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German Pages 500 Year 1998
JAN-DIRK MÜLLER SPIELREGELN FÜR DEN UNTERGANG
JAN-DIRK MÜLLER
Spielregeln für den Untergang Die Welt des Nibelungenliedes
MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1998
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Müller, Jan-Dirk: Spielregeln für den Untergang : die Welt des Nibelungenliedes / Jan-Dirk Müller. - Tübingen : Niemeyer, 1998 ISBN 3-484-10773-1 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Umschlaggestaltung: Art & Office Martin Lang, Walddorfhäslach Satz: Pagina GmbH, Tübingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Heinr. Koch, Tübingen
INHALT
AVANT-PROPOS EINLEITUNG: Das Nationalepos und seine Interpreten - Aporien der Deutung - Das Dilemma der Sagengeschichte - ,Vokalität' und kulturelles Wissen - Buchepische Integration im Zeichen der ,Vokalität' - Alterität: die Herausforderung der Ethnologie - ,Spielregeln für den Untergang' Zum Vorgehen
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I. UMSCHRIFTEN DER SAGE: Kollektiverinnerung? - Erzählen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit - Wie denkt man sich die Verschriftlichung der Sage? - Spuren der Arbeit an der Sage - Erzählen gegen die Tradition - Markierte Ersetzungen - Syntagmatische und paradigmatische Integration (zur Isenstein-Episode) - Entproblematisierung, Wucherung, Amputation - Die Eingangsaventiure - Sagenhorizonte .
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II. HEROISCHES ERZÄHLEN UND BUCHEPISCHE KOMPOSITION: Unendliche Rede: Ein Epos fängt an - Buchepos und Initialformel: die unterdrückte Bewegung - Das Ende und sein Dementi - Buchepos und Sagenerinnerung - Sivrits doppelte Jugendgeschichte - Erzählen infingierterMündlichkeit: Hagens niuwemare - Doppelungen - Störungen - Kalkulierte Unbestimmtheit
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III. NIBELUNGISCHE GESELLSCHAFT: Personenverband - Treuekonflikte Ambiguisierung von triuive - Wer soll herrschen? - Heros, Adel, Landesherr - Heroen im Exil - Rehter beides muot — Frouwen Dieben - Warum der pfaffe als Opfer des Heros?
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IV. NIBELUNGISCHE ANTHROPOLOGIE: Wider Psychologisierung - %prn - trüren - Spannung von ,außen' und ,innen' - herben jämer/her^eliebe - Die arme Königin - Kriemhilt, die gates arme - Psychische Komplexität Name und ,Identität' des Heros - übermuot - Personalität als Oberfläche.
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Inhalt
V. DIE TRÜBUNG DER SICHTBARKEIT: Transparenz der nibelungischen Welt Antizipierte Sagenerinnerung - Löschen der Sichtbarkeit - Politik der Blicke - Verwirrung der Blicke - Worte und Zeichen I: Sivrits Trophäe Worte und Zeichen II: Kampf um den Augenschein - Falscher Augenschein — Krieg der Blicke und Gewalt ..............
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VI. RÄUME: Offener vs. abgeschlossener Raum - Raum, Institution, Personenkonstellation: %e hove - Regionalität und Fremde - Anwesenheit/ Abwesenheit - .Einander Nahekommen' - Bedrohliche Ferne/gewaltsame Nähe - Vertikale Ordnung - Schrumpfung des Raums - Wege Wuchern der nibelungischen Welt ...............
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VII. GESTÖRTE UND PROBLEMATISIERTE INTERAKTIONSREGELN: Scheitern von Ritualen - milte und Herrschaft - Gestörte milte - Gratishandeln, miete, Ion - Ehre - Eid - Wahrheit setzende Sprechakte - suone und ergeben - Waffentragen - dringen und schal - Ruhe und gaben ......
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VIII. DAS VERSPIELEN DER HÖFISCHEN ALTERNATIVE: Ze hove: Zeremoniell und Prachtentfaltung - Turnier und Gewalt - Frauendienst: das heroische Mißverständnis - Heros und Frauendiener - Wie dient man der vrouwet - Virtualisierende Gesten - Zusammenbruch höfischer Virtualisierung - Destruktion höfischer Form - Mahl - Das andere Fest - Blut und Wein .........................
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IX. DEKONSTRUKTION DER NIBELUNGISCHEN WELT: Geistliche Kritik? - Distanzierung heroischer Muster? - Epidemie der Gewalt - De-Humanisierung - Perspektive? .....................
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LITERATURVERZEICHNIS
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REGISTER
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AVANT-PROPOS
Lange bevor ich das Nibelungenlied, ja selbst nur Teile daraus kannte, hakte sich in meinem Bewußtsein ein Problem fest. Es begegnete mir noch auf der Grundschule, und zwar in jener Vorschule der Germanistik, die man Aufsatzerziehung nennt. Wie man weiß, spielt dabei das Verfassen einer Gliederung eine Hauptrolle, die man dem sog. Besinnungs-Aufsatz voranzustellen hat: z. B. Einleitung, drei Punkte dafür, drei dagegen, dann die ,eigene Meinung' und der Schluß. Zwischen Einleitung und Hauptteil aber gehörte die .Wiederholung des Themas in Frageform'. Der Beispielsatz dafür lautete: ,Wie nun ward Kriemhild zur Unholdin?' Ja, wie nun? Ich muß gestehen, daß mich die Frage seitdem nicht mehr losgelassen hat. Zuerst war es wohl die feierliche Unverständlichkeit des Satzes, die mich faszinierte, dann vielleicht seine prägnante Bezeichnung eines Merkpostens für regelgerechte Gliederungen, dann möglicherweise die Trägheit des menschlichen Gedächtnisses, das über Jahre allerlei Unbrauchbares mit sich herumschleppt, schließlich, und da muß ich schon Mediävist gewesen sein, die Einsicht, daß die Frage einige der Probleme anspricht, die die Nibelungenphilologie nach wie vor beschäftigen. Sie spiegelt ja nicht nur ein bürgerliches Befremden darüber, wie es mit einem wohlerzogenen Mädchen aus gutem Hause soweit kommen kann, sondern enthält implizit vor allem eine Hypothese, wie Geschichten erzählt werden müssen. Wenn Kriemhilt zur Unholdin ward, dann war sie es offenbar nicht von Anfang an. Es muß erst einiges geschehen, damit der Übergang vom einen zum anderen plausibel ist; man suchte nach einzelnen Ereignissen, die unter Zuhilfenahmen von Covering laws' und plausiblen Annahmen über die menschliche Seele und den Lauf der Welt erklären können, warum aus der Nicht-Unholdin die Unholdin wird. Die analytische Geschichtstheorie hat sich um die Struktur derartiger Geschichten bemüht und ihren Erklärungsanspruch untersucht, und das .Nibelungenlied' wurde gelesen, als sei es ein historischer Bericht, wie ihn jene Theorie voraussetzt. Dabei mußte man dann feststellen, daß es die Erwartung plausibler Erklärungen durchweg frustriert. Offenbar gehört es zu einem anderen Typus von Geschichten, Geschichten nämlich, die sich nicht um möglichst lückenlose kausale Verknüpfung sorgen, wie sie der psychologische Roman seit etwa 250 Jahren propagiert, Ge-
Avant-propos
schichten, die überhaupt an psychischen Entwicklungen desinteressiert sind und überdies die Voraussetzungen nicht teilen, die die Annahme von solchen Entwicklungen stützen. So steht am Anfang des Buchs also eine törichte Frage, doch eine Antwort darauf will es nicht geben. Es will vielmehr zeigen, daß schon die Frage falsch gestellt ist. Nun ist die Warnung vor einfühlsamer Common-sense-Psychologie bei der Auseinandersetzung mit alten Epen nicht eben grundstürzend neu (was nicht hindert, daß der Common sense aller Zeiten sich unerbittlich das ihm Fremde einverleibt). So hat dieses Buch neben jenem negativen auch ein positives Ziel. Es will die Spielregeln der Welt beschreiben, in der sich jenes Geschehen vollzog, den Kredit bestimmen, den man diesem wie allen Erzählern einräumen muß. Dabei gilt es, die vielen angeblichen Widersprüche des ,Nibelungenliedes' unter die Lupe zu nehmen. Unbestreitbar gibt es solche Widersprüche im Gang der Handlung immer wieder, und es werden eine Reihe von ihnen zu kommentieren sein. Aber sie werden nicht als ,Fehler' betrachtet, an denen das ästhetische Mißlingen des Epos ablesbar ist, sondern als Spuren, die auf eine andere Sicht der Welt und eine andere Ästhetik hinführen. Das erfordert eine Abkehr nicht nur von den lebensweltlichen Normen eines naiven Realismus, sondern auch von jener anspruchsvolleren Realistischen' Romanpoetik, wie sie grosso modo etwa zwischen 1750 (der Aufstiegsphase des Romans) und 1880 - der Konsolidierungsphase der Germanistik - literarisches Programm war. Die Wissenschaft von der neueren Literatur geht längst davon aus, daß dieses Programm weder für die vorausgehende noch die nachfolgende Literatur taugt, und sie hat selbst die Literatur des Realismus im 19. Jahrhundert als eine subtile poetische Veranstaltung erwiesen, die ihren mimetischen Anspruch unterläuft. Die Forschung zur Heldenepik kann sich nicht mehr wie in ihrer Frühphase auf ein nur scheinbar überzeitliches, in Wirklichkeit der Ästhetik des 19. Jahrhunderts verpflichtetes Programm poetischer Mimesis berufen. Es ist also nach dem besonderen Kontrakt zwischen Erzähler und Rezipient zu fragen, der Voraussetzung jeden Erzählens ist, wo bislang noch häufig an die Stelle des ,suspended disbelief, den jeder ernstzunehmende Text zwischen Homer und James Joyce (und darüber hinaus) beansprucht, das totale Mißtrauen tritt (,wo hat er sich jetzt schon wieder geirrt?'). Große Literatur hat sich freilich noch nie um das kleinliche Nachbuchstabieren einiger ihrer Rezipienten geschert. Der Texttypus ,Hier irrte Goethe' verdankt diesem Umstand seinen Ursprung - und seinen bescheidenen Witz. Mit kriminalistischem Scharfsinn nachzuweisen, wo Dinge offen, dunkel, doppeldeutig, gar widersprüchlich bleiben, ist eine Sache, der sich die Nibelungenforschung der letzten 150 Jahre mit seltener Hingabe gewidmet hat. Weit schwieriger ist es darzutun, warum es an diesen und jenen Stellen zu solchen Problemen kommt, welche ästhetischen Prinzipien Lösungen nahelegen, die ,wir heute' so nicht erwarten und die mit dem, was wir wissen, nicht recht in Überein-
Avant-propos
Stimmung zu bringen sind. Auf diese Prinzipien kommt es hier an, und - das sei gleich gesagt - es wird nicht die eine Lösung geben, die den Text ein für alle Male aufschließt. Der Plan zu diesem Buch reicht lange zurück. Den Gedanken, .Spielregeln' mittelalterlichen Handelns zu beschreiben, habe ich seit den frühen i98oer Jahren in Münster mit Gerd Althoff diskutiert, der damals sein Buch über ,Verwandte und Freunde' abschloß und seitdem eine ganze Reihe von Studien zu derartigen .Spielregeln' vorgelegt hat. Daß das ,Nibelungenlied' im Zentrum stehen würde, konkretisierte sich bei der Vorbereitung des von Fritz Peter Knapp veranstalteten Passauer Nibelungen-Symposions von 1985, das meine älteren Überlegungen in den Gesprächen mit den dort versammelten Fachleuten in eine neue Richtung lenkte; seine Vorlagen wurden 1987 gedruckt. Eine Gastdozentur 1991 in St. Louis bot die Gelegenheit, zwei Monate lang immer wieder nur den Text der Vulgatfassung zu studieren und einer kleinen wißbegierigen Gruppe von Studenten aus der Neuen Welt verständlich zu machen. Neben vielen anderen Dingen wuchs das Buch langsam weiter, bis mir ein zusätzliches Forschungsfreisemester der Deutschen Forschungsgemeinschaft im WS 1996/1997 die Zeit verschaffte, das Typoskript weitgehend abzuschließen. Eine letzte Überarbeitung fand in denS^ Semesterferien 1997 statt. Ich habe mich bemüht, meine Überlegungen auch denen verständlich zu machen, die nicht in die engere Fachdiskussion eingearbeitet sind. Auf diese Diskussion habe ich deshalb oft nur in allgemeiner Form verwiesen, ausführlicher bloß, wo ich mich mit ihr auseinandersetzte. Die inzwischen nicht mehr überschaubare Sekundärliteratur ist also nur selektiv zitiert. Jahrelange Beschäftigung mit einem Gegenstand bringt es allerdings mit sich, daß dem Verfasser vieles eigene Überlegung zu sein scheint, was andere schon vor ihm gedacht haben. Ich habe versucht, hier zu trennen; daß es mir immer gelungen ist, glaube ich nicht. Allerdings scheint mir auch die - zumal in Dissertationen geübte - Praxis, für jede Einzelheit den ersten Erfinder nachzuweisen, auch wenn sie in seiner Argumentation eine ganz andere Bedeutung hatte, und den Namen eines jeden aufzuführen, der sich zum gerade verhandelten Sachverhalt geäußert hat, überflüssig, da vom Gesamtzusammenhang ablenkend, der dadurch oft mehr verstellt als geklärt wird. Davon unbeschadet gilt, daß sich philologische Arbeit im genau dokumentierten kritischen Gespräch mit Vorgängern zu bewähren hat. Ich würde mir also wünschen, daß dieses Buch nicht nur von Altgermanisten wahrgenommen wird, sondern wenigstens von Fachleuten aus verwandten philologischen und historischen Disziplinen, vielleicht sogar von einem größeren, an fremden Kulturen interessierten Publikum. Ein solches Publikum sollte die Auseinandersetzung mit derzeit diskutierten Forschungsmeinungen überschlagen und sich gleich den Überlegungen zum Text zuwenden. Für solch einen weiteren Kreis könnten freilich Argumentationen unübersichtlich sein, die nicht, wie üblich, das 3
Avant-propos
Epengeschehen nacherzählend verständlich machen wollen, sondern gewissermaßen von der Seite, wenn auch aus unterschiedlicher Perspektive auf den Text blikken. Um diese Leser nicht abzuschrecken, wäre ein knapper Überblick über die Handlung hilfreich gewesen, den wiederum der Fachmann nicht braucht. Ich verzichte darauf, denn eine der Grundthesen dieses Buches ist, daß Erzählen Sinnstiften bedeutet, was zur Folge hat, daß jede komprimierende Nacherzählung, und mag sie noch so demonstrativ auf Bewertungen verzichten, der Geschichte einen neuen Sinn, den Sinnentwurf des Interpreten, einschreibt und damit eine Kohärenz unterstellt, die doch erst noch zu erweisen wäre. Es kommt hinzu, daß es zum ,Nibelungenlied' eine Reihe guter Zusammenfassungen gibt,1 die, jede für sich, wesentliche Aspekte des Textes erfassen, und daß Grundzüge der Sage trotz allem immer noch über den engeren Kreis der Fachleute bekannt sind. Die Lektüre des Textes - etwa in der vorzüglichen Übersetzung von Siegfried Grosse (1997) - kann ohnehin keine Inhaltsangabe ersetzen. Das Buch wurde in einer ganzen Anzahl von Einzelstudien vorbereitet. Deren Leser werden auf einiges Bekannte treffen. Doch schien es mir sinnvoll zu zeigen, daß hinter der Erörterung dieser Einzelprobleme eine Konzeption steht und daß sie sich zu einem Zusammenhang ordnen. In Deutschland ist es üblich geworden, die genaue monographische Abhandlung in Aufsatzform der übergreifenden Darstellung im Buch vorzuziehen, und Publikationen aus dem angelsächsischen Bereich wirft man gelegentlich allzu großzügigen Umgang mit Differenzierungen und Details vor (oder auch die allzu lockere Verkoppelung von Einzelstudien zum Buch). Man könnte die umgekehrte Rechnung aufmachen: daß die Versenkung ins Detail allzu oft mit der Entschuldigung abgebrochen wird, der Raum, die Zeit, das vorgesetzte Ziel oder was auch immer zwängen zum Abbruch, so daß der Verfasser die Auseinandersetzung mit den Konsequenzen seiner Beobachtungen schuldig bleiben darf. Ich halte dieses Argument für gewichtiger. So greife ich immer wieder ältere Überlegungen und Deutungsvorschläge auf, modifiziere sie gelegentlich auch wohl, um ihre Tragfähigkeit für eine neue Lektüre des gesamten Textes zu erproben. .Lektüre des gesamten Textes' meint nicht eine jener ,Gesamtinterpretationen nach Form und Gehalt', die die Stimmigkeit aller Details untereinander und ihre Übereinstimmung mit einem übergreifenden Konzept behauptet und die Bedeutung des Epos ein für alle Male gültig sistieren will. Den Preis, um den solche Gesamtdeutungen zu haben sind, hat gerade die kritische Nibelungenphilologie schonungslos aufgedeckt: der postulierte Sinn ist einer von Gnaden des Interpreten, der dem Text und den vielen in ihn eingegangenen Überlieferungen Gewalt antut. Doch möchte ich zeigen, daß die berechtigte Kritik daran die ,Interpretierbarkeit' des Textes nicht ausschließt.
Zuletzt von Schulze (19973), S. 86-89.
Avant-propos
Der folgende Versuch beruht auf einer Anzahl von theoretischen Vorüberlegungen, die von Fall zu Fall zur Diskussion gestellt werden. Wer darauf verzichten zu können glaubt, täuscht sich nur über die (dann freilich undurchschauten) theoretischen Grundannahmen, die sein eigenes Vorgehen leiten. Theorie meint allerdings nicht, wie manche Kritiker anzunehmen scheinen, den Entwurf eines abstrakten Modells, das dann den Texten aufoktroyiert wird, meint vielmehr Reflexion der Bedingungen, unter denen jene Gegenstände allererst wahrgenommen und gedeutet werden können. Der manchmal konstruierte Gegensatz zwischen ,Theorie' und ,konkreter Textarbeit' oder ,Philologie' ist ein Phantom: Es gibt keine Philologie oder Textarbeit, die nicht versteckt oder offen theoriegeleitet ist und deren Ergebnisse nicht von der Validität jener Theorie abhängen, und es gibt keine literaturwissenschaftliche Theorie, die unabhängig von ihrem Gegenstand ist und die nicht ihre Triftigkeit in der Auseinandersetzung mit Texten darzutun hätte. Es gilt vielfältigen Dank abzustatten. Den vielen Helfern ohnehin, die mich beim Verfassen unterstützten, den Mitarbeitern - ganz besonders Ute von Bloh und Udo Friedrich, deren unermüdliche Diskussion mich zu immer neuem Nachfragen veranlaßte, - den Studenten einer Reihe von Seminaren, die sich auf die ungewohnten Fragen einließen, Celine Hofer und Cornelia Herberichs, die die Last der Korrekturen mit mir teilten. Last, but not least aber all jenen mich zum Widerspruch reizenden Philologen und Liebhabern, denen ich (vergeblich) auszureden versuchte, daß es sinnvoll sei zu fragen: Wie nun ward Kriemhild zur Unholdin? München, März 1998
Jan-Dirk Müller
„Du kennst die Sage?", fragte ich. ,^4 her ja doch", sagte sie. „Die tragische Geschichte, die die Deutschen mit ihren verspäteten Nibelungen ^ugrundegerichtet haben."*
EINLEITUNG Das Nationalepos und seine Interpreten Bücher über das ,Nibelungenlied' sind Legion, und an weiteren, so scheint es, besteht kein Bedarf. Die Sage ist populär wie kaum eine andere aus dem deutschen Mittelalter. Ihre epenferne Adaptation durch Richard Wagner dient immer noch zeitgenössischer Reflexion über die Verstrickungen von Macht und Besitz, Liebe und Haß, Anarchie und Herrschaft. Weniger ist das Nibelungen-Epos aus dem späten 12. Jahrhundert im gegenwärtigen Bewußtsein präsent. Es hat sich, wenn auch zögernd, aus den meisten Lehrplänen der Gymnasien verabschiedet, aus denen die ältere Literatur ohnehin weitgehend verschwunden ist. Beim ,Nibelungenlied' kommt hinzu, daß es immer noch, meist wenig gekannt, als ein fragwürdiges Bildungsgut in den nationalen Verirrungen der jüngeren Geschichte gilt.1 Das Schlagwort von der .Nibelungentreue' ist sogar mit der ersten Katastrophe der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, dem Ersten Weltkrieg der ,brüderlichen' Hohenzollern- und Habsburgermonarchien gegen den Rest der Welt, verknüpft. 2 Mit der Anspielung auf den Untergang der Nibelungen suchten auch die Machthaber des Dritten Reichs der schlimmeren zweiten Katastrophe so etwas wie eine mythische Dimension zu geben. Als das Grauen vorüber war, schien auch das Epos kompromittiert. Es zog sich zurück in die umfriedeten Räume der Altgermanistik, wo es weiterhin Gegenstand unermüdlicher Anstrengungen ist, der Anstrengungen einiger weniger Spezialisten. Seinen Platz im kulturellen Gedächtnis Deutschlands und seine Assoziation mit der deutschen Geschichte verdankt das ,Nibelungenlied' vor allem der Herkunft seines Stoffes aus einer als ,national' aufgefaßten Überlieferung, die sich von der lateinisch-mediterran-westeuropäischen absetzt, dann auch der Gestaltung dieses Stoffes, die jene Eigenheit noch zu verstärken scheint. Beides erklärt das Interesse am Text seit den Befreiungskriegen,3 erklärt auch daß das ,Nibelungenlied' immer * Jorge Luis Borges: Ulrike (Erzählungen 3), München 1982, S. 21. ' Vgl. die Beiträge in: Die Nibelungen (1991), insbesondere die Einleitung von Heinzle und den Beitrag von von See; dazu Brackert (1971). 2 Schatz des Drachentöters (1977), S. 63. ' Zu deren wahrer, meist überschätzter Dimension vgl. von See (1991)·
Das Nationalepos und seine Interpreten
noch das bei weitem bekannteste Werk des deutschen Mittelalters ist und daß sein Stoff bis in die Gegenwart selbst in der Massenkultur, in Roman und Film z. B., präsent ist. In der Fachwissenschaft hat es diese zentrale Stellung seit dem Zweiten Weltkrieg eingebüßt. Da hat die ,europäisch' orientierte, ein weniger martialisches Menschenbild entwerfende höfische Dichtung der blutrünstigen Geschichte vom Nibelungenuntergang längst den Rang abgelaufen. An Versuchen, das Epos, befreit von nationalistischen Verzerrungen, aufzuwerten, hat es nicht gefehlt.4 Doch folgte insgesamt der übersteigerten Glorifizierung eine Ernüchterung, die auch die Frage nach der literarischen Qualität des Textes aufwarf. Symptomatisch ist die Skepsis in einigen neueren Untersuchungen,' ob das Epos nicht letztlich nur ein mißlungener Versuch sei, widersprüchliche Sagentraditionen halbwegs plausibel zusammenzuleimen. Das ist eine verständliche Reaktion auf das Zuviel an nationaler und ästhetischer Bedeutung, das ihm von seinen nationalen Lobrednern, Politikern, aber auch Philologen, zugemutet worden war. Seit seiner Wiederentdeckung durch Johann Jakob Bodmer, spätestens aber seit der nationalen Aufrüstung der napoleonischen Zeit war das »Nibelungenlied* vor allem Projektionsfläche gewesen: für eine Theorie des Nationalepos, für heroische Selbstbestätigung durch die Vorzeit, für einen unverfälschten Volkscharakter und die Werte und Ziele, die man diesem Volkscharakter zuschrieb.6 Dabei machen die politischen Aktualisierungen nur einen kleinen Teil der Rezeptionsgeschichte aus: Gewiß konnte am .Nibelungenlied' Friedrich Heinrich von der Hagen in der Auseinandersetzung mit dem welschen Erbfeind völkische Tugenden der Deutschen beschreiben. Der Fürst Bülow konnte angesichts der internationalen Spannungen, die zum Ersten Weltkrieg führten, die „Nibelungentreue" zwischen der heiteren Donaumonarchie (= Volker) und dem grimmigen Deutschen Reich (= Hagen) beschwören. Schließlich konnte Hermann Goring seine Durchhalteappelle in der Endphase des Zweiten Weltkriegs mit Hilfe von nibelungischem Kampfeswillen bis zum letzten Mann propagieren, alles begleitet von moralischer Aufrüstung in angeblich nibelungischem Geiste, von national gesinnten Schulmännern und Professoren betrieben.7 Doch unabhängig von solchen Entgleisungen galt das öffentliche Interesse einem ,autochthonen', d. h. nicht von anderen Völkern übernommenen Stoff der eigenen Vergangenheit, in dem man Züge des Nationalcharakters zu entdecken Schröder (1981) hat zu Recht darauf verwiesen, daß der Begriff .Nationalepos' kaum notwendig ein affirmatives oder gar glorifizierendes Verständnis der eigenen Geschichte einschließen muß, und hat angedeutet, daß die Rezeptionsgeschichte nicht nur Zeichen kollektiven Irrsinns ohne Basis im Text ist (S. izf.). Etwa Heinzle (19873) und (1991) oder Andersson (1978). Dokumentiert bei Ehrismann (1975). Vgl. die Textsammlung Schatz des Drachentöters (1977), S. 96.
Einleitung
glaubte. Nicht die besondere Handlung, aber die nibelungische Welt insgesamt bot sich zur Identifikation an. So wurde das Epos übersetzt, bearbeitet und immer wieder prächtig illustriert, damit es möglichst breit ,im Volk* wirken solle. Wie sehr das gelang und mit welchen Folgen, ist eine andere Frage; die Wissenschaft jedenfalls zog Vorteil aus jenem Interesse. Bis zur Mitte unseres Jahrhunderts beschäftigte sie sich mit dem .Nibelungenlied' mehr als mit jedem anderen Werk des deutschen Mittelalters. Schon in den Anfangen der Altgermanistik nahm es einen hervorragenden Platz ein. An seiner Überlieferung schieden sich die Geister; sie gab Anlaß zu erbitterten Gelehrtenfeindschaften, wie sie der Nibelungen selbst würdig gewesen wären, und die wissenschaftliche Geographie des Reichs ließ sich nach der Einstellung der Wissenschaftler zur „Nibelungenfrage" vermessen, nach der Antwort auf die Frage nämlich, welcher der konkurrierenden Überlieferungen des Epos die Priorität zukomme und die größte Nähe zum ,ursprünglichen' Text: Einige Universitäten waren von den jBerlinern* beherrscht, die anderen von den ,Süddeutschen', dazwischen die »Leipziger', und jede Gruppe favorisierte eine der großen Nibelungen-Handschriften aus dem 13. Jahrhundert.8 Bis zum zweiten Weltkrieg war die Nibelungenphilologie wichtigster Prüfstein altgermanistischer Kompetenz, ob in Edition oder Kommentar, in Sagen- oder Sprachgeschichte. Das ,Nibelungenlied' untermauerte die Unentbehrlichkeit der Disziplin insgesamt, die für das nationale Erbe aus dem Mittelalter zuständig war. Es wäre deshalb zu einfach, die Geschichte der Nibelungenphilologie aus dem nationalen Taumel und öffentlichen Getöse zu erklären, die sie von ihren Anfangen an begleiteten. Ihre bleibenden Ergebnisse wurden abseits davon, manchmal in ausdrücklicher Frontstellung gegen tagespolitische Vereinnahmung gewonnen. Trotzdem ist die Privilegierung dieses Textes in der Literaturgeschichte des deutschen Mittelalters ohne jene Begleiterscheinungen nicht zu verstehen. Als man nach dem zweiten Weltkrieg daranging, die politischen Positionen zu verabschieden, die man fälschlich im Epos wiederzufinden glaubte, da trafen die Konsequenzen auch das ,Nibelungenlied' selbst. Ein Buch wie das Gottfried Webers (1963), das in einer Art von Vulgärexistentialismus nibelungische Reckenhaftigkeit einer entgötterten Gegenwart vorhielt, ist eine eher schon kuriose Ausnahme. Im übrigen sanken die Geschichten um den starken Siegfried und die grausame Kriemhild endgültig in die Trivial genera von Literatur, Film und Fernsehen ab. Was das mittelalterliche Epos angeht, entstanden natürlich weiter wichtige Monographien und Aufsätze, mehr sogar als je zuvor. Befreit vom politischen Ballast germanischer Vorzeitkunde, rückte erstmals die Interpretation des Textes als eines literarischen Werks, jenseits seiner vielfältigen, hypothetischen Vorstufen, ins Zentrum. Die Figuren sollten Anteilnahme unabhängig vom Anspruch heroischer Vorbildhaftigkeit erwecken. Ihre, wie es schien, aus allgemein menschlichen Antrieben 8
Kolk (1990), S. 2Z-75 zum Prozeß der Gruppenbildung.
Das Nationalepos und seine Interpreten
wie Liebe, Eifersucht, Haß, Neid, Machtgier, Gutgläubigkeit usw. hervorgehenden Verstrickungen waren mit Hilfe der kargen, auf Kommentar verzichtenden, oft widersprüchlich scheinenden Worte des Epikers nachzuerzählen. Sieht man von wenigen Arbeiten ab,9 dann schob sich damit nicht so sehr das Epos aus dem späten 12. Jahrhundert ins Zentrum als vielmehr das überzeitliche Kunstwerk, dessen menschlich bewegende Konflikte jederzeit unmittelbar aus sich selbst heraus verstehbar schienen. Diesem Bemühen verdanken sich seitdem vielfältige subtile Einsichten in Aufbau, Darstellungsweise, Figurencharakteristik und Motivationsgefüge. Gemeinsam ist aber der Mehrzahl von ihnen, daß sie den Zugang nicht oder nicht radikal genug auf dem Umweg über die Fremdheit historischer Verstehensbedingungen suchten, sondern durch Einfühlung in diejenigen Handlungskonstellationen, die modernem Verstehen unmittelbar zugänglich scheinen. Das Ziel ist bis in jüngste Zeit, das Handeln und Empfinden der Figuren, voran Kriemhilts,10 einem modernen Leser nachvollziehbar zu machen und eine psychologisch einsehbare Rekonstruktion der Epenhandlung herzustellen. Die Basis solcher Rekonstruktion wird selten expliziert; tatsächlich verdankt sie sich zumeist der Intuition des Interpreten, seinen Erfahrungen als Gatte oder Freund, gängigen Auffassungen über das rechte Verhalten der Jugend oder bei Hof, Annahmen über die weibliche Seele usf. Natürlich werden in den einläßlichsten Interpretationen nicht naiv Mittelalter und Gegenwart identifiziert." Zeitspezifische Faktoren wie die Verpflichtung zur Rache, die größere Intensität von Affekten und Willensakten, ein Weltbild, in dem Riesen, Drachen und Wasserfeen ihren Platz haben, werden in Rechnung gestellt. Doch all diese besonderen Bedingungen einmal abgezogen, kommen eben doch die großen und immer gleichen Themen von Liebe und Haß, Freundestreue und Ergebenheit gegenüber dem Herrn, von Macht und Rivalität zum Vorschein. So führte der Anspruch, das .Nibelungenlied' als ein Werk der Zeit um 1200 zu interpretieren, paradoxerweise zu einer Enthistorisierung des Epos und zu einer falschen Anthropologisierung seiner Konflikte. 12 Das politischste Großepos des deutschen Mittelalters wurde Gegenstand der Dekontextualisierung werkimmanenter Interpretation, und so konnte es seinen neuzeitlichen Interpreten ganz nah, im Kern tiefverwandt vorkommen. Im Extremfall - von dem sich die professionelle MediäEtwa Maurers Studie über den Begriff/«V im ,Nibelungenlied' (vgl. Maurer, 1951, S. 13—38; insbes. S. 15; 20; 22-33). Besonders eindringlich Schröder (1968), S. 48-156; doch ebenso, ein wenig sozialpolitisch garniert, noch Spiewok (1989). Schröder (1968), S. 3f. u. ö. weist z. B. durchaus auf die unterschiedlichen ästhetischen Bedingungen mittelalterlicher und neuzeitlicher Literatur. Aber er begründet die „Einheit der Dichtung" mit einem überzeitlichen ,,zentrale[n] Thema: Kriemhilts Liebe, Leid und Rache" (S. 7). Falks (1974) Verständnis des Epos ,in seiner Zeit' kombiniert globale Epochenvorstellungen mit Annahmen über generelle Krisenerfahrungen des Menschen (etwa S. 65-71; 72-99; 240-258). Vgl. Haug (1981), S. 39 u. 49 (Anm. 9).
Einleitfing
vistik freilich unterscheidet - konnte noch das Fremdeste dem Eigenen anverwandelt werden, wenn etwa Falk die mythisch-archaischen Reste der Handlung, die sich der planen Interpretation nach dem gewöhnlichen Lauf der Welt entziehen, zum Ausdruck von „Innenwelt" erklärt:'3 Daß Sivrit den märchenhaften Nibelungenhort Kriemhilt als Morgengabe überantwortet, ist realiter „unmöglich", und doch wahr, denn „durch den Eheschluß brachte Siegfried seinen inneren Reichtum nach außen".14 Dank solch einer Deutungsakrobatik ist das mittelalterliche Epos von einer Adaptation mythischer Stoffe im 19. Jahrhundert nicht mehr zu unterscheiden. Selbst dort, wo man den politischen Charakter zum Ausgangspunkt nahm, wurde der historische Gehalt zugunsten überzeitlicher Bedingungen politischen Handelns beiseitegeschoben, dieses aber in den Charakteren der Figuren fundiert.1' So reduziert sich das politische Problem auf die Frage, ob Kriemhilt aus Machtgier oder aus Liebe handelt und ob es im Epos im wesentlichen um einen Machtkampf oder die Rache einer liebenden Frau geht.16 Ganz gleich, wie die Antwort ausfällt, erscheint Kriemhilt als Repräsentantin allgemeinmenschlicher Verstrickungen - der Macht oder des Gefühls. Dabei fehlte den politischen Deutungen in der Regel die konkrete historische Basis: Epische Charaktere wurden zu Repräsentanten politischer Mächte hochgerechnet, charakterliche Schwäche zur politischen, positive oder negative Wertung von der einen in die andere Sphäre ,übersetzt'.I? Daß eine in ihren Voraussetzungen unreflektierte Psychologisierung möglich schien und in gewissem Rahmen mit Erfolg praktiziert wurde, kam dem Anspruch des Epos auf einen Platz im aktuellen Lektürekanon entgegen und schien seinen Bedeutungsverlust nach dem Zweiten Weltkrieg zu kompensieren, steht doch der Versuch historischer Distanzierung und Rekonstruktion im Verdacht, alles Lebendige im Staub akademischer Studierstuben zu ersticken. In Wirklichkeit freilich ist es genau umgekehrt. Als quasi zeitgenössische, da überzeitliche Geschichte gelesen, erscheint das Epos von barbarischer Unverständlichkeit, als löchriges psychologisches Gewebe, als Ansammlung von Widersprüchen, als notdürftig aus unklarer Sagenüberlieferung zusammengeflickt, zentriert um einige Probleme, die entweder (nimmt man das Ehedrama) ein wenig trivial oder aber (berücksichtigt " Falk (1974), S. 123. 14 Ebd. 8.159. Dergleichen Deutungen produzieren abenteuerlichen Tiefsinn wie: „Durch die Heldentaten der Hohen Minne hatte Siegfried nach Überwindung der inneren Kriemhild die äußere zur Frau gewonnen" (ebd.) oder: „Des jungen Siegfried Hauptposition war jene des Herrschers in der Traumwelt. Daneben hatte er eine andere in der Ehrenregion inne, die aber zunächst sehr schwach war" (S. 176) oder: Siegfrieds „Untergang wird die letzte Wesensfolge der Hohen, der hochmütigen Minne sein" (S. 181). '' Beyschlag (1952/1961); Ihlenburg (1969). 16 Vgl. die Kontroverse zwischen Beyschlag und Schröder; dokumentiert bei Schröder (1968), S. 82; 8791; hierzu Müller (1974), S. nzf. 17 So bei Beyschlag (1952/1961) oder Ihlenburg (1969); vgl. Müller (1974), S. uzf.; 116.
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Das Nationalepos und seine Interpreten
man dessen Einbettung in politisch-soziale Zusammenhänge) nicht eben sonderlich aktuell sind. Dergleichen mag man von Zeit zu Zeit ehrfürchtig ob des Alters bestaunen, mehr nicht. So unpolitisch sie sich gibt: auch jene Aktualisierung namens einer überzeitlichen allgemeinen Menschennatur, die sich von den unseligen nationalistischen Aktualisierungsversuchen abgewandt hat, bleibt demselben Rezeptionsmodell verhaftet wie jene: einer identifikatorischen Lektüre. Längst sind es nicht mehr die naiv aneignenden Projektionen des Nationalismus, die den Blick auf den Text verstellen. Das Mißverständnis sitzt tiefer: Denn kurzschlüssig-propagandistisch konnte das Epos nur ausgeschlachtet werden, weil man die Lebensverhältnisse, von denen es erzählt, letztlich als den eigenen Lebensverhältnissen kommensurabel ansah, allenfalls ins Großartige und Heroische überhöht. Auch der Versuch, dem ,Nibelungenlied' politisch weniger fragwürdige Botschaften abzugewinnen, setzt voraus, daß die Botschaft den Adressaten in seiner eigenen Welt noch etwas angeht.'8 Auch der Philologe, der die heroisierenden Verfälschungen in der politischen Aneignung des Epos anprangert, der zurecht auf die textimmanenten Widerlager zur Feier heldenhaften Untergangs verweist und das kritische Potential herauszuarbeiten sucht, macht in der Regel sein eigenes Verständnis von der Welt und den Menschen zum Maßstab. Und so konnte in Kriemhilt die Tragödie einer liebenden Frau nacherlebt werden, der man ihr Liebstes geraubt hatte; in Hagen gab es die Unmenschlichkeit eiskalten Machtkalküls zu bestaunen, in der burgondischen Königssippe die Verstrickungen politischen Handelns und die Schwäche politischer Entscheidungsträger, in Sivrit die Verblendung dessen, der nur auf sich selbst vertraut. Der Epenwelt ist all das kaum weniger fern als die Stahlgewitter völkischen Ringens. Die handelnden Figuren und die Konflikte, in die sie verstrickt sind, erschließen sich dem Verständnis nur in ihrer historischen Konkretheit. Erst die historische Verfremdung läßt eine Welt erkennen, die nicht mehr die unsere ist, die aber eben deshalb Alternativen zu dem erzählt, was heute gilt. Erst sie öffnet den Zugang zu den sozialen Konstellationen, in denen das Erzählte weder platt noch antiquiert, sondern notwendig, freilich auch in seinen immanenten Aporien erkennbar ist. Ein neues Buch über das ,Nibelungenlied' rechtfertigt sich durch sein Plädoyer gegen eine falsche Aktualisierung, die das Mittelalter ebenso kolonisiert, d. h. den eigenen vorgefaßten Meinungen anverwandelt, wie dies mit den fremden Welten außerhalb Europas geschah.
Die Botschaft ist dann notwendig sehr allgemein, z. B. ein Plädoyer gegen Egoismus, Stolz und Übermut (vgl. Bostock, 1960); vgl. dagegen Wehrli (1972), S. 99 zu derart moralisierenden Interpretationsversuchen. II
Einleitung
Aporien der Deutung Auszugehen ist von der historischen Besonderheit der nibelungischen Welt, deren vermeintlich zeitlose Konstellationen von Vorgaben abhängig sind, die für uns nicht mehr gelten. Was uns nah vorkommt, scheint es oft nur auf Grund einer perspektivischen Täuschung. Sie zu bekämpfen, setzt ein Umdenken voraus, das allenfalls näherungsweise gelingen kann, denn wir können nie völlig unseren eigenen historischen Standpunkt aufgeben, allenfalls probeweise einige vermeinte Selbstverständlichkeiten suspendieren. Dafür sind allerdings die Voraussetzungen gegenwärtig nicht ungünstig, denn das Tempo der Modernisierungsprozesse einerseits und die fortschreitende Relativierung eurozentrischen Denkens andererseits nötigen uns schon in unserem alltäglichen Gegenwartsverständnis immer wieder ab, das, was als selbstverständlich festzustehen schien, auf seine generelle Geltung hin zu befragen. Der Blick aus einer Lebenswelt, die immerzu von der Zukunft überholt und von ihren Rändern her problematisiert wird, findet in der Vergangenheit keine Beruhigung mehr, weder in der Verläßlichkeit fortgeltender Traditionen, seien es nationale, kulturelle, ethische oder was immer sonst, noch im Versprechen stetigen Fortschreitens entlang jener teleologisch gerichteten Linien, auf denen wie auf Geleisen die Geschichte auf den Interpreten zuläuft. Wo es zur Überlebensfrage werden kann, probeweise den Blickpunkt des Anderen einzunehmen, des Fremden, des unerwartet Neuen, muß auch historisches Denken auf die Frage ,Was wäre, wenn...?' eine Antwort suchen. Mit dieser Frage ,Was wäre, wenn dies oder das nicht gelten würde?' suche ich mich dem ,Nibelungenlied' zu nähern. Ich will Annahmen darüber einklammern, wie ,ich anstelle der epischen Figuren handeln würde' oder ,was ich zu ihrem Verhalten sagen würde', Annahmen über ihren Habitus, ihre Weisen der Wahrnehmung, das im Epos unterstellte Verhältnis von ,innen' und ,außen', über den gewöhnlichen Lauf der Welt und über zureichende Bedingungen kausaler Verknüpfung. Für solch einen Versuch fehlen innerhalb der Mediävistik weithin die Vorarbeiten. Der Interpret sieht sich eher auf Arbeiten zum archaischen Griechenland oder zur modernen Ethnologie verwiesen.'9 Immerhin kann ich einige eigene Versuche fortführen, die oft an einzelne Skurrilitäten des Epos anknüpften.20 Diese Versuche wurden manchmal fälschlich als Plädoyer dafür verstanden, eine psychologische' Lektüre durch eine »soziologische' zu ersetzen/1 Doch zielt das Vorhaben entschieden weiter, nämlich auf eine historische Lektüre des ,Nibelungenliedes', die auch die historische Gestalt dessen zu reflektieren hätte, was die '' Etwa auf die Arbeiten von Snell, Dodds oder Geertz. Müller (1974); vgl. (1987), (19923), (i99jb), (19963). 21 So Ehrismann (1987), S. 89 über meinen Versuch von 1974.
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der Deutung
moderne Wissenschaft als psychologisch' oder ,soziologisch' auseinanderhält, mit dem Risiko, die in beiden Sphären gängigen Verständigungskategorien als historisch inadäquat aufgeben zu müssen. Als erstes ist der auf die neuzeitliche Schriftkultur bezogene und von ihr abhängige Literaturbegriff zu suspendieren. Wo das ,Nibelungenlied' an ihm gemessen wird, stößt man nämlich rasch auf angebliche ,Mängel'. Das vermutlich um oder kurz vor 1200 entstandene Epos setzt eine jahrhundertelange Überlieferung voraus, die entweder nie schriftlich fixiert wurde oder aber, sofern das geschah, nicht auf uns gekommen ist. Man nimmt an, daß der Erzähler mindestens Teile dieser Überlieferung kannte und in sein Epos zu integrieren suchte, daß aber dessen großepische Anlage sein Werk ist." Das Buchepos war dann seinerseits Gegenstand weiterer Bearbeitung. Die Geschichte dieser Entstehung muß demnach als fundierend für seinen literarischen Status in Rechnung gestellt werden (und nicht nur als Erklärung jener angeblichen Mängel, die das Epos von einem literarischen Text in der Neuzeit unterscheidet): Es gibt nicht den einen, ein für alle Male abgeschlossenen Text, noch ist der ,Dichter' eines Epos, das in einer langen Tradition steht, in vollem Sinne der ,Herr' dieses Textes. Problematisch sind deshalb an neuerer Literatur abgelesene Erwartungen an Kohärenz, Stimmigkeit und Ganzheit, die selbst dort noch normativ vorausgesetzt werden, wo man dem Epos größere Lizenzen in Abweichungen zugesteht. Gewiß, wenn eine vielstimmige Überlieferung verarbeitet werden mußte, können Störungen eher auftreten, Erwartungen an Stimmigkeit oder wenigstens Widerspruchsfreiheit können leichter enttäuscht werden. Und umgekehrt: Eine Erzählweise, die es erlaubt, divergierende Traditionen der Sagengeschichte zusammenzuführen, stellt von vorneherein geringere Ansprüche an die Verknüpfung aller Elemente/5 Doch darf die Frage nach dem Gelingen der buchepischen Integration nicht vom Maßstab der Erfüllung neuzeitlicher Kohärenzerwartungen abhängig gemacht werden. Bis heute erwarten selbst professionelle Leser des ,Nibelungenliedes' lückenlose Verknüpfung und wahrscheinliche' Motivationen, wie sie die Alltagserfahrung unterstellt und wie sie die Erzähltheorie des 18. Jahrhunderts entwarf, statt nach anderen Typen von Motivation und narrativer Kohärenzbildung zu fragen. Was als Wahrscheinlich', was als ,Widerspruch' angesehen wird, wird meist nur intuitiv postuliert, kaum je wird die historische und ästhetische Adäquatheit der Kriterien diskutiert, von denen einige für ein Gerichtsprotokoll oder einen durchschnittlichen Kriminalroman passen mögen, aber selbst für die meisten großen Texte der Neuzeit von Cervantes über Goethe und Kleist bis zu Kafka unangemessen sind und zum Verdikt der ,Unwahrscheinlichkeit' und ,Widersprüchlichkeit' führen müßten. " Fromm (1974). 23 Wachinger (1960), S. 140-145; vgl. S. iojf.
Einleitung
Am ehesten noch wurde die Erwartung von Ganzheit und Geschlossenheit aufgegeben. Mit vollem Recht werden Versuche, eine ,Gesamtkonzeption' des Epos plausibel zu machen, inzwischen kritisch aufgenommen/4 Entsprechend traten in den letzten Jahren Kommentare zu Einzelszenen, die sich in ihrer Reichweite von vorneherein beschränken, in den Vordergrund. Das scheint der Entstehungsweise des Textes angemessener, doch ist es letztlich Ausdruck einer Verlegenheit. Noch den Verzicht auf Verknüpfung von Einzelbeobachtungen bestimmt nämlich insgeheim eine moderne, am Roman des späten 18. und 19. Jahrhunderts abgelesene Theorie Realistischen' Erzählens, das offenbar im .Nibelungenlied' noch nicht beherrscht wurde, weshalb man ihm bestimmte Lizenzen einräumen muß, wenn man ihm literarische Qualität zusprechen will. Eine historisch adäquate Lektüre muß dagegen die dieser Theorie inhärenten Kohärenzerwartungen selbst als historisch begrenzte und deshalb dem Mittelalter unangemessene erkennen. Für ältere Erzählformen ist dies, zunächst am Beispiel der spätmittelalterlichen Prosaerzählung, bereits 1932 durch die Analysen von Lugowski vorbereitet worden.2' Die Übertragung ihrer Fragestellungen auf die mittelalterliche Literatur steht immer noch aus. Das ist umso erstaunlicher, als die stillschweigend als überzeitlich unterstellte Romanästhetik, deren Geltung Lugowski für die Vormoderne in Frage stellt, in der neueren Erzählliteratur längst aufgegeben ist. Jener .realistische' Erzähltypus, an dem latent mancherorts das ,Nibelungenlied' und sein Verhältnis zur Sagenüberlieferung immer noch gemessen wird, ist ein Phänomen von literarhistorisch begrenzter Reichweite. Auch ist seine psychologisch-anthropologische Basis in der Alltagserfahrung längst von der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts, von Psychoanalyse, Soziologie und Sprachwissenschaft, destruiert worden. Er lebt zumeist nur noch in einigen Trivialgenres fort. Die Suspension vertrauter Kulturmuster muß also diejenige nur scheinbar selbstverständlicher ästhetischer Normen einschließen. Aufgabe muß sein, ein adäquateres Beschreibungsmodell für das Erzählen im ,Nibelungenlied' zu entwickeln. Nur so lassen sich Folgerungen aus der Entstehungsgeschichte des Epos zurückweisen, die seine Interpretierbarkeit grundsätzlich in Frage stellen. Ihr Argument: Wenn der Redaktor an eine widersprüchliche und, soweit mündlich, möglicherweise schwankende und unzuverlässige Überlieferung gebunden war, die er nicht mehr bruchlos zu einem geschlossenen Werk verarbeiten konnte, dann läuft jede Interpretation des Ganzen wie einzelner Szenen Gefahr, Zusammenhänge zu konstruieren, wo einfach Divergentes mühsam verleimt wurde.26 Solche Konstruktionen 24
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Etwa Haug (1974/1989), S. 293; Perennec (1987), S. 214; 219; grundsätzlich Heinzle (198713). Wie sich bei derartigen Gesamtdeutungen über das Epos ein neuer, mit mittelhochdeutschen Einsprengseln angereicherter Erzähltext legt, zeigt Schröders (1968) Konstruktion der „Tragödie Kriemhilts" (S. 48156). Lugowski (1932/1976); hierzu Martinez (1996). Heinzle (19873), S. 88f. u.ö.; ders. (1987^ und (1991). 14
Aporien der Deutung
gelingen, so diese Überlegungen, immer nur mit Hilfe massiver Ergänzung und Glättung des Textes durch den Interpreten, indem dieser Brüche herunterspielt, Lücken füllt und stillschweigend ,Fehler£ bei der Adaptation der Sagengeschichte korrigiert. In der Tat, liest man einige Interpretationen des ,Nibelungenliedes', dann wird man auf Schritt und Tritt solche Ergänzungen finden, „Interpolationen" habe ich sie genannt,27 „Sinnunterstellungen" Heinzle.28 Solche Interpolationen dürfen freilich nicht nur als methodisch fragwürdige Konsequenz aus stoffgeschichtlichen Mängeln kritisiert werden, als hilflose Reparaturversuche also, sondern sind als Antworten moderner Interpreten auf Auffälligkeiten eines vormodernen Erzählkonzepts zu verstehen. Unternommen werden sie nämlich im Namen des Prinzips handlungslogischer Kohärenz und psychologischer Stimmigkeit, wie es Maßstab bei der Beurteilung neuerer Erzähltexte ist. Auf dieses Prinzip sind - und das ist die Pointe der Auseinandersetzung - auch die meisten Kritiker verpflichtet, wenn sie Mißlingen der Integration feststellen. „Sinnunterstellungen" werden durch Elemente des Textes stimuliert, die aus sich heraus unverständlich und einander widersprechend scheinen und daher die Hypothese einer Störung oder einer unpassenden Kontamination in der sagengeschichtlichen Überlieferung nahelegen - oder eben dazu auffordern, den Text neu und besser zu dichten. Mit seinem Vorschlag, auf Interpretation zu verzichten, zieht Heinzle die Konsequenz aus dem Dilemma, denn jede Interpretation harmonisiere, was nicht zusammen paßt, habe es der Interpret doch mit einem brüchigen, lange und vielfältige Stofftraditionen nur oberflächlich integrierenden Werk zu tun. Heinzle schlägt stattdessen eine Rückbesinnung auf die Sagengeschichte vor. Damit meint er keine Rückkehr zu den Spekulationen der älteren Forschung über verlorene Versionen und eine ursprüngliche Gestalt des Werks,29 sondern die Einsicht in dessen sagengeschichtlich bedingte Zufälligkeit. Die Überlieferung führt nicht auf den einen geschlossenen, allenfalls marginal verderbten und daher durch Textkritik in ,originaler' Form wiederherstellbaren Text, sondern dokumentiert eine Reihe von zwar im Kern festen, in der konkreten Ausformung aber variantenreichen Gebilden, die mehr oder minder glücklich aus einer nicht mehr rekonstruierbaren Sage geklittert sind. An den Bruchstellen muß jede Interpretation scheitern, es sei denn, es suchte sie harmonisierend zu verkleistern. Freilich ist Heinzles Alternative - ,,einmalige[s] Originalkunstwerk" vs. divergierende, keine eindeutige Aussage zulassende Überlieferung - zu einfach. 30 Sie 17 28
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Müller (1987), S. 225. (19873), S. 92; an der Schlußszene entwickelt (1987(3), im Untertitel des Beitrags Heinzle (1991); zuletzt (1997), S. 85. Vgl. schon Heinzles (1978) Kritik an den Spekulationen der Forschung zur Dietrichepik. Heinzle (1978), S. 6; ähnlich Schröder (1968), S. 32; vgl. auch S. 381". Schröder stellt die Alternative: das .Nibelungenlied' als ,,einmalige[] Schöpfung" des „einefn] große[n] Dichterfs]" vs. .Pluralität 15
Einleitung
berücksichtigt zwar den besonderen literarischen Typus, den das .Nibelungenlied' repräsentiert, doch ist implizit Vergleichsmaßstab die ästhetische Norm, die den kritisierten Versuchen der „Sinnunterstellung" zugrundeliegt. Stattdessen müßte nach der Angemessenheit dieser Norm und nach ästhetischen Konzepten gefragt werden, die auf jene Überlieferungslage antworten. Heinzles Warnung vor Interpretation richtet sich zudem vornehmlich gegen ein antiquiertes Interpretationskonzept, dessen Korrelat das gebildehaft geschlossene Kunstwerk ist und das sich auf eine totalisierende Bedeutungszuweisung mit Ausschließlichkeitsanspruch richtet, wobei jedes Element einem organizistisch gedachten Ganzen zu subsumieren ist. Die berechtigte Kritik an diesem Typus von Interpretation trifft jedoch nicht hermeneutisch-interpretatorische Anstrengung überhaupt. Die neuere Literaturtheorie hat herausgearbeitet, daß die gebildehafte Geschlossenheit des Kunstwerks eine Illusion ist, bestenfalls ein Inszenierungseffekt, der die Vielstimmigkeit und Brüchigkeit sprachlicher Gebilde auf der Oberfläche zum Verschwinden bringt. Dies gilt erst recht für vormoderne Texte, die dem Ideal gebildehafter Geschlossenheit und organischer Stimmigkeit noch gar nicht verpflichtet sind. Das bedeutet freilich weder hier noch dort, daß sie jeder Analyse ihrer semantischen Potenzen unzugänglich sind. Dem ,offenen' Text korrespondieren ,offene' - keineswegs beliebige - Lektüren, und daß ein neuzeitliches ästhetisches Konzept am mittelalterlichen Text scheitert, besagt noch nicht, daß es kein anderes, adäquateres gäbe. So scheint mir die Resignation verfrüht. „Sinnunterstellungen" setzen an sog. Inkonsistenzen und Widersprüchen des Textes an. Müßte aber nicht zuerst geprüft werden, ob es sich tatsächlich um Inkonsistenzen und Widersprüche handelt? Ob die „Interpolationen" der Interpreten - ganz gleich welcher Art - gerechtfertigt, ja überhaupt notwendig sind? Ob es nicht andere Erklärungsmöglichkeiten gibt als die harmonisierender Glättung oder Annahme einer sagengeschichtlichen Panne? Die Alternative bleibt verbaut, solange im Hintergrund ein ,eigentlich' zu erwartendes, linear progredierendes, nach gängigen Alltagserfahrungen kausal verknüpfendes und insofern syntagmatisch kohärentes Erzählen als Normalfall von Erzählen überhaupt angesehen wird. Es ist letztlich gleich, ob man angebliche Zwischenglieder etwa des KriemhiltRomans, der Geschichte des jungen Sivrit oder des Hortraubs, Elemente also, die der Epiker verweigert, vor dem Hintergrund eines solchen erwartbar-normalen Erzählens ,Sinn unterstellend' ergänzt oder ob man ihr Fehlen aus einer heterogenen Sagentradition erklärt, die jeden Interpretationsversuch zuschanden mache. Beide Male nämlich schiebt man die Besonderheit der literarischen Verfahren bei-
von gleichrangigen Verfassern' auf. Dabei muß die Dichtung eines Buchepos nach älteren Erzählungen nicht „einmalig" sein, sondern kann, wie in mittelalterlicher Schriftlichkeit auch sonst, zu Ausgestaltung, Fortsetzung, Verbesserung usw. einladen, und, wenn mehrere sich darum bemühten, dann müssen sie deshalb noch lange nicht „gleichrangig" sein.
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Aporien der Deutung
seite. Wenn daher der Kritik Heinzles zuzustimmen ist, so doch nicht ihren Folgerungen und ästhetischen Voraussetzungen. Ein weiteres kommt hinzu. Selbst Forschungen zum .realistischen' Roman haben gezeigt, daß literarische Texte immer und notwendig mit „Leerstellen" arbeiten, die der Leser durch eigene Imagination zu füllen hat und daß in der Interaktion zwischen den Vorgaben des Textes und der deutenden Aktivität des Lesers der „Akt des Lesens" bestehe.3' Ein Text, der sämtliche Voraussetzungen, die zum Verstehen dessen, was er erzählt, nötig sind, explizieren würde und der Imagination seines Rezipienten auch nicht den kleinsten Raum mehr ließe, ist allenfalls als Grenzfall denkbar und wäre im übrigen ein nicht mehr konsumierbares literarisches Monstrum. Lawrence Sterne hat es im ,Tristram Shandy' parodiert. Jeder Text stimuliert durch „Leerstellen" die Phantasie des Lesers und begrenzt sie zugleich durch das, was er sagt. Eine Lektüre, die nicht durch die Vorgaben des Textes sich begrenzen läßt, steht in Gefahr, beliebig zu werden und nur der Selbstaffektion des Lesers zu dienen.'2 Die Schwierigkeit besteht darin, die (notwendige) Tätigkeit des Rezipienten auch historisch adäquat zu kontrollieren, das aber heißt: von den Instruktionen des Textes auszugehen. Hinter den vielfältigen Bemühungen, Lücken und Widersprüche dem Epiker nachzuweisen, steht so gut wie immer der Gedanke einer einstmals ,richtigen', eben nur verderbten Verknüpfung; die Regeln aber dieser Verknüpfung werden als überzeitlich verbindliche angesehen. Ein (sagen-)historisches Argument wird also ahistorisch begründet. Damit wird die Aufgabe umgangen, jene angeblichen Brüche und Lücken als Spuren einer fremden Auffassung von Welt, von uns fremd gewordenen Selbstverständlichkeiten, einer anderen Weise der Kohärenzbildung zu lesen. Diese Aufgabe setzt voraus, daß man die eigenen Erwartungen, wie eine Geschichte plausibel zu erzählen sei, möglichst lange suspendiert und sich, soweit wie möglich, auf das einläßt, was tatsächlich erzählt wird. J1
Heinzle knüpft an Isers Überlegungen zu „Leerstellen" in literarischen Texten an, versteht sie jedoch gänzlich anders (1987)3, S. 265-267). Iser will zeigen, daß jede Rezeption eines literarischen Textes die Produktivität des Rezipienten erfordert, die an sog. „Unbestimmtheitsstellen" einsetzt (1976, S. 257ff.). Diese Produktivität ist zwar grundsätzlich durch keinerlei Regeln eingeschränkt; sie muß aber im Vollzug des Leseprozesses diszipliniert werden, bleibt also, wo sie zu legitimen, intersubjektiv vermittelbaren Aussagen kommen will, durch die Instruktionen des Textes begrenzt. Fehlt diese Leistung des Lesers, bleibt der Text stumm. Heinzle meint dagegen mit „Sinnunterstellung" eine zu falschen Ergebnissen führende Tätigkeit des Rezipienten, der sich über Instruktionen des Textes hinwegsetzt und unkontrolliert eigene Assoziationen interpoliert. Wo es Iser also um eine notwendige Voraussetzung jedweden literarischen Verstehens geht (.Leerstellen sind notwendig, und sie müssen notwendig aufgefüllt werden'), da Heinzle um ein methodisch fehlerhaftes Vorgehen, das den Textsinn verfehlt. Aus „Leerstellen" werden bei ihm daher unversehens „Löcher" im Text, die auf „Strukturmängel" zurückgehen (1987^ S. 266E). Das ist aber etwas ganz anderes. '' In dieser Weise wird Isers Konzept bei Stech (1993) mißverstanden (S. 40-51). „Der Leser selbst muß das Geschehen motivieren, sich in die Personen hineinversetzen" (S. 85): Das leistet genau den naiven Spekulationen Vorschub, die Heinzle zu Recht kritisiert hatte.
Einleitung
Angesichts seiner erfolgreichen Verbreitung fällt es schwer zu glauben, daß das ,Nibelungenlied' nichts als sagengeschichtliches Patch-work zum Aufdröseln durch Philologen ist und daß dies jahrhundertelang Rezipienten und Abschreibern entging - oder sollte man vielleicht doch wieder ,kindliche Leichtgläubigkeit' und ,ästhetische Anspruchslosigkeit' des mittelalterlichen Menschen unterstellen? Davon, daß auch mittelalterliche Rezipienten Schwierigkeiten mit einigen jener Brüche, Lücken und Widersprüche hatten," wird noch öfter zu handeln sein, wenn von Varianten der handschriftlichen Überlieferung die Rede ist. Aber wenn sie bemüht waren, sich einen Reim auf das Erzählte zu machen, indem sie den Text zu verbessern suchten, dann zeigt das auch, daß die Geschichte als ganze akzeptiert wurde. Eine komplexe Struktur zu vereinfachen, um sie dem eigenen Verständnis eben zu machen, ist im übrigen in der Geschichte literarischer Rezeption zu gängig, um ein Argument gegen jene Komplexität zu liefern und die schlichtere Version als die ursprüngliche und richtige zu begründen. Die Grundfrage dieses Buches lautet also, ob in der von Heinzle zutreffend beschriebenen Aporie nicht ein problematisches Konzept von Interpretation, ein historisch unangemessenes Modell des Erzählens und ein neuzeitliches Welt- und Gesellschaftsbild steckt. Vorgeschlagen wird eine Lektüre, die sinnvolle Verkettungen, Isotopien und strukturelle Rekurrenzen auf den verschiedenen Ebenen des Epos und in den verschiedenen von ihm thematisierten Sachverhalten nachweist, ohne den Anspruch zu erheben, daß all jene Beobachtungen zu der einen geschlossen-schlüssigen, alles Disparate integrierenden, alle Brüche kittenden ,Interpretation' sich fügten, sind es doch gerade die Brüche und Widersprüche (wie sie sich aus neuzeitlicher Perspektive darstellen), die die Faszination des .Nibelungenliedes' ausmachen.
Das Dilemma der Sagengeschichte Am fundamentalsten stellt der Verweis auf die Sagengeschichte ein Vorhaben wie das vorliegende in Frage. „Ohne eine [...] Vorstellung [wie die Vorgeschichte des ,Nibelungenliedes' verlaufen sein könnte] ist jeder verloren, der das Werk verstehen will", denn der Dichter habe „sich dem vorgegebenen Stoff mit seinem Traditionspotential und seinem Anspruch auf Verbindlichkeit als Vorzeitkunde zu beugen, ihn als objektive Größe zu nehmen".54 Eine derartige Traditionsgebundenheit des Dichters, die seinen Gestaltungsspielraum einschränkt, gilt in der Tat allgemein im Mittelalter. Selbst Gottfried von Straßburg, der Autor des am tiefsten in die la35 34
Heinzle (1997), S. 94. Heinzle (lySja), S. 32; zur Diskussion der ,Quellen'-Frage ,nach Hausier': Andersson (1987), S. 105117. 18
Das Dilemma der Sagengeschichte
teinische Schriftkultur eingelassenen mittelhochdeutschen Romans, erzählt vor dem Hintergrund der Tradition und reagiert auf beides: literarische Fassungen und mündlich umlaufendes Erzählgut; er beansprucht, die Geschichte besser zu lesen als seine Vorgänger, die sie ,falsch gelesen' haben (Tr 131-134)." A forteriori gilt das für eine traditionsfixierte Gattung wie die Heldenepik. Erzählen, selbst mündliches Erzählen, erst recht Erzählen nach einer buchepischen Konzeption ist nicht schieres Registrieren von allem und jedem, sondern auswählende, ergänzende, deutende Auseinandersetzung. Ihr Spielraum ist gattungsabhängig unterschiedlich weit. Für den Artusroman Chretiens ist er, so der Konsens, so groß gewesen, daß Chretien den umlaufenden Erzählungen keltischen Ursprungs eine bele conjointure einzeichnen konnte. 56 Selbst Texte mit historiographischem Anspruch, die sich um möglichst vollständige Berücksichtigung dessen bemühen müssen, was überliefert ist, geben dem Überlieferten durch kritische Auswahl und Anordnung eine eigene Struktur. Im heroischen Epos lassen sich werkspezifisch beide Tendenzen nachweisen, sowohl der Versuch sinnhaft-eigenständiger Durchformung des Vorgegebenen als auch Treue gegenüber dem Überlieferungsbestand. Auch wenn die Heldenepik als Vorzeitkunde aufgefaßt wurde, wurde sie, wechselnden Interessen folgend, immer wieder neu adaptiert." Eine andere Frage ist es, wie überzeugend die Integration des Überlieferten gelingt, und an eben diesem Punkt entscheidet sich, welches Verhältnis zur Erzähltradition man dem Verfasser des ,Nibelungenliedes' zutraut. Hätte er sich wirklich in den Fäden einer nicht mehr entwirrbaren Tradition verheddert, dann wäre das »Nibelungenlied' ganz einfach ein schlechter Text - wie viele Dietrichepen.58 Unstreitig steht hinter ihm eine breite, diffuse Sagentradition. Über das, was sie erzählte, und erst recht das, was der Epiker davon wissen konnte, sind günstigstenfalls ein paar plausible Vermutungen möglich. Das ,Modeir, nach dem sich Andreas Heusler die Entstehung des ,Nibelungenliedes' über wenige Zwischenstufen zurechtlegte, war ein Versuch, einen unübersichtlichen Problemkomplex durch Reduktion zu bewältigen, doch ging Heusler von ganz und gar neuzeitlichen Vorstellungen aus, indem er die Überlieferung eines heroischen Stoffes ausschließlich auf einige wenige, von Dichtern fixierte Texte " Man muß sich der verführerischen Nähe zum poststrukturalistischen Begriff der lecture entziehen: lesen meint hier das Zusammenholen (fälligere) der vielerlei Elemente der Geschichte, die im Umlauf sind, und ihre stimmige Zusammenfügung. Es gibt deshalb für Gottfried ein .richtiges' lesen, im Gegensatz zu den vielen falschen Versionen. j6 Haug (1992), S. 91-118 zu Chretien de Troyes. '7 Für die Dietrichepik zeigt das Heinzle (1978). '8 Und genau dies ist die Konsequenz: „Jener Nibelungendichter war nun kein Originalgenie" (Heinzle, 1987^ S. 268) - als gäbe es einen einzigen Autor im Mittelalter, auf den dieser Terminus des 18. Jahrhunderts paßte; ähnlich Andersson (1978). Wolf (1995) bezeichnet das Ganze als „prächtigefn] Stamm", konstatiert aber im einzelnen „Holprigkeiten", .Unbeholfenheit', „Schwachstellen", „Ratlosigkeit" u. ä., zumal in den Details (vgl. etwa S. 297-300). J
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Einleitung
unterschiedlicher Länge (Heldenlied, Kurzepos, Buchepos) einschränkte39 und die Integration dieser Dichtungen wieder einer Dichtung, der sog. ,Älteren Not' zuschrieb, einem kürzeren Buchepos, das er sich in verhältnismäßig enger zeitlicher Nachbarschaft zum ,Nibelungenlied' entstanden dachte und dem man all die Fehler und Modernismen absprechen konnte, die am Nibelungenlied störten. Über den Inhalt der ,Älteren Not' glaubte man Aufschlüsse aus der nordischen Überlieferung, zumal der ,Thidrekssaga', einer Prosadichtung des 13. Jahrhunderts, zu erhalten.40 Diese hypothetische Konstruktion der ,Älteren Not', in der frühere Adaptationen der Sage - vielleicht in Form von ,Heldenliedern' - zusammengeflossen sein sollen, hat lange Zeit die Arbeit an einem adäquaten Textverständnis blockiert, indem ihr alles an Stimmigkeit zugeschrieben wurde, was ein durchschnittlicher moderner Leser von einer wahrscheinlichen' Geschichte erwartete und was das ,Nibelungenlied' vermissen ließ. Die Plausibilität eines solchen ,missing link', geschweige die von Annahmen, wie es im einzelnen ausgesehen haben könnte, hängen nicht zuletzt davon ab, welchen Kredit man latent darwinistischen Evolutionstheorien auf dem Feld der Kulturwissenschaften einräumt. Die ,Ältere Not' avancierte jedenfalls rasch zur festen Größe sagengeschichtlicher Forschung, mit der man wie mit einem tatsächlich überlieferten Text rechnete.4' Doch wie sicher ist diese Konstruktion? Die Überlieferung in den Jahrhunderten zwischen Völkerwanderungszeit und dem mutmaßlichen Zeitpunkt der Entstehung eines Buchepos liegen im Dunkeln. Daß die Sage weiter erzählt wurde, machen Spuren in genealogisch-dynastischer Hausüberlieferung wahrscheinlich.42 Alle konkreten Vorstufen aber beruhen auf nicht verifizierbaren Hypothesen.43 Unbeweisbar ist auch die Annahme, daß Nibelungendichtungen des Nordens ,der' Urform der Sage näherstehen, so daß mit ihrer Hilfe entscheidbar ist, was ,altnibelungisch', was ,Zutat' ist. Eine solche These setzt voraus, daß die kulturellen Bedingungen Nordeuropas die Sagen nur peripher beeinflußten, während sie in Kontinentaleuropa massive Eingriffe erzwangen. Aber selbst wenn man wahrscheinlich machen könnte, daß die nordischen Versionen eine ältere Gestalt der Sage bewahren, folgt daraus " Heusler (1921/1965); affirmativ noch Andersson (1980 u. 1987); zur grundsätzlichen Kritik Haug (1975/1989) und (1981/1989). 40 So etwa Andersson (1987), S. 1091". Wenn freilich die .Thidrekssaga' Übersetzung oder Bearbeitung eines auf dem Kontinent entstandenen Buchs vom Ende des iz. Jhs. ist (Andersson, 1987, S. 51 f.), dann ist sie erst recht ein selbständig mit dem .Nibelungenlied' konkurrierendes Werk, nicht aber Zeugnis für die Geschichte, die dieses .eigentlich' erzählen sollte. 41 Vgl. Fromms (1990), S. 6 Spott, daß mit der .Älteren Not' so fest gerechnet wird, daß Studenten das Buch in der Seminarbibliothek vermissen könnten. Tatsächlich erzählt Andersson (1987), S. n8f. den Inhalt der .Älteren Not', um die .originellen' Zusätze des .Nibelungenliedes' davon abzusetzen (S. ii9f); dagegen abgewogen Heinzle (1997), S. 83f. ^ Störmer (1973), S. 491-496, (1974) u. (1987); Meves (1980) u. (1981); Wenskus (1975), passim; zusammenfassend S. 447f. 4i Schröder (1968), S. 40. 20
Das Dilemma der Sagengeschichte
weder, daß es die ,authentische' Fassung ist, noch daß sie den Maßstab für alle späteren Aneignungen setzt. Oder mißt man Goethes ,Fehler' an Euripides? Die Rede vom ,Urgestein' der alten Nibelungenüberlieferung setzt ein im Kern romantisches Entstehungsmodell voraus: Es gibt den einen wahren Ursprung, von dem alles seinen Ausgang nahm und zu dem man durch alle Verschüttungen wieder vordringen muß. Was als ,Urgestein' gilt, ist deshalb nicht nur die älteste, sondern auch die wertvollste Schicht, Ursprung, unverfälschte Quelle, „Krondiamant".44 Daraus folgte der Umkehrschluß, daß das, was der Intuition des Forschers am wertvollsten schien, auch am ältesten sein müsse. Aber warum eigentlich müssen die „qualitätvollen" Lieder am Anfang stehen? Warum muß der Weg von einer „kurzen, sprunghaften Darstellungsweise zu der ausführlicheren, glättenderen der Prosa" fuhren?45 Was berechtigt dazu, die Adaptationen auf dem Kontinent als abgenutzt und fehlerhaft aufzufassen?46 Wenn Überliefertes vom Verfasser nicht einfach beiseitegeschoben werden konnte, dann stellt sich die Frage, wie es aufgenommen, bearbeitet und umgedeutet wurde. Bearbeitung und Umdeutung sind nicht entbehrlicher Verputz von ,Urgestein', ebensowenig wie sog. ,Urgestein' ein störender Atavismus ist.47 Das ursprungsmythische Modell endlich zu verabschieden, bedeutet nicht, die Arbeit von Jahrhunderten zu verkennen, die die Sage umbildeten. Ohne Zweifel wirkten dynastisch-politische und sozialgeschichtliche Konstellationen auf die Sage ein.48 Bekannt ist, daß politische Konstellationen des Frühmittelalters ihre Spuren hinterließen.49 Aber es ist eine Illusion zu glauben, man könne Schicht für Schicht abtragen, um zum Kern vorzustoßen. Vermutlich waren verschiedene Versionen den Verfassern bekannt; daraus folgt jedoch nicht, daß die eine mehr oder minder zufällig erhaltene Fassung Auskunft darüber geben kann, was mit „considerable evidence" in der anderen gestanden haben muß und vom Verfasser mit großen Mühen und um den Preis von „many inconsistencies" unterdrückt wurde.' 0 Deshalb besagen älteres und jüngeres ,Atlilied', ,Völsungasaga', ,Thidrekssaga* nichts für eine Geschichte, in der Sivrit nicht eidbrüchig, Günther kein Hahnrei und Etzel 44 41 46
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Heusler (1921/1965), S. 316; zur Kritik auch Schnyder in: Biterolf, S. 6if. So fragt schon Beck (1990), S. 6 (mit Literatur zur nordistischen Diskussion). Kühn (1965) z. B. spricht von „schweren Störungen" gegenüber der alten Hortszene (S. 287), einem „durch vielfache Eingriffe uneinheitlich und rissig gewordenen Sagenstoff' (S. 280). Mit welchem Recht nennt Schröder (1968) die Hortforderungsszene - als „dichterisches Urgestein [...] nicht aufgebbar" - einen „Fremdkörper, der sich der geradlinigen Durchführung des neuen Themas, der Rache Kriemhilts für Sivrits Ermordung, recht störend in den Weg stellt" (S. 93)? Müßte sich das ,neue Thema' nicht in der Auseinandersetzung mit der Tradition bewähren? Wenskus (1973), S. 394. Vgl. Klebel (1957) zu Nebenfiguren des Epos; Birkhan (1977), S. 4-11 zur frühmittelalterlichen Geschichte des Ostalpenraums und zur mutmaßlichen Entstehung in Passau; allgemein Voorwinden (1987), S. 31. Andersson (1986), S. 6; vgl. S. 4. Die Metapher nach Neumann (1924/1967), S. 9-34, der von „Schichten der Ethik" spricht. 21
Einleitung
nicht goldgierig ist, und aus dem Fehlen des Deflorationsverbots in der ,Thidrekssaga' läßt sich weder schließen, daß das Verbot im ,Nibelungenlied' Zutat ist, noch umgekehrt, daß die .Thidrekssaga* es , vergessen* habe, handelt es sich doch beide Male um verschiedene Deutungen des Handlungskerns. Wichtig sind konkurrierende Dichtungen deshalb nicht als ,Quellen','1 sondern als Hinweis auf Deutungsalternativen und auf unterschiedliche Selektionsmöglichkeiten aus der Tradition. Es gibt keinen Stoff ,an sich' und deshalb keine Fassung eines Stoffes in einem Text, der nicht eine bestimmte Deutungsperspektive eingezeichnet ist,' 2 und so determiniert der Stoff den Erzähler nur in festumrissenen Grenzen." Der einzelne Text ist als bestimmte Antwort auf eine Tradition zu würdigen, die ihrerseits bestimmte Antworten versammelte. Paralleltexte zeigen das Spektrum möglicher Aneignung, nicht ,wie die Geschichte eigentlich lauten müßte'. Keinesfalls darf die Sagengeschichte als Joker benutzt werden, der immer dann gespielt wird, wenn der Interpret in seinem Bemühen um handlungslogische und psychologische Stimmigkeit mit seinem Latein am Ende ist. Wo die Sagengeschichte als Auskunftsmittel für Einzelheiten der Handlung unbrauchbar ist, da verweist sie doch auf einige allgemeine Bedingungen für die Verschriftlichung des Nibelungenstoffes. Statt von einzelnen hypothetischen Texten auszugehen, die dem ,Nibelungenlied' vorausgegangen sein mögen, muß man den literarischen Typus beim Übergang von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit bedenken.54 Die Sagenüberlieferung schließt individuelle und überindividuelle Aneignungen, poetisch fest geformte und nicht geformte Erzählungen ein. Während im Norden „innerhalb weniger Jahrzehnte ab Anfang des 13. Jahrhunderts" fünf schriftliche Fassungen des Burgondenuntergangs konkurrierten und neben bloßem „Tradieren" immer auch „Neudichten" möglich war," setzte sich auf dem Kontinent das ,Nibelungenlied' allein durch (ohne die Spuren anderer epischer Versionen ganz zu löschen), ergänzt in nahezu allen Handschriften um die (Nibelungen-) .Klage«.
Vgl. Andersson (1987), S. 82; 84. Der Begriff der .Quelle' ist unangemessen, gleich ob man damit stoffliche oder strukturelle Verwandtschaft oder die Wiederkehr einzelner poetischer Elemente beschreibt, denn er ist im Horizont von Schriftlichkeit gedacht und schließt unangemessene Wertungen ein: Die .Quelle' ist .reiner' als das, was aus ihr strömt, und man muß zu ihr zurückfinden, wenn man herausfinden will, was .eigentlich' gilt. Die (unlösbare) Frage nach der .Quelle' zieht sogleich die ebenso unlösbare nach .Original' und .Originalität' nach sich (Andersson, 1987, S. 109; 118-143). Andersson (1986) demonstriert genau dies eindrucksvoll an der .Sigurdarquiöa in meiri'. Wie hier der Dialog zwischen Sigurd und Brynhild einen (gattungsgeschichtlich erfolglosen) Übergang zum Roman bedeutet, so setzt auch das .Nibelungenlied' unterschiedliche literarische Traditionen zueinander in Beziehung. Vgl. Göhler (1996), S. 219 zum spekulativen Argumentieren mit dem „Stoffzwang". Haug (1974/1989), S. 295; ders. (1975/1989), S. 279^ Wolf (1988), S. 168; 170. 22
Das Dilemma der Sagengeschichte
Der Traditionsrahmen ist auch hier präsent. Die Erzähler spielen immer wieder auf etwas allgemein Gewußtes an, das man sich erzählt. '6 Sie sind von der Tradition abhängig: Durch Rekurs auf das, was man weiß, beweisen sie ihre Glaubwürdigkeit. Indem zumal der Verfasser des Epos einzelne Verse oder Verssegmente wie Spolien dem eigenen Text einfügt und vorgeprägtes oder wie vorgeprägt aussehendes Material verwendet, zeigt er, daß er über ein traditionelles poetisches Inventar verfügt. Determiniert werden durch die Tradition kann er schon deshalb nicht, weil diese nicht mit einer Stimme spricht." In einigen Passagen des ,Nibelungenliedes' glaubt man einen Dialog mit der Tradition zu hören; der Erzähler stößt sich von ihr ab, versucht, das Vorgegebene auszulöschen, zu verwischen, neu zu deuten oder besser zu fassen. Jeder mündliche Vortrag setzt solch einen impliziten Dialog mit der Tradition voraus. Mit der Verschriftlichung löst sich der Text aus dem Gewirr einander übertönender Stimmen, schreibt sich als die ,authentische' Version dem Bewußtsein des Rezipienten ein, mindestens so lange, bis der nächste Text ihm diesen Status bestreitet. Er will als ,richtige' Version ohne den Rekurs auf das, was er verwirft, verstanden werden. Doch hängt auch sein Geltungsanspruch von der Kompatibilität mit dem ab, was man im allgemeinen weiß, mit einer Tradition, die Glaubwürdigkeit und Autorität sichert. Ohne jene Tradition fehlt dem Text die Verbindlichkeit, ohne ihre entschiedene Formung die Eindeutigkeit und die Aktualität für die Gegenwart der Rezipienten. Versuche, sog. Widersprüche des überlieferten Textes in sagengenetischer Perspektive aufzulösen, können, dies hat Bumke demonstriert, interpretatorisch ertragreich sein, wenn sie auf das aufmerksam machen, was sich neuzeitlichem Verständnis sperrt und auf Narben variierender Aneignung weisen.'8 Doch können sie nur Hypothesen anbieten für das, was ihr vorauslag. Kaum ist herauszufinden, von welchen Details der Sage die Verfasser im einzelnen ungefähr wußten, welche Elemente sie vielleicht bei ihren Hörern als bekannt unterstellen konnten oder eventuell sogar in einem ausgeformten Text vorfanden.'9 Es ist ungewiß, wie das heroische Vorwissen des Erzählers aussah, doch sicher war es geringer als das des Mythenforschers und Philologen; meist ist wohl nicht einmal genauere Kenntnis des Handlungsnexus zu unterstellen. Betrachtet man, was neben dem ,Nibelungen16
Haug (1975/1989, S. 291) spricht von der „Herausbildung eines spezifischen heroisch-historischen Bewußtseins" und rechnet mit der Offenheit der Heldenepik gegenüber anderen Gattungen. " Höfler (1955/1961), S. 389f. '" Bumke (1960), konstatiert „Fugen und Nähte", „Härten und innere Widersprüche" (S.i), „nicht wegzudisputierende Widersprüche [...], wo sich die Traditionen mischen" (8.5), sucht die „Quellenbestandteile zu scheiden" (8.19); manches wirke wie ein „unbehauener Block" (S.i}), anderes sei „in jahrhundertelanger Tradition langsam um- und abgeschliffen" (S. 2), wieder anderes nur „äußerlich miteinander verbunden" (S. 12) oder durch das „Zusammenrücken zweier Traditionen" (S.8) erklärbar. " Curschmann (1989), S. 583.
