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German Pages 386 [400] Year 1949
WUSTMANN,
SPRACHDUMMHEITEN
Nehmt eure Sprache ernst! Wer es hier nicht zu dem Gefühl einer heiligen Pflicht bringt, in dem ist auch nicht einmal der Keim für eine höhere Bildung vorhanden. Hier kann sich zeigen, wie hoch oder wie gering ihr die Kunst schätzt und wie weit ihr verwandt mit der Kunst seid, hier in der Behandlung eurer Muttersprache. Aus den Basier Vorträgen Fr. N i e t z s c h e s 1871/73.
WUSTMANN SPRACHDUMMHEITEN Erneuerte
zwölfte
Auflage
v o n
WERNER
SCHULZE
WALTER DE GRUYTER & C O vormals G . J. Göschensche V e r l a g s h a n d l u n g • J. G u t t e n t a g , Verlagsbuchhandlung
• G e o r g R e i m e r • Karl J. T r ü b n e r • Veit u . Comp.
BERLIN
1949
Archiv-Nr. 45 2249 Druck von Walter de Gruyter & Co., Berlin W 36 Printed in Germany
Vorwort Als im Jahre 1891 die „Sprachdummheiten" von Gustav Wustmann herauskamen, erwies sich diese „Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen" — so erläuterte das Titelblatt — bald als starkes Bollwerk der Sprachfreunde in dem damals mit frischen Waffen geführten Kampf um eine Besserung der Muttersprache, und die Sprachdummheiten wurden zum geflügelten Wort. Es war ein selbstverständlicher Vorgang, daß mit der Zeit der alte Ruhm des Buches matter wurde, da neue Männer auf dem Plan erschienen und die einst gerügten Falschheiten und Häßlichkeiten der Sprache sich wenigstens zu einem Teil besserten oder—anderen Platz machten. Zudem war die polternde Urwüchsigkeit des „Wustmann", die ihm sein Gepräge und seinen Erfolg gegeben hatte, durch mannigfache Umarbeitungen abgeschwächt oder wohl ganz verloren gegangen. So ergaben sich bei einer wirklichen Erneuerung des Buches viele Aufgaben. Es galt, die ursprünglichen frischen Farben wieder zum Vorschein zu bringen: tatsächlich greift die Neuausgabe nicht selten auf die erste zurück; es galt vor allem, die neuen und neuesten sprachlichen Erkenntnisse fruchtbar zu machen. Es durfte nicht unberücksichtigt bleiben, was der Kreis der im Sprachverein wirkenden Männer erreicht hatte, was die Schriften der Matthias, Engel, Eitzen oder dann der Schmidt-Rohr, Schneider, Steche, Weisgerber, Stoltenberg für Anregungen brachten. Es ging nicht mehr an, an der Enge der Forderungen festzuhalten, mit denen Wustmann, im Geiste der damaligen
Vorwort Wissenschaft, an die Spracherscheinungen herangetreten war, und die lebendige Sprache in dem Schnürleib zu halten, den die Mode längst abgeworfen hat. Ihre Eigengesetzlichkeit mußte voll anerkannt, in ihr natürliches Wachstum durfte nur da regelnd eingegriffen werden, wo Lässigkeit oder Übermut drohten, wertvollen alten Bestand Zu gefährden. Gegen die wirklichen Sprachdummheiten unserer Zeit aber geht auch der neue Wustmann rücksichtslos vor. Inhalt und Umfang des Buches mögen zeigen, wieviel Unkraut noch immer auf dem deutschen Sprachboden wuchert. Gerade hier kann zimperliches Zugreifen nicht weiter führen; sollte sich jemand dabei getroffen fühlen, dann erinnern wir ihn an das Wort des alten Lichtenberg: Es ist unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne hier einen Bart und dort ein Kopfzeug zu versengen. Gleich dem ursprünglichen Buch will der „Neue Wustmann" ein Helfer für jeden Deutschen sein, der ehrlich um eine schlichte, klare und reine Sprache ringt. D r . W. S c h u l z e
Inhaltsverzeichnis Zur
Formenlehre
Das Hauptwort Starke und schwache Beugung Frieden oder Friede ? Namen oder Name ? Des Volkes, dem Volke — oder des Volks, dem Volk? Des Rhein oder des Rheins? Des Roten Kreuz oder des Roten Kreuzes ? . . . . . Franz'oder Franzens? Goethe's oder Goethes? . . . Karl des Großen oder Karls des Großen? Kaiser Rotbarts . . . . . . . . . . . . . . . . Leopolds von Ranke oder Leopold von Rankes? . . . Bögen oder Bogen? Mann, Männer und Leute Die Stiefeln oder die Stiefel? . Worte oder Wörter? . Das s der Mehrzahl Fünf Pfennig oder fünf Pfennige? Fünf Blätter und fünf Blatt Schwankendes Geschlecht . . . . . . . . . . . .
i 2 3 4 6 9 12 12 14 16 17 18 19 21 22 24
Das Eigenschaftswort Jeden Zwanges oder jedes Zwanges ? Mit echtem Kölnischen oder Kölnischem Wasser? . Sämtlicher deutscher oder sämtlicher deutschen Stämme? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein schönes Äußeres oder Äußere? Großer Gelehrter oder Gelehrten? Das Deutsche und das Deutsch . . . . . . . . . . Wir Deutsche oder wir Deutschen ? Nach Meldungen Dresdner Zeitungen . . . . . . . Steigerung der Eigenschaftswörter .
26 27 29 30 31 32 33 35
VIII
Inhaltsverzeichnis Das F ü r w o r t
Gedenket unsrer oder gedenket unser? Derer und deren Man und jemand Mit niemand anders
35 36 37 38
Das Z a h l w o r t
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Das Zeitwort Vertauschte und schwankend Zeitwörter . . Falsche Befehlsform Übergeführt und überführt. Ich anerkenne? . Das überlegte Gefängnis Ich bin gestanden oder ich habe gestanden? . Singen gehört und Singen hören Begänne oder begönne? Stände oder stünde ? .
. . .
41 43 43 46 47 48 4g
. . . . . . . . .
Zur Wortbildung Der weibliche Bürgermeister Hingebung und Hingabe Bremener oder Bremer? . Hallenser und Weimaraner Kölner Dom und Kölnische Zeitung Hallesches oder Hallisches Tor? -ig, -lieh, vierwöchig, zugänglich Schwerwiegender oder schwerer wiegend? . . . . . Größtmöglichst Mißbrauch der Meiststufe
51 53 55 55 56 58 59 61 62 63
Zusammengesetzte Hauptwörter Das Binde-s Tintefaß oder Tintenfaß? Äpfelwein oder Apfelwein? . . . Speisekarte oder Speisenkarte?
-
64 66 68 69
Zur Satzlehre Unterdrückung des Satzgegenstandes . . . . . . .
71
Inhaltsverzeichnis
IX
Die Satzaussage Die Ausstattung war eine glänzende Eine Menge war oder waren? . . . . . . . . . . Noch einmal: Die Mehrzahl in der Satzaussage . . . Die Anrede Die Leideform Die Mitglieder sind gebeten? Die rückbezüglichen Zeitwörter Mißbrauch der Vergangenheit Der Kampf um das Worden Erzählung und Inhaltsangabe Zeitungsüberschriften Zeitenverirrung bei der Nennform
72 75 76 77 78 80 80 81 85 87 88 91
Nebensätze Bezügliche Nebensätze. Welcher, welche, welches . . Das und was . Familie „ w o " . Welch letzterer Einer der schwierigsten, der oder die ? Falsch fortgesetzte Relativsätze Relativsatz statt eines Hauptsatzes Allerlei Bindewörter Unterdrückung des Hilfszeitworts
92 95 97 98 100 101 103 105 107
Die Aussageweisen Wirklichkeits- und Möglichkeitsform Die Möglichkeitsform in der abhängigen Rede . . . Die sogenannte Zeitenfolge (consecutio temporum) . Die unkenntliche Möglichkeitsform . . . . . . . . Die Form der NichtWirklichkeit . . . . . . . . . Vergleichssätze. Als wenn, als ob . . Würde . . .wolle zu den Akten
110 115 116 117 120 122 123 126
N e n n f o r m und M i t t e l w o r t Die Nennform mit um zu Das falsche zu . . . Das Mittelwort. Gefolgt von allen Schrecknissen . . Mittelwort statt eines Neben-oder Hauptsatzes . . . Falsch angeschlossenes Mittelwort In Ergänzung
127 131 132 136 137 139
b
Wusemann, Sprachdummheiterl.
X
Inhaltsverzeichnis Die Beifügungen
Die Beifügung 142 Straßennamen 143 Fachliche Bildung oder Fachbildung? schulisch . . . 145 Die Goethemutter 148 Schulze-Naumburg und Frankfurt-Oder 151 Magistrat Berlin 152 E x libris 155 Die Familie Nachfolger 156 Weitere Mängel bei Geschäftsaufschriften 158 Der grobe Unfugparagraph und das Übersetzungsrecht in fremde Sprachen 161 Der glasweise Preis 162. Der Beisatz 165 Als bei der Satzaussage 166 Titel 168 Der Doktor-Ingenieur 169 Bindestriche 171 Fürwörter Der erstere und der letztere Derselbe, dieselbe, dasselbe Darin, daraus, daran; ohne es Derjenige, diejenige, dasjenige Jener, jene, jenes
174 176 181 184 186
Zur Fall-Lehre Zeitwörter mit unsicherem Fall Er hat mir oder mich auf den Fuß getreten? . . . . Sich an etwas halten . Die Kündigung der Arbeiter
187 190 192 192
Zahlwörter . . . . . . . . .
195
Verhältniswörter Dank und trotz Statt und außer Nördlich, südlich, vorwärts
196 197 198
Inhaltsverzeichnis Werdende Verhältniswörter: ungerechnet, unbeschadet und bis . . . . . . . A b 5. September gesperrt . Nach Schule und bei Vater Im oder in dem? zum oder zu dem ? Aus „ D i e Meistersinger" Wegen U n f u g
XI
200 202 203 204 207 208
Zeitbestimmungen Donnerstag und donnerstags — nachmittag und nachmittags Das Datum Aller vier W o c h e n ? . Vorsicht bei „ w ä h r e n d " ! Bindewort und
Geschlechtswort
Und Als, wie, denn beim Vergleich Die Verneinungen Warnen, daß nicht Schwund des Geschlechtswortes Ihr oder Ihre Fräulein Tochter? Stilmängel und
214 217 219 222 223 224 Stilregeln
Mißhandelte Redensarten Vertauschung des Hauptworts und des Fürworts . . Die fehlerhafte Zusammenziehung Doppel und Überfluß . Die Bildervermengung . Vermengen zweier Fügungen Zur
209 210 211 212
226 231 233 236 240 242
Wortstellung
Die alte gute Zeit oder die gute alte Zeit? . . . . . . Die Umstellung nach „ u n d " Die Stellung der persönlichen Fürwörter . . . . . . Zwei Verhältniswörter nebeneinander
244 246 248 251
Noch ein paar Stilregeln Schlechter Satzbau Ein paar Winke zur Z e i c h e n s e t z u n g
252 260 263
XII
Inhaltsverzeichnis
Zu Wortschatz und Wortbedeutung Verwechselte Wörter Der gleiche oder derselbe ? Der Dritte und der andre Verwechslung von Verhältniswörtern Fort oder weg? Hin und her; hoch und oben Ge, be, ver, ent, er . . . . Neue Wörter Modewörter Der Gesichtspunkt und der Standpunkt Das Können und das Fühlen Das Sicheinleben Bedingen Fertigstellen und klarlegen In etwa : Schwulst Einflußnahme und Verzichtleistung Die Sehnsüchte Anders, andersartig und anders geartet Aufblähung des Zeitworts «Die Mutter", erschrak Lotte Vermittelst und sein Anhang Seitens Beziehungsweise Provinzialismen Fremdwörter . Die Aküsprache .
369 273 274 275 279 280 283 287 294 312 315 317 318 32a 322 324 327 328 329 330 331 334 338 341 343 345 370
Die Fachausdrücke der Sprachlehre
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W o r t - und S a c h v e r z e i c h n i s
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Zur Formenlehre Wir wollen der Sprache nicht die Quelle verschütten, aus der sie sich immer wieder erquickt; wir wollen kein Gesetzbuch machen, das eine starre Abgrenzimg der Form und des Begriffs liefert und die nie rastende Beweglichkeit der Sprache zu zerstören sucht. Wilhelm Grimm
Starke und schwache Beugung Da wir nicht einen Leitfaden der deutschen Sprachlehre schreiben wollen, sondern nur warnen und immer wieder warnen vor all dem Minderwertigen und Schlechten, was sich in unseren Sprachgebrauch eingeschlichen hat, so soll der Leser hier auch nicht Tafeln der deutschen Beugung vorgesetzt bekommen. Wir wollen ihn nur im Anfang daran erinnern, daß Jakob Grimm die Vielfältigkeit der Hauptwörterbeugung im Deutschen auf die Zweiheit der starken und schwachen Deklination einschränkte; indem er die formenreichen Gruppen, eben weil sie die Kraft zu unterschiedlichen Endungen, häufig auch zum Umlaut in der Mehrzahl bewahrt haben, die starke Deklination nannte und, die vom Wesfall der Einzahl an ein einförmiges n als Endung zeigen, schwach. Trotz des großen Reichtums unsrer Sprache an Hauptwörtern und der großen Mannigfaltigkeit, die innerhalb der beiden Beugungen besteht, ist die Zahl der Fälle, wo sich 1
Wuitmann, Sprachduxnmheiteo.
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Frieden oder Friede? Namen oder Name?
heute Unsicherheit zeigt, verhältnismäßig klein. Aber ganz fehlt es doch nicht daran. Eine große Nachlässigkeit macht sich darin breit, daß man in der Umgangssprache immer häufiger die schwachen männlichen Wörter: Mensch, Fürst, Held, Hirt, Narr, die im Werfall keine Endung haben, in allen anderen Fällen aber auf -en auslauten müßten, im Wenfall und nachgerade auch im Wemfall ihrer Endung beraubt: Bildungen wie den Narr, den Kuhhirt sind also falsch; es heißt: den Menschen, den Fürsten usw.
Frieden oder Friede? Namen oder Namel Bei einer kleinen Anzahl von Hauptwörtern schwankt der Werfall mehr oder weniger zwischen einer Form auf e und einer auf en; es sind das Friede, Funke, Gedanke, Gefalle, Glaube, Haufe, Name, Same, Schade und Wille. Beide Formen haben als richtig zu gelten. Ursprünglich gingen die genannten Wörter auf e aus und zeigten als schwach gebeugt (außer Friede und Gedanke) in allen Fällen die Endung -en. Aber alle trugen eine geheime Neigung zur starken Beugung und nahmen denn auch deren Hauptkennzeichen, das Wesfall-s an, das sie nun noch an das -n anhängten; der Schade brachte es sogar bis zum Umlaut in der Mehrzahl: die Schäden. Unter dem Einflüsse jener Mischform drängte sich das en endlich aus dem 3. und 4. Fall auch in den 1. ein. Die ältere Form auf e ist aber überall daneben noch lebendig und im Gebrauch (von Schade allerdings fast nur noch in der Redensart: es ist schade). Zum Beispiel ist der Gefälle (bei Lessing öfter) in Sachsen und Thüringen noch ganz üblich: es geschieht mir ein großer Gefalle damit. In dichterischer Sprache, in überkommenen Formeln, finden wir allenthalten die alten Formen auf e: sein letzter Wille, sein Name sei gelobt.
Des Volkes, dem Volke — oder des Volks, dem Volk?
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Ebenso stehen Fels und Felsen gleichberechtigt nebeneinander. Das Wort gehört ursprünglich der starken Beugung an; daher ist auch gegen die Form Fels im 3. und 4. Fall (Vom Fels zum Meer) nichts einzuwenden.
Des Volkes, dem Volke — oder des Volks, dem Volk? Ob in der starken Beugung die volle Wesfallendung -es oder das bloße -s vorzuziehen sei, ob man lieber sagen solle: des Amtes, des Berufes oder des Amts, des Berufs, darüber läßt sich keine allgemeine Regel aufstellen. Von manchen Wörtern ist nur die eine Bildung, von manchen nur die andre, von vielen sind beide gleichmäßig nebeneinander üblich; selbst in Zusammensetzungen stehen ältere Bildungen wie Landsmann und Landsknecht neben jüngeren wie Landesherr und Landesverräter. Nicht nur in der Kunstsprache, sogar im Alltag spielt der Wohlklang des einzelnen Wortes und vor allem der Fluß der zusammenhängenden Rede hierbei eine wichtige oder gar entscheidende Rolle. Um des Wohllauts willen ist die Endung -es geradezu notwendig, wenn das Wort auf s, ß, z, (x) ausgeht, also des Glases, Flusses, Fußes, Kreuzes, Kokses', auch hinter dem Zischlaut sch und hinter st werden viele die volle Endung vorziehen: des Busches klingt besser als des Büschs, des Gastes besser als des Gasts. Die kurzen Formen können kräftig, aber auch gehackt, die langen voll, weich und geschmeidig, aber auch schleppend klingen, je nach der Umgebung. Im allgemeinen liebt die Sprache auch den Wechsel zwischen betonten und unbetonten Silben. Wo sie ihn damit erreichen kann, erhält sie gern das -es im Wesfall und das e im Wemfall. Sonst aber greift immer mehr die Neigung um sich, das e ganz abzuwerfen und zu sagen: in dem Film, aus dem Haus, nach dem Krieg, nach dem Tod, im Jahr, im Recht, im Reich, i*
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Des Rhein oder des Rheins?
mit seinem Werkzeug, auf dem Berg, am Meer (statt Filme, Hause, Kriege, Jahre, Rechte usw.)» Das Sterben des Wemfall-e scheint nicht mehr aufzuhalten zu sein. Sehr viele solche Formen wie Bache, Könige, Flusse sind aus der Umgangssprache schon ganz geschwunden. Wo die Sprache, namentlich bei einsilbigen Wörtern, das e wegwirft, kann sie leicht etwas Zerhacktes erhalten. Ein einziges Wemfall-e kann oft mitten unter klapprigen Einsilblern Fluß und Wohllaut herstellen. In solchen Fällen gilt es für die gepflegte Schriftsprache, das e zu erhalten; gerade so, wie viele Redensarten es aus demselben Grunde erhalten haben: zustande kommen, im Wege stehen, zugrunde gehen, zu Kreuze kriechen. Wie stark die Gesetze der Betonung bewußt oder unbewußt auf die Sprachgestaltung einwirken, kann man schon daraus sehen, daß Formen mit e bei Wörtern mit Nebenton heut fast unmöglich geworden sind. Oder hört man irgendwo: des Landmannes, des Rundfunkes, dem Ausdrucke? Bei Eigennamen sind die Formen mit e gänzlich ausgestorben, bei Fremdwörtern erscheinen sie uns schleppend und ungewöhnlich. Niemand sagt mehr: Karies, Friedriches, des Prinzipes, die Leitung des Archives, treu seinem Ideale. Leider empfindet die gesprochene Sprache den s-Wesfall überhaupt immer mehr als unbequem; immer häufiger wird er mit „von" und anderen Verhältniswörtern umschrieben. Unsere Gegenwart sieht es vor Augen, wie hier vom Formenreichtum der deutschen Sprache wiederum ein Glied abstirbt. Wer am Blühen und Reichtum der Sprache Freude empfindet, wird das tief bedauern und sich jeder Entwicklung entgegenstemmen, die eine Verarmung bedeutet.
Des Rhein oder des Rheins? Der Wesfall lautet i. bei erdkundlichen Namen: des Rheins, des Juras, Frankens, auch: des nordöstlichen Frankens;
Des Rhein oder des Rheins?
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2. bei Personennamen: Schmidts, aber des Schmidt, des „Egmont"; 3. bei Monatsnamen: des Januars; 4. bei Schiffs-, Flugzeugs- und Cesettschaftsnamen: des „Sterns", des „Meteors", des „Norddeutschen Lloyds". Bei Berg- und Flußnamen, die das Geschlechtswort bei sich haben, muß man jetzt immer häufiger Wesfälle lesen wie des Rhein, des Main, des Nil, des Brocken, des Fläming, des Jura, des Vesuv; ebenso bei Länder- und Städtenamen, wenn sie durch einen Zusatz das Geschlechtswort erhalten; auch da verbreitet sich immer mehr die Nachlässigkeit, zu schreiben: des modernen Berlin, des alten Leipzig, des kaiserlichen Rom, des nordöstlichen Schwaben. Halten wir das s, solange es geht, am Leben! Jeder Formenausfall macht die Sprache ärmer! Bequemlichkeit und Schludrigkeit führen immer mehr dazu, daß man sich mit der Form des Werfalls wie mit einer unveränderlichen Formel begnügt. Vor allem sollten auch alle Namen und Titel in lebendiger Sprache gebeugt werden, auch da, wo sie in die beliebten Gänsefüßchen eingeschlossen sind. Falsch ist: die Mittwochausgabe des „Freien Bauer" oder das Ansehen des „Norddeutschen Lloyd". Ist das doch gerade so, als wenn man schreiben wollte: die Gründung der „Preußische Jahrbücher", was gewiß niemand über die Lippen bringt. Ganz gesiegt hat der Wesfall ohne s bei Personennamen mit Geschlechtswort; hier ist er allein „sprachrichtig" geworden. Noch Goethe durfte schreiben: „Die Leiden des jungen Werthers", der heutige Gebrauch verwirft dies s. Auch Personen bezeichnende Dichtungsnamen verlieren ihr s; falsch ist ebenso: die Musik des „Lohengrins" wie: die Aussagen des Schmidts. Übrigens soll man, wenn der Personenname ohne Zusatz steht, das Geschlechtswort davor beiseite lassen; nur in der
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Des Roten Kreuz oder des Roten Kreuzes ?
Amtssprache der Gerichte ist es üblich. Nötig bleibt es in der Schriftsprache vor Zunamen, die weiblichen Personen angehören, falls das sonst nicht zu erkennen wäre: die EbnerEschenbach, namentlich im Wesfall: eine Erzählung der Ebner-Eschenbach (dagegen: Ricarda Huchs). Wo man Monatsangaben als Formel empfindet und z. B. „Anfang Oktober" ohne s schreibt, ist das nicht als Fehler anzusehen.
Des Roten Kreuz oder des Roten Kreuzes? Ein Kapitel vom Schwinden des Wesfalls Die Neigung, auf das unbequeme Wesfall-s zu verzichten, hat sich schon bedenklich tief in unser Sprachleben eingefressen. Wie weit sie in der Namenswelt vorgeschritten ist, davon war im vorigen Abschnitt die Rede. Nachgerade aber hat sie sich auf alle die Fälle {ibertragen, wo etwas durch den Gebrauch zum Namen geworden ist. Ein sprechendes Beispiel dafür ist des Roten Kreuzes. Jedermann sagt richtig: die Form des Griechischen Kreuzes ist jedem Kunstgeschichtler bekannt. Wo aber von dem Roten Kreuze die Rede ist, wie oft heißt es da: ein Vertreter des Roten Kreuz hielt eine Ansprache! Trägt ein Schiff oder Flugzeug den Namen Pfeil oder Stern oder Adler, so ist es weithin geläufig, von der Rückkehr des oder der „Adler", der Geschwindigkeit des „Pfeil" zu sprechen. Die gesamte Presse berichtete einst von den Leistungen des Domier-Wal, obgleich jeder des Wals sagen würde, wenn es sich um ein „richtiges" Tier handelte. Vielleicht sieht der eine oder andere darin eine berechtigte Unterscheidung, die die Sprache sich mit Geschick selbst schuf. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir aber wohl zugeben, daß die Neigung unserer Sprache zur Erstarrung daran wenigstens den gleichen Anteil hat. Lebendige, schmiegsame Sprache wird nicht darauf verzichten, die vielfachen Be-
Des Roten Kreuz oder des Roten Kreuzes?
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Ziehungen zwischen den Wörtern mit allen gegebenen Mitteln auszudrücken. Man beobachte einmal mit wachen Sinnen, wie weit die Wesfallform abgebaut wird! Dahin gehört es, wenn die Titel und Berufsbezeichnungen mehr und mehr zu Namensbestandteilen gemacht werden (siehe Seite 169), an die nicht zu rühren sei: zu Händen des Regierungsrat Dr. B., des Direktor P. Müller usw. Es ist, als ob solch ein Gebilde durch heimliche Grenzpfähle geschützt wäre! Energischer Wille zur Sprachformung aber sollte diese chinesische Mauer überspringen können. Soll es dahin kommen, daß wir auch des Landtag, des Britischen Reich lesen und schließlich auch sprechen, weil es ja ebenfalls Namen sind? Ausgeschlossen ist das keineswegs. Eine andere Gelegenheit, Namen ihrer Beugung zu berauben, ergibt sich bei Anführung von Büchern. Gar nicht selten sehen die so aus: in der zweiten Auflage von Schuchhardt „Vorgeschichte von Deutschland", in Büchmann „Geflügelte Worte", und doch würde jedes natürliche Sprachgefühl Schuchhardts Vorgeschichte und Büchmanns „Geflügelten Worten" fordern, und im mündlichen Gebrauch kommt es anders wohl auch nur bei denen vor, die selbst nicht mehr anders reden können, als sie — leider — zu schreiben gewohnt sind. Der zunehmenden Endungslosigkeit der Monatsnamen möchten die Wochentage folgen: recht häufig hört man schon von den Ereignissen des vorigen Freitag reden oder dem Wetter des letzten Sonntag. Das s des Wesfalls fehlt oft bei dem zum Hauptwort erhobenen Fürwort: sogar eine Sprachmeisterin wie Ina Seidel läßt feines Ich" durch. Ob sie die Aufeinanderfolge des ch-Lautes und des s als nicht gut klingend empfand? Und doch: die Beugung ist das Zeichen des lebendigen Wortes. Darum beugen wir sorgsam: jedes Mittwochs, des selbständigen Ichs, die Forderungen des Dus — mag es hier und da auch unbequem oder gar seltsam scheinen.
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Des Roten Kreuz oder des Roten Kreuzes?
Wieviel weniger die Fremdwörter dem lebendigen Bestände der Volkssprache angehören, zeigt sich natürlich auch darin, daß ihre Beugung und insbesondere die s-Fügung des Wesfalls stark vernachlässigt wird. Je mehr sich diese Wörter im deutschen Bereich eingelebt haben, um so williger nehmen sie auch die einheimischen Formen an. Des Likörs, des Lineals halten ihr s überwiegend. Gern aber wird es bei den auf einen vollen Selbstlaut endenden weggelassen: des Zebra, des Känguruh ist im naturwissenschaftlichen Schrifttum ganz geläufig. Am schwersten scheint es zu sein, einem o das s anzuhängen: des Radios schreibt kaum ein Mensch; auch des Fresko, Konto, Torso sind zweifellos vor den.s-Formen im Vorteil. Der Spieler des Karo, die Folgen eines Boykott, die Kosten des Frikassee — all das ist unseren Ohren leider vertraut; all das beweist, wie die Eindeutschungskraft heute gering geworden ist und wie vor allem die deutschen Beugeformen an Kraft verloren haben. Vollends den Wesfall auf s zu bilden sind wir unlustig geworden. Ja das Wesfallsterben geht noch weiter. Nicht nur daß wir seine Form unkenntlich machen: darüber hinaus nimmt sein Gebrauch viel schneller ab, ab wir'gewöhnlich glauben. Achten wir einmal darauf; im täglichen Gespräch ist er bloß nach Verhältniswörtern noch ganz lebendig. In unbefangener Rede tritt wer weiß wie oft das von zum Ersatz ein: dies ist das Haus von meinem Onkel; wohl heißt es noch in der Mehrzahl: dies ist das Zimmer unserer Kinder, und allenfalls: das Zimmer meiner Tochter; aber in der Regel: das Zimmer von meinem Sohn, von unserem Kind. Der s-Wesfall wird am ehesten umgangen. Wir wissen, daß die anderen Sprachen in dem Ersatz des Wesfalls durch ein Verhältniswort vorausgegangen sind — aber ist es ein Fortschritt, wenn die alten, starken Formen, wenn die im Wortinnern lebendigen Triebkräfte verdorren, oder ist es Verfall? Wer seine Sprache lieb hat, helfe ihren Reichtum erhalten und Abbröckelndes ausbessern 1
Franz' oder Franzens? Goethe's oder Goethes? '
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Vergleiche zum Aussterben des Wesfalls: Seite 149,I53f., 156—158, 210.
Franz' oder Franzens? Goethe's oder Goethes? Viele Geschäftsleute scheinen es für unumgänglich nötig zu halten, ihren Wesfall mit einem Häkchen zu versehen, besonders „wo man den Namen sonst nicht erkennen könnte", vergleiche: „Kaiser's Kaffeegeschäft", „Müller's Gemischtwarenhandlung" usw. Aber selbst große Gelehrte waren darin so verliebt, daß es ihnen ganz undenkbar erschien, Goethes ohne das hübsche Häkchen oben zu schreiben1). Und doch hat es nur da einen Sinn, wo wirklich ein Buchstabe ausgefallen ist. So müssen wir es auch bei den Personennamen auf s, ß und z zu Hilfe holen, weil wir da nicht noch ein zweites s anhängen wollen, um den Wesfall deutlich zu machen; einem sorgfältigen Sprecher wird man es abhören können, ob er von einer Augustusstatue oder Augustus' Leben spricht; da macht sich also das Häkchen nicht nur für das Auge des Lesenden bemerkbar. Die Anzahl solcher Namen ist ziemlich groß: man denke an Fuchs, Voß, Krebs, Görres, Strauß, Brockhaus, Hinrichs, Brahms, Begas, Dickens, Curtius, Mylius, Cornelius, Marx, Felix, ') Das Häkchen sollte nur da angewandt werden, wo es eine Verwechslung verhüten kann, z. B. zwischen der Gegenwart rauscht und der Vergangenheit rauscht' (Das Wasser rauscht', das Wasser schwoll), oder zwischen der Einzahl Berg und der Mehrzahl Berg' (über Berg' und Täler). Verboten ist es bei der Verschmelzung von Verhältnis- u. Geschlechtswort : aufs, ans, ums. Jetzt gestatten die Regelbücher auch, das Häkchen bei den Befehlsformen wegzulassen: lauf, bring, hol, sag. Auch folgende Fälle bleiben, so oft man auch das Gegenteil findet, ohne Häkchen: manch tapferer Seemann, welch liederliches Frauenzimmer, all diese Überlegungen. Bei manch, solch usw. ist keine Endung ausgefallen, da es sich um Umstandswörter handelt.
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Franz' oder Franzens? Goethefs oder Goethes?
Max, Franz, Fritz, Moritz, Götz, Uz, Schütz, Schwarz, Leibniz, Opitz, nicht zu reden von den griechischen, römischen, spanischen Namen wie Sophokles, Tacitus, Olivarez. Wie gesagt, bei all solchen Namen wird man das Häkchen zu Hilfe holen. Und doch gibt es auch hier bei den meisten noch einen anderen Weg, den Wesfall deutlich zu machen. Bei den fremdländischen kann man sich damit helfen, daß man das Geschlechtswort vorsetzt: die Tragödien des Sophokles, die Germania des Tacitus; dagegen würde man es sofort als anstößig empfinden, wenn jemand schriebe: die Gedichte des Goethe. Das Geschlechtswort vor dem Personennamen ist süddeutsch (in Stuttgart sagt man: der Uhland, in Wien: der Raimund), aber in die Schriftsprache gehört es nicht. Es ist nicht angenehm, von Entwürfen des Marées lesen zu müssen oder gar von einem Bildwerk des Barlach, einer Fabel des Geliert. Fur den Wesfall der deutschen Namen mit scharfer Endung gebrauchen wir, wo es angeht, die Mischform aus der schwachen und der starken Beugung auf -enj, also : Fuchsens, Straußens, Schützens, Hansens, Franzens, Fritzens, Götzens, Leibnizens (vgl. den Wesfall Herzens und die älteren Wesfälle von Mädchennamen wie Luisens,Friederikens, Sophiens). Formen wie Fritzens sind auch heute noch üblich, ebenso wie die Wem- und Wenfälle Fritzen, Hansen, Sophien', gib's Fritzenl — hast du Fritzen nicht gesehen? —, die jetzt freilich in der Spracherhärtung der Stadtsprache mehr und mehr durch die ungebeugte Form verdrängt werden : hast du Fritz nicht gesehen? gib's Fritz l, doch ist nicht einzusehen, weshalb sie nicht auch heute noch papierfähig sein sollten1). l ) Die Beugung der Eigennamen war früher noch viel weiter verbreitet. Nicht bloß Schwarz und Schütz wurden abgewandelt Schwarzens, Schwarzen, Schützens, Schützen, weshalb man aus diesen Fällen nie entnehmen kann, ob sich der Mann Schwarz oder Schwarze nannte; auch von Christ, Weck, Frank, Fritsch bildete aanChristens, Christen, Weckens,
Franz' oder Franzens ? Goethe's oder Goe thes ?
