, Fn. 11).
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
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europäische, autonom auszulegende Termini. Abgesehen davon bleibt der Gehalt von Art. 12 EWIV-VO dünn. Allenfalls ist interessant, dass offenbar nach europäischem Verständnis auch eine Personengesellschaft eine „Hauptverwaltung“ haben kann. 4. Europäisches IPR und IZPR Die Herkunft der verschiedenen europäischen Konzepte für „Sitz“ aus dem Internationalen Privatrecht der Mitgliedstaaten legt einen Blick auf die europäischen Regelungen zum Internationalen Privat- und Zivilprozessrecht nahe. Auch wenn Regelungen über das Gesellschaftsrecht vom Geltungsbereich des materiellen IPR ausgenommen sind (vgl. Art. 1 Abs. 2 lit. f Rom I-VO, Art. 1 Abs. 2 lit. d Rom II-VO), ist doch für die Klageortbestimmung sowie für die Bestimmung der Nationalität von Gesellschaften, wenn es auf die Nationalität der Parteien eines Schuldverhältnisses ankommt, ein Rückgriff auf die „Hauptverwaltung“ einer Gesellschaft notwendig. Im EuGVÜ 362 von 1968 als dem Ausgangspunkt der nachfolgenden Entwicklung – der Rechtsnatur nach handelt es sich beim EuGVÜ dabei noch um einen völkerrechtlichen Vertrag, also keine genuin europäische Rechtsquelle – wird der Terminus „Hauptverwaltung“ noch nicht verwendet. Art. 53 EuGVÜ bestimmt, dass für Gesellschaften und juristische Personen der Sitz die Bedeutung des Wohnsitzes bei natürlichen Personen hat und verweist für die Definition des „Sitzes“ auf das internationale Privatrecht des zuständigen Gerichts. Ein Anknüpfen an den Terminus der „Hauptverwaltung“ findet sich erst in Art. 60 EuGVO363 (auch: Brüssel I-VO), in Kraft getreten am 01.03.2002, sowie im – in allen verglichenen Sprachen mit dem Art. 60 EuGVO übereinstimmenden – Art. 60 LugÜ364 (sog. Luganer Übereinkommen, Neufassung 2007). Zwar ist das LugÜ kein europäischer Rechtsakt im engeren Sinne, sondern ein Übereinkommen zwischen Staaten, also ein völkerrechtlicher Vertrag ohne Letztzuständigkeit des EuGH, der dank eines Protokolls nur „persuasive authority“ auch für Gerichte von Nicht-EU-Vertragsstaaten erlangte, die dennoch in Zweifelsfragen nicht dem EuGH vorlegen konnten. 365 Spätestens mit der
362 EG-Übereinkommen vom 27.09.1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, BGBl. 1972-II S. 773. 363 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. L 012 vom 16/01/2001, S. 1–23. 364 Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. L 339 vom 21.12.2007, S. 3–41. 365 Schlosser, in: Schlosser/Hess, EU-Zivilprozessrecht, 2015, Einleitung EuGVVO Rn. 16.
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
EuGVO kann man jedoch von einem genuin europäischen Zivilprozessrecht sprechen.366 Parallel verlief die Entwicklung des europäischen Internationalen Privatrechts.367 Auch dort gab es zunächst eine völkerrechtliche Phase, der mit dem EVÜ368 ein ebenfalls völkerrechtlicher Vertrag entstammt. Dieser regelte jedoch lediglich die vertraglichen Beziehungen; auf eine Vereinheitlichung der außervertraglichen Rechtsverhältnisse war 1978 verzichtet worden. 369 Den Wendepunkt markiert hier der Vertrag von Amsterdam 1999,370 der die Grundlage für die spätere Vereinheitlichung des IPR schuf.371 So konnte das EVÜ schließlich 2008 (weitgehend) in die Rom I-VO 372 überführt werden, 373 die Rom II-VO374 über die außervertraglichen Schuldverhältnisse wurde nach umfangreicheren Vorarbeiten375 2007 verabschiedet. EuGVO und LugÜ verwenden in ihrer deutschen Fassung und weiteren Sprachfassungen das Äquivalent zu „Hauptverwaltung“ im Sinn der SE-VO: So auf Französisch („administration centrale“), Italienisch („amministrazione centrale“) und Spanisch („administración central“), ebenso auf Portugiesisch, Niederländisch und Schwedisch. Die polnische und englische Fassung, die auch Abweichungen zwischen Art. 7 SE-VO und Art. 54 AEUV zeigen, unterscheiden sich auch bei der EuGVO. Für die englische Fassung wurde dabei der Terminus aus Art. 54 AEUV („central administration“) dem der SE-VO vorgezogen („head office“), während das Polnische einen anderen Terminus verwendet („główny organ zarządzający“). Die polnische Sprachfassung benutzt
366
Teilweise wird dieser Terminus auch schon für die Phase vor Einführung der EuGVO 2001/2002 verwendet, als die Rechtslage noch durch das EuGVÜ, ebenfalls ein völkerrechtlicher Vertrag, geregelt wurde, vgl. Adolphsen, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 2015, § 1 Rn. 26. Für Belege, inwieweit Definitionen des EuGVÜ Eingang in das genuine Europäische Internationale Privatrecht gefunden haben (insbesondere das Konzept von „Vertrag“, aber auch das von „Niederlassung“), Bitter, IPRax 2008, 96 (96 ff.). 367 Zum Ausdruck und zum Folgenden Nehne, Europäisches IPR, 2012, S. 8–11. 368 Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht, aufgelegt zur Unterzeichnung am 19. Juni 1980 im Rom (80/934/EWG), ABl. L 266 vom 09.10.1980, S. 1–19 (EVÜ). 369 Nehne, Europäisches IPR, 2012, S. 9. 370 Kreuzer, RabelsZ 70 (2006), 1 (13 f.). 371 Kreuzer/Wagner/Reder, in: Dauses, Hdb. EU-Wirtschaftsrecht (2016), Rn. R-5. 372 Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), ABl. L 177 vom 04.07.2008, S. 6–16. 373 Leible/Lehmann, RIW 2008, 528 (528 f.). 374 Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II), ABl. L 199 vom 31.07.2007, S. 40–49. 375 Dazu ausführlicher Nehne, Europäisches IPR, 2012, S. 10.
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
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diesen Terminus konsequent für das gesamte Internationale Zivilverfahrensrecht (EuGVO 2002, EuGVVO 2014, LugÜ), verwendet in den sonst hier untersuchten Rechtsakten aber stets andere Termini. Auch in der derzeit gültigen EuGVVO376 (auch: Brüssel Ia-VO) werden die Termini aus der EuGVO in allen hier verglichenen Sprachen weiter verwendet. Die im Bereich des Europäischen Zivilprozessrechts relativ konsequente und – bis auf die polnische Sprachfassung – an das Primärrecht angelehnte Verwendung von Termini lässt erwarten, dass auch im europäischen Internationalen Privatrecht die gleichen Termini verwendet werden, zumal die wesentlichen Rechtsakte 2007 und 2008 verfasst wurden, also im Zeitraum zwischen EuGVO und EuGVVO. Tatsächlich verwendet Art. 19 Rom I-VO auch weitgehend die gleiche Terminologie (eine Inkonsistenz besteht lediglich zu Art. 5 Rom I-VO, in dem es um Beförderungsverträge geht und der eine Rechtswahl u.a. des Rechts des Staates erlaubt, in dem der Beförderer „seine Hauptverwaltung hat“. Für diesen Artikel wählen die niederländische und die polnische Sprachfassung einen abweichenden Terminus für „Hauptverwaltung“). Dagegen sind die Abweichungen in Art. 23 Rom II-VO größer. Ohne ersichtlichen Grund weichen hier das Schwedische, Niederländische und Polnische von den sonst im europäischen Internationalen Privatrecht gebräuchlichen Termini ab. Die Termini der Rom I-VO sind damit einheitlicher als noch die des EVÜ. Trotz einer weitgehenden Übernahme des Inhalts des EVÜ wurde Art. 4 EVÜ, der das mangels Rechtswahl anwendbare Recht bestimmte, so nicht übernommen. Die darin enthaltene Regelung wurde in der Rom I-VO auf mehrere Artikel aufgeteilt (Art. 4–8). In Art. 4 Abs. 2 EVÜ war im Deutschen der Terminus „Hauptverwaltung“ enthalten. Von der SE-VO weichen die englische, schwedische und niederländische Sprachfassung ab, das Polnische und Schwedische sind von der sonst im IPR gebräuchlichen Terminologie verschieden. Dies lässt sich so zusammenfassen, dass mit dem Schritt vom EVÜ zur Rom IVO eine größere Einheitlichkeit im IPR erreicht wurde. Insgesamt lässt sich sagen, dass im Europäischen IPR und IZVR zumindest für den hier untersuchten Terminus eine strengere Orientierung an der Terminologie des Primärrechts vorherrscht als im Europäischen Gesellschaftsrecht. Dies fördert zugleich auch die Einheitlichkeit der Verwendung von Termini in den verschiedenen Rechtsakten und ermöglicht eine Konzeptbildung auf europäischer Ebene. Insbesondere ist eine auch inhaltliche Orientierung am Primärrecht naheliegend und wird auch in der Literatur befürwortet.377 Unerklärlich sind dagegen Ausreißer wie etwa im Fall der Rom II-VO, wo unklar bleibt, ob 376
Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. L 351 vom 20.12.2012, S. 1– 32. 377 Hess, in: Schlosser/Hess, EU-Zivilprozessrecht, 2015, Art. 63 EuGVVO Rn. 2.
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
sie auf Zufälle zurückgehen oder ob die Abweichungen inhaltliche Bedeutung haben.378 Unsicherheiten können sich außerdem aus dem unklaren Verhältnis zu verwandten Termini wie „(Haupt-)Niederlassung“ ergeben; auf diese kann hier allerdings nicht näher eingegangen werden. 379 Für „Hauptverwaltung“ bleibt festzuhalten, dass trotz deutlicher Verbesserungsmöglichkeiten der Terminologie zumindest eine Orientierung am Primärrecht erkennbar ist. Dies kann einen Ansatz für eine einheitliche Konzeptbestimmung liefern. Inwieweit die zum Europäischen Internationalen Zivilprozess- und Privatrecht gefundenen Lösungen überhaupt Aussagekraft für Normen außerhalb dieses Rechtsgebiets haben können, ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich. So war in der Rechtssache „Centros“ eine Orientierung am EuGVÜ vorgeschlagen worden, 380 da das Konzept „Zweigniederlassung“ des damaligen EGV dort nicht hinreichend definiert war, zum EuGVÜ aber Rechtsprechung vorlag. Generalanwalt La Pergola hatte dem entgegengehalten, dass die Rechtsprechung zum EuGVÜ nicht übertragbar sei. Dort sei es insbesondere um eine autonome und einheitliche Auslegung sowie darum gegangen, ausufernde Gerichtsstände und ein „forum shopping“ zu unterbinden.381 Unklar bleibt an dieser Stelle insbesondere, ob La Pergola annimmt, im Rahmen des EGV gehe es nicht um eine autonome Auslegung. Der EuGH ging auf diesen Ansatz in seinem Urteil nicht näher ein. Die Rechtsprechung der (deutschen) Gerichte lehnt sich inhaltlich an Art. 63 EuGVVO bzw. dessen Vorgängerregelung Art. 60 EuGVO an Art. 54 AEUV an. 382 Auch in der Literatur wird Hauptverwaltung i.S.d. Art. 63 EuGVVO überwiegend in Anlehnung an das Primärrecht definiert.383 Dafür sprächen neben dem einheitlich verwendeten Wortlaut auch der Wille des Gesetzgebers sowie unabhängig davon der „Gedanke der primärrechtskonformen Interpretation“.384 Dies gilt auch für Art. 19 Rom I-VO385 und – interessanterweise mit Abstrichen für die Zukunft, „noch“ könne auf Art. 54 AEUV verwiesen werden 378 Etwa darauf hindeuten, dass sich das Konzept der „Hauptverwaltung“ in Art. 23 Rom II-VO in Zukunft von dem in Art. 63 EuGVVO und Art. 19 Rom I-VO entfernen wird: Diese These (ohne Bezugnahme auf Abweichungen beim Wortlaut) findet sich bei Jakob/Picht, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, 2016, Art. 23 Rom II-VO, Rn. 4. 379 Ausführlicher dazu Albers, Die Begriffe der Niederlassung und Hauptniederlassung, 2010, S. 349 ff.; Ansay, in: FS Martiny 2014, 1007 (1015 ff.). 380 So die dänische Zentralverwaltung für Handel und Gesellschaften, Schlussanträge des Generalanwalts Antonio La Pergola, Rs. C-212/97, 16.07.1998 („Centros“), Rz. 6. 381 Schlussanträge des Generalanwalts Antonio La Pergola, Rs. C-212/97, 16.07.1998 („Centros“), Rz. 19. 382 BAG, Urt. vom 24.09.2009 – 8 AZR 306/08, NZA-RR 2010, 604, 606; BAG, Urt. vom 23.01.2008 – 5 AZR 60/07, NJW 2008, 2797, 2798; BGH, Beschl. vom 27.06.2007 – XII ZB 114/06, NJW-RR 2008, 551, 552. 383 A. Staudinger, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, 2016, Art. 63 EuGVVO Rn. 1. 384 A. Staudinger, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, 2016, Art. 63 EuGVVO Rn. 1. 385 Thorn, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, 2016, Art. 19 Rom I-VO Rn. 9.
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
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– Art. 23 Rom II-VO.386 Wie oben dargestellt entstammt freilich auch der nähere Inhalt des Art. 54 AEUV weitgehend der Literatur, auf die dann auch letztlich verwiesen wird.387 Somit kommt man auch für die angesprochenen sekundärrechtliche Normen zum Ergebnis, es gehe um den effektiven Verwaltungssitz, der dort liege, „wo die grundlegenden unternehmerischen Entscheidungen getroffen werden“388 bzw. die „Willensbildung und die eigentliche unternehmerische Leitung der Gesellschaft erfolgt“.389 Dafür sei weder eine Willenskundgabe noch eine Eintragung etwa einer Haupt- oder Zweigniederlassung noch die Abwicklung der gesamten Geschäftstätigkeit nötig.390 Sekundäre Verwaltungsaufgaben wie Buchhaltung und die Bearbeitung von Steuerangelegenheiten seien für die Bestimmung der Hauptverwaltung unwesentlich.391 „Diese nicht aus dem innerstaatlichen Recht, sondern autonom aus dem europäischen Recht abgeleitete Auslegung“ sei zudem „derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum“ bleibe und eine Vorlage an den EuGH nicht erforderlich sei.392 Die Ergiebigkeit des IPR und IZVR ist damit ähnlich zu beurteilen wie die des Primärrechts. Eine Orientierung an dort gefundenen Ergebnissen wäre unter Vorbehalten – wegen der in mehreren Sprachfassungen unterschiedlichen Terminologie – grundsätzlich möglich, allerdings ist dies wegen der fehlenden Definitionen wenig ergiebig. 5. Europäisches Aufsichtsrecht Von Interesse sind auch eine Reihe von Regelungen aus dem europäischen Aufsichtsrecht insbesondere im Bereich der Banken- und Versicherungsaufsicht. Diese enthalten die Vorgabe, Hauptverwaltung und Satzungssitz müssten sich am gleichen Ort befinden (sog. „Sitzkopplung“) und sind daher interessant, weil sie insofern Art. 7 SE-VO inhaltlich gleichen.393 Da insofern der Telos der 386 Jakob/Picht, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, 2016, Art. 23 Rom II-VO Rn. 4; Junker, in: MüKoBGB Bd. 10, 2015, Art. 23 Rom II-VO Rn. 4 ff., insb. Rn. 10. 387 A. Staudinger, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, 2016, Art. 63 EuGVVO Rn. 1 Fn. 15 a.E. 388 A. Staudinger, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, 2016, Art. 63 EuGVVO Rn. 1; Thorn, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, 2016, Art. 19 Rom I-VO Rn. 9. 389 BGH, Beschl. vom 27.06.2007 – XII ZB 114/06, NJW-RR 2008, 551, 552; Junker, in: MüKoBGB Bd. 10, 2015, Art. 23 Rom II-VO Rn. 10. 390 BAG, Urt. vom 24.09.2009 – 8 AZR 306/08, NZA-RR 2010, 604, 606; BAG, Urt. vom 23.01.2008 – 5 AZR 60/07, NJW 2008, 2797, 2798. 391 BAG, Urt. vom 24.09.2009 – 8 AZR 306/08, NZA-RR 2010, 604, 606; BAG, Urt. vom 23.01.2008 – 5 AZR 60/07, NJW 2008, 2797, 2798. 392 BAG, Urt. vom 23.01.2008 – 5 AZR 60/07, NJW 2008, 2797, 2798. 393 Eine Übersicht zur Bankenaufsicht bis 2001 findet sich bei Hirte/Heinrich, ZBB 2001, 388 (388 ff.). Zum Einfluss der europäischen Niederlassungsfreiheit auf die Sitzregelung insbesondere bei Finanzinstituten zuerst Schuster/Binder, WM 2004, 1665 (1665 ff., besonders 1668 ff.); mit Blick auf die SE Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 31 f.
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
Normen vergleichbar sein dürfte und die teleologische Auslegung gerade für die „Hauptverwaltung“ wichtig ist,394 lohnt sich ein Blick auf diese vergleichbaren Regelungen.395 Die Idee der Sitzkopplung findet sich bereits im Basler Konkordat396 des Basler Ausschusses für Bankenaufsicht397 von 1975. Einzug in europäisches Aufsichtsrecht hielt die Sitzkopplung spätestens nach dem Zusammenbruch der Bank for Credit and Commerce International (BCCI), die als Bank mit Zulassung in Luxemburg ihren tatsächlichen Verwaltungssitz nach London verlegte und von dort aus weltweit agierte. Die damalige englische Aufsichtsbehörde Bank of England verweigerte trotz weltweiter Ermittlungen wegen Geldwäsche- und Untreuetatbeständen sowie Gerüchten über eine wirtschaftliche Schieflage der Bank ein Einschreiten unter Verweis auf die Zuständigkeit der luxemburgischen Behörden. Dies führte 1991 zur Eröffnung einer Reihe von Insolvenzverfahren über die Bank.398 Vor diesem Hintergrund verfolgte die sog. BCCI-Folgenrichtlinie399 die Absicht, zu vermeiden, dass ein Finanzdienstleistungsunternehmen die Rechtsordnung eines Mitgliedstaats in der Absicht wählt, sich den strengeren Anforderungen eines anderen Mitgliedstaats zu entziehen, in dem es den überwiegenden Teil seiner Tätigkeit auszuüben beabsichtigt oder ausübt. 400 Seit dieser Richtlinie zieht sich das Prinzip der Sitzkopplung als „Eckpfeiler“ durch das gesamte gemeinschaftsrechtliche Aufsichtsrecht.401 Die
394 Vgl. so die letztlich gefundene Auslegung z.B. bei Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 204; ähnlich die Erwägungen bei Schröder, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SE-Kommentar, 2010, Art. 2 SE-VO Rn. 31; ebenso Hagemann/Tobies, in: Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 2. Aufl., 2014, Rn. 4.39 f. 395 Zur Gleichheit der Ziele der Sitztheorien einerseits und des europäisch geprägten Aufsichtsrechts andererseits siehe auch Kindler, in: MüKoBGB Bd. 11, 2015, IntGesR Rn. 422. 396 Nicht im Wortlaut veröffentlicht, zitiert nach Schuster/Binder, WM 2004, 1665 (1668) m.w.N. 397 Vgl. näher zur Rolle des Basler Ausschusses bei der internationalen Regulierung von Bankinsolvenzen Haentjens, IILR 2014, 255 (255 ff.); Kampf, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 2009, E 26, Rn. 130. 398 Schuster/Binder, WM 2004, 1665 (1669). 399 Richtlinie 95/26/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. Juni 1995 zur Änderung der Richtlinien 77/780/EWG und 89/646/EWG betreffend Kreditinstitute, der Richtlinien 73/239/EWG und 92/49/EWG betreffend Schadenversicherungen, der Richtlinien 79/267/EWG und 92/96/EWG betreffend Lebensversicherungen, der Richtlinie 93/22/EWG betreffend Wertpapierfirmen sowie der Richtlinie 85/611/EWG betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) zwecks verstärkter Beaufsichtigung dieser Finanzunternehmen, ABl. L 168 vom 18.07.1995, S. 7–13, aufgehoben durch Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. März 2000 über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute, ABl. L 126 vom 26.05.2000, S. 1–59. 400 Vgl. den 7. Erwägungsgrund zur RL 95/26/EG. 401 Schuster/Binder, WM 2004, 1665 (1667 f.).
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
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BCCI-Folgenrichtlinie ist aber auch deshalb bemerkenswert, weil sie als einziger (!) der hier untersuchten Rechtsakte für alle in Betracht gezogenen Sprachen die gleiche Wortwahl aufweist wie die SE-VO. Die BCCI-Folgenrichtlinie wurde durch die konsolidierte BankrechtskoordinierungsRL 2000/12/EG 402 aufgehoben, die im Zuge der SLIM-Initiative (Simpler Legislation for the Internal Market) der Kommission das geltende Bankaufsichtsrecht vereinheitlichte.403 Diese enthielt das Sitzkopplungsmodell in Art. 6 Abs. 2. Dort finden sich noch überwiegend die gleichen Formulierungen wie in der SE-VO und der BCCI-Folgenrichtlinie (mit einer marginalen Abweichung im Schwedischen, das zwar eingangs von „centrala administration“ spricht, an anderer Stelle in Artikel 6 dann aber doch wieder den Terminus aus der SE-VO („huvudkontor“) verwendet). Allerdings zeigt ein Blick auf die Folgevorschriften, dass die terminologische Übereinstimmung schrittweise wieder verloren geht. In der sog. „Bankrechts-“ oder „Kodifizierungsrichtlinie“ 404 von 2006 war in der portugiesischen Fassung „administração central“ (der in der SE-VO, dem AEUV und dem früheren Aufsichtsrecht verwendete Terminus) durch „sede“ ersetzt. Die niederländische Fassung ersetzte – ohne ersichtlichen Grund – „hoofdbestuur“ durch „hoofdkantoor“ und verwendete den früher verwendeten Terminus „hoofdbestuur“ lediglich in Art. 142 RL 2006/48/EU (einer dem Art. 64 SE-VO vergleichbaren Regelung). Noch stärker ist die Abweichung in der (aktuell gültigen) Folgerichtlinie RL 2013/36/EU,405 in der auch die italienische Sprachfassung abweicht (statt „amministrazione centrale“ nunmehr „sede centrale“). Auch in anderen Aufsichtsbereichen finden sich inhaltlich ähnliche Vorschriften. Die Wertpapierdienstleistungsrichtlinie406 von 2004, die an die Stelle
402 Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. März 2000 über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute, ABl. L 126 vom 26.05.2000, S. 1–59. 403 Vgl. dazu Hirte/Heinrich, ZBB 2001, 388 (395). 404 Richtlinie 2006/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2006 über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute (Neufassung), ABl. L 177 vom 30.06.2006, S. 1–200; Ausdrucksweise nach Kümpel/Wittig, Bank- und Kapitalmarktrecht, 2011, Rn. 1.63. 405 Richtlinie 2013/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über den Zugang zur Tätigkeit von Kreditinstituten und die Beaufsichtigung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen, zur Änderung der Richtlinie 2002/87/EG und zur Aufhebung der Richtlinien 2006/48/EG und 2006/49/EG, ABl. L 176 vom 27.06.2013, S. 338–436. 406 Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Märkte für Finanzinstrumente, zur Änderung der Richtlinien 85/611/EWG und 93/6/EWG des Rates und der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 93/22/EWG des Rates, ABl. L 145 vom 30.04.2004, S. 1–44.
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
der früheren RL 93/22/EWG407 trat, bedient sich dabei auch weitgehend der Terminologie wie die drei Jahre jüngere SE-VO, lediglich im Niederländischen wird ein anderer Terminus verwendet („hoofdkantoor“ statt „hoofdbestuur“). Auch die Solvabilität-II-Richtlinie 408 von 2009 fordert in Art. 20 einen Gleichlauf von Hauptverwaltung und Sitz. Die Terminologie ist jedoch weitgehend inkohärent mit der etwa der SE-VO oder des AEUV. Bei den hier untersuchten Sprachen entsprachen lediglich die deutsche und die spanische Sprachfassung der der SE-VO. Andere verwendeten teilweise oder stets andere Termini oder waren inkonsequent bei der Verwendung von Termini. Als Beispiel sei die englische Sprachfassung herausgegriffen: In Art. 20 der Richtlinie wird der deutsche Terminus „Hauptverwaltung“ mit „head office“ wiedergegeben und ein Gleichlauf mit dem „registered office“ gefordert. Art. 258 der Richtlinie fordert Sanktionen für den Fall der Nichteinhaltung der Erfordernisse aus Art. 20, gibt dieses Erfordernis aber wie folgt wieder: Die Hauptverwaltung, nunmehr „central administration“, oder Hauptniederlassung, müsse dem Sitz, „head office“, entsprechen. Es werden also nicht nur für den Terminus „Hauptverwaltung“ in der deutschen Fassung zwei verschiedene englische Termini gebraucht („head office“ in Art. 20, „central administration“ in Art. 258), sondern ein und derselbe englische Terminus, „head office“, steht in Art. 20 für „Hauptverwaltung“, in Art. 258 für „Sitz“ (also den Satzungssitz). Eine Parallele ist auch zur Sanierungs- und LiquidationsRL409 von 2001 gezogen worden. Dort wird für die Definition von „Herkunftsstaat“ (der dann, praktisch bedeutsam, auch über Sanierung und Liquidation entscheidet) auf Regelwerke verwiesen, die ihrerseits einen Gleichlauf von Hauptverwaltung und Sitz fordern.410 Allerdings ist die Terminologie in dieser Richtlinie noch
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Richtlinie 93/22/EWG des Rates vom 10. Mai 1993 über Wertpapierdienstleistungen, ABl. L 141 vom 11.06.1993, S. 27–46. Zum Sitzkopplungsmodell in dieser Richtlinie vgl. Schuster/Binder, WM 2004, 1665 (1667). 408 Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II), ABl. L 335 vom 17.12.2009, S. 1–155. Die Solvabilität-IIRichtlinie ersetzte auch die bis dahin geltende Richtlinie zur Versicherungsaufsicht, Erste Richtlinie 73/239/EWG des Rates vom 24. Juli 1973 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung), ABl. L 228 vom 16.08.1973, S. 3– 19. Zum Sitzkopplungsmodell in dieser Richtlinie vgl. Schuster/Binder, WM 2004, 1665 (1667). 409 Richtlinie 2001/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. April 2001 über die Sanierung und Liquidation von Kreditinstituten, ABl. L 125 vom 05.05.2001, S. 15– 23. 410 Vgl. Schuster/Binder, WM 2004, 1665 (1667 f.). Damals wurde noch auf Art. 1 Nr. 6 der RL 2000/12/EG (Bankrechtsrichtlinie, s.o.) verwiesen, heute auf Art. 4 Abs. 1 Nr. 43 der Verordnung (EU) Nr. 575/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
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unklarer als sonst. Lediglich die englische und die schwedische Sprachfassung entsprechen der der SE-VO, im Deutschen ist gar nie von „Hauptverwaltung“ die Rede, sondern nur von „Zweigstelle“ oder aber „Sitz“, sodass mehr noch als bei anderen Rechtsakten hier die Zweifel überwiegen, ob damit überhaupt das gleiche Konzept gemeint ist. Die chronologische Entwicklung zeigt, dass von einer im Ausgangspunkt einheitlich verwendeten Terminologie zwischen SE-VO und europäischem Aufsichtsrecht wenig übrig geblieben ist. Trotz inhaltlicher Entsprechung im „Sitzkopplungsgebot“ lässt der europäische Gesetzgeber nicht erkennen, inwieweit hier eine einheitliche Auslegung von Termini erfolgen soll. Anders als in anderen Bereichen des europäischen Gesellschaftsrechts erscheinen daher die Normen des Aufsichtsrechts als nicht besonders geeignet, weitere Hinweise zur Präzisierung der SE-VO zu geben. 6. Insolvenzrecht Der Anknüfpungsgegenstand im Europäischen Insolvenzrecht, der „Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen“ des Schuldners (Art. 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 EuInsVO411), ist durch Rechtsprechung und zahlreiche Literatur präzisiert worden.412 Auch in der Literatur werden häufig Parallelen zwischen der Regelung der SE-VO oder den Sitztheorien einerseits und der EuInsVO andererseits gezogen.413 Allerdings ist fraglich, inwieweit diese hilfreich sind. Zum einen wird schon der Terminus „Hauptverwaltung“ im Insolvenzrecht nicht verwendet. Schwerer wiegt aber wohl, dass mit dem Internationalen Insolvenzrecht ein anderes Umfeld vorliegt, das auch eine andere Interpretation nach sich ziehen könnte. Etwa findet das Insolvenzrecht ebenso auf natürliche Personen Anwendung, sodass fraglich ist, ob dieses nähere Anhaltspunkte für die „Hauptverwaltung“ einer Gesellschaft liefern kann.414 Zudem wird für den Mittelpunkt 2013 über Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 646/2012, ABl. L 176 vom 27.06.2013, S. 1–337. 411 Verordnung (EU) Nr. 848/2015 des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren, ABl. Nr. L 141 vom 05.06.2015, S. 19–72. 412 Vgl. zu den Kriterien, um den Mittelpunkt zu bestimmen (auch „centre of main interest“, „COMI“), m.w.N. Kohlmann/Keller, in: Gottwald, Insolvenzrechts-Handbuch, 2015, § 131 Rn. 31 ff. 413 Cozian/Viandier/Deboissy, Droit des sociétés, 2017, Rn. 313: „le règlement relatif à la société européenne dispose que le siège de la société doit être fixé, au centre de ces intérêts principaux‘“, richtig dann Rn. 1820; weitere Nachweise auch bei Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 202, Fn. 40; Parallelen zu den Sitztheorien sehen Kindler, in: MüKoBGB Bd. 11, 2015, IntGesR Rn. 422: „Insolvenzeröffnungszuständigkeit am hauptsächlichen Interessenmittelpunkt der Schuldnergesellschaft […] damit ist nichts anderes als der effektive Verwaltungssitz gemeint“; Kindler, IPRax 2009, 189 (196); Servatius, DB 2015, 1087 (1087) („eine gleichsam insolvenzrechtliche Sitztheorie“). 414 Ähnlich Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 202.
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
der hauptsächlichen Interessen nach der Verordnung sogar grundsätzlich „bis zum Beweis des Gegenteils“ auf den „satzungsmäßigen Sitz“ abgestellt (Art. 3 Abs. 1 EuInsVO). Auch wenn der EuGH in Urteilen den Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen an der „Hauptverwaltung“ bejaht hat, 415 geschah dies stets unter dem Blickwinkel der Vermutungsregelung des Art. 3 Abs. 1 EuInsVO: Es ging nicht darum, eine vom Satzungssitz unabhängige Hauptverwaltung zu bejahen, sondern um eine Gesamtbeurteilung der Indizien, um zu entscheiden, ob die Vermutung widerlegt war. Da die SE-VO eine derartige Vermutung nicht enthält, 416 sind die Präzisierungen durch die EuGH-Rechtsprechung wenig ergiebig. 7. Übereinkommen über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften und juristischen Personen (Entwurf 1968) „Hauptverwaltung“ spielt auch eine Rolle im Entwurf zum Übereinkommen über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften und juristischen Personen.417 Der Entwurf wurde wegen seiner fehlenden Definition418 kritisiert, sowie deswegen, weil er Sinn und Funktion der „Anerkennung“ (insbesondere deren Verhältnis zum Kollisionsrecht) nicht hinreichend deutlich klärte.419 Zudem war die Anknüpfung nicht klar geregelt: Hielt man sich an den Wortlaut, konnte dies zu einer Doppelanknüpfung in einer Reihe von Fällen führen.420 Demgegenüber versuchte etwa Sandrock, das Abkommen im Sinn seiner „Überlagerungstheorie“ so auszulegen, dass eine Statutenhäufung vermieden wurde,421 musste jedoch selbst eingestehen, dass das Abkommen (jedenfalls aus Sicht seiner Auslegung) „mehr als unglücklich formuliert“ war.422 Für die hier versuchte systematische Auslegung ist der genannte Staatsvertrag daher aus drei Gründen nicht weiterführend: Einerseits ist er ohnehin nicht in Kraft getreten, zweitens fehlt auch dort eine nähere Umschreibung von 415 Etwa EuGH, Rs. 396/09, Urt. vom 20.10.2011, Slg. I-2011, 9939 („Interedil“), Rn. 48 und Leitsatz 3; EuGH, Rs. C-191/09, Urt. vom 15.12.2012, Slg. I-2011, I-13211 („Rastelli“), Rn. 32 ff. (Rn. 36: „Gesamtbetrachtung“). 416 De lege ferenda wird eine solche Vermutung in Anlehnung an das Europäische Insolvenzrecht befürwortet, vgl. D. Zimmer, RabelsZ 67 (2003), 298 (312). 417 Übereinkommen über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften und juristischen Personen, unterzeichnet am 29. Februar 1968, Sonderbeilage zum Bulletin Nr. 2-1969 der Europäischen Gemeinschaften, BGBl. II, S. 369 ff. vom 25.05.1972; siehe dazu bereits oben 2. Kap., B III 4, S. 178. 418 Panthen, Sitzbegriff, 1988, S. 82. 419 Drobnig, ZHR 129 (1967), 93 (104 ff.), für den sich deshalb die „Bedürfnisfrage“ stellte (S. 99). 420 Kritisch deswegen Beitzke, AWD 1968, 91 (94); Drobnig, AG 1973, 90 (97). 421 Sandrock, Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 18 (1978), 169 (204– 213). 422 Sandrock, Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 18 (1978), 169 (212).
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
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„Hauptverwaltung“, drittens erschwert die unklar formulierte Anknüpfung weiterhin die Auslegung und das Verständnis der Norm. 8. Dreizehnte Richtlinie Als wenig hilfreich erweist sich auch die Dreizehnte Richtlinie (Übernahmerichtlinie).423 Dort war die Problematik ebenfalls bekannt, und obwohl dort für das maßgebliche Aufsichtsrechts auf den „Sitz“ der Gesellschaft abgestellt wird (vgl. Art. 4 Abs. 2 lit. e Dreizehnte Richtlinie), wurde – gerade wegen der zwischen den Mitgliedstaaten bestehenden Unterschiede – auf eine Definition verzichtet, sodass noch nicht einmal klar ist, ob damit nun ein Gründungs- oder ein Verwaltungssitz gemeint ist.424 9. Vierzehnte Richtlinie (Entwurf) Auch die zwischenzeitlich erwogene Vierzehnte Richtlinie zur Sitzverlegung 425 enthielt sich einer Definition für „Hauptverwaltung“. Die Richtlinie wollte die Verlegung des Satzungssitzes unter Wechsel des Gesellschaftsstatuts ermöglichen, wobei jedoch Sitztheoriestaaten die Eintragung ablehnen können sollten, wenn sich die „Hauptverwaltung“ der Gesellschaft nicht in ihrem Gebiet befand (bzw. befinden sollte), Art. 3, 10, 11 Abs. 2 Entwurf Vierzehnte Richtlinie. Die Sitztheorien sollten sich nach der Absicht des Verordnungsgebers in der Formulierung wiederfinden, „tatsächlicher Sitz“ sei zu verstehen als der „Ort, an dem die Gesellschaft ihre Hauptverwaltung hat und an dem sie eingetragen ist“ (Art. 2 lit. b Entwurf Vierzehnte Richtlinie).426 Das Fehlen einer Definition wurde bedauert, vielfach wurde auch in der Literatur und in einer Folgenabschätzung der Wirtschaftsprüfergesellschaft KPMG darauf hingewiesen, dass in den Mitgliedstaaten der real seat nach verschiedenen Kriterien bestimmt würde.427
423 Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 betreffend Übernahmeangebote, ABl. L 142 vom 30.04.2004, S. 12–23. 424 Seibt/Heiser, ZIP 2002, 2193 (2194, Fn. 13); ebenso m.w.N. Steinmeyer, in: FS Immenga 2004, 743 (754 f.); zur Unsicherheit („Formelkompromiss“) auch D. Zimmer, ZGR 2002, 731 (741), der davon ausgeht, auch Juristen des UK könnten dies im Sinn des Verwaltungssitzes verstehen, obwohl die englische Sprachfassung „registered office“ lautet. 425 Richtlinienvorentwurf zur Verlegung des Gesellschaftssitzes innerhalb der EU, abgedruckt in ZIP 1997, 1721 ff. 426 Kritisch zum Fehlen einer Definition auch Rohde, Europäische Integration und Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften von und nach Deutschland, 2002, S. 279, dort auch zu (potenziellen) Abweichungen zwischen den „Sitz“-Konzepten der Mitgliedstaaten. 427 Europäische Kommission, Impact assessment on the Directive on the cross-border transfer of registered office, SEC(2007) 1707, abrufbar unter , zuletzt abgerufen
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
Der Entwurf liest sich damit als ein weiteres Beispiel dafür, dass auf europäischer Ebene versucht wurde, die Divergenzen zwischen den Internationalen Gesellschaftsrechten der Mitgliedstaaten zu umgehen. Konkrete Anhaltspunkte für „Hauptverwaltung“ sind dem Entwurf jedoch nicht zu entnehmen. 10. Zwischenergebnis für die systematische Auslegung Im hier untersuchten Fall ist es für die systematische Stellung vor allem hilfreich, den Rechtsakt als Ganzes (die SE-VO) in Betracht zu nehmen. Der Blick auf sonstiges EU-Recht ist begrenzt ertragreich. Zum einen liegt dies daran, dass die Rechtsakte sich mit Definitionen zurückhalten. Oft wird dabei die Problematik der verschiedenen Anknüpfungskriterien erkannt, diese aber bewusst nicht gelöst, insbesondere in der Dreizehnten Richtlinie, im Anerkennungsübereinkommen und im Entwurf einer Vierzehnten Richtlinie. Auch im Primärrecht bzw. in der Rechtsprechung des EuGH hierzu fehlt eine Definition; die durch den EuGH getroffenen Präzisierungen zur Niederlassungsfreiheit (über die Anerkennung (schein-)ausländischer Gesellschaften) sind für die Auslegung des Kriteriums der „Hauptverwaltung“ in der SE-VO ebenfalls nicht hilfreich, da dieses hier gerade eine andere Funktion erfüllt als die des Anknüpfungskriteriums. Bei anderen Werken sind die Abweichungen in der Terminologie so groß, dass unklar ist, ob überhaupt noch vom gleichen Konzept die Rede sein soll.428 Dies gilt insbesondere für die aufsichtsrechtlichen Regelungen zur Sitzkopplung (mit Ausnahme der BCCI-Folgenrichtlinie); hier ist man weit vom Idealzustand entfernt, dass ein Konzept stets mit demselben Terminus wiedergegeben wird. Für die systematische Auslegung ist daher lediglich der Blick auf den Rest der SE-VO weiterführend. Der Gegenüberstellung mit dem (Satzungs-)„Sitz“ in Art. 7 SE-VO ist demnach zu entnehmen, dass „Hauptverwaltung“ an tatsächlichen Kriterien orientiert ist, und den Rechtsfolgen in Art. 64 SE-VO, dass jedenfalls eine autonome Auslegung notwendig ist. Weitere Aufschlüsse sind aus einer systematischen Auslegung kaum zu ziehen.
am 21.10.2017, S. 42; ebenso Rohde, Europäische Integration und Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften von und nach Deutschland, 2002, S. 279; Drury, E.L. Rev. 24 (1999), 354 (362). 428 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Albers, Die Begriffe der Niederlassung und Hauptniederlassung, 2010, S. 334, 349 ff., die eine Reihe von Rechtakten auf die Konzepte „Haupt- und Zweigniederlassung“ hin untersucht und schließt, die Konzepte unterschieden sich je nach konkreter Verwendung im jeweiligen Rechtsakt; ebenso Ansay, in: FS Martiny 2014, 1007 (1018): „Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der Niederlassungsbegriff heute mit einer gewissen Beliebigkeit verwendet wird und es keinen einheitlichen Rechtsbegriff der Niederlassung gibt“.
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
283
IV. Teleologische Auslegung Als zentrale Auslegungsmethode verbleibt die Teleologie. Es ist daher zu untersuchen, welche Ziele mit den Vorschriften über die Sitzkopplung (Art. 7, 64 SE-VO), in denen das Kriterium der „Hauptverwaltung“ eine Rolle spielt, verfolgt werden. Dabei sollte es nicht überbewertet werden, dass der europäische Gesetzgeber selbst in Art. 69 lit. a SE-VO die Überprüfung der Sitzkopplung angeordnet und damit auch die damit verfolgten Ziele auf den Prüfstand gestellt hat.429 Zum einen hat die nach fünf Jahren erfolgte Überprüfung keine Änderung der SE-VO bewirkt. Zum anderen ist bis zur Änderung die Sitzkopplung geltendes Recht. Dass sie unter dem Vorbehalt späterer Revision durch den Gesetzgeber steht, unterscheidet sie nicht von anderem EU-Recht. Die vom Gesetzgeber an die Kommission gerichtete Aufforderung, die Zweckmäßigkeit zu überprüfen, ändert nicht den normativen Gehalt der dort in Bezug genommenen Vorschriften. Damit ist aber noch nicht geklärt, welche Ziele der Gesetzgeber mit der Sitzkopplung verfolgt. Erwägungsgrund 27 SE-VO lässt sich (ebenso wie den Materialien zu den Pendants der Vorschrift in den Vorentwürfen 1989/1991, s.o. 3. Kap., D II, S. 259 f.) entnehmen, dass mit den Normen die Sitztheorien in Bezug genommen werden sollten. Allerdings ist umstritten, ob die SE-VO tatsächlich so neutral ist, wie Erwägungsgrund 27 SE-VO suggeriert. In der Literatur wird auch vertreten, die SEVO folge einer Sitz- 430 bzw. Gründungstheorie. 431 Konkret ist damit die
429 Gem. Art. 69 lit. a SE-VO war fünf Jahre nach Inkrafttreten der SE-VO die Kommission u.a. angehalten zu prüfen, ob es zweckmäßig sei, „zuzulassen, dass sich die Hauptverwaltung und der Sitz der SE in verschiedenen Mitgliedstaaten befinden“. Bei ihrer Überprüfung im Jahr 2010 entschied die Kommission allerdings, zunächst keine Änderungen vorzunehmen (bereits zögerlich KOM(2010) 676 endgültig, Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), SEK(2010) 1391; keine Änderung schließlich in Aussicht gestellt im COM(2012) 740 final, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Aktionsplan: Europäisches Gesellschaftsrecht und Corporate Governance – ein moderner Rechtsrahmen für engagiertere Aktionäre und besser überlebensfähige Unternehmen). 430 Neben den im Folgenden zitierten Autoren: Ulmer, NJW 2004, 1201 (1210); A. Schulz/Geismar, DStR 2001, 1078 (1079); Lombardo/Pasotti, ECFR 1 (2004), 169 (181); Menjucq, Recueil Dalloz 2003, 2874 (2874); für weitere Nachweise bis 2005 s.a. Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 38; zum SE-VOV 1991 Großfeld, in: Staudinger, 13./14. Bearbeitung IntGesR, 1998, Rn. 128. 431 Vgl. die Nachweise unten 3. Kap., D IV, S. 284, Fn. 436. Wieder anders z.B. C. Schäfer, NZG 2004, 785 (787): „keine Entscheidung zu Gunsten einer bestimmten Kollisionsnorm“.