Einleitung
lied' an Sagenwissen im späteren Mittelalter - etwa über Kriemhilt - anspielungshaft präsent ist, dann wird man sich von Genauigkeit und Detailreichtum solchen Wissens keine übertriebenen Vorstellungen machen.60 Inwieweit dieses Wissen jedem Erzähler als Grenze seiner Möglichkeiten vorgegeben war und inwieweit es eher als Stimulans für Grenzüberschreitungen wirkte, ist erst recht nachträglich schwer zu entscheiden. Das durchweg negative Kriemhilt-Bild außerhalb des ,Nibelungenliedes' spricht für die letztere Möglichkeit: Der Erzähler des Epos und erst recht der der ,Klage' erzählten gegen das Sagenwissen von der bösen Kriemhilt an, und sie taten dies, was Kriemhilts Leumund betrifft, trotz der Verbreitung ihrer Werke nicht einmal mit durchschlagendem Erfolg.6' Auch bedürften die Modelle der Sagengenese der Überprüfung. Üblicherweise rechnet man mit zwei verschiedenen Typen von Sagenüberlieferung, einer in bestimmten Texten geformten und einer ohne Verdichtung in einem Text weitererzählten. Der zweite kann meist nur hypothetisch als notwendiges Zwischenglied zwischen zwei tatsächlich überlieferten Versionen postuliert werden. Dabei werden zwei kontradiktorische Entwicklungsmodelle unterstellt. Die Prämissen des ersten beruhen auf „nachvollziehbarer psychologischer Progression": „Die Sagenlogik folgt einem psychologischen Räsonnement, einer Entfaltung vom Einfacheren zum Komplexeren", sie rechnet mit „Ausgestaltung", „Steigerung", „Weiterführung".62 Das zweite Modell rechnet dagegen mit Mißverstehen, Banalisierung, Harmonisierung oder Verkürzung einer einstmals sinnvollen Handlungsfolge. Die erste Prämisse kommt eher zur Anwendung, wenn man Repräsentationen einer Sage in eine chronologische Ordnung, als ,Stufen einer Entwicklung', bringen möchte, die zweite, wenn schwer Verständliches in tatsächlich überlieferten Texten auftaucht. Beide Typen der Rekonstruktion sind - jeder für sich, aber erst recht in ihrer Kombination - für textgenetische Argumentation höchst problematisch, denn warum soll die Auseinandersetzung mit der Sage konsequent in eine Richtung gehen? Eine gelungene überlieferte Konstellation kann ihrerseits Sekundärbildung sein,65 eine psychologisch konsequenter scheinende späte Zutat, umgekehrt eine weniger plausible vielleicht nicht verderbt, sondern ursprünglich. 60
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Man konsultiere bei W. Grimm (1829/1957) die Einträge zu Criemhild; zum Begriff ,Sagenwissen' Curschmann (1989), S. 385; 387 u.ö. Curschmann (1989), S. 395-397 zur gelegentlich sprichwortartig gefaßten Ansicht über Kriemhilt, der das Epos entgegenarbeitet; vgl. Saxo Grammaticus und seine Wertung von Kriemhilts ergafratres perfidia (Abdruck in englischer Übersetzung bei Andersson, 1987, S. 252-255). Kritisch hierzu Beck (1990), S. 5; das führe bei einer Beurteilung des Überlieferten in einen „Argumentationszirkel". Sagengeschichtliche Überblicke tendieren überdies dazu, die Veränderungen am Sagenkern als einsinnigen Prozeß zu beschreiben. Dabei gibt es immer nur einzelne Adaptationen, deren Überlieferung bis heute auf Zufällen beruht, und diese müssen keineswegs untereinander abgestimmt sein. Von See hat dies für den Flammenritt der nordischen Brünhildsage wahrscheinlich gemacht. Dabei ist unbestritten, daß die im 13. Jh. aufgezeichneten eddischen Lieder auf eine mehrhundertjährige mündliche Überlieferung zurückgehen (von See, 1993, S. 26), so daß selbstverständlich wechselseitige Beeinflussung mit kontinentaler Überlieferung möglich ist. 24
,Vokalität' und kulturelles Wissen
Jede Adaptation erfolgt in einem konkreten zeitgeschichtlichen Zusammenhang, und der kann demjenigen sehr fern stehen, in dem die Geschichte zum ersten Mal erzählt wurde. Es werden Geschichten aus der Völkerwanderungszeit, solche des Frühmittelalters und solche der jüngeren Vergangenheit verarbeitet. Dadurch ist mit Verwerfungen zu rechnen. Geschichten haben ihren eigenen Zeitindex. Wie stark der sich bei jeder neuen Adaptation auswirkt, kann nur im einzelnen geprüft werden. Die Heterogenität der im ,Nibelungenlied' thematisierten Lebensverhältnisse, Wertordnungen und Menschenbilder wurde von der Forschung seit Beginn unter verschiedensten Aspekten herausgearbeitet. Keine Interpretation des Epos ,in seiner Zeit' kann diese Heterogenität hinwegdisputieren; an ihr hat jeder Neuansatz sich abzuarbeiten. Wohl aber scheint ein Perspektivenwechsel möglich, indem nämlich die Heterogenität weder als bloßer Ausgangspunkt für die Herstellung eines (homogenen) angeblich Ursprünglichen benutzt wird noch als Ergebnis einer nicht voll gelungenen zeitgenössischen Integration abgewertet, sondern indem sie als Grundvoraussetzung für das spannungsreiche Gefüge des Epos verstanden wird, das Widersprüche auf prekäre Weise figuriert und zu bewältigen sucht. Jede Erzählung setzt andere Erzählungen voraus und nimmt auf andere Bezug. Da er eine Geschichte erzählt, die man kennt, kann der Erzähler nicht beliebig erfinden. Da er in Konkurrenz mit anderen steht, die diese Geschichte poetisch gefaßt haben, kann er ihnen folgen, aber er kann auch zeigen, wie seine Version andere überbietet. Beides kann geschehen, indem er ihre Vorzüge aufnimmt (den gelungenen Vers, die kühne Metapher) und ihnen andere hinzufügt. Dabei spricht er vor einem Horizont der Tradition, die nur zum geringeren Teil durch Schrift vermittelt ist. ,Vokalität'64 und kulturelles Wissen Das ,Nibelungenlied' ist ein Buchepos, das sich aus mündlichen Überlieferungen speist. Das Verhältnis des schriftliterarischen Werks zur Oralität ist kompliziert. Von der älteren Oralitätsforschung wurde das Problem noch kaum gesehen. Vielleicht weil anfangs die an vorschriftlichen Gesellschaften entwickelten Thesen zur Oral formulaic epic allzu direkt auf das semi-orale Mittelalter übertragen wurden, haben Anstöße der Oralitätsforschung in der Nibelungenphilologie wenig Resonanz gefunden.6' Die volkssprachliche Heldenepik des Mittelalters ist aber keine 64
Der Begriff wurde zuerst von Zumthor („vocalite") entwickelt (1983 und 1987) und in Deutschland von Schaefer (1992) eingeführt. 6 ' Am prononciertesten setzte sich Haymes damit auseinander, der seine früheren Thesen unter dem Eindruck der Kritik an einer allzu direkten Übertragung der Thesen von Lord und Parry revidierte; auch Bäuml hat die Kritik aufgenommen und kommt in seinen jüngsten Publikationen der im folgenden zu entwickelnden ,Vokalitäts'konzeption von Zumthor und Schaefer nahe; vgl. Bäuml (1978; 1980; 1984/85). 25
Einleitung
genuin mündliche, nur sekundär schriftlich fixierte (,verschriftete') Epik, sondern konzeptionsgeleitete Verschriftlichung einer ehemals mündlichen Tradition. Folgenreich war, daß die mediävistische Forschung das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit zunächst überwiegend als Alternative interpretiert hat. Der Nachweis, daß ein Text wie das »Nibelungenlied' ohne den Einsatz der Schrift nicht denkbar sei, implizierte dann, daß die Frage nach seiner Einbettung in eine vor allem mündlich kommunizierende, illiterate Laiengesellschaft beiseitegeschoben und das Problem seiner Abhängigkeit von mündlicher Überlieferung auf das Sonderproblem sagengeschichtlicher Genese einzelner Motive oder eines ,formelhaften' Erzählstils verengt wurde. Dabei ist der Status des ,Nibelungenliedes' mit der Dichotomie Mündlichkeit - Schriftlichkeit nicht angemessen zu fassen. Ich greife daher einen von Schaefer eingeführten Terminus auf, um ihn näher zu bestimmen: „Vokalität".66 Der Begriff ist für eine Gesellschaft konzipiert, die nicht völlig schriftlos ist (,primäre Oralität'), in der jedoch der Schriftgebrauch gruppen-, Institutionen- und sprachspezifisch eingeschränkt ist (,sekundäre Oralität'), ein Teil der Schriftunkundigen (d. h. vor allem der Adel) sich Zugang zur Schrift verschaffen kann, umgekehrt auch die Schriftkundigen (d. h. die Kleriker) an den dominierenden mündlichen Kommunikations formen der Laien teilhaben, in der schließlich Schrift immer wieder in Stimme rück verwandelt wird, indem Texte vorgetragen werden.67 Die schriftunkundige adlige Laiengesellschaft um 1200 lebt in einer Kultur, die wesentliche Wissensbestände ohne Schrift tradiert, aber sie kann von Fall zu Fall auf Schriftlichkeit zurückgreifen;68 literarische Kommunikation erfolgt dominant mündlich. Umgekehrt gibt es eine sektoral begrenzte Kultur der clerici, die ihre eigenen Wissensbestände schriftlich bewahrt, deren Schriftproduktion aber in eine überwiegend schriftlos kommunizierende Gesellschaft eingelassen ist, der sie zum Teil angehören und von der sie zum Teil abhängen.69 Das europäische Mittelalter ist insofern eine „semi-oral or secondary oral culture".70 Es ist nicht völlig schriftlos; vor allem können sich auch Schriftunkundige die Schrift zunutze machen. 66
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Schaefer (1992), S. 7-20 zu begrifflichen Unscharfen in der Dichotomie Mündlichkeit-Schriftlichkeit sowie bes. das Kapitel ,Der Zugang zum Schriftlichen in der Vokalität', S. 30-34. Schaefer (1992), S. 17 spricht von „Hineinragen" von Mündlichkeit in Schriftlichkeit und von ihrer „Fusionierung"; vgl. S. 21-29 'nre Beschreibung der Interferenzen in der frühmittelalterlichen Kultur Englands. Die Verhältnisse dort sind natürlich nicht einfach auf den Kontinent 400 Jahre später übertragbar; unterschiedlich sind aber vor allem die Proportionen, nicht die Spannungen zwischen beiden Kulturen überhaupt. In semi-oralen Gesellschaften hat mündliche Kommunikation „changed its ritual status from that of a culturally necessary ritual in a preliterate society to a subculturally distinctive ritual in an illiterate subculture of a literate society" (Bäuml, 1984/85, S. 39; vgl. 1980, S. 243). Individuelle Fähigkeit des Schriftgebrauchs spielt also eine untergeordnete Rolle, insofern es auf das grundsätzlich mögliche Zusammenwirken von Schriftlichkeit und Mündlichkeit in verschiedenen sozialen Schichten ankommt (vgl. Bäuml, 1978, S. 43; 1980, S. 244; 246f.). Diese Unterscheidung von ,primärer' und .sekundärer' Oralität ist wichtig; vgl. Bäuml (1980), S. 237; 239; (1984/85), S. 34. Sie differiert vom Sprachgebrauch bei Ong (1982/1987). 26
,Vokalität' und kulturelles Wissen
Insofern sind in der mittelalterlichen Laienkultur Mündlichkeit und Schriftlichkeit unauflöslich ineinander verschränkt.7' Kommunikationsformen, Wahrnehmungs- und Interaktionsmuster, der Umgang mit Überlieferung verändern sich durch die Einführung von Schrift zunächst nur in bestimmten Sektoren der Gesellschaft, während genuin der Oralität zuzuordnende kulturelle Muster in anderen Bereichen fortexistieren.72 Überdies ist mit der Langsamkeit historischer Prozesse in traditionalen Gesellschaften zu rechnen, die erklärt, daß Auswirkungen der Literarisierung erst allmählich zutage treten. Mündliche Sicherung von Traditionsbeständen bleibt in bestimmten Bereichen bis mindestens in das späte Mittelalter und die Frühdruckzeit die Regel.73 Das ,Nibelungenlied' thematisiert ausdrücklich ,Vokalität', d. h. die Abhängigkeit des Geschriebenen von und seine Umsetzbarkeit in Stimme. Unbestreitbar verwendet das Epos ,Formeln', wie sie für mündliche Dichtung typisch sind. Formeln sind vorgeprägte Versatzstücke - Wortgruppen, Syntagmen, metrische Einheiten, Situationsmuster, Erzählschemata u.a. -, deren Basisstruktur identisch, deren konkrete Besetzung mit Wortmaterial jedoch variabel ist. Die Formel ist funktional zu verstehen, als Hilfsmittel poetischer Produktion, Hilfsmittel des Memorierens und der Rezeption.74 Das bedeutet, daß die Formel beim Verfassen, beim Vortrag und seiner Vorbereitung, endlich beim Aufnehmen und Verstehen des Epos unterschiedliche Bedeutung und Funktion haben kann. Formelhaftigkeit impliziert nur unter den Bedingungen primärer Oralität, und nicht einmal hier notwendig, Improvisation' - die Möglichkeit, ad hoc nach vorgegebenen Mustern Text zu erfinden -, denn die Formel kann ebensogut freier Improvisation entgegenwirken und eindeutiger Fixierung und Memorierung dienen.7' In einer semioralen Gesellschaft ändert die Formel ihre Funktion. Der Verfasser eines Schriftwerks kann auf Formeln als auf ein tradiertes Inventar mündlicher Kompositionselemente zurückgreifen, um seine Geschichte als eine traditionellmündliche erscheinen zu lassen und dadurch bei seinen Hörern den Eindruck des Vertrauten hervorrufen.76 Es sind also ein „Produktionsproblem", ein „Überliefe71
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Auch Curschmann (1989), S. 384 wendet sich gegen die ,,absolute[n] Unterschiede — hier ,reine' Mündlichkeit, dort ,reine' Schriftlichkeit". Curschmann unterscheidet „Schriftlichkeit nur in technischem Sinne" (die zufällige Tatsache der schriftlichen Aufzeichnung eines mündlichen Textes, die in weiterer Rezeption jederzeit wieder rückgängig zu machen ist) und „literarische" Schriftlichkeit (S. 385)Ein Überblick über die Charakterisierung der adligen Mischkultur bei Grünkorn (1994), S. 29. — Für Griechenland hat Rosier (1980) Ähnliches am Beispiel der „Entdeckung der Fiktionalität" gezeigt; zum frühmittelalterlichen Irland Richter (1994). Richter (1994), S. 232; Beispiele in Müller (19943+^. RLW I (1997), S. 619^ (Schmid-Cadalbert); Foley (1991), S. 38. - Nach den Diskussionen der jüngeren Oralitätsforschung kann .Formelhaftigkeit' nicht mehr als ästhetisch minderwertige Ansammlung vorgefertigter Versatzstücke verstanden werden: sie ist Ermöglichungsrahmen poetischer Produktion und Rezeption. Beck (1990), S. 15. Bäuml (1984/85), S. 37 unterscheidet zwischen Formel als technischem Mittel beim Verfassen eines 27
Einleitung
rungsproblem", ein „Rezeptionsproblem" und ein „Stilproblem" zu unterscheiden, deren Konsequenzen nicht übereinstimmen müssen.77 Im verschriftlichten Text verschiebt sich das Gewicht auf die beiden letzten Aspekte.7' Wo mündliche Produktion ausgeschlossen ist,79 können weiterhin bei der Überlieferung mündliche und schriftsprachliche Praktiken interferieren. Das Repertoire von ,Formeln' unterschiedlichster Art erleichtert weiter dem Dichter (oder auch Arrangeur) sein Geschäft, indem er vorgefertigte Muster verwenden kann. Wichtiger jedoch ist die Rezeptionsseite. Beim Vortrag werden verschriftlichte Formeln wieder durch die Stimme realisiert, in Mündlichkeit zurückgeführt, und können damit wie in genuin mündlicher Dichtung wirken. Die Formel erlaubt nämlich dem Hörer, im Neuen das wiederzuerkennen, was er schon weiß, sie reduziert Unbestimmtheit und schränkt Interpretationsmöglichkeiten ein.80 Sie setzt ein gemeinsames kulturelles Wissen voraus, das der Erzähler teilt und das im Erzählen aktualisiert wird. Ein solches implizit vorausgesetztes Wissen spielt bei mündlicher Kommunikation eine größere Rolle als bei schriftgebundener. Wenn Wissensbestände nicht schriftlich fixiert werden, bedarf es besonderer Zurüstungen, sie zu tradieren und vor dem Vergessen zu bewahren. Erzählungen sind Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses.81 Die wichtigste Stütze der Erinnerung ist neben dem Ritual die stereotype formale Prägung relevanter sprachlicher Einheiten. Die Flüchtigkeit des gesprochenen Wortes wird durch die Wiederkehr gleicher oder verwandter Elemente aufgefangen. Die Formel garantiert die Verläßlichkeit der Information und ihre Anschließbarkeit an zuvor Gewußtes. Sie ruft anspielungshaft Wissen über den gewöhnlichen Lauf der Welt und die gewöhnliche Weise ihrer Interpretation auf und sorgt dadurch für die Weitergabe und Bewahrung dieses Wissens. Mit der Einführung der Schrift verliert diese Form der Sicherung von Wissen an Bedeutung. Aber sie ist nicht einmal in der entwickelten Schriftkultur der Moderne nur auf Randzonen der Schriftkultur beschränkt. Wo die Schrift wie im Mittelalter nur einzelne Sektoren der Gesellschaft erfaßt, bleibt jene ältere Form des Wissens Textes und Formel als Element eines bestimmten literarischen Typus („means of composition or technique" vs. „compositional type"). 77 Heinzle (1978), S. 69. 78 Zu den Konsequenzen, wenn „Schaffensvorgang und Überlieferungsprozeß [...] in den Sog der Schriftlichkeit" geraten: Rosier (1980), S. 303^ vgl. Mertens (19963), S. 62 zum Einsatz von Elementen einer oralen Poetik im buchepischen Interesse. 79 Das Problem darf nicht nur von dieser Seite angegangen werden, so Curschmann (1979), S. 93f.; ähnlich Beck (1990), S. i j f . 80 Bäuml (1984/85), S. 35f.; Schaefer (1992), S. 44. "' Hierzu Assmann (1992). Der Begriff ist noch sehr weit, insofern er sehr unterschiedliche Typen von Texten und Funktionen, verbale und nonverbale Phänomene umfaßt. Für die mittelalterliche Kultur wäre er deshalb zu differenzieren. Auch müßten vom kulturellen Gedächtnis als Ort der Sinnsicherung und -Vermittlung Institutionen der Speicherung wie das Archiv, die keinen Anspruch auf Sinnstiftung haben, abgesetzt werden. 28
, Vokalität' und kulturelles Wissen
dominant und wird durch Schrift nur unterstützt. Verschriftlichte Formeln versichern auch den schriftunkundigen Hörer der Kohärenz seiner Welterfahrung.82 Die Übereinstimmung mit dem, was man weiß und was seit je gilt, ist deshalb für einen Text wie das ,Nibelungenlied' wichtiger als die Stimmigkeit narrativer Progression und die motivierte lineare Anordnung der Handlung. Der Hörer eines verschriftlichten Textes braucht sich also nicht auf die komplizierteren Regeln schriftsprachlicher Kommunikation einzustellen. Erzählen kann auf vertrautere Muster der Verständigung zurückgreifen und so die umständlicheren Wege schriftsprachlicher Verständigung abkürzen. Während bei einem schriftsprachlichen Text nämlich die Kontexte, in denen er gelten soll, verbal expliziert werden müssen, so daß er auch jenseits seiner primären Kommunikationssituation verstanden werden kann, kann mündliche Rede darauf verzichten, einmal wenn sie sich, wie in alltäglicher Kommunikation, auf eine von Sprecher und Hörer gemeinsam erfahrene Situation bezieht, über die man sich nicht nur in Worten, sondern auch handelnd-zeigend verständigen kann,8' zum anderen indem sie - über die gemeinsam erfahrene Situation hinaus - auf ein kulturelles Wissen rekurriert, das sie, da die Kommunikationspartner sich kennen, unterstellen kann. Dieses Wissen muß nicht expliziert werden und kann durch Anspielungen präsent gehalten werden. Das setzt voraus, daß es eindeutig und stabil ist, allenfalls langfristigen und dann kaum merklichen Veränderungen unterworfen. Demgegenüber sind die Anteile solchen Wissens in schriftsprachlicher Kommunikation von vorneherein geringer, und sie müssen bei Veränderung des Rezeptionskontextes kontinuierlich ergänzt werden, Folge des Umstandes, daß mit der Schrift sich die Homöostase archaischer Kulturen aufzulösen beginnt. Die Re-oralisierung eines verschriftlichten Textes im mündlichen Vortrag steht zwischen beiden Kommunikationstypen. Sie gelingt umso glatter, je mehr jener Text schon auf ein nicht-problematisiertes Wissen rekurriert, wie es mündliche Kommunikation voraussetzt. Die Festigkeit und Geschlossenheit des Wissens in oralen Gesellschaften84 gilt unter den Bedingungen der ,Vokalität' in vielen Bereichen fort. Auf mündliche Überlieferung zurückgehende oder auf mündliche Kommunikation ausgerichtete Texte scheinen daher zum einen stereotyper, zum anderen lückenhafter als genuin schriftsprachliche, stereotyper, weil sie auf die Verläßlichkeit des gemeinsam Gewußten bauen, lückenhafter, weil sie weniger explizieren müssen.8' Doch entsteht 81
Bäuml (1981), S. 115. *' Dieses Situationswissen ist beim Vortrag eines epischen Textes verhältnismäßig unspezifisch und daher von geringerer Bedeutung. Es kann sich z. B. auf den Anlaß des Vertrags beziehen, auf eine gemeinsam bewußte aktuelle Lage, auf genealogische Verbindungen zwischen Erzähl- und Alltagswelt usw. Solch ein Wissen ist nicht mehr rekonstruierbar und für die wissenschaftliche Analyse daher ohne Belang. 84 Vgl. Goody/Watt/Gough (1986), S. 61-75. 8 ' Bäuml (1981), S. 119 spricht davon, daß bei der „Verschriftlichung mündlicher Texte" „Lücken in ihrer einst mimetischen, d. h. auf die außertextliche Wirklichkeit bezogenen Funktion" entstehen (vgl. 1984/85, S. 59). 29
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dieser Eindruck nur dort, wo sie in ihrer verschriftlichten Form betrachtet werden, und eben dies ist der Fall beim .Nibelungenlied'. Erst mit dem allmählichen Durchdringen der Schrift verblaßt der implizit vorausgesetzte Verstehenshorizont, werden konkurrierende Verstehenskontexte denkbar und explizitere Verfahren der Verständigungssicherung die Regel.86 Das kulturelle Wissen betrifft die Normen des Handelns, Regeln des Verhaltens, Annahmen über den Lauf der Welt, vor deren Hintergrund das Geschehen abläuft und die zu seiner Erklärung und Deutung abgerufen werden. Mit seiner Hilfe kann aufgefüllt werden, was auf syntagmatischer Ebene, d. h. bei der motivierenden Verknüpfung der Handlungsfäden, offen bleibt. Daß es offenbleiben kann, bedeutet gerade nicht, daß jeder aus eigener kultureller Kompetenz ergänzen kann, was nicht ausdrücklich gesagt wird, sondern daß eine vom Erzähler als gemeinsam unterstellte Kompetenz der Hörer aktiviert werden muß, so daß der Rahmen der Verständigung über das, was gilt, relativ stabil ist. Anders als der Lesevorgang (mit der Möglichkeit des ,Zurückblätterns', des Textvergleichs) stellt das Hören geringere Anforderungen an eindeutige und vollständige Verknüpfung der Handlungselemente (syntagmatische Kohärenz).87 Dagegen wird beim Hörvorgang ein Verstoß gegen das gemeinsame kulturelle Wissen unmittelbar wahrgenommen, denn dann muß nicht weit Auseinanderliegendes verknüpft werden, sondern das hier und jetzt Gesagte muß sich vor dem seit eh und je Gültigen als plausibel erweisen (paradigmatische Konsistenz). Ein Verstoß hier wäre gravierender, ist daher viel seltener und wird, wo er vorkommt, häufig vom Sprecher ausdrücklich markiert, denn er stört das Einvernehmen zwischen Sprecher und Hörern und gefährdet damit das Gelingen von Kommunikation. Auch das mündlich vorgetragene Buchepos muß auf der Basis des allen Selbstverständlichen sprechen, wie es u. a. in Sprichwörtern, Sentenzen, rühmenden oder tadelnden Phrasen, stereotypen Situations- und Handlungsmustern sedimentiert ist. Die ,Stereotypie' der Heldendichtung hat hier ihren Grund. Das ,Nibelungenlied' steht im Zeichen der ,Vokalität', hat also sowohl an Schriftlichkeit wie an Mündlichkeit teil.88 Wenn man sich seine Entstehung nicht anders als unter Zuhilfenahme der Schrift denken kann, so scheint es doch für den Vortrag, d. h. mündliche Realisation bestimmt. Im Vortrag aber kann es auf solch ein unausgesprochen immer schon mitverstandenes Wissen rekurrieren, ohne dieses Wissen ausdrücklich zu machen. Ein angemessenes Verständnis kann ohne jene Voraussetzungen nicht auskommen, die der Erzähler bei seinen Hörern unterstellt. 86
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Der höfische Roman, der konzeptionell weit stärker von der klerikalen Schriftkultur geprägt ist als die Heldendichtung, öffnet sich etwa im Bereich der äventiure dem Unerwarteten und Neuen, fangt es aber gleichzeitig in einem Netz verbindlicher Deutungsmuster ein. Vgl. Bäuml (1980), S. 25if.; Schaefer (1992), S. 57; 71-87. Wolfs (1995) häufige Empfehlung, es mit den Einzelheiten doch nicht zu genau zu nehmen, hat darin ihre Berechtigung (S. 297; 379 u. ö.). Bäuml (1981), S. 123^; schon Fromm (1974) und Wachinger (1981), S. 90 haben auf die „hochmittelalterliche mündlich-schriftliche Mischkultur" als Voraussetzung des .Nibelungenliedes' verwiesen. 3°
, Vokalität' und kulturelles Wissen
Demgegenüber befindet sich der moderne Interpret in einer mißlichen Lage, denn er teilt weder die Situation, für die das Epos bestimmt war, noch verfügt er und das ist wichtiger - über das kulturelle Wissen der ursprünglichen Adressaten.*9 Er muß versuchen, dieses Wissen zu rekonstruieren, wenn er dem Text gerecht werden will. Das ,Nibelungenlied' enthält insofern mehr und andere „Leerstellen"90 als ein schriftliterarischer Text, nämlich solche, die dem Rezipienten nicht einen Spielraum individueller Aneignung eröffnen, sondern die mit jenem impliziten kulturellen Wissen aufgefüllt werden müssen. Dieses Wissen auszublenden, hieße den Text als ein Werk der neuzeitlichen Schriftkultur betrachten. Ein solches Verfahren ist ahistorisch.9' Hieraus ergeben sich Folgerungen für die schriftlich vorliegenden Texte des ,Nibelungenliedes'. Ihre genaue Stellung in schriftsprachlicher Überlieferung ist nicht mehr bestimmbar. Es ist nicht ausgeschlossen, daß dem Epos des 12. Jahrhunderts schriftliche Vorstufen vorausgingen, doch erhalten hat sich davon nichts, und so kann man schwerlich mit ihnen argumentieren. Wir wissen nur, daß das ,Nibelungenlied', wie es die Handschrift (Hs.) B überliefert, noch recht nah am Übergang von mündlicher Sage in Schrift situiert ist und vermutlich wieder mittels der Stimme - für Hörer - realisiert wurde. Ein mündlich rezipiertes Buchepos wird sich weder auf rein schriftliterarische Verfahren verlassen können noch allein die typischen Merkmale oraler Dichtung aufweisen. So wird die lebendige mündliche Tradition im Buchepos keineswegs ein für alle Male sistiert. Als weiträumig disponierendes Großepos ist das ,Nibelungenlied' zwar ohne Schrift nicht denkbar, doch bedeutet Verschriftlichung (wie auch sonst bei einem Großteil der laikalen Schriftkultur des Mittelalters) nicht endgültige Fixierung, Autorisierung und Geschlossenheit des Textes. Die Auseinandersetzung mit dem Stoff geht, wie im folgenden Kapitel darzustellen, nach der ersten uns greifbaren schriftlichen Fixierung weiter. Der (schriftliche) Text ist weiter offen für Ergänzungen und Korrekturen, für die man das Fortwirken mündlicher Erzähltraditionen angenommen hat.92 Er steht insofern in einer schwer faßbaren Kontaktzone zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit.93 Wenn man von einer längeren Periode des ,Übergangs' von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit spricht, dann ist zwar für jeden einzelnen Text eine und nur eine Position in diesem ,Übergang' möglich, seine Komponenten aber gehören nicht 89 90 91
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Schaefer (1992), S. 44. Heinzle (1987^ S. 265-267; 275. Die „Gefahr, die historische Gestalt des Werks zu verfehlen" (Heinzle, 1987^ S. 275), droht gerade, wenn man sich nur auf das schriftlich fixierte Zeichenensemble bezieht, das der Philologe vor Augen hat. Brackert (1963), S. 165-173; Bäuml (1978), S. 42; vgl. das Beispiel bei Heinzle (1997), S. 97. Bäuml (1980), S. 239 und ff.; zu den dabei ausgebildeten Typen Curschmann (1989), S. 384^; 410; vgl. Bäuml (1984/85), S. 37f. 31
Einleitung
notwendig völlig nur einer der beiden Kulturen an; es sind vielfältige Kombinationen denkbar: Der Text ist geschrieben oder ist es nicht; er ist für die Rezeption in dem einen oder dem anderen Kontext bestimmt; er ordnet sich dem einen oder dem anderen Kompositionstypus zu; er ist der Mündlichkeit zwar entwachsen, doch nimmt er Gesten mündlichen Sprachgebrauchs auf und zielt auf eine Kommunikationssituation mündlicher Verständigung.
Buchepische Integration im Zeichen der jVokalität' Ein Buchepos in der Kontaktzone zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit darf nicht an den Kriterien schriftliterarischer Gattungen wie des neuzeitlichen Romans gemessen werden.94 Wenn der Erzähler eine vielstimmige Sagentradition in sein buchepisches Konzept zu integrieren trachtete, hat er sich nur unter anderem um eine lineare Verkettung des Geschehens bemüht, und zwar im Großen (in der Biographischen' Anlage, die schon J. J. Bodmer mißbilligend bemerkte) wie im Detail (sichtbar an jenem Geflecht von Querverweisen, zumal Vorausdeutungen, das den Text überzieht). Kohärenz in einem so weit verzweigten Geschehenszusammenhang ist ein Endprodukt, das anzustreben erst möglich ist, wenn die Sage verschriftlicht wird, nicht der Ausgangspunkt sagengeschichtlicher Entwicklung. Wenn das Ziel älterer Nibelungenforschung, die ursprüngliche, angeblich kohärente Sage zu rekonstruieren, ein Erbe romantischer Literaturwissenschaft ist, dann bleibt es ästhetisch paradoxerweise von einem typisch schriftliterarischen klassizistischen Kanon abhängig, der auf den innerlich und äußerlich geschlossen-stimmigen Text setzt. Veränderungen sind dann nur als Textverderbnis infolge mehrfachen Abschreibens denkbar, und die Überlieferung scheint ein Verfallsprozeß, nach Art jenes Kinderspiels, bei dem ein flüsternd in die ,stille Post' eingegebener Satz sich von Übermittler zu Übermittler in größeren Unsinn verwandelt.9' Die Vortragssituation dagegen erlaubt eine gewisse Freiheit gegenüber dem schriftlich fixierten Text, und die Auseinandersetzung mit dem Stimmengewirr der Tradition muß immer wieder neu ansetzen. Beide Möglichkeiten bestehen prinzipiell auch für höfische Romane um 1200. Das ist an ihrer frühen Überlieferung ablesbar, denn in ihr haben „sich relativ früh zwei oder mehrere Handschriftengruppen ausgebildet [...], die dann über Jahrhunderte festgeblieben sind".96 Doch 94
Stellt man das nicht in Rechnung, dann bleibt die Rücksicht auf die andersartigen Spielregeln einer historischen Welt folgenlos, wie an Grenzler (1992) zu beobachten, der unter der Prämisse radikaler kultureller Alterität den Text wie einen Roman des 19. Jahrhunderts liest, eine streng lineare handlungslogische Kohärenz konstruiert, formelhafte Epitheta als situationsspezifische Kommentare faßt (z. B. S. 377), zwischen Erzähler- und Figurenperspektive unterscheidet (z. B. S. 378) usw. " Kritik an diesem „apriorisch" von den Interpreten unterstellten „Erzählmodell" auch bei Stein (1987), S. 85. 96 Bumke (i996c), S. 32.
Buchepische Integration im Zeichen der , Vokalität'
scheint angesichts konsequenterer schriftsprachlicher Durchformung die Varianz insgesamt dort beschränkter, da die strengere Bauform und schärfere Fokussierung auf ein Problem jedes Element stärker ins Ganze einbindet. Von Anfang an setzt sich der höfische Roman vom Stimmengewirr älterer Erzähltraditionen ab, wie sie vom ersten Vers des ,Nibelungenliedes' an als Autorität, und zwar als Plural, zitiert sind. Das verbietet hier anders als dort den selbstherrlichen Umgang mit ihnen wie ihre möglichst vollständige Unterwerfung unter einen Sinnentwurf. Muß der Untergang der Nibelungen je die schlüssige Geschichte gewesen sein, die der Verfasser eines historischen Romans daraus gemacht hätte? Geschichten haben Lücken, dunkle, blinde Stellen, die zu immer neuer Aufklärung herausfordern, Brüche, die nur mit Anstrengung überwunden werden können. An ihnen hat sich jeder zu bewähren, der sie neu zu erzählen versucht. Er muß schlüssig machen, was nicht schlüssig ist, aufhellen, was dunkel bleiben soll, erklären, was nicht erst im Abstand von Jahrhunderten unerklärlich scheint. In dieser Situation stand der, der eine alte mündliche Erzähltradition zum Buchepos formen wollte. Erzählen im Übergang zur Schriftlichkeit stellt sich die Aufgabe, in einem unübersichtlichen Feld teils bekannter, teils halb gewußter, untereinander nicht abgestimmter Geschichten Zusammenhang zu stiften. Wie allein schon das Nebeneinander mehrerer Fassungen von ,Nibelungenlied' und ,Nibelungenklage' zeigt, geschieht das offenbar in mehreren Anläufen. Es gilt, das Widerständige nicht zu unterschlagen, sondern zum Ausgangspunkt der Reflexion zu machen, Über- wie Untermotivationen als Symptome dafür zu deuten, daß ein Problem zu bewältigen war, die Brüchigkeit der Konstruktion nicht als ästhetischen Mangel zu kritisieren, sondern aus der Überlagerung konkurrierender Ordnungen und widersprüchlicher Strategien verständlich zu machen, kurz, das Beunruhigungs- und Provokationspotential des Epos zu erschließen. Besondere Aufmerksamkeit erfordern daher gerade Stellen, an denen der glatte Fluß der Handlung zu stocken scheint, die mit Vorausgehendem und Nachfolgendem nicht abgestimmt scheinen oder an denen das spontane Verstehen aussetzt. Sie dürfen weder vorschnell einer angeblichen Gesamtkonzeption unterworfen noch im Sinne einer angeblichen Haupttendenz der Sage bagatellisiert werden.97 Erst recht sind sie nicht sogleich als ,Fehler* auszumerzen, nur weil sie die syntagmatische Verknüpfung stören. Indem ein allgemein Gewußtes und Selbstverständliches unausgesprochen nicht nur allen Formen von Alltagskommunikation zugrundeliegt, die aus vielerlei mehr oder minder bruchstückhaften sprachlichen Äußerungen besteht, sondern auch der geformten Rede im Kontext von ,Vokalität', ist in höherem Maße Konformität, in geringerem textuelle Kohärenz garantiert, als sie unter dominant schriftliterari97
Die letztere Gefahr bei Heinzle (19870), S. 264; 272 u. ö. Charakteristisch sind Sätze wie: „Ich halte dies für eine ebenso Substanz- wie folgenlose Floskel" (S. 264). 33
Einleitung
sehen Bedingungen erforderlich ist. Das gilt auch für das der Mündlichkeit entwachsene, doch mündlich zu realisierende Buchepos. Die anfängliche Verschriftlichung erfüllte die Erfordernisse schriftsprachlicher Integration und Stimmigkeit gelegentlich nur ansatzweise.98 Das wirft die Frage nach der textuellen Einheit des ,Nibelungenliedes' auf. Schaefer lehnt für die Kultur der ,Vokalität' den Begriff „Text" ab und möchte ihn durch den bei mündlicher Rede üblichen der „Äußerung" ersetzen." Dies ist ungeschickt, solange man „Äußerung" zugleich für Alltagskommunikation gebraucht. Denn damit wird gerade preisgegeben, was der Begriff ,Vokalität' an Differenzierung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit erbrachte.100 Die neuere linguistische Forschung unterscheidet von den instabilen Äußerungen des alltäglichen, in Handlungen eingebetteten Sprachgebrauchs (von .empraktischer' Sprachverwendung) eine „mündliche Vertextung",101 d. h. die aus Alltagskommunikation herausgelöste, als situationsübergreifende kulturelle Überlieferung memorierte, gleichwohl ausschließlich mündlich realisierte Redeeinheit. Texte dieses Typs können sekundär ,empraktisch' eingebettet werden (z. B. im Ritus); sie werden häufig von bestimmten Überlieferungsspezialisten (etwa einer Priesterkaste) verwaltet. Sie sind jedenfalls ebenso gültig fixiert und der Flüchtigkeit alltäglicher Sprechakte enthoben wie der schriftlich fixierte Text.102 Zu diesem Typus gehören etwa .heilige' Texte, Rechtstexte, Genealogien. Ihre Festigkeit erhalten sie zumeist durch poetische Prägung. Dichtung ist insofern in oralen Gesellschaften wichtigstes Medium kultureller Überlieferung. Sie kann diese Aufgabe aber zuverlässig nur erfüllen, insofern sie Konstanz der tradierten Informationen gewährleistet. Das setzt textuelle Stabilität voraus, was nicht ausschließt, daß bestimmte Parameter des Textes variabel bleiben und er insgesamt gewandelten sozialen und kulturellen Bedingungen angepaßt werden kann.105 Die Koppelung des Textbegriffs mit der Schrift ist also aus der Perspektive der Schriftkultur zwar verständlich, doch historisch falsch. Anders als „Äußerungen" in Alltagsrede ist auch das mündliche Epos von „texthafter Abgeschlossenheit".104 Erst recht hat sich 98
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Schaefer (1994), S. 364^ Es „ist anzunehmen, daß auch dort, wo nach deren Einführung Schrift und Schriftliches benutzt werden, es einige Zeit dauert, bis Denkweisen und Denkstrukturen, Diskursformen und Diskursorganisation, die typisch sind für die primäre Mündlichkeit, gänzlich auch im Schriftlichen selbst von solchen der Schriftlichkeit verdrängt sind". Schaefer (1992), S. 43-58; vgl. Ong (1982/1987), S. 39: „Eine orale Kultur besitzt keine Texte". Schaefers Explikation (ebd.) bleibt unentschieden: „natürlich haben wir es bei den altenglischen Gedichten mit Texten (im engeren Sinn) zu tun. Was jedoch die Zeitgenossen in der Vokalität rezipierten, waren für sie enunciations, die sich von anderen, alltagssprachlichen verbalen Diskursen durch bestimmte Signale abgrenzten": Da hat man wieder die Dichotomic, die überwunden werden sollte. Eine mündlich vorgetragene Dichtung ist von Alltagsäußerung, auch alltäglicher .Wiedergebrauchsrede' scharf geschieden, insofern ,Text'. Ehlich (1994), S. i8f. nennt sie eine erste Stufe der „Verdauerung", die von „der Flüchtigkeit der einzelnen Sprechhandlungen" abgehoben ist; vgl. ders. (1989), S. 88. Ehlich (1989), S. 90. Vgl. die Beispiele der Veränderung von festgefügten Texten unter dem Einfluß des Wandels kultureller Bedingungen bei Goody/Watts/Gough (1986), S. 70. Schaefer (1992), S. 54; dabei ist sie sich des Zwischenstatus durchaus bewußt; vgl. S. 86, wo sie festhält, „daß der so geformte Diskurs anders ist als der Alltagsdiskurs". „Selbst wenn es sich um nicht-fiktionale Texte handelt, verhalten sich solche Diskurse der Welt gegenüber autonomer als mündliche Diskurse" (S. 55). Dergleichen Unterschiede werden durch die Übernahme eines Terminus, der für genuin mündliche Kommunikation geprägt wurde, verunklärt. Die Folge ist, daß z. B. 34
Buchepische Integration im Zeichen der , Vokalität' schriftgestützte Mündlichkeit vom hie et nunc der Situation gelöst, auf die alltagssprachliche Äußerungen bezogen sind. Die (re-)vokalisierte Schrift ist in höherem Maße verfestigt und selbstverständlich nicht in demselben Sinne deiktisch wie mündliche Rede in Alltagssituationen.'0' Ein Buchepos wie das ,Nibelungenlied' ist von geringerer textueller Geschlossenheit als ein rein schriftliterarisches Werk, doch dank dem Einsatz der Schrift von größerer Festigkeit als ein rein mündlich fixierter Text und daher mit Alltagsäußerungen noch weniger vergleichbar als dieser.106
Die jfingierte Mündlichkeit"07 des .Nibelungenliedes' setzt also einen anderen als den schriftsprachlichen Textbegriff voraus, gleichwohl handelt es sich um einen Text. Das Epos ist in den Grundlinien seiner poetisch geprägten Form weit entfernt von der Instabilität und Beliebigkeit von Alltagsäußerungen. Dagegen schützt die wieder in Stimme zu überführende Schrift noch nicht den Wortlaut im einzelnen. Wichtiger als der Wortlaut ist der Sinn, auf den er referiert, der wie in mündlicher Rede immer mehrere Realisationen zuläßt und als derselbe gilt, solange nicht der Sachverhalt im allgemeinen verlassen wird. Die .Vokalität' volkssprachlicher Dichtung im Mittelalter sollte daher nur dann verbieten, von ,Literatur' zu sprechen, wenn man den Begriff etymologisch korrekt an Buchstaben und Schrift bindet und damit ein Kollektiv (oder das Gesamt) genuin schriftsprachlicher Texte meint. Doch ist solch eine Einschränkung wenig praktikabel, weil er mündliche poetisch geformte Texte ausschließt. Im folgenden wird der Begriff daher in einem erweiterten Sinne auf das Ensemble volkssprachlicher Texte im Zeichen von ,Vokalität' ausgedehnt. In dem Maße, in dem an die Stelle des körperlich anwesenden Erzählers der vertextete Erzähler der Schrift (oder - in der Aufführung - als sein Sprachrohr der Vortragende) tritt und an die Stelle der hier und jetzt versammelten Zuhörerschaft ein implizites Publikum (mit dem sich sekundär die anwesenden Zuhörer identifizieren können),108 erscheinen Formeln als bewußt gewählte Mittel poetischer Gestaltung, neben anderen, genuin schriftsprachlichen.109 Der Rezipient wird durch den „pseudo-oral-formulaic style" auf eine bestimmte (nämlich die mündliche) Tradition als Bezugsrahmen des Verständnisses verwiesen und damit auf die Geschlossenheit einer Welt festgelegt, die, indem ihre Mittel frei verfügbar werden, die poetische Produktion schon hinter sich gelassen hat.
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Ong (1982/1987, S. 4of.) typische für das kulturelle Gedächtnis entwickelte Formen von Oralität der Alltagskommunikation zuzuschreiben scheint. Anders Schaefer (1992), S. 115 in Anlehnung an ein Diktum von Zumthor: „l'ecrit nomme; le dit montre". Schaefer (1992), S. 52 hält es dagegen für fraglich, daß „die vokal vermittelte Dichtung des Mittelalters dem Rezipienten, der zwar um ihre .Fixiertheit' wußte, der aber dennoch diese Dichtung nicht als Schriftliches, d. h. im direkten Akt des Lesens rezipierte, wirklich als Text erschien". Nur bei ihrem Textbegriff muß man die Frage verneinen. Vgl. Curschmann (1979), S. 93; Grünkorn (1994), S. 32f.; Mertens (1996^, S. 36of. Vgl. Bäuml (1978), S. 45f.; (1980), S. 252^ Bäuml (1984/85), S. 39; 44. Bäuml sieht deshalb jedes schriftliche Epos auf Basis mündlicher Tradition als Kommentar dieser Tradition an; vgl. zur frühen griechischen Dichtung Rosier (1980). 35
Einleitung
Welche Bedeutung hat daneben die Schrifttradition? Immerhin ist ja jeder, der sich um 1200 der Schrift bedient, durch die Schule der lateinischen Schriftkultur gegangen. Ist die schriftliche Konzeption einer zuvor mündlich tradierten Sage überhaupt ohne das prägende Vorbild lateinischer Schriftlichkeit denkbar? Soweit spezifisch schriftsprachliche Verfahren angewandt werden, sicherlich nicht, doch ist Vorsicht geboten. Der Sektor schriftsprachlicher Abhängigkeiten ist weit schmäler als in den später ausgeprägten europäischen Schriftkulturen, und die Sprach- und Bildungsbarriere des Latein bleibt hoch auch noch, nachdem die lateinischen Lettern für das Aufschreiben volkssprachlicher Texte adaptiert wurden. In der volkssprachlichen Literatur des 12. Jahrhunderts stößt damit ein privilegiertes Verfahren der Literaturwissenschaft an seine Grenzen: die Beziehung von (schriftsprachlichen) Texten auf (schriftsprachliche) Texte herauszuarbeiten. An Versuchen dazu hat es nicht gefehlt.110 Doch stehen sie allesamt unter dem Vorbehalt, daß sie den vielfältigen Schwierigkeiten des kulturellen Transfers nicht genug Gewicht beimessen. Wenn - um im Bereich der Heldenepik zu bleiben - bei einem lateinischen Waltharius-Epos das Vorbild des antiken Epos schon allein deshalb naheliegt, weil einzelne Wendungen, Bilder, rhythmische Figuren direkt und ohne Einbuße aus der klassischen Literatur übernommen werden können,111 so ist deren Adaptation in der volkssprachlichen Epik weit schwieriger, ihr Gelingen unwahrscheinlicher, etwaige Berührungspunkte unbestimmter. Das gilt selbst unter Bedingungen stofflicher Verwandtschaft. Der mittelalterliche Antikenroman z. B. orientiert sich am Stoff klassischer Vorbilder, aber hat nurmehr wenig mit ihrem Gehalt, ihrer Struktur und ihrem Ornatus zu tun. Erst recht fragt sich, warum ein schwer zu adaptierendes lateinisches Muster gesucht werden muß, wenn autochthone zur Verfügung standen. Der Einfluß Vergils etwa muß immer herhalten, wo volkssprachliche Epik schriftlich wird, obwohl die Motive, die die These belegen sollen, sich oft in den entferntesten Literaturen ebenso finden.112 Angebliche Abhängigkeiten von der lateinischen Literatur bleiben meist im Ungefähren. So glaubte Heinzle in der ersten erzählenden Strophe des ,Nibelungenliedes' die „Programm-Formel der Troja-Geschichte" zu entdecken: ,Um einer Frau willen müssen viele Helden ihr Leben lassen'. Er stellte dann allerdings fest, daß die Formel nicht allzu weit trägt, da die Geschichte sehr bald ganz anders verlaufe. Ist das wirklich „symptomatisch" dafür, daß „der Versuch den Stoff zu literarisieren" „wohl nur partiell gelingen konnte"?"3 Ist der Gedanke, daß einer Frau wegen viele Männer zu Tode kommen, so ungewöhnlich, daß er über einen Bericht vom Un"° Zusammenfassend Panzer (1945), S. 5-86; am prononciertesten zuletzt in mehreren Beiträgen Wolf, der einen starken Einfluß der chansons de geste annimmt. '" Wolf (1995), S. 117-144 zum Waltharius-Epos. 112 Vgl. etwa Andersson (1987), S. 30 u. ö. 113 Heinzle (1987!)), S. i6t)f. — S. 272 ist die Vermutung dann schon Gewißheit, daß der Dichter „mit der Troja-Formel zu einer buchgemäßen Deutung des Stoffes angesetzt hatte". 36
Buchepische Integration im Zeichen der , Vokalität'
tergang Trojas vermittelt werden muß? Zumal, wenn sich sogleich herausstellt, daß das Modell nicht paßt? Und selbst wenn ein in der lateinischen Schriftkultur gelehrter Autor, der Schultexte kannte, in denen Troja häufig als Exemplum auftauchte, eine Verbindung sah, verpflichtete ihn das darauf, das Modell zu übernehmen - um beim gewählten Stoff zwangsläufig zu scheitern? So scheint mir eine Reminiszenz an Troja weniger textgenetisch von Bedeutung denn als Hinweis auf verworfene Möglichkeiten, mit dem Stoff umzugehen. Beim Rückgriff auf andere volkssprachliche Literaturen, also etwa französische chansons de geste,1'4 rechnete man erst recht zu wenig mit gleich oder ähnlich gerichteten Traditionen, die eine .Übersetzung' von der einen Volkssprache in die andere überflüssig machen. Das kulturelle Gedächtnis einer illiteraten Laiengesellschaft kommt ja gerade weithin ohne die Stütze der Schrift aus. Bei der Vasallitätsthematik z. B., die die kontinentale Heldenepik von nordischer unterscheidet, muß man schwerlich mit Einflüssen französischer Literatur rechnen, wenn - bei allen regionalen Sonderentwicklungen - in West- und Mitteleuropa grundsätzlich vergleichbare soziale Strukturen anzutreffen sind. „Vasallenproblematik" gehörte zum politischen Alltag.1" Natürlich ist ein Rückgriff auf Texte der Nachbarliteratur denkbar, aber für den Nachweis bedarf es präziserer Übereinstimmungen als der Ähnlichkeit einer Geste"6 oder des Verlaufs einer militärischen Unternehmung." 7 Gesten sind in primär wie sekundär oralen Gesellschaften bei weitem stärker kodifiziert als in modernen, so daß ihre Übereinstimmung in zwei Texten nicht mehr besagt als die Identität oder Ähnlichkeit der Praxis, in der sie funktionieren sollen. Und für Handlungssequenzen wie Kämpfe entwickeln diese Gesellschaften stereotype Wahrnehmungs- und Darstellungsmuster, die es erlauben, die Komplexität kontingenter Geschehnisse so zu reduzieren, daß sie wiedererkannt, begriffen und memoriert werden können. Erst recht bedürfen Trivialitäten wie der Wechsel von Tag und Nacht, wie Faustschläge und Pferde, wenn sie in einem literarischen Text thematisiert werden, keiner schriftlichen Vorlage."8 Textanalytisch mag die (schrift-)literarische Parallele erhellend sein; über Abhängigkeitsverhältnisse sagt sie nichts aus.
"4 Wolframs Einleitung zum .Willehalm' mahnt übrigens zur Vorsicht, was die Bekanntheit von chansons de geste in Deutschland betrifft. "' Sie läßt sich auch kaum auf das Land eingrenzen, aus dem besonders viele Texte stammen, die sie thematisieren (vgl. Wolf, 1981; ders., 1987, S. 175; dagegen Splett, 1968, S. 106). 116 Vgl. Wolfs (zuerst 1981) Versuche, Hagens, Rüedegers oder selbst Kriemhilts Gebärden als abhängig von der Wilhelmsgeste zu erweisen; es handelt sich, wie schon Wynn (1965) an Hagens Richterpose vor Kriemhilt klarstellte, um Szenentypen, die bestimmte personelle, soziale und rechtliche Konstellationen voraussetzen. 117 Panzer (1945), S. 55-58118 Wolf (1980); (1995), S. 254; 574; }98f. oder S. 377 (antike Epik als Vorbild für das Motiv eines Angriffs auf Schlafende). 37
Einleitung
Ähnliches gilt für motivische Verbindungen zwischen Heldenepik und Chronistik."9 Historiographische Darstellungen bedienen sich ähnlicher Wahrnehmungs-, Strukturierungs- und Deutungsschemata, die dem Erfahrungshaushalt einer historischen Gesellschaft entstammen. Statt nach Filiationen zwischen Einzeltext und Einzeltext zu forschen, wäre also nach dem ,outillage mental' - Wahrnehmungs-, Erfahrungs-, Ordnungs- und Deutungsmustern - zu fragen,120 mit dessen Hilfe ebensowohl historisches Geschehen angeeignet wie Phantasiewelten entworfen werden. Bei den meisten Hypothesen zu schriftliterarischen Einflüssen fehlt es überdies an einer glaubwürdigen Erklärung, aufweiche Weise der Verfasser des einen Textes Kenntnis von dem anderen, fremdsprachigen erhalten haben soll.121 Der ,inselhafte' Charakter der volkssprachlichen Schriftlichkeit macht solche Verbindungen äußerst unwahrscheinlich, wenn es keine positiven Anhaltspunkte gibt. Wo sich derartige Beziehungen nachweisen lassen, sind sie in der Regel ausdrücklich durch ein Manuskript vermittelt, das übersetzt oder bearbeitet wird. Textwissenschaftler neigen dazu, die Beziehungen von (geschriebenen) Texten auf (geschriebene) Texte gegenüber anderen denkbaren Beziehungen zu privilegieren und ihnen einen höheren Erklärungswert zuzusprechen.122 Das ist eine professionelle Selbsttäuschung. Die Randständigkeit der Schrift in der mittelalterlichen Laiengesellschaft legt es demgegenüber nahe, daß der Erzähler andere Formen des Wissens ausbeutet als unbedingt schriftliterarische Texte, zumal der mündlich realisierte volkssprachliche Text bei seinen laikalen Adressaten gerade nicht auf Erwartungen trifft, die durch die lateinische Schriftlichkeit geformt sind. Der Versuch, an die Stelle einer diffusen und für allerlei Projektionen anfälligen Sagengeschichte die überlieferte Schrifttradition als Bezugsrahmen epischer Produktion zu setzen, befreit zwar die Nibelungenforschung aus den ideologischen Fesseln älterer Germanenspekulation, ist aber methodisch kaum weniger problematisch. Das am höfischen Roman entwickelte Instrumentarium intertextueller Analyse wird beim Buchepos im Zeichen von ,Vokalität' stumpf. "9 Vgl. Andersson (1987), S. 56-60 zum Brautwerbungsschema in der frühmittelalterlichen Historiographie und S. 81-89 2U den Variationen im .Nibelungenlied'. 120 Zu diesem Programm und zu seinem Bezug zur ,nouvelle histoire' der Annales-Schule: Müller (19863). '" Wolf (1981), S. 53 erinnert z. B. nur ganz allgemein an die engen kulturellen Verbindungen zwischen west- und ostfränkischem Reich im Frühmittelalter. Inwieweit diese, zumal auf dem Gebiet heroischer Epik, schriftlichen Austausch einschlössen, bleibt unerörtert. Schon innerhalb der klerikalen Schriftkultur sind aber Übernahmen von Schriftzentrum zu Schriftzentrum nicht einfach generell zu unterstellen, sondern immer im Einzelfall plausibel zu machen. Uneingestanden ist bei dergleichen Vermutungen Modell die wissenschaftliche Öffentlichkeit des 2.0. Jahrhunderts, der ein Text aus Deutschland oder Spanien ebenso präsent ist wie einer aus Übersee. '" Das gilt selbst für die Sagenforschung, obwohl sie doch mit schriftlich nicht faßbaren Überlieferungen argumentiert. So nimmt Lohse (1959) beim Verfasser der .Thidrekssaga' eine ganze Handschriftenbibliothek an, die vor allem eine .verlorene' Fassung der Nibelungensage enthielt mit allen Merkmalen, die die .Thidrekssaga' mit verschiedenen Nibelungen-Handschriften verbindet (S. 298^; 345). 38
Attentat: die Herausforderung der Ethnologie
Alterität: die Herausforderung der Ethnologie Daraus folgt, daß für diesen Typus Literatur implizite Voraussetzungen eine größere Bedeutung haben als schriftliterarisch explizite. Jenes implizite kulturelle Wissen, das das Epos voraussetzt, muß in Umrissen rekonstruiert werden, damit der Blick auf den fremden Text nicht durch unsere eigenen kulturellen Selbstverständlichkeiten versperrt ist. Zuerst Hans Robert Jauß hatte in Deutschland entschieden wieder an die „Alterität" der mittelalterlichen Literatur erinnert und in dieser „Alterität" geradezu deren „Modernität" gesehen, in dem Sinne nämlich, daß „Alterität" vermeintlich selbstverständliche zeitgenössische Auffassungen von der Kunst, dem Menschen, der Welt herausfordert und zu revidieren zwingt."5 Was Jauß auf die Literatur bezogen hatte, wurde zur Aussage über die mittelalterliche Kultur insgesamt verallgemeinert. Jauß hatte dabei nie eine schlichte Dichotomic oder radikale Opposition von Alterität und Modernität im Sinn. Alterität gilt immer nur relativ.124 Einiges hält sich durch, einiges ist radikal anders. Der kulturelle Zusammenhang entsteht durch das Ineinander und Miteinander ungleichzeitiger Tendenzen und Elemente. Mittelalterliche Kultur selbst ist deshalb nicht als sich durchhaltende Substanz, sondern als eine in dauernder Bewegung begriffene Konstellation zu beschreiben, genauer als unabgestimmtes Zusammenwirken unterschiedlicher Komponenten in unterschiedlichen Konstellationen. Weder gilt es, die Fremdheit der mittelalterlichen Literatur und Kultur ins schlechthin Exotische, zur uneinholbaren Fremde zu überdehnen, 12) sozusagen die Wilden vor der Haustür zu entdecken, noch taugt das Mittelalter als Flucht- und Wunschraum einer entfremdeten Modernität. Es geht weder um den Schauder des Exotischen126 noch die Verlockung des verlorenen Ursprungs, nicht um dramatische Wendungen oder spektakuläre Aktualisierung, sondern um die geduldige Beschreibung des Andersartigen im Vertrauten und des Bekannten im Fremden. Vorschnelle Identifikationen sind ebenso unangebracht wie radikale Distanzierung. Die Schwierigkeit liegt gerade darin, daß vieles in der mittelalterlichen Welt - etwa in der Klerikerkultur — uns immer noch direkt zugänglich scheint, eben weil es zu unserer eigenen Geschichte gehört. Bei solchen Problemen haben die historischen Kulturwissenschaften viel von der Ethnologie zu lernen, die die Phase eines nach Kuriositäten fahndenden Exotismus längst hinter sich gelassen hat. Auch ihre Untersuchungsgegenstände gehören I2) 124 111
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Jauß (1977), insbes. die Einleitung. Das verkennt die Polemik gegen das Alteritätskonzept etwa bei Heinzle (1994), S. 10 und ff. Wie bei Grenzler (1992), der alles, Personenkonstellation, Denk- und Verhaltensmuster aus der Fremdheit feudaler Herrschaftsstruktur ableiten will. Geertz (1987), S. 21 hat das „berüchtigte Interesse am (für uns) Exotischen" als „Ersatz für die abstumpfende Wahrnehmung des Vertrauten" kritisiert. Das entspricht meinen Vorbehalten. 39
Einleitung
von einigen, immer seltener werdenden Rückzugsgebieten abgesehen - in komplizierte Gemengelagen ungleichzeitiger Kulturformationen. Die Ethnologie hat jene Naivität verabschiedet, die ihre Maßstäbe am Europa des 19. Jahrhunderts gewonnen hatte und sie auf die fremde Welt übertrug, Maßstäbe, wie sie in einigen historischen Kulturwissenschaften immer noch als selbstverständliche Basis wissenschaftlichen Argumentierens gelten. Auch wenn dies nachgerade modisch geworden ist: Den historischen Kulturwissenschaften ist jene „dichte Beschreibung" („thick description") zu empfehlen, die Clifford Geertz theoretisch begründet und zugleich in einer Reihe glänzender Studien praktiziert hat. Geertz hat selbst auf Analogien zwischen seinem Gegenstand wie seiner Vorgehensweise zu denen der Literatur bzw. der Literaturwissenschaft hingewiesen; der Transfer ist also bereits in der Ethnologie angelegt.127 Seine berühmte Beschreibung des Hahnenkampfes auf Bali ist am Paradigma von Literatur orientiert.128 An einigen Prinzipien seines Vorgehens muß sich auch eine historische Untersuchung orientieren. Ich bemühe mich erstens um Rekonstruktion eines kulturellen Rahmens, des Bedingungsgeflechtes, in dem das, was das .Nibelungenlied' erzählt, möglich und plausibel scheint, um die ,normale' Welt, aus der das außerordentliche Geschehen herauswächst. Eine Leitlinie ist in Geertz' Bemerkung formuliert: „Das Verstehen der Kultur eines Volkes führt dazu, seine Normalität zu enthüllen, ohne daß seine Besonderheit dabei zu kurz käme. [...] Es macht sie erreichbar: in den Kontext ihrer eigenen Alltäglichkeiten gestellt, schwindet ihre Unverständlichkeit".129 Um die Normalität des Fremden zu begreifen, darf ich mein spontanes Nicht-verstehen nicht hinweginterpretieren, sondern muß es zum Ausgangspunkt genauerer Nachforschungen machen. Dabei sind zweitens kausale Ableitungen zunächst zurückzustellen.'30 Wenn ich also ein Unternehmen wieder aufnehme, das ich mit einem ersten Versuch zum .Nibelungenlied' 1974 begonnen habe, so verändere ich seine Voraussetzungen: Damals glaubte ich, zwischen einzelnen Konstellationen im ,Nibelungenlied' und zeitgenössischen politischen Konflikten unmittelbare Abhängigkeiten und Ähnlich127
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Geertz (1987), S. 23 u. ö. „Die Untersuchung der Kulturformen findet ihre Parallelen nicht mehr im Sezieren eines Organismus, im Diagnostizieren eines Symptoms, in der Dechiffrierung eines Codes oder im Anordnen eines Systems [...], sondern gleicht eher dem Durchdringen eines literarischen Textes" (S. 253). „Wie jede Kunstform [...] macht der Hahnenkampf gewöhnliche Alltagserfahrung verständlich, indem er sie durch Handlungen und Gegenstände darstellt, deren praktische Konsequenzen aufgehoben und auf das Niveau des reinen Scheins reduziert (oder, wenn man will, erhoben) wurden" (1987, S. 246). Geertz (1987), S. 21. „Als ineinandergreifende Systeme auslegbarer Zeichen [...] ist Kultur keine Instanz, der gesellschaftliche Ereignisse, Verhaltensweisen, Institutionen oder Prozesse kausal zugeordnet werden könnten. Sie ist ein Kontext, ein Rahmen, in dem sie verständlich - nämlich dicht - beschreibbar sind" (Geertz, 1987, S. 21).
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Alteritat: die Herausforderung der Ethnologie
keiten nachweisen zu können.'3' Dieser Versuch steuerte sein Ziel zu direkt an und berücksichtigte zu wenig, daß der widersprüchliche Regelzusammenhang der befremdlichen Epenwelt ein Konglomerat unterschiedlicher kultureller, teils literarischer Traditionen und ungleichzeitiger sozialer Erfahrungen ist, zwischen denen es nicht einsinnige und eindeutige, sondern wechselseitige und diffuse Abhängigkeiten und Einwirkungen gibt. So ist zunächst der Zusammenhang der Epenwelt zu beschreiben und in seine diskursiven Varianten aufzufächern, bevor sich zwischen ihr und anderen Diskursen komplexe Beziehungsgeflechte plausibel machen lassen. Die Untersuchung unterstellt drittens nicht ein geschlossenes, in sich konsistentes und kohärentes gesellschaftliches und kulturelles System und das .Weltbild' einer bestimmten Gruppe, aus dem sich alles Besondere ableiten ließe:'52 Was immer Symbolsysteme ,im Rahmen ihrer eigenen Bedingungen' sein mögen, wo immer sie bestehen, empirisch werden wir ihrer erst habhaft, wenn wir Ereignisse untersuchen, und nicht, indem wir abstrahierte Entitäten zu einheitlichen Mustern zusammenfugen. Das impliziert auch, daß nicht Kohärenz der ausschlaggebende Gültigkeitsbeweis für die Beschreibung einer Kultur sein kann. Kulturelle Systeme müssen ein gewisses Mindestmaß an Kohärenz aufweisen, andernfalls würden wir sie nicht als Systeme bezeichnen; und bei näherer Betrachtung haben sie normalerweise sehr viel mehr davon. Nichts jedoch ist kohärenter als die Wahnvorstellung eines Paranoikers oder die Geschichte eines Schwindlers.'53
Viertens wird nicht behauptet, daß das, was im folgenden beschrieben wird, umstandslos gewöhnliche Regeln hochmittelalterlichen Denkens, Sprechens oder Verhaltens darstelle. Mein Gegenstand ist nicht ,die mittelalterliche Kultur um 1200', sondern eine Symbolwelt, d. h. der Entwurf einer solchen Kultur in einem Text. Der Text simuliert einen kulturellen Zusammenhang und kann deshalb semiotisch als kultureller Zusammenhang gelesen werden. Solch ein literarischer Entwurf entsteht freilich nicht im luftleeren Raum. Er konkurriert mit anderen zeitgenössischen Entwürfen, die uns wieder über Texte zugänglich sind, und er nimmt auf solche Entwürfe Bezug. Er muß daher von Fall zu Fall an anderen Texten - sprachlichen wie außersprachlichen - überprüft werden, die ihrerseits auf soziale Praktiken und deren materielle Bedingungen zu beziehen wären, die diskursiv nicht voll auflösbar sind. Wenn die Untersuchung in der Regel vor der Überschreitung der Ebene des Diskurses haltmacht, dann im Interesse methodischer Konsistenz und im Bewußtsein, nur einen kleinen Ausschnitt der hochmittelalterlichen Kultur ein wenig erhellen zu können, auch wenn ich mir darüber im klaren bin, daß er in Verbindungen mit und Abhängigkeiten von anderen Diskursen steht und daß in ihm Lösun"' Müller (1974), S. 118-124. 1)2 „Es führt nicht viel weiter, einen Begriff von den Mängeln des Psychologismus zu befreien, wenn man ihn sofort darauf mit den Mängeln des Schematismus behaftet" (Geertz, 1987, S. 25). '" Geertz (1987), S. 26.
Einleitung
gen und Aporien formuliert sind, die auf tiefliegende allgemeinere Defizite und Probleme der mittelalterlichen Adelskultur antworten. Auf sie wird wenigstens zu verweisen sein, und so versteht sich das Buch trotz jener Beschränkung als grundsätzlichen Beitrag zur hochmittelalterlichen Kultur. Literatur ist ein Teil dieser Kultur, ein besonderer zwar, doch in dauerndem Austausch mit anderen Teilen. Mit dem Kulturbegriff der neueren Ethnologie ist ein wichtiger Schritt zur Lösung des sogenannten ,Vermittlungsproblems' getan. Nicht die Literaturwissenschaft importiert wieder nur (wie so oft in ihrer Geschichte) anderwärts erarbeitete Fragestellungen und Ergebnisse, sondern umgekehrt werden literaturwissenschaftliche Methodik und Theoriebildung modellhaft auf die Kulturanalyse übertragen.'34 Wenn „Kultur als Text" verstanden wird,1" dann sind literarische Texte nur Teilmengen eines größeren Zeichenbestandes, und zu bestimmen ist das Verhältnis zwischen Konfigurationen verwandter Ordnung (als ,Texte' verstanden), nicht aber müssen heterogene Konstellationen (,Literatur' und ,Gesellschaft') zueinander in Beziehung gesetzt werden. Eine derartige Ausweitung des Textbegriffs ist für die mittelalterliche Laienkultur erst recht zwingend. In ihr ist der geschriebene Text marginal gegenüber anderen Zeichenordnungen und Typen des Zeichengebrauchs. Damit ist seine Verflechtung mit und Abhängigkeit von anderen kulturellen Zeichenordnungen enger noch als in anderen Epochen.'56 Allerdings muß die Rede von .cultural poetics' ihren metaphorischen Charakter präsent halten. Kultur realisiert sich in verschiedenen und als verschieden zu analysierenden Regionalen' Symbolsystemen und ist die übergreifende Ordnung, die sie, eingebettet in soziale Praktiken und Institutionen, aufeinander bezieht. Dabei handelt es sich in ihren unterschiedlichen Sektoren immer noch um ,Texte' sehr verschiedener Art, bestehend aus sehr verschiedenen Zeichenelementen. Man darf deren Eigenart nicht überspringen. Wer eine Kultur wie einen Text liest, muß sich der Differenz verschiedener Typen von Text, also auch jenes Typus, den man als ,Literatur' zusammenfaßt, bewußt bleiben. Gemeinsam ist all jenen ,Texten' ihr ,Gemacht-sein'. Kultur als Inbegriff der zu einer Zeit üblichen Zeichensysteme und ihrer Verwendungen, der Einstellungen, Rituale, Praktiken, sozialen Ordnungen I>4
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Der „Ethnologisierung der Literaturwissenschaften" antwortet die Diskursanalyse innerhalb der Sozialwissenschaften, dem „anthropological turn" hier der „literary turn" dort (Bachmann-Medick, 1992, S. 2f.); vgl. Clifford, 1986, S. 102. Wenn „eine kulturpolitisch inspirierte Poetik im Entstehen" ist, die „auch Literatur als kulturelles Darstellungsmedium" begreift (Bachmann-Medick, 1992, S. 17), dann kann der besondere literarische Text auf seine Teilhabe an übergreifenden symbolischen Ordnungen befragt werden. „.Writing Culture' bedeutet schließlich, daß Literaturwissenschaft und Ethnologie die .Ecksteine' des neuen interdisziplinären Feldes werden" (S. 18). Wie der literarische Text .ethnologisch' zu lesen ist, so das ethnologische Material .literarisch', d.h. als Zeichenfolge, die Träger eines in der berichteten Faktizität nicht aufgehenden .Sinns' ist (Clifford, 1986, S. 98f.); vgl. zu .Kultur als Text' und .cultural poetics' vor allem die verschiedenen Ansätze des New Historicsm (Überblick bei Baßler, 1995; vgl. Thomas, 1991). Bachmann-Medick (1992), S. nf.; 19. 42
Alterität: die Herausforderung der Ethnologie
usw. ist ein Konstrukt, deren ,Herstellungsregeln' wie die eines poetischen Textes expliziert werden können. Wenn, wie die Rede von ,cultural poetics' suggeriert, Kulturen wie Texte zu lesen sind, dann lassen sich umgekehrt auch Texte als Segmente von Kulturen, nämlich als Modelle möglicher Welten lesen, die in einem beschreibbaren Verhältnis zu anderen Modellen von Welt - alltagspraktischen, geglaubten, normativen usw. stehen. Der Unterschied zwischen beliebigen kulturellen Phänomenen und dem besonderen Wahrheits- und Geltungsstatus literarischer Texte ist also nicht aufgehoben, jedoch verfließt die konventionelle Unterscheidung zwischen .objektiver Realität' und ,bloßer Fiktion'. Auch jene ,Realität' ist Ergebnis einer Konstruktion und nur als Ensemble von Zeichenordnungen faßbar. Die Regeln des Zeichengebrauchs und die Teilnehmer am Austausch der Zeichen sind nicht auf allen Ebenen des kulturellen Diskurses dieselben, doch stehen unterschiedliche Zeichensysteme in Wechselbeziehungen miteinander. Eine semiotische Analyse von Literatur wird wegen der Besonderheit von Literatur - nur Teilbereiche der mittelalterlichen Kultur erfassen, aber ihre Ergebnisse werden mit denen semiotischer Analyse anderwärts kompatibel sein müssen. Dies unterscheidet das Vorgehen von der älteren Mentalitätsgeschichte: Sie suchte den gesamten Quellenbestand einer Epoche auf Indizien für die dominanten und tatsächlich wirksamen Dispositionen, Einstellungen und Habitus - „l'imaginaire" einer Epoche'57 - auszuwerten; sofern sie literarische Texte einbezog, waren sie ein Quellentypus unter anderen; ihr besonderer Status gegenüber anderen Texten wurde eingeebnet, ihren Aussagen kam allenfalls ein etwas geringerer Grad an Zuverlässigkeit bei der Rekonstruktion des epochenspezifischen .Imaginären' zu.1'8 Dabei droht der Zirkelschluß, daß, was als historische Mentalität u. a. aus literarischen Texten ermittelt wird, dann wieder Interpretament dieser Texte sein soll. Statt »historische Mentalität' als einen Durchschnittswert zu verstehen, gewonnen aus möglichst vielen und möglichst verschiedenartigen .Quellen', sollte sie als Plurale tantum aufgefaßt werden, als Ineinander und Gegeneinander unterschiedlich integrierter Komplexe von Habitus, Verhaltensmustern, Werten und Normen, Weltund Gesellschaftsbildern, ausdifferenziert in unterschiedlichen Gruppen und Typen von Texten und Zeichenordnungen. Literatur ist als eigen-artiger Teil von .cultural poetics' zu verstehen,'39 und das gilt auch für .Literatur' innerhalb einer von ,Vokalität' geprägten Kultur. Sie hat es mit zugespitzten Konstellationen und riskanten Lösungen zu tun, die nicht mit dem, was gewöhnlich der Fall ist, verwechselt werden dürfen, 14° Konstellationen 1)7
Vgl. die im Sammelband von 1985 vereinten Studien le Goffs. Zur Kritik: Müller (19863), S. 6 5 f. '" Bachmann-Medick (1992), S. i8f.; Thomas (1991), S. 180—182 u.ö.; Baßler (1995), S. 17-20; vgl. Greenblatt, ebd. S. J9f.; 48—59; Kaes, ebd., S. 256—260. 140 Adler (1975), S. 21. Literatur radikalisiert damit in jeder Kultur angelegte Möglichkeiten: „Jede 1)8
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Einleitung
und Lösungen freilich, die auf das reagieren, was alle glauben, für wirklich und richtig halten. Es geht um eine eigene Ordnung symbolischen Handelns, die möglicherweise Voraussetzungen und Widersprüche der gewöhnlichen deutlicher zur Erscheinung bringt.'41 Solch ein Ansatz kann an ältere Auseinandersetzungen mit Heldenepik anknüpfen. Es wurde gesagt, daß Heldendichtung das „Exorbitante" thematisiert;'42 damit hat sie durch Überbietung immer schon die gewöhnlichen Ordnungen einer Kultur hinter sich gelassen, bleibt aber an sie als Bedingung der Möglichkeit der Überschreitung gebunden. Das „Exorbitante" ist nur scheinbar eine überzeitliche Kategorie, denn es verändert sich unter konkreten Bedingungen, reizt immer wieder zu neuen Auseinandersetzungen und fordert die Maßstäbe der gewöhnlichen Welt immer anders heraus.'43 Auf diesem Umweg sagen literarische Entwürfe etwas über außerliterarisch geltende kulturelle Selbstverständlichkeiten aus. Deshalb ist eine erzählende Neudeutung einer alten Sage, wie sie das ,Nibelungenlied' darstellt, immer auch ein Stück ,Ethnographie"44 in dem Sinne, daß sie über den kulturellen Rahmen Auskunft gibt, in den eine alte, zu adaptierende Geschichte tritt. Sie kann es gerade dort sein, wo die mimetische Ähnlichkeit des Erzählten mit dem, was gewöhnlich der Fall ist, gestört oder jedenfalls verwischt ist, wo das Überlieferte gewöhnliche Erwartungen herausfordert und frustriert. Eine solche Geschichte ist die von der Ermordung Sivrits und vom Untergang der Burgonden. Die Untersuchung hat an Segmenten anzusetzen, sie muß ,topisch' vorgehen, d. h. bestimmte Problemfelder unter verschiedenen Aspekten thematisieren, ohne daß sie immer angeben kann, wie diese Felder sich zu einem übergreifenden System fügen. Für den Literaturwissenschaftler bedeutet dies, daß er von den besonderen Aussagen des Textes auszugehen hat und auf unterschiedlichen Ebenen der Darstellung ansetzen muß. Die Regeln, die zu untersuchen sind, haben immer nur eine begrenzte Reichweite, und sie werden von konkurrierenden Regeln durchkreuzt.
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Ausdrucksform wirkt (wenn sie wirkt) dadurch, daß sie semantische Zusammenhänge in Unordnung bringt, indem sie Eigenschaften, die man üblicherweise gewissen Dingen zuschreibt, in unüblicher Weise anderen zuordnet, als deren Eigenschaften sie dann auch angesehen werden" (Geertz, 1987, 8.251). Insofern haben literarische Konfigurationen eine gewisse Verwandtschaft mit krisenhaften Situationen einer Gesellschaft. Geertz (1987) vertritt S. 40 die „Auffassung, daß soziale Konflikte nicht etwa dann eintreten, wenn kulturelle Formen zu funktionieren aufhören, weil sie schwach, unbestimmt, überholt oder unbrauchbar geworden wären, sondern dann, wenn [...] diese Formen durch ungewöhnliche Situationen oder ungewöhnliche Intentionen dazu gebracht werden, auf ungewöhnliche Weise zu funktionieren". von See (1978/1981), S. 184-188 und (1993), S. 22. von See (1993), S. 24f., 27; vgl. die Überlegungen Webers (1990) zur archaischen Ethik. So Gerhard Neumann über den literarischen Text auf einem kulturwissenschaftlichen Kolloquium Oktober 1996 in Ascona.