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Jedenfalls aber sind Wesfälle wie Vossens Luise und Straußens Walzer röckhaltlos zu empfehlen. Unmöglich erscheint dies natürlich bei Namen, die noch zu sehr daran erinnern, daß sie ursprünglich selbst Wesfälle waren, wie Carstens (eigentlich Carstens Sohn), Hinrichs. Auch Phidiassens Zeus klingt nicht schön oder Sophoklessens Antigone, obwohl solche Formen Zu Goethes und Schillers Zeit unbedenklich gewagt worden sind. Jetzt verschmilzt man mit solchen Namen das s der Endung und das des Stammes bei der Schreibung in eins und deutet den Vorgang dann durch ein Häkchen an: Phidias' Zeus, Perikles' Tod. Einen solchen Häkchenwesfall jedoch nachzustellen sollte jedem sein gesundes Sprachgefühl unmöglich machen. Es heißt nicht: der Tod Perikles' und nicht die Griechische Geschichte Curtius', sondern: Curtius' Griechische Geschichte, so daß jedermann schon in der Vöranstellung des Namens den Wesfall spürt, oder: die Griechische Geschichte von Curtius. Ebenso wäre es geschmacklos, etwa die fremden Begriffsbezeichnungen auf -ismus nur mit Hilfe eines Häkchens abzuwandeln. Man kann nicht drucken: der Segen echten Wecken, Frankens, Franken, Fritschens, Fritschen (Leipzig, bei Thomas Fritschen). Daher findet man z. B. in Altverzeichnissen Christs Buch „Anzeige und Auslegung der Monogrammatum" meist unter dem falschen Namen Christen, Wecks Beschreibung von Dresden meist unter dem falschen Namen Wecken aufgeführt; auf den Titelblättern steht wirklich: von Christen, von Wecken. Die berühmte Gelehrtenfamilie der Mencke, aus der Bismarcks Mutter abstammte, war durch diese Abwandlung so irre geworden, daß sie schließlich selber nicht mehr wußte, wie sie hieß; deutsch schrieben sie sich Mencke, aber latinisiert Menckenius. Überhaupt war man einst in der Abwandlung der Namen viel freier und beweglicher als jetzt; Frau Vossin und Frau Möbiussin hieß es ohne weiteres, während jetzt nur noch die Mundart wagt, das Recht des eingetragenen Namens an zutasten.
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Kaiser Rotbarts
Sozialismus' oder: ein unglaubliches Beispiel damaligen bayrischen Partikularismus' — das sind nun einmal keine Wesfälle, trotz des Häkchens. Hier muß das Verhältniswort von aushelfen: von echtem Sozialismus, wenn man nicht einfach das Geschlechtswort zu Hilfe nehmen und sagen will: eines kleinlichen Lokalpatriotismus.
Karl des Großen oder Karls des Großen! Daß von Karl der Wesfall Karls heißt, das wird allenfalls noch gewußt. Aber man frage einmal nach dem Wesfall von Karl der Große; die Hälfte aller Gefragten wird ihn Karl des Großen bilden. Fortwährend begegnet man jetzt so abscheulichen Bildungen wie: Peter des Großen, Heinrich des Erlauchten, Albrecht des Beherzten. Es gibt Leute, die allen Ernstes glauben, solche Verbindungen seien eine Art von Formeln, die nur am Ende gebeugt zu werden brauchten 1 Auch wenn der Beisatz eine Ordnungszahl ist — der häufigste Fall —, wird wer weiß wie oft geschrieben: die Urkunden Otto III., die Gegenreformation Rudolf IL, die Gemahlin Heinrich VIII., die Regierungszeit Ludwig XIV. Wenn man das aussprechen will, so kann man doch gar nicht anders sagen als: Otto der Dritte, Rudolf der Zweite, Heinrich der Achte, und der Unsinn ist da. Aber wie kann der Schreibende erwarten, daß man die Zahl im Wesfall lese, wenn der Name, zu dem sie gehört, im Werfall steht? Ein Uberfluß an Wesfallzeichen wäre es hingegen, wollte man beide Rufnamen eines Fürsten abwandeln; es heißt nicht Friedrichs Wilhelms, sondern nur Friedrich Wilhelms, sowie jeder auch von Hans Joachims Wahrheitsliebe oder Otto Emsts Verstocktheit spräche, wenn es sich um seine eigenen Jungen handelte.
Kaiser Rotbarts Wie beugt man nun, wenn der Titel dazutritt? Bei vorangestelltem Beisatz wie Kaiser, König, Herzog, Prinz, Graf,
Kaiser Rotbarts
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Papst, Bischof, Bürgermeister, Stadtrat, Major, Professor, Doktor, Direktor usw. kommt es darauf an, ob er als bloßer Titel oder wirklich als Amt, Beruf, Tätigkeit der Person aufgefaßt werden soll. Im ersten Fall ist es das Üblichste, nur den Eigennamen zu beugen, den Titel aber ohne Geschlechtswort und ungebeugt zu lassen, also Kaiser Rotbarts, Papst Urbans, Doktor Faasts Höllenfahrt, Bürgermeister Müllers Haus. Der Titel verwächst für das Sprachgefühl so mit dem Namen, daß beide wie eins erscheinen. Daher schreibt man auch auf Büchertiteln: Von Pfarrer Hansjakob, von Prof. H. Sohnrey (statt von dem Pfarrer), wo bloß der Titel gemeint ist (vgl. S. i68f.). Im achtzehnten Jahrhundert hat man sogar auch das Wort Herr als Titel empfunden und demnach gebeugt: Herr Müllers, Herr Müllem, nicht: Herrn Müller. Im zweiten Falle erhält der Beisatz das Geschlechtswort und wird gebeugt, dagegen bleibt der Name ungebeugt: des Kaisers Rotbart, des Landrats Bohne, ein Bild des Ritters Georg. (Es sei nicht verschwiegen, daß sich viel Verstöße dagegen auch im besten deutschen Schrifttum finden, so ganz zahlreich bei dem eigenwilligen Kleist: Heil, Heil dem Prinz von Homburg; dem Obrist Homburg.) Akademische Titel wie Dr., Professor werden mit dem Namen so als Einheit empfunden, daß sie auch nach vorgesetztem Geschlechtswort nicht mehr gebeugt werden. So heißt es stets: des Doktor MaUdorff, des Professor Albrecht. Treten Titel und Beinamen zugleich vor und hinter die Namen, so würde die Form des Kaisers Heinrich des Vierten unschön wirken, weil der Name allein zwischen den abgewandelten Formeln unveränderlich und starr stünde. Man wird dann die Fügung ohne Geschlechtswort vorziehen und schreiben: die Truppen Kaiser Heinrichs des Vierten; das Denkmal König Ludwigs • von Bayern; die Bulle Papst Leos des Zehnten. Keine neue Lage schuf der Artikel 109 der Reichsverfassung von 191g, wonach „Adelsbezeichnungen nur als Teil
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Leopolds von Ranke oder Leopold von Rankes?
des Namens gelten". Die meisten glaubten, und einige Unentwegte tun es noch, daß danach wenigstens im amtlichen Verkehr die alten Rangzusätze Freiherr, Fürst, Prinz usw. den Namen jetzt als unveränderliche Bestandteile angehören müßten und also auch von einer Beugung des Namens nicht berührt würden. Wenn ein Landsitz einem Fürsten Blücher gehört, so sei es also in Zukunft das Schloß des Fürst Blücher, oder wir lesen die Balladen des Freiherr von Münchhausen und so fort. Daran hat sich jedoch, dem gesunden Menschenverstand folgend, weder der Sprachgebrauch noch eine Reichsgerichtsentscheidung vom 10. März 1926 gekehrt. Nach ihr unterliegt es keinem Bedenken, wenn die Träger auch weiterhin ihre Adelsbezeichnungen Freiherr, Graf usw. im Wes-, Wem- und Wenfall dem Sprachgebrauch entsprechend beugen. Dabei konnte darauf verwiesen werden, daß in den vom Reiche mit anderen Staaten abgeschlossenen Staatsverträgen aus letzter Zeit die Bevollmächtigten des Reichs, die einen adligen Namen führen, in der vor dem Inkrafttreten der Reichsverfassung üblichen Form angegeben waren.
Leopolds von Ranke oder Leopold von Rankes? Es heißt: die Werke Wolframs von Eschenbach, aber Wolfgang von Goethes. Der Gebrauch adliger Namen oder solcher, die adligen nachgebildet sind, bereitet vielen Verlegenheit. Soll man sagen: die Dichtungen Wolframs von Eschenbach oder Wolfram von Eschenbachsl Richtig ist nur das erste, denn Eschenbach ist, wie alle echten Adelsnamen, ein Ortsname, der die Herkunft bezeichnet; den kann man doch nicht in den Wesfall setzen wollen. (Obwohl sich schon im fünfzehnten Jahrhundert in Urkunden findet: „das Haus, das Peter von Dubins [Peters von Düben] oder das Nickel von Pirnes [Nickels von Pirne] gewest", als das Gefühl für den Orts-
Leopolds von Ranke oder Leopold von Rankes ?
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namen noch viel lebendiger war als bei unsern heutigen Adelsnamen.) So sollte es denn auch heißen: die Heimat Walthers von der Vogelweide, die Burg Götzens von Berlichingen, die Gedichte Hoffmanns von Fallersleben, auch die Werke Leonardos da Vinci, die Schriften Abrahams a Santa Clara. Wie steht es aber mit den Namen, die nicht jedermann sofort als Ortsnamen empfindet, wie Hutten? Wer kann alle deutschen Ortsnamen kennen? Soll man sagen Ulrichs von Hütten oder Ulrich von Huttens deutsche Schriften? Und nun vollends die zahllosen unechten Adelsnamen, über die sich schon Jakob Grimm lustig gemacht hat: diese von Richter und von Schulz, von Schmidt und von Weber, von Bär und von Wolf, wie steht's mit denen? Soll man sagen: Friedrichs von Schiller Werke, Leopolds von Ranke Weltgeschichte?1) Nachdem einmal die sogenannten unechten Adelsnamen mit dem an sich sinnlosen von erfunden sind, bleibt nichts weiter übrig, ab das von hier so zu behandeln, als ob es gar nicht vorhanden wäre, also zu sagen: Leopold von Rankes sämtliche Werke. Und so verfahre man getrost auch bei echten Adelsnamen, wo ein Zweifel besteht, ob sie eigentlich Ortsnamen sind. Vielleicht ist es die bequemste und die dem Gebrauch entsprechendste Regel: Beuge den Teil, den du als Abkürzung eines adligen Namens gebrauchst. Also: Walthers (von der Vogelweide), Hoffmanns (von Fallersleben), Schillers, Rankes; und so auch gegen die ursprüngliche Regel, J ) Im achtzehnten Jahrhundert war das Gefühl für die eigentliche Bedeutung der adligen Namen noch lebendig; da adelte man einen Peter Hohmann nicht zum Peter von Hohmann, sondern zum Peter von Hohenthal, einen Maximilian Speck nicht zum Maximilian von Speck, sondern zum Maximilian Speck von Sternburg, indem man einen (wirklichen oder erdichteten) Ortsnamen zum Familiennamen setzte; in Österreich verfuhr man bis in die neueste Zeit so.
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Bögen oder Bogen?
daß der Herkunftsadel den Vornamen beugen müsse: Huttens und Hindenburgs.
Bögen oder Bogen? Bei einer Anzahl von Hauptwörtern wird die Mehrzahl jetzt oft mit einem Umlaut gebildet, der ihnen ursprünglich nicht zukam. Bei manchen hat er sich schon längst durchgesetzt; ich denke an Hände (gelegentlich noch: zu Händen), Hämmer, Gärten u. a.; auch Formen wie Fußböden, Kästen, Verläge sind so allgemein üblich, daß sie nicht mehr als falsch gelten können. Dagegen dürfen wir die in Süddeutschland verbreiteten Bögen, Erlässe, Mägen, Läger noch nicht als Schriftdeutsch bezeichnen. In München und Wien fahrt man in Wägen I Man denke doch, daß es in Eichendorffs schönem Lied „O Täler weit, o Höhen" am Schluß hieße „Schlag noch einmal die Bögen um mich, du grünes Zelt 1" Auch von den Fremdwörtern sind viele in den Umlaut hineingezogen worden. Hier hat man die Entwicklung durchaus zu begrüßen, da sich darin die Kraft der deutschen Sprache erweist, das Fremde ihren eigenen Gesetzen dienstbar zu machen. So lauten nicht bloß Lehnwörter um, deren fremde Herkunft kaum mehr fühlbar ist, wie Pläne, Bässe, Bischöfe, sondern auch Wörter, die man noch lebhaft als Fremdwörter empfindet, wie Altä e, Paläste, Tenöre, Kanäle, Chöre, Choräle. Von anderen wird die Mehrzahl noch ohne Umlaut gebildet, wie Admirale, Gendarme, Kommodore. Auch zwischen der starken und der schwachen Beugung hat die Mehrzahlbildung der Fremdwörter vielfach geschwankt und schwankt zum Teil noch jetzt. Im achtzehnten Jahrhundert sagte man Katalogen, Schleiermacher schrieb noch Monologen} jetzt heißt es Kataloge, Monologe. Auch von Magnet bevorzugt die Sprache jetzt die starke Mehrzahl Magnete, trotz Planeten und Kometen. Umgekehrt hat man jetzt Autographen und Paragraphen all den übrigen -graphen
Mann, Männer und Leute
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angepaßt. Effekte und Effekten werden dem Sinne nach unterschieden: Effekte sind Wirkungen, Effekten Wertpapiere oder in dem Kauderwelsch der Sprache kaufmännischer Reisender: Habseligkeiten, Gepäck usw.; es ist noch nicht lange her, da gab es in besonderen Geschäften auch „Militär- und Vereinseffekten". Doch von dem Unfug des Gebrauchs so unnützer und blasser Fremdwörter an anderer Stelle! Vor allem aber: wo deutsche Mehrzahlendungen von Fremdwörtern vorhanden sind, da gebrauche man sie unbedingt! Wer will sich mit Dramata, Themata, Examina u. a. plagen, wenn sich ihm Dramen, Themen, Examen zur Verfügung stellen? Dann werden auch solche Verirrungen unterbleiben, wie die Thematas mitten in dem größten Roman der ehrwürdigen Ina Seidel. Als Mehrzahl von Komma verwenden wir nicht Kommata, sondern schlicht: die Komma, wofern man nicht die deutschen ..Beistriche" bevorzugt.
Mann, Männer und Leute Zu Mann gibt es eine ganze Reihe von Mehrzahlformen. Die älteste heißt, der alten „Unbeugsamkeit" des Wortes entsprechend, wie die Einzahl: Mann. In der Soldaten- und Schiffssprache ist das noch gang und gäbe: Alle Mann auf Deck! Das bereits aufgegebene Mannen war zuletzt in der Sprache der Bünde wieder hochgekommen; den Jungfrauen entsprechend bildete man dort die Bezeichnung Jungmannen. Die gewöhnliche Mehrzahl Männer ist in einigen Fällen von Leuten zu unterscheiden. Wo es irgendwie auf standesmäßige Zusammenfassung ankommt, wird die Mehrzahl durch Leute ersetzt: Werkleute, Landleute, Hauptleute. Mehrere Angehörige der Feuerwehr sind Feuerwehr-
2 Wuttmann, Spracbdumxnheiten.
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Die Stiefeln oder die Stiefel?
Männer. Von dem im Vereinsleben aufgekommenen Obmann stehen die Obmänner und Obleute in gleicher Geltung nebeneinander; wo Männer und Frauen miteinander gemeint sind, werden sicherlich die Obleute bevorzugt werden. Dagegen stehen Ehemänner und Eheleute scharf geschieden nebeneinander; unter Eheleuten versteht man Mann und Frau zusammen.
Die Stiefeln oder die Stiefel? Von den Hauptwörtern auf et und er gehören die weiblichen der schwachen Beugung an (Nadeln, Windeln, Kacheln, Kurbeln, Stenern, Wimpern; auch die KlafternI)1), die männlichen und sächlichen gehören zur starken Beugung (Schlüssel, Mantel, Achtel, Siegel, Kabel; Winter, Laster, Kloster, das Steuer). Die Regel läßt sich sehr hübsch bei Tische lernen: man vergegenwärtige sich nur die richtige Mehrzahl von Schüssel und Teller, Messer, Gabel und Löffel, Semmel, Kartoffel und Zwiebel, Auster, Hummer und Flunder. Sie gilt, wie die Beispiele zeigen, ebenso für ursprüngliche deutsche wie für Lehnwörter. Also sind Mehrzahlformen wie Buckeln, Möbeln, Stiefeln, Schlüsseln, Titeln, Ziegeln, Aposteln, Hummern falsch. Ein Fehler ist auch: die Trümmern (in Trümmern schlagen); denn die in der Bergmannsprache und in oberdeutschen Mundarten noch heute gebräuchliche Einzahl davon heißt: der oder das Tramm, also lautet die Mehrzahl: die Trümmer. Immerhin neigt die Sprache dazu, zu der bequemen schwachen Mehrzahlform überzugehen; so sind entgegen der Hauptregel von Muskel, Stachel, Pantoffel, Vetter und Gevatter die schwachen Formen in der Mehrzahl durchx ) In der Sprache der Technik, wo Mutter mehrfach in übertragenem Sinne gebraucht wird, bildet man unbedenklich sogar die Muttern (die Schraubenmuttern).
Worte oder Wörter?
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gedrungen. Bemerkt sei auch, daß die Korken sich neben dem früher allein möglichen Korke ganz und gar durchgesetzt haben.
Worte oder Wörter? Die meisten reden von Fremdwörtern, manche aber auch von Fremdworten. Was ist richtig? Die Mehrzahlendung er kam ursprünglich nur einigen Wörtern sächlichen Geschlechts z u : Lamm, Kalb, Rind, Huhn, Ei, Reis; sie ist mit der Zeit auf immer mehr Wörter sächlichen und auch auf solche männlichen Geschlechts übertragen worden. Bei manchen Wörtern hat sich nun neben der jüngeren Form auf er auch noch die ältere erhalten. Dann erscheint diese gewöhnlich als die edlere, zum Teil ist sie auf die Ausdrucksweise des Dichters oder des Redners beschränkt. Man denke an Denkmale und Denkmäler, Gewände und Gewänder, Lande und Länder, Tale und Täler (Es geht durch alle Lande ein Engel still umher — Die Tale dampfen, die Höhen glühn und ähnliches). Bei einigen Wörtern hat sich auch zwischen der älteren und der jüngeren Form ein Bedeutungsunterschied gebildet. So unterscheidet man Gesichte und Gesichter: Gesichte sind Erscheinungen (im Faust: die Fülle der Gesichte), Lichte und Lichten Lichte sind Kerzen (Wachslichte, Stearinlichte), Lichter sind Flammen (durch das Fenster strahlen unzählige Lichter; Sonne, Mond und Sterne sind die Himmelslichter; im Grunde tanzten Irrlichter), in der Weidmannssprache sind Lichter die Augen des Wilds. Ferner Bande (des Bluts, der Verwandtschaft, der Freundschaft) und Bänder (am Kleid). Neben den Banden und den Bändern stehen noch die Bände (der Roman hat drei Bände). Bisweilen kommt auch noch ein Geschlechtsunterschied dazu: Schilde (der Schild) gehören zur Rüstung; Schilder (das Schild) sind an den Kaufmannsläden. So kam auch neben der Mehrzahl die Wort oder die Worte die Form auf -er auf: die Wörter. In der Bedeutung wurde
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Worte oder Wörter?
anfangs kein Unterschied gemacht. Im achtzehnten Jahrhundert aber begann man unter Wörtern bloße Teile der Sprache, wie sie in einem Wörterbuch aufgereiht sind, unter Worten Teile zusammenhängender Rede zu verstehen. Man sprach also nun von Hauptwörtern, Zeitwörtern, Wörterbüchern, dagegen von Dichterworten, Textworten, Vorworten (Vorreden), schöne Worte machen usw. An diesem Unterschied wird seitdem allgemein festgehalten. Sinn und Zusammenhang haben nur Worte; Wörter sind zusammenhanglos aufgereiht. Nur die „Sprichwörter" machen für sich eine Ausnahme. Im Volke ist eine starke Neigung vorhanden, die Mehrzahlendung auf -er immer weiter auszudehnen. Schon volkstümliche Scherzverse geben da oft einen guten Fingerzeig: Salz und Brot macht die Wangen rot, aber Batterbröter machen sie noch röter. Wenn nicht die geheime Neigung, die Zuneigung Zum -er in einem steckte, hätte man nie so „gedichtet". Kleine Händler preisen ihre Rester an; über Geschmäcker ist nicht zu streiten; ich besitze davon Stücker sieben; mit den Dingern ist man überall da zur Hand, wo man zu unwissend oder zu faul ist, einen Gegenstand mit seinem Namen zu benennen 1 Auch junge Mädchen heißen gern: nette Dinger, muntere Dinger; Davids Abschiedsgruß an die Mädel der Festwiese in den „Meistersingern": „Ade, ihr hübschen Dinger." Und so geht es im Volksmund fort. Im Gegensatz dazu hat die Schriftsprache die Endung -er bisweilen selbst da wieder zurückgedrängt, wo sie eine Zeit lang ausschließlich im Gebrauch war: während früher die Mehrzahlörter ganz gebräuchlich war, ist sie in neuerer Zeit fast ganz verschwunden; aus Scheitern sind wieder die Scheite geworden; nur die Mathematik spricht noch von örtern. Dagegen hat die Mehrzahl Gehälter gleichzeitig mit dem sächlichen das Gehalt von Norddeutschland aus große Fortschritte gemacht. Man empfindet es als willkommene Bereicherung der Sprache, daß wir jetzt wenigstens in Nord- und Mitteldeutsch-
Das s der Mehrzahl
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land unterscheiden: der Gehalt (Gedankengehalt, Silbergehalt des Erzes) und das Gehalt (Besoldung). Ähnlich auch: der Verdienst und das Verdienst, wo freilich die Bedeutung gerade umgekehrt ist.
Das s der Mehrzahl Wenn wir von Genies, Pendants, Etuis, Portemonnaies, Clips, Beefsteaks und Stars reden, so ist das s das französische und englische Mehrzahl-s, das diesen Wörtern zukommt. Aber man redet jetzt auch von Jungens und Mädels, von Fräuleins, Kerls und Schlingels, Hochs, Hurras und Krachs, Bestecks, Fracks, Blocks (BauWocfa), Echos, Vergißmeinnichts und Stelldicheins, Galopps, Tingeltangels und Trupps (Studententrupps), Wenns und Abers, Ws und Ts, und Universitätslehrer kündigen am schwarzen Brett ihre Kollegs an. Dies Mehrzahl-s stammt aus der niederdeutschen Mundart. Wahrscheinlich ist es dort über die Niederlande aus dem Französischen eingedrungen; dann würde es schließlich auch auf die romanische Quelle zurückgehen. Es ist im Hochdeutschen an alle Fremdwörter gekommen, die auf Selbstlaut ausgehen: Sofa, Echo, Polka usw., wo das s gefälliger klang, ab wenn man an den schon vorhandenen Selbstlaut noch ein e angehängt hätte. Dann gebrauchte man das s, wenn man zu Formwörtern wie „wenn" und „aber" die Mehrzahl bilden wollte, und schließlich ist es auch an andre deutsche Hauptwörter gehängt worden. Wenn wir jedoch sagen: Heute waren wir bei Maiers = bei der Familie Maier, so liegt hier kein Mehrzahl-, sondern das Wesfall-s vor, indem dabei Hof oder Haus zu ergänzen war. Hierher gehören auch Bildungen wie Doktors, Apothekers als Bezeichnung der Doktor-, der Apothekeifamilie. Das ist also gutes Deutsch. Bei nicht ganz wenigen Wörtern finden wir jetzt ein Schwanken der Mehrzahlbildungen mit und ohne s; Fremd-
22 Fünf Pfennig oder fünf Pfennige? Fünf Blätter u. fünfBlatt Wörtern wirft man dadurch ein deutsches Mäntelchen um, daß man wenigstens ihre Mehrzahl dem deutschen Sprachgcsetz unterwirft. Es ist noch nicht lange her, daß man aus Pralines die Pralinen machte, neben die früher allgemein üblichen Korsetts traten die Korsette, Programms wechseln mit Programmen, Balkons (eigentlich sollte jedermann an ihrem x-Laut Anstoß nehmen) mit Baikonen, Schecks mit Schecken. Aber auch rein dcutschc Wörter sind doppelendig: man sagt Bräutigams und Bräutigame, Kerls und Kerle u. a. m. Ob sich beim Wort Block ein Unterschied durchsetzen wird, derart, daß unter Blocks Papierblocks, unter Blöcken Häuser-, Holzblöcke u. dergl. zu verstehen seien, ist noch nicht sicher zu sagen. Zweifellos sind überall, wo Doppelformen mit und ohne s' nebeneinander bestehen, die ohne s als die unserer Sprache angestammten vorzuziehen. Beschämend ist das Mehrzahl-s in Formen wie Sotts, Kollis und Portis. Hier ist es an die italienische Mehrzahl gehängt! Die Einzahl heißt ja Solo, Porto und Kollo. Freilich wird auch schon in der Einzahl das Kolli gesagt, und nicht bloß von Markthelfern und Laufburschen I
Fünf Pfennig oder fünf Pfennige? Fünf Blätter und fünf Blatt Wenn fünf Pfennigstücke auf dem Tische liegen, so sind das unzweifelhaft fünf Pfennige; wenn ich aber mit diesen fünf Pfennigen (oder auch mit einem Fünfer) eine Briefmarke bezahle, kostet die dann fünf Pfennige oder, wie auf dem Fünfer steht, fünf Reichspfennig? Bei Angaben von Preis, Gewicht, Maß usw. ist oft eine Mehrzahlform üblich, die sich von der Einzahl nicht unterscheidet, wenigstens bei Wörtern männlichen und sächlichen
FünfPfennig oder fünf Pfennige ? Fünf Blätter n. fünf Blatt 23 Geschlechts1), wie bei Pfennig, Pfund, Lot, Fuß, Zoll, Faß, Glas (zwei Glas Bier), Maß, Ries, Buch (drei Buch Papier), Blatt2), Schritt, Schuß (tausend Schuß), Stock (drei Stock hoch); ebenso bei hundert und tausend (vierhundert, fünfzigtausend), aber: er hat Hunderte (Jausende) eingebüßt. Diese Formen sind zum Teil alte Mehrzahlformen, zum Teil solche, die ihnen nachgebildet worden sind. Für die kaufmännische Rechnung erwies es sich als bequem, in all diesen Fällen das Wort als unveränderliches Zeichen zu handhaben. Während man den alten Taler noch abwandeln konnte und etwa ein Buch mit zwei Talern bezahlte, ist das bei Mark schon nicht mehr möglich: das Wort ist als Münze unveränderlich, aber auch wo man die Anzahl zählen will, muß man sagen: hier liegen sieben Mark. Bei manchen der vorher Genannten steht als Maß das starr gewordene Zeichen, sonst das beugbare Wort: ich habe zwei Glas getrunken, jedoch zwei Gläser zertrümmert. Faß und Fässer, Fuß und Füße, Schritt und Schritte, Schuß und Schüsse unterscheiden sich gleicherweise. Wo immer aber die Angabe von Preis und Maß vom Volk noch abgewandelt wird, soll man sich dessen freuen und es keinesfalls für falsch erklären. So wechselt auch das Volkslied, je nach dem Rhythmus, der notwendig ist. Das alte Scherzlied von der Seestadt Leipzig klagt: „Und ein einzig Lot Kaffee kam auf sechzehn Pfennigee", während es in dem vielgesungenen Hussitenlied heißt: „Und ein einzig Lot Kaffee kam auf sechzehn Pfennig!" J ) Von Wörtern weiblichen Geschlechts wird immer eine erkennbare Mehrzahl gebildet: zwei Mandeln Eier, zehn Klaftern Holz (hier freilich setzt sich die Mehrzahl Klafter sichtbar durch), drei Ellen Band, sechs Flaschen Wein, doch drei Mark. *) Wenn aber ein Antiquar von einem wertvollen alten Druck sagt t Fünf Blatt sind stockfleckig, so ist das natürlich falsch.
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Schwankendes Geschlecht
Schwankendes Geschlecht Was das Geschlecht anbelangt, lassen sich nicht viel „Sprachdummheiten" machen. Wo etwa der Gebraucher unsicher ist, liegt es gewöhnlich daran, daß in der Tat mehrere Möglichkeiten da sind. Denn unsere Sprache hat häufiger, als man gemeinhin weiß, das Geschlecht der Wörter vertauscht. So war Teil früher überwiegend sächlich, wie aus dem alten Bestand von Redensarten, Bibelworten und Zusammensetzungen noch klar hervorgeht. Sagt doch jedermann noch: ich für mein Teil, ein gut Teil Frechheit, das Erbteil, das Drittel, sein Teil dahin haben usw. In der Gegenwart aber hat der männliche Gebrauch die Oberhand gewonnen. Wir wollen hier nur wenige Fingerzeige geben, um landläufige Fehler vermeiden zu helfen. Nach den Regelbüchern heißt das Längenmaß jetzt die Klafter. Es heißt hochdeutsch das Schmälz gegen mundartliches der Schmalz. Bei dem Wort Bleistift ist, von Süddeutschland ausgehend, eine ärgerliche Verwirrung eingetreten; es kann natürlich nur der Bleistift heißen, da der Stift etwas ganz anderes ist als das Stift; die fälschlich vielgebrauchte sächliche Form erklärt sich nur aus der Verkürzung das Blei. Bei einigen Wörtern weiß nicht jeder, daß sie in verschiedener Bedeutung verschiedenes Geschlecht verlangen. Staaten nennen den Vertrag untereinander, Frauen den Schnürrand an ihrem Rock den Bund, während zusammengeschnürte Radieschen und ähnliches das Bund heißen müssen. Bekanntlich ist der Name des obenauf gebundenen Musterstückes „Ausbund" dann auch auf einen ausgezeichneten Menschen übertragen worden, und so hat der Ausbund sein männliches Geschlecht erhalten. Das Chor oder der Chor ist der erhöhte Kirchraum, wo der Chor singt. Nach dem Vorbild des griechischen Wortes, das ausschließlich eine Menschen-
Schwankendes Geschlecht
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gruppe bezeichnet, hat dieser Chor sein männliches Geschlecht behalten. Wo sonst noch Zweigeschlechtigkeit herrscht, ist der Sinnunterschied allgemein bekannt, wie bei Schild, Gehalt, Bauer, Verdienst, oder es ist gar keiner vorhanden. So ist es gleichgültig, ob man der oder das Knäuel, der oder das Pendel, der oder das Bereich, der oder die Zehe, der oder die Geisel sagt. Die Wörter auf -meter treten mehr und mehr zum männlichen Geschlecht über, weil die Sinn- und Wortgleichheit mit dem muttersprachlichen Messer auf der Hand liegt; nur Baro-, Thermo- und Hygrometer schwanken noch. Der Gasometer ist jetzt übeiall zum Gasmesser geworden. Nicht verwunderlich ist, daß Wörter wie Waise und Mündel verschieden gebraucht werden, je nachdem sie einen Knaben oder Mädchen betreifen. Freilich ist die Waise durchaus auch für Knaben üblich, und neben der männlichen und weiblichen Form ist auch das Mündel gang und gäbe. Weitverbreiteter Gebrauch verleiht allen Flugzeugnamen unterschiedlos das weibliche Geschlecht. Mir aber und gewiß auch vielen anderen geht es gegen den Strich, zu lesen: Die „Storch" verunglückte mit drei Insassen. Die Erklärung, die Flieger wohl geben, daß hier die „Maschine" zu ergänzen sei, befriedigt nicht, denn dem Gefühl des Laien ist ein Flugzeug nicht in erster Linie Maschine, und tatsächlich setzt man das Wort Maschine doch auch nie dem Namen bei. Es wäre sehr erwünscht, wenn auch die Flugzeuge die Norm der Seemannssprache annähmen. Freilich neigt auch der Seemann dazu, die Schiffe weiblich zu benennen: jedes englische Schiff ist weiblich, obschon es da bei der Einheit des Geschlechtsworts the nicht so in Erscheinung tritt. Vielleicht haben wir darin uralten niederdeutschen Brauch erhalten. Der Matrose erwidert auf die Scherzfrage, weshalb er denn die Schiffe so gern als Weiber bezeichne: „von wegen der Auftakelung"! Im richtigen Deutsch aber erhalten
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Jeden Zwanges oder jedes Zwanges?
jetzt alle Schiffe das ihnen „zukommende" Geschlecht; und so heißt es allein: der „Iltis", der „Klabautermann", wogegen die „Hansa" usw. Namen, die in der deutschen Sprache kein Geschlechtswort haben, also alle Städte und Länder, erhalten ein die, also die „Hessen", die „Deutschland", die „Emden". Mit Fug und Recht möge bei Flugzeugen dieselbe Regel gelten.