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
Anknüpfung in Art. 9 SE-VO gemeint, die – wie oben432 erläutert – eine doppelte Funktion einnimmt und einerseits die Anwendbarkeit der SE-VO bestimmt, insbesondere aber innerhalb der Regelungsbereichs der SE-VO eine IPR-ähnliche Funktion einnimmt, indem sie auf das Recht eines bestimmten Mitgliedstaates verweist. Wer für die SE-VO von einer Sitztheorie ausgeht, stützt sich insbesondere auf das Argument, dass sich Verwaltungssitz und Satzungssitz stets im Geltungsbereich der gleichen Rechtsordnung befinden müssten: Dies sei auch das Anliegen der Sitztheorien und gerade nicht der Gründungstheorien.433 Bei dieser Anforderung handelt es sich allerdings nicht um eine zwingende Folge der Anknüpfung an den Verwaltungssitz, sondern um eine gewohnheitsrechtlich verfestigte materiell-rechtliche Anforderung, die namentlich in Deutschland (anders aber z.B. in Frankreich434) die (jeweilige) Sitztheorie komplettiert.435 Andere argumentieren, die SE knüpfe an den „Sitz“ im Sinn von Satzungssitz an und gerade nicht an den Verwaltungssitz (der „Hauptverwaltung“ im Sinn der SE-VO).436 Davon hänge gem. Art. 9 SE-VO das anwendbare Recht ab, und im Fall eines Auseinanderfallens von Sitz und Hauptverwaltung sei es gem. Art. 64 SE-VO der Mitgliedstaat des Sitzes, der für rechtmäßige Zustände zu sorgen habe, während der Belegenheitsort der Hauptverwaltung – wie bei den Gründungstheorien auch – insofern nicht ausschlaggebend sei. Keines der genannten Argumente ist falsch. Die Fronten klären sich etwas, wenn man sich bewusst macht, dass Sitz- und Gründungstheorien jeweils Antworten auf drei Fragen liefern (s.o. 3. Kap., B II, B V, S. 210 und S. 215 f.). 1. Anknüpfungskriterium der SE-VO Was das Anknüpfungskriterium angeht, ist den Vertretern der Ansicht, die SEVO vertrete eine Gründungstheorie, zuzugeben, dass tatsächlich die Hauptverwaltung für die Anknüpfung keine unmittelbare Rolle spielt. Würde etwa (z.B. im Zuge einer Revision nach Art. 69 lit. a SE-VO) das Erfordernis aufgegeben, dass sich Sitz und Hauptverwaltung im gleichen Mitgliedstaat befinden müss-
432
Im 1. Kap., D I, S. 81. Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, S. 1063; Wooldrige, Comp.Law. 2004, 121 (121); Veil, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 7 Rn. 5. Entsprechend schwer fiel das Zugeständnis dieser Norm den traditionellen Gründungstheorie-Staaten Vereinigtes Königreich, Irland und den Niederlanden, Blanquet, ZGR 2002, 20 (42). 434 Zumindest nach einer Ansicht in der Literatur: vgl. die Nachweise bei Drury, E.L. Rev. 24 (1999), 354 (358 f.). 435 Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 42 und 26 f. 436 Engert, ZVglRWiss 104 (2005), 444 (455 f.); so wohl auch (zu den Vorentwürfen) Kreuzer, in: Müller-Graff (1999), 457 (475); Hauschka, AG 1990, 85 (97); W.-H. Roth, RabelsZ 55 (1991), 623 (629); zweifelnd ferner Hirte, NZG 2002, 1 (4); Hirte, DStR 2005, 653 (656); Leupold, Europäische Aktiengesellschaft, 1993, S. 30 f. 433
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
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ten, ließe sich die SE-VO ohne eine Änderung der Anknüpfung auch ohne Erwähnung von „Hauptverwaltung“ formulieren. Dies zeigt sich beim Auseinanderfallen entgegen Art. 7 SE-VO im Verfahren nach Art. 64 SE-VO sowie bei Anknüpfungen z.B. in Art. 9 SE-VO.437 In diesen Fällen wird dann auch die in Erwägungsgrund 27 beschworene Neutralität aufgegeben: Es ist nicht denkbar, dass die Staaten der Sitztheorien hier an die Hauptverwaltung anknüpfen und die SE entsprechend behandeln. Vielmehr ist davon auszugehen, dass das in Art. 9 SE-VO an den Sitz anknüpfende Rechtsquellenregime seinen eigenen Anwendungsbereich nicht nur auf Ebene des Sachrechts, sondern auch des Internationalen Privatrechts bestimmt und für diesen nationalen Rechten unter Einschluss des Internationalen Privatrechts der Mitgliedstaaten vorgeht. 438 Dies bedeutet dann, dass für den Anwendungsbereich 439 der SE-VO dann Art. 9 SE-VO auch als Kollisionsnorm fungiert und dabei an den in Art. 7 SEVO erwähnten (Satzungs-)Sitz anknüpft.440 Bei näherer Betrachtung entspricht diese Anknüpfung andererseits auch nicht vollständig der Gründungstheorie in ihrer etwa englischen Ausprägung, die an den Gründungsort anknüpft, der – im Gegensatz zum Satzungssitz – gerade nicht veränderlich ist. Es bietet sich daher an, von einer „Satzungssitzanknüpfung“ als drittem Weg – neben Sitz- und Gründungstheorien – zu sprechen.441
437 Art. 7 SE-VO ist insofern lediglich eine unvollständige Kollisionsnorm, die von den eigentlichen Kollisionsnormen – insbesondere Art. 9 Abs. 1 lit. c (ii) SE-VO – in Bezug genommen wird und das Anknüpfungskriterium für diese liefert, vgl. Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 37. 438 Ausführlich zu Fragen des internationalen Privatrechts und des Anwendungsbereichs der SE-VO, namentlich des Art. 9 Engert, ZVglRWiss 104 (2005), 444 (444 ff.). 439 Aus der umfangreichen Literatur, ob Art. 9 SE-VO einen solchen Anwendungsbereich hat (was mit der h.M. zu bejahen ist), vgl. neben den üblichen Kommentaren zu Art. 9 SEVO nur Brandt/Scheifele, DStR 2003, 547; Lächler/Oplustil, NZG 2005, 381; Engert, ZVglRWiss 104 (2005), 444 (444 ff.); J. Wagner, NZG 2002, 985; mit Bezug zum Europäischen Verein bereits J. Wagner, Der Europäische Verein, 2000; zum Vorentwurf von 1989 Grote, Das neue Statut der Europäischen Aktiengesellschaft zwischen europäischem und nationalem Recht, 1990, S. 101 ff., 113 ff. Zur Bestimmung des Anwendungsbereichs – als Faustregel kann die Formel „alles, was Gesellschaftsrecht ist“, dienen, was freilich gerade in den Randbereichen, namentlich im Konzerrecht, einiger Präzisierung bedarf – siehe Lächler, Konzernrecht der SE, 2007, S. 86 ff.; Jaecks/Schönborn, RIW 2003, 254 (254 ff.); Veil, WM 2003, 2169 (2169); Ebert, BB 2003, 1854 (1854 ff.); Brandi, NZG 2003, 889 (889 ff.); Habersack, ZGR 2003, 724 (742 ff.); Casper, in: FS Ulmer 2003, 51 (65 f.); zu weiteren problematischen Bereichen insbesondere Kuhn, in: Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 2. Aufl., 2014, Rn. 4.36 ff.; Schürnbrand, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 9 SE-VO Rn. 25 ff. 440 Engert, ZVglRWiss 104 (2005), 444 (454). 441 W.-H. Roth, RabelsZ 55 (1991), 623 (629) (zur EWIV-VO); Engert, ZVglRWiss 104 (2005), 444 (455 f.); Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 43.
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
2. Antwort der SE-VO auf die anderen von Sitz- und Gründungstheorien aufgeworfenen Fragen Die Frage, ob eine identitätswahrende Sitzverlegung von einem Mitgliedstaat zu einem anderen möglich ist, wird in Art. 8 SE-VO, der eine solche Sitzverlegung regelt, mit einem klaren „ja“ beantwortet. Diese Antwort lässt keinen Rückschluss auf eine Nähe zu entweder Sitz- oder Gründungstheorien zu, da die genannte Frage zwar – wie oben dargestellt – ebenfalls unter dem Stichwort „Sitz- bzw. Gründungstheorien“ behandelt wird, vom Anknüpfungskriterium aber unabhängig ist. Sitz- und Gründungstheoriestaaten wie Deutschland und England haben eine solche bis in die jüngere Vergangenheit gleichermaßen abgelehnt. Die (neben Anknüpfungskriterium und der Möglichkeit einer identitätswahrenden Sitzverlegung) dritte Frage, auf die eine Sitz- bzw. Gründungstheorie eine Antwort gibt,442 nämlich die, ob eine isolierte Verlegung der Hauptverwaltung aus der Heimatrechtsordnung hinaus möglich ist, verneint Art. 7 SEVO im Sinne der Sitztheorien. Doch bei dieser Vorschrift zur „Sitzkopplung“ handelt es sich um eine materiellrechtliche Regelung, die das Kollisionsrecht nur flankierend ergänzt. 443 In der Literatur wird teilweise die Primärrechtskonformität des Sitzkopplungsmodells verneint.444 Ob dem so ist, mag hier dahinstehen;445 allenfalls könnte dies ein Anlass sein, zumindest eine vorsichtigere Auslegung von „Hauptverwaltung“ zu bevorzugen. Jedenfalls zeigt die Diskussion de lege ferenda um die (isolierte) Abschaffung gerade der Sitzkopplung 446 sowie auch die Bereitschaft der SE-VO selbst, diese Regelung
442 Vgl. oben 3. Kap., B II, B V, S. 210 und S. 215, zu den Fragen, auf die eine Sitz- bzw. Gründungstheorie eine Antwort liefert. 443 Engert, ZVglRWiss 104 (2005), 444 (456); Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 43. 444 de Diego, EWS 2005, 446 (453 f.); Ziemons, ZIP 2003, 1913 (1918); Garcia Riestra, EBLR 15 (2004), 6, 1295 (1318); Wymeersch, CMLR 40 (2003), 661 (693); Drinhausen/Nohlen, European Company Law 6 (2009), 1, 14 (17 ff.); so tendenziell auch Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 49 ff., 74 ff., 99 f. 445 Mit guten Gründen (insbesondere nach dem Urteil „Cartesio“ des EuGH, Rs. C-210/06, Urt. vom 16.12.2008, Slg. I-2008, 9641) gegen eine Primärrechtswidrigkeit: Teichmann, German Law Journal 4 (2003), 309 (315); C. Schäfer, NZG 2004, 785 (788); Horn, DB 2005, 147 (153); J. Schmidt, Comp.Law. 2006, 99 (102); Bachmann, ZEuP 2008, 32 (52); Casper, ZHR 173 (2009), 181 (208); H. Zimmer, EWS 2010, 222 (226 f.); Diekmann, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 7 SE-VO Rn. 22; Hagemann/Tobies, in: Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 2. Aufl., 2014, Rn. 4.44; W. Bayer, in: Bergmann u.a. (2015), 230 (236); wohlwollend auch Ulmer, NJW 2004, 1201 (1210); trotz eines „paradoxen“ Ergebnisses ebenso Menjucq, Recueil Dalloz 2003, 2874 (2876). 446 De lege ferenda eine Abschaffung befürwortend: neben den eben in Fn. 444 Genannten etwa Casper, ZHR 173 (2009), 181 (209 f.); H. Zimmer, EWS 2010, 222 (228); W. Bayer, in: Bergmann u.a. (2015), 230 (235); Bachmann, ZEuP 2008, 32 (52 f.); vgl. zudem zahlrei-
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
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wieder in Frage zu stellen,447 dass die materielle Regelung kein notwendiger Bestandteil des kollisionsrechtlichen Regimes ist. 3. Sinn der Sitzkopplung: Aufsichtsrecht? Es geht also um den Sinn dieser die kollisionsrechtliche Anknüpfung begleitenden materiell-rechtlichen Regelung. Die Erwägungsgründe und Gesetzesbegründungen nennen diesen nicht ausdrücklich. Anzudenken ist, ob bei der SE-VO ähnliche Erwägungen eine Rolle gespielt haben könnten wie im Bankaufsichtsrecht. Terminologische Vergleiche zeigen, dass die größte Nähe der SE-VO zu Vorschriften der Bankenaufsicht besteht, namentlich der BCCI-Folgenrichtlinie, die auch zu einem ähnlichen Zeitraum entstanden ist wie die aktuelle SE-VO (s.o. 3. Kap., D III 5, S. 276). Entsprechend könnte die Sitzkopplung dazu dienen, Wirtschaftsstraftaten wie Steuerund Bilanzbetrug, Untreue, Geldwäsche und Insolvenzstraftaten durch eine auch geographisch nähere Aufsicht zu unterbinden.448 Dagegen spricht jedoch, dass die Niederlassungsfreiheit das Ausnutzen verschiedener Rechtsordnungen gerade erlaubt;449 die besonderen Gründe, die im Aufsichtsrecht eine Einschränkung der Niederlassungsfreiheit erlauben und sich aus der Gefährlichkeit der beaufsichtigten Tätigkeiten ergeben, tragen jedenfalls nicht pauschal bei allen SE, unabhängig von deren Tätigwerden in einem Sektor, der der Aufsicht unterliegt. Auch die terminologischen Ähnlichkeiten haben sich in späteren aufsichtsrechtlichen Vorschriften wieder verflüchtigt; die Hintergründe dieses Wandels waren auch durch eine Anfrage bei der Europäischen Kommission nicht zu klären. Zudem ist der aufsichtsrechtliche Aspekt nicht in den Erwägungsgründen oder der Begründung erwähnt. Auch die Gesetzgebungsgeschichte zeigt, dass die Sitzkopplung weiter zurückreicht als die BCCI-Folgenrichtlinie (bis zum SE-VOV 1989) und in Zusammenhang mit der damals verstärkt nötig gewordenen Anknüpfung an Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten steht. Eine aufsichtsrechtliche Zielsetzung der Sitzkopplung ist nicht anzunehmen. 4. Sinn der Sitzkopplung: Gleichlauf? Ein Teil der Literatur sieht den Sinn der Sitzkopplung darin, dass durch den „erzwungenen Gleichlauf“ von Satzungs- und Verwaltungssitz die Sitz- und
che Forderungen aus der Praxis, z.B. Aila, in: Lenoir (2007), 219 (219) (Elcoteq SE); Gardella, in: Lenoir (2007), 237 (242) (Société générale); de Cyrières, in: Lenoir (2007), 249 (249 f.) (Total). 447 Vgl. Art. 69 lit. a SE-VO, siehe dazu bereits oben 3. Kap., D IV, S. 283 (Fn. 429). 448 Blanquet, Rev. sociétés 2000, 115 (121); Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 82, Fn. 180 mit weiterem Nachweis (nicht mehr abrufbare Homepage). 449 So aber Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 82.
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
Gründungstheorien stets (sieht man von einem unvermeidlichen, vorübergehenden und daher für die nähere Bestimmung unbeachtlichen Auseinanderfallen in Fällen der Sitzverlegung einmal ab450) zum gleichen Ergebnis kommen sollen.451 Dies entspricht auch der Begründung zum SE-VOV 1989 (der erstmals eine Sitzkopplung enthielt), derzufolge das Kriterium des „tatsächlichen Sitzes“ u.a. deswegen wichtig sei, weil es für die Anknüpfung an das Recht eines Mitgliedstaates verwendet werden könne.452 Teilweise wird auch Erwägungsgrund 27 SE-VO in diesem Sinn gedeutet.453 Allerdings wird, wie eben dargelegt, „Hauptverwaltung“ gerade nicht als Anknüpfungskriterium verwendet. Ohnehin unterliegt die SE-VO nicht dem IPR der Mitgliedstaaten (sondern bestimmt das anwendbare Recht innerhalb ihres Regelungsbereiches selbst, s.o. 1. Kap., D I, S. 82). Zudem ist nach den in der Rechtsvergleichung aufgezeigten Unterschieden fraglich, wie „Hauptverwaltung“ sämtlichen Sitztheorien der Mitgliedstaaten würde gerecht werden wollen. Es soll hier noch einmal an das oben454 genannte Beispiel der Mailänder Vorstandsvilla, des Frankfurter Büros und der Adresse bei einem Pariser domiciliataire erinnert werden. Eine einheitliche Auslegung von „Hauptverwaltung“ könnte nicht dazu führen, dass der Gleichlauf zwischen allen Sitztheorien hergestellt würde. Wenn die Gesellschaft auch noch in London gegründet (und erst später z.B. nach Frankreich umgezogen) war, würden sogar auch manche Gründungstheorien, hier die englische, zu einem wieder anderen Ergebnis gelangen. Eine uneinheitliche Auslegung würde dagegen u.a. beim Verfahren nach Art. 64 SE-VO zu Problemen führen.455 Sofern der Gesetzgeber tatsächlich beabsichtigt haben sollte, allen Sitztheorien gerecht zu werden, wäre zu konstatieren, dass dies auch beim bestem Willen nicht möglich ist. Außerdem würde die Regelung dann nur dazu dienen, Augenwischerei zugunsten eines falschen Ehrgeizes der Nationalstaaten zu betreiben. Was hätte ein Sitztheoriestaat davon, wenn seine Vorstellung sich zwar auf der europäischen Ebene nicht durchgesetzt hätte, er aber heimlich für sich in der Mehrzahl der Fälle so tun könnte, als sei das doch der Fall?! Dies könnte allenfalls dann als Vorteil angesehen werden, wenn die Sitztheorien Selbstzweck wären und es darum ginge, der europäischen Regelung möglichst den eigenen Stempel aufzudrücken, egal welchen Inhalts.
450 Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, S. 1063; Teichmann, ZGR 2002, 383 (397, Fn. 80). 451 Schwarz, ZIP 2001, 1847 (1849); Teichmann, ZGR 2002, 383 (397); Schwarz, SEKommentar, 2006, Art. 7 SE-VO Rn. 5; wohl auch Brandt, NZG 2002, 991 (994). 452 BT-Drs. 11/5427, S. 5 (s.a. bereits oben 3. Kap., D II, S. 259 f.). 453 Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 82 (Fn. 184). 454 3. Kap., D I 5 g, S. 258. 455 S. oben 3. Kap., D III 1, S. 261 f.
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
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5. Sinn der Sitzkopplung: Ziele der Sitztheorien M.E. ist der andere Grund, der in der Begründung zum SE-VOV 1989 angegeben wurde, entscheidender: dass der „tatsächliche Sitz“ deswegen wichtig ist, weil er in der Mehrzahl der Mitgliedstaaten verwendet wird.456 Diese Verwendung als Anknüpfungskriterium ist ja aber gerade nicht Selbstzweck, sondern damit werden Ziele verfolgt. Die Regelung in der SE-VO lässt sich als Referenz nicht gegenüber den Kriterien der Sitztheorien, sondern gegenüber deren Zielen lesen. Auch wenn die Sitztheorien bei näherer Betrachtung verschiedene Kriterien verwenden, stimmen sie in ihren Zielen weitgehend überein. Diese werden auch durch die materielle Begleitregelung respektiert (während dies bei den Anknüpfungskriterien nicht der Fall ist; diese spielen in der SE-VO keine Rolle). Dabei ist zu beachten, dass auch die SE-VO als höherrangige Norm von den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten beeinflusst werden kann.457 Eine autonome Auslegung von europäischem Recht bedeutet gerade keine isolierte Auslegung, die Einflüssen aus den Mitgliedstaaten gegenüber unempfänglich wäre. 458 Auch ist die Lesart, Erwägungsgrund 27 SE-VO für den „Gleichlauf“ in Anspruch zu nehmen, nicht zwingend. Erwägungsgrund 27 SE-VO bestimmt, dass die gewählte Regelung „die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten unberührt“ lasse. Unbefangen lässt sich diese Vorschrift so verstehen, dass damit keine über die SE-VO hinausgehende Aussage getroffen werden sollte. Wenn für die SE-VO die Satzungssitzanknüpfung gewählt wird, bedeutet das nicht die EU-Rechtswidrigkeit der Sitztheorien. Auch darin drückt sich ein Respekt gegenüber den Regelungen der Mitgliedstaaten und den damit verfolgten Zielen aus, der aber nicht in einer Übernahme der konkreten Regelungen selbst resultieren muss. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die SE-VO um Neutralität zwischen Gründungs- und Sitztheorien bemüht ist. Zwar positioniert sie sich bei der Frage des Anknüpfungskriteriums eindeutig näher bei den Gründungstheorien. Dennoch wird auch das materielle Anliegen der Sitztheorien durch eine materiellrechtliche Begleitregelung respektiert. Ob damit das Beste aus beiden Welten auf „elegante“ und „vorbildliche“ Weise kombiniert wurde,459 mag hier offen bleiben. Für die Auslegung ist beachtlich, dass die Ziele der Sitztheorien 456
BT-Drs. 11/5427, S. 5. Anders jedoch Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 82 zum Einfluss von Sitz- und Gründungstheorien auf die SE-VO. 458 S.o. 1. Kap., A IV, S. 35. 459 Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 82 f. m.w.N.; positiv auch Grote, Das neue Statut der Europäischen Aktiengesellschaft zwischen europäischem und nationalem Recht, 1990, S. 156 ff. Es ließe sich auch von „positiver, überformender Neutralität“ wie im Staatskirchenrecht sprechen (vgl. BVerfG, 2 BvR 1436/02, Urt. vom 24.09.2003, BVerfGE 108, 282, 300). Zur Kritik am Gesetzgeber wegen des Fehlens einer Definition s.u. 3. Kap., F II, S. 303 f. 457
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
jedenfalls für die Auslegung des Hauptverwaltungskriteriums zu berücksichtigen sind. Damit geht es um das Anliegen, dass nicht das Gesellschaftsrecht eines Staates umgangen werden soll, indem das Recht eines fremden Staates gewählt wird, zu dem ein Unternehmen oder eine Gesellschaft keinen tatsächlichen Bezug hat. In jedem Fall hat die Regelung den Sinn, sogenannte Briefkastenfirmen zu verhindern.460 Dafür ist aber nicht erforderlich, dass die Gesellschaft ihren Betriebsmittelpunkt in dem Staat hat. Nicht nur nennt die SE-VO „Verwaltung“ stets mit Bezug auf die Geschäftsleitung, nicht auf die Betriebsstätten.461 Auch geht keine der mitgliedstaatlichen Sitztheorien so weit.462 „Verwaltung“ bezieht sich vielmehr auf die Leitung der Gesellschaft. Der Rechtsvergleich hat die Frage aufgeworfen, ob dabei die oberste Spitze des Unternehmens (die aus wenigen, möglicherweise zwei oder drei Personen, bestehen kann), die die Willensimpulse aussendet, oder der Ort maßgeblich ist, an dem die Willensimpulse in laufende Geschäftsleitungsakte umgesetzt werden. Für die Ziele der Sitztheorien im eben skizzierten Umfang genügt es bereits, wenn die oberste Spitze des Unternehmens – also der Ort, von dem die Willensimpulse ausgehen – in einem Land ist. „Hauptverwaltung“ wäre dann zu präzisieren als der Ort, an dem die Mitglieder des obersten Organs regelmäßig die zentralen, die Gesellschaft betreffenden Entscheidungen festlegen. Eine solche zurückhaltende Auslegung könnte auch Bedenken einer Primärrechtswidrigkeit der Sitzkopplung Rechnung tragen. Für sie spricht zudem der Wortlaut: nicht der deutsche oder englische, die wohl beide Lösungen zuließen, wohl aber etwa der italienische oder französische (s. schon oben 3. Kap., D I, S. 223 f.). Zudem gibt diese Lösung der Gesellschaft größere Freiheiten bei der Gestaltung ihrer Organisation. Der Einwand der Europarechtswidrigkeit der Sitzkopplung lässt sich mit einer solchen möglichst wenig restriktiven Auslegung von „Hauptverwaltung“ am ehesten entkräften. 6. Funktion von „Hauptverwaltung“ Bei der Konkretisierung ist auch zu berücksichtigen, dass „Hauptverwaltung“ bei der SE-VO gerade nicht als Anknüpfungskriterium fungiert. Soll ein Tatbestandsmerkmal als Anknüpfungskriterium fungieren, ist eine gewisse Stabilität wünschenswert, da ein Wechsel auch einen Wechsel des Gesellschaftstatuts nach sich zöge und zu großen Komplikationen führen würde.
460 Trojan-Limmer, RIW 1991, 1010 (1016); Ulmer, NJW 2004, 1201 (1210); Werlauff, SE: The Law of the European Company, 2003, S. 110; Schröder, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SE-Kommentar, 2010, Art. 7 SE-VO Rn. 8. 461 Allotti, in: Corapi/Pernazza, Società europea, 2011, S. 48. 462 Vgl. stellvertretend die drei oben 3. Kap., D I 1, 2, 4, S. 224 ff., S. 234 ff. und S. 245 ff., skizzierten Sitztheorien.
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
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Auch die Rechtsvergleichung legt nahe, dass dann nach Wegen gesucht wird, um Stabilität zu erreichen. Wegen der anderen Funktion von „Hauptverwaltung“ ist dies bei der SEVO nicht nötig. Dass der Treffpunkt der Vorstandsmitglieder wandelbarer sein wird als der Ort einer größeren Geschäftsleitung, spricht also nicht gegen eine solche Auslegung. Ein Verfahren nach Art. 64 SE-VO zur Zurückverlegung der Hauptverwaltung in den Satzungssitzstaat kann leichter hingenommen werden als ein Wechsel des Gesellschaftsstatuts. Gleiches gilt für die Aufspaltung der Hauptverwaltung auf zwei oder mehr Mitgliedstaaten. Wohl h.M. in Deutschland ist, dass eine solche Aufspaltung nicht möglich sei.463 Teilweise wird als Beleg dafür aber auf Art. 7 SE-VO verwiesen, der (unbestritten) eine solche Aufspaltung nicht erlaubt (da eine SE auch nicht mehrere Sitze haben kann). Daraus folgt aber nur, dass eine solche Aufspaltung nicht erlaubt ist. „Hauptverwaltung“ lässt sich als Konzept dennoch so bestimmen, dass eine Aufspaltung möglich ist (und dann in dem nach Art. 64 SE-VO geregelten Verfahren zu beheben wäre). Zwar spricht das Kriterium der „zentralen“ Verwaltung (so die französische und italienische Sprachregelung) dafür, dass sich die Spitze der Pyramide an einem Ort befindet. In Sonderfällen, in denen z.B. die Mitglieder von Leitungs- oder Verwaltungsorgan ohne erkennbaren Schwerpunkt zwischen zwei Ländern hin- und herreist, könnte es aber möglicherweise dennoch dazu kommen, dass kein eindeutiger Ort zu bestimmen ist. Nach der hier vertretenen Auffassung ist das Konzept nicht so zu bestimmen, dass dieser Fall unbedingt vermieden werden muss. Zwar ist nach den rechtsvergleichend dargestellten Sitztheorien eine Aufspaltung nicht vorgesehen. Da dort die Funktion von „Hauptverwaltung“ aber die des Anknüpfungskriteriums ist und eine Aufspaltung daher zu einer möglichst zu vermeidenden Statutenhäufung führen würde, sind die dort gefundenen Ergebnisse auch nur begrenzt aussagekräftig. Als Indiz mag gelten, dass in England, wo residence gerade nicht Anknüpfungskriterium ist, eine Aufspaltung in Ausnahmefällen bereits angenommen wurde (s.o. 3. Kap., D I 3 b, S. 242). Ähnliches gilt für Argumente, die den Schutz des Rechtsverkehrs betreffen. Dass das Vertrauen Dritter es gebiete, auf die leichter erkennbare Geschäftsleitung im Sinn der deutschen Sitztheorie abzustellen, überzeugt bei der SE ebenfalls nicht. Hier ist ein solches Vertrauen schon deswegen nicht schützenswert, weil es von einer Verkennung der Rechtslage ausginge: Anknüpfungskriterium ist gerade nicht die Hauptverwaltung, sondern der (für jeden einsehbare) Satzungssitz. Wenngleich ein Gleichlauf aus Gründen der Vermeidung von Missbräuchen etc. (s.o. 3. Kap., B III, S. 212) wünschenswert ist, besteht keine Garantie, dass dies stets der Fall ist (auch wenn ein Auseinanderfallen nach 463 Veil, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 7 SE-VO Rn. 14; Schwarz, SE-Kommentar, 2006, S. Art. 7 Rn. 10; Ringe, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 7 SE-VO Rn. 15.
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
Art. 64 SE-VO zu beheben wäre). Aus diesem Grund ist auch die erschwerte Erkennbarkeit der Hauptverwaltung in der hier vorgeschlagenen Auslegung verschmerzbar. 7. Vermutung zu Gunsten des Satzungssitzes? Unklar ist das Bestehen einer Vermutung, dass sich die Hauptverwaltung am Sitz befindet. Es lässt sich kein Beweis des ersten Anscheins aufstellen, dass sich die (bei der SE typischerweise ja gerade besonders großen und internationalen) Unternehmen grundsätzlich an die Pflicht aus Art. 7 SE-VO halten; dies würde auch dem Zweck des Art. 7 SE-VO widersprechen.464 Daran ändert auch die Härte der in Art. 64 SE-VO letztlich angedrohten Sanktion der Liquidierung nichts.465 Auch aus teleologischer Sicht ist eine solche Vermutung nicht erforderlich. Das Vorliegen von „Hauptverwaltung“ zeitigt Rechtsfolgen hauptsächlich in einem Verfahren nach Art. 64 SE-VO. An das Vorliegen von „Hauptverwaltung“ ist zwar die Pflicht der SE geknüpft, dafür zu sorgen, dass Hauptverwaltung und Satzungssitz wieder in einem Staat liegen. Bei einem Auseinanderfallen hat die Feststellung von „Hauptverwaltung“ in einem anderen Staat als dem Sitzstaat aber keine unmittelbaren kollisionsrechtlichen Folgen für das anwendbare Gesellschaftsrecht, die durch eine solche Vermutung vermieden werden müssten. Auch die SE selbst wird durch eine fehlende Vermutungsregelung nicht unangemessen benachteiligt. Im Verfahren nach Art. 64 SE-VO wären die gegen die Gesellschaft vorgetragenen Vorwürfe nach den allgemeinen Regeln der Beweislast ohnehin von der Behörde zu beweisen. Der Aufstellung einer eigenen Vermutungsregel für die SE bedarf es daher nicht.466 V. Fazit: ein autonomes Konzept? Gerade bei der „Hauptverwaltung“ wird oft explizit auf ein nationales Konzept zurückgegriffen, „Hauptverwaltung“ also im Sinn z.B. der deutschen
464
Oechsler/Mihaylova, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 7 SE-VO Rn. 3. So aber Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 211 m.w.N. 466 So i.E. auch die deutsche h.M., s. für ausführlichere Nachweise unten 3. Kap., E II, S. 301 (Fn. 521). Im Einzelnen ist nicht ganz klar, inwiefern die Aufstellung einer über allgemeine Regeln der Beweislast hinausgehenden tatsächlichen Vermutung gefordert wird; wie hier jedenfalls Oechsler/Mihaylova, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 7 Rn. 3; a.A. dagegen Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 211 f.; Zang, Sitz und Verlegung des Sitzes einer Europäischen Aktiengesellschaft mit Sitz in Deutschland, 2005, S. 79–81. 465
D. Autonome Auslegung von „Hauptverwaltung“
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Sitztheorie definiert. 467 Oben 468 wurde bereits darauf hingewiesen, dass es keine Verweise in europäischen Normen geben kann, hinter denen überhaupt kein europäisches Konzept (nicht einmal ein sog. „universales Rechtskonzept“) steht. Diese Gründe gelten auch für die „Hauptverwaltung“. Bereits aus der Systematik und ihrer Verwendung im vom EU-Recht geregelten Verfahren nach Art. 64 SE-VO muss sie autonom ausgelegt werden (s.o. 1. Kap., D III 1, S. 86 f.). Dies wird, soweit ersichtlich, auch in der weit überwiegenden Anzahl der Fälle so gesehen, in denen die Frage diskutiert wird.469 Dass gerade hier die Neigung zu Rückgriffen auf nationale Konzepte besonders groß ist, liegt an den zwei folgenden Gründen. So sind einerseits die Sitztheorien in Erwägungsgrund 27 SE-VO explizit angesprochen. Allerdings ist dieser so zu lesen, dass die für die SE-VO gewählte Satzungssitzanknüpfung die Sitztheorien nicht generell verbietet. Vielmehr wird Respekt vor den Sitztheorien der Mitgliedstaaten ausgedrückt, der bei der Auslegung zu berücksichtigen ist. Eine Übernahme der Kriterien der Sitztheorien ist damit nicht verbunden und wäre auch wegen der verschiedenen Anknüpfungskriterien nicht möglich. Als weiterer Grund wird oft das Fehlen einer Definition genannt, was den Rückgriff auf nationale Rechtsordnungen nahelegen soll. 470 Zwar fehlt eine solche Definiton tatsächlich. Dennoch ist eine Auslegung der europäischen Norm, wie gezeigt, möglich, und aus den genannten Gründen einem Rückgriff auf nationales Recht vorzuziehen. Es findet sich kein Verweis auf nationales Recht; notfalls hat der EuGH das Kriterium auszulegen und zu definieren.471 Die hier vorgeschlagene Auslegung, auf den Ort abzustellen, von dem die Willensimpulse ausgehen (und eine Vermutung zu Gunsten des Satzungssitzes abzulehnen), versteht sich als Vorschlag. Angesichts der teilweise dürftigen Materialien – insbesondere die systematische und die historische Auslegung erweisen sich als wenig hilfreich – kann nicht ausgeschlossen werden, dass der 467 Rohde, Europäische Integration und Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften von und nach Deutschland, 2002, S. 265; Leupold, Europäische Aktiengesellschaft, 1993, S. 32; ähnlich auch die Herangehensweise von Kolster, in: Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 1. Aufl., 2005, Rn. 4.20–4.26. 468 Im 1. Kap., D III, D IV, S. 86 ff. und S. 94 ff. 469 Etwa Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 199 f. (mit ausführlicher Begründung); inhaltlich ähnlich Ringe, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 7 SE-VO Rn. 10–12; Zang, Sitz und Verlegung des Sitzes einer Europäischen Aktiengesellschaft mit Sitz in Deutschland, 2005, S. 43; Veil, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 7 SEVO Rn. 13; Diekmann, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 7 SE-VO Rn. 13 f. Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 7 SE-VO Rn. 3; Schröder, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SE-Kommentar, 2010, Art. 2 SE-VO Rn. 30. 470 Mustaki/Engammare, Droit européen des sociétés, 2009, S. 384; Allotti, in: Corapi/Pernazza, Società europea, 2011, S. 48. 471 So auch entschieden und explizit zur „Hauptverwaltung“ Werlauff, SE: The Law of the European Company, 2003, S. 114; Werlauff, EBLR 14 (2003), 1, 85 (97).
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
EuGH zu einem anderen Ergebnis gelangen wird. Zentral für die hier vorgenommene Auslegung ist aber das Offenlegen des (deutschen) Vorverständnisses. Für die sich im Folgenden anschließende Untersuchung der Literatur soll daher auch eher die hier verwendete Auslegungsmethode als das Auslegungsergebnis als Maßstab genommen werden.
E. Untersuchung von Auslegungen in der Literatur E. Auslegungen in der Literatur
Rechtsprechung ist zu Art. 7 SE-VO noch keine ergangen. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Konzept der „Hauptverwaltung“ findet sich allerdings in der Literatur, insbesondere in einigen Dissertationen und in den Kommentaren zur SE-VO. I. Auslegungen mit explizitem Rückgriff auf nationales Recht In einer Reihe von Fundstellen wird die SE-VO unter Rückgriff auf nationales Recht ausgelegt. Ausführlicher soll am Beispiel der Dissertation von Zang (2005) gezeigt werden, was daran problematisch ist. Die Arbeit bietet sich für eine ausführlichere Untersuchung an, da sie selbst das Konzept „Hauptverwaltung“ ausführlich beleuchtet und zudem relativ früh erschienen ist, sodass spätere Kommentare – insbesondere der einflussreiche Kommentar von Schwarz – sich darauf stützen. Auch bei Zang wird zunächst vorausgeschickt, dass das Konzept autonom auszulegen sei.472 Bereits im nachfolgenden Auslegungsschritt, der wörtlichen Auslegung, ergeben sich jedoch Probleme. Zang erläutert zunächst, dass „Hauptverwaltung“ dem juristisch-technischen Sprachgebrauch in Deutschland entspreche, wie er von der (deutschen) Sitztheorie geprägt werde,473 was an sich noch nicht zu beanstanden ist. Es erfolgen anschließend Verweise auf die übrigen Sprachfassungen (bzw. einige davon: Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Portugiesisch, Niederländisch), und der Autor erklärt, diese seien mit der Auslegung im Sinn der (deutschen) Sitztheorie kompatibel, schließlich seien die genannten Termini ebenfalls „mit Hauptverwaltung zu übersetzen“.474 Als Beleg wird auf eine Reihe von Wörterbüchern verwiesen, die jedoch ausnahmslos bloße Übersetzungen ohne Erläuterungen bieten. 475
472 Zang, Sitz und Verlegung des Sitzes einer Europäischen Aktiengesellschaft mit Sitz in Deutschland, 2005, S. 43. 473 Zang, ebda., S. 44. 474 Zang, ebda., S. 44. 475 Zang, ebda., S. 44. Zu den einzelnen Wörterbüchern sogleich in den nächsten Fußnoten (teilweise werden von Zangs Arbeit abweichende Auflagen zitiert).
E. Auslegungen in der Literatur
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Zudem geben sie nicht alle „Hauptverwaltung“ als einzige Übersetzungsmöglichkeit an.476 Ferner weisen verschiedene der Wörterbücher auf den Bedarf an Rechtsvergleichung bzw. die Schwierigkeiten einer wörtlichen Übersetzung hin.477 Bei der Verwendung der Wörterbücher verwechselt Zang also Termini und Konzepte: Die genannten Wörterbücher versuchen jeweils, eine fremde Rechtsordnung (z.B. die niederländische) in einer anderen Sprache (etwa dem Deutschen) zugänglich zu machen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um die technische deutsche Rechtssprache etwa des BGB oder des deutschen IPR, sondern um eine Umschreibung von Konzepten einer fremden Rechtsordnung. Dass diese fremden Rechtskonzepte sich in untechnischem Deutsch mit „Hauptverwaltung“ annäherungsweise wiedergeben lassen, ist kein Beleg – wie von Zang angenommen – für die auch inhaltliche Übereinstimmung der Konzepte, die verschiedenen Rechtsordnungen (um das Beispiel fortzuführen: etwa der deutschen und der niederländischen) entstammen. Dennoch rückt Zang von dieser so gefundenen Definition nicht mehr ab. Er sieht die Definition der (deutschen) Sitztheorie auch bestätigt durch die parallelen Rechtsakte
476 Z.B. Conte/Boss, Dizionario giuridico ed economico, Wörterbuch der Rechts- und Wirtschaftssprache, 1 – Italiano-Tedesco, Italienisch-Deutsch, 2001, S. 19 f. („Hauptverwaltung, Zentralverwaltung“); Becher/Schlüter-Ellner, Wörterbuch Recht und Wirtschaft, Band 1, Spanisch-Deutsch, 2013, S. 43 („Hauptverwaltung f, oberste Behörde f, Regierung f, Staats|verwaltung f, Zentral- f, Bundes- f [im Bundesstaat];“); ähnlich Potonnier/Potonnier, Wörterbuch für Wirtschaft, Recht und Handel, Band II: Französisch – Deutsch, 1970, S. 44 („staatliche Behörde f; Hauptverwaltung f; Oberbehörde f; Staatsverwaltung f; Zentralbehörde f; Zentralverwaltung f“). Dietl/Lorenz, Wörterbuch für Recht, Wirtschaft und Politik, 1990, S. 107 geben sogar nur den (untechnischen) Terminus „Zentralverwaltung“ an. Für das Niederländische bedient sich Zang eines deutsch-niederländischen Wörterbuchs (anstelle eines solchen, das aus dem Niederländischen übersetzt, wie es für die Ermittlung des Sinns eines fremdsprachigen Terminus angebracht wäre). Bei diesem lautet der fragliche Eintrag: „Haupt-| -verwaltung (f), -vorstand (m) hoofdbestuur (n)“ (Scheer, Juridisch Woordenboek, Wörterbuch der deutschen und niederländischen Rechtssprache, II: DuitsNederlands, Deutsch-Niederländisch, 1989, S. 188), d.h. auch die (fälschlich) verwendete deutsch-niederländische Version des Wörterbuchs hätte schon auf Parallelübersetzungen aufmerksam machen müssen. 477 Etwa Becher/Schlüter-Ellner, Wörterbuch Recht und Wirtschaft, Band 1, SpanischDeutsch, 2013, S. VII (Vorwort); Dietl/Lorenz, Wörterbuch für Recht, Wirtschaft und Politik, 1990: „Aus dem Vorwort der 1. Auflage: Die Schwierigkeit einer wörtlichen Übersetzung […] liegt in der […] Verschiedenheit der Rechtssysteme. Das anglo-amerikanische Recht […] ist dem kontinentalen […] Juristen fremd“; Potonnier/Potonnier, Wörterbuch für Wirtschaft, Recht und Handel, Band II: Französisch – Deutsch, 1970, S. VI (im Vorwort wird darauf verwiesen, dass der Band gerade eine „Umkehrung“ des ersten Bandes darstelle: „Leider versagt diese Methode jedoch völlig, wenn man Ausdrücken gegenübersteht, deren begrifflicher Inhalt sich in den beiden Sprachen nicht genau deckt oder – schlimmer noch – wenn es gilt, einen Begriff zu benennen, der in einer der beiden Sprachen kein Äquivalent aufweist, da er eine genau abgegrenzte Gegebenheit des anderen Landes definiert.“).
296
3. Kapitel: Hauptverwaltung
der EWIV-VO und der EUGEN-VOV, da auch diese das Wort „Hauptverwaltung“ verwenden sowie angeblich der (deutschen?) Sitztheorie folgen.478 Dass hier im Wortlaut anderer Sprachfassungen Abweichungen bestehen – ein Blick auf die englische Sprachfassung hätte genügt, die dort von „central administration“ spricht statt von „head office“479 –, wird ebensowenig in die Auslegung mit einbezogen wie die Tatsache, dass die EUGEN-VOV nicht verabschiedet wurde. Beim Vergleich mit Art. 48 EGV (heute Art. 54 AEUV) werden ebenfalls keine anderen Sprachfassungen herangezogen. Es wird darauf verwiesen, dass auch dieser Artikel sich (offenbar) an der deutschen Sitztheorie orientieren soll.480 Auch Erwägungsgrund 27 soll für die Berücksichtigung der (deutschen?) Sitztheorie sprechen.481 Dies gilt auch bei der folgenden historischen Auslegung: Auch die Vorversionen von Sanders sowie die Entwürfe von 1989 und 1991 sollen sich an „der Sitztheorie“ orientiert haben.482 Dabei kann sich Zang auch auf Literatur zu diesen Vorversionen stützen.483 Diese Definition findet sich inhaltlich wieder im Kommentar von Schwarz484 und auch weitgehend in der Kommentierung von Veil im Kölner Kommentar, 485 der auf Zangs Darstellung verweist. Eine ähnliche Herangehensweise findet sich zudem in der Arbeit von Rohde (2002), in der das Thema gestreift wird. Zur Frage der Hauptverwaltung in der SE-VO stellt der Autor lapidar fest: „Zur Präzisierung des Begriffes des Sitzes der Hauptverwaltung kann auf die im deutschen internationalen Gesellschaftsrecht zum Begriff des ‚tatsächlichen Verwaltungssitzes‘ entwickelten Kriterien zurückgegriffen werden“.486 Dies wird lediglich mit einer Fußnote untermauert.487 Unklar ist auch 478
Zang, Sitz und Verlegung des Sitzes einer Europäischen Aktiengesellschaft mit Sitz in Deutschland, 2005, S. 45. 479 Vgl. zu den Abweichungen ausführlicher 3. Kap., D III 3, S. 266 f., sowie die Tabelle im Anhang. 480 Zang, ebda., S. 46; Schwarz, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2000, Rn. 152. 481 Zang, Sitz und Verlegung des Sitzes einer Europäischen Aktiengesellschaft mit Sitz in Deutschland, 2005, S. 47. 482 Zang, ebda., S. 47 f. 483 Zum SE-VOV 1989 Grote, Das neue Statut der Europäischen Aktiengesellschaft zwischen europäischem und nationalem Recht, 1990, S. 162 ff.; zum SE-VOV 1991 Leupold, Europäische Aktiengesellschaft, 1993, S. 32. 484 Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 7 SE-VO Rn. 9 und 11 (Zang wird nicht überall zitiert, wo m.E. seine Ergebnisse übernommen werden. Als Hauptbeleg für die Auslegung der europäischen Norm zitiert Schwarz den BGH sowie Literatur zum deutschen internationalen Gesellschaftsrecht). Prof. Dr. Günter Christian Schwarz war der Doktorvater von Axel Zang (und auch Stephan Rohde). 485 Veil, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 7 SE-VO Rn. 13. 486 Rohde, Europäische Integration und Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften von und nach Deutschland, 2002, S. 265. 487 Verwiesen wird auf Leupold, Europäische Aktiengesellschaft, 1993, S. 32 (s. dazu schon oben).