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So ist nicht eine sog. .immanente' Interpretation des .Nibelungenliedes' das Ziel, sondern die Rekonstruktion von (fiktiven) Bedingungen, nach denen das Geschehen abläuft, Bedingungen, die über den Text hinausreichen. Damit die Argumentation nicht zirkulär wird (aus dem Text wird extrapoliert, was dann zur Erklärung eben desselben Textes dienen soll), muß zur Kontrolle immer wieder auf andere zeitgenössische Texte zurückgegriffen werden. Was dabei rekonstruiert wird, ist eine textvermittelte, insofern ,virtuelle' Welt, deren Regeln wir hypothetisch unterstellen müssen, um die Abläufe, von denen erzählt wird, nachvollziehen zu können. Um die historische Potenz solch einer virtuellen Welt abschätzen zu können, wären weitere Kontexte einzubeziehen. Solche Kontexte können freilich nicht irgendwo abgerufen werden, wie das die ältere Sozialgeschichte der Literatur glaubte, sondern sind selbst Produkte von Rekonstruktionen; überwiegend sind sie ebenfalls durch Texte vermittelt. Ein Standardargument gegen solche Kontextualisierungsversuche lautet, daß Unvergleichbares zusammengebracht wird. In der Tat muß in jedem Fall der besondere Vertextungstypus in Betracht gezogen werden. Um die Voraussetzungen vergleichbar zu halten, wird die Arbeit vorwiegend in verwandte Kontexte ausgreifen, und das heißt, auf zeitgenössische Texte, literarische und außerliterarische. Auf anderen Feldern müßten sich weitere Untersuchungen anschließen, auch um zu überprüfen, inwieweit die vorgelegten Ergebnisse wirklich Elemente einer mittelalterlichen Anthropologie sind. Ich hoffe zeigen zu können, daß ein derartiger Versuch kein Spiel mehr oder minder geistvoller Beliebigkeiten ist, im Gegensatz zur harten Wissenschaft der Philologie (über deren Abhängigkeit von nicht problematisierten Vorannahmen auch einiges zu sagen wäre). Man kann zwar zu jedem Text Beliebiges sagen, jedoch nicht innerhalb des Sprachspiels Wissenschaft. Hier sind die Grundlagen der Argumentation offenzulegen und bestimmte Begründungsverpflichtungen einzuhalten.'4' Die Schwierigkeiten sind dabei unübersehbar: Angesichts eines erst noch zu entwickelnden begrifflichen Instrumentariums muß die Untersuchung ihre Unvollständigkeit, Ergänzungs- und Korrekturbedürftigkeit einbekennen.
Geertz (1987), S. 35 geht so weit zu behaupten: „Es gibt keinen Grund, warum die begriffliche Struktur einer kulturellen Interpretation nicht ebenso formulierbar und damit ebenso expliziten Bewertungskriterien unterliegen sollte wie z. B. die einer biologischen Beobachtung oder eines physikalischen Experiments", „keinen Grund außer vielleicht dem, daß uns die Begriffe, in denen derartige Formulierungen vorgenommen werden können, völlig oder doch fast völlig fehlen". 45
Einleitung
,Spielregeln für den Untergang' Mein Versuch soll die Herausforderung durch die Interpretationspraxis der Ethnologie in dreifacher Weise aufnehmen. Er will erstens die Spielregeln rekonstruieren, auf Grund derer das Erzählte plausibel ist: Spielregeln einer vergangenen Welt, die der Text thematisiert (implizit voraussetzt, explizit aufnimmt, kritisiert, verkehrt, als Spielmaterial benutzt); dabei ist zu zeigen, daß der Text nicht einem einzigen in sich stimmigen Regelsystem gehorcht, sondern Schnittpunkt konfligierender Regeln ist, die ihrer Herkunft und Geltung nach ,ungleichzeitig* sind. Solches Regelwerk ist nicht unmittelbar auf ein ,realhistorischesc Substrat zurückzuführen oder in realhistorische .Schichten' zu zerlegen. Das ,Nibelungenlied' ist nicht .Quelle' für etwas anderes (also etwa für eine soziokulturelle Konstellation um 1200), sondern muß selbst als ,kultureller Text"46 verstanden werden, der eine imaginierte Welt in bestimmter Weise konfiguriert und mit anderen gleichartigen Entwürfen konkurriert. Zweitens soll die Verbindung solcher ,Regeln' mit Spielregeln des Erzählens dargestellt werden, Regeln nach denen diese Welt thematisiert und narrativ entfaltet wird. Hier berührt sich das Vorhaben mit demjenigen Lugowskis und dessen Weiterentwicklung in neuerer Erzähltheorie. Lugowski hat die ,Unwahrscheinlichkeit' frühneuzeitlicher Erzählungen nicht als .Fehler', sondern als .regelhaft' konstituiert nachgewiesen, als .Analogen' zum Mythos oder auch .Formaler Mythos'.'47 Seine Argumentation war dabei latent geschichtsphilosophisch begründet, das Ziel die entwickelte Form der ,Individualität'. Er hat damit indirekt jedoch die historisch begrenzte Reichweite der an diese Individualität geknüpften Vorstellungen von Besonderheit, Ganzheit und zureichender Motivation und der damit verbundenen Modelle des Erzählens nachgewiesen, wobei sich herausstellte, daß auch jene Kunstform des neueren Romans, die Lugowski insgeheim Maßstab war, ihrerseits nur ein besonderes historisches Phänomen und eine besondere mythenanaloge Konstruktion ist,'48 die durch die Avantgarde des 20. Jahrhunderts verabschiedet wurde. Die Spielregeln des Erzählens sind nicht identisch mit den Spielregeln, nach denen die nibelungische Welt funktioniert, hängen aber mit ihnen zusammen, und im Versuch, Hinweise auf diesen Zusammenhang zu geben, wäre Lugowskis Pro146
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Ich übernehme nicht die prägnante Bedeutung, die A. Assmann (1995) dem Begriff gab, indem sie die kollektive Verbindlichkeit des kulturellen Textes, seine Identität stiftende Leistung und seine zeitenthobene Aktualität der Offenheit und Geschichtlichkeit des literarischen Textes' konfrontierte (S. 241—243). Vielmehr scheinen mir die beiden Typen unterscheidbar nach der Perspektive, in der sie thematisiert werden (vgl. S. 234^): Jeder .literarische' Text kann als ,kultureller' — als Konfiguration einer (möglichen) Welt — gelesen werden und jeder ,kulturelle' als .literarischer' rezipiert (d.h. unter Absehung von seinem ursprünglichen Geltungsanspruch). Lugowski (1932/1976), bes. die Einleitung von Schlaffer; vgl. den Titel von Martinez (1996). Vgl. Martinez (1996), S. 2of. sowie Schlaffer in: Martinez (1996), S. 27-36. 46
, Spielregeln für den Untergang'
jekt weiterzuentwickeln, indem ,Künstlichkeit' als .andersartige', fremdgewordene Konfiguration von Welt149 und die ,formale Analyse' als je historische zu thematisieren wäre. Drittens möchte ich das Epos - oder seine verschiedenen Redaktionen - als Ergebnis eines Aneignungs- und Deutungsprozesses darstellen, wie sie, ausgehend von zeitgenössischen Problemstellungen, um 1200 erfolgt. Hier liegen die Anschlußstellen zu außerliterarischen kulturellen und sozialen Konstellationen; sie werden um der Geschlossenheit der Argumentation willen meist nur knapp bezeichnet werden. Die Aneignung kommt mit der ersten Verschriftlichung nicht zum Stillstand; sie setzt sich letztlich bis in die Interpretationsbemühungen der Gegenwart fort. Es gibt keine ein für alle Male stimmige Lösungen, sondern Problemfelder, die von unterschiedlichen Positionen aus immer neu zur Bearbeitung herausfordern. 1 ' 0 Rahmen eines solchen Versuchs ist eine Kulturanthropologie, die nicht mit der überzeitlichen Konstanz einer allgemeinen Menschennatur rechnet, wie dies die ältere Anthropologie tat,1'1 sondern mit unterschiedlichen Prägungen durch historische Kulturmuster und deren Diskursivierungen, und die sich deshalb den kolonialen Gestus der Vereinnahmung des Fremden versagt. Ein solcher Ansatz setzt eher auf Differenzen und Brüche als auf Identitäten (was diese nicht ausschließt, aber zunächst in den Hintergrund rückt). Er arbeitet sich an dem ab, was der Text dem planen Verständnis entzieht oder was immer neuen Deutungen sich zur Bewältigung anbietet. Insofern verfährt er mindestens implizit stets kulturvergleichend. Möglichst zu suspendieren sind die meist unausgesprochenen, häufig sogar unbewußten Selbstverständlichkeiten, die das Alltagsverständnis eines europäischen Wissenschaftlers am Ende des 20. Jahrhunderts bestimmen. Sie dürfen so wenig zum Richtmaß der Geschichte gemacht werden wie sie als Maßstab im horizontalen Kulturvergleich, etwa zwischen der sog. Ersten und der Dritten Welt, taugen. Begründungspflichtig ist im Gegenteil die entgegengesetzte Annahme, daß das Alltagsverständnis von Menschen des 20. Jahrhunderts, angereichert um einige historische Faktenkenntnisse, ausreicht, eine durch wenigstens 700 Jahre und eine Reihe historischer Schwellen und Modernisierungsschübe entfernte Zeit zu erfassen. Die Heuristik geben die überlieferten Texte vor: Wo sie sich zu sperren scheinen, ist nicht der Fluchtweg in eine weniger widerborstige, nach den Regeln modernen Weltverständnisses entworfene, als solche aber rein spekulative Sagengeschichte 149
Zum Zusammenhang mit der Alteritätsdebatte: Martinez (1996), S. 14—17. "° Vgl. auch Haug (1981), S. 4of. 1)1 Anschauungsmaterial bei Wolf (1981) S. 60—64, wo Interpretationsziel „das Eigentliche" (S. 62) ist: „das Menschlich-Sentimentale" (S. 61), „Humanisierung" (S. 64), „innermenschliche Bindungen" (S. 63), zentriert um „Gattenminne", „Freundschaft" (S. 63f.) usw. Nachdem die Problemkonstellationen derart verdünnt sind, scheint dann das .Nibelungenlied' „modern" (S. 65). 47
Einleitung
einzuschlagen, sondern die mühsame Entzifferung einer Spur zu versuchen, deren Zeichencharakter opak geworden ist. ,Spielregeln' meinen kein für alle Male festgelegtes Inventar, sondern einen Rahmen der Ermöglichung, der Bestimmtes zuläßt und Bestimmtes ausschließt, eben Regeln für ein Geschehen, das ein weites, gleichwohl begrenztes Repertoire von Optionen offenläßt. Insgesamt schließen sie sich zu einem (fiktiven) anthropologischen Kontext zusammen. Er bildet kein geschlossenes Ganzes. In das um 1200 entstandene Buchepos gehen ,Spielregeln' ein, die sich offensichtlich zu unterschiedlichen Zeiten ausgebildet haben und zu unterschiedlichen Zeiten vorherrschen, solche aus der Zeit der (vermutlichen) schriftlichen Fixierung des Textes, solche aus der Zeit, deren Stoff er behandelt und solche aus Epochen, die zwischen beiden liegen. Derartige Ungleichzeitigkeiten dürfen nicht einem imaginären System zuliebe geopfert werden. Sie treten auf der Textoberfläche als Brüche, Überdeterminationen, Motivdoppelungen, Untermotivationen usw. auf, die nicht als ,Fehler' zu eliminieren, sondern als Konsequenzen synchroner Verarbeitung diachroner Verwerfungen einsichtig zu machen sind. Andererseits konkurrieren jene Regeln (die ich abgekürzt ,soziale' und literarische' nennen möchte) um 1200 mit denjenigen anderer ,Texte' (im Sinne literarischer Werke wie kultureller Zeichensysteme). In dem, was als geltend unterstellt ist, muß mitgelesen werden, was implizit oder explizit ausgeschlossen oder als ungültig gelöscht wird. Der Text liefert da deutliche Signale, am deutlichsten dort, wo der Vorgang des Löschens selbst das Thema ist, in Szenen also, die eine zuvor erzählte widerrufen oder unausgesprochen gegen eine implizite Alternative anerzählen. So greift die Untersuchung eine Reihe von Fragen auf, die die ältere Forschung zum .Nibelungenlied' beschäftigten, stellt sie aber in einen anderen Rahmen. Es genügt nicht, die gängigen Reden vom Übergangscharakter des verschriftlichten Epos zu rekapitulieren und nach ,alt' und ,neu' zu sortieren. Daß das ,Nibelungenlied' ,Ungleichzeitiges' thematisiert, gehört zu den selbstverständlichen Grundannahmen seit der Zeit seiner Wiederentdeckung. So hat Friedrich Neumann „Schichten der Ethik" herausgearbeitet.1'2 Otfried Ehrismann hat auf „archaische" Züge in wohlabgegrenzten Bereichen der Sagenwelt verwiesen.'53 Auch mein älterer Versuch (1974) suchte herauszuarbeiten, daß bei Sivrits erstem Erscheinen in Worms zwei ,ungleichzeitige' Entwürfe von Herrschaft und Königtum aufeinanderprallen, die bis zum Königinnenstreit den Fortgang der Handlung bestimmen.'54 Stephen Jaeger schließlich rechnet mit einem Gegensatz stärker traditionsverhafteter Gruppen (im Klerus?) zur ,modernen' höfischen Kultur,'" und Walter Haug hat die 152
Neumann (1924/1967), S. 9—34. '" Ehrismann (1981), S. 1641". 1)4 Müller (1974), S. 95 f. '" Jaeger (1983); vgl. ders. (1985), S. 176-194. 48
, Spielregeln für den Untergang
Auseinandersetzung eines ,modernen', ,höfischen' Erzählers mit einer ,archaischen' Heroik als Schlüssel der Interpretation benutzt.1'6 Die damit aufgeworfenen Fragen sind im einzelnen noch zu diskutieren. Man muß sich aber darüber im klaren sein, daß es sich bei den skizzierten Oppositionen nicht um Aussagen über eine ,reale' Welt handeln kann, sondern um wissenschaftliche Konstruktionen zu Analysezwecken, die es erlauben, Differenzen wahrzunehmen. Das wird nicht immer deutlich. Neumanns Schichtenmetapher spiegelte im Kern noch das sagengeschichtliche Interesse der älteren Forschung: Schicht auf Schicht ist abzutragen, um zum .Urgestein' der Sage vorzudringen, von der Zeit um 1200 in die Völkerwanderungszeit. Gewiß werden die jüngeren ,Schichten' nicht einfach als Verfälschungen begriffen, sondern durchaus als Zeugnisse zeitgenössischer Aneignung, doch liegen sie dem .eigentlichen' Konflikt ferner, können dessen ,Kern' verdecken oder entstellen. Ehrismanns vorsichtiger gewählter Begriff des Archaischen1'7 impliziert umgekehrt eine Perspektive des Fortschritts und Aussagen über das Verhältnis realer Epochen zueinander.1'8 .Archaisch' ist Kennwort einer historisch nicht näher bestimmbaren Vorzeit, deren einziges Merkmal ist, daß alles nicht so ist wie später.1'9 Historisch konkret gefaßt, verschwimmen die Differenzen zwischen Völkerwanderungszeit und frühem Mittelalter in der Opposition zu einer als gegenwärtig' gefaßten höfisch-feudalen Kultur. Sinnvoller scheint mir daher der Begriff eines ,heroic age', das nicht konkret datierbar ist, sondern eine relationale Größe, die immer von einer anders gearteten, nachfolgenden Zeit her entworfen wird.100 Identifizierbar wird es immer erst von einer späteren Position aus, die sich von ihm abgrenzt (was nicht ausschließt, daß sie genealogisch mit ihm verbunden bleibt). In diesem Sinne lassen sich bestimmte Konstellationen als .heroische', nämlich für jene imaginäre Welt typische, von andersartigen, im selben Text thematisierten unterscheiden; dagegen mißlingt jeder Versuch, ,das Heroische' substantiell zu bestimmen. Ähnlich relational lassen sich Jaegers Beobachtungen zur Kritik von „courtliness" im .Nibelungenlied' interpretieren, die unter dem Druck heroischen Handelns zusammenbreche.16' Dagegen wirft seine historische Verankerung dieser Opposition
156
Hang (1974). Ehrismann (1981) kontaminiert die Opposition .archaisch - modern' in Anlehnung an Norbert Elias mit der Opposition .unkontrolliert - kontrolliert' und ,vor-/außerzivilisatorisch' und .kulturell'; vgl. (1987), S. 116; 180. Derart voraussetzungsreich gefaßt, präjudiziert der Begriff in gewissem Maße schon die unter seinen Prämissen erwartbaren Ergebnisse. 158 Symptomatisch ein Satz Ehrismanns (1981): „Siegfried ist der personifizierte Schwebezustand zwischen Gegenwart und Vorzeit" (S. 113); vgl. auch die Charakterisierung S. 167. '" Kritisch von See (1993), S. 5f.; zum Problem der angeblichen sprachlichen Archaismen Splett (1987), der zwar einige um 1200 veraltende Wörter konstatiert (S. 117), doch die These vom archaisierenden Sprachgestus insgesamt zurückweist. 160 Vgl. von See (1978/1981), S. 176-183, bes. S. 182. 161 Jaeger (1983); ders. (1985), S. i 9 if. 157
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Probleme auf. Jaeger behauptet, das ,Nibelungenlied' artikuliere einen geistlichen Protest gegen den verweltlichten und verweichlichten höfischen Verhaltenscodex; dieser Protest müßte sich dann freilich genauer an dem heroisch-feudalen Gegenbild orientieren, das die Kirche doch seit dem frühen Mittelalter gerade bekämpft hat.161 Auch der von mir 1974 herausgearbeitete Konflikt unterschiedlicher Herrschaftsauffassungen, Handlungs- und Interaktionsmuster muß relational verstanden werden. Er läßt sich, anders als ich damals glaubte, nicht unmittelbar und Punkt für Punkt auf einen sozialgeschichtlichen Konflikt abbilden (z. B. alter Adel vs. Ministerialität). Doch spricht das nicht gegen die Polarisierung von - übrigens bis ins Spätmittelalter gleichzeitig verfügbaren - Alternativen des Handelns und Verhaltens. Ebenfalls keine historische, sondern eine literarhistorische Datierung unternimmt Haug, wenn er die Zersetzung eines .heroischen', ,altertümlichen' Erzählmusters durch ein .höfisches', typologisch ,jüngeres' beschreibt, das dann aber letztlich doch von jenem ,älteren' eingeholt werde. Haug greift damit eine polare Spannung auf, die in der Tat für das Epos von Beginn an konstitutiv ist, wobei sich das Schwergewicht vom einen auf den anderen Pol verlagert.IÖ} Bei deren Beschreibung handelt es sich wieder um Idealisierungen mit heuristischem Wert, mit deren Hilfe Differenzen und Bewegungen erfaßt werden können. Statt über ein ,Noch nicht' und ,Schon nicht mehr' zu spekulieren, kommt es darauf an, im Text angelegte Alternativen aufzuzeigen. Wenn im folgenden von ,ungleichzeitigen' Regeln der Weltauffassung und ,ungleichzeitigen' Weisen des Erzählens die Rede ist, dann ist das also nicht im Sinne eines chronologischen Vorher oder Nachher gemeint, sondern benennt das gleichzeitige Auftreten antagonistischer Konzepte bis hin zum scheinbaren Widerspruch. Indem den Brüchen stärkere Aufmerksamkeit gilt, weicht der gegenwärtige von meinen früheren Versuchen ab. Als ich vor einigen Jahren erstmals daranging, der ,Logik' der alten mann auf die Spur zu kommen, indem ich sie gegen den gesunden Menschenverstand ihrer Interpreten in Schutz nahm, ging es mir vorwiegend darum, das, was Produkt divergierender Sage zu sein schien, als stimmig unter den Bedingungen der mittelalterlichen Gesellschaft nachzuweisen. Noch der Titel dieses Buchs, ,Spielregeln für den Untergang', weist in diese Richtung, diejenige einer und nur einer Alternativen' Logik der feudalen Kriegergesellschaft. Solch ein Versuch muß indes an den immanenten Spannungen der Erzählwelt scheitern. Sucht man sich dem Problem weniger global zu nähern, statt über eine ,Gesamtkonzeption' von den Rändern her, von den vielen kleinen befremdlichen Annahmen und Suggestio162 165
Zur Auseinandersetzung im einzelnen S. 436-439. Haug (1974) und (auf die Rezeptionsbedingungen bezogen) (1994); vgl. die Auseinandersetzung S. }89ff. 5°
Zum Vorgehen
nen des Textes, dann verliert sich die eine ,Logik' in eine Vielzahl konkurrierender Logiken, deren Überlagerung als Ergebnis eines Nach- und Umschreibens zu verstehen ist, das unterschiedliche Möglichkeiten des An- und Ausschlusses erlaubt. Eine Spannungen nicht aufhebende, Brüche nicht verkleisternde und Widersprüche nicht stimmig zurechtbiegende Lektüre ist einem Epos angemessen, dessen Autor(en) sich an eine jahrhundertelange vielstimmige Tradition gebunden fühlen. Zwischen dem Versuch einheitsstiftender Sinngebung und den vielen Stimmen, die durch die Tradition sprechen, ist in der heroischen Epik die Kluft größer als im höfischen Roman, wo dem literarischen Autor das Recht offensteht, souverän mit seinem Stoff zu schalten. Allerdings erlaubt eben dieser Umstand, einige Einsichten neuerer Literaturtheorie für die Analyse des ,Nibelungenliedes' fruchtbar zu machen. Hat man doch auch für den Autor in der Moderne herausgearbeitet, daß das, was er scheinbar souverän verfügend dem vorgefundenen Material abzugewinnen beansprucht, von dessen Vorgaben abhängig bleibt - von den Stoffen, Motiven, Verfahren, Gattungsmustern einer institutionalisierten Literatur ebenso wie von den zeitgenössischen Diskursen, in denen er sozialisiert ist, so daß auch durch ihn nicht nur die eine Stimme, die Stimme, deren Namen er trägt, spricht. Beim heroischen Epos sind jene anderen Stimmen noch deutlicher vernehmbar. So sehr er ,Herr der Zeichen' in seinem Werk sein mag (und er ist es weniger als der Erzähler des höfischen Romans, doch mehr als die Oral formulaic theory glauben machen will): der Erzähler verbirgt diese Rolle hinter einer Instanz, in der sich ,alle' repräsentiert finden können. Das erlaubt eher ,Regeln' des Erzählens zu beschreiben, als dort wo man mit einem ganz individuellen, vielleicht gar ideosynkratischen oder augenblicksgebundenen Stilwillen zu rechnen hätte.
Zum Vorgehen Wenn unterschiedliche, möglicherweise einander widersprechende Aspekte der nibelungischen Welt zur Sprache kommen sollen, wenn nicht von vorneherein angenommen wird, daß Handlungskonstellationen, Figurendarstellung, Gesellschaftsentwurf, Normen, Bewertungen alle sich einem geschlossenen Gebilde integrieren, dem dann eine ebenso geschlossene Interpretation entspräche, wenn es um die Öffnung von Spielräumen statt um eindeutige Festlegung geht, um die Spannung zwischen Alternativen statt um ihre Entscheidung, dann kann die Untersuchung nicht dem Ablauf der Handlung folgen. Darin unterscheidet sie sich von den meisten ihrer Vorgängerinnen. Für den Leser hat das den Nachteil, daß er diesen Ablauf im ganzen schon kennen muß, wenn er die einzelnen Argumente situieren will. Aus den erwähnten Gründen wird jedoch auf eine Nacherzählung verzichtet. Stattdessen sollen - quer zum Progreß der Handlung - Konstellationen des Erzählens selbst, Situations- und Interaktionsmuster, Entwürfe personaler Identi51
Einleitung
tat, konkurrierende Normensysteme, Vorstellungen von Raum und Zeit untersucht werden. Der epische Progreß soll aus unterschiedlichen Perspektiven, die nicht notwendig einen gemeinsamen Konvergenzpunkt haben, erfaßt werden. Manche Szenen werden deshalb notwendigerweise unter mehreren Gesichtspunkten zu betrachten sein. Ein solches Vorgehen kann nie zum Abschluß kommen, aber es kann sukzessive den offenen Bedeutungshorizont des Textes auszuschreiten versuchen, wo man bisher bemüht war, den einen und nur einen Sinn dem Epos einzuschreiben. Ein Stellenregister wird dem Leser die Auffindung von Kommentaren zu bestimmten Stellen erleichtern. Bleibt abschließend die Frage nach dem zugrundegelegten Text. Die Sicherheit, mit der man vor Brackerts (1963) Untersuchungen sich auf die weithin an Hs. B. angelehnte Ausgabe von de Boor stützen konnte, gibt es nicht mehr. Selbst wenn man - gegen Brackert'64 - doch angesichts der relativen Stabilität des Textes einen konsistenten Entwurf hinter den vielen handschriftlichen Versionen sieht,'6' ist dieser unerreichbar, und man muß die vielfältigen Varianten, die die Handschriften überliefern und die durchaus als „Sondergut" aus ,alter' Tradition stammen könnten, gleichfalls in Betracht ziehen, gerade weil sie oft so genau den , ' und die 66 „Technik" des Ganzen treffen.' Das vollständig zu tun, ist angesichts des Umfangs dieses Materials ausgeschlossen. Selbst ,regional' operierende Textanalysen müssen da resignieren. Der Versuch, einen neuen Blick auf das ,Nibelungenlied' zu eröffnen, soll sich deshalb an das halten, was einigermaßen gesichert vorliegt. Gewiß gibt es kritische Editionen nach den drei Haupthandschriften. Doch reicht es nicht aus, sich an ihnen zu orientieren. Die restliche Überlieferung zeigt nämlich, daß man keineswegs mit einigermaßen geschlossenen Überlieferungen von .Fassungen' zu tun hat, sondern mit vielfältigen Überkreuzungen. Nachdem Bumke dem editionsphilologischen Joker der Kontamination den Todesstoß versetzt hat,'67 müssen solche Überkreuzungen neu interpretiert werden. Man wird außerdem mit verlorenen Überlieferungen rechnen müssen, die in unterschiedlicher Kombination Merkmale verschiedener Handschriften aufwiesen. Wer allein sich auf die drei Haupthandschriften verläßt, 164
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Vgl. Brackerts (1963), S. iyof. Formulierungen; Schröder (1968), S. 38 kritisiert m. E. zurecht die in der Metapher vom „Zusammensintern" des .Nibelungenliedes' aus divergierenden Versionen implizierte Vorstellung von der Entstehung des Textes. Ein Weiterarbeiten' (vgl. Kap. II) ist damit freilich nicht ausgeschlossen. Fromm (1974); vgl. Schröder (1968), S. 41. Brackert (1963), S. 169^; zum „Sondergut" Schröder (1968), S. 33-37. Man wird den positiven Beweis, eine Variante basiere auf Sondergut, schwerlich erbringen können, doch - und das muß man gegenüber Brackerts Kritikern unterstreichen - das Gegenteil ist ebenso unbeweisbar, denn warum sollte eine Handschrift sonst in einem substantiellen Punkt abweichen? Bumke (1996^, S. 11-30; Bumke schließt Kontamination keineswegs völlig aus, macht aber klar, daß es sich dabei um genau zu erklärende Sonderfälle handelt. Wer Kontamination annimmt, hat das zu beweisen und darf sich nicht darauf als bequeme Ausrede berufen. 52
Zum Vorgehen
schließt a limine andere, durch spätere Überlieferung bezeugte Kombinationsmöglichkeiten aus. Andererseits ist deutlich ein einigermaßen fester Kerntext zu erkennen, von dem aus gesehen, einige bedeutendere Varianten (vor allem aus dem Umkreis von *C) klar als sekundär identifizierbar sind.'68 Es empfiehlt sich daher, zweigleisig zu verfahren. Ich halte die editionsphilologischen Bemühungen, die in der Bartsch/de Boor'schen Ausgabe mündeten, keineswegs für obsolet, so sehr man im Einzelfall anderer Meinung sein kann, denn sie bemühen sich, ausgehend von Hs. B einen Text herzustellen, der das ,Nibelungenlied' nicht nur in der Momentaufnahme einer (freilich sehr sorgfältig redigierten)'69 einzelnen Handschrift enthält, sondern die Redaktion einer Handschriftenfamilie. Man muß sich darüber klar sein, daß dieser Text so nirgends überliefert ist, und man muß deshalb die relevanten Abweichungen von B als der Leithandschrift notieren. Aber man hat gleichfalls zur Kenntnis zu nehmen, daß ein Großteil der überlieferten Handschriften mit dem in B dokumentierten Text verwandt ist'70 und ihn mit einer gewissen Toleranzbreite von Varianten'7' bestätigt. Zugrundegelegt wird deshalb im folgenden nicht nur der leichten Verfügbarkeit wegen grundsätzlich die Edition der Vulgatfassung durch de Boor, und zwar in der noch von diesem selbst redigierten Gestalt. Wo er signifikant abweicht, hebe ich davon den Wortlaut der Hs. B nach der Transkription von Batts ab, die im übrigen auch für A und C oder weitere Handschriften (mit Ausnahme von w, n und m) zitiert wird (Sigle, Strophen- und Verszahl). Diese sind überall beigezogen, wo die Argumentation es erfordert.' 72 Die Bearbeitung *C wird - bis auf begründete Ausnahmen - nach der Hs. C zitiert. Nicht durchweg die kritisch bereinigten Ausgaben der einzelnen Handschriften zugrundezulegen, ist gewiß ein unbefriedigender Kompromiß, der sich allerdings aus der skizzierten Sachlage ergibt. Der Stand editionstheoretischer Überlegungen macht es jedoch zwingend erforderlich, die Edition nicht nur an der Leithandschrift B, sondern, soweit zugänglich und soweit für die Argumentation von Bedeutung,
"· vgi. s. 79f.; 85; 91-94169 170
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Bumke (19960), S. 82; Palmer (1997). Insofern kann von einem Mißerfolg der „Not-Fassung" nicht die Rede sein (anders Heinzle, 1997, S. 94). Im Gegenteil sind die Varianten und vermeintlichen Besserungen von C in ihrer Gesamtheit wenig erfolgreich gewesen (durchgängige Übereinstimmung nur mit a!). Die Fortune der jeweiligen Versionen wäre, unabhängig von Braunes Stemma, an Hand der Zusammenstellung bei Batts noch einmal von Grund auf zu überprüfen. Für die ,Klage' hat Bumke (19960), S. 390-455 einen Katalog solcher Varianten zusammengestellt. Das wäre für andere Dichtungen zu ergänzen, damit die Variantenlizenz volkssprachlicher Schriftlichkeit im 13. Jahrhundert näher bestimmt werden kann. Um die folgenden Ausführungen mit denen bisheriger Arbeiten über das .Nibelungenlied' vergleichbar zu halten, zitiere ich nach de Boor mit einfacher Angabe von Strophen- und Verszahl. Die Zählung von B weicht bis zu drei Strophen von der Ausgabe Bartsch/de Boors ab. Bei C wurde ergänzend die kritische Ausgabe von Ursula Hennig verglichen. 53
Einleitung
an konkurrierenden Handschriften zu kontrollieren. Der überwiegende Teil der Überlieferung bewegt sich im relativ homogenen Spektrum einer .nibelungischen' Welt und im relativ homogenen ,nibelungischen' Idiom und stellt Transformationen eines relativ homogenen Buchepos dar (*B-Gruppe), während mit C und der *C-Gruppe eine Bearbeitung greifbar ist, die auf jenen relativ homogenen Bestand früh einwirkte.173 Die Nibelungen-,Klage' wird nach der Ausgabe von Bartsch zitiert, unter Berücksichtigung des Apparats und vor allem der von Bumke (1996^ herausgearbeiteten Fassungen. Anders als Bumke bin ich nicht der Meinung, daß vorerst die Auseinandersetzung mit den überlieferten Texten zu schweigen habe, bis die grundstürzenden Erkenntnisse der neueren Editionsphilologie verarbeitet sind,'74 denn gerade die Nibelungenphilologie bietet viele Beispiele, bei denen die Editoren fehlgriffen oder mindestens den überlieferten Text für korrigierbedürftig hielten, weil sie ihn nicht verstanden. Edition und hermeneutische Auseinandersetzung sind wechselseitig aufeinander angewiesen.
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Die Nibelungenphilologie ist insgesamt bei weitem zu punktuell vorgegangen. Wenn einzelne Lesarten späterer Handschriften mit C übereinstimmten, dann heißt das noch lange nicht, daß sie dieselbe Konzeption realisieren; dies ist im Gegenteil nur äußerst selten (bis Str. 270 in Db, später durchweg nur in a) der Fall. Es wäre, um die Übereinstimmungen solcher Lesarten zu erklären, durchaus denkbar, daß die Bearbeitung *C von einer verlorenen Fassung ihren Ausgang nahm (vgl. Bumke, i996c, S. 258), die - noch ohne die späteren redaktionellen Eingriffe des *C-Bearbeiters - auf die scheinbar mit C verwandte Überlieferung einwirkte. Bumke schreibt, daß es „keine vordringliche Aufgabe" sei, „ein Frageprogramm für die Interpretation epischer Parallelfassungen zu entwickeln, solange die Überlieferungsfragen nicht geklärt sind und solange es keine kritischen Ausgaben gibt, die die Grundlage für eine vergleichende Interpretation von Parallelfassungen bilden könnten" (1996^ S. 88). Offen ist derzeit, wie man sich derartige „kritische Ausgaben" vorzustellen hat. 54
I
UMSCHRIFTEN DER SAGE Kollektiverinnerung? Die Geschichten, die das ,Nibelungenlied' erzählt, reichen in die Völkerwanderungszeit zurück; andere Geschichten aus anderen Zeiten scheinen sich ihnen angelagert zu haben. Bei der Beliebtheit des Stoffes bleibt auffällig, daß sich den vielen Varianten zwischen dem Norden und Kontinentaleuropa kein eindeutiger .Sinnkern' zuschreiben läßt, der den Geschichten von den Nibelungen eine „fundierende" Bedeutung für eine Gegenwart verliehe:1 Die Nibelungensage läßt sich nicht mit der hochmittelalterlichen Ordnung des Reichs in Verbindung bringen, weder genealogisch noch grundsätzlich in Modellen politisch-sozialen Handelns.2 Das unterscheidet die Sage im allgemeinen wie das .Nibelungenlied' im besonderen ebenso von anderen Sagen und ihrer epischen Verarbeitung, der ,Ilias' z. B. und ihrem Entwurf eines ,gesamtgriechischen' Handelns' oder der französischen Heldenepik, den chansons de geste, die an die karolingische Dynastie, den politischen Gegensatz zwischen Krone und Hochadel und den Kampf der Christenheit gegen die Sarazenen erinnern.4 Das unterscheidet sie aber auch von der Dietrichsage (unter Einschluß von ,Ortnit' und ,Wolfdietrich'), deren Stoff ein römisch-germanisches Königtum vor der karolingischen Reichsgründung ist, die also in die Genealogie des Reichs gehört. Die Dietrichepik konnte historisch-dynastisch ausgebeutet werden, die Nibelungensage nicht.' Im ,Buch von Bern' oder im ,Biterolf gibt es sogar handfeste Aktualisierungen und Elemente einer Gründungssage, die das Erzählte als Teil des Die Begriffe nach Assmann (1992), S. 79. Im Norden gehören die Geschichten immerhin in den Zusammenhang eines identitätsstiftenden ,heroic age': von See (1991), S. 5of. Ruh (1979), S. 20 hat auf die „reichsgeschichtliche Unverbundenheit und Unverbindlichkeit" der heldenepischen Überlieferung verwiesen. Assmann (1992), S. 79. Daß das .Nibelungenlied' als .deutsche Ilias' entdeckt wurde, ist auch unter diesem Aspekt ein Mißverständnis, das sich nur aus der Spitzenstellung des Epos in der Gattungshierarchie im 18. Jh. erklärt, die einen nationalen Platzhalter anstelle von ,Ilias' und ,Aeneis' verlangte. Bender (1967), S. 7f.; 176. Maximilian I. läßt an seinem Innsbrucker Grabmal neben König Artus Dietrich von Bern, nicht etwa Siegfried oder Günther auftreten und hat sich in seinen historischen Forschungen nur um Dietrichs Einbindung in die habsburgisch-merowingische Genealogie bemüht (Müller, 1982, S. 196). 55
Umschriften der Sage
kulturellen Gedächtnisses bestimmen. Dagegen trifft man erst im Spätmittelalter auf einen - wahrscheinlich schon literarisch beeinflußten - Wormser SiegfriedKult.6 Im Frühmittelalter scheint die Sage immerhin vorliterarisch Spuren im genealogischen Bewußtsein von Adelsgeschlechtern in Ostbayern hinterlassen zu haben, wie an ,nibelungischer' Namengebung wahrscheinlich gemacht wurde.7 Wenn sie je memoriale Funktionen hatte, dann dort. Zu der Zeit aber, in der das ,Nibelungenlied' entsteht, ist eine vergleichbare, dynastisch interessierte Trägergruppe nicht auszumachen. Der vom Passauer Bischof ins Leben gerufene Passauer Pilgrimskult des späten 12. Jahrhunderts mag die Erinnerung an Pilgrim, den geistlichen Verwandten der Wormser Könige und der ,Klage' zufolge - den Stifter ihrer memoria gefördert haben, aber die Rolle dieses Pilgrim im .Nibelungenlied' ist viel zu marginal, als daß das Gedenken an ihn als entscheidender Anstoß für die Entstehung, geschweige für die Verbreitung des Epos oder gar als Erklärungsgrund für die literarische Stilisierung der Untergangsfabel auch nur annähernd ausreichte. Das schließt nicht aus, daß der Name Pilgrim eine - vielleicht auch politisch erwünschte - ,Ansippung' der Geschichte erlaubte und mit meister Kuonrat eine vertrauenswürdige Autorität für eine erste Redaktion des Stoffes gefunden war.8 Es ist nicht ausgeschlossen, daß der Epiker wie andere Verfasser volkssprachlicher Erzählungen punktuelle Anknüpfung an eine seinen Zeitgenossen bekannte Welt suchte; auch mögen Gruppenkonflikte und soziale Konstellationen um 1200 sich in der Konfiguration einzelner Episoden abbilden,9 aber beides hat die Adaptation der Sage allenfalls in Einzelaspekten beeinflußt. Ein zureichender Grund für die Aufnahme dieses Stoffes und seine Behandlung in dieser Form läßt sich kaum daraus ableiten.10 Selbst als eine nicht eng sippengebundene memoria großer Heldentaten der Vorzeit, wie sie etwa im Norden bezeugt ist, läßt sich das Epos schwerlich verstehen, denn was erzählt wird, feiert keineswegs den mos maiorum, sondern ist finale Auflösung einer Welt, nach deren Ende der Erzähler nichts Erzählenswertes mehr weiß. Am Ende des Epos steht nicht der unerschütterliche Nachruhm - klea andron -, sondern das Weinen, dem nichts mehr folgt.
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Müller (1982), S. 190; 346, Anm. 8; neuerdings Graf (19933), S. jjf. Stornier (1973), S. 491-496, (1974) u. (1987); Meves (1981); Wenskus (1973). Zur Beziehung Pilgrim - Wolfger von Passau, zu den kirchenpolitischen Plänen Wolfgers und zum mutmaßlich Passauer Entstehungskontext: Meves (1981). Ausgeschlossen ist natürlich nicht, daß sich hinter Pilgrims Kuonrat ein Kuonrat zu Zeiten Bischof Wolfgers verbirgt, doch kann sich solch eine Hypothese nicht auf den Wortlaut der ,Klage' stützen; grundsätzlich zum Problem: Graf (1993^. Vgl. die konträren Versuche von Müller (1974) und Jaeger (1985). Auch wo der historische Entstehungszusammenhang mit größerer Sicherheit und genauer rekonstruiert werden kann, ist - bei aller Nützlichkeit solcher Erkenntnisse - der Ertrag für das Verständnis eines komplexeren literarischen Textes begrenzt (vgl. Müller, 19933). 56
Kollektiverinnerung?
Der Schluß ist so apodiktisch, daß er Kompensation erforderte, und so wurde trotz des holprigen Übergangs" in fast der gesamten Überlieferung 12 dem Epos die Nibelungen-,Klage' angehängt,1' die nicht nur eine in einzelnen Details andere Version der Geschichte erzählt, sondern in ihrem ersten Teil das nachholt, was das ,Nibelungenlied' verweigert, eine umständlich auserzählte memoria, und im zweiten dem Geschehen über den lakonischen Abbruch in der Katastrophe hinaus einen Abschluß gibt. Auch die ,Klage' läßt sich freilich nicht von diesem gängigen Muster „literarischer Interessenbildung" her erfassen.'4 Zwar wird von ausufernden Trauerritualen und rühmendem Gedenken der gefallenen Heroen erzählt, doch ist die ,Klage' nicht Medium gemeinschaftlichen Erinnerns, sondern macht das Gedenken zum Gegenstand der Erzählung, verschiebt es vom Gedenken der Rezeptionsgemeinschaft des Epos auf die überlebenden Protagonisten des Geschehens. Es wird erzählt, wie sich rühmende Erinnerung vollzieht und wie sie gesichert wurde. Auch die ,Klage' ist mithin wie das ,Nibelungenlied' vom ,Sitz im Leben* des heroischen Epos, der heroischen memoria, gelöst. Wo in einem Kürzel gefaßt werden soll, worum es im Kern geht, da stößt man auf das sprichworthafte Kriembilden hochgeht.1"1 Gemeint ist ein Fest besonderer Art, ein Fest, das nicht Harmonie stiftet, sondern das schrecklich endet, obwohl die Teilnehmer doch eigentlich vriunde sind, und für das eine Frau, die sprichwörtlich übele Kriemhilt verantwortlich ist. Vor allen Instrumentalisierungen in diesem oder jenem Interesse gibt es offenbar einen Impuls, diese unerhörte Geschichte zu erzählen: wie es dazu kommen konnte und wie sich das Verhängnis trotz allen Abwehrversuchen Bahn brach. Kriemhilden hochgeht ist „exorbitant".'6 Noch die ,Klage' nennt den Nibelungenuntergang die gramste geschiht/diu %er werlde ie geschach (Kl 348of.), obwohl deren Erzähler alles tut, sie auf gewöhnliches Maß zurechtzustutzen. Damit setzt er die Bearbeitungsanstrengung des Epos fort, das " Zur Verknüpfung beider Texte in den Hss. A, B und C: Bumke (19960), S. 239-253. Auch dort, wo beide Texte deutlich voneinander abgesetzt sind, scheint es den Schreibern darum gegangen zu sein, ihre Zusammengehörigkeit darzutun, die sich zu einem „Werk" verbindet (vgl. (vgl. S. 237). Daß sie trotzdem sekundär ist, zeigt sich weniger an einigen Detailunterschieden als an der konzeptionellen Differenz. 12 Mit Ausnahme von n und k (wobei letztere kaum noch als Handschriftgz desselben Textes gelten kann). IJ Zur Priorität von .Nibelungenlied' oder ,Klage' vgl. die Diskussion von Curschmann (1979), S. 116— 119, Wachinger (1981), S. 265^ Schröder (1989), S. 13-21 und Bumke (iggoc), S. 106-112. Schon Lachmann nahm die zeitliche Priorität der ,Klage' an; Voorwinden (1981) überlegt, ob nicht wenigstens die schriftliche Fixierung des .Nibelungenliedes' später als die Abfassung der Buchdichtung .Klage' erfolgte. Ich halte Schröders (auf Leitzmann fußenden) angeblichen Entlehnungen der .Klage' aus Wolframs .Parzival' durchweg nicht für zwingend, glaube aber, daß sein Datierungsvorschlag das Richtige trifft, auch wenn zugestanden werden muß, daß die literaturtypologisch zweifelsfrei jüngere .Klage' nicht tatsächlich auch chronologisch später als das archaisierende Epos entstanden sein muß. 14 Vgl. den Beitrag von Graf im gleichnamigen Band (1993). '' Vgl. Ulrich v. d. Türlin, Willehalm 103,5 un< ^ die Belege bei Grimm (1829), S. 162; 165; 172; 289. 16 Vgl. von See (1978/1981), S. i8 7 f. 57
Umschriften der Sage
seinerseits schon Bearbeitung von Bearbeitungen gewesen ist.17 Ich möchte deshalb von den Aneignungsversuchen der Geschichte, die in überlieferten Redaktionen (also nicht einer hypothetischen vorliterarischen Sage) greifbar sind, ausgehen und sie als unterschiedliche Versuche, den Gegenstand zu bewältigen, interpretieren. Sie sind prinzipiell gleichwertige, wenn auch mehr oder minder schlüssige Entwürfe, deren je besondere ,Gemachtheit' - poiesis im Wortsinn - auf andere Entwürfe reagiert. ,Nibelungenlied' und ,Klage' bezeugen die anhaltende Auseinandersetzung mit einer sperrigen Sage. Sie versuchen, wenn auch zunächst mehr oder weniger unabhängig voneinander, den alten einheimischen Stoff literaturfähig zu machen, d. h. schriftliterarisch aufzuarbeiten. [...] [D]ie ,Klage' ist reflektierende Buchdichtung aus der Perspektive klerikal-lehrhafter, ursprünglich lateinischer Literazität. In dieser Hinsicht bedeutet die .Klage' für das ,Lied' vermutlich sogar ein letztes und entscheidendes Plus: erst über die Verbindung mit der ,Klage£ wird auch das ,Lied' endgültig zum Buch.'8
Epos und ,Klage' repräsentieren zwei sehr unterschiedliche „Schichten literarischer Sprache".'9 Durch die Reimpaarform nähert sich die .Klage' weiter dem Normaltypus buchepischen Erzählens um 1200 an, während die Strophenform des Epos enger an die alte Mündlichkeit anknüpft/ 0 Beide haben Elemente einer breiten, uns nicht mehr erreichbaren heroischen Überlieferung aufgenommen, andere verworfen, sie zu einer mehr oder minder sinnvollen Erzählung geordnet. Der Verzicht des .Nibelungenliedes' auf alles Programmatische, wie es die höfischen Epiker ihren Werken voranstellen oder in Kommentaren zur Erzählhandlung aussprechen, sollte nicht täuschen: In der großdimensionierten Zuordnung von Sivrits Tod und Burgondenuntergang, zusammengehalten durch Anspielungen und Vorausdeutungen, und im variierenden Durchspielen verwandter Konstellationen bemüht sich der Erzähler gleichfalls darum, was er zu erzählen hat, zu verklammern und zu interpretieren. Das .Nibelungenlied' ruft eine ,alte' Welt auf, wie sie der neue höfische Roman verdrängt, doch geschieht das so, daß es sie aus den Konstellationen der neuen hervorgehen läßt. Es setzt ein mit einer idealen höfischen Welt und läßt aus ihr die Verstrickungen erwachsen, die sich in der Katastrophe an Etzels Hof entladen. Das setzt eine entschiedene Auseinandersetzung mit der Sage voraus, deren Spuren nicht immer getilgt sein mögen und deren Vorgaben wir nicht genau abschätzen können. Man hat schon für vorausliegende Adaptationen des Stoffes, wie immer 17
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„The author of the Kl obviously considers the NL to be inadequate and he intends to dispel the uneasiness of the public by completing the narration of the life histories of the survivors of the .Destruction of the Burgundians' in a satisfactory manner" (Gillespie, 1972, S. 155). Curschmann (1989), S. 382. Da es sich um zwei Auseinandersetzungen mit dem Stoff handelt, sind die Wertungen der .Klage' - etwa der Tötung Kriemhilts durch Hagen (Frakes, 1994, S. 178) - nicht umstandslos auf das Epos zu übertragen. Wachinger (1981), S. 95; vgl. Voorwinden (1981), S. 102. Curschmann (1979), S. ; 104; Mertens (1996^, S. 360; 363. 5»
Erzählen ^wischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit
die ausgesehen haben mögen, mit Bemühungen um Verknüpfung und Plausibilisierung der erzählten Begebenheiten zu rechnen, die keineswegs untereinander abgestimmt gewesen sein und sich nicht eindeutigen Tendenzen, geschweige einer ,leitenden Idee' zuordnen lassen müssen. Doch mußte die Arbeit der Erzähler von Epos und ,Klage' erheblich weitergehen. Angesichts einer übermächtigen Tradition ist die Instanz des Autors schwächer ausgebildet als in neuzeitlicher Dichtung, schwächer auch als die des höfischen Erzählers. Aber dafür hat sie höhere Autorität, denn sie kann sich auf etwas berufen, das man von alters her sagt.21 Vor diesem Hintergrund erzählt er seine Geschichte. Wo man sich um die Urgestalt der Sage bemühte, blieb in der Regel außer Betracht, daß die germanische Heldensage von ihrer noch erkennbaren Frühzeit an Bearbeitung ist: der Aggressor Theoderich als Vertriebener, die Geißel Gottes Attila als Wohltäter exilierter Helden und als Mittelpunkt einer vorbildlichen höfischen Welt. Es geht nicht an, diesen Bearbeitungsprozeß irgendwo zu sistieren und ein Stadium der Adaptation zum .ursprünglichen' zu erklären, denn die Sage ist immer schon interpretiert und wird in Auseinandersetzung mit solchen Interpretationen neu konfiguriert.
Erzählen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit In welcher Form hat die Nibelungensage existiert? Um 1200 bedarf die Aufnahme und Bearbeitung mündlicher Überlieferung in einem Buchepos offenbar der Begründung. Wie sie aussehen kann, beantwortet die ,Klage'. So wenig diese Antwort mit der tatsächlichen Entstehung des ,Nibelungenliedes' zu tun haben dürfte, so aufschlußreich ist sie doch für zeitgenössische Vorstellungen vom Übergang von der Mündlichkeit in die Schrift. Dabei ist weniger von Interesse, ob und in welchem Umfang der Erzähler andere Überlieferungen als das »Nibelungenlied' einbezogen hat, sondern welches Bild er sich von dieser Überlieferung macht." Geht man von den Quellenberufungen der ,Klage' aus, dann bietet sich ein verwirrendes Spektrum nur mühsam zu vereinbarender Aussagen,2' die jedoch allesamt auf eine 21
Daß dies für die höfischen Romanciers durchaus ein Problem ist, zeigt der Erzähler Hartmann in Hartmanns ,Iwein', der sich von einer übergeordneten Erzählinstanz, der Minne, korrigieren läßt, wobei erst beide zusammen die Autorität des Autors Hartmanns von Aue begründen, der sie beide erfunden hat. " Im folgenden nehme ich Argumente aus einem Beitrag für die Festschrift Dieter Kartschoke auf (Müller, I990a); ich präzisiere sie in einigen Punkten in Auseinandersetzung mit dem inzwischen erschienenen Buch Bumkes über die .Klage' (1996^. 2i Es ist dabei nicht immer klar, ob sich die Aussagen auf konkurrierende Sage, auf das Epos oder auf den eigenen Text beziehen. Meist wird in der Forschung diskutiert, wie sich die Quellenberufungen zu Beginn mit der Nachricht vom Schreiber Kuonrat vertragen (vgl. Bumke, 1996^ S. in u. 461468: In der ,Klage'-Rezension *C passen sie besser zusammen, doch enthält auch *B keinen manifesten Widerspruch). 59
Umschriften der Sage
Interferenz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit deuten. Der Erzähler der ,Klage' beruft sich auf das, was bekannt ist und seinen Hörern schon gesagt wurde (lu ist wol geseit da^ Kl yi), 24 dann auf der rede meister, der das märe bearbeitete (Kl 44f. o. ä.), schließlich auf ein Buch (Kl i9). 2 ' Buch und Sagenüberlieferung stützen sich gegenseitig: als uns ist gesaget sit/und ist uns von den buocben kunt (Kl C 66f.). Doch ist der Anteil der unterschiedlichen Beglaubigungsinstanzen, zumal aber des die Tradition ,beherrschenden' meister alles andere als klar: Anonyme Tradition, ein im Text präsentes, die Erzählung darbietendes Sprecher-Ich, die Autorität eines tihtare oder meister und die schriftliche Überlieferung, die sein Werk bewahrt, stehen meist unverbunden nebeneinander. Schon der Erzählgestus der ,Klage* weist auf einen Zwischenbereich zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Ohne weitere Überleitung setzt der Text im Anschluß an die letzte Strophe des Epos ein: Hie hevet sich ein märe da^ war vil redebare und wäre auch guot %e sagene, niwan da^ e% %e klagen« den Hüten allen ge^mt. (Kl 1—5)
Worauf diese Verse verweisen, ist unklar. Etwas Neues fängt an (Hie hevet sich}. Da die Verse vorausdeuten, scheint das märe gemeint zu sein, das die ,Klage' selbst erzählt. Aber stimmt dazu die Charakterisierung? Nicht primär der Inhalt der ,Klage' provoziert Klagen, sondern das, was sie als Gegenstand von Klagen voraussetzt, mithin der Gegenstand des eben zu Ende erzählten Epos. Auch die übrigen Signale des Beginns (dit^e alte märe u. ä.) sind an dieser Stelle - im Inneren einer Nibelungen-Handschrift, hinter dem Epos und als Einleitung der schriftliterarischen Reimpaardichtung ,Klage' - zweifach zu beziehen, sowohl auf die tränenreiche Geschichte, die folgt, als auch auf das vorher im Epos ausgebreitete Geschehen, das beweint wird. Am zwanglosesten hebt sich diese Unklarheit, wenn man annimmt, daß es eine selbständige Überlieferung der ,Klage' gab, die retrospektiv auch an die Vorgänge erinnerte, die das Epos erzählt/6 Die Formulierungen des Eingangs weisen auf den Vortrag einer solchen ,Klage'-Dichtung. Die Einleitung dieser selbständigen Dichtung wäre dann in einen Teil der Nibelungen-Überlieferung mit aufgenommen worden/7 14
Vgl. auch die von Bartsch aufgeführten Varianten, zumal im Einleitungsteil: lu ist gesaget dicke das^ und lu ist gesaget da% (Kl S. 7). *' Besonders früh in der *C-Fassung (Bartsch, S. 4): die sol ich iu nennen,/da^ ir si müget erkennen, l als uns da% buoch gesaget hat (Kl C 33-55). 16 Die deiktischen Signale am Anfang und die holprige Überleitung schließen aus, daß die Symbiose von .Nibelungenlied' und .Klage' ursprünglich ist. Die .Klage' muß als selbständiges Werk konzipiert und dann dem Epos als dessen Korrektur und Kommentar angehängt worden sein. 17 Dies würde auch das Fehlen der ersten 70 Verse in einem Teil der Handschriften erklären: Sie sind angesichts des vorausgehenden Textes überflüssig.
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Erzählen ^wischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit
Wer spricht die einleitenden Verse? Die passivische Form entspricht der Erzählweise des Epos: das märe .erzählt sich von selbst'; e% ist von alten stunden/her vil warlich gesaget (Kl nf.), lebt in mündlicher Überlieferung/ 8 Wer diese scheinbar subjektlose Rede aufnimmt, riskiere, so heißt es, daß sie zwar guot %e sagene ist, doch Klagen auslöst. Offenbar ist ein Sprecher anwesend, der dieses ,Sich-von-selbsterzählen' protokolliert und sich zur anonymen Tradition in Beziehung setzt. Vorher schon hat sich dieses Erzähler-Ich mit einer captatio benevolentiae zu Wort gemeldet: hefte ich nu die sinne [...] (Kl 9). Hinter ihm steht eine weitere als Individuum gefaßte Autorität: Dit^e alte märe bat ein ühtare an ein buoch schrtben. des enkunde^ niht beliben, e% enst auch noch da von bekant.
(Kl 17-21)
Die Geschichte wurde von einem einzelnen dictator1** zur Aufzeichnung in einem Buch bestimmt. Dies ist die Voraussetzung weiterer Verbreitung, denn im Buch bleibt die Geschichte nicht verborgen; von ihm leitet sich ,Kunde' (bekant} ab. Darunter ist nicht einfach Verbreitung des im Buch fixierten Textes zu verstehen: hinter dem bekant-Werden oder - in einer vergleichbaren Stelle des ,Herzog Ernst': dem erkennen (HE 4319) - könnte auch eine nicht unbedingt textgebundene Verbreitung des Inhalts stehen, wie sie Curschmann z. B. als eine der Quellen der ,Thidrekssaga' vermutete.50 Dann paßte diese Aussage genau zu dem, was später über das Werk des meister Kuonrät gesagt wird, der umlaufende Erzählungen durchmustert. Der tihtaere und das Buch (auch ihre Texte sind noch einmal zu unterscheiden, denn ,Buch' heißt nicht unbedingt wortwörtliche Wiedergabe eines Diktats) sind keineswegs Autoritäten für die eine, die authentische Version, die der Sprecher nur möglichst genau wiederzugeben hätte, sondern nur zwei - freilich maßgebliche Stimmen. In der *C-Fassung ist die Situation eindeutiger ins Schriftsprachliche verschoben. Anstelle des tihtcere (in der *B-Fassung) heißt es in C: het ein schribare / wilen an ein buoch geschriben/latin, desn ist e% niht beliben (Kl C 18-20). Zwischen tihtare und 28
Vgl. Voorwinden (1981), S. 107 zu den vielfältigen Hinweisen auf eine diffuse mündliche Überlieferung. 29 Bumke (1996^, S. 467 sieht „keinen nennenswerten Unterschied" zwischen scbribare (C) zu den in B erscheinenden tihtare. Doch scheint mir hier mindestens der mechanische Vorgang des Schreibens vom .Diktat' getrennt zu werden (das wiederum Werk des gelehrten, dem bloßen Kopisten übergeordneten scriba sein kann); allerdings ist tihtare nicht eindeutig der dictator im Sinne gelehrter Kanzleitradition. So macht Kl 43i6f. (getihtet man e% sit hat/dicke in tiuscber Bungen) deutlich, daß tihten n i c h t mit dem Konzipieren eines lateinischen Schriftwerks identisch sein muß, sondern das Verfassen eines volkssprachlichen, nicht einmal notwendig schriftlichen Textes meinen kann. '° Curschmann (1984), vgl. S. 143 zur Sagenüberlieferung außerhalb poetisch geformter Texte.
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Umschriften der Sage
Schreiber wird nicht unterschieden, weil Schreibkompetenz und Fähigkeit lateinisch zu tihten zusammengehören; verschriftlichen heißt ganz selbstverständlich lateinisch verschriftlichen. Die lateinische Sprache (oder sollte nur die lateinische Schrift gemeint sein?) verleiht dem Text gelehrte Autorität. Allerdings ist auch diese lateinische Version nicht die endgültige, sondern wieder Durchgangsstation (desn ist e% niht beliben) für weitere Aneignungen (bekant}, möglicherweise in der Volkssprache; ihnen käme dann autoritative Geltung wegen ihrer schriftlich-lateinischen Quelle zu. Was man ,jetzt' erzählt, ist durch mehrere Stationen mündlicher und schriftlicher, in *C auch: volkssprachlicher und lateinischer, Aneignung hindurchgegangen. So kommt in der eindeutiger schriftliterarisch geprägten ,Klage' von Anfang an die Schrift ins Spiel, von der im Epos kaum die Rede ist.5' Das Epos beruft sich ausschließlich auf das, ,was man sagt'.
Wie denkt man sich die Verschriftlichung der Sage? Die anfängliche Dominanz der Mündlichkeit und das Hinzutreten der Schrift werden in der ,Klage' ausdrücklich thematisiert. Deren Epilog erzählt, wie ein Gelehrter, ein schriber, meister Kuonrat (Kl 4315), im Auftrag des Bischofs von Passau die Geschichte schriftlich verfaßte.5* Der Bischof hie% scriben dit^e mcere,/n>ie e^ ergangen wäre,/in latinischen buochstaben (Kl 4297-99)." In der lateinischen Form, so wird das Vorhaben des Bischofs paraphrasiert, wird der Bericht glaubwürdig: da% man^für war solde haben,/siver% dar nah erfunde (Kl 4300f.); der Gelehrte verleiht ihm Autorität.34 Sein Gewährsmann aber ist ein mündlicher Informant, allerdings ein Augenzeuge, jemand, der dabei war, in diesem Fall Etzels Spielmann: wand im seit der videlare diu kantlichen märe, wie e% ergie und gescach, wand er% horte unde sach,^ er unde manec ander man.
(Kl 4309-13)
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Wyss (1990), S. 169?. ^ Um eine Identifizierung Kuonrats bemüht sich Meves (1981), S. 76-83. Dieser Aspekt wird im folgenden ausgespart. 3i Wieder fragt sich, ob dies nur die Schrift oder auch die lateinische Sprache meint; Iet2teres scheint mir wahrscheinlicher. In keinem Fall behauptet die Stelle eine epische Bearbeitung in Latein, also eine ,Nibelungias'. '4 Bumke (1996^, S. 462 weist darauf hin, daß schribare auch den notarius und cancellarius, jedenfalls einen hohen bischöflichen Amtsträger meinen kann. " Noch stärker in Kl C 4417: alle% an sach: adtestatio rei visae. 62
Wie denkt man sich die Verschriftlichung der Sage?
Warum gerade der videlare und nicht irgendein anderer? Dem videlare wird offenbar zugetraut, einen geordneten Bericht des Geschehens zu geben. Daher wählen vorher schon Etzel und Dietrich den videlare zum Boten, der vom Vorgefallenen allenthalben glaubwürdig erzählen soll. Ein videlare ist nicht nur Musiker, sondern auch Dichter, Swämmel nicht nur Augenzeuge, sondern auch Repräsentant der laikalmündlichen Kultur.' 6 Bevor er zum Informanten des gelehrten schribare wird, hat er als Bote in Wien, Bechelaren, Passau und Worms und immer wieder unterwegs zu sagen, was geschehen ist. Wenn sein Auftrag als Bote beendet ist, kehrt er zum Bischof von Passau zurück, der sich mit der bloßen Nachricht, die rasch vergessen werden könnte, nicht zufrieden gibt. Das, was Swämmel berichtet, hat er selbst gesehen. Er ist nicht der einzige Augenzeuge, wenn auch der zum Gewährsmann prädestinierte. So läßt der Bischof noch Kunde von anderen Augenzeugen aus dem Hiunenland einholen: siver iht dervon gesagen kan (Kl 3474; vgl. 3471-3477). Weil es von Anfang an mehrere Zeugen gibt (Kl 4313), muß man sich durch deren Befragung um eine gültige Fassung bemühen. Noch bevor Swämmel auf seiner Botenreise berichten konnte, hatte sich nämlich unkontrolliert das Gerücht vom Vorgefallenen verbreitet. Swämmel, der Bote Etzels, kann es richtigstellen. Der mündliche Bericht steht mithin von vorneherein in Konkurrenz zu anderen Berichten. Dank der Initiative des Bischofs aber wird er Autorisiert', indem er Gegenstand kunstgerechter schriftlicher Abfassung und Durcharbeitung (prieven, Kl 4314)" durch den Schreiber wird. Das authentische Werk geht aus dem Zusammenwirken von Augenzeuge, der ein Vertreter laikal-mündlicher Kultur ist, und Kleriker-Schreiber hervor. Ermöglicht wird ihre Zusammenarbeit durch den geistlichen Gönner, der als Verwandter des hohen Laienadels für dessen memoria Sorge zu tragen hat; der Bischof gibt den Auftrag durh liebe der neven sin (Kl 4296). Die Aufzeichnung dient dynastischem Totengedächtnis, ist also in den Totenkult einer schriftunkundigen Laiengesellschaft eingelassen. Die dank dem Zusammenwirken von Augenzeuge und Schreiber authentische Niederschrift wird dann sekundär (!) Ausgangspunkt volkssprachlicher Dichtung: getihtet man e% sit hat dicke in tiuscher Bungen
(Kl 43i6f.).' 8
)6
In der Tendenz, nicht in den Einzelheiten, stimme ich daher Voorwinden (1981), S. 105 zu, daß die ,Klage' den „Sänger" ins Spiel bringt. " Die Bedeutung von prieven (prüfen, brifen) ist nicht leicht festzulegen; zu fragen ist, ob die gerundete oder die entrundete Form zugrundezulegen ist; das in der *C-Gruppe bezeugte priieven, .hervorbringen', .zurechtmachen' ergibt einen guten Sinn; mir scheint aber auch die Nuance des kritischen Durcharbeitens (prüeven, ,erwägen' u. ä.) bedenkenswert. Bumke (1996^, S. 463 plädiert dagegen wie schon Ranft für brieven ,schriftlich ausfertigen' (nach B). 38 In Kl C 4421 heißt es: geticbtet manig e% sit hat; das vorausgehende meister chvnrat kann nicht Subjekt dieses Syntagmas sein; keinesfalls wird in einer der Fassungen behauptet, Pilgrim habe Kuonrat veranlaßt, „das Nibelungenlied niederzuschreiben" (so noch Spiewok, 1989, S. i8of.). Zutreffend 63
Umschriften der Sage
Der Bericht der ,Klage' über die Entstehung der Erzählung vom Untergang der Nibelungen entwirft idealtypisch das Verhältnis von (authentischer) Sage zu (authentischer) Schrift. Die Glaubwürdigkeit ist an den Gelehrten gebunden, den Kaplan des Bischofs von Passau, doch steht dieser weder am Anfang noch am Ende der Aneignung. Er ist auf den Augenzeugen angewiesen, und sein gelehrtes Werk wird wieder Gegenstand weiterer Bearbeitungen in der Volkssprache. Dokumentiert wird eine mehrfache Interferenz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, von Kleriker- und Laienkultur, und ein mehrstufiger Bearbeitungsprozeß, der nicht zu einem endgültigen Abschluß kommt, denn die Dichtungen schließen an jene gültige, weil schriftlich-lateinische Fassung des Magister Kuonrat nur an, sie sind nicht mit ihr identisch. An der Genealogie des mcere haben orale Laienkultur und gelehrte Schriftkultur gleichermaßen gewirkt, wobei dieses Zusammenwirken nicht als ein Nacheinander, sondern als ein Ineinander gefaßt ist. Noch die stark schriftliterarisch geprägte ,Klage', die am Ende der Reihe steht, indem sie vom komplexen Aneignungsprozeß und seiner lateinisch-schriftsprachlichen Basis berichtet, wird vom Erzähler lief genannt (Kl 4322); selbst sie bleibt mithin im Horizont von Mündlichkeit. Eine derartige Interferenz von mündlicher Überlieferung und gelehrter Schriftkultur scheint für das Selbstverständnis früher volkssprachlicher Epik vor dem Hintergrund oraler Traditionen typisch zu sein. Das bestätigt der ,Herzog Ernst', den man seit langem zum Vergleich mit der ,Klage' heranzog.39 Im ,Herzog Ernst B' wird nämlich eine ähnlich komplizierte Beglaubigungsfiktion entworfen. Sie bezieht sich freilich nicht auf das Ganze der Erzählung; diese ist ,Sage',4° geht auf den mündlichen Bericht Ernsts vor dem Kaiser zurück, der auf Befehl des Kaisers aufgeschrieben wird (HE 6003-6007) und der sich auf vorzeigbare Beweisstücke die mitgebrachten Wunderwesen - stützen kann (HE 5970-5981). Enger der .Klage' verwandt ist aber die Beglaubigung des kostbaren Edelsteins, den Ernst erwirbt, des iveysen, der in die riches krön eingearbeitet wird (HE 4462-4465) und die Erwähltheit des römischen Kaisers anzeigt. Für ihn beruft sich das liet eigens auf eine schriftliche Quelle: Von ihm luget vns das buch nycht (HE 4466).4I Wenn jemand diese rede [...] j Vor leugenlicbe wercke (HE 4468f.) halten sollte, Der körne hin %u Bamberg: Da findet er syn eyn ende A.n alle my ssewende
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spricht dagegen Hauck (1961) von der ,,nibelungische[n] Hausüberlieferung des Bischofs Pilgrim" als dem Ausgangspunkt „aller Nibelungendichtung" (S. 170). Die ältere Forschung zusammenfassend Bumke (1996^, S. 463: „eine direkte Bezugnahme [...] ist jedoch nicht zu beweisen". Vgl. die Termini des Prologs: rede, sagen, boren usw. (HE 1-30). Hs. b hat stattdessen: Vnd lewchtet als ain Hecht (zur Wahl der Nürnberger Hs. a als Leithandschrift: Weber, S. i6f.). 64
Wie denkt man sich die Verschriftlichung der Sage? Von dem meister der es% gerichtet hat. ^ Latin es% nach geschrieben stat: Da von4* es% an falschen list Eyn vil wares liet ist. (HE 4470—yö)44
Das liet, d. h. der volkssprachliche ,Herzog Ernst', leitet sich aus gelehrter Tradition ab, die wiederum auf authentischer historia, Ernsts Reiseerzählungen, beruht. Zwischen Mündlichkeit und Mündlichkeit - mündlichen Bericht des Augenzeugen und mündliche Dichtung (liet} - schiebt sich irgendwann die lateinische Schriftkultur; doch drückt sich das Eigengewicht der volkssprachlichen Dichtung darin aus, daß die Schrift nur ein Durchgangsstadium ist, durch das dem liet höhere Autorität zuwächst. So scheint ein Bedürfnis bestanden zu haben, gerade auch literarische Überlieferungen außerhalb der Klerikerkultur an deren Institutionen anzubinden. In ,Klage' und .Herzog Ernst' ist es der Bischofssitz, im ,Wolfdietrich' C das Kloster. Auch hier kreist die Quellenfiktion um die Interferenz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit; diesmal steht sogar das Buch am Anfang der Überlieferungsgeschichte, obwohl der Text, der zu erzählen anhebt, ausdrücklich als mündlicher bestimmt ist:4' Hie mügent ir gerne hären singen unde sagen [!] von kluoger äventiure, so müe^ent ir gedagen. e% wart ein buoch fanden *b da^ sage ich in für war, %e Tage m unt in dem kloster. da lac e% manic jar. (Wo C i)
Es wird erzählt, wie das Buch zum Bischof von Eichstätt gesandt wurde, dem es siebzehn Jahre lang die Zeit vertrieb (Wo C 2,zf.), daß es dann zehn Jahre nach seinem Tod von seinem cappellan erneut aufgefunden wurde (Wo C 3,4), daß dieser es überlas (Wo €4,1) und dann zum Eichstätter Walburg-Kloster trug, von dem dann die Verbreitung der darin enthaltenen Geschichte ausging: 42
4!
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Das Satzzeichen ist problematisch; sinnvoller scheint mir, HE 4470-4474 als Einheit zu lesen, also von dem meister apo koinou auf das voraufgehende und das folgende Syntagma zu beziehen: Der Gelehrte (magister) ist Verfasser der authentischen (d. h. lateinischen) Schrift, die sich noch in Bamberg findet. Das kann sowohl als kausal (.deshalb') wie auch im Sinne von ,aus diesem lateinischen Werk abgeleitet' verstanden werden. Wie die einzelnen Textstufen dieser fiktiven Überlieferungsgeschichte zusammenhängen, bleibt in diesem Fall unklar: Was stellte der meister zusammen? Die Schrift, die auf einen Auftrag des Kaisers zurückgeht? Was heißt tihten? (lateinisches) Diktat? Jedenfalls wird auch hier von dem lateinischen Buch das liet unterschieden. In Hs. b fehlt die Behauptung HE 4474, das Werk des Meisters sei lateinisch geschrieben (Apparat, Weber, S. 385f.): Die Bindung an die Gelehrtenkultur ist dort schwächer. Die folgenden Ausführungen entstanden in Auseinandersetzung mit einem Vortrag von Sebastian Coxon auf dem 14. Anglo-deutschen Mediävistentreffen 1995 in Meißen. Coxon bereitet eine Dissertation zu den im Wo C implizierten Autorkonzepten vor. Ich fasse finden nicht als ,erfinden': deutlich ist die Vorstellung vom Buch als einem materiellen Gegenstand, der ,aufgefunden' wird. Der Vorgang wiederholt sich (ebenfalls mit finden bezeichnet), wenn nach dem Tod des Besitzers ein weiteres Mal das Buch ,entdeckt' wird. 65
Umschriften der Sage merkt von dem guoten buoche wie e% sieb ^erspreitet hat. Diu eptissm was schane, also uns ist gesaget. sie sach da^ buoch gerne, wan e^ ir wol behaget. sie sa%t für sich s^wen meist er, die lerten^ durch hiibscheit: sie dran funden geschriben, da% brähtens in die kristenheit. Naben unde verre fuoren sie in diu lant. sie sangen unde Seiten, da von wart e% bekant. die seltsane äventiure wolten sie niht verdagen. erst mügent ir gerne hoeren von einem riehen künege sagen.
(Wo C 4,4-6,4)
Hier fehlt zwar die Beglaubigung durch Augenzeugenschaft. Sonst aber ist der Vorgang ähnlich gedacht: Die Schrift (das Buchepos) steht nicht am Ende des Überlieferungsprozesses, sondern ist wahrheitsverbürgender Ausgangspunkt mündlicher Verbreitung, steht also am Anfang. Das Buch ist ,uralt' - und also auch die Geschichte, die es erzählt -; es war lange (manic jar) verborgen, bis man es auffand, dann siebzehn Jahre beim Bischof, zehn Jahre in dessen Nachlaß und wurde dann wieder eine lange Zeit allenthalben ^erspreitet. Seine Autorität wird durch geistliche Institutionen gestützt, durch die Klöster Tagemunt und St. Walburg, das Hochstift Eichstätt; seine Attraktivität erweist sich durch geistliche Würdenträger: durch das siebzehnjährige, d. h. lebenslange Interesse des Bischofs, der das Buch für sich selbst behält, durch die Prüfung des Kaplans und durch die Sorge der (,schönen', also hochadeligen) Äbtissin, der es wol behaget (Wo C 4,2) und die es bekannt machen läßt. Erst durch Vermittlung geistlicher Institutionen wird es allgemein in der kristenheit bekannt. Anfangs dient es vornehmer Unterhaltung. Noch der Schritt aus der klerikalen Welt der Schrift in eine offenbar illiterate kristenheit, wo man von der Geschichte , singt und sagt', wird mit gelehrter Hilfe getan: Die Äbtissin beruft zwei meister - , Gelehrte' oder ganz einfach , Könner'? Die Geschichte wird Gegenstand kunstvoller Formung durch mindestens passiv an der Schriftkultur partizipierende Experten. Und warum zwei? Indem es zwei sind, wird gesagt, daß die Geschichte rasch und wirksam verbreitet wird, doch auch, daß die Verbreitung von Anfang an nicht einstimmig ist. Der Prolog des ,Wolfdietrich C' reagiert also wie die , Klage' auf die Tatsache der Vielstimmigkeit mündlicher Überlieferung, indem er sie schon in den (angeblichen) Ausgangspunkt der Verbreitung auf Basis von Schrift zurückprojiziert. Mit dem Schritt in die Mündlichkeit ist die bis dahin geltende lineare Filiation der Textüberlieferung zuende, die der Prolog als Weg des einen Buchs aus der einen Hand in die andere beschrieben hatte. In der Schrift gibt es nur die eine, an den Buchkörper gebundene Geschichte. Doch, einem breiteren Publikum vorgetragen, verzweigt die Überlieferung sich; beglaubigt durch ihren gelehrten Ursprung, lebt die Geschichte von jetzt ab in der Mündlichkeit, im singen und sagen. Die beiden meister 66
Wie denkt man sich die Verschriftlichung der Sage?
reisen nähen unde verre herum und tragen vor, was sie aus dem Buch gelernt haben. Der Inhalt wird allgemein gewußte ,Kunde', Teil des kollektiven Gedächtnisses: da von wart e% bekant (Wo C 6,2). An jenes singen unde sagen knüpft der Erzähler an, an eine unbestimmte und mehrstimmige Tradition mithin, die irgendwann einmal von einem Buch ausging. ,Klage', ,Herzog Ernst' und ,Wolfdietrich' verankern mündlich vorgetragene Dichtung in der Schrift (die an ihrem Ursprung steht, nicht sie ersetzt) und ,erklären' zugleich die Vielstimmigkeit dessen, was man auf Grund der Schrift ,singt und sagt'. Der Verdacht der Lüge, mit dem volkssprachliche Dichtung sich im frühen Mittelalter auseinanderzusetzen hat, wird so entkräftet. Die Berufung auf Schrift garantiert Glaubwürdigkeit, doch nicht Wortwörtlichkeit der einen (und nur einen) Fassung. Von dieser authentischen Tradition ist bloße Fama durch Augenzeugenschaft unterschieden. Augenzeugenschaft und Rückgriff auf vielfache Quellen qualifiziert das märe als historia, die wie jede historia dem ordo naturalis zu folgen hat: wie e% sih huob und ouh began,/und wie e% endegewan (Kl 4303f.).47 Auch wie die Glaubwürdigkeit der historia gesichert ist, wird erzählt. Der Augenzeuge soll richtigstellen, was in aller Munde ist. Die Arbeit an dem, was man vom Burgondenuntergang sagt und sagen soll, setzt unmittelbar nach der Katastrophe ein. Schon Dietrich von Bern versucht, die vielen Stimmen zu der einen authentischen zu verschmelzen. Er verbietet Etzels Boten zunächst, in Bechelaren irgendetwas zu erzählen. Die Begründung ist plausibel - die Boten seien gefährdet, wenn etwas vom Zusammenbruch der hiunischen Macht ruchbar würde - enthält aber nur die halbe Wahrheit, denn Dietrich will selbst verbreiten, wie es eigentlich war. Tatsächlich scheitert sein Verbot, indem die Boten, überwältigt von der schmerzlichen Erinnerung, die ihnen auferlegte diplomatische Lüge nicht aushaken, so daß die Wahrheit aus ihnen mit einem unartikulierten Schmerzenslaut hervorbricht. Das Verbot ist der erste Versuch, den Bericht über das, was geschehen ist, an die glaubwürdige Auskunft einer Person zu binden. Wie auch mündliche Kunde kanalisiert wird, zeigt sich bei der Ankunft der Boten in Worms. Dort erzählt Swämmel nicht einfach diesem und jenem, was er weiß, sondern wartet eine geeignete Situation für seinen Bericht ab: jane sol ich iu der märe sunderlingen niht sagen: ich solse pilliche verdagen, niwan da ich si sagen sol.
(Kl 3568-71)
Die passende, den offiziösen Charakter seiner Botschaft garantierende Zuhörerschaft sind Prünhilt und ihr Hof. Doch auch vor diesem Forum trägt er zuerst nur 47
Zum Verhältnis zur Geschichte Müller (1985), S. 761".
Umschriften der Sage
eine Kurzfassung seiner Botschaft, das Ergebnis, den Tod der Könige, vor. Erst wenn das ganze Land der Bürgenden zu einem Hoftag zusammengerufen wird (Kl 3723), erzählt er seine Geschichte in ihrer gültigen Form: alrerst hie^ man do für gän die boten %antwurte stän, da% si sageten diu mare, wie e% ergangen wäre. (Kl 3771—74)
Dabei kann er dann umständlich vortragen, wie alles kam, von Sivrits Tod angefangen. Modellhaft wird vorgeführt, wie unter den Bedingungen von Mündlichkeit aus dem, was man sich so erzählt - einem ungeregelten Gerücht -, eine verbindliche Geschichte wird. Die Wahrheit wird an bestimmte autoritative Instanzen gebunden, zuerst den König, dann den Spielmann, dem in einer oralen Gesellschaft die Verwaltung des kollektiven Gedächtnisses zufällt, schließlich, wenn die Schrift ins Spiel kommt, an den Bischof und seinen Schreiber. Anfangs handelt es sich um ein informelles Erzählen dessen, was vorgefallen ist: die Kunde verbreitet sich von Etzels Hof aus rings im Land. Bruch der Form ist es noch, wenn aus den Boten die Geschichte herausbricht, obwohl sie doch schweigen wollten. Diese Weise des Erzählens ist nicht beliebig, aber auch nicht voll beherrschbar. Swämmel dagegen ist Bote von Profession und kann daher geordnet erzählen. Er tut es nicht bei jeder Gelegenheit. Zuerst müssen die richtigen Zuhörer anwesend, dann der passende Rahmen geschaffen sein. Autorität erhält sein Bericht von seiner Einbettung in die Rituale feudaler Herrschaft. Erst was ,dem ganzen Land' dargeboten wird, ist die gültige Version des Burgondenuntergangs. Der dreifache Anlauf, das Stimmengewirr auf die eine wahre Stimme zurückzuführen, einmal unter den Bedingungen der oralen Kultur scheiternd (Dietrichs Versuch, die Kunde zu kanalisieren), dann, ebenfalls unter der Bedingung von Mündlichkeit, gelingend, doch nur für dieses eine Mal (Swämmels Erzählung vor dem Hof), schließlich ein zweites Mal erfolgreich, jetzt unter den Prämissen der Schriftkultur (die Aufzeichnung des Augenzeugenberichts), projiziert das Bemühen des Erzählers um eine autorisierte Wahrheit in den Text. Mehrstimmige Überlieferung ist alles andere als diffus und beliebig. Sie ist Folge eines komplizierten Überlieferungsvorgangs. Die ,Klage' sagt nicht - so wenig wie ,Herzog Ernst' oder ,Wolfdietrich C -, wie das Epos entstand, wohl aber, wie der wahre Kern dessen, von dem man vielfältig erzählt, gesichert wurde. Sie sichert sich damit ihre eigene Glaubwürdigkeit gegen andere Versionen.