Jeden Zwanges oder jedes Zwanges? Zu den unbehaglichsten Stücken der deutschen Sprachlehre gehört die Beugung miteinander verbundener Hauptund Eigenschaftswörter. Heißt es: jeden Zwanges oder jedes Zwanges? auf Grund weichen Gesetzes oder welches Gesetzes? sämtlicher deutscher Stämme oder sämtlicher deutschen Stämme! großer Gelehrter oder großer Gelehrten? ein schönes Ganzes oder ein schönes Ganze? von hohem künstlerischen Werte oder von hohem künstlerischem Werte? So unwichtig die Sache manchem vielleicht scheint, so viel Verdruß oder Heiterkeit bereitet sie dem Fremden, der Deutsch lernen möchte, und so beschämend ist es für uns Deutsche selbst, wenn wir ihm sagen müssen: wir wissen selber nicht, was richtig ist, sprich, wie du willst 1 Mit einigem gutem Willen ist aber doch vielleicht zu ein paar klaren und festen Regeln zu gelangen. Die Eigenschaftswörter können stark und auch schwach gebeugt werden. In der schwachen Form haben sie nur die Endungen e und en, in der starken haben sie die Endungen des hinweisenden Fürwortes: es, em, en usw. Nach der starken Beugung gehen sie, wenn sie ohne vorhergehendes Geschlechtswort allein beim Hauptwort stehen, und in der Einzahl, wenn ein Fürwort ohne Endung vorhergeht: ein kleines Haus, mein guter Hans, du alter Freund, dir altem Freund, unser geliebter Rundfunk. In allen anderen Fällen gehen sie schwach. Es muß also heißen: guter Hoffnung, schwieriger Fragen, dagegen des geraden Wegs, der guten Hoff-
Mit echtem Kölnischen oder Kölnischem Wasser?
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mmg, der, dieser, welcher, solcher schwierigen Fragen, auch derartiger und folgender schwierigen Fragen, beifolgendes klone Buch (denn derartiger steht für solcher, folgender und beifolgender für dieser). So ist die ältere Sprache überall verfahren, dann aber hat sich die Sprache selbst eine Ausnahme geschaffen: den Wesfall der Einzahl. Luther kennt Wesfälle wie säßen Weines fast noch gar nicht. Im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert aber drang, obgleich Sprachkundige eifrig dagegen ankämpften, bei dem männlichen und dem sächlichen Geschlecht im Wesfall der Einzahl immer mehr die schwache Form ein, und gegenwärtig hat sie sich fast überall festgesetzt, man sagt: frohen Sinnes, reichen Geistes, weiblichen Geschlechts, größten Ausmaßes. Höchstens gutes Muts, reines Herzens, gerades Wegs (nach den Regelbüchern: geradeswegs neben geradenwegs) wird zuweilen noch gesagt. Die unbestimmten Zahlwörter (jeder, all, viel, mancher) nehmen eine Zwischenstellung ein zwischen Eigenschaftsund Fürwörtern, wie sie ja ihrer Herkunft nach das eine, ihrem Gebrauch nach das andere sind. Da die starke Beugung nach Kraft und Deutlichkeit den Vorzug verdient, sollte man sie nach Möglichkeit halten, und da die Fürwörter mein, dieser, jener usw. stark gebeugt werden, so sollten wir auch jedes Zwanges, manches Freundes, vieles Kummers, alles Leids bevorzugen; bloß jedenfalls und allenfalls halten an ihren n-Formen fest. Mit echtem Kölnischen oder Kölnischem Wasser? Wenn zu einem Hauptwort mehrere Eigenschaftswörter treten, so ist es selbstverständlich, daß sie gleichmäßig gebeugt werden müssen. Es darf demnach auch nur heißen, daß jemand nach langem, schwerem Leiden oder nach schmerzhafter, mit Geduld ertragener Krankheit gestorben seil
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Mit echtem Kölnischen oder Kölnischem Wasser?
Manche haben dagegen gelehrt: nur wenn zwei Eigenschaftswörter allein, ohne Geschlechts- oder Fürwort, gleichwertig vor einem Hauptwort stünden, müßten sie gleichmäßig behandelt werden, z. B. Tiere mit rotem, kaltem Blute, nach langem, heißem Bemühen; wenn dagegen das zweite mit dem Hauptwort einen einheitlichen Begriff bilde, der durch das erste nur näher bestimmt werde, so müsse das zweite schwach gebeugt werden, wie wenn es hinter einem Fürwort stünde, z. B. mit echtem Kölnischen Wasser,, nach allgemeinem deutschen Sprachgebrauch, von großem praktischen Wert, aus süddeutschem adligen Besitz. Ebenso müsse im Wesfall der Mehrzahl unterschieden werden zwischen: frischer, süßer Pflaumen (denn die Pflaumen seien frisch und süß) und scharfer indianischen Pfeile, einheimischer geographischen Namen, ehemaliger freien Reichsstädte (denn die Reichsstädte seien nicht ehemalig und frei, sondern die freien Reichsstädte seien ehemalig). Diese Unterscheidung ist gedanklich unzweifelhaft richtig, und in der Zeichensetzung muß sie auch zum Ausdruck kommen. Denn gleichgeordnete Eigenschaftswörter werden durch Beistrich getrennt, während zwischen zwei Eigenschaftswörtern, vön denen eins dem andern übergeordnet ist, kein Beistrich stehen darf. Grammatisch aber ist die Unterscheidung die reine Willkür. Warum sollte sie auch gerade auf diese beiden Fälle beschränkt werden? Auf den Wemfall der Einzahl und den Wesfall der Mehrzahl? Nur in diesen beiden Fällen aber soll sie gelten, sonst fällt es niemand ein, das zweite Beiwort jemals in die schwache Form zu bringen. Oder sagt jemand: ohne selbständiges geschichtliche Studium? wegen bewährter vaterländischen Gesinnung? Lassen wir also diese von der Sprache selbst nicht anerkannte Unterscheidung! Manche Leute glauben gar, daß Eigenschaftswörter, deren Stamm auf m endigt, nur einen schwachen Wemfall bilden könnten, weil -mem „schlecht klinge", daß es also
Sämtlicher deutscher oder sämtlicher deutschen Stämme?
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heißen müsse: mit geheimen Kummer, mit stummen Schmerz, mit grimmen Zorn — ein ganz törichter Aberglaube! Sämtlicher deutscher oder sämtlicher deutschen Stämme? Große Unsicherheit herrscht in der Beugung der Eigenschaftswörter im Wesfall der Mehrzahl nach den Zahlbegriffen alle, keine, einige, wenige, einzelne, etliche, manche, mehrere, viele, sämtliche, denen sich auch die Eigenschaftswörter andre, verschiedene und gewisse anschließen, die beiden letzten, wenn sie in dem Sinne von mehrere und einige stehen. Da sagt man: aller guten Dinge, mancher kleinen Fürsten, einzelner ausgezeichneten Schriftsteller, verschiedener schweren Bedenken, gewisser reaktionären Kreise, aber auch: vieler andrer Gebiete, vieler damaliger preußischer Beamten, einzelner großer politischer Ereignisse, gewisser gotischer Merkmale. Sollte es denn nicht möglich sein, hier Ordnung und Regel zu schaffen? Tatsache ist, daß nach allen diesen Wörtern die Eigenschaftswörter ursprünglich stark gebeugt worden sind. Nur nach zweien von ihnen ist die schwache Form endgültig durchgedrungen: nach alle und keine. Sollte das nicht einen tiefem Grund haben? Finden wir sie nicht gerade auch hinter dem bestimmten Geschlechtswort, hinter den hinweisenden (dieser und jener, solche und welche) und hinter den besitzanzeigenden Fürwörtern mit Endung (meines, deinem usw.) ? Wie es sich in all diesen Fällen um etwas ganz Bestimmtes handelt, so auch bei alle und seinem Gegenspiel keine. Auch hinter sämtliche wäre die schwache Form am Platze, denn sämtliche bedeutet ja dasselbe wie alle, also eine bestimmte Menge. Alle übrigen aber bezeichnen eine unbestimmte Menge (viele, einige, manche usw.). Da wäre überall die starke Form vorzuziehen, wie sie bei den geschlechtswortlosen
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Ein schönes Äußeres oder Äußere?
Hauptwörtern sonst herrscht, gegen die Unsicherheit des Sprachgebrauchs, die übrigens auch den Werfali der Mehrzahl schon erfaßt hat. Es soll also heißen: viele junge Leute, manche bittre Erfahrungen, verschiedne schwere Bedenken und ebenso im. Wesfall: vieler junger Leute, mehrerer andrer ausländischer Blätter, aber: sämtliche losgelassenen Brieftauben, solche bewährten Fachleute und aller (sämtlicher) deutschen Stämme.
Ein schönes Äußeres oder Äußere? Großer Gelehrter oder Gelehrten! Zu Hauptwörtern gewordene Eigenschafts- und Mittelwörter nahmen in der ältesten Zeit stets die schwache Form an, auch hinter dem unbestimmten Geschlechtswort. Reste davon sind ein Junge und ein Untertan(e), eigentlich ein Unter(ge)taner. Später ist auch bei solchen Eigenschaftsund Mittelwörtern hinter ein die starke Form eingetreten: ein Heiliger, ein Kranker, ein Fremder, ein Gelehrter, ein Verwandter, ein Junges (von Hund oder Katze), ein Ganzes, und stark wird jetzt auch überall die alleinstehende Mehrzahl gebeugt: Heilige, Verwandte, Geistliche, Gelehrte. Werden aber diese zu Hauptwörtern gewordenen durch ein anderes Eigenschaftswort bestimmt, so schwankt der Sprachgebrauch, ohne daß man das eine oder andere dabei verwerfen kann. Einerseits liebt es die Sprache, zwei beieinanderstehende Eigenschaftswörter gleichzuschalten und gleichmäßig abzuwandeln, auf der anderen Seite wird das zum Hauptwort gewordene Eigenschaftswort hier gegenüber dem ersten durch die schwache Beugung kenntlich gemacht. So stehen nebeneinander ein schönes Ganze (noch genau so wie ein tapferer Junge), mein ganzes Innere, von auffälligem Äußern, mit zerstörtem Innern} im Wesfall der Mehrzahl: eine Anzahl wunderlicher Heiligen, eine Versammlung evangelischer Geistlichen, ein Kreis lieber Verwandten, die
Das Deutsche und das Deutsch
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Stellung höherer Beamten, die Arbeiten großer Gelehrten, ein Kreis geladener Sachverständigen — und daneben die starke Form: ein schönes Ganzes, mein ganzes Inneres, ein ungewöhnliches Äußeres, mit zerrüttetem Innerm, und im Wesfall der Mehrzahl: ein Dutzend deutscher Gelehrter, das Eigentum französischer Staatsangehöriger, der Bund deutscher Bühnenangehöriger, der Verband rheinischer Industrieller, die Zustimmung vieler amerikanischer, spanischer und französischer Gelehrter, die Einbildung etlicher wunderlicher Heiliger usw. Die gehäuften es und er in den Endungen klingen nicht gerade schön. Unsre besten Schriftsteller haben geschrieben: Briefwechsel zweier Deutschen, Lieder zweier Liebenden, inmitten eifersüchtiger Fremden usw. Trotzdem gibt der Sprachgebrauch in der Mehrzahl den starken Formen den Vorzug. Wer die Wörter Gelehrter, Beamter, Verwandter usw. noch als Eigenschaftswörter fühlt, mag sie ruhig so gebrauchen. „Ihm als Beamtem ist es nicht erlaubt" ist bestimmt ebenso richtig wie „Ihm als Beamten". Nur für den Wesfall besteht allein die schwache en-Endung: ich gedenke seiner als Gelehrten.
Das Deutsche und das Deutsch Die Sprach- und die Farbenbezeichnungen bilden ein sächliches Hauptwort in zwei Formen nebeneinander, in einer Form mit Endung und einer ohne Endung: das Deutsche und das Deutsch, das Englische und das Englisch, das Blaue (ins Blaue hinein reden) und das Blau (das Himmelblau), das Weiße (im Auge) und das Weiß (das Eiweiß). Zwischen beiden Formen ist aber ein fühlbarer Unterschied. Das Deutsche bezeichnet die Sprache überhaupt, und dem schließt sich auch das Hochdeutsche, das Plattdeutsche usw. an. Sobald aber irgendein Zusatz hinzutritt, der eine besondere Art oder Form der deutschen Sprache bezeichnet.
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Wir Deutsche oder wir Deutschen ?
wird die kürzere Form gebraucht: das heutige Deutsch, eiu fehlerhaftes Deutsch, das beste Deutsch, Goethes Deutsch, mein Deutsch, das Rechtsdeutsch, das Tintendeutsch (Goethe im Faust', in mein geliebtes Deutsch zu übertragen; der Deutsche ist gelehrt, wenn er sein Deutsch versteht). Ebenso bei Farben: ein feuriges Rot, das Rot, welches mir ansteht. Die längere Form: das Deutsche, das Blaue muß natürlich schwach gebeugt werden: der Lehrer des Deutschen, das beste Zeugnis im Deutschen, ein Kirchlein steht im Blauen, Willkommen im Grünen 1 Und die Kurzformen: das Deutsch, das Gelbt Sind sie ganz unbeugbar? Die Unmöglichkeit, einen Wemfall auf e davon zu bilden, scheint dafür zu sprechen; gleichwohl läßt sich gegen einen starken Wesfall schlechterdings nichts einwenden. Goethe spricht von den „Abschattungen eines gesättigten Gelbs", auch von den „Formen dieses Rotwälschs". Warum sollten wir nicht die gleichen Formen pflegen? „Des heutigen Deutschs" klingt keinesfalls härter als des Erdrutschs oder Stadtklatschs. Schließlich soll man die Spracherstarrung bekämpfen, wo immer man sie findet; und was ist es anderes, wenn wir hören: des heutigen Deutsch oder die Schwierigkeiten des Latein?
Wir Deutsche oder wir Deutschen? Ist es richtiger, zu sagen: wir Deutsche oder wir Deutschend Diese Frage, die eine Zeit lang viel Staub aufgewirbelt hat, wäre wohl gar nicht entstanden, wenn nicht Bismarck in der bekannten Reichstagssitzung vom 6. Februar 1888 den Ausspruch getan hätte, der dann auf zahllosen Erzeugnissen des Gewerbes (Bildern, Gedenkblättern, Denkmünzen, Armbändern usw.) angebracht worden ist: Wir Deutsche fürchten Gott, sonst nichts auf der Welt. Denn so hat er nach den Kurzschriftberichten gesagt, und so war er also wohl gewohnt zu sagen. Aber schon der Umstand, daß die Zeitungen
Nach Meldungen Dresdner Zeitungen
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am 7. Februar (vor dem Erscheinen der amtlichen Berichte!) druckten: Wir Deutschen, und daß sich die Gewerbetreibenden vielfach zu vergewissern suchten, wie er denn eigentlich gesagt habe, zeigt, daß seine Ausdrucksweise auffällig war; dem Volksmunde war geläufiger: wir Deutschen, obwohl es in der Einzahl heißt: ich Deutscher, und heute vollends sagt niemand mehr: wir Arme, ihr Reiche, wir Alte, ihr Junge, sondern wir Armen (Gretchen im Faust: am Golde hängt, nach Golde drängt doch alles, ach wir Armen!), ihr Reichen, wir Alten, ihr Jungen, wir Wilden (Seume: wir Wilden sind doch bessre Menschen), wir Geistlichen, wir Gesandten, wir Unterzeichneten, wir armen Deutschen, wir Deutschen sind halt Deutschet Es ist gar nicht einzusehen, weshalb gerade die Deutschen von all diesen hauptwörtlichen Eigenschaftsund Mittelwörtern eine Ausnahme machen sollen. Daß im Wenfall der Mehrzahl die starke Form vorgezogen worden ist: uns Deutsche, hat seinen Grund wahrscheinlich 'darin, daß man ihn sonst nicht hätte vom Wemfall unterscheiden können (bei Burkhard Waldis aber: und das Reich an uns Deutschen kummen).
Nach Meldungen Dresdner Zeitungen Ein Fehler, für den leider in den weitesten, auch in sprachlich gebildeten Kreisen gar kein Gefühl mehr vorhanden zu sein scheint, steckt in Verbindungen wie: Verein Leipziger Gastwirte, Ausschank Pilsener Biere, Verein Berliner Künstler, die frühesten Namen Hamburger Konsuln, nach Meldungen Dresdner Zeitungen. Das Thüringen-Haus in Berlin enthielt früher „Ausstellungen Thüringer Wertarbeit Die von Ortsnamen gebildeten Formen auf -er werden jetzt als Eigenschaftswörter aufgefaßt, obschon sie eigentlich Wesfälle von Hauptwörtern sind. (Der Hamburger Bürger-
S
Wustmann, Sprachdummheiten.
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Nach Meldungen Dresdner Zeitungen
meister ist ursprünglich der Bürgermeister der Hamburger.) Ihr Herkommen erkennen wir noch an der festgehaltenen Großschreibung und daran, daß sie stets unverändert bleiben. Demnach kann man bei den „Meldungen Dresdner Zeitungen" nicht unterscheiden, welchen Fall die Verbindung darstellen soll. Der Fehler liegt darin, daß man sich durch den ursprünglichen Wesfall „Dresdner" und seine Endung -er verführen läßt, den Wesfall des Ganzen nicht noch einmal zu bezeichnen. Und doch ist der Wesfall unter allen Umständen deutlich zu machen 1 So richtig man sagt: eine Versammlung deutscher Gastwirte, so falsch ist: der Verein Leipziger Gastwirte. Der vorangestellte Wesfall Leipziger setzt die nachfolgenden Gastwirte noch lange nicht in den gleichen Fall! Es bleibt nichts anderes übrig als zu sagen: Verein der Leipziger Gastwirte oder Verhaftung von Magdeburger Einwohnern. Ebenso leicht läßt man sich durch dessen und deren verführen. Falsch ist: wir gedenken dessen Treue und Hingabe; denn durch nichts ist Treue und Hingabe als Wesfall bezeichnet! Falsch ist ferner: die Briefe Goethes an seinen Sohn während dessen Studienjahre in Heidelberg — eine Darstellung der alten Kirche und deren Kunstschätze — eine Aufzählung aller Güter und deren Besitzer — zum Besten der Verunglückten und deren Hinterbliebenen. Hier ist der Schnitzer leicht zu beseitigen; es muß heißen: seiner Treue und Hingabe usw., ihrer Hinterbliebenen und — der Wesfall wird erkennbar. Der sprachlich fein Empfindende wird auch Wert darauf legen, hinter Verhältniswörtern den Wesfall stets deutlich zu machen. Infolge Streitigkeiten, wegen Stiefel, mangels Beweise, innerhalb vier Wochen beleidigt sein Ohr, und er selbst wird sich da stets mit einem Beisatz oder einer Umschreibung helfen: infolge von Streitigkeiten, wegen mangelnder Beweise usw.
Gedenket unsrer oder gedenket unser?
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Steigerung der Eigenschaftsworter Einigen Verstößen begegnet man auch in der Steigerung. Von viel heißt die a. Stufe nicht mehrere, sondern mehr: ich habe in meinem Garten viel Rosen, du hast mehr Rosen, er hat die meisten Rosen. Mehrere bedeutet etwa einige, etliche. Wenn also ein Hausbesitzer genötigt wird, zu bescheinigen, daß mehrere Hunde als die hier verzeichneten in seinem Hause nicht gehalten werden, so wird er genötig*, einen Schnitzer zu unterschreiben. Bei Eigenschaftswörtern, deren Stamm auf einen Zischlaut endigt, stoßen in der 3. Stufe zwei Zischlaute zusammen. Das stört nicht, wenn die Wörter mehrsilbig sind (der weibischste, der malerischste), wohl aber, wenn sie einsilbig sind (der hübschste, der süßste). Man bewahrt dann lieber das e, das sonst immer ausgeworfen wird, und sagt: der hübscheste, der süßeste, oder man hilft sich, wie Goethe im Götz mit einem kurzen: der hübschte. Von groß ist der größte allgemein üblich geworden. Sagt man doch auch du mußt für müssest, und meist schon du wünscht für du wünschest.
Gedenket unsrer oder gedenket unser? Auch in der Beugung der Fürwörter herrscht hie und da Unwissenheit oder Unsicherheit. Daß man eine Frage besprechen muß wie die: gedenke unsrer oder unser? ist leider nötig, denn der Fehler: wir sind unsrer acht — es harrt vnsrer eine schwere Aufgabe, oder: wir gedenken eurer in Liebe, kommt oft vor. Die Wesfälle der persönlichen Fürwörter ich, du, er, wir, ihr, sie heißen ursprünglich mein, dein, sein, unser, euer, ihr (vgl. Vergiß-mein-nicht). Daneben haben sich schon früh die unorganischen Formen meiner, deiner, seiner festgesetzt und die kurzen zurückgedrängt. (Geliert: der Herr hat mein noch nie vergessen, vergiß, mein Herz, auch seiner nicht). 8*
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Derer und deren
Ihr ist sogar durch ihrer ganz verdrängt worden, wohl um die Unterscheidung vom Wemfall zu ermöglichen, aber bei unser und euer ist die alte Form die einzig richtige. Unsrer und eurer sind Wesfälle des besitzanzeigenden, nicht des persönlichen Fürworts. Also: erbarmt euch unser und vnsrer Kinderl Wie das besitzanzeigende Fürwort aus dem Wesfälle des persönlichen hervorging, so haben wir noch beide Möglichkeiten beieinander in der Anrede an hochgestellte Persönlichkeiten. Die alte und noch heute gebräuchliche Form Euer Durchlaucht, Hoheit, Exzellenz zeigt vor dem Hauptwort den Wesfall Euer und behält ihn füglich durch alle Fälle: ich empfehle Euer Exzellenz, gegen Euer Exzellenz, usw. Wenn man daneben bald das einfache besitzanzeigende Fürwort verwendete, so ist das nicht zu tadeln, und dann ist natürlich abzuwandeln: Eure Hoheit, Eurer Hoheit usw. Das eine Zeitlang übliche, jetzt glücklich ausgestorbene Seiner oder Euer Hochwohlgeboren (auf Anschriften durfte man noch zu Beginn unseres Jahrhunderts das S. H. nicht auslassen!) war ein völlig unsinniges Erzeugnis einer in Dienstbeflissenheit schwelgenden Zeit.
Derer und deren Ich lebe ein Bürger derer, die da kommen werden (•= derjenigen). Die Minister und deren Angehörige ( = ihre, eorum). Die Gefährten, deren Grabstätten ich wiedersah (als bezügliches Fürwort). Die Wesfälle der Mehrzahl derer und deren sind der alten Sprache überhaupt unbekannt, sie hat nur der; beide sind — .ebenso wie die Wesfälle der Einzahl dessen und deren — erst im Neuhochdeutschen gebildet und als willkommene Unterscheidungen des betonten und lang gesprochenen Fürworts der von dem gewöhnlich unbetonten Geschlechtswort der
Man und jemand
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festgehalten worden. Derer ist nur Wesfall der Mehrzahl und steht (abgesehen von Verbindungen wie derer von Berlichingen) statt eines Hauptworts als Hinweis vor bezügl. Nebensätzen; dort verdient es den Vorzug vor dem schleppenden derjenigen. Falsch ist also „die Festnahme aller derer Bürger, die das Wohl des Ganzen geschädigt haben", denn hier ist derer zu einem Hauptwort für einfaches der gesetzt» Deren ist sowohl hinweisend: die Krankheit und deren. Heilung (d. i. ihre Heilung), und bezügliches Fürwort. Falsch ist es also, wenn Nebensätze angefangen werden: die Mängel, wegen derer man ihn abwies — die Kräfte, vermöge derer ihm das Unerhörte gelang. Bisweilen muß man jetzt lesen dessem und derem: der Dichter, dessem löblichen Fortschreiten ich mit Freuden folge — die Geschäfte werden inzwischen von dessem Stellvertreter besorgt — die fremde Kunst, bei derem Studium der Deutsche seine eigne Kunst vergaß — für die Behörden, zu derem alleinigen Gebrauch ausgefertigt. Dessen, deren sind Wesfälle, nicht beugbare Eigenschaftswörter, ebenso dergleichen Man und jemand Daß auch das unpersönliche Fürwort man gebeugt werden kann, dessen sind sich die allerwenigsten bewußt. Der Junge, der von einem andern Jungen geneckt wird, sagt: laß einen doch gehn! Auch der Erwachsene erklärt: das kann einem alle Tage begegnen. Und Lessing schreibt: macht man das, was einem so einfällt? — so was erinnert einen manchmal, woran man nicht gern erinnert sein will — muß man nicht grob sein, wenn einen die Leute sollen gehn lassen? — Goethe sagt sogar: eines Haus und Hof steht gut, aber wo soll bar Geld herkommen? Ist es also klar, wie die anderen Fälle von man in der lebendigen Sprache gebildet werden? Es wäre töricht, diese Ausdrucksweise jetzt nicht mehr für fein zu halten.
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Mit niemand anders
Die Wörter jemand und niemand sind ursprünglich Zusammensetzungen mit man (Mann) (mhd. ieman, nieman); das d ist ihnen erst angehängt, wie in Papst, Axt, einst, Obst oder wie der Berliner Mund gern ebend für eben sagt. Im Mittelhochdeutschen heißen der 3. und 4. Fall noch iemanne, niemanne, ieman, nieman. Doch gab es daneben stets ein unbeugbares man. So kann man auch heut die Wörter jemand und niemand mit einem deutlichen Wemfall und Wenfall: jemandem, jemanden versehen oder aber ihnen die Endung verweigern. Die längeren Formen haben den Vorzug der Deutlichkeit, notwendig sind sie nicht.
Mit niemand anders Der gute Rat, bei den Eigenschaftswörtern, deren Stamm auf -er endigt, die schönen, kräftigen Formen: unsers, andern den weichlichen: unsres, andren in jedem Fall vorzuziehen, erleidet eine Ausnahme bei dem sächlichen anders. Die Sprache hat sich hier des ganz äußerlichen Mittels bedient, das einemal den Selbstlaut der Endung, das andremal den des Stammes auszuwerfen, um einen Unterschied zwischen Eigenschafts- und Umstandswort zu schaffen (ebenso bei besondres und besonders), obgleich unser heutiges Umstandswort anders (ich hätte das anders gemacht) ursprünglich auch nichts „andres" ist als das Sächliche von ander, andre, andres (ein andres Kleid). An diesem Unterschied ist natürlich festzuhalten, niemand wird schreiben ein anders Kleid. In der lebendigen Sprache hat sich auch in den Verbindungen: wer anders, was anders, jemand anders, niemand anders die kräftigere Form erhalten; man sagt: wer anders sollte mir helfen? — das ist niemand anders gewesen als du — und die Schlußzeile einer bekannten Fabel: ja, Bauer, das ist ganz was anders — ist durchaus nicht bloß wegen des Reimes auf Alexanders so geschrieben. In allen diesen Verbindungen ist anders nicht etwa als Umstandswort aufzu-
Zahlwörter
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fassen, sondern es ist der Wesfall des geschlechtslosen Sächlichen, das zur Bezeichnung beider Geschlechter dient, wie in: jemand Fremdes. Danach kann nun auch kein Zweifel sein, wie diese Verbindungen abzuwandeln sind. Der Volksmund trifft das Richtige, wenn er sagt: von wem anders soll ich mir denn helfen lassen? — ich bin mit niemand anders in Berührung gekommen.
Zahlwörter Gegen die richtige Bildung der Zahlwörter werden nur wenig Verstöße begangen; es ist auch kaum Gelegenheit dazu. Leute, die altertümlich schreiben möchten, z. B. Verfasser historischer Erzählungen oder Schauspiele, greifen gern zu zween und zwo, haben aber gewöhnlich keine Ahnung von dem Unterschied der Geschlechter und machen sich deshalb lächerlich. Darum wohl gemerkt: zween war männlich, zwo weiblich, zwei sächlich. An unseren Fernsprechern wird zur Unterscheidung von drei die Form zwo gefordert; sei dem so, doch sollte sie nicht in andere Bezirke verpflanzt werden, auch nicht in den Unterricht unserer Schulen, wie das hier und da geschieht. Warum aber bemüht man sich nicht — natürlich müßte das von amtlicher Seite geschehen — aus vielen Gründen, z. B. auch dem des Wählens beim Fernsprecher, die Aussprache zwanzig und drei, sechzig und vier einzuführen? Die Engländer sind doch auch zu der dem Zahlenwert entsprechenden Reihenfolge bereits im achtzehnten Jahrhunder übergegangen. Statt hmderttmderste kann man jetzt öfter lesen: htmderttmdeinte, aber doch nur nach dem unbestimmten Geschlechtswort : nicht als ob ich zu den hundert Fausterklärungen noch eine hundertundeinte hinzufügen wollte. Es schwebt dabei wohl weniger die Reihenfolge und der neue letzte Platz
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Das Zeitwort
darin vor als die Zahl, die von hundert auf himderttmdeins steigt. Trotzdem hat die Form keine Berechtigung. Die Kurzform siebte für siebente (Anna Seghers: Das siebte Kreuz) ist einwandfrei; sagt man doch auch seit langem siebzehn und siebzig. Wer darin unsicher ist, dem sei endlich gesagt, daß dritthalb so viel ist wie zwei Ganze und das dritte halb dazu. Und wenn einer selbdritt geht, daß er mit zwei Begleitern zusammen gehtl Der Wesfall von zwei und drei ist noch lebendig: Dies ist die Arbeit zweier Männer. Tritt dazu noch ein Beiwort, so steht zweier starker Männer neben zweier starken Männer, doch wird das erste bevorzugt. Wenn ein Lehrer bescheinigt: „Wegen sieben Fehler ist die Arbeit nicht ausreichend", so ist das zwar verständlich, aber nicht schön, weil der Wesfall hinter wegen nicht deutlich erscheint. Dagegen wäre „bei sieben Fehlern" mit seinem klaren Wemfall natürlich einwandfrei. Ziffern sollte man im Druck nur für das Datum und für rechnungsmäßige, z . B . statistische, wirtschaftliche, astronomische Angaben verwenden, also nicht drucken: Unser Leben währet 70 Jahre. Vornehme Druckereien haben sich auch früher so etwas nie erlaubt. Wenigstens empfiehlt es sich, die kleinen Zahlen bis zwanzig sowie die Zehner bis hundert hin in fortlaufendem Text nicht durch Ziffern, sondern mit Buchstaben anzugeben.
Das Zeitwort Wie bei den Hauptwörtern, so unterscheidet man bei den Zeitwörtern zwischen starker und schwacher Beugung. Starke Zeitwörter nannte Jakob Grimm die, die ihre Formen aus eigener Stärke durch Veränderung des Stammes bilden, durch Ablaut (springe, sprang, gesprungen) und durch Umlaut (fahre, fährst; fuhr, führe), schwache die übrigen (z. B . sage, sagte, gesagt).
Vertauschte und schwankende Zeitwörter
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Fast noch bewunderungswürdiger als in der Beugung det Hauptwörter ist bei den Zeitwörtern die Sicherheit, mit der auch der einfache Deutsche der Fülle und Mannigfaltigkeit der Formen gegenübersteht. Freilich geht es auch hier nicht ohne Schwankungen und Verirrungen ab, darunter sogar recht ärgerliche und beschämende. Es gibt Stämme, die eine starke und auch eine schwache Beugung erzeugt haben mit verschiedner Bedeutung; da ist dann Verwechslung eingetreten. Es gibt aber auch Zeitwörter, die ohne Bedeutungswechsel in die andre Beugung übergetreten sind. Was wird nun dabei im Gebrauch verfehlt? Vertauschte und schwankende Zeitwörter Unterscheide: Ziellos (intransitiv): hange (hänge), hing, gehangen. Z i e l e n d (transitiv): hänge, hängte, gehängt. Also ist es verkehrt zu sagen: Ich hing das Bild auf, obwohl man es immer wieder hört. Und es muß unbedingt heißen: Es hat an einem seidenen Faden gehangen. Die Gegenwartsformen hangen, abhangen, zusammenhangen erscheinen uns heute altertümlich gesucht (Heine: Und als sie kamen ins deutsche Quartier, sie ließen die Köpfe hangen). Auch bei schmelzen und verderben wurde ursprünglich zwischen einer zielenden schwachen und einer ziellosen starken Beugung unterschieden, aber von dem zielenden schmelzen kommen schmelzt, schmelzte, geschmelzt in verengter Bedeutung nur noch in der Küche vor, vom zielenden verderben nur das Mittelwort verderbt, aber nur auf das Sittliche bezogen; zielloses erlischt, erlosch, erloschen und zielendes löscht, löschte, gelöscht werden dagegen noch mit rechter Sicherheit geschieden. Dringen und drängen dürfen nicht vermischt werden. Dringen ist ziellos und hat zu bilden: ich drang vor, ich bin vorgedrungen. Zu unserer Zeit ist der Bereich des Wortes
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Vertauschte und schwankende Zeitwörter
sehr eingeschränkt: nämlich auf das Mittelwort dringend und ein paar Zusammensetzungen: darauf dringen, vordringen, andringen. Drängen ist zielend, zum Teil wird die Satzergänzung aus dem Zusammenhang ergänzt (die Zeit drängt); es kann nur bilden: ich drängte, ich habe gedrängt; also auch: ich drängte mich vor, ich habe mich vorgedrängt, es wurde mir aufgedrängt. Durchaus falsch ist: ich dringe mich nicht auf, ich habe mich nicht aufgedrungen, diese Auffassung hat sich mir aufgedrungen. Von manchen schwachen Zeitwörtern ist ein vereinzeltes starkes Mittelwort gebräuchlich, aber nur mit einer besonders gefärbten Bedeutung, z. B. verschroben (von schrauben), verwunschen (der verwunschene Prinz, von verwünschen), unverhohlen (ich habe ihm unverhohlen meine Meinung gesagt, von verhehlen). Schaffen bedeutet in den starken Formen (schuf, geschaffen) das Entstehenlassen eines Werkes durch einen Schöpfer: Gott hat die Menschen erschaffen — Hier hat der Künstler eine wundervolle Büste geschaffen. Ist aber gemeint: etwas ausrichten, vorwärtsbringen, so muß es schwach gebeugt werden. Du hast es geschafft! Insbesondere auch: er hat Abhilfe geschafft, Ersatz, Raum, Luft, Wandel geschafft. Da die schwache Beugung infolge des fehlenden Ablauts für den Gebrauch leichter ist als die starke — kleine Kinder, die erst reden lernen, beugen die Zeitwörter gern schwach: ich rufte, der Käfer fliegte — kennt unsere Sprachgeschichte eine ganze Reihe von Fällen, wo starke Zeitwörter mit der Zeit die schwache Beugung angenommen haben. Im Gegensatz dazu liebt es ein falscher Sprachgebrauch, in die Beugung von fragen starke Formen hineinzubringen. Sogar bei Goethe und Schiller begegnet die Form frug ab und zu, und die umgelauteten Gegenwartsformen du frägst, er fragt bilden die Entsprechung dazu. Die reine hochdeutsche Sprache aber soll bei der klaren schwachen Beugung von fragen bleiben und die alten
Übergeführt und überfährt. Ich anerkenne?