E. Auslegungen in der Literatur
297
der Umfang der tatsächlich autonomen Auslegung im Münchener Kommentar (nur in der Vorauflage): Dort erwähnt Oechsler zwar eingangs den Gleichlauf der Terminologie mit Art. 54 AEUV, verweist dann aber zur näheren Bestimmung auf die Kommentierung von § 5 AktG.488 Ähnlich wenig Bedenken gegenüber einem Rückgriff auf nationale Konzepte hat Kolster in seiner Bearbeitung im Handbuch von Jannott/Frodermann.489 Eingangs wird sogar behauptet, der deutsche Gesetzgeber hätte mit einer entsprechenden Klarstellung in § 2 SEAG (a.F.490) die Kriterien des § 5 AktG für maßgeblich erklären können.491 Zwar habe er dies mangels klarer Inbezugnahme nicht getan, sodass es weiter auf die Auslegung von „Hauptverwaltung“ ankomme, eines Terminus, den das AktG nicht verwendet. Dennoch seien nationale Konzepte maßgeblich: Der Streit darum, wo die „Verwaltung geführt“ werde i.S.d. § 5 Abs. 2 AktG, der für diese Norm regelmäßig offenbleiben könne, sei „für die Bestmmung der Hauptverwaltung […] zu entscheiden, wobei insoweit auf die Meinungen zur Auslegung des Terminus ‚Verwaltung geführt‘ abzustellen“ sei.492 Im Ergebnis werde die Hauptverwaltung an dem Ort geführt, „an dem sich der Vorstand befindet“.493 Dies dürfte nicht nur
488
Oechsler, in: MüKoAktG Bd. 7, 3. Aufl., 2012, Art. 7 SE-VO Rn. 3. Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 1. Aufl., 2005: Die Bearbeitung in der 1. Auflage ist in dieser Hinsicht noch deutlich ausführlicher. In der 2. Auflage von 2014 weisen die Bearbeiter Hagemann/Tobies darauf hin, durch die Streichung von § 2 SEAG a.F. im Zuge des MoMiG habe der Streit „an Brisanz verloren“ (Rn. 4.36). 490 § 2 SEAG lautete seit dem 29.12.2004: „Die Satzung der SE hat als Sitz den Ort zu bestimmen, wo die Hauptverwaltung geführt wird.“ Damit sollte ein Gleichlauf mit der restriktiven Regelung in § 5 Abs. 2 AktG a.F. hergestellt werden; entsprechend wurde § 2 SEAG dann auch mit dem MoMiG mit Wirkung ab dem 01.11.2008 ersatzlos aufgehoben; siehe auch H. Zimmer, EWS 2010, 222 (223). 491 Kolster, in: Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 1. Aufl., 2005, Rn. 4.21. Gegen eine solche „Klärung“ europäischen Rechts in nationalem Recht bestehen jedoch kompetenzrechtliche Bedenken; der nationale Gesetzgeber kann nicht europäische Termini verbindlich auslegen: Dies kann nur der EuGH, alle durch das SEAG vermeintlich erlangte Rechtssicherheit bliebe scheinbar und wäre gerade daher besonders gefährlich. Daher hat der Gesetzgeber auch folgerichtig von solchen Vorschriften abgesehen, vgl. die Regierungsbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der Europäischen Gesellschaft (SEEG), BT-Drs. 15/3405, S. 31; vgl. aus der Literatur zustimmend Koke, Finanzverfassung der SE, 2005, S. 23; Neye/Teichmann, AG 2003, 169 (170); Teichmann, ZIP 2002, 1109 (1110); dessen ungeachtet solche Klarstellungen fordernd z.B. Lutter, BB 2002, 1 (6); J. Wagner, NZG 2002, 985 (991); Brandt, NZG 2002, 991 (995). 492 Kolster, in: Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 1. Aufl., 2005, Rn. 4.23. 493 Kolster, in: Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 1. Aufl., 2005, Rn. 4.24. 489
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
erheblich schwieriger zu bestimmen sein, als Kolster annimmt,494 eine rein an nationalen Konzepten orientierte Auslegung des Konzept „Hauptverwaltung“ verstößt auch gegen den Grundsatz der autonomen Auslegung.495 Die Arbeit von Frowein (2001) beschäftigt sich noch nicht ausführlich mit dem Hauptverwaltungskonzept der SE-VO496 und enthält nur einige Passagen zur Klärung des „Verwaltungssitzes“ nach der Sitztheorie (in Deutschland).497 Nicht ganz klar ist die Vorgehensweise von Schröder im Kommentar von Manz/Mayer/Schröder: Nachdem er zunächst die autonome Auslegung betont und andere europäische Rechtsakte heranzieht,498 hält er schließlich für entscheidend, dass Hintergrund der Regelung sei, dass die Gründer den Ort nicht danach wählen, „welcher Mitgliedstaat die niedrigsten rechtlichen Anforderungen stellt und damit den geringsten Schutz für Arbeitnehmer, Minderheitsaktionäre und Gläubiger“ bietet, was zugleich auch der „tragende Grund für die einzelstaatlichen Kollisionsnormen“ sei, „die an den effektiven Verwaltungssitz anknüpfen“.499 Vor diesem Hintergrund sei klar, „dass der an sich europarechtlich auszulegende Begriff der Hauptverwaltung zugleich Rücksicht auf die nationalen kollisionsrechtlichen Anknüpfungstatbestände nehmen“ müsse, sodass „Hauptverwaltung“ i.S.d. Art. 7 SE-VO und „‚Verwaltungssitz‘ (nationales Konfliktrecht) praktisch identisch“ seien.500 II. Auslegungen, die einen Rückgriff auf nationales Recht zu vermeiden suchen Weitere Stellen – hauptsächlich Kommentarliteratur – vermeiden einen direkten Rückgriff auf nationale Rechtskonzepte. Stattdessen wird häufig auf die Ergebnisse zu verschiedenen europäischen Rechtsakten abgestellt, namentlich
494
Kolster, in: Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 1. Aufl., 2005, Rn. 4.24: „Diese Auslegung verhindert auch Unsicherheiten, denn der Sitz des Vorstands ist eindeutig bestimmbar.“ Vgl. demgegenüber zu Problemen der Bestimmung des „Sitzes des Vorstands“ gerade bei internationalen Aktiengesellschaften unten 3. Kap., C II, S. 222. 495 S. dazu allgemein oben 1. Kap., D III, IV, S. 86 ff. So jetzt auch die Neuauflage des Handbuchs, Hagemann/Tobies, in: Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 2. Aufl., 2014, Rn. 4.39. 496 Frowein, Grenzüberschreitende Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften, 2001, S. 193 ff. 497 Frowein, Grenzüberschreitende Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften, 2001, S. 26 ff. 498 Schröder, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SE-Kommentar, 2010, Art. 2 SE-VO Rn. 30. 499 Schröder, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SE-Kommentar, 2010, Art. 2 SE-VO Rn. 31. 500 Schröder, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SE-Kommentar, 2010, Art. 2 SE-VO Rn. 31.
E. Auslegungen in der Literatur
299
auf Art. 54 AEUV,501 die Vierzehnte Richtlinie über die Sitzverlegung502 oder Art. 12 EWIV-VO.503 Ein Rückgriff auf die Definition im 13. Erwägungsgrund der EuInsVO wird dagegen abgelehnt.504 Auf diese Weise wird häufig ein ähnliches Ergebnis erzielt wie bei einem expliziten Ausgehen von der (deutschen) Sitztheorie.505 Sofern jedoch in der SE-Literatur zur Auslegung von „Hauptverwaltung“ auf die Literatur zur EWIV zurückgegriffen wird, beschränkt sich dies meist auf den Kommentar von Selbherr/Manz sowie die Dissertation von Meyer-Landrut.506 Im österreichischen Kommentar von Kalss/Hügel wird das Werk von Löffler zitiert.507 Es wurde oben bereits darauf hingewiesen, dass die genannten Werke selbst auf Konzepte aus dem nationalen Recht zurückgreifen und daher für eine autonome systematische Interpretation keine Anhaltspunkte liefern können. Dies wird in der Literatur aber nicht erkannt oder nicht für beachtlich gehalten.508 Auf diese Weise werden nationale Konzepte – weitgehend wohl unbewusst – 501
Diekmann, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 7 SE-VO Rn. 14; Oechsler/Mihaylova, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 7 SE-VO Rn. 3; Schröder, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SE-Kommentar, 2010, Art. 2 SE-VO Rn. 30. Die Vorgängervorschrift des Art. 54 AEUV (Art. 48 EGV) wird ebenfalls erwähnt bei Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 7 SE-VO Rn. 9, jedoch erst nach einer der (deutschen) Sitztheorie entsprechenden Definition, die nur eben „ferner mit Hauptverwaltung i.S.d. Art. 48 EG überein[stimmt]“. 502 Diekmann, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 7 SE-VO Rn. 14; Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 7 SE-VO Rn. 3; so wohl auch Veil, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 7 SE-VO Rn. 13; Schröder, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SE-Kommentar, 2010, Art. 2 SE-VO Rn. 30; Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 203. An dieser Stelle wird auch häufig Schwarz, ZIP 2001, 1847 (1849) zitiert, etwa bei Veil, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 7 SE-VO Rn. 13. Schwarz erwägt zwar an der genannten Stelle eine Heranziehung der Vierzehnten Richtlinie, jedoch für den Terminus „Sitz“, nicht „Hauptverwaltung“, und lehnt eine solche Heranziehung auch letztlich ab. 503 Diekmann, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 7 SE-VO Rn. 14; Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 7 SE-VO Rn. 3; Greda, in: Kalss/Hügel, SE-Kommentar, 2004, § 5 SEG Rn. 4; so wohl auch Veil, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 7 SE-VO Rn. 13. 504 Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 202 mit Nachweisen zu einer spanischen Gegenmeinung. 505 Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 7 SE-VO Rn. 3 (vgl. a. explizit Fn. 16 a.E.). 506 So insbesondere Zang, Sitz und Verlegung des Sitzes einer Europäischen Aktiengesellschaft mit Sitz in Deutschland, 2005, S. 45; sowie diesem folgend Veil, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 7 SE-VO Rn. 13; ähnlich, aber ohne Zitat, Diekmann, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 7 SE-VO Rn. 14. 507 Greda, in: Kalss/Hügel, SE-Kommentar, 2004, § 5 SEG Rn. 4; dem folgt Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 7 SE-VO Rn. 3. 508 Vgl. etwa den Hinweis in der Fußnote 7 bei Greda, in: Kalss/Hügel, SE-Kommentar, 2004, § 5 SEG Rn. 4: „die Definition ist aus dem [österreichischen] IPRG entlehnt“.
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
als autonome Interpretation präsentiert. Der Rechtsanwender wäre dabei wohl noch besser bedient, wenn der Kommentar, den er zur Hand nimmt, offen von einer autonomen Auslegung absieht: Dann weiß der Rechtsanwender zumindest, dass er über das europäische Konzept nichts weiß. Ansonsten aber wird durch die unübersichtlichen, sich teils über mehrere Stufen erstreckenden Verweisungen im Zuge einer systematischen Auslegung ein nationales Konzept zu einem (vermeintlich) europäischen. Im Ergebnis wird jedenfalls überwiegend auf die Sandrock’sche Formel abgestellt, nach der nicht der Ort entscheidend ist, an dem die großen Richtlinienentscheidungen fallen, sondern der, an dem diese in das Verwaltungshandeln des täglichen Lebens umgesetzt werden.509 Entsprechend soll nicht jede äußerlich nicht erkennbare Willensbildung maßgeblich sein, da diese an häufig wechselnden und für Außenstehende nicht erkennbaren Orten stattfinden kann, noch die Klärung der strategischen Fragen (etwa auf Klausurtagungen) oder Entscheidungen im Rahmen eher vollziehender Tätigkeiten (andernfalls wären Zweigniederlassungen nicht mehr möglich).510 Dies soll auch im Einklang stehen mit der teleologischen Intention des Gesetzgebers, die „liberale Gründungsanknüpfung durch Verkehrsschutzgesichtspunkte“ zu ergänzen. 511 Die Produktionsstätten des Unternehmens sind jedenfalls nicht maßgeblich.512 Eine Hauptverwaltung an mehreren Stellen ist nicht möglich.513 In der Formulierung weichen namentlich Hagemann/Tobies im Handbuch von Jannott/Frodermann ab, die den Verwaltungssitz nach einer wertenden Beurteilung darüber bestimmen wollen, „wo die wesentlichen Strategieüberlegungen und Entscheidungen für die Gesellschaft getroffen werden“. 514 Dies soll sich aus Sinn und Zweck als maßgeblichem Auslegungskriterium ergeben, da die SE-VO ansonsten wenig Anhaltspunkte biete.515 Zur Konkretisierung könne auf den Ort der Hauptversammlung oder den Ort abgestellt werden, „an 509 Sandrock, in: FS Beitzke 1979, 669 (683). Für die SE berufen sich im Ergebnis auf die Sandrock’sche Formel etwa Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 204; Oechlser/Mihaylova, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 7 SE-VO Rn. 3; Veil, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 7 SE-VO Rn. 13; Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 7 SE-VO Rn. 3; Schröder, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SE-Kommentar, 2010, Art. 2 SE-VO Rn. 30 und 32. 510 Schröder, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SE-Kommentar, 2010, Art. 2 SE-VO Rn. 32. 511 Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 204; ähnlich Schröder, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SE-Kommentar, 2010, Art. 2 SE-VO Rn. 31. 512 Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 203. 513 Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 7 SE-VO Rn. 9; Ringe, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 7 SE-VO Rn. 15; Veil, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 7 Rn. 14. 514 Hagemann/Tobies, in: Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 2. Aufl., 2014, Rn. 4.40. 515 Hagemann/Tobies, in: Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 2. Aufl., 2014, Rn. 4.39.
E. Auslegungen in der Literatur
301
dem die maßgeblich an der Leitung beteiligten Organe den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit entfalten“.516 Anders als bei den sonstigen, auf Sandrocks Formel basierenden Definitionen liegt hier die Hauptverwaltung nicht dort, wo die Strategieentscheidungen umgesetzt werden, und auch eine Erkennbarkeit nach außen ist anscheinend nicht maßgeblich. Die Autoren bleiben jedoch eine nähere Erklärung schuldig, weshalb sich die genannte Auslegung aus Sinn und Zweck der Norm ergeben soll. Teilweise wird einigen Kriterien, etwa dem Ort, wo das ranghöchste Mitglied des Verwaltungsrates sitzt,517 Indizwirkung zugemessen, alternativ dem Ort, an dem die meisten Mitglieder des Leitungs- und Verwaltungsorgans tätig sind,518 dem Sitz des Verhandlungsgremiums bzw. dem Ort, zu dem die SE ihrem Geschäftsgegenstand nach die engsten Beziehungen hat, 519 oder dem Gründungsort, dem Ort der Hauptversammlung oder dem Betriebsmittelpunkt (centre d’exploitation),520. Einige Kommentatoren sprechen sich auch für eine (widerlegliche) Vermutung aus, dass die Hauptverwaltung einer SE sich am (leichter ermittelbaren) Satzungssitz befindet;521 dies wird jedoch von anderen bestritten.522
516 Hagemann/Tobies, in: Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 2. Aufl., 2014, Rn. 4.40. 517 Oechsler/Mihaylova, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 7 SE-VO Rn. 3; Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 7 SE-VO Rn. 11. 518 Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 7 SE-VO Rn. 11. 519 Oechsler/Mihaylova, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 7 SE-VO Rn. 3; Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 7 SE-VO Rn. 11. 520 Leupold, Europäische Aktiengesellschaft, 1993, S. 32; zustimmend Oechsler/Mihaylova, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 7 SE-VO Rn. 3; Schröder, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SE-Kommentar, 2010, Art. 2 SE-VO Rn. 33; kritisch Ringe, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 7 SE-VO Rn. 16; sowie Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 205; für den Ort der Hauptversammlung wiederum zustimmend Hagemann/Tobies, in: Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft, 2. Aufl., 2014, Rn. 4.40. 521 Veil, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 7 SE-VO Rn. 13; Ringe, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 7 SE-VO Rn. 19 f.; Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 7 SE-VO Rn. 3; Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 205 und 211; Zang, Sitz und Verlegung des Sitzes einer Europäischen Aktiengesellschaft mit Sitz in Deutschland, 2005, S. 79 ff.; für eine entsprechende allgemeine Regel im EU-Recht plädierend (u.a. unter Verweis auf Art. 3 Abs. 1 S. 2 EuInsVO) D. Zimmer, RabelsZ 67 (2003), 298 (312). 522 Leupold, Europäische Aktiengesellschaft, 1993, S. 32; Diekmann, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 7 SE-VO Rn. 15 f.; Oechsler/Mihaylova, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 7 SE-VO Rn. 34; Schröder, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SE-Kommentar, 2010, Art. 2 SE-VO Rn. 34.
302
3. Kapitel: Hauptverwaltung
F. Zwischenergebnis für „Hauptverwaltung“ F. Zwischenergebnis Hauptverwaltung
I. Befund: Schein der autonomen Auslegung In vielen Fällen führt also die Auslegung dazu, dass man – mangels anderer Anhaltspunkte – letztlich doch zum Ergebnis der aus Deutschland stammenden Version der Sitztheorie gelangt. Auf diese Weise werden doch Konzepte des nationalen Rechts – hier das von der (deutschen) Sitztheorie definierte Kriterium des „tatsächlichen Verwaltungssitzes“ – in europäisches Recht übernommen. Dies gilt im Ergebnis auch, wenn eine autonome Auslegung tatsächlich versucht wird. Wenn auf den ersten Blick europäische Normen herangezogen werden, verbirgt sich dahinter bei näherem Hinsehen oft eine Auslegung nach deutschen Grundsätzen, die dann als vermeintlich europäisch-autonome Auslegung ausgegeben wird. In anderen Fällen ist dies darauf zurückzuführen, dass häufig Konzepte aus anderen europäischen Rechtsakten herangezogen werden, ohne zu überprüfen, ob die Termini auch in anderen Sprachen als dem Deutschen übereinstimmen. Während beim Auslegen des eigentlichen Terminus noch häufig andere Sprachversionen erwähnt werden, geschieht dies beim systematischen Auslegen in der hier untersuchten Literatur gar nicht. Die Übernahme des deutschen Rechtskonzepts muss dabei nicht falsch sein. Das oben gefundene Ergebnis zur autonomen Auslegung weicht zwar vom deutschen Konzept ab, jedoch ist die Auslegung angesichts der dürftigen Mittel, die zur Verfügung stehen, unsicher. Aber mehr als das Ergebnis ist der Weg der Auslegung in der Mehrheit der Literaturmeinungen zu beanstanden. So legt der fehlende Blick auf die Rechtsordnungen anderer Mitgliedstaaten nahe, dass die deutsche Auslegung doch isoliert bleibt. Ist die Herangehensweise in anderen Staaten – vgl. oben (3. Kap., D I 4 a, S. 246) etwa zu ersten Beispielen aus der französischen Literatur, die darauf hindeuten – ähnlich, kommt es im Ergebnis nicht zu der eigentlich gewollten autonomen und europaweit einheitlichen Auslegung. II. Sprachverwirrung in der Literatur? Inwiefern sich dieser Befund der nur scheinbar autonomen Auslegung auf den Einfluss von Sprache zurückführen lässt, lässt sich schwer anhand eines einzelnen Terminus beurteilen. Jedenfalls lässt sich der in der SE-VO verwendete Terminus für „Hauptverwaltung“ nicht für die Sprachverwirrung verantwortlich machen. Hier scheint es dem europäischen Gesetzgeber gelungen zu sein, einen Terminus zu etablieren, der zumindest in den vier hier untersuchten Rechtsordnungen keine direkten Entsprechungen hat. Dies entspricht dem Ideal, bei staatenübergreifenden Regelwerken auf „unbelastete“ Termini zurückzugreifen (s. dazu oben 1. Kap., B I 1 c, S. 45).
F. Zwischenergebnis Hauptverwaltung
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Ursache einer Sprachverwirrung kann hier aber statt des vom EU-Gesetzgeber gewählten Terminus möglicherweise der – auch in anderen Ländern etablierte (s.o. 3. Kap., B I, S. 208) – Gebrauch des Terminus „Sitztheorie“ sein, der eine einheitliche Theorie suggeriert, auf die auch in der SE-VO zurückgegriffen wird. Da die Uneinigkeit über das maßgebliche Anknüpfungskriterium – der Streit zwischen „Gründungs-“ und „Sitztheorien“ – bekanntermaßen den Hintergrund für die neuartige und gewundene Regelung der Art. 7, 64 SE-VO bildet (und in Erwägungsgrund 27 SE-VO auch ausdrücklich darauf verwiesen wird), übt diese unglückliche Diktion möglicherweise einen maßgebenden Einfluss auch auf die Auslegung von Art. 7 SE-VO aus. Auch die eingebürgerte Terminologie der „Sitztheorie“ ist dabei nicht dem europäischen Gesetzgeber anzulasten; dass dieser sich aber ausdrücklich auf diese bezieht und wenig tut, um die von dieser Seite drohende Sprachverwirrung abzuwenden, ist bedauerlich. Durch Erwägungsgrund 27 zur SE-VO hat der europäische Gesetzgeber diesen Hintergrund auch bewusst in die SE-VO eingeführt. Einerseits ist verständlich, dass der Gesetzgeber nach der nach langem Ringen erreichten Einigung zur Arbeitnehmermitbestimmung nicht auch noch das ähnlich streitige Thema des Anknüpfungskriteriums im Internationalen Gesellschaftsrechts durch eine klare Stellungnahme angehen wollte, die in jedem Fall einige Mitgliedstaaten von der Einigung hätte abbringen können. Andererseits ist zu fragen, ob spätestens seit dem Urteil „Centros“ 1999 das Festhalten an den Sitztheorien im innereuropäischen Rechtsverkehr (auf den die SE ja beschränkt ist523) noch zeitgemäß war oder ist.524 Umso misslicher erscheint es, dass durch die Übernahme einer eigentlich zwischenstaatlichen Streitigkeit, zu der noch nicht einmal Stellung bezogen werden sollte, dem Eindringen der damit einhergehenden Unsicherheiten Vorschub geleistet wird. Insbesondere wäre eine Definition wünschenswert und hilfreich gewesen. Dabei wäre wohl nicht zu befürchten gewesen, dass einzelne Staaten die Definition als verfehlt angesehen hätten, weil sie „ihre“ Sitztheorie nicht widerspiegelt. Wie die Rechtsvergleichung oben nahelegt, ist das jeweilige Anknüpfungskriterium ohnehin selten präzise gesetzlich definiert. Auch wenn „Hauptverwaltung“ sich als tatsächliches Kriterium einer präzisen Definition entziehen mag,525 hätten zumindest einige der oben durch die Rechtsvergleichung 523
Sitz und Hauptverwaltung müssen in der Gemeinschaft liegen, Art. 7 Abs. 1 SE-VO, auch Art. 2 Abs. 1–4 SE-VO. Die Herausverlegung aus der Gemeinschaft (etwa im Fall von zwei luxemburgischen SE auf die Cayman Islands) bedingt stets den Verlust des „Rechtskleids der SE“, vgl. J. Schmidt, DB 2006, 2221 (2222). 524 Zum Rückzug der Sitztheorien bereits oben 3. Kap., B VI und D I 1 a, S. 218 f. und S. 225 f., auch Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, Rn. 173; Grundmann, in: FS Raiser 2005, 81 (89); Grundmann, in: Rosen/DAI (2003), 47 (52). Zur Fragwürdigkeit dieses Ziels bei der SE-VO Ringe, Sitzverlegung, 2006, S. 80. 525 Das gilt zumindest für die in Europa dazu vertretenen Konzepte. Interessanter (hier aber nicht zu vertiefen) könnten dagegen die Anknüpfungskriterien in den sog. „outreach
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3. Kapitel: Hauptverwaltung
aufgeworfenen Fragen geklärt werden können. Zudem hätte eine solche Definition klargestellt, dass eine autonome Auslegung des Terminus erforderlich ist; tatsächlich verleitet gerade das Fehlen einer Definition zu Rückgriffen auf nationale Rechtsordnungen (s.o. 1. Kap., C III 2, S. 69 f.). III. Kohärenz der Rechtssprache Was die Einheitlichkeit der Terminologie angeht, fällt das Fazit dagegen negativ aus. Der verwendete Terminus „Hauptverwaltung“ mag zwar, was positiv ist, so noch nicht im nationalen Recht verwendet werden, andererseits ist er aber auch im Recht der EU bisher so nicht oder kaum bekannt. Zählt man etwa streng, wie viele verschiedene Termini im engeren Sinn das EU-Recht in den hier untersuchten Rechtsakten verwendet (d.h. ein neuer Terminus liegt dann vor, wenn auch nur eine Sprachfassung abweicht), gibt es allein zum Konzept der „Hauptverwaltung“ 13 verschiedene Termini (auch wenn man sich nur auf die hier untersuchten Rechtsakte und Sprachen beschränkt). Das ist fast ein neuer Terminus für jeden Rechtsakt. Ein Blick auf die Ergebnisse zeigt, dass einige Sprachen konsequenter sind als andere – für den untersuchten Bereich war dies neben Deutsch insbesondere Spanisch. Andere scheinen für fast jeden neuen Rechtsakt eine andere Sprachfassung zu verwenden (Polnisch), was nur teilweise dem erhöhten Übersetzungsdruck für die „Sonderausgabe“ des EU-Rechts 2004 in polnischer Sprache geschuldet sein kann. Andere Termini werden nämlich auch im Polnischen weitaus konsequenter verwendet (etwa „Rechtspersönlichkeit“, siehe oben 2. Kap., B III 8, S. 191, 2. Kap., D, S. 204); für „Hauptverwaltung“ scheint eine solche Einheitlichkeit dagegen (noch) nicht zu existieren. Hier herrscht großer Nachbesserungsbedarf. Im Sinn einer einheitlichen Terminologie ist langfristig jedenfalls eine Orientierung am Primärrecht naheliegend, wie dies etwa im europäischen Internationalen Zivilprozessrecht der Fall zu sein scheint.
statutes“ etwa von Kalifornien und New York sein, die an (eine im Einzelnen verschiedene Kombination von) Faktoren wie den Ort der Einkünfte, die gezahlten Löhne und Gehälter oder die Wohnorte der Gesellschafter anknüpfen; zur Möglichkeit einer solchen Anknüpfung siehe bereits Panthen, Sitzbegriff, 1988, S. 82; vgl. zu den amerikanischen Regelungen ausführlicher Merkt, US-amerikanisches Gesellschaftsrecht, 2013, Rn. 228 f.; Sandrock, Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 18 (1978), 169 (193 f.); Sandrock, RabelsZ 42 (1978), 227 (248–250); die Eignung der Definition für europäische Verhältnisse allerdings anzweifelnd Sandrock, in: FS Beitzke 1979, 669 (696); zum Hintergrund auch Latty, Yale L.J. 65 (1955/1956), 137 (156 ff.).
Kapitel 4
Aktie A. Einleitung: „Aktie“ als Konzept einer Verweisungsnorm A. Aktie als Konzept einer Verweisungsnorm
Als Aktiengesellschaft ist die SE in hohem Maße durch ihre Aktien geprägt. Auch das Kapital der SE ist laut Art. 1 Abs. 2 S. 1 SE-VO in „Aktien zerlegt“. Die SE-VO verwendet den Terminus „Aktie“ in Art. 5 SE-VO ferner, um insofern auf das Recht des Sitzstaates zu verweisen, ansonsten in einer Reihe von Vorschriften, die sich insbesondere mit der Gründung der SE befassen. Keiner der genannten Normen ist eine Definition zu entnehmen, vielmehr wird im entscheidenden Art. 5 SE-VO auf das Recht des Sitzstaates verwiesen. Dies könnte Anlass zur Vermutung geben, eine Definition von „Aktie“ sei entbehrlich. Allerdings ist das nationale Konzept gerade nicht maßgeblich. Das nationale Recht gilt nur in Folge eines europäischen Anwendungsbefehls, der vorgibt, in welchem Rahmen nationales Recht Anwendung finden kann. Dieser europäische Rahmen wird durch ein autonomes Konzept vorgegeben, was sich auch daran ablesen lässt, dass der Terminus „Aktie“ in allen Amtssprachen gleichermaßen verbindlich ist. Ob und inwiefern aber auch „share“, „action“, „azione“ etc. auf das deutsche Verständnis von „Aktie“ verweisen oder ob sie z.B. auch andere Konzepte meinen, soll hier durch eine autonome Auslegung von „Aktie“ im Sinn der SE-VO untersucht werden. Es muss sich also jedenfalls ein europäisches universales Rechtskonzept finden lassen.1 Eine Definition von „Aktie“ ist auch nicht deswegen entbehrlich, weil außerhalb des von Art. 5 SE-VO umrissenen Bereichs ebenfalls auf das Recht des Sitzstaates verwiesen wird.2 Denn beide Verweise unterscheiden sich:3 Art. 5 SE-VO verweist vorbehaltlos auf das Recht der nationalen Aktiengesellschaft. 1
Siehe zu solchen Konzepten bereits oben 1. Kap., D IV, S. 94 ff. So aber Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 5 SE-VO Rn. 1 („für die praktische Rechtsanwendung entbehrlich“); ähnlich Ziemons, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 5 Anh. I Rn. 13 (nach einer autonomen Bestimmung von „Aktie“); und B. Mayer, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SEKommentar, 2010, Art. 5 SE-VO Rn. 27 f. (für die Frage der Mitgliedschaftsrechte). 3 Offenbar a.A. Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 5 SE-VO Rn. 1 („Das Ergebnis der Verweisung ist allerdings nach beiden Vorschriften dasselbe“). 2
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4. Kapitel: Aktie
In Art. 9 Abs. 1 lit. c (i) SE-VO dagegen wird zunächst auf das Recht verwiesen, das die Mitgliedstaaten speziell für die SE erlassen (etwa SEAG und SEBG). Bereits aus dem Wortlaut, dass dies „in Anwendung der speziell die SE betreffenden Gemeinschaftsmaßnahmen“ geschieht, ergibt sich, dass speziell für die SE geltendes Recht einer besonderen Ermächtigungsgrundlage in SE-VO oder SE-RL bedarf.4 In Art. 5 SE-VO ist ein solcher Vorbehalt dagegen nicht zulässig. Soweit der Verweis in Art. 5 SE-VO reicht, wäre eine Regelung im SEAG oder SEBG daher unzulässig;5 dies gilt auch für eine „klarstellende Regelung“ durch den nationalen Gesetzgeber: Eine solche Klärung bleibt dem EuGH vorbehalten.6 Weniger klar scheint die Funktion und die selbständige Berechtigung von Art. 5 SE-VO gegenüber Art. 10 SE-VO, da beide Normen dieselbe Verweisung (auf das Recht der nationalen Aktiengesellschaft) aussprechen. 7 Allerdings kann man in Art. 5 SE-VO auch eine Präzisierung vom Gleichbehandlungsgebot in Art. 10 SE-VO erblicken: Für „Aktien“ und andere Wertpapiere besteht ein solcher Vorbehalt nicht, die anderen Normen der SE-VO sind also nicht so auszulegen, dass die Möglichkeit einer solchen Sonderregelung entstünde.8 Bereits aus diesen Gründen ist eine autonome Klärung des Umfangs erforderlich (dazu nachfolgend B). Abschließend (unten C und D) wird zu untersuchen sein, inwieweit in der Literatur doch ein Rückgriff auf nationales Recht vorgenommen wird, ohne die verschiedenen Konzepte hinter demselben Terminus zur Kenntnis zu nehmen.
4
Teichmann, ZGR 2002, 383 (399). Eine solche Regelung hält insbesondere Kallmeyer, AG 2003, 197 (198) für zulässig; die Möglichkeit eines solchen Sonderrechts dagegen ablehnend Fleischer, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 5 SE-VO Rn. 2; Ziemons, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 5 Anh. I Rn. 6; Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 5 SE-VO Rn. 6; Koke, Finanzverfassung der SE, 2005, S. 21 f.; B. Mayer, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SE-Kommentar, 2010, Art. 5 SE-VO Rn. 2; allgemein Siems, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Einl. SE-VO Rn. 113. 6 Koke, Finanzverfassung der SE, 2005, S. 23; Teichmann, ZIP 2002, 1109 (1110); leicht anders Ihrig/Wagner, BB 2003, 969 (970): deklaratorische Äußerungen wären zwar nicht verbindlich, die Aussagen des Gesetzgebers könnten jedoch in der Praxis eine große Autorität entfalten und würden daher die Rechtssicherheit fördern; ebenso Brandt, NZG 2002, 991 (995). Mangels Auslegungskompetenz des deutschen Gesetzgebers würde es sich dabei jedoch nur um eine scheinbare Rechtssicherheit handeln. 7 Fleischer, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 5 Rn. 4; Habersack, ZGR 2003, 724 (731). 8 So auch Oechsler/Mihaylova, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 5 SE-VO Rn. 2. 5
B. Autonome Auslegung
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B. Autonome Auslegung B. Autonome Auslegung
I. Wortlaut Das Wort „Aktie“ stammt – wie seine französischen und italienischen Pendants „action“ bzw. „azione“ – über das Mittelniederländische „actie“ vom lateinischen „actio“ ab und bezeichnete ursprünglich den Anspruch auf Gewinnbeteiligung des Anteilseigners. 9 Heute hat das Wort im natürlichen Sprachgebrauch keine eigenständige Bedeutung. Wenngleich damit umgangssprachlich auch andere Wertpapiere o.ä. bezeichnet werden mögen, stellt sich dies lediglich als unklare Bezeichnung eines von einer Rechtsordnung näher präzisierten Konzepts dar. Ohne Rückgriff auf die nationalen Rechtsordnungen ist daher der Gehalt des Wortlauts nicht zu ermitteln.10 1. Deutschland In Deutschland hat „Aktie“ eine dreifache Bedeutung. Die konkrete Ausgestaltung von Aktien kann in gewissem Umfang von der Gesellschaft selbst vorgenommen werden. Je nachdem, welche Bedeutung von „Aktie“ dabei betroffen ist, werden Aktienformen, -gattungen oder -arten unterschieden (dazu noch im Folgenden). a) Kapitalanteil „Aktie“ bezeichnet zum einen einen Anteil am Grundkapital (§ 1 Abs. 2 AktG: „Die Aktiengesellschaft hat ein in Aktien zerlegtes Grundkapital.“). Hinsichtlich der Art, den Anteil am Grundkapital zu bezeichnen, wird zwischen Aktienformen11 unterschieden: Die Aktien können gem. § 8 Abs. 1 AktG entweder als Nennbetragsaktien ausgegeben werden (zu potenziell unterschiedlichen Nennbeträgen, arg. e. § 8 Abs. 2, 3 AktG, der Bruchteil ist dann als Anteil am Nennwert des Grundkapitals zu errechnen12) oder als Stückaktien (die einen – für alle Stückaktien gleichen, § 8 Abs. 3 AktG13 – Bruchteil am Gesamtkapital
9 Fleckner, in: Basedow/Hopt/Zimmermann, Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, 2009, „Aktiengesellschaft“, Nr. 2 (S. 24). 10 Vgl. allgemein zur methodischen Fragen sowie zur umgangssprachlichen Verwendungsweise oben 1. Kap., C II 2, S. 64 ff. 11 Sailer-Coceani, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 13 Rn. 1, § 11 Rn. 11. 12 Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 2015, Rn. 9.35. 13 Aktien, die verschiedene Bruchteile des Kapitals enthalten und diese auch in einer festen Quote bezeichnen, etwa z.B. in Urkunden verbrieft sind, die 1/50.000-Anteil nennen, sog. „Quotenaktien“, sind unzulässig, da der Anteil nach einer Kapitalerhöhung falsch würde, Heider, in: MüKoAktG Bd. 1, 2016, § 8 AktG Rn. 24; Heider, AG 1998, 1 (2 f.); SailerCoceani, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 13 Rn. 16.
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4. Kapitel: Aktie
bezeichnen, der sich erst aus der in der Satzung genannten Gesamtzahl der Aktien14 ergibt). Bei einer AG sind beide Aktienformen parallel nicht möglich.15 Die Stückaktien wurden 1998 im Zuge der Euro-Umstellung eingeführt, damit die Unternehmen Umrechnungsprobleme vermeiden konnten.16 Die Satzung der AG muss gem. § 23 Abs. 3 Nr. 4 AktG Angaben über die Aktien machen: ob es Nennbetrags- oder Stückaktien sind, „bei Nennbetragsaktien deren Nennbeträge und die Zahl der Aktien jeden Nennbetrags, bei Stückaktien deren Zahl“. Die Summe der Aktien muss (mindestens) dem Grundkapital entsprechen; eine Unterpariemission ist verboten (§ 9 Abs. 1 AktG), eine Überpariemission möglich (§ 9 Abs. 2 AktG). Der über den Nennbetrag hinausgehende Betrag ist in die gesetzliche Rücklage einzustellen (§ 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB). b) Mitgliedschaft Neben der Beteiligung am Grundkapital wird mit „Aktie“ auch die Mitgliedschaft des Aktionärs bezeichnet, also insbesondere die aus der Beteiligung fließenden Rechte. Mehrere Aktien gewähren einem Aktionär ein mehrfaches Mitgliedsrecht, die Anteile verschmelzen nicht.17 Eine Teilung ist ebenfalls unzulässig (Art. 8 Abs. 5 AktG), allerdings ist eine Neustückelung durch satzungsändernden Beschluss möglich.18 Unterscheiden sich Aktien nach den in ihnen enthaltenen Rechten und Pflichten aus der Mitgliedschaft, entstehen verschiedene „Aktiengattungen“, vgl. § 11 AktG. Jede Aktie gewährt grundsätzlich ein Stimmrecht (§ 12 Abs. 1 S. 1 AktG), wobei das Stimmrecht bei Nennbetragsaktien nach Nennbeträgen, bei Stückaktien nach deren Anzahl ausgeübt wird (§ 134 Abs. 1 AktG). Der Grundsatz „one share one vote“ wird jedoch zu Lasten von Vorzugsaktien durchbrochen, die (bis zur Hälfte des Grundkapitals, § 139 Abs. 2 AktG) als Aktien ohne Stimmrecht ausgegeben werden können, wenn ihnen ein Vorzug bei der Verteilung des Gewinns eingeräumt wird, beispielsweise eine Vorab-
14 Nennwertlose Aktien, deren Gesamtzahl nicht dem Grundkapital entspricht, sog. „echte nennwertlose Aktien“, wurden in Deutschland dagegen nie erörtert, Heider, AG 1998, 1 (2). 15 Sailer-Coceani, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 11 Rn. 11. 16 Dazu Ihrig/Streit, NZG 1998, 201 (201 ff.); Heider, AG 1998, 1 (1 ff.); Bungert, NZG 1998, 172 (172 f.); Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 2015, Rn. 9.37. 17 Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 2015, Rn. 9.41. 18 Sailer-Coceani, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 12 Rn. 18; Koch, in: Hüffer, Aktiengesetz, 2016, § 8 AktG Rn. 27.
B. Autonome Auslegung
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oder eine Mehrdividende (§§ 12 Abs. 1 S. 2, 139 Abs. 1 AktG). Mehrstimmrechtsaktien sind seit dem KonTraG 199819 nicht mehr zulässig.20 Vorzugsaktien mit Stimmrecht sind möglich, aber eher unüblich.21 Zulässig22 sind auch Aktien, deren Dividendenanspruch sich an dem Gewinn nicht des gesamten Unternehmens, sondern einer „getrackten“ Sparte orientiert (sog. Tracking Stocks oder Spartenaktien). Diese haben sich jedoch in Deutschland noch nicht als besonders populär erwiesen.23 Neben den genannten Stimm- und Vermögensrechten gehören zur Mitgliedschaft auch Auskunftsrechte der Aktionäre, daneben Treuepflichten und die Pflicht zur Leistung der Einlage.24 c) Verbriefung „Aktie“ bezeichnet schließlich drittens auch die Urkunde, in der die Mitgliedschaft verbrieft wird. Eine solche Verbriefung ist nicht zwingend nötig, sodass es sich um ein „deklaratorisches Wertpapier“ handelt.25 Andererseits wird eine Verbriefung aber vom Gesetz an vielen Stellen vorausgesetzt; zudem besteht ein Anspruch der Aktionäre auf Verbriefung (arg. e § 10 Abs. 5 AktG).26 Die Praxis macht aber überwiegend von der Möglichkeit des § 10 Abs. 5 AktG, den Anspruch des Aktionärs auf Verbriefung seiner einzelnen Mitgliedschaft auszuschließen oder zu beschränken, Gebrauch und stellt Dokumente über ihre 19 Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) vom 27. April 1998 (BGBl. I, S. 786). 20 Zum Hintergrund vgl. Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 2015, Rn. 9.42; Hoffmann-Becking, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 39 Rn. 11. Gem. § 5 Abs. 1 EGAktG können frühere Mehrstimmrechtsaktien u.U. noch fortbestehen. 21 Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 2015, Rn. 9.41; einen Überblick zu einigen Gegenbeispielen geben W. Bayer/Hoffmann, AG 2010, R207. 22 Heute unbestritten, Fuchs, ZGR 2006, 167 (169 m.w.N. in Fn. 12); Sailer-Coceani, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 13 Rn. 10; s.a. Sieger/Hasselbach, AG 2001, 391; noch zurückhaltender, i.E. aber auch zustimmend Baums, in: FS Boujong 1996, 19 (27 ff.). 23 Sailer-Coceani, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 13 Rn. 10; Fuchs, ZGR 2006, 167 (170); positiv zum ersten Fall in Deutschland (der Hamburger Hafen und Logistik AG 2007) Cichy/Heins, AG 2010, 181 (187 ff.). 24 Dazu ausführlich Rieckers, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 17; zu den erfassten Pflichten vgl. dort Rn. 1: „Die in der Aktie […] verkörperte Mitgliedschaft des Aktionärs umfasst die Summe aller Rechte […] und alle Pflichten […]“. 25 Sailer-Coceani, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 12 Rn. 3; Schwennicke, AG 2001, 118 (120); Vatter, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, § 10 AktG Rn. 27 f.; vgl. auch die Fälle BGH, II ZR 259/00, Urt. vom 28.01.2002 = NZG 2002, 333; OLG München, 31 Wx 098/08, Beschl. vom 03.02.2009 = AG 2009, 672. 26 Sailer-Coceani, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 12 Rn. 4; Dauner-Lieb, in: KöKoAktG Bd. 1, 2011, § 10 AktG Rn. 10; Vatter, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, § 10 AktG Rn. 29; Ziemons, in: K. Schmidt/Lutter, AktG-Kommentar Bd. I, 2015, § 10 AktG Rn. 37.
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4. Kapitel: Aktie
gesamten Aktien (Globalurkunde) oder zumindest eine große Anzahl aus.27 An dem Anspruch auf Verbriefung als Globalurkunde wird aber festgehalten, da ansonsten die Aktie zu einem „Wertrecht“ würde.28 Die Unterscheidung nach der Art der Verbriefung schafft verschiedene „Aktienarten“.29 Aktien können als Inhaber- oder Namensaktien ausgegeben werden, also denjenigen berechtigen, der namentlich erwähnt ist, oder den jeweiligen Inhaber (§ 10 Abs. 1 AktG); die Entscheidung ist in gewissen Grenzen (etwa § 10 Abs. 2 AktG) frei in der Satzung möglich (§ 23 Abs. 3 Nr. 5 AktG).30 Inhaber- und Namensaktien sind noch keine verschiedenen Aktiengattungen;31 beide sind gleichzeitig bei derselben AG möglich.32 Eine genaue Nennung der Anzahl der Aktien der jeweiligen Arten ist nicht nötig, auch da eine nachträgliche Umwandlung auf Verlangen des Aktionärs ermöglicht werden kann (§ 24 AktG) und daher ansonsten die Satzung dann jedes Mal geändert werden müsste.33 Beliebt sind Namensaktien neben ihrer Übertragbarkeit auch wegen der besseren Kenntnis der Gesellschaft von ihren Aktionären (Investor Relations).34 In einem Namensregister sind die Aktionäre namentlich zu erfassen (§ 67 Abs. 1 AktG), das bei der Gesellschaft und meist elektronisch geführt wird. Im Verhältnis zur Gesellschaft gilt nur als Aktionär, wer dort erfasst ist (§ 67 Abs. 2 AktG). In der Praxis wird die Aussagekraft des Registers allerdings dadurch geschmälert, dass die dort Eingetragenen die Aktien teilweise für Rechnung eines anderen halten (Legitimations- oder Registeraktionäre, häufig sog. Nominee-Banken, als Ermächtigungstreuhänder). 35 Bei börsennotierten
27 Schwennicke, AG 2001, 118 (118 f.); Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 2015, Rn. 9.47; näher zu den möglichen Einschränkungen Sailer-Coceani, in: MünchHdBGesR IV, 2015, § 12 Rn. 4 f. 28 OLG München, 23 U 5121/04, Urt. vom 04.05.2005 = NZG 2005, 756, 757; SailerCoceani, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 12 Rn. 5; Schwennicke, AG 2001, 118 (119 m.w.N.); a.A. Ziemons, in: K. Schmidt/Lutter, AktG-Kommentar Bd. I, 2015, § 10 Rn. 39; Heider, in: MüKoAktG Bd. 1, 2016, § 10 AktG Rn. 58. 29 Sailer-Coceani, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 13 Rn. 1. 30 Zu weiteren Einschränkungen Sailer-Coceani, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 13 Rn. 2. 31 Koch, in: Hüffer, Aktiengesetz, 2016, § 11 AktG Rn. 7; Heider, in: MüKoAktG Bd. 1, 2016, § 11 Rn. 29 f.; Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015; Ziemons, in: K. Schmidt/Lutter, AktG-Kommentar Bd. I, 2015, § 11 AktG Rn. 11. 32 Sailer-Coceani, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 11 Rn. 12, § 12 Rn. 6. 33 Sailer-Coceani, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 13 Rn. 1. 34 Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 2015, Rn. 9.45; Sailer-Coceani, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 13 Rn. 3. 35 Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 2015, Rn. 9.45; Sailer-Coceani, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 14 Rn. 67 ff.; zu Mitteilungspflichten nach dem WpHG Cahn, AG 2013, 459 (459 ff.); W. Bayer/Scholz, NZG 2013, 721 (721 ff.).