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Spuren der Arbeit an der Sage
Spuren der Arbeit an der Sage Lyrisches Strophenmodell, .formelhafter' Erzählstil und die Kennzeichnung jedweder sprachlicher Kommunikation als Rede binden das ,Nibelungenlied', obwohl als Buchepos nur möglich dank der Verwendung von Schrift, deutlicher als die ,Klage' an Mündlichkeit zurück. Es gibt im Epos keinen Versuch, das meere auf Schrift zu gründen, und ein Kommentar, typisch schriftsprachliches Medium der Verarbeitung älterer Tradition, wird verweigert. Die Einsicht, daß man wohl nicht mit einem verbindlichen und geschlossenen Werk als Ausgangspunkt der Textgeschichte rechnen darf, führte zur Annahme einer „Nibelungenwerkstatt", die man sich nach Curschmann wohl in der Nähe Passaus zu denken hat, in der vielleicht unter einem ,Nibelungenmeister' verschiedene Redaktoren den Stoff zu bewältigen suchten.48 Bumke ist ihm bei seiner Untersuchung der Abhängigkeiten zwischen ,Klage-' und Liedfassungen gefolgt.49 Er hat auch die Fassungen der ,Klage' mit einer solchen ,Werkstatt' in Verbindung gebracht.'0 Diese Überlegungen tragen der ,Offenheit' beider Texte für Veränderungen Rechnung, der Unmöglichkeit, in die Nähe eines Archetyps zu gelangen, und der Prozessualität der Auseinandersetzung mit Tradiertem. Doch wirft die Vorstellung einer ,Werkstatt' neue Fragen nach dem Verhältnis der überlieferten Texte zueinander auf. Mir scheint es näherzuliegen, nicht eine simultane und institutionell homogene, sondern eher eine sukzessive, längere Zeiten und weitere Räume übergreifende Bearbeitung anzunehmen, einen nicht koordinierten, diskontinuierlichen Prozeß, bei dem an vorausliegenden Lösungen weitergearbeitet wurde, so daß zwar unterschiedliche, doch eng miteinander verwandte Ergebnisse entstanden.'1 Für den zeitlichen Aspekt kann das architektonische Modell der Bauhütte herhalten, wie es im sog. Verfasserfragment des Jüngeren Titurel' ausdrücklich auf die generationenübergreifende Herstellung eines literarischen Werks übertragen wird.'2 Man dürfte allerdings - denkt man an die Bearbeitung *C, die nicht 48
Zusammenfassend (1985/1987), Sp. 933. Bumke (19960). S. 590-594. '° Bumke (19960), S. 591 rechnet für die .Klage' „mit fünf oder sechs verschiedenen Textfassungen" schon „in der ersten Phase der Textgeschichte", die vielleicht auf Grund eines „ständigen Arbeitskontakts" im Rahmen einer „Nibelungenwerkstatt" entstanden seien (S. 592). " Wie von verschiedenen Forschern betont, sollte man, nachdem die .Varianz' des .Nibelungenliedes' die Vorstellung von .Original' und .Archetyp' illusorisch machte, nun die erstaunliche Gleichförmigkeit der Überlieferung stärker beachten. 12 Vgl. das sog. Verfasserfragment des Jüngeren Titurel', das auf die Entstehung des Markusdomes anspielt: Venesfeer vil riebe ein tempel bant erbouwen. von den die meisterliche gestern künden graben und erhouiven. der nam ein ende vil und muosten sterben: ir were da^ edel tiure liefen sie dar umbe niht verderben.
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Umschriften der Sage
eine frühere ,Werkstatt'-Fassung zu Ende führt, sondern sich an ihre Stelle setzt -, nicht an eine räumliche Fixierung einer solchen ,Bauhütte' (oder auch einer .Werkstatt') denken. Entscheidend ist das Prinzip, daß ein anspruchsvoller Gegenstand erst im Zusammenwirken vieler, in Umschriften und Bearbeitungen Gestalt oder besser: Gestalten gewinnt. Die der Verschriftlichung vorausliegenden Verwandlungen der Sage sind uns nicht mehr greifbar. Wir müssen uns an das Stadium halten, aus dem uns die ältesten Handschriften überliefert sind, die schon mindestens zwei heterogene Ergebnisse dieser Arbeit, Epos und ,Klage', wenn auch in verschiedener Gestalt, koppeln. Es sind drei relativ deutlich profilierte Fassungen des Epos aus dem 13. Jahrhundert in den Handschriften A (München SB, Cgm 34), B (St. Gallen, Stiftsbibliothek, Ms. 857) und C (Donaueschingen, cod. 63) überliefert, und einige weitere Texte aus den beiden großen Handschriftenfamilien *AB und *C zeugen davon, wie das Bemühen um eine .bessere' Fassung des Stoffes weiterging.'3 Die Handschriften A und B gehören zwar eng zusammen, doch bietet die ältere und kürzere (A) im ersten Teil des Epos eine eigenständige Version.'4 Deutlicher gegenüber *AB profiliert ist die Redaktion *C. Die älteste nahezu vollständige Handschrift C hat an vielen Stellen ergänzt, an manchen gekürzt oder korrigiert." Zu diesen drei Handschriften treten weitere acht annähernd vollständige Handschriften und eine Anzahl von Bruchstücken. Einige setzen konzeptionelle Neuansätze voraus, so vor allem das Fragment des sog. ,Darmstädter Aventiuren-Verzeichnisses* (n) und die vollständige Version im ,Heldenbuch Lienhard Scheubls' (k). Doch auch weniger spektakuläre Erweiterungen oder Verkürzungen in textkritisch als geringerwertig eingestuften Handschriften bezeugen einen fortdauernden Prozeß der Aneignung. Dabei können sogar die dem Epos fremden Geschichten um den hürnen Seifrid, die den Drachenkampf und die Eroberung Kriemhilts verbinden, in den Handlungskontext des .Nibelungenliedes' aufgenommen werden. Redaktionelle Veränderungen in der Nibelungen-Überlieferung wurden bislang ganz überwiegend nur an der *C-Bearbeitung zusammenhängend untersucht. Dabei stellte sich heraus, daß der Redaktor zum einen an Stellen eingriff, die in der Vulgatfassung (nach B) auch dem modernen Leser Verständnisschwierigkeiten machen, und daß er insofern eine moderneren Erwartungen nähere Version vorlegte, daß er aber zum anderen meist nur punktuell verfuhr und daher nur oberflächliche
Ander si do namen %e meister disem tempel. die muosten eben ramen. ir wage mees^ gaben si exempel uf elliu ort und tvorhten sam die erren. ir ivit^e, stver da% minner lobt, sivenn er hat gebrechen an den merren? (JT Vf 2/3). " Vgl. Curschmann (1985/1987), Sp. 927-929. 54 Curschmann (1979). Inwieweit man A als eine .Fassung' betrachten darf, wäre zu diskutieren; für den Komplex der Werbung um Prünhilt, liegt das nahe, für den Fortgang weniger. " Hoffmann (1967).
7°
Spuren der Arbeit an der Sage
Verbesserungen zustandebrachte, die, auf größere Strecken betrachtet, neue und schlimmere ,Fehler' hervorriefen. Dies schien indirekt die Annahme eines gültigen, relativ guten Textes zu bestätigen, der sekundär korrigiert wurde.'6 Trotz Mängeln im einzelnen schien deshalb die davon noch nicht berührte Handschrift B jenem ursprünglichen Text näher. Mit Braunes Untersuchung war Handschrift B als Grundlage der ,Vulgatfassung' anerkannt.' 7 Brackerts Kritik an Braunes Handschriften-Stemma, das B als dem Archetypus relativ nah erweisen wollte, hat an der Bedeutung dieser Handschrift nichts verändert, wohl aber den zugrundeliegenden Werkbegriff und die daran geknüpfte Entstehungsgeschichte in Frage gestellt, so daß B nicht mehr als relativ authentische Werkgestalt, sondern nurmehr als eine (freilich besonders wichtige) Aneignungsstufe der Sage, konkurrierend mit anderen, auch mündlichen, erschien. Die Umformung zum Buchepos ist, darin ist man sich einig, nicht einfach schriftliche Archivierung („Verschriftung") dessen, was mündlich umlief, sondern Neukonzeption („Verschriftlichung").'8 Diese liegt in der Handschrift B nur in einer - wenn auch der komplexesten - Fassung vor. Die Handschrift A ist, bei großer Ähnlichkeit zu B, im ersten Teil, vor allem in der Prünhilt-Fabel, kürzer, wahrscheinlich gekürzt. Deutlichere Bearbeitungsimpulse sind in der *C-Gruppe greifbar, indem Leerstellen gefüllt, Widersprüche geglättet, auch weiter voneinander entfernte Szenen aufeinander abgestimmt und ein eindeutigeres Bild von den Figuren entworfen werden. Dies setzte sich in der kommentierenden Retrospektive der ,Klage' fort, 59 die - bei Varianten im einzelnen - durchweg auf der glättenden *C-Bearbeitung aufbaut.60 In der *AB-Gruppe, in der *C-Gruppe und in der ,Klage' sind mithin verschiedene Stufen buchepischer Bearbeitung des alten Stoffes '6 Bumke (19960) unterschätzt das Ausmaß, in dem die *C-Version und erst recht die .Klage' die *B-Fassung zu korrigieren suchten; die Vereindeutigungs- und Wertungsversuche lassen sich nicht als bloße .Verbesserungs'-Bemühungen am „Werk des Meisters" verstehen (S. 593); sie zielen auf ein anderes Werk. Bumkes Wortgebrauch schwankt: S. 45 spricht er *C den Charakter einer „Bearbeitung" ab; S. 46 heißt es: „Die *C-Bearbeitung [!] [...] trägt alle Merkmale einer Fassung", und auch S. 257 und 258 ist *C eine „Bearbeitung". Ich halte diese Bearbeitung für sekundär. Bumke (S. 46) betont zwar, es sei „nicht gelungen, mit den Methoden der Textkritik den sekundären Charakter dieser Version nachzuweisen". „Methoden der Textkritik" scheint mir dabei jedoch zu eng gefaßt, denn sie müssen konzeptionelle Veränderungen einschließen. Die meisten der kurzatmigen Eingriffe von *C antworten aufprägen, die in B und verwandten Hss. offenbleiben. Nach der Logik von Frage und Antwort legt das die Priorität fest. " Braune (1900). Die folgenden Bemerkungen suchen nur einige grobe Tendenzen der NibelungenForschung nachzuzeichnen, die in diesem Punkt weiterzutreiben ein eigenes Unternehmen wäre. ' 8 Zum terminiologischen Unterschied: Oesterreicher (1993); vgl. Schaefer (1994), S. 367. 19 Zur Kommentarbedürftigkeit des Epos Bumke (19960), S. 532. Mir ist nicht nachvollziehbar, wie der Kommentar „Produkt ein und desselben Bearbeitungsvorgangs" sein kann, wenn er andere Verfasser hat, zu schweigen von der fundamental anderen Konzeption. Läge es nicht näher, von einer Frage zu sprechen, die - mehr oder minder kompatible - Antworten hervortreibt? 60 Vgl. Bumke (19960), S. 259; wegen dieser gemeinsamen Orientierung an *C gibt es daher nach Bumke ,Klage'-Fassungen, nicht aber eine selbständige ,Klage'-„Bearbeitung" *C.
71
Umschriften der Sage
zu fassen. Die Bearbeitung setzt sich in einem Teil späterer Handschriften fort, weniger in durchgreifenden Änderungen als in punktuellen Varianten, Kürzungen und Erweiterungen. Handschriften, die weitere Stofftraditionen (im Umkreis des Drachenkampfes) einbeziehen (n und m), oder die völlig neu gestaltende Nacherzählung in Lienhard Scheubls Heldenbuch (k) stehen schon jenseits des hier zu beschreibenden Adaptationsprozesses. Dieser Prozeß konnte über die erste schriftliche Fixierung des Epos hinaus heterogene Elemente mündlicher Überlieferung integrieren. Wo Kohärenzerwartungen besonders krass frustriert werden, hat man überlegt, ob in den überlieferten buchepischen Fassungen nicht Vortragsvarianten einfach hintereinander geschaltet werden.6' Auch könnten die überlieferten Handschriften verschiedene mündlich umlaufende Texte und Textsegmente selegiert und kombiniert haben. Selbst wenn solche Überlegungen eingestandenerweise Hypothese bleiben müssen,62 sind sie fruchtbar, weil sie mündliche und schriftsprachliche Erzählstrategien (und beider Interferenz) zu profilieren erlauben. Sie lehren auf der einen Seite, unter den Bedingungen der Vokalität nicht von der Gegebenheit eines einheitlichen und geschlossenen Textes auszugehen, auf der anderen, Anforderungen an narrative Schlüssigkeit, wie sie eine entwickelte Schriftkultur als scheinbar selbstverständlich voraussetzt, zu suspendieren. Seitdem man eine prinzipielle Gleichwertigkeit konkurrierender Überlieferungen für möglich hält und die Verknüpfung der ,Klage' mit dem Epos als überlieferungsgeschichtlichen Befund berücksichtigt, steht nicht mehr die Frage, wer von wem abhängig ist, im Vordergrund.6' Profil gewinnt der Bearbeitungsprozeß allererst, wenn man nach den unterschiedlichen Konzeptionen fragt, die sich in den einzelnen Fassungen abzeichnen und in deren Rahmen Detailvarianten erst ihren Sinn erhalten. Dabei muß man von vorneherein von weit größeren Lizenzen bei der handschriftlichen Kopie einer überlieferten Textgestalt ausgehen, von Textelementen, „die sich verändern können, ohne daß diese Veränderungen als Störungen zu begreifen wären",64 von einer Reihe von Textparametern, die offenbar als für die Besonderheit des Textes nebensächlich angesehen werden. 61
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Masser (1981), S. 135; ihm zufolge stehen im .Nibelungenlied' Strophen nebeneinander, die unter dem Kriterium schlüssiger linearer Progression als Vortragsalternativen aufzufassen sind. Es wird freilich zu überlegen sein, ob nicht die Redundanz im Strophenbestand stereotype Muster der Welterfahrung bestätigen soll. Der konkrete Nachweis ist im einzelnen kaum möglich. Masser (1981), S. 135. Seit Brackerts Kritik an Braune ist in der Editionsphilologie nicht viel geschehen, wenn man von grundsätzlichen Erörterungen des Stemma-Problems und der ,Lachmannschen' Philologie absieht. Nur wenige Forscher halten wie Schröder (1968), S. 19-47 am Versuch fest, von den überlieferten Handschriften her zu einem Archetyp zu gelangen und Varianten als Ergebnisse eines eindeutig gerichteten und daher korrigierbaren Überlieferungsprozesses auszuweisen (vgl. Schröder, 1996). Bumke (iggoc), S. 54; vgl. S. 60-84. Bumke hat die Typen für die .Klage' zusammengestellt. Die Varianten sind auffallig auf bestimmte Klassen beschränkt; allgemein zu dgl. Ad-libitum-Elementen Müller (19980).
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Spuren der A. rbeit an der Sage
Es war ein Manko der älteren Editionsphilologie, überwiegend vom Vergleich von Einzelstellen (punktuellen Lesartendifferenzen, sog. Bindefehlern etc.) auszugehen und zu fragen, ob Abweichungen wahrscheinlicher in die eine oder in die andere Richtung verlaufen sind, so daß man daraus Schlüsse für den ursprünglichen Wortlaut ableiten konnte. Selbst wenn eine Entscheidung möglich ist, ist damit die Frage nach der Konzeption der jüngeren (.schlechteren') Handschrift noch nicht erledigt. Daher soll hier die Frage nach der genetischen Abhängigkeit und der textkritisch auszumünzenden Priorität eingeklammert werden. Statt aus den überlieferten Erzählungen eine .bessere' Handlungsfolge zu präparieren und angeblich Nachträgliches herauszuoperieren,6' ist zu untersuchen, wie bestimmte Motive, Situationen, Szenen, die anderwärts aus der Sagenüberlieferung bekannt sind, verarbeitet und umgedeutet werden. Die Kenntnis dessen, was zur Nibelungensage in den verschiedenen Sprachen und Kulturen einmal erzählt worden ist, und die Vermutung darüber, was außerdem hätte erzählt werden können, hilft dem Interpreten nicht weiter. Wie will man entscheiden, welcher Version und welchem Typus von Überlieferung der Erzähler von Fall zu Fall folgte, wie konkurrenzlos oder umstritten sie waren oder ob dem Epiker ein irgendwo überliefertes Detail bekannt war? Die Frage, was ursprünglich galt, ist nicht mehr zu entscheiden,66 und die Richtung von Veränderungen ist nur selten eindeutig bestimmbar. Elemente, die an anderwärts überlieferte Sage erinnern, sind deshalb immer auf ihren Platz in der neuen Konzeption zu befragen. Es gilt, zwei gängige Auffassungen von der Bedeutung der Sage für das Buchepos zu verabschieden: ,Sagenbewußtsein' ist nicht eine Art Metatext, in dem sich als stimmig herausstellt, was die verschriftlichte Version nur unzulänglich und widersprüchlich wiedergibt.67 Und die Sage ist im Buchepos nicht nur in der Form von sinnlos herausgesprengten Bruchstücken einer älteren Dichtung präsent, die der Redaktor mühsam zu einem Werk zusammenzukitten trachtet. Vielmehr realisiert sich die buchepische Konzeption in Auseinandersetzung mit einer Sage, deren Verzweigungen und Varianten wir nicht mehr genau fassen können. Lücken in der Handlungsfolge, blinde Motive, angebliche .Widersprüche' sind als .Symptome' der schwierigen Adaptation der 61
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Andersson (1980), S. i ji: „Stern surgery [!] is required to separate the layers and expose the tradition that underlies the new growth". Er sucht Quellen fiiir die wichtigsten Episoden des ersten Teils nachzuweisen, wobei er damit rechnet, daß der Dichter aus der Tradition bekannte Szenen anders zusammenfügte und von einer Figur auf die andere übertrug (etwa S. 159?.). „Siegfrieds Jugendtaten wurden stark zurückgeschnitten, Waberlohe und Gestaltentausch überflüssig" (Ehrismann, 1987, S. 126). Wie will man das wahrscheinlich machen? So etwa bei Dinckelacker (1990): ,Man weiß aus der Sage', daß Sivrit Prünhilt schon vorher einmal gesehen hat, also muß das im .Nibelungenlied' nicht eigens gesagt werden, doch wird jeder Hörer es bei der Begegnung in Isenstein voraussetzen (S. 87-90). Der hypothetische Handlungszusammenhang soll dann modernisierende Abstraktionen stützen wie die, daß Prünhilt „um ihren Lebensplan, um ihr selbstgewähltes Selbstverständnis gebracht wurde". Ihre Nachfrage nach der Identität des Werbers versuche, „ihren Lebensplan doch noch zu erfüllen oder zumindest die genaue Ursache zu erforschen, warum er gescheitert ist" (S. 91). 73
Umschriften der Sage
Tradition zu deuten, nicht aber im Rekurs auf einen Metatext oder durch Reinigen des Textes von ,Fremdkörpern' zu beseitigen. Solche Symptome haben Ausgangspunkt der Analyse zu sein, Zeichen dafür, daß der Erzähler etwas nicht oder anders erzählen will. Nicht aber darf das interpoliert werden, was er nach Meinung des Interpreten hätte erzählen sollen und können. Selbstverständlich gibt es aus dem Mittelalter auch Beispiele bloß mechanischer Klitterung von Bruchstücken aus der Überlieferung. Bis zum Beweis des Gegenteils ist aber anzunehmen, daß der Erzähler der Sage einen plausiblen, manchmal wohl neuen Handlungs- und Sinnzusammenhang abzugewinnen sucht, der freilich stets auf das bezogen bleibt, was andere vor ihm gesagt haben und was er als Wissen bei seinen Hörern unterstellen muß. Er scheint - bis in einzelne Formulierungen hinein - ,Spolien' aus der Tradition seinem Text inseriert zu haben, doch gab er ihnen damit eine neue poetische Funktion.68 Er steht in einem intertextuellen Dialog, der deshalb so schwer rekonstruierbar für uns ist, weil er in der schriftlichen Überlieferung nur verwischte Spuren hinterlassen hat.69 Diese Spuren aber sind als Spuren einer Umschrift zu entziffern. Sagenwissen ist bloß „Bezugshorizont" dessen, was der Epiker als besondere Deutung des Geschehens dagegensetzt.70 Sagenwissen determiniert nicht die epische Aneignung, sondern begrenzt nur ihren Spielraum.
Erzählen gegen die Tradition Es ist nicht ausgeschlossen, daß eine bestimmte Konfliktkonstellation auch dort noch den Erzähler band, wo ihre Begründung längst entfallen war, daß also etwa der Erzähler mit der latenten Spannung zwischen Sivrit, Günther und Prünhilt 68
Dies scheint mir etwa der Fall bei einem Beispiel Heinzles (1997) für die Unstimmigkeit des Textes (S. Szf.): Beim Empfang der Bürgenden an Etzels Hof passe eine Replik Dietrichs (Die Sifrides wunden lä^en wir nu sie», 1726,1) „nicht recht zu Hagens [voraufgehender] Rede", in der von Sivrits Wunden keine Rede ist; anders in der ,Thidrekssaga', wo schon der Dialogpartner von ihnen spreche. Ich kann hier nichts Unpassendes erkennen. Dietrichs Wendung spricht metonymisch von Sivrits Tod; sie auf Hagens vorausgehende Worte über diesen Tod zu beziehen, ist dank der rhetorischen Funktion metonymischer Rede geboten (und nicht „charakteristisch für die psychologisierende Nibelungeninterpretation"). Angenommen, die Wendung entstammt wirklich der Tradition, dann ist sie im .Nibelungenlied' Element einer komplexeren rhetorischen Darbietung, während sich die ,Thidrekssaga' mit einer schlichten, .prosaischen' Abfolge von Rede und Gegenrede zufriedengibt. 69 Hierzu Haug (1987), S. 286, bei dem mir nur die Folie des Werkbegriffs zu modern gedacht scheint: Das .„Nibelungenlied' hat keinen Werkcharakter im modernen Sinn; es ist kein in sich geschlossenes Ganzes. Das Ganze ist es nur zusammen mit seinem intertextuellen Horizont, auf den es sich immer neu bezieht, den es wachruft, dessen motivliche Elemente es spielerisch einsetzt [...]. Viele der bekannten Ungereimtheiten und Widersprüche lösen sich damit in nichts auf. 7 ° Haug (1987), S. 285: „Der Bruch mit der Tradition, der sich darin manifestiert, ist von so grundsätzlicher Art, daß die Stoffgeschichte im Grunde nichts mehr verständlich machen kann. Zugleich aber gewinnt sie eine sekundäre Bedeutung als intertextueller Horizont, ohne den nichts zu verstehen ist".
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Erzählen gegen die Tradition
fertig zu werden hatte, obwohl diese in seiner Version gerade nicht mehr auf einem erotischen Dreiecksverhältnis beruht.71 Ausgehen kann man aber nur von überlieferten Texten, wobei diejenigen Stellen besonderes Interesse verdienen, an denen noch verworfene Alternativen erkennbar sind. Eine solche Stelle ist nach allgemeiner Überzeugung Strophe 1912 der sog. Vulgatfassung: Do der strit niht anders künde sin erhaben (Kriemhilde leit da^ alte in ir herben was begraben), do hie% si tragen %e tische den Et^elen sun. wie künde ein wip durch räche immer preislicher tuon?71
De Boors Kommentar schreibt dazu: In der älteren Not 75 veranlaßt Kriemhild den Knaben, Hagen ins Gesicht zu schlagen, worauf dieser das Schwert zieht und dem Kind den Kopf abhaut. Dort hat Kriemhild ihr Kind wirklich der Rache geopfert. Der höfische Dichter des Nibelungenliedes wagte eine solche Tat einer Frau nicht mehr zuzutrauen; der Tod des Sohnes ist bei ihm die Folge von Dankwarts Erscheinen nach dem Mord an dem Gesinde (igSiff.). Trotzdem hat der Dichter die kraftvolle alte Strophe nicht missen wollen. Der glättende Bearbeiter C hat sie umgeformt. 74
Beiseitebleiben kann die Sicherheit, mit der ein Text zitiert wird, den es möglicherweise nie gegeben hat, und Intentionen des Verfassers benannt werden, von denen niemand etwas wissen kann. Unstreitig ist die Geschichte, die de Boor erzählt, glatter als die im Epos erzählte, und sie kann sich überdies auf einzelne Züge der ,Thidrekssaga' und der Heldenbuchprosa stützen. Aus der planmäßigen Provokation Hagens ergibt sich freilich nicht einmal bei letzterer zwingend, daß Kriemhilt den „Mord" „veranlaßt".7' In de Boors Version ist zweifellos klarer begründet, warum Hagen in der folgenden Szene den Hiunenprinzen tötet und dann dessen Erzieher erschlägt (1961 f.), denn Ortliep hat ihn beleidigt, und die unmittelbare Verantwortung für die Ungezogenheit träfe, wie man aus Konrads von Würzburg .Heinrich von Kempten* weiß, den Erzieher.76 71 11
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Vgl. Bernreuther (1994), S. 26f. zu Varianten dieses Konfliktes. In B ist es Strophe 1909, in A 1849; in C ist sie umgearbeitet. Daß sie ein Überbleibsel einer älteren Version der Sage ist, wird bis in jüngste Zeit angenommen (vgl. Flood, 1994, S. 181); auch dann ist aber nach ihrer Bedeutung im veränderten Kontext zu fragen, in dem sie „incongruously" (ebd.) zu stehen scheint. In der Bearbeitung der Ausgabe nach de Boors Tod steht statt „ältere Not" „Dichtung"; dadurch wird eine zwar anfechtbare, aber präzise Aussage durch eine nur scheinbar vorsichtigere, in Wirklichkeit vagere und evident falsche ersetzt. Kommentar S. 300 (nach der 15. Auflage); ähnlich argumentieren mehrere Interpreten, am ausführlichsten begründet: Heusler ('1965), S. 99, besonders apodiktisch Falk (1974), S. zo6. Falk (1974), S. 206; vgl. HPr S. CXXV. Vgl. Fischer/Völker (1975), S. 88f.; die Verteilung der Rollen im Konflikt dort (HvK 50-158) wäre im .Nibelungenlied' freilich gründlich verändert; Töten des Erziehers auch in Ulrichs von Etzenbach .Alexander' (UvE 18913-18957); de Boor, Kommentar S. 308: „Dieser Streich Hagens ist nur aus der 75
Umschriften der Sage
Nur hat der Erzähler eben diese Geschichte nicht erzählt, und deshalb ist es ein Auslegungsfehler, wenn der Interpret aus einer anderen Geschichte ein Motiv einfügt, das die vorliegende verweigert, und den erzählten Zusammenhang durch einen anderen, der ihm besser gefällt, austauscht.77 Im .Nibelungenlied' deutet Str. 1912 (B 1909) nur an, daß es eine Verbindung zwischen dem Auftritt des Hiunenprinzen und der Unerbittlichkeit der Rache gibt. Vielleicht kannte man sogar eine Geschichte, wie sie de Boor vermutet. Doch ergibt sich ein anderer, durchaus schlüssiger Motivationszusammenhang, wenn man die Kette der Morde betrachtet, die den Gewaltausbruch einleiten: Kriemhilt hat den heimtückischen Anschlag des Hiunen Bloedelin auf den burgondischen Troß eingefädelt, und dieser Anschlag wird später beim Mahl die Rache der Burgonden herausfordern (1952-1957). Der Hiunenprinz befindet sich, als Dancwart die Nachricht vom Überfall bringt, im Fokus des Konfliktes und bietet sich zur Rache geradezu an. Er muß da sein, denn indem er das erste Opfer der Rache ist, ist der Konflikt nicht mehr beizulegen. Gegenüber de Boors Nacherzählung sind die Kausalbeziehungen anders geknüpft. Es kreuzen sich zwei Motivationstypen, eine Motivation , vorne' (der Überfall wird einen Gegenschlag herausfordern) und eine Motivation , hinten'78 (der Gegenschlag braucht ein möglichst prominentes Opfer, das in Reichweite sein muß). Ein Fehler wäre das nur dann, wenn man vorbereitende Kausalmotivation, wie sie in neuzeitlichen Erzählungen vorherrscht, als den einzig möglichen und selbstverständlichen Motivationstypus voraussetzt. Das kann man in mittelalterlichen Erzählungen offensichtlich nicht. Bezieht man den Schlußvers der Strophe auf die drei vorausgehenden Verse, dann wird Kriemhilt die Verantwortung nicht nur für das intentional herbeigeführte Attentat Bloedelins zugewiesen, sondern auch für das intentional vorweg nicht steuerbare, doch mit dem Attentat verknüpfte Schicksal Ortlieps, dem sie Vorschub leistet, indem sie das Kind ins gefährliche Zentrum möglicher Konfrontation bringen läßt.79 Eine unmittelbare Provokation Hagens durch Ortliep ist bei dieser komplizierten Motivation entbehrlich. Die Strophe ist damit nicht nur ,Fossil', schlecht verheilte Narbe, die auf ein amputiertes Motivationsglied weist, und Tribut an ein
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älteren, zu 1912 mitgeteilten Darstellung verständlich. Nur dort hatte der Knabe sich Angezogen' benommen, so daß der Erzieher Strafe verdiente". So weiß z. B. die Völsungasaga, daß Gudrun Atli nicht liebt und daß die Verbindung von Anfang an unglücklich ist. Genau dies sagt das .Nibelungenlied' nicht - ebensowenig, wie es das Gegenteil behauptet -, und deshalb ist dieser Umstand nicht, auf Grund welcher Intuition auch immer, einfach zu unterstellen. Zum Begriff Lugowski (1932/1976), S. 25-27; 66-81; er hat die Motivation , hinten' als konstitutiv für vormodernes Erzählen nachgewiesen. Im Sinne einer .Erfolgshaftung' ist Kriemhilt in der Tat daran .schuld', daß Ortliep zuhanden ist, wenn ihre Heimtücke auffliegt; zur rechtsgeschichtlich umstrittenen Bedeutung der Tat: HRG I, Sp. 989-1001 (E. Kaufmann). Es könnte hier, wie oft im .Nibelungenlied' eine .aberrechtliche' Vorstellung vorliegen. 76
Erzählen gegen die Tradition
Sagenwissen, das der Erzähler nicht einfach ignorieren konnte. Sie erhält in der Vorbereitung des Konflikts, im Gewebe von aggressiver Berechnung, frecher Provokation und halbherziger Schlichtung einen neuen Platz. Daß hinter dem hier präsentierten Nexus dem Sagenhistoriker verwischt ein anderer, ausgeblendeter Zusammenhang noch erkennbar sein könnte, dessen Spuren sich überdies in der ,Thidrekssaga' fänden, muß gar nicht bestritten werden. Aber er wäre dann eben verwischt und durch einen anderen Nexus ersetzt. Zu achten ist weiterhin auf die narrative Verknüpfung: Die ,Thidrekssaga' hat statt eines Ineinanders von Motiven für den Ausbruch des Kampfes ein Nacheinander. Das Hinschlachten des Trosses zeitigt noch nicht die von der Königin gewünschte Wirkung, woraufhin sie zur stärkeren Provokation durch den Sohn greifen muß. Im .Nibelungenlied' dagegen löst der Anschlag auf den Troß den Gegenschlag gegen den Hiunenprinzen aus. Die beiden Motive greifen ineinander, ohne daß sie auf der Oberfläche direkt miteinander verknüpft wären: Indem Kriemhilt in Bloedelin zum ersten Mal einen Helfer für ihren tückischen Verrat gefunden hat, ist von ihrer Seite, wie Strophe 1911 klarstellt, der strit schon begonnen; beim Festmahl muß sie nur die Folgen abwarten: Do diu küneginne Blcedelinen lie in des stntes willen, %e tische st da gie mit Et^el dem künege und auch mit sinen man. si hete swinde rate an die geste getan. (1911)
Der folgende Temporalsatz Do der strit niht anders künde sin erhaben (1912,1) könnte sogar diese Strophe 1911 resümieren: ,Nachdem der Streit nicht anders [als so, wie bisher erzählt] provoziert werden konnte', und der Vorwurf vreisltcher Rache, der die folgende Strophe abschließt, (1912,4) muß sich keineswegs allein auf das Herbeischaffen Ortlieps beziehen, sondern kann ebensogut wie 1911,4 grundsätzlich Kriemhilts Skrupellosigkeit insgesamt bei der Inszenierung ihrer Rache meinen. Mahl und Anschlag gehören zusammen, denn der Anschlag wird den Frieden als trügerisch entlarven, ganz gleich wie er ausgehen wird - es steht ja nicht vorweg fest, daß Dancwart als einziger überlebt und mit der Nachricht ins Festmahl platzt -, und so ist der Ausbruch von Gewalt zu erwarten; Kriemhilt sorgt dafür, daß Ortliep dabei ist. In dem komplizierten Motivationsgeflecht sind die kausalen Abhängigkeiten keineswegs so geradlinig, wie sie vom Ergebnis her erscheinen. Die Szene beim Mahl erlaubt noch einmal, die widersprüchlichen Beziehungen zwischen Hiunen und Bürgenden vorzuführen. Während tatsächlich der Kampf schon im Gange ist, tafelt man noch gemeinschaftlich, und Etzel bekundet, den Sohn zur Erziehung zu den Brüdern der Frau schicken zu wollen. Er demonstriert funktionierende Sippengemeinschaft, wo Kriemhilt und Hagen schon an der Konfrontation arbeiten, Kriemhilt den Bruder, Hagen den Sohn des Königs einsetzt, so daß auch Etzel in 77
Umschriften der Sage
den Konflikt gezogen wird. Diese Instrumentalisierung naher Verwandter erzählen die Strophen 1911 und 1912. Die erste Provokation, die Ortliep als Stein in diesem Spiel benutzt, geht dabei nicht einmal von Kriemhilt aus, sondern von Hagen, wenn er Etzels Wunsch, Ortliep solle bei den Bürgenden erzogen werden, brutal zurückweist und dem Erben Etzels ein kurzes Leben prophezeit.80 Damit stellt er unverhüllt Etzels Königsherrschaft und ihre dynastische Zukunft in Frage. Indem Kriemhilt den Hiunenprinzen zum Mahl tragen läßt, bietet sie ihrem Gegner auch diese Gelegenheit, Etzel zu verletzen. In sagengenetischer Perspektive könnte man als Vorgabe ansetzen: Ortliep ist dabei, wenn der Kampf ausbricht, und er ist sein erstes Opfer. Das provoziert Fragen, Vermutungen über Absichten und Zusammenhänge, Vorwürfe. Der Erzähler kommt am ,Faktum' nicht vorbei. Anstelle des einen möglichen Motivs für den Ausbruch des Kampfes (die Beleidigung Hagens durch Ortliep) bringt er ein anderes, gleichfalls anderwärts bezeugtes (den Anschlag auf den Troß). Doch die eine Motivation tritt nicht möglichst unauffällig an die Stelle der anderen, macht sie also vergessen, sondern legt sich über sie und geht eine Verbindung mit ihr ein. Die von der Intertextualitätsdebatte eingeführte Metapher des Palimpsestes faßt diesen Vorgang sehr genau:8' Im Palimpsest verschwindet der andere (in der Regel ältere) Text nicht vollständig, sondern ist als verwischter präsent und kann als gelöschter mitgedacht werden.81 Eine Metaphorik, die als Instrumentarium zur Beschreibung postmoderner Kunst entwickelt wurde, hilft die Arbeit der Verschriftlichung an der mündlichen Überlieferung zu begreifen. Die verschriftlichte Stimme des Erzählers verdrängt nicht die Stimmen anderer Erzähler vor ihm, sondern er tritt in einen Wettstreit mit ihnen ein, in dem er seine - bessere - Version vertritt. Ein Wissen von Kriemhilts Verrat, von der Konfrontation Hagen-Ortliep und von einem anderen Anlaß, der Hagen loszuschlagen provoziert, ist aufgenommen und uminterpretiert. Das Ziel ist deutlich. Die Verantwortung verteilt sich auf Kriemhilt und Hagen. Kriemhilt bringt den Sohn in Reichweite des arglistig vorbereiteten Konflikts, von Hagen geht die erste Aggression aus, und es ist Hagen, der Ortliep zum ersten Opfer 10
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Auch dies mag durch ein altes Motiv angeregt sein (Haug, 1981, S. 43; 47), aber das wird gleichfalls nicht ausgespielt. Eingeführt von Genette (1987/1993). „Die Schriftform macht die Variante bezugsfa'hig. Das jeweils Neue tritt nicht an die Stelle des von ihm Überbotenen und läßt dieses Verschwinden [wie in der Mündlichkeit], sondern legt sich nur darüber und schafft - die Literaturgeschichte. Zugleich mit ihr den Anreiz, das Wagnis wahrnehmbar zu machen. [...] Man darf und muß davon ausgehen, daß die der schriftlichen Niederlegung des Epos vorausgegangene Zeit, in der seine Inhalte und Formen entstanden waren, um ein Mehrfaches länger gewesen ist als das Stück Kontinuität der schriftlichen Tradition, das sich daran anschloß. Viel wichtiger aber ist, daß jene schriftlose Vorgeschichte eine dichtere und intensivere Erprobung aller Gehalte auf Sicherheit der Wirkung erzwungen haben muß [...]" (Blumenberg, 1979, S. 168).
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bestimmt. Das Resultat - Ortlieps Tod - ist dasselbe, aber aus einer geradlinigeinfachen Intrige ist ein komplexes Ineinander von Handlung und Gegenhandlung geworden. Dem Redaktor der Fassung *C scheint das, was durchgestrichen wurde, immer noch zu deutlich gewesen zu sein, mindestens aber der direkte Vorwurf gegenüber Kriemhilt anstößig. So ersetzt er die Strophe 1912, die Kriemhilts furchtbare (vreisliche) Rache anprangert, durch vier neue Strophen (C 1960-1963). Der Sachverhalt Ortliep nimmt am Mahl teil - bleibt derselbe, denn der Thronfolger wird später zur Rache gebraucht, aber er wird anders begründet. Es gibt keinerlei Andeutung, daß Ortliep Bestandteil von Kriemhilts Kalkül sein könnte. Zunächst schildern die Zusatzstrophen die zeremoniöse Vorbereitung des Mahls, den königlichen Pomp (C 1960,2), die Tischordnung im Festsaal (C 1961,2), die unterschiedlichen Speisen für Christen und Heiden (C 1961,3), die Sorge für den Troß (C 1962,1). Wenn dann als letztes erwähnt wird, daß der Königssohn hereingetragen wird, dann ist das nur der Höhepunkt der festlichen Inszenierung: Do die fvrsten gesehen warn vber al vnd nv begvnden esgen, do wart in den sal getragen %y den forsten das E^eln kint; da von der kunec riche gervan vil starchen iamer sint.
(C 1963)
Der Erzähler begnügt sich damit, die Gegenläufigkeit der Handlung auszudrücken: Was das Mahl krönen soll, wird sich später als besonders verhängnisvoll erweisen. Daß Ortliep dabei ist, geschieht einfach so, ist niemandes Absicht: er gehört dazu. Während über das sagengeschichtliche Verhältnis der Motive für den Ausbruch des Kampfes nur spekuliert werden kann, läßt sich am Verhältnis der Redaktionen *AB und *C der fortschreitende Versuch der Bewältigung eines ,Faktums' beobachten: eine Mutter setzt das Leben ihres Kindes aufs Spiel - Absicht? unglückliches Zusammentreffen? Während die Handschriften D und b der *B-Version, a der *C-Bearbeitung folgen, weisen andere Handschriften (Jdh) eine interessante Mischung auf:8' Gegen *C und die unbestimmte Vorausdeutung auf künftigen tamer (C 1963,4) brandmarken sie - mit der *AB-Version - Kriemhilts rücksichtslosen Rachewillen (vgl. 1912,4); doch ersetzen sie den ersten Vers, der auf hinterhältige Absicht deuten könnte (Do der strit nihi anders künde sin erhaben, 1912,1 nach B 1909,1) durch eine unverfänglichere, der Hs. C nähere Version (Do die fvrsten gesehen warn vber al, C 1963,i).84 Die Kritik an Kriemhilt bleibt, doch dem immerhin möglichen Verdacht, der Auftritt des Hiunenprinzen könne arglistig für den Ausbruch offener Feindseligkeiten instrumentalisiert worden sein, wird der Boden entzogen. 83
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Mischformen liegen in Jh und n vor, eine Abmilderung in Q (Rosenfeld, 1991, S. 85-87). In n versucht Kriemhilt, Ortliep zu retten (ebd., S. 88); zu den Varianten Baus, S. 583. Auch Hs. n (n 375,4) folgt zunächst dem Kriemhilt entlastenden Tenor nach *C, um ähnlich wie die *AB-Gruppe dann doch zu schließen: Wye kont ein wip dorch roch vmber mortlichergethon (Göhler, 1995, S. 74).
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Umschriften der Sage
Die Stelle ist also nicht erst für die modernen Philologen anstößig und folglich umstritten; sie fordert die Anstrengung unterschiedlicher Formulierungen schon in den Handschriften heraus. Nachträgliche Versuche, aus den Signalen der überlieferten Texte eine ,eigentlich richtige' Version zu gewinnen, beseitigen solche Spuren des Dialogs mit der Tradition. Die explizite Auseinandersetzung mit ihr setzt Schrift voraus, die Vergleich erlaubt. Der Text konstituiert sich mittels Abgrenzung von anderen Texten gleichen Stoffs. Es gehört zum Autoritätsgestus frühen volkssprachlichen Erzählens, konkurrierende Versionen zu verwerfen. Der ,Straßburger Alexander' z. B. erinnert an die - falsche - Behauptung, sein Held stamme von Nectanebus (Noch sprechent manige lugenere [...], AI 83-91). Selbst Gottfried von Straßburg kann die Geschichte von Markes Liebe zur Besitzerin eines goldenen Haars, das der Wind ihm zuwehte, nicht einfach weglassen, sondern muß sie als falsch erwähnen (Tr 8601-8623). Der Erzähler des ,Nibelungenliedes' hat sich gleichfalls mit Erwartungen und Vorgaben auseinanderzusetzen, die er um den Preis seiner Glaubwürdigkeit nicht beiseitesetzen darf, aber er kann sie in seinem Sinne modellieren. Anders als Gottfried kommentiert er Spannungen und Abweichungen nicht ausdrücklich. Solch ein Kommentar setzt den selbstbewußten Erzähler des höfischen Romans voraus, der distanziert das Überlieferte sichtet und aus ihm auswählt.8' Indem am Text weitergeschrieben wird, können die Ergebnisse verbessert, verschärft, präzisiert, aber auch trivialisiert, verwässert, aufgebrochen, kurz, in einem genauen Sinn frag-würdig werden. Markierte Ersetzungen Die Werbung Sivrits um Prünhilt stellt in den überlieferten Fassungen der Sage zwar immer eine besondere und höchst problematische Beziehung zwischen den beiden Protagonisten her und ist dadurch ursächlich für Sivrits Tod, geht aber in den nordischen Versionen von gänzlich anderen Voraussetzungen aus als im ,Nibelungenlied'. Hier enthält diese Handlungsfolge besonders viel unausgesprochen Vorauszusetzendes, das Erklärungen herausfordert. Woher z. B. hat Sivrit sein Wissen von Prünhilt? Wie kann er ihre Burg, ja sie selbst kennen, wenn er - was doch gesagt wird - noch nie dagewesen ist? Woher kennt man ihn an Prünhilts Hof? Warum zeichnet ihn Prünhilt vor seinen Reisegefährten aus? Was soll die berüchtigte Lüge, er sei Günthers man (386,3)? Antworten werden, was die einzelnen Sachverhalte betrifft, noch vorgeschlagen werden, doch die erste Beobachtung ist: Für all diese Fragen wird eine vorbereitende Motivation verweigert, und die einzelnen Fassungen gehen verschieden mit ihnen um.86 Als einzige Lösung der Wirr*' Auch unter diesem Aspekt läßt sich der ,Straßburger Alexander' in die Genealogie des höfischen Romans stellen. 86 Perennec (1975) notiert ironisch „quelques libertes avec la logique" (S. i). Es ist die Logik, die man in neuzeitlichen Erzählungen als selbstverständlich voraussetzt. 80
Markierte Ersetzungen
nis scheint sich daher die Sagengeschichte anzubieten, die mit Kontamination mindestens zweier Quellen rechnet, um eine schlüssige Handlungsfolge herzustellen.87 Folgt man dieser Ansicht, muß man voraussetzen, daß dem Epiker die Integration mißlungen ist, vielleicht weil jene Elemente ihm zu einem Teil schon in entstellter Form vorlagen, zum Teil ganz unbekannt waren, oder auch weil die Überlieferung dem, was er konzeptionell wollte, einen letztlich unüberwindbaren Widerstand entgegensetzte. Ich beschränke mich auf ein Problem, das die Prünhilt-Handlung aufwirft: Sivrit ,weiß Bescheid' über den Weg nach Isenstein und über die Verhältnisse dort. Vom neuzeitlichen Standpunkt aus ist es die ungezwungenste Erklärung, daß er schon einmal bei ihr war, wie in einigen Erzählungen berichtet wird.88 Nur wird das im ,Nibelungenlied' nirgends erzählt/9 auch steht die Begegnung in den konkurrierenden Erzählungen in Handlungskontexten, wie sie das ,Nibelungenlied' durchweg ausgeschlossen hat. Das beginnt damit, daß hier Isenstein ein ganz besonderer Raum ist, also aus der gewöhnlichen Welt herausfällt, und hört damit auf, daß in die Biographie des Helden eine frühere Verlobung mit Prünhilt nicht paßt.90 Man kann aber nicht ein isoliertes Element einer anderen Version der Sage entnehmen und in den neuen Kontext verpflanzen, denn es verliert dort seinen Sinn. In der Fassung des ,Nibelungenliedes' ist Sivrit eben nicht der vagabundierende Heros, der , draußen' kommt, allen in der bekannten Welt überlegen ist, doch wegen seiner Herkunft nie voll akzeptiert wird; der die bestehende Ordnung rettet, dann aber selbst zur Gefahr für sie wird und folglich beseitigt werden muß. Bei diesem Sagentypus handelt es sich um einen Kulturmythos, in dem sich eine entwickeltere Zivilisation mit dem auseinandersetzt, was jenseits der Grenzen liegt, dessen sie einerseits bedarf und das sie andererseits fürchtet. Das ,Nibelungenlied* erzählt diesen Kulturmythos nicht. Zwar ist Sivrit in Worms ein Eindringling; daher führt er sich mit einer Provokation ein. Aber der ,Eindringling' kommt eben nicht von jenseits der Grenzen, sondern gehört demselben Typus von Welt an wie die Bürgenden, und deshalb verläßt er den Wormser Hof auch nicht wieder, sondern bleibt ihm zugehörig. Er hat aber eine Affinität zur Welt ,draußen', wo die Nibelungen und Prünhilt sind, weiß sich in ihr zu bewähren, und genau aus diesem Grunde kennt er Prünhilts Bewandtnisse. Sein Wissen von der anderen Welt ist Ausdruck jener Affinität. Daß er Prünhilt dafür vorher gekannt haben muß, ist innerhalb der Erzähllogik des ,Nibelungenliedes' gänzlich überflüssig. Bumke (1960); Andersson (1980), S. 170-177. Vgl. Bumke (1960). Die .Thidrekssaga', Kap. 205 weiß etwa von einem älteren Eheversprechen. Ich kann daher Strohschneider (1997) nicht folgen, der aus Sivrits Kenntnis der Bewandtnisse in Isenstein (582; 384; 407) schließt, er sei früher schon einmal dort gewesen (S. 48). Das gilt nur unter den Bedingungen einer gewöhnlichen Welt, in der ,Kenntnis' .Kennen gelernt haben' voraussetzt. Vgl. dagegen etwa die Völsungasaga (Heldenepen, S. 7-102); zu den Ungereimtheiten, die sich im ,Nibelungenlied' bei Annahme eines ähnlichen Handlungszusammenhangs wie dort ergeben müßten: Bischoff (1970), S. . 81
Umschriften der Sage
Aus der Konfrontation von ,gefestigter Herrschaft innen' und .wilder Welt draußen' (die Könige contra den Außenseiter) ist eine Auseinandersetzung innerhalb der bekannten Welt (dem Wormser Hof) geworden, angestoßen und zugespitzt durch eine doppelte Brautwerbung, die Sivrits innerhalb dieser Welt und die Günthers ,draußen'. Im Brautwerbungsschema wird nun die Stabilität der politischen Ordnung im Zusammenwirken des Königs mit dem Herrschaftsverband auf die Probe gestellt, indem die Sicherung der Dynastie mittels Exogamie als eine gefährliche Gemeinschaftsaufgabe erzählt wird.9' Als Akteure sind neben dem werbenden Herrscher gewöhnlich seine ebenso tapferen wie treuen Vasallen beteiligt. Die entscheidende ,Fehlbesetzung' des Schemas im ,Nibelungenlied'9i ist erstens der Umstand, daß Sivrit Helfer zu sein vorgibt, wo er die eigentlich dem Werber gestellten Aufgaben löst, daß er zweitens freiwilliger Helfer des Königs, nicht aber tatsächlich sein Vasall ist, da er dem burgondischen Herrschaftsverband nur auf Zeit angehört und sich als König aus ihm wieder lösen wird, und daß es drittens zwei Brautwerbungen gibt, die eine Braut aber nur auf dem Umweg über die Werbung um die andere gewonnen werden kann. Wie bei Analyse der Str. 1912 erzählt das ,Nibelungenlied' eine Komplikation einer zunächst einfachen Struktur. Das Schema wird dank dieser Komplikation subvertiert und konfliktträchtig. Die Störung wird mithin in einem narrativen Schema thematisiert, das eigentlich auf Integration, nämlich von König und Gefolge im gemeinsamen Kampf gegen ein Außen, angelegt ist, hier aber Spaltung bewirkt. Deshalb muß es umbesetzt werden. Der Umbesetzungsakt wird in den Handschriften unterschiedlich prononciert herausgearbeitet. Er betrifft die Substitution des Werbers durch den Helfer, doch so, daß jeder sieht: ,hier stimmt etwas nicht' - wenn Sivrit für Günther die Werbung betreibt, um seine eigene Werbung anderswo zu fördern, muß er hinter Günther versteckt werden -, und sie betrifft die Substitution des gewöhnlichen Helfers - das wäre Hagen - durch den außergewöhnlichen. Diese doppelte Substitution erweist sich als doppelt problematisch, offen in der Ersetzung Günthers, latent in der Verdrängung Hagens. Der Rollentausch mit Günther wird mit einem auffallenden Mittel, mittels des Tarnmantels, bewerkstelligt, dank dem Sivrit sich ungesehen an die Stelle des Wettkämpfers Günther setzen kann; dieser Rollentausch ist Betrug und erweist sich später als das Motiv, durch das aus der doppelten Brautwerbung die Geschichte des Verrats hervorgetrieben werden kann. In Isenstein garantiert das Requisit einen reibungslosen Ablauf, wie später in der Hochzeitsnacht. Der Tarnmantel, zuvor nur einmal nebenbei als Sivrits Beute aus dem Kampf mit Alberich erwähnt, muß also beim Aufbruch zu Prünhilt ausdrücklich ins Spiel gebracht werden: Sivrit der muose füeren die kappen mit im dan (336,1). Was es mit ihm auf sich hat, erklärt die Vul91 91
Zur Bedeutung des Schemas Strohschneider (1997). Strohschneider (1997) zu den Irregularitäten des Schemas.
Markierte Ersetzungen
gatfassung in wenigen Versen: Zwölfmännerstärke und Unsichtbarkeit Durch ihn wird Sivrit ein anderer und kann Günther wirksam unterstützen. C fügt zwei weitere Strophen ein: Von wilden getwergen ban ich gehöret sagen, si sin in holn bergen, vnd da^ si %e scherme tragen heilet tarnkappen, von wnderlicher art. (C 342,1-3)
Nicht die weiteren Details über die Wirkung der Tarnkappe sind von Interesse,93 sondern der Hinweis, daß der Ort der Tarnkappe die ,Sage' von einer , wilden' Welt mit , wunderlicher' Art ist. Die Grenzen des gewöhnlich Erwartbaren werden überschritten. Für die Glaubwürdigkeit dieser Welt steht eine ambivalente Wahrheitsbeteuerung ein: ah uns diu aventiure gibt (C 343,4). Die aventiure steht im höfischen Roman für die Kompetenz des Erzählers, mittels Fiktion Wahrheit zu entwerfen. Hier benennt sie etwas, das außerhalb der Wahrscheinlichkeiten der eigenen Welt liegt; sie bezeichnet eine Überschreitung (wunderlich), und deutet erstmals auf die Verwirrung des gewöhnlichen Ablaufs voraus, die Günthers Ersetzung durch Sivrit nach sich zieht und die sich in der Isenstein-Episode selbst fortsetzen wird. Hagens Ersetzung scheint unauffälliger. Zwischen der 6. und 12. Aventiure ist Sivrit, nicht Hagen der wichtigste Akteur, indem Sivrit im Rat das entscheidende Wort spricht, auf alle Fragen eine Antwort weiß, alle Aufgaben übernimmt. Hagen dagegen agiert in Isenstein unsicher, furchtsam und unangemessen, muß sich von Sivrit über die Bräuche dort belehren lassen (406,4), fürchtet sich vor dem Ausgang (430,4; 447/448), stellt nutzlose Forderungen (446/447).94 Der Rollentausch mit Hagen wird in der Einleitung der Isenstein-Episode vorbereitet, und zwar durch variierende Wiederholung. In der Beratung über den Sachsenkrieg galt noch die alte Konfiguration: der König im Kreis seiner Gefolgsleute, an deren Spitze Hagen. Sivrit war nicht einmal dabei. Erst Hagen brachte seinen Namen ins Spiel. Im Krieg wurde Sivrit dann aber die Hauptfigur. Am Rat der Bürgenden über die Fahrt nach Isenstein nimmt er dann schon von Anfang an teil. Allerdings rät er ab (Da% wil ich widerraten, 330,1), was ihn schemagerecht von dem Unternehmen ausschließen könnte.9' Hagen dagegen rät zu (So wil ih tu da% raten, 331,1), wobei er jedoch gleichzeitig seinen Platz räumt und Sivrit als Helfer vorschlägt, sit im da^ ist 95
94
95
Sicherheit vor siegen und vor stieben - doch wo spielt das eine Rolle? -; die Fähigkeit zu sehen und zu hören bei eigener Unsichtbarkeit — aber ist das so unerwartet (C 341,4—343,3)? Wenn man den strukturellen Zusammenhang dieser Aussagen nicht beachtet, kommt man zu Schlußfolgerungen betreffs Hagens .Charakter' und seiner angeblichen habituellen Feigheit, die in ihrem überraschenden Kontrast zum üblichen Hagenbild demonstrieren, daß diese Art, Fragen zu stellen, zu widersprüchlichen und kaum verifizierbaren Ergebnissen führen (vgl. Thelen, 1997). Wer abrät, kann Verräter sein (Genelun im .Rolandslied'); er kann zurückbleiben, ohne seine Verantwortung abzulehnen (,Rother'), oder aber er kann seine Bedenken überwinden (Sivrit und Hagen im ersten bzw. zweiten Teil des .Nibelungenliedes'). Sivrit meistert das Abenteuer; Hagen behält im Untergang recht. 83
Umschriften der Sage
so kündec m e^ um Prünhilde stät (331,4). Dieser Rollentausch nun wird verschieden deutlich markiert. Wo die Vulgatfassung vor der Fahrt über Sivrits Wissen von Isenstein sagt: da% was ir deheimm niwan Sivride erkant
(382,4),
da betont die *C-Gruppe, daß hier ein anderer, Hagen, ausgespielt hat, weil er über dieses Wissen nicht verfügt: da% hei von Tronege Hagene e vil selten bekant.
(C 390,4)
Das überlegene Wissen setzt sich durch. Sivrit stimmt zu, doch sorgt er dafür, daß Hagen und Dancwart, der andere waffenfähige Mann der Troneg&re, das Risiko teilen und mitfahren. Das ist strukturell - nicht der Präsentation durch den Erzähler zufolge - eine konfliktträchtige Situation: der, der abgeraten hat, als entscheidender Helfer; der, der zugeraten hat, auf den zweiten Platz gedrängt. Der Rollentausch vollzieht sich vor dem Hintergrund eines vorerst harmlosen Dissenses der Ratgeber. Daß der eine den anderen für ein gefährliches Unternehmen benennt, müßte schemagerecht den Verdacht nahelegen, er wolle sich seiner entledigen - man denke ans ,Rolandslied' -, doch davon verlautet nichts. Die Szene schafft mit der Ersetzung Hagens durch Sivrit in der Helferrolle eine Situation der Rivalität, biegt aber zugleich mögliche Konflikte ab, denn Sivrit übernimmt freiwillig die Aufgabe, und Hagen räumt freiwillig seinen Platz, ohne sich von der Fahrt auszuschließen. Erst von später her betrachtet, sind Dissens und Austausch der Ratgeber nicht so harmlos, denn sie präludieren den Bruch, der zu Sivrits Tod führen wird. Bei der Rückkehr nach Worms wird der Rollentausch in anderer Richtung vollzogen. Der Hs. B zufolge geht er nicht glatt vor sich: Günther will, wie das der burgondischen Herrschaftsordnung und der üblichen Rollenverteilung entsprechen sollte, Hagen mit der Erfolgsbotschaft nach Worms betrauen: uns wäre %e der selben verte niemen so bereit als ir, friunt her Hagene [,.,]. (5 3o,zf.)
Hagen aber weigert sich, indem er behauptet, er sei niht böte guot, (531,1) und wolle bi den frouwen [bleiben], behüeten ir geivant (531,3). Er rät, an seiner Statt Sivrit durch iuiver smster liebe (532,4) um die Botschaft zu bitten. In der Übergangszone zwischen Isenstein und Worms erweist sich die Verteilung der Rollen also als unsicher. Für Günther ist der in Isenstein nötige Rollentausch beendet; er unterstellt die Verhältnisse, wie sie in Worms galten; Hagen dagegen hält an der neuen Konstellation noch fest. Sivrit wird seine Rolle so schnell nicht los (was sich noch viel verhängnisvoller zeigen wird). Er wehrt sich, indem er sich erst einmal weigert; Günther muß ihn durch einen Appell an seine minne zu Kriemhilt - an die zweite Werbung, deren Voraussetzung das Gelingen der ersten ist - zur 84
Markierte Ersetzungen
Botschaft überreden. Die beiden Werbungen werden also ein weiteres Mal miteinander verknotet, doch diese Verknotung ist problematisch. An der Diskussion über die Botschaft ist der prekäre Charakter des Rollentauschs ablesbar, der Sivrits Status ins Zwielicht rückt. Die Verkehrtheit der Rollenverteilung zeigt sich an Sivrits Widerstreben wie an Hagens angeblicher Zuständigkeit für die kamere der Königin.96 Erst nach der Rückkehr nach Worms ist die Verkehrung dann aufgehoben; Sivrit und Hagen werden wieder, was sie waren. Genau dies wird aber Prünhilts Argwohn erregen und die Aufdeckung des Betrugs in Gang setzen. Die Verzögerung der Rückkehr in die alten Rollen erlaubt auszuspielen, was an diesen Rollen nicht in Ordnung ist, und unterstreicht die prekäre Komplikation des Brautwerbungsschemas. Entsprechend haben B und die B verwandten Handschriften den latenten Konflikt als verzögerte Ersetzung erzählt. In Handschrift A und in der C*-Gruppe ist er dagegen unkenntlich gemacht. Auch A erwähnt zwar vor Antritt der Fahrt den Umstand, daß Sivrit an Hagens Stelle tritt, denn der ist für den Fortgang notwendig, doch die Problematik des Tausches, die sich erst zeigt, wenn er rückgängig gemacht wird, ist heruntergespielt. Der Erzähler beschränkt sich allein auf das Faktum, daß Günther Hagen um den Botendienst bittet; Hagen schlägt sogleich Sivrit vor, und dieser führt widerstandslos die Botschaft aus. Nur noch der entbehrlich scheinende Umweg (warum wird Hagen als erster gefragt?) deutet an, daß die Lösung so selbstverständlich nicht ist. Indem weder Sivrit noch Hagen die Aufgabe verweigern, kommt kein Verdacht mehr auf, daß der Botendienst etwas Anstößiges haben könnte.97 Die Handlung ist im Endeffekt dieselbe, schreitet sogar geradliniger voran, doch die paradigmatische Bedeutung der Szene für den Gesamtverlauf ist geschwächt.98 Auch in C ist die Pointe des rückgängig gemachten Rollentauschs abgeschwächt. Hagen wird auch hier als erster um den Botendienst gebeten, da er solche Aufgaben gewöhnlich übernehme (wände wir in disen %iten ander niemen han, C 5 38,3); er soll also wieder an seinen alten Platz rücken, doch weist er wie in B das Ansinnen zurück (C 539,1) und empfiehlt, Sivrit zu bitten, der es dvrch iwer sivester liebe (C 539,4) nicht verweigern werde. Tatsächlich fehlt der Widerstand auf seilen Sivrits. Der ist nämlich gleich bereit, die Botschaft auszuführen (C 541,4), ohne daß Günther vlegen muß (B 531,4). Die Rollenverteilung der Isensteinfahrt wird um eine weitere Epi96
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Anders Strohschneider (1997), S. 50, der in der Episode den Versuch sieht, die Komplikationen des Schemabruchs abzuwenden, nämlich die Tristan-Lösung der Konfusion von Werber und Werbungshelfer. Er betont deshalb Hagens Rolle, darüber zu wachen, daß die Ehe nicht vor der Zeit vollzogen wird. Sivrit wird entfernt. Es fehlt die Betonung des doppelten Widerstandes gegen die Substitution des man Hagen durch den künec Sivrit (Lücken nach A 497 und A 499). Das entspricht der Beobachtung Curschmanns (1979) S. 97, daß A mehr an der einzelnen Episode als dem Gesamtverlauf interessiert ist. 85
Umschriften der Sage
sode verlängert, ein notwendiges Glied der Handlungskette eingefügt, doch so, daß es möglichst wenig stört, ein Konflikt, dessen Zeit noch nicht gekommen ist, wird dem glatteren Ablauf zuliebe herausgenommen. Damit wird die Handlungsfolge freilich zum entbehrlichen Schnörkel. Der Verlauf ist nicht glatt, sondern nur geglättet. Es scheinen marginale Retuschen, und doch stehen sie für unterschiedliche Weisen der Auseinandersetzung mit der Sage. Es gibt eine Tendenz zur Verzahnung von Erzählblöcken durch variierende Umbesetzung von Strukturmustern (B), eine zur Herstellung eines glatten Ablaufs - anderwärts auch durch Erzählen von Kontext, Auffüllen von Motivationslücken - (C). Doch kann auch im Buchepos passagenweise auf beides verzichtet werden und der Gang der Erzählung einem schlichten ,und dann' folgen (A). Solche Unterschiede lassen sich auch an Kleinigkeiten beobachten: Nach Isenstein fahren nur wenige Recken. Das ist bei Abenteuern dieser Art zu erwarten. Schon bei Sivrits Aufbruch nach Worms war die (vorgeschlagene) Heerfahrt durch eine Fahrt in recken wise ersetzt worden (57/58). Das entspricht Sivrits Rolle als Heros, der allein den Bürgenden entgegentreten will, scheint aber im Verhältnis zwischen den Herrschaften von Worms und Xanten ungewöhnlich und bleibt ja auch ohne Erfolg. Nach Isenstein dagegen muß man in recken wise fahren (vgl. 341,1), was wiederum unpassend bei einem Unternehmen ist, das Günther anführt. Folglich will Günther ursprünglich 30.000 Mann dafür aufbieten. Auch hier eine explizite Korrektur: Sivrit belehrt ihn, daß solch ein Aufgebot sinnlos sei (340)." In B bleibt die Korrektur implizit. C hebt zusätzlich noch einmal Günthers Fehleinschätzung hervor: Für einen Erfolg dort reichen vier von Günthers Schlag nicht aus (C 335/336). Dagegen fehlt wieder eine Markierung in A, indem Günthers unpassender Vorschlag (A 338) gar nicht ausdrücklich zurückgewiesen wird, sondern Sivrit nur die vier nennt, die tatsächlich fahren sollen (A 339): Die Abweichung vom Erwartbaren wird vollzogen, nicht eigens betont. Noch unscheinbarer die Ersetzung Uotes durch Kriemhilt. Man fragt sich, warum Günther vor seiner Brautwerbungs fahrt zuerst seinen Entschluß bekundet, %uo miner lieben muoter zwecks Hilfe bei der Vorbereitung zu gehen (345,if.), nur damit dann Hagen, mit berlichen siten noch dazu, ihn an die Schwester weisen kann (346,1). Die seltsame Schleife erklärt sich daraus, daß Kriemhilt als vrouwe von jetzt an Bezugspunkt des Handelns am Wormser Hof ist, Uote als vrouwe abgelöst wird und zur Statistin herabsinkt. A100 spart die Schleife ein: Günther sendet sogleich zu seiner Schwester (A 326), ohne sich erst durch Hagen von der Absicht abbringen lassen zu müssen, die Mutter ins Vertrauen zu ziehen. Für den Fortgang macht das keinen Unterschied. 99 100
So B 33 8f.; C 348f. C hat keine Abweichung. 86
Syntagmatische und paradigmatische Integration (%ur henstein-Episode)
Syntagmatische und paradigmatische Integration101 (zur Isenstein-Episode) Der Einsatz der Isenstein-Episode ist doppelt markiert durch den formelhaften Einsatz E^ was ein küneginne gesehen über je (326,1) und durch die (voraufgehende) Überleitungsstrophe Iteniuwe märe sich huoben über Rtn (325,1). Curschmann hat überlegt, daß hier ein älteres Lied in den buchepischen Zusammenhang eingearbeitet sein könnte, dem man, um es besser zu integrieren, eine zusätzliche Einleitungsstrophe voranstellte.I0i In diesem Punkt stimmen alle drei Haupthandschriften überein. Doch geht in Hs. C der Versuch, den Übergang zu glätten, noch weiter, indem zwischen die beiden Einleitungsstrophen eine weitere eingeschoben ist, die den Handlungszusammenhang herstellt.103 An der knapperen Handschrift A, deren Lücken sich insgesamt auffällig auf die Prünhilt betreffenden Aventiuren 6-11 konzentrieren, glaubt Curschmann deutlichere Konturen einer älteren mündlichen Episodendichtung zu finden, die noch nicht in den größeren buchepischen Zusammenhang eingebunden werden mußte. Die Version in A repräsentiere zwar kein mündliches Lied,104 könne sich jedoch kürzer fassen, weil sie die Kenntnis eines derartigen Liedes voraussetze.10' A zeuge damit bis in die Buchfassung hinein von der Interferenz zwischen implizit mitgewußtem Sagenwissen, das offenkundige Lücken stillschweigend auffülle, und verschriftlichter Deutung durch den Epiker.106 Insofern lassen sich an den drei Haupthandschriften Stufen buchepischer Kohärenzbildung in der Auseinandersetzung mit traditionellen Vorgaben studieren. 101
Zu den Begriffen: Titzmann (1977), S. 61-63; 149—164. Curschmann (1979), S. 96 (älteren Überlegungen folgend). '"' In den drei Hss. stellt sich das so dar: A 324/325 entspricht B 323/324 und C 327/329; die eingeschobene Strophe in C schließt an den veränderten Schluß von C 327 an und formuliert den Entschluß zu einem neuen Unternehmen:
101
do sprach der chunic riche: ine wil niht langer biten me. Des wil ich beraten, wa ich die mvge nemen, div mir vnd mime riche %e froiven mvge fernen an edel vnd ovch an schone; der gib ich miniv lant. als ich die reht ervinde, si sol iv werden wol bekant. (C 327,4-328,4) 104
Nicht also in der Weise, „daß A hier den ursprünglichen Text enthält, der noch sorgloser im Fahrwasser der Quelle konzipierte" Curschmann (1979), S. 96. '"' Der Redaktor von „*A kennt nicht nur, wie vermutlich jedermann in diesem Kreis, die ab der 6. Aventiure mitbenutzte Erzählung, er hat sie auch als nach wie vor gängige mündliche Episodendichtung so weit im Ohr, daß er sich gelegentlich in dem betreffenden Abschnitt entsprechend .kürzer' faßt" (Curschmann, 1979, S. 96). 106 Es gebe eine „Tendenz zum Brautwerbungsschema als solchem [...], in dem Sigfrid die Standardrolle des wissenden und listigen Helden spielt, ohne die besonderen Komplikationen, die der weitere Zusammenhang des .Nibelungenliedes' in die Handlung und ihre Motivierung mit hineinträgt" (ebd., S. 96). 87
Umschriften der Sage
An vielen Punkten gehen sie konform - auch, wo es auffallige Motivationslücken gibt -, an anderen weichen sie voneinander ab, auch in Passagen, die als besonders unwahrscheinlich gelten. Hierzu gehört Sivrits Standeslüge.107 Die Standeslüge basiert, der communis opinio gemäß, auf verschiedenen Fassungen der Sage, gilt als schlecht motiviert, doch notwendig für den Fortgang. Die Bedingungen sind klar: Nur wer Prünhilt im Wettkampf besiegt, erhält ihre Hand; das kann nur der Stärkste; in Isenstein herrscht die Stärkste, woraus folgt, daß jener Stärkste gleichfalls Herrscher sein muß, denn sonst gäbe es einen noch Stärkeren. Soll die Täuschung Prünhilts gelingen, dann muß wenigstens dem Schein nach die Gleichung Stärkster = Herrscher = Werber aufgehen. Wenn Günther mit Erfolg die Rolle des Werbers spielen soll, muß er der Stärkste scheinen, stärker als der starke Sivrit, und dies muß seinen Ausdruck darin finden, daß Sivrit ihm unterworfen ist, was wieder nach der gleichen Logik bedeutet, daß Günther Sivrit bezwungen haben muß. Damit ist die Standeslüge notwendig für die gewünschte Rollenverteilung.108 Ein zweiter Aspekt kommt hinzu. Im Wettkampf mit Prünhilt ist kein Werbungshelfer vorgesehen. Sivrits Stärke müßte Günther disqualifizieren. Die im Brautwerbungsschema übliche Rollenverteilung muß also wenigstens auf der Oberfläche zum Verschwinden gebracht werden. Damit stellt sich dem Erzähler eine dreifache Aufgabe: Er hat ein gängiges Erzählschema, das Brautwerbungsschema, abzuwandeln; er muß zeigen, daß die Erfüllung dieses Schemas auf Lüge beruht, und er muß dartun, warum diese Lüge plausibel wirkt. Aus dieser dreifachen Vorgabe ergibt sich der Umgang mit der Szene in den Haupthandschriften. Daß Sivrit nicht der Werber, das heißt nicht der Stärkste, das heißt nicht der Herr ist, wird in B szenisch und verbal in einer Überinszenierung ausgedrückt. Sivrit verpflichtet erstens seine Gefährten auf seine Version, er sei Günthers man; er führt zweitens vor den Augen des Isensteiner Hofs Günthers Pferd am Zügel ans Land, erfüllt also den Ehrendienst eines solchen mannes;'09 und er läßt drittens Günther beim Empfang durch Prünhilt den Vortritt; allen sichtbar steht Günther ,vor Sivrit' (420,3). Damit sollte alles klar sein. Doch all diese Inszenierungen helfen nichts, denn Prünhilt hält ihn trotzdem für den Werber.110 Ihr Gruß für Sivrit schiebt die Zeichen, die auf Unterordnung deuteten, einfach beiseite, so daß sie ein weiteres Mal, diesmal durch Worte, belegen werden muß, indem Sivrit Prünhilts auszeichnenden Gruß ausdrücklich zurückweist: Er deutet auf Günther hin — wand' 107
108 109
110
Vgl. die ständische Termini untersuchende Darstellung von Hennig (1981), S. 180-182 und auf Grund von Urkundenmaterial kritisch hierzu Schulze (199713). Zu den politischen Implikationen dieses Modells unten S. 171 f. Mit Panzer (1945) gehe ich davon aus, daß um 1200 die Bedeutung des Zügel- und Bügeldienstes den meisten ebenso klar ist wie ihr umstrittener politischer Aussagewert (vgl. S. 100-108); danach besteht kein Zweifel, daß Sivrit die „gewöhnliche Leistung des Vasallen" erbringt (S. ); vgl. Hennig (1981), S. 180; Sachsenspiegel 66, 3; hierzu Wenzel (1992), S. 337. Zu diesem Verkennen S. 268. 88
Syntagmatische und paradigmatische Integration (%ur Isenstein-Episode)
er ist min herre (420,4) -, identifiziert ihn als den Werber (421,3) und legt seine eigene Rolle auf die des Begleiters bei der gefahrlichen Fahrt fest, der gezwungenermaßen dem Gebot seines Herrn gefolgt ist: mäht' ich es im geweigert han, ich het i^ gerne verlan (422,4).'" Die Überinszenierung der Standeslüge mutet dem Rezipienten einiges zu und zeigt, daß es dem Erzähler weniger um Wahrscheinlichkeit des Ablaufs als um Deutlichkeit, die Herausarbeitung des paradigmatischen Gehalts, geht. Dabei wären syntagmatische Ungereimtheiten, wie die, daß Prünhilt die Ankunft der Fremden ein zweites Mal gemeldet werden muß, leicht zu vermeiden gewesen. Und in der Tat: In A verläuft die Szene handlungslogisch konsequent, ohne den nutzlosen Stratorendienst und den befremdlichen Umstand, daß Prünhilt die Ankunft genau beobachtet."2 So ist auch der merkwürdige »Widerspruch' vermieden, daß Prünhilt noch einmal informiert wird, obwohl sie doch ,alles' selbst gesehen hat." 5 In dieser zielgerichteten Darstellung erweist sich auch die gesonderte Vorstellung der Gefährten als überflüssig." 4 Unwichtig ist, ob A dadurch die Handlung begradigt hat oder die fehlenden Elemente nachträglich hinzugefügt wurden. Jedenfalls ist der Verzicht auf die Überinszenierung denkbar, so daß sich fragt, warum die anderen Handschriften nicht diese glatte Lösung wählen. In der Version, die B repräsentiert, wird auf Kosten einer linear plausiblen Verknüpfung mehrfach unterstrichen, daß ,etwas nicht stimmt'. Was der Erzähler in drei aufeinanderfolgenden Handlungssequenzen vorführt, ist eine Inszenierung von Lüge, damit die Diskrepanz zwischen gewünschter Schauseite und dem, was ,tatsächlich' der Fall ist, jedem Hörer erkennbar wird. Es kommt nicht auf die Glaubwürdigkeit der Lüge an, sondern auf die Tatsache, daß es eine Lüge ist, daß sie mehrfach wiederholt wird und daß sie schließlich gegen Widerstand - gegen Prünhilts und der Hörer Wissen - durchgesetzt werden muß. In Sivrits Schauspielerei verschafft sich also nicht die Sagenreminiszenz an seinen inferioren Status Geltung,"' sondern ein poetisches Prinzip, das die handlungslogische Konsequenz hinter der paradigmatischen Bedeutung der Szene zurücktreten läßt. In B wird das Doppelgesicht der Hauptfigur in Erinnerung gerufen, die von der zweiten Aventiure an Heros und höfischer Ritter auf widersprüchliche Weise zugleich ist."6 Das eine Gesicht Sivrits - das des von niemandem abhängigen Heros - muß aufwendig zum Verschwinden gebracht werden, damit Prünhilt dem anderen glaubt, daß Sivrit Günther dient. "' Abweichend, doch ähnlich C 431,4. - Haustein (1993) glaubt: „Siegfried hätte Kriemhilds Hand wohl auch ohne den Steigbügeldienst erhalten" (S. 18). Das widerspricht dem Regelkontext von Isenstein. 112 Lücken zwischen A 383 und A 384 (drei Strophen = 396-398) und zwischen A 385 und 386 (= 401). "' Lücke zwischen A 392 und A 393 (= 409). "4 Lücke zwischen A 394 und A 395 (vier Strophen = 412-415). "' Peeters (1986) S. Brünylt und frauw Kremhylt da ^usamen gesaßen, (n 1,1) Ohne lange Umwege, über Rede und Gegenrede, Beschuldigung und Beweis, Mobilisierung der höfischen Öffentlichkeit und Gericht steuert das Geschehen auf die Ermordung Sivrits durch seinen swager (n 10,2) zu; 1 ' 2 zwei Strophen (14 und 15) sind Kriemhilts Leid gewidmet, vier weitere Etzels Werbung und Vermählung mit Kriemhilt sowie der (anders begründeten) Einladung. Ohne die Diskussionen, ob man die Einladung annehmen solle, leiten vier weitere Strophen zum Zug der Bürgenden in den Untergang über (25. Aventiure). Sivrit, die Zentralgestalt des ersten Teils, gibt nur noch den Anstoß, ohne selbst eine Rolle zu spielen. Für das komplexe Bedingungsgefüge, in dem sich im Verhältnis zwischen Sivrit und dem Wormser Hof nur langsam die Gewichte und Bewertungen verschieben, hat der Redaktor keinen Sinn. Übrigbleibt die furchtbare Geschichte vom Burgondenuntergang, für den wie in der ,Klage' die Ermordung Sivrits nur die unbestimmte Voraussetzung ist.