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Stammformen frage, fragte, gefragt ebenso bewahren wie du fragst und er fragt. Die Form frug stammt aus der niederdeutschen Mundart. Zu einem auffallenden Sprachfehler führt es, wenn jemand von „brauchte" eine Möglichkeitsform bräachte abheben will; doch einen Umlaut gibt es eben nur bei starken Zeitwörtern, und brauchen ist nun einmal schwach.
Falsche Befehlsform „Werbe oder sterbe ist der Kampfruf unserer Zeit", so hieß es unlängst in einer Geschäftsanzeige, und die Empfehlung mochte nicht gerade groß sein, wenn den Leser dabei gleich zwei Sprachfehler verstimmten. Leider tauchen die falschen Befehlsformen bei starken Zeitwörtern immer häufiger auf. Sie entspringen der Unbequemlichkeit, die darin liegt, den Selbstlaut des Zeitwortes zu ändern. Wie angenehm ist es doch, von reden die Befehlsform ganz einfach mit rede zu bilden, von leben lobe, von grüßen grüße. Aber die „starken Zeitwörter" zeigen ja gerade durch den Lautwechsel ihre Stärke! Es heißt darum bei ihnen noch immer wirb und stirb und nimm und lies! Desgleichen iß, so oft man auch ein übeltönendes eß zu hören bekommt, und richtig ist allein tritt, wenn auch sogar Goethe einmal gereimt hat (es steht über dem Tor des alten Schlosses Dornburg): Freudig trete herein und froh entferne dich wieder; Ziehst du als Wandrer vorbei, segne die Pfade dir Gott!
Obergeführt und uberführt Ich anerkenne? Unterscheide die trennbaren und die untrennbaren Zusammensetzungen ! i. übersetzen: setze über, setzte über, übergesetzt (einen Wanderer über einen Fluß). Nennform mit zu: überzusetzen.
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Übergeführt und überfährt. Ich anerkenne?
2. übersetzen: übersetze, übersetzte, übersdtzt (einen Schriftsteller). Nennform mit zu: zu übersetzen. So gibt es eine große Anzahl zusammengesetzter Zeitwörter, bei denen, je nach ihrer Bedeutung, bald das Verhältniswort, bald das Zeitwort betont wird, z. B. ¿¡¿erfahren (über den Fluß) und überfahren (ein Kind auf der Straße), überlaufen (vom Krug oder Eimer gesagt) und überlaufen (es überläuft mich kalt, er wurde von seinen Kunden überlaufen), ü&erlegen (über die Bank) und überlegen, übergehen (zum Feinde) und übergehen (den nächsten Abschnitt), unterhalten (den Krug am Brunnen) und unterhalten, unterschlagen (die Beine) und unterschlagen (eine Geldsumme), unterbreiten (einen Teppich) und unterbreiten (ein Bittgesuch), hinterziehen (ein Seil) und hinterziehen (die Steuern), umschreiben (noch einmal oder ins Reine schreiben) und umschreiben (einen Atisdruck durch einen anderen), durchstreichen (eine Zeile) und durchstreichen (eine Gegend), durchsehen (eine Rechnung) und durchschauen (einen Betrug), umgehen und umgehen, hintergehen und hintergeAe/?, wiederholen und -wiederholen usw.. Gewöhnlich haben die Bildungen mit betontem Verhältniswort die eigentliche, sinnliche, die mit betontem Zeitwort eine übertragene, bisweilen auch die einen eine ziellose, die andern eine zielende Bedeutung. Gegen die deutliche Scheidung dieser beiden Gruppen kam um die Mitte des vorigen Jahrhunderts die Grille auf, das Wort anerkennen zu behandeln, als würde es anerkennen ausgesprochen, was doch keinem Menschen einfällt, und e ward Mode zu sagen: ich anerkenne usw. Auch obliegen und übersiedeln wurden bald in dieser Weise mißhandelt: ihm oblag das Geschäft; er übersiedelte nach München, waren bald alltäglich zu lesen, obschon niemand in natürlicher Rede so spricht. Begünstigt wird die noch im Vordringen befindliche Mode durch mehrerlei: in der zusatn-
Übergefährt und überfährt. Ich anerkenne?
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mengerafften und nach Worten abgezählten Sprache der Depeschen boten die ungetrennten Wörter einen unleugbaren Vorteil: Anbiete gewünschte Aktien für . . e i n t r e f f e morgen 6 Uhr. Ferner tadelte man, daß in unserer Sprache Sätze möglich seien wie „Ihr lag die Pflege ihrer alten Eltern und die Sorge für einen mit den Jahren immer weiter gewachsenen Haushalt ob", wo das zusammengehörige Obliegen unerträglich auseinandergerissen sei ; zudem war in Österreich die Untrennbarkeit der zu trennenden Zeitwörter fast zur Regel geworden. Zuerst wagte man übrigens die früher selbstverständliche Trennung bei solchen Zeitwörtern zu unterlassen, wo der Vorsilbe kein volles Leben mehr innewohnte; neben dem schon genannten Obliegen besonders bei Zusammensetzungen mit wider: duimpf widerhallte der Donner. Trotz allem sollte man an der alten säuberlichen Unterscheidung der trennbaren und untrennbaren Zeitwörter festhalten: besonders, weil eine Reihe von ihnen nur so auseinanderzuhalten ist und weil, da bei der Untrennbarmachung der Zeitwörter der Ton unfehlbar vom Verhältniswort auf das Zeitwort selbst übergeht, die Kraft und sinnliche Wirkung des Verhältniswortes dahinschwindet. Vor den Augen und Ohren der Lebenden hat sich diese Entwicklung bei überführen vollzogen. Seit es allenthalben, auch amtlich, heißt: die ins Lazarett überführten Verwundeten, der in die Leichenhalle überführte Ermordete, seit hier also anstelle des alten übergeführten das neue überführt getreten ist, hat auch die Betonung vom Verhältniswort auf das Stammwort übergewechselt. Jedermann spricht jetzt: wir müssen den Fiebernden sogleich ins Krankenhaus überfuhren. Damit ist die sinnfällige Unterscheidung der beiden Zeitwörter überfuhren und überführen verloren gegangen. Überführt wurde früher nur ein Ver-
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Das Überlegte Gefängnis
brechen wenn man ihm trotz seines Leugnens das Verbrechen nachwies. Von den mit miß zusammengesetzten Zeitwörtern sind Mittelwörter mit oder ohne ge- gebräuchlich, je nachdem miß oder das Zeitwort betont ist, also mißlungen, miBraten, mißfallen, mißbilligt, mißdeutet} mißgönnt, mißbraucht, mißhandelt, neben ge/myJbraucht, gemiyJbilligt, gemißhandelt. Die Vorsilbe ge- darf aber niemals zwischen miß und das Zeitwort treten, miß bleibt in der Beugung überall mit dem Zeitwort verwachsen. Daher ist es auch falsch, Nennformen zu bilden wie mißzuhandeln, es muß unbedingt heißen: zu mißhandeln, zu mißbrauchen.
Das überlegte Gefängnis Immer weiter verbreiten sich jetzt Bildungen wie: ein übersetzter Beruf, ein überlegtes Mietshaus; der überlaufene Aussichtspunkt und das übervölkerte Land sind natürlich schon gang und gäbe. Das „über" hat hier durchweg die schwache Vorsilbe be verdrängt. Aber schon Goethe schreibt in seiner „Campagne in Frankreich": In Trier angelangt, fanden wir die Stadt mit Truppen überlegt, und Hebbel schließt sein Drama „Siegfrieds Tod" mit den Worten: ,,Es mag geschehn, denn hier ist's überzahlt." Folglich gibt unsere Sprache in der Tat der Vorsilbe über das Recht, schwächere zu verdrängen. So wäre auch kaum etwas einzuwenden gegen die überhöhten Preise, die doch wohl übererhöhte Preise sein sollen (wahrscheinlich hat bei dieser Wortbildung die Technik zu Pate gestanden, wo Überhöhung freilich nicht übermäßige Erhöhung besagt, sondern nur die Erhöhung der einen Seite einer Anlage über die andere, etwa eines Schienenstranges, eines Brückenkopfes usw.); auch nichts gegen die „überhobenen Beträge" ( = übererhobenen?) oder neuerdings gegen das „überzogene Guthaben" der Banksprache.
Ich bin gestanden oder ich habe gestanden?
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Ich bin gestanden oder ich habe gestanden? Ufm Bergli bin i gesässe, ha de Vögle zugeschaut; hänt gesunge, hänt gesprunge, hänt's Nestli gebaut — heißt es in Goethes Schweizerlied. Ich bin gesessen, gestanden, gelegen ist das Ursprüngliche und heißt eigentlich: ich habe mich gesetzt, ich habe mich gestellt: ich bin in die Tür gestanden. „Ich habe gesessen" war demgegenüber ursprünglich: ich bin im Zustand des Sitzens gewesen; aber der Unterschied zwischen der bin- und habe-Form ist längst zugunsten des norddeutschen Habens ausgelöscht. Nur mundartlich leben die bin-Formen noch fort, und in einer bayrischen oder österreichischen Erzählung aus dem Volksleben läßt man sich's auch gern gefallen, auch in der Dichtersprache (Rükkert: es ist ein Bäumlein gestanden im Wald). Wie köstlich aber ist das hänt gesprunge 1 Die Zeitwörter der Bewegung bilden ja die Vorgegenwart alle mit sein; manche können sie aber daneben auch mit haben bilden, nämlich dann, wenn das Zeitwort eine Beschäftigung bezeichnet. Schon im fünfzehnten Jahrhundert heißt es in Leipzig: der Custos zu S. Niclas hat mit dem Frohnen nach Erbgeld gangen, d. h. er hat den Auftrag ausgeführt, das Geld einzusammeln. Und heute heißt es allgemein: vorige Woche haben wir gejagt, aber: ich bin in der ganzen Stadt herumgejagt, eine Zeit lang bin ich diesem Trugbild nachgejagt; wir haben die halbe Nacht getanzt, aber: das Pärchen war ins Nebenzimmer getanzt. Jedermann sagt: ich bin gereist, nur der Handlungsreisende nicht, der sagt: ich habe nun schon zehn Jahre gereist; denn das Reisen ist seine Beschäftigung 1 Diese Unterscheidung sitzt im Sprachgefühl so fest, daß mir sogar ein vierjähriges Kind auf meine bedauernde Frage: Du bist wohl gefallen? seelenvergnügt erwiderte: Ich bin nicht gefallen, ich habe bloß gehuppt I Folgerecht trennt die Sprache dann auch das Zeitwort der Bewegung: er ist fortgefahren im Wagen und: er hat
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Singen gehört und Singen hören
fortgefahren zu lügen. Die entsprechende gute Unterscheidung: er ist mir gefolgt (nachgegangen) und er hat mir gefolgt (gehorcht) ist leider allmählich aufgegeben. Singen gehört und Singen hören Eine der eigentümlichsten Erscheinungen, die dem Ausländer, der Deutsch lernen will, viel Kopfzerbrechen macht, ist der Gebrauch zu sagen: ich habe dich singen hören. Bei den Hilfszeitwörtern können, mögen, dürfen, wollen, sollen und müssen, bei brauchen im Sinne von müssen und dürfen und bei einer Reihe anderer Zeitwörter, die ebenfalls mit der Nennform verbunden werden, wie heißen, lassen (in den Bedeutungen: befehlen und erlauben), helfen, sehen, hören ist schon in früher Zeit das Mittelwort der Vergangenheit, namentlich wenn es unmittelbar vor der abhängigen Nennform stand (der Rat hat ihn geheißen gehen), durch die Nennform ersetzt worden. Schließlich drang diese vollständig durch und trat nunmehr hinter die abhängige Nennform. So sagt man nun allgemein: ich habe ihn gehen heißen, ich habe ihn tragen müssen, ich habe ihn kommen lassen, ich habe ihn laufen sehen, ich habe ihn rufen hören, du hättest nicht zu warten brauchen. Diese Erscheinung ist durch jahrhundertelangen Gebrauch in unsrer Sprache so eingebürgert, und sie ist uns so vertraut und geläufig geworden, daß es gesucht, ungeschickt, ja geradezu fehlerhaft erscheint, wenn jemand schreibt: er hatte ein Mädchen gewissenlos sitzen gelassen. Bei ein paar anderen Zeitwörtern schwankt der Gebrauch noch zwischen Mittelwort und Nennform. „Er hat viel von sich reden gemacht" ist ebenso richtig wie reden machen (Goethe im Faust: Ihr habt mich weidlich schwitzen machen); und meist schreibt man auch schon mit Nennform: wir hätten diese Schuld auch dann noch auf uns lasten fühlen (statt: lasten gefühlt).
Begänne oder begönne? Stände oder stünde?
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Kommen zwei solche Hilfszeitwörter zusammen, so stehen gar drei Nennformen nebeneinander: wir hätten den Kerl laufen lassen sollen, laufen lassen müssen, laufen lassen können. Das ist — ganz richtig.
Begänne oder begönne? Stände oder stunde? Bei einer Reihe von Zeitwörtern zeigt sich Unsicherheit über den Umlaut: soll man ä oder ü gebrauchen? Das Schwanken ist so entstanden: im Mittelhochdeutschen lautete der Selbstlaut der Mehrzahl in der Vergangenheit vielfach anders als der Selbstlaut in der Einzahl (ich half, wir halfen', sann, sunnen). Die Möglichkeitsform wurde nun mit dem (wenn möglich umgelauteten) Mehrzahlselbstlaut gebildet, also hülfe, sünne. Vor nn und mm wandelte sich das ü hei nach in ö, also sänne, schwömme. Später erhielten die Einund Mehrzahl durch Ausgleichung denselben Selbstlaut a: half, halfen, sann, sannen (nur ward — wurden blieb), und es wurde von der neuen Einzahl aus eine neue Möglichkeitsform sänne gebildet, die dem a nähersteht als die alte mit ö. Alle die neuen Formen sind neben den alten berechtigt: sänne neben sonne, schwämme neben schwömme usw. Nur wo sie sich im Klang von der Möglichkeitsform der Gegenwart nicht unterscheiden (hälfe, stärbe neben helfe, sterbe), sind sie nicht zu empfehlen, und man wird hülfe und stürbe vorziehen. Von stehen hieß die alte Vergangenheit stund, die Möglichkeitsform dazu stünde. Als stand aufkam, wurde dazu stände neugebildet. Auch hier haben beide Formen gleiches Recht. Die sechs schwachen Zeitwörter brennen, kennen, nennen, rennen, senden, wenden haben in der Gegenwart Umlaut, in der Vergangenheit aber bewahren sie ihren alten Stammselbstlaut a: kannte, gekannt usw., doch hat senden neben sandte, gesandt auch sendete, gesendet, wenden neben wandte i
Wöstmann, Sprachdummheiten.
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Begänne oder begönne? Stände oder stünde?
gewandt auch wendete gewendet. Ein Umlaut kommt den Möglichkeitsformen dieser Wörter mit a wie allen schwachen Zeitwörtern eigentlich nicht zu. Doch hat ihn sich die Notwendigkeit des Sprachgebrauchs kraft eigenen Rechts geschaffen (wie bei brächte, dächte und einigen anderen), und es ist nichts mehr dagegen einzuwenden, von brannte, kannte, nannte, rannte die Umlautsformen: brennte, kennte, nennte und rennte zu bilden: sie behaupteten, sie kennten das nicht — wenn du ihn nenntest, würdest du Verrat üben.
Zur Wortbildungslehre Es ist eine alte Klage, daß die Deutschen ihre Sprache vernachlässigen; die Gefahr, die daraus entspringt, war aber noch niemals so groß wie heute. . . . Wenn die Sprachc verroht, so können feinere Empfindungen und höhere Gedanken in ihr nicht mehr ausgedrückt Zierden; durch eine Rückwirkung verschwinden sie, unddieNation verdummt. Paul Ernst
Der weibliche Bürgermeister Frau Studienrat Müller ist — wenn es durchaus ein Titel bei der Anrede sein muß — die Frau des Studienrats Müller, Frau Studienrätin Müller ist nach Ablegung der Staatsprüfung selbst als Studienrätin tätig. Früher nannte sich die Frau eines Pfarrers Frau Pfarrer oder Pfarrin/ die eines Rats Frau Rat oder Rätin, die Frau Direktor ebenso auch Frau Direktorin, bis sich die endungslose Form immer mehr durchsetzte. (Und das ist gut so; könnte es doch bei der Köchin zu unangenehmen, bei der Oberin zu peinlichen Irrtümern führen 1) Eine selbst im Beruf stehende Frau aber sollte sich nicht Arzt, Studienrat, Apotheker, Direktor usw. nennen, wie es immer wieder zu lesen steht. Die männlichen Amtsbezeichnungen für Frauen sind unnatürlich und veranlassen allerhand Mißverständnisse. Die Sprache gibt dafür die bequeme Endung -in an die Hand, und wie man früher zur Lehrerin (und der guten Unterscheidung halber auch zur Beamtin und Patin) hingefunden hatte, so sollte es jetzt 4*
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Hingebung und Hingabe
für alle berufsausübenden Frauen eine Selbstverständlichkeit sein, sich Direktorin, Referendarin usw. zu nennen, sowie als Tätige in Presse und Verwaltung: Schriftleiterin, Bürgermeisterin, Abteilungsleiterin usw. zu heißen. Bleibt eine Schwierigkeit eigentlich nur bei ein paar Titeln: dem Doktor und vor allem dem Diplomkaufmann. Da beides amtliche Bezeichnungen sind, vermag der einzelne an ihnen nicht zu rütteln. Aber undenkbar erscheint es nicht, daß in Zukunft sich die Frau Doktorin Meyer, die selbst eine „Studierte" ist, und Frau Doktor Meyer, die Ehefrau des Dr. R^eyer, in der Sprachform voneinander unterscheiden und daß man kühnlich auch die Kaufmännin einführt, so wie es doch die Landsmännin gibt und früher die Frau Amtsmännin gab. Wenn die hier geforderte scharfe Trennung der männlichen und weiblichen Berufsbezeichnungen durchgeführt ist, dann wird es im öffentlichen und gesellschafdichen Leben manches Mißverständnis weniger geben 1 ).
Hingebung und Hingabe Von manchen wird ein lebhafter Kampf gegen die Wörter auf ung geführt. Sie klängen häßlich, heißt es, ja sie seien geradezu Verunstalter unsrer Sprache. Im Unterricht wird gelehrt, man solle sie möglichst vermeiden. Irgend jemand hat sogar die witzige Bemerkung gemacht, unsre Sätze mit ihren vielen ung-ung-ung klängen wie lauter Unkenrufe. Das ist eine Übertreibung. Die Endung -ung ist tonschwach und fällt nicht so ins Gehör, daß sie, in kurzen ') Bei Titeln oder Rangzusätzen, die Teile des Familiennamens sind und demnach von der Frau mit dem Namen des Mannes erheiratet werden, bleibt es — entgegen anderen Auslegungen der Reichsverfassung Art. 109 — nach einer Reichsgerichtsentscheidung vom 10. März 1926 beim alten Sprachgebrauch, daß die Frau des Grafen sich nach wie vor Gräfin und die Frau des Freiherrn sich Freifrau nenne.
Hingebung und Hingabe
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Zwischenräumen wiederholt, stören könnte. Wenn in dem heutigen Deutsch das Ohr durch nichts Schlimmeres verletzt würde als durch die Endung -ang, so wäre es gut. Ein Satz wie folgender: Über die Voraussetzungen zu einer Schließung des Reichstags enthielt die Verfassung keine ausdrückliche Bestimmung — hat im Klang kaum etwas Anstößiges, besonders in Süddeutschland, wo die Endung sich weicher anhört als im Norden. In lebendiger Rede fällt es kaum auf, daß hier kurz hintereinander vier Wörter auf -ung stehen, außer man hebt die Endung auffallig hervor; aber auf diese Weise könnte man auch hundert andre Spracherscheintingen lächerlich machen. Nicht die Wörter auf -ung an sich muß man bekämpfen, sondern die immer mehr um sich greifende Gewohnheit, eine Menge wirklich häßlicher Wörter auf -ung neu zu bilden, darunter Ungetüme wie: Inbetriebsetzung, Außerachtlassung, Zurdispositionstellung, Außerdienststellung, die Gewohnheit, eine Handlung oder einen Vorgang nicht durch ein Zeitwort auszudrücken, sondern durch ein Hauptwort zusammen mit irgendeinem farblosen Zeitwort des Geschehens. Hier jedoch stört nicht die Endung -ung, sondern das schleppende Wortungetüm, das damit gebildet ist, und der ganze unlebendige Gedankenausdruck. Wir haben vielmehr Anlaß, die schon der althochdeutschen Zeit angehörende Endung -ung unter Umständen zu schützen gegen Neubildungen, die sich ihr an die Seite drängen wollen. Die Wörter auf -ung bezeichnen zunächst eine Handlung, einen Vorgang; Bildung, Erziehung, Aufklärung, Einrichtung, Sendung bedeuten die Handlung, die Tätigkeit des Bildens, des Erziehens, des Auf klärens, des Einrichtens. Aus dieser Bedeutung entwickelt sich dann aber eine weitere, nämlich die des Ergebnisses, das die Handlung hat, des Zustandes, der durch sie herbeigeführt worden ist; Bildung, Erziehung,
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Hingebmg und Hingabe
Aufklärung bedeuten auch den Zustand des Gebildet-, des Erzogen-, des Aufgeklärtseins, Einrichtung auch das Eingerichtete, Sendung auch das Gesendete selbst. Vielfach hat nun die Sprache, um den Unterschied zwischen der Handlung und ihrem Ergebnis zu bezeichnen, neben dem Wort auf -ung noch ein kürzeres, meist mit Ablaut, unmittelbar aus dem Stamme geschaffen. So haben wir Anlage neben Anlegung, Vorlage neben Vorlegung und könnten geradezu reden von der Anlegung von Gas- und Wasseran/agen, der Vorlegung von Zeichen vorlagen» Eine solche Unterscheidung ist zweckmäßig und willkommen. Nun herrscht aber schon länger die Neigung, die Bildung auf -ung überhaupt zurückzudrängen und ihre Aufgabe der kürzeren Form mit zu übertragen. Noch um 1900 sprach man nur von Einfährung und Ausführung von Waren, und wenn man mit etwas nicht einverstanden war, machte man eine Einwendung; heute heißt es: Einfuhr, Ausfuhr, Einwand, auch wo es sich um den Vorgang, also um Einführung, Ausführung, Einwendung handelt. Diese Neigung ist gegenwärtig sehr stark verbreitet: obwohl die Sprache eine Unterscheidung an die Hand gibt, es ermöglicht, einen Unterschied zu machen (wieder ein Beispiel: Unterscheidung und Unterschiedi), verschmäht man ihn und redet von Hingabe, Freigabe, Vorlage und Aufgebot, wo Hingebung, Freigebung, Vorlegung und Außietung (aller Kräfte) das Richtige wäre, weil eine Handlung gemeint ist. Früher kannte man Bezüge nur an Bettkissen, Polstern oder Regenschirmen. Jetzt steht Bezug vielfach für Beziehung, und da nun die, die das Wort so gebrauchen, die Bedeutung der Handlung dabei doch nicht recht fühlen, was haben sie gemacht? Sie haben das herrliche Wort Bezugnahme erfunden. Das kann man doch bequemer haben: was mühselig durch das zusammengekittete Wort Bezugnahme ausgedrückt werden soll, liegt ja in dem einfachen Worte Beziehung schon drin!
Hallenser und Weimaraner
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Bremener oder Bremerl Wenn man die Einwohner von Städten auf -en Emdener, Zweibrückener, Eislebener, St. Gallener benennt, so ist die Endung -er an die Endung -en gefügt statt an den Stamm. In den genannten Orten selbst, wo man wohl am besten Bescheid wissen wird, wie es heißen muß, kennt man nur Emder, Zweibrücker, St. Galler, Eisleber (das Eisleber Seminar), wie anderwärts den Bremer Ratskeller, die Bremer Stadtmusikanten, die Gießer Studentenjahre. Bei Bingen ist das Binger Loch, und in Emden wird einer sofort als Fremder erkannt, wenn er von der Emdener Zeitung redet. Ein wahres Glück, daß der Nordhäuser und der Steinhäger schon ihre Namen haben I Heute würden sie sicherlich Nordhausener und Steinhagener genannt werden: Geben Sie mir einen Nordhausenerl Auch die guten Pfefferkuchen, die Aachener Printen sollen früher in Aachen selbst Aacher Printen geheißen haben. In vielen ursprünglich undeutschen (lateinischen, slawischen) Ortsnamen freilich gehört das n zum Stamm; die bilden dann natürlich richtig Bozner, Dresdner, Meißner,, usw. Hallenser und Weimaraner Daß wir Deutschen bei unserer Gelehrsamkeit und Gewissenhaftigkeit von den Bewohnern fremder Länder und Städte eine wahre Musterkarte von Namensbildungen besitzen, ist zwar im Grunde komisch, aber immerhin erträglich. — Sprechen wir also auch in Zukunft getrost von Mexikanern, Neapolitanern, Byzantinern, Chinesen, Veronesern, Sybariten, Franzosen und Portugiesen, Asiaten. Provenzafen, Savoyarden, von Sofioter und Tokioter Zeitungen usw. Daß wir aber an deutschet 1) Städtenamen noch immer lateinische Endungen hängen, ist doch ein Zopf, der endlich einmal abgeschnitten werden
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Kölner Dom und Kölnische Zeitung
sollte. Die Athenienser und die Carthaginienser sind wir aus den Geschichtsbüchern glücklich los, aber die Hallenser, die Jenenser und die Badenser, die Hannoveraner und die Weimaraner wollen nicht weichen, auch die Anhaltiner spuken noch gelegentlich. Und doch ist nicht einzusehen, weshalb man nicht ebensogut Jenaer sagen sollte, wie Gothaer, Geraer und Altonaer, und wie es ja auch stets geschieht, wo es sich nicht gerade um — Menschen handelt (Jenaer Glas!), ebensogut Bad(e)ner wie Münchner und Dresdner, ebenso Haller wie Celler, Stader und Klever, ebenso Hannoverer und Weimarer wie Trierer und Wetzlarer. Freilich erstreckt sich diese häßliche Sprachmengerei mit fremden Endungen und Vorsilben in unsrer Wortbildung nicht bloß auf erdkundliche Namen, sie ist überhaupt weit verbreitet; man denke nur an eine sprachliche Mißgeburt wie das Mozarteum in Salzburg, an Bildungen wie Wagnerianer, Börsianer, Lieferant, Lagerist, Stellage, Stiefeletten, antideutsch usw. Manches davon stammt schon aus älterer Zeit und läßt sich den Makel einer gewissen verzopften Lächerlichkeit lange gefallen. Ein Skandal aber ist es, mit welcher Beflissenheit man noch immer Bastarde dieser Art in die Welt setzt und wie etwa jetzt unsere Händler in die modischen „ette" und „ure" vernarrt sind! Kölner Dom und Kölnische Zeitung Die von Orts- und Ländernamen abgeleiteten Bildungen auf -er sind ursprünglich Hauptwörter. Norweger und Passauer bedeutet ursprünglich einen Mann aus Norwegen oder aus Passau. Als Eigenschaftswörter hat die ältere Sprache solche Bildungen nicht gebraucht, diese bildete sie von Länder- und Städtenamen auf -ischi meißnisch (meißnische Gulden), torgisch (von Torgau, torgisches Bier), ländisch (von London, lündisches Tuch), parisisch (parisische Schuhe schreibt noch der junge Goethe statt Pariser Fuß). Nun wird
Kölner Dom und Kölnische Zeitung
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freilich zwischen beiden Bildungen nicht mehr in dieser Weise geschieden: die Formen auf -er sind schon frühzeitig' auch beiwörtlich gebraucht worden. Lessing schrieb 1768 eine Hamburgische Dramaturgie, Goethe aber 1772 Besprechungen für die Frankfurter Gelehrten Anzeigen. Die Bildungen auf -er werden heute durchaus beiwörtlich gebraucht und vor andern Hauptwörtern wie Eigenschaftswörter gefühlt, wie am besten daraus hervorgeht, daß manche Leute auch Umstandswörter dazusetzen, wie echt Münchner Löwenbräu, statt echtes Münchner Löwenbräu, echt Harzer Sauerbrunnen1). Von manchen Länder- und Städtenamen gebrauchen wir noch heute ausschließlich die beiwörtliche Form auf -isch, von andern ebenso ausschließlich die Bildung auf -er, wieder von andern beide friedlich nebeneinander. Niemand sagt: der Italiener Finanzminister, der Römer Papst, aber auch niemand mehr: das Leipzigische Theater, die Berlinischen Bauten. Dagegen sprechen wir von Kölnischem Wasser, holländischem Käse, italienischen Landschaften, persischen Teppichen, amerikanischen Äpfeln. Warum von dem einen Namen die Form auf -isch, von dem andern die auf -er bevorzugt wird, kann niemand sagen; der Sprachgebrauch hat sich dafür entschieden, und dabei muß man sich beruhigen. Nur in gewissen Kreisen, die von dem wirklichen Verhältnis der beiden Bildungen zueinander und von der Berechtigung des Sprachgebrauchs keine Ahnung haben, besteht die Neigung, das Gebiet der er-Bildungen mehr und mehr zum Nachteil derer auf -isch zu erweitern. So empfiehlt mancher Geschäftsmann beharrlich seine Amerikaner" Äpfel. An mancher alten Weinhandlung kann man ein Schild J) Freilich empfiehlt man auch mit falschem Sprachgebrauch echt Madeirahandarbeiten, echt Bütten (nämlich -papier) und preist Ketten in echt Bernstein an! Vor ein Hauptwort darf nie ein Umstandswort zur Bestimmung treten.