B. Autonome Auslegung
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Publikumsgesellschaften mit Namensaktien36 war der Anteil bis Ende 2007 auf meist über die Hälfte gestiegen.37 Daraufhin hat der Gesetzgeber38 mit der Einführung von § 67 Abs. 4 S. 2 AktG geregelt, dass auf Verlangen der Gesellschaft der Registeraktionär anzugeben hat, inwiefern ihm die Aktien, für die er eingetragen ist, auch tatsächlich gehören. Die ursprünglich weite Verbreitung von Inhaberaktien ist in den letzten Jahren u.a. durch Initiativen des Gesetzgebers zurückgedrängt worden,39 zu nennen sind insbesondere das NaStrG 200140 und als vorläufiger Schlusspunkt der Entwicklung die Aktienrechtsnovelle 2016.41 Inhaberaktien sind nach der Novelle 2016 nur noch bei börsennotierten Gesellschaften oder bei Sammelverwahrung zulässig (§ 10 Abs. 1 AktG). Ursprünglich noch weitergehende Pläne des Gesetzgebers, Inhaberaktien nur noch bei börsennotierten Gesellschaften zuzulassen,42 sind auf teils deutlichen Widerstand gestoßen43 und zumindest in der letzten Reform noch nicht verwirklicht worden. Aktienurkunden können gem. § 72 AktG für kraftlos erklärt werden.44 d) Übertragung von Aktien Der Grundsatz der freien Veräußerbarkeit der Aktien ist ein Ersatz für die fehlenden Möglichkeiten des Aktionärs, sich anderweitig (etwa durch Austritt oder Kündigung der Mitgliedschaft) von der AG zu lösen. Bei der Veräußerung von Aktien (im Sinn der Mitgliedschaft) ist nach der Art ihrer Verbriefung und Aufbewahrung zu unterscheiden. Unverbriefte Anteile werden rechtsgeschäftlich grundsätzlich formlos gem. §§ 413, 398 BGB übertragen; allerdings ist die Schriftform schon wegen des 36 Vgl. die Auflistung mehrerer DAX-30-Konzerne bei Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 2015, Rn. 9.45. 37 BT-Drs. 16/7438, Regierungsbegründung zum Risikobegrenzungsgesetz (vgl. nächste Fn.), S. 14. 38 Vgl. Gesetz zur Begrenzung der mit Finanzinvestitionen verbundenen Risiken (Risikobegrenzungsgesetz) vom 12. August 2008 (BGBl. I, S. 1666). Kritisch zu dieser und zu nachfolgenden Gesetzesänderungen, die einer („vermeintlichen“) Registerwahrheit die Registerklarheit opferten, Noack, NZG 2008, 19, 721 (721 ff.). 39 Vgl. zur Entwicklung Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 2015, Rn. 9.44; Sailer-Coceani, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 13 Rn. 3. 40 Gesetz zur Namensaktie und zur Erleichtung der Stimmrechtsausübung vom 18. Januar 2001 (BGBl. I, S. 123). 41 Gesetz zur Änderung des Aktiengesetzes (Aktienrechtsnovelle 2016) vom 22. Dezember 2015 (BGBl. I, S. 2565); dazu Götze, NZG 2016, 48 (48 ff.). 42 Dazu hatte u.a. die Financial Action Task Force aufgerufen, vgl. Mutual Evaluation Report Germany, 19.02.2010, S. 248–250; abrufbar unter , abgerufen am 21.10.2017. 43 Bungert/Wettich, ZIP 2011, 160 (161 f.); Noack, DB 2010, Heft 48, 2657 (2657 f.); Handelsrechtsausschuss des Deutschen Anwaltvereins, NZG 2011, 217 (217 f.). 44 Dazu ausführlicher Sailer-Coceani, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 12 Rn. 32 ff.
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4. Kapitel: Aktie
in § 410 BGB geforderten Nachweises ratsam.45 Inhaberaktien werden als Inhaberpapiere nach den §§ 929 ff. BGB, 366 f. HGB durch Übergabe(surrogat) oder nach §§ 413, 398 BGB übertragen; ein Gutglaubenserwerb ist nur in ersterem Fall möglich.46 Namensaktien werden grundsätzlich per Zession (§§ 413, 398 ff. BGB), begleitet von einem Übergabe(surrogat), übertragen. 47 Gem. § 68 Abs. 1 AktG, Art. 12, 13, 16 WG können Namensaktien auch per Indossament als geborene Orderpapiere übertragen werden.48 Nach h.M. ist zudem die Übertragung des Eigentums am Papier nach §§ 929 ff. BGB erforderlich; ist die Namensaktie blankoindossiert, erfolgt die Übertragung wie bei Inhaberaktien.49 Die Veräußerung von Namensaktien kann gem. § 68 Abs. 2 AktG mit dinglicher Wirkung von der Zustimmung der Gesellschaft abhängig gemacht werden (Vinkulierung). Die Übertragung von Namensaktien ist gem. § 67 Abs. 3 AktG der Gesellschaft anzumelden, die dann Löschung und Neueintragung im Aktienregister vornimmt. Meldet sich nur der Veräußerer, wird nur dieser gelöscht, der Erwerber wird nicht ohne sein Einverständnis eingetragen, sondern vielmehr ein „freier Meldestand“ registriert.50 Allerdings kann dann die depotführende Bank gem. § 67 Abs. 4 S. 5 AktG als Platzhalter eingetragen werden. Für die Übertragung der Aktie ist die Eintragung im Namensregister nicht konstitutiv,51 allerdings können gem. § 67 Abs. 2 AktG Rechte gegenüber der Gesellschaft (insbesondere Dividenden- und Stimmrechte) erst dann geltend gemacht werden, wenn der Aktionär auch im Namensregister eingetragen ist.52
45
Sailer-Coceani, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 14 Rn. 2 f. Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 2015, Rn. 12.3; Sailer-Coceani, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 14 Rn. 4 f.; Eder, NZG 2004, 107 (108); Mentz/Fröhling, NZG 2002, 201 (202): teilweise wird auch im Fall einer Übertragung nach §§ 398, 413 BGB vertreten, dass ein(e) Übergabe(surrogat) nötig sei, m.w.N. in Fn. 5 f. 47 BGH, II ZR 288/02, Urt. vom 20.09.2004, BGHZ 160, 253, 256; KG, 14 U 1541/00, Urt. vom 20.12.2002 = NZG 2003, 226, 227 f.; Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 2015, Rn. 12.5; Sailer-Coceani, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 14 Rn. 13; Ziemons, in: K. Schmidt/Lutter, AktG-Kommentar Bd. I, 2015, § 10 AktG Rn. 33; Mentz/Fröhling, NZG 2002, 201 (202 f.). 48 Näher dazu Sailer-Coceani, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 14 Rn. 6 ff. 49 Koch, in: Hüffer, Aktiengesetz, 2016, § 68 AktG Rn. 5; Mülbert, in: FS Nobbe 2009, 691 (700); Mentz/Fröhling, NZG 2002, 201 (202). 50 Sailer-Coceani, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 14 Rn. 43 f. 51 Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 2015, Rn. 12.5; Mentz/Fröhling, NZG 2002, 201 (203). 52 Allerdings soll dem nicht eingetragenen Aktionär dennoch ein Anspruch auf den Liquidationserlös zustehen, Drygala, NZG 2004, 19, 893 (895 f.). 46
B. Autonome Auslegung
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Bei verbrieften Aktien ist eine Verwahrung denkbar, die Auswirkungen auf deren Übertragungsmöglichkeiten hat. Im (praktischen Ausnahme-53)Fall der Sonderverwahrung ändert sich die Eigentümerstellung an den Aktien nicht, sodass diese nach denselben Regeln übertragen werden, lediglich bei Inhaberaktien tritt die Abtretung des Herausgabeanspruchs an die Stelle der Übergabe (§ 931 BGB).54 Regelfall ist die Sammelverwahrung, die selten bei einem Kreditinstitut (§ 5 Abs. 1 S. 2 DepotG: nur bei ausdrücklicher und schriftlicher Ermächtigung), in der Regel aber bei einer Wertpapiersammelbank unter notwendiger Zwischenschaltung einer Depotbank erfolgt, dann sog. „Girosammelverwahrung“. 55 Einzige Wertpapiersammelbank in Deutschland ist die Clearstream Banking AG mit Sitz in Frankfurt/Main. 56 Sammelverwahrungsfähig sind neben Inhaberaktien auch blankoindossierte Namensaktien. 57 Folge der Sammelverwahrung ist, dass gem. § 6 Abs. 1 DepotG das Eigentum des Aktionärs an seiner Urkunde durch Miteigentum nach Bruchteilen an dem Sammelbestand des Verwahrers ersetzt wird. Dennoch steht abweichend vom Bruchteilseigentum im BGB dem Hinterleger ein Anspruch auf Aussonderung von Wertpapieren in Höhe der von ihm hinterlegten Papiere zu (§ 7 DepotG); diese Maßgabe soll neben den dinglichen Ansprüchen auch für die schuldrechtlichen Ansprüche des Hinterlegers gelten.58 Die h.M. nimmt einen (mittelbaren) Besitz des Hinterlegers an,59 sodass die Übertragung des Papiers gem. §§ 929 ff. BGB erfolgen kann (durch Übergabe, indem die Mittelsperson (die Wertpa-
53 Die Sonderverwahrung, auch „Streifbandverwahrung“, ist teuer und kompliziert; sie ist nur bei Unzulässigkeit der Sammelverwahrung oder bei ausdrücklichem Verlangen zulässig; s.a. Sailer-Coceani, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 14 Rn. 60; Mentz/Fröhling, NZG 2002, 201 (203). 54 Sailer-Coceani, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 14 Rn. 61; Mentz/Fröhling, NZG 2002, 201 (203). 55 Es liegt also ein Fall der Drittverwahrung vor, Mentz/Fröhling, NZG 2002, 201 (204 f.). 56 Mentz/Fröhling, NZG 2002, 201 (204); Eder, NZG 2004, 107 (110). 57 Vgl. Nr. 46 Abs. 1 AGB der Clearstream Banking AG, Mentz/Fröhling, NZG 2002, 201 (204); Sailer-Coceani, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 14 Rn. 8, 64. 58 Streitig, Nachweise bei Mentz/Fröhling, NZG 2002, 201 (205); Einsele, WM 2001, 7 (11 Fn. 41 f.). 59 BGH, II ZR 146/64, Urt. vom 08.06.1967 = WM 1967, 902; BGH, XI ZR 127/96, Urt. vom 22.04.1997 = NJW 1997, 2110, 2111; OLG Karlsruhe, 19 U 33/98, Urt. vom 03.12.1998 = WM 1999, 2451; Mentz/Fröhling, NZG 2002, 201 (205); Eder, NZG 2004, 107 (111); Habersack/Mayer, WM 2000, 1678 (1680); Böning, ZInsO 2008, 873 (877 ff.); a.A. Einsele, WM 2001, 7 (11) (mit Folgen wie unten bei der Dauerglobalurkunde).
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4. Kapitel: Aktie
piersammelbank) angewiesen wird, für die Depotbank des Erwerbers zu besitzen, außerhalb des Effektengiroverkehrs auch gem. §§ 930 f. BGB).60 Entsprechend verläuft die Übertragung von Namensaktien, wobei hier die Clearstream Banking AG die Löschung und Neueintragung im Aktienregister beantragt.61 Diese Regeln für die Verwahrung von Einzelurkunden gelten entsprechend für Sammelurkunden im Sinn des § 9a Abs. 1 S. 1 DepotG, also für Wertpapiere, die Rechte verbriefen, die jedes für sich in vertretbaren Wertpapieren einer und derselben Art verbrieft sein könnten. Hier besteht ein Herausgabeanspruch auf einzelne Urkunden (§ 9a Abs. 3 S. 1 DepotG) und damit (nach h.M.62) auch ein Besitz des Hinterlegers. Unklar ist aber die Geltung für Dauerglobalurkunden, also für Wertpapiere, bei denen der Anspruch auf Auslieferung von Einzelstücken auf Dauer ausgeschlossen ist (§ 9a Abs. 3 S. 2 DepotG); auch Aktien können als Dauerglobalurkunden ausgegeben werden. 63 Denkbar ist ein Herausgabeanspruch nur, wenn er auf die Verschaffung mittelbaren Mitbesitzes gerichtet ist oder von allen Bruchteilsberechtigten zugleich ausgeübt wird.64 Teilweise wird daher davon ausgegangen, dass hier die Papiere durch bloße dingliche Einigung übertragen werden.65 Gutglaubenserwerb wird überwiegend als möglich angesehen und geht zu Lasten des wahren Berechtigten.66
60
Vgl. dazu ausführlicher Mentz/Fröhling, NZG 2002, 201 (205 ff.). Die Übertragung inner- bzw. außerhalb des Effektengiroverkehrs ist auf schuldrechtlicher Ebene insbesondere für die Stellung der Depotbank als Verkaufskommissärin entscheidend. Wer einen Besitz des Hinterlegers ablehnt, fordert schon hier die Übereignung die bloße Einigung, vgl. Einsele, WM 2001, 7 (12 f.). 61 Sailer-Coceani, in: MünchHdB-GesR IV, 2015, § 14 Rn. 43. 62 A.A. Einsele, WM 2001, 7 (11); Einsele, ZHR 177 (2013), 50 (56). 63 Einsele, WM 2001, 7 (8); Mentz/Fröhling, NZG 2002, 201 (208). 64 Modlich, DB 2002, Heft 13, 671 (674); befürwortend („aufschiebend bedingt auf den Zeitpunkt der Vereinigung aller Mitgliedschaften in einer Hand (z.B. durch Squeezeout))“ auch Eder, NZG 2004, 107 (113); ablehnend dagegen Habersack/Mayer, WM 2000, 1678 (1680) (u.a., weil Globalurkunden grds. bei einer Wertpapiersammelstelle zu verwahren seien); auch Einsele, WM 2001, 7 (11). 65 Habersack/Mayer, WM 2000, 1678 (1682) (Übertragung nach §§ 413, 398 BGB); a.A. Modlich, DB 2002, Heft 13, 671 (674 f.) (Übergabe bzw. Surrogat nötig); vorzugswürdig auch laut Mentz/Fröhling, NZG 2002, 201 (210). 66 Koller, DB 1972, 1857 (1857 ff.) (S. 1905 ff. zum Depotbuch und zum mittelbaren Besitz als Rechtscheinsträger); Eder, NZG 2004, 107 (114); ablehnend (Register kein Rechtsscheinsträger im Sinn des sachenrechtlichen Publizitätsgrundsatzes) Habersack/Mayer, WM 2000, 1678 (1682 f.); ebenso Einsele, WM 2001, 7 (13); Einsele, ZHR 177 (2013), 50 (57).
B. Autonome Auslegung
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Trotz der im Interesse der Praktikabilität weitgehenden Dematerialisierung der Aktien werden diese also dogmatisch gesehen nach wie vor nach sachenrechtlichen Vorschriften übertragen. 67 Lediglich de lege ferenda wird der Übergang zu einem Wertrecht gefordert.68 e) Zusammenfassung zum deutschen Recht In Deutschland bezeichnet „Aktie“ einen Kapitalanteil, die Mitgliedschaft sowie die verbriefte Urkunde. Bei letzterer wird dabei nach wie vor an sachenrechtlichen Grundsätzen festgehalten. 2. Italien Auch das italienische Recht verwendet den Terminus „azione“ (im Plural: azioni). In Art. 2346–2362 c.c. finden sich Regelungen zur Ausgabe, Übertragung und zum Erwerb von Aktien. Azioni finden sich aber (neben der società in accomandita per azioni) auch bei den Genossenschaften (vgl. Art. 2525 Abs. 1 c.c.). Grundsätzlich wird hier auf das Recht der italienischen AG (S.p.A.) verwiesen (Art. 2525 Abs. 5 c.c.). Die Anteile an der società a responsabilità limitata heißen dagegen „quote di partecipazioni“; hier heißt es ausdrücklich: „Le partecipazioni dei soci non possono essere rappresentate da azioni […]“ (Art. 2468 Abs. 1, „Die Beteiligungen der Gesellschafter können nicht in Aktien verkörpert werden“). In der italienischen Rechtsordnung werden mit dem Terminus „azione“ drei Konzepte verbunden:69 zunächst das der gesellschaftlichen Beteiligung (vgl. Art. 2346 Abs. 1 c.c.: „La partecipazione sociale è rappresentata da azioni“), zweitens ein Kapitalanteil und schließlich drittens das Konzept des Wertpapiers, das die Beteiligung verbrieft (bzw. des an dessen Stelle tretenden,
67 BGH, II ZR 146/64, Urt. vom 08.06.1967 = WM 1967, 902; BGH, IX a ZB 24/04, Beschl. vom 16.07.2004, BGHZ 160, 121, 124. Auch der Gesetzgeber hielt im neuen § 10 Abs. 5 AktG bewusst an diesem Grundsatz fest, vgl. BT-Dr 13/10038, S. 25 zum KonTraG 1998; s.a. Eder, NZG 2004, 107 (112); Habersack/Mayer, WM 2000, 1678 (1678). 68 Habersack/Mayer, WM 2000, 1678 (1684); ihnen folgend Schwennicke, AG 2001, 118 (124); gegen eine restlose Entmaterialisierung dagegen Einsele, WM 2001, 7 (10); Mentz/Fröhling, NZG 2002, 201 (210); Mülbert, in: FS Nobbe 2009, 691 (724). 69 Libonati, Titoli di credito e strumenti finanziari, 1999, S. 156 f.; Cian, in: Cian/Trabucchi, Commentario breve al Codice civile, 2016, Art. 2346 c.c. Rn. I 1; Alpa/Mariconda, Codice Civile, 2013, Art. 2346 c.c. Rn. 2; Campobasso/Campobasso, Diritto delle società, 2012, S. 200.
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4. Kapitel: Aktie
„dematerialisierten“ Finanzinstruments). 70 Die wichtigsten Funktionen sind dabei die der gesellschaftlichen Beteiligung und die Verbriefung derselben.71 a) Gesellschaftliche Beteiligung Die gesellschaftliche Beteiligung azione ist unteilbar (Art. 2347 c.c.). Grundsätzlich sind alle Aktien gleich, haben den gleichen Wert und verleihen also dem jeweiligen Aktionär die gleichen Rechte (Art. 2348 Abs. 1 c.c.: „di uguale valore“, „conferiscono ai loro possessori uguali diritti“). Die gesellschaftliche Beteiligung besteht aus einer Reihe von Rechten (verschiedenen Inhalts) und Pflichten der Gesellschafter.72 Die Rechte werden meist in Verwaltungs- und Vermögensrechte eingeteilt (nach der in der Literatur verwendeten Terminologie diritti amministrativi o corporativi und diritti patrimoniali);73 unter den wichtigsten Verwaltungsrechten ist das Recht auf Teilnahme an der Hauptversammlung (diritto d’intervento all’assemblea, Art. 2370 c.c.) sowie das Stimmrecht (Art. 2351 c.c.), daneben Anfechtungs- und Kontrollrechte wie Einsicht in die Bücher und Protokolle der Gesellschaft (Art. 2377 f. c.c., Art. 2422 c.c.). Wichtigstes Vermögensrecht ist der Anspruch des Gesellschafters auf einen Anteil an Reingewinn und Liquidationserlös (Art. 2350 c.c.), wobei die Entscheidung, inwiefern der Gewinn überhaupt an die Gesellschafter verteilt wird, der Hauptversammlung obliegt (Art. 2433 c.c.), die dabei nur an den Gesellschaftszweck gebunden ist.74 Weitere Rechte sind das Bezugsrecht (Art. 2441 c.c.) und das Recht auf kostenlose Zuweisung zusätzlicher Aktien bei Umwandlung von Reserven in neues Kapital (Art. 2442 c.c.); was die Pflichten angeht, können neben der Hauptpflicht, die versprochene Einlage zu leisten (Art. 2442 c.c.), im Gründungsakt (atto costitutivo) noch zusätzliche Pflichten festgelegt werden (Art. 2445 c.c.).
70
Etwa in Art. 2354, 2355 c.c., vgl. den Hinweis bei Kindler, Italienisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2014, § 4 Rn. 130. 71 Diese Funktionen sind auch die einzigen, die (in dieser Reihenfolge, da die Verbriefung von der gesellschaftlichen Beteiligung abhängig ist) bei Cagnasso, in: Digesto delle discipline privatistiche, Sez. Commerciale II, 1987), S. 128 (Lemma „azioni di società“) genannt werden. 72 Cagnasso, in: Digesto delle discipline privatistiche, Sez. Commerciale II, 1987, S. 128 (Lemma „azioni di società“). 73 Cagnasso, ebda, S. 128 (Lemma „azioni di società“). 74 Darauf weist bereits Cagnasso, ebda., S. 129 (Lemma „azioni di società“) hin.
B. Autonome Auslegung
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b) Categorie di azioni Aktien lassen sich nach dem Inhalt der Rechte, die sie verleihen, nach Kategorien (categorie)75 einteilen in Stammaktien (ordinarie), Genussaktien (di godimento), Vorzugsaktien (privilegiate) und Sparaktien (di risparmio). Vorzugsaktien können für Gewinn- und Liquidationserlösbeteiligung eine bevorzugte Behandlung der Vorzugsaktionäre im Rahmen der übrigen Regelungen vorsehen (hier ist insbesondere das Verbot der leoninischen Gesellschaft zu beachten).76 Dem korrespondieren in der Rechtswirklichkeit häufig, jedoch rechtlich nicht zwingend, Stimmrechtsbeschränkungen (Art. 2351 c.c., dazu sogleich).77 Sparaktien werden dagegen als so verschieden von den normalen azioni angesehen, dass man sie als eigenständiges Phänomen ansieht. 78 Insbesondere sind Sparaktien besonders, weil sie kein Stimmrecht haben (Art. 145 ff. T.U.F.79), bei der Einberufung der Hauptversammlung (assemblea) etc. nicht zu berücksichtigen sind (Art. 145 Abs. 6 T.U.F.), nicht Gegenstand eines öffentlichen Kaufangebots (offerta pubblica di acquisto, Art. 108 T.U.F.) sein können und dafür aber eine besondere steuerliche Behandlung genießen.80 Mehrstimmrechtsaktien (azioni a voto plurimo) können nicht ausgegeben werden (Art. 2351 Abs. 4 c.c.). Sie wurden mit Erlass des c.c. 1942 abgeschafft; bis dahin nach dem alten Handelsgesetzbuch (codice di commercio) bestehende Mehrstimmrechtsaktien können jedoch, je nach Satzungsbestimmung, nach wie vor weiterbestehen.81 Stimmrechtsbeschränkungen sind möglich für bestimmte Kategorien von Aktien (in gewissen Grenzen: vgl. Art. 2351 Abs. 2 c.c.: maximal die Hälfte des Kapitals, von bestimmten Entscheidungen können auch diese Aktien nicht ausgeschlossen werden) oder durch Einführung von Höchstgrenzen (Art. 2351 Abs. 3 c.c.: nur für Gesellschaften, die keinen Gebrauch vom Risikokapitalmarkt machen). 75 Den Ausdruck „categorie“, der Unterschiede in den Rechten bezeichnet und den der Gesetzgeber auch in Art. 2348 c.c. verwendet, sehen manche als Gegenbegriff zu „tipi“ (Typen) von „azioni“, der Unterschiede in „äußeren Charakteristika“ i.d.R. des Dokumentes bezeichnet (also Namens-, Inhaber-, vinkulierte Aktien usf.), Cagnasso, in: Digesto delle discipline privatistiche, Sez. Commerciale II, 1987, S. 130 (Lemma „azioni di società“). 76 Cagnasso, in: Digesto delle discipline privatistiche, Sez. Commerciale II, 1987, S. 130 (Lemma „azioni di società“). 77 Sciuto/Spada, in: Colombo/Portale, Trattato, 1*, 2004, S. 39. 78 Libonati, Titoli di credito e strumenti finanziari, 1999, S. 157 f. (Fn. 1). 79 Decreto legislativo 24 febbraio, n. 58, Testo unico delle disposizioni in materia di intermediazioni finanziaria, ai sensi degli articoli 8 e 21 della legge 6 febbraio 1996, n. 52, GU n. 71 del 26.03.1998 – Suppl. Ordinario n. 52. 80 Zur steuerlichen Sonderbehandlung Cagnasso, in: Digesto delle discipline privatistiche, Sez. Commerciale II, 1987, S. 130 (Lemma „azioni di società“). 81 Zu Details vgl. Cagnasso, in: Digesto delle discipline privatistiche, Sez. Commerciale II, 1987, S. 131 (Lemma „azioni di società“).
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4. Kapitel: Aktie
c) Kapitalbeteiligung Die zweite Bedeutung von „azione“ ist die Maßeinheit, mit der die Beteiligung des Aktionärs quantifizierbar gemacht wird.82 Die Beteiligung des Gesellschafters an der Gesellschaft wird nicht in ihrer Gesamtheit betrachtet, sondern ist proportional zur Summe der Kapitalanteile, die er besitzt (von Ausnahmen durch sog. „golden shares“ abgesehen).83 Maßeinheit ist die einzelne Beteiligung, sodass das Kriterium des Gesellschafters für die Aktiengesellschaft in den Hintergrund tritt: Der Beitritt oder Austritt einzelner Gesellschafter lässt den Bestand der Gesellschaft unberührt, die Zahl der möglichen Gesellschafter kann zwischen einem und der Zahl der (unteilbaren) Anteile frei variieren.84 Mit der Reform 2004 wurde neben den Aktien mit Nominalwert in Art. 2346 Abs. 2 und 3 c.c. die Möglichkeit von Aktien ohne ausdrücklichen Nominalwert (azioni senza valore nominale) geschaffen, deren Wert sich nicht ausdrücklich aus der Urkunde ergibt, sich aber mittelbar aus der Gesamtzahl der Anteile errechnen lässt. 85 Eine Aktiengesellschaft kann nur entweder Nennwert- oder nennwertlose Aktien haben.86 d) Verbriefung und Übertragung Eine solche Organisationstechnik prädisponiert die Aktien bereits für ihre Funktion als Wertpapier, das dritte mit „azione“ verbundene Konzept.87 Als solche werden Aktien nach herrschender Lehre und Rechtsprechung als titoli di credito, also Wertpapiere i.S.d. Art. 1992 ff. c.c. eingeordnet.88 Die Übertragung von Aktien ist zwar im Gesetz für Inhaberaktien, die durch Übergabe des Wertpapiers übertragen werden (azioni al portatore, Art. 2355 Abs. 2 c.c.), und Namensaktien (azioni nominative, Art. 2355 Abs. 3 c.c.) getrennt geregelt. Jedoch gibt es durch eine königliche Verordnung mit Gesetzeskraft von 1941, 89 die für alle Aktiengesellschaften mit Sitz in Italien
82 Dieses Konzept ist das in der Lehre am wenigsten verbreitete; so die Feststellung bei Sciuto/Spada, in: Colombo/Portale, Trattato, 1*, 2004, S. 33 (m.w.N. zu dieser Auffassung in Fn. 57, vgl. auch die oben Genannten). 83 Libonati, Titoli di credito e strumenti finanziari, 1999, S. 158. 84 Sciuto/Spada, in: Colombo/Portale, Trattato, 1*, 2004, S. 45. 85 Cagnasso, in: Alpa/Mariconda, Codice Civile, 2013, Art. 2346 Rn. 10. 86 Cagnasso, in: Alpa/Mariconda, Codice Civile, 2013, Art. 2346 Rn. 10. 87 Libonati, Titoli di credito e strumenti finanziari, 1999, S. 158. 88 Cagnasso, in: Digesto delle discipline privatistiche, Sez. Commerciale II, 1987, S. 131 (Lemma „azioni di società“). 89 Regio decreto-legge 25 ottobre 1941, n. 1148, Nominatività obbligatoria dei titoli azionari, GU n. 254 del 27.10.1941; ebenso decreto del Presidente della Repubblica 29 settembre 1973, n. 600, Disposizioni comuni in materia di accertamento delle imposte sui redditi, GU n. 268 del 16.10.1973 – Suppl. Ordinario n. 1, nachdem einige Regionen zwi-
B. Autonome Auslegung
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insbesondere aus Gründen steuerlicher Transparenz90 den Zwang zu Namensaktien (nominatività obbligatoria) vorsieht, bis auf wenige Ausnahmen kaum noch Inhaberaktien.91 Insbesondere für neu auszugebende Aktien besteht das in Art. 2355 Abs. 1 c.c. bestimmte Wahlrecht in der Rechtswirklichkeit nicht.92 Außerbörslich werden die praktisch allein relevanten Namensaktien nach den Regeln übertragen, die Art. 2021–2027 c.c. („Dei titoli nominativi“, „Über Namenspapiere“) vorsehen und die ihrerseits auf verschiedene Änderungsgesetze zum c.c. zurückgehen.93 Grundsätzlich erfolgt demnach die Übertragung durch Indossament (girata, Art. 2023 c.c.).94 Das Indossament muss von einem Notar (notaio) oder Börsenmakler (agente di cambio) beglaubigt sein (Art. 2023 Abs. 1 c.c.) und mit Datum, Bezeichnung des Erwerbers (giratario) und Unterschrift des Veräußerers (girante, Art. 2023 Abs. 2 S. 1 c.c.), bei noch nicht voll erfolgter Einzahlung auch des Erwerbers (der in diesem Fall gegebenenfalls haften würde, Art. 2356 c.c.), versehen sein. Das Eigentum am Papier geht damit bereits gem. Art. 1376 c.c. über.95 Auch kann der Erwerber dann bereits sein Gewinnbezugsrecht und das Recht zur Teilnahme an der Hauptversammlung geltend machen, indem er seine Rechtsposition durch Indossament (bzw. eine Kette von diesen) nachweist.96 Für den Erwerb der uneingeschränkten Rechtsstellung muss aber die Gesellschaft mitwirken, indem
schenzeitlich Inhaberaktien per Sonderstatut eingeführt hatten; vgl. dazu Cagnasso, in: Digesto delle discipline privatistiche, Sez. Commerciale II, 1987, S. 131 (Lemma „azioni di società“). 90 Cagnasso, in: Digesto delle discipline privatistiche, Sez. Commerciale II, 1987, S. 132 (Lemma „azioni di società“). 91 Grundmann/Massari, in: Grundmann/Zaccaria, Einführung in das italienische Recht, 2007 weisen auf die Sparaktie und Aktien von Investmentaktiengesellschaften hin; ausführlicher Libonati, Titoli di credito e strumenti finanziari, 1999, S. 171 ff. 92 Campobasso/Campobasso, Diritto delle società, 2012, S. 227; Kindler, Italienisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2014, § 4 Rn. 137. 93 Regio decreto-legge 25 ottobre 1941, n. 1148 (s.o., 4. Kap., B I 2 d, S. 318, Fn. 89), Regio decreto 29 marzo 1942, n. 239, Norme interpretative, integrative e complementari del R. decreto-legge 25 ottobre 1941-XIX, n. 1148, convertito nella legge 9 febbraio 1942-XX, n. 96, riguardante la nominatività obbligatoria dei titoli azionari, GU n. 74 del 31.03.1942, Legge 29 dicembre 1962, n. 1745, Istituzione di una ritenuta d’acconto o di imposta sugli utili distribuiti dalle società e modificazioni della disciplina della nominatività obbligatoria dei titoli azionari, GU n. 5 del 07.01.1963; vgl. dazu näher Kindler, Italienisches Handelsund Wirtschaftsrecht, 2014, § 4 Rn. 146. 94 Deutscher Ausdruck nach Kindler, Italienisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2014, § 4 Rn. 142. 95 Cass., 7 gennaio 1981, n. 116, Banca, borsa, tit. cred. 1981, II, 276; Kindler, Italienisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2014, § 4 Rn. 141. 96 Kindler, Italienisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2014, § 4 Rn. 143.
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sie die Umschreibung sowohl im Gesellschafterbuch als auch auf dem Wertpapier selbst vornimmt (sog. „doppia intestazione“).97 Auch hierfür dient das Indossament für den Erwerber zum Nachweis seiner Rechtsstellung (Art. 2023 Abs. 3 c.c.). Aktien, die nicht an einem regulierten Markt zugelassen sind, können zudem durch Abtretung (cessione) übertragen werden.98 Der praktisch wichtigste Fall von Aktien, die gem. Art. 61–77 T.U.F. an einem regulierten Markt (mercato regolamentato) zugelassen sind, sind im Decreto legislativo 213/199899 und somit ganz außerhalb des c.c. geregelt.100 Die Aktien werden elektronisch verbucht und allein durch einen ebensolchen Buchungsvorgang übertragen, Art. 29 ff. T.U.F., sodass die Aktien völlig von ihrer Erscheinungsform und von der Regelung im c.c. als Wertpapier gelöst sind (dematerializzazione).101 Die dematerializzazione ist für Papiere an einem regulierten Markt (mercato regolamentato) oder für durch Verordnung 102 bestimmte Papiere vorgeschrieben (dematerializzazione obbligatoria per legge o per regolamento), für die anderen kann der Emittent dies bestimmen (dematerializzazione volontaria). Mit der Dematerialisierung folgte der italienische Gesetzgeber einem internationalen Trend, insbesondere dem französischen Vorbild.103 Der Trend zur Dematerialisierung hatte schon 1986 begonnen, als durch Gesetz104 und Umsetzungsakte105 die Monte Titoli S.p.A. als Aktiengesellschaft gegründet und als zentrale Verwahrstelle eingesetzt worden war. 106 In der 97 Kindler, Italienisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2014, § 4 Rn. 141; Cagnasso, in: Digesto delle discipline privatistiche, Sez. Commerciale II, 1987, S. 132 (Lemma „azioni di società“). 98 Libonati, Titoli di credito e strumenti finanziari, 1999, S. 159. 99 Decreto legislativo 24 giugno 1998, n. 213, Disposizioni per l’introduzione dell’EURO nell’ordinamento nazionale, a norma dell’articolo 1, comma 1, della legge 17 dicembre 1997, n. 433, GU n. 157 del 08.07.1998 – Suppl. Ordinario n. 116, erlassen auf der Grundlage der Legge 17 dicembre 1997, n. 433, Delega al Governo per l’introduzione dell’EURO, GU n. 295 del 19.12.1997, Art. 10. 100 „Gli strumenti finanziari dematerializzati non soggiacciono alla disciplina codistica dei titoli di credito“, Libonati, Titoli di credito e strumenti finanziari, 1999, S. 122. 101 Vgl. dazu Grundmann/Massari, in: Grundmann/Zaccaria, Einführung in das italienische Recht, 2007, S. 429; Sartori, Riv. d. dir. civ. 1999, II, 275 (280 ff.); Cardarelli, in: JbItalR Bd. 14, 139. 102 Vgl. dazu Deliberazione Consob, 15.09.1998, n. 11600; Libonati, Titoli di credito e strumenti finanziari, 1999, S. 121 f. 103 Sartori, Riv. d. dir. civ. 1999, II, 275 (275 f., 280). 104 Legge 19 giugno 1986, n. 289, Disposizioni relative all’amministrazione accentrata di valori mobiliari attraverso la „Monte Titoli S.p.a.“, GU n. 144 del 24.06.1986. 105 Deliberazione Consob, 18.02.1987, n. 2723, G.U. n. 60, 13.03.1987; Deliberazione Consob, 18.02.1987, n. 2724, G.U. n. 60, 13.02.1987. 106 Zur Entwicklung Sartori, Riv. d. dir. civ. 1999, II, 275 (276 ff.).
B. Autonome Auslegung
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Folge war die Übertragung von Wertpapieren bereits dann in Form der Girierung (in forma scritturale) und ohne Übergabe (traditio) des Papiers möglich, wenn die Papiere bei der Monte Titoli S.p.A. verwahrt wurden (custodia accentrata). 107 Nachdem die Übertragung dematerialisierter Wertpapiere zunächst im d.lgs. 213/1998 geregelt war, ist seit 2010 der Verkehr im Börsengesetz (T.U.F.) geregelt.108 Der Emittent einer dematerialisierten Aktie 109 muss eine Verwahrstelle (società di gestione accentrata) nennen (Art. 83 ter T.U.F.). Diese wird von der Consob (Commissione Nazionale per le società e per la borsa) und der Banca d’Italia überwacht (Art. 82 T.U.F.). Die Übertragung ist nur durch autorisierte Zwischenstellen (intermediari autorizzati) möglich.110 In deren Konten bei einer Verwahrstelle können dematerialisierte Aktien gebucht werden, und auf deren Anfrage kommt die Übertragung zustande (Art. 83 quater Abs. 2 T.U.F.). Entsprechend besteht daher ein besonderer, vom sachenrechtlichen unabhängiger Gutglaubensschutz des Erwerbers: In Art. 83 quinquies Abs. 1 T.U.F. (früher Art. 32 f. d.lgs. 213/1998) wird (wiederum französischem Vorbild folgend) die Registrierung (registrazione) an Stelle des im c.c. maßgeblichen Besitzes (possesso) gesetzt.111 e) Zusammenfassung zum italienischen Recht Auch in Italien werden unter dem Terminus azione Mitgliedschaft, Kapitalanteil und Fragen der Verbriefung diskutiert. Bei letzterer ist allerdings die Dematerialisierung bereits vollzogen, sodass nicht für jede azione ein Papier vorliegen muss. 3. England „Shares“ im englischen Recht bezeichnet gleichermaßen das Kapital von private company und public company. Eine Unterteilung wie in Gesellschaftsanteile bei der GmbH und Aktien bei der AG gibt es also nicht. Gleichwohl gelten teilweise strengere Regeln für die public company. Dies ist etwa bei der Kapitalaufbringung der Fall, bei der für die public company die Sacheinlagen zu 107
Sartori, Riv. d. dir. civ. 1999, II, 275 (279 f.). Die frühere Rechtslage wird detailliert nachgezeichnet z.B. bei Libonati, Titoli di credito e strumenti finanziari, 1999, S. 124 ff. 109 D. lgs. 213/1998 (oben 4. Kap., B I 2 d, S. 320, Fn. 99) spricht von „strumenti finanziari“; darunter fallen auch Aktien. 110 Heute Art. 83 quater T.U.F. Vgl. zum Vorgang auch Libonati, Titoli di credito e strumenti finanziari, 1999, S. 123–126. 111 Sartori, Riv. d. dir. civ. 1999, II, 275 (285 f.); Libonati, Titoli di credito e strumenti finanziari, 1999, S. 126; Grundmann/Zaccaria, in: Grundmann/Zaccaria, Einführung in das italienische Recht, 2007, S. 429. 108
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4. Kapitel: Aktie
prüfen sind 112 und Verpflichtungen zu Dienstleistungen gar nicht zulässig sind.113 Das Kapital muss gem. Sec. 10 CA 2006 in einem statement of capital and initial shareholdings angegeben werden. Insbesondere sind die Gesamtzahl der shares und verschiedene Klassen zu nennen. An das Kapital als Haftungsreserve sind durch das common law schon länger bestimmte Rechtsfolgen wie die Einschränkung des Erwerbs eigener Aktien114 sowie von Ausschüttungen115 geknüpft worden. Zudem sind als financial assistances Zuwendungen an Zeichner oder Käufer eigener Anteile grundsätzlich nicht erlaubt; darunter fallen auch Darlehen oder sonstige Kreditsicherheiten, jedoch bestehen Ausnahmen u.a. im Bereich der Arbeitnehmerbeteiligungen.116 Seit 2006 sind die genannten Angaben nicht mehr Teil des memorandums. Damit ist jede Verbindung zur constitution der Gesellschaft gelöst.117 Heute gilt zumindest im Bereich der private company wieder der Grundsatz des common law, dass Kapitalerhöhungen durch die directors einer company möglich sind. Bei der public company ist dies wegen der Zweiten Richtlinie nicht möglich, die eine solche an die Zustimmung der Gesellschafter knüpft. Mit der Reform 2006 ist die frühere Unterscheidung zwischen „stock“ und „shares“ so gut wie gegenstandslos geworden. 118 Bis 2006 bezeichnete „stock“ die in Form einer Nominalsumme bezeichnete Gesamtbeteiligung, von der dann Bruchteile übertragen werden konnten. 119 Bis 2006 konnten damit auch (alle oder auch nur Teile der) shares in stock umgewandelt werden. Seit dem Wegfall der früheren Nummerierungspflicht für shares (1948) war stock 112
Sec. 1150 ff. CA 2006, Ringe/Otte, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 5.103. 113 Sec. 585 CA 2006. 114 Grundlegend Trevor v Whitworth [1887] 12 App.Cas. 409. Mittlerweile sind diese Rechtsfolgen im CA 2006 geregelt, vgl. das grundsätzliche Verbot in Sec. 658 und 136 CA 2006. Ausnahmen sind für die public company in Sec. 690 ff. CA 2006 zugelassen, für die private company darüber hinaus auch in Sec. 713 ff. CA 2006; siehe auch Ringe/Otte, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 5.107–5.110. 115 Re Exchange Banking Co (Flitcroft’s Case) [1882] 21 Ch.D. 519; jetzt Sec. 830 ff. CA 2006. 116 Vgl. aus dem früheren case law Selangor United Rubber Estates Ltd v Cradock (Nr. 3) [1968] 1 WLR 1555, JJ Harrison (Properties) Ltd v Harrison [2001] EWCA Civ 1467; Harlow v Loveday (Re Hill & Tyler Ltd (in administration)) [2004] B.C.C. 732; jetzt im Gesetz geregelt in Sec. 677 ff. CA 2006; vgl. auch Ringe/Otte, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 5.111. 117 Schall, in: Schall, Companies Act, 2014, Sec. 10 Rn. 6 ff. 118 Nur einige companies, die auf den Companies Act 1948 zurückgehen, haben noch stock, der gem. Sec. 620 CA 2006 noch (eine irreversible Entscheidung) in shares umgewandelt werden kann, P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 23-11. 119 Zur früheren Rechtslage J. Schmidt, Deutsche vs. britische SE, 2006, S. 420.
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jedoch ohnehin selten geworden.120 Bis auf einige weitere Änderungen eher technischer Natur121 hat die Reform von 2006 das Konzept der shares damit nicht wesentlich verändert. a) Rechtsnatur von „shares“ Die Rechtsnatur von shares ist nicht leicht zu greifen. Oft werden shares als choses in action eingeordnet, 122 ein relativ weitgefasstes Konzept, das eine „Masse von Interessen beschreibt, die außer der Tatsache, dass sie kein Recht zum Besitz an physischen Gegenständen verschaffen, wenig oder nichts gemein haben und von rein persönlichen Rechten (personal rights) aus einem Vertrag zu Patenten, Urheberrechten (copyrights) und Markenrechten (trade marks) reichen“.123 Share weist vertragliche Züge auf, allerdings ist die Behandlung von minderjährigen shareholders anders (nämlich deutlich strenger) als die von minderjährigen Vertragsparteien.124 Zugleich verleihen die shares keine Rechte am Vermögen der Gesellschaft,125 wohl aber eine Reihe von Vermögensrechten wie Dividenden, Liquidationserlöse sowie Verwaltungsrechte.126 Shares können beschrieben werden als ein auch durch den gegenseitigen Vertrag der Gesellschafter wesentlich bestimmtes Interesse des shareholders an der Gesellschaft, das in einem Geldbetrag gemessen wird.127 Die Rechte des shareholders sind dabei nicht nur solche gegen die Gesellschaft, sondern auch an ihr („rights in the company as well as against it“), was den shareholder von 120 P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 23-11; J. Schmidt, Deutsche vs. britische SE, 2006, S. 420. 121 Vgl. Walmsley (Hrsg.), The ICSA Companies Act 2006 handbook, 2. ed (2009), S. 48– 58. 122 Colonial Bank v Whinney [1886] 11 App.Cas. 426, HL; P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 23-1; Ringe/Otte, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 5.121. 123 Ähnlich auch Borland’s Trustee v Steel Brothers & Co., Limited [1901] 1 Ch 279 („made up of various rights and liabilities“); P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 23-1. 124 P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 23-1; zu vertraglichen Aspekten auch Ringe/Otte, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handelsund Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 5.121. 125 „Shareholders are not, in the eyes of the law, part owners of the undertaking“: Short v Treasury Commissioners [1948] 1 KB 116, 122, CA per Evershed LJ, s.a. oben 2. Kap., B I 3 a, S. 145 (Fn. 287). 126 P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 23-1; Ringe/Otte, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 5.121. 127 P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 23-2, die Definition von Farwell J. in Borland’s Trustee v Steel Brothers & Co., Limited [1901] 1 Ch 279, 288 wiedergebend und erläuternd.