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1)1
lieh vor der Ankunft in Passau) schwer zu begründen. Die nachträgliche Glättung der Überleitung (auf Rasur) spricht eher dafür, daß eine Lücke in der Vorlage bemerkt wurde und korrigiert werden sollte. Zu den Lücken im Anfangsteil Batts, S. 105-121. Batts, S. 795. Ich danke Peter Göhler für die Überlassung seiner (vorläufigen) Transskription der Eingangsstrophen; vgl. seine Charakterisierung Göhler (1995), S. 73-77; einen Überblick über den Strophenbestand gibt Vorderstemann (1976), S. 116-119. Dabei wird vorausgesetzt, daß Sivrit Kriemhilt vor einem Drachen errettet hat (n 8,3f.): ein unthematisiertes Sagenwissen steht im Hintergrund. 98
Die Eingangsaventiure
Die Eingangsaventiure Neben solch bedeutsamer Auswahl scheinen Eingriffe der ,vollständigen' Handschriften weit weniger aussagekräftig. Bei näherem Zusehen erweist sich das jedoch als Täuschung. Besondere Varianz kennzeichnet den Einsatz des Epos. Die erste Aventiure muß festlegen, in welcher Perspektive die Geschichte von Sivrits Tod und dem Nibelungenuntergang erscheint. Sie enthält drei Komponenten: die Programmstrophe Uns ist in alten mären, die Vorstellung des Wormser Hofes um Kriemhilt und Kriemhilts Traum. Jede dieser Komponenten ist in der Überlieferungsgeschichte anders behandelt. Die Programmstrophe, die das Erzählte in zeitliche Distanz rückt, findet sich in den Hss. ACDd, nicht jedoch in B. M} Danach setzt das Epos mit der Vorstellung einer höfisch-idealen Welt ein (Hss. ABCDJd). Als erste genannt wird eine Frau, erst dann folgen ihre königlichen Brüder und die Helden an ihrem Hof. Durch das höfische Idealbild wird die Fallhöhe des Geschehens markiert. In den einzelnen Handschriften ist der Rahmen freilich jedesmal etwas anders ausgezogen. In einem Teil der Überlieferung - ADJd - wird der ungewöhnliche Einsatz mit einer Heldin statt einem Helden (2,1) durch eine weitere Strophe unterstrichen (= Der minneclichen meide triuten wol ge%am, 3,1). Nach der Nennung der Wormser Könige1'4 dann fehlen in zwei Handschriften (Jd) die Angaben zur Genealogie des Königshauses und zur höfischen Ämterhierarchie in Worms (7-12). Diese Handschriften begnügen sich mit der Nennung der Protagonisten (Jd) und dem Ort ihres Wirkens (d) und gehen dann gleich zum dritten Abschnitt, zu Kriemhilts Traum vom Falken, über. Beim Traum gehen die Handschriften, die die erste Aventiure überhaupt enthalten, wieder zusammen, nur vom anschließenden Gespräch mit der Mutter lassen J und d wieder zwei Strophen aus,1" in denen Uote Kriemhilts Entschluß, ohne minne bleiben zu wollen, tadelt und Kriemhilt widerspricht. Es sind diejenigen Strophen, die eine Reminiszenz an Veldekes ,Eneit' enthalten, die für den Fortgang der Handlung aber irrelevant sind.1'6 Getilgt ist also eine Allusion auf den höfischen Roman. Schließlich fehlt in J Str. 19, in der der Erzähler den Traum ausdeutet (ABCDd).1'7
,Historische* Situierung des Geschehens, die Balance zwischen der Protagonistin und ihrer heroischen Umgebung, die Vorstellung des Wormser Herrschaftsverbandes, der Traum und die literarischen Reminiszenzen, die das Gespräch über ihn weckt - die drei Komponenten des Prologs sind also immer wieder anders kom'" Diese Programmstrophe ist keineswegs eine redaktionelle Zutat nur in C oder der *C-Gruppe; sie findet sich in B eng verwandter Überlieferung ebenfalls. 1)4 Drei Strophen in ABCDd, nur zwei in J (6 fehlt); vgl. auch zur abweichenden Reihenfolge in D: Batts, S. 3. '" Nämlich 16 und 17; vgl. Batts, S. 7. 1)6 Vgl. das Mutter-Tochter-Gespräch aus Heinrichs von Veldeke ,Eneit' (Wolf, 1995, S. 271, 285 u. ö.). Auch bei Veldeke glaubt Lavinia, der Macht der Minne entgehen zu können, und auch hier wird sich das als Irrtum herausstellen. 117 Eine andere Handschrift (b) setzt wegen Verlust von zwei Blättern erst mit dem (2.) Abentewr von Seyfrid dem Starcken ein (vgl. auch Bumke, 1996^ S. 184); defekt ist auch der Anfang von h.
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Umschriften der Sage
biniert und akzentuiert, und ein wenig ändert sich dadurch jedesmal der Blick auf das, was folgt. Erst danach setzt parallel die Geschichte Sivrits ein, wobei der Einleitungsstrophe dieser Aventiure die Hs. A eine zusätzliche Strophe des Heldenpreises hinzufügt (A zi). 1 ' 8 Im einzelnen kann die Formierung des Blicks auf das Epengeschehen in den verschiedenen Handschriften hier nicht untersucht werden, doch zeigt sich schon, wie die Arbeit am Eingangsportal des Epos auf ganz Unterschiedliches hinzuführen scheint: in eine ferne Vorzeit (i), auf eine ungewöhnliche Protagonistin (2), einen ideal geordneten Hof (4ff.) oder das Schicksal eines bekannten Helden (i3ff.). Sieht man von der Programmstrophe ab, dann findet sich immer eine Skizze des sozialen Kontextes und der unheilverkündende Traum, doch was davon erzählenswert ist, variiert, ob nun um entbehrlich Scheinendes verkürzt (die Vorstellung des Wormser Hofes? die Fortsetzung eines für die Handlung irrelevanten Dialogs?) oder um Erinnerungswürdiges erweitert (eine weitere Preisstrophe auf Sivrit?). So gewinnt das unübersichtliche Gefüge in den Fassungen, die die Handschriften überliefern, unterschiedliche Gestalt.
Sagenhorizonte Neben der Auswahl und Akzentuierung, der Konzentration auf wesentliche Handlungsfolgen gibt es auch das Umgekehrte, den Anschluß an andere Geschichten. Die Geschichten um Sivrit und den Burgondenuntergang erweisen sich da freilich als weit weniger offen als die chansons de geste, und sie sind auch nur in einem Fall - der Bearbeitung k - integrierender Bestandteil eines Heldenbuchs geworden. Die Tendenz zu buchepischer Geschlossenheit stand dem Anschluß an andere Texte, bei aller Varianz im einzelnen, entgegen. Ansätze gibt es jedoch, anknüpfend an das Personal, das das ,Nibelungenlied' mit anderen heroischen Epen teilt: die Amelungen. Einen Anschluß an die Amelungen-Sage sieht Curschmann im Buch Chreimhilden (D) aus dem 14. Jahrhundert. 1 ' 9 In b lädt die erste Konfrontation zwischen Dietrich und Kriemhilt zur wuchernden Ausgestaltung durch Zusatzstrophen ein (verkürzt, doch mit ähnlicher Tendenz in n), die den Empfang der Burgonden durch die Amelungen ausmalen.'60 Und auch der Zusatz am Ende von b (nach 2376), der Kriemhilts Hinrichtung durch Hildebrant lächerlich macht, verstärkt die Konfrontation. Den gleichen Ansatz zur Zyklenbildung161 zeigt Hs. a, die auf die dem Prünhilt-Abenteuer vorausgehenden Teile verzichtet und mittels
"' Batts, S. 8f. '" Curschmann (1989), S. 393-395; zur Konkurrenz der Sagen S. 3985.; vgl. auch Wolf (1995), S. 315342; 4 £; 4 £ l6 ° Nach Batts S. 795; vgl. Curschmann (1989), S. 406. 161 Curschmann (1989), S. 4o6f. IOO
Sagenhoriyonte
der Datierung in der Überschrift (Pein herdietricbs/%eittenn) den Zusammenhang mit der Dietrichsage herstellt. Im Ambraser Heldenbuch (d) ist es der Kontext - dem „Doppelepos .Nibelungenlied'/jKlage'" geht das „Doppelepos" ,Buch von Bern7,Rabenschlacht' voraus -, der den Nibelungenuntergang in die Perspektive eines „Dietrichlebens" rückt.' 62
Erfolgreicher war ein sagengeschichtlicher Synkretismus, wo er sich vom .Nibelungenlied' löste wie in der Verschmelzung der beiden Sagenkreise um Dietrich und um Kriemhilt im ,Wormser Rosengarten': Aus dem komplexen Handlungsgefüge des .Nibelungenliedes', das in der Konfrontation und im Untergang zweier Reiche mündet, wird ein Turnierschema, das es erlaubt, Heldengruppen unterschiedlicher Sagenkreise gegenüberzustellen, die ansatzweise verschiedene Lebensformen repräsentieren.l6' Hier wächst sich die latente Spannung in der Tat zu einer klaren „Rivalität der Sagenkreise" und zu einer „natürlichen Opposition" aus,'64 während sich beide im ,Nibelungenlied' noch konflikthaft ineinander verschlangen, ohne daß die eine oder die andere Seite bevorzugt war. Wo der .Rosengarten' die Verknüpfung der beiden Sagenkreise als blutiges, willkürlich von der argen Kriemhilt angezetteltes Spiel erzählt, da hat ,Biterolf und Dietleib', ebenfalls aus der Konfrontation herausgesponnen, den militärischen Zusammenstoß zwischen den Helden Etzels und Dietrichs auf der einen, Günthers und Sivrits auf der anderen Seite Schritt für Schritt in ein Turnier transformiert, bei dem es nur noch wenige, meist .unbedeutende' Tote gibt und alles in einem großen Fest sich auflöst: Zyklenbildung als Entschärfung eines tödlichen Gegensatzes und als Überführung ins bloße Spiel. Der ,Biterolf ist eine durchweg entproblematisierte Variante des Nibelungenkonfliktes; hier ist die sprichwörtliche hochgeht Kriemhilts endgültig bewältigt - aber eben auch zu literarischer Belanglosigkeit trivialisiert. Das ist weder eine notwendige noch eine einsinnige Konsequenz. Es kann auch keineswegs eine Abfolge .Nibelungenlied', ,Wormser Rosengarten', .Biterolf und Dietleib' behauptet werden, vielmehr kreisen die drei Epen um eine verwandte Konstellation, die möglicherweise weit in die Oralität zurückreicht. Auch die Heldenbuchprosa verarbeitet ein diffuses und widersprüchliches, jedoch nach allgemeiner Ansicht sehr altes Material aus Nibelungen- und Amelungensage.'6' Der 162
Curschmann (1989), S. 395. Allerdings bleiben das allenfalls Ansätze: Der chronologische Anschluß der vier Rückkehrschlachten in den Dietrichepen des ,Ambraser Heldenbuchs' an .Nibelungenlied' und .Klage' bleibt unausgeführt (vgl. S. 394). Erst recht ist der vorzeitige Abbruch der .Klage' in a (do her Dietrich dan gereit, Kl 4206) als Abschluß eines „Dietrichlebens" wenig überzeugend. l6 ' S. 396-398; zum sagen- und kulturgeschichtlichen Hintergrund: Curschmann (1989), S. 398-404; bes. S. 4oif.; Heinzle (1978), S. 247-254. 164 Curschmann (1989), S. 389f. - Im .Nibelungenlied' ist Kriemhilt freilich m. E. noch nicht als „gefährlicher Eindringling" aus Perspektive der Dietrichsage inszeniert (S. 388); die Rechtfertigung der .Klage' wäre sonst nicht möglich, zumal diese doch lt. Curschmann gleichfalls den Anschluß an die Amelungensage betreibt und aus deren Perspektive klagt (S. 390-394). l6 ' Curschmann (1989), S. 4o8f.
Umschriften der Sage
Transformation ins Gesellschaftsspiel entgegen läuft dort die Stilisierung der Nibelungensage zur wilden und archaischen Vorzeit. Auch das Heldenbuch entwirft noch einmal die Konfrontation Dietrich - Kriemhilt. Vor allem aber erzählt es den Burgondenuntergang als endgültiges Ende des Heldenzeitalters, als Geschichte von einer gewaltsamen Welt, in der es überlebensgroße Heroen, Riesen und Zwerge gab. Die spätmittelalterlichen Adaptationen führen weit über die im ,Nibelungenlied' aufgerufenen Konstellationen hinaus, trivialisieren sie oder stilisieren sie zur absolut fremden Vorwelt. Gegenüber diesen zerfasernden Alternativen stellt sich das Epos mit der ,Klage', ungeachtet aller Varianz, als Entwurf von relativer Geschlossenheit dar.
IO2
II
HEROISCHES ERZÄHLEN UND BUCHEPISCHE KOMPOSITION Unendliche Rede: ein Epos fängt an Das Epos bewahrt in der sog. Vulgatfassung eine Weise des Erzählens, die nicht mehr aus der Mündlichkeit abgeleitet werden kann und doch nicht in allem den Anforderungen an ein erzählendes Werk der Schriftkultur genügt. Diesen Zwischenstatus scheint man zu Beginn des 13. Jahrhunderts gespürt zu haben, indem nicht nur immer wieder Bearbeitungsimpulse an einzelnen Stellen ansetzten, sondern die Geschichte, die das Epos erzählt, als etwas Außergewöhnliches angekündigt wurde: Uns ist in alten mären Wunders vil geseit.
(1,1)
Ausgerechnet diese Programmstrophe fehlt zwar in B, der Handschrift, die der Vulgatfassung zugrundeliegt, doch ist sie für die Perspektivierung des Erzählens im Rahmen von Schriftkultur signifikant. Vermutlich wurde sie nachträglich dem Epos vorangestellt.1 Während eine mündliche Erzählung mit der Stimme dessen, der erzählt, einfach einsetzen kann, muß in der Schrift der Ort dessen, was gesagt wird, eigens bestimmt werden. Angekündigt wird eine uralte Geschichte, wobei der Sprecher von einer Position aus zu sprechen scheint, auf der, sie zu erzählen, bereits nicht mehr selbstverständlich ist. Wo man alte mären identifiziert, gibt es auch andere, weniger alte. Der Erzähler optiert für die ersten. „,Alt' ist ein Adelstitel in der schriftlichen Überlieferung. Da die mündliche Überlieferung die Bedingungen solcher Lagerung nicht kennt, ist ihr auch das Alter als Wertbegriff fremd".2 Die Programmstrophe setzt also Schriftlichkeit schon voraus, auch wenn sie einsetzt, als sei sie mündliche Rede in einer Gemeinschaft von Anwesenden, die Sprecher und Hörer umgreift (uns). Dieses uns spaltet sich im vierten Vers auf; der Sprecher bringt die Hörer auf Distanz: muget ir nu wunder hären sagen.* Wer die Strophe dem Epos Sowohl der not- wie der /«/-Fassung; sie findet sich in Hs. A wie in C. Natürlich ist es auch denkbar, daß sie in B fortgelassen wurde. Nicht nur ihres Binnenreims wegen wird die Strophe allgemein als verhältnismäßig jung angesehen; vgl. zu ihrer Bedeutung: Haubrichs (1995), S. 44-46; Curschmann (1992); Strohschneider (1996), S. 7-9. Assmann (1992), S. 100. Curschmann (1992), S. 63^ hat gezeigt, wie raffiniert der Erzähler das Aufrufen einer anonymen Erzähltradition zur Inszenierung seines - des Dichters - Auftritts benutzt: „ein Dichter metaphorisiert den Auftritt eines Sängers" (S. 64). 103
Heroisches Erzählen und buchepische Komposition
voranstellte, zeigt an, daß das ,Nibelungenlied' das wir kollektiver Erinnerung hinter sich läßt und nicht mehr selbstverständlich einen gemeinsamen Horizont von Erzähler und Publikum voraussetzt.4 Erzähler, Erzählgegenstand und Hörer rükken auseinander. Die Situation gemeinschaftlichen Erinnerns an das, was man unvordenklich weiß, wird „zerdehnt"' zur Situation der Mitteilung einer fremdartigen Geschichte, die der Experte über einen Hiatus der Zeiten hinweg bekanntmacht. Was er ankündigt sind wunder (1,1; 1,4), also etwas, das die Hörer aus der Alltäglichkeit des Hier und Jetzt hinausführt. Damit wird die Geschichte vom Burgondenuntergang historisch perspektiviert. Man hat als eine Eigenschaft oraler und semi-oraler Gesellschaften herausgearbeitet, daß sie kein historisches Bewußtsein im Sinne fixer zeitlicher Relationierungen ausbilden, die sich mit dem Wandern des Gegenwartspunktes ihrerseits verändern.6 Die Vergangenheit erscheint in derselben Gestalt wie die Gegenwart; was als erinnerungswürdige Vergangenheit gilt, verschiebt sich deshalb unmerklich mit dem Fortschreiten von Zeit. Doch gibt es dabei Abstufungen: Das Vergangene kann als mehr oder minder fremd und vom eigenen Standpunkt entfernt erfahren werden. Im Mittelalter bietet die Schrift Korrektiv und Gegenhalt gegen die kulturelle Überlieferung einer illiteraten Laienwelt, die sich ausschließlich an Identität und Stabilität der gegenwärtigen Gesellschaft orientiert und sich - langsam zwar, aber stetig - deren Bedürfnissen entsprechend umbildet. Auch die volkssprachliche Schriftlichkeit bleibt von den kulturellen Rahmenbedingungen einer überwiegend mündlich kommunizierenden Gesellschaft geprägt. Die Aneignung des Fremden in der Schrift verläuft deshalb anfangs in ähnlichen Bahnen wie unter den Bedingungen der Oralität.7 Die schriftliche Überlieferung kann primär einzelnes Vergangenes sichern, nicht unbedingt schon eine Vorstellung von Vergangenheit insgesamt ausbilden und das Vergangene insofern überschreiten. Eine semi-orale Kultur ist nicht mehr einfach ,vergangenheitslos',8 aber das Verhältnis zur Vergangenheit ist in der Regel nicht prozessual artikuliert. Oft bleibt es beim Bewußtsein eines Abstandes, der Fremdheit, des wunder. Und eben dies deutet die Programmstrophe an.9 Sie besagt, daß, was das Lied zu erzählen hat, von alters her erzählt wird. Erzählen ist hier sagen, mündliche Rede, 4
Zur grundsätzlichen Bedeutung der Personalpronomina für das .kulturelle Gedächtnis': Assmann (1992), S. 16. ' Ehlich (1989), S. 91. Eine „Zerdehnung" der Kommunikationssituation liegt schon in mündlichen Texten vor, sobald sie sich vom Gegenwartsbezug mündlicher Kommunikation lösen. In der schriftsprachlichen Situation ist der Abstand noch einmal erweitert. 6 Schaefer (1992), S. 18, unter Berufung auf Vollrath (1981) und Clanchy (1970); Bäuml (1980), S. 249; Rosier (1980), S. 291; vgl. aber die Differenzierungen bei Assmann (1992). 7 Rosier (1980) hat an der frühen griechischen Dichtung gezeigt, daß die Voraussetzungen einer oralen Kultur und ihre Erwartungen gegenüber Dichtung weit in die Schriftkultur hineinragen. 8 Bäuml (1980), S. 249. 9 Haug (1974/1989), S. 298 spricht von „Verfremdung [...] zum Unerhört-Unbegreiflichen". 104
Unendliche Rede: ein Epos fängt an
die sich seit je an ,uns' richtet. Der Erzähler markiert keinen wirklichen Neubeginn, sondern behauptet, nur fortzusetzen, was schon lange vor ihm gesagt wurde. Die Strophe macht explizit, was zu den Bedingungen von Heldenepik gehört: daß sie wiedererinnert (oder wiederzuerinnern vorgibt), was man seit langem weiß. Darin schließt sich die Schrift der schriftlosen memoire collective an. Indem es diesen Anschluß aber explizit macht, steht das Epos schon außerhalb der Tradition, die es fortzusetzen vorgibt. Der Erzähler führt nicht einfach fort, sondern er sagt, daß er fortführen werde. Er zitiert den Typus von Erzählung, den er vortragen will, beruft sich auf mündliche Rede im Gestus des Erinnerns, doch er tut beides schon in der Schrift: ein Riß, der das Buchepos von der alten heroischen Überlieferung trennt. Die Schrift setzt ihren Anfang, indem sie auf etwas verweist, das sie nicht ist. Sage wird seit je gesprochen, und deshalb ist ihr Beginn absolut: Das märe kann an irgendeinem Punkt einer unendlichen Rede einsetzen, ohne sich um das Vorher zu kümmern, denn alles, was ihr Gegenstand sein kann, ist letztlich zeitlos nebeneinander präsent. Heldenepisches Erzählen ist Fortsetzung, doch ohne daß, was fortgesetzt wird, selbst Thema werden müßte; umstandslos knüpft es an früher Gesagtes an, indem es aus dem Sagengedächtnis herausgreift, was für dieses Mal präsent gemacht werden soll. Schon das ,Hildebrantslied* vertritt diesen Typus: Ik gihorta dat seggen, dat sich urhettun anon muotin [...] untar heriun tuem. (Hi 1-3)
Scheinbar voraussetzungslos treffen sich zwei Krieger, und erst nach und nach wird deutlich, wie viel diesem Treffen vorausging und in diesem Treffen nachwirkt. Im ,Nibelungenlied' sind einige der Initialformeln bewahrt, die solch voraussetzungslosen Beginn aussprechen, der sich aus unendlicher Rede herauslöst, und die sich deshalb auch anderwärts immer wieder finden.10 In Str. 2, der Eingangsstrophe der Handschrift B, tritt die erste auf: E\ wuohs in Burgonden ein vil edel magedin.
(2,1)
Parallel setzt die zweite Aventiure ein: D6 wuohs in Niderlanden eins edelen küneges kint.
(20,1)
Markiert ist ein Ort, den man kennt oder kennen kann, und ein Ausgangspunkt der Bewegung, die nacherzählt werden soll. Irgendwann setzt das Geschehen ein. Die -fi^-wwoAr-Formel erinnert daran, daß dem Berichteten weitere Geschehnisse vorausgehen, die doch nicht - oder mindestens nicht hier - erinnerungswürdig sind. Im Unterschied zur medias-in-res-Technik, die durch die Poetik des antiken Epos kanonisiert wurde, orientiert sich die Formel an der natürlichen Chronologie. Die medias-in-res-Technik setzt schon Schriftlichkeit voraus, die Möglichkeit des Buch10
Zu typischen Initialformeln Masser (1981), S. izjf. 105
Heroisches Erzählen und bucbepische Komposition
epos zu weiträumiger, sich vom chronologischen Verlauf lösender Disposition. Der formelhafte Einsatz dagegen dissimuliert Schriftlichkeit, sucht Mimikry an mündliches Erzählen. Die Formel ist verbreitet: Zu Beginn des ,Ortnit' heißt es in der dritten Strophe: E% wuohs in Lamparten ein gewaltiger künic rieh.
(Ot 3,1)"
Die ,Virginal' setzt ein: Da% ich iu sage, da^ ist war. e% wuohs ein beiden %welef jar %e schaden manegem manne. (Vi 1-3)
Mit dem Heranwachsen des Helden (oder seines Gegners) ist der Punkt erreicht, an dem der Erzähler anheben kann. Mit der wuobs-Formel konkurriert die was-gese'sgen- Formel. Sie nimmt nicht den Abschluß einer (selbst narrativ nicht entfalteten) Bewegung, sondern eine quasi statische Situation zum Ausgangspunkt des Erzählens: Uf Kunstenobel %e Kriechen ein gewaltiger künic sa%.
(Wo A i)
was %e Berne gesehen ein degen so verwegen. (La if.)
Diese Formel findet sich auch außerhalb der Heldenepik i.e.S. in verwandten Texten: Bi deme westeren mere sa% ein kuninc, der hei% Rother.
(R t if.)
ein konig hie bevorn sa% %u Kornevali^ der hi^ Marke, der orlogete starke.
(Trt 54— 50) 12
Beide Formeln können auch miteinander kombiniert werden wie im ,Orendel'; dort wird nach einem Prolog - Prologe zeigen wieder buchepischen Charakter an zunächst der Ausgangspunkt des Geschehens, Trier, genannt: dar inne was gesehen ein here wol vermengen, konic Ougel was er geheimen.
(Or 161-165)
Und erst nach Schilderung der idealen Herrschaft Ougels wird in einem zweiten Schritt unter Einsatz der »T/öfo-Formel, der eigentliche Held, Ougels Sohn Orendel, eingeführt: " In diesem Fall gehen - den buchepischen Charakter betonend - zwei Strophen voraus, die das Erzählte im Kontext der Schrifttradition situieren wollen. Wie im .Nibelungenlied' markiert die Formel nicht den ersten Beginn. 12 Als epische Einleitungsformel bietet sie sich auch in anderen Texttypen an; vgl. z.B. WvO: Ata her in Francriche sa% (133). 106
Unendliche Rede: ein Epos fängt an in %pch der kunic, da^ ist war, volleclichen uf dru^ehen jar. (Or i70f.)
Mit der E%-ivuohs- oder dertt>as-gese%%en-Fofme\können immer neue Handlungsfolgen aus der heldenepischen Welt herausgesponnen werden. Die was-gesesgenFormel nimmt die feste Fügung legitimer Herrschaft als Ausgangspunkt, die »v/o&r-Formel bezeichnet den Eintritt des Helden oder seines Gegners in den Raum heroischen Handelns. Der Punkt, an dem angeknüpft wird, kann selbst im Dunkeln bleiben. Heldenepik kann immer neue Verbindungen in der heroischen Welt herstellen und immer neue Punkte als Ausgang neuer Begebenheiten wählen.1' Im Zuge der Verschriftlichung scheint solch unvermittelter Einsatz als unangemessen empfunden worden zu sein. So sind Programmstrophen oder Strophen mit Quellenangaben zu erklären oder ausdrückliche Abweichungen vom Schema. Oder der Erzähler will nicht, was seiner Erzählung vorausliegt, in einem nebelhaften Nirgendwo belassen. Der voraussetzungslose Einsatz muß begründet werden. Im ,Biterolf legt der Erzähler, bevor er zu seinem Helden kommt und seinen Namen nennt,14 umständlich dar, warum er nicht auch die Vorgeschichte - vom Geschlecht seines Helden - erzählt: Von stnen alten mägen darf mich nieman fragen [...] der dise rede tihte, der lie^ uns unberihte [ ...] hate er iht da von geschriben, da% lie^e wir iuch unverdeit: uns hat des nieman niht geseit.
(Bit iyL; 2 3 f.; 26-28)
Hier hat sich ein neuer Erzähltypus des heldenepischen Personals bemächtigt. Heldenepik wird als schriftliche Historic gedacht, und Historic verlangt vom mittelalterlichen Chronisten genauere Fixierung in der Zeit und in der Folge der Generationen. Der Erzähler beklagt seine unzureichenden Quellen (Quellen dabei als schriftliche -geschriben - verstanden)." Indem er sagt, was er nicht weiß, was man aber von ihm erwartet, grenzt er sich von einem Erzähltypus ab, der den Beginn voraussetzungslos und absolut setzt. Auch im .Nibelungenlied' ist der formelhafte Einsatz, der nach keinem Vorher fragt, sondern sich damit begnügt, daß jemand irgendwo herrscht oder heranwächst, mit der Reflexion solchen Erzählens und dem Versuch, den voraussetzungslosen Beginn historisch-genealogisch einzubinden, kombiniert. Der Erzähler liefert Die Verzweigungen der französischen Heldenepik zu immer neuen .branches' hat Adler (1975) vorgeführt. Von dem man hie gesprochen hat, des wil ich niht haben rat ich enkunde tu sinen namen. (Bit 29—31) Metaphorisch auch rede, tihte.
107
Heroisches Erzählen und buchepische Komposition
gleich zu Beginn nach, was der des ,BiterolP schmerzlich vermißt hatte: das Geschlecht, die Verwandtschaft, die Gefolgschaft derer, von denen er erzählen will (Str. 3-1 z).'6 Dabei geht er differenziert vor. Am ausführlichsten werden Dynastie und Herrschaftsverband, dem Kriemhilt angehört, vorgestellt; knapper schon wird der Hörer über Sivrits Herkunft informiert; von Etzel (bei dem die Formel fehlt) erfährt man wenigstens den Namen des Vaters und des Bruders. Dagegen gibt es keine genealogisch-historische Einführung bei den Nibelungenkönigen, von denen man nur hört, daß sie küneges kint sind (87,3), und vollends nicht in der Geschichte Prünhilts, die traditionell voraussetzungslos einsetzt: E% was ein küneginne gesehen über se (326,1). Immerhin ist der schroffe Einsatz durch eine weitere Überleitungsstrophe (325) - also im Sinne schriftsprachlicher Kohärenzbildung - gemildert. Das Maß historisch-dynastischer Verankerung (Errungenschaft einer Schriftkultur, die sich der Vergangenheit zu bemächtigen beginnt) nimmt ab, wenn man sich aus der ,gewöhnlichen' Welt auf die fremden Schauplätze der Sage begibt. Buchepos und Initialformel: die unterdrückte Bewegung'7 Die beiden typischen Formeln des Epeneinsatzes, die eher .dynamische' (E% wuohs) und die eher ,statische' (E% was gesehen}, leiten den Übergang von (relativer) Ruhe in (heroische) Bewegung ein. Diesen Übergang vollzieht das .Nibelungenlied' gleich mehrfach, zweimal allein in der Eingangsaventiure. Die Bewegung, die mit der Initialformel (E% wuohs) einzusetzen schien, erstarrt sogleich im Bild des Wormser Hofes (3-12), das die eren der Protagonisten ausführlich verzeichnet. Danach setzt der Erzähler ein zweites Mal an, diesmal scheinbar, um eine Geschichte zu erzählen: In disen hohen eren träumte Kriemhilde [...].
(13,1)
Der Einsatz der Erzählung von Kriemhilts Traum thematisiert erneut die Spannung von Zustand (eren) und Ereignis (troumte). Doch was ist das für ein Ereignis? Der Traum bringt noch nicht die erwartete Handlung, sondern weist nur auf eine erst noch zu erzählende Handlung voraus und verdichtet sie wieder zum Bild. Das Bild muß ausgelegt werden, und die Auslegung der Mutter nimmt vorweg, was erzählt werden soll.
16
17
Zu den Auswahlmöglichkeiten aus dem Repertoire der Prologstrophen, das die Hss. verschieden nutzen S. 991". Ich knüpfe an Beobachtungen von Haug (1974/1989), bes. S. 299-303 an, der an den markanten Wendepunkten das Erschlaffen der Bewegung als (vergebliche) höfische Dämpfung heroischer Fatalität darstellte. Der Erzähltypus (vgl. auch Rupp, 1979, S. 250) geht freilich nicht in dieser Funktion auf. 108
Buchepos und Initialformel
Unheilverkündende, trotzig oder leichtsinnig beiseite geschobene Träume sind typische Elemente heroischen Erzählens. Auffällig ist hier die Placierung, da der Traum vom Nexus der folgenden Begebenheiten geschieden bleibt, zeitlich beziehungslos neben (oder auch: irgendwann vor) ihnen steht und keine Wirkung hervorruft (etwa, wie üblich, einen Versuch, die Gefahr zu vermeiden, um ihr desto sicherer zu erliegen).18 Der Traum scheint von den Akteuren später schlicht vergessen zu werden. Der Einsatz der Erzählung täuscht also; nichts wird in Gang gesetzt. Was erzählt wird, ist nur dem ersten Anschein nach ein Ereignis, in Wirklichkeit aber enthält der Traum eine Metapher, dank deren Auslegung der Hörer vorweg überblickt, was ihm erst noch erzählt werden soll. Die Bewegung erstarrt zum zweiten Mal zum Tableau, statt wie beim ersten Mal zum Tableau der eren diesmal zu einem des Unheils. Schon weniger ausgeprägt ist die Spannung zwischen Ruhe und Bewegung in der zweiten Aventiure. Auch dort wird die Unvermitteltheit des Beginns, die die w»öÄj-Formel anzeigt, in der Skizzierung des ständischen und lokalen (»historischen') Kontextes in Xanten aufgefangen; auch dort wird das Bild eines idealen Hofes in ,durativer' Rede entfaltet, anhand wiederholter, zeitlich nicht näher artikulierter Geschehnisse: In sinen besten %iten, bi sinen jungen tagen (22,1), vil selten (25,1) oder in den ohne Zeitadverbien beschriebenen Zuständen. Auch dort beendet, mit dreifachem Anlauf eingeführt, nur scheinbar ein Ereignis die Schilderung dauerhafter höfischer Harmonie (Er was nu so gewahsen da^ [...],'9 24,1; Nu was er in der sterke da^ /"..._/, 26,1; Do hie^ sin vater Sigmunt künden [...], 27,1). Denn dieses Ereignis - die Schwertleite - ruft wieder nur ein weiteres Bild höfischer Idealität herauf. Das Epos hat Mühe, in Gang zu kommen. Erst in der dritten Aventiure wird das anders (er horte sagen märe, 44,2; Do gedabt ufhohe minne, 47,1; do sprach, 48,4). Das Motiv der Fernliebe leitet zum Schema der gefährlichen Brautwerbung über, das heroische Aktion verspricht. Aber noch bevor Sivrit Gelegenheit zu seiner ersten Bewährung erhält, wird die Bewegung unterbrochen, um Hagen Gelegenheit für seinen Rückblick auf frühere Taten Sivrits zu geben. Der Hörer erfährt, daß die eben eingeleitete Initialaventiure, die Werbung um Kriemhilt, gar keine Initialaventiure ist. Sivrit ist in heroischer memoria schon Held, bevor er überhaupt auf der Vorderbühne agieren darf. Und dann ist auch sein lange herausgezögerter kriegerischer Auftritt in Worms sogleich wieder zu Ende: statt die gewaltsame Konfrontation auszufechten, leitet Günther Bewegung und Provokation wieder in einen Zustand höfischer Harmonie, in die der Herausforderer sich dauerhaft einordnet:
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Angedeutet wird eine Konsequenz aus dem Traum allenfalls in 46,3: da^ si deheinen rvolde %e eime träte hän, doch in Bezug auf Sivrit spielt das Gelöbnis, das der Traum hervorruft, keine Rolle. Die von der «weAr-Formel ausgehende Bewegung ist ans Ziel gelangt. 109
Heroisches Erzählen und buchepische Komposition Sus wont' er bi den herren, da^ ist alwar, in Guntheres lande volleclich einjär. (138,1 f.)
Die Strophen 3-12 unterliefen die absolute Setzung des heldenepischen Beginns, indem sie ihn in ein dem Typus nach wohlbekanntes Umfeld stellten. Und wo die Programmstrophe ganz unbestimmt Geschehnisse nannte, die sich immer wiederholen und unabsehbar fortsetzen können - fröuden, bochge^iten, weinen, klagen, küener recken strtten -, hob der Erzähler mit Beschreibungen einer nahezu bewegungslosen Idealität an, die dreimal, doch immer nur kurz, gestört wurde: durch den Traum, Sivrits Entschluß zur Brautwerbung und seine Herausforderung Günthers. Die Werbung kommt weder zum Ziel, noch wird sie abgewiesen. Ein neuer Schwebezustand tritt ein. Zwei gleichermaßen ideal geschichtslose Welten in Worms und Xanten scheinen miteinander verschmolzen zu werden. Die Eingangs for mein weisen in falsche Richtung. Mit ihrer Hilfe wird ein Spannungsfeld von Ruhe und Bewegung umrissen, aus dem die programmatisch angekündigten heroischen Handlungen zunächst ausgeschlossen sind. Statt die Geschichte in Gang zu bringen, wird mit Hilfe der Formeln eine Szenerie befriedeter Ruhe aufgebaut, in der sich die Geschichte nur zögernd, aber trotz allem zuletzt eben doch, durchsetzen wird/ 0 Integriert werden die selbständigen Teile durch die Parallelisierung der Eingangs formein, wodurch isolierte Handlungen und Handlungsfelder miteinander verbunden werden. Zuerst wird die Heldin vorgestellt, dann der Held, dann in der 6. Aventiure beider Gegenspielerin Prünhilt. Die Formeln weisen nicht über den Text hinaus auf eine übergreifende heroische Überlieferung, aus der nur eine unter vielen möglichen Erzählungen eines unendlich sich fortsetzenden Geschehens abgerufen wird, sondern sie beziehen sich aufeinander und strukturieren ein intratextuelles Geflecht. Parallelität bedeutet Komplementarität. Die Figuren werden als zusammengehörig gekennzeichnet. Mit Mitteln traditioneller Epik entsteht somit ein schriftsprachlicher Verweisungszusammenhang. Bis zum Auftreten Prünhilts sind schon eine Reihe von Vorfällen erzählt worden, die aber ausnahmslos zur Stabilisierung des eingangs entfalteten Gleichgewichts führen. Mit Nu nahten vremdiu märe (139,1) hatte das Geschehen zu Beginn der 4. Aventiure neu eingesetzt mit dem siegreichen Kampf gegen Feinde von außen, nur um am Ende der 5. Aventiure erneut in einem großen Fest zur Ruhe zu kommen. Das Ergebnis ist wieder Stillstand; der Heros bleibt weiter tatenlos am Hof (324,1). Erst die 6. Aventiure leitet den Umschwung ein. Jetzt setzt die Handlung ein fünftes Mal ganz neu ein, und zwar diesmal auffälligerweise doppelt markiert: Iteniuwe märe [...] (325,i) 2 1 und - mit der alternativen
Haug (1974/1989), S. 302. Thelen (1984), S. 146 bezieht iteniuive auf den Erzähler, der so seine Geschichte als neu ankündige („the originality, the .newness' of the story which is to follow"). Nach dem Wortlaut ist Adressat des Neuen jedoch der burgondische Hof. no
Buchepos und Initialformel
Initialformel - E% was ein küneginne gesehen über se (326,1). Mit Günthers Entschluß (Do sprach der vogt von Rine, 329,1) beginnt das verhängnisvolle Unternehmen der Fahrt nach Isenstein. Die Alternative von Ruhe und Bewegung, die sich in der wuohs- und in der ivas-gese^en-Fotmel ausprägte, macht sich der Erzähler dabei auf eine paradoxe Weise zunutze: Die ,dynamische' wv/oAc-Formel mündete in die Schilderung eines Zustandes: der wohlgefestigten Herrschaft in Worms und der höfischen Welt Xantens. Die ,statische' was-gese^en-Fotmd eröffnet die PrünhiltHandlung, die die festgefügten Ordnungen von Worms und Xanten zum Einsturz bringen wird. Sieht man sich die Handlungen bis zu diesem Punkt an, dann fällt ihre lockere Verknüpfung auf: ,syntagmatisch' sind sie nur schwach integriert. Der Rhythmus von Ruhe und Bewegung scheint genau kalkuliert zu sein. Dabei stehen die Bilder höfischer Harmonie von Anfang an vor der Folie düsterer Vorausdeutungen auf das, was eigentlich erzählt werden soll und allein schon durch die Nennung der Namen - wie undeutlich auch immer - als Sagenerinnerung aufgerufen ist. Wo immer aber eine böse Wendung drohen könnte, wird die Bewegung aufgefangen. Die Drohung des Traums scheint mit Kriemhilts Entschluß, auf minne zu verzichten, gebannt. Von Sivrits gefährlichen Abenteuern erfährt man erst, wenn sie längst bewältigt sind. Seine Herausforderung burgondischer Macht mündet in einer friedlichen Einladung, der Sachsenkrieg in einem glänzenden Siegesfest. Weinen unde klagen werden vordergründig immerzu abgebogen und stehen als Drohung doch unablässig im Hintergrund. So sind von Anfang an die Adaptation der alten Erzähltradition und ihre Überschreitung ineinander verschränkt. Mit der Fahrt zu Prünhilt kündigt sich zum zweiten Mal das heroische Muster gefährlicher Brautwerbung an. Über nahezu sechs Aventiuren (6-11) erstreckt sich die Prünhilt-Handlung, die erste wirkliche Herausforderung, die auf der Vorderbühne abrollt. Auch sie mündet wieder in ein Fest, das die neu erreichte Harmonie darstellen soll, tatsächlich allerdings den Keim der Spaltung in sich trägt. Die Störung kommt diesmal nicht von außen, sondern von innen, und sie betrifft das Fest selbst, das zu scheitern droht." Wieder werden die Turbulenzen beruhigt. Die Befriedung scheint gründlich zu glücken: des wart diu vreudeguot (685,2). Eine zehnjährige, in neun Strophen (715-723) ausgebreitete Phase friedlich-unheroischer Herrschaft schließt sich an. Die potentiellen Kontrahenten werden räumlich weit voneinander entfernt. Aus der Eröffnungsformel der Handlung (In disen hohen eren iroumte Kriemhilde, 13,1) scheint eine Schlußformel geworden zu sein: In disen großen eren lebet'er [Sivrit] (715,1) und: Er bet den wünsch der eren (723,1). Die beiden Höfe repräsentieren aber nicht mehr wie zu Beginn bloß nebeneinander höfische Idealität, sondern sie sind Czerwinski (1979), S. 72-74 und 78f. hat das „Mißlingen der Feste" als Schlüssel zum Epos herausgearbeitet. III
Heroisches Erzählen und buchepische Komposition
durch eine gemeinsame Geschichte mit unaufgeklärten Zweideutigkeiten aneinander gebunden. Das motiviert einen weiteren Anlauf, die Handlung wieder in Gang zu bringen (A/»), jetzt durch Prünhilt: Nu gedaht' ouch alle %ite da^ Guntheres mp (724,1). Was da in Gang kommt, wird zunächst wieder iterativ (alle %tte) benannt, doch mündet der andauernde Zweifel in ein Ereignis, in die Einladung zum Fest. Damit wird die diesmal schon sieben Aventiuren umfassende, in sich wieder gestufte - Intrige um Sivrits Tod eingeleitet. Die Bewegung beschleunigt sich kurzfristig. Jetzt gibt es nur noch wenige Aufenthalte, den feierlichen Empfang oder die friedlichen Szenen vor Ausbruch des Streits der Königinnen (800-813). Nach der offenen Konfrontation zwischen Kriemhilt und der burgondischen Macht und dem Scheitern einer rechtlichen Klärung ist die Bewegung nur scheinbar stillgestellt. Die Wendung Do liefen si^ beliben (871,1) ist trügerisch. Sie drückt einen Schwebezustand aus, in dem nur noch die Gäste das höfische Vergnügen genießen, während in allen %iten die Mordintrige vorangetrieben wird (870,2). Eine kurze Phase hektischer Aktivität, dann wieder Stillstand. Sivrits Tod setzt schärfer als alles zuvor eine Zäsur, diesmal einen Zustand der Lähmung, nicht des Gleichgewichts. Kriemhilt verhindert den Vollzug der Rache, Sigemunt verschwindet aus dem Epos, und von Sivrits Sohn ist fortan nie mehr die Rede. Nach dem Tod des Heros gibt es in Xanten nichts mehr, das sich zu erzählen lohnte. Von nun an schweigt der Erzähler davon. In Worms aber tritt Stillstand ein: Prünhilt diu schäm mit übermüete sa%.
(
, )
Die Initialformel (was gesehen), auf die der Vers anspielt, scheint in ihrem Sinn verkehrt, denn sie markiert nicht mehr den Ausgangspunkt einer Handlung, sondern deren scheinbar unwiderrufliches Ende, von Prünhilt aus gesehen den (folgenlosen) Sieg - keine Rede davon, daß sie bekommt, was sie wollte -, aus der Sicht Kriemhilts die völlige Erstarrung. Tatsächlich geht aber von diesem Punkt illegitimen Triumphs ein neuer Impuls aus, von dem Prünhilt allerdings nicht mehr betroffen sein wird. Die Formel bezeichnet den Stillstand des Endes und den Stillstand, aus dem neue tödliche Kämpfe erwachsen werden. Prünhilt in ihrer übermüete und Kriemhilt, die man fallen %iten [...] klagen hört (1099,2), bleiben aus der Sivrit-Geschichte übrig. Der Antagonismus versteinert, Sieger und Besiegte stehen fest. Stillstand wird durch .sitzen' ausgedrückt: da si mit ir gesinde sit am vreude sa% (1102,3), heißt es von Kriemhilt. Die Situation des Anfangs ist verkehrt - Prünhilt nicht mehr in ferner Isolation, Kriemhilt nicht mehr Mittelpunkt einer mächtigen Königssippe und ihres Gefolges. Die Initialformel als Schlußformel, statt Anstoß die schiere Negation von Geschehen: Sus sa% si nach ir leide, da^ ist alwär, nach ir mannes tode wol vierdehalbe^jär. 112
(no6,if.)
Buchepos und Initialformel
Dem Zustand der Erstarrung sind - wie vorher demjenigen ereignislosen Glücks mehrere Strophen (1099-1106) gewidmet. Dann beendet Hagen den Stillstand , irgendwann': Do sprach der helt von Tronege (1107,1). Das ist dieselbe Wendung, mit der das Isenstein-Abenteuer auf den Weg gebracht wurde (Do sprach der vogt von Rine, 329,1). Scheinbar soll die Ausgangslage der Harmonie im Herrschaftsverband restituiert werden, doch tatsächlich gibt es einen neuen Konflikt, jetzt um das Nibelungengold, das von Sivrits Macht geblieben ist. Einige Strophen erzählen von Verhandlungen hin und her; die kurze Phase der Bewegung mündet in neue Gewalttat: Dar nach vil unlange (1116,1) wird der Hort nach Worms gebracht; der Raub mit unklarer Beteiligung, Gerichtsverfahren und erneut Stillstand: Nach Sifrides tode [...] si wonte in manigem sere driu^ehen jar (1142, if.): Dauer nicht als Ausgangspunkt von Aktion, sondern wieder als Lähmung, scheinbar für immer. In C 1162/1163 revoziert überdies ein zweites MutterTochter-Gespräch (um Kriemhilts Rückzug nach Lorsch) die Eingangsszene des Epos; doch statt um dauerhaften Verzicht Kriemhilts auf einen Mann geht es diesmal um die dauerhafte Nähe zu seinem Grab. Der Kreis scheint sich geschlossen zu haben. Nach dem Ende dieser 19. Aventiure, in der Mitte des Epos, liegt die tiefste Zäsur: Kriemhilt scheint der Möglichkeiten zur Rache endgültig beraubt. Sie erstarrt zur Ikone des Schmerzes: done gestuont ir klage des libes nimmer mere un^ an ir Jungesten tage.
(i 141,3 f.)
Wo iteniuwe mcere (325,1) zu .unerhörtem' Abenteuer gereizt hatten, sind iteniuwe leit (1141,1) Umschreibung eines in endlosen Wiederholungen kreisenden Zustandes des Verlustes. Der vom Beginn ausgehende Bewegungsimpuls scheint endgültig erschöpft. Der Einsatz der 20. Aventiure ist das Gelenk zwischen zwei ursprünglich getrennten Sagenkreisen. Er bildet die Mittelachse des Epos, die seine beiden annähernd gleich langen Teile (1-19; 20—39) scheidet. Im ersten Teil lassen sich vier Abschnitte unterscheiden: problemlose, kaum vorübergehend gefährdete Idealität (1-5), der siegreiche, doch auf Betrug beruhende Kampf um Prünhilt (6-10), die gegenläufigen Versuche von Aufklärung und Befriedung (11-14), schließlich der Mord an Sivrit und die Demütigung Kriemhilts (15-19). Der Übergang zur folgenden Handlungssequenz leitet sich nicht aus dem Vorausgehenden ab und benutzt keine Variante einer der Initialformeln. Der neue Anstoß muß von außen kommen. Der Erzähler wählt die blasseste Formel epischer Überleitung, die keinerlei Zusammenhang, gar Kausalität behauptet, sondern nichts als Gleichzeitigkeit aussagt: was in einen %iten do vrou H eiche erstarp. "3
(i 143,1)
Heroisches Erzählen und buchepische Komposition
Dadurch daß Etzel um Kriemhilt wirbt, erhält Kriemhilts Geschichte eine Chance, fortgesetzt zu werden. Von jetzt ab geht es immer rascher über wenige Ruhezeiten hinweg auf den Untergang zu: (i) Kriemhilts Restitution als Königin, (z) eine neuerliche verräterische Einladung, (3) Aufbruch und Zug der Bürgenden - diesmal nicht nur einzelner recken - in ein gefährliches Abenteuer und (4) die Vernichtung nahezu der ganzen zuvor aufgebauten Welt. Der Gesamtverlauf wiederholt den des ersten Teils, während die einzelnen Teile spiegelbildlich zueinander angeordnet sind: Der Harmonie des Beginns antwortet die Vernichtung am Schluß; dem Abenteuer um Prünhilt und seinem ambivalenten Verlauf der Zug zu Etzel mit seinen widersprüchlichen Signalen; der verräterischen Einladung Prünhilts diejenige Kriemhilts und - in der Mitte des Epos - Kriemhilts äußerster Demütigung ihre glänzende Erhöhung zur Hiunenkönigin. Die Abschnitte sind ungleich lang und unterschiedlich bewegt. Helches Tod und Etzels Werbung (zo.-zz. Aventiure) kommen in den sechs Strophen 1385-1390 zum Ziel/3 die Kriemhilt wieder auf der Höhe von eren zeigen, in genauer Umkehrung der Situation nach dem Hortraub: Mit vil großen eren, da^ ist alwar, wonten si14 mit ein ander un% an da% sibende jar.
(i387,if.)
Der Idealzustand ist jetzt aber nicht Ziel, sondern bloß neuer Ausgangspunkt für eine diesmal radikale Zerstörung. Mit der 23. Aventiure setzt, markiert durch das Zeitadverb Nu (N u het si wol erkunnen, 1391,1), die Bewegung neu ein, jetzt als Intrige Kriemhilts. Dieser Abschnitt (23-24. Aventiure) ist durch widersprüchliche Signale gekennzeichnet: freundliche Einladung und heimtückische Falle, Vorbereitungen auf eine hochge^it und auf einen Waffengang. Das setzt sich auf dem Weg zu Etzel und den ersten Szenen am Hoffort (2 5. -31. Aventiure): blutige Kämpfe und freundliche Empfänge, die mehrdeutige Begrüßung durch Kriemhilt, Etzel und die Helden an Etzels Hof, das Fest zwischen Verwandten und die allzeit drohende Gewalt. Das Resultat ist zunächst unentschieden, doch konfliktträchtig. Dann wird die Unentschiedenheit beendet. Die letzten Aventiuren (32. -39.) erzählen, wie einer nach dem anderen in den Strudel des Verderbens gezogen wird und fast alle sterben müssen. Der Erzähler scheint zu zögern, die heroische Handlung überhaupt in Gang zu setzen. Die Trübungen sind anfangs scheinbar unbedeutend und rasch bewältigt. Doch steigern sich die Störungen von Mal zu Mal. Immer länger werden die das Gleichgewicht gefährdenden Partien, immer prekärer die Friedenszustände, die sie beenden. Alle Beruhigungsversuche verfangen nicht. Der Konflikt wird vertuscht, totgeschwiegen, durch ein Machtwort unterdrückt, doch nur damit er umso ver2J 24
Zwischen 1386 und 1387 die Aventiurengrenze. Eine Variante der «'^«»-Formel; vgl. 1142,2. 114
Buchepos und Initialformel
hängnisvoller ausbricht. Blöcken ungleicher Länge, die diesen Konflikt langsam aufbauen und dann zögernd sich entladen lassen, sind knappe Phasen der Ruhe eingeschoben, anfangs noch höfisch erfüllte, im zweiten Teil nur noch leere Zeit bloßen Aushaltens. Läßt die Verknüpfung einzelner Episoden manchmal auf befremdliche Weise Zusammenhang, kausale Abhängigkeit, Plan und größere Handlungsfolgen überblickende Kausalität vermissen, so ist die Gesamtanlage überlegt disponiert. Die prägnante Schlüssigkeit der mären von Sivrits Tod und dem Untergang der Bürgenden, wie sie etwa die eddischen Lieder bewahren, ist aufgebrochen. Was dort nahezu notwendig erscheint, erweist sich hier als voraussetzungsreich: Es könnte auch ganz anders verlaufen. Im opaken Wechsel von Aktion und Ruhe stellt sich in den einzelnen Szenen der Eindruck der Kontingenz her, während im Großen genau das abläuft, was, wie man seit alters weiß, ablaufen muß. Die buchepische Konzeption spannt zwar mit verschiedenen Mitteln alles Einzelne auf das Ende hin, aber zunächst strafft sie nicht die Verkettung zur Katastrophe, sondern lockert sie im Gegenteil.1' Der offene Zeitraum der Heldensage wird hier zeitlich exakt vermessen. Bestimmungen kürzerer und längerer Zeiträume legen den Abstand zwischen den Episoden genau fest: ein Jahr ist Sivrit in Worms, bevor er Kriemhilt sieht (i38,if.). Sechs Wochen nach der Rückkehr vom Sachsenkrieg wird das Siegesfest gefeiert (257,2). Vierzehn Tage dauert Günthers und Kriemhilts Hochzeit (686,1). Bis ins zehnte Jahr herrschen Sivrit und Kriemhilt glücklich in ihrem eigenen Land (715,2). Dreizehnjahre trauert Kriemhilt um Sivrits Tod (1142,2). Nach sieben Jahren wird ihr Sohn mit Etzel geboren (1387,2). Solche Zeitangaben haben stets auch paradigmatische Bedeutung, d.h. sie wollen kein exaktes chronologisches Gerüst für die Handlung erstellen, sondern dienen der epischen Qualifizierung von Sachverhalten: Kriemhilt trauert ,sehr lang', der Hort ist ,unermeßlich groß', weshalb sein Transport ,viel Zeit kostet' (1122,2-4). Doch gehen die vielen kleinen und großen Zeitangaben in paradigmatischen Funktionen nicht auf. Sie zeigen an, wie Erzählzeit und erzählte Zeit sich gegeneinander annähern, die leeren Zeiten der Dauer immer kürzer werden und zuletzt im nur wenige Tage dauernden Taumel der Vernichtung untergehen. Nachdem Kriemhilt Jahrelang' glücklich geherrscht hat, geht es vom Aufbruch der Bürgenden an immer rascher. Der Zug zu Etzel (25.-28. Aventiure) bietet die letzten retardierenden Momente; die Aufenthalte aber sind nur kurz: einen tac/und ouch die naht mit vollen in Passau (1630,1^), zwar un^ an den vierden morgen in Bechelaren (1691,2), doch ist die Zeit gestundet: E% enkunde niht wem langer, si muosen dannen varn (1692,1). Der Rest verteilt sich auf drei Tage: den *' Haug (1974/1989), S. 303-305 und zusammenfassend 1987/1989 sieht darin eine Substitution „heroische^] Verhaltensschematik" durch das rein „subjektiv begründete[ ]" Wollen der Protagonisten. Mir scheint dieses subjektive Moment sekundär. "5
Heroisches Erzählen und buchepische Komposition
Vorabend der sunewende[] (1816,1), an dem der Konflikt noch in der Latenz bleibt (28.-30. Aventiure), die summnde selbst (30.-36.), an der er ausbricht, und den Tag danach (37.-39. Aventiure), an dem alles zugrundegeht. Ruhezeiten sind nur noch Phasen der Erschöpfung, bevor das Gemetzel weitergeht. Mit der Beschleunigung gehen Alternativen des Handelns mehr und mehr verloren, wie sie zumal in den langen Ruhephasen steckten. Weniger daß der Erzähler letztlich doch immer den Linien der Sage folgt, ist bemerkenswert/6 als daß neben dieser Linie andere Szenen denkbar werden, weniger verhängnisvoll, freilich auch weniger erinnerungswürdig. So heißt es unmittelbar vor der verhängnisvollen Jagd auf Sivrit: noch beten e% gescheiden genuoge 'sküniges man: done wolt' et Hagene nie des rates abe gän. (882,3f.)
Oder später in der spannungsgeladenen Atmosphäre an Etzels Hof, kurz vor dem Ausbruch: het iemen gesaget Bibeln diu rehten märe, er het' wol understanden da% doch sit da geschach. durch ir vil starken übermuot ir deheiner im s verjach.
(1865,2-4)
Wie solch eine Lösung ausgesehen hätte und was davon noch erzählenswert gewesen wäre, ist Nebensache gegenüber dem Umstand, daß sie erörtert wird. Das märe soll gerade nicht als zwingend notwendig erzählt werden. Das Buchepos läßt Alternativen erkennen, auch wenn sie nicht realisiert werden.
Das Ende und sein Dementi Im Epos sieht es am Ende so aus, als gebe es keinerlei Fortsetzung mehr: Diu vil michel ere was da gelegen tot. die Hute beten alle jäm er unde not. mit leide was verendet des küniges hohge^tt, als ie diu liebe leide Caller Jungeste git. Ine kan iu niht*1 bescheiden, wa^ sider da geschach: wan rit t er unde vrouwen weinen man da sach, dar %uo die edeln knehte, ir lieben friunde tot. hie hat da^ m&re ein ende: da^ ist der Nibelunge not.
(2378; 2379)
Das Ende der Geschichte, das Ende der Welt, von der sie erzählt und die Vollendung des Epos fallen ineins. Mit einer und derselben Geste resümiert der Erzähler, 26
27
Vgl. Göhler (1989), S. 124-127: „Aber keiner dieser Möglichkeiten kann der Epiker ernsthaft folgen, da jede von ihnen ein Ausbrechen aus dem vorgegebenen Handlungsverlauf bedeutet hätte" (S. 125). Als Akkusativobjekt (,nichts') aufzufassen, das durch den ivati-S&tz spezifiziert wird. 116
Das Ende und sein Dementi
daß alle, von denen zu erzählen lohnte, metonymisch gefaßt als ere, tot sind, mit Ausnahme von Dietrich und Etzel; daß damit das mit der ersten Aventiure angekündigte Thema erfüllt ist, liep in leit, Freude in Klagen, Fest in Vernichtung umgeschlagen ist; daß er nichts mehr zu berichten weiß, außer daß alle Überlebenden weinen (2377,3) unc^ daß somit jede höfische Ordnung, deren Signum Freude ist, zerstört ist; schließlich daß die Geschichte einen Namen trägt: der Nibelunge not. Mit dem Titel*8 versinkt die Epenwelt in die absolute Vergangenheit. Diese Endgültigkeit des Endes war im Erzählvorgang immer wieder aufgeschoben worden. Im Sog aber, den das Ende ausübt, wurde jeder Aufschub weggespült. Es gibt keinerlei Perspektive, keinerlei „aedifikatorische" und „konsolatorische" Versöhnung, wie sie die christlichen Adaptationen heroischer Muster in den Heiligenlegenden des frühen Mittelalters leisten.29 Jeder Ausblick über das Ende hinaus wird verweigert. Bekanntlich hat nahezu keiner derer, die das Epos abschrieben, die vierfache Geste endgültigen Abschließens, wie sie die Schlußstrophen vollziehen, akzeptiert, sondern nahezu ausnahmslos alle haben dem Epos die Nibelungen-,Klage' angehängt. Schon deren Einsatz dementiert provozierend das absolute Ende, das doch eben dekretiert worden war: Hie hevet sich ein märe (Kl i).'° Das Epos läßt beunruhigende Fragen offen, die die .Klage' mit einiger Geschwätzigkeit zu beantworten sucht. Doch nutzt sie nicht die Möglichkeiten heroischer Überlieferung, die Taten der Helden unendlich fortzuspinnen. Auch die Geschichte der Nibelungen war, wie .Rosengarten', ,BiterolP, einzelne Passagen der Dietrichepik (,Buch von Bern') bezeugen, Teil unendlicher Rede, die sich in anderen Geschichten fortsetzen kann. Fortsetzungen können sich in der heroischen Welt voraussetzungslos anschließen. In der ,Virginal' heißt es: nu bat da% buocb ein ende. hcerent wie e% do ergienc: da disiu arbeit ende nam, ein ander schiere ane vienc.
(Vi 1097,10—13)
Erinnerungswertes gibt es immer wieder. Erzählen ist auf einen Erinnerungsraum bezogen, in dem viele Geschichten nebeneinander aufbewahrt sind und aus dem sie immer wieder abgerufen werden können. Vom Erinnerungsraum der Sage ist die buchepische Fortsetzung durch die .Klage' scharf unterschieden. Mit buchhalterischer Genauigkeit registriert sie die Totenklagen und die Bestattung der Helden, die wenig spektakulären Begebenheiten danach und die Sorge um eine gültige Aufzeichnung der Geschehnisse. Erzählt 28
Deutlicher handelt es sich in der *C-Gruppe - der Nibelunge liet - um den Titel eines Textes, während not auch den Gegenstand bezeichnet. 29 Haubrichs (1995). S. 27; 44. '° Was ist mit redebare gemeint: .redenswert', ,wert, weitererzählt zu werden' oder vielleicht doch eher ,redeträchtig', ,Rede auslösend'? (vgl. Kl C: da^ ist vil redebeere, 8.3). Das würde zu dem passen, was folgt: unablässiges Bereden.
"7
Heroisches Erzählen und buchepische Komposition
wird, wa^ sider da gescbach (2379,1), doch in einem anderen Sinne, als das im Epos gemeint war. Die vielen abgerissenen Fäden sollen wiederaufgenommen werden, auch wenn man tatsächlich kaum etwas Bemerkenswertes erfährt: Auf ihrem Zug zu Etzel hatten Günther und sein Gefolge die Höfe von Worms, Passau und Bechelaren zurückgelassen, die nacheinander in Kenntnis zu setzen sind, und auch ein Reich wie das Etzels kann nicht völlig zerstört sein: ein unheroisches Nichts an Folgehandlung. Die ,Klage' ist Zeugnis einer Irritation, eines Trauma, das unablässig neues Reden produziert. Sie steht unter Besprechungszwang. Ihren größten Teil machen Reden der Überlebenden über das im Epos erzählte Geschehen aus: Beklagen der Toten, Kommentare über Vermeidbarkeit oder Unvermeidbarkeit der Katastrophe, Erzählen von deren Hergang für Abwesende. Hier kommt die „konsolatorische" Funktion einer erneuerten Heroik zu ihrem Recht; die „in der heroischen Dichtung sedierten Normen der Krieger- und Adelsgesellschaft" werden in ihrem „normsetzenden Charakter" von ihrer Zweideutigkeit befreit,3' die Figuren werden in beflissenen Erläuterungen des Erzählers, wer gen Himmel, wer zur Hölle fuhr, moralisch in Gute und Böse sortiert. Erörtert wird, wer Täter, wer Opfer war und welchen Platz jeder in heldenepischem Gedenken einzunehmen hat. Die leere Zeit nach dem absoluten Ende ist zu füllen, mit wortreichen Klagereden - wo Kriemhilt einfach schwieg -, mit ausufernden Begräbniszeremonien - wo das Epos die Figuren im Schmerz erstarren ließ -, mit banalen Fortsetzungen durch Figuren des zweiten Glieds - wo es keine Fortsetzung gibt, nachdem die Helden tot sind. Wie weit diese Fortsetzung geht, ist, wie skizziert,32 in den einzelnen Handschriften unterschiedlich. In keinem Fall wird der Untergang als Endpunkt akzeptiert. Die ,Klage' stellt den geschichtlichen Zusammenhang her, indem sie die Geschicke der Überlebenden berichtet, zu Dietrichs Rückkehrabenteuern überleitet, also den heldenepischen Raum in die gewöhnliche Feudalgeschichte öffnet, die sie sogar bis zum Thronwechsel in Worms weiterführt. 33 Günthers Sohn erhält seine Chance, und dem burgondischen Reich scheint der Aderlaß trotz Strömen von Tränen nichts auszumachen. Insofern wird das Geschehen kontextualisiert, der Untergang der Protagonisten mit einem Netz dynastischer Beziehungen umgeben, die, wo sie schon im Epos angelegt waren, ausgebaut werden (Pilgrim von Passau!). Vor allem aber wird die im Buchepos angelegte Möglichkeit, Alternativen auszudenken, weiter getrieben: Wäre nur Etzel rechtzeitig informiert worden, denn dann hätte er doch ... :
51
Haubrichs (1995), S. 44; S. 36; im Nachdenken über Kriemhilts Ende oder im leidvollen Tod Gotelints und Uotes scheint sich auch ein Bemühen um eine „Akkomodation von labor sanctorum und labor heroum" auszuprägen (ebd., S. 37). »' Vgl. oben S. 95 f. " Müller (1985), S. 75-77; McConnell (1986^. 118
Das Ende und sein Dementi man mäht e% lihte erwendet han. der Et^eln hete kunt getan von erste diu rehten märe. (Kl 283-8 5)'*
Wären sich Sivrit und Kriemhilt nur nie begegnet, dann ... : man sol undanc der wtle sagen in der diu not geschähe, unt da^ Kriemhilt ie gesahe des edelen Sif rides lip. (Kl 546-49)
Selbst Hagens Wüten war nicht unvermeidlich: het diu künegin da% eine lan da^ si Bladelinen Hagenen den bruoder sinen %e tode niht heilen s/an: sotie war es alles niht getan.
(Kl 1 304-08)
Wo sich im Epos der Nexus der Untergangssage gegen alle Ablenkungen durchgesetzt hatte, wird jetzt auch der unscheinbarsten Veränderung die Kraft zur Abwendung der Katastrophe unterstellt, das Geschehen aus seiner erratisch-fraglosen Selbstverständlichkeit entlassen. Solche Überlegungen, so banal sie auch sein mögen, verweisen auf ein nun durchgängig verändertes Erzählkonzept. Jedes Ereignis steht in enger Beziehung zu anderen Ereignissen, wirkt auf sie, wie es von ihnen beeinflußt wird. Es gibt immer auch eine andere Möglichkeit. Zeit ist ein Kontinuum, in dem es keine leeren Phasen des Stillstandes gibt. Die ,Klage* muß als ein Werk der Schriftkultur nicht ökonomisch mit Erinnerungskapazitäten umgehen, sondern kann alles, was vorfällt, protokollieren. Sie kennt den absoluten Anfang so wenig wie das totale Ende. Sie kommentiert und korrigiert kommentierend nicht nur, was das Epos erzählte,5' sondern widerruft den Typus von Geschichte, der erzählt wurde. Auch im Detail wird die Erzählung ,in Ordnung* gebracht. Das beginnt mit der Vorstellung des handelnden Personals. Wo das Epos unkonventionell mit Kriemhilt einsetzte, dann zu ihren königlichen Brüdern überging und dann deren Geschlecht erwähnte, hält die , Klage' die richtige, d.h. die dynastische Ordnung ein: zuerst das Geschlecht (vertreten durch den alten König Dancrat), dann seine heldenmäßigen Söhne und die Königin Uote, die mit ihm die Krone trägt, und dann erst die sivester, die doch die Hauptperson ist.'6 Und solche Gewissenhaftigkeit setzt sich fort. 54 31
i6
Ähnlich Kl pizf., 944f., 1115-1117, i2i4f., 1248, 1256-1259. Vgl. Gillespie (1972): „commentary, not only on the text which we have, but also on the story of the Nibelungen" (S. 154). Kl *C hat wieder eine andere Ordnung, doch auch sie ist regelgerechter: die Könige, ihr Land, ihr Geschlecht (die in diu erbe tiefen, Kl C 32), Dancrat und Uote, dann (noch einmal) deren drei Söhne, dann erst die Tochter (Kl C 41 f.). 119
Heroisches Erzählen und buchepische Komposition
Damit setzt sich die ,Klage' von einem älteren Erzähltypus ab, der schon im ,Nibelungenlied' in Richtung auf buchepische Integration transformiert wurde und am ehesten noch in Randzonen der nibelungischen Welt am Platz ist. Diese Abkehr hat die ,Klage' an einer Stelle ausdrücklich vollzogen: Einmal nämlich behauptet der Erzähler, passen zu müssen, wenn er sagen soll, was aus Etzel geworden ist: des enkan ich der warheit iu nah nie men gesagen. (Kl 43z6f.)
Solch eine Abwehrgeste ist nur scheinbar mit den Schlußversen des Epos identisch. Mit Etzels Verschwinden wird eine Figur verabschiedet, die in der voll ausgeleuchteten Welt der ,Klage' keinen Platz hat. Etzel verschwindet so spurlos aus der Geschichte wie die Xantener im ,Nibelungenlied' am Ende des ersten Teils, doch aus ganz anderem Grund. Im Epos treten Figuren kommentarlos von der Bühne ab, wenn sie als Helden abgedankt haben und nicht mehr gebraucht werden. Die Schrift dagegen muß sich Rechenschaft auch über Lücken geben. Etzels weiteres Schicksal fällt in solch eine Lücke. Die unwirschen Worte der ,Klage' über seine Zukunft spielen die Überschaubarkeit einer (klerikal geprägten) Schriftkultur gegen die wilde Welt der Sage aus, wie sie in mündlicher Heroik bewahrt ist. Was nämlich der Erzähler als mehr oder minder absurde Alternativen für Etzels Ende anbietet, ist wirre Sage, bei der niemand etwas Rechtes weiß und jeder etwas anderes behauptet: sümeliche jehent [...]: so sprechent sümeliche nein (Kl 4328f.). Anfänglich werden noch Versionen von Etzels Ende erwogen, die dem heroischen Geschehen gemäß sind (manche sagen, er wurde erschlagen; andere meinen, daß nicht), doch dann bringt der Erzähler zunehmend aberwitzige Dinge vor: Vielleicht fuhr er gen Himmel, vielleicht zur Hölle, vielleicht auch aus der Haut, vielleicht verkroch er sich in der Erde. Curschmann hat auf den Gestus der Distanzierung des gelehrten Klerikers von dem, was man sich so erzählt, aufmerksam gemacht: „Das sind (fast ironische) Rationalisierungen eines Literaten, der sich eben nicht die Mühe macht, gattungsgemäß zu literarisieren".37 Mir scheint dies programmatisch zu sein und auf ein literarisches Bewußtsein zu verweisen, das sich von mündlicher Tradition distanziert: Auf heldenepischem Niveau mögen diese Vorschläge nicht sein, jedenfalls bewegen sie sich in der ,Klage' auf einem Niveau weit unter dem Interesse des Erzählers. Im Gewirr der Sage ist zwischen läge und warheit nicht zu entscheiden (Kl 4331 f.), denn die eine Autorität, die vom tibtcere verantwortete Schrift, schweigt sich dazu aus, so gerne der Erzähler mehr über Etzel berichtet hätte: Uns seit der tibtare, der uns tihte dit^e m&re, e% emvar von im sus niht beliben,
" Curschmann (1992), S. 65: Der Verfasser stelle „verschiedene Hypothesen zur Wahl". 120
Buchepos und Sagenerinnerung er he t i^ gerne gescriben, da^ man wiste diu mcere, wie e% im ergangen wäre.
(Kl 4349-54)
Dem einzigen, der nicht in die beruhigenden Bahnen feudaler Normalität zurückkehrt, verwehrt der Erzähler den Weg in die schriftliterarische memoria (und die steht notwendig in der Obhut der derlei]. Auch darin gibt die ,Klage' eine schriftliterarische Antwort auf die ,Offenheit' der Epenwelt. Sie führt die Geschichte, soweit sie außerhalb ihres Interessenhorizontes liegt, rasch ihrem traurigen Ende entgegen. Der Heide Etzel bleibt da, wo er hingehört, im albernen Stimmengewirr der Sage. Der Erzähler im ,Nibelungenlied' wußte nicht mehr weiter, weil es nach der Katastrophe nichts Erinnerungswürdiges mehr zu erzählen gab. Derjenige der ,Klage* verstummt, weil er, was Etzels Ende angeht, keine Quelle hat, denn die Gewährsleute, die Vertrauen verdienen, wissen nichts. Der (schriftsprachliche) Sinngebungsversuch wird bezeichnenderweise dort abgebrochen, wo die Grenze der christlichen Welt erreicht ist. Noch der unfeste Platz des Passus über Etzels Ende in den ,Klage'-Handschriften deutet darauf hin, daß dieser Teil der Sage in die nach den Regeln der Schriftkultur verbindlich aufgezeichnete und verbindlich gedeutete Geschichte vom Ende der Nibelungen nicht gehört: In der *C-Bearbeitung nämlich geht der Passus der Nachricht von der schriftlichen Fixierung der Geschichte voraus; hier hat die Schrift das letzte Wort. In der *B-Fassung werden die Bemerkungen über Etzel ganz am Schluß angehängt; dann bleibt buchstäblich das letzte, was sich christlichschriftlicher Kontextualisierung sperrt, ausgeschlossen. Indem die ,Klage' das absolute Ende des Epos nicht akzeptiert und doch Etzel ein ruhmloses Ende bereitet, füllt sie die Leere, die für ein christliches Bewußtsein die alten mären aufgerissen haben, mit Sinn auf: Die Grenzen der Welt fallen mit den Grenzen der Christenheit zusammen.'8
Buchepos und Sagenerinnerung Mit der Verschriftlichung wird es möglich, unterschiedliche Register des Erzählens zueinander in Beziehung zu setzen. Im ,Nibelungenlied* gibt es Räume und Episoden, in denen Formen des Erzählens dominieren, die eher auf ,Sage' als auf ,Buch' zu verweisen scheinen. Zwar gibt es keinen empirischen Nachweis, daß eine bestimmte Episode im schriftlich fixierten Text aus mündlicher Dichtung übernommen wurde - ein solcher Nachweis würde auch nichts über die Funktion der Epi38
Für die Überlieferungsgemeinschaft von Epos und .Klage' stellt sich mithin die Frage nach der Christlichkeit anders als für das Epos allein (vgl. Knapp, 1987, S. 166). 121
Heroisches Erzählen und buchepische Komposition
sode im neuen Medium aussagen -, aber es lassen sich Erzählstrategien und -Strukturen beschreiben, die von schriftliterarischen signifikant abweichen und insbesondere Merkmale schriftsprachlicher Kohärenzbildung auffällig vermissen lassen. Vielleicht heißt es dem Erzähler zuviel Bewußtheit zuzutrauen, wenn man annimmt, er habe zwischen solchen Registern unterschieden. Doch auch wenn eine Unterscheidung nicht seinem ästhetischem Kalkül entspränge, ist sie dort denkbar, wo die Tradition, auf die er rekurriert, sie nahelegt. Ob es sich in solchen Fällen tatsächlich um Sage handelt oder nicht, ist gleichgültig. Entscheidend ist, ob der Erzähler erzählt oder erzählen läßt, wie man .traditionellerweise' erzählt hat. Im ,Nibelungenlied' hat man nach unterschiedlichen Erzählregistern bislang nicht gefragt. Die Kriterien dafür lassen sich auch schwer operationalisieren. An den Bemerkungen der .Klage' über Etzels Ende fällt die - ironisch pointierte Verworrenheit auf. So deutlich ist das .Nibelungenlied' nie. Doch ließe sich auch hier Abwesenheit oder Störung einer weiträumig disponierenden Ordnung als Indiz für eine .andere' Erzählweise auffassen.39 Jedenfalls sollten, das lehrt die .Klage', solche Störungen nicht vorschnell als ästhetisch fehlerhaft abgetan werden. Daß Registerwechsel in der Heldendichtung des 13. Jahrhunderts sinnvoll eingesetzt werden können, soll zunächst an einem anderen Buchepos, das Heldensage verschriftlicht, der .Kudrun', gezeigt werden. Den Versen über Etzels Ende stellt sich nämlich dort eine seltsame Episode aus dem König Hagen gewidmeten Teil zur Seite, und wieder läßt sich das spannungsvolle Verhältnis einer späteren Schriftkultur zu der Sagenwelt beobachten, von der sie erzählt. Der Passus findet sich beim Übergang von Hagens Jugendgeschichte in der Wildnis zu seiner Herrschaft als König in der Nachfolge seines Vaters. Nur an dieser Stelle erhält Hagen, der Großvater Kudruns und der erste Held, dessen Geschichte ausführlicher erzählt wird, einen Beinamen: Välant aller künige (K 168,2; 196,4). Dieser Name ist durch nichts, was bis dahin von ihm erzählt wurde oder künftig noch erzählt wird, motiviert. Es ist offensichtlich der Name, unter dem man Hagen kennt und sich von ihm erzählt: da bi was er bekant (K 168,2), denn Hagen ist eine berühmte Sagengestalt: des horte man in dem lande von dem beide sagen oder singen.
(K 166,4)
Ob dies wirklich so war oder ob es vom Erzähler nur fingiert wird, ist gänzlich ohne Belang, denn für das Buchepos ,Kudrun' zählt allein, daß eine Sagengestalt, nämlich die des .wilden Hagen' (K 199,4), in die Erzählwelt hineinragt und die Geschichte, die das Buchepos erzählt, mit dem verknüpft, was sonst noch so an Erzählungen umläuft. Jener andere Hagen der Sage soll mit dem Helden der .Kudrun' identisch sein.
Ich erinnere an Curschmanns (1979) Überlegungen zu A. 122
Buchepos und Sagenerinnerung
Der Hagen der ,Kudrun' wurde als Kind von einem Greifen entführt; er hat in der Wildnis drei Jungfrauen gerettet, mit denen er schließlich an den Hof seines Vaters zurückgekehrt ist; eine von ihnen wird er heiraten und mit ihr eine Tochter zeugen, die die Dynastie fortsetzen wird. Nachdem diese in einer der üblichen Brautwerbungsfabeln gegen den Widerstand des Vaters verheiratet ist, verschwindet Hagen aus der Geschichte. All dies rechtfertigt schwerlich seinen Sagenruhm, Schrecken aller Könige zu sein. Auch, was von seiner machtvollen Herrschaft und Rechtsprechung gesagt wird - von der Ausübung der Blutgerichtsbarkeit heißt es etwa: inner einem jare enthoubet er ah^ig oder mere (K 194,4; vgl. 194—i96)4° —, erklärt den Namen nicht zureichend, rationalisiert eher nachträglich seine Bedeutung, indem die Wildheit des Heros in die vertrautere Sprache feudaler Gerichtsbarkeit und näherhin in die quantitativ meßbare Effektivität des Blutbanns übersetzt wird. Starke Rechtspflege zeichnet den guten Herrscher aus, doch ohne daß daraus sich Sagenruhm ableitete. Auch Sivrit wird sie nachgesagt (714), seinen Ruhm als Heros aber verdankt er eben Hort und Drachenkampf. Mit dem Namen eröffnet sich ein Durchblick auf eine Erzähltradition, die der Erzähler gerade nicht thematisiert. Das wäre allein noch nicht auffällig, fänden sich nicht im Umkreis dieser Stelle weitere signifikante Abweichungen von der Erzählweise sonst, Signale einer Überlagerung von nurmehr anspielungshaft präsenter ,Sage' und dominierendem schriftliterarischen Konzept. Die Zone dieser Überlagerung umfaßt etwa die Strophen K 163-196, die die beiden Abschnitte von Hagens Biographie - seine Jugend und seine Investitur als legitimer Herrscher miteinander verknüpfen. Deutlich ist eine Fuge erkennbar zwischen zwei Erzählblöcken, die das Leben in der Wildnis und das in der Zivilisation erzählen. Die Verbindungsglieder sind Schwertleite, Krönung und Brautwahl. Diese Ereignisfolge aber wird seltsam inkohärent erzählt, mit Versetzungen einzelner Elemente gegeneinander und mit scheinbar überflüssigen Wiederholungen. Der in der ,Kudrun' vorherrschende Duktus der Kohärenzbildung wird immer wieder aufgegeben, indem assoziativ gereiht, vor- und zurückgegriffen, nicht linear fortgeschritten wird. Die zeitliche Reihenfolge wird unübersichtlich. Einzelne Strophen rekapitulieren zuvor längst Erzähltes, Hagens Taten in der Wildnis z.B. (Dar %uo wart er so küene [...], K 166,1; Er wuohs in einer wüeste [...], K 167,1), doch so, als erzählten sie davon zum ersten Mal. So entsteht der Eindruck, hier setze eine Geschichte neu ein, indem sie abkürzungsweise an Vorausliegendes erinnerte. Diesem Eindruck entspricht die - variierte - Epeneingangsformel, mit der die Episode beginnt:
Quantität ist in der ,Kudrun' wie in Heldenepik überhaupt häufig Mittel hyperbolischen Sprechens: Die Zahl der Hingerichteten ist Maßstab für eine erfolgreiche Rechtspflege.
123
Heroisches Erzählen und buchepische Komposition Wabsen er begunde bevollen %e einem man
(K 163,1).