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Hallesches oder Höllisches Tor?
im Schaufenster sehen: Italiener Weine! Aber auch Holländer Austern werden neben dem ganz gebräuchlichen Holländer Käse schon empfohlen, ja sogar Kölner Wasser, und der Kölnischen Zeitung hat man schon mehr als einmal zugemutet, sich in Kölner Zeitung umzutaufen — ein Ansinnen, dem sie mit Recht nicht nachgegeben hat und hoffentlich nie nachgeben wird. Auf den alten Wortbildungen mit -isch liegt ein feiner Hauch des Altertümlichen und des Vornehmen, manche sind wie Stücke schönen alten Hausrats, viel-' leicht auch dann und wann altfränkisch, die neuen auf -er wirken dagegen oft nüchtern. Auf der Leipziger Stadtbücherei liegt eine berühmte Handschrift aus dem Anfange des sechzehnten Jahrhunderts: der Pirnische Mönch, genannt nach der Stadt Pirna (eigenüich Pirn) an der Elbe in Sachsen. Den nennen jetzt sogar Gelehrte den Pirnaer Mönchl In Plauen im sächsischen Vogtlande gibt es jetzt Plauener Oberschulen, einen Plauener Altertumsverein, man hat sogar ein Plauener Stadtbuch veröffentlicht; die alte Eigenschaftswortform Plauisch scheint also dort niemand mehr zu kennen. Und in neueren Werken über die Befreiungskriege wird in den Schilderungen der Schlacht bei Leipzig gar von der Erstürmung des Grimmaer statt des Grimmischen Tores geredet I
Hallesches oder Hallisches Tor? Niemand spricht von hölleschen Qualen oder schwedeschen Streichhölzern, wieviele aber unnötig vom Halleschen Tor oder Stadeschen Markt 1 Noch bis ins 18. Jahrhundert sagte man sogar mit richtigem Umlaut Hällisch, so wenig scheute man sich, das Buchstabenbild des Namens anzutasten. So wollen wir auch jetzt nicht überängstlich sein und ruhig bei der altgewohnten und richtigen Form bleiben: zum Hallischen Tor spazieren und auch in ein Rügisches Seebad fahren, nicht in ein Rügensches, von Staufischen und
-ig, -lieh, vierwöchig, zugänglich
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Hohenzollerischen Fürsten sprechen, nicht von Staufenschen und Hohenzollernschen. Vor allem sollte man auch die in Sachsen in der Schriftsprache beliebten Wortbildungen auf -aisch beseitigen: Grimmaisch, Tauchaisch, Bornaisch, Pirnaisch. In diesen Bildungen ist eine deutsche Endung an eine ganz unvolkstümliche, künstlich gemachte lateinische gehängt. Der Volksmund kennt noch heutigentags nur die Städte Grimme, Tauche, Borne, Pirne und so auch nur die Ableitungen Grimmisch, Tauchisch, Bornisch, Pirnisch. Es wäre zu wünschen, daß sich die amtliche Schreibung dem wieder anschlösse. So gut wie sich zu irgendeiner Zeit das Falsche amtlich hat einführen lassen, ließe sich doch auch das Richtige amtlich festsetzen. Man pflegt jetzt eifrig die Volkskunde, sucht überall die Reste volkstümlicher Sitten und Gebräuche zu retten und zu erhalten. Gehört dazu nicht vor allem die Sprache des Volks? Nur bei Personennamen müssen wir heutzutage eine Ausnahme machen, da im rechtlichen und bürgerlichen Leben die unveränderlichen Namensformen zu wichtig geworden sind. Der Campesche Verlag kann auf sein e nicht verzichten, ebensowenig die Stolzeschen Erben und die Schulzesche Familie. Man muß wissen, ob der Eigenname auf e endet oder nicht. Wo aber das Eigenschaftswort die Gattung bezeichnet, mag man der Endung ihr volles Recht lassen. Warum soll man nicht scheiden: Der getreue Eckart ist ein Goethesches Gedicht u n d : er besitzt eine fast goethische Bildhaftigkeit? -ig, -lieh, vierwöchig, zugänglich Im Laufe der Sprachentwicklung ist der Sinnwert der Endungen, mit denen im Deutschen Eigenschaftswörter von Hauptwortstämmen abgeleitet werden, immer mehr geschwunden, um so mehr, als auch ihre Formen sich einander annäherten. So kann es nicht wundernehmen, daß die so
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-ig, -lieh, vierwöchig, zugänglich
ähnlich scheinenden und doch aus sehr verschiedenen Wurzeln entspringenden Endungen -ig, -lieh, -isch im nachlässigen Gebrauch bisweilen verwechselt werden. Das geschieht seltener bei weiblich und weibisch, kindlich und kindisch, auch nicht bei launig und launisch, weil hier eine Verwechslung zu handgreiflichen Unsinn zutage fördert, als in den Fällen, die nun besprochen werden sollen. Streng zu scheiden ist zwischen den Bildungen auf -ig und denen auf -lieh bei den Ableitungen, die von Zeitbestimmungen wie Jahr, Monat, Woche, Tag und Stunde gebildet werden. Hier bezeichnen die auf -ig die Dauer: zweijährig, eintägig, vierstündig. Dagegen bezeichnen einstündlich, dreimonatlich, so gut wie jährlich, halbjährlich, vierteljährlich, monatlich, wöchentlich, täglich und stündlich den Zeitabstand von wiederkehrenden Handlungen. Folglich heißt es richtig: in dreimonatlichen Raten zu zahlen, einstündlich einen Eßlöffel voll zu nehmen, ebenso wie: bei vierteljährlicher Kündigung, aber: er hat eine dreimonatige Reise angetreten. Es gibt also halbjährliche Prüfungen, das sind solche, die alle halben Jahre stattfinden, und halbstündige, das sind solche, die eine halbe Stunde dauern. Genau sollte man auch unterscheiden zwischen abschlägig (eine abschlägige Antwort) und abschläglich (eine abschlägliche Zahlung). Eine abschlägige Antwort ist eine abschlagende, eine abschlägliche Zahlung ist eine Abschlagszahlung. Wenn Kaufleute oder Buchhändler neuerdings davon reden, daß Waren oder Bücher wegen ihres niedrigen Preises den weitesten Kreisen zugängig seien, oder eine Zeitung schreibt: die Kinder sollen so viel Russisch lernen, daß ihnen die russische Kultur zugängig ist, oder ein „Tuberkulosemerkblatt" als Hauptmittel gegen die Ansteckung eine für Luft und Licht zugängige Wohnung bezeichnet, so ist das dieselbe Verwechslung. Die Wohnung soll der Luft zugänglich sein, d. h. sie soll der Luft Zugang bieten. Zur gängig könnte höchstens etwas heißen, was den Leuten zu-
Schwerwiegender oder schwerer wiegend?
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geht, z. B. die Probenummer einer Zeitung, wie das neumodische angängig (für möglich) doch das bedeuten soll, was angeht. Durchaus unnötig ist es, neben unzulässig noch unzuläßlich zu bilden. Fremdsprachlicher Unterricht ist von fremdsprachigem zu unterscheiden! Während mit fremdsprachlich bezeichnet wird, was sich auf eine fremde Sprache bezieht, bezeichnet fremdsprachig eine wirkliche Eigenschaft. Man redet oder kann wenigstens reden von fremdsprachigen Völkern, fremdsprachigen Büchern wie von einer dreisprachigen Inschrift und einer gemischtsprachigen Bevölkerung. Ein Unterricht ist dann zugleich fremdsprachlich und fremdsprachig, wenn der Lehrer die Schüler im Französischen unterrichtet und dabei zugleich französisch spricht. Je weniger es die gewöhnliche Aussprache tut, um so mehr ist die Schreibung der Endungen -ig und -lieh auseinanderzuhalten. Dabei ist zu beachten, daß die Silbe -lieh nirgends mehr an Stämme tritt, die auf 1 enden. So heißt das von Adel gebildete Eigenschaftswort adl-ig, wennschon es ursprünglich adel-lich hieß und zu königlich, fürstlich, ritterlich, bürgerlich, aber nicht zu heilig, geistig, listig gehört. Auch billig wurde noch bis in das achtzehnte Jahrhundert seiner Herkunft entsprechend billich geschrieben, ebenso sind unzählig und untadlig mit -lieh, nicht mit -ig abgeleitet. Nur bei allmählich, das eine Zeit lang allgemein falsch allmählig geschrieben wurde (es ist aus allmäch-lich entstanden), ist das ch in neuerer Zeit wiederhergestellt worden, wohl deshalb, weil hier doch gar zu offenbar ist, daß das 1 nicht zum Stamme gehören kamu Schwerwiegender oder schwerer wiegend? Bei Mittelwortbildungen wie tiefgehend, weitgehend, weittragend, schwerwiegend, die jetzt oft recht breitspurig die einfachen groß, stark, schwer ersetzen, entsteht wohl Ver-
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Größtmöglichst
legenheit, wie man sie in der Steigerung behandeln soll. Es gibt hier zwei Möglichkeiten: entweder wird das Umstandswort vorn allein gesteigert: näherliegend; das werden wir tun, wenn wir die Gruppe noch als zwei Wörter empfinden; oder das ganze Wort wird gesteigert: zartfühlender; das gilt dann, wenn uns die Teile schon zu einer Einheit verschmolzen scheinen, hier also etwa denselben Sinn wie feinfühlig haben. Dazwischen aber liegen nun Zusammensetzungen, bei denen die Entscheidung kaum zu treffen ist; sogar derselbe Mensch kann darin bei verschiedenen Gelegenheiten verschieden fühlen. Zu empfehlen bleibt, überall da das vorausgehende Umstandswort zu steigern, wo es dem Sprachempfinden nicht widerstreitet. Unerträglich wirken die vielgenannteste Persönlichkeit, der schöngelegenste Teil, die leichtlaufendste Maschine, die weitblickendere Klugheit für jeden, der sich einmal klarmacht, daß hier eigentlich gesteigert wird: genannt, genannter, genanntest usw.!
Größtmöglichst Eine lächerliche Verdoppelung entsteht dann, wenn man beide Teile einer Zusammensetzung steigert. Formen wie die besteingerichtetsten Verkehrsanstalten, die bestbewährtesten Verschlüsse, die höchstgelegenste Wohnung und ähnliches statt der am besten eingerichteten oder der bewährtesten gehören dem übertreibenden Geschäfts- und Werbestil an. Auch der tiefgefühlteste Dank möchte die Meiststufe noch übersteigern; man vermeide solche Übertreibungen, wo sie noch üblich sein sollten, etwa in Ansprachen oder Briefen; sie wirken doch nur unfein und unterwürfig, soweit man überhaupt an ihre Ehrlichkeit glaubt. Überall, wo sie noch ein kümmerliches Dasein fristen, in Geschäftsbriefen usw. mögen jetzt endlich die bestmöglichst, größtmöglichst und das
Mißbrauch der Meiststufe
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törichte baldmöglichst verschwinden und einem einfachen möglichst gut, möglichst groß, möglichst bald Platz machen ! Vorsicht jedoch beim Gebrauch von möglichstl Wie gar mancher es versehentlich für womöglich einsetzt, darüber vgl. S. 272.
Mißbrauch der Meiststufe Der „Superlativ" bezeichnet zunächst nur die höchste Stufe der Steigerung, die „Meiststufe". Erst allmählich gewöhnte sich die Sprache daran, auch bloß zur Erzielung größerer Wirkung, gleichsam zur Unterstreichung Steigerungsformen zu setzen. So findet sich bei Klopstock jener eigentümliche Gebrauch der Mehrstufe: Wer nannte dir den kühneren Mann, der zuerst am Mast Segel erhob? Oder in seiner Ode „ A n Deutschland": Bist ernstes, tieferes Geistes — ohne daß von einem Vergleich hier die Rede ist. Demselben Streben entspringen gewisse Superlative unserer Geschäfts- und Zeitungssprache: Ich verkaufe zu billigsten Preisen; seltenste Gelegenheit; vordringlichste(!) Aufgabe einer tüchtigen Leitung muß es immer bleiben. Ebenso die Schlußformeln des Briefstils: Ihr ergebenster, mit hochachtungsvollsten Grüßen usw. In den meisten solcher Fälle überlege man doch, ob die Grundstufe (der Positiv) nicht besser und kräftiger wirkte oder ob das doch auch noch bestehende Wörtchen „sehr" es nicht auch täte. Vollends sollte es jedem unverdorbenen Sprachgefühl widerstreben, solcher Meiststufe das unbestimmte Geschlechtswort zu geben: diese Kunst ist wie eine seltenste Blume — ein Fünzigjähriger, der einer reifsten Zukunft entgegengeht — die französische Revolution war nur ein Faktor in der großen Bewegung, freilich ein kräftigster, vielleicht ein entscheidendster. Eine saubere Sprache könnte z . B . im letztenSatz nur wählen zwischen: ein ganz kräftigeroder einer der kräftigsten.
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Das Binde-s Zusammengesetzte
Hauptwörter
Zusammensetzungen aus zwei Hauptwörtern wurden im Deutschen ursprünglich nur so gebildet, daß der S t a m m des ersten Wortes vor das zweite gesetzt wurde, z. B. von starken S t ä m m e n : Sprachdummheit, Dienstmann, Tagedieb (das e ist der abgeschwächte Stammausgang), Erdball, Redeteil — oder von schwachen E n d s t ä m m e n : Hahnenkamm, Zungenfehler, Augentrost. D a n n sind Zusammensetzungen auch dadurch entstanden, daß ein Hauptwort im Wesfall mit einem folgenden verschmolz, z. B. Tageslicht, Wolfsmilch, Gottesdienst. Von dieser sogenannten uneigentlichen Zusammensetzung soll nun zuerst die Rede sein. Das Binde-s Das bei den männlichen Wesfällen der uneigentlichen Zusammensetzungen natürliche s wurde später nicht mehr als Fallzeichen, sondern als ein Bindemittel aufgefaßt. So erwuchsen Neuwörter, in denen das Fugen-s nur so betrachtet werden kann, z. B. Rittersmann, segensreich (Schiller hat in der Glocke noch segenreiche Himmelstochter geschrieben). Das Binde-s trat dann auch an Wörter weiblichen Geschlechts: Liebesdienst, Liebesgabe, Arbeitsliste, Geburtstag, Hochzeitsgeschenk, Weihnachtsabend, Zukunftsmusik, Einfaltspinsel, Zeitungsschreiber, Sicherheitsnadel, Wirtschaftsgeld, Mietskaserne, ferner rücksichtsvoll, vorschriftsmäßig usw. Dieser Sprachgebrauch setzte sich u m so ungehemmter durch, als er im Niederdeutschen heimisch war. Dort gibt es von geschlechtswortlosen weiblichen Hauptwörtern einen Wesfall, wenn er voransteht, wie Mutters Liebling, vor Schwesters Tür, Tantes Sonnenschirm (Lessing: Antworts genug, über Naturs Größe). Das unorganische Binde-s findet sich im Mittelhochdeutschen erst vereinzelt; neuhochdeutsch ist es weitergedrungen
Das Binde-s
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und hat sich dann mit großer Schnelligkeit verbreitet. Noch immer sucht es seinen Bereich auszuweiten und leider nicht ohne Erfolg. Schon fängt man an zu sagen: Ratshatis, Doktorsgrad, Gewebslehre, Gesangsunterricht, teilnahmslos, Niederlagsraum, Werksbesichtigung, ja, in einzelnen Gegenden Deutschlands, namentlich am Rhein, sogar schon Stiefelsknecht, Erbsmasse (statt Erbmasse), Stadtsgraben, Nachtswächter, Zweimarksschein, Schiffsbruch,Kartoffelsbrei u.a. Häufig finden sich Zusammensetzungen mit Fabriks-: der Fabriksdirektor, das Fabriksmädchen. Nur eine Gattung hat sich des Eindringlings bis jetzt völlig erwehrt. Von Stoffnamen wie Gold, Silber, Wein, Kaffee, Mehl, Zucker usw. wird nie eine Zusammensetzung mit dem Binde-s gebildet, bloß von Tabak hört man neben den s-losen Formen: Tabaksmonopol, Tabaksfabrik. Die Tabakspfeife geht schon weit zurück. Es läßt sich keine allgemeine Regel angeben, nach der das Binde-s steht oder nicht. Sonst hieße es nicht auf der einen Seite Schweinsleder, vertragsbriichig, inhaltsreich, aber Schafleder, Kalbleder, wortbrüchig, gehaltreich. Hie und da scheint der Wohllaut im Spiele zu sein. Jedenfalls wäre es töricht, das Binde-s überall da ausrotten zu wollen, wo kein reines Wesfall-Verhältnis vorliegt. Unser Vorsatz kann nur sein, stets die s-losen Formen zu wählen, wo das Sprachgefühl sie noch anerkennt. Denn wo das s einmal festsitzt, da ist überhaupt jeder Kampf vergeblich und darum unnötig. Das ist der Fall bei vielen Zusammensetzungen mit Liebe1), Hilfe, Geschichte, hinter vielen weiblichen Wörtern, die auf t endigen, ferner bei allen, die mit -ung, -keit und -schaft ge') Unter den Hunderten mit Liebe gebildeter Zusammensetzungen haben nur wenige das s nicht: liebreich, liebevoll, liebeglühend, lieblos, liebedienerisch, Liebedienerei, die letzten wohl deshalb, weil hier mehr ein Wemfall-Verhältnis gefühlt wird. Wustmann.
Sprachdummheiten.
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Tintefaß oder Tintenfaß?
bildet sind, endlich bei den Fremdwörtern auf -ion und -tät. Hier jetzt noch das s wieder loswerden zu wollen, wäre ein Kampf gegen Windmühlenflügel. Jean Paul hat schon 1817 einmal den Versuch gemacht, diese s-Krätze, wie er es nannte, zu bekämpfen, begann auch solche s aus seinen Werken auszumerzen; es ist aber vergeblich gewesen.
Tintefaß oder Tintenfaß? Bei allen schwachen Hauptwörtern endet der Stamm ursprünglich ebenso wie ihr Wesfall auf en. So haben auch die schwachen Weiblichen eine sehr große Zahl von Zusammensetzungen mit en gebildet. Dieses en hat in das Gebiet der starken Weiblichen übergegiiffen und ist so zum Hauptbindemittel für die Weiblichen überhaupt geworden. Man denke nur an Erdenrund, Sonnenschein, Frauenkirche (d. i. Kirche unsrer lieben Frauen, der Jungfrau Maria), Lindenblatt, Taschentuch, Seifensieder, Gassenjunge, Stubentür, Gallenstein, Reihenfolge, Wiegenlied, Tintenfaß, Markthallenstraße u. a. Auch Fremdwörter haben sich dieser Zusammensetzung angeschlossen wie Visitenkarte, Toilettentisch, Sirenentöne, Kolonnadenstraße. Ein reizendes Bild in der Dresdner Galerie war das Schokoladenmädchen. Daneben gibt es natürlich Zusammensetzungen, deren erster Bestandteil den alten a-Stamm der starken Weiblichen enthält: Rachedurst, Klagelaut, Sühnetag, Wonnemond oder bei Goethe im zweiten Teil des Faust; Es wird die Spur von meinen Erdetagen nicht in Äonen untergehn. Sonst aber, besonders von schwachen Weiblichen, sollte man die einfache e-Zusammensetzung nicht bilden. Tintefaß, Sahnekäse sind weiter nichts als die oberflächliche Art, Zwei Wörter im Werfall aneinanderzurücken. Endlich bleibt für Weibliche noch die Möglichkeit, den verkürzten Stamm zu benutzen. Diese Bildungsweise gab es bei den starken, wenn sie den ersten Bestandteil einer Zusammensetzung bildeten: schon althochdeutsch ist erd-
Tintefaß oder Tintenfaß?
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richi (Erdreich). So findet sich in früherer Zeit Leichpredigt neben Leichenpredigt, und so haben wir längst Mühlgasse neben Mühlenstraße, Erdball, Erdbeere und Erdapfel neben Erdenrund und Erdenkloß, Kirchspiel und Kirchweih neben Kirchenbuch und Kirchendiener, Elbtal neben Muldental, Aschbecher neben Aschenbecher. Wo diese Kurzformen bestehen, sind sie Zeichen guter alter Bildungen, und niemand sollte sie, etwa „der Deutlichkeit halber" ersetzen oder „verbessern" wollen! Wozu also neuerdings Saalezeitung? Bei Saalzeitung könnte wohl einer an den Saal denken statt an die Saale? Denkt denn bei Saalkreis, Saaleck und bei der Saalbahn jemand daran? Die Amtssprache spricht jetzt freilich auch vom Saalekreis. Was dem Elbtal, Elbflorenz usw. Recht geblieben ist, könnte doch auch die Saale behalten! Neben die älteren Preßfreiheit, Preßgesetz, Preßvergehen, Meßamt hat unsre Gegenwart ihre Pressevertreter, Messehalle gesetzt, also wieder das äußerlichste Verfahren geübt, das es gibt: die Wörter, wie sie sind, aneinanderzureihen. Besonders bei der Zusammensetzung mit Namen wird jetzt (z. B. bei der Taufe neuer Straßen oder Gebäude) fast nur noch in dieser Weise geleimt. Wer wäre vor hundert Jahren imstande gewesen, eine Straße Augustastraße, ein Haus Marthahaus, einen Garten Johannapark zu nennen! Da sagte man Annenkirche, Katharinenstraße, Marienbild, und es fiel doch auch niemand ein, dabei an eine Mehrzahl von Annen, Katharinen oder Marien zu denken 1 ). ') Hier ist auch ein Hinweis über die W o r t t r e n n u n g zwischen zwei Zeilen am Platze. Wo es sich um zusammengesetzte Wörter handelt, ist es ganz selbstverständlich, daß sie nicht an einer beliebigen Stelle, sondern einzig in der Fuge getrennt werden sollen. Sonst kann es vorkommen, daß mit einmal irreführende oder spaßhafte Wortteile dastehen, an denen der Leser hängen bleibt; so wenn ihm begegnet: Spargel-der oder beste-hende oder Pferdeei-senbahn oder Ta-bakpfeife!
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Apfelwein oder Apfelwein?
Äpfelwein oder Apfelwein? Unnötigen Aufruhr und Streit erregt bisweilen die Frage, ob in dem Bestimmungswort einer Zusammensetzung die Einzahl oder die Mehrzahl am Platz sei. Einen Braten, der nur von einem Rind geschnitten ist, nennt man Rinderbraten, eine Schüssel Mus dagegen, die aus einem halben Schock Apfel bereitet ist, Apfelmus. Das ist doch sinnwidrig, heißt es, es kann nur das Umgekehrte richtig sein! Nein, es ist beides richtig. Es kommt in solchen Zusammensetzungen weder auf die Einzahl noch auf die Mehrzahl an, sondern nur auf den Gattungsbegriff. Die eine Mundart verfährt so, •die andere so, und selbst innerhalb der guten Schriftsprache waltet hier scheinbar die seltsamste Laune und Willkür. Im Norden hält man sich ein Kindermädchen, auch wenn man nur ein Kind, an der Donau eine Kindsmagd, auch -wenn man sechs Kinder hat. In Süddeutschland sagt man Schweinsbraten, in Norddeutschland Schweinebraten. Man sagt: Freundeskreis, Ortsverzeichnis, Baumschule, Fischteich, obwohl man hier doch überall an eine Mehrzahl denken sollte; dagegen wieder Kinderkopf (in der Malerei), Liedervers, Eierschale, Lämmerschwänzchen, Gänsefeder, Hühnerei, obwohl ein Vers nur zu einem Liede, eine Schale nur zu einem Ei gehören kann. Wer näher zusieht, findet freilich auch hinter dieser scheinbaren Willkür gute Gründe. Baumschule und Fischteich sind noch nach der ursprünglichen Zusammensetzungsweise mit dem bloßen Stamme des ersten Wortes gebildet. Ortsverzeichnis und Freundeskreis haben das s, das ursprünglich dem vorgesetzten männlichen Wesfall zukommt, aber von da aus weiter gegriffen hat und zum Bindemittel schlechthin geworden ist. Ebenso natürlich erklärt sich die Gruppe mit Mehrzahlform und Einzahlbedeutung. Gänsefeder ist zum Beispiel eine Zusammensetzung mit dem Wesfall der Einzahl, der mittelhochdeutsch gense lautete. Auch andere
Speisekarte oder Speisenkarte?
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Zusammensetzungen wurden irrtümlich für die Mehrzahl gehalten. So Narrenkappe, Frauenschuh, wo der erste Bestandteil als der Stimm oder als der Wesfall der Einzahl,, aber auch als die Mehrzahl gefaßt werden konnte. Solchen sind dann Zusammensetzungen wie Äpfelwein nachgebildet. Daher kann Äpfelwein neben Apfelwein ruhig bestehenDer wirklichen und scheinbaren Mehrzahlformen gibt es zu viel, als daß ihnen ein Eingreifen in dieses Gebiet der Zusammensetzungen mit Gattungsbegriffen verwehrt werden könnte. Schwankt man doch auch in Zusammensetzungen wie Anwaltstag, Juristentag, Arztetag, Rektorenkonferenz, Gastwirtverein, Gastwirtstag, Architektenverein. Wenn etwas hier bestimmend wäre, so könnte es nur der Wohlklang sein. Zu Arztetag hat man sicherlich gegriffeil, weil Arzttag und Arztstag unerträglich klingen, während gegen eine Arztversammlung niemand etwas einwenden wird.
Speisekarte oder Speisenkarte? Wenn in Zusammensetzungen das Bestimmungswort ein Zeitwort ist, so darf dieses nur in der Form des Stammes erscheinen; daher heißt es: Schreibfeder, Reißzeug, Stimmgabel, Hörspiel, Eßzimmer, Spinnstube, Springbrunnen, oder auch mit einem Bindeselbstlaut, ob dieser nun zum Stamm gehört oder nicht: Wartesaal, Singestmde, Sendefolge, Bindemittel. Daneben wiederum die älteren Sendbote und Bindfaden; in Süddeutschland sagt man übrigens auch Wartsaal, Singstunde. Nun gibt es auch Zeitwortstämme, die auf (e)n ausgehen, z. B. zeichen, rechen, trocken', die Nennformen dazu heißen: zeichnen (ursprünglich zeichenen). rechnen (ursprünglich rechenen), trocknen. Werden diese in der Zusammensetzung verwendet, so können natürlich nur Formen entstehen wie Rechenstunde, Trockenplatz, Zeichensaal und nicht etwa Mißgebilde wie Zeichnensaal, die früher tatsächlich vorkamen.
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Speisekarte oder Speisehkarte?
Auch Speisekarte ist eine solche Zusammensetzung mit Zeitwort. Alles, was zum Speisen gehört: die Speisekammer, das Speisezimmer, der Speisesaal, das Speisegeschirr, der Speisezettel — alles ist mit demselben Zeitwortstamm zusammengesetzt. So ist auch die Speisekarte nicht die Karte, auf der die Speisen verzeichnet stehen, sondern die Karte, die man beim Speisen gebraucht, wie die Tanzkarte die Karte, die man beim Tanzen gebraucht, das Kochbuch das Buch, das man beim Kochen benutzt, die Spielregel die Regel, die man beim Spielen beobachtet, die Bauordnung, der Fahrplan, die Singweise usw. Da brauchte man nicht statt der Speisekarte die Speisenkarte einzuführen, wie es in vielen Gegenden Deutschlands und der Schweiz geschehen ist. Freilich ist auch diese Bildung sinngemäß; sie stellt neben die Getränkekarte die Karte der Speisen; aber sie entsprang doch wohl dem Irrtum, daß Speisekarte eine falsche Zusammensetzung mit der Einzahl sei.
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Zur Satzlehre Die Sprache schlägt alle feinsten Fibern ihrer Wurzeln in die nationale Geisteskraft und steht als Mittelpunkt, in dem sich die verschiedensten Persönlichkeiten vereinigen, mit dem Charakter in engster und regster Wechselwirkung. Die tvahre Heimat ist eigentlich die Sprache. Wilhelm von Humboldt
Die meisten Fehler gegen Richtigkeit und guten Geschmack werden natürlich auf dem schwierigsten Gebiete der Sprache, auf dem des Satzbaues, begangen. Hier sollen zunächst Satzgegenstand und -aussage und dann der Gebrauch des Zeitworts in Haupt- und Nebensätzen besprochen werden. Unterdrückung des Satzgegenstandes Nicht bloß in dem Geschäftsstil, sondern im Brief überhaupt, halten es viele für ein besondres Zeichen von Höflichkeit, das „Subjekt" ich oder wir zu unterdrücken. Kaufleute schreiben in ihren Geschäftsanzeigen: Kisten und Tonnen nehmen zum Selbstkostenpreise zurück, Winkelzeitungen drucken über ihren Anzeigenteil: Sämtliche Anzeigen halten der Beachtung unsrer Leser empfohlen, und Arzte machen bekannt '.Habe mich hier niedergelassen, oder: Meine Sprechstunden halte von heute ab von acht bis zehn Uhr. Auch Frauen und Mädchen, denen man etwas Geschmack zutrauen sollte, schreiben: Vorige Woche habe mit Papa einen Besuch bei R.s gemacht. Wenn man jemand seine Hochachtung unter anderm auch durch die Sprache bezeigen will, so ist das gar nicht übel.
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Die Ausstattung war eine glänzende
Aber vernünftigerweise kann es doch nur dadurch geschehen, daß man die Sprache so sorgfältig und sauber behandelt wie irgend möglich, und nicht dadurch, daß man den „grammatischen Selbstmord" begeht, wie es Jean Paul genannt hat, ich oder wir wegzulassen, wenn er in Kaufmannsbriefen las: Empfing Ihr Geehrtes(1) vom Gestrigen(1). Derartiges schleppte sich aus alten Brieftstellern fort —wer Gelegenheit nimmt, in Goethes späteren Briefen zu lesen, kann mit Erstaunen sehen, daß auch er sich vielfach so ausgedrückt hat; das sollte aber doch endlich einmal überwunden werden. Ganz anders als diese einer Stilunart entsprungene Streichung des Fürworts ist sein Fehlen in der volkstümlichen Rede und im Volkslied zu beurteilen: Bist nicht gescheit! — Bleibst sitzen, du Racker 1—Bin durch die Alpen gezogen — Bin ein fahrender Gesell — Bist mir treu geblieben? usw. Die Herzlichkeit und Innigkeit solcher Ausdrucksweise wird jeder nachfühlen, und das Fehlende ist aus der Zeitwortform aufs leichteste zu ergänzen. Töricht ist natürlich, wenn man nicht verstanden hat, zu fragen: Wie meinenl Soll da wir oder Sie ergänzt werden? Das ist nichts als eine modische Redensart. Auch gekürzte Satzanfänge: kommt hinzu, daß — überflüssig zu sagen, daß — mag sein, daß — und ähnliche sollte man nicht zu oft verwenden.
Die Ausstattung war eine glänzende Wer schreibt: 'Das Verfahren ist ein sehr einfaches' anstatt des richtigen: "Das Verfahren ist sehr einfach', begeht nicht nur eine Geschmacklosigkeit, sondern auch einen gedanklichen Fehlerl Denn ein Eigenschaftswort mit Endung in der Satzaussage hat nur in einem Falle Sinn, nämlich wen n der Satzgegenstand durch die Aussage in eine bestimmte Klasse oder Sorte eingereiht werden soll. So, wenn man sagt: die Kirsche, die du mir gegeben hast, war eine saure —
Die Aasstattang war eine glänzende
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diese Frage ist eine rein wirtschaftliche — das letzte Jahr war für die Geschäftswelt kein günstiges. 'Dieser Schluß ist logisch' heißt, er entspricht der Logik — 'dieser Fehler ist ein logischer' will sagen, es ist nicht einer gegen die Sprachlehre, sondern einer gegen die Regeln des Denkens. Die Kirsche ist sauer — das darf man wohl von einer unreifen Süßkirsche sagen, aber nicht, wenn man ausdrücken will, daß die Kirsche zu der Gattung der sauern Kirschen gehöre. An ein Soitieren ist aber doch nicht zu denken, wenn jemand sagt: meine Arbeit ist eine vergebliche gewesen. Es fällt dem Schreibenden nicht im Traume ein, die Arbeiten etwa in erfolgreiche und vergebliche einteilen und nun die Arbeit, von der er spricht, in die Klasse der vergeblichen einreihen zu wollen, sondern er will einfach ein Urteil über seine Arbeit aussprechen. Da genügt es doch, zu sagen: meine Arbeit ist vergeblich gewesen. Das Eigenschaftswort ohne Endung also urteilt hier, das mit Endung teilt ein. In der Unterhaltung sagt kein Mensch: die Suppe ist eine zu heiße, aber eine wohlschmeckende. Der lebendigen Sprache ist die unnötige Dehnung des Ausdrucks ganz fremd, sie gehört ausschließlich der Papiersprache an, stellt sich immer nur bei dem ein, der die Feder in die Hand nimmt, oder bei dem Gewohnheitsredner, der bereits Papierdeutsch spricht, oder dem Philister, der sich am Biertisch in der Sprache seiner Leibzeitung unterhält. Die Papiersprache aber tut mit Vorliebe so, als ob sie einteilen müßte, auch da, wo das Eigenschaftswort durch ein Umstandswort gesteigert wird, so daß gar kein Zweifel darüber sein kann, daß ein Urteil ausgesprochen werden soll. — die Ausstattung war eine überaus vornehme — die Organisation ist eine sehr straffe — der Beifall war ein wohlverdienter — die Stellung des neuen Leiters war eine ungemein schwierige — die Verfrachtung ist eine außerordentlich zeitraubende und kostspielige — dieser Standpunkt ist ein völlig undurch'
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Die Ausstattung war eine glänzende
führbarer—allen Verehrern Menzels dürfte der Besitz dieses Kunstblattes ein sehr willkommener (!) sein. Ebenso dann auch in der Mehrzahl: die Meinungen der Menschen sind sehr verschiedene — die mythologischen Kenntnisse der Schüler sind gewöhnlich ziemlich dürftige. Ist die Satzaussage verneint, so heißt es in dieser Sprache natürlich kein statt nicht: die Schwierigkeiten der Verpflegung waren keine geringen — die Kluft zwischen den einzelnen Ständen war keine sehr tiefe. Man reißt sogar feststehende formelhafte Verbindungen, wie: eine offene Frage, ein frommer Wunsch, blinder Lärm, auseinander, macht die Satzaussage zum Gegenstand und schreibt nicht etwa: Es ist zum Glück nur ein blinder Lärm, und natürlich auch nicht: Der Lärm war zum Glück nur blind, sondern, und damit hat man den Gipfel des guten Geschmacks erstiegen: Der Lärm war zum Glück nur ein blinder! Die Frage, ob das Werk fortgesetzt werden sollte, war lange Zeit eine offne — dieser Wunsch wird wohl ewig ein frommer (!) bleiben. Von der einfachen mit „ist" gebildeten Aussage geht aber der Schwulst nun weiter zu den Zeitwörtern, die mit doppeltem Wenfall, einem äußeren und einem inneren, verbunden werden. Auch da heißt es nur noch: diesen Kampf kann man nur einen gehässigen nennen (statt: gehässig nennen!) — ich möchte diesen Versuch nicht als einen durchaus gelungenen (statt: als durchaus gelungen) bezeichnen — das, was uns diese Tage zu unvergeßlichen macht (statt: unvergeßlich macht!); endlich in der Leideform: der von den Bomben angerichtete Schade wird als ein beträchtlicher (statt: als beträchtlich) bezeichnet. Ganz papieren wird der Ausdruck, wenn statt des Eigenschaftsworts oder daneben ein Mittelwort erscheint, z. B. das Verfahren ist ein durchaus den Gesetzen widersprechendes. •Hier liegt ein doppelter Schwulst vor: das einfache Zeitwort widerspricht wird zertreten zu: ist widersprechend, und dazu
Eine Menge war oder waren?