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4. Kapitel: Aktie
den Inhabern von Schuldverschreibungen etc. unterscheidet.128 Aus Sicht des shareholders ist die Gesellschaft damit nicht nur eine Person, sondern auch Rechtsobjekt („a res, the object of rights and duties“).129 b) Classes of shares Die Anteile können dabei in verschiedenen Gattungen (classes, Sec. 10 CA 2006) ausgegeben werden. 130 Grundsätzlich wird dabei davon ausgegangen, dass Mehrstimmrechtsanteile möglich sind. 131 Stimmrechtslose Anteile können ausgegeben werden, sind aber eher selten.132 Hintergrund ist, dass institutionelle Anleger zurückhaltend sind, Anteile zu kaufen, deren Stimmrechte nicht das finanzielle Risiko widerspiegeln. Das one share one vote-Prinzip ist also in England eher markt- als regelgetrieben.133 Es können auch Vorzugsanteile (preference shares) ausgegeben werden. Sie sind meist ohne Stimmrecht.134 Grundsätzlich besteht hier eine große Gestaltungsfreiheit; preference shares können in einem breiten Spektrum von schuldverschreibungs- bis stammaktienähnlich gestaltet werden („… located more at the debenture end or the ordinary share end of the spectrum“).135 Für die Gestaltung und die Auslegung solcher Bedingungen hat das case law über viele Jahre hinweg eine Reihe von Regeln aufgestellt.136 Werden Dividenden auf die Vorzugsaktien in einem Jahr nicht bezahlt, müssen sie im nächsten Jahr bezahlt werden; 137 bei der Abwicklung der company sind preference shares jedoch nicht mehr vorrangig vor anderen Anteilen zu berücksichtigen, das verbleibende Vermögen wird pro rata verteilt.138
128
P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 23-2. P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 23-2. 130 Dies ist spätestens seit Andrews v Gas Meter Co [1897] 1 Ch 361, CA Grundsatz des common law; anders noch Hutton v ScarboroughCliffHotelCo [1865] 2 Dr & Sm 521. 131 Ringe/Otte, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 5.121. 132 Vgl. Report on the Proportionality Principle in the European Union, , zuletzt abgerufen am 21.10.2017, S. 78. 133 P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, S. 23–4; Ringe/Otte, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 5.121. 134 Vgl. Report on the Proportionality Principle in the European Union, , zuletzt abgerufen am 21.10.2017, S. 78. 135 P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 23-7. 136 Vgl. zur Geschichte und zu Resultaten P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 23-8. 137 Webb v Earle [1875] LR 20 Eq 556. 138 Re Crichton’s Oil Co [1902] 2 Ch 86. 129
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c) Bearer und registered shares und deren Übertragung Auf den Inhaber lautende Anteile, sog. bearer shares, sind möglich, aber selten.139 Grundsätzlich lauten Anteile auf einen bestimmten Namen; sollen doch Inhaberanteile ausgegeben werden, werden share warrants ausgegeben, die dann als echte Wertpapiere (negotiable instruments) durch Besitzübergabe veräußert werden.140 Verkehrsfähige Wertpapiere sind also nicht die shares, sondern die zugehörigen warrants.141 Share bezeichnet nur die Summe der Rechte, nicht die wertpapiermäßige Verbriefung. Der Inhaber des Wertpapiers ist dann zwar shareholder, ob er aber auch Gesellschafter (member) ist, hängt von den articles of association ab.142 Bei Ausgabe von share warrants können beide Rechtsstellungen also auseinanderfallen.143 Auch eine weitere Reihe von Prinzipien wäre bedroht, wenn bearer shares mehr als eine für die Rechtstheorie eher unbeachtliche Ausnahme wären.144 Der Gegenbegriff zu bearer shares sind die registered shares, bei denen die Gesellschaften ein Register (register) ihrer Anteilseigner führen. Dies ist der tatsächliche Regelfall. Eine „Verbriefung“ (wie ein Deutscher den Ausdruck verstehen würde) findet nicht statt. Für registered shares werden share certificates ausgegeben, die jedoch – ebenso wie die Eintragung ins Anteilsregister – nicht konstitutiv wirken, sondern nur Beweiswirkung haben.145 Für die Übertragung von Anteilen ist eine Eintragung ins Register der Gesellschaft nötig, Sec. 772 CA 2006. Damit wird die Übertragung vollzogen; sie kann (innerhalb von zwei Monaten146) verweigert werden, wenn in den articles of association eine Beschränkung der Veräußerbarkeit festgelegt worden war. Übertragungsbeschränkungen sind weitgehend ins Ermessen der Gesellschafter gestellt; sie sind bei großen companies möglich (sofern deren Anteile nicht an der Börse gehandelt werden sollen147), aber auch bei kleinen Gesellschaften 139
Ringe/Otte, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 1.126. 140 Webb, Hale and Co v Alexandria Water Co Ltd [1905] 93 L.T. 339; P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 24-22; Rahmatian, Comp.Law. 23 (2002), 252 (253). 141 Webb, Hale and Co v Alexandria Water Co Ltd [1905] 93 L.T. 339, P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 24-22. 142 Sec. 122 (3) CA 2006. 143 P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 24-22. 144 P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 24-22: etwa Offenlegungsprinzipien oder Regeln über den Erwerb eigener Anteile. 145 Ringe/Otte, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 1.127. 146 Nach dieser Frist kann die Eintragung nicht mehr verweigert werden; Re Swaledale Cleaners Ltd [1968] 1 WLR 1710 (CA); Tett v Phoenix Property and Investment Co. Ltd. & Ors. [1986] 2 B.C.C. 99140; Re Inverdeck Ltd [1998] BCC 256. 147 Dann müssen die Anteile frei übertragbar sein, Listing Rules 2.2.4 (R), abrufbar unter , zuletzt abgerufen am 21.10.2017.
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4. Kapitel: Aktie
(seit 1980148) nicht mehr zwingend vorgeschrieben. Das common law hat in einer Reihe von Urteilen den zulässigen Umfang und die Auslegung solcher Übertragungsbeschränkungen präzisiert.149 Die registered shares unterfallen in certificated und uncertificated shares. Diese Unterscheidung treffen die Sec. 784–790 CA 2006, die für unzertifizierte Anteile (uncertificated shares) den Handel über den Zentralverwahrer Euroclear UK & Ireland (vormals CRESTCo) ermöglichen, und die Uncertificated Securities Regulations 2001.150 Der gesetzliche Regelfall eines Anspruchs auf Ausstellung eines share certificates (Sec. 769 (1) CA 2006) kann in den Ausgabebedingungen ausgeschlossen werden (Sec. 769 (2) CA 2006). Teilweise wird in deutschsprachiger Literatur hier von einem „Anspruch auf Verbriefung“ gesprochen,151 jedoch ist dies nicht dahingehend misszuverstehen, dass das share certificate die in share enthaltenen Rechte nach deutscher Vorstellung von einem „Wertpapier“ verbrieft. Die Übertragung unzertifizierter Anteile erfolgt durch Einigung der Parteien, Ausfüllen eines Übertragungsinstrumentes (transfer form) und Eintragung des Erwerbers in das register der Gesellschaft.152 Für das Übertragungsinstrument kann die in den articles of association genannte Form gewählt werden. Die Gesellschaft darf die Übertragung dabei erst im register vermerken, wenn ein Übertragungsinstrument (proper instrument of transfer) vorgelegt wird, das eine sog. Stempelsteuer (stamp duty) nach sich zieht.153 Die früher aufwändigere Übertragung (durch Unterschrift von Zedent und Zessionar auf der Übertragungsurkunde, vor Zeugen) wurde durch den Stock Transfer Act 1963 erleichtert; nun genügt die Unterschrift des Zedenten, Zeugen sind nicht mehr nötig.154 Das System bietet damit bisher noch keinen Gutglaubensschutz. Erwerb von Eigentum (title) ist nur vom Berechtigten möglich. Das share certificate ist kein verkehrsfähiges Wertpapier (not a negotiable instrument).155 Allerdings 148 Ringe/Otte, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 5.140. 149 P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 27-7. 150 The Uncertificated Securities Regulations 2001 vom 23.11.2001, Statutory Instrument 2001, Nr. 3755, abrufbar unter , zuletzt abgerufen am 21.10.2017. Näher zum Ganzen auch P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 27-3 f. 151 J. Schmidt, Deutsche vs. britische SE, 2006, S. 421; ähnlich auch Korom, in: Schall, Companies Act, 2014, z.B. Sec. 769 Rn. 3 („Ein Anteilsschein kann mehrere Anteile verbriefen“). 152 P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 27-5. 153 Ringe/Otte, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 5.143. 154 Ringe/Otte, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 5.143. 155 P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 27-5.
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schützt die doctrine of estoppel den gutgläubigen Erwerber. Er wird zwar nicht Eigentümer, doch die Gesellschaft ist verpflichtet, ihn schadlos zu halten.156 Dass die Gesellschaft das Risiko einer fälschlichen Übertragung trägt, wird damit gerechtfertigt, dass sie auch von der verbesserten Umlauffähigkeit des Papiers profitiert.157 Insofern wird auch von einer „quasi-negotiability“ gesprochen.158 Gilt ein share certificate für mehrere shares und soll nur einer davon übertragen werden, wird laut Sec. 775 CA 2006 eine certification of transfer ausgestellt. Das share certificate wird dann normalerweise bei der Gesellschaft verwahrt, die auf der Übertragungsurkunde vermerkt, dass das share certificate hinterlegt wurde (certificate lodged, Sec. 775 (4) (a) CA 2006).159 Dieser Vermerk gilt dann als Erklärung der Gesellschaft, dass Dokumente vorgelegt wurden, die prima facie den Rechtstitel des Erwerbers zeigen,160 jedoch nicht als Nachweis der Rechtsstellung des Veräußerers.161 Bei fälschlicher Ausstellung einer solchen certification of transfer bestehen Schadensersatzansprüche im Fall von Vorsatz oder Fahrlässigkeit.162 Das alte share certificate wird von der Gesellschaft dann vernichtet; wird es versehentlich zurückgegeben, entstehen daraus dem Inhaber aber keine Ansprüche oder Rechte gegen die Gesellschaft.163 Daraus lässt sich schließen, dass das share certificate die dort beschriebenen Rechte nicht im Sinn eines deutschen Wertpapiers verbrieft.164 Die Übertragung unzertifizierter Anteile erfolgt seit 1996 über ein zentrales elektronisches System namens Euroclear (vormals CRESTCo), bei dem sämtliche solcher unverkörperter Anteile erfasst sind.165 An diesem Verfahren kann der shareholder selbst oder – insbesondere für kleinere shareholder wahrscheinlicher – über einen broker am Verfahren teilnehmen.166 Euroclear führt auch das register für alle unzertifizierten Anteile im Vereinigten Königreich
156 Re Bahia and San Francisco Railway [1867–68] LR 3 QB 584; Micheler, JBL 2002, 358 (366 ff.); Ringe/Otte, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 1.127. 157 P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 27-6. 158 Micheler, JBL 2002, 358 (358). 159 Korom, in: Schall, Companies Act, 2014, Sec. 775 Rn. 1. 160 Korom, in: Schall, Companies Act, 2014, Sec. 775 Rn. 1. 161 Bishop and Others v The Balkis Consolidated Company, Limited [1890] 25 Q.B.D. 512. 162 Ringe/Otte, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 5.144. 163 Longman v Bath Electric Tramways Ltd [1905] 1 Ch 646. 164 Ringe/Otte, in: Triebel/Illmer/Ringe, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 5.144. 165 Micheler, Wertpapierrecht zwischen Schuld- und Sachenrecht, 2004, S. 290 ff., s.a. , zuletzt abgerufen am 21.10.2017. 166 P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 27-12.
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und kann so die Transaktion bewirken. Die Gesellschaft wird unmittelbar danach informiert.167 Der Verkehrsschutz ist im Vergleich zu zertifizierten Anteilen eher stark ausgebaut und geht hier zu Lasten des Berechtigten, nicht der Gesellschaft.168 d) Zusammenfassung zum englischen Recht In England umfasst share das Interesse eines Gesellschafters an der Gesellschaft; dabei können shares in verschiedenen classes of shares existieren. Verbriefungsfragen werden terminologisch außerhalb der shares geregelt (sog. share warrants). 4. Frankreich Auch in Frankreich bezeichnet „action“ die Mitgliedschaft in der Aktiengesellschaft (SA, SAS, SCA), einen Anteil am Grundkapital und ein Wertpapier bzw. ein Wertrecht (valeur mobilière).169 a) Kapitalanteil Traditionell wurden in Frankreich stets Aktien mit Nennwert (actions à valeur nominale) ausgegeben, der dabei auch unterschiedlich ausfallen konnte, jedoch stets proportional zum tatsächlichen Kapitalanteil war.170 Im Zuge der Euroumstellung wurden Aktien ohne Nennwert ermöglicht, jedoch muss dies einheitlich geschehen, eine Koexistenz von Nennwertaktien und nennwertlosen Aktien bei einer Gesellschaft ist nicht möglich.171 Das Gesetz sieht dazu nunmehr vor, dass der Nennwert von Aktien in der Satzung festgesetzt werden „kann“ („Le montant nominal des actions […] peut être fixé par les statuts“, Art. L. 228-8 CCom). Mit dieser recht lapidaren Regelung sollte der Regelungsumfang der Reform vergleichsweise gering gehalten werden: Bei im Detail weiter verbleibender Unklarheit lässt sich festhalten, dass sich auch für actions sans valeur nominale ein Nennwert indirekt – über die Angabe des Gesamtkapitals und der Gesamtzahl der Aktien – errechnen lässt.172
167
Sec. 27 (7) Uncertificated Securities Regulations 2001. Sec. 35 f. Uncertificated Securities Regulations 2001, P. L. Davies/Worthington/Micheler, Gower and Davies’ Principles, 2012, Rn. 27-15. 169 Merle, Sociétés commerciales, 20. Aufl., 2016, Rn. 325; Sonnenberger/Dammann, Französisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2008, Rn. III 169. 170 Bouère, JCP-E 1998, 4, 112 (112 f.); Ehlers-Flaus, Bull. Joly Soc. 1999, 743 (743). 171 Merle, Sociétés commerciales, 16. Aufl., 2012, Rn. 272; Ehlers-Flaus, Bull. Joly Soc. 1999, 743 (747); Bouère, JCP-E 1998, 4, 112 (118 f.). 172 Ehlers-Flaus, Bull. Joly Soc. 1999, 743 (747); Artz, in: Répertoire de droit des sociétés, 2014, Actions, Rn. 157. 168
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Wird ein Nennwert genannt, können Aktien über Nennwert ausgegeben werden (émission au-dessous du pair),173 nicht aber darunter. Aktien sind grundsätzlich unteilbar (Art. L. 228-5 CCom); steht eine Aktie mehreren gemeinschaftlich zu, bedeutet dies, dass die Aktionärsrechte von diesen nur einstimmig ausgeübt werden können.174 b) Unterscheidungen nach den Rechten der Aktionäre Aktien einer Gesellschaft können verschiedene Rechte gewähren und bilden dann sog. „catégories“.175 Mehrstimmrechtsaktien sind grundsätzlich nicht zulässig (Art. L. 225-122 CCom), können aber in bestimmten Fällen gewährt werden (Art. L. 225-123 Abs. 1 CCom: doppeltes Stimmrecht für vollständig einbezahlte Namensaktien, die seit mindestens zwei Jahren unter demselben Namen registriert sind). Auch ansonsten wird vom Grundsatz der Stimmrechtsgleichheit nur in Ausnahmefällen abgewichen, etwa kann das Höchststimmrecht eines Aktionärs beschränkt werden (Art. L. 225-125 CCom, vgl. im Übrigen die abschließende Aufzählung von Abweichungen vom Gleichheitsgrundsatz, Art. L. 225-122 CCom). Neben Stammaktien sind Vorzugsaktien möglich, wobei die Regelung nach amerikanischem Vorbild flexibilisiert wurde. 176 Häufig ist der zugestandene Vorteil finanzieller Art, in Form einer höheren oder vorzugsweisen Beteiligung an den Jahresgewinnen, wobei ausstehende Beträge auch kumuliert werden können; daneben können aber auch bevorzugte Stimmrechte gewährt werden (wobei die Vorschriften der Art. L. 225-122 bis L. 225-125 CCom zu beachten sind, die die Ausnahmen vom Prinzip der Stimmrechtsgleichheit normieren).177 Die Rechte der Vorzugsaktionäre können nur mit deren Zustimmung wieder eingeschränkt werden, die sie durch eine besondere Versammlung (assemblée spéciale, Art. L. 225-99 CCom) ausüben.178
173
Merle, Sociétés commerciales, 20. Aufl., 2016, Rn. 326. Merle, Sociétés commerciales, 20. Aufl., 2016, Rn. 327; Artz, in: Répertoire de droit des sociétés, 2014, Action, Rn. 21 ff. 175 Zu „catégories“, der Abgrenzung zu und möglichen Interdependenz von „formes“ s.a. Artz, in: Répertoire de droit des sociétés, 2014, Action, Rn. 187. 176 Überblick zur Reform bei Viandier, JCP-E 2004, 40, 1528 (1528 ff.); Merle, Sociétés commerciales, 20. Aufl., 2016, Rn. 341; Sonnenberger/Dammann, Französisches Handelsund Wirtschaftsrecht, 2008, Rn. III-178; zum amerikanischen Vorbild Vamparys, Bull. Joly Soc. 2006, 1315 (1315 ff.). 177 Viandier, JCP-E 2004, 40, 1528 (1530 ff.); Merle, Sociétés commerciales, 20. Aufl., 2016, Rn. 343. 178 Merle, Sociétés commerciales, 20. Aufl., 2016, Rn. 344; Sonnenberger/Dammann, Französisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2008, Rn. III 179. 174
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4. Kapitel: Aktie
Im Gegenzug können die Vorzugsaktien beschränkte oder gar keine Stimmrechte vorsehen, dann aber insgesamt nur bis zur Hälfte, bei Publikumsgesellschaften nur bis zu einem Viertel des Kapitals ausgegeben werden.179 Die Vorzugsaktien können bei Gründung geschaffen oder auch nachträglich durch Kapitalerhöhung, Umtausch oder Dividendenausschüttung ausgegeben werden.180 c) Dematerialisierung und Veräußerung Aktien können erst ab Eintragung veräußert werden, Art. L. 228-10 CCom. Aktien können in Frankreich auf den Namen oder den Inhaber lauten (vgl. Art. L. 228-1 Abs. 3 CCom, au porteur ou au nominatif, sog. formes des actions181), jedoch geschieht die Veräußerung immer durch cession, die als vente und daher nach Kaufrecht zu beurteilen ist.182 Bei Namensaktien kann die Zustimmung der Gesellschaft in der Satzung (statuts) verlangt werden;183 insgesamt hat die Unterscheidung (auch durch die Dematerialisierung bedingt) keine große Bedeutung mehr.184 Namensaktien sind bei weitem zahlreicher als Inhaberaktien,185 da erstere u.a. obligatorisch sind für Aktien, die nicht zum Handel an einem regulierten Markt zugelassen sind (Art. L. 212-3 Code monétaire et financier (CMF)), ferner für Aktien, die von Managern der Gesellschaft gehalten werden (Art. L. 225-109 CMF); auch Aktien gegen Bareinlage (actions de numéraire, Art. L. 228-7 CCom im Gegensatz zu Aktien für Sacheinlagen, actions d’apport) sind bis zur vollständigen Abzahlung Namensaktien, Art. L. 228-9 CCom; den Zwang zur Namensaktie sehen zudem eine Reihe von anderen Vorschriften vor.186
179
Sonnenberger/Dammann, Französisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2008, Rn. III
178. 180 Viandier, JCP-E 2004, 40, 1528 (1534 ff.); Merle, Sociétés commerciales, 20. Aufl., 2016, Rn. 342; Sonnenberger/Dammann, Französisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2008, Rn. III 179. 181 Artz, in: Répertoire de droit des sociétés, 2014, Actions, Rn. 53. 182 Sonnenberger/Dammann, Französisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2008, Rn. III 182. 183 Sonnenberger/Dammann, Französisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2008, Rn. III 181. 184 Peifer, Kapitalgesellschaften in Frankreich, 2009, Rn. 560; Merle, Sociétés commerciales, 16. Aufl., 2012, Rn. 270, 272, wo davon die Rede ist, der Gesetzgeber habe seine Reform nicht gänzlich konsequent durchgeführt. 185 Merle, Sociétés commerciales, 16. Aufl., 2012, Rn. 284. 186 Vgl. den Überblick über die verschiedenen Gründe für Namensaktien bei Artz, in: Répertoire de droit des sociétés, 2014, Actions, Rn. 93 ff.
B. Autonome Auslegung
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Technisch gesehen ist die Übertragung von Aktien durch die seit den frühen 1980er Jahren in Frankreich besonders stark vorangetriebene Demateralisierung der valeurs mobilières bestimmt.187 Valeurs mobilières fasst alle diejenigen titres financiers zusammen, die nach Kategorien gleiche Rechte auf einen Anteil am Kapital oder Forderungen auf das Vermögen der Gesellschaft verleihen. 188 Es handelt sich um ein dem französischen Recht entstammendes Konzept, im Gegensatz zu dem von der europäischen Kapitalmarktregulierung stammenden titre financier, von dem valeurs mobilières nun eine Unterkategorie bilden.189 Im Gegensatz zu actions bei den Aktiengesellschaften ist bei der société à responsabilité limité das Kapital in sogenannte „parts sociales égales“ unterteilt (Art. 223-2 S. 2 CCom). An valeurs mobilières wird seit 2004 im französischen Recht nur noch unterschieden zwischen Stammaktien (actions, Art. L. 228-7 ff. CCom), Vorzugsaktien (actions de préférence, Art. L. 228-11 ff. CCom), Teilhaberscheinen (titres participatifs, Art. L. 228-36 ff. CCom), Schuldverschreibungen (obligations, Art. L. 228-38 ff. CCom) und sonstigen Wertrechten, die Kapitalund Forderungsrechte gewähren. 190 Insbesondere die actions de préférence wurden in der letzten Reform des Wertpapierrechts in Frankreich 2004 deutlich flexibler gestaltet und sollen nunmehr an die Stelle der früheren Kategorien treten (certificats d’investissement, actions de priorité, actions à dividende prioritaire sans droit de vote).191 Schon bis 1983 hatten etwa 90 % der Aktionäre auf die Ausgabe einer Aktie in Papierform verzichtet, schließlich wurde 1983/1984 die Dematerialisierung für alle neu ausgegebenen Aktien beschlossen.192 Seitdem werden alle Transaktionen mit valeurs mobilières durch Überweisungen von einem Konto zum anderen erledigt, auch bei Aktien geht das Eigentum mit Wirkung erga omnes
187
Großerichter, in: Sonnenberger/Classen, Einführung in das französische Recht, 2012, S. 338. 188 Definitionen von titres financiers in Art. L. 211-1 CMF und von valeurs mobilières in Art. 228-1 Abs. 2 CCom; Sonnenberger/Dammann, Französisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2008, Rn. III 171. 189 Merle, Sociétés commerciales, 16. Aufl., 2012, Rn. 267; Großerichter, in: Sonnenberger/Classen, Einführung in das französische Recht, 2012, S. 340 f. 190 Deutsche Bezeichnungen nach Sonnenberger/Dammann, Französisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2008, Rn. III 172. 191 Sonnenberger/Dammann, Französisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2008, Rn. III 172. 192 Art. 94.II Loi n°81-1160 du 30 décembre 1981 DE FINANCES POUR 1982, umgesetzt in Art. L. 211-3 f. CCom, sowie Décret n°83-359 du 2 mai 1983 RELATIV AU REGIME DES VALEURS MOBILIERES; dazu auch Merle, Sociétés commerciales, 20. Aufl., 2016, Rn. 316 f.
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4. Kapitel: Aktie
mit Umbuchung des Kontos über (Art. L. 211-15 CMF).193 Der gutgläubige Erwerber wird dabei geschützt, wenn er vom Registerberechtigten erwirbt (Art. L. 211-16 CMF).194 Das Konto kann bei Namensaktien die ausgebende Gesellschaft führen (was für diese den Vorteil hat, kostenlos zu sein und zudem einen unmittelbaren Überblick über die Aktionärsstruktur bietet, ohne bei der Vermittlungsstelle rückfragen zu müssen),195 bei Inhaberaktien die Euroclear France (bis 2001 SICOVAM).196 Die frühere Regelung, nach der das Eigentum wie im sonstigen Kaufrecht, bei dem der Käufer grundsätzlich durch den Kaufvertrag Eigentum erwirbt (Art. 711, 1583 CC),197 die Inhaberstellung nach dem Konsensprinzip mit Kaufvertrag überging und die anschließende Umbuchung nur noch die opposabilité (die Möglichkeit, den Eigentumserwerb einem Dritten auch entgegenzuhalten), betraf,198 wurde damit zunächst für börsengehandelte (Art. L. 211-17 CMF 199 ), mittlerweile auch für die restlichen Aktien (Art. 228-1 Abs. 9 CCom200) abgeschafft. Von einigen Ausnahmen abgesehen sind schuldrechtliche Verfügungsbeschränkungen nicht erlaubt. d) Zusammenfassung zum französischen Recht In Frankreich bezeichnet action den Kapitalanteil, aber auch die Mitgliedschaft, die verschieden ausgestaltet sein kann (z.B. Vorzugsaktien, teilweise auch Mehrstimmrechtsaktien); auf der wertpapierrechtlichen Seite ist hier – wie auch in Italien – eine vollständige Dematerialisierung zu beobachten. 5. Rechtsvergleichung Beim Rechtsvergleich für „Aktie“ ist auch zu berücksichtigen, dass es sich um eine Verweisung handelt. Es kann hier nicht darum gehen, ein von den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten grundsätzlich unabhängiges, autonomes Konzept zu entwickeln, das selbst angewendet werden soll, sondern maßgeblich ist
193
Merle, Sociétés commerciales, 20. Aufl., 2016, Rn. 336; Sonnenberger/Dammann, Französisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2008, Rn. III 182. 194 Ohl, in: Répertoire de droit des sociétés, 2014, Valeurs mobiliers Rn. 47. 195 Merle, Sociétés commerciales, 20. Aufl., 2016, Rn. 336. 196 Merle, Sociétés commerciales, 20. Aufl., 2016, Rn. 316 f. 197 Sonnenberger, in: Sonnenberger/Classen, Einführung in das französische Recht, 2012, S. 200 ff., 217 ff. 198 Dazu Sonnenberger/Dammann, Französisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2008, Rn. III 182. 199 Eingeführt als Art. 431-2 CMF durch LOI no 93-1444 du 31 décembre 1993 portant diverses dispositions relatives à la Banque de France, à l’assurance, au crédit et aux marchés financiers. 200 Eingeführt 2004 durch Ordonnance n° 2004-604 du 24 juin 2004 portant réforme du régime des valeurs mobilières émises par les sociétés commerciales et extension à l’outremer de dispositions ayant modifié la législation commerciale.
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ein europäischer Rahmen, mithilfe dessen auf mitgliedstaatliches Recht verwiesen werden soll, also ein universales Rechtskonzept.201 Zieht man dazu den Wortlaut von „Aktie“ heran, stellt man fest, dass in den hier untersuchten Rechtsordnungen darunter Konzepte verstanden werden, die sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede aufweisen. Auffällig ist, dass stets mehrere Aspekte von „Aktie“ in den jeweiligen Rechtsordnungen abgehandelt werden. Am deutlichsten sind diese Gemeinsamkeiten in den drei kontinentalen Rechtsordnungen, wo sich häufig auch abstrakt-dogmatische Darstellungen an den drei Fragestellungen Kapitalanteil – Mitgliedschaft – Verbriefung orientieren. Etwas anders ist die Situation in England, wo eine derartige Dreiteilung weniger gängig ist. Insbesondere wird mit dem Terminus, der in Art. 5 SE-VO verwendet wird, nicht die Verbriefung (bzw. das funktionale Pendant) erfasst, dies wären die (terminologisch freilich nicht fern von „share“ liegenden) „share warrants“. Unterschiede lassen sich aber in den einzelnen Kategorien antreffen. Etwa sind die Rechtsordnungen unterschiedlich streng in der Frage, wie der Kapitalanteil zu bemessen ist. Während die englische Rechtsordnung keine Stückaktien vorsieht, dafür aber bei der Zuteilung der Nennwerte keine Vorgaben macht, ist den drei anderen Rechtsordnungen die Einführung von Stückaktien, also unechten nennwertlosen Aktien, gemeinsam, die durch die Euro-Einführung angeregt wurde.202 Als Gemeinsamkeit lässt sich wiederum anführen, dass die in einer Aktie enthaltenen (Mitgliedschafts-) Rechte des Aktionärs von der „Aktie“ zumindest teilweise umfasst sind; etwa ist in jeder Rechtsordnung eine „VorzugsAktie“ zulässig und wird auch mit dem Terminus für „Aktie“ bzw. dem jeweiligen Pendant bezeichnet, bei der die Rechte gegenüber „normalen“ Aktien in gewissem Umfang variiert sind. Im einzelnen unterscheiden sich dann allerdings die Rechte, etwa bei der Frage, inwieweit Mehrstimmrechtsaktien zulässig sind. Hier verläuft die Trennlinie quer durch den Kontinent: Während Italien und Deutschland sie ablehnen, sind sie in Frankreich zumindest in einigen Fällen ebenso zulässig wie in England. Auch ist die Mitgliedschaftsstellung nicht überall gleichermaßen umfassend von „Aktie“ erfasst. Insbesondere, dass auch Pflichten von „Aktie“ erfasst sein könnten, ist in manchen Rechtsordnungen – etwa in England – kaum denkbar, während in Deutschland oder Italien die von der Mitgliedschaft umfassten Pflichten ebenfalls mit umfasst sind. Die größten Unterschiede lassen sich allerdings bei der genauen dogmatischen Konstruktion der Übertragung beobachten. Während in Deutschland 201
Allgemein zum universalen Rechtskonzept s.o. 1. Kap., D IV, S. 94 ff. Vgl. zu den weitgehend parallelen Regelungen in Frankreich und Deutschland (wenngleich im Regelungsumfang unterschiedlich präzise) Ehlers-Flaus, Bull. Joly Soc. 1999, 743 (743 ff.); in Italien war die Einführung des Euro zumindest Anstoß für die Diskussion um das Institut, das erst mit der Gesellschaftsrechtsreform 2003/2004 eingeführt wurde; vgl. Cagnasso, in: Alpa/Mariconda, Codice Civile, 2013, Art. 2346 Rn. 9. 202
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4. Kapitel: Aktie
nach wie vor an einer sachenrechtlichen Konstruktion festgehalten wird, auch wenn diese durch die konkrete Ausgestaltung fast vollständig ausgehöhlt ist (kaum ein Kleinaktionär wird je noch eine Aktienurkunde in Händen gehalten haben), ist die Entwicklung zur Dematerialisierung in Frankreich (und, diesem Vorbild folgend, auch in Italien) bereits einen Schritt „weiter“ bzw. wurde dort die Dematerialisierung konsequenter umgesetzt – bei wenigen rechtspraktischen Unterschieden im Übrigen. England steht weder am Ende noch am Anfang dieser Entwicklung, sondern bildlich gesprochen eher daneben: Eine Verbriefung nach z.B. deutscher Vorstellung hat es hier nicht gegeben, sodass sie weder überwunden werden konnte noch musste. Das englische System geht vielmehr im Grundsatz von einem schuldrechtlichen Ansatz aus, hat aber für Kapitalmarktinstrumente, u.a. shares und die zugehörigen warrants, Regeln insbesondere zum Gutglaubenserwerb entwickelt, die von denen des normalen Erwerbs von Rechten im englischen Recht abweichen.203 Zwar basiert der Verkehrsschutz auf der (zivilprozessualen) doctrine of estoppel und der Eigentümer trägt in weniger Konstellationen das Risiko als etwa im deutschen Recht. 204 Dafür dürften sich die tatsächlichen Abläufe der Übertragung von Aktien in der Rechtspraxis aller hier untersuchten Rechtsordnungen doch deutlich ähneln – die Übertragung vollzieht sich maßgeblich durch eine Registerumbuchung bei einer zentralen Wertpapiersammelstelle (Clearstream Banking AG, Monte Titoli S.p.A., Euroclear UK & Ireland, Euroclear France).205 Zudem besteht zumindest für die Grundkonstellation des Erwerbs eines gutgläubigen Dritten Einigkeit: Der eigentliche Eigentümer verliert hier sein Eigentum an den, der auf den Registereintrag vertraut, zumindest dann, wenn er die Transaktion hätte verhindern können (etwa fahrlässigerweise seine Zugangsdaten für das Konto bei der Wertpapiersammelstelle einem Dritten anvertraute). Auch wenn in Deutschland noch – wenngleich nicht mehr unbestritten206 – eine sachenrechtliche Besitzkette an Urkunden bzw. einem Sammelbestand solcher konstruiert wird, auf die sich dann ein Gutglaubenserwerb stützen können soll, ist es doch kaum anders denkbar, als dass auch dieser Besitz im Regelfall maßgeblich durch die Registereinträge dokumentiert wird, sodass sich das Ergebnis wenig von dem der anderen Rechtsordnungen unterscheidet, die auf der Grundlage der Registereinträge ohne sachenrechtliches Feigenblatt einen Verkehrsschutz gewähren. Den vom Grundsatz her fundamental verschiedenen dogmatischen Ansätzen stehen demnach die durch die Bedürfnisse
203
Micheler, Wertpapierrecht zwischen Schuld- und Sachenrecht, 2004, S. 298 ff. Micheler, Wertpapierrecht zwischen Schuld- und Sachenrecht, 2004, S. 314 f. 205 Die damit einhergehende Dematerialisierung ist ein weltweiter Trend, Einsele, ZHR 177 (2013), 50 (52). 206 Zum Meinungsstreit s.o. 4. Kap., B I 1 d, S. 315. 204
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der internationalen Kapitalmarktpraxis geformten recht ähnlichen Ergebnisse in der Rechtspraxis gegenüber.207 Unterschiedlich großzügig sind die Rechtsordnungen auch in der Frage, ob der Aktionär der Gesellschaft stets bekannt sein muss („Namensaktien“). Während alle Rechtsordnungen im Grundsatz – also dem Namen nach – beide Arten, also Inhaber- und Namensaktien kennen, sind Inhaberaktien in der Rechtswirklichkeit doch unterschiedlich vorhanden: In Italien sind sie völlig unzulässig, in England äußerst selten. In Frankreich sind sie grundsätzlich zulässig, eine Reihe von Vorschriften verlangt jedoch Namensaktien, und auch in Deutschland werden Inhaberaktien zusehends zurückgedrängt. Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten, dass „Aktie“ jeweils die Antwort auf ähnliche Fragestellungen ist, mit Ausnahme von England, wo „share“ nur für einen Teil der hier untersuchten Fragestellungen steht. Ob daher auch Fragen der Verbriefung zum Umfang des europäischen Konzepts von „Aktie“ gehört, wird noch zu untersuchen sein. Die Antworten darauf fallen freilich bei den einzelnen Fragestellungen mitunter deutlich unterschiedlich aus. Für die Auslegung eines Konzepts wie „Aktie“, das in der SE-VO als Verweis auf mitgliedstaatliche Konzepte verwendet wird, ist das bereits ein tauglicher Ausgangspunkt. Es ist nicht nötig und auch nicht weiterführend, nach einem gemeinsamen europäischen Nenner von „Aktie“ zu suchen. Jedenfalls für die SE-VO ist er nicht maßgeblich. Vielmehr wird durch den Verweis ausgedrückt, dass sich die Antworten im Einzelnen aus den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ergeben sollen. Für die europäische Ebene reicht es daher, wenn die Fragen konkretisiert werden, die sich mit dem Konzept von „Aktie“ lösen lassen sollen. II. Historisch Interessant ist bei der „Aktie“ die historische Auslegungsmethode. Angesichts der Tatsache, dass frühere Entwürfe der SE-VO komplette Regelungen der „Aktie“ kannten, mutet der heutige Verweis in Art. 5 SE-VO „wie der Abglanz eines versunkenen Reiches“ an.208 1. Der Terminus „Aktie“ ist dabei unverändert geblieben; die Sprachfassungen lassen sich naturgemäß – je nach Beitritt der verschiedenen Mitgliedstaaten – unterschiedlich 207 So die Analyse von Micheler, Wertpapierrecht zwischen Schuld- und Sachenrecht, 2004, S. 381 ff., die betont, dass Wertpapiere in den verschiedenen Rechtsordnungen nach speziell auf die Bedürfnisse des Kapitalmarkts passenden Regeln übertragen werden, unabhängig vom schuld- oder sachenrechtlichen Ausgangspunkt. 208 Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 5 SE-VO Rn. 1 Fn. 1.
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4. Kapitel: Aktie
weit zurückverfolgen, allerdings ist bei keiner der hier herangezogenen Sprachfassungen eine Abweichung festzustellen. In allen Vorentwürfen, die im Folgenden näher untersucht werden, findet sich der Ausdruck, der auch in der heutigen SE-VO verwendet wird. 2. Die frühen Vorentwürfe: Grundsatz der Vollregelung Bereits im Sanders-VOV 1966 fand sich die erste Regelung zur „Aktie“ in Art. I-1 Abs. 1 Sanders-VOV, weitgehend dem heutigen Art. 1 Abs. 2 S. 1 SEVO entsprechend, in der es hieß: „Die Europäische Aktiengesellschaft […] ist eine Gesellschaft, deren Kapital in Aktien zerlegt ist“. Daneben waren über die Aktien der SE einige Angaben in der Satzung erforderlich (Art. II-1-3), erwähnt wurden die Aktien auch bei den Gründungsvorschriften (etwa, dass bei der Gründung durch Fusion Aktien der SE anteilig an die Gründer ausgegeben wurden, Art. II-2-1). Ausführliche Regelungen fanden sich in sechs Artikeln des zweiten Abschnitts im dritten Titel. Aktien lauteten auf einen (nicht zwangsläufig gleichen) Nennwert (keine Stückaktien), Art. III-2-1, konnten in verschiedenen Gattungen (jedoch keine Mehrstimmrechtsaktien, Art. III-2-2), und als Inhaber- oder Namensaktien ausgegeben werden (Art. III-2-3). Die Verbriefung (auf die ein Anspruch bestand, der wohl nicht ausgeschlossen werden konnte), war in Art. III-2-4 näher beschrieben (samt Regelungen über Berichtigung und Kraftloserklärung), die Übertragung von Inhaber- und Namensaktien war ebenfalls in der europäischen Norm geregelt (Art. III-2-5 und 6). Bei Namensaktien war eine Vinkulierung in gewissen Grenzen zulässig (Art. III-2-6 Abs. 2). Damit waren bereits die drei Aspekte, die „Aktien“ nach dem Rechtsvergleich zukommen können, angesprochen. Knapp wurde der „Kapitalanteil“ angesprochen (Aktien in gleicher Währung wie das Kapital, Nennwertaktien), relativ ausführlich die Verbriefung. Die in den Aktien enthaltenen Rechte wurden mit den verschiedenen Gattungen angesprochen, eine darüber hinausgehende Mitgliedschaft des Aktionärs lässt sich allerdings nicht ableiten. Die Regelungen der Art. III-2-1 bis III-2-6 Sanders-VOV wurden weitgehend wortgleich in die Regelungen der Art. 48–53 SE-VOV 1970 übernommen (lediglich Art. III-2-3 Abs. 3, der die Ausgabe von Inhaberzertifikaten von Namensaktien gestattete, wurde nicht übernommen). Auch im SE-VOV 1975 fanden sich in Art. 48–53 SE-VOV die weitgehend gleichen Regeln (die meisten Änderungen waren eher geringfügig: U.a. musste der Nennbetrag durch 10 teilbar sein, Art. 48 Abs. 1, und die Möglichkeiten der Ausgabe verschiedener Gattungen wurden eingeschränkt, Art. 49 Abs. 3). Allerdings wurde in Art. 52, 53 geändert, dass Inhaberaktien nun nicht mehr „durch Übergabe der Aktienurkunde übertragen“ wurden, sondern dass mit Übergabe der Aktienurkunde die Übertragung lediglich der SE gegenüber wirksam wurde (Art. 52 SE-VOV 1975), entsprechend lautete die Regelung für
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Namensaktien (Art. 53 SE-VOV 1975, Abs. 1: „Die Übertragung einer Namensaktie wird der SE gegenüber durch Umschreibung in deren Aktienregister wirksam.“). Mit dieser Regelung war das Verhältnis zwischen Veräußerer und Erwerber nicht mehr von der europäischen Regelung umfasst (auch an anderer Stelle enthält der SE-VOV 1975 keine Regelung), sodass dem „zwischen Veräußerer und Erwerber der Aktie geltendem Recht nicht vorgegriffen“ wurde.209 Die Regelung dieses Verhältnisses ergab sich nicht aus dem Recht etwa des Sitzstaates,210 da der Entwurf von 1975 noch als Vollentwurf konzipiert war und in Art. 7 Abs. 1 S. 1 SE-VOV 1975 anordnete: „Vorbehaltlich entgegenstehender Vorschriften sind die von dem Statut behandelten Gegenstände selbst hinsichtlich der Rechtsfragen, die nicht ausdrücklich geregelt werden, der Anwendung des Rechts der Mitgliedstaaten entzogen.“ Ein Verweis auf das Recht des Sitzstaates war nirgends vorgesehen und hätte auch wenig Sinn ergeben, da Art. 5 SE-VOV 1975 mehrere Sitze zuließ, ein Verweis also zu einer Statutenhäufung hätte führen können. Denkbar wäre also gewesen, dass das Verhältnis Veräußerer-Erwerber – wie allgemein bei Regelungslücken bei Gegenständen, die der SE-VOV 1975 regelte – sich gem. Art. 7 Abs. 1 S. 2 SEVOV nach den „allgemeinen Grundsätzen“ entweder des SE-VOV 1975 (lit. a) oder der Rechte der Mitgliedstaaten (lit. b) beurteilt hätte (eine eher missliche Lösung) oder ganz aus dem Anwendungsbereich des SE-VOV 1975 gefallen und als sonstiges Geschäft – wie ein Kaufvertrag, an dem die SE teilnimmt – dem IPR überantwortet worden wäre;211 diese letztere Lösung lässt sich wohl am ehesten mit der Begründung in Einklang bringen, auch wenn der Inhalt des Verweises nicht ganz deutlich wird. 3. Die Entwürfe von 1989 und 1991: Verweisungen Im SE-VOV 1989 fanden sich noch Reste der Vorschriften aus dem SE-VOV 1975. Sie beschränkten sich, inhaltlich weitgehend mit den schon erläuterten Regelungen übereinstimmend und durch Regelungen zum Kapital unterbrochen (etwa Paragraphen zur Kapitalerhöhung und -herabsetzung), auf folgende Themen: Nennbetragsaktien (Art. 38 f.), Unteilbarkeit (Art. 51), gewährte Rechte (Art. 52) und die Möglichkeit von Inhaber- oder Namensaktien (Art. 53). In Art. 54 SE-VOV 1989, dem Vorgänger des heutigen Art. 5 SEVO, fand sich ein inhaltlich näher umrissener Verweis auf das Recht des Sitzstaates: 209
Vgl. die Begründung zum neuen Art. 52 SE-VOV 1975 in BT-Drs. VII/3713 vom 02.06.1975, S. 208. 210 Diese Möglichkeit erwägt Lutter, in: Lutter (1976), 145 (154), lehnt sie dann aber – vor dem Hintergrund der damaligen Regelung konsequent, dazu oben im Text – ab. 211 Dazu sehr kritisch Lutter, in: Lutter (1976), 145 (150 ff.), der auf Probleme bei Anwendung des IPR wegen der verschiedenen dogmatischen Ausgangspunkte der Mitgliedstaaten hinwies.