Dieses wahsen setzt nicht die eben zu Ende erzählte Jugendgeschichte fort, sondern benennt jene Bewegung, die gewöhnlich der heroischen Handlung vorausgeht und hier in Hagens Krönung zum Herrscher mündet: Damit er im vollen Sinne Herrscher sein kann, muß er dazu ,herangewachsen' sein. Die zuvor erzählten Abenteuer in der Wildnis sind in keine klare Relation zu dieser Bewegung gesetzt; sie mögen darin eingeschlossen sein oder auch vor ihr liegen. Nachdem die sich verabschiedet haben, die ihn von dort zurückbegleitet hatten (K 164), wird der Held und künftige König noch einmal wie eine neue Figur eingeführt. Die eingeschobenen Strophen, die am Beginn seiner höfischen Karriere an den Sagenheld erinnern, weisen atypisch viele Brüche auf. Die Erzählung springt zwischen den Zeitstufen hin und her, ohne kausale Motivation oder den Versuch, Beziehungen zwischen den Handlungssträngen herzustellen. Dabei begründet sie ihren Wahrheitsanspruch mit der Formel des horte man in dem lande von dem beide sagen unde singen (K 166,4). Sie situiert sich also in der Mündlichkeit, was andere Formulierungen bestätigen: da% lobeten schane frouwen (K 165,3), a/s uns ist geseit (K 166,1), sit wart er genant (K 168,1), da bt was er bekant (K i68,2).41 Was man inhaltlich von dem, was ,man singt und sagt', erfährt (sein Aufwachsen in der Wildnis, sein Umgang mit Tieren, seine Schnelligkeit), hat man vorher genauer gehört; es erscheint im Rückblick dieser Strophen nur als vage Allusion, räumlich und chronologisch unbestimmt, wobei von der Geschichte des heroischen Königs, des valant aller künige, sogar einzig der Name bleibt. Erst mit K 169,1 (Im rieten sine mage, er würbe umb ein mp] und entschiedener dann mit K 171,1 (Sin vater hie^ in gäben) kehrt der Epiker auf die Vorderbühne zurück, zu dem Punkt, den seine Erzählung vorher schon einmal erreicht hatte: zur Geschichte der Erhebung Hagens zum Herrscher und zu seiner Heirat. Mit dem Rat der mage, eine Frau zu nehmen, wird das Erzählmuster (gefährliche) Brautwerbung aufgerufen, doch hat diese längst stattgefunden, und die Braut, die Hagen aus der Wildnis mitgebracht hat, ist längst errungen. Nach Hagens Rückkehr an den Hof der Eltern sind heroische Unternehmen nicht mehr angebracht, so daß die Schemaansage ins Leere geht. Stattdessen beginnt eine völlig undramatische Brautwerbung: Die Braut was im da vil nähen (K 169,2); sie zu gewinnen, verlangt keine Heldentat; gewaltlos fügt die Heirat Hagen in die dynastische Ordnung ein. Von jetzt an schreitet die genealogische Erzählung, die in der Friedensstifterin Kudrun gipfeln wird, wieder ordentlich vom einen Herrscher zum nächsten fort. Die chronologische Folge des Buchepos, das auch Unspektakuläres berichtet, setzt sich gegenüber dem, was die Sagenformel zu versprechen schien, durch. Die im Rückblick nurmehr anspielungshaft erinnerte Sagenwelt, in der Hagen seine Ju41
Vgl auch die Berufung auf das allgemein geltende Urteil (da^ beiden wolge^am, K 165,1). 124
Sivrits doppelte Jugendgeschichte
gend verbrachte - es ist die einzige mit mythischen und märchenhaften Elementen in der ,Kudrun' - wird rückblickend mit einem deutlich abgehobenen Erzählgestus präsentiert. Sie wird mit Mündlichkeit assoziiert. Es ist die Welt, die in der ,Kudrun' verabschiedet wird. Auch im ,Nibelungenlied' gibt es Passagen zitathaft-,sagenmäßigen' Erzählens, so in der doppelten Jugendgeschichte Sivrits.42 Dabei ist der Epiker in der Verknüpfung von ,Sage'4i und buchepischer Konzeption allerdings subtiler verfahren als in der ,Kudrun'. Die Sage vom Drachentöter wird weder weggelassen,44 noch ist sie nur an Spuren zu erahnen, die r.icht gründlich genug verwischt wurden. Sie wird als ,Sage' erzählt, d.h. als das, was einer, der es wissen muß, ,zu sagen hat'. Die Geschichte vom Drachentöter, wie man sie aus Hagens Mund erfährt, weist auf etwas zurück, das das Buchepos in den Hintergrund verbannt hat.
Sivrits doppelte Jugendgeschichte Bekanntlich gibt es zwei Versionen von Sivrits Jugend, nämlich die höfische Erziehung, von der der Epiker erzählt, sowie den Horterwerb und Drachenkampf, von denen Hagen berichtet.45 Allgemein wird die erste als die jüngere angesehen, wobei der Erzähler seine Absicht, dem Helden eine neue Identität zu verschaffen, nur mangelhaft durchgeführt habe. Auffällig ist immerhin, daß die beiden Versionen an zwei unterschiedliche Erzählinstanzen gebunden sind und daß die eine die verschriftete Stimme des Epikers, die andere der mündlich erzählende Hagen ist.46 Für mündliche Rede gelten andere Regeln und andere Kohärenzerfordernisse als die, denen sich der Erzähler sonst überwiegend verpflichtet weiß. Anders als die ,Kudrun' thematisiert das ,Nibelungenlied' Sage nicht nur als besondere Form des Erzählens, sondern auch als gebunden an eine bestimmte Erzählinstanz und an bestimmte Räume. Der Epiker wechselt die Register, wo man von der einen Welt in die andere übergeht. Dabei tritt er vorübergehend seine Rolle an einen der Prot42
4!
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Haug (1974/1989), S. 297 zum kalkulierten Bezug zwischen den beiden Erzählungen von Sivrits Jugend. Seitter (1987), S. 8if. ist m.W. der einzige, der auf die gänzlich andere narrative Präsentation verwiesen hat. .Sage' ist hier primär als ein Erzähltypus gemeint. Es muß nicht unbedingt auf eine tatsächlich mündlich erzählte Geschichte angespielt werden. Daß es dergleichen gab, spricht neben Erzählungen aus Nordeuropa auch der erst in der Frühen Neuzeit schriftlich fixierte ,Hürnen Seifried'. Curschmann (1992), S. 68 bemerkt zutreffend über Sivrits Jugendgeschichte, daß sie „so mächtig im allgemeinen Bewußtsein verwurzelt war, daß sie noch zwei Jahrhunderte später selbständig verschriftlicht werden konnte". G. Müller (1975), S. 96 sieht eine Funktion der Aventiure darin, „die wahrscheinlich immer noch gegenwärtige Erinnerung an einen länderlosen Recken von dunkler Herkunft" abzuschneiden; zusammenfassend jetzt Schulze (i997a), S. 136-141. Mertens (19963), S. 62 hat diese Doppelung als „buchepisches Gestaltungsmittel" erkannt, das paradoxerweise unter „Berufung auf die Mündlichkeit" eingesetzt werde.
Heroisches Erzählen und buchepische Komposition
agonisten ab.47 Hagens Erzählung vom Drachentöter und Hortbesitzer Sivrit ist weit stärker als die Überleitungsstrophen der ,Kudrun' - als eine mündliche Erzählung von präzis kalkulierter Unscharfe inszeniert, die souverän mißachtet, was man von einer schriftliterarisch kohärenten Erzählung erwarten müßte. Hagens Wissen ist , Sagenwissen', ein kollektives Wissen von dem, das alle angeht. Hagen geht deshalb bald vom ich zum wir über. Dieses Wissen Hagens muß nicht handlungslogisch .erklärt' werden. Es ist kein in einer besonderen Biographie kontingent erworbenes Wissen.48 Daß Hagens Erzählung von Sivrits Jugendtaten als erratischer Block eingeführt wird und nicht narrativ mit dem Vorausgehenden verknüpft, hat Signalcharakter: So kann sie „wie etwas ,Unerhörtes' wirken",49 denn Hagens Wissen kontrastiert scharf mit dem Wissen des Erzählers, der eben noch ganz anderes von Sivrits Jugend erzählt hatte: von seiner höfischen Erziehung unter der Aufsicht von Eltern und Hofleuten, dem Fest der Schwertleite, dem Zurückstellen eigener Herrschaftsansprüche hinter diejenigen des Vaters. Sivrit genießt denselben Typus von höfischer Erziehung und sorgfältiger Aufsicht (719,1), wie sie auch der jüngere Sivrit, Günthers Sohn, erfährt, der nie zum Heros stilisiert werden wird. Für die Taten des künftigen Heros ist, dieser Erzählung zufolge, wenig Platz. Einzig die Strophen 21 und 22 lassen ein anderes Bild vom Helden durchscheinen, von dem man vermuten darf, daß es das bekanntere war: er versuochte vil der ruhe durch eilenthaften muot. durch sines libes sterke er reit in menegiu lant. hej iva% er melier degene sit %en Burgonden vant! In sinen besten %iten, bi sinen jungen tagen, man mohte michel wunder von Sivride sagen, iva% eren an im wüchse und wi scane was sin lip. sit beten in %s minne diu vil westlichen wipS0 (21,2-22,4)
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Göhler (1989), S. 14 verweist auf das Aventiurenregister m, wo diese Entscheidung des Erzählers korrigiert ist; sie war also schon einem Bearbeiter im späteren Mittelalter aufgefallen. Auch Göhler stellt die Lückenhaftigkeit der Erzählung Hagens fest. Natürlich wäre es sonst, an gewöhnlicher Lebenserfahrung gemessen, „nicht wahrscheinlich", daß Sivrits Jugendgeschichte allein Hagen erzählt wurde (vgl. Dinkelacker, 1990, S. 87). Grubmüller (1994), S. 61, der die Bedeutung der Szene allerdings herunterspielt: „dieser ganze ins .literarisch Alltägliche' verharmloste Hintergrund wird überdies nur in gerade 16 Strophen (86-101) beiläufig im Rückblick durch Hagen referiert, damit ein wenig Respekt für Siegfried aufkommt". Der Inhalt dieser Verse könnte, aber muß sich nicht auf das, was Hagen erzählt, beziehen; sie werden allerdings meist so verstanden (vgl. Schulze, 19973, S. 138). Eiflers (1989) These, der „zwischen dem Ende der zweiten und dem Anfang der dritten Aventüre geöffnete Zeitraum" erlaube, die Jugendtaten Sivrits einzuschieben, faßt den Text wie eine historische Quelle auf, die auf eine Realität referiert, so daß Lücken und Widersprüche in der Repräsentation dieser Realität gefüllt werden müssen. Im referenzlosen literarischen Text ist eine solche Interpolation methodisch unzulässig (8.285; vgl. auch Falk, 1974, S. 118; Andersson, 1980, S. I57f; dagegen Schulze, 19973, S. 139: „Doch derlei Spekulationen sind eigentlich unangemessen"). 126
Sivrits doppelte Jugendgeschichte
Auch hier wird auf das verwiesen, was ,man sagt' (22,2). Auserzählt wird das, was Str. 21 andeutet, nicht, und der Begriff wunder wird sogleich so interpretiert, daß man nicht an den Drachentöter denkt, sondern an den jungen Höfling: Von eren, Schönheit, dem Erfolg im Frauendienst ist die Rede (22,3f.). Es entsteht sogar der Eindruck (21,4), daß Worms Ziel und Krönung seiner Laufbahn ist. Die Werbung um Kriemhilt erscheint im Erzählkontext als Initialaventiure, die sich der herangewachsene und zum Ritter promovierte junge Sivrit zusammen mit wenigen Gefährten vornimmt (44, 4yf., 5of.). Sein Entschluß (43), sich vor Übernahme der Königswürde ritterlich zu bewähren, hat nichts mit Horterwerb und Drachenkampf zu tun, sondern begründet schemagerecht den Entschluß zur gefährlichen Brautwerbung. Seine Jugend aber besteht in der Erziehung zum vollendeten Hofmann: Man %pch in mit dem vh\e als im da^ wol ge^am. Er was nu sogewahsen da^ er %e hove reit.
(23,1)
(24,1)''
Vil selten äne huote man riten lie da% kint. in hie% mit kleidern gieren Sigmunt und Siglint. sin pflagen auch die wisen, den ere was bekant.
(25,1—3)
Während der junge Ritter sich stets im Kreis der Hofleute bewegt, muß der Heros im Nibelungenland gemäß den Regeln der Sagenwelt'2 allein handeln: Da der helt al eine an' alle helfe reit (88,1). Das sollte nach 25,1 ausgeschlossen sein:" Bis zur Schwertleite erfährt man von keinerlei Abenteuer, die Fahrt von Xanten nach Worms aber endet schon An dem sibenden morgen (71,1) nach dem Aufbruch, ohne erwähnenswerte Zwischenfälle. Wo ist da Platz für den Hort und den Drachen? Gleichwohl hat Hagen als Sprachrohr eines kollektiven Wissens recht. Was er zu erzählen weiß, steht auf einer anderen Ebene als das, was der Erzähler zuvor berichtet hatte, hat diesem sogar die allgemeine Bekanntheit der Sage voraus, gegen die jener offenbar anerzählt, wenn er das höfische Bild der zweiten Aventiure dem Bild, das die Sage kennt, vorausgehen läßt. Die Erzählerrolle ist also gespalten. Während man in mündlicher Rede in der Regel dem jeweiligen Sprecher zurechnet, was er sagt, gibt es im geschriebenen Text von vorneherein mehrere Sprecherinstanzen. Die Spaltung der Erzählerrolle erlaubt, zwei zunächst inkompatible Aspekte des Heros vorzustellen und zwei zwar verwandte, doch durchaus unterscheidbare Erzählweisen zu konfrontieren.' 4 Hagens Rede läßt sich freilich nicht Eine höfische Umpolung der »wohs-Formel. Auch später bei der Rückkehr ins Nibelungenland heißt es: Der helt derfuor aleine (485,1). Vgl. Göhler (1996), S. 217. Der Versuch, .allein ausreiten' als literarische Verschlüsselung von Gemeinschaftsaktionen aufzufassen (der Held als Abbreviatur des gesamten Personenverbandes, Peeters, 1986, 8.7), rekurriert auf ein (euhemeristisches) Interpretationsschema, das von außen an den Text herangetragen wird. Curschmann (1992), S. 68 nennt Hagens Erzählung „unvollständig"; „der Hörer muß aus eigener Kenntnis des Sagenganzen ergänzen - oder u.U. unbefriedigt bleiben". 127
Heroisches Erzählen und buchepische Komposition
perspektivisch' dem Individuum Hagen zurechnen und insofern relativieren." Erzählen ist nicht von der Sehweise, der zufälligen Kenntnis oder gar den Interessen eines einzelnen abhängig. Erzähler wie Hagen sprechen nicht für sich selbst, sondern für das, was ,man sagt'. Zwischen dem, was der Erzähler, und dem, was seine Figuren sagen, besteht grundsätzlich kein Unterschied in Bezug auf den Wahrheitsund Geltungsanspruch.'6 Doch bleibt die genaue Abstimmung der beiden Versionen undiskutiert.' 7 Wenn man, wie üblich, an den Inhalten haften bleibt, sieht man nur den mißglückten Versuch einer höfischen Überformung des wilden Vorzeithelden: ausgerechnet der wohlbehütete junge Mann als Eroberer des sprichwörtlichen Nibelungengoldes und als Drachentöter!'8 So setzte sich die Ansicht fest, mit Umdeutungsversuchen dieser Art sei der Erzähler noch öfter gescheitert und so von einer Falle in die nächste getappt.'9 Nun wäre es dem Erzähler ein Leichtes gewesen (und Dutzende minderer Poeten sind in ähnlichen Situationen auf Auswege verfallen), die beiden Erzählungen aufeinander abzustimmen und Drachenkampf und Horterwerb irgendwann und irgendwo in der Geschichte der Jugend oder auch auf der Fahrt von Xanten nach Worms unterzubringen. Warum hat er darauf in so auffälliger Weise verzichtet, so wie er auch bei anderen Gelegenheiten so offenkundig desinteressiert ist, dem landläufig Erwartbaren entgegenzukommen?60 Auch mit dem geringeren Anspruch mittelalterlicher Rezipienten an Glaubwürdigkeit kommt man nicht weit, denn offenbar gab es schon früh Fragen an diesem Punkt. So bemüht sich die Bearbeitung *C, durch eine Zusatzstrophe zu glätten und Raum für eine zweite Karriere Sivrits neben der höfischen zu öffnen: E da% der degen chvne vol whse %e man, do het er solhiv wnder mit siner hant getan, da von man immer mere mac singen vnd sagen, des wir in disen stunden mv^en vil von im gedagen.
(C 21) '
" So die Lösung von Stech (1993), S. 71-80. Bäuml (1981), S. 119 parallelisiert - leider ohne nähere Ausführung - die Doppelung der Erzählerrolle mit den komplizierten Erzählfiktionen im höfischen Roman. '6 Weil er mit dem Wissen des Erzählers ausgestattet ist, kann auch Dietrich später Kriemhilt valandinne nennen (1748,4), während der Vorwurf von dem her, was das Individuum Dietrich wissen kann, unsinnig wäre. Ein „Stilfehler des jüngsten Dichters" (de Boor, S. 276) ist dergleichen nur unter den poetologischen Bedingungen des neuzeitlichen Romans. 17 Solch eine Aussage ist zu unterscheiden von den zuerst in die Homerkritik eingeführten Appellen an die Nachsicht des modernen Lesers mit Ungenauigkeiten in älteren Texten (das ,Schläfchen Homers'!). Es geht nicht um einen Rabatt auf eine immerdar und allerorten gültige Erzähllogik, sondern um die Erkenntnis historisch besonderer Erzählweisen. '8 Keine Nachfolge fand Falks (1974) bizarrer Gedanke, Sivrits Jugendtaten seien nicht wirklich, sondern „traumhafter, psychischer Natur" (S. 120), „Abenteuer im Reich der Psyche" (S. 121), „in der Phantasie" (S. 123). Echt germanistisch schließt Falk: „Richtig ist, daß Hagen dem Traumhaften keine Herrschaft über das Leben in der Ehrewelt einräumen wollte" (S. 120). " Andersson (1978), S. 38. 60 Vgl. u.a. Fromm (1990), S. 8. 61 Auch in Db; vgl. Batts, S. 8f.; Schulze (19973), S. 138 schließt daraus, daß B 2if. vom Redaktor als „Platzhalter" für eine zunächst abgewiesene Erzählvariante verstanden wurde. 128
Sivrits doppelte Jugendgeschichte
Wann das gewesen sein könnte, bestimmt eine zweite Zusatzstrophe, die der Erzählung von der Schwertleite folgt: In dorfte niemen schelten; sit do er wafen genam, ia gerwete vil selten der reche lobesam svchte niwan striten. sin ellenthaftiv hant t et in Ballen %iten in vremeden riehen wol bekant.
(C 43 )62
Die Erklärung bleibt, wie häufig in *C, rein punktuell. Noch für das, was er notdürftig unterzubringen trachtet, verweist der Bearbeiter von *C auf eine diffuse mündliche Überlieferung, auf das, was man ,singt und sagt' (C 21, 3). Indem er die Narbe zu tilgen sucht, erinnert er an ihre Herkunft. Was es mit jenen wnder auf sich hat, erfährt man nicht, und der Zusatz steht in manifestem Widerspruch zu dem, was die z. Aventiure auch in *C von Sivrits behüteter höfischer Erziehung zu berichten wußte.63 Die Zusatzstrophen haben daher keine Beweiskraft für ein .eigentlich' vorauszusetzendes Handlungsgerüst,64 sondern bezeugen nur, daß hier eine harte Fügung vorliegt, die für den Erzähler grundsätzlich relativ leicht reparierbar wäre. Wie leicht, zeigt das sog. Darmstädter Aventiurenverzeichnis, wo die Sage in die Geschichte von Seifrits Jugend eingebaut ist: A binfüre wie siferit wusch s>u stride und wie er hurnyn wart/vnd der nebulunge hurt gewan E er ritt er wart?"1
Die problematische, doch unproblematisch korrigierbare Zuordnung zweier Erzählabschnitte ist damit geglättet. Auch die späte Bearbeitung k aus Lienhard Scheubls Heldenbuch belegt, wie nahe dies lag. Die Erziehung zum höfischen Ritter am Hof zu Xanten ist dort ganz in den Hintergrund gerückt. Gleich die zweite Strophe, die von Sivrit erzählt, entspricht dem Bild der Sage: Er pflag vil grosser sterke der edel ritt er gut, Nach stürm und hartem streiten stund im sein sinn und mut; Durch streit und abenteure durchzog er manig lant, Bis er kam gen Burgunden der wunderkun weigant. (k 22)
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61
Auch in D, nicht jedoch in b (Batts, S. 14?-): Es gab, wie oben dargestellt, schon in den Handschriften verschiedene Grade beim Versuch, alltägliche Glaubwürdigkeit herzustellen. Vgl. C 24,1. Weggelassen dagegen ist in C die Strophe 24 der Vulgatfassung, die Sivrits Erziehung mit seinem Erscheinen bei Hof enden läßt. Vgl. dagegen Andersson (1980), S. 158. Erst der Bearbeiter öffne „seinem Helden einen Freiraum, den er später nach Bedarf ausfüllen wird, immer dann, wenn er die Requisiten der mythischen Tradition, des Unglaublichen benötigt" (Ehrismann, 1987, S. 115). Der Schluß daraus: „Auf einem der jugendlichen Streifzüge könnte also Siegfried Herr über das Land %en Nibelungen (484) geworden sein" argumentiert wieder vom Standpunkt des Historikers aus, der der besten Quelle für ein vergangenes ,Faktum' folgt. de Boor (1959), S. 176; 187. Der Drachenkampfist von dieser Geschichte getrennt (zu dessen mutmaßlichem Platz im Erzählgefüge: S. 189-191). 129
Heroisches Erzählen und buchepische Komposition
Der gewaltsame Auftritt in Worms ist hier Ziel der Bewährung als Heros, der Seifrit von Anfang an ist, indem er in seiner jugent vil mange tode schlug (k 27,2), indem sein Sinn nur Auf stürmen und auf streiten gerichtet ist (k 27,3) und indem er zwar wol in hüte seiner Eltern ist (k 26,1), doch ohne daß das Bild eines immer beaufsichtigten jungen Höflings entstünde. In k ist damit chronologisch plausibel eine Spannung beseitigt, wie sie die Vulgatfassung aufgebaut hatte, indem sie den Drachentöter zum höfischen Ritter stilisierte. Möglich war also die Integration der Geschichte des Heros und des höfischen Ritters allemal. Wo sie - wie in k - einem mäßig begabten Redaktor mühelos gelang, wird man die Verweigerung einer solch schlichten Auflösung in der Vulgatfassung wohl ernstzunehmen haben. Die beiden Versionen von Sivrits Jugendgeschichte repräsentieren unterschiedliche Weisen des Erzählens, das sorgfältiger dimensionierende schriftsprachliche des Buchepos und das informell-mündliche, das der Sagenfigur in den Mund gelegt wird. Das Sagenwissen vom Drachentöter wird suspendiert, bis es von Hagen nachholend bestätigt wird. Damit wird jedoch nicht einfach die vom Erzähler aufgebaute höfische Welt beiseitegeschoben. Vielmehr bleibt sie Widerpart dessen, was der Sivrit der Sage ist.66
Erzählen in fingierter Mündlichkeit: Hagens niuwemare Hagens Bericht von Sivrits Jugend ist nicht schlechter erzählt,67 sondern anders. Er unterscheidet sich von dem des Erzählers schon in der Zeitstruktur. Hagen ordnet das, was er zu erzählen hat, weder räumlich noch zeitlich dem bisher Erzählten irgend zu: Die Tat, die Sivrit zum Helden macht (die küenen Nibelunge sluoc des beides hant, 87,2), hat weder Ort noch Zeit, sie fällt aus der Kette der bisher erzählten Ereignisse heraus. Die Störung linearer Kohärenz, wie sie bis dahin vorgeherrscht hatte,68 fällt mit dem Übergang in eine andere Welt zusammen.69 Unklar sind die räumlichen Dispositionen: Wo liegt das Land Nibeluncs (das Epos spart sonst nicht mit geographischen Angaben, mögen sie auch von heute aus gesehen unpräzise sein)? Wie kommt man dorthin (Sivrit ist plötzlich ,da')? Die Umgebung ist rudimentär skizzierte Kulisse: vor einem berge (88,2) trifft Sivrit auf Krieger; ü% einem holen berge (89,2) - demselben? - wurde der Hort herausgetragen; ist es auch noch derselbe Berg, vor dem Sivrit später mit Alberich zusammenprallt, wenn beide wie 66
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Vgl. Wolf (1987), S. 180. Es handelt sich ebenso wie bei Kriemhilt um ein bewußt entworfenes Gegenkonzept. De Boor (1959), S. 185 spricht von „nicht eben klar[en] Andeutungen" - „er hat lediglich Unklarheit verursacht" — und vermutet deshalb für das Darmstädter Aventiurenverzeichnis m eine deutlich klärende Ausweitung. Reichert (1990), S. 308. Ehrismann (1987), S. n j f . 130
Hagens niuwemare
die Löwen an den here (97,2) laufen? Fragen, die heroisches Erzählen nicht stellt. Räumliche Unbestimmtheit ist alles andere als ungewöhnlich in Heldenepik: ,der' Berg, ,der' Baum, ,der' Brunnen genügen als Kulisse, ohne daß sie in ihrem Verhältnis zueinander näher bestimmt werden müßten; es kommt auf die Bedeutung derartiger Raumsegmente und Requisiten an, die sie dem Geschehen verleihen, nicht auf ihren Platz in einem raumzeitlichen Kontinuum. Auch das .Nibelungenlied' kennt noch diesen Darstellungstypus. Auffällig aber ist an Hagens Erzählung die Massierung solcher Eigentümlichkeiten. Hagens Bericht ist ,Rede' und macht als solche von deren Lizenzen Gebrauch. Seine Erzählweise ist mit der fremden Welt verbunden. Wenn Sivrit später dorthin zurückkehrt - %e einem [!] lande (484,2), wie es wieder seltsam ungenau heißt - wird der Raum - diesmal in der Rede des Erzählers - ähnlich undeutlich bleiben (,eine' Insel, ,ein' Berg, ,eine' Burg, 485,1-3). Nicht weniger unbestimmt die zeitlichen Relationen. Das unterscheidet den Passus von den mit exakten (wenn auch oft unwahrscheinlichen) Zeitangaben zueinander relationierten Erzähleinheiten des Epos: Was Sivrit, Hagen zufolge, mitbringt, ist ,neu* (niuivemare}, denn in der Tat haben die Ritter in Worms bisher nichts davon gehört, doch diese niuwemare ist nicht datierbar. Auch jüngste Vergangenheit darf man nicht assoziieren, denn was Hagen erzählt, ist überhaupt nicht auf den Fixpunkt irgendeines Jetzt bezogen. Zwischen dem herausragenden Ereignis ,damals', dem Erschlagen der beiden Könige, und .heute' liegen außerdem weitere heroische Taten, die in Raum, Zeit und Umständen noch weniger fixiert sind: er frumte starkiu wunder mit siner großen krefte sint (87,4). Nach der Geschichte vom Horterwerb geht Hagen zum Drachenkampf über: Noch rvei^ ich an im mere da^ mir ist bekant, einen lintrachen den sluoc des beides hant. (100, if.)
Der Wagnerkenner ist daran gewöhnt, daß Hort und Drache als Schatz und Schatzhüter miteinander verknüpft sind und daß der Gewinn des einen den anderen sein Leben kostet. Deshalb fragt er nicht näher nach: Geht der Drachenkampf voraus? Folgt er später (sint}'? Spielt er sich in derselben Gegend ab oder ganz woanders? Welche Verbindung besteht zwischen dem Drachen und den Nibelungenkönigen?70 Bei welchen ,häufigen' Gelegenheiten (dicke} erweist sich (100,4), daß Sivrit unverwundbar geworden ist? Nichts davon wird im Epos beantwortet. Die Relation der einzelnen Ereignisse zueinander bleibt undeutlich. Als Zeitadverb steht überwiegend das unspezifische sit zur Verfügung, das zwar einen , späteren' Vorgang von einem , früheren' abhebt, jedoch kein eindeutiges Verlaufsgefüge zu rekonstruieren erlaubt (94,3; 96,2; 97,3).
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Auch Göhler (1996), S. 218 sieht keine Verbindung; vgl. Stutz (1990), S. 412.
Heroisches Erzählen und buchepische Komposition
In der Welt, von der Hagen spricht, gibt es raumzeitliche Raster und logisch miteinander verknüpfte Geschehens folgen nicht: Sivrit ,ist', wenn er in Worms erscheint, ,der, der den Drachen getötet und den Schatz erobert hat'. Wie er dazu wird, bleibt unklar. Der Xantener Königssohn hatte eine Geschichte: Er wuchs heran, wurde sorgfältig erzogen, erhielt die Schwertleite, verzichtete zunächst auf eigene Herrschaft, entschloß sich zur Brautwerbung. Der Drachentöter dagegen hat keine Geschichte, die in einem raumzeitlichen Kontinuum verortet werden könnte. Sivrit ist von Anfang an der, den man kennt. In jenem Irgendwo ,findet' er fremde Krieger der Könige Nibelunc und Schildunc: die wären im e vremde, un^ er ir künde da gewan (88,4). Das ist eine seltsam leere Floskel, die im Fortgang noch rätselhafter wird: Sivrit kommt in eine für ihn völlig fremde Umgebung, die er erst jetzt kennenlernt, doch hindert das nicht, daß dort ir einer71 ihn schon kennt und sagen kann: hie kumt der starke Sivrit, der belt von Niderlant (90,3). Das sind der Name und der Beiname, unter denen Sivrit später berühmt ist - als der starke Sifrit wird ihn z.B. auch Prünhilt sogleich apostrophieren (416,2) -, doch wieso heißt er hier schon so? Bevor er seine Stärke gezeigt hat und ohne daß davon die Rede war, daß sich sein Ruf über Xanten hinaus verbreitete? Auch scheint ir einer nicht ein beliebiges Individuum, das sein zufällig erworbenes Wissen seinen Gefährten mitteilt, sondern was ir einer sagt, gilt für alle:7* ,Man' weiß, wer Sivrit ist, und deshalb muß auch niemand nachfragen, wen der Sprecher mit diesem starke[n] Sivrit denn eigentlich meine. Sivrit wird von Anfang an also als der Held identifiziert, der er doch eigentlich erst noch durch eine heroische Tat werden müßte. Vorher und Nachher haben keine Bedeutung. Unklar sind weiterhin Anlaß und Verlauf des Streits: Sivrit ,sieht* den Versuch, den Nibelungenschatz zu teilen. Er wird freundlich empfangen, und man überträgt ihm den Schiedsspruch. Er stimmt zu, erhält das Schwert %e miete (93,1), doch scheitert er an der Aufgabe (er'n kunde^ niht verenden, 93,4). Die Auftraggeber geraten in Zorn (93,4). Ihre riesenhaften friunde sind plötzlich da (94,i)73 mit 700 weiteren Kriegern, die alle durch das Schwert Balmunc bezwungen werden. Es folgt die Unterwerfung des lant %uo den bürgen (95,4) unter Sivrits Herrschaft. Dann erst wird gesagt, daß die beiden Könige erschlagen werden. Später - oder infolgedessen? - (sit: wann eigentlich?, 96,2) wird Sivrit von Alberich bedrängt.
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Das wird von Eifler (1989), S. 280 im Sinne wahrscheinlicher' Verknüpfung paraphrasiert: „als Siegfried näherkommt, wird er von einem der Beteiligten erkannt" - so als hätte ihn jemand schon einmal gesehen und als wüßte daraufhin jeder, wer gemeint ist; beides sagt der Text nicht. Auch Hagen wird von den Wasserfeen, ebenfalls Bewohnern jener anderen Welt, später sofort erkannt und mit Namen genannt werden (1535,2). Bei Heroen versteht sich das. Wo steht eigentlich: „sie bieten ihre Anhänger gegen Siegfried auf, darunter zwölf unerschrockene Männer, da% starke risen waren" (Eifler, 1989, S. 280)? So oder ähnlich könnte man sich den Verlauf denken, handelte es sich um einen Tatsachenbericht. Das Epos sagt nichts davon. In Hagens a-logischer Darstellung heißt es: Si beten da ir friunde spvelf küene man [...] (94,1).
Hagens niuivemare
Das ist alles andere als klar, besonders was Ursache und Folge betrifft. Unklar schon die Rolle Sivrits. Er ist bei den Fremden bekannt, obwohl man ihn doch erst noch kennenlernen muß. Nur als der starke Sivrit ist er für die Schiedsrichterrolle qualifiziert, aber als der starke Sivrit erweist er sich erst, wenn er sich allein gegen eine weit überlegene Schar von Kriegern behaupten muß. Er gebraucht dabei, als die Teilung mißlingt, das Schwert, das man ihm zum Lohn schenken wollte (wenn es dasselbe ist); es ist an erster Stelle dieses Schwert (und erst an zweiter der küene[] man, 95,3), das die Leute der beiden Könige zur Unterwerfung zwingt.74 Worum geht es eigentlich? Um Erbteilung? Warum mißlingt sie? Nur das Resultat erfährt man: er'n kunde^ niht verenden: si wären %ornec gemuot (93,4). Beachtung verdient das waren (statt etwa wurden), denn es stellt die Aktion Sivrits und die Reaktion der Könige in kein exaktes zeitlich-kausales Verhältnis, so daß, streng genommen, unklar bleibt, ob der Zorn Reaktion auf das Mißlingen der Teilung ist oder ob die Teilung mißlingt, weil die Kontrahenten bereits %prnec sind: Die Situation ,ist' konfliktträchtig, und so artet sie folgerichtig in Gewalt aus; der Kampf ist im Gange, ohne daß gesagt werden muß, daß er anfing. Auch sonst bleibt vieles dunkel. Woher taucht Alberich plötzlich auf (er kom von Albriche sit in grd^e not, 96,2)? Wann und in welcher Form hat man sich einen Vorgang eigentlich vorzustellen, wie ihn der Vers erzählt: da^ lant %uo den bürgen si im täten undertän (95,4)? Doch schwerlich - wie die Erzählprogression nahelegen könnte - vor dem Tod der Könige (96,1) und vor dem Kampf mit Alberich (96, zff.)? Vermutlich aber vor der Rückführung des Schatzes und der Bestellung Alberichs zum Kämmerer? Folgt man Hagens Rede, dann steht das Ergebnis der Unterwerfung von Land und festen Plätzen schon fest, bevor - nahezu nebenher - erwähnt wird, daß Sivrit auch die Könige erschlägt. Am Ende das Resümee: Die da forsten vehten, die lägen alle erslagen (98,1) - doch worauf bezieht es sich? Alberich, mit dem Sivrit der voraufgehenden Strophe zufolge (97) gekämpft hat, kann nicht gemeint sein, denn er überlebt. Werden damit die Vorgänge bis zum Tod der Könige (96,1) zusammengefaßt? Warum aber folgt der Vers erst zwei Strophen später, nach dem Kampf mit Alberich? Natürlich weiß man intuitiv auf all die Fragen, wie sie eine mißtrauische Lektüre aufwirft, eine Antwort: Es wird schon derselbe Berg sein, von dem immer wieder die Rede ist. Wenn die Söhne sich um einen Schatz streiten, der dem Vater gehört hat, und dieser Vater nirgends auftritt, wird er wohl tot sein, der Streit also ein Erbstreit. Alberich wird schon unter den alten Herrschern mit dem Schutz des Schatzes betraut gewesen sein, und so fort. Fragen wie die skizzierten werden professionelle Leser des .Nibelungenliedes' deshalb zurecht als unangemessen zurückweisen, denn es besteht Einvernehmen darüber, daß im heroischen Epos nicht Wie man wohl naheliegenderweise schließen muß, ist es das eben gewonnene Schwert, das von den jungen recken gefürchtet wird. Gesagt wird das nicht.
Heroisches Erzählen und buchepische Komposition
in linearer Progression und mit Anspruch auf möglichst vollständige kausale Verknüpfung erzählt wird. Das gilt auch sonst an einer Reihe von Stellen für das »Nibelungenlied', freilich nirgends so auffällig wie in Hagens Erzählung. Hier ist jener Erzählstil so radikalisiert, daß Ursache und Folge, Vorher und Nachher, Entferntes und Benachbartes verschwimmen. Hagens Erzählung zitiert einen Erzählgestus, von dem sich das ,Nibelungenlied' sonst bereits zu entfernen beginnt. Er setzt eine Auffassung von Kausalität voraus, die von Cassirer noch als ,mythisch' beschrieben wurde, die aber offenbar über den echten Mythos hinaus wirksam war7' und die von Lugowski „mythisches Analogen" genannt wird.76 In ihr ist die Zeitstruktur des .Vorher - Nachher' aufgehoben oder gegenstandslos. Ein Zusammenhang besteht auch dann, wenn er nicht exakt zeitlich artikuliert werden kann, also etwa als ,Entwicklung'. Das Verhältnis von Hagens Heldensage zur Geschichte des höfischen Sivrit in Xanten kann nicht chronologisch-kausal bestimmt werden, denn es handelt sich um kein Verhältnis in der Zeit, sondern um eine Aussage über die widersprüchliche Natur des Helden. Daß dieser Erzählstil schon im Jahrhundert des höfischen Romans als lückenhaft empfunden wurde, zeigen spätere Eingriffe. So sah sich der Bearbeiter von *C veranlaßt, eine Strophe einzuschieben und aus der gescheiterten Teilung des Schatzes den Ausbruch des Kampfes herzuleiten: ern kundes niht verenden; do wart der belt von in bestan. Den schaff er vngeteilet beliben mvse /an. do befunden mit im striten der %weier kunige man. mit ir vater swerte, da% Palmvnc was genant, e% sfreit ab in der chune den hört vnd Nibelung lant.
(C 93,4; 94·)77
Hier ist die klare Kausalität und Verantwortlichkeit hergestellt, die die Vulgatfassung vermissen läßt.78 Sogar das Schwert wird zweifelsfrei identifiziert: Pedanterie im Dienste schriftsprachlicher Kohärenz. Noch mehr Licht sucht Lienhard Scheubls Heldenbuch (k) in das Geschehen zu bringen. Der Erwerb des Hortes passiert nicht irgendwie, sondern ist eine von 7!
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Martinez (1996), S. 18; Gabriel in: Martinez (1996), S. 49-61; vgl. Cassirer zu Kausalität, Raum-, Zeitund Prozeßstruktur (1925/1997), S. 55-77. Lugowskis „Motivation von hinten" beschreibt eine Figur der Aufhebung klarer zeitlicher Progression, die eine Wenn-dann-Relation konstituiert; dies nennt er ein „mythisches Analogon" (vgl. Martinez, 1996, S. 19). Ähnlich Db. Entsprechend muß später in *C die Str. 95 (B 93; ebenfalls in AJdh) ausfallen, die berichtet, daß Sivrit mit Balmunc seine Gegner bezwingt. Die Abfolge in CDb ist eingängiger, die andere die lectio difficilior (vgl. Batts, S. 3of.). Eifler schreibt dazu (1989, S. z8of.): „Der B-Text hat auf eine derartige Verantwortlichkeitszuweisung offensichtlich keinen Wert gelegt. Sie war nicht erforderlich, wo es sich nur darum handelte, Siegfrieds Sieg gegen eine große Übermacht und damit seine Stärke zu berichten, und sie war auch nicht möglich, da der Berichterstatter Hagen ja kein Augenzeuge des Vorgangs gewesen war" - als ob, was das letztere betrifft, je ein Epenerzähler auf solche Bedenklichkeiten Rücksicht genommen hätte.
Hagens niuwemare
Anfang an intendierte Handlung Seifrits: Den schleich er nach mit listen, bis er den schaff gewan (k 87,4).79 Seifrit wartet darauf, daß er zugreifen kann: Da% merkt gar wol Seif ride und eilet sehnelligleich. Er kam in also nahen, da^ er den schaff ersach Under den Nibelunger. (k 88,4-89,2)
Als Schiedsrichter legt er es gleich auf Betrug an und setzt sich über das, was er versprochen hat, hinweg:80 Si wurden keiner trewe da von dem held geivert: Er globet in mit tremen, er ivolt si ban in hut; brach an in der degen und traib groß ubermut.
(k 92,2-4)
Wegen Seifrids Verrat bricht dann folgerichtig der Kampf aus, den er gegen die Riesen, die künen recken (k 95,1) und Alberich, der sie rächen will, gewinnt.8' Vor der Folie von k fällt die Untermotivation in Hagens Erzählung auf. Diese Untermotivation wird offenbar als Kunstmittel bewußt eingesetzt. Hagens Bericht bleibt ein Fremdkörper und ist als Fremdkörper in die Jugendgeschichte Sivrits montiert. Wenn man im .Nibelungenlied' insgesamt Elemente von Mündlichkeit zu entdecken glaubte, dann sind diese Züge in Hagens Bericht nicht etwa nur verstärkt, sondern sie werden gezielt eingesetzt.82 Die Jugendgeschichte ist als ,Rede' inszeniert, die an das erinnert, was , allen gesagt' wird. Hagen nennt immer wieder als Quelle seines Wissens ,das, was man hört' (niuwem(zrey 87,1; dai^ ist mir wol geseit, 88,2; so wir baren sagen, 92,1; aber auch: da% mir ist bekant, 100,1; da^ ist dicke worden sein, 100,4). ,Sage' ist im buchepischen Entwurf des , Nibelungenliedes' stilistisch markiert, und sie erscheint in der höfischen Atmosphäre der ersten Aventiuren als erratischer Einschub. Natürlich muß Hagens Erzählung nicht wirklich Relikt verlorener Mündlichkeit sein, sondern sie zitiert nur einen anderen Erzählgestus als den des Buchepos und inszeniert ihn als mündliche Rede. Sie ist deshalb nicht wirr oder unverständlich, denn in prätendiert mündlicher Rede gelten andere Anforderungen. Hagen (und durch ihn der Erzähler) kann an ein ,Wissen' seiner Hörer appellieren, das Leerstellen auffüllt und deshalb den Bericht von Sivrits Heldentaten als schlüssig ak79
Statt die waren im e vremde, un^ er ir künde da geivan (88,4).
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Daß „Siegfried hier etwas tut, was eigentlich nicht in Ordnung ist. Er raubt den Schatz ja förmlich" (Peeters, 1986, S. 7), ist ein Urteil, das sich auf diese Version, nicht den Vulgattext bezieht. In Besitz nehmen des Schatzes heißt hier hin füren (k 97,2), während er in *AB wieder an seinen ursprünglichen Ort gebracht wird (98, zf.), wo er sich auch später in der 19. Aventiure noch befindet: Die Plausibilität der Szene geht also, wie üblich, auf Kosten des Gesamtzusammenhangs; de Boor (1959), S. 182 vermutet auch für das Darmstädter Aventiurenverzeichnis m eine andere Version des Horterwerbs (Seifrid führt den Hort hinweg), die den späteren Hortraub ausschließt. Einige Forscher nehmen mindestens differente stilistische Register zwischen erstem und zweitem Teil an, wobei der zweite archaischer ist (vgl. Voorwinden, 1990, S. 438 u. 44if. zur Kampfschilderung und -motivation). 135
Heroisches Erzählen und buchepische Komposition
zeptiert. Wie in mündlicher Rede können Antizipationen und Nachträge, räumliche und zeitliche Sprünge durch begleitende Gesten zueinander relationiert werden: ,Man versteht' den Sprecher. Zugleich aber macht der Erzähler durch die Brechung in der Figurenrede, auch durch die Divergenz zu seiner eigenen Erzählung auf einen anderen Zustand von Welt aufmerksam, der vom bekannten radikal unterschieden ist, eine Welt, in der man Drachen tötet und märchenhafte Schätze erwirbt. Die heroische Welt, die mit Sivrit bedrohlich in Worms einbricht und sich gleich in der ersten Konfrontation mit den burgondischen Königen gewaltsam zu entladen droht, steht unter ,anderen' Gesetzen, Gesetzen auch des Erzählens. Diese anderen Gesetze werden als wunder apostrophiert (schon 1,1; hier 89,2; 101,4), das wundern erregt (89,4), als seltsaniu märe (90,4). Doppelungen Solch deutliche stilistische Markierung ist sonst selten. Doch konkurrieren im ,Nibelungenlied' öfter schriftsprachliche Kontextualisierung und syntagmatische Kohärenzbildung mit kontextloser und unverbundener Darstellung einzelner Szenen. Am Beispiel der sog. ,Formeln' hat man gezeigt, wie es Darstellungsmuster und Elemente mündlicher Dichtung im Dienste seiner buchepischer Konzeption zitiert und wie sich diese Elemente zu einem künstlichen Idiom, einem „Nibelungisch" verbinden, das der Autor als Zeichen der Nähe des Gegenstandes zu einer ihm schon fremden Mündlichkeit, also in Auseinandersetzung mit einer Poetik, die nicht mehr die seine ist, ausdrücklich erfunden und eingesetzt hat.8} „Nibelungisch" ist eine Literatursprache.84 Ihr entsprechen besondere Kompositionsstrategien. Das ,Nibelungenlied' entwirft großräumige Zusammenhänge weniger in der Weise handlungslogisch-linearer Verknüpfung als in der Form scheinbar redundanter Doppelung, die sich bei genauerem Zusehen als Variation erweist. Redundanz und Wiederholung des Immergleichen sind typisch für Oralität.8' Konstruktion eines komplexen Gebildes aus differenten Bauelementen ist eine Errungenschaft von Schriftkultur.86 Variierende Verdoppelung dient buchepischer Kohärenzbildung in einem der Mündlichkeit entstammendem Material.87 "' Curschmann (1979), S. 94; ders., (1985/1987), Sp. 95 jf.; ders., (1992), S. 60; Wachinger (1981), S. 93: „Literarisierung eines mündlichen Erzählstils". 84 „Das ,Lied' transponiert und stilisiert traditionelle Mündlichkeit zur episch inventarisierenden Großerzählung ,im alten Stil'" (Curschmann, 1989, S. 382). Man muß sich über den metaphorischen Status dieser Rede im klaren sein. Versuche wie die von Reichert (1990), dieses ,Idiom' im einzelnen dingfest zu machen, enden im Ungefähren. Reichert spricht übrigens von der .Klage' durchweg als „Cläge". " Ong (1982/1987), S. 43; Haug (1996), S. 194. 86 Assmann (1992), S. 97. „Vom Barden erwartet das Publikum das Vertraute, vom Autor das Unvertraute" (Assmann, 1992, S. 98). Etwas anders Haug (1996): Variierende Wiederholung in Buchepik ist Mittel weiträumiger Integration: „Handlungsdoppelung unter wechselnden Vorzeichen" als „Mittel der Sinnkonstitution" (S. 194^): „Beim unfesten Text der improvisierenden Dichtung liegt der Sinn im Identischen, beim festen Text der schriftlichen Dichtung liegt er in der Differenz" (S. 195). 87 Haug hat vorgeschlagen, den zweiten Teil des .Nibelungenliedes' als variierende Wiederaufnahme des 136
Doppelungen
In anderen Heldenepen läßt sich der Übergang vom einen zum anderen deutlicher beobachten, indem dort größere Gebilde zunächst nur durch Addition gleicher oder ähnlicher Elemente entstehen, ohne daß das Ganze mehr ist als jedes seiner Teile. Im ,Buch von Bern' etwa muß die Rückkehrschlacht Dietrichs dreimal (nimmt man die ,Rabenschlacht' hinzu: viermal) geschlagen werden, und jedesmal muß Sieg in Mißlingen münden. Damit realisiert sich immer wieder dieselbe Struktur, in der Dietrich als glückloser Sieger erscheint; die Varianten haben - mit Ausnahme des letzten Kampfes in der ,Rabenschlacht' - keinen Perspektivpunkt. Bloße Wiederholung bringt das Geschehen auf buchepische Dimension, doch ohne die Möglichkeit schriftsprachlicher Texte zur Sinnstiftung zu nutzen: Mündlichkeit im Übergang zur Schrift.88 Das ,Nibelungenlied' dagegen steht eindeutiger auf Seiten der Schriftkultur. Variierende Verdoppelungen haben vor allem drei Funktionen: komplexe Konstellationen darzustellen, die Gleichzeitigkeit antagonistischer Motive auszudrücken oder aber durch Wiederholung einer teils unveränderten, teils umbesetzten Konstellation .Veränderung' sichtbar zu machen. Häufig verbinden sich die drei Funktionen miteinander. Was an Wiederholungen als überflüssig oder gar widersprüchlich kritisiert wurde, löst sich insofern meist als funktional sinnvoll auf. Das Darstellungsverfahren wurde „aggregativ" genannt. ,Aggregative' Darstellung besagt Aufbau aus relativ selbständigen Blöcken, Nicht-Systematizität, nicht lineares Fortschreiten von einem zum anderen, sondern abrupter ,Sprung', Nicht-Integration der Elemente in einen übergreifenden Verlauf oder Sachkomplex, stattdessen Herstellung von Sinnbezügen durch Addition ähnlicher oder widersprüchlicher, jedenfalls aufeinander beziehbarer Komponenten.89 Komplexität ergibt sich dann aus der Konfiguration isolierter Elemente. Aggregativ können Figuren, Szenen, Episoden eingesetzt werden. Zunächst ein einfaches Beispiel: Als Hagen scheinbar ohne Grund sich am Kaplan der Bürgenden vergreift, ist die Reaktion: Giselher der junge, %ürnen er% began. er'n wold' doh niht la^en er enhet im leide getan. Do sprach von Burgonden der herre Gernot: "a>a% hilfet iuch nu, Hagene, des kappelänes tot? [···]"· (1576,3-1577,2)
ersten zu verstehen, „aber nun als subjektiv-bewußter Akt". Das ist der weitestgehende Versuch, Verdoppelungen als Kommentar zu verstehen, doch nähert er m.E. das .Nibelungenlied' zu sehr dem genuin schriftsprachlichen Doppelweg des höfischen Romans an. Dessen Schema findet im Text jedoch keine Stütze (vgl. 1994, S. 396f.). Vgl. Haug (1979), bes. S. 119-125; Müller (1980), S. 231. Czerwinski (1989), S. 14; 45; 79; 90 u.ö. Beispiele aus dem höfischen Roman; zur Diskussion des Begriffs Strohschneider (1995), S. lyyf. 137
Heroisches Erzählen und buchepische Komposition
Der eine zürnt, der andere spricht. Beides weist in dieselbe Richtung: warum also nicht nur ein und derselbe Vorgang? Indem die gleiche Reaktion auf zwei Figuren auseinandergelegt wird, ist sie keine individuelle mehr. Gernot und Giselher sind die beiden durchweg positiv gewerteten Figuren im Wormser Herrschaftsverband; ihre Reaktion steht metonymisch für eine kollektive: Die Rechtdenkenden in Günthers Heer mißbilligen die Gewalttat, aber sie tun nichts dagegen als reden und zornig sein. Aufspaltung und Verdoppelung drücken die Komplexität der Reaktion aus. Die gleiche Geste kann auch, auf verschiedene Figuren verteilt, Entgegengesetztes ausdrücken. Als die Bürgenden an Etzels Hof eintreffen, scheinen sich Etzel und Kriemhilt ähnlich zu freuen: Kriemhilt diu vroum in ein venster stuont: si warte nach den magen, sofrinnt nach friunden tuont. von ir vater lande sach si manigen man. der künic vriesc ouch diu mare; vor liebe er lachen began. "Nu wol mich miner vreuden", sprach Kriemhilt. "hie bringent mine mage vil manigen niurven schilt und halsperge m%e: swer nemen welle galt, der gedenke miner leide, und wil im immer wesen holt."
(1716-1717)
Die Freude des Königspaares scheint das zu sein, was sich gehört zwischen Verwandten so frinnt nach friunden tuont; Etzels Lachen verleiht dem Ausdruck. Kriemhilts vreude glaubt er aus derselben Quelle gespeist. Kriemhilt unterlegt Etzels Lachen aber eine andere Bedeutung: Möglichkeit zur Rache. Die Doppelung drückt Ambivalenz aus. Die Zerlegung eines Vorgangs in zwei Szenen erlaubt es, unterschiedliche Aspekte herauszustellen. Wenn z.B. Gotelint von Rüedegers Auftrag nach Worms in Kenntnis gesetzt wird, dann erfährt sie durch Boten zunächst nur von der Tatsache der Brautwerbung (1160,3), die Rüedeger für Etzel zu übernehmen hat, was sie schemagerecht beunruhigt, denn Brautwerbungen sind nun einmal gefährlich. Wenn sie dann in ehelicher Intimität Genaueres erfragt (1168/1169), dann wird die Brautwerbung in den gewöhnlicheren Kontext dynastischer Geschichte hineingenommen: Gotelint freut sich über die neue Herrin. Von der Handlung her nötig ist solch eine Aufspaltung der Nachricht und der Reaktion auf sie nicht, doch erlaubt sie, zwei Ansichten des Vorgangs in der Reaktion einer Beteiligten zu spiegeln. Die Verdoppelung kann entgegengesetzte Aspekte ausdrücken. So erklärt sich ein ,Widerspruch' gegen Ende des Epos: Dietrichs Gefolgsleute bitten die Burgonden um Rüedegers Leichnam, um ihn angemessen zu bestatten, Günther antwortet ihnen rühmend: nie dienest wart so guot/so den ein vriunt vriunde nach dem tdde tuot (2264,1^), aber Volker verhindert den Totendienst, indem er den Amelungen den 138
Doppelungen
Leichnam verweigert. Später aber, wenn Dietrich diese Verweigerung Hagen und Günther vorwirft, übernimmt plötzlich Günther die Verantwortung dafür: den hie^ ich in versagen Et^eln %e leide, und niht den dinen man, da^ do Wolf hart dar um be schelten began.
(2335,2-4)
Das ist kein , Fehler', sondern zeigt widersprüchliche Anforderungen an den König an. Günther wird ihnen auf doppelte Weise gerecht: durch Lob der Sorge, die seine Feinde für den toten Freund beweisen, und durch Zurückweisung einer Geste, die als Nachgeben ihnen gegenüber gedeutet werden könnte, durch heroische Unnachgiebigkeit und durch Achtung vor dem Feind. Da die Handlungskonsequenzen einander ausschließen, werden sie zunächst auf zwei Figuren verteilt, Günther und Volker; der eine lobt, der andere verweigert. Doch gelten beide Verpflichtungen, und deshalb gibt es grundsätzlich keinen Dissens zwischen Günther und Volker, so daß der König später Volkers Weigerung als seine eigene Anordnung übernehmen kann. Durch variierende Verdoppelung können weiträumige Bezüge hergestellt werden, etwa zwischen Sivrits Werbung um Kriemhilt, der Günthers um Prünhilt und Sivrits Fahrt ins Nibelungenland (8. Aventiure), die sagenschichtlich als Variante des Horterwerbs verstanden wurde.90 Sie lassen sich als Transformationen des Brautwerbungsschemas verstehen, in dem darüber verhandelt wird, wer die beste Frau erhält und wer zu recht Herrscher ist.9' Nach der Auffassung Sivrits und Prünhilts und nach den implizit vom Erzähler vorausgesetzten Normen sollte es der Stärkste sein. Bei Sivrits Werbung um Kriemhilt sind beide Motive - Kampf um die Herrschaft und Kampf um die Frau - so selbstverständlich miteinander verknüpft, daß sie füreinander eintreten können. Der Zweikampf um Günthers Land soll, so scheint Sivrit vorauszusetzen, ihm auch die Frau verschaffen, deretwegen er nach Worms gekommen ist. Damit trifft er auf Unverständnis und Ablehnung. Das Prinzip, daß der Stärkste die Schönste erhält, wird abgebogen. Es läßt sich in dem komplexen Herrschaftssystem von Worms nicht unmittelbar realisieren. Bei der Werbung Günthers in Isenstein dagegen ist der Kampf um die Frau von Anfang an das Hauptanliegen, und er verschafft dem Sieger nebenher auch ein Land. Das Schema greift also. Allerdings sind diesmal die Rollen falsch besetzt, indem insgeheim Sivrit für Günther agiert, nicht der Stärkere, sondern der Schwächere die schönste Frau gewinnt. Die Erfüllung des Schemas basiert auf einer Lüge. Prünhilts Versuche, sie aufzuklären, kosten Sivrit das Leben. 90 91
So Bumke (1958), S. 258; z66f.; vgl. noch Mertens (19963), S. 65. Strohschneider (1997), S. 51, in dessen Deutung allerdings die .politische' Besetzung des Schemas hinter Strukturvarianten zurücktritt. Ich deute aus diesem Grund die Szenenfolge etwas anders (vgl. S. 170-174).
Heroisches Erzählen und buchepische Komposition
Wieder anders in der dritten Variation, im Nibelungenland, wo Sivrit sich als der Stärkste erweist und folglich mit dem Herrscher identisch sein muß. Wenn Sivrit, obwohl ihm das Land schon gehört, im Zweikampf seinen eigenen Wächter überwunden hat, bescheinigt der ihm, da^ ir von waren schulden muget landes herre wesen (500,3). Hier sind die Rollen richtig besetzt. Nur fehlt als Preis die Frau. Nur indirekt dient Sivrits Kampf seiner Brautwerbung; indem er Günther mit seinen Kriegern unterstützt, verschafft er noch einmal dessen Werbung Erfolg und fördert dadurch seine eigene um Kriemhilt. Uneingeschränkt Erfolg hat Sivrit nur außerhalb der gewöhnlichen Welt, und dieser Erfolg muß bei seiner Rückkehr dissimuliert werden. So ist das Schema auch in diesem Fall defizient. Eine verwandte Konstellation wird also dreimal durchgespielt, und nie stimmen alle Komponenten. Für die Frage, wer als Stärkster herrschen soll, wird eine Antwort nahegelegt, aber episch voll realisiert wird sie nie. Der Konflikt, der im Streit der Königinnen ausbricht, baut sich somit über eine weite Strecke in drei Stufen auf. Die Variation stiftet Zusammenhang. Erkennt man diesen Erzählstil, dann lösen sich angebliche Widersprüche auf. Verdoppelt ist das Motiv für Sivrits Werbungsfahrt - die beiden Antriebe Kriemhilts Minne und Kampf um die Herrschaft sind einfach unverbunden nebeneinander gesetzt. Sivrits Standeslüge muß nicht mehr als Spur einer ,ursprünglichen' ständischen Inferiorität des Helden gelesen werden, sondern verstärkt durch Wort und Geste einen ständischen Aspekt des Betrugs. Verdoppelt ist die Überwindung Prünhilts, in Isenstein und in Worms. Kriemhilts Rache ist mit dem Mord an Sivrit und dem Raub des Hortes doppelt motiviert; sie hat zwei nicht hierarchisierbare Anlässe. Man sollte dieses Verfahren nicht nur mit einer „psychology of oral composition" erklären,92 vielmehr scheint die ,Aggregation' unabgestimmter oder sogar gegenläufiger Motivationen gleichfalls typisch für frühe volkssprachliche Schriftlichkeit. Die Doppelungen setzen weiträumige Dispositionen voraus. Dem Hörer wird nicht auseinandergesetzt, wie man von einem Zustand zum nächsten gelangt, sondern ihm werden zwei Bilder gezeigt, die, übereinanderkopiert, das Ganze ausmachen.
Störungen Ein weiteres Mittel, durch Handlungskomplexion einen diskursiven Kommentar zu ersetzen, sind seltsam folgenlose Störungen. Auch unter diesem Aspekt ist Kriemhilts Streit um ihr Erbe (693-700) von Interesse. In dieser Szene sind die eigentli92
Haymes (1975), S. 164: „The progress of narration in oral poetry can be understood as the result of interaction between the themes belonging to the tradition as a whole and the events belonging to the specific song being sung". 140
Störungen
chen Kontrahenten um die Macht, Sivrit und die burgondischen Könige, von Anfang an auf Einigung gestimmt.93 Kriemhilts Brüder sind zur Teilung bereit (693) und gestehen Kriemhilt - einer Frau! - sogar mehr zu, als für jeden der männlichen Erben dann übrigbliebe (697,3).94 Sivrit will sogar überhaupt nichts haben, weil er selbst genug besitze (694-695). Nur Kriemhilt besteht auf ihrem Anteil, wenigstens an Vasallen (696,1 f.). Doch ist auch dieser Konflikt zu Ende, bevor er begonnen hat, denn Gernot stimmt gleich zu (697); Kriemhilt läßt Hagen und Ortwin rufen (697,4f.). Hagen aber weigert sich, Kriemhilt und Sivrit zu folgen. Kriemhilt muß nachgeben: Da^ liefen si beltben (700,1). Die Störung ist, kaum hat sie begonnen, schon wieder vorbei. Selbst Hagens vermeintliche Auflehnung gründet in enger Bindung an den Hof und den König:9' eine randständige und folgenlose Episode. Die Lösung ist friedlich, aber auch ohne rechte Entscheidung. Warum also diese Schleife? Dahinter verbirgt sich ein häufiger gewähltes Verfahren: In einer scheinbar überflüssigen Störung wird ein latenter Konflikt präludiert, weniger ein persönlicher - zwischen Kriemhilt und Hagen - als ein herrschaftlicher - zwischen Sivrit und der burgondischen Königsherrschaft. Im künftigen Machtkonflikt geht es freilich nicht um Sivrits und Kriemhilts Teilhabe an der burgondischen Macht, sondern darum, ob sie selbst dieser Macht einverleibt werden. Die Störung wird erst viel später, dann aber umso verhängnisvoller virulent. Ganz ähnlich bringt später die Parallelszene, der Streit um die Herausgabe der Reste von Kriemhilts Besitz, die künftigen Kontrahenten in Position. Auch dieser Konflikt ist scheinbar ein bloßer Umweg, da vorweg von Rüedeger entschärft; er scheint in Kriemhilts Sinn gelöst zu werden, ohne daß die von Hagen befürchtete Wirkung eintritt,'6 und er hinterläßt weder bei den Königen (die Kriemhilt unterstützen) noch bei Hagen (der sie noch einmal berauben will) Spuren. Wirklich gelöst aber wird nichts; die pragmatische Einigung ist kein Ersatz für die Rache. Daß etwas offengeblieben ist, läßt die Redaktion *C Kriemhilt in einer Zusatzstrophe aussprechen: ein mort vnd %n>ene rovbe, die mir sint genomen, des mohte ich vil arme noch %e liebem gelte cbomen.
(C
" Vgl. S. 93; Frakes (1994), S. 68 sieht in diesen Szenen einen epochentypischen Versuch der Männer, den Frauen keine Verfügungsgewalt über Besitz einzuräumen. Mir scheint dabei der erzählstrategische Effekt - es soll Einigkeit demonstriert werden - zu kurz zu kommen. 94 In der ,Thidrekssaga' soll das Erbe zwischen Sigfrid und den Brüdern Kriemhilts hälftig aufgeteilt werden; dort wird insofern eine denkbare Auseinandersetzung erzählt (c. 204; 321). 91 Vgl. S. 1 5 5 . 96 Ganz deutlich ist das nicht, wie Kriemhilts späterer Vorwurf an Hagen in einer Zusatzstrophe in C 1785 zeigt. 97 Nach 1744 der Vulgatfassung; vgl. Göhler (1996), S. 141
Heroisches Erzählen und buchepische Komposition
Die rasch bewältigte Störung auf der Oberfläche ist Symptom einer tiefliegenden Gestörtheit. Das gilt auch für weniger spektakuläre Widerhaken, die oft nahezu unverständlich von ihrer Umgebung abstechen. Auf Kriemhilts Reise zu Etzel reiht sich festlicher Empfang an festlichen Empfang. Umso überraschender ist plötzlich vom Unwillen der Leute Kriemhilts die Rede: Wes si da mere pflegen, des enkan ich niht gesagen. da% in so übele %pgete, da% horte man do klagen die Kriemhilde recken, wan i^ was in leit. hey it>a% do guoter degene mit ir von Bechelaren reit!
(1321)
Fragt man, was Kriemhilts Begleitung hit war, so erfährt man aus dem Kommentar zu %pgete, „daß ihnen die Reise so langsam vorwärts ging"; oder sollte es das Gegenteil heißen: ,daß man sie so hetzte'?98 Entscheidend ist, daß etwas an der Reise übele verläuft und ihnen das leit ist: Der Ablauf prunkvoller Auftritte, freundlicher Empfänge und unausgesetzter Ehrbezeigungen, der scheinbar so glänzende Zug hat irgendeinen Makel, und dieser Makel tritt mit der Reaktion des Gefolges ans Licht. Er geht nicht in der psychischen Dimension auf, sondern er ist ,objektiv'. Und so scheint mir der Vers ebenso auf künftiges Unheil zu deuten wie die vielzitierte Strophe, in der Kriemhilt sich trotz allem Glanz weinend erinnert, Wie si %e Rine sa%e (1371,1)." Solche scheinbar folgenlosen Störungen begleiten den Zug der Bürgenden zu Etzel. Sie sind nicht auf spektakuläre Szenen wie den Übergang über die Donau beschränkt, der ja zur ersten bewaffneten Auseinandersetzung gerät, sondern treten gerade an unscheinbaren Details zutage: Etzels Grenze ist durch Eckewart, einen Kriemhilde man (1642,3), bewacht, doch der schläft. Die Szene offenbart einen seltsamen Widerspruch: Mögliche Gewalt wird angedeutet (die Grenze muß gegen Westen geschützt werden) und im selben Zug zurückgenommen (der Schutz erweist sich als unwirksam): die marke Rüedegeres di fundens' übele bewart (1632,4). Die Schwäche der Verteidigung zu betonen, hat Sinn nur, wo Kampf zu erwarten steht. Warum aber sollte sich die Wache gegen die geladenen Gäste des Königs richten? Weil die Gäste latent schon Feinde sind? Und warum nimmt Hagen Eckewart die Waffen ab, wo er doch ein Landsmann ist und man von Etzels offiziellem Beauftragten eine gute Aufnahme zu erwarten hat, wie sie dann ja auch tatsächlich erfolgt? Eckewart die Waffen abzunehmen, ist ebenso eine Vorsichtsmaßnahme wie eine Kränkung, über die Eckewart in einen trurigen muot (1632,2) verfällt, aber diesem muot wird plötzlich ein ganz anderer Grund untergeschoben: Lexer III, Sp. 145f. läßt beide Bedeutungen zu; vgl. de Boor, S. 213; die Hss. DJ haben .eilen' verstanden, indem sie %aute setzten; beides ist handlungslogisch gleich sinnlos. Vgl. S. 228; 374. 142
Störungen „Owe mir dirre schände", sprach do Eckewart. ,jä riuwet mich vil sere der Burgonden vart. sit ich verlos Sifride, sit was min freude Bergan. ouwe, herre Rüedeger, wie hän ich wider dich getan!"
(1633)
Eckewart beklagt seine schände und die Reise der Burgonden zu Etzel - weil sie für ihn schmachvoll ist oder gefahrlich für seine Landsleute? -, dann den Tod seines früheren Herrn, endlich die Pflichtverletzung seinem Herrn Rüedeger gegenüber: eine Summe dessen, was hier nicht in Ordnung ist. Wieder wird der Konflikt sogleich aus dem Weg geräumt, indem Hagen ihm die Waffen zurückgibt, dazu sechs goldene Ringe schenkt: da^ du min friunt sist (1634,3). Immer noch ist die Störung nicht ganz behoben. Jetzt warnt Eckewart die Burgonden vor den Gastgebern: doch riuwet mich vil sere %en Hiunen iuwer vart. ir sluoget Sifriden: man ist iu hie geha%. (163 5,2f.)
Wenn er dann eilt, um Rüedeger die Burgonden als Gäste zu melden, geht wieder nicht alles glatt, denn es gibt ein Mißverständnis: Rüedeger vermutet, daß Eckewart nicht Freunde, sondern Krieg ankündigt: da^ die viende im beten leide getan (1642,4). Der Empfang von Etzels Gästen steht also bis zuletzt vor dem Hintergrund der Befürchtung, Etzels Reich werde angegriffen - und tatsächlich wird ja genau dies der Fall sein. Selbst die ,Idylle' von Bechelaren weist solch einen Bruch auf. Am Ende der Schenkorgien, die die vorbildliche milte des Markgrafen Rüedeger unter Beweis stellen, gibt es eine rätselhafte Szene. Unter den Geschenken ist eine Ausnahme, die Gabe der Markgräfin für Hagen. Hagen will zunächst kein Geschenk nehmen (1697,4) - wieder eine Vorausdeutung auf künftige Feindschaft?-, doch dann bittet er um einen Schild, der an der Wand hängt. Dieser Schild nun unterbricht die Freude höfischen Gabentauschs auf unvorhergesehene und vom Erzähler im Dunkel der Sagenerinnerung100 belassene Weise, denn Gotelint beginnt zu weinen: e% mante si ir leides: weinen si geyam. do gedabte si vil tiure an Nuodunges tot. den bet erslagen Witege, da von so het si jamers not.
(1699,2—4)
Der Schild erinnert Gotelint an einen Toten, den muo%_ ich immer weinen, des gat mir armem wibe not
(1700,4).
Hinter der Herrin des Hofes erscheint plötzlich die andere Frau, die einen Toten ,immer' beweinen muß. Die handlungslogisch unbegründete Störung erinnert an „Nuodungs Tod durch Witege gehört in den Dietrichkreis. Seine Verwandtschaft mit Gotelind läßt der Dichter im unklaren. Nach der Thidrekssaga war er Gotelinds Bruder, nach deutschen Dichtungen (Biterolf, Rosengarten) ihr Sohn" (de Boor, Kommentar, S. 268, Anm. 1699,2). 143
Heroisches Erzählen und buchepische Komposition
die gestörte Einladung insgesamt, die vollkommene Gastgeberin Gotelint an die hinterlistige Gastgeberin Kriemhilt, das Geschenk an den Tod. Gotelint und Kriemhilt weinen über den Verlust eines Mannes. Von dem einen trägt Hagen das Schwert, von dem anderen erhält er den Schild. Die Gabe für Hagen ist stigmatisiert, und nur Hagen kann solch eine stigmatisierte Gabe erhalten. Der Besitz des Toten ist für Todgeweihte.101 Störungen dieser Art können eine vom Erzähler verworfene Alternative erzählen.102 Warum etwa kommt Sigemunt mit Sivrit nach Worms, wenn er nach dessen Tod sang- und klanglos aus der Geschichte verschwindet? Sigemunt gibt eine Begründung dafür, daß er mit Kriemhilt und dem Sohn aufbricht: sit da% iuch min sun Sifrit %e vriunde gewan, dd rieten mine sinne, da^ ich iuch solde sehen.
(jc)o,z{.)
Seine Anwesenheit unterstreicht die engen verwandtschaftlichen Bindungen zwischen den beiden Dynastien, entspricht also dem erreichten Harmoniezustand. Schon gleich nach der Ankunft in Worms kann er deshalb ohne Schaden in den Hintergrund treten, denn er verstärkt nur das, wofür auch die anderen Akteure stehen. Gebraucht wird er erst wieder nach Sivrits Tod (1014). Die verdoppelte Nähe vormals ist jetzt verdoppelter untrium gewichen (1074,1). Er steht Kriemhilt bei ihrer Klage bei; vor allem aber ruft er nach Rache, zu der er als nächster männlicher Verwandter aufgerufen wäre. Und genau deshalb muß er da sein, allerdings nur um zu zeigen, daß er doch nicht gebraucht wird, denn die gewöhnliche Rachepflicht wird nur aufgerufen, um abgebogen zu werden. Dahinter steht mehr als die taktischen Argumente Kriemhilts (103 3f), daß angesichts der burgondischen Übermacht ein Racheversuch scheitern müßte. Markiert wird, daß das ,Nibelungenlied' vom Erwartbaren abweicht. Sigemunt muß da sein, damit er entfernt werden kann und Kriemhilt mit ihrem Rachewunsch allein ist. Der Mord an Sivrit setzt nicht den gewöhnlichen Mechanismus von Schlag und Gegenschlag in Kraft. Sigemunts abgelenkte Kampfbereitschaft zeigt an, daß etwas offen geblieben ist, nachdem die naheliegende Lösung einer Rache durch die männlichen Verwandten verworfen wurde. Korrektur leistet nicht ein Kommentar, sondern was zuvor an Alternativen verspielt wurde. Handlungslogisch funktionslose Störungen und opake Szenen sind narrative Mittel, Bewegungen und Tendenzen unterhalb des manifesten Geschehens anzudeuten.
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Mit Nuodunc sind auch später die Gaben Frau und Land verknüpft, die Kriemhilt für Blcedelin in Aussicht stellt (1906/1907) und die ihn gleichfalls geradewegs ins Verderben führen. Strohschneider (1997), S. 58 hat auf das Gestaltungsmittel der „abgewiesenen Erzählalternative" aufmerksam gemacht; dort weitere Beispiele. 144
Kalkulierte Unbestimmtheit
Kalkulierte Unbestimmtheit Ein weiteres Erzählprinzip hat moderne Interpreten besonders irritiert: Der Erzähler bevorzugt Wendungen von präziser Unscharfe, wo sie Eindeutigkeit verlangen. Beispiele gibt es viele. Als frühes Anzeichen für den sich aufbauenden Machtkonflikt wurde Hagens Kommentar zu Sivrits reichen Geschenken an die burgondischen Boten aufgefaßt, wenn diese die Nachricht von seinem Kommen nach Worms überbringen: „Er mac", sprach dd Hagene, „von im sampfte geben, er'n kunde^ niht verswenden, unt sold' er immer leben, hört der Nibelunge beslosgen hat sin hant. hey sold' er körnen immer in der Bürgenden lant! " (774)
Vor allem der letzte Vers gilt als Zeichen für Hagens Machtgier und strategisches Kalkül, Sivrits Machtressourcen in seine Hand zu bringen. Dabei ist der grammatische Bezug von er auf hört keineswegs so eindeutig, wie manche Interpreten wollen; bei der lockeren syntaktischen Fügung des Epos könnte er sich auch auf Sivrit (774,1 u. z) beziehen:10' Hagen nähme dann am allgemeinen Wunsch und der Freude über den hohen und mächtigen Besuch (775,1) teil: Ja, wenn Sivrit nur je in unser Land kommt!'. Solch ein Besuch ehrt König, Hof und Land. Erst vom Fortgang her bietet sich die andere Deutung eher an. Wichtig ist aber gar nicht die Entscheidung zwischen der einen und der anderen Möglichkeit, sondern die Ambiguität der Worte Hagens, hinter deren Harmlosigkeit auch etwas anderes stecken kann und, wie sich dann immer wieder zeigt, tatsächlich steckt. Die Welt des höfischen Festes und friedlichen verwandtschaftlichen Umgangs ist doppelt lesbar, und an ihrer doppelten Lesbarkeit geht sie zugrunde. Einige der umstrittensten Stellen des Epos lassen sich als Ergebnis von Erzählstrategien deuten, die nicht auf Klarheit, sondern auf Ambiguität zielen. Die Anspielung auf einen undeutlich mitgewußten Sagenhorizont erlaubt es dem Erzähler, einen Spielraum konkurrierender Deutungen zu öffnen. Er kann seine Version an ihre Stelle zu setzen suchen wie beim Tod Ortlieps; er kann aber auch die Alternativen offenhalten und aus der Uneindeutigkeit den Impuls für den Fortgang entwickeln. Allgemeiner Ansicht gemäß betreibt Hagen gezielt die Versöhnung mit Kriemhilt, um sich in den Besitz des Hortes zu versetzen. Er sagt deshalb zu Günther: mäht ir da^ tragen an, ir iuwer swester %e vriunde mähtet han,
°' Das immer — ,jemals', ,auf Dauer' — legt die andere Bedeutung vielleicht näher, läßt sich aber gleichfalls auf Sivrit beziehen: irgendwann einmal'. 145
Heroisches Erzählen und buchepische Komposition so käme %e disen landen da^ Nibelunges galt, des möht ir vilgewinnen, würd' uns diu küneginne holt.
(i 107)
Vom späteren Verlauf her scheint der Zusammenhang zwischen diesem Rat und dem Hortraub klar, aber ist er es auch nach Hagens Worten in 1107,4? Der Vers hält mehrere Interpretationsmöglichkeiten offen. Der erste Teil ist nicht eindeutig: heißt er ,davon (d.h. vom Hort) könntet ihr dann viel in euren Besitz bringen'? oder allgemeiner: ,davon hättet ihr viel Vorteil'? Für das erste spricht der Fortgang (und so wurden die Worte schon in C verstanden), für das zweite der folgende Halbvers ,wenn wir104 die hulde der Königin erwerben, wieder friedliche Beziehung zur Königin herstellen'. Hagens Worte könnten dann nicht mehr besagen, als daß der Bruch im Herrscherhaus im Interesse des Königs geheilt werden muß, denn dann wird Kriemhilts unendlicher Reichtum Teil der burgondischen Macht.10' Für die Offenheit gibt es ein Indiz: Um die Uneindeutigkeit zu beseitigen, griff der Redaktor der *C-Bearbeitung ein: des wrde vns vil %e teile, war uns div kuniginm holt (C 1118,4; ähnlich nur a), d.h. ,davon - von diesem Hort - käme viel in unseren Besitz, würden wir großen Besitz erlangen'. Warum nimmt der Redaktor diese Änderung vor, wenn alles gleich so klar ist? Rückte Hagen von Anfang an mit dem Plan heraus, Kriemhilt den Hort zu rauben, dann bliebe unverständlich, daß Günther später seinen Vorschlag empört zurückweist: ja erwarp ich da^ vil küme, da% si mir wart so holt (1129,3). In der Versöhnung, um die es Günther geht, ist die Möglichkeit skrupellosen Mißbrauchs eingeschlossen, aber sie ist nicht von Anfang an klar erkennbar. Erst als sich herausstellt, daß Kriemhilt den Hort in einer Weise verwendet, die der Macht des Königs gefährlich werden könnte, beginnt Hagen zu warnen (1128), Günther versteht, was er daraus zu folgern hat (1129), bevor Hagen die Folgerung ausdrücklich zieht (1130) und bevor Günther an seinen Eid erinnern kann, der ihn hindere, gegen Kriemhilt vorzugehen (1131). Die ,offene' Situation, die die suone schafft (und die Hagens Worte zu planen scheinen), wird also Schritt für Schritt eingeengt, ihre Unbestimmtheit beseitigt, bis als Konsequenz ein neuerliches Verbrechen übrigbleibt. Die Sagenüberlieferung kennt den Hortraub, und der Erzähler muß ihn deshalb als zentrales Motiv im Handlungsnexus einbeziehen. Weiträumig disponierend, muß er die Voraussetzungen dafür schaffen, daß der Hort überhaupt in Hagens und der Könige Reichweite ist. Diese Voraussetzungen werden durch die Versöhnung Kriemhilts mit Günther geschaffen. Aber die Versöhnung ist nicht nur ein notwendiges Glied in einer zielstrebigen Intrige; sie fügt sich gleichzeitig in eine Reihe von Geschehnissen ein, die den Zug in die Katastrophe scheinbar aufhalten. Wie in den parallelen Fällen stellt sich das auch hier nachträglich als eine Illusion heraus. 104
Db haben noch präziser wurd euch, also ,ihr' (Batts, S. 335). TM gewinnen Lexer I, Sp. 991):.: möglich ist sowohl ,in die Gewalt bekommen' wie ,Gewinn haben von etwas'. ' 5 ) · Versteht man Kriemhilts Forderung also umfassend, ist der Versuch eines rechtlichen Ausgleichs von Anfang an gescheitert. Bezieht man die Worte dagegen auf den Hort, dann wäre die Realisierung möglich, wenn auch die Erfüllung des Rachewunsches unvollständig bliebe. Auch diese Forderung würde Hagens Trotz provozieren, wie dies schon beim Empfang an Etzels Hof geschah. Kriemhilt nutzt also in doppelter Hinsicht die Chance, Hagen noch einmal als unerbittlichen Gewalttäter vorzuführen (unwahrscheinlichenfalls um ihn als Maulhelden zu entlarven, dessen Widerstand gebrochen ist)."4 In jedem Fall wäre sie die Siegerin. Ihr Versprechen, bei Erfüllung ihrer Forderung könnten Hagen und Günther heimkehren, ist nur ein hinterhältiges, konjunktivisch an Bedingungen geknüpftes Scheinangebot (muget ir noch wol, 2367,4), und deshalb charakterisiert der Epiker ihre Worte zlsfientliche (2367,2). Das Angebot dient dem Rachewunsch, den er im Hintergrund dauernd präsent hält (2365,3; 2366,4). Erst Hagens Antwort vereindeutigt die Worte, indem er sie allein auf den Hort bezieht. Er legt Kriemhilt damit wieder wie zuvor schon auf die Rolle der goldgierigen Königin fest, was Werner Schröder zurecht als eine letzte perfide Demütigung gedeutet hat,"' und er inszeniert sich selbst als unbeugsam zu seinem Wort stehenden treuen Vasallen: ja han ich des gesworn, da^ ich den hört iht %eige die wile da^ si leben, de keiner miner herren, so sol ich in niemene geben.