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behängt man das endungslose Mittelwort noch mit der Endung: ist ein widersprechendes. Aber gerade auch solchen Sätzen begegnet man täglich: das Abstimmungsergebnis ist ein überraschendes — die Bewässerung ist eine sehr schwache und keineswegs ins Gewicht fallende — die Sprache des Aufrufs ist eine klare, einfache und allgemein verständliche, vom Herzen kommende und zum Herzen gehende — im ganzen ist das Werk freilich kein den Gegenstand erschöpfendes; auch in der Leideform: der Zweck des Buchs ist ein durchaus anzuerkennender (statt durchaus anzuerkennen). Sollten diese breitspurig einherstelzenden Satzaussagen wirklich von irgendwem für eine besondere Schönheit gehalten werden? Wer aber einmal auf sie aufmerksam geworden ist, der müßte doch jeden Rest von Sprachgefühl verloren haben, wenn er sie nicht so schnell wie möglich abzuschütteln suchte.
Eine Menge war oder waren? Wenn der Gegenstand eines Satzes aus einem Wort wie Zahl, Menge, Masse, Fälle, Haufe, Reihe mit einer Mehrzahlergänzung besteht, so wird bei der Aussage sehr oft ein Fehler in der Zahl gemacht. Die Beifügungen bei diesen Wörtern erscheinen in dreifacher Gestalt: i . eine Menge Menschen. Hier wird Menschen kaum mehr als Wesfall gefühlt, sondern durchaus als Beisatz im gleichen Fall. So setzen wir zu diesem Beisatz auch unbedenklich Wörter, die ihn als NichtWesfall kenntlich machen: ein Schock frische Eier — ein Dutzend neue Hemden — eine Flasche guter Wein — mit ein paar guten Freunden — mit ein bißchen welschem Wortputz. Nur manchmal sträubt sich ein feineres Sprachgefühl dagegen, zu sagen: ein Haufen Tote, eine Menge erregte Menschen. Wir vermissen dabei die innere Bindung zwischen den beiden Hauptwörtern und be-
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Noch einmal: Die Mehrzähl in der Satzaussage
nutzen eine der beiden anderen Möglichkeiten: 2. eine Menge erregter Menschen. 3. eine Menge von erregten Menschen. Im ersten Fall wird die Aussage in der Regel in der Mehrzahl stehen. Eine beträchtliche Anzahl Hirsche sind geschossen worden. Die Beifügung Hirsche tritt da so hervor, daß sie geradezu zum eigentlichen Satzgegenstand und für die Zahl entscheidend wird. Anders liegt es nur, wo die Mengenbezeichnung im Vordergrunde steht; auf die Frage: Wieviel kosten heut die Eier? wird die Antwort richtig zu lauten haben: Die Mandel Eier kostet 1,30 Mark. Hier handelt es sich ja gerade um denPreis des Sammelbegriffs Mandel. Und so werden die Mengenbezeichnungen Paar, Dutzend, Schock usw. im Geschäftsleben fast durchweg und zu Recht mit der Einzahl verbunden. Im zweiten und dritten der oben aufgeführten Fälle wird es stets richtiger sein, die Aussage in die Einzahl zu setzen: ein Haufen erregter Leute hatte sich eingefunden; denn der abhängige Wesfall Leute bleibt im Hintergrunde, und entscheidend für die Zahl kann dann nur die Einzahl Haufen sein. Durch den deutlichen Wesfall wird das Zusammenfassende in dem Mengenbegriff so eindringlich fühlbar gemacht, daß es in hohem Grade stört, wenn man Sätze lesen muß wie: mindestens ein Viertel seiner Lieder sind noch allbekannt — wer da weiß, wie schrecklich unbeholfen die Mehrzahl der Anfänger sind — dem Erfolge stehen eine Fülle von verschiedenen Hindernissen entgegen. Alle, die so schreiben, verraten ein stumpfes Sprachgefühl und lassen sich von dem Händler beschämen, der in der Zeitung richtig anzeigt: ein großer Posten zurückgesetzter Unterröcke ist billig zu verkaufen.
Noch einmal: Die Mehrzahl in der Satzaussage Die Denkgesetze würden erfordern, daß nach den sondernden Bindewörtern teils — teils, weder — noch, sowohl —
Die Anrede
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als auch, nicht nur — sondern auch die Satzaussage in der Einzahl stehen müßte, wenn beide Bestandteile des Satzgegenstandes die Einzahl zeigen. Doch kommen in diesem Sinn richtige Sätze nur noch recht selten vor. Die meisten sprechen nicht mehr: Weder Oper noch Operette hatte bis damals annähernd gleiche Erfolge zu verzeichnen, sondern ruhig: weder Oper noch Operette hatten... — so waren es teils die Willkür des damaligen Geschmacks, teils die Willkür des Zufalls, die zu entscheiden hatten — sowohl der Wortschatz als auch die Formenlehre haben im Verlaufe von hundert Jahren merkliche Veränderungen erfahren. Für den Sprechenden ist eben doch entscheidend, daß von mehreren „Subjekten" die Rede ist, die entweder beide, oder beide nicht, oder jedes zu seinem Teil handeln. Das Bindewort wie oder sowie nähert sich seinem Sinn nach so sehr dem „und", daß beide Teile weit eher verknüpft als verglichen scheinen und jedermann die Mehrzahl danach setzt: Der höchste Gerichtshof sowie der Rechnungshof des Reichs befanden sich nicht in der Reichshauptstadt. Bei oder richtet sich die Zahl der Aussage nach dem jeweiligen Sinn des Bindeworts. Sind gleichsam beide Glieder gesetzt, steht das oder also dem und nahe, dann wird die Mehrzahl üblicher sein; nach dem ausschließenden oder darf nur die Einzahl stehen. Für meinen Gaumen sind Reh oder Hirsch die schönsten Leckerbissen — aber: Ich weiß nicht, ob mir Fritz oder Hans lieber ist.
Die Anrede Es heißt: Verzeihen Sie, Herr Rechtsanwalt, oder: (der) Herr Rechtsanwalt möge verzeihen. Die Anrede Sie ist natürlich eine gröbliche Dummheit, die sich die deutsche Sprache selbst während ihres Lebens hat zuschulden kommen lassen, aber der einzelne kann sie
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Die Leideform
nicht mehr rückgängig machen. Auch wo man Kräfte zum Gegenstoß sammelte, ist noch wenig erreicht worden. Der Verein der Ihrzer hat sich nicht durchgesetzt, und die starke Ausbreitung, die das Duzen zweifellos durch die Kriege, bei den Werktätigen, auch an unseren Hochschulen gefunden hat, machte doch lange vor der Erfassung des ganzen Volkes halt. Eine merkwürdige Unsitte aber entsprang aus der unnatürlichen Mehrzahlsetzung des geehrten Nächsten und sollte, wie sie einstiger Unterwürfigkeit und nicht mehr zeitgemäßer Trennung der Stände recht war, endlich unterlassen werden: daß, wo jemand nicht wagt, den höher Gestellten geradezu anzusprechen, er da in der dritten Person seines Titels verbunden mit der Mehrzahl von ihm spricht; gerade wie es auch im Faust heißt: Herr Doktor wurden da katechisiert. Niemand braucht sich zu scheuen, auch bei den höchsten Titeln, wo er sie zu benutzen Gelegenheit hat, ihnen die allein berechtigte Einzahl folgen zu lassen und zu sprechen: Herr Minister wurde falsch benachrichtigt. Exzellenz ist bei meinem ersten Besuch nicht zugegen gewesen.
Die Leideform Grundsätzlich sei für den Gebrauch der Leideform bemerkt, daß sie den deutschen Stil beschwert, zumindest bei häufiger Anwendung. Die Leideform ist nun einmal bei uns keine Urform, sondern eine zusammengesetzte Wortgruppe. Das in Hilfsstellung befindliche „werden", das gleichwohl durch seine Beugsamkeit zum Hauptzeitwort wird, zusammen mit dem oft weitgetrennten Mittelwort machen den Satz unweigerlich schwerfällig. Natürlich läßt sich nun nicht jeder Leideformsatz ohne Umstände in einen Tatformsatz verwandeln. „Rom ist nicht an einem Tage erbaut worden" oder: „Es ist angeordnet, daß dieser Tag schulfrei bleibt"
Die Leideform
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führen ihre Form zu Recht. Aber wo es angeht, zumal da, wo die Leideform durch von oder durch näher bestimmt wird, ersetzen wir sie durch die Tatform und schreiben nicht: Durch die Satzung kann vorgeschrieben werden, sondern einfach: Die Satzung schreibt vor; nicht: Wenn der Antrag vom gesetzlichen Vertreter oder mit dessen Zustimmung gestellt wird, sondern: Wenn der gesetzliche Vertreter den Antrag stellt oder ihm zustimmt. Nur die Tatform des Satzes stellt den Handelnden klar und bestimmt in den Vordergrund; in der Leideform erscheint die Person nicht als handelnd, sondern nur als Veranlasser eines Vorgangs. In seinen „Fingerzeigen für die Gesetzesund Amtssprache", die nicht genug zu rühmen sind, weist Streicher darauf hin, daß die Leideform den Handelnden sogar gelegentlich zweifelhaft macht. „Das darf von dem Fahrdienstleiter nicht verlangt werden" bedeutet entweder: er darf es nicht verlangen oder: niemand darf es von ihm verlangen! Ja die Verbannung der Leideform wird geradezu ein Hauptmittel zu bewußter Stilpflege. Der Klageruf eines Sprachpflegers (Dr. Rosenthal in Lübeck) besteht zu vollem Recht: „Überall wird etwas getan, nur ganz wenige Menschen tun etwas. Wohin man blickt, überall sprechen die Menschen imPassivum: es wird bekanntgegeben, eine Verfügung wird aufgehoben, Leute werden gesucht, morgen wird Extemporale geschrieben oder ein Ausflug gemacht, durch Gottes Güte wurde uns ein Sohn beschert. So muß selbst der liebe Gott aus seinem Regimente weichen. Unterstreiche einmal rot in einem Zeitungsblatt alle passiven Formen, und du wirst erstaunen, wie rot es da brandet. Es ist nämlich so außerordentlich bequem, sich mit seiner eigenen Person zu drücken und dadurch die Verantwortung von sich abzuwälzen. Das häufige Passivum im Schreiben und Reden trägt den Makel der Energielosigkeit und des vorzeitigen Alters auf seiner Stirn. Es gehört schon ein Teil Mut dazu, sich
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Die rückbezüglichen Zeitwörter
selber als Subjekt zu bekennen und damit die Verantwortung zu tragen. Darum verrät das Aktivum Jugend und Energie. Also fasse den wahrhaft männlichen Entschluß: schreibe nie mehr ein Passivum!" D i e Mitglieder sind gebeten? Ganz undeutsch und mehr aus gedankenloser Nachäfferei des Französischen entsprungen, noch dazu eines falsch verstandenen Französischs, ist es, zu schreiben: die Mitglieder sind gebeten, pünktlich zu erscheinen. In dem Augenblicke, wo jemand eine derartige Aufforderung erhält, ist er noch nicht gebeten, sondern er wird es erst. Man kann wohl sagen : du bist geladen, d. h. betrachte dich hiermit als eingeladen. Aber die Mitteilung einer Einladung kann nur in der Gegenwart geschehen. Die rückbezüglichen
Zeitwörter
„Nach Tisch wird sich ein Stündchen hingelegt", diesen Fehler hört man jetzt oft, und darum lohnt ein Wort darüber. Es handelt sich also um den Gebrauch der sogenannten rückbezüglichen Fürwörter wie sich freuen, sich erholen, sich setzen, sich verloben, sich verirren usw. Natüilich war der ihnen eigene Wenfall ursprünglich ein wirkliches Objekt, mag man es auch schon kaum mehr als solches fühlen. Da nun aber zur Leideform niemals ein Objekt hinzutreten kann, bleibt das Fürwort hier einfach beiseite. (Mag selbst der Begründer der deutschen Sprachwissenschaft, Jakob Grimm, schreiben: wobei s i c h e r i n n e r t werden kann, es wird s i c h d a r a u f b e r u f e n , der Fehler ist auch bei ihm nicht zu leugnen!) Es ist demnach falsch, zu sagen: nach ununterbrochenen Anstrengungen wurde sich hier endlich ausgeruht. Kurz und bündig muß es heißen: es wird ausgeruht, es wird hingelegt, es wird gefreut usw.
Mißbrauch
der Vergangenheit (des Imperfekts)
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D a s Mittelwort der Vergangenheit kann bei diesen W ö r tern natürlich bloß in der Leideform erscheinen, wobei das „ s i c h " wiederum schwindet. W e r von den sich so günstig veränderten Verhältnissen spricht, begeht einen F e h l e r ; es gibt nur günstig veränderte Verhältnisse, genau so wie es nur einen verliebten Burschen oder einen verirrten W a n d e rer geben kann, obschon doch der Bursche sich verliebt und der Wanderer sich verirrt hat (vgl. auch S . 317).
M i ß b r a u c h der Vergangenheit (des
Imperfekts)
D a s „ I m p e r f e k t " ist in gutem D e u t s c h die Zeit der Erzählung. W a s heißt erzählen ? Waltraud kommt weinend aus der Kinderstube und klagt: Wolf hat m i c h geschlagen! D i e M u t t e r nimmt sie auf den S c h o ß , beruhigt sie und sagt: erzähle mir einmal, wie es Zugegangen ist. U n d nun erzählt W a l t r a u d : ich saß ganz ruhig da und spielte, da kam der böse Wolf und zupfte mich am Haar usw. M i t der Vorgegenwart (Perfekt) also hat sie die erste M e l d u n g gemacht; auf die Aufforderung der M u t ter, z u erzählen, springt sie sofort zur Vergangenheit über. D a sehen wir deutlich den Sinn dieser Zeit. Heißt erzählen nicht eigentlich, das, was geschehen ist, aufzählen, herzählen ? D a s Wesentliche einer Erzählung liegt in dem Eingehen auf Einzelheiten. Weiterhin besteht aber zwischen Vergangenheit und Vorgegenwart noch ein anderer Unterschied. Was einer in der Vorgegenwart berichtet, das ragt irgendwie in die Gegenwart hinein. D e r Vergangenheit fehlt dieses Fortwirken, diese Beziehung zum Später, sie erzählt schlechthin Vergangenes. W e n n ich eine Menschenmasse auf der Straße laufen sehe und f r a g e : was gibt's denn ? so wird mir geantwortet: der Blitz hat eingeschlagen, am Markt ist Feuer ausgebrochen. Das gilt noch, das Feuer ist noch nicht gelöscht. Wenn ich dagegen nach einigen W o c h e n oder Jahren über den Vorgang berichte, darf ich nur sagen: der Blitz schlug 6
Wustmann,
Sprachdummheiten.
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Mißbrauch der Vergangenheit (des Imperfekts)
ein, am Markte brach Feuer aus. Komme ich jedoch an dem Haus vorüber, das noch — also gegenwärtig — die Merkmale trägt, so erkläre ich meinem Begleiter: Da hat vor fünf Jahren der Blitz eingeschlagen, seitdem ist das Haus noch nicht aufgebaut. Die Vergangenheit ist daher die durchgehende Erzählzeit fast aller Romane, aller Novellen, aller Geschichtswerke. Die Vorgegenwart eignet sich dagegen zur unmittelbaren Meldung: „Seit gestern ist die Seuche zum Stillstand gekommen", „Hört, ihr Leut, und laßt Euch sagen: Die Uhr hat Mitternacht geschlagen" oder zur tatsächlichen Mitteilung. Der Unterschied ist so handgreiflich, daß man meinen sollte, er könne gar nicht verfehlt werden. Nun sehe man einmal die kurzen Meldungen in unsern Zeitungen an, die das Neueste vom Tage bringen. Das beginnt bei den ins Auge fallenden Schlagzeilen und Überschriften der großen Blätter: Feldarbeiter entdeckten ein Gotengrab — Der deutsche Gesandte verließ G. — und geht weiter bis zu dem, was aus Stadt und Land berichtet wird und ein erster Satz gleich einer Uberschrift zusammenfaßt: in Heidelberg starb Professor Braune — in Dingsda wurde die Sparkasse erbrochen — ein merkwürdiges Buch erschien in Wien. Wann denn? fragt man unwillkürlich, wenn man so etwas liest. Du willst mir doch eine Neuigkeit mitteilen und drückst dich aus, als ob du etwas erzähltest, was mit der Gegenwart gar nichts zu tun hätte. Etwas andres wird es schon, wenn eine Zeitbestimmung der Vergangenheit hinzutritt, und wäre es nur ein gestern', dann kann der Satz den Charakter der Erzählung annehmen. Es ist ebenso richtig, zu schreiben: gestern starb hier nach längerer Krankheit Professor X., wie: gestern ist hier... gestorben. Im zweiten Falle melde ich, daß das Ereignis vorliegt, im ersten Falle erzähle ich. Findet der fortschreitende Gebrauch der Vergangenheit in den Zeitungstiteln in dem sehnlichen Streben nach Kürze
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seine Erklärung und eine gewisse Entschuldigung, so sollte er wenigstens auf diesen engen Kreis beschränkt bleiben. Aber auch unsre Geschäftsleute schreiben schon so in ihren Anzeigen und Briefen und halten das für eine besondre Feinheit: ich verlegte mein Geschäft von der Petersstraße nach der Schillerstraße — ich eröffnete am Johannisplatz eine Zweigniederlassung. Ein Schulleiter schreibt einem Schüler ins Zeugnis: M. besuchte die hiesige Schule und schied heute aus. Eine Verlagsbuchhandlung schreibt in der Ankündigung eines Werkes, dessen Ausgabe bevorsteht: wir scheuten kein Opfer, die Ausstattung so prächtig wie möglich zu machen, den Preis stellten wir ganz niedrig, um unserm Unternehmen in den weitesten Kreisen Eingang zu verschaffen. Wann denn? fragt man unwillkürlich. Sind diese Sätze Bruchstücke aus einer Verlagsgeschichte? Erzählst du mir etwas aus der Geschichte deines Geschäfts? Über ein Werk, das du vor zwanzig Jahren in die Welt geschickt hast? Oder handelt sich's um ein Buch, das soeben fertig geworden ist? Eine andere Verlagsbuchhandlung schreibt auf das Titelblatt: den Buchschmuck zeichnete Fidus. Wann denn? Auch in der Umgangssprache gewinnt die Vergangenheit immer weiter Boden. Uberall kann man hören, wie einer dem andern auf der Straße zuruft: „Ja, ich kam gestern zurück", wie jemand in der Gesellschaft sagt: „Ich hatte schon den Vorzug" usw. Jeder Erzähler aber muß auch wissen, daß die Zeiten in einem bestimmten gegenseitigen Verhältnis stehen. Neben der Vergangenheit steht als Vorzeitform die Vorvergangenheit (Plusquamperfekt), neben der Gegenwart die Vorgegenwart. Richtig ist also folgender Satz einer Erzählung: Kaum hatte sich die Stadt von dem Schrecken der Belagerung erholt, da brach ein neues Unglück über sie herein. Ebenso richtig, nämlich dann, wenn die ganze Geschichte oder um der Lebendigkeit halber ein Abschnitt davon in
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Mißbrauch der Vergangenheit (des Imperfekts)
der Gegenwart erzählt wird: Kaum hat sich die Stadt von den Schrecken der Belagerung erholt, da bricht ein neues Unglück über sie herein. Andere Zusammenstellungen sind falsch! Falsch ist: das schwerste Erbteil, das der neue Theaterdirektor übernahm, ist die Gleichgültigkeit der Menge; falsch ist: auch die vorliegende Arbeit führt nicht zum Ziel, trotz der großen Mühe, die der Verfasser auf sie verwandte (statt: verwendet hat, denn die Arbeit liegt doch vor!) — da die Ehe des Herzogs kinderlos blieb (statt: geblieben ist), folgt ihm sein Neffe in der Regierung — die letzten Wochen haben dazu beigetragen, daß das Vertrauen in immer weitere Kreise drang (statt: gedrungen ist). Immer wieder findet sich diese starke Vorliebe für die Vergangenheit. Wenn man sich danach umtut, wo denn die Abneigung gegen die Vorgegenwatt herrührt, so wird die richtigste Begründung lauten: die zusammengesetzte Form ist dem schnellebigen Gegenwartsmenschen zu unbequem, zu unhandlich geworden. Wie er in Depeschen aus verständlicher Ersparnis kürzt: „Ankam gestern Kiel" statt: Ich bin gestern in Kiel angekommen, so ist dieser Gebrauch allmählich auch in die mündliche Rede gedrungen, wobei man es überdies noch wohltuend empfindet, das zusammengehörige „bin angekommen" nicht an zwei verschiedenen Stellen des Satzes suchen zu müssen. Vielleicht ist aber der Mißbrauch der Vergangenheit in Norddeutschland auch bei dem lebhafteren Betrieb der englischen Sprache durchNachäfferei des Englischen vermehrt worden? Der Engländer sagt: I saw him this morning (ich habe ihn heute Morgen gesehen) — I expected you last Thursday (ich habe Sie vorigen Donnerstag erwartet) — That is the finest ship I ever saw (das ist das schönste Schiff, das ich je gesehen habe). In Süddeutschland aber kommt dazu noch eine andre Quelle. Der bayrisch-österreichischen Mundart fehlt die Vergangenheit (mit Ausnahme von ich war) gänzlich; sie
Der Kampf um das Worden
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kennt weder ein hatte, noch ein ging, noch ein sprach, sie braucht in der Erzählung immer die Vorgegenwart (bin ich gewesen — hab ich gesagt). Daher hat diese Form in Süddeutschland den Beigeschmack des Gewöhnlichen, und wenn der einfache Mann Schriftdeutsch sprechen will, so gebraucht er nun umgekehrt überall die Vergangenheit, auch da, wo sie gar nicht hinpaßt. Häßlich ist die „habe gehabt + Mittelwort"-Form, wie man sie in Berlin gerade beim einfacheren Mann hört. Manchmal ist sie nichts als eine sinnlose Verdoppelung: Und da habe ich ihm gesagt g e h a b t . . . ; manchmal aber auch Zeugnis eines richtigen Sprachempfindens: Die Mutter schilt „ich habe dir doch verboten gehabt, daß du ausgehen solltest" ode" „nun habe ich die Stube gekehrt gehabt, und du machst sie wieder schmutzig". Beidemal soll eben mehr ausgedrückt werden, ab es die Vorgegenwart allein täte; „ich habe die Stube gekehrt" würde doch heißen: das besteht noch fort, sie ist infolgedessen noch rein; „ich habe sie gekehrt gehabt" versetzt diesen Zustand des Gereinigtseins in die Vergangenheit. Im Deutschen aber dient zur Bezeichnung dieses Zeitverhältnisses die Vorvergangenheit. Nicht logisch richtiger, aber ungleich geschickter hätte es geheißen: ich hatte dir doch verboten auszugehen.
Der Kampf um das Worden In der hochdeutschen Schriftsprache drückt die Vorgegenwart der Leideform ganz Verschiedenes aus, je nachdem sie mit oder ohne worden steht: das eine Mal eine Begebenheit, das andere Mal einen aus einer Handlung hervorgegangenen Zustand. Vergleiche: Die Ausstellung ist heute eröffnet worden — Hiermit ist die Ausstellung eröffnet (d. h. man kann sie jetzt besuchen). Im Kreisblatt kann nach der Einweihung eines neuen Sportplatzes der Satz stehen: Gestern ist am Rande der Rennbahn eine schöne Fechterfigur aufgestellt worden; aber
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Der Kampf um das Worden
der M a n n , der den Fremden später durch die Anlagen f ü h r t , weist i h m : hier ist . . . aufgestellt. Der erste Satz meldet den Vorgang oder die Handlung des Aufstellens — das ist das eigentliche und wirkliche Perfekt; der zweite beschreibt den durch die Handlung des Aufstellens geschaffenen gegenwärtigen Zustand — das ist das, was die Sprachlehre Perfectum praesens nennt; farbloser, aber inhaltlich gleich könnte es da heißen: hier steht eine Fechterfigur. — Der Altarraum ist mit fünf Gemälden geschmückt worden — das ist eine Mitteilung; der Altarraum ist mit fünf Gemälden geschmückt — das ist Beschreibung eines Zustands. Wenn mir ein Freund Lust machen will, mit ihm vierhändig zu spielen, so sagt er: komm, das Klavier ist gestimmt'. Dann kann ich ihn wohl fragen: so? wann ist es denn gestimmt worden? aber nicht: wann ist es denn gestimmt! denn ich frage nach dem Vorgange. Der Unterschied ist so sinnfällig, daß ihn auch der Einfältigste begreifen muß, und doch wird er immer mehr verwischt. Täglich kann man Mitteilungen lesen wie: Prof. Schneider ist zum Rektor der Universität Tübingen ernannt — dem Freiherrn von S. ist auf sein Gesuch der Abschied bewilligt — oder Sätze wie: die Methode, in der Nieb u h r so erfolgreich die römische Geschichte behandelte, ist von Ranke auf andre Gebiete ausgedehnt — es kann nicht geleugnet werden, daß an Verhetzung geleistet ist, was möglich war — es ist zu bedauern, daß so viel Fleiß nicht auf eine lohnendere Aufgabe verwendet ist—wie hätte die schöne Sammlung zustande kommen können, wenn nicht mit reichen Mitteln dafür beigesteuert wäre? Immer handelt es sich in diesen Beispielen um die Handlung selbst, nicht u m den durch sie erreichten Zustand. Durch worden würde das deutlich hervortreten. Ja, nicht einmal dann wird worden gesetzt, wenn die Hinzufügung einer Zeitangabe noch besonders fühlbar macht, daß ein Ereignis (manchmal sogar ein wiederholter
Erzählung und Inhaltsangabe
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Vorgang) ausgedrückt werden soll, nicht die dadurch entstandne Sachlage. Wie oft heißt es in Zeitungen und neuen Büchern: die Sperre der gefährdeten Wegstrecke ist heute wieder aufgehoben (worden! möchte man immer dem Schreiber zurufen) — diese Frage ist schon einmal aufgeworfen und damals in verneinendem Sinne beantwortet (worden!) — vorige Woche ist ein Flügel angekommen und unter großen Feierlichkeiten im Kursaal aufgestellt (worden!) — in späterer Zeit sind an dieser Tracht die mannigfachsten Veränderungen vorgenommen (worden!) — an der Stelle, wo Teils Haus gestanden haben soll, ist 1522 eine mit seinen Taten bemalte Kapelle errichtet (worden1.) — am Tage darauf, am 25. Januar, sind noch drei Statuen ausgegraben (worden!). Sollte der neue Gebrauch ganz durchdringen, dann wäre unser Deutsch wieder um eine Unterscheidung ärmer, freilich auch um eine unbequeme Form, wie sie das Mittelwort mit worden fraglos darstellt und die darum der Gegenwart nicht mehr gefällt. Übrigens wäre man dann zu dem Z u stand vor 1500 zurückgekehrt, der sich im norddeutschen Platt unbeirrbar gehalten hat (auch die großen norddeutschen Erzähler Raabe, Storm, Paul Ernst lassen das worden fast immer weg) und sich nun von dort aus über Berlin wieder ausbreitet. Erzählung und Inhaltsangabe Zwischen den beiden ist ein klarer Unterschied. Schon die Aufsatzlehre an den Schulen bringt ihn den Schülern bei. Wenn die Großmutter dem Kind ein Märchen erzählt, bedient sie sich der Vergangenheit, nur die Ereignisse, die vor der Geschichte liegen, also zu der sogenannten Vorfabel gehören, trägt sie in der Vorvergangenheit nach. Zieht sich nun die Vorfabel in die Länge, so ist allerdings das viele hatte und war nicht hübsch, und der Erzähler sucht dann gern auch für die Vorfabel in die Vergangenheit einzulenken. Das geschickt und fein und an der richtigen Stelle zu
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Zeitungsüberschriften
machen, etwa, indem er jemand das Frühere erzählen läßt, ist eine Aufgabe, an der viele Erzähler scheitern. Ganz anders bei der Inhaltsangabe! Wer die Aufgabe hat, den Inhalt eines Romans, eines erzählenden Gedichts, eines Schauspiels vorzutragen, der muß wissen, daß es auch dafür eine bestimmte Zeit gibt. Gleichwohl kann man immer wieder nicht nur Schüler-, sondern auch Zeitungsaufsätze lesen, deren Darstellung zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Vorgegenwart und Vorvergangenheit, d. h. zwischen Inhaltsangabe und Erzählung nur immer so hin und her taumelt. Und doch ist diese Aufgabe eigentlich nicht schwer. Ein Buch, das besprochen wird, liegt vor. Da hat keine andre Zeit etwas zu suchen als Gegenwart und Vorgegenwart, die Gegenwart für die Geschichte selbst, die Vorgegenwart für die Vorgeschichte. Wer den Inhalt etwa von Fontanes „Poggenpuhls" wissen will, fragt nicht: wie war denn die Geschichte? sondern: wie ist denn die Geschichte? Und anders kann auch der nicht antworten, ider den Inhalt des Buches angibt; er kann nur sagen: die Geschichte ist so, und fängt an: „In einer Straße des Berliner Südwestens lebt eine verwitwete Majorin mit ihren Töchtern; die Familie Poggenpuhl ist früher in Pommern ansässig gewesen, aber seit dem Tode des Vaters usw." Auch wer in der Unterhaltung den Inhalt eines Schauspiels angibt, das er am Abend zuvor im Theater gesehen hat, nimmt keine andere Zeit und kann keine andere nehmen, es sei denn, daß er sich selbst wieder zum Erzähler machen möchte von dem, was er dort gesehen hat. Er erhebt damit gleichsam den Anspruch, die Geschichte selbst zu erfinden, oder er möchte durch die angenommene Rolle des Erzählers in der Vergangenheit lebhafter wirken.
Zeitungsuberschriften Es gibt bereits gutbezahlte Überschriftenfinder für die Presse, ein beredtes Zeugnis dafür, was für Schwierigkeiten
Zeitungsüberschriften
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hier zu überwinden sind, aber auch dafür, daß viele Schriftleiter sich bemühen, ihrer Herr zu werden. Was wird von einer vorbildlichen Zeitungsüberschrift verlangt, vor allem von den Schlagzeilen am Kopf der Blätter? Kürze und Schlagkraft. Schlecht ist inhaltlose Kürze, schlecht zu ausführliche Erzählung; dazu müssen Verschwommenheit und Doppelsinn unterbleiben und die Regeln eines guten Deutschs beachtet werden. Die Pflege guter Überschriften ist im deutschen Blätterwald außerordentlich verschieden. Hier kommt es fast nur auf den Schriftleiter an, ob es sich nun um die Leistungen großstädtischer oder dörflicher Zeitungen handelt. Fast immer genügt schon eine Nummer, zu erkennen, ob das Blatt auf diese Dinge Wert legt. Die häufigsten Häßlichkeiten oder Fehler sind folgende: Übertriebene Kürze, besonders durch Weglassen des Geschlechtsworts. Dies widerspricht unserem Sprachempfinden natürlich nur, wo es sich um einen ganzen Satz handelt, nicht nur um ein Stichwort. Während wir also gegen „Frecher Diebstahl", „Aufgefundener Leichnam", „Fahrrad gestohlen" nichts einwenden — obwohl z. B. als Titel einer Erzählung solche geschlechtswortlose Kürze unangenehm wirkte — nehmen wir sogleich Stellung gegen folgende Überschriften: BVG senkt Preise, Kapitän schildert Schiffsuntergang, Fischkutter rettet Flieger. Am peinlichsten ist es, wenn das Geschlechtswort hinter dem Verhältniswort fehlt: Auto rast in Volksmenge, Frau in Wohnung beraubt, Streik auf Schiffswerft. Man mag solche Überschrift noch so sehr als Marke ansehen, die gleich der Drahtsprache einfach einen praktischen Zweck zu erfüllen hat — wo es gelingt, dem natürlichen Sprachleben und dem Sprachempfinden der Leserschaft nahe zu bleiben, da wird der Erfolg der größte sein! Zudem führt die Geschlechtswortlosigkeit zu allerlei Mißverständnissen. Ausländer in D-Zug beraubt, Zehnjährige
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Zeitungsüberschriften
verschwunden, Inhaber verführt Angestellte — wer weiß b u solchen Titeln, worum es sich handelt: Sind ein oder mehrere Ausländer beraubt? Ist ein zehnjähriges Mädchen oder sind mehrere Kinder von 10 Jahren verschwunden? Daß es sich um zwei minderjährige Gehilfinnen des Inhabers handelte, verriet die Überschrift ebenfalls nicht. Auch sonst hüte man sich vor mißverständlichen und irreführenden Überschriften: „Geheimrat T. vom Polizeipräsidium verhaftet". Hat das Polizeipräsidium ihn verhaftet, oder gehörte er dem Polizeipräsidium an? „Probeunfall von Vera Schwarz." Handelt es sich um einen Unfall zur Probe oder war es ein Unfall während der Probe? Die schwierigste Frage ist die, in welche Form sich das Zeitwort der Überschrift kleiden soll. Immer mehr bürgert sich die Vergangenheit ein entgegen allen Bedenken, die oben in dem Abschnitt „Mißbrauch der Vergangenheit" vorgetragen sind. Großfeuer vernichtete fünf Häuser, Furtwängler feierte neue Triumphe, Der König selbst überreichte den Nobelpreis; so geht es fort durch ein einziges Blatt. Was soll an die Stelle treten? Die Vorgegenwart wird von der Sprachlehre gefordert, verbietet sich aber tatsächlich für Schlagzeilen durch ihre Umständlichkeit: haben gefeiert, hat empfangen ist für Druckbild und Blickfang schier unmöglich. In vielen Fällen kann die Gegenwart helfen, viel häufiger, als sie angewandt wird: überall da nämlich, wo es sich unmißverständlich auf Geschehenes bezieht. Doch ist zu bedenken, daß eine Überschrift „Der König überreicht den Nobelpreis" nicht deutlich macht, ob das schon geschehen ist oder erst kommen soll. Es ergeben sich bei einer letzten Musterung folgende Möglichkeiten, Geschehenes auszudrücken: i . Wo es angeht, wählt man die Gegenwart oder einen Ausdruck ohne Zeitwort. 2. An Stelle der unmöglichen zusammengesetzten Vorgegenwart sucht man mit dem bloßen Mittelwort auszukommen: glatt und unschwer geht das beim ist-Perfektum: Wie-
Zeitenverirrung bei der Nennform
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der ein Bergsteiger abgestürzt; umständlicher muss das hatPerfektum erst in die Leideform umgesetzt werden: Der Nobelpreis vom König überreicht. Die unerfreuliche Kurzform „Förster erschießt Wilddieb" müßte dann freilich durch die recht schwerfällige Wendung „Wilddieb von einem Förster niedergeschossen" ersetzt werden. Vielleicht genügt aber „Ein Wilddieb niedergeschossen"; warum soll alles gleich im voraus gesagt werden? 3. Man erlaubt die Vergangenheit in der Überschriftszeile — freilich schweren Herzens und gegen die Gesetze eines „richtigen" Deutschs.