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4. Kapitel: Aktie
„Die im Staat des Sitzes der SE geltenden Rechtsvorschriften regeln die Ausgabe, den Ersatz und die Kraftloserklärung der Aktienurkunden sowie die Übertragung der Aktien.“
Der Umfang der Regelungen war damit vergleichbar dem der früheren Normen, mit der Ausnahme, dass für Urkunden und die Übertragung von Aktien ausdrücklich auf das Recht des Sitzstaates verwiesen wurde; klargestellt wurde auch gegenüber dem SE-VOV 1975, welches Recht diese Gegenstände regeln sollte (nach dem SE-VOV 1989 waren Mehrfachsitze nicht mehr zulässig). Gemäß Art. 7 Abs. 1 lit. b SE-VOV 1989 hätte ohnehin (wie auch nach dem heutigen Art. 9 SE-VO) das Recht des Sitzstaates Anwendung gefunden, sodass sich Art. 54 SE-VOV 1989 wohl so wie auch der heutige Art. 5 SE-VO212 als Präzisierung gegenüber dem Generalverweis verstehen ließ. Im SE-VOV 1991 wurden einige Regelungen verschlankt (Art. 38 f. zu Nennbetrag und Art. 51 zur Unteilbarkeit, wohl ohne inhaltliche Änderung), andere auch inhaltlich verschärft (Einfügung des Art. 53 Abs. 1a: „Inhaberaktien müssen voll einbezahlt sein.“), bei wieder anderen Einschränkungen bei der Berechtigung zur Einsicht in das Aktienregister gemacht (Art. 53 Abs. 2: nur noch für Aktionäre, nicht wie in Art. 53 Abs. 1 SE-VOV 1989 für jeden Interessenten). Geändert wurde aber insbesondere Art. 54 SE-VOV 1991, der nunmehr lautete: „Die im Sitzstaat der SE für Aktiengesellschaften geltenden Rechtsvorschriften regeln die Ausgabe, den Ersatz und die Kraftloserklärung der Aktienurkunden.“ Insbesondere die Übertragung von Aktien war also nicht mehr explizit vom Verweis erfasst. Unklar bleibt jedoch,213 ob – was die Übertragung von Aktien angeht – der Verweis einfach durch den Verweis in Art. 7 Abs. 1 lit. b SE-VOV 1991214 ersetzt werden sollte oder ob die Übertragung damit dem IPR überantwortet werden, also aus dem Anwendungsbereich der SE-VO fallen sollte. 4. Schlussfolgerungen für das universale Rechtskonzept: Maßgeblichkeit des Umfangs, nicht des Inhalts Da die Sachregelungen allesamt nicht mehr gelten, ist für die historische Auslegung der heutigen Verweisungsnorm eher der Umfang relevant, den die damaligen Regelungen abdeckten. Etwa haben alle vorangegangenen Entwürfe Mehrstimmrechtsaktien ausdrücklich verboten (Art. III-2-2 Abs. 3 Sanders-VOV, Art. 49 Abs. 3 SE-VOV 1970, Art. 49 Abs. 3 SE-VOV 1975, Art. 52 Abs. 3 SE-VOV 1989, Art. 52 212
Vgl. zur Präzisierungsfunktion des Art. 5 SE-VO schon oben 4. Kap., A, S. 306. Auch die Begründung, abgedruckt in BT-Drs. 12/1004, enthält zu der Änderung von Art. 54 SE-VOV 1991 keine Hinweise. 214 Art. 7 SE-VOV 1991 wurde gegenüber der Fassung SE-VOV 1989 auch inhaltlich deutlich geändert; diese Änderungen sind jedoch für die hier relevanten Fragen ohne Bedeutung. 213
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Abs. 3 SE-VOV 1991). Dennoch wäre es nicht richtig, daraus auf ein europäisches Aktienverständnis zu schließen, das keine Mehrstimmrechtsaktien zulässt. 215 Vielmehr ist entscheidend, dass die Entwürfe alle die Frage, ob es Mehrstimmrechtsaktien gibt, zu den Fragen gerechnet haben, die offenbar bei einer Regelung von „Aktie“ zu regeln sind. Nimmt man den identischen Terminus (s.o. 4. Kap., B II 1, S. 335 f.) als Beleg dafür, dass sich das (universale) Rechtskonzept „Aktie“ sich nicht geändert hat, deutet dies darauf hin, dass mit dem heutigen Verweis in Art. 5 SE-VO die Mitgliedstaaten gerade auch über diese Frage entscheiden sollen. Bei einer französischen SE wären nach dieser Argumentation Mehrstimmrechtsaktien zulässig.216 Fraglich ist allerdings, inwieweit die Argumentation mit dem Umfang früherer Entwürfe weiterführend ist. Zum einen kann die Aussagekraft früherer Entwürfe grundsätzlich in Frage gestellt werden.217 Da keine Einigung darüber erfolgte, entfaltet das aus ihnen hervorgehende Konzept von „Aktie“ keine Rechtswirkung. Es kann jedoch mittelbar herangezogen werden, indem Abweichungen dazu im heutigen Konzept – so ist anzunehmen – doch in der SE-VO dokumentiert worden wären. Zumindest die späten Entwürfe dürften für die Diskussionen, die der Verabschiedung der SE-VO 2001 vorausgingen, eine Grundlage gebildet haben. Daher ist zunächst einmal naheliegend, dass Veränderungen gegenüber diesem Stand sich auch in der Formulierung der aktuellen Fassung niedergeschlagen hätten. Zum zweiten ist jedoch zu fragen, welche der verschiedenen Versionen konkret heranzuziehen ist, da diese sich in ihrem Umfang, wie dargestellt, doch deutlich unterscheiden. Denkbar wäre es insofern, auf den letzten, den umfangreichsten (wohl SE-VOV 1970) oder den am wenigsten umfangreichen (als den Kern der politischen Einigung) abzustellen. Dabei wäre allerdings noch erst durch eine Auslegung zu klären, welcher Entwurf denn nun der am wenigsten umfangreiche sein sollte. Wenn man nach dem Umfang der geregelten Fragen sucht, wirken sich diese methodischen Fragen jedoch hauptsächlich auf Details aus. Gemeinsam ist allen Entwürfen, dass als unter „Aktie“ zu klärenden Fragen diejenigen angesehen werden, die sich auf den Kapitalanteil, einige Mitgliedschaftsrechte – insbesondere die Frage von Mehrstimmrechtsaktien und andere gattungsbegründende Merkmale – sowie zumindest einige Aspekte der Urkunde (insbesondere die Frage, ob Namens- oder Inhaberaktien ausgegeben werden sollen, Ersatz und Kraftloserklärung von Aktien) beziehen. Damit sind die oben in der Rechtsvergleichung angesprochenen drei Hauptaspekte der „Aktie“ auch Bestandteil der Diskussion in den Vorentwürfen. Die 215
Zu Ausnahmen („golden shares“-Rechtsprechung) s. 4. Kap., B III 6 und 7, S. 341 ff. In diesem Sinne etwa Torino, in: Corapi/Pernazza, Società europea, 2011, S. 35. 217 Weitere Argumente zur grundsätzlichen Diskussion und Fundstellen oben 1. Kap., C V, S. 78. 216
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historische Auslegung spricht insbesondere auch dafür, dass auch die Verbriefungsseite der „Aktie“ vom europäischen Konzept erfasst ist, selbst wenn dies nach englischem Recht nicht der Fall ist. Als fraglich stellt sich insbesondere dar, ob auch die Übertragung von „Aktien“ vom Terminus „Aktie“ erfasst sein sollen. Dies ließe sich bejahen nach den Entwürfen Sanders-VOV 1966 und SE-VOV 1970 (jeweils positive Regelung) und dem SE-VOV 1989 (expliziter Verweis), fraglich erscheint dies nach SE-VOV 1975 und SE-VOV 1991, in denen jeweils die Frage nicht mehr erwähnt wurde. Allerdings blieb beim SE-VOV 1975 unklar, woraus sich das anwendbare Recht ergeben sollte. Beim SE-VOV 1991 dagegen wurde durch den auf einige Rechtsfragen beschränkten Verweis noch deutlicher gemacht, worauf sich dieser beziehen sollte und worauf nicht. Es hieß nicht etwa „das sonst auf Aktien anwendbare Recht“, sondern ausdrücklich wurden einzelne Fragen aufgezählt, andere wie die Übertragung ausgeklammert. Da sich die Frage, ob auch die Übertragung von Aktien erfasst war, relativ eindeutig aus dem Vergleich mit dem erst zwei Jahre zuvor veröffentlichten SE-VOV 1989 ergab, brauchte die Übertragung nicht eigens erwähnt werden. Auch so war die Übertragung von Aktien eine Frage, die sich stellte, wenn von „Aktien“ die Rede war. Dies spricht dafür, dass die Übertragung von Aktien auch im historischen Kontext mit angesprochen war. Die historische Auslegung legt daher nahe, in Präzisierung der oben angesprochenen Ergebnisse auch die verbriefungsrechtliche Seite und die Übertragung von Aktien als vom Verweis des Art. 5 SE-VO erfasst anzusehen. III. Systematik Weitere Aufschlüsse über das europarechtliche Verständnis von „Aktie“ können sich aus dem System innerhalb der SE-VO ergeben sowie aus dem Bezug zu anderen Rechtsakten des Europarechts, die „Aktie“ konkretisieren. 1. Art 1 Abs. 2 S. 1 SE-VO Art. 1 Abs. 2 S. 1 SE-VO bestimmt, dass das Kapital der SE „in Aktien zerlegt ist“. Demnach bezeichnet „Aktie“ also u.a. einen Kapitalanteil. 2. Art. 5 SE-VO Neben „Aktie“ bezieht sich Art. 5 SE-VO auch auf „weitere Wertpapiere“. Dies lässt sich als (weiterer) Hinweis darauf verstehen, dass „Aktie“ (auch) die wertpapierrechtliche Seite des Kapitalanteils meint. 3. Art. 60 SE-VO Art. 60 Abs. 1 SE-VO bestimmt:
B. Autonome Auslegung
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„Sind mehrere Gattungen von Aktien vorhanden, so erfordert jeder Beschluss der Hauptversammlung noch eine gesonderte Abstimmung durch jede Gruppe von Aktionären, deren spezifische Rechte durch den Beschluss berührt werden.“
Daraus wird zum einen deutlich, dass es mehrere „Gattungen“ von Aktien geben kann, zudem weist der zweite Teil des Satzes darauf hin, dass damit die spezifischen Rechte einer Gruppe von Aktionären angesprochen sind. „Gattungen“ meint also auch hier wie im deutschen Recht die Unterscheidung nach den Mitgliedschaftsrechten der Aktionäre; dazu passen auch die anderen Sprachfassungen von „Gattungen“ in Art. 60 SE-VO: Die dort verwendeten Termini werden in den hier untersuchten Rechtsordnungen entsprechend verwendet (englisch „classes“, französisch „catégories“, italienisch „categorie“). Art. 60 SE-VO stützt damit die Auslegung, dass „Aktie“ auch verschiedene Mitgliedschaftsrechte des Aktionärs anspricht, die sich dann aus nationalem Recht ergeben (über den Verweis in Art. 5 SE-VO), während die Abstimmung abschließend dem autonom auszulegenden Art. 60 SE-VO zu entnehmen ist.218 4. Art. 9, 10 SE-VO Auf das Verhältnis zu Art. 9 und 10 SE-VO wurde bereits oben219 eingegangen. Von Art. 9 SE-VO unterscheidet sich der Verweis, indem er eine Regelung im nationalen, speziell auf die SE zugeschnittenen Recht (in Deutschland: SEAG) untersagt; gegenüber Art. 10 SE-VO stellt sich die Norm als eine Präzisierung bzw. Klarstellung dar. 5. Systematik: sonstige Rechtsakte der EU: Allgemeines Auch in anderen Rechtsakten finden sich Regelungen zur „Aktie“. Mit Blick darauf, dass in der SE-VO die Norm dem Verweis auf mitgliedstaatliches Recht dient, ist insbesondere der Umfang der Regelungen durch ein „Aktie“ betiteltes Konzept interessant – also welche Fragen mit dem Konzept beantwortet werden eher als die Antworten selbst. 6. Primärrecht: „Golden shares“-Rechtsprechung des EuGH Im Primärrecht wird „Aktie“ nicht erwähnt. Dennoch lassen sich einige inhaltliche Regeln insbesondere aus der Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV) und (teilweise auch) der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) ableiten. Eine klare Linie zum Konkurrenzverhältnis beider Grundfreiheiten lässt der EuGH
218 Zu möglichen Problemen (insbesondere hinsichtlich Mehrheiten und prozessualen Fragen) Fischer, ZGR 2013, 832. 219 Siehe oben 4. Kap., A, S. 305 f.
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4. Kapitel: Aktie
nicht erkennen;220 er hat bereits in manchen Entscheidungen beide parallel als verletzt angesehen, 221 in anderen dagegen entschieden, eine etwaige Verletzung der Niederlassungsfreiheit sei lediglich Folge der Verletzung der Kapitalverkehrsfreiheit.222 Die genannten Regeln werden häufig unter dem Stichwort „Goldene Aktien“ oder „golden shares“ diskutiert. Der EuGH verwendet diesen Ausdruck in der Regel nicht selbst;223 „golden shares“ bzw. „goldene Aktien“ wird in der Literatur als Ausdruck für eine Vielzahl von Konstellationen verwendet, in denen sich staatliche Stellen Sonderrechte vorbehalten, die typischerweise (aber nicht immer) an ihre Aktionärsstellung geknüpft sind.224 Aus der Rechtsprechung des EuGH lässt sich – ähnlich wie bei der Rechtsprechung des EuGH zur Sitzverlegung, s.o.225 – keine Definition von „Aktie“ entnehmen, dafür allerdings einige Regeln, die den Rahmen dessen, was eine Aktie zulässigerweise nach dem Recht der Mitgliedstaaten sein kann, näher umreißen. Anlass der Rechtsprechung war die Privatisierung vieler ehemaliger Staatsunternehmen seit den 1980ern in Europa.226 Im Zuge der auch formellen Privatisierung von Staatsunternehmen, also ihrer Umwandlung in Rechtsformen des Handels- und Gesellschaftsrechts, behielten sich einige Mitgliedstaaten bzw. Körperschaften Sonderrechte der öffentlichen Hand vor, die in verschiedener Form umgesetzt wurden, teils durch (Sonder-)Gesetze, teils in Satzungen, 220 Ebenso („mehr Verwirrung als klare Linien“) von der Brocke, in: FS Spiegelberger 2009, 1671; Lutter/Bayer/Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 2012, § 15 Rn. 5. 221 EuGH, Rs. C-207/07, Urt. vom 17.07.2008, Slg. I-2008, 111 („E.ON/ENDESA“); EuGH, Rs. C-326/07, Urt. vom 26.03.2009, Slg. I-2009, 2291 („ENI II“). 222 EuGH, Rs. C-367/98, Urt. vom 04.06.2002, Slg. I-2002, 4731, Rz. 56; EuGH, Rs. C483/99, Urt. vom 04.06.2002, Slg. I-2002, 4781 („Elf Aquitaine“), Rz. 56; EuGH, Rs. C463/00, Urt. vom 13.05.2003, Slg. I-2003, 451 („ENDESA“), Rz. 86; EuGH, Rs. C-98/01, Urt. vom 13.05.2003, Slg. I-2003, 4641 EuGH, Rs. C-463/00, Urt. vom 13.05.2003, Slg. I2003, 451 („BAA plc“), Rz. 52; EuGH, Rs. C-282/04 und C-283/04, Urt. vom 28.09.2006, Slg. I-2006, 9141, Rz. 43; EuGH, Rs. C-171-08, Urt. vom 08.07.2010, Slg. I-2010, 6817 („Portugal Telecom“), Rz. 80; EuGH. Rs. C-543/08, Urt. vom 11.11.2010, Slg. I-2010, 11241 („Energias de Portugal“), Rz. 99. 223 Erst in späteren Urteilen findet sich eine Erwähnung, dann in Anführungszeichen, z.B. EuGH. Rs. C-543/08, Urt. vom 11.11.2010, Slg. I-2010, 11241 („Energias de Portugal“), Rz. 1 („… Sonderaktien (‚golden shares‘)“). 224 Lutter/Bayer/Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 2012, § 15 Rn. 2; Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, § 3 Rn. 33 (Terminus daher zu eng); Grundmann/Möslein, ZGR 2003, 317 (318 f., 322): Der Ausdruck stammt aus dem Vereinigten Königreich, wo das Sonderrecht häufig als ein mit einem Anteil verbundenes Recht ausgestaltet wird; Andenas/Gütt/Pannier, EBLR 16 (2005), 4, 757 (782 f.); van Bekkum/Klostermann/Winter, European Company Law 5 (2008), 1, 6 (8). 225 Siehe oben 3. Kap., B VI, S. 216 ff. 226 Lutter/Bayer/Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 2012, § 15 Rn. 1.
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die der EuGH dann als „nationale Maßnahme“ an den Grundfreiheiten überprüft, wenn diese Vorteile in Ausübung von Sonderrechten geschaffen wurden und deren Abschaffung erschwert wurde.227 Die Kommission kündigte im Zuge ihrer Überwachung des Binnenmarktes an, Hindernisse für den Kapitalverkehr und die Niederlassungsfreiheit zu bekämpfen.228 Im Jahr 2002 schließlich wurden drei Verfahren vom EuGH entschieden229 und verschafften dem Thema verstärkte Aufmerksamkeit.230 Seitdem hat der EuGH die Zulässigkeit von Sonderrechten in einer Reihe von Fällen präzisiert und geklärt. Neben Höchstgrenzen u.a. für Unternehmensbeteiligungen oder staatlichen Zustimmungserfordernissen 231 hat der EuGH dabei insbesondere auch einseitige Ausgestaltungen der Mitgliedschaftsrechte geprüft, etwa Höchststimmrechte232 oder Rechte bei der Bestimmung der Mitglieder von Führungsorganen.233
227 So etwa die Fälle EuGH, Rs. C-282/04 und C-283/04, Urt. vom 28.09.2006, Slg. I2006, 9141, Rz. 22 ff.; EuGH. Rs. C-543/08, Urt. vom 11.11.2010, Slg. I-2010, 11241 („Energias de Portugal“), Rz. 50–53. Dagegen soll es zulässig sein, wenn der Staat sich Sonderrechte in Satzungen lediglich durch Ausübung seiner ihm wie einem normalen Aktionär zustehenden Rechte verschafft, etwa im Fall VW das Entsenderecht nach dem Urteil des EuGH, Rs. C-112/05, Urt. vom 23.10.2007, Slg. I-2007, 8995 („VW I“), so Lutter/Bayer/Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 2012, § 15 Rn. 7; W. Bayer/Schmidt, BB 2008, 454 (460); W. Bayer/Schmidt, BB 2014, 1219 (1228); Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, § 3 Rn. 36. 228 Mitteilung der Kommission über bestimmte rechtliche Aspekte von Investitionen innerhalb der EU, ABl. C 220 vom 19.07.1997, S. 15–18. 229 EuGH, Rs. C-367/98, Urt. vom 04.06.2002, Slg. I-2002, 4731; EuGH, Rs. C-483/99, Urt. vom 04.06.2002, Slg. I-2002, 4781 („Elf Aquitaine“); EuGH, Rs. C-503/99, Urt. vom 04.06.2002, Slg. I-2002, 4809 („S.N.T.C.“). 230 Vgl. u.a. die Stellungnahmen von Grundmann/Möslein, ZGR 2003, 317; W. Bayer, BB 2002, 2289; Andenas/Gütt/Pannier, EBLR 16 (2005), 4, 757 (778 ff.); für einen Überblick über die Literatur Lutter/Bayer/Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 2012, vor § 15. 231 Vgl. zur Kasuistik Lutter/Bayer/Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 2012, § 15 Rn. 11. 232 EuGH. Rs. C-543/08, Urt. vom 11.11.2010, Slg. I-2010, 11241 („Energias de Portugal“), Rn. 58; EuGH, Rs. C-112/05, Urt. vom 23.10.2007, Slg. I-2007, 8995 („VW I“): im Fall „VW I“ galt lange als unklar, ob der EuGH die im VW-Gesetz vorgesehenen Sonderrechte der Sperrminorität (20 %) und des Höchststimmrechts (20 %) nur kumulativ für unzulässig erklärt hatte, vgl. m.w.N. Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, § 3 Rn. 35; Lutter/Bayer/Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 2012, § 15 Rn. 11 a.E. In EuGH, Rs. C-95/12, Urt. vom 22.10.2013 („VW II“) stellte der EuGH klar, dass das Urteil lediglich den kumulativen Verstoß festgestellt hatte. 233 EuGH, Rs. C-112/05, Urt. vom 23.10.2007, Slg. I-2007, 8995 („VW I“), Rn. 59 ff.; EuGH, Rs. C-171-08, Urt. vom 08.07.2010, Slg. I-2010, 6817 („Portugal Telecom“), Rz. 6, 57 ff.; EuGH. Rs. C-543/08, Urt. vom 11.11.2010, Slg. I-2010, 11241 („Energias de Portugal“), Rz. 59 ff.
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4. Kapitel: Aktie
Gestützt auf die Niederlassungsfreiheit, in einigen Fällen aber auch auf die Kapitalverkehrsfreiheit, entschied der EuGH meist gegen die Sonderrechte des Staates.234 „Nationale Maßnahmen“ auf diesem Gebiet können eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit darstellen, wenn sie geeignet sind, den Erwerb von Aktien der betreffenden Unternehmen zu verhindern oder zu beschränken oder Investoren aus anderen Mitgliedstaaten davon abzuhalten, in das Unternehmen zu investieren.235 Zulässig ist dies nur, wenn die Maßnahmen gerechtfertigt sind, was insbesondere aus den Gründen der Öffentlichen Sicherheit (Art. 52 Abs. 1, 65 Abs. 1 lit. b AEUV) und zwingenden Gründen des Allgemeininteresses geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ist. Allerdings sind diese Rechtfertigungsgründe eng auszulegen.236 Der Anwendungsbereich der EuGH-Rechtsprechung ist wegen der sehr verschiedenartigen Sachverhalte, die sich nicht nur von Land zu Land, sondern von Unternehmen zu Unternehmen unterscheiden, abstrakt nicht leicht zu definieren.237 Zudem ist in der Literatur streitig, wie weit die Kontrollbefugnis und die Kontrolle des EuGH anhand der Grundfreiheiten reicht, wobei der Streit ähnlich verläuft wie der zum Einfluss der Niederlassungsfreiheit und der EuGH-Rechtsprechung seit „Centros“ und der Sitztheorie.238 Grund für die Unklarheiten ist insbesondere, dass sich der EuGH nicht an nationalen Kategorien orientiert und dies auch wegen der sehr inhomogenen Sachverhalte nicht kann. Für „Aktien“ ergeben sich Konkretisierungen insbesondere, was die Ausgestaltung der Mitgliedschaftsrechte angeht: Eine einseitige Bevorzugung einzelner Aktionäre ist hier nur in bestimmtem Rahmen zulässig. Insbesondere ist eine einseitige Ausgestaltung zu Gunsten staatlicher Stellen durch nicht rein gesellschaftsrechtliche Maßnahmen verboten, wenn sie nicht nach dem strengen Maßstab der Art. 49, 63 AEUV gerechtfertigt ist. 234
Lediglich die Entscheidung EuGH, Rs. C-503/99, Urt. vom 04.06.2002, Slg. I-2002, 4809 („S.N.T.C.“) stellte keinen Verstoß gegen Grundfreiheiten fest. 235 EuGH, Rs. C-171-08, Urt. vom 08.07.2010, Slg. I-2010, 6817 („Portugal Telecom“), Rz. 50; EuGH. Rs. C-543/08, Urt. vom 11.11.2010, Slg. I-2010, 11241 („Energias de Portugal“), Rz. 47. 236 Lutter/Bayer/Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 2012, § 15 Rn. 13. Lediglich im Fall EuGH, Rs. C-503/99, Urt. vom 04.06.2002, Slg. I-2002, 4809 („S.N.T.C.“) wurde keine Verletzung festgestellt; hier hatte Belgien sich lediglich auf Krisensituationen zugeschnittene Sonderrechte bei Energieversorgen vorbehalten, die auch im Übrigen verhältnismäßig waren. 237 Vgl. die Versuche bei Grundmann/Möslein, ZGR 2003, 317 (330 ff., 350 ff.); W. Bayer, BB 2002, 2289 (2290) (jeweils mit Blick auf das VW-Gesetz); van Bekkum/Klostermann/Winter, European Company Law 5 (2008), 1, 6 (8 f.). 238 S. oben 3. Kap., B VI, S. 218 f. Zur Frage der „golden shares“-Rechtsprechung: eine eher weit reichende Wirkung nehmen Grundmann/Möslein, ZGR 2003, 317 (330 ff.) an; eher die beschränkenden Aspekte betonend van Bekkum/Klostermann/Winter, European Company Law 5 (2008), 1, 6 (10 ff.); vermittelnd Lutter/Bayer/Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 2012, § 35 Rn. 15.
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Die das Primärrecht konkretisierende EuGH-Rechtsprechung liefert somit konkrete Grenzen für ein Rechtskonzept, das die Mitgliedschaftsrechte der Teilhaber in einem Unternehmen regelt. Es enthält dagegen keine Aussage dazu, ob ein solches Rechtskonzept als „Aktie“ zu bezeichnen ist. 7. One share one vote? Die Frage, ob sich ein Gleichbehandlungsgrundsatz der Aktionäre dem europäischen Recht entnehmen lässt, ist immer wieder diskutiert worden. Es bestehen zwar eine Reihe von einzelnen Gleichbehandlungsgeboten im Europäischen Gesellschaftssekundärrecht. Insbesondere finden sich Regeln im Übernahmerecht (Art. 5, 15, 16 Dreizehnte Richtlinie239), in der Transparenzrichtlinie240 (Art. 17, 18), der Aktionärsrichtlinie241 (Art. 4) sowie der Kapitalrichtlinie (Art. 46 Zweite Richtlinie242). Diese richten sich aber an unterschiedliche Adressaten: Die Regeln der Dreizehnten Richtlinie verpflichten den übernehmenden Aktionär, die Minderheitsaktionäre bei der Abgabe des Angebots gleich zu behandeln, die Vorschriften der Transparenzrichtlinie und der Aktionärsrichtlinie richten sich an die Gesellschaft. Die enge Verbindung zu den letzteren beiden Vorschriften sowie die Tatsache, dass die Zweite Richtlinie nicht das Verhältnis der Aktionäre untereinander regelt, lassen darauf schließen, dass auch bei Art. 46 Zweite Richtlinie nur die Gesellschaft Adressat des Gleichbehandlungsgebots ist.243 Der EuGH hat bisher diesen Einzelregelungen aber eine über die jeweils geregelten Sonderkonstellationen hinausgehenden Anwendungsbereich abgesprochen.244 Zudem lehnte der EuGH auch eine Ableitung aus höherrangigem Recht (Deduktion aus dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz) ab.245 Die eben dargestellte „golden shares“-Rechtsprechung bewirkt zwar ebenfalls, dass die Aktionäre gleich zu behandeln sind, bleibt allerdings ebenfalls auf eine Sonderkonstellation – die Inanspruchnahme staatlicher Rechte – beschränkt.
239 Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 betreffend Übernahmeangebote (Text von Bedeutung für den EWR), ABl. L 142 vom 30.04.2004, S. 12–23. 240 Richtlinie 2004/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 2004 zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG, ABl. L 390 vom 31.12.2004, S. 38–57. 241 Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften, ABl. L 184 vom 14.07.2007, S. 17–24. 242 Dazu noch gleich unten 4. Kap., B III 8, S. 346 ff. 243 Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, § 6 Rn. 89. 244 EuGH, Rs. C-101/08, Urt. vom 15.10.2009, Slg. I-2009, 9823 („Audiolux“), Rz. 33 ff. 245 EuGH, Rs. C-101/08, Urt. vom 15.10.2009, Slg. I-2009, 9823 („Audiolux“), Rz. 53 ff.
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De lege ferenda hatte zwischenzeitlich Binnenmarktkommissar Charles McGreevy versucht, einen solchen Grundsatz europaweit zu etablieren.246 Allerdings hatten sich dagegen einige Mitgliedstaaten, unter den hier untersuchten Rechtsordnungen Frankreich, aber auch die nordischen Staaten, die Mehrstimmrechtsaktien zulassen, gesträubt, sodass McGreevy sein Vorhaben schließlich aufgab.247 Einen allgemeinen (primärrechtlichen) Grundsatz one share one vote gibt es daher nach derzeitigem Stand des Europäischen Gesellschaftsrechts nicht.248 Auch ein sekundärrechtlicher Grundsatz der Gleichberechtigung dürfte zumindest vom EuGH, der sich von seiner gegenüber allgemeinen Rechtsgrundsätzen zuneigenden Rechtsprechung in „Mangold“249 mit „Audiolux“ wohl auch unter Eindruck der Kritik wieder entfernt hat,250 zunächst nicht zu erwarten sein.251 8. Zweite Richtlinie Erwägungsgrund 3 SE-VO bestimmt: „Die Verwirklichung der Umstrukturierungs- und Kooperationsmaßnahmen, an denen Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten beteiligt sind, stößt auf rechtliche, steuerliche und psychologische Schwierigkeiten. Einige davon konnten mit der Angleichung des Gesellschaftsrechts der Mitgliedstaaten durch aufgrund von Artikel 44 des Vertrags erlassene
246
Hopt, NZG 2007, 257. Vgl. die Folgenabschätzung der Europäischen Kommission, SEC 2007 (1705) – Impact Assessment on the Proportionality between Capital and Control in Listed Companies; zur Rede McGreevys am 04.06.2007 Fischer zu Cramburg, NZG 2007, 859; Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 2015, Rn. 9.43. 248 Lutter/Bayer/Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 2012, § 20 Rn. 234; nach Verabschiedung der Transparenz-Richtlinie ein solches Prinzip zumindest nicht mehr ganz ausschließend Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, S. 325. 249 EuGH, Rs. C-144/04, Urt. vom 22.11.2005, Slg. I-2005, 9981 („Mangold“). 250 Vgl. m.w.N. zur Kritik („ausbrechender Rechtsakt“) Schön, in: FS Hopt 2010, 1343 (1351). 251 Dem EuGH („Audiolux“) letztlich zustimmend Metzger, RabelsZ 75 (2011), 845 (874 f., 888) („Diskriminierungsverbote … bedürfen einer politischen Entscheidung des Gesetzgebers“); ähnlich Grundmann, RabelsZ 75 (2011), 882 (917 f.); offener gegenüber einem Gleichheitssatz mit Verweis auf seit „Audiolux“ ergangene neue Rechtsakte, die einen allgemeinen Gleichheitssatz im Europäischen Gesellschaftsrecht näher legten als zum Zeitpunkt der Entscheidung, Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, Rn. 325; bedauernd, dass der EuGH ein zu enges Verständnis von „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ habe, und insbesondere einen Grundsatz ohne Verfassungsrang, aber von hermeneutischem Interesse nicht erwogen habe, Basedow, in: FS Hopt 2010, 27; ähnlich Schön, in: FS Hopt 2010, 1343 (1345) („Existenz grundlegener Rechtsprinzipien innerhalb von sekundärrechtlich präjudizierten Rechtsbereichen [nicht] ernsthaft diskutiert“); Fleischer, RabelsZ 75 (2011), 700 (723). 247
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Richtlinien ausgeräumt werden. Dies erspart Unternehmen, die verschiedenen Rechtsordnungen unterliegen, jedoch nicht die Wahl einer Gesellschaftsform, für die ein bestimmtes nationales Recht gilt.“
S. 2, der sich auf die ausgeräumten Hindernisse bezieht, wird häufig als Hinweis auf die Zweite Richtlinie 252 (auch „Kapitalrichtlinie“) verstanden. 253 Auch diese verwendet ebenfalls den Terminus „Aktie“. Dabei finden sich keine Abweichungen in den Sprachfassungen – oder jedenfalls keine juristisch bedeutsamen: In der portugiesischen Sprachfassung der Zweiten Richtlinie wurde in der Neufassung 2012 der zwischenzeitlich ergangenen portugiesischen Rechtschreibrefom (vereinbart bereits 1990, umgesetzt in offiziellen Dokumenten in Portugal ab dem 01.01.2012) Rechnung getragen254 und das stumme „c“ in acções („Aktien“, bis dahin so in früheren Rechtsakten verwendet) weggelassen („ações“) – allerdings nicht überall, in einigen Fällen wurde die alte Schreibweise beibehalten: so in Art. 9, 25 (dort zweimal) und 33 Zweite Richtlinie, sowie in Erwägungsgrund 12, dort jedoch in der Bedeutung „Klage, Gerichtsverfahren“. Allerdings finden sich Verwendungen der alten und neuen Schreibweise in so engem räumlichem und inhaltlichem Zusammenhang (etwa Art. 25 Zweite Richtlinie: alte Rechtschreibung in Abs. 3 und 7, neue in Abs. 1, 4, 5 und 6), dass Vermutungen, ob die Ersteller der portugiesischen Sprachfassung sich an älterem Recht in alter portugiesischer Rechtschreibung orientierten oder ausländische Sprachversionen in Portugiesisch moderner Rechtschreibung übertrugen, bloße Spekulation wären. Zu beachten ist, dass die Zweite Richtlinie nur für „Aktiengesellschaften“ (im Sinn des Anhangs I der Zweiten Richtlinie) gilt, in Deutschland also – anders als die Erste Richtlinie – nicht für die GmbH. Die sich aus den Normen der Zweiten Richtlinie ergebenden Präzisierungen sind dennoch für die SE relevant, da diese gem. Art. 5, 9 und 10 SE-VO (auch unabhängig von deren genauem Anwendungsbereich) jedenfalls wie eine Aktiengesellschaft zu behandeln ist. 252 Richtlinie 2012/30/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 54 Absatz 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (Neufassung), ABl. L 315 vom 14.11.2012, S. 74. 253 Oechsler/Mihaylova, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 5 SE-VO Rn. 3; Fleischer, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 5 SE-VO Rn. 1; Lutter/Bayer/Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 2012, § 41 Rn. 80; einen Einfluss (etwa von Art. 3 Zweite Richtlinie) nimmt auch B. Mayer, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SE-Kommentar, 2010, Art. 5 SE-VO Rn. 27 an. 254 Für den Hinweis auf diese Hintergründe bin ich Herrn Filipe Brito Bastos, EUI Florenz, zu Dank verpflichtet.
348
4. Kapitel: Aktie
Eine Definition von „Aktie“ enthält die Zweite Richtlinie nicht, was auch dem Charakter als Richtlinie geschuldet sein kann. Sie enthält insbesondere Offenlegungsregeln, Art. 2 f. (Gründungspublizität) sowie Regelungen zur Kapitalaufbringung, -erhaltung, -erhöhung und -herabsetzung. Die Zulässigkeit des Erwerbs eigener Aktien wird in Art. 20 f. Zweite Richtlinie eingeschränkt. Dabei werden aber verschiedene Aspekte der „Aktie“ angesprochen. Die Regelungen der Kapitalrichtlinie betreffen zunächst die Funktion der Aktie als Kapitalanteil. Die Zweite Richtlinie führte das Prinzip des festen Grundkapitals sowie eines Mindestkapitals (Art. 6 Zweite Richtlinie: 25.000 Euro) in Europa ein, das zum Zeitpunkt des Erlasses in einigen Mitgliedstaaten (dem Vereinigten Königreich und Irland) noch nicht bekannt war.255 Insbesondere wird geregelt, dass das Kapital in Aktien zerlegt ist. Aus Art. 3 lit. b und c, 9 Zweite Richtlinie ergibt sich, dass „Aktien“ einen Nennbetrag oder einen rechnerischen Wert haben müssen. Damit sind insbesondere nennwertlose Stückaktien verboten.256 Daneben sind aber auch einzelne Mitgliedschaftsrechte des Aktionärs angesprochen. An mehreren Stellen der Richtlinie werden verschiedene „Gattungen von Aktien“ (englisch „classes“, französisch „catégories“, italienisch „categorie“) angesprochen; aus der Richtlinie ergibt sich dabei, dass diese nach den Rechten der Aktionäre unterscheiden. Die Richtlinie fordert bestimmte Angaben dazu in der Satzung (bzw. dem Errichtungsakt oder einem sonst offenzulegenden Schriftstück) in Art. 3 lit. e Zweite Richtlinie. Die „Ausschüttung“ (englisch „distribution“, französisch „distribution“, italienisch „distribuzione“) wird in Art. 17 Abs. 1, 3, 4 Zweite Richtlinie angesprochen, jedoch nicht näher definiert; immerhin wird klargestellt, dass davon Dividendenzahlungen und Zinszahlungen für Aktien umfasst sind. Außerdem ist in Art. 33 Zweite Richtlinie ein Bezugsrecht der Aktionäre normiert, das nur unter bestimmten (formalen257) Voraussetzungen aufgehoben werden kann. 255 Das Vereinigte Königreich und Irland traten 1973 noch vor Erlass der Urfassung der Zweiten Richtlinie 1977 bei, akzeptierten aber den Stand der Verhandlungen (erster Entwurf bereits 1970) und setzten das Prinzip des festen Grundkapitals in der Folge um, s. dazu Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, Rn. 314; Lutter/Bayer/Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 2012, § 8 Rn. 13, § 20 Rn. 1. Rechtspolitisch ist das Prinzip des festen Grundkapitals nach der Empfehlung der High Level Group, ein alternatives System der Kapitalerhaltung zu prüfen, wieder Gegenstand von Diskussionen geworden, vgl. die Machbarkeitsstudie zu Alternativen zur Kapitalerhaltung von KPMG, veröffentlicht im Januar 2008, , abgerufen am 21.10.2017, Lutter/Bayer/Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 2012, § 20 Rn. 238 f.; Merkt, ZGR 2004, 305. 256 Lutter/Bayer/Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 2012, § 20 Rn. 30. Vgl. zum Konzept oben 4. Kap., B I 1 a, S. 308, Fn. 14. 257 Das Recht der Mitgliedstaaten kann allerdings strengere, auch inhaltliche Vorgaben machen, vgl. für Deutschland Lutter/Bayer/Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 2012, § 20 Rn. 202.
B. Autonome Auslegung
349
Die Verbriefung der Aktie bzw. deren wertpapierrechtliche Seite wird im Europäischen Recht (bisher258) kaum geregelt.259 Allerdings finden sich einige Hinweise auch in der Zweiten Richtlinie. Etwa ist Art. 3 lit. f Zweite Richtlinie zu entnehmen, dass „Namens- oder Inhaberaktien“ (englisch „registered or bearer“, französisch „nominative ou au porteur“, italienisch „nominative o al portatore“) möglich sind. Auch wenn die Zweite Richtlinie diese nicht selbst regelt, enthält sie Offenlegungsvorschriften dazu und geht immerhin von deren Zulässigkeit aus. Zudem wird auch in diesem Zusammenhang der Terminus „Aktie“ verwendet, sodass davon auszugehen ist, dass auch das europäische Konzept die Verbriefung mit umfasst. Auch Vinkulierungen der Aktie werden erwähnt (Art. 3 lit. d Zweite Richtlinie). Materielle Regelungen, die einen Einfluss auf die zulässigen Ausgestaltungen von „Aktie“ haben, gibt es dagegen kaum. In Art. 46 Zweite Richtlinie ist zwar der Grundsatz der Gleichbehandlung der Aktionäre (unter gleichen Bedingungen) festgelegt und dieser legt auch nicht lediglich einen unverbindlichen Programmsatz fest.260 Allerdings ist er in der Reichweite auf die Zweite Richtlinie beschränkt, also insbesondere auf Kapitalfragen (eine spezielle Ausprägung ist z.B. das Bezugsrecht für Aktionäre, Art. 33 Zweite Richtlinie); der EuGH sieht Art. 46 Zweite Richtlinie nicht als Normierung eines allgemeinen Grundsatzes an, nicht einmal im Rahmen der Zweiten Richtlinie, sondern deutet ihn eher als Willkürverbot.261 Festzuhalten bleibt, dass die Zweite Richtlinie also ebenfalls davon ausgeht, dass „Aktien“ einen Kapitalanteil beschreiben, dass mit ihnen verschiedene Mitgliedschaftsrechte erfasst sind und dass diese verbrieft oder sonstwie in Wertpapieren i.w.S. ausgestaltet werden können. 9. Fünfte Richtlinie (Entwurf) Eine Verabschiedung der Strukturrichtlinie (Fünfte Richtlinie 262 ) hätte das Konzept der „Aktie“ weiter geklärt. Insbesondere waren eine Regelung der Rechte der Aktionäre in der Hauptversammlung und Bestimmungen zum 258
Vgl. aber zum Projekt einer EU-Wertpapierrichtlinie Einsele, ZHR 177 (2013), 50 (79 ff.). 259 Lutter/Bayer/Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 2012, § 8 Rn. 48. 260 Lutter/Bayer/Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 2012, § 20 Rn. 234; Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, Rn. 325. 261 EuGH, Rs. C-101/08, Urt. vom 15.10.2009, Slg. I-2009, 9823 („Audiolux“), Rz. 40 (zum damaligen Art. 42 Zweite Richtlinie a.F.). 262 Der letzte Entwurf stammt von 1991: Dritte Änderung des Vorschlags für eine fünfte Richtlinie des Rates nach Artikel 54 EWG-Vertrag über die Struktur der Aktiengesellschaft sowie die Befugnisse und Verpflichtungen ihrer Organe (gemäß Artikel V.9 Paragraph 3 des EWG-Vertrags von der Kommission vorgelegt), KOM/1991/0372 endg. – SYN 1991/0003, ABl. C 321 vom 12.12.1991, S. 9–12.
350
4. Kapitel: Aktie
Stimmrecht, darunter ein Verbot von Mehrstimmrechtsaktien (Art. 33 Fünfte Richtlinie), angedacht. Auch ließen sich den Entwürfen Hinweise auf eine Treuepflicht der Aktionäre entnehmen.263 Die Fünfte Richtlinie ist allerdings wegen Meinungsverschiedenheiten insbesondere über die Mitbestimmung nicht verabschiedet worden,264 auch auf mittlere Sicht ist eine Verabschiedung nicht absehbar. Aus den genannten Regelungen lassen sich daher kaum verwertbare Schlüsse ziehen.265 10. Aktionärsrechterichtlinie Vom Regelungsprogramm der Fünften Richtlinie wurden lediglich einige Regelungen in der Aktionärsrechterichtlinie266 umgesetzt, die sich auf die Teilnahme des Aktionärs an der Hauptversammlung beziehen. Geregelt sind insbesondere Informations-, Frage- und Teilnahmerechte sowie der Ablauf der Hauptversammlung und Abstimmung. Was den Umfang der Regelungen angeht, bestätigt die Aktionärsrechterichtlinie lediglich, dass auch Stimmrechte zum Verständnis von „Aktie“ gehören können (vgl. Art. 1 Abs. 1 Aktionärsrechterichtlinie: „Diese Richtlinie legt die Anforderungen an die Ausübung bestimmter, mit Stimmrechtsaktien verbundener Rechte von Aktionären im Zusammenhang mit Hauptversammlungen von Gesellschaften fest“). Insbesondere wird auch „Aktie“ nicht definiert, bereits für „Aktionär“ wird in Art. 2 lit. b Aktionärsrechterichtlinie auf den „nach dem anwendbaren Recht“ anerkannten Aktionär verwiesen. Aus methodischer Sicht ist dieser Verweis zumindest missverständlich:267 Ein europäisches Konzept wird durch den Verweis nicht entbehrlich, sondern gerade vorausgesetzt. Selbstverständlich sind auch bezüglich Aktien der SE die Vorgaben der Aktionärsrechterichtlinie einzuhalten (vgl. auch klarstellend Art. 9 Abs. 2 SEVO). Darüber hinaus lassen sich aber inhaltliche Vorgaben, die für das universale Rechtskonzept „Aktie“ bedeutsam sein könnten, der Richtlinie nicht entnehmen.
263
Lutter/Bayer/Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 2012, § 8 Rn. 51 (Fn. 81), § 9 Rn. 1. 264 Vgl. Mitteilung der Kommission, 21.12.2001, Vorschläge, die von der Kommission zurückgezogen werden, Überholte Vorschläge, KOM (2001) 763 endg./2 (DG Markt, S. 22); Lutter/Bayer/Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 2012, § 9 Rn. 1. 265 Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2011, Rn. 366: „nur noch rechtshistorischer Hintergrund“; allgemein zur Frage der Verwertbarkeit von Richtlinienentwürfen Grundmann, RabelsZ 75 (2011), 882 (924) (wohl lediglich als Kontext zu einer verabschiedeten Richtlinie). 266 Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften, ABl. L 184 vom 14.07.2007, S. 17–24. 267 Siehe dazu bereits allgemein oben 1. Kap., D III, D IV, S. 86 ff., 94 ff.