(2368,2-4)
Auch Hagens Antwort ist allerdings wieder doppelsinnig, denn sie läßt zwei Folgerungen zu, die eine: ,ich kann dir nichts zurückgeben, denn mich bindet mein Eid'; die andere: ,solange mich mein Eid bindet, ist nichts zu machen; du müßtest schon dessen Voraussetzungen aus der Welt schaffen'. Es bleibt also offen, ob Hagen mit Absicht den Tod seines Herrn herbeiführt oder ein letztes Mal die unauflösliche //-««ye-Bindung an diesen beweist. Der Vorwurf, Hagen opfere durch seine Worte das Leben seines Herrn, läßt sich nicht nur nicht belegen, er setzt zudem voraus, es gäbe in diesem Machtspiel mit kalkulierten Doppeldeutigkeiten noch die Chance eines ersprießlichen Endes. Die Rede enthält eine perfide Insinuation, spricht sie aber keineswegs offen aus. Kriemhilt jedoch greift Hagens Worte im Sinne dieser Insinuation auf und vereindeutigt sie damit ihrerseits zu der Aufforderung des man Hagen, seinen herre um114
Schröder (1968), S. 162. Das ,Öffentlich-machen' von Hagens Schuld ist wesentlicher Handlungsimpuls, bis der Kampf ausbricht (S. 1851".; 2911".). "' Schröder (1968), S. 174-176; vgl. 168; S. 95 weist er auf Hagens absichtliches Mißverständnis in einer früheren Szene. — Die Spannung zwischen Hortforderung und Rache (S. 93—99), die er in Anlehnung an Hans Kühn (1948) darstellt, sollte allerdings nicht vorzeitig aufgelöst werden, indem Dingliches aufs bloße Symbol für Geistiges reduziert wird (S. 95f.)> vg'· Hennig (1981), S. 76. 149
Heroisches Erzählen und buchepische Komposition
zubringen. Kriemhilt legt Hagen auf die Rolle des Verräters fest. Erst aus diesen vereindeutigenden Auslegungen folgt alles weitere: die Hinrichtung Günthers, Hagens Triumph, Kriemhilts letzte Gewalttat. Der Redaktor der *C-Bearbeitung, ohne Verständnis für die Erzählstrategien seines Textes, war wieder einmal um Klarstellung bemüht. Für ihn steht das Ende fest, wenn er über Hagen sagt: Er tviste wol div märe sine liefen in niht genesen (C 2428,1). Wo er Hagen zum Bösewicht stempeln will, muß er seine Worte eindeutig als Verrat brandmarken: wie mohte ein untnwe iemer stercher wesen (C 2428,2), und er fügt noch die wenig begründete Befürchtung Hagens hinzu, Kriemhilt könne ihren Bruder mit dem Leben davonkommen lassen, wenn er selbst erst beseitigt sei. Auf diese Weise wird motiviert, daß Hagen Günther nach dem Leben trachte. Die Vulgatfassung verweigert solche Eindeutigkeit. Das ende, zu dem Kriemhilt sich entschließt, ist zynische Folgerung aus Hagens Worten, die sie ihrerseits in malam partem interpretiert. Damit geht die nächste Runde des Spiels an sie. Und wie ein guter Schachspieler erkennt Hagen an, daß dieser Zug konsequent war (als ich mir bete gedahf) und daß seine Gegnerin ihrem Ziel (Deinem ende) wieder ein Stück näher ist. Doch der Zug erlaubt ihm zugleich, mit seinem Gegenzug ein letztes Mal zu triumphieren: du hast i% nach dinem willen Deinem ende braht, und ist auch rehte ergangen als ich mir bete gedaht. Nu ist von Bürgenden der edel künec tot, Giselher der junge, und auch her Gernot. den scha^ den ivei^ nu niemen wan got unde rain: der sol dich, välandinne, immer wol verholn sin.
(2370,3-2371,4)
Der Triumph läßt wieder zwei Folgerungen zu, aus Hagens Sicht: , mir erfährst du nichts, solange ich lebe'; von Kriemhilt aus gesehen: ,es besteht kein Grund, Hagen am Leben zu lassen, denn sagen wird er ohnehin nichts'. Was Kriemhilt daraus schließen muß, ist klar. Ihre Replik spielt ein letztes Mal mit dem Doppelsinn ihrer Forderung. Jetzt allerdings ist an die Stelle von Wiedergutmachung (erget^en) Vergeltung getreten: Si sprach: „so habt ir übele geltes [!] mich gewert. 30 wil ich doch behalten da^ Sifrides swert. da^ truoc min holder vriedel, do ich in jungest sach, an dem mir her^e leide von iuwern schulden geschach."
(2372).
Kriemhilts Anspruch auf Genugtuung - was Sivrit betrifft, unerfüllbar, was den Schatz angeht, frustriert - bemächtigt sich dessen, was aus Sivrits Besitz in ihrer Reichweite ist, nämlich des Schwertes, das Hagen sich angeeignet hatte. Sie nimmt sich, was sie sich nehmen kann von dem, was ihr verweigert wurde. Das Zeichen hat vielerlei Bedeutungen: Das Schwert ist Teil aus dem nibelungischen Besitz Sivrits, auf den Kriemhilt Anspruch erhebt; es ist das, was vom Heros übrigge150
Kalkulierte Unbestimmtheit
blieben ist; es vertritt metonymisch Sivrit und seine heroische Potenz; aber es ist auch metaphorisch Zeichen der Rache: Durch Vorzeigen des Schwertes hatte Hagen in der 29. Aventiure ausgedrückt, daß er Kriemhilts Anspruch auf Rache kraft seiner überlegenen Stärke zurückwies (1782-1784); jetzt kann es in Kriemhilts Hand Hagen besiegen. Kriemhilts Worte geben ihm eine weitere Bedeutung, die der Erinnerung an ihr her^eleide (2372,4). Wenn Kriemhilt sich das Schwert aneignet, ist die Geste wieder mehrdeutig wie ihre Rede: Retten der Trümmer des Besitzes, Erinnerung an Sivrit und Durchführung der Rache. Die Tat schafft Klarheit: Kriemhilt schlägt Hagen den Kopf ab. Das Spiel mit hinterhältigen Unscharfen und gemeinen Unterstellungen ist zu Ende. So braucht man keine Sagengeschichte, um die Schlußszene zu verstehen, freilich nicht als banale Auflösung in diese oder jene Richtung, sondern als letztmalige Demonstration eines unauflösbaren Widerspruchs, der nicht länger mehr in der Schwebe gehalten wird. Das Epos hat diesen Widerspruch in der Schlußszene als Machtspiel um Doppeldeutigkeiten inszeniert. Wenn man die besonderen Erzählstrategien des Epos in Rechnung stellt, lösen sich die meisten der vermeintlichen Widersprüche auf.
Ill NlBELUNGISCHE GESELLSCHAFT1
Personenverband Die Nibelungen-/r/»wii hat dem Epos eine traurige Berühmtheit beschert. Übertragen von den Heroen Volker und Hagen auf die Kollektivsubjekte Donaumonarchie und Deutsches Reich spiegelt sie die Mythisierung des Kollektivs Staat zum heroischen Individuum. Die Mediävistik hat mühsam lernen müssen, daß jenes zum Subjekt mythisierte Gebilde Staat eine Errungenschaft erst der Neuzeit und ihrer staatstheoretischen Wegbereiter im späten Mittelalter ist. An seiner Stelle steht im Mittelalter der Personenverband, der die Feudalherrn und ihre Lehens- und Eigenleute in ein komplexes Geflecht horizontaler und vertikaler Abhängigkeiten integriert/ Der Personenverband und nicht die einzelne Figur ist der eigentliche Held des .Nibelungenliedes* und der Gegenspieler Kriemhilts.5 Dies unterscheidet das heroische Epos vom etwa gleichzeitigen höfischen Roman. Im Personenverband garantieren vertragsähnliche Beziehungen (triuwe*} den gesellschaftlichen Zusammenhang. Ein dichtes Netz personaler Beziehungen bestimmt das Handeln der Protagonisten. In seinem Zentrum stehen „familiäre Bindungen, agnatische und kognatische", der an den Rändern unscharfe Verband der magen und kommagen."1 Hinzutreten vasallitische Beziehungen. Unter Verzicht darauf, den Verband „lehensrechtlich differenziert zu gliedern", bleibt es hier jedoch bei „Rudimenten zur BeDie sozialen Verhältnisse, die das ,Nibelungenlied' voraussetzt, sind manchmal am ehesten im Lichte weit älterer Verhältnisse zu verstehen (Müller, 1987, zu frühmittelalterlichen Vorstellungen von vriunt). Man muß also mit erheblichen Ungleichzeitigkeiten rechnen. Ziel der folgenden Überlegungen ist jedoch nicht, die sozialen Verhältnisse zu identifizieren, auf die das ,Nibelungenlied' referieren könnte. Ich fasse einige für die Argumentation wichtige Überlegungen meines Aufsatzes von 1987 zusammen. Zur Kritik neuzeitlicher Staatsvorstellungen, historische Forschungen von Theodor Mayer u. a. aufnehmend und zusammenfassend: Keller (1989). Müller (1987), S. 251. Hauptsächlich die ethischen Aspekte des Terminus stellt Schröder (1968), S. 60-66 heraus; allgemein Gentry (1975). Müller (1987), S. 234^; dort genauere Nachweise. Die kognatischen Beziehungen spielen — entgegen den Erhebungen über die frühmittelalterliche Gesellschaft - eine besondere Rolle; vgl. Nolte (1995), S. 245 f. zur „Wertschätzung einer hochrangigen cognatischen Verwandtschaft", z. B. in der Ausgestaltung des Avunkulats (Günther - Ortliep). »JJ
Nibelungische Gesellschaft
Zeichnung von Herrschaft und Abhängigkeit: Herr und Mann".6 Schließlich gibt es besondere Bündnisse, Freundschaften, genossenschaftliche Verpflichtungen, besonders auch in der Form der Waffenbrüderschaft. Alle diese Beziehungen können mit vriuntschaft bezeichnet werden. Zusätzlich können am Rande dieses Geflechts Bindungen durch Gaben zwischen Ungleichen hergestellt werden, z. B. zu Boten. Der Kern des Personenverbandes läßt sich im wesentlichen als Interferenz der drei erstgenannten Kreise beschreiben, des verwandtschaftlichen, des herrschaftlichen und im weiteren Sinne genossenschaftlichen.7 Unter den vriunden sind die mägen, die Verwandten, besonders herausgehoben, ohne daß die Abgrenzung bei jeder Figur völlig klar wäre.8 Der offene Personenverband des Frühmittelalters, der Blutsverwandte unterschiedlichen Grades, auch Gefolgsleute und Verbündete einbezog,9 scheint seit dem n. Jahrhundert zur Konzentration auf die engere agnatische Verwandtschaft hin (wenn auch noch nicht die Kernfamilie) zu tendieren. Im ,Nibelungenlied' steht die burgondische Königsfamilie im Zentrum, auf die Kriemhilts Geschichte bis zur Werbung Etzels bezogen ist. Sie verläßt sich auf ihre Garantien, traut auch Hagen als Verwandtem: du bist min mac, so bin ich der din (898,1), bleibt nach Sivrits Tod in dem Schutz, den ihr die jüngeren Brüder bieten, und lehnt es ab, Sivrits Vater dorthin zu folgen, wo sie lüt^el künnes (1081,4), niemen mage (1085,3), Blutsverwandte also, hat, selbst wenn sie deshalb unter denen leben muß, die Sivrit töteten, und selbst wenn ihr in Xanten die Herrschaft angeboten wird. Sie erfährt in Worms die Unterstützung ihrer Verwandten Giselher und Gernot und stimmt der Versöhnung mit Günther zu. Noch die Werbung Etzels um ihre Hand wird von den Brüdern gefördert, denn sie liegt im Interesse des Hauses insgesamt, wie Günther betont: des sol ich ir wol gunnen: si ist diu swester min. wir solten^ selbe werben, ob e% ir ere mähte sin.
(1204,3f.)
Solche Verbände sind durch wechselseitige hulde (Jamiliaritas) verknüpft.10 Auf die Bindung an ihre mägen kann Kriemhilt ihre verräterische Einladung stützen, können, wenn sie sie annehmen, die Bürgenden scheinbar vertrauen; ihretwegen schöpft Etzel keinen Verdacht. 6 7 8
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Hennig (1981), S. 179. Althoff (1997), S. 185. In der Überlieferung des .Nibelungenliedes' scheinen mägen und frlunt austauschbar (vgl. etwa die Varianten von 1077,2 u. 3 in A 1017, B 1074, C 1088 sowie Batts, S. 324^)· Anderwärts wird deutlicher zwischen Verwandten und Gefolgsleuten unterschieden, etwa wenn Karl im .Rolandslied' fragt: manufrunt und man (Rl 8811). R.H. Bloch (1986), 5.144 unter Berufung auf Georges Duby, Marc Bloch und Karl Schmid, S. 3063. Die in der Geschichtswissenschaft umstrittene Frage einer Umstrukturierung der offenen Personenverbände des Frühmittelalters in die agnatisch organisierte Familie des Hochmittelalters (Schmid) kann im folgenden außer Betracht bleiben, da es nicht um Aussagen über außerliterarische Verhältnisse geht. Grundlegend Althoff (19913/1997), S. 199-228; vgl. S. 202f. 154
Personenverband
Die Einbettung in den Verwandtschaftsverband ist problematische, freilich nicht problematisierte Voraussetzung des Handelns. So ist Sivrits Vertrauen auf die magen seiner Frau (923,2) nicht einfach törichte Verblendung, sondern ergibt sich aus dem Verhältnis, in das er mit seiner Heirat eingetreten ist. ine wei^ hie niht der Hute, die mir iht banges tragen. alle dine mage sint mir gemeine holt, ouch ban ich an den degenen hie niht anders versolt. (923,2—4)"
Der Mord an ihm befleckt alle Verwandten, sogar seinen eigenen völlig unbeteiligten Sohn, dem man vorwerfen (itewi^eri) wird, daß sine mäge iemen wörtliche ban erslagen (995,zf.). Über Kriemhilt ist Etzel den Bürgenden verwandtschaftlich - durch vriuntschaff verbunden (1406,2f.). Daher spricht er von Kriemhilts Verwandten (den vriunden din, 1407,2) auch wie von seinen eigenen (Jriunde mine, 1861,3). Noch in der ,Klage' betrauert er nicht allein den Verlust von Frau und Sohn, sondern auch den der konemagen (Kl 825), obwohl diese doch an deren Tod und dem seiner Leute schuld sind. Verwandtschaft dient auch in anderen mittelalterlichen Texten als ein kognitives Modell für Zusammenhänge unterschiedlicher Art. 12 Sie in Frage stellen heißt deshalb eine Grundlage mittelalterlicher Lebensordnung untergraben. Hagens Handeln ist überwiegend nicht aus den Bindungen an die Verwandten, sondern aus denen an seine Herren ableitbar. Kriemhilts Vertrauen auf Verwandtschaft (898,1) nutzt er für seinen Mordanschlag aus, der der burgondischen Königsherrschaft dienen soll. Kriemhilts Anrede: vil lieber vriunt und ihr Appell an seine genade sind verhängnisvolle Irrtümer; vriunt nennen ihn mit größerem Recht die Könige.'5 Vriunt ist auch im herrschaftlichen Kontext ein Verhältnis von nahezu Gleichen, gestützt auf Gegenseitigkeit, wie sich herausstellt, als Kriemhilt Hagen aus dem burgondischen Königserbe als Gefolgsmann beansprucht: jane mac uns Günther %er werlde niemen gegeben. Ander iwer gesinde da^ lat iu volgen mite, want ir doch wol bekennet der Tronegare site: wir müe^en bi den künigen hie en hove bestan. wir suln in langer dienen den wir alher gevolget ban.
(698,4—699,4)
Die begrenzte Verfügungsgewalt der Könige impliziert nicht Selbständigkeit des Vasallen. Hagen handelt anstelle des Königs für die verletzte Ehre der Königin gegen Sivrit. Er schützt die burgondische Herrschaft vor der Gefahr durch unkunde[] recken (1127,2), schätzt die Bedrohung durch Etzels Macht richtig ein; er nimmt selbst an einem Unternehmen, das er mißbilligt, teil: Wer seine Herren einlädt, lädt auch ihn ein, denn er hat sie auf jeder Hofreise begleitet: die hei^ent mine berren, so bin ich ir man (1788,3). " Vgl. Müller (1987), S. 236. lz Peters (1994); vgl. dies. (1990); Bertau (1983), S. 190-240; Bloch (1986), S. 50-37. I} Etwa 2106,4; m diesem herrschaftlichen Sinne alternierend mit man (2105,3).
Nibelungische Gesellschaft
Hagen repräsentiert einen in mittelalterlicher Epik verbreiteten Typus von Helfergestalten, auf denen das Überleben des Gemeinwesens beruht: Wate, Berhter, Hildebrant usw. Herr und Mann sind nichts ohne den anderen. Dabei überwiegt in der deutschen Epik die Abhängigkeit des Herrn vom Mann die umgekehrte; stets beweist der Mann seine durch nichts zu gefährdende trium. Die gegenseitige Verpflichtung wird im heldenepischen Experiment in extreme Konsequenzen getrieben, so daß alle anderen sozialen Bindungen ausgeblendet werden können. Dietrich gibt im ,Buch von Bern' sein ganzes Reich auf, nur damit er das Leben seiner treuesten Gefolgsleute retten kann.'4 In Eilharts der Heldenepik noch eng verwandtem Tristrant' fördert der Gefolgsmann sogar den Ehebruch seines Herrn, um ihn von der tödlichen Minnekrankheit zu retten.1' Umgekehrt meidet Tristrant dem Gefolgsmann zuliebe ein Jahr lang seine Geliebte.'6 Vor solchem Hintergrund ist Hagens radikale Bindung an seine Herren'7 nichts Erstaunliches: seine Rücksichtslosigkeit gegenüber Kriemhilt, sein Entschluß, das eigene Leben durch die Fahrt zu Etzel aufs Spiel zu setzen, seine rigorose Unerbittlichkeit, der Unverletzlichkeit seines Eides zuliebe die letzten burgondischen Überlebenden zu opfern. Wegen dieser engen Bindung ist es aber auch ausgeschlossen, daß er als einziger Schuldige Kriemhilts Rache geopfert wird (21042107). Die gegenseitige Verpflichtung von Herr und Mann gilt absolut und bis zur Selbstzerstörung. Eine Einzelverantwortung außerhalb dieser Bindung gibt es nicht. Das stellt erst die ,Klage' in Frage (Kl 259-269). Indem die Schuld auf den einen Hagen geschoben, mithin individualisiert wird, setzt sich ein abstrakteres Prinzip von Schuld und Verantwortung auf Kosten des Prinzips strenger Wechselseitigkeit im Epos durch.'8 Am wenigsten fixiert sind vertragsähnliche Bindungen zwischen Personen, die weder verwandt sind noch in einem Verhältnis herrschaftlicher Unterordnung stehen. Hierzu gehört die Waffenbrüderschaft zwischen Sivrit und Günther und vor 14
Vgl. Müller (1980), S. 2281". '' Tristrants Tod würde auch die arme[n] lüte Kurneval und Brangäne in ihrer Existenz bedrohen (vorlise wir unser herschaft,/so werde wir sere schadehaft, Trt 2624—2626). Um den Zitataufwand nicht durch Parallelfassungen zu belasten, zitiere ich den ,Tristrant' nach der — grundsätzlich problematischen — Ausgabe von Lichtenstein. 16 Der Vasall Kurneval verlangt das von ihm, damit er an ihr die Kränkung seiner Ehre rächt, sonst kündige er ihm den Dienst auf (Trt 7063^). Das dem man gegebene Versprechen gilt fort, auch nachdem Tristrant und Isalde schon wieder versöhnt sind. 17 Hagen verwahrt sich einerseits gegen einen Status wie den des Ministerialen, den man einfach verschenken kann, andererseits ist er den Königen ergeben wie dieser. Czerwinski (1979) betont die Widersprüchlichkeit dieser Konstellation: „Der beste, weil stärkste Vasall ist der, gegen den der Herr seinen Willen schon nicht mehr durchsetzt" (S. 74). Indem Hagen diesen Willen aber allein an Vorteil und Ehre seiner Herren - selbst gegen deren explizit bekundete Absicht - orientiere, repräsentiere er jedoch bereits „die andersartige, tatsächlich feste Gebundenheit des moderneren Funktionsträgers. Das heißt, das Neue kann als solches offenbar nicht ausgedrückt werden, sondern muß als Perfektionierung des Prinzips erscheinen, das es auflöst" (S. 75). 18 Vgl. Kl 238-240; Kl C 1321-1323. 156
Personenverband
allem die zwischen Hagen und Volker. Die erste erweist sich als labil, da sie mit herrschaftlichen Abhängigkeiten verwechselt wird. Die zweite aber, die nur auf einem informellen Versprechen gegenseitigen Beistands basiert (lyyyf.), ist im Schlußteil des Epos der idealisierte Gegenentwurf zur Perversion verwandtschaftlicher und zur Katastrophe herrschaftlicher Bindungen. Anders als diese wird sie keinerlei Belastungen ausgesetzt und bewährt sich konfliktfrei bis in den Tod: Am vollkommensten ist vriuntschaft, wo sie sich von andersartigen sozialen Bindungen gelöst hat. Diese drei Typen von Bindungen garantieren allein einen übergreifenden sozialen Zusammenhang, doch erzählt das Epos, wie sie miteinander in Konflikt geraten, da sich Beziehungsnetze immer nur durch die Verknüpfung einzelner Elemente mit einzelnen Elementen aufbauen und es keine abstrakt-allgemeinen Bindungen oberhalb solcher Einzelverknüpfungen gibt.'9 Auf den Verwandten und den Gefolgsmann ist kein absoluter Verlaß, weil einander widersprechende Verhältnisse darunter subsumiert sein können. Der vriunt von heute kann der Gegner von morgen sein. Das prägt sich in paradoxen Formulierungen aus wie jener über Etzels Verhältnis zu Hagen: sinen friunt von Tronege den bet er rehte ersehen, der im in siner jugende vil starken dienest bot. sit frumt' er im in alter vil manigen lieben vriunt tot.
(1757,2-4)
Hagen ist jetzt vriunt - als Gast und Gefolgsmann der konemägen* oder weil er früher zu Etzel in einem Dienstverhältnis stand? -, wird aber später andere vriunde Etzels Verwandte, Lehens- und Gefolgsleute? - totschlagen. Die ,kettenförmige' Verknüpfung einzelner Elemente des sozialen Verbandes wirkt sich verhängnisvoll aus: Kriemhilt kann damit rechnen, daß die Einladung an die Brüder das Kommen Hagens nach sich zieht; dessen vriuntschaft mit Volker involviert diesen in den Konflikt, mit dem er anfangs gar nichts zu tun hatte; sukzessive werden die hiunischen Gefolgsleute in den Kampf verwickelt. Zwar fehlen bisweilen die Zwischenglieder, so daß die Kette unterbrochen ist, doch dann treten Umstände ein, die die notwendigen Verbindungen schaffen: Etzel läßt sich erst spät an seinen burgondischen vriunden irremachen; er ist nur durch verriu sippe mit Sivrit verbunden, wie Hagen spottet (2023,1), und daher nicht zur Rache verpflichtet - solange bis der Mord an seinem Sohn auch ihn hereinzieht (2095). Dietrich lehnt es zunächst ab, für Kriemhilt zu kämpfen, da ihm ihre mage der leide niht getan haben (1901,3). Doch das hit (2319,1), das er durch den Tod seiner eigenen Leute erfährt, zwingt ihn, gleichfalls einzugreifen.
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Althoff (1997) hat an vielen Beispielen dargestellt, wie schwierig es war, die unterschiedlichen „Verpflichtungshorizonte [...] miteinander in Einklang zu bringen" (S. 186) und daß sich keineswegs immer die herrschaftliche Verpflichtung durchsetzte.
157
Nibelungische Gesellschaft
Vor allem Kriemhilts Bemühen geht dahin, die fehlenden Kettenglieder zu ergänzen und alle ihrem Racheplan gefügig zu machen. Zerren zwei Ketten in unterschiedliche Richtungen, so muß die eine Bindung zuerst gelöst werden, bevor die andere wirksam wird: so Kriemhilts Bindung an Giselher, so die Etzels an die vriunde seiner Frau oder die Rüedegers an seine Gastfreunde. Die Verbindung der Kettenglieder erweist sich als unterschiedlich fest; die Rangfolge ist: Waffengemeinschaft, Vasallität, Verwandtschaft, Verpflichtung mittels Lohn (miete). Auch wird sie unterschiedlich bewertet. Am höchsten steht eine freiwillige Bindung von Gleichen wie die zwischen Hagen und Volker, die weder auf gentilizischer noch vasallitischer noch ökonomischer Grundlage basiert. Sie vertritt das Prinzip persönlicher Bindung in emphatischer Reinheit: swä so friunt bi friunde friuntlichen stät (1801,2). Da also, wo die Haltbarkeit tatsächlich am stärksten gefährdet ist, weil sie durch kein dingliches Substrat gewährleistet wird/0 ist sie umso ruhmwürdiger. Emotionale Orchestrierung ersetzt hier, was an institutioneller Absicherung fehlt. Ihr Zerrbild ist das Bündnis auf Zeit zwischen Günther und Sivrit, das zerfällt, wenn der gemeinsame Zweck erreicht ist. Am geringsten gelten Verpflichtungen, die man sich mit Gold kaufen muß. Zwar überbietet das hiunische Machtgefüge alles je zuvor;21 selbst Sivrit hatte nie, trotz seines unermeßlichen Besitzes, so viele recken edele wie Etzel (1368,4)." Doch wenn es zum Kampf kommt, wird die ganze Macht zur gesichtslosen Masse, die ohne großes Bedauern hingeschlachtet werden darf. Mit Etzels Macht scheitert der komplexere staatliche Verband am Nahverhältnis heroischer trium. Auf die Hiunen ist insofern - trotz der auffälligen Schonung Etzels - das Heidenklischee der Kreuzzugsepik übertragen (obwohl doch sonst die Merkmale einer paganen Gegenwelt ganz zurückgedrängt sind): Der burgondischen Waffenbrüderschaft wird (wie dem christlichen Heer dort) ein zwar zahlenmäßig überlegener, doch dauernd vom Zerfall bedrohter heidnischer Herrschaftsverband konfrontiert. Wie in der Kreuzzugsepik müssen die Heiden mit Drohungen und Gewalt gezwungen werden, in den Kampf einzugreifen, wo die Bürgenden (Christen) mit unerschrockener Zuversicht zum Sieg (Martyrium) drängen. Lohn ist auf hiunischer (heidnischer) Seite ein Motiv niedriger Gier. Anders erweist sich der Zusammenhalt des Personenverbandes an Etzels christlichen Kriegern im Exil. Hier werden herrschaftliche Strukturen durch Waffenbrüderschaft überlagert. Irinc und seine Leute werden an ihrer Ehre (schände, 2027,4!) gepackt, wenn Volker ihnen vorwirft, sie genössen Etzels Gastfreundschaft, ohne ihm in seiner not zu helfen. Nahezu reflexhaft stürzt Irinc sich in den aussichtslosen Kampf: Zu den dinglichen Voraussetzungen des Lehnswesens: Ganshof (1957/1967), S. i 6 i f . , i6j{. Hennig (1981), S. i78f. zur abweichenden Herrschaftsstruktur des Hiunenreichs. Vgl. 1339-1347. Zwölf recken unter ihnen werden durch Kriemhilts Kuß ausgezeichnet; zwölf Könige sind an ihrem Hof (1391,3). 158
Treuekonflikte „ich ban üf ere lä^en nu lange miniu dinc und han in Volkes stürmen des besten vil getan. nu brinc mir min gewafen: ja wil ich Hagenen be stan."
(2028,2-4)
Sein Entschluß bindet seine Gefolgsleute so sehr, ihm zu folgen und mit ihm ihr Leben zu wagen, daß er sie fußfällig bitten muß, da^ si in eine liefen den recken bestan (2035,2): Anders als die Hiunen muß man sie nicht nur nicht bestechen, damit sie kämpfen, sondern kann sie kaum davon abhalten. Die Warnung des sterbenden Irinc, sich nicht durch Kriemhilts Gold verführen zu lassen, verfängt bei ihnen nicht (2068), denn es geht ihnen nicht umgo/f, sondern darum, den vriunt zu rächen; so stürzen sich Irincs mage und Verbündeten trotzdem in den Kampf und kommen alle ums Leben. Es gelingt Kriemhilt erst in dem Maße der Gäste Herr zu werden, in dem sie gegen sie ihresgleichen, gleich strukturierte Personenverbände aufbieten kann, die Dänen, die Leute Rüedegers, schließlich Dietrich und sein Gefolge. Die Typen sozialer Beziehungen, aus denen sich der Personenverband aufbaut, sind also deutlich gewichtet.
Treuekonflikte Das entworfene Bild gesellschaftlicher Integration ist um 1200 bereits archaisch. Es wertet ökonomische und politische Strukturen oberhalb persönlicher Bindungen ab, die auf Kosten aller anderen idealisiert und untereinander harmonisiert sind. Wenn bei Hagen der herrschaftliche Aspekt vorherrscht, dann wird er, wenn Hagen sich zur positiven Figur wandelt, durch die voraussetzungslose Freundschaft zu Volker ausbalanciert, nicht anders bei Rüedeger, der, wenn er seiner Lehensverpflichtung folgt, seine Bindung an die burgondischen vriunde noch einmal demonstrieren darf. Herrschaftliche Bindungen werden anders als in der Rebellenepik der chansons de geste, nirgends in Frage gestellt und sind mit den .horizontalen' Bindungen an den vriunt vorab harmonisiert. Mit den Machtkämpfen und ständischen Differenzierungsprozessen in Reich und Territorien um 1200 hat das nur oberflächlich zu tun; politisch aktualisierende Deutungen sind deshalb gescheitert. Betrachtet man freilich die Konsequenzen jener uneingeschränkt positiven Bindungen, dann wird vor allem ihre Gefährdung reflektiert. Ihre Repräsentanten triumphieren allemal, jedoch im Untergang. Im Falle Hagens sind die Verpflichtungen gleichgerichtet; zwischen der triuwe zu Volker und der zu seinen Herren gibt es keinen Konflikt, aber er zieht beide ins Verderben. Im Falle Rüedegers widersprechen sie einander mit tödlichen Konsequenzen. Die Waffenbrüderschaft Sivrit Günther wird herrschaftlich (fehl-)interpretiert. Insofern erweist sich der Versuch einer Harmonisierung ,horizontaler' Bindungen (gegenüber Gleichgestellten, also etwa den Verwandten und Gästen) mit .vertikalen' (gegenüber Höhergestellten, 159
Nibelungische Gesellschaft
also etwa dem König) als voraussetzungsreich hybride Veranstaltung von Gnaden des Erzählers - mit fatalen Folgen. Die Verpflichtungen des Personenverbandes sind nicht alle miteinander kompatibel. Das Epos spielt alternative, zum Teil antagonistische Optionen durch. Es gibt da keine Lösung, allenfalls wie im Fall Rüedegers die sentimentale Gebärde, die die Aporie ausdrückt. Persönliche Verpflichtungen im Namen anderer zu brechen, ist in jedem Fall Verrat und Treubruch. Eindeutig ist die Kritik an der Ermordung Sivrits. Günther gibt im Mordrat zu bedenken: er was uns ie getriuwe (868,4), und der todwunde Sivrit wiederholt das wörtlich: ich was iu ie getriuwe (989,3). Der Erzähler kann kaum genug tun, beim Mord an Sivrit die starken untriuwe (876,2), den gro%e[n] meinrät (906,3), den ungetriuwen tot (988,4) anzuprangern, und er mahnt: sus großer untriuwe solde nimmer man gepf legen (9i5,4)/ 3 Im Verrat ist das Fundament des Personenverbandes - des Inbegriffs sozialer Ordnung - getroffen, und deshalb wirkt er weit über die unmittelbar Beteiligten hinaus: ir habt an iuwern mägen leider übele getan (989,4), trifft auch die, die mit den Tätern ihrerseits durch persönliche Bindungen zusammenhängen, und stigmatisiert künftige Generationen (990). Das ist eindeutig, und trotzdem ist die Ermordung Sivrits durch eine konkurrierende /rwwtf-Bindung, die Hagens an Prünhilt, begründet, und der Rache für den Verrat werden andere triuwe-Verpflichtungen skrupellos geopfert werden. Die moralische Wertung ist gegenüber dem sozialen System hilflos. Mehrfach und in immer neuen Konstellationen wird vorgeführt, wie sich personale Bindungen überkreuzen und gegenseitig ausschließen können. Und jedesmal ist Verrat die Folge. Hagen folgt einer sozialen Norm von ähnlicher Verbindlichkeit wie die, die ihn auch an Sivrit - den friunt der Könige, den Verbündeten, den Waffengefährten binden müßte. Er entscheidet sich für die Bindung an das Königshaus, handelt nicht als mac Kriemhilts (898,1), sondern als man Günthers.24 Seine Entscheidung bleibt im Kommentar des Erzählers und der Figuren problematisch, wird aufgewertet erst, als sich eine noch problematischere anbahnt: die Entscheidung Kriemhilts gegen die nächsten Verwandten. Damit nämlich rückt Kriemhilt in die Position des Verrats ein, die Hagen im ersten Teil eingenommen hatte. In der Kontroverse um Rüedeger wird ein vergleichbarer Konflikt durchgespielt. Sie wurde oft dargestellt und muß hier nicht wiederholt werden.2' Es kommt hier nur darauf an, den Konflikt als Reflexionsmedium der Aporien des Personenverbandes zu erkennen. Vom Ergebnis her ist klar: Der Pflicht gegenüber dem Lehensherrn Etzel (dazu dem Eid gegenüber Kriemhilt) wird die Bindung an die 2J
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Unverständlich sind daher Versuche (z. B. Grenzler, 1992, S. 375-379), diese eindeutigen Urteile wegzudisputieren. Hennig (1981), S. 179 weist daraufhin, daß die verwandtschaftliche Komponente im burgondischen Herrschaftsverband zugunsten der lehensrechtlichen zurückgedrängt ist. Vgl. zusammenfassend Splett (1968), S. 70-106; zuletzt — wieder stark psychologisierend — Campbell (1996).
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Treuekonflikte
burgondischen/räWi aufgeopfert. Die Entscheidung ist eindeutig, ihre Grundlage keineswegs. Das Votum für die Lehensverpflichtung ist nicht mit dem für ,das Recht' gleichzusetzen: Rüedeger muß Recht brechen.26 Die herrschaftliche Bindung erscheint als unausweichlicher Zwang, wie der Erzähler Rüedeger unablässig beteuern läßt: e^ muo^ hiute gelten (2163,2); ich muo^ iu leisten als ich gelobet han (2166,3); die küenen Bürgenden die muo^ ich leider bestan (2167,4); Jane mac ichs nihtgeladen (2178,1); ich muo^ mit iu striten, wände ich^gelobt han (2178,2); mich enwoldes niht erlägen des künec Etyelen u>ip (2178,4). Was sich durchsetzt, wird mithin als von außen auferlegt erfahren/ 7 Trotzdem, durchsetzen muß und wird es sich. Die Bindung an den Lehensherrn wird effektvoll inszeniert im pathetischen Fußfall Etzels und Kriemhilts vor Rüedeger, wie er vielleicht auf den Fußfall Barbarossas vor Heinrich dem Löwen oder vergleichbare Rituale anspielt.28 Allerdings ist dieser Akt nur Kontrafakt des (vorausgehenden!) Fußfalls Irincs vor seinen Gefolgsleuten, stellt im Erzählzusammenhang also das Gleichgewicht gegenseitiger Verpflichtungen wieder her. Geht es jetzt darum, Rüedeger zum Eingreifen für den Herrn zu veranlassen, dann war vorher das Ziel, die Gefolgsleute am Eingreifen für den Herrn zu hindern. Die Unterwerfungsgeste macht also nicht anklagend die Verbindlichkeit herrschaftlicher Bindungen in einer Verkehrung der legitimen Hierarchie sichtbar, sondern betont wieder die wechselseitige Abhängigkeit von Herr und Gefolgschaft. Was als herrschaftlicher Zwang , oben nach unten' fraglos gilt, wird durch die korrespondierende Geste , unten nach oben' relativiert. Beide Male gelingt die Geste der Preisgabe an den Partner im Herrschaftsvertrag, indem sie diesem alle Alternativen verbaut. Rüedeger kann noch versuchen, die Lehensbindung aufzulösen (was mißlingt);29 er kann seine Situation beklagen (was er ausgiebig tut); die Verbindlichkeit der Forderung Etzels in Frage stellen kann er nicht. Dagegen spielt das Versprechen gegenüber Kriemhilt, ihr leit zu büe^en (1257,2^), bloß eine untergeordnete Rolle und bloß anfangs.3° So - gegen Wapnewski (1960) - überzeugend Splett (1968), S. 87 und schon Harms (1963), S. 4of.; zu den rechtsverbindlichen Verpflichtungen gegenüber den Bürgenden auch Bernreuther (1994), S. 7679; zur Unlösbarkeit des Konfliktes S. 96—100. Wapnewski (1960) setzt hier - typisch neuzeitlich - einen Gegensatz zwischen .rechtlichen' und .sittlichen' Verpflichtungen voraus, von denen nur die letzteren personal gedacht sind (S. 384-388; 391-393). Eine solche Unterscheidung ist mittelalterlichen Vorstellungen vom Recht, das nichts Abstraktes ist, sondern sich in personalen Beziehungen realisiert, unangemessen. Panzer (1945), S. 178; vgl. Althoff (1992/1997), S. 71. Althoff (1993/1997), S. 254. Zur Zweideutigkeit des Eides S. 3641".; daß er den Ausschlag bei der Entscheidung gibt (Kühn, 1965, S. 295), geht aus dem Text nicht hervor. Die spätere Formulierung ich muo^ mit iu striten, wände ih^ gelobt han (2178,2) ist durchaus nicht zwingend allein auf den Eid gegenüber Kriemhilt zu beziehen (anders Naumann, 1932, S. 390). Nur den Kriemhilt geleisteten Schwur übrigens stellt Rüedeger unter den Vorbehalt, daß er das Seelenheil nicht gefährden dürfe (2150,3). Bernreuther (1994) arbeitet S. 97 heraus, daß die „Wahrung von je für sich positiven Rechtsbindungen", auf die Rüedeger sich 161
Nibelungische Gesellschaft
Rüedeger folgt, anders als der ,Verräter' Hagen, offen dem, was ihm auferlegt ist, und er geht, anders als er erwartet, unbeschädigt aus dem Konflikt hervor. Da es keine pragmatische Lösung gibt, muß er sterben; aber es gibt auch keinen Schuldigen, weshalb ihm unvergänglicher Ruhm zugesprochen wird.'1 Hatte er geglaubt, mich schiltet elliu diet (2154,3), so wird er tatsächlich von allen gepriesen werden. Dies ist jedoch nicht so sehr Ergebnis seiner besonderen Entscheidung, also des Umstandes, daß er der Vasallenbindung den Vorrang gibt, sondern erklärt sich aus der vorbildlichen Weise, in der er mit einer aporetischen Situation fertig wird. Objektiv verletzt jede Entscheidung oder Nicht-Entscheidung Recht (2154). Rüedeger aber kann zeigen, daß sein Verhalten auf beiden Seiten Recht bestätigt. Sein bewaffneter Auftritt vor den Burgonden wird von Volker sogleich als Erfüllung der Lehenspflicht verstanden: an uns ml dienen Rüedeger sin bürge und siniu lant (2173,4). Die ursprünglich entgegenstehenden Verpflichtungen gegenüber den Burgonden - Giselher hofft auf die Verwandtschaft (2172), Günther gedenkt der vil großen triuwe (2177,3), erinnert an triuwe unde minne, die ir uns habt getan (2179,3), Gernot an Gastrecht und Geschenke (2182; 2184) - können dagegen nichts mehr ausrichten. Die Erwartungen der Akteure sind übrigens ständisch genau ausbalanciert, indem jeder von der ständischen Position des anderen aus spricht: Es ist der Vasall Volker, der die Kraft der vasallitischen Bindung als die stärkere nennt, während die Könige die Hoffnung ausdrücken, daß die Rechtsbeziehungen zwischen Gleichen den Ausschlag geben werden.32 Auch das unterstreicht das Gleichgewicht. Das Gespräch mit den Burgonden wiederholt seitenverkehrt die Auseinandersetzung mit Kriemhilt und Etzel. Analog zur gescheiterten diffidatio dort bittet Rüedeger auch hier um die Auflösung rechtlicher Verpflichtung, jetzt derjenigen durch Konnubium, Gastrecht, Geleit und Geschenke: e do wären wir friunde: der triuwen wil ich ledec sin (2175,4)." Dieser Versuch mißlingt ebenso, wie auch die Hoffnung scheitert, daß die Bindung durch vriuntschaß den Kampf übersteht. Es zeichnet sich ein doppelter Bruch bestehender Verpflichtungen ab. Doch Hagens Eingreifen54 erlaubt, beide Seiten zu bestätigen. Hagens Bitte um Rüedegers Schild reaktiviert die Bindungen, gegen die Rüedeger zu verstoßen gezwungen ist.3'
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beruft, „nicht mehr selbstverständlich die Anerkennung vor Gott und der höfischen Gesellschaft" bedeutet. Insofern sehe ich in seinem Kampf keinen „Rechtsentscheid", der seine Beurteilung im Tod Rüedegers als Strafe der Verletzung von Recht fände (so Splett, 1968, S. 87-89, u. a. in Anlehnung an Nottarp). Vgl. Splett (1968), S. 91. Splett (1968), S. 78; 84-86. Kühn (1965), S. a% half in da^ er künec was? (1982,4), heißt es von Etzel. Ab jetzt gilt der Anspruch, da^ die herren vahten Caller vorderdst (2020,2); auch Etzel will sich dem nicht entziehen und muß mit Gewalt gehindert werden, sich ins Getümmel zu stürzen: da^ von so richem fürsten selten nu gescbibt (2022,2), wie der Erzähler anerkennend konstatiert. Der königliche Rang erhöht allenfalls den Glanz des Helden, so daß Wolfhart stolz darauf sein kann, daß ihm ein König die tödliche Wunde beibrachte (2302,4). Auch Rüedeger hat am Ende nur noch zu beweisen, daß er Held ist: da lief er %uo den gesten einem degen gelich.
(2206,3)
dem tet des tages Rüedeger harte wol gelich, da% er ein recke wäre [...]. (2213,3f.)
Durch mortrachen willen, um ihn zu töten nämlich, lassen die Bürgenden Rüedeger in den Saal: beten beide sin (2208,1 f.). Noch in der Totenklage um Rüedeger wird die Aufhebung ständischer Hierarchien sichtbar: Eine Klage so ungefuoge (2234,4; 2237,4), da^palas unde turne von dem wuofe erdd^ (2235,2), muß, so glaubt man, dem König oder der Königin gelten: Wie möhtens' anders alle haben solhe not? (2237,1). Tatsächlich beklagt man aber den recken Rüedeger. Erzählt wird dieser Irrtum nur, um desto effektvoller die richtige Wertung davon abzuheben: Nicht der Tod des Königs, sondern des Heros erregt solche Trauer. Auch die Amelungen werden in den Kampf hineingezogen, weil herrschaftliche Strukturen sich auflösen. Der König Dietrich hatte seinen Leuten strikt verboten zu kämpfen und bis zuletzt Sorge getragen, daß sie nicht in Kriemhilts Rache verwickelt werden: Er hatte sie vom bühurt , geschieden' (1874^), hatte beim Festmahl vride von den Bürgenden begehrt (1992,2), sich und seine Leute vom Kampf ferngehalten, sich nicht einmal als Vermittler hineinziehen lassen (2137) und sogar bei der Botschaft, die nach den Umständen von Rüedegers Tod sich erkundigen soll, jede Provokation zu vermeiden versucht (2240). Von Mal zu Mal war dieser Versuch deutlicher in Frage gestellt worden (1993; 2239; 2246), am deutlichsten von Wolfhart. Wolfhart gibt den Ton an, wenn die Amelungen zu den Bürgenden gehen, um Genaueres zu erfahren. In der wechselseitigen Provokation von Wolfhart und Volker bleibt dem König Günther nur eine ebenso abgewogene wie wirkungslose Lobrede für den, der noch für den toten vriunt sorgt. Den Ausbruch der Gewalt kann er damit nicht verhindern, nicht einmal Volkers herausfordernde Worte unterbinden. Wenn Wolfhart sich auf das Verbot seines Herrn beruft, erhält er von diesem zur Antwort: 188
Rehter beides muot der vorhte ist gar %e vil, man im verblutet, der^ alle^ la^en wil. kan ich niht geheimen rehten beides muot.
(2268,1-3)
Rehte[r] beides muot kennt offenbar keine von oben auferlegten Zwänge, auch nicht durch den König. Schon verhandeln heißt da verächtlich vlegen (2265). Die Drohungen eskalieren. Wolfharts tumben %prn kann Rücksicht auf des herren hulde nicht mehr zügeln (vgl. 2271,3f.). Mit dem Verzicht auf hulde zerreißt der Sozialverband. Nachdem so der Versuch Dietrichs, den Frieden zu erhalten, gescheitert ist (2137), bleibt auch ihm nur noch die Alternative Kampf, und das heißt selbstverständlich: Do gewan er widere rebten beides muot.
(2325,1)
Nicht mehr als König, sondern als Heros tritt er den Überlebenden Hagen und Günther im Einzelkampf entgegen.107 Im Streitgespräch mit Hagen und Günther setzt sich die Auflösung des Herrschaftsgefüges fort. Dietrich verlangt Sühne für das, was die Burgonden durch den Tod seiner Leute ihm (wider mich eilenden, 2329,3) angetan haben, zunächst vom König Günther (2336^). Doch es antwortet Hagen, der das Angebot ablehnt (2238). lo8 Der man, über den gleich mitzuentscheiden, Dietrich dem König vorgeschlagen hatte (du und ouch din man, 2337,1), erklärt sich zum Subjekt des Handelns. Darauf wendet sich Dietrich an beide gemeinsam, Günther unde Hagene (2339,2), doch wieder antwortet nur Hagen. Nachdem der Streit als Wortgefecht zwischen Hagen und Hildebrant, den beiden man, fortgesetzt wurde und Dietrich - letzter Rest königlicher Gewalt? - Hildebrant verboten hat weiterzureden, richtet er seine Rede nur noch an Hagen und verzichtet auf jede Hilfe anderer. Er nimmt Hagens Herausforderung als ein landflüchtiger Heros an: mich eilenden recken twingent gm^luhiu ser.
(2345,4)
Hagen ist seinesgleichen (2346,1^). Auch Günther darf jetzt Heros sein, so daß ihm die Ehre des letzten Kampfes bleibt, in dem er Dietrich an den Rand einer Niederlage bringt und einen herlichen muot, den muot eines Heros nämlich, zeigt (2359,4). In der Klimax der Aristien bleibt insofern noch ein Rest ständischer Rangfolge gewahrt, doch wird es Hagen sein, der als letzter getötet wird, so daß bis in die Schlußszene hinein das Gleichgewicht genau austariert ist. Gerächt wird am Schluß nicht der Tod des Königs, den die Schwester enthaupten läßt, sondern der des man Hagen. Wo König Etzel bloß klagt, obwohl er den fürchterlichen Hagen im Tod anerkennt (srvie vient ich im 101
log
Heinzle (19953) arbeitet heraus, daß damit und mit den anschließenden Geschehnissen „die heroische Ebene" endgültig erreicht werde (S. 229; vgl. S. 230, 233, 235): Das widerlegt das - übrigens bei Hebbel vorgeformte - Klischee von Dietrich als .neuem' auf Frieden setzenden Menschen (S. 225 f.). Daß der König aus dem Dialog ausgeschaltet wird, scheint heroische Tradition; vgl. Wolf (1976), S. 180 zum ,Waltharius'. 189
Nibelungische Gesellschaft
ware, e^ ist mir leide genuoc, 2374,4), da handelt der man Hildebrant im Dienste einer makabren poetischen Gerechtigkeit. Keine königliche Gewalt stellt Recht wieder her. Hildebrant darf um die Folgen seiner Tat ebenso unbesorgt sein (siva^ halt mir geschiht, 2375,2) wie zuvor Hagen. Das Heros-Werden der Könige ist eins mit der radikalen Destruktion der Ordnung, um deren friedliche Stabilisierung sie sich bemüht hatten.109 Und diejenigen, die vor der Gefahr des Heros-Werdens gewarnt hatten, werden Schritt für Schritt abgewertet: von Rumolt, dem Helden und Inhaber eines hohen Hofamtes, der zum ordinären Koch degradiert wird, über den Grenzwächter Eckewart, der seine Rolle verschläft, bis zu Dietrich, der anfangs nur redet und dann ,trauernd' herumsitzt, bis er endlich wieder ,ein Held wird'. Er bleibt mit Hildebrant und Etzel in der Vereinzelung zurück. Erst die ,Klage' läßt es sich angelegen sein, allenthalben neue soziale und politische Einheiten (wieder-)erstehen zu lassen. Helden gibt es da, gottlob, keine mehr. Frouwen Dieben
Was neben den Heroen auftaucht, zählt nicht viel. Das gilt vor allem für die Gruppen, denen die Adelskultur um 1200 das meiste verdankt, die Frauen und die clerici. Frauen spielen in heroischer Epik keine herausragende Rolle, wenn aber, dann häufig eine recht zweifelhafte."0 Heldenepik erzählt von einer Männerwelt. Das gilt so selbstverständlich, daß Günther sich vor der Burg Prünhilts, von deren amazonenhaftem Wesen er doch gehört hat, die Frauen, die er sieht, nur in der Obhut eines Landes^rr» denken kann: swi ir herre hei^e, si sint vil hohe gemuot.
(390,4)'"
In Heldenepik herrscht ein negatives Frauenbild vor."* Zumal der ,Rosengarten' entwirft ein Zerrbild weiblicher Macht, die sich weniger durch %uht auszeichnet, als die Züchtigung durch die Männer herausfordert. Im ,BiterolP ist dieses Bild zurückgedrängt, doch trägt hier Brünhilt Züge der vrouwe, die sich am blutigen Streit der Männer ergötzt. Das ,Nibelungenlied' entwirft nur anfangs ein ganz anderes Bild. 109
„Im Untergang herrscht wieder die überkommene feudale Welt, ihre Gewalt-Orgie fegt die neuen, friedlichen Verkehrsformen hinweg und läßt sie als lächerlich erscheinen" (Czerwinski, 1979, S. 79). 110 Frakes (1994) macht dies zum Schlüssel seiner Interpretation. Er zeigt, wie Kriemhilt und Prünhilt amazonenhafte Züge tragen, die freilich von den Figuren des Epos durchweg dämonisiert werden (S. 137-169). '" Die höfischere Fassung *C hat stattdessen: si gebannt dem geliche da^ si hohe sint gemvt (C 399,4). 111 Eine Ausnahme ist die ,Kudrun'. Bennewitz (1995), S. 48 hat darauf verwiesen, daß im .Nibelungenlied' zwar die theologisch begründete Misogynie fehlt, dafür aber das weit gefährlichere selbständige Handeln der Frau korrigiert werde, zumal in der *C-Redaktion; zur Kritik sog. feministischer' Deutungen ebd., S. 34-45. 190
Frouwen Dieben
Die fügende der jungen Kriemhilt (3,4) spiegeln den Zustand idealer höfischer Harmonie. Doch wirken diese tugende, anders als der Falkentraum anzukündigen scheint, nicht in der Erziehung des Mannes, sondern als Ansporn heroischer Werbung. Die Frau ist der Gewalt des Mannes unterworfen und dient der Ehre seines Hofes." 3 Daher wachen die Männer über die %uht der Frau. Sie, nicht die Männer, ist Objekt von Erziehung. Männliche Gewalt schließt Züchtigung ein. Mit der Beschimpfung Prünhilts hat Kriemhilt ihre durch fuoge gezogene Grenze überschritten. Ihr Verhalten kritisiert Sivrit als üppeclich und ungefüege, also unkontrolliert, spontanen Impulsen nachgebend und deshalb ordnungsstörend: „Man sol so vrouwen Dieben", sprach Sifrit der degen, „da^ si üppecliche Sprüche lä^en under wegen. verbiut e% dtnem wibe, der minen tuon ich sam. ir großen ungefüege ich mich war liehen schäm. " (862)
Was vrouwen Dieben heißt, macht schon der drohende Unterton der vorausgehenden Strophe deutlich (86 1), und Kriemhilt bestätigt später: hat mich sit gerouwen", sprach da^ edel wip. „auch hat er so ^erblouiven dar umbe minen lip; ich i% ie geredete da%_ beswärte ir den muot, hat vil u>o/ errochen der belt kiiene unde guot. "
(894)
Hinter der höfischen %uht, als deren vollkommenstes Muster Kriemhilt gilt, kommt eine andere , Zucht' zum Vorschein. Sie ist in mittelalterlichen Erzählungen reich bezeugt. Wie sehr sie Dressur ist, zeigt ein Maere wie das des Sibote. Als Sivrit sich auf seine Erziehungsrechte besinnt, ist es jedoch schon zu spät. Das Verhängnis, ausgelöst durch zwei Frauen, nimmt seinen Lauf. Immer mehr bestätigt sich, daß weibliche Macht gefährlich ist und deshalb eliminiert werden muß."4 Zuerst lehrte das Prünhilts Herrschaft. Sie wird mit dämonischen Mächten assoziiert. Aus einem Wettkampfmacht sie ein Spiel auf Leben und Tod: der ir da gert %e minnen, diu ist des tiuveles wip (438,4)."' Prünhilts Stärke gefährdet die patriarchalische Ordnung: su/a uns in disen landen nu verderben diu
?
(443,4)"6
Prünhilt wehrt sich vergebens gegen die Unterwerfung unter einen Mann, zuerst im Wettkampf, dann als Dancwart ihren Reichtum zu verschleudern anfängt, schließlich in der Hochzeitsnacht. Als Sivrit beim Ringkampf im Bett mit ihr zu unterlie-
"' Czerwinski (1979), S. 5 5f. 114 Frakes (1994), S. i6if. zum ideologischen Hintergrund. "' Ähnlich die Anspielungen auf den Teufel 442,2-4; 450,4; grundlegend Kühn (1965); vgl. Frakes (1994), S. 157-168; Frakes sieht die Charakterisierungen als titivel o.a. als an die jeweilige Figurenperspektive gebunden an, was der Erzählweise des Epos widerspricht. 116 Kriemhilt und Prünhilt als „Zielfläche männlicher Angstprojektionen": Bennewitz (1995), S. 50. 191
Nibelungische Gesellschaft
gen droht, gibt ihm der Gedanke Kraft, daß seine Niederlage männliche Vorherrschaft grundsätzlich gefährden müßte: „Owe", gedäht' der recke, „sol ich nu minen lip von einer magt Verliesen, so mugen elliu wip her nach immer mere tragen gelpfen mttot gegen ir manne, diu e% sus nimmer getuot." (673)
Prünhilts Unterwerfung (unter den falschen Mann!) bestätigt, wer der Herr zu sein und wer wen zu leiten hat: ich han da% wol erfunden, da% du kamt vrouwen meister sin.
(678,4)
Prünhilt wird gezähmt. Das erste und dritte Mal wird sie niedergeworfen; beim zweiten Versuch kommt es gar nicht erst zu einem dauerhaften Konflikt." 7 Kriemhilt dagegen sprengt die Fesseln männlicher %uht. In dem Maße, in dem sie die Möglichkeit zu selbständigem Handeln erhält, geht die Welt aus den Fugen. Bei ihr erweist sich auch das Verfügen über Besitz als gefährlich. Wenn sie ihren von Sivrit ererbten Hort dazu benutzt, fremde Krieger ins Land zu holen, bemerkt Hagen: e% solde ein f rumer man de keine m einem wibe niht des hordes .
( 130, i f.)
Kriemhilt will sich nicht mit dem zufriedengeben, was ihr durch ihren neuen Mann an Besitz zufällt: e
Z gewan küniges tohter nie richeite mer danne der mich Hagene äne hat getan.
(
, .)
Es wird dem Hörer eingehämmert, daß die Rache bis zum letzten, in der alles untergeht, Werk einer Frau ist, die ihre engsten Verwandten opfert: Z'einen sunewenden der gro^e mort geschach, da% diu vrouive Kriemhilt ir herben leit errach an ir ncehsten mägen und ander manigem man, da von der künec Et^el vreude nimmer mer gewan.
(2086)
Doch weniger die Rache selbst, als daß eine Frau sie übt, ist das eigentlich Anstößige. Wenn Kriemhilt selbst ihre Rache an Hagen vollstreckt, ist das sogar für Etzel zuviel, der doch Grund hätte, dem Mörder seines Sohns den Tod zu wünschen, denn es ist eine Frau, die Hagen erschlägt: „Wäfen [...] wie ist nu tot gelegen von eines wibes banden der aller beste degen [...]."
(2374,if.)
Das darf nicht sein, und deshalb rächt Hildebrant seinen toten Feind (2375,if.). Noch die letzte Tat eines Mannes im Epos ist ein Akt der ,Züchtigung'. Kriemhilt "7 Bennewitz (1995), S. 46. 192
Frouwen Dieben
hat etwas gewagt, das ihr nicht zustand, und wird dafür ,bestraft'. Die %uht hat dafür zu sorgen, daß aus der höfischen vrouwe nicht wirklich die Herrin wird. Was anfangs sich dem höfischen Kulturmuster Frauendienst und Erziehung durch minne zu fügen scheint, kehrt sich unter dem Beifall des Erzählers Schritt für Schritt in männliche Gewalt über Frauen um. Die angstbesetzt phantasierte, überlegene Frau ist ein Stereotyp der Heldenepik, ebenso wie ihre gewaltsame Bestrafung. Die Kriemhilt des .Rosengarten' unterwirft sich die Kampfkraft der Männer, indem sie ihr wechselseitiges Abschlachten als Schauspiel genießen will, und das zeigt, daß man an ihrer ,Zucht' etwas versäumt hat: warumbe lat ir den willen ir? war^uo hat ir sie gezogen? (Ro A 174,2). Sie wird dafür bestraft durch die blutige Niederlage aller ihrer Leute, aber auch, indem der Preis, den sie für den Sieger im Kampf versprochen hat, ein helsen und küssen, einigen Kombattanten Anlaß ist, ihr das Gesicht blutig zu kratzen. Wenn in Kriemhilt noch in der Verzerrung ein Bild der höfischen vrouwe zu erkennen ist, die die Ritter zu höchster Bewährung anspornt, dann ist dieses Bild hier zur Weiberherrschaft verbogen, die ihre verdiente Strafe erhält. Das Stereotyp findet sich sogar in der ,Kudrun', wo der Frau die Aufgabe zufällt, die politische Ordnung dauerhaft zu sichern. Der rohe Gewaltcharakter der Wendung vrouwen Dieben ist dort eher noch rücksichtsloser: Sie bezeichnet das Blutbad, das der Heros Wate unter Kudruns Gegnerinnen anrichtet, wobei er sein Gemetzel mit den Worten begleitet: ich bin kamerare; sus kan ich frouwen pichen.
(K 1528,3)
Solch brutale ,Erziehung' scheint selbst hier noch der Preis dafür zu sein, daß die Friedensordnung der ,Kudrun' am Schluß sich einer Frau statt einem Mann verdankt, was doch eigentlich, wieder Wate zufolge, unsinnig ist: solfe ich nu frouiven volgen, war täte ich mimn sin? (K 1491,2). Selbst die ,Klage', sonst doch peinlich bemüht, alles Problematische in Ordnung zu bringen, hat an diese Konsequenz nicht gerührt: einige bedauernde Worte Hildebrants über Kriemhilts Tod sind alles; Sanktionen, wie er sie doch offenbar selbst befürchtete (swa^ halt mir geschiht, 2375,2), gibt es keine. In ihrer Rechtfertigung Kriemhilts bleibt der .Klage' nur der Ausweg, auf das beliebte Klischee weiblicher Schwäche zu setzen: Beschränkte Einsicht einer Frau (kranke sinne, Kl 243; vgl. 1910) war es, die die schrecklichen Folgen verschuldete. Rache widerspricht grundsätzlich dem weiblichen Geschlecht, nur blieb Kriemhilt keine Wahl, wo kein Mann ihr half: sine bete mit ir henden, ob si mähte sin ein man, ir schaden, als ich mich verstan, errochen manege stunde. geschehen e% nine künde, wand si bete vrouwen lip. (Kl 128—133)
Nibelungische Gesellschaft
Die Ursache des Burgondenuntergangs nennt der Verfasser deshalb ein wunder, weil vielleicht am großen Pathos des Heros, kaum aber am %prn einer Frau zwei Reiche zugrundegehen dürfen: Für wunder sol man^ immer sagen da^ so vil helede wart erslagen von eines wibes %prne. (Kl 317-319)
Erzählenswert ist die Geschichte, weil solch eine Rache außerhalb des Gewöhnlichen liegt: des hat man immer genuoc da von noch %e sagene, wie da% kam da% Hagene stürbe von einem wibe. (Kl 736—39)
So ungeheuerlich ist das, daß viele es für lüge halten, obwohl es doch warheit ist (Kl 743f.). Die ,Klage' rechtfertigt Kriemhilt nicht, sondern entschuldigt sie, weil sie ja nur eine Frau war. Vorbildliche höfische %uht, wie sie Kriemhilt zu Anfang repräsentiert, ist nur die Kehrseite von Schwäche und bedarf der Züchtigung, wo das vergessen wird.
Warum der pfaffe
als Opfer des Heros?
Gänzlich marginal ist die Rolle der elend."* Ihre Einschätzung kann an jenem unseligen pfäffen abgelesen werden, den Hagen rechtzeitig, bevor die Kämpfe zwischen den Heroen ausbrechen, in die Donau wirft, wodurch er ihn unfreiwillig vor dem Tod bewahrt. Warum eigentlich muß ausgerechnet der pfaffe, von dem sonst nie die Rede ist, von Hagen fast ermordet, doch dann als einziger gerettet werden? Die Szene gewinnt erst Profil, wenn man sich Alternativen vergegenwärtigt und sich die Rolle von pf äffen in vergleichbaren Texten ansieht. Der pfaffe bleibt im ,Nibelungenlied' ganz blaß, ist z. B. nicht durch die msheit charakterisiert, die sonst seinen Stand auszeichnet. Dank dieser wisheit kann er in anderen Erzählungen als vorsichtiger Ratgeber bei waghalsigen Unternehmen auftreten, als Gegenpart heroischen Wagemuts. Im ,Liet von Troye' z. B. warnt einer der Söhne des Priamus, Elenus, im königlichen Rat vor den gefährlichen Folgen des Abenteuers, das Paris vorschlägt. Seine Kritik wird höhnisch zurückgewiesen, denn man weiß, was man von der Instanz zu halten hat, die sie vorträgt:
In der *C-Gruppe ist sie etwas verstärkt: die Strophe 1523, in der erstmals wieder die Nibelunge auftauchen, ist ersetzt durch die Erwähnung eines geistlichen Beistandes für die Fahrt zu Etzel: In der selben t^eiten was der gelaube nach chranckch (a 1559,1), Zeichen dafür, daß schon der Bearbeiter das Defizit bemerkte. 194
Warum der pfaffe
als Opfer des Heros?
Armer bleiche wissage Vnseliger cappelan Ir soldet %y dem bethus gan We uwern buchen. [...] (LvTr 2266—2269)
Wer zur Vorsicht rät, ist ein pfaffe. Ein pfaffe ist auch, wer Künftiges prognostiziert, erst recht wer den unglücklichen Ausgang heroischer Unternehmen vorhersieht. Das ,Liet von Troye' bemüht ein beträchtliches Aufgebot an Unglückspropheten, und sie sind alle dadurch gekennzeichnet, daß sie ihre Weisheit den Büchern verdanken."9 Prophetic ist zur Buchwissenschaft rationalisiert. Buchkundige aber sind nach dem Verständnis der Zeit vor allem clerici, und als solche werden einige der Verkünder künftigen Unheils auch gezeichnet. Nichts davon findet sich im ,Nibelungenlied'. An den Warnungen vor der gefährlichen Fahrt haben weder Bischof noch Hofkaplan teil. Sie sind Sache der Krieger selbst: anfangs Hagens und Rumolts, später Eckewarts und Dietrichs. Weitere Stimmen kommen nicht zu Wort. Die Rolle der mssagen gehört ebensowenig zur Welt des Buchwissens; es gibt die Sprüche prophetisch begabter weiser Frauen und Träume, doch zu deren Deutung ist keine Gelehrsamkeit erforderlich. Der pfaffe hat da nirgends einen Platz. Aber offenbar muß gerade das erzählt werden. In der Szenenfolge des Epos sind Spuren einer Ersetzung zu erkennen: Der pfaffe wird ausdrücklich entfernt. Als Gegenstand der düsteren Weissagung der Wasserfrauen würde er nicht notwendig gebraucht, mithin auch nicht als Probe auf deren Wahrheitsgehalt, denn an jedem anderen im Heer wäre die Prophezeiung ebensowohl zu überprüfen. Der pfaffe muß, wo er nicht Wissender ist, wenigstens Opfer des Wissens sein, des anderen Wissens, das Hagen und die merivip vertreten. Doch die gotes hant (1579,3) rettet ihren Diener. Dabei steckt in Hagens grundloser Aggressivität (%ornec, 1578,3) und im Spott über die Hilflosigkeit des pfäffen (er kann nicht schwimmen, strampelt genote, schüttelt am sicheren Ufer seine nassen Kleider) der Rest einer Kontroverse, wie sie das ,Liet von Troye' erzählt, der Kontroverse zwischen todesmutigen Kriegern und vorsichtigen Klerikern. Sie ist im ,Nibelungenlied' sogar noch blasphemisch zugespitzt, indem Hagen den Pfaffen ob dem heilectuome ergreift (1575,2) und zu ertränken versucht. Zugleich aber ist der Kern der Auseinandersetzung zuungunsten des pfaffen verschoben: Er ist völlig passiv, kann nicht nur nicht weissagen, sondern nicht einmal schwimmen: ein Bild jammervoller Komik, eine Figur, die nichts weiß, aber an der das mythische Wissen, das der Heros erpreßt hat, ausprobiert werden kann. Die Grenze zwischen Wissen und Nicht-wissen verläuft nicht zwischen miles und clericus, sondern zwischen den Kriegern; der pfaffe hat da nichts zu "' LvTr 5 4 3 ff.; 2 2 3 i f f ;
Nibelungische Gesellschaft
suchen. Und selbst Gott, indem er ihn rettet, bestätigt damit zuvörderst dem Heros, was der von den Wasserfrauen weiß.120 Wo der geistliche Beistand für den Rest der Fahrt fehlt, übernimmt Hagen seinen Part. Hagen, kein pfaffe, ist fortan der Unglücksprophet, der die Lage richtig einschätzt, aber auch verhindert, daß jemand kneift. Er bereitet die Burgonden auf den Kirchgang vor (1850-1856), indem er sich nicht nur um eine sachdienlich-aggressive Ausrüstung bemüht, sondern um passende Gebete und bußfertige Gesinnung: ir suit vil willeclichen %uo der kirchen gan, und klaget got dem riehen sorge und iuwer not, und jviet sicherlichen da uns nähet der tot. Ir'n suit ouch niht vergeben, sivas^ ir habet getan, und suit vil vli^ecliche da gein gote st an. (1855,2-1856,2)
Überlegungen, wie dies mit seinem , Charakter' zu vereinbaren sei, gehen an der Logik der Ersetzung vorbei. War zuvor kirchliche Frömmigkeit Bestandteil höfischen Lebens, so begleitet sie jetzt den heroischen Kampf bis zum letzten Blutstropfen. Zwar wird es von dieser Szene an im Epos keine kirchliche Zeremonie mehr geben - erst die , Klage' wird das nachholen -, doch dementiert sie, daß ein Widerspruch zwischen christlicher Frömmigkeit und heroischer Selbstbehauptung bestehe. Auch die seelsorgerische Aufgabe des pf äffen geht also auf Hagen über. Derjenige, der auch sonst alles weiß, weiß auch in letzten Dingen Bescheid - soweit die in dieser Kriegerwelt überhaupt bedenkenswert sind. Aus diesem Grunde darf es nicht ein beliebiger Krieger sein, an dem Hagen die Wahrheit dessen, was er erfahren hat, erprobt, sondern nur ein pfaffe, denn damit wird das Wissen ausgeschaltet, das in der mittelalterlichen Kultur dem Wissen der laikalen Kriegergesellschaft konkurrierte und sich als überlegen erwies. Die Szene steht für den Versuch einer Vereinnahmung einer möglichen Gegenposition. Dies stimmt mit der heldenepischen Tendenz überein, , klerikale' Fertigkeiten parodistisch in kriegerische umzudeuten: Hagen als , Erzieher' bei Hof, Volker mit seinem Schwert gekonnt , musizierend', die frommen Übungen des brutalen Mönchs Ilsung in den ,Rosengarten'-Epen oder der fromm gewordene Wolfdietrich, der noch nichts von seinen Kriegerqualitäten eingebüßt hat und, als es um einen Kreuzzug geht, den Heiden blutige .Buchstaben' beibringen will: gar iibele buochstaben wil er tu vor lesen, Mit sinem swerte schriben. da% sint munden ser.
120
(Wo D X, 35,4f.)
Wyss (1990), S. 172 weist daraufhin, daß Hagen sich „des einzigen allenfalls schriftkundigen Zeugen entledigt". 196
Warum der pfaffe
als Opfer des Heros?
Die Buchstabenschrift und die Musik aus wohlproportionierten Tongebilden werden in die Kriegerwelt zur Blutschrift ,umgedeutet', die dem Körper des Feindes eingeschrieben wird. 121 Der topische Gegensatz von chevalerie und clergie spielt im heroischen Epos keine Rolle, weil die einzig erwähnenswerte Form von Wissen gleichfalls auf der Seite der chevalerie ist. Der heroischen Welt entspricht ein besonderes Wissen. Es sind die größten Helden, Hagen und Sivrit, die ,alles wissen'. Sivrit weiß in Prünhilts Welt Bescheid. Folglich wird Hagen zeitweise nicht nur als Krieger, sondern auch als ,Wissender' vom starken Sivrit verdrängt werden, um die Rolle in dem Augenblick wieder zu übernehmen, in dem Sivrit beseitigt ist. Er seinerseits weiß von Sivrit, er kennt Rüedeger, Dietrich und die Amelungen (1721,1 f.), er weiß ihre Geschichte, er kann Fremde identifizieren (1178,4) und schätzt Gefahren richtig ein: bet ir Et^eln künde, als ich sin künde ban.
(izoj,*)
Hagen ,weiß alles, was man wissen kann', weil er die Möglichkeiten der heroischen Welt in höchster Potenz repräsentiert. Ähnlich weiß Dietrich ,über Kriemhilt Bescheid'; Rüedeger kennt bi Rim die Hute und auch da% lant (1147,2); auch Volker muß mit Wissen ausgezeichnet werden: „Wer sol da^gesinde wisen über lant?" si sprachen: „da^ tuo Volker, dem ist hie ü>ol bekant stige unde strafe [...]." (1594,1-3).
Andere Heldenepen bestätigen den Befund. Wate in der ,Kudrun' kennt allein die Wege auf dem Meer (K 836,4), ist deshalb der beste Ratgeber, aber auch Anführer im Krieg.'" ,Wissen' ist an andere Höchstwerte feudalen Kriegertums geknüpft.11' Der Mächtigste und Stärkste weiß am meisten. Als Wissen des Heros ist es durchweg positiv besetzt; es ist nicht mit Hinterlist (wie im ,Laurin') oder mit Schwächlichkeit (wie im ,Liet von Troie') gekoppelt. Es ist anders als das Wissen der Kleriker. Das ,Nibelungenlied' gibt kirchlichen Institutionen kaum Raum. Man hat ihre Abwesenheit zum Indiz für die Christlichkeit oder Nichtchristlichkeit der Intention genommen und daraus entweder eine heidnische Grundhaltung oder umgekehrt eine Fundamentalkritik an der gottfernen Welt der Heroik abgelesen.'24 Doch ist der Sachverhalt komplizierter, denn weder läßt sich die Christianisierung der mittelalterlichen Laiengesellschaft bestreiten, noch ist es angemessen, einen geschlossenen, homogen christlichen Verständnishorizont um 1200 anzunehmen, der alles 121
Vgl. S. 428-430. - Das gilt mutatis mutandis auch für die chansons de geste, in denen zwar Kleriker wie der Bischof Turpin eine herausragende Rolle spielen, aber zuvörderst eben als Krieger. 111 Vgl. McConnell (1978), S. 43. "' Das gehört zu den in frühmittelalterlicher Historiographie verbreiteten Stereotypen herausragender Feudalherrn; vgl. etwa Widukinds Sachsengeschichte II, 44 über Wichmann. 124 Vgl. Weber (1963); Willson (1963); Moser (1992).
Nibelungische Gesellschaft
primär ihm Fremde, Widerständige und Abweichende assimiliert hätte. Kulturelle Systeme sind niemals widerspruchsfrei, sondern lassen immer bis zu einem gewissen Grade antagonistische Tendenzen zu. An der Umbesetzung der Position des ,Wissenden' ist der Anspruch der laikalen Welt gegenüber einer Institution abzulesen, der im übrigen ihr konventioneller Platz nicht bestritten wird. Im schwierigen Akkulturationsprozeß12' beansprucht das ,Nibelungenlied' eine Extremposition laikalen Selbstbewußtseins. Die nibelungische Welt ist so selbstverständlich christlich, daß kirchliche Institutionen gar nicht immer eigens erwähnt werden müssen. Kirchliche Riten haben ihren festen Platz im gewöhnlichen Ablauf des Lebens. Zumal in den Unterbrechungen des Alltags erinnert man sich ihrer, beim höfischen Hochzeitsfest (si giengen %uo dem münster da man die messe sanc, 644,3) oder bei Sivrits Begräbnis (105 06 5). Nach Sivrits Tod führt Kriemhilt das Leben einer frommen Witwe, die kaum noch den kirchlichen Bezirk verläßt (1102), nach der Redaktion *C sich sogar in einen sede/hofbeim Kloster Lorsch zurückziehen will (C 1158-1164). Die Kirche ist ebenso gewöhnlicher Bestandteil höfischen Lebens wie kostbare Kleider oder feierliche Empfänge. Hierin ist das ,Nibelungenlied' sogar weit ausdrücklicher christianisiert als etwa die ,Kudrun'. Von einer christlichen Positivierung des Krieges, wie sie die Moraltheologie im Vor- und Umfeld der Kreuzzüge entwirft, findet sich dagegen nichts. Sie wäre Voraussetzung einer religiösen Rechtfertigung heroischer Dichtung.126 Eine „Akkomodation"127 von Heroik und christlichem Glauben wie im ,Rolandslied' liegt außerhalb der Möglichkeiten des Stoffes. Dem Epos fehlt eine christliche Heilsperspektive. Der rituelle Aufwand der ,Klage' kann dies nicht ausgleichen, zumal er dezidiert christlich nur im abgezirkelten Bereich des geistlichen Hofes Bischof Pilgrims in Passau ist. Da auch die ,Klage' dem Morden keinen christlichen Sinn abgewinnen kann, muß sie immer wieder den Handlungsnexus als eine Kette von Pannen und Mißverständnissen ausgeben.128 I2f
126
127 128
Die Schwierigkeiten der Christianisierung heroischer Ideale beschreibt Huppe (1975). Integriert sind beide im Heiligen-Heros, einer Figur der chansons de geste, die jedoch dem .Nibelungenlied' fehlt. Aus Sicht der frühmittelalterlichen Kirche gilt das Heroische als „self-reliant, proud" usw., ist Zeichen der gefallenen Menschheit und eines Zustandes ohne Gnade (S. 13). Huppe erwägt, ob nicht sogar christliche Helden wie Beowulf mit Notwendigkeit dort untergehen, wo ihre heroische Überlegenheit nicht mehr bloßes Instrument der göttlichen Vorsehung ist. Bloomfield (1975) weist auf die Ambiguität des Heroischen in spätmittelalterlichen Texten, in denen es nie mehr ungebrochen auftritt (S. } i). Haubrichs (1995), S. 39-4}. Die „legitimierte Rührung und Tröstung" (S. 39), die heroische Dichtung erzeugen kann, setzen einen geistlichen Rahmen voraus. Auch gtsta principum als Gegenstand heroischer Dichtung stehen unter der Prämisse, utilia auch in einem geistlichen Sinne zu vermitteln (S. 40); als Beispiele vongesta beraum et antiquorum patrum werden Märtyrergeschichten genannt, aber auch die historia regis Karoli (S. 42). Haubrichs (1995), S. 37. S. ii 8. 198
Warum der pfaffe
als Opfer des Heros?
Das Epos verwirft einen naheliegenden Sinngebungsversuch, indem der Gegensatz zwischen Heiden und Christen heruntergespielt wird. Das positive Bild Etzels mag alte Stofftradition im Südosten sein, der sich vom negativen Bild Atlis im Norden absetzt; trotzdem ist seine Aufwertung im Zeitalter der Kreuzzüge ungewöhnlich, so daß der Verfasser der ,Klage* ihm lieber eine umwegige Renegatenlaufbahn andichtet: Etzel ist weniger der friedfertige König der Heldensage als der rückfällige Gottesleugner, der zuerst bekehrt wird, dann erneut vom christlichen Glauben abfällt und sein trauriges Schicksal als göttliche Strafe erlebt (Kl 4i^zf.).lil) Er versinkt in unchristlicher desperatio. Der Versuch ist aufgesetzt und mit dem zuvor erzählten Verlauf kaum zu vereinbaren. Vor dem Hintergrund dieses auf Normalmaß gebrachten Heidenkönigs der .Klage' hebt sich der Etzel des ,Nibelungenliedes' scharf ab: der auf Frieden bedachte, die Christen an seinem Hof fördernde, Ausgleich zwischen den Glaubensgemeinschaften stiftende Herrscher, der sogar den eigenen Sohn taufen läßt. Damit entfällt eine mögliche Rechtfertigung des Kampfes, wie er die Greuel der chansons de geste akzeptabel machen konnte. Die Ehe mit einem Heiden dient nur Kriemhilt als - fragwürdiger - Vorwand für eine jedes Maß sprengende Rache. Der valant handelt durch sie, nicht durch den auf Frieden bedachten Heiden. So wird zwar letztlich doch ein christliches Deutungsmuster eingesetzt, aber es dient gerade nicht der Polarisierung einer christlichen und einer unchristlichen Welt, sondern soll ein unverständliches Geschehen ,er klären'. Für das, was an Christentum gebraucht wird, reicht Hagen völlig aus. Der pfaffe kann verschwinden.