Zeitenverirrung bei der Nennform Wenn jemand anstatt: da muß ich mich geirrt haben — sagen wollte: da habe ich mich irren müssen, so würde man ihn wohl sehr verdutzt ansehen, denn eine solche Zeitenverschiebung aus der Nennform in das regierende Zeitwort kommt, so denkt man, bei richtiger Geistesverfassung gar nicht vor. Der Fehler wird aber gar nicht selten gemacht, nur daß er nicht immer so verblüffend hervortritt, z. B . : ich glaube bewiesen zu haben, daß die Verfügung des Oberpräsidenten an dem Anschwellen der Bewegung nicht schuld sein konnte (anstatt: nicht schuld gewesen sein kann). Nicht besser, eher noch schlimmer ist es, die Vergangenheit doppelt zu setzen, z. B.: später mochten wohl die Arbeiten für den Kurfürsten dem Künsder nicht mehr die Muße gelassen haben (statt mögen). Wenn ein Vorgang aus der Vergangenheit nicht als wirklich, sondern mit Hilfe von scheinen, mögen, können, müssen nur als möglich oder mehr oder weniger wahrscheinlich hingestellt werden soll, so gehört scheinen mögen, können, müssen in die Gegenwart (die Wahrscheinlichkeit, die Möglichkeit, die Notwendigkeit bestehen fort für den von der Gegenwart aus die Entwicklung Überschauenden), die Nennform dagegen in die Vorgegenwart, denn was damit ausgedrückt wird, gehört der Vergangenheit
92 Bezügl.Nebensätze(Relativsätze) Welcher, welche, welche an und wird nur auf die Gegenwart bezogen. Es muß also heißen: mögen nicht gelassen haben. Es folge ein Muster. Die Feststellung: Ludwig scheint durch seine Vorliebe für Musik sein Fachstudium vernachlässigt zu haben — würde auf den verschiedenen Zeitstufenfolgende Entsprechungen der Aussageform und der Nennform zeigen: 1 . L. vernachlässigt — scheint zu vernachlässigen 2. L . vernachlässigte — scheint vernachlässigt zu haben (nämlich damals) 3. L . hat vernachlässigt — scheint vernachlässigt zu haben (nämlich jetzt) 4. L. hatte vernachlässigt — scheint vernachlässigt gehabt zu haben 5. L . wird vernachlässigen — scheint vernachlässigen zu wollen Alle diese Sätze gelten für den Fall, daß das Urteil (scheinen) von der Gegenwart aus gefällt wird. Bestand der Schein (nachher wurde er als falsch erkannt; denn sonst hätte das Wort in der Vergangenheit keinen Sinn) vormals, so würden die Beispiele 2 und 4 lauten: L . schien zu vernachlässigen und: L . schien vernachlässigt zu haben.
Bezügliche Nebensätze (Relativsätze) Welcher, welche, welches Die Relativsätze sind die am häufigsten vorkommenden Nebensätze. Das bezügliche Fürwort welcher gehört, wie so vieles andre, fast ausschließlich dem Papier an und trägt zu der breiten, schleppenden Ausdrucksweise unsier Schriftsprache bei. In der älteren Sprache war welcher (swelher) nur das verallgemeinernde, unbestimmte Relativ, wie noch oft bei Luther: welchen der Herr lieb hat, den züchtiget er. Erst seit dem
Bezügl. Nebensätze (Relativsätze) Welcher, welche, welches 93 fünfzehnten Jahrhundert ist es allmählich zum Allerweltsrelativ herabgesunken. Aber nur in der Schreibsprache; der lebendigen Sprache ist es immer fremd geblieben. Man beobachte sich selbst, man beobachte andre, stundenlang, tagelang, man wird das vollständig bestätigt finden. Es ist ganz undenkbar, daß sich in freier, lebendiger Rede, wie sie der Augenblick schafft, das Relativum welcher einstellte; jedermann sagt immer und überall: der, die, das. Es ist undenkbar, daß jemand bei Tische sagte: die Sorte, welche wir vorhin getrunken haben, oder: wir gehen wieder in die Sommerfrische, in welcher wir voriges Jahr gewesen sind. In Kurzschriftberichten über öffentliche Versammlungen und Verhandlungen findet man allerdings oft Sätze mit welcher, aber darauf ist nicht viel zu geben, diese Berichte werden überprüft, und wer weiß, wie viele der dabei erst nachträglich in welcher verwandelt werden, weil man es nun einmal so für schriftgemäß hält! Gewiß fehlt welcher bei unsern Klassikern nicht. Aber darauf berufe sich niemand! An Stellen, wie bei Goethe (in den Venezianischen Epigrammen): welche verstohlen freundlich mir streifet den Arm — oder bei Schiller (in „Shakespeares Schatten"): das große gigantische Schicksal, welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt — oder in der Zauberflöte: bei Männern, welche Liebe fühlen — oder bei Uhland: ihr habt gehört die Kunde vom Fräulein, welches tief usw., ist es nichts a b ein langweiliges Versfüllsel, eine Strohblume in einem Rosenstrauß. Seufzend müssen wir uns Prosastellen wie die Gottfried Kellers in „Romeo und Julia auf dem Dorfe" gefallen lassen: sie horchten ein Weilchen auf diese eingebildeten oder wirklichen Töne, welche von der großen Stille herrührten, oder welche sie mit den magischen Wirkungen des Mondlichtes verwechselten, welches nah und fern über die grauen Herbstnebel wallte, welche tief auf den Gründen lagen I Aber warum soll man solche gelegentlichen Verirrungen nachahmen?
94 Bezägl. Nebensätze(jRelativsätze) Welcher, welche, welches Viel trefflicher paßt das Wort für komische Wirkungen: zu beneiden sind die Knaben, welche einen Onkel haben, oder: wie z.B. hier von diesen, welche Max und Moritz hießen. Leider setzen viele Schulsprachlehren, um ja recht deutlich zu sein, als bezügliches Fürwort welcher, welche, welches immer noch an die erste Stelle. Man schlage auf, welche (hier ist es am Platze! denn hier heißt es: welche immer) man will, eine lateinische, eine griechische, eine französische, eine englische: wie ist das Relativ ins Deutsche übersetzt? Welcher, welche, welchesl Allenfalls steht der, die, das in Klammern dahinter, als ob das gelegendich einmal als Ersatz dafür geduldet werden könnte! Ist das noch aus Gründen der Deutlichkeit zu verstehen, nie dürften Beispielsätze, die zur Übung in die fremde Sprache übersetzt werden sollen, mit welcher, welche, welches beginnen, denn hier gilt es doch, gutes Deutsch in die Fremdsprache zu übertragen. Meinetwegen benutze man welcher im Unterricht ein paar Wochen lang als Verständniskrücke; aber sobald der Junge den Begriff gefaßt hat, müßte die Krücke unbedingt weggeworfen und er wieder auf seine eigenen Beine gestellt werden. Aber gibt es denn nicht Fälle, wo man welcher gar nicht umgehen kann, wo man es notwendig braucht, um einen häßlichen Gleichklang zu vermeiden? Wenn nun unmittelbar auf das Relativ der das Geschlechtswort der folgt, unmittelbar auf das Relativ die das Geschlechtswort diel — eine Verwandlung, bei der der große Vorhang nicht fällt — ein Ansager, der der deutschen Sprache selbst nicht mächtig war — auf der Wiese, durch die die Straße führt — das Tau, das das Fahrzeug am Ufer hielt — das sind doch ganz unerträgliche Sätze! Oder nicht? Gehört das nicht in das berühmte Hauptstück von den angeblich unschönen Wiederholungen, vor denen der Unterricht zu warnen pflegt? Und doch ist die Warnung hier ganz überflüssig, sie stammt nur aus der Anschauung des Papiermenschen, der die Sprache
Das und was
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bloß noch schwarz auf weiß, aber nicht mehr mit den Ohren aufzufassen vermag. Das doppelte der der oder die die flößt ihm Entsetzen ein. Aber lies doch einmal solche Sätze laut, lieber Leser, hörst du nichts? Ich denke, es wird dir aufdämmern, daß es zwei ganz verschiedene Wörter sind, die hier nebeneinander stehen: ein lang und schwer gesprochnes der (bezügl. Fürwort) und ein kurz und leicht gesprochnes der (Geschlechtswort). Was man hört, ist: deer dr. Jedermann spricht so, und keinem Menschen fällt es ein, daran Anstoß zu nehmen; warum soll man nicht so schreiben? Und fürchtet sich denn jemand vor daß dasl Jeder schreibt unbedenklich: wir glauben, daß das heiligste Band das Vaterland ist. Hier hat die Rechtschreibung das, was früher ein und dasselbe Wort war, geschieden und siehe, nun läßt der Schriftmensch das Paar für seinen Stil bestehen, obgleich sie in der Aussprache doch bedenklich übereinstimmen und keineswegs die deutliche Unterscheidung tragen wie unsere erwähnten der der oder die die! Etwas andres ist es, wenn auf einen Relativsatz ein zweiter folgt, der sich an ein Hauptwort im ersten anschließt. Da die Beziehung wechselt, hat es etwas für sich, auch das Fürwort wechseln zu lassen; die Abwechslung kann da sogar die richtige Auffassung erleichtern und beschleunigen, wie in folgenden Sätzen: Gesetze, die bestimmte Einrichtungen zum Gegenstande haben, welche nur bei der katholischen Kirche vorkommen (dabei empfiehlt sich übrigens aus rhythmischen Gründen, der immer an die erste, und das vollere welcher an die zweite Stelle zu bringen) — es fehlte bisher an einer Darstellung, die allen Anforderungen entsprochen hätte, welche an eine Fachzeitschrift zu stellen sind..
Das und was Statt des bezüglichen das darf nicht was geschrieben werden, wenn es sich auf einen bestimmten einzelnen Gegen-
Das und was stand bezieht, z. B. das Haus, was — das Buch, was — das Ziel, was. Nur die niedrige Umgangssprache drückt sich so -aus; in der Schrift wie in der feineren Umgangssprache ist was als Relativ auf ganz bestimmte Fälle beschränkt: Es folgt nur auf die allgemeinen Für- und Zahlwörter (das, dasselbe, etwas, manches, vieles, das wenige, das letzte usw.)» Bei den hauptwörtlichen Eigenschaftswörtern ist wohl zu unterscheiden zwischen solchen Fällen, wo es sich um «in Allgemeines handelt, und solchen, wo etwas Besonderes, Bestimmtes, Einzelnes vorschwebt. Fälle der zweiten Art sind: das Besondere, das dem Allgemeinen untergeordnet ist — das Schiefe und Hinkende, das jeder Vergleich hat — oder Büschs tiefsinnige Feststellung: Das Böse, dieser Satz steht fest, ist stets das Gute, das man läßt — oder bei Lessing: wenn an das Gute, das ich zu tun vermeine, gar zu nah was Schlimmes grenzt. Dagegen ist hinter der Höchststufe in den meisten Fällen was das Richtige, und zwar überall, wo vor dem Relativ noch ein Glied zu ergänzen ist, das auf „was" hinweist. Wenn ich sage: das Erhabenste, was Beethoven geschaffen hat — so meine ich nicht das Erhabenste überhaupt, sondern nur das Erhabenste von dem oder von Ottern, was Beethoven geschaffen hat. Wenn ich dagegen sage: das Erhabenste, das wir Gott nennen, so ist das ErJiabenste schlechthin gemeint. Beispiele der ersten Art sind: 4as Höchste, was wir erreichen können — das Schlimmste, was einem Staate widerfahren kann — das Beste, was du wissen kannst, darfst du den Buben doch nicht sagen (Faust) — er preist das Höchste, das Beste, was das Herz sich wünscht, was der Sinn begehrt (wofern man in den Schillerschen Versen die beiden was-Sätze überhaupt von den Höchststufen abhängen lassen will). Hier wird denn auch meist richtig was gesetzt. Nach der Grundstufe gebrauchen aber auch gute Schriftsteller blindlings bald das, bald was. Endlich ist was für das auch da notwendig, wo es sich auf den Inhalt eines ganzes Satzes bezieht, z. B. der Mensch
Familie „wo"
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kann lachen, was der Affe immer noch nicht fertig bringt. In einem Satze wie: es ist kein freundliches Bild, was der Verfasser vor uns aufrollt — wird nicht deutlich, ob sich was auf Bild beziehen soll; man kann den Relativsatz auch als Satzgegenstand auffassen: was der Verfasser vor uns aufrollt, ist kein-freundliches Bild. Dann wäre natürlich was richtig, sonst müßte es das heißen.
Familie „wo" Verwendet, so häufig ihr könnt, das Wörtchen wo und seine Familie: worin, womit, wofür, wogegen und wie sie alle heißen, die umgänglichen Gesellen 1 Schreibt nicht immer : ein Brief, in dem, sondern ein Brief, worin; eine Fläche, auf der, sondern eine Fläche, worauf; ein Geschenk, über das, sondern ein Geschenk, worüber J Aber wie wenigen will das aus der Feder I Sie halten es womöglich gar für falsch. Vielleicht hat ihnen als Knaben ein Lateinlehrer, der nicht Deutsch verstand, davor bange gemacht, und so schreiben sie denn: diese beiden Punkte sind es, an welchen Grimm aufs strengste festgehalten hat — der innige Zusammenhang, in welchem Glaube, Recht und Sitte stehen — das einfache, schmucklose Gewand, mit welchem uns die Natur wie eine Mutter umfängt usw. Und doch heißt es in dem Bürgerschen Spruch: Die schlechtsten Früchte sind es nicht, woran die Wespen nagen. Nun gar das einfache wol Wie bequem: das Gebäude, wo — ein Gebiet, wo — in einer Stadt, wo—in allen Fällen, wo — eine Gelegenheit, wo — dem Land, wo meine Wiege stand, ist doch kein andres gleich — und vollends dieses einfache wo von der Zeit gebraucht: wir gedenken an jene Zeit der Jugend, wo wir zuerst auszogen — die Eltern waren genötigt, über den Bildungsgang ihrer Kinder schon zu einer Zeit Bestimmungen zu treffen, wo deren Anlagen noch zu wenig hervorgetreten sind — seit dem i . September, wo
7 Wuitmann, Sprachdummheiten*
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Welch letzterer
der unselige Krieg ausbrach — wie wenige wagen das zu schreiben oder haben auch nur eine Ahnung davon, daß das grammatisch ganz richtig und hundertmal schöner ist als das ungeschickte: seit dem i . September, an welchem Tage— seit 1866, in welchem Jahre usw. Hier ist der Beisatz Tag und Jahr in den Relativsatz versetzt. Das ist vollends undeutsch und ganz dem Lateinischen nachgeahmt. Wirkt es nicht kläglich komisch, in einer Handschrift sehen zu müssen, wie der Verfasser erst geschrieben hat: der Funkspruch gelangte an demselben Tage in seine Hände, als usw., dann das als wieder durchgestrichen und darübergesetzt hat: an welchem, aber auf das gute, einfache, natürliche wo nicht verfallen ist? Wo bezeichnet nicht nur den Ort, sondern ebensogut die Zeitl Als Relativ bei Zeitbestimmungen ist übrigens auch da richtig. Allerdings veraltet sein Gebrauch etwas. Im Werther: Ja, es war einmal eine Zeit, da mir es so wohl war. — Vor drei Jahren, da ich ihn kennenlernte. Und schließlich gibt es noch eine Möglichkeit, deutsche Relativsätze einzuleiten. Wollt ihr unentwegt mit den Papiermenschen schreiben: ein Bier, das in demselben Grade ungenießbar wird, in welchem sich seine Temperatur über den Gefrierpunkt erhebt — zweifelt ihr über die Art und Weise, in welcher das Fernsehen zu vervollkommnen sei? Es gibt im Deutschen auch das Relativ wie 1 Schreibt nicht: in dem Maße, in welchem sich der junge Schiller dem Tag näherte, an welchem er sein Werk auf der Bühne sehen sollte, sondern viel lieber: in dem Maße, wie . . . dem Tag, wo . . . Die Art und Weise, wie etwas geschieht, der Ort, wo, und die Zeit, wo oder da es geschieht — sollst du merken 1
Welch letzterer Manchmal möchte man, nachdem man zwei, drei, vier Dinge aufgezählt hat, gerade über das zuletzt Genannte noch etwas Näheres in einem Relativsatz aussagen. Da neh-
Welch letzterer
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men viele, um ja recht deutlich zu sein, welcher letztere oder welch letzterer zu Hilfe — das rettet! Also: das Bild stellt Johannes den Täufer und den Christusknaben dar, welch letzterer von dem Täufer in die Welt eingeführt wird — eine Haupteinnahmequelle des Landes bildeten seine Erzeugnisse, wie Kobalt, Wein, Leinwand und Tuch, welch letzteres allerdings dem niederländischen nachstand — er war Beherrscher der weimarischen, gothaischen und altenburgischen Lande, welche letzteren ihm aber erst kurz vor seinem Tode zufielen — den Schluß bildet der Jahresbericht und das Mitgliederverzeichnis, welch letzteres eine große Anzahl neuer Namen enthält. Dieses letztere ist ein bequemes, aber sehr häßlich klingendes Auskunftsmittel; ein guter Schriftsteller wird nie seine Zuflucht dazu nehmen. Es läßt sich auch stets leicht vermeiden, indem man das letzte Glied für sich stellt: das Bild stellt Johannes den Täufer dar und den Christusknaben, der usw., oder indem man einfach mit einem Hauptsatz neu einsetzt: Dieser... Ebenso bequem weist jener auf das erste von zwei voraufgehenden Gliedern hin. Manchem mißbildeten Geschmack freilich gefällt dafür ein ersterer besser! Noch schlimmer ist aber, wenn, wie so oft, welch letzterer selbst da geschrieben wird, wo nur ein einziges (1) vorausgegangenes Hauptwort in Frage kommt, eine falsche Beziehung also ganz unmöglich ist, z. B.: der Lehrplan ist der Wiener Fachschule nachgebildet, welch letztere ihn schon seit längerer Zeit hat — der Urkunde ist die durch den Bischof von Merseburg erteilte Bestätigung beigegeben, welch letztere aber nichts Besondres enthält — den gesetzlichen Bestimmungen gemäß scheiden vier Mitglieder aus, welch letztere aber wieder wählbar sind — die Menge richtet sich nach den Beamten, nicht nach dem Gesetz, welch letzteres sie selten kennt. Welch ein Schwulst! Vier Silben, wo drei Buchstaben genügen! T
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Einer der schwierigsten, der oder die?
Was die Formen der hier besprochenen Redensart anbelangt, so sei bemerkt, daß ersterer und letzterer schon an sich Häßlichkeiten der Sprache sind. Nachdem aber der Sprachgebrauch nun einmal die fehlenden Steigerungsformen hier von der Höchstform abgeleitet hat, könnte sich nur ein Narr dagegen wehren. Töricht jedoch wäre es, die Vergleichsstufe letzterer auch dazu setzen, wo das letzte Glied einer ganzen Reihe gemeint ist, nicht nur das hintere von zweien. Ferner: das kürzere und durch weniger tonlose e belastete welch letzterer ist dem welcher letztere vorzuziehen. Freuen wir uns, daß das Deutsch die Stammformen welch, solch, manch als Umstandswörter bewahrt hat: manch braver Junge, solch schönen Tag usw. Natürlich dürfen diese Wörtchen kein Häkchen tragen, wie man es so oft findet; ist doch kein Buchstabe bei ihnen ausgefallen.
Einer der schwierigsten, der oder die? Es heißt: einer der merkwürdigsten Menschen, die ich kennengelernt habe. Es wäre ein Fehler, den Relativsatz an einer anzuschließen: gilt doch sein Inhalt nicht bloß von dem einen merkwürdigen Menschen, sondern von allen, aus denen der eine herausgehoben wird. Er ist eine notwendige Bestimmung dieses Hauptworts im Wesfall. Falsch ist also: ich halte das für einen der härtesten Unfälle, der je das Menschengeschlecht betroffen hat — Leipzig ist eine der wenigen Großstädte, in der eine solche Einrichtung noch nicht besteht — das Buch enthält eine der schönsten Kriminalgeschichten, die je geschrieben worden ist — Klopstock ist einer der ersten, der die Nachahmung des Franzosentums verwirft. Nur scheinbar vermieden wird der Fehler, wenn jemand schreibt: er war ein durch und durch norddeutscher Charakter, der nur die Pflicht kennt; denn hier bezeichnet Charakter die ganze Klasse; das Relativ der aber kann sich nur auf ein bestimmtes Einzelnes beziehen. Auch hier müßte
Falsch fortgesetzte Relativsätze
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es sinngemäß heißen: er war einer jener norddeutschen Charaktere, die nur die Pflicht kennen. Nicht zu verwechseln hiermit ist natürlich ein Fall wie folgender: eine der größten Schwierigkeiten für das Verständnis unsrer Vorzeit, die meist gar nicht gewürdigt wird. Hier heißt es richtig wird, denn hier bezieht sich der Relativsatz wirklich auf die eine Schwierigkeit, von der nun die Rede sein soll.
Falsch fortgesetzte Relativsätze Ein ganzer Rattenschwanz von leichten bis zu gröbsten Fehlern hängt daran, daß man den Wert des Fürworts im Relativsatz nicht beachtet, sei es dessen Satzgegenstand oder Ergänzung oder Aussagebestimmung. Wenn der Relativsatz mehrere Zeitwörter enthält, so steht das Relativ zu jedem von ihnen in demselben Verhältnis! Also darf es nicht heißen: eine Flugschrift, die er auf seine Kosten drucken ließ und sie umsonst unter seinen Anhängern austeilte, denn das vorausgesetzte die ist Satzergänzung zu „drucken ließ" und zu austeilte; so rollt das neue „sie" als lächerliches fünftes Rad am Wagen. Ebenso falsch ist: Redensarten, die der Schriftsteller vermeidet, sie jedoch dem Leser beliebig einzuschalten überläßt. Noch böser wird der Mißgriff, wenn man aus dem Relativ für das neue Zeitwort einen anderen Fall herauszieht, womit der erste erledigt und abgetan sein soll: die vielen Fische, die er bisweilen selbst füttert und ihnen zuschaut, wenn sie nach den Krumen schnappen — ein Bauer, mit dem ich über Feuerversicherungsgesellschaften sprach und ihm meine Bewunderung dieser trefflichen Einrichtung ausdrückte. Vollendeter Blödsinn erscheint in folgenden Sätzen: die neuen Verhältnisse, denen die Landesfürsten schnell nachgaben und sich zur Abdankung entschlossen (so daß) — dieser Kranke, an den ich seit zwanzig Jahren gekettet war und nicht aufatmen durfte (ohne zu) — er entwendete ver-
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Falsch fortgesetzte Relativsätze
schiedene Kleidungsstücke, die er zu Gelde machte und sich darauf heimlich entfernte (worauf) — sie erhielt Saalfeld, wo sie 1492 starb und in Weimar begraben wurde (neuer Satz!) — die Seuche, an der zahlreiche Schweine zugrunde gehen und dann noch verwendet werden (neuer Satz!). Wie sich der Inhalt dieser Sätze ausdrücken ließe, ist in den Klammern jedesmal angedeutet. In ihnen allen hat man versucht, eine weitere Mitteilung oder einen neuen Gedanken in die zweite Hälfte eines Relativsatzes hineinzupressen, obgleich — und das ist das schier Unglaubliche — das Relativ selbst weder in Form noch in Inhalt dazu im geringsten paßtl Wem solche Sätze aus der Feder fließen, der zeigt, daß er nicht einmal folgerecht denken kann, geschweige gut deutsch reden. Steht das Relativfürwort im Wesfall, so bildet man gern fehlerhafte Sätze folgender Art: Leonardo, dessen Interesse für alle Zweige der Technik bekannt war, und das gerade bei seinen Flugversuchen klar zutage trat — das Sprachgewissen, dessen Stimme sich nicht überhören läßt, die sich vielmehr geltend macht bei allem, was wir lesen und schreiben. Was ist hier geschehen? Durch das im Ohr behaltene dessen hielt man die ganze Gruppe „dessen Interesse" oder „dessen Stimme" für den Wesfall, glaubte sie daher im Werfall wiederholen zu müssen und bildete nun so unmögliche Fortsetzungen mit „und das" oder „die", die weder als dem vorderen Relativsatz nebengeordnet noch als ihm untergeordnet bestehen können. Ein beliebtes Gegenstück dazu ist es, einen zweiten Relativsatz, der dem ersten wirklich untergeordnet ist, mit und anzuknüpfen, z. B. eine Ehe, vor deren Sündhaftigkeit sie ein wahres Grauen hat, und das sie doch allmählich überwinden muß — er war im Frühling geboren, dessen Blumen ihm stets so lieb blieben, und die er alle mit Namen wußte. Welcher Fehler steckt in folgenden Sätzen? Ein paar Abzüge, die ich schon vorfand und mir viel Freude machen —
Relativsatz statt eines Hauptsatzes
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die Festschrift, die Georg Bötticher verfaßt hat und von Kleinmichel mit Schildereien versehen worden ist. In beiden Sätzen mußte das Fürwort die zweimal stehen, da es für den ersten Relativsatz als Satzgegenstand, für den zweiten als Ergänzung diente. Der Fehler entsteht mit vielen anderen dadurch, daß man ein Wort nicht als etwas Lebendiges, Sinn- und Inhaltvolles, sondern bloß als eine Reihe von Buchstaben ansieht, also — durch die Papiersprache. Ob die Buchstabenreihe das eine Mal Wen-, das andere Mal Werfall ist, ist dem Nur-Schreibenden ganz gleichgültig. Bekommt doch eine beliebte Erzählerin sogar fertig: Natur und Kunst lernten wir lieben und wurden in unserm Hause gepflegtl Relativsatz statt eines Hauptsatzes Jeder Relativsatz ist Beifügung zu einem Hauptwort, dient füglich dazu, dies näher zu bestimmen, und antwortet — gleich jeder Beifügung — auf die Frage: was für ein? Er darf nicht begründen; dazu dienen Nebensätze mit da und weil; er darf auch nichts gedanklich oder zeitlich Folgendes enthalten; dazu dienen Hauptsätze. Falsch ist demnach: Harkort erfreute sich des Rufes eines bewährten Geschäftsmannes, der als Mitbegründer der Leipzig-Dresdner Eisenbahn rastlose Energie an den Tag gelegt hatte — denn es ist klar, daß der Relativsatz keine Eigenschaft eines bewährten Geschäftsmannes angibt, sondern den Grund, weshalb Harkort in diesen Ruf kam; es muß also heißen: da er als Mitbegründer usw. Falsch ist: das Steigen der Weichsel erschwerte die Arbeiten, die mit größter Anstrengung ausgeführt wurden. Dieser Relativsatz gibt ebensowenig wie der vorige eine Ei genschaft an, sondern eine Folge davon, daß der Fluß steigt; es muß also heißen: so daß sie nur mit größter Anstrengung ausgeführt wurden, oder man fährt mit einem Hauptsatz fort.
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Relativsatz statt eines Hauptsatzes
Falsch ist: Machen Sie einen Versuch mit dem neuen Staubsauger, der Sie voll befriedigen wird — kein Mittel vertreibt den Geruch, der wohl schwächer wird, aber immer bemerklich bleibt — das ersehnte Glück fand er in dieser Verbindung nicht, die nach drei Jahren wieder gelöst wurde— wie im Fluge verbreitete sich die Trauerkunde unter der Arbeiterschaft, die dem teuern Toten vollzählig das letzte Geleit gab. Worin stecken die besonderen Fehler folgender Sätze: Er widmete sich dem Studium der Rechte ohne iruiern Drang, der ihn zur Literatur und Geschichte führte (der Sinn ist: ohne einen inneren Drang, während sich der Nebensatz nur auf seinen inneren Drang beziehen kann); — jedes Konzert, das er nie versäumte, war ihm ein Hochgenuß (man kann gar nicht denken: er versäumte ein jedes Konzert nie, sondern allein: nie ein einziges Konzert 1). Solche Sätze erscheinen wohl äußerlich in der Gestalt von Relativsätzen, entsprechen aber ihrem Inhalte nach Hauptsätzen. Sie sind sämtlich durch Hauptsätze zu ersetzen. Ganz freilich wollen wir den Relativsätzen nicht das Recht absprechen, fortführen zu können. Hat doch sogar die Gesetzlichkeit der streng gebauten lateinischen Sprache sich nicht gescheut, in sogenannten relativischen Verknüpfungen ganz neue Sätze zu beginnen. Niemand z. B. wird Anstoß nehmen, wenn ein Relativum durch ein eingefügtes dann, alsbald, auch, aber usw. das neu Hinzutretende kenntlich macht: 1710 besuchte Händel zum ersten Male England, das ihm bald eine zweite Heimat werden sollte. Oder man denke an weiterführende Relativsätze mit was, wie sie sich auf den Inhalt eines ganzen Satzes beziehen: gerade an diesem Abend hatte er vergessen abzuschließen, was für den Verlauf der Dinge verhängnisvoll werden sollte.