B. Autonome Auslegung
351
11. Zwischenergebnis für die systematische Auslegung Insbesondere die Zweite Richtlinie sowie einige Regelungen in der SE-VO selbst unterstreichen, dass mit „Aktie“ grundsätzlich alle drei Fragen – Kapitalanteil, Mitgliedschaft, Verbriefung – geregelt werden sollen. Es ergeben sich wenige konkrete inhaltliche Vorgaben, wie diese näher ausgestaltet werden sollen. Ein positiver inhaltlicher Grundsatz wie one share one vote lässt sich zumindest derzeit noch nicht konstruieren. Lediglich für Teilbereiche wie die „nationalen Maßnahmen“ im Sinn der „golden shares“ hat der EuGH aus dem Primärrecht Regelungen abgeleitet. IV. Telos Unklar bleibt auch nach den verfügbaren Unterlagen die konkrete Zielsetzung von Art. 5 SE-VO. Aufgrund der großen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten 268 ist nicht anzunehmen, dass die inzwischen erfolgte Rechtsharmonisierung, die in Erwägungsgrund 9 SE-VO angesprochen wird, als Hintergrund des Art. 5 SE-VO gelten kann. 269 Tatsächlich sollte die Streichung der letzten verbliebenen konkreten Regeln aus dem SE-VOV 1991 wohl dazu dienen, einen politischen Kompromiss zu ermöglichen.270 Für die juristische Auslegung ist eine solche Zielsetzung allerdings wenig geeignet. Zwar kann man am Fehlen von Regelungen auch positive Aspekte finden, da damit eine gewisse Flexibilisierung einhergeht. Etwa werden von dem Verweis in Art. 5 SE-VO, der nicht nur Aktien (und Schuldverschreibungen), sondern auch sonstige Wertpapiere (englisch „other similar securities“, französisch „autres titres assimilables“, italienisch „altri titoli assimilabili“) erfasst, auch künftig neu kreierte Wertpapierformen erfasst sein, ohne dass eine Änderung der SE-VO nötig wäre.271 Andere sehen im Schweigen der SE zu den Aktien eine Möglichkeit für regulative Arbitrage, die die Rechtsform der SE gegenüber der nationalen Aktiengesellschaft attraktiver macht („Schweigen ist Gold“). 272 Allerdings erschiene es wenig plausibel, hinter diesen Nebenwirkungen des Regelungsverzichts die eigentliche Zielsetzung der Vorschrift zu sehen. Eine besondere Zwecksetzung ist bei Art. 5 SE-VO auch 268 Merkt, in: Lutter/Hommelhoff (2005), 179 (191); Fleischer, in: Lutter/Hommelhoff (2005), 169 (173 ff.); Fleischer, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 5 SE-VO Rn. 1. 269 Laut Blanquet, ZGR 2002, 20 (54) hielt der Rat eine Regelung nicht mehr für erforderlich; allerdings erscheint fraglich, ob dies angesichts der nach wie vor bestehenden Unterschiede nicht eher auf eine politische Neubeurteilung hindeutet als auf eine Reaktion auf zwischenzeitliche Rechtsangleichungserfolge. 270 Ziemons, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 5 SE-VO Anh. I Rn. 4 Rn. Fn. 8. 271 Merkt, in: Lutter/Hommelhoff (2005), 179 (188); Blanquet, ZGR 2002, 20 (54). 272 Enriques, ZGR 2004, 735 (744 ff.) = Enriques, JCLS 4 (2004), 77 (84 ff.).
352
4. Kapitel: Aktie
sonst nicht zu erkennen. Damit verbleibt es beim allgemeinen Ziel der SE-VO, eine funktionierende Rechtsform zu schaffen.273 Die Funktion, die Art. 5 SE-VO im System der heutigen SE-VO hat, besteht darin, für einen Teilbereich klarzustellen, dass dort keine Sonderregeln über nationale Ausführungsgesetze geschaffen werden dürfen (Präzisierung von Art. 10 SE-VO). Ausgehend von der Funktionsfähigkeit der SE-VO lässt sich nun überlegen, wie weit dieser Bereich möglichst gezogen sein sollte. Die bereits angewandten Auslegungsmethoden haben dabei insbesondere die Frage aufgeworfen, ob auch die Übertragung von Aktien von der Verweisung erfasst sein sollte. Dabei ist nicht ersichtlich, warum gerade die Aktien der SE vom nationalen Aktienrecht gesondert geregelt werden sollten (also in Deutschland im SEAG). Das ohnehin komplexe Gefüge des auf die SE anwendbaren Rechts würde dadurch ohne erkennbaren Grund weiter unnötig verkompliziert. Teilweise wird jedoch erwogen, ob es nicht vorteilhaft sei, die Übertragung von Aktien der SE dem IPR der Mitgliedstaaten zu unterstellen.274 Dabei ist anzumerken, dass ein Herausfallen aus dem Regelungsbereich von Art. 5 SEVO, nicht aber aus dem von Art. 9 SE-VO, noch nicht dazu führen würde, dass die Übertragung von Aktien dem IPR der Mitgliedstaaten unterliegt.275 Denn die besseren Argumente sprechen dafür, Art. 9 SE-VO als Sachnormverweisung anzusehen: Die Funktionsfähigkeit der SE wird durch die nicht noch weiter verkomplizierte Rechtsanwendung verbessert, die in Erwägungsgrund 9 (dem für Art. 9 SE-VO maßgeblichen Gedanken) angesprochenen Harmonisierungserfolge beziehen sich gerade auf materielles Recht, nicht Kollisionsrecht, und auch die Gleichbehandlung mit einer nationalen Aktiengesellschaft (Art. 10, 9 SE-VO) spricht dafür, auch der SE ein einheitliches Statut zuzuweisen.276 Es muss an dieser Stelle also um die 273
Dazu schon allgemein oben 1. Kap., C VI, S. 79, vgl. auch ähnlich bei der Frage der Rechtspersönlichkeit 2. Kap., B IV 1, S. 192 f.; speziell zu Art. 5 SE-VO vgl. Oechsler, in: MüKoAktG Bd. 7, 3. Aufl., 2012, Art. 5 SE-VO Rn. 5: „Der Zweck der Norm liegt nämlich darin, dass auf die SE ein einheitliches Statut Anwendung findet, das sie nicht in der Konkurrenz mit einer AG des nationalen Rechts benachteiligt“ (nur in der Vorauflage, in der aktuellen 4. Auflage von 2017 abgeschwächt). 274 Insbesondere Oechsler, in: MüKoAktG Bd. 7, 3. Aufl., 2012, Art. 5 SE-VO Rn. 36 (nur Vorauflage); Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 5 SE-VO Rn. 56; wohl auch Ziemons, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 5 Anh. I Rn. 14, s. auch unten 4. Kap., C, S. 354 ff. 275 Siehe zu dieser Funktion des Regelungsbereichs des Art. 9 SE-VO bereits oben 1. Kap., D I, S. 81. 276 So auch die h.M., vgl. Engert, ZVglRWiss 104 (2005), 444 (447); Lächler/Oplustil, NZG 2005, 381 (384); Brandt/Scheifele, DStR 2003, 547 (553); Casper, in: FS Ulmer 2003, 51 (67 m. Fn. 66); J. Wagner, NZG 2002, 985 (987); allgemein auch Schwarz, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2000, Rn. 960. A.A. Teichmann, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SEKommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 9 SE-VO Rn. 28 ff.; ähnlich Panico, in: Draetta/Pocar (2002), 29 (40); Malatesta, Riv. di dir. int. priv. e proc. 2002, 613 (617, Fn. 12).
B. Autonome Auslegung
353
Frage gehen, ob die Übertragung von Wertpapieren aus teleologischer Sicht ganz aus dem Regelungsbereich der SE-VO fallen sollte, nicht lediglich aus dem des Art. 5 SE-VO. Dies wäre dann der Fall, wenn die Bestimmung des anwendbaren Rechts durch das IPR der Mitgliedstaaten als wesentlich vorteilhafter anzusehen wäre als eine Bestimmung durch das Sitzstatut. Gewöhnlich wird die Übertragung von echten Wertpapieren nicht dem Gesellschaftsstatut zugeordnet. Die Frage, ob eine Aktie die in ihr genannten Forderungen auch tatsächlich in Form eines echten Wertpapiers verbrieft, wird allerdings dem Gesellschaftsstatut entnommen. Handelt es sich danach aber um ein echtes Wertpapier, wird sachenrechtlich das lex rei sitae zur Anwendung gebracht. Dabei werden die grundlegenden Unterschiede zwischen den Systemen deutlich. Auch wenn die Systeme parallele, den Bedürfnissen des modernen Kapitalmarkts angepasste Systeme entwickelt haben und diese auch mit Termini bezeichnen, die einen ähnlichen Anwendungsbereich haben, wirkt sich die dogmatisch unterschiedliche Konstruktion auf die kollisionsrechtliche Ebene aus. Die verschiedenen Konzepte von „Aktie“ wären daher je nach dogmatischer Ausgestaltung verschieden anzuknüpfen. Nimmt man eine Verwahrung an, verkomplizieren sich die Verhältnisse weiter, weil Rechtsordnungen, die keine sachenrechtliche Konstruktion vornehmen, die Vertragsverhältnisse gesondert anknüpfen und zudem der Rechtswahlfreiheit unterstellen können, 277 während bei einer sachenrechtlichen Konstruktion diese Ebenen „übersprungen“ werden und dem rechtlichen Eigentümer ein (Mit-)Eigentumsrecht erga omnes verliehen wird. 278 Auch die Anknüpfung über das IPR ist daher nicht unproblematisch. Wünschenswert wäre eine auch materiell-rechtliche Rechtsharmonisierung, die sich nicht lediglich auf eine funktionale Angleichung beschränken sollte.279 Im Ergebnis ist damit aus Sicht des Zwecks der Norm, ein funktionierendes Gesellschaftsstatut zu schaffen, ein möglichst einheitliches Recht der SE wünschenswert, was dafür spricht, den Anwendungsbereich des Art. 5 SE-VO eher weit zu ziehen und auch für die Veräußerung von Aktien jedenfalls keine Sonderregelungen zuzulassen. Aus teleologischer Sicht erscheint es dabei nicht zwingend, die Übertragung von Aktien gesondert anzuknüpfen. 277
Vgl. zur entsprechenden Konstruktion im Haager Wertpapierübereinkommen vom 05.07.2006 Einsele, ZHR 177 (2013), 50 (62 f.). Das Übereinkommen ist (Stand 15.10.2017) noch nicht in Kraft getreten, vgl. , zuletzt abgerufen am 21.10.2017. 278 Einsele, ZHR 177 (2013), 50 (62 f.). 279 Zum Genfer Wertpapierübereinkommen (noch nicht in Kraft getreten, vgl. , zuletzt abgerufen am 21.10.2017) und dem Projekt einer EU-Wertpapierrechtsrichtlinie, die beide einen funktionalen („systemneutralen“) Ansatz verfolgen, vgl. kritisch Einsele, ZHR 177 (2013), 50 (63 ff., 79 ff.); positiver Eichholz, WM 2013, 250 (252).
354
4. Kapitel: Aktie
V. Fazit autonome Auslegung Ergiebig sind insbesondere die historische und die systematische Auslegung. Die historische Auslegung macht deutlich, dass die SE-VO, wenn sie auf die Regelungen der Mitgliedstaaten für „Aktie“ verweist, damit nicht lediglich die wertpapierrechtliche Seite meint, sondern auch die Aspekte des Kapitalanteils und der Mitgliedschaft; sie entfernt sich damit ein Stück vom vorläufigen Ergebnis der Wortlautauslegung, nach dem noch nicht sicher war, inwiefern auch die wertpapierrechtliche Seite der „Aktie“ erfasst ist. Dies wird von der systematischen Auslegung bestätigt. Teleologisch spricht nichts dagegen, dies insbesondere auch auf die Übertragung von Anteilen auszudehnen. Gewisse Grenzen werden durch die Niederlassungsfreiheit und die Kapitalverkehrsfreiheit gezogen, konkretisiert durch die Rechtsprechung des EuGH zu den „golden shares“. Diese konkretisieren nicht (nur) das Konzept der „Aktie“, sondern bestimmen allgemeine, nicht an gesellschaftsrechtlichen Kategorien orientierte Grenzen der Zulässigkeit der Beschränkung von Mitgliedschaftsrechten. Da aber, wie gerade dargelegt, auch die Mitgliedschaftsrechte zum Rechtskonzept „Aktie“ gehören, wird das universale Rechtskonzept „Aktie“ auch durch die Golden-Shares-Rechtsprechung des EuGH näher konkretisiert.
C. Auslegungen in der Literatur C. Auslegungen in der Literatur
Insgesamt ist zu konstatieren, dass die bisherigen Auslegungen, insbesondere die Kommentarliteratur, meist eine autonome Auslegung des europäischen Konzepts „Aktie“ vornehmen. Dies zeigt sich u.a. auch daran, dass eine autonome Auslegung in der Mehrzahl der Fälle angesprochen wird – häufig explizit,280 teilweise auch implizit281 (indem eine Auseinandersetzung darüber stattfindet, was vom Verweis erfasst ist), wenngleich auch die Bedeutung der autonomen Konzeptbestimmung aus Gründen der Systematik mitunter als irrelevant abgelehnt wird.282 Lediglich in einer geringen Zahl von Fällen wird das
280
Oechsler/Mihaylova, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 5 SE-VO Rn. 3; Ziemons, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 5 SE-VO Anh. I Rn. 8; B. Mayer, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SE-Kommentar, 2010, Art. 5 SE-VO Rn. 22. 281 Diekmann, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 5 SE-VO Rn. 23. 282 Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 5 SE-VO Rn. 1; Ziemons, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 5 Anh. I Rn. 13; für einen Teilbereich auch B. Mayer, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SE-Kommentar, 2010, Art. 5 SE-VO Rn. 27 f. Zu den systematischen Gründen (und ihrer Ablehnung) bereits oben 4. Kap., A, S. 305 f.
C. Auslegungen in der Literatur
355
Konzept weder erwähnt noch lässt sich eine Auseinandersetzung sonstwie erkennen.283 Ganz überwiegend wird die Verweisung als Sachnormverweisung aufgefasst.284 Verwiesen werde schon mit Rücksicht auf andere Rechtskreise (etwa England) nicht nur auf geschriebenes Gesetzesrecht, sondern auch auf ungeschriebene Rechtsgrundsätze und richterliche Rechtsfortbildung. 285 Die Verweisung soll dynamisch auf das jeweils aktuelle Recht verweisen, damit die SE keinen Nachteil gegenüber der jeweiligen Aktiengesellschaft nationalen Rechts hat.286 Teilweise wird der Umfang der Verweisung weit gezogen: Casper etwa geht von einer „vollumfänglichen Inbezugnahme des nationalen Aktienrechts über die Kapital- und Kapitalerhaltungsvorschriften sowie das Wertpapierrecht des Aktienrechts in der jeweils aktuell geltenden Fassung“ aus.287 Nach dem Vorbild der historischen Regelungen (insbesondere SE-VOV 1970 und 1975) soll die „Aktie“ nach anderen dagegen lediglich den „Wertpapiercharakter der Aktien sowie die technische Seite der Verbriefung der Mitgliedsrechte“ umfassen.288 Für die Mitgliedschaftsrechte selbst werde dagegen über Art. 9 Abs. 1 lit. c (ii) auf das Recht der Mitgliedstaaten verwiesen.289 Jedenfalls vom Verweis mit umfasst seien aber die verschiedenen Aktiengattungen290 (klarstellend insofern Ziemons: Einzelne Mitgliedschaftsrechte seien angesprochen, etwa sofern sie „gattungsbegründend sein können“ (also Stimm- und Gewinnbezugsrechte) sowie „die Möglichkeiten der Beschränkung bzw. Erweiterung des Stimmrechts (Höchst- bzw. Mehrstimmrechte)“ 291 ). Laut B. Mayer spricht 283 Wenz, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 5 SE-VO Rn. 26 ff.; Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 5 SE-VO Rn. 45 ff.; Koke, Finanzverfassung der SE, 2005, S. 83 ff. 284 Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 5 SE-VO Rn. 2; Fleischer, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 5 Rn. 2; B. Mayer, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SE-Kommentar, 2010, Art. 5 SE-VO Rn. 4 ff. 285 OechlserMihaylova, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 5 SE-VO Rn. 4; Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 5 SE-VO Rn. 2; Schwarz, SE-Kommentar, 2006, S. 4 Art. 5 SE-VO Rn. . 286 Oechsler/Mihaylova, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 5 SE-VO Rn. 5; Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 5 SE-VO Rn. 2; Diekmann, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 5 SE-VO Rn. 25; Ziemons, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 5 Anh. I Rn. 6. 287 Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 5 SE-VO Rn. 2. 288 Oechsler/Mihaylova, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 5 SE-VO Rn. 36; Diekmann, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 5 SE-VO Rn. 23. 289 Oechsler/Mihaylova, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 5 SE-VO Rn. 35; Diekmann, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 5 SE-VO Rn. 24; Ziemons, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 5 Anh. I Rn. 10. 290 Oechsler/Mihaylova, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 5 Rn. 36; Fleischer, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 5 Rn. 10. 291 Ziemons, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 5 Anh. I Rn. 10.
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4. Kapitel: Aktie
zwar ein Vergleich mit der Zweiten Richtlinie für eine Einbeziehung, angesichts der insofern gleichen Verweisungsergebnisse könne die Frage, ob über Art. 5 SE-VO oder über Art. 9 Abs. 1 lit. c (ii) SE-VO verwiesen wird, offen bleiben. 292 Insbesondere soll die Verweisung auch die Vinkulierung umfassen.293 Die „Zerlegung“ in Aktien (laut Art. 1 SE-VO) soll der Ausgabe einer einzigen Aktie nicht entgegenstehen.294 Einige sehen Art. 5 SE-VO hinsichtlich der Übertragung von Wertpapieren als Gesamtverweisung an, da die Norm nicht den internationalen Grundsatz der lex rei sitae derogieren wolle.295 Verwiesen wird hier häufig auf die Vorgängerregelung etwa des SE-VOV 1975, wo die Übertragung von Wertpapieren explizit ausgenommen war.296 Zum gleichen Ergebnis kommen andere, die davon ausgehen, die Vorschriften über die Übertragung von Wertpapieren seien von Art. 5 SE-VO ausgenommen, sodass sie sich nach dem IPR der Mitgliedstaaten bestimmen.297 Lediglich in einigen Kommentierungen findet sich bei der Erläuterung des Verweises eine Auflistung des Rechts der deutschen Aktie (also Kapitalanteil, Mitgliedschaft, Verbriefung), ohne dass eine Auseinandersetzung mit einem europäischen Konzept stattfinden würde.298 Implizit wird hier offenbar angenommen, dass der europäische Terminus „Aktie“ jedenfalls genau auf das deutsche Konzept „Aktie“ verweist. Ähnliche Äußerungen gibt es auch vereinzelt in der ausländischen Literatur.299
292
B. Mayer, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SE-Kommentar, 2010, Art. 5 SE-VO Rn. 27. Oechsler/Mihaylova, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 5 SE-VO Rn. 36; Fleischer, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 5 SE-VO Rn. 10; wohl auch Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 5 SE-VO Rn. 56 („ob eine Aktie überhaupt übertragbar ist“). 294 Oechsler/Mihaylova, in: MüKoAktG Bd. 7, 4. Aufl., 2017, Art. 5 SE-VO Rn. 36; Lutter, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 1 SE-VO Rn. 8; Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 1 SE-VO Rn. 2 Fn. 7; Habersack, in: Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2016, Art. 1 SE-VO Rn. 4; Schröder, in: G. Manz/Mayer/Schröder, SE-Kommentar, 2010, Art. 1 SE-VO Rn. 23. 295 Oechsler, in: MüKoAktG Bd. 7, 3. Aufl., 2012, Art. 5 SE-VO Rn. 36 (a.A. die aktuelle 4. Auflage von 2017); so wohl auch Ziemons, in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SEKommentar, 2. Aufl., 2015, Art. 5 Anh. I Rn. 14; Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 5 SEVO Rn. 56. 296 S. dazu oben 4. Kap., B II 2, S. 336 f., gegen diese Lösung schon Lutter, in: Lutter (1976), 145 (151 f.). 297 Casper, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2015, Art. 5 SE-VO Rn. 2. 298 Wenz, in: KöKoAktG Bd. 8/1, 2012, Art. 5 SE-VO Rn. 26–29; m.E. auch Schwarz, SE-Kommentar, 2006, Art. 5 SE-VO Rn. 45 ff.; Koke, Finanzverfassung der SE, 2005, S. 21 ff., 83 ff.; Lutter/Bayer/Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 2012, § 41 Rn. 85. 299 Torino, in: Corapi/Pernazza, Società europea, 2011, S. 33 ff.; Cathiard, Dr. sociétés 2005, 12, 7 (8). 293
D. Fazit Sprachverwirrung
357
D. Fazit Sprachverwirrung D. Fazit Sprachverwirrung
Die meisten Autoren nehmen damit eine autonome Bestimmung des europäischen Konzepts „Aktie“ vor. Dabei werden historische, systematische und hier weniger zentral auch teleologische Argumente verwendet. Argumente des Rechtsvergleichs mit anderen Mitgliedstaaten kommen dagegen, soweit ersichtlich, gar nicht zum Tragen. Auch wenn im Ergebnis argumentiert wird, dass weite Teile der deutschen Regelungen zum Verständnis von „Aktie“ über Art. 5 SE-VO anwendbar sind, lässt sich dahinter keine Sprachverwirrung entdecken, vielmehr wird die Anwendung für die verschiedenen Fallgruppen jeweils gerechtfertigt. Lediglich eine Minderheit von Autoren scheint ohne zu Zögern oder jedenfalls ohne explizite Auseinandersetzung das deutsche Recht zur „Aktie“ in einer Weise anzuwenden, die auf einen Einfluss des in beiden Rechtsordnungen verwendeten Terminus „Aktie“ hindeutet. Obwohl die Materialien, die zur Auslegung herangezogen werden können, als eher dürftig bezeichnet werden können, lässt sich hier eine Sprachverwirrung nicht oder nur in geringem Umfang konstatieren. Ein Unterschied zu den beiden anderen hier untersuchten Termini liegt jedenfalls nicht darin, dass die Konzepte der Mitgliedstaaten hier besonders unterschiedlich wären oder dass die Unterschiede besonders deutlich zu Tage träten. Die Verwendung des Terminus im restlichen EU-Recht ist allerdings deutlich einheitlicher als bei „Rechtspersönlichkeit“ oder gar „Hauptverwaltung“; freilich ist auch der Blick auf das restliche EU-Recht im Zuge einer systematischen Auslegung beschränkt ertragreich. Ein Unterschied, der eine Aussage über die Wirkungsweise von Sprachverwirrung treffen könnte, liegt jedoch die Verwendungsweise in der SE-VO. Mit dem Konzept der „Aktie“ wird explizit auf nationales Recht verwiesen, sodass die Frage, worauf verwiesen wird, möglicherweise offener zu Tage tritt.
Kapitel 5
Fazit A. Sprachverwirrung A. Sprachverwirrung
I. Zusammenfassung der Befunde Was die Sprachverwirrung angeht, sind die hier gefundenen Ergebnisse gemischt, ihre Verteilung ist dabei aber eher überraschend. Klar gezeigt hat sich in einigen Fällen eine Verwirrung der Konzepte bei der Auslegung von europäischem Recht, wobei sich das Ausmaß je nach untersuchtem Rechtskonzept deutlich unterschied. Im Folgenden soll erörtert werden, inwiefern es naheliegt, dass diese Verwirrung auf die Verwendung von gemeinsamen Termini zurückzuführen ist, es sich also um eine „Sprachverwirrung“ handelt. Die geringste Verwirrung war dort zu beobachten, wo die Verweisungsstruktur es am ehesten hätte erwarten lassen: Bei „Aktie“ fanden sich überwiegend autonome Auslegungen, während bei der Auslegung von „Rechtspersönlichkeit“ und „Hauptverwaltung“, die in keiner Verweisung auftauchen, eher direkt auf deutsche Konzepte zurückgegriffen wurde. Auch wenn aus drei untersuchten Termini noch keine allgemeingültigen Schlüsse gezogen werden können, spricht dies doch dagegen, dass die Verweisungsstruktur als solche bereits einen Einfluss auf die Sprachverwirrung hat, sondern legt eher den Schluss nahe, dass der moderne Jurist noch kein Problem mit Komplexität als solcher hat, sofern nur die Anwendungsregeln klar sind.1 Deutlich war das Ausmaß der Konzeptverwirrung bei der „Hauptverwaltung“, weil hier in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle das Konzept der deutschen Sitztheorie auch für die europäische Norm angewendet wurde, obwohl dieses funktional im deutschen Recht einen anderen Zweck erfüllt und aus Sicht der europäischen Rechtsordnung auch nur eines von mehreren, teils deutlich verschiedenen Konzepten darstellt. Ob diese Verwirrung auf Sprache zurückzuführen ist, lässt sich allerdings verschieden deuten. Einerseits hat der EU-Gesetzgeber hier einen relativ unbelasteten Terminus verwendet, was eigentlich eine geringe Sprachverwirrung erwarten lassen würde. Dies könnte als Hinweis darauf gelesen werden, dass die Konzeptverwirrung zumindest hier gar nicht durch die Sprache beeinflusst wurde. Zumindest für Deutschland wird dieser Eindruck allerdings dadurch entkräftet, dass hier die „Sitztheorie“ auf 1
So auch zur Verweisungsstruktur der SE-VO Rescio, Riv. d. Soc. 2003, 965 (989).
A. Sprachverwirrung
359
Gewohnheitsrecht gegründet ist. Zwar wird das Anknüpfungskriterium meist als „Verwaltungssitz“ bezeichnet, jedoch existieren auch andere Termini, sodass auch die deutsche Sitztheorie unproblematisch unter Verwendung des Terminus „Hauptverwaltung“ formuliert werden kann. Zum anderen wird bei fast allen Auslegungen der Hintergrund der Sitztheorien deutlich, wo – wie bereits angemerkt2 – die Formulierung „die Sitztheorie“ die falsche Vorstellung weckt, dabei handele es sich in ganz Europa um dieselbe Theorie mit demselben Anknüpfungskriterium. Auch dabei würde es sich dann um eine Sprachverwirrung handeln. Bei der „Rechtspersönlichkeit“ zeigt die Auslegung von Schwarz einerseits, dass Sprachverwirrung jedenfalls nicht zwingend ist, auch wenn sich die Konzepte ähneln und die Termini überschneiden. Dies bestätigen schließlich auch Beispiele von Staaten mit zwei funktionierenden Rechtssystemen.3 Andererseits legen die abweichenden Auslegungen, die sich fälschlich auf Schwarz berufen, nahe, dass die Gefahr einer Sprachverwirrung womöglich noch nicht gebannt ist, sobald eine Auslegung vorliegt, die davon unbeeinflusst ist (wie die von Schwarz). Dass die Ergebnisse sich dabei nicht gravierend, sondern eher um Nuancen unterscheiden, tut dem Befund der (Sprach-)Verwirrung dabei keinen Abbruch. Bei große Unterschieden ist eine Sprachverwirrung ohnehin nicht zu erwarten: Wenn die Konzepte so weit auseinanderliegen, dass die Unterschiede offensichtlich sind, wird auch ein einheitlich verwendeter Terminus kaum über die konzeptuellen Unterschiede hinwegtäuschen können. II. Sprachverwirrung als mögliche und plausible Erklärung Für diese Ergebnisse kann die Sprachverwirrung eine plausible Erklärung liefern. Ein sprachlich vermitteltes Vorverständnis würde erklären, warum bei der Auslegung eines europäischen Konzepts gerade auf das nationale Konzept des Rechtsanwenders ausgewichen wird, auch dort, wo dies nicht passt oder zumindest in Frage zu stellen wäre. Teilweise drängt sich dabei tatsächlich der Eindruck auf, dass es auch bei der vermeintlichen „autonomen Auslegung“ nur darum geht, ein schon aus der eigenen Rechtsordnung bekanntes Ergebnis vorzufinden, auf das der Rechtsanwender quasi schlafwandlerisch zuläuft. Was in dieses Verständnis passt, wird nicht hinterfragt, etwa im Fall der „Hauptverwaltung“, wo die SE-VO unter Rückgriff auf sekundäres EU-Recht ausgelegt wird – insbesondere der EWIV-VO. Dies geschieht, obwohl zur EWIV kaum oder im Verhältnis zur SE jedenfalls wenig Literatur oder Rechtsprechung existiert, sodass man sich ei-
2
Siehe oben 3. Kap., B I, S. 208 f., und 3. Kap., F II, S. 302 f. Vgl. Schmidt-König, Die Problematik der Übersetzung juristischer Terminologie, 2005, S. 272 mit Beispielen: Schottland, Israel, Südafrika, Louisiana, Quebec. 3
360
5. Kapitel: Fazit
gentlich fragen müsste, wie sich aus der Auslegung der EWIV-VO solche Konzepte ergeben sollen, wenn dies bei der SE-VO nicht deutlicher ist.4 Ebenso wenig wird hinterfragt, ob Termini, die in anderen Rechtsakten verwendet werden – etwa dem Primärrecht – überhaupt die gleichen sind, wenn nur die Ergebnisse auf den gesicherten Grund des eigenen Rechts zurückführen. Allein die Verwendung der Methoden der autonomen Auslegung verhindert eine solche Sprachverwirrung noch nicht. Tatsächlich wird in fast allen Fällen, in denen eine Sprachverwirrung attestiert werden kann, zunächst die Bedeutung der autonomen Auslegung betont, auch werden Methoden der autonomen Auslegung verwendet5 (etwa die systematische Auslegung unter Rückgriff auf andere europäische Rechtsakte). Allerdings führen diese jedenfalls im Ergebnis wieder zum Ausgangspunkt zurück, der – so scheint es – in manchen Fällen gar nie wirklich verlassen worden war. Auch die auf den ersten Blick kontraintuitiv verteilten Ergebnisse lassen sich erklären. Es drängt sich nach dem Gesagten der Eindruck auf, dass Sprachverwirrung gerade dort zu finden ist, wo sie eigentlich eher nicht zu erwarten wäre. Es geht hier wie mit dem Schweigen, das plötzlich nicht mehr da ist, sobald man von ihm spricht: Wenn ein entsprechendes Bewusstsein vorhanden ist, dass eine Sprachverwirrung droht, stellt diese kein Problem mehr dar. Dies könnte erklären, warum gerade bei der Verweisungsnorm der „Aktie“ vorsichtig ausgelegt und eine Sprachverwirrung damit vermieden wird. Andererseits scheint eine Sprachverwirrung dann wahrscheinlicher, wenn man sich – auch wegen der verwendeten Auslegungsmethodik – auf der sicheren Seite glaubt. Dies könnte z.B. erklären, warum manche Autoren bei der Auslegung der „Rechtspersönlichkeit“ eine Rechtsvergleichung vornehmen und dann dennoch zum nationalen Konzept zurückkehren, indem sie die Rechtsfähigkeit nur als einen „Mindeststandard“ akzeptieren.6 Auch die Anwendung der autonomen Auslegungsmethoden schützt also, so scheint es, vor Sprachverwirrung nicht. Dies deckt sich mit der schon von Esser beobachteten Resistenz des Vorverständnisses gegenüber einer (vermeintlich) objektiven Auslegung.7 Gleichzeitig legen die eben geschilderten Ergebnisse auch die Lösung nahe, die auch schon Esser (neben vielen anderen) vorgeschlagen hatte: Wenn die Sprachverwirrung dann verschwindet, wenn man sich
4
Wie oben 3. Kap., D III 3, S. 268 ff., und 3. Kap., F I, S. 302 dargelegt, hat dies seine Ursache darin, dass die Auslegungen zur EWIV schlicht nationale Konzepte auf die EWIVVO übertragen. 5 Vgl. etwa die vielen Beispiele im 3. Kap., E II, S. 298 ff. zur „Hauptverwaltung“. 6 S. dazu oben 2. Kap., C II, S. 198 ff. 7 Vgl. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 1970, u.a. S. 7, siehe dazu ausführlicher oben 1. Kap., B I 2 b, S. 49 ff.
B. Kohärente Rechtssprache
361
ihrer bewusst ist, ist ein erhöhtes Bewusstsein für die Sprachverwirrung zu fordern.8 Dies kann auch dadurch geschehen, dass das sprachlich vermittelte Vorverständnis offengelegt wird. Inwiefern die europäische Rechtssprache nach jetzigem Stand und ein noch zu erstellendes Wörterbuch dabei helfen können, wird in den nächsten beiden Abschnitten erörtert.
B. Kohärente Rechtssprache B. Kohärente Rechtssprache
Auch hier sind die Befunde je nach untersuchtem Konzept/Terminus stark unterschiedlich. I. „Hauptverwaltung“: uneinheitliche Terminusverwendung Große Schwierigkeiten bei der interinstrumentalen Interpretation gab es beim Terminus „Hauptverwaltung“, bei dem die Termini besonders uneinheitlich verwendet werden. In den meisten Fällen ist dabei nicht klar, ob überhaupt das gleiche Konzept gemeint ist oder ob sich der (zumindest teilweise, d.h. für manche Sprachfassungen, verschiedene) Terminus auf ein neues Konzept beziehen soll. Dass dennoch in der Literatur systematische Auslegungen dieser Art vorgenommen werden, hat sich hier als bedenklich erwiesen. Es besteht dann zum einen die Gefahr, dass eine Verschiedenheit von Termini in manchen Sprachfassungen nicht wahrgenommen wird – würde die Literatur aller Sprachen so verfahren, würde dies zumindest bei den Sprachen, in denen die Termini abweichen, zu einer anderen Auslegung führen. Eine autonome Auslegung wäre dann über die Literatur nicht möglich. Insofern sind teilweise Übereinstimmungen von Termini sogar besonders gefährlich, da die Literatur sich bisher meist auf die Heranziehung einer Sprachfassung beschränkt, auch dann, wenn die fehlende Übereinstimmung besonders naheliegend ist, weil sie sich auf eine allgemein zugängliche Sprachfassung bezieht – wie im Fall der „Hauptverwaltung“, die auf Englisch in der SE-VO mit „head office“, in den meisten anderen Rechtsakten, insbesondere im Primärrecht oder in der EWIV-VO, mit „central administration“ wiedergegeben wird, ein Unterschied, der überhaupt nur in der englischen Literatur wahrgenommen worden zu sein scheint.9 In Fällen wie diesem hilft auch die Datenbank „IATE“ der EU nicht weiter. Wenn man nach „Hauptverwaltung“ (Ausgangssprache Deutsch) sucht, erhält 8
So auch F. C. Mayer, Der Staat 2005, 367 (373): „Die sich dann stellenden Probleme sind nicht unüberwindbar, wenn sich die Rechtsanwender der Sprachenproblematik und der Besonderheiten des europäischen Rechts hinreichend bewusst sind.“ 9 Palmer’s Company Law (2012), Rn. 17.021. Zur deutschen Literatur vgl. oben 3. Kap., E II, S. 298 f., und 3. Kap., F I, S. 302 f.
362
5. Kapitel: Fazit
man mehrere Ergebnisse, die teils den hier untersuchten Rechtsakten entsprechen, teils weitere Vorschläge anbieten. Die Ergebnisse sind teilweise nach Rechtsgebieten klassifiziert (etwa Zollrecht), enthalten aber auch Hinweise auf den Urheber des Eintrags (Europäische Kommission, Europäisches Parlament etc.); zudem enthalten manche Vorschläge mehrere Übersetzungsversionen in einer Sprache – etwa enthält der Eintrag „Beschäftigungspolitik, Unternehmensorganisation [Council]“ im Englischen die Vorschläge „head office“ und „central administration“, im Niederländischen „hoofdbestuur, hoofdkantoor“; der Eintrag „Zollvorschrift, Europäische Union, Unternehmensstruktur [COM]“ nennt im Englischen „headquarters“ oder „central headquarters“ (also zwei aus den hier untersuchten Rechtsakten nicht bekannte Ergebnisse).10 Dies muss dem Rechtsanwender verwirrend erscheinen; ihm wird auch keine Übersetzungshilfe oder Erklärung angeboten, warum die Termini sich unterscheiden oder welcher in der konkreten Situation besser passt. Dies reflektiert den noch stark verbesserungswürdigen Stand der Terminologie in diesem Bereich. II. Desiderate bezüglich der Kohärenz der Rechtssprache An Beispielen wie der „Hauptverwaltung“ zeigt sich, dass noch großer Bedarf für eine einheitliche Verwendung von Termini besteht. Eine solche Einheitlichkeit der Terminologie wird allgemein als ideal angesehen11 und auch von der EU angestrebt.12 Eine kohärente Rechtssprache würde die systematische Auslegung erleichtern, könnte die Übersetzbarkeit erleichtern, eine europäische Diskussion ermöglichen und so die Herausbildung europäischer Konzepte fördern, was alles der Sprachverwirrung entgegenwirken würde. Argumente gegen eine solche Kohärenz gibt es im Allgemeinen, soweit ersichtlich, nicht (ob im konkreten Fall ein Terminus in einem Rechtsakt dem in einem anderen Rechtsakt zu entsprechen hat, kann selbstredend nur von Fall zu Fall beurteilt werden). Dass eine einheitliche Terminusbildung möglich ist, zeigt sich u.a. am Beispiel mancher Termini oder mancher Sprachfassungen. Beim Beitritt neuer Mitgliedstaaten sollte darauf geachtet werden, dass überstürzte Übersetzungen wie etwa im Fall der polnischen Sprachfassung vermieden werden (zur polnischen Sprachfassung ausführlicher oben Einl. C, S. 14); es wäre ratsam, eher
10 , Suche nach den oben beschriebenen Kriterien, abgerufen am 21.10.2017. 11 Vgl. nur Kropholler, Internationales Einheitsrecht, 1975, S. 247 m.w.N.; früh auch schon Zweigert, RabelsZ 16 (1951), 387 (395); Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 354. 12 S. dazu oben 1. Kap., A III, S. 32.
B. Kohärente Rechtssprache
363
eine großzügige Übergangsphase auszuhandeln (wie dies etwa im Fall des Beitritts Maltas für die maltesische Sprachfassung geschah),13 damit die Übersetzung systematisch und nachhaltig umgesetzt werden kann. III. Aktie und Rechtspersönlichkeit: einheitliche Termini, aber keine Konzepte Aber auch in Fällen, in denen die Termini einheitlich(er) verwendet werden, wirkt sich die geringe Regelungsdichte des europäischen Primär- und Sekundärrechts aus. „Aktie“ etwa wurde, soweit ersichtlich, durchgehend kohärent verwendet, „Rechtspersönlichkeit“ in den meisten Fällen (Abweichungen allerdings in der Ersten Richtlinie in den Sprachfassungen Deutsch, Französisch und Schwedisch). Allerdings ist man mit einer kohärenten Terminologie zwar einen Schritt weiter, jedoch noch nicht am Ziel. In der Untersuchung hat es sich gezeigt, dass die Heranziehung von Konzepten aus anderen Rechtsakten deswegen schwierig war, weil die meisten Rechtsakte keine Definition aufweisen. In keinem der hier untersuchten Fälle konnte die Systematik (verstanden im Sinn der gleichen Auslegung bei gleichlautenden Termini) einen entscheidenden Hinweis darauf liefern, wie das Konzept zu verstehen war. Im Fall der „Rechtspersönlichkeit“ bot sich zwar eine Anlehnung an die etwas ausführlichere Regelung im EUV-VOV an, allerdings ist dieser Rechtsakt gerade noch nicht veröffentlicht worden. Ein Folgeproblem dieser Definitionsarmut war, wie sich am Beispiel der „Hauptverwaltung“ zeigt, dass auch hier die Versuchung bestand, wegen des Fehlens von Definitionen nach Literaturansichten zu suchen – auch wenn diese lediglich nationale Konzepte vorschieben, wie dies bei der EWIV der Fall ist, bei der die EWIV-VO in der deutschsprachigen Literatur meist unter Rückgriff auf nationale Konzepte ausgelegt wurde. Diese Konzepte treten dann unter dem Deckmantel einer autonomen, systematischen Auslegung auf. IV. Ergebnis Die Kohärenz der europäischen Rechtssprache muss derzeit noch als sehr inhomogen beurteilt werden. In einigen Bereichen ist eine starke Verbesserung noch wünschenswert, wobei vor allem teilweise Überlappungen von Termini (in manchen Sprachfassungen gleich, in anderen unterschiedlich) zu vermeiden sind, da diese zu einer uneinheitlichen Auslegung verführen. Wie Beispiele kohärenterer Verwendung zeigen, ist eine solche Vereinheitlichung der Terminologie erreichbar. Die Beispiele zeigen aber zugleich auch, dass mit einer einheitlichen Terminologie erst der halbe Weg zum Ziel geschafft ist: Wünschenswert sind auch Definitionen oder Konzepte, die im Wege einer interinstrumen-
13
Vgl. zur maltesischen Übergangsregelung vgl. oben Einl. C, S. 14, Fn. 82.
364
5. Kapitel: Fazit
talen Auslegung dann auch herangezogen werden können. Zu hoffen bleibt jedoch, dass bereits vor solchen näher umrissenen Konzepten durch die einheitliche Terminologie Verbreitungskanäle geschaffen werden, mit deren Hilfe Konzepte, die punktuell präzisiert werden – etwa durch Urteile des EuGH oder im Wege nachträglich eingefügter Definitionen –, dann rasch auch auf andere Rechtsakte angewendet werden können.
C. Wörterbuch C. Wörterbuch
I. Bedarf Das gezeigte Ausmaß an Sprachverwirrung zeigt den Bedarf an weiteren Abhilfemaßnahmen auf. Eine bloße Wörterliste (wie IATE, siehe 5. Kap., B I, S. 361 f.) kann dabei keine Abhilfe schaffen.14 Hier wird der Rechtsanwender mit der uneinheitlichen Terminologie alleingelassen. Solange die Terminologie noch uneinheitlich ist und Konzepte erst durch Auslegung erarbeitet werden müssen, kann eine bloße Wörterliste die bestehenden Probleme bei der noch uneinheitlichen Terminologie lediglich aufzeigen, sie aber nicht überwinden. Ein Wörterbuch, das nicht nur Termini gegenüberstellt, sondern Konzepte, könnte dagegen bei der Findung von europäischen Konzepten helfen und die Autonomie einer solchen Auslegung absichern.15 Dabei wäre es nicht ausreichend, lediglich das europäische Konzept darzustellen, auch wenn es um eine einzelne Rechtsordnung geht, die nur ein Konzept kennt. Denn obwohl die europäische Rechtsordnung eine einheitliche ist, ist die Einheit – zumindest was einzelne Rechtstermini angeht, wie diese Untersuchung insbesondere für „Hauptverwaltung“, aber auch „Rechtspersönlichkeit“ nahelegt – noch durch die verschiedenen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen bedroht. Die Problematik liegt nicht so sehr in der Mehrsprachigkeit, sondern in der Pluralität der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten. Um diese zu überwinden, ist eine bloße Gegenüberstellung von Termini nicht ausreichend. Es geht vielmehr um das Vorverständnis, das die Rechtsanwender in Europa derzeit noch meist aus ihren Heimatrechtsordnungen mitbringen. Wenn dieses in einem solchen Wörterbuch offengelegt werden könnte, könnte sich jeder Rechtsanwender ein Bild davon machen, wo er im Verhältnis zu den anderen Mitgliedstaaten, möglicherweise auch im Verhältnis zum europäischen Konzept (wenn es ein solches 14 So auch Ajani, in: Schulze/Ajani (2003), 349 (350 f.): Das Problem lässt sich nicht rein vom Standpunkt der Übersetzung lösen (etwa die Datenbanken der EU), da es nicht überwiegend sprachlicher Natur ist, sondern seine Wurzel in den verschiedenen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten hat. 15 So auch die vorherrschende Ansicht in der Literatur, vgl. schon oben 1. Kap., B III, S. 54 f.
C. Wörterbuch
365
schon gibt), steht. Sofern es noch keine europäischen Konzepte gibt oder diese unsicher sind – ein solcher Bereich dürfte momentan noch das Europäische Gesellschaftsrecht, jedenfalls das Recht der SE, sein – kann das Wörterbuch zwar noch nicht alleine voraussagen, was das europäische Konzept sein wird. Es kann aber jedenfalls einen allen gemeinsamen Ausgangspunkt für die Ermittlung eines solchen Konzepts bilden. II. Anforderungen In einem solchen Wörterbuch müsste das Vorverständnis offengelegt werden, mit dem ein Rechtsanwender aus einer bestimmten Rechtsordnung an eine europäische Norm herantritt. Dazu wäre erforderlich, dass aus jeder Rechtsordnung die Konzepte so dargestellt werden, wie sie dort verwendet werden; dies sollte nach Möglichkeit von berufener Stelle, also von Experten aus der jeweiligen Rechtsordnung, geleistet werden. Die Regierungen oder staatliche Stellen der jeweiligen Rechtsordnung müssten nicht zwingend an dem Projekt mitwirken, da ihre Sicht nicht unbedingt für die Rechtsordnung repräsentativ sein muss – insbesondere sofern es um Rechtsbereiche geht, in denen die Regierung ein unmittelbares Eigeninteresse hat, das dann eine andere Interpretation bewirken kann, als sie vielleicht ein Gericht aus der betreffenden Rechtsordnung vornehmen würde. In jedem Fall wäre vorzugswürdig (um nicht das Vorverständnis eines einzelnen, möglicherweise nicht repräsentativen Experten zu übernehmen), wenn auch aus einer einzelnen Rechtsordnung, jedenfalls aus den größeren, mehrere Experten mitwirkten und ihre Ideen in die Darstellung des Konzepts einbrächten. In einem solchen Fall wäre es auch im Sinn einer möglichst breiten Pluralität von Meinungen im Gegenteil vorzugswürdig, wenn ein Experte ein Regierungsvertreter wäre. Meinungsverschiedenheiten zwischen den Experten sollten nicht etwa durch Abstimmungen „gelöst“ werden, sondern eher im Stile von „dissenting opinions“ auch in der Darstellung des Konzepts widergespiegelt werden. Die Problematik, dass stets subjektiv zu werten ist, welche Textstellen etc. als relevant auszuwählen sind, kann damit entschärft werden. Eine solche Darstellung des Konzepts aus einer Rechtsordnung müsste dann wohl jedenfalls die relevanten Gesetzesstellen wiedergeben und diese kommentieren, aber auch die Rechtswirklichkeit – Gerichtsentscheidungen, dogmatische, geschichtliche und rechtspolitische Hintergründe, gesellschaftliche Relevanz – so breit wie möglich wiedergeben. Zwar könnte die Aufgabe, dieses Vorverständnis mit dem anderer zu vergleichen, dem Rechtsanwender selbst überlassen werden (bei den Rechtsordnungen sämtlicher Mitgliedstaaten, die dann womöglich noch jeweils in ihrer Landessprache dargestellt werden, eine nicht praktikable Lösung), vorzugswürdig wäre es jedoch, wenn dem Konzept Hinweise beigefügt wären (möglichst in der gleichen Sprache, sodass sie für den jeweiligen Rechtsanwender
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5. Kapitel: Fazit
zugänglich sind), inwiefern sich dieses Konzept von den anderen unterscheidet. Dabei könnte auf teilweise Überschneidungen oder besonders prägnante Abweichungen hingewiesen werden und auch darauf, ob und welche Rechtsordnungen ähnliche Konzepte haben oder ob das aus der Rechtsordnung des Rechtsanwenders stammende Konzept eine Sonderstellung innehat. Eine solche Gegenüberstellung von Konzepten wäre wohl dort am ergiebigsten, wo die Rechtsordnungen ausführlichere Konzepte erarbeitet haben. Wenn die Konzepte innerhalb einer Rechtsordnung wenig bekannt sind (etwa bei besonders entlegenen Spezialmaterien) oder kaum detailreich oder nicht vorhanden sind (etwa im Fall von kaum rechtlich geprägten oder eher technischen Termini), wäre auch die Gefahr einer Sprachverwirrung gering, da das mitgebrachte Vorverständnis des durchschnittlichen Rechtsanwenders kaum von seiner Heimatrechtsordnung oder deren Rechtssprache geprägt sein wird.16 In Betracht kommen also insbesondere Grundkonzepte einer Rechtsordnung oder eines Rechtsgebietes. Im Fall des Gesellschaftsrechts oder der SE-VO wären neben den hier untersuchten Konzepten sicherlich noch weitere interessant, etwa „Satzung“, „Konzern“, „Vertrag“, „Gesellschaft“, „Gesellschafter“ und viele weitere.17 Für die Auswahl, die Konzepte zu welchen Termini einander gegenüberzustellen wären, wäre dem auch in dieser Arbeit verfolgten „terminologischen Ansatz“ zu folgen.18 Dabei sollte sich die Auswahl, welchem Rechtsakt der Terminus als maßgeblich entnommen werden soll (im Beispiel der „Hauptverwaltung“ würden etwa je nach Rechtsakt unterschiedliche Konzepte verglichen), von der Idee von „legislativen Leitbildern“ leiten lassen, also insbesondere Termini aus dem Primärrecht wählen oder aus solchem Sekundärrecht, das ein Rechtsgebiet mutmaßlich prägt (der SE als „Flaggschiff“ des Europäischen Gesellschaftsrechts kann eine solche Funktion wohl zugestanden werden). III. Herausforderungen Auch wenn ein Wörterbuch einen Teil des Vorverständnisses offenlegen kann, fängt das Vorverständnis lange an, bevor der Rechtsanwender überhaupt erst ein Wörterbuch zur Hand nimmt. Obwohl ein Wörterbuch geeignet erscheint, die in dieser Arbeit untersuchten Probleme zu lösen, sollte sich der Verwender eines solchen Wörterbuchs klarmachen, dass es dabei um eine verengte Perspektive geht. Sofern wie hier lediglich Probleme untersucht wurden, die sich
16
So auch Ajani, in: Schulze/Ajani (2003), 349 (350 f.). Auf die terminologischen Probleme gerade bei Aktiengesellschaften sowie eine Reihe von verbesserungswürdigen Grundtermini weist auch Ansay, in: FS Martiny 2014, 1007 (1007 ff.) hin. 18 Dazu oben 1. Kap., C III 2, S. 68 ff. 17
C. Wörterbuch
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aus der Auslegung einzelner Termini ergeben, 19 wird auch ein Wörterbuch hauptsächlich dafür Lösungen bereithalten. Häufig kann sich aber ein Auslegungsproblem aus einem ganzen Satz (der mit mehreren, wenigen oder auch ohne Rechtstermini formuliert sein kann) oder aus dem Verhältnis mehrerer Vorschriften zueinander ergeben. In diesen Fällen kann auch ein Wörterbuch nicht unmittelbar weiterhelfen. Es kann lediglich im Rahmen seines Anwendungsbereichs helfen, den Blick für das auch sprachliche Vorverständnis zu schärfen, sodass der so geschulte Rechtsanwender einer Sprachverwirrung möglicherweise auch außerhalb des Wörterbuchs entgeht. Ein weiteres Vorverständnisproblem stellt sich bei der Frage, ob ein Wörterbuch überhaupt eine adäquate Herangehensweise für das europäische Recht ist. Sofern es Ausfluss des Denkens in ineinandergeschachtelten Begriffspyramiden20 ist, stellt sich dies als eine Eigenschaft dar, die besonders dem kontinentaleuropäischen Recht eigen ist.21 Allerdings deuten etwa die Versuche der Kommission, die Terminologie europaweit zu vereinheitlichen,22 darauf hin, dass eine zumindest ansatzweise Erfassung der Rechtsmaterie in Rechtskonzepten auch in Europa akzeptabel ist. Zudem ist auch das common law gegenüber Wörterbüchern nicht unaufgeschlossen, wie etwa die Erfahrungen eines Rechtswörterbuchs für Quebec zeigen, wo sich nicht nur die englische und die französische Sprache, sondern auch common law und civil law begegnen: Allerdings zeigen sich auch beim Abfassen eines solchen Wörterbuchs Unterschiede in den Denkmustern, etwa darin, dass kontinentaleuropäisch denkende Juristen eher nach abstrakten Definitionen suchen, während common lawyer es vorziehen, eine Vielzahl von Fundstellen aus Gerichtsurteilen und Literatur aufzuführen, damit dem Leser auf diese Weise die Verwendungsweise des Terminus (und des Konzepts) vertraut wird. 23 Solche Unterschiede sind dabei nicht durch starre Vorgaben an den Aufbau einer Darstellung zu eliminieren, da ansonsten das Vorverständnis verfälscht würde. Unterschiede wie diese, die auf unterschiedliche Denkmuster hindeuten (können), sind im Rahmen der Darstellung hinzunehmen, wiederzugeben und damit offenzulegen. Eine weitere Herausforderung der „terminologischen Methode“ besteht darin, dass teilweise nicht klar sein wird, welches Konzept aus einer nationalen 19
Zu dieser Einschränkung dieser Untersuchung bereits oben 1. Kap., A IV, S. 34. Nach der Terminologie dieser Arbeit „Konzeptpyramiden“. Der Ausdruck oben versteht sich als Referenz insbesondere an die Begriffsjurisprudenz Anfang des 20. Jahrhunderts, eine charakteristisch deutsche Erscheinung. 21 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 1996, S. 34; Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, § 6 Rn. 58 ff.; ähnliche Bedenken bei Moréteau, in: Schulze/Ajani (2003), 405 (410) („English legal language is anything but conceptual“); auch Kjær, in: Sandrini (1999), 63 (72). 22 Zu diesen Ansätzen bereits oben 1. Kap., A III, S. 32. 23 Von seinen Erfahrungen bei der Abfassung des Private Law Dictionary für Quebec berichtet Devinat, in: Ajani u.a. (2007), 85 (zum hier zitierten Kontext S. 89). 20
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5. Kapitel: Fazit
Rechtsordnung überhaupt gemeint ist. In dieser Untersuchung stellte sich das Problem für ein englisches Pendant zu „Hauptverwaltung“, das so nicht existiert. Welche Funktion sollte dort als maßgeblich angenommen werden? Die des Anknüpfungskriteriums im Internationalen Gesellschaftsrechts (also domicile)? Oder die eines tatsächlichen Kriteriums, um eine Gesellschaft mit einem Ort zu verknüpfen (also residence)? Eine solche Auswahl ist ebenfalls wertend und wohl unvermeidlich. Es geht also darum, die Wertungen offenzulegen und die Fragen, die sich vor der Beschreibung einzelner Rechtskonzepte stellen, ausdrücklich auch im Wörterbuch zu stellen. IV. Ausblick Schließlich stellt sich nun die Frage, ob ein solches Wörterbuch überhaupt möglich ist. Davon geht z.B. Zweigert aus.24 Auch der Verfasser hofft, mit dieser Untersuchung gezeigt zu haben, dass im Wege der Rechtsvergleichung und der Offenlegung der verschiedenen Konzepte eine autonome Auslegung gefördert werden kann. Optimistisch stimmt, dass es bereits Vorstöße in diese Richtung gab. Zu nennen wäre hier etwa das Projekt „Legal Taxonomy Syllabus on Consumer Law“, das ab 2002 unter Mitarbeit einer mehrsprachigen Forschergruppe unter Förderung der EU erarbeitet wurde.25 Aus Sicht dieser Arbeit ist ein solches Vorgehen der richtige Weg.
D. Ausblick zum Verhältnis von Sprache und Recht: Ist Sprache ohne Recht sinnvoll? D. Ausblick: Sprache ohne Recht?
Im Rahmen eines Ausblicks soll schließlich noch zu der Frage Stellung genommen werden, ob es sinnvoll ist, zunächst die Terminologie zu vereinheitlichen, ohne mit entsprechenden Konzepten gleichzuziehen. Diese Untersuchung hat einige Beispiele betrachtet, bei denen die Einigung über Worte offenbar einfacher war als die Einigung in der Sache – oder bei denen eine solche Einigung in der Sache, sofern es sie gab, jedenfalls nicht im Wege einer Definition oder ähnlichem im Gesetz Niederschlag gefunden hat. Im Folgenden soll ein Ausblick darauf gegeben werden, ob eine solche Sprache ohne Recht sinnvoll ist.
24
Zweigert, RabelsZ 16 (1951), 387 (396). Siehe dazu Ajani u.a., in: Francesconi u.a. (2010), 136; Lesmo u.a., in: Ajani u.a. (2007), 179. Die Homepage des Projekts, , zuletzt abgerufen am 01.05.2016, und die ursprünglich erstellte Datenbank sind mittlerweile (21.10.2017) nicht mehr abrufbar. 25
D. Ausblick: Sprache ohne Recht?
369
I. Idealvorstellung: Einigung zunächst über Konzepte Wünschenswert wäre, dass eine Einigung zunächst über Konzepte erfolgt (das, was gesagt werden soll), bevor dann eine adäquate Umsetzung in Termini gesucht wird (wie es gesagt werden soll).26 Auf diese Weise wäre sowohl dem Willen des Gesetzgebers Rechnung getragen als auch eine adäquate sprachliche Umsetzung gesichert. Allerdings muss „schon beim Entstehen eines später zu übersetzenden Textes […] nicht nur durch Verhandeln, sondern u.a. auch durch Rechtsvergleichung geklärt werden, welchen Inhalt die verwendeten Begriffe haben können und sollen“.27 Es wären also umfangreiche rechtsvergleichende Arbeiten erforderlich, um zu klären, welche Konzepte möglich sind. 28 In einem zweiten Schritt könnte dann erst überlegt werden, wie sie benannt werden könnten. Für den Zwischenschritt – die Einigung über die Konzepte, ohne dass bereits eine Terminologie dafür geschaffen wäre – ist darauf zu verweisen, dass in diesem Fall die verhandelnden Juristen sich durch Umschreibungen oder notwendigerweise ausführliche Definitionen über das, was sie sagen wollen, einigen können. Ob die europäischen Konzepte mit aus den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten bereits bekannten Termini, mit neuen oder gar ganz neutralen – etwa lateinischen – benannt werden sollen, weisen manche der Zweckmäßigkeit im Einzelfall zu.29 Ein solches Vorgehen wird jedoch Wunschdenken bleiben. Auch diese Arbeit hat nur einen Ausschnitt des Aufwands aufzeigen können, der notwendig wäre, um eine terminologisch wie konzeptuell kohärente Rechtssetzung vorzubereiten. Auch politisch gesehen wird, wie das Beispiel der SE gezeigt hat, jeder Punkt, über den man sich zusätzlich einigen muss, zu einem potenziellen Hindernis. Realistischer ist es daher, davon auszugehen, dass auch in Zukunft in vielen Fällen zunächst eine Einigung über Worte stattfindet (also eine „Sprache ohne Recht“). II. Probleme einer Terminologie ohne Konzepte Freilich bedingen sich Terminus- und Konzeptbildung in gewisser Weise gegenseitig. Wenn ein Konzept ganz fehlt und unklar ist, worauf sich der Terminus nun eigentlich bezieht, ist von einem solchen Terminus eine geringere Ausstrahlungswirkung zu erwarten, als wenn z.B. der EuGH dazu ein Aufsehen
26
Hier lässt sich eine Parallele zur gerade im EU-Recht häufig verwendeten teleologischen Methode erkennen: Wie sich auch am Beispiel der „Hauptverwaltung“ gezeigt hat, ist das gemeinsame Ziel oft für alle am Rechtsfindungsprozess Beteiligten leichter zu formulieren als etwa das, was der Wortlaut der Norm „eigentlich aussagen soll“. 27 So (wohl als Wunsch formuliert) Hoheisel, in: Schulze/Ajani (2003), 377 (378). 28 Zweigert, RabelsZ 16 (1951), 387 (396 f.); W. F. Bayer, RabelsZ 20 (1955), 603 (627). 29 Zweigert, RabelsZ 16 (1951), 387 (396).
370
5. Kapitel: Fazit
erregendes Konzept entwickelt hat. Fehlt ein Konzept, ist dagegen eher zu erwarten, dass dieser Terminus unter Juristen und Übersetzern kaum bekannt wird und möglicherweise auch vom Gesetzgeber – wenn etwa neue Rechtsakte erstellt werden – vielleicht unabsichtlich durch andere ersetzt wird. Jedenfalls kann umgekehrt ein einmal vom EuGH autonom entwickeltes Konzept auch den Gesetzgeber dazu anregen, sich bei neuen Gesetzesvorhaben zu überlegen, ob er das Konzept auch für den neu zu schaffenden Rechtsakt übernehmen will, und in diesem Fall die vorfindliche Terminologie zu übernehmen. Daher ist stets zu wünschen, dass die Termini auch mit Inhalt gefüllt werden. Die Neutralität der europäischen Ebene – des EuGH sowie verschiedener Regelwerke wie der SE-VO, die den Konflikt zwischen Sitz- und Gründungstheorie zu vermeiden suchen – mag dabei vom Subsidiaritätsprinzip her gedacht erstrebenswert sein. Wo sie aber nicht funktioniert, ist keine falsche Zurückhaltung mehr angebracht. Große Hoffnungen werden auch auf den EuGH gesetzt, der freilich die Aufgabe nicht alleine bewältigen kann.30 Allerdings sollte er seine Zurückhaltung ablegen, vollständige Konzepte zu entwickeln, die sich doch oft erst nach mehreren Urteilen nach und nach herauskristallisieren.31 III. Auch Sprache ohne Recht kann sinnvoll sein – wenn sie kohärent ist! Aber auch durch bloße Termini wird das Recht in Europa vorangebracht. Gesetze können, auch wenn sie keine Definitionen enthalten, Anlass geben für Urteile des EuGH oder für Auseinandersetzungen in der Literatur, sodass sich auf diesem Weg nach und nach Konzepte bilden können. Auch die SE-VO stellt sich nach dieser Untersuchung als ein sinnvoller Schritt in der Entwicklung des Rechts der EU dar. Obwohl die politischen Rahmenbedingungen auf dem Gipfel von Nizza lediglich eine Rumpfversion der früheren Entwürfe ermöglichten, ist mit der Verabschiedung der SE-VO, auch wenn sie an vielen Stellen nur Termini enthält und die Konzepte erst mühsam erarbeitet werden müssen, ein Fortschritt in der Rechtsvereinheitlichung erreicht. Die Fülle der bisher dazu verfassten Literatur und die wachsende Akzeptanz in der Rechtswirklichkeit lassen erwarten, dass die bisher noch häufig fehlenden Konzepte der SE-VO nach und nach ergänzt werden können. Im Rahmen dieses Ausblicks soll dabei noch abschließend auf zwei Bedenken hingewiesen werden, wenn es um ähnliche Projekte wie die SE-VO geht. Zum einen gilt, dass die Termini den Konzepten nicht zu weit enteilen sollten, um nicht den Kontakt zu verlieren. Rechtsprechung und Diskussion können in der gebotenen Tiefe nicht uneingeschränkt viele Gesetzgebungsakte durcharbeiten. Wenn ihre Äußerungen in der Flut des Sekundärrechts untergehen, sind 30
Ajani, in: Schulze/Ajani (2003), 349 (352). Hess, IPRax 2006, 348 (352). Ähnlich Kjær, in: Sandrini (1999), 63 (70) unter Rückgriff auf Luhmanns Systemtheorie, derzufolge sich Konzepte als Kondensate juristischer Erfahrungen erst im Laufe vieler Wiederholungen ergeben. 31
D. Ausblick: Sprache ohne Recht?
371
von ihnen auch keine Konzepte und damit keine wertvollen Beiträge zum europäischen Recht zu erwarten. Zum anderen sollte auch dann, wenn noch keine Konzepte ausformuliert sind, die Verwendung der Terminologie einheitlich erfolgen.32 Nach derzeitigem Stand würden sowohl die wissenschaftliche Diskussion als auch die Rechtsanwendung von einer einheitlichen Terminologie sehr profitieren. Sprachbarrieren können noch immer die Kommunikation zwischen Rechtswissenschaftlern behindern.33 Dies mag manchmal darüber hinwegtäuschen, dass ein mehrsprachiges Recht möglich ist. Das Problem liegt jedoch nicht in den vielen Sprachen, sondern in den unterschiedlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, die die Rechtssprachen (noch) prägen. Der Verfasser hofft, mit dieser Arbeit gezeigt zu haben, wie diese Probleme in Angriff genommen werden können. Dazu bedarf es jedoch großer Anstrengungen von allen Seiten.
32
Vgl. dazu schon oben 5. Kap., B, S. 361 ff. Etwa werden fremde Sprachfassungen kaum bei der Inter-Instrumental-Interpretation herangezogen, s.o. 3. Kap., F I, S. 302. Zu weiteren Sprachbarrieren Jarass, in: Schulze/Ajani (2003), 371 (371 ff.) mit Beispielen und Verbesserungsvorschlägen. 33
Anhang: Tabellarische Übersicht zum Terminus „Hauptverwaltung“ Eine Hervorhebung durch Unterstreichung steht für eine von der SE-VO abweichende Terminologie. Tabelle 1: Europäisches IPR und IZVR1
Deutsch
Englisch
Französisch
Italienisch
Spanisch
SE-VO
Hauptverwaltung
head office
Hauptverwaltung
central administration
EuGVO
Hauptverwaltung
central administration
EuGVVO
Hauptverwaltung
central administration
EVÜ
Hauptverwaltung
central administration
Rom I-VO
Hauptverwaltung
central administration
Rom II-VO
Hauptverwaltung
central administration
amministrazione centrale amministrazione centrale amministrazione centrale amministrazione centrale amministrazione centrale amministrazione centrale amministrazione centrale
administración central
LugÜ
administration centrale administration centrale administration centrale administration centrale administration centrale administration centrale administration centrale
1
administración central administración central administración central administración central administración central administración central
Art. 7 SE-VO, Art. 19 Rom I-VO, Art. 23 Rom II-VO, Art. 4 EVÜ, Art. 63 EuGVVO, Art. 60 EuGVO, Art. 60 Abs. 1 lit. b LugÜ.
373
Anhang: Übersicht Terminus „Hauptverwaltung“
Tabelle 1: Europäisches IPR und IZVR (Fortsetzung)
Schwedisch
Niederländisch
Polnisch
Portugiesisch
huvudkontor
hoofdbestuur
siedziba zarządu
administração central
huvudkontor
hoofdbestuur
główny organ zarządzający
administração central
huvudkontor
hoofdbestuur
główny organ zarządzający
administração central
huvudkontor
hoofdbestuur
główny organ zarządzający
administração central
centrala förvaltning
hoofdbestuur
siedziba zarządu
administração central
huvudkontor
hoofdbestuur (hoofdvestiging in Art. 5) hoofdvestiging
główny organ zarządzający
administração central
siedziby zarządu
administração central
centrala förvaltningen
374
Anhang: Übersicht Terminus „Hauptverwaltung“
Tabelle 2: SE-VO-Vorentwürfe, Primärrecht und europäisches Gesellschaftsrecht2
Deutsch
Englisch
Französisch
Italienisch
SE-VO
Hauptverwaltung
head office
administration centrale
SE-VOV 1989
Hauptverwaltung
central administration
administration centrale
SE-VOV 1991
Hauptverwaltung
central administration
administration centrale
AEUV
Hauptverwaltung
central administration
administration centrale
EUV-VOV 1992
Hauptverwaltung
central administration
administration centrale
EUGENVOV 1992
Hauptverwaltung
central administration
administration centrale
EUGGESVOV 1992
Hauptverwaltung
central administration
administration centrale
EWIV-VO
Hauptverwaltung
central administration
administration centrale
amministrazione centrale amministrazione centrale amministrazione centrale amministrazione centrale amministrazione centrale amministrazione centrale amministrazione centrale amministrazione centrale
2
Art. 7 SE-VO, Art. 2 SE-VOV 1989, Art. 2 SE-VOV 1991, Art. 54 AEUV, Art. 3 EUVVOV 1992, Art. 2 EUGEN-VOV 1992, Art. 5 EUGGES-VOV 1992, Art. 4 EWIV-VO.
375
Anhang: Übersicht Terminus „Hauptverwaltung“
Tabelle 2: SE-Vorentwürfe, Primärrecht und europäisches Gesellschaftsrecht (Fortsetzung)
Spanisch
Schwedisch
Niederländisch
Polnisch
Portugiesisch
administración central
huvudkontor
hoofdbestuur
siedziba zarządu
administração central
administración central
-
hoofdbestuur
-
administração central
administración central
-
hoofdbestuur
-
administração central
administración central
huvudkontor
hoofdbestuur
zarząd
administração central
administración central
-
hoofdbestuur
-
administração central
administración central
-
hoofdbestuur
-
administração central
administración central
-
hoofdbestuur
-
administração central
administración central
huvudkontor
hoofdkantoor
zarząd
administração central
376
Anhang: Übersicht Terminus „Hauptverwaltung“
Tabelle 3: SE-VO und europäisches Aufsichtsrecht3
Deutsch
Englisch
Französisch
Italienisch
SE-VO
Hauptverwaltung
head office
administration centrale
amministrazione centrale
RL 2000/12/EG
Hauptverwaltung
head office
administration centrale
amministrazione centrale
RL 2006/48/EG
Hauptverwaltung
head office
administration centrale
amministrazione centrale
RL 2013/36/EU
Hauptverwaltung
head office
administration centrale
sede centrale
BCCI-FolgenRL
Hauptverwaltung
head office
administration centrale
amministrazione centrale
RL 2004/39/EG
Hauptverwaltung
head office
administration centrale
amministrazione centrale
RL 2001/24/EG
Sitz, Zweigstelle
head office
sede legale
RL 2009/138/EG
Hauptverwaltung
head office, central administration
siège statutaire, siège social siège social
sede, sede centrale, amministrazione centrale
3 Art. 7 SE-VO, Art. 6 RL 2000/12/EG, Art. 11 RL 2006/48/EG, Art. 13 RL 2013/36/EU, Art. 3 BCCI-FolgenRL, Art. 5 RL 2004/39/EG, Art. 1 RL 2001/24/EG, Art. 20, 258 2009/138/EG.
377
Anhang: Übersicht Terminus „Hauptverwaltung“
Tabelle 3: SE-VO und europäisches Aufsichtsrecht (Fortsetzung)
Spanisch
Schwedisch
Niederländisch
Polnisch
Portugiesisch
administración central
centrala administration, huvudkontor huvudkontor
hoofdbestuur
siedziba zarządu
administração central
hoofdkantoor, hoofdbestuur
siedziba zarządu
sede
administración central administración central
huvudkontor
hoofdkantoor
siedziba zarządu
sede, administração
administración central
huvudkontor
hoofdbestuur
siedziby zarządu
administração central
administración central
huvudkontor
hoofdkantoor
siedziba zarządu
administração central
domicilio social
huvudkontor
statutaire zetel
centrala
sede estatutária
administración central
huvudkontor,4 centrala förvaltningen huvudkontor
hoofdkantoor
siedziba, zarząd
sede
hoofdbestuur
siedziba zarządu
administração central
administración central
4
„Huvudkontor“ wird in Art. 258 der gleichen RL im Sinn von „Sitz“ (dt.) gebraucht.
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Sachregister Aktie 305 ff. – golden shares siehe EuGH, Goldenshares-Rechtsprechung – Übertragung 311 ff., 318 ff., 325 ff., 333 f., 336 ff., 340, 352 ff., 356 – Verbriefung 309 f., 318, 325 ff., 333 ff., 340, 349, 356 Aktionärsrechterichtlinie (RL 2007/36) 350 Amtssprache 13 ff., 18, 30, 40 f., 77 Anerkennung von Gesellschaften siehe auch Übereinkommen über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften und juristischen Personen (1968) 107 ff., 169, 178 ff., 188 f., 218, 227, 234, 250, 252, 280, 282 Anwendungsbereich der SE-VO 81 ff., 283 ff., 197, 337 f. Arbeitssprache 12 f., 18, 30 f. Aufsichtsrecht 248, 264, 275 ff., 287 Auslegung – autonom 35 f., 86 ff., 93, 262, 305 f. – historisch 46, 63 f., 78 f., 168 ff., 184, 267, 293, 296, 335 ff., 338, 340, 354 f., 357 – in der EU, des EuGH 34, 36, 57 ff., 70, 75, 85, 88, 92, 213 – primärrechtskonforme 75, 273 f. – rechtsvergleichend siehe auch Rechtsvergleichung 59 ff., 67 ff., 95, 119 ff., 161 ff., 199, 224 ff., 254 ff., 307 ff., 332 ff. – systematisch 18, 31, 36, 53, 57, 59, 63 f., 66, 69, 75 ff., 82, 84 f., 90, 92, 95, 109, 164, 166, 171 ff., 184 f., 201, 258, 260 ff., 293, 299 f., 302, 340 ff., 354, 357, 360 ff. – teleologisch 50, 59, 63 f., 66, 75, 79, 82, 175, 183, 186, 191 f., 194 f., 197,
203, 276, 283 ff., 292, 300, 351 ff., 357, 369 – vs. Rechtsfortbildung 34, 67 – Wortlaut 18 f., 34, 63 ff., 71, 74, 76, 78, 82, 104, 10, 174, 191, 194, 223, 267, 274, 280, 290, 296, 306 f., 333, 354 Auslegungsmethoden – in Europa 57 ff. – nach von Savigny 59, 64 autonome Auslegung – Definition 35 f. – von Kollisionsnormen 86 ff. – der SE-VO 93, 262, 305 f. Autonomisten 97 f. BCCI-Folgenrichtlinie (RL 1995/26/EG) 276 f., 287 Begriff 21 ff. Brexit 17, 72 f. Centros siehe EuGH zur Niederlassungsfreiheit CILFIT siehe EuGH zu Sprachenfragen deliktsrechtliche Verantwortlichkeit von juristischen Personen 113, 115, 129, 135, 147, 150, 161, 166, 176, 195, 197, 202 Dematerialisierung 315 f., 320 f., 330 ff., 334 deutsche Rechtssprache 28 f., 37, 39, 169, 174, 205, 295 deutsche Sitztheorie siehe Sitztheorien domicile 32, 241 f., 244 f., 254, 368 domiciliation 252 f., 255 ff., 258 Dreizehnte Richtlinie (RL 2004/25/EG) (Übernahmerichtlinie) 281 f., 345
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Sachregister
Elfte Richtlinie (RL 1989/666/EWG) (Zweigniederlassungsrichtlinie) 245 England und Wales siehe auch Brexit 29, 71 ff., 213 – Gründungstheorie 213, 242 ff. Erste Richtlinie (RL 2009/101/EG) (Publizitätsrichtlinie) 76, 141, 147 ff., 160, 167, 186 ff., 278, 347 Esser – Vorverständnis 38, 49 ff., 360 EUGEN (Europäische Genossenschaft) 184 f., 267, 296 EUGGES (Europäische Gegenseitigkeitsgesellschaft) 184 f., 267 EuGH – Auslegungsmethoden 34, 36, 57 ff., 70, 75, 85, 88, 92, 213 – Golden-shares-Rechtsprechung 318, 341 ff., 345, 351, 354 – zur Niederlassungsfreiheit 90, 109, 206 f., 209, 211, 213 f., 216 ff., 222, 225 ff., 264 f., 274, 303, 344 – zu Sprachenfragen 12, 58 f., 65 f., 99, 14 f. EuInsVO 90 ff., 279 f., 299, 301 EU-Sprachenregelung 12 ff., 32 – Geschichte der Mehrsprachigkeit 13 f. EU-Übersetzungsdienst 15 f. EUV (Europäischer Verein) 184 ff., 191, 194, 267, 363 EWG-Sprachenregelung 19 EWIV 3, 46, 107, 118 ff., 151, 153, 180 ff., 201, 204, 235, 266 ff., 296, 299, 359 ff. Fiktionstheorie 111 ff., 127 f., 134, 144, 154 f., 162, 165 ff., 248 Frankreich – französische Sitztheorie siehe auch domiciliation 208, 245 ff., 255, 258 Fünfte Richtlinie (Entwurf) (Strukturrichtlinie) 349 f. funktionale Methode siehe Rechtsvergleichung Funktionsbegriffe siehe auch Systembegriffe 84 Gadamer 49
Gesellschaftsrechtliche Richtlinien siehe Erste Richtlinie, Zweite Richtlinie, Fünfte Richtlinie, Zehnte Richtlinie, Elfte Richtlinie, Dreizehnte Richtline, Vierzehnte Richtlinie Gewohnheitsrecht 27, 70, 225, 284, 359 Golden-shares-Rechtsprechung 318, 341 ff., 345, 351, 354 Gründungstheorien 208 ff., 226 ff., 233, 235, 251, 254, 259, 262, 269, 284 ff., 288 f., 370 – englische 213, 242 ff. – Geschichte 214 – Singular oder Plural 209 Haftung 76, 89 ff., 117, 121 ff., 125, 127, 129, 131 f., 140, 143, 145 ff., 150, 157, 160 f., 163 ff., 171, 185, 187 ff., 192, 199 ff., 229, 332 Handlungsfähigkeit von juristischen Personen 112, 117, 127 ff., 132 ff., 135, 166 f., 169, 180, 186, 191, 193 f., 195, 197, 202, 259 Hauptverwaltung 102 ff., 206 ff., 357 ff., 366, 368 Hermeneutik siehe auch hermeneutischer Zirkel, Vorverständnis, Esser 35, 43, 49 f. hermeneutischer Zirkel 49 Hin- und Herwandern des Blicks siehe hermeneutischer Zirkel historische Auslegung 46, 63 f., 78 f., 168 ff., 184, 267, 293, 296, 335 ff., 338, 340, 354 f., 357 – der SE-VO siehe auch SE-VOV 168 ff. IATE 31, 32, 54 f., 362, 364 Insolvenzrecht 89 ff., 145, 256, 279 ff., 299, 301 Inspire Art siehe EuGH zur Niederlassungsfreiheit IPR – Methodik 79 ff. – Parallelen zur SE-VO 9, 81 ff., 193, 285 – Systembegriffe 26, 66, 84, 97 – Verweisung 80, 83 f., 98, 103
Sachregister Italien – Sitz- oder Gründungstheorie 234 f., 237 – Teilrechtsfähigkeit 138 f., 164 juristische Person – Theorienstreit 111 ff., 115, 120, 135, 143 f., 162 – Ursprung des Terminus 111 Kapitalanteil 307 ff., 315, 318, 321, 328, 332 f., 336, 339 f., 348 f., 351, 354, 356 Kapitalrichtlinie siehe Zweite Richtlinie Kohärenz der Rechtssprache – allgemein 43 f., 53 f. – in Europa 31 f., 53 f., 188, 205, 278, 304, 361 ff., 369 ff. – Stellungnahme 362 ff., 370 f. Kollisionsnormen siehe auch Verweisung – des IPR 46, 80 ff., 86 ff., 97 ff., 108 f., 180, 210 ff., 218 f., 227, 234, 242, 250, 265, 280, 352 – der SE-VO 9, 11, 80 ff., 86, 193, 258, 283, 285 ff., 292, 298, 353 konkret-allgemeiner Begriff – Abgrenzung zu universalen Rechtskonzepten 101 f. Kontrolltheorie 228, 239, 243 f., 248 f. Konzept siehe auch universales Rechtskonzept 21 ff. Konzernrecht 7 ff., 81, 84, 213 Kornhaas-Urteil 92 Larenz 49 f., 101 linguistischer Relativismus 43 maltesische Sprachfassung 14, 73, 363 Mehrstimmrechtsaktien siehe auch One share one vote 309, 317, 324, 329, 332, 336, 338 f., 346, 350 Mindeststandard der Rechtspersönlichkeit siehe auch Rechtsfähigkeit 162 f., 168, 180, 191, 198 ff., 204 f., 360 Mitgliedschaft 120 f., 305, 308 f., 311, 315, 321, 328, 332 f., 336, 339, 341, 343 ff., 348 f., 351, 354 ff.
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Nationalität von Gesellschaften siehe auch Kontrolltheorie 222, 240, 247 ff., 254, 271 one share one vote siehe auch Mehrstimmrechtsaktien 308, 324, 345 f., 351 polnische Sprachfassung 14, 19, 77, 177, 263, 267 f., 272 f., 304, 362 primärrechtskonforme Auslegung siehe Auslegung pseudo-foreign corporations 212 Publizitätsrichtlinie siehe Erste Richtlinie Qualifikation 44 f., 84, 90 ff., 97, 100 Rabel 46, 97, 100 Realitätstheorie 115, 154 f., 163, 166 f. Recht ohne Sprache 33 – Gewohnheitsrecht 27, 70, 225, 284, 359 – Richterrecht 50 ff., 58, 70, 355 Rechtsfähigkeit 107 ff., 116 ff., 122 ff., 132, 134, 137, 139 f., 145, 147, 154, 159 ff., 164 ff., 168 ff., 174, 176 ff., 185 ff., 197 ff., 202 ff., 218, 228 f., 234, 250, 262, 360 – der GbR 118 ff., 122 f., 124 ff., 132, 162, 166 – Teilrechtsfähigkeit im deutschen Recht 119, 124 ff., 132, 137, 162, 166 – Teilrechtsfähigkeit rechtsvergleichend/in Italien 138 f., 164 – als Mindeststandard 162 f., 168, 180, 191, 198 ff., 204 f., 360 Rechtsfortbildung siehe auch Auslegung 34, 67, 127, 355 Rechtsordnung – Definition 27 – deutsche 22, 28 f., 38, 55, 71, 95, 295 – europäische 27 f., 31, 35 f., 42, 56, 58, 62, 68, 211, 358, 364 – nationale 27 f., 36, 51, 56, 58, 62, 67 ff., 71 f., 84 f., 94, 102, 110, 163 ff., 192 f., 195 f., 199, 211, 224,
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Sachregister
255 ff., 276, 287, 289, 293 302, 304, 307, 332 ff., 364 ff., 369, 371 Rechtspersönlichkeit – Geschichte 111 ff. – Terminus 111 Rechtssprache – Abgrenzung zu „Sprache“ 26 f., 64 f. – deutsche 28 f., 37, 39, 169, 174, 205, 295 – europäische 31 f., 40 f., 43, 47 f., 53 f., 188, 363 – Zusammenhang mit Rechtsordnung 27 Rechtsstellung siehe Rechtsfähigkeit als Mindeststandard rechtsvergleichende Auslegung siehe auch Auslegung – Begründung 59 ff., 105 – als Wortlautauslegung 64 ff. Rechtsvergleichung – als Auslegungmethode 59 ff., 67 ff., 95, 119 ff., 161 ff., 199, 224 ff., 254 ff., 307 ff., 332 ff. – funktionale vs. terminologische Methode 69 f., 254, 358 – Parallelen zum IPR 44, 97 ff. – zur Aufdeckung des Vorverständnisses 61 f., 105 f., 254, 257 residence 32, 242 ff., 254 ff., 291, 368 Richterrecht 50 ff., 58, 70, 355 Richtlinien, gesellschaftsrechtliche siehe Erste Richtlinie, Zweite Richtlinie, Fünfte Richtlinie, Zehnte Richtlinie, Elfte Richtlinie, Dreizehnte Richtline, Vierzehnte Richtlinie Salomon vs. Salomon 143 f., 146 Sanders 6 f. – Sanders-VOV 7 f., 168 f., 171, 174 f., 178 ff., 186, 194, 258 f., 336, 338, 340 Sandrock’sche Formel 230 f., 234, 255, 257, 300 Sapir-Whorf-Hypothese siehe linguistischer Relativismus Satzungssitz siehe Vermutung zu Gunsten des Satzungssitzes
von Savigny siehe auch Auslegungsmethoden, Rechtspersönlichkeit (Geschichte) 23, 98, 111 ff., 230 SE – Geschichte 6 ff. – Gründe für Errichtung einer SE 3 ff. – Statistiken 2 ff. – Überblick 1 ff. – Verweisungsstruktur 10 f., 20, 79 f. 102, 104 f., 358 semiotisches Dreieck 26 SE-RL (RL 2001/86) 1 f., 11, 133, 306 SE-VOV siehe auch Sanders-VOV, SE (Geschichte) – SE-VOV 1970 7 f., 10, 168, 175, 259, 336, 338 ff., 355 – SE-VOV 1975 8, 78, 175, 259, 336 ff., 340, 356 – SE-VOV 1989 4, 8, 9, 170, 175, 221, 259 f., 287 ff., 297, 337 ff. – SE-VOV 1991 9, 76, 83, 171, 175, 184 f., 283, 296, 338 ff., 351 SEVIC siehe EuGH zur Niederlassungsfreiheit siège réel 208, 246, 251 ff. siège social 158, 239, 245 ff., 249, 251 ff. Sitzkopplung 215, 260, 267, 275 ff., 282 f., 286 ff. Sitztheorien – deutsche 211, 224 ff. – Geschichte 211 ff. – Singular oder Plural 208 ff. Sitzverlegung Sitzverlegungsrichtlinie siehe Vierzehnte Richtlinie Sprachen siehe Rechtssprache, Vertragssprache, Amtssprache Sprachfassungen – der SE-VO 19 – maltesische 14, 73, 363 – polnische 14, 19, 77, 177, 263, 267 f., 272 f., 304, 362 Sprachverwirrung 41 ff., 46, 48, 51 ff., 61 f., 70, 74, 80, 84 f., 97, 102 ff., 155, 172, 174, 204 f., 223, 242, 302 f., 357 ff., 362, 364, 366 f. Strafrechtliche Verantwortlichkeit von juristischen Personen 113, 129 f.,
Sachregister 135, 147, 150 f., 158, 161, 167 f., 193, 195 ff. Strukturrichtlinie siehe Fünfte Richtlinie systematische Auslegung siehe auch primärrechtskonforme Auslegung Systembegriffe siehe auch Funktionsbegriffe 26, 66, 84, 97 Teilrechtsfähigkeit siehe Rechtsfähigkeit teleologische Auslegung 50, 59, 63 f., 66, 75, 79, 82, 175, 183, 186, 191 f., 194 f., 197, 203, 276, 283 ff., 292, 300, 351 ff., 357, 369 Terminus 21 ff. Übereinkommen über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften und juristischen Personen (1968) siehe auch Anerkennung 107, 178 ff., 207, 258, 280 f. Übernahmerichtlinie siehe Dreizehnte Richtlinie Überseering siehe EuGH zur Niederlassungsfreiheit Übersetzung 14 ff., 18, 31, 36 ff., 54 f., 67, 263, 268, 294 f., 304, 362 ff. – von Recht 18, 38 ff. – von einer Sprache in eine andere 38 ff. – von einer Rechtssprache in eine andere 38 ff., 55 – vs. Original 14, 18, 31, 40, 53, 67, 263 Übertragung von Aktien 311 ff., 318 ff., 325 ff., 333 f., 336 ff., 340, 352 ff., 356 ultra vires-Lehre 127, 144, 147 ff., 167, 194 unbelastete Termini 45, 104, 302, 358 universales Rechtskonzept 94 ff., 103, 173, 179, 181, 183, 264 f., 293, 305, 333, 339 f., 350, 354 – Abgrenzung zu konkret-allgemeinen Begriffen 101 f. – Definition 44 – Ursprung 24, 44 – Verwendung 44 f., 89, 94 ff., 103, 181, 183
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Verbriefung 309 f., 318, 325 ff., 333 ff., 340, 349, 356 Vermutung zu Gunsten des Satzungssitzes 233, 235, 239, 246, 252, 255 ff., 280, 292 f., 301 Verschmelzungsrichtlinie siehe Zehnte Richtlinie Vertragssprache 12 ff., 73 Verwaltungssitz 25, 28, 209 f., 212, 215, 217, 225 ff., 229, 231 ff., 237 f., 247, 255 ff., 265, 275 f., 279, 281, 284, 287, 296, 298, 300, 359 Verweisung siehe auch Kollisionsnormen – Anwendung im IPR 80, 83 f., 98, 103 – Anwendung in der SE-VO 6, 8, 20, 42, 68, 79 f., 83, 85 ff., 94 ff., 102 ff., 108, 172 f., 305 f., 332, 337 f., 352, 355 f., 358, 360 – als Rechtstechnik 80, 83, 86, 92 Vierzehnte Richtlinie (Entwurf) (Sitzverlegungsrichtlinie) 207, 281 f., 299 Völkerrechtliche Verträge siehe auch unbelastete Termini 72, 85, 95, 176 ff., 271 f. – Termini darin 45, 95 Vorgesellschaft 76, 118, 121 f., 130 ff., 140, 149 f., 159 ff., 163, 165 f., 185, 187 ff., 219 Vorverständnis 38 f., 48 ff., 57 f., 61 f., 66 f., 148, 224, 254, 257, 294, 361, 364 ff. – Offenlegung des Vorverständnisses 38 f., 52 f., 55, 57 f., 61 f., 67, 254, 257, 294, 361, 365 ff. – Sprache als Vorverständnis 48 ff., 359 Vorzugsaktien 308 f., 317, 324, 329 ff. Wittgenstein 33, 42 Wörterbuch 54 ff., 364 ff. – Aufbau 54 f., 365 f. – IATE 31 f., 54 f., 362, 364 – Möglichkeit 55, 366 ff. – vs. Wörterliste 54 f., 364 Wortlaut – als Grenze der Auslegung 34, 67
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Sachregister
– Auslegung nach dem Wortlaut 18 f., 34, 63 ff., 71, 74, 76, 78, 82, 104, 10, 174, 191, 194, 223, 267, 274, 280, 290, 296, 306 f., 333, 354 – Rechtsvergleich als Teil der Wortlautauslegung 64 ff. Zehnte Richtlinie (RL 2005/56/EG) (Verschmelzungsrichtlinie) 208
Zweigniederlassung 217, 244 f., 274 f., 282, 300 Zweigniederlassungsrichtlinie siehe Elfte Richtlinie Zweite Richtlinie (RL 2012/30) (Kapitalrichtlinie) 150, 187 f., 221, 322, 345 ff., 351, 356