Allerlei Bindewörter
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Allerlei Bindeworter Verhältnismäßig wenig Fehler kommen in den Nebensätzen vor, die eine Zeitbestimmung, einen Grund oder ein Zugeständnis enthalten. In den begründenden Sätzen ist vor allem vor einem Mißbrauch des Fügeworts nachdem zu warnen. Nachdem darf nur Zeitsätze einleiten. Allerdings hat man es schon frühzeitig auch in begründendem Sinn verwendet (neben weil und da, die ja auch ursprünglich zeitlich und örtlich sitid); gegenwärtig aber ist das nur noch in Österreich üblich. Nachdem für die Anschaffung nur unbedeutende Kosten erwachsen — nachdem beigünnstigem Wasserstande sich die Verladungen lebhaft entwickeln werden — solche Sätze erscheinen als auffällige Provinzialismen. Falsch ist es aber auch, nachdem in Zeitsätzen mit der Vergangenheit zu verbinden, z.B.: der Grund, warum Lassalle, nachdem seine Lebensarbeit zerbrach, doch immer deutlicher als historische Persönlichkei hervortrat. Nachdem darf nur mit der Vorgegeiiwart oder der Vorvergangenheit verbunden werden. Neben Gegenwart oder Zukuft im Hauptsatz erhält es die Vorgegenwart; neben der Vergangenheit die Vorvergangenheit i nachdem er diesen Seufzer ausgestoßen hat, fällt der Vorhang. Aber: nachdem er diesen Seufzer ausgestoßen hatte, stürzte er zu Boden. Ein anderer Fehler, der jetzt in Begründungssätzen fort und fort begangen wird, ist der, hinter zumal das Fügewort da wegzulassen, als ob zumal selber ein Fügewort wäre, z. B. der Zuziehung von Fachmännern wird es nicht bedürfen, zumal viele geschickte Hände zur Verfügung stehen. Zumal ist kein Füge-, sondern ein Umstandswort, es bedeutet ungefähr dasselbe wie besonders, namentlich, hauptsächlich, hat aber noch eine feine Nebenfarbe, insofern es, ähnlich wie vollends, nicht bloß die Hervorhebung aus dem Allgemeinen, sondern zugleich eine Steigerung ausdrückt; der Inhalt des
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Allerlei Bindewörter
Hauptsatzes wird, wenn sich ein Nebensatz mit zumal anschließt, beinahe als etwas Selbstverständliches hingestellt. Soll nun, wie es sehr oft geschieht, der in einem Nebensatz ausgedrückte Gedanke in dieser Weise hervorgehoben werden, so muß zumal einfach davortreten, so daß der Nebensatz nun beginnt: zumal wer, zumal wo, zumal als, zumal wenn, zumal weil, zumal da, je nachdem es ein Relativsatz, ein Zeitsatz, ein Bedingungssatz oder ein Begründungssatz ist, z. B.: das war die heilige Aufgabe der Renaissance, zumal seit sie bei den Gebildeten zugleich die Religion vertreten sollte. So wenig nun jemand hinter zumal das wer, wo, wann oder als wegläßt, so wenig hat es eine Berechtigung, das da oder weil wegzulassen, und es ist eine. Nachlässigkeit, zu schreiben: diese Maßregel erbitterte die Bauern, zumal sie hörten — schließlich ließ sich ein Zupacken nicht länger aufschieben, zumal Aussicht war, die Verschwörung so im Keim zu ersticken. Freilich sind die meisten unsrer Fügewörter früher einmal Umstandswörter gewesen. Auch solange, sooft, nun (nun die schreckliche Seuche glücklich erloschen ist), indem, seitdem, nachdem wurden zur Bildung von Nebensätzen anfangs gewöhnlich mit einem Fügewort verbunden (indem daß, solange als und das erst in unseren Tagen zum Bindewort gewordene trotzdem [daß]). Vielen Lehrbüchern gilt alleinstehendes trotzdem noch heut als unerlaubtes Bindewort, und so halten sie einen Satz für falsch, der lautet: trotzdem die Familienfofschung heut einen ganz andern Rang einnimmt als früher, wissen viele über ihre Vorfahren wenig Bescheid. Zum Unterschied von zumal aber gehören trotzdem und die anderen hier genannten Bindewörter eindeutig einer Klasse von Nebensätzen an; zumal aber kann, wie gesagt, in Relativ-, Zeit-, Grund- und beliebig anderen Nebensätzen seinen Platz finden. Wer sorgfältig schreiben will, wird sich nicht mit insofern begnügen, wenn er insofern ab meint.
Unterdrückung des Hilfszeitworts
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Das zeitliche Fügewort während, das zunächst zwei Vorgänge als gleichzeitig hinstellt, kommt auf sehr leichte und natürliche Weise dazu, zwei Handlungen einander entgegenzusetzen. Den Übergang sieht man an einem Satze wie folgendem: während ihr zögertet, haben wir für die neue Form gekämpft. Hier kann, je nach der Ansicht des Redenden, nur die Gleichzeitigkeit, aber auch schon der Gegensatz gemeint sein. Bisweilen aber muß man in der Anwendung dieser gegensätzlichen Bedeutung Vorsicht üben, damit sich nicht so lächerliche Sätze wie folgende ergeben: während Herr W. eine Sonate von Beethoven für Violine vortrug, blies Herr L. ein Konzert für Flöte von Mozart — König Albert brachte ein Hoch auf den Kaiser aus, während der ihm dafür dankte. Bedingungssätze statt mit wenn mit dem Zeitwort anzufangen ist an sich nicht übel, nur sollte das Zeitwort dann nicht unmittelbar hinter dem des Hauptsatzes stehen, z. B. ein. gewissenhafter Mann darf, will er seinen Ruf nicht gefährden — es fehlt manches, was gesagt werden müßte, sollte die Veröffentlichung überhaupt Berechtigung haben. Wer beim Schreiben die Ohren spitzt, wird so etwas nie aus der Feder lassen. Die beiden Zeitwörter platzen aufeinander wie ein paar Lokomotiven. Schreibt man wenn, so mündet der Nebensatz leicht und natürlich ein wie ein Nebenflüßchen, das den Fluß des Hauptsatzes beschleunigt. Unterdrückung des Hilfszeitworts Sehr verschieden sind merkwürdigerweise von jeher die Ansichten gewesen über den Gebrauch, das Hilfszeitwort und (was gleich damit verbunden werden kann) die sogenannte Kopula in Nebensätzen wegzulassen, also zu schreiben: der Bischof war bestrebt, von dem Einfluß, den er früher in der Stadt besessen (nämlich hatte), möglichst'viel zurückzugewinnen, der Rat dagegen trachtete, die wenigen Rechte, die ihm noch geblieben (nämlich waren), immer mehr
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Unterdrückung des Hilfszeitworts
zu beschränken — daß Fontane ein wirklicher Dichter, will ich nicht bestreiten — diese Athene trug einst einen Helm, wie aus der oben abgeplatteten Form des Kopfes zu erkennen (nämlich ist) — eine Vorstellung wird um so leichter aufgenommen, je einfacher ihr sprachlicher Ausdruck (nämlich ist) — bei der andauernden Trockenheit fragte sich mancher, ob die Ernährungslage nicht bedenklich geworden (war? sei?) — sogar: die Lukaspassion kann nicht, wie allgemein behauptet (nämlich wird), von Bach geschrieben sein. Dieser Brauch ist weit verbreitet, viele halten ihn offenbar für eine ganz besondere Schönheit. Manche Erzähler schreiben gar nicht anders; auch in wissenschaftlichen, namentlich in Geschichtswerken geschieht es fort und fort. Ja man stößt hie und da geradezu auf die Meinung, daß dieses Abwerfen des Hilfszeitwortes eine Zierde der Sprache sei. Wenigstens war einmal in einem Aufsatz einer Unterrichtszeitschrift verächtlich vom „Hattewarstil" die Rede; der Verfasser zielte damit auf die pedantische Genauigkeit, die das hatte und war nicht opfern will. Von älteren Schriftstellern liebt es namentlich Lessing, aus dessen Sprache man sich sonst die Muster zu holen pflegt, das Hilfszeitwort wegzulassen, ja Jean Paul empfiehlt, diese „abscheulichen Rattenschwänze der Sprache" womöglich überall abzuschneiden. Halten wir uns, wie immer, an die lebendige Sprache. Tatsache ist, daß in der unbefangenen Umgangssprache das Hilfszeitwort doch recht selten weggelassen wird. Höchstens, daß man einmal hört: es ist ein ganzes Jahr her, daß wir uns nicht gesehen, oder vielgebrauchte Wendungen: soweit bekannt, wie gesagt usw. In der Sprache der Dichtung dagegen ist die Unterdrückung des Hilfszeitwortes wohl das Überwiegende, weil alle zusammengesetzten Zeitformen dem Fluß der Sprache widerstreben. Man denke sich, daß Chamissos Frauenliebe und -leben anfinge: seit ich ihn gesehen habe, glaub ich blind zu sein 1 In der Prosa kommt es sehr auf die Gattung an. In der gehobenen Sprache des Vortrags
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öder der Rede stört es nicht, wenn das Hilfszeitwort zuweilen wegbleibt; in schlichter Prosa, wie sie die wissenschaftliche Darstellung und im allgemeinen doch auch die Erzählung erfordert, ist es geradezu unerträglich. Wer das bestreitet, hat eben kein Sprachgefühl. Wer sich einmal die Mühe nimmt, bei einem Schriftsteller, der das Hilfszeitwort mechanisch und aus bloßer Gewohnheit überall wegläßt, nur ein paar Druckseiten lang auf diese vermeintliche Schönheit zu achten, der wird bald den Eindruck haben, als ob er durch einen Tiergarten ginge, wo lauter unglückselige Bestien mit abgehackten Schwänzen scheu um ihn herumliefen. Ganz unmöglich und verwirrend wird das Abwerfen des Hilfszeitworts, wenn das übrigbleibende Mittelwort mit der dritten Person der Gegenwart gleichlautet, also ohne das Hilfszeitwort die Zeiten gar nicht voneinander 2u unterscheiden sind, z . B . : er ist auch dann strafbar, wenn er sich nur an der Tat beteiligt (hat!) — das, was der Geschichtsschreiber gewissenhaft durchforscht (hat!) — er erinnert sich der Freude, die ihm so mancher gelungene Versuch verursacht {hat 1) — nachdem 1631 Baner die Stadt vergeblich belagert (hatte 1). Schlimmer noch, wenn von zwei verschiedenen Hilfszeitwörtern das erste weggeworfen, das zweite aber gesetzt wird, so daß man dies nun unwillkürlich mit auf den ersten Satz bezieht, z. B.: als ich die Fastnachtsspiele durchgelesen und schließlich zu dem Luzenier Neujahrsspiel gekommen war (also auch: durchgelesen 1pari). Erträglich ist das höchstens, wenn die beiden Sätze nicht so eng verbunden sind: der Verfasser macht Banquo den Vorwurf, daß er nicht für die Rechte der Söhne Duncans eingetreten, sondern Macbeth als König anerkannt habe. Aus Stilgründen ließe sich das Auslassen des Hilfszeitwortes dort verteidigen, wo der nachfolgende Hauptsatz zufallig mit demselben Zeitwort anfängt, wie der Nebensatz schließt: wie der Unglückliche hierher gelangt (ist), ist rätselhaft — alles, was damit gewonnen worden (war), war unbe-
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deutend gegen das Verlorene — wer den vorgeschriebenen praktischen Dienst geleistet {hatte), hatte sich dadurch den Anspruch erworben. Wer es unschön findet, in solchen Sätzen dasselbe Wort zu wiederholen, der möge es unbedenklich einmal unterdrücken. Und noch in einem Falle empfiehlt sich's zuweilen, das Hilfszeitwort auch in schlichter Prosa wegzulassen, nämlich dann, wenn in den Nebensatz ein zweiter eingeschoben ist, der mit demselben Hilfszeitwort endigen würde, z. B.: bis die Periode, für die der Reichstag gewählt worden, abgelaufen war. Hier würden zwei gleiche Satzausgänge mit war in der Tat unschön sein. Aber wieviel andere Mittel gibt es, solche Häßlichkeiten zu vermeiden! Leider hat die Neigung, das Hilfszeitwort einfach gewohnheitsmäßig abzuwerfen, schon einen verhängnisvollen Einfluß auf den richtigen Gebrauch der Aussageweisen (Modi) ausgeübt. Daß manche Schreiber keine Ahnung mehr davon haben, wo eine Möglichkeits- und wo eine Wirklichkeitsform hingehört, daß in dem Gebrauche der Aussageweisen Verwilderung eingerissen ist, daran ist zum Teil diese Unsitte schuld. Freilich ist es sehr bequem, zu schreiben: daß viele Glieder der ersten Christengemeinde arm gewesen, ist zweifellos, daß es alle gewesen, ist sehr zu bezweifeln. Wo soll noch Gefühl für die Kraft und'Bedeutung einer Aussageweise herkommen, wenn man jedes ist, sei, war, wäre, hat, habe, hatte, hätte am Ende eines Nebensatzes unterdrückt und dem Leser nach Belieben zu ergänzen überläßt? Wirklichkeits- und Möglichkeitsform Die W-form drückt aus: ein Sein, einen Zustand, eine Tatsache. Die M-form: ein Denken des Menschen, also Wunsch, Hoffnung, Annahme, wobei gleichgültig ist, ob sie der Wirklichkeit entspricht oder nicht.
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Der Unterschied werde deutlich an einem Beispielsatz, dessen Sinn ganz verschieden wird, je nachdem welchen der beiden „Modi" man wählt. Die meisten Menschen trösten sich damit, daß es früher auch so war, und: die meisten Menschen trösten sich damit, daß es früher auch so gewesen sei. Was ist der Unterschied? In dem ersten Falle stelle ich, der Redende, den Trostgrund der Menschen als richtig, als Tatsache hin; in dem zweiten Falle enthalte ich mich jedes Urteils, ich gebe nur die Meinung der Menschen wieder. Noch ein Beispiel: ich kann doch nicht sagen, daß ich krank bin, und: ich kann doch nicht sagen, daß ich krank sei. Der erste Satz bedeutet: ich trage Bedenken, meine Erkrankung mitzuteilen; der zweite: ich trage Bedenken, eine Krankheit vorzuspiegeln. Natürlich neigt die Umgangssprache dazu, das Gebiet der W-form zu erweitern, auch da, wo es bedenklich oder gar falsch ist. Ohne Zweifel sind die Formen der M-form schwieriger in ihrer Bildung; dann aber hat auch der weltkluge Alltag es in seinen Bedürfnissen und Unterhaltungen so sehr mit Tatsachen zu tun, daß der Ausdruck dafür alles andere ganz selbstverständlich in den Hintergrund drängt. So findet sich die W-form ungeheuer häufig auch da, wo ein Zeitwort nichts als eine bloße Meinung wiedergeben will, also keineswegs ein Urteil abgegeben werden soll. Die Zeitwörter, hinter denen das geschieht, sind namentlich: glauben, meinen, fühlen, denken, annehmen, vermuten, voraussetzen, sich vorstellen, überzeugt sein, schließen, folgern, behaupten, sagen, lehren, erklären, versichern, beteuern, bekennen, gestehen, zugeben, bezweifeln, leugnen, antworten, erwidern, einwenden, berichten, melden, erzählen, überliefern, erfahren, vernehmen, hören u. a. Stehen diese Zeitwörter in der Zeit der Erzählung, so setzt wohl jeder richtig die M-form dahinter, wiewohl sich auch Beispiele finden wie: er kam zu der Überzeugung, daß er jetzt zu alt war, sich dem ersehnten
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Fliegerberuf zu widmen. Aber wie, wenn sie in der Gegenwart oder Zukunft stehen? Heißt es da nicht in der Mehrzahl der Fälle: der Ausschuß ist der Meinung, daß der Markt der geeignetste Platz für das Denkmal ist — man ist zu der Ansicht gekommen, daß sich dieser Film nicht für die Jugend eignet — man kann dem Verfasser darin (d. h. in der Ansicht) beistimmen, daß sich das Rechtsdeutsch gegen früher bedeutend gebessert hat. Als falsch läßt sich freilich die Wform auch hier nicht bezeichnen: die Meinung, die Vorstellung werden so sehr als Tatsache gefühlt, daß man ihnen nachgerade das Gewand der persönlichen M-form abstreift. Aber denkrichtiger und darum feiner wäre auch hier die M-form. Wahrhaft störend wirkt die W-form, wenn in dem regierenden Satze die Meinung oder Behauptung, die im Nebensatze steht, ausdrücklich verneint, als falsch, irrtümlich, übertrieben oder unbewiesen bezeichnet wird. Und doch muß man täglich auch solche Sätze lesen wie: ich kann nicht zugeben, daß diese Satzfügung fehlerhaft ist — aus diesem Brief läßt sich keineswegs der Schluß ziehen, daß die Kost dürftig ist — er findet nicht, daß Wagners Musik läutert — ich muß aufs entschiedenste bestreiten, daß es in einem unsrer Schutzgebiete Sklavenmärkte gegeben hat — daß das Kreuz erst in christlicher Zeit religiöse Bedeutung erhielt, kann man nicht behaupten — unsere Zeitung geht zu weit mit der Behauptung, daß diese Tage die heißesten seit Zehn Jahren gewesen sind. Durch die Ableugnung nimmt man doch ausdrücklich Stellung außerhalb der Behauptung oder Ansicht, die man anführt. Die W-form kann in solchen Fällen geradezu zu Mißverständnissen führen. Wenn einer schreibt: es ist falsch, daß die Werbung ohne jeden Grund eingestellt worden ist — so kann man das auch so verstehen: sie ist ohne jeden Grund eingestellt worden, und das ist sehr dumm gewesen. Will einer deutlich sagen: sie ist nicht ohne Grund eingestellt
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worden, so muß er schreiben: es ist falsch, daß die Werbung ohne jeden Grund eingestellt worden sei. Gewiß gibt es zwischen den unbedingt nötigen W-formen und M-formen verschiedene Arten von zweifelhaften Fällen. Bei guten Schriftstellern, bei denen man das angenehme Gefühl hat, daß sie jedes Wort mit Bedacht hinsetzen, macht es Vergnügen, solchen Dingen nachzugehen. Aber wie oft hat man dieses Gefühl? Meist lohnt es nicht der Mühe, hinter plumpen Schnitzern nach besonderen Feinheiten zu suchen. Wenn das Zeitwort des Hauptsatzes in der Gegenwart steht und die Äußerung oder Meinung von der ersten Person ausgeht, dann ist auch nach den Zeitwörtern des Meinens und Sagens allgemein die W-form üblich und auch durchaus am Platze. Wenn der Hauptsatz heißt: ich glaube oder wir behaupten, so hätte es keinen Sinn, den Inhalt des Nebensatzes als bloße Vorstellung hinzustellen und ein Urteil über seine Wirklichkeit abzulehnen, denn ich und der Redende sind ja eine Person. Daher sagt man durchaus: ich glaube, daß du unrecht hast. Und sogar wenn der Hauptsatz verneint ist: ich glaube nicht, daß sie bei der rauhen Jahreszeit noch in Deutschland sind — ich glaube nicht, daß das Fernsehen schon auf der Höhe seiner Entwicklung steht. Dagegen erhalten wir sofort ein anderes Bild, wenn wir solchen Satz in die Vergangenheit setzen. Da zeigt sich ein spürbarer Unterschied zwischen der W-form: ich glaubte nicht, daß sie noch in Deutschland waren (was sich nachträglich aber herausgestellt hat, und was ich, der jetzt Sprechende, nun auch weiß), und der M-form: ich glaubte nicht, daß sie noch in Deutschland seien, wobei nur der damalige Glaube mitgeteilt wird, ohne Angabe, ob er berechtigt war oder nicht. Auch in ganz anders gearteten Fällen steht der M-form in der Vergangenheit für die Gegenwart eine einfache 8 Wustmann, Sprachdusunheiten.
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W-form zur Seite, obschon sie sich weder gedanklich noch geschichtlich rechtfertigen läßt. So ist es besonders in den Begehrssätzen nach Zeitwörtern des Bittens, Forderns, Wünschens, Hoffens und bei den Absichtssätzen mit damit. Fritz wünscht sich, daß er Weihnachten ein Schaukelpferd bekommt — ich arbeite jetzt aus Leibeskräften, damit ich doch noch versetzt werde usw. Setzt man solche Sätze in die Vergangenheit, so stellt sich mit einmal die M-form wieder ein. Dieser Gebrauch ist in unserer Sprache heute ganz fest. Jedermann sagt: spann deinen Schirm auf, daß du nicht naß wirst 1 Werdest würde hier so geziert klingen, daß der andre mit Recht erwidern könnte: du sprichst ja wie ein Buch. Wenn man aber einen Bibelspruch anführt, sollte man ihn nicht so anführen: Richte nicht, damit du nicht gerichtet wirst! Zweifellos hatte die M-form auf früheren Sprachstufen ein viel breiteres Gebiet inne. Ja man muß geradezu zu dem Ergebnis kommen: wir neigen jetzt dahin, die W-form überall da durchzulassen, wo die M-form für Wesen und Bedeutung des Satzes nicht das entscheidende Kennzeichen ist. Nur Gelehrte gehen manchmal den entgegengesetzten Weg und holen, ein wenig aus lateinischen Denkbezirken verlaufen, eine falsche M-form herbei. Falsch sind — trotz ihres schönen lateinischen Hauches — folgende Sätze: wie weit das Gebiet sei, das Mommsen bearbeitet, zeigen seine Bücher — ältere Zuhörer, die mehr oder weniger schon wissen, wovon die Rede sei — es ist vom Schüler zu verlangen, daß er wisse, welches die Hauptergebnisse moderner Chemie seien — es wäre wichtig zu wissen, was Goethe mit dieser Bezeichnung gemeint habe. Während also die abhängigen Fragesätze im Lateinischen regelmäßig den Konjunktiv haben, richten sie sich im Deutschen nach genau denselben Gesetzen wie die abhängigen Aussagesätze. Auch bei ihnen ist übrigens die M-form
Die Möglichkeitsform in der abhängigen Rede
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der Gegenwartssätze in schnellem Absterben. Sätze wie: wir fragen uns, ob das Weitergehen noch Zweck habe, oder: Er weiß immer, wie weit er gehen dürfe, machen bereits einen verwunderlichen Eindruck; wer so spricht, spricht nicht mehr, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.
Die Möglichkeitsform in der abhängigen Rede An der Unbehilflichkeit, mit der viele den Möglichkeitsformen gegenüberstehen, aber auch an deren Unerkennbarkeit, besonders in der dritten Person der Mehrzahl, liegt es, daß wir es vermeiden, eine längere „abhängige Rede" zu bilden. Handelt es sich aber nur um ein paar Sätze, so erscheint die M-form doch wohl gefälliger als öfters wiederholtes „daß". Ganz gewöhnlich kann man in den Zeitungen lesen, daß die Meldung eines fremden Blattes angeführt wird: Die und die Zeitung berichtet..., und nun beginnt der Bericht, in der M-form der abhängigen Rede: aus der Tiefe des Stillen Ozeans sei die berühmte Seeschlange aufgetaucht usw. Schön und gut — für die Sauregurkenzeit! Wenn es aber plötzlich weitergeht: sie mißt von den Schwanzflossen bis zur Nasenspitze . . . ; ihre Färbung ist . . . , so ist dies gedankenlose Sprachtorheit der Wiedergabe. Sinnvoll zwischen wörtlicher und abhängiger Rede, dem Bericht über Gelesenes und eigenem Urteil abzuwechseln, ist eben die Kunst des Schreibenden. Gerade hierin unterscheiden sich auch die Sprachen und ihr Stilgefühl: was z. B. im Lateinischen als gern angewandtes Kunstmittel galt — manch Schüler gedenkt mit gemischten Gefühlen der von ihm gefürchteten, bei den Schriftstellern aber ach so beliebten oratio obliqua — spielt im Deutschen nur die Rolle eines Behelfs 1 Nur bedeutenden Dichtern kann es im Deutschen gelingen, die abhängige Rede geschmeidig zu machen. 8*
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Die sogenannte Zeitenfolge (consecutio temporum)
Sehr lästig ist es jedenfalls, eine Rede, die ein Staatsmann gehalten hat, auszugsweise in der M-form (mit er statt ich) lesen zu müssen. Will man ihren Wortlaut nicht wörtlich anführen, so gibt es immer noch das — freilich etwas mühevollere — Mittel, über die Rede und ihren Inhalt zu berichten. Die sogenannte Zeitenfolge (consecutio t e m p o r u m ) Daß ich sei oder: daß ich wärel Oder? Was heißt oder? Ist es gleichgültig, was von beiden gesetzt wird? oder richtet sich das nach dem Zeitwort des übergeordneten Satzes? Mit andern Worten: gibt es auch im Deutschen etwas Ähnliches wie eine consecutio temporum, die vorschreibt, daß auf die Gegenwart im Hauptsatz auch die Gegenwart im Nebensatze, auf die Vergangenheit im Hauptsatz auch die Vergangenheit im Nebensatze folgen müsse? Das Altdeutsche hat seine strenge Zeitenfolge gehabt. Sie hat sich aber schon frühzeitig gelockert, und zwar ist in den nieder- und mitteldeutschen Mundarten die M-form der Vergangenheit, in den oberdeutschen die der Gegenwart bevorzugt worden. Dort wurde die Vergangenheit auch nach Hauptsätzen der Gegenwart, hier die Gegenwart auch nach Hauptsätzen der Vergangenheit vorgezogen. Eine weitere Entwicklungsstufe, auf der wir noch stehen, ist die, daß die Eigentümlichkeit der oberdeutschen Mundarten, die Bevorzugung der Gegenwart, weiter um sich griff und mit der Eigentümlichkeit der mittel- und niederdeutschen in Kampf geriet. Schon Luther schreibt (Ev. Joh. 5, 15): der Mensch ging hin und verkündigte es den Juden, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe. Der gegenwärtige Stand ist der: Nach den Feststellungen der Wissenschaft bevorzugen jetzt die besten deutschen Schriftsteller die M-form
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der Gegenwart. Darum soll es auch in den Schulen so gelehrt und von allen Schreibenden so nachgeahmt werden; es ist gut, in einer Stilfrage zur Einheitlichkeit zu kommen, wo durch die Willkör des Einzelnen doch gar nichts gewonnen werden kann. Nur in zwei Fällen hat die M-form der Gegenwart und Vorgegenwart der der Vergangenheit und Vorvergangenheit zu weichen; von ihnen soll nun die Rede sein.
Die unkenntliche Möglichkeitsform Eine Notwendigkeit, die M-form der Gegenwart mit der der Vergangenheit zu vertauschen, beruht auf ihrer Sprachform. Sie hat nämlich jetzt im Deutschen nur zwei oder drei Formen, in denen sie sich von der W-form unterscheidet: die zweite und die dritte Person der Einzahl (bei den auf einen Zahnlaut ausgehenden Stämmen wie binden, beten, bieten... stimmt überdies noch die zweite Person in beiden Aussageweisen fiberein) und allenfalls die zweite Person in der Mehrzahl; in allen übrigen Formen gleichen sich beide. Nur das Zeitwort sein macht eine Ausnahme, ebenso wissen und die Hilfszeitwörter müssen, dürfen, können, wollen, mögen und sollen', die haben in der Gegenwart durchgeführte Möglichkeitsformen: ich sei, du seist, er sei, ich müsse, du müssest, er müsse. In der Mehrzahl unterscheiden sich aber die beiden Atissageweisen auch bei diesen Zeitwörtern nur in der zweiten Person (W-formen wollt, müßt, M-formen wollet, müsset). Die Formen nun, in denen die Möglichkeit nicht erkennbar ist, weil sie sich von der Wirklichkeit nicht unterscheidet, haben natürlich keinen Gebrauchswert, sie stehen gleichsam nur als Füllsel in der Sprachlehre; im Satzbau müssen sie durch die M-formen der Vergangenheit ersetzt werden. Das geschieht denn auch in der lebendigen Sprache ganz regel-
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mäßig, so regelmäßig, daß es beinahe ein Unsinn ist, wenn unsre Sprachlehren aufweisen: Conj. praes. ich trage, du tragest, er trage, wir tragen, ihr traget, sie tragen. Solche Schattenbilder sollten da gar nicht erscheinen, es könnte einfach gelehrt werden: Conj. praes.: ich träge, du tragest, er trage, wir trägen, ihr trüget, sie trügen. Dieser Gebrauch steht schon lange fest. Unsre guten Schriftsteller haben ihn denn auch fast immer beobachtet. Nicht selten springen sie in einer längern abhängigen Rede scheinbar regellos zwischen den Formen der Gegenwart und der Vergangenheit hin und her; sieht man aber genauer zu, so sieht man, daß die Vergangenheit immer nur dazu dient, die Mform erkennbar zu machen — ganz wie in der lebendigen Sprache. Es folge ein Muster aus Gottfried Kellers „Sinngedicht", auf das Th. Matthias aufmerksam macht: „Jetzt öffnete Regine auf einmal ihr Herz: sie habe sich auf diesen Tag gefreut, um sich von Erwin satt sprechen zu können. Die andern Frauen sprächen (Ersatz für das undeutliche sprechen 1) nie von ihren Männern, und auch von dem ihrigen, nämlich Erwin, täten (wieder Ersatz) sie es nur, um alles Mögliche auszufragen oder die Neugierde nach Dingen zu befriedigen, die sie nichts angingen (Ersatz). Da schweige sie lieber auch; mit mir aber, der ich ein guter Freund sei, wolle sie nur reden, was sie freue. Sie fing also an zu plaudern, wie sie auf seine baldige Ankunft hoffe, wie gut und lieb er sei, auch in den Briefen, die er schreibe, was er für Eigentümlichkeiten habe, von denen sie nicht wisse, ob sie . andre gebildete oder reiche Männer auch besitzen, die sie aber nicht um die Welt hingeben möchte; ob ich viel von ihm wisse aus der Zeit, ehe sie ihn gekannt? ob ich nicht glaube, daß er glücklicher gewesen sei als jetzt." Ohne Ausnahme wird man die Wahl der M-form in dieser Probe berechtigt und der — eben aus unsern Sprachmeistern gezogenen — Regel gemäß finden.
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Nun unterscheidet sich zwar die M-form der Vergangenheit, zu der man seine Zuflucht nimmt, bisweilen auch nicht von der W-form (wollten, glaubten, schieden, begriffen usw.)* Wenn sie aber in der abhängigen Rede zwischen erkennbaren M-formen der Gegenwart und abwechselnd mit ihnen erscheint, so wird sie eben nicht ab W-form gefühlt. Ganz dasselbe gilt natürlich von der M-form der Vorgegenwart und Vorvergangenheit; die erste ist, abgesehen von den zwei erkennbaren Formen: du habest gesagt, er habe gesagt, für die lebendige Sprache so gut wie nicht vorhanden, sie muß somit überall durch die Vorvergangenheit ersetzt werden: ich hätte gesagt, wir hätten gesagt usw. Nun vergleiche man damit die klägliche Hilflosigkeit unsrer Papiersprache! Zu den falschen Sätzen mag das Richtige immer gleich in Klammern danebengesetzt werden: er hatte vor seinem Tode den Wunsch geäußert, die Soldaten mögen (möchten!) nicht auf seinen Kopf zielen — es ist ein Irrtum, wenn behauptet wird, daß sich die Ziele hieraus von selbst ergeben (ergäben!) — von dem Gedanken Spenglers, daß heute schon ähnliche Verhältnisse vorliegen (vorlägen!) wie beim Verfall der römischen Kultur, muß ganz abgesehen werden — hier geht Nietzsche von dem Gedanken aus, daß das Christentum die Menschen schwächer gemacht hat (habet). Ungeschickt ist es auch, auf eine erkennbare M-form eine unerkennbare folgen zu lassen (guter Stil zieht es vor, an solchen Stellen die deutliche MTform der Vergangenheit einzuführen): der Verteidiger behauptet, daß die Lehren des Talmud veraltet seien und nicht mehr befolgt werden (würden!) — ich schrieb ihm, daß ich die Verantwortung nicht übernehmen könne, sondern die anstößigen Stellen beseitigen werde (würde!). Daß die Verfasser dieser Sätze die W-form hätten gebrauchen wollen, ist nicht anzunehmen; sie haben ohne
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Zweifel alle die redliche Absicht gehabt, eine M-form hinzuschreiben. Aber sie haben alle jenes Papieigespenst erwischt, das in der Sprachlehre, um das Kästchen der Beugungstafel zu füllen, als M-form der Gegenwart oder Vorgegenwart dasteht, aber für die Satzbildung völlig unbrauchbar ist.
Die Form der Nichtwirklichkeit Die Möglichkeitsform der Vergangenheit und nur diese bezeichnet den Fall der Nichtwirklichkeit; die Wirklichkeitsform stellt etwas als wirklich hin, die Möglichkeitsform nur als gedacht, gleichviel, ob diesem Gedachten die Wirklichkeit entspricht oder nicht. Es kann also auch etwas als gedacht hingestellt, aber zugleich aufs bestimmteste ausgedrückt werden, daß diesem Gedanken die Wirklichkeit nickt entspreche. Diese Aufgabe erfüllt aber nur die Möglichkeitsform der Vergangenheit. Das bekannteste Beispiel dafür und eins, das niemand falsch bildet, sind die Bedingungssätze der Nichtwirklichkeit. Jedermann sagt und schreibt richtig: wenn ich Geld hätte, käme ich, oder: wenn ich Geld gehabt hätte, wäre ich gekommen. Der leidige Tatbestand ist in dem ersten Falle: ich habe aber keins, im zweiten: ich hatte aber keins, mit andern Worten: sowohl das Geldhaben als die Folge davon, das Kommen, wird in beiden Fällen als nichtwirklich hingestellt. Die Bedingungssätze sind nun aber keineswegs die einzigen Nebensätze, die „irrealen" Sinn haben können. Ganz gewöhnlich sind auch entsprechende Begründungs-, Relativ-, Objekt- und Folgesätze. In allen diesen verfährt die lebendige Sprache genau so wie in den irrealen Bedingungssätzen, jedermann bildet auch sie in der Umgangssprache ganz richtig, ohne sich einen Augenblick zu besinnen, und sagt: ich kenne keinen Menschen, den ich
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lieber hätte als dich — ich will nicht sagen, daß ich keine Lust gehabt hätte1) — er ist zu dieser Arbeit nicht zu brauchen, nicht etwa, weil er zu dumm dazu wäre — ich bin nicht so ungeduldig, daß ich es nicht erwarten könnte — er starb, ohne daß er die Besinnung wiedererlangt hätte2). Aber der Papiermensch getraut sich solche Sätze nicht zu schreiben, er stutzt, zweifelt, wird irre, schreibt schließlich — die W-form, und so laufen einem denn täglich auch solche Sätze über den Weg wie: so dumm sind unsre Schauspieler nicht, daß man ihnen das alles haarklein vorschreiben muß (müßtel) — das Hörspiel ist damals beanstandet worden, ohne daß über den Grund etwas zu ersehen ist (wärel) — ach, es war eine schöne Zeit, zu schön, als daß sie lange dauern konnte (hätte dauern könnenl) — zum Glück war ich noch zu klein, als daß mir der Inhalt des Buches großen Schaden zufügen konnte (hätte zufügen könnenl) — anstatt daß eine Beruhigung eintrat (