129
Ansatzpunkte dazu in schon in *C. 199
IV NlBELUNGISCHE ANTHROPOLOGIE Wider Psychologisierung1 Der Wendung der Nibelungenforschung zur Psychologie fiel die Aufgabe zu, scheinbar Disparates in den überlieferten Texten zu verbinden und scheinbar Widersprüchliches zu plausibilisieren. Nicht gestellt wurde zumeist die Frage nach der Herkunft der psychologischen Kategorien, mit denen dies geschah. In der Regel verdanken sie sich der Intuition des Interpreten, und ihre Suggestion leitet sich aus ihrer scheinbar überzeitlichen Geltung ab: Liebe, Haß, Neid, Eifersucht, Treue usw. gelten als universale Antriebskräfte. Sie müssen nicht unbedingt im Epos direkt angesprochen sein, sondern können, wo sie auf der Textoberfläche fehlen, von jedem Leser intuitiv substituiert werden. Wenn sich auch dann noch kein schlüssiges Bild ergibt vom Handeln oder dem ,Charakter' einer Figur, kann man psychologische Stimmigkeit im Sinne moderner Erwartungen auf Kosten einer der einander widersprechenden Komponenten herzustellen versuchen oder aber auf die angeblich geringeren Anforderungen an psychologische Glaubwürdigkeit im Mittelalter verweisen; sie ließen zu, daß man mit ,zwei' unterschiedlichen Kriemhilden, Prünhilden oder Hagen zu rechnen habe, von denen dann jede(r) für sich neuzeitlichen Anforderungen genügt.2 Aber ist das zulässig? Die historische Anthropologie hat die Augen dafür geöffnet, daß die Standards neuzeitlich-westlichen Handelns, Verhaltens und Empfindens keineswegs überall und jederzeit gelten, sondern je nach dem kulturellen Kontext unterschiedlich modelliert sind.' Zwar muß man hier mit Strukturen längerer Dauer und größerer Reichweite rechnen als bei anderen kulturellen Phänomenen wie z.B. einem Baustil, einer Gattungskonvention oder einer Trinksitte, und die Chancen, Vergleichbares oder gar Bekanntes zu entdecken, sind größer als anderwärts, doch ist die Unterstellung anthropologischer Konstanten in Affekten, Die Abwehr naiven Psychologisierens beginnt sich in der Forschung zum Heldenepos durchzusetzen; vgl. Weber (1990), etwa zum ,Atlilied' S. 46zf. Gleichwohl laden die Epen immer wieder zur psychologischen Rekonstruktion, selbst unter Einbeziehung von Erkenntnissen der Psychoanalyse (McConell, 1978) ein; bis in jüngste Publikationen (Thelen, 1997) reicht das Bemühen um individualpsychologische Charakterisierung. Newman (1981) u.a. Zur mediävistischen Diskussion vgl. den Forschungsbericht von Kiening (1996). 201
Nibelungische Anthropologie
Habitus, Einstellungen, psychischen Mechanismen usw. eine vorwissenschaftliche Naivität. Dies gilt auch für das europäische Mittelalter, in dem erst die Weichen gestellt werden für die Ausbildung der Handlungs- und Verhaltensstereotypen, die wir unreflektiert-selbstverständlich als die normalen unterstellen. Dabei ist die Einsicht in historische Konditionierung vermeintlicher anthropologischer Universalien keineswegs neu, allerdings wurde ein Verfahren, das in der Ethnologie oder in der Erforschung archaischer Gesellschaften längst üblich ist, bislang nur selten für die Untersuchung mittelalterlicher Texte nutzbar gemacht.4 Dies soll hier versucht werden: Vermeintlich überzeitliche Annahmen über psychologisch plausibles Verhalten sollen suspendiert werden, und es ist mit der Möglichkeit historisch andersartiger Entwürfe von psychischen Dispositionen, Verhaltensmustern, Motivationen und personaler Identität zu rechnen. Diese zu ermitteln, stößt freilich auf erhebliche methodische Schwierigkeiten, vor allem, was die Quellen betrifft. Hier empfiehlt sich ein streng textbezogenes Vorgehen: Literarischen Texten sind, wie Texten auch sonst, mehr oder minder explizit anthropologische Modelle eingeschrieben. Diese Modelle sind nicht unabhängig von anderen, in andere Texte eingeschriebenen oder praktisch gelebten Modellen der gleichen Kultur, doch empfiehlt es sich, die Frage nach der Beziehung unterschiedlicher Diskurstypen und der ihnen inhärenten Modelle zueinander zunächst einmal einzuklammern. Die Rekonstruktion einer ,nibelungischen Anthropologie' soll vorerst beiseitelassen, ob diese etwa gewöhnlichen Vorstellungen um 1200 und der damaligen Lebenspraxis entspricht (die ja ihrerseits wieder aus anderen Texten zu rekonstruieren wäre). Vorläufig an einem solchen fiktiven Weltmodell anzusetzen, hat den Vorteil, die unübersehbare (und immer wieder eingeklagte) Differenz zwischen unterschiedlichen Zeichenordnungen nicht verwischen zu müssen. Der einem Text eingeschriebene anthropologische Entwurf darf nicht als unmittelbarer .Ausdruck' einer historischen Mentalität verstanden werden, sondern als ein Entwurf, der durch situationsabhängige, pragmatische, sprachliche, stilistische, gattungsspezifische Bedingungen mitkonstituiert ist, die sich mehr oder minder weit von denen des Alltags entfernen können. Die Untersuchung muß sich auf wenige, besonders auffällige Beispiele beschränken. Insofern bleiben die folgenden Überlegungen weit hinter dem zurück, was für räumlich oder zeitlich entfernte Kulturen an anthropologischen Grundannahmen und spezifischen Verhaltensstereotypen erarbeitet wurde. Die Beispiele wurden gewählt, weil bei ihnen die gefährliche Verwechslung mit unbefragt gültigen gegenwärtigen Annahmen besonders naheliegt und tatsächlich die Interpretationsgeschichte des ,Nibelungenliedes' bestimmt hat.
4
Für die griechische Epik hat Snell (1948) den Weg gewiesen. Überlegungen von Sees (1981) zum Exorbitanten und Webers (1990) zur Ethik germanischer Heroik gehen in ähnliche Richtung. 202
Literarische Texte zeichnen sich dadurch aus, daß sie das Besondere, das sie zur Sprache bringen, vor die Folie dessen stellen, was gewöhnlich gilt. Es lassen sich Vordergrunds- und Hintergrundsstrukturen unterscheiden. Was auf der Vorderbühne passiert, rekurriert auf Voraussetzungen im Hintergrund, die nicht expliziert werden müssen, da sie als selbstverständlich gelten, an die deshalb bloß anspielungshaft erinnert werden muß. Doch kann allererst vor diesem Hintergrund das Vordergrundgeschehen in seiner Besonderheit erkannt werden, als ungewöhnliches, vielleicht gar einmaliges oder aber auch als gängiges und unauffälliges. Dabei ist schon die Unterscheidung nur zweier Ebenen, von ,Vordergrund' und ,Hintergrund', eine unzulässige Vereinfachung, denn tatsächlich handelt es sich um gestufte, einander überlagernde und perspektivierende Strukturen, ein Geflecht von mehr oder minder expliziten, mehr oder minder auffälligen Annahmen und Voraussetzungen. Stillschweigend unterstellte, nicht problematisierte Bedingungen sind zu unterscheiden von solchen, die als kontrovers behandelt werden oder Alternativen zulassen, und schließlich von besonderen Konstellationen, die auf jene Bezug nehmen, sie aber zugleich sprengen. Das nicht problematisierte, implizite oder explizite Wissen wird vermutlich dem, was jenseits der Textwelt gilt, am ehesten vergleichbar sein, die problematische Zuspitzung und radikale Besonderheit am weitesten davon entfernt. Welche Erwartungen bei den Zuhörern des ,Nibelungenliedes' tatsächlich bestanden, ist selbstverständlich nicht mehr rekonstruierbar. Der Rückgriff auf andere Texte verspricht da bestenfalls Annäherungen. Gewiß hat sich gezeigt, welche Aufschlüsse etwa lateinische Chroniken über Verhaltensmuster und Rituale, Wahrnehmungsweisen und Denkordnungen des Mittelalters bereithalten, doch ist zu beachten, daß diese durch die Tradition, in der sie stehen, und durch die Strukturierungsgesetze der Gattung mit ihrem Referenzanspruch - Chroniken behaupten zu sagen, ,wie es gewesen ist' - sich von einem volkssprachlichen Heldenepos unterscheiden, das ,alte Geschichten' aus einer außerordentlichen Kriegerwelt erzählt, die nicht mit der alltäglich gewußten identisch ist, wenn auch ihre Vorstellung von ihr mitgeprägt ist, was Formulierungen wie ,das geschah so, wie das auch heute noch zu gehen pflegt', belegen.
Ich setze bei einigen Beobachtungen zu Gefühlsäußerungen an. Die Termini, die ich dabei verwende, sind Hilfskonstruktionen. Sie sollen möglichst unbelastet von späteren Konnotationen benutzt werden. Der neuzeitliche Leser ist geneigt, aus dem ,Charakter' der handelnden Figuren ihre affektiv ausladenden Reaktionen, anfallsartig auftretende Gemütsbewegungen und dauerhafte Stimmungen abzuleiten. Doch ist das Verhältnis umgekehrt. Die 203
Ntbelungische Anthropologie
Reaktionen, die wir Affekten zuschreiben würden, sind Funktionen der Handlungskonstellationen, innerhalb derer sich die Figuren bewegen, und was man als deren Charakter herausgearbeitet hat, ist nichts als eine nachträgliche Bündelung jener Funktionen. Psychische Antriebe, die natürlich durchaus zu erkennen sind, gründen nicht in dem Kern eines Selbst, sondern in Konstellationen und Ordnungen, in denen die jeweilige Figur steht. Erläutern kann man das am Begriffspaar minne und ba%.' Beide bezeichnen durchaus auch psychische Impulse. Beide sind aber gleichzeitig Rechtstermini: minne meint das Verhältnis friedfertigen Umgangs und dessen rechtliche Absicherung; ha^ das Gegenteil. Eine Handlungskonstellation (mit bestimmten rechtlichen Implikationen) und ein psychisches Phänomen fallen zusammen; minne und ha% bezeichnen das intakte oder gestörte Verhältnis zweier Figuren nach der Seite ihrer rechtlichen Beziehungen, ihres Umgangs miteinander und ihrer psychischen Einstellung zueinander. Psychische Konstellationen erscheinen nicht als Ergebnis einer Interaktion von ,Innenwelt' und .Außenwelt'.6 Es fehlt eine Ebene, auf der ein Impuls der Außenwelt gemäß persönlichen Dispositionen einer Figur verarbeitet wird und sich dann als Affekt dieser Figur äußert. Die affektische Reaktion ist unmittelbar von der Situation abhängig, so daß es keiner charakterlichen Disposition bedarf. Das Fehlen dieser Zwischeninstanz kann sich darin äußern, daß bestimmte Figuren wie z.B. Wolfhart durchgängig durch einen affektischen Habitus gekennzeichnet sein können. Dann ist keine auslösende Situation, kein Impuls der Außenwelt nötig, damit der entsprechende Affekt auftritt. Unterwirft sich im einen Fall die Situation die psychische Reaktion, so im anderen der psychische Habitus jedwede Situation. Ein Dazwischen gibt es nicht. Beides läßt sich an einer typisch heroischen Reaktion, dem %orn, zeigen. Zorn und als seine Folge blindwütiges Rasen kennzeichnet den Heros seit dem homerischen Aias. Deshalb kann %prn zum einen der Habitus eines bestimmten Helden sein. Wolfhart ist nicht iraszibel in dem Sinne, daß er beim kleinsten Anlaß in %prn gerät, sondern er ist immerzu ,zornig'. Das sagt nichts aus über sein besonderes emotionales Befinden, sondern heißt, daß er grundsätzlich heroisch-gewaltbereit ist. Der ,Biterolf findet dafür die glückliche Wendung in Bornes siten (Bit 8104): %prn ist eine regelhaft Handlung steuernde Disposition wie jede andere site auch. In Wolfhart ist aber nur vereinseitigt, was jedem Heros angemessen ist, wenn er leit erfährt. Zorn äußert sich im gewalttätigen Rasen:7 Günther was so sere erzürnet und HRG 3, Sp. 582-588 (H. Krause); Hattenhauer (1965). Czerwinski (1979), S. 68 hat darauf verwiesen, daß „bereits die begriffliche Opposition ,innerlich/ äußerlich'" falsch sei. Vgl. ivüeten 1967,4 (über Hagen und Volker im Kampf); tobeliche 2050,1 (über Irinc); 2280,4 (über Dancwart); alsam er ivuote 2282,1 (über Hildebrant); des muotes er ertobete 2206,2 (über Rüedeger). Parodiert ist der voraussetzungslose Zorn als heroischer Habitus im ,Orlando furioso', dem .rasenden Roland'. 204
ertobt, wand er nach starkem leide sin hert^evient was (2358,2!:".), wenn er gegen Dietrich antritt, der seinen letzten Verbündeten besiegt hat. Daraus folgt der Umkehrschluß, daß jede Situation gewaltsamer Konfrontation die Akteure ,zornig' zeigt. Der psychische Anlaß von %prn tritt dabei ganz zurück. Wenn die Sachsen die Burgonden zum Krieg herausfordern, ,erklären' das die Boten mit dem %orn ihrer Könige auf die burgondischen Herrscher: Ir habt ir %prn verdienet (144,1). Von einem Motiv dieses %prn muß nichts verlauten, denn %prn ist nicht Ursache, sondern Erscheinungsform des feindseligen Zustandes, der in den Krieg mündet (da·^ in die herren beide tragent großen ha%, 144,2); die Aussage, der %orn sei verdient, ist identisch mit der Aussage, es gebe Krieg. Angriff und %prn sind eins, der %prn nur scheinbar der Grund des Angriffs. 8 Die Nachträglichkeit des %prn und seine Abkoppelung von innerpsychischen Einstellungen fällt besonders beim Kampf Rüedegers gegen die burgondischen Verwandten auf, die er doch eigentlich nicht als Feinde bekämpfen wollte. Nachdem nämlich einmal der Kampf unausweichlich geworden ist, tobt er in wildem Zorn los, als habe es zuvor keine Gesten des Einvernehmens gegeben (des muotes er ertobete, 2206,2), worauf der Gegner, auch er eben noch versöhnungsbereit, gleichfalls in %prn gerät: da^ sach ein Bürgende: Bornes gie im not (2215,3). Man könnte glauben, dieser %prn Gernots sei dadurch motiviert, daß er seine vriunde durch Rüedeger fallen sieht, doch scheint das nicht ausschlaggebend, denn Hagen, der doch dasselbe sehen müßte und immer zur Rache bereit ist, bleibt ruhig. Er hat nämlich versprochen, dem Kampf gegen Rüedeger fernzubleiben, und folgerichtig bleibt bei ihm der ^prn zunächst aus. Er gerät erst in dem Augenblick in %prn, in dem er losschlagen kann, nämlich wenn Rüedeger gefallen und er damit von seinem Versprechen entbunden ist: alrerst er^urnde Hagene (2221,4). Das Handeln erst ruft den %orn herauf, nicht umgekehrt. Die Abkoppelung des %prn von seiner psychischen Basis ist in der mittelalterlichen Heldenepik verbreitet.9 Dies kann seltsame Folgen haben, wie am - dem %prn verwandten - ha% ersichtlich. Im ,Biterolf etwa tauschen Etzels Boten an Günthers Hof zuerst lange Artigkeiten aus, bevor sie ihre Botschaft - die Herausforderung zum Kampf - mit den Worten vorbringen: tu tregt vil baulichen sin/der künec von Hitmen riche (Bit 4872^): Der freundliche Umgang zuvor und der einer Kriegserklärung angemessene ha^ schließen einander nicht aus, weil sie auf unterschiedliche Situationen bezogen sind, für die sie passen, einmal das höfische Ritual einer Gesandtschaft, dann die militärische Konfrontation. Es ist bezeichnend, daß an dieser Stelle schon eine mittelalterliche Handschrift (D) geändert hat; hier sagen die Boten, Günther habe den %prn ihrer Herren vernomen statt verdienet; damit wird die uns vertrautere Kausalbeziehung hergestellt, daß einer (vorher schon bekannten) feindseligen Einstellung eine feindselige Aktion folgt (Batts, S. 45). So durchweg auch in Wo A, wo mit ^orne zur Charakterisierung einer gespannten Situation dient, erst in zweiter Linie einen Gemütszustand meint (Wo A 134,1; 154,1; 173, ?
Nibelungische Anthropologie
Natürlich heißt %prn oft die aktuelle psychische Reaktion auf einen Reiz (Beleidigung, Verletzung), aber eben nicht nur. Auch fällt die Abgrenzung von einem durchgehend zornigen Habitus oft schwer: Hagen will mit seinem Versuch, den Kaplan beim Übersetzen über die Donau zu ertränken, die Prophezeiung der merwip Lügen strafen, daß das ganze Heer bei Etzel untergehen werde und nur der Kaplan heimkehre. Der zur Gewalttat passende Habitus ist %prn. Darum heißt es, wenn Hagen den pf äffen unter Wasser zu drücken trachtet: wan der starke Hagene vil %ornec was ge muot (1578,3). Hagens muot ist identisch mit dem, was alle an seiner Tat sehen können. Die Tat ,ist' %prn\ besondere feindliche Gefühle gegen den armen pfaffen müssen nicht eigens begründet werden. Giselher dagegen reagiert auf das, was er sieht: %ürnen er% began (1576,3). Anschaubarer Habitus und spontaner Impuls tragen denselben Namen. Ein anderes Beispiel: Prünhilts Wettkampf mit Günther wird mit Erbitterung ausgefochten. Bei der zweiten Probe heißt es: Do gie si hin vil balde; ^prnec was ir muot. den stein huop vil hohe diu edel magst guot.
(46 2,1 f.)
Damit könnte gesagt sein, daß Prünhilt durch die Niederlage beim ersten Mal gereizt ist; doch eher ist %prn Ausdruck des gewaltsamen körperlichen Einsatzes beim Wettkampf. Wer den Gegner niederringen will, ,ist' zornig. Erst wenn Prünhilt den Kampf verliert, steht die momentane Aufwallung im Vordergrund: Prünhilt diu schoene wart in %prne rot.
(465,3)
Wenn Günther auf dem Zug zu Etzel von einem Angriff der Beiern gegen sein Heer erfährt, und zwar erst, nachdem alles schon vorbei ist, spricht er dann %prneclichen (1624,4) aus dem Augenblick heraus, weil er sich übergangen fühlt,10 oder holt die ,zornige' Rede nur den Habitus nach, der bei einem feindlichen Angriff angemessen wäre? Die Frage ist der Erzählweise des Epos unangemessen. Deutlicher scheint die psychische Komponente in den Vordergrund zu treten, wenn der Affekt nicht ausagiert werden kann. So heißt es von Gernot, wenn Hagen Kriemhilt den Hort weggenommen hat: %urnde ir bruoder Gernot, do er da% rebte bevani.
(1132,4)
Diesem %prn entspricht keine Aktion. Ähnlich Giselhers Reaktion auf die Gewalttat gegen den Priester: Giselher der junge, Barnen er^ began. er'n wold' i% doh niht la^en er enhet im leide getan.
10
iu wan1 versmahet da^/das^ ich hi iu ware (1625,1 f.).
206
(i 5 76, 3 f.)
Doch auch in diesen Fällen ist %prn mehr als eine jähe psychische Aufwallung. Er ist die Hagens Rechtsbruch angemessene Haltung, auch wenn sie sich nicht in einer Tat ausdrücken kann, weil andere rechtliche Verpflichtungen entgegenstehen. Der %orn bleibt stecken und ist insofern gegenüber der gewöhnlichen Äußerung heroischen Bornes defizitär. Wo die Tat fehlt, fehlt dem %prn etwas: In der ,Kudrun' packt der König Ludewic Kudrun an den Haaren, um sie im Meer zu ertränken; sein Sohn Hartmuot verhindert das, wobei er sagt: täte e% ander iemen, so partite ich also sere, dan I^udewic der vater min, ich name im beide lib und ere.
(K 964,3f.)
Hartmuots Vorgehen gegen Ludewic ist durch die verwandtschaftliche Beziehung eingeschränkt, so daß seine empörte Reaktion sich nicht zu dem %prn steigern kann, der angemessen wäre und sich in einer Tat gegen den Vater äußern würde. Dank der engen Verknüpfung von Affektäußerung und Tat ist es sinnlos, nach der psychischen Wahrhaftigkeit von %prn zu fragen: Hagen hat die Abwesenheit der Könige von Worms benutzt, um Kriemhilt den Hort zu rauben. Bei der Rückkehr der Brüder erhebt sie vor ihnen Klage und erreicht, daß Hagen sich für eine Zeit vom Hof entfernen muß, um, wie es heißt, der fürsten %prne (1139,2) zu entgehen. Die Frage, ob dieser %orn der Könige bloße „Komödie" ist, geht am Problem vorbei." Das Wort zeigt an, daß vor dem Königsgericht Hagens Rechtsbruch festgestellt wird, was eine Verurteilung nach sich ziehen muß. Das gestörte Rechtsverhältnis zwischen König und Vasall heißt %prn; %prn ist identisch mit Entzug von Nähe und stellt sich öffentlich in einem Rechtsakt dar. Der Entzug gilt auf Zeit, nämlich bis Hagen die hulde der Könige wiedergewinnt (1139,3). Dann wird ohne Übergang auch der %orn verschwunden sein. Was die königlichen Richter sich bei der Verurteilung denken, ist gänzlich ohne Interesse. Ihre Haltung spiegelt die jeweils geltende rechtlich-soziale Konstellation. Ein ähnlicher Fall: Noch sein letztes Angebot gegenüber Etzel und den Hiunen, eine suone zu erwirken, bringt Günther in Bornes muote vor (2094, i f.), ein unpassender Affekt, möchte man meinen, wenn sein Vorschlag auf offene Ohren beim Gegner stoßen soll. Aber darum geht es gar nicht: %prn entspricht der Feindschaft zwischen beiden Parteien, die Günther nicht durch bedingungslose Unterwerfung, sondern eben durch eine suone - einen gerechten Ausgleich - überwinden will; %prn drückt sein Beharren auf seiner Rechtsposition aus, die, bis solch ein Ausgleich gelingt, gewaltsam vertreten werden muß. de Boor, Kommentar S. 186. Symbolische Bestrafungen mit bloß demonstrativem Charakter sind bei Konfliktlösungen im Mittelalter verbreitet (Althoff, 1989/1997, S. 31; 34; 36f.). Sie erlaubten, die Stärke des Königs und der von ihm garantierten Rechtsordnung darzustellen und zugleich einen politisch notwendigen Kompromiß zu erreichen. Farcenhaft sind sie keineswegs. Die gängige Interpretation des Verfahrens gegen Hagen geht also fehl. 207
Nibelungiscbe Anthropologie
Am offenkundigsten ist die Auswendigkeit von %prn in der Szene, in der Etzel ein letztes Mal den Ausbruch von Feindseligkeiten zwischen den Bürgenden und seinen Leuten unterbindet. Die Situation: Volker hat im spielerischen Getümmel einen hämischen Ritter erschlagen; die Gewalttat droht in einen Kampf aller gegen alle zu münden; doch Etzel greift ein; einem Verwandten des Toten schlägt er die Waffe aus der Hand und erklärt den Anschlag zum Unfall, der kein Vorgehen gegen die Gäste rechtfertige. Jede Äußerung von Gewalt wird im Keim erstickt, und das heißt in den Worten des Erzählers: %orn er mer aebeinen da niht werden lie (1898,z). 12 Natürlich kann Etzel nicht die Gefühle seiner Leute dirgieren, sondern nur Handlungen verhindern, in denen %prn erscheint; von der äußeren Erscheinungsform wird aber gar nicht etwas anderes unterschieden, das ,dahintersteht*. Zorn kennzeichnet eine Situation gewaltsamer Konfrontation, die es zu entschärfen gilt. Indem Etzel dies gelingt, hat er auch das, was hier %prn heißt, bewältigt. Einen Affekt jenseits dessen, was offen zutage tritt, scheint es nicht zu geben.
trüren Auch trüren ist Reaktion auf einen beschädigten Weltzustand. So wenig wie %prn ist es subjektive Befindlichkeit, sondern bezeichnet Haltungen, die sich aus einer konfliktträchtigen Situation ergeben, und bestimmte ihnen zugeordnete Gebärden, vorgetäuschte oder echte.1' Zorn und trüren sind angemessene Reaktionen auf leit, aktiv die eine, passiv die andere, wobei der passive Zustand in den aktiven umschlagen kann und umgekehrt. Semantisch gehört trüren in die Nähe von leit, und dies legte die Bedeutung ,seelischen Schmerz empfinden' nahe, doch fragt sich, ob dieser Aspekt nicht eine typisch neuzeitliche Bedeutungsverengung zur Voraussetzung hat, denn leit ist mehr. Dies einzuräumen, bedeutet nicht, leit überwiegend auf rechtliche Aspekte (Be-leid-igung) einzuschränken, sondern beide Aspekte als ununterscheidbar zu erkennen. Leit meint allgemein einen ,defekten Status', der von einem anderen verschuldet ist.14 Das schließt die Nuance ,Schmerz' über den „Tod geliebter Menschen", „Herzeleid" u.a. durchaus ein,' 5 was allerdings nicht den Um11
13 14
M
Eine Bilderbuchszene für Norbert Elias' These (1936/1969), daß erst im Laufe des Mittelalters Fremdzwänge in Selbstzwänge verwandelt würden. Althoff (1989/1997), S. 29f. Maurer (1951); zur Kritik: Schröder (1968), S. iof.; 57-60; 67-70; 74-79; 127-133. Schröder entdeckt an jeder Stelle, an der leit auftaucht, daß eine rein rechtliche Interpretation unbefriedigend bleibt. Nun will niemand behaupten, daß leit in der rechtlichen Dimension aufgehe. Indem Schröder eine Alternative sieht, wo für das Mittelalter ein Zusammenhang bestand, verfährt er zirkulär: Was .nicht ganz aufgeht', beweist ihm das Gegenteil von Maurers These. Schröder (1968), S. I27f. Schröder kann bezeichnenderweise seine These am überzeugendsten an der .Klage' ausführen (S. 191—201), aber sie steht in diesem Punkt dem Epos schon fern. Die Annahme ,,grundsätzliche[r] Gleichartigkeit und Gleichgerichtetheit" (S. 225) der ,Klage' tut beiden Texten Gewalt an. 208
träfen
kehrschluß rechtfertigt, dies sei die alleinige oder auch nur dominierende Bedeutungsnuance. Im ,Nibelungenlied' gibt es keine semantisch scharfe Grenze zwischen äußerer Verletzung und innerer Beleidigung. Das tangiert die Bedeutung von trüren als Reaktion auf leit. Die Ehrkränkung durch einen Hiunen (leit} versetzt Rüedeger in trürige[n] muot (2141,1); trüren zeigt den Defekt der ere an; trüren hat Zeichencharakter. 16 Der muot äußert sich sogleich gegenüber dem Beleidiger in der Tat, die den Defekt aus der Welt schafft; trüren schlägt in %orn um, indem Rüedeger sein leit rächt und den Beleidiger erschlägt. Hier erscheint %prn nicht vorweg als Motiv für den tödlichen Faustschlag, sondern benennt nachträglich das, was alle gesehen haben: da% von des beides %prne dem Hiunen was geschehen (2147,2); trüren ist der Moment, der der Tat (%prri) vorausgeht. Wenn Dietrich Hagen niederringt, heißt es: Günther der edele dar umbe trüren began (2352,4); das ist die Lähmung dessen, der sich kaum mehr helfen kann,' 7 bevor er sich dann noch einmal aufrafft, eben erzürnet und ertobt ist (2358,2). Aus der Passivität (trüren} schwingt er sich zum Handeln (%prri) auf. Wo das mißlingt, bleibt es beim trüren: Sivrit bringt König Liudegast schlimme Wunden bei; des muose der künec Liudegast haben trürigen muot (188,4). Das ist nicht bloße Niedergeschlagenheit, sondern Zeichen dafür, daß Liudegast sich ergeben muß (189). Was harmlos wie eine Trübung der Stimmung aussehen könnte, ist eine Störung des Gleichgewichts, das in Aggression umschlagen kann. Dietrich überlegt, wie er etwas über Rüedegers Schicksal erfahren wird, ohne in den Kampf verwickelt zu werden: ob ungefiiegiu vräge danne da geschiht, /da^ betrüebet lihte recken ir muot (2240,2^). Dietrich fürchtet nicht, seine Leute könnten den Bürgenden die Laune verderben, sondern er zieht in Betracht, daß im Wortwechsel eine irreparable Kränkung erfolgt. Aus trüren droht Gewalt zu werden. Wenn auf der Fahrt zu Etzel der Fährmann Hagen die Überfahrt über die Donau verweigert, antwortet dieser: trürec ist min muot (i 5 59,1). Dieses trürec ist weder durch die schlechten Nachrichten erklärt, die Hagen gerade erhalten hat, noch drückt es nur eine Verstimmung aus. Es zeigt an, daß Hagen, obwohl er die Worte des vergen als Angriff versteht, vorerst in seiner Passivität verharrt; trüren benennt die konfliktgeladene Situation, deren Konsequenzen er noch einmal abzuwenden trachtet, indem er den anderen auffordert, %e minne (1559,2) den angebotenen Lohn zu nehmen und das Heer überzusetzen. Hagen ist be-leid-igt und gibt dem anderen Gelegenheit, die Beleidigung zu-
Althoff (1997), S. 258-281 hat den demonstrativen Charakter von Gefühlsäußerungen in mittelalterlichen Texten herausgearbeitet. Es scheint mir allerdings nicht notwendig, ihn in Gegensatz zu Spontaneität' zu bringen (vgl. S. 274 u.ö.): Zeichenhaftigkeit schließt nicht notwendig kalkulierenden Zeichengebrauch ein, wodurch die emotionale Reaktion zu einer absichtlich vorgeführten, möglicherweise auf Täuschung berechneten Inszenierung würde (nicht „echt", vgl. S. 276). Rüedegers Reaktion indiziert Kränkung der Ehre, und diese entlädt sich in einer Gewalttat. In diesem Sinne wird in Eilharts Tristrant' Marke trürig genannt, wenn er die Bedrohung seines Landes durch Morolt nicht abwenden kann (Trt 444). 209
Nibeltmgische Anthropologie
rückzunehmen. Als das mißlingt, schlägt die Szene in Gewalt um, die weitere Gewalt nach sich zieht. Als Innehalten vor der Gewalttat ist auch Dietrichs ,trauernde' Pose am Ende des Epos zu verstehen, wenn immer unübersehbarer wird, daß er sich aus dem Konflikt mit den Bürgenden nicht länger heraushalten kann: vil harte senecltche er in ein venster sa%. Do sah er trürecliche sitzen hie den man.
(2247,2) (2309,1)
Trüren ist Ausdruck einer vorübergenden Lähmung, nicht nur im »Nibelungenlied': Im , Rother' hat König Constantin bei Todesstrafe verboten, daß jemand um seine Tochter wirbt, doch erlaubt er Rothers Gesandtschaft, bei Hof ihr Anliegen vorzubringen. Als sich herausstellt, daß dieses Anliegen nun genau in der verbotenen Werbung besteht, heißt es: Trorich sprach do Constantin — ^urnich was der mot sin — „Da^ ich die rede irlovbit ban, des mo^ ich lange trorich stan [...] ".
(KR 324—327)
Constantin bedauert, sich unbedacht in eine Situation gebracht zu haben, die ihm zu handeln verbietet, wie die stete verlangen würde, nämlich die Boten zu töten. Den ^prn muß er im mot verschließen; trorich signalisiert nicht Mitleid mit den Boten oder Indignation über die unpassende Rede, die er hören mußte, sondern drückt den Verlust an Handlungsoptionen durch voreilige Selbstbindung aus. Beim Mordrat gegen Sivrit ist Günthers Haltung zunächst unentschieden. Er macht Sivrits Unschuld geltend (868, i f.). Die Gefolgsleute (vertreten durch Ortwin) sind dagegen bereit, Sivrit zu opfern. Da bringt Hagen die Machtfrage ins Spiel: Er riet in allen %iten Günther dem degene, ob Stfrit niht enlebte, so wurde im undertän vil der kiinege lande, der helt des trüren began.
(870,2-4)
Was heißt hier trüren und worüber (des) gerät Günther ins trüren^ de Boor psychologisiert trüren zum „Ausdruck innerer Zerrissenheit und Unsicherheit" (S. 146). In der Tat tritt nach dieser Szene ein Schwebezustand ein (871,1), in dem Günther zunächst weiter gegen das Mordkomplott argumentiert, ihm schließlich aber stattgibt. Insofern drückt trüren wieder den Ungewissen Zustand vor dem Ausbruch von Gewalt aus. Doch hat es einen weiteren Grund. Hagen weist den König auf einen , Mangel' hin: Die Reiche, die Sivrit besitzt und die, Hagen zufolge, Günther bei dessen Tod undertän würden, fehlen ihm jetzt; die eren, die die burgondische Herrschaft auszeichnen, sind unvollständig, wobei Hagen einen Weg andeutet, das zu ändern; trüren ist Zeichen von Unentschiedenheit und Mangel. 210
trüren
So zeigen trüren / trürec objektive Beschädigungen an, an denen die einzelne Figur nur partizipiert; sie sind nicht auf die psychische Dimension reduzierbar. Das zeigt sich besonders an zeugmatischen Wendungen: Wenn Rüedeger seiner Frau meldet, daß er als Bote nach Kriemhilde aufbrechen werde, um für Etzel um sie zu werben, heißt es: do wart diu marcgravinne trürec unde her.
(i 160,2)
Die beiden Prädikate trürec und her'* scheinen nur auf unterschiedlichen Ebenen zu liegen. Der Kommentar sucht das auszugleichen, indem er paraphrasiert: „traurig und zugleich froh, innerlich erhoben".'9 Er bezieht mithin beide Aussagen auf eine innere Stimmung der Markgräfin;' 0 aber das ist nur die eine Seite. Zu erinnern ist an die Grundbedeutung, nämlich an das Wortfeld berre, herlich; her kennzeichnet einen positiven Zustand und den ihm angemessenen Habitus, wie er dem Status des Herrn gemäß ist; eine Statusbezeichnung schließt die dem Status angemessenen Attribute und Haltungen ein. Das Wort kann deshalb ebensowohl wie Emotionales die äußere Erscheinung oder Requisiten wie Waffen 21 kennzeichnen. Auch in Gotelints Fall hängen diese Aspekte zusammen, und deshalb kann her Gegenbegriff zu trürec sein. Das eine Epitheton zeigt eine Beschädigung an, das andere einen unbeschädigten Zustand. Beides betrifft nicht Gotelint allein: In Etzels Reich ist nach dem Tod Helches eine Lücke entstanden (1143), die geschlossen werden muß (1144). Das ganze Land ist von diesem Defizit betroffen: sin volc ist äne freude (i 194,2), da von i% ime lande vil jamerliche stat (1195,2). , Freude' hängt vom Zustand der Herrschaft ab. Rüedegers Botschaft läßt erwarten, daß der defekte Zustand beendet wird (erget^en, vgl. 1170,3), unter dem Gotelint" wie das ganze Land leidet: Do diu marcgravinne die botschaft vernam, ein teil was ir leide, weinens si ge^am, ob si gewinnen solde vrouwen alsam e. so si gedaht' an Heichen, da% tet ir innecliche we.
(i 161)
Das leit und das weinen, das der Situation angemessen ist (ge%aml), gilt der Landesherrin und dem andauernden Defekt, den deren Tod ausgelöst hat. Die Prädikate trürec unde her zeigen nicht eine widersprüchliche Stimmung, sondern einen widersprüchlichen Zustand an, der sich sogleich in Freude verkehrt, wenn Kriemhilt erscheint (Gotelint: 1313,4; das Land: 1379,2-4). So nicht in Ca; ähnlich jedoch 1222,1 (nach B) Criemhilt div here vnd vil trvrechgemvt; dagegen C 1249,i arme (Batts, S. 372f.; vgl. 1225,1). De Boor, S. 189. Worauf genau sich das „innerlich erhoben" beziehen soll, bleibt im Dunkeln. In der Tat erlaubt her diese Konnotation: Lexer I, Sp. 251; vgl. her = froh 1534,3: die Wasserfrauen; 1538,1: Hagen über die günstige Prophezeiung. 86,4; 409,2; 1337,3; 1595,2Der Zusammenhang wird in derselben Strophe hergestellt: si gedaht e minnecliche an der schienen Heichen lip (1160,4). 21 I
Nibelungische Anthropologie
Solch eine Verklammerung von Freude und Trauer mit überpersonalen Konstellationen scheint im späteren Mittelalter schon nicht mehr selbstverständlich gewesen zu sein. In der Handschrift D wurde deshalb die Aussage, das Land sei am freude (1194,2 nach AB), durch diejenige, es sei ane vromven, ersetzt.2' Der Verlust der Landesherrin und der der Freude sind nicht mehr fraglos identisch. Hier verengt sich die Aussage auf den öffentlich-politischen Aspekt, dem nicht mehr automatisch ein bestimmter Gemütszustand zugeordnet wird.
Spannung von ,außen' und ,innen' Die Abkehr von neuzeitlichen Psychologisierungsbemühungen bedeutet keineswegs Reduktion auf die politische Dimension der Handlung. Diese würde nämlich genau die Trennung in .private' und ,öffentliche', ,innere' und .äußere', ,individuelle' und ,soziale' Komponenten voraussetzen, die eine historisch argumentierende Anthropologie suspendieren muß.24 Beides hängt eng zusammen. Auch wo sich eine Spannung zwischen den beiden Polen andeutet, bleibt der Zusammenhang anschaubar. Günther ist nach seiner mißlungenen Hochzeitsnacht trürec in einer Umgebung, in der Freude herrscht (wolgebarte), und dies, obwohl es auch für ihn angesichts der Festkrönung passen würde, Freude zu zeigen: sivie wol man da gebarte, trürec was genuoc der herre von dem lande, swi er des tages kröne truoc.
(643,3f.)
Dieser Widerspruch zwischen Gebärde und Günthers beschädigtem Selbstgefühl ist beim Auftritt under kröne nicht erkennbar. Zeremonie und Haltung sind kongruent; sie drücken Freude aus (645,4 vrcelicheri). Das Prädikat vroslichen findet sich freilich nur in einigen Handschriften, die übrigen konzentrieren sich allein auf das Äußere.2' Eine ,subjektive' Deutung der öffentlich anschaubaren Freude26 wird in diesen Handschriften also explizit ausgeschlossen - Zeichen einer sich anbahnenden Dissoziation. Doch kommt Günthers verborgenes trüren beim Turnier ans Licht, in2( 24
21
26
Nach Batts, S. 3625. Einige Kritiker Bürgerlicher' Psychologie setzen diese Trennung weiterhin voraus, wenn sie ihre Interpretation nur statt auf die ,Charaktere' auf die politisch-sozialen ,Rollen' gründen und die Figuren auf „Verkörperungen des adligen Herrschaftstypus" reduzieren (Grenzler, 1992, S. 178). Solche Deutungen sind eindimensional: Bis in die Schlußszene hinein geht es bei Grenzler immer nur um Politisches wie die Wahrung des herrscherlichen Status; vgl. Formulierungen wie „das in dem Tarnmantel enthaltene herrscherliche Potential" (S. 188); selbst der Beischlaf wird als .nichtöffentliches Herrschaftshandeln' betrachtet (S. 197) u.a. Nur in BDbd (vgl. auch zum folgenden: Batts, S. 195). Dagegen heißt es in A, daß man schone sich zeigt, in Ca lobeliche, in IQh herlichen. Vgl. den Gegenbegriff unvrceliche (852,4), auf Prünhilts öffentliche Kränkung bezogen: Beide Male geht es um Intaktheit oder Kränkung des Status in der Öffentlichkeit des Hofes. 212
Spannung von ,außen' und ,innen'
dem er sich von der allgemeinen Freude ausschließt (647,4). Ginge es um sein psychologisches Geschick - ,das Geheimnis seiner Ehe zu wahren' - dann wäre es unklug, sich vom Turnier fernzuhalten. Aber trürende ist eben mehr als eine bloße Stimmung, die man unterdrücken könnte, nämlich Ausdruck eines objektiven Sachverhalts. Günthers defizienter Status zeigt sich in einer eingeschränkten Repräsentationsfähigkeit und wird damit für den, der wie Sivrit genau hinsieht, sichtbar/7 Der Defekt kommt in einer Situation zum Vorschein, in der Günther weniger eng ins kollektive Ritual eingebunden, nicht nur König, sondern auch Ritter ist. Beim Turnier zählt nicht ererbter Rang, sondern allein persönliche Überlegenheit, während im Krönungsritual Günther die geforderte Freude noch normgerecht zeigen konnte. Von Sivrit nach dem Grund befragt, hebt er die öffentlichen Konsequenzen seines Versagens als Ehemann hervor, die Beschädigung seiner Ehre: ich hän laster unde schaden (649,1). Wenn Sivrit ihm dann Abhilfe verspricht, fühlt er sich folgerichtig als Herr und König wiederhergestellt: der rede was do Günther nach sinen arbeiten her.
(6 51,4)
Wieder ist Antonym zu trürec jenes her, das inneren Zustand und äußeren Status umgreift. So ist es auch in erster Linie der König, der im Bett schließlich die Oberhand behält: Prünhilt redet ihren Bezwinger, den sie für Günther hält, förmlich an: künic edele, du so/ mich leben lan (678,1). Danach bleibt von Günthers trüren nichts zurück; es gibt kein persönliches Verhältnis der Eheleute, das durch die peinliche Erinnerung gestört werden könnte, nicht einmal durch den Vergewaltigungsakt, der spurlos an Prünhilt vorüberzugehen scheint. Am nächsten Morgen ist Günther nicht mehr von der allgemeinen Freude ausgeschlossen, und weil sein königliches Selbstbewußtsein wiederhergestellt ist, ist auch das ganze Land in Harmonie: Der wirt wart an dem morgen verrer ba% gemuot danne er da vor wäre, des [!] wart diu vreude guot in allem sinem lande [...]. (685,1—3)
Unterschieden werden nicht ,innen' und ,außen', ,öffentlich' und ,privat', sondern verschiedene Ansichten eines einmal defekten, einmal intakten Zustandes. Gleichwohl kann man sich auf die Fassade nicht verlassen. Zwei verwandte Szenen spielen die Alternative durch: Die Sachsen haben den Bürgenden den Krieg erklärt. Das ist Günther leit (148,1; 153,1). Er ,klagt' es seinen Gefolgsleuten, damit sie die Herausforderung auch als ihr leit erkennen (da^ lat tu wesen leit, 149,3). Bis sich eine Lösung abzeichnet, geht Günther trürende umher (153,2; vgl. 158,1). Die Kriegserklärung beschädigt das harmonische Gleichgewicht burgondischer Herrschaft. Durch sein trüren provoziert Günther Sivrits Frage: Es ist also nicht nötig, mit de Boor anzunehmen: „Danach war Siegfried auch in diesem Fall über Brünhild und ihre Stärke im klaren und hatte Günthers Mißerfolg vorausgesehen" (S. 112). 213
Nibelungische Anthropologie wie ir so habet verkeret die vmlichen sit der ir mit uns nu lange habt alher gepflegen.
(i 54,2f.)
Die Frage zeigt, daß Sivrit nicht eine individuelle Gemütsregung Günthers beobachtet, sondern den Zustand des Hofes (sit}, der sich in der Haltung des Königs spiegelt.18 Er fragt nach dem Grund der Störung und erfährt vom Krieg. Sein Angebot zu helfen befreit den König aus seinem trüren und stellt seine Freude (157,3) und damit die des Hofes wieder her; Günther kann hoben muot tragen (i74,3)·*9 Günthers trüren bei der Kriegserklärung war wohlbegründet. Wenn er später jedoch mit Hagen einen zweiten Krieg gegen die Sachsen nur vortäuscht, ist ebenso von %prn und trüren die Rede. Wo er den Anlaß doch selbst erfunden hat, sollte Günther keinen Grund haben, der eigenen Lüge zu glauben. Doch als man ihm die falsche Kriegserklärung bringt, tritt eine ähnliche Reaktion wie zuvor ein: der künic begonde %ürnen do er diu märe bevant.
(880,4)
Der %prn ist anschaubare Gebärde; kein Blick hinter die Fassade ist erlaubt. Erst der Redaktor von *C arbeitet den Riß zwischen dem nach außen zur Schau getragenen Verhalten und dem, was dahinter steht, heraus: do begunde %vrnen Günther, als ob e^ wcere im vnbechant.
(C 888,4)
In der Vulgatfassung dagegen ist Günthers Haltung zwar simuliert, doch von der echten beim ersten Mal ununterscheidbar, und wie beim ersten Mal fragt Sivrit deshalb: wie gät so trürecliche der künic unt sine man"?
(883,3)
Erzählt wird überhaupt nicht, was Günther empfindet, sondern was er vor den anderen zeigt. Der nach außen gewendete Gestus kann fehlinterpretiert werden. Wenn Günther auf Sivrits Hilfsbereitschaft beim fingierten Sachsenkrieg reagiert, tut er nur so, als ob er ernstliche der helfe wcere vro. in valsche neig im tiefe der ungetriuwe man.
(887,2f.)
Das Auseinandertreten von Körperzeichen und bezeichnetem Affekt ist nur als ein perfides Täuschungsmanöver vorstellbar; Günther ist ungetriuwe. Der Gestus des trüren bemäntelt eine verräterische Intrige. Mit dem als ob spalten sich ,innen' und ,außen'. Dieses Auseinandertreten ist eine große Entdeckung der volkssprachlichen Literatur um 1200. Reflektiert wird es im hohen Minnesang, in Liedern, in denen das werbende Ich die Wahrheit seines ^ Vgl. Czerwinski (1979), S. 66. 29 Von de Boor wird diese Aufforderung mißverstanden, wenn er sie wieder nur auf Günthers Befinden bezieht: „hier nur ,seid zuversichtlich', ohne höfischen Beiklang" (S. 35). 214
Spannung von ,außen' und,innen'
Fühlens - des Liebesschmerzes - gegen die Körperzeichen behauptet, die ihn zu dementieren scheinen durch die pflichtgemäß zur Schau getragene Freude. Der Sänger, der vor der Gesellschaft vom leit seiner minne spricht, muß die höfische Form wahren, sein leit, mit Reinmar zu reden, schone [...] getragen (MF 163,9); wenn er aber die Form wahrt, dann könnte dies heißen, daß er gar nicht leidenschaftlich liebt. So muß er unablässig sagen, was er nicht zeigen darf, muß versichern, daß er tatsächlich empfindet, was er nicht ungefiltert aussprechen darf; er muß dissimulieren und darauf deuten, daß er dissimuliert. Dies kunstvoll im Lied vorzuführen, ist Leistung höfischer Selbstkontrolle und erlaubt zugleich die Artikulation von minne als einer nie in vollem Sinne gesellschaftlich verrechenbaren, inneren Erfahrung. 30 Nur der Ausgangspunkt ist im ,Nibelungenlied' vergleichbar, die Antwort auf jene Dissoziation aber geradewegs entgegengesetzt, denn im Minnesang erscheint unter positivem Vorzeichen, was hier tückische Verstellung ist. Ist dort dissimulatio zivilisatorische Leistung, die die Ausdifferenzierung einer von den ,anderen' abgewandten Sphäre innerer Erfahrung erlaubt und Stimulus einer paradoxen Kunstpraxis ist, so ist sie hier Betrug. Was sich nach außen abschirmt, ist keine neue ,Innen'-Dimension, sondern etwas, das das Licht scheut. Selbst Kriemhilts Schmerz um Sivrit ist nie bloß nach innen gewendet, immer auch körperhaft gedacht und entzieht sich deshalb nicht völlig der Wahrnehmung: man hörte hie fallen ^tten Kriemhilde klagen, da% ir niemen tröste da% her^e unt auch den muot, e% entate Gtselher [...]. (1099,2-4)
Nach der Hochzeit mit Etzel müßte freilich, wenn man die übliche Konvergenz von Affektgebärde und Situation zugrundelegt, mit der Wiederherstellung ihrer eren Kriemhilts leit verschwinden. Bekanntlich ist das von Anfang an nicht der Fall. Beim Hochzeitsmahl mit Etzel muß sie ihre Tränen verbergen. Was sie insgeheim denkt, tritt also sogleich nach außen und muß, für diesmal erfolgreich, vor den anderen verborgen werden. Auch wenn sie ihre glänzende Stellung neben Etzel schon lange eingenommen hat, weiß Dietrich von ihr: Kriemhilt noch sere weinet den hei t von Nibelunge lant.
(1724,4)
Die Könige können, um der vrouwen Kriemhilde muot zu erfahren, Zeugen befragen; Dietrich warnt: ich hare alle morgen weinen und klagen mit jamerlichen sinnen da^ E treten n>ip dem ruhen got von himile des starken Stfrides lip.
30
(1730,2-4)
Vgl. das Glaubwürdigkeitsparadox bei Reinmar, etwa MF 165,10; 170,36 u.ö. 215
Nibelungische Anthropologie
Diese Klage um Sivrit vollzieht sich nicht vor den anderen und für die anderen wie etwa bei seinem Begräbnis: Kriemhilt ist mit sich und Gott allein. Trotzdem kapselt sich kein ,Inneres' ab. Dietrich muß nicht mühsam entziffern, was Kriemhilt heimlich fühlt, sondern er kann sie hören. Entzifferung einer sich dissimulierenden Körpersprache gehört dagegen zu den wichtigsten Problemfeldern höfischer Didaxe und folgerichtig zu den Konstitutionsbedingungen des neuzeitlichen Romans. Im ,Nibelungenlied' ist dissimulatio nichts als Verrat. Kriemhilts (vergeblicher) Versuch, ihren Schmerz zu verbergen, ist Hinterlist wie Günthers vorgetäuschtes trüren. Ihre Einladung an die Verwandten greift offen zu Mitteln der Täuschung. Den Boten befiehlt sie: den suit ir niht verjehen/da^ ir noch ie gestehet betrüebet minen muot (1415,2^). Das setzt voraus, daß der Schmerz, den alle eren bei Etzel nicht vertrieben haben, auch den Boten sichtbar war. Der muot tritt an die Oberfläche und ist anschaubar, aber er darf es nicht für alle sein. Was heimlich getan oder gesagt wird, ist einigen zugänglich und schließt andere arglistig aus.
herben j arner - her^e liebe
Heftige Emotionen treten nach außen, etwa in den exzessiven Klagegebärden nach Sivrits Tod. Am expressivsten sind diejenigen Kriemhilts: Ohnmacht, Schrei, Blutsturz. Doch ist Schmerz nicht Sache einer einzelnen: mit klage ir helfende manic vrouwe was (1067,2). ir gesinde klage te unde schre mit ir lieben vrouwen, wände in was harte we [...].
(1013, if.)
Sigemunt der herre den fürsten do wart von sinen vriunden der jam er also grö^j da^ von dem starken wuofe palas unde sal und ouch di stat %e Worm^e von ir weinen erschal.
(1025)
lu enkunde niemen da^ wunder volsagen von rittern unt voft vrouwen, wie man die hörte klagen, so da% man des wuofes wart in der stat gewar. die edelen bürgere die komen gähende dar. (1036)
Vil lute sehnende da^ Hut gie mit im dan (1065,1) und: mit ungefüegem leide vil des Volkes ranc (1064,2). Der Schmerz stellt sich in der Kasteiung des Körpers dar: A. ne e%%en und ane trinken beleip da manic man.
(1058,1)
Deshalb setzt auch der Körper der Trauer ihr Maß: der dreitägige Verzicht auf Speise und Trank ist nicht länger durchzuhalten: doch mähten si dem libe so gar geswichen niht: st nerten sich nach sorgen, so noch genuogen geschiht. 216
(107 2, 3 f.)
herben jam er — her^eliebe
Die Trauer ist zu Ende, wenn ihre öffentlichen Zeichen getilgt werden. So gilt das jedenfalls im allgemeinen. Kriemhilts Schmerz aber ist in dieser Welt kollektiver und sichtbarer Affekte etwas Besonderes. Ausgedrückt wird das zuerst, wenn Kriemhilt Rache und Klagehilfe der Verwandten Sivrits ablehnt. Ihr leit wird mehrfach bergen jamer genannt.51 Der her^en jämer verlegt Ursprung wie Äußerung des Schmerzes ins (weiterhin körperhaft gedachte) Innere der Person. Insofern erscheint er - wie die Kriemhiltgestalt insgesamt - als ein Fremdkörper in der nibelungischen Welt. Was Kriemhilt von anderen Figuren unterscheidet, scheint neuzeitlichen Erwartungen näher zu stehen, doch ist Vorsicht geboten, wenn man darin die ,eigentliche', ,tiefere' Schicht des Werks zu entdecken glaubt. 52 Vor allem ist daran zu erinnern, daß überhaupt erst durch den Verlust, den Mord an Sivrit, aus einer dynastischer Konvenienz und höfischem Comment gemäß geschlossenen Ehe die ausschließliche Verbindung wird, in der die Forschung ,Liebe' zu erkennen glaubt. 55 Das Spektrum von jämer deckt ähnlich wie das von leit persönliche wie überpersönliche Phänomene ab.54 So kann die kollektive Trauer um Sivrit (1025,2) oder die um Rüedeger (2241,4) jamer heißen, jamerliche der Zustand eines Landes nach dem Tod der Königin genannt werden (1195,2). Auf inneren Schmerz bezogen wird jamer erst in Kombination mit her^e. Diese und verwandte Kombinationen legen eine Spur durch den zweiten Teil des Epos, die auf Kriemhilts Motiv für die Unerbittlichkeit ihrer Rache hinleitet: do was ir da%_ her^e so grauliche wunt: e% künde niht vervähen, swa^ man ir tristes bot. si bete nach liebem vriunde die aller gramsten not, Die nach liebem manne ie mer wip geivan.
(i 104,2—1105,1)
Die Bedeutung, die dem her^e zugemessen wird, führte man auf den Einfluß der zeitgenössischen höfischen Literatur zurück. 55 Mit ber^e wird dort das Innere als Bühne entdeckt, auf der unterschiedliche Antriebe, unterschiedliche Werte, Frauenund Gottesdienst, Minne und Ehre, miteinander streiten; das her^e ist eine der Instanzen des Ich, Gegenpart z.B. des lip, mit dem es um die Vorherrschaft kämpft, und es ist - zumal bei Walther von der Vogelweide - Inbegriff und Sitz all jener Zentralbegriff in Wolfs (1995) Interpretation des .Nibelungenliedes'; vgl. S. 400; 422 u.ö. So vor allem Schröder (1968), S. 113; 204-210 u.ö. Die Beweisführung ist oft zirkulär: Schröder legt zunächst allgemein riuwe, smer^e und ähnliche Bezeichnungen auf Seelisches fest, um dann an den angeführten Stellen solch Seelisches zu .entdecken', während Bedeutungsalternativen marginalisiert werden. Kritisch hierzu Frakes (1994), S. 133-135; 152; 156 u.ö. In der Forschung besteht die Tendenz, jamer stets mit „Herzeleid" zu übersetzen und zum Zentrum von Kriemhilts Racheaktionen zu erklären (vgl. etwa Schröder, 1968, S. 204). Wolf (1987), S. 188 hat auf Kriemhilts Verwandtschaft mit den .modernen' Frauengestalten des höfischen Romans hingewiesen. 217
Nibelungische Anthropologie
affektiven Antriebe, die bloß konventionelle Werte der höfisch-feudalen Gesellschaft wie Stand, Geburt, Schönheit, Reichtum in Frage stellen. Auch wo die Auseinandersetzung nicht szenisch-dialogisch zwischen personifizierten Instanzen des Ich erfolgt, ist das Ausagieren von inneren Konflikten eine der großen Entdekkungen der neuen volkssprachlichen Dichtung. Man wird aber deren Bedeutungsvielfalt und -tiefe nicht ohne weiteres auf das , Nibelungenlied' übertragen dürfen. Häufig ist zwar das Vokabular übernommen, nicht aber das damit verknüpfte Konzept. Sicherlich, es ist her^eliebe[] minne, die Sivrit in Worms hält (294,2), und er trägt Kriemhilt in herben (134,1). Doch wenn gesagt wird, daß auch er selbst durch herben liebe das Begehren auf sich lenkt, dann ist damit keineswegs die Liebe Kriemhilts gemeint, sondern die Wünsche anderer Frauen (manec froun>e). Swenn' er bi den beiden uf dem hove stuont, also noch die Hute durch kur^ewile tuont, so stuont so minnecliche da^ Siglinde kint, in durch herben liebe trüte manec frouive sin t.
(135)
Das heißt, her^e liebe wird von konventioneller minne, jener auf überpersonale Werte gerichteten Zuneigung auf Abstand, die auf Bewunderung der Erscheinung beruht, dem Gesellschaftsspiel, von dem sich her^eliebe bei Walther z.B. gerade absetzt, nicht unterschieden. Sivrits ausschließlich auf Kriemhilt gerichteter, zwischen Hoffnung und Verzagen schwankender Dienst gleicht viel eher dem konventionellen Gegenkonzept zur her^eliebe, nämlich verzweifelter hoher minne, obwohl Sivrit selbst beteuert, sie komme von herben (i 36,3). Der Verlauf seines Dienstes (dm ist mir noch vil vremde: des muo^ ich trüric gestan, 136,4; er leit auch von ir minne dicke michel arebeit, 137,4) zitiert geradezu floskelhaft, was man an Wirkungen der hohen minne zuschreibt.'6 Kriemhilt umgekehrt nennt her^eliebe auffälligerweise Etzels Verhältnis zur Königin Helche, das doch der Erzähler eher als eine gewiß vorbildliche, doch konventionelle dynastische Verbindung, als kollektive Angelegenheit des ganzen Landes vorgestellt hatte: wa^ sold' ich einem man, der ie her^eliebe von guotem wibe gewan (iziS^f.). Selbst wenn man in Kriemhilts Worten eine Projektion ihrer eigenen Liebe zu Sivrit (vgl. i238,3f.) auf den Hiunenkönig sieht, bleibt der Eindruck terminologischer Sorglosigkeit: daß das her^e gerade da bemüht wird, wo im allgemeinen die Konvention herrscht. Wenn sich also Elemente der Psychologie höfischer Literatur finden, so fehlt im allgemeinen deren semantische Differenzierung. Ihr Vokabular wird meist unterminologisch gebraucht. Die Bedeutung von her%e kann manchmal so verblaßt sein, daß es nur noch Adverbien wie sere oder fast ersetzt, zwecks Verstärkung eines 56
Das bestätigt übrigens auch eine Variante zu 137,4 in drei Handschriften (CDb), die minne durch hohe minne ersetzt (Batts, S. 42?.). 218
herben jam er — her^e liebe
Sachverhaltes oder zur Kennzeichnung einer besonderen Intensität: wand' er nach starkem leide sin her^evient was (2358,3). In ähnlichem Sinne kann her^eleit jeden besonders schmerzhaften Zustand meinen, etwa den der großen räumlichen Entfernung von den Blutsverwandten (741,4). Auch kann berime metonymisch für andere Instanzen des Ich stehen, ohne daß eine emotionale Vertiefung angesprochen ist, wenn etwa über die jungen Ritter und ihren Spaß an Ritterspielen gesagt wird: den ir tumbiu her^e gäben höhen muot (809,3). Man wird also das höfische Vokabular nicht allzusehr mit den Konnotationen der höfischen Dichtung belasten dürfen. Überdies ist her^e nicht einmal immer positiv besetzt. Das Innere ist nicht der Schauplatz einer neuen Sensibilität, sondern ein verschlossener Raum, in dem Verrat vorbereitet werden kann. Was Prünhilt bei sich über Kriemhilts Stolz und des ,leibeigenen' Sivrit Pflichtvergessenheit denkt, ist Motor einer verhängnisvollen Intrige: das truoc si in ir herben unt wart ouch wol verdeit (725,1). Wenn das, was sie für sich behält, nach außen tritt, hat das katastrophale Folgen.57 Kriemhilts Rachewunsch wird wille[] in ir herben genannt (1396,1); sie will ir herben leide [...] niht vertragen (1960,2). Das her^e ist der Ort sorgfältig geheimgehaltener Pläne, Denken hat die Form eines geheimgehaltenen Selbstgesprächs (i 397,4).'8 In der Bearbeitung *C, die das mit her^e angezeigte Innere häufiger ins Spiel bringt, steht her^e einmal genau an der Stelle, an der die Vulgatfassung von Einflüsterung des valant spricht (1394,1 f.): Sine chvnde ovch nie vergeben, swie wol ir anders was, ir starchen bercen leide, in ir hercen si e% las mit iamer Ballen stvnden, dat^ man sit wol bevant. do begvnde ir aber salwen von beiden traben ir gewant.
(C 1421)
Das her^e, die innere Instanz, die sich gegenüber den vielen äußeren Abhängigkeiten durchsetzt, ersetzt an dieser Stelle die dunkle, ich-ferne Determination durch den Satan. Gewiß ist dies programmatische Umwertung, trotzdem zeigt sie die ursprünglich negative Besetzung der Stelle an, an die das her^e rückt. Sie meint einen unheimlichen Ort heimlichen Planens, von dem die Zerstörung sozialer Ordnung (triuwe) betrieben wird. Erst der Bearbeiter von *C neutralisiert diese Unheimlichkeit (vgl. aber C 1421,3!), und der Dichter der ,Klage' verwandelt ihn, wie zu sehen war, wieder in den Sitz von triuwe, einer triuwe freilich, die ihrer sozialen Implikationen weithin entkleidet ist.59 Zwei Zusatzstrophen - C 821 (auch Jad) und 822 (auch Jadh) - machen noch deutlicher, daß das berste ein Versteck ist, in dem nur mühsam zurückgehalten werden kann, was nach außen drängt: ine mac niht langer dagn (C 821,1) und da% ir lach amme bercen %e lieht e% mvse chomen (C 822,3; vg'· Batts, S. 244247)· Si [ge]dabt[e] (1391,4; I39 2 » 1 : !39 6 » 2 ; '399- 1 ; 14°°,4)· Die ersten drei Verse weichen in der Vulgatfassung ab; sie beginnen mit Ich wane der übel valant Kriemhilde da^geriet; zur Deutung dieser Szene S. 231; zur Uminterpretation von triuwe in der ,Klage' S. 168-170. 219
Nibelungische Anthropologie
Zu den problematischen Konsequenzen des herben jam er gehört, daß Kriemhilt mit ihrem Schmerz in die Isolation gerät. Sie muß ihn allein und gegen alle anderen aushaken. Angezeigt ist das anfangs in ihrem Rückzug in die Nähe der Grabstätte, im unermüdlichen Dienst für den Toten, in der Beschränkung des Umgangs auf wenige Verwandte. Mit den Tränen der suone, die gemeinschaftlich, also von Kriemhilt und Günther nebst beider Anhang, vergossen werden, scheint der Versuch gelungen, Kriemhilt aus der Isolation des herben jam er zu befreien. Da es keinen Blick ins Innere der Beteiligten gibt, muß suone als verbindliche Versöhnung aufgefaßt werden. Hinter dem Ritual gibt es nichts. Erst der Redaktor von *C nennt die suone mit valsche gefvget (C 1128,2); hier bleibt das her^e vom öffentlich vollzogenen Akt ausgeschlossen: min munt im gibt der svne; im wirt da^ herce nimmer holt (C ii24,3f.). Davon weiß die Vulgatfasung nichts. Durch die vermeintliche Wiedergutmachung der Verbrechen, die Heirat mit Etzel, wird det jämer aber auch dort nach ,innen', ins her^e abgedrängt. In die Schilderung vom Aufbruch der Bürgenden hat der Erzähler eine Vorausdeutung künftigen Unheils eingefügt: die Sif rides wunden taten Kriemhilde we.
(i 523,4)
Das ist paradox formuliert, denn niemand kann den körperlichen Schmerz eines anderen wirklich spüren. Es muß also noch Verletzungen von anderer als körperlicher Art geben. Das ist die Entdeckung der höfischen Literatur, ausgelegt in der Vorstellungswelt einer Kriegergesellschaft. Unkörperliche, doch nicht weniger schlimme Verletzungen - die Trauer um Sivrit - werden in der Metapher eines physischen Schmerzes gefaßt. Das ist in der Heroenwelt provozierend unverständlich. Hagen bringt es brutal auf den Punkt, wenn er an die Vergänglichkeit körperlichen Schmerzes erinnert und daran das Fortdauern von Gefühlen bindet: Si mac wol lange weinen [...] er lit vor manigem jare %e tode erslagene. den künec von den Hiunen sol si nu holden haben: Sifrit kumi nihf widere [...]. (1725)
Dietrich antwortet in derselben Vorstellungswelt: Die Sif rides wunden la^en wir nu sten.
(1726,1)
Doch beide verkennen, daß Stfrides wunden auch diejenigen Kriemhilts sind und daß man sie deshalb keineswegs auf sich beruhen lassen kann. Ein solches Leiden muß in der frühen feudalen Epik über die Körpermetapher allererst verständlich gemacht werden. Ähnlich Eilharts ,Tristrant' zur Bezeichnung einer höfischen Intrige: do wart ane wundin/Tristrant sere vorsnitin (Trt 3o82f.) oder sogar noch spätmittelalterliche Texte ekstatischer Frömmigkeit, die vom Gläubigen fordern, Christi Passion am eigenen Leib nachzuerleben, nicht nur als geistige Erfahrung, nicht einmal nur in intensiver Imagination, sondern als körperlichen 220
Die arme Königin
Schmer2. Um die Wunden Christi wirklich zu spüren, wird manchmal sogar empfohlen, den eigenen Körper zu verletzen.40 Die somatische Bindung von compassio ist also selbst in der spätmittelalterlichen Passionsfrömmigkeit nicht völlig aufgegeben. In analoger Weise umschreibt die kühne Metapher von Kriemhilts Leiden an Sivrits Wunden ein psychisches, sich gleichwohl körperlich-wahrnehmbar äußerndes Syndrom. Es ist in einer Welt, in der Schmerz konkrete Körpererfahrung ist, höchst befremdlich. Versteht man die Wendung nur als Umschreibung eines rein innerseelischen Vorgangs, dann tilgt man die Auffälligkeit. In diametralem Gegensatz zu spiritueller Frömmigkeit ist dieses Mit-leiden freilich zerstörerisch; es sprengt alles Erwartbare. An Kriemhilt arbeitet der Erzähler eine Seite heraus, die in der Welt des .Nibelungenliedes' ganz unwahrscheinlich ist und deshalb von allen verkannt wird. Was man als ihre unverbrüchliche Liebe und Treue gegenüber Sivrit aus den Handlungskonstellationen erschloß, besetzt einen Raum, der im Epos als dunkle Leerstelle erscheint. Es ist das her^e, einerseits aus der höfischen Dichtung als Ort einer neuen Kultur der Innerlichkeit bekannt, doch auch ein verschlossener Ort heimlicher Gedanken und Pläne, die nicht offen eingestanden werden können. Der Unterschied zwischen Günthers Lüge und Kriemhilts dissimuliertem jämer ist nur graduell.
Die arme Königin Im »Nibelungenlied' weist ein älteres Modell der Auswendigkeit psychischer Vorgänge Brüche auf, so daß seelische Vorgänge, die sich in ihm nicht verrechnen lassen, andeutungsweise, doch nur im Modus der Negativität aufgenommen werden. Dies zeigt sich an der Wendung Kriemhilt diu arme (1053,1). Man ist geneigt, arm als Aussage über ihren herben jämer zu nehmen, doch hat das Epitheton arm eine sehr viel umfassendere Bedeutung.41 Es schließt subjektives Befinden und objektive Sachverhalte ein, ohne daß beides voneinander zu trennen wäre. Den Blick dafür kann die ,Kudrun' schärfen. Auch Kudrun wird in der Gefangenschaft gates armiu genannt.42 Das bezieht sich auf ihre Situation insgesamt: Sie ist Waise (K 1217,4), deren Vater erschlagen wurde, sie ist getrennt von Herwic, dem sie zur Ehe versprochen war, getrennt von ihrer Mutter und ihren übrigen Verwandten, hat ihren Besitz verloren, soll zur Heirat mit ihrem Entführer gezwungen werden und leistet, weil sie sich weigert, unwürdige Dienste einer Magd: Gott 4
° Schuppisser (1993), S. 189-191. Vgl. die Dokumentation im Frühnhd. Wb II, Sp. 100-119, deren Grundlinien sich schon mhd. nachweisen lassen. 42 K 1171,1; K 1209,1; so auch Hilde, nachdem sie ihre Tochter Kudrun verloren hat (K 929,4). 41
221
Nibelungische Anthropologie
scheint sie verlassen zu haben (K 1036,3). Von dieser vielfältigen Begründung für arm wird insbesondere der Verlust ihrer königlichen Stellung in den Vordergrund gerückt. Bei ihrer Ankunft in Ormanie läßt sie sich die Dienste Hartmuots gefallen, obwohl sie ihn doch als Entführer verachtet: ja nam auch diu arme den dienst von im durch ere
(K 975,3),
denn Hartmuots Geste stellt für einen Augenblick die Stellung (ere) wieder her, die sie - diu arme - verloren hat. Synonym zu armiu meit (K 979,1) ist eilende melt (K 989,1); eilende ist Kudrun, weil sie von dem Sozialverband getrennt ist, in dem man sie anerkennt und von ihrem Rang weiß.43 Die Gewalt, die Gerlint, die Mutter Hartmuots, gegen Kudrun braucht, zielt vornehmlich auf die Erniedrigung der Königstochter: von allen hohen dingen wil ich dich swachen unde scheiden.
(K 999,4; vgl. K 1062)
Das gelingt: ja mohten si ir adeles niht genießen (K 1007,4). Die Wiederherstellung (erget^en) ihrer königlichen Stellung ist nur um den Preis der Ehe mit Hartmuot zu haben (K 1028,3); we^ Kudrun ablehnt, bleibt sie arme^ ingesinde (K 1190,3; K 1194,1). Wie konkret dieser Status gefaßt ist und wie wenig er bloß als verzweifelte Niedergeschlagenheit verstanden werden darf, zeigt sich, wenn sich die Rettung ankündigt. Kudrun wird durch die Botschaft eines Engels auf das Erscheinen ihrer Befreier - des Verlobten und des Bruders - vorbereitet (K 1206,2). Doch wenn die beiden dann endlich kommen, freut sie sich nicht, sondern bemerkt erst, wie arm sie ist. Sie ist beschämt und möchte fliehen: Do sprach diujamers ruhe: „owe, ich armiu meit [...] sint e% die boten Hilden, suln mich die sus hie vinden waschen ttf dem grieve, da^ /aster künde ich nimmer überwinden.
(K I2o8,i;3l~.)
Der Gegensatz zwischen dem Status der vil edelen frouwen einst und der Erscheinung als arme[%] ingesinde jetzt (K I2i6,2f.), als gotes armiu [...] in disen großen schänden (K 1209,1; 4), ist für Kudrun so unerträglich, daß er sogar fast die Rettung vereitelt: Lieber als im Zustand der Erniedrigung gesehen zu werden, wolle sie bleiben, was sie ist (e wolte ich immer heilen ingesinde, K 1209,4). Auch die Gefährtin traut sich in einer so heiklen Sache nicht zu raten (vgl. K 1210,2). Erst als die Retter sie durch ander magede ere zu bleiben beschwören (K 1215,3; vgl. 1214,3), wartet Kudrun wenigstens ab, bis sie näherkommen. Im anschließenden Gespräch wird das Wiedererkennen immer wieder verzögert, damit Kudruns defizienter Status - Kleidung, Entfernung von der Heimat und von den Verwandten (die vil armen weisen, K 1217,4) - stets aufs neue betont werden 4i
Deshalb geht eine Formulierung wie doch müejet mich min eilende sere (K 1040,4) nicht in einem „Gefühl des Fremdseins" (K S. 209) auf. 222
Die arme Königin
kann. Sie muß zuerst in ihrem früheren Rang wiederhergestellt werden, bevor die Rettung beginnt. Gewiß sind auch in ihrem jetzigen Zustand noch Adel und Schönheit sichtbar. Die Ankömmlinge erkennen Kudrun zwar nicht, doch vermuten sie bei ihrem Anblick, sie sei von königlichem Rang: ir mähtet krone tragen [...] ir soltet landes frouwen sin mit großer ere (K 1222,1; 3). Als schatte frouwen Damen also - (K 1224,3) reden sie Kudrun und ihre Gefährtin an. Aber auch sie rechnen offenbar mit einer Standesdifferenz zur armen Kudrun, weshalb sich die beiden Männer, um diese zu verringern, nicht als Könige, sondern nur als eines küniges ingesinde vorstellen (K 1228,4). Kudruns Erniedrigung trübt auch den Blick ihrer Befreier: Kudrun diu arme (K 1240,3), diu arme meit (K 1246,1), die vil armiu (K 1277,2), wird nicht einmal vom eigenen Bruder wiedererkannt. Er befindet im Gegenteil: sie ist miner swester nindert anelich; denn die war eine so schäm maget wie keine sonst auf der Welt (K 1239,2; 4).44 Die psychologisch naheliegende Erklärung, man habe sich schließlich über ein Jahrzehnt nicht gesehen, greift zu kurz, denn Kudrun erkennt die Züge des Verlobten durchaus: dem sit ir anelich (K 1241,2). Herwic nämlich ist nicht durch eine erniedrigende ständische Rolle entstellt. Ihm dagegen kann Kudrun, obwohl er sie vor sich sieht, weismachen, Kudrun sei tot, die Wäscherin, die er sieht, ist jedenfalls Kudrun nicht.45 Es bedarf eines Zeichens, um die Identität zu sichern: Kudruns Ring. Das Zeichen repräsentiert Kudruns wahren Status, denn es ist golden. An ihm erkennt Herwic weniger die Person als ihren Rang, der im schäbigen Gewand unkenntlich war: dich truog auch anders niemen, e% (en^ware küniges künne.
(K 1250,3)
Die Kennzeichnung arm steht also primär in Opposition zu adlig, angesehen, mächtig und bezeichnet die Entfremdung von der Stellung, die Kudrun dank Geburt, Eheversprechen und Verwandtschaft zukommt.46 Seelisches leit ist überwiegend durch den Identitätsverlust vermittelt, der Folge der Entführung - Isolation vom Verwandtschaftsverband - und Erniedrigung - Verlust des königlichen Ranges ist.47 44
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47
Früher einmal war Kudrun diu schane (K 1243,4), diu edele Kudrun aus der Sippe von Helden (K 1244,4) und diu maget here (K 1277,1). Wenn Kudrun ihrerseits vom Gerücht spricht, Herwic sei tot (K 1246,2), dann hat das eine andere Bedeutung: Herwic hat sich eben erst zu erkennen gegeben, und Kudrun wirft ihm vor, der wirkliche Herwic hätte viel früher etwas zu ihrer Rettung unternommen. Tatsächlich weiß Kudrun durch den Engel ja, daß Herwic lebt (K 1174,2). Der Vorwurf erlaubt überdies, das Wiedererkennen noch etwas länger zu verzögern. Als Kudruns Mutter Hilde vom Tod König Hetels erfahrt, ruft sie aus: wie sivindet min ere (K 926,3). Der Tod des Königs heißt vor allem Einbuße an Macht und Ansehen. Wenn es auf die seelischen Folgen ankommt, sind paradoxe Wendungen wie armefj kiiniginne (K 797,4; 941,4) oder arme[] frouwef] (K 1606,4) am Platz. 223
Nibelungische Anthropologie
Dieses Bild der armen Königin, die mit dem Verlust des Mannes den des Thrones und mit dem des Thrones den ihrer Identität beklagt, scheint - gewiß auch unter dem Eindruck von Gestalten des höfischen Romans wie der trauernden Enite oder Sigune - später als unzulänglich empfunden worden zu sein. Damit verschwindet es jedoch keineswegs. Ins Skurrile gewendet ist es im ,Wolfdietrich D'. Liebgart, die Witwe Kaiser Ortnits, klagt dort allabendlich über den Verlust ihres Mannes. Ihre Klage gilt der großen Macht und glänzenden Stellung des Kaisers, dem halb Europa diente. Die hat sie mit seinem Tod eingebüßt: ich han es als verloren und mus es faren lan. Di vor min diner waren, sin nu di herren min.
(Wo D 1477,4) (Wo D 1478,1)
Ach wer sol mich nu trösten, mich arm elendes wip.
(Wo D 1480,4)
Das entspricht zwar dem Bild einer armen Königin, läßt sich aber aus der Erzählung nicht begründen: Liebgart ist nach wie vor Kaiserin; niemand unterdrückt sie oder macht ihr den Besitz streitig. Ihre Klage ist Parodie. Das zeigt sich, wenn der Wächter aus der Klage der arme[n] frawe (Wo D 1482,3) nur den materiellen Aspekt heraushört und ihr rät, ihren Lebensunterhalt mit dem zu bestreiten, was sie gelernt hat: Sidt ir wol kunnet spynnen und wurcken an der ram: Dar mit ir wol gewynnet brot und den klaren win, Sidt ir von lant und luten sollend verstossen sin. (Wo D 1483,2-4)
Die Worte des Wächters verspotten den Doppelsinn von arm, indem sie Liebgarts Schmerz auf ein Problem reduzieren, das zum einen nicht besteht, zum ändern lösbar scheint.48 Die spätzeitliche Burleske ist Replik auf die implizite Voraussetzung, daß es bei arm nicht primär um Seelisches geht, sondern um gesellschaftliche Stellung, Besitz, eren und die damit verbundenen Vorzüge.
Kriemhilt, die gates arme Es macht die , Modernität'49 des .Nibelungenliedes' aus, daß arm sich nicht auf diesen Aspekt einschränken läßt, doch bedeutungslos wird er deshalb noch nicht. Verknüpft sind z.B. , subjektive' und »objektive' Komponenten in Rüedegers Klage: Owe mir gates armen, da^ ich dit^ gelebet han. aller miner eren der muo^ ich abe stan, triuwen unde %ühte, der got an mir gebot. (2153,1-3) 48
Die Klage hört übrigens auch Wolfdietrich, der sie für den Verlust Ortnits in jeder Hinsicht entschädigen wird und dem sie wenige Strophen später Bern und Garda anbieten kann, über die sie offenbar weiter verfügt, dazu sich selbst und ihre Krone (Wo D 1498). « Haug (1987), S. 293. 224
Kriemhilt, die gates arme
Gottverlassenheit bedeutet nicht nur die Zerstörung der ethischen Werte, die Rüedeger vertrat, sondern auch den Verlust von deren Ausdruck in sozialem Status und allgemeiner Geltung vor Gott und den Menschen. Wenn Kriemhilt diu arme genannt wird, denkt man zuerst an ihren Schmerz um Sivrit: da% si des recken fades vergeben künde niht (1142, 3). Der unermeßliche Besitz Sivrits kann den Verlust seiner Person nicht aufwiegen: Und wäre sin tüsent stunde noch alse vil gewesen, und so/t' der herre Stfrit gesunder sin gewesen, bi im wäre Kriemhilt hendeblo^ bestan. getriuwer wtbes künne ein helt nie mere gewan. ( 1 26)'°
Andere, in die entgegengesetzte Richtung weisende Aussagen dürfen jedoch nicht heruntergespielt werden, auch sind Aussagen wie die zitierten nicht aus ihrem Kontext zu isolieren.'1 Strophe 1126 dient eben auch heroischer Hyperbolik: Die ungeheure Größe des Schatzes wird durch das noch ungeheurere Ausmaß des Schmerzes bei weitem überboten; damit ist nicht gesagt, daß der Schatz nichts zählt. Beides gehört zusammen: Mit iteniuwen leiden beswaret was ir muot, umb ir mannes ende, unt do si ir da^ guot also gar genämen. done gestuont ir klage des Itbes nimmer mere un^ an ir Jungesten tage.
(1141)
Es ist ebenso falsch, Kriemhilt auf die Verfolgung von Machtinteressen zu reduzieren wie ihre Abhängigkeit von ihrer königlichen Stellung zu bestreiten.'2 Seit Sivrits Tod heißt Kriemhilt die arme[] Kriemhilt (1056,4), diu gotes arme (1080,4), S3 das vil arme[] jvfp, das seine Vertrauensseligkeit Hagen gegenüber bedauert (1112,2). Das Epitheton arm faßt Aspekte des Statusverlustes und des Verlustes des Geliebten zusammen. Zu einem Teil ist örw-Sein materiell kompensierbar. Wenn Giselher anbietet: nu %er min eines guot (1079,2) und verspricht: y# rvil ich dich erget^en dines mannes tot (1080,3), dann steht offenbar der materielle Aspekt des Verlustes im Vordergrund, und der Erzähler unterstreicht ihn durch die Zustimmung der gotes arme [n] \ des wäre Kriemhilde not (1080,4), oder noch deutlicher in C 1091,4: do sprach diu küniginne: „des war mir armen mbe not." Mit ganz ähnlichen
Vgl. Schröder (1968), S. n; 86; Wolf (1987), S. I9if.: „Kriemhilts Hortfrage [..] macht die Strophe 1126 nicht ungeschehen" - so wenig „ungeschehen" allerdings wie umgekehrt die zahlreichen Strophen, in denen es um Macht und Besitz geht. Nur dann kann man behaupten, „äußere Ehre" bedeute Kriemhilt wenig, der Dichter habe sie „einseitig als Liebende" konzipiert oder - in einer typisch neuzeitlichen Unterscheidung: „Kriemhilt liebt an Sivrit nicht die Macht, sondern die Person" (Schröder, 1968, S. 80; 82; 87). Beyschlag (1952/61 und 1957/58) vs. Schröder (1968); vgl. ebd., S. 87-91: „Mode" nennt Schröder die Einbeziehung politisch-gesellschaftlicher Aspekte (S. 87), doch war es einstmals „Mode" allenfalls, den historischen Zusammenhang zwischen beiden Aspekten zu zerreißen. In den Hss. Jh steht stattdessen fravden arme; in Ca küniginne (Batts, S. 326f.). "5
Nibelungische Anthropologie
Worten wird Kriemhilt später Rüedeger an sein Versprechen erinnern, ihr bei der Rache zu helfen: des wart mir armem wibe nie so grauliche not (2149,4), und, als der sich weigert, wird sie klagen: Owe mirgotes armen (215 3,1). Mit arm ist hier jedes Mal ein Mangel bezeichnet, dem durch Giselhers guot und durch Rüedegers militärischen Einsatz abgeholfen würde. Arm ist hier Gegenbegriff zu einer Position der Macht (riche), die Besitz und Status einschließt.'4 Das Epitheton meint die (momentane) Nichtzugehörigkeit zum Kreis der Mächtigen und Reichen, durch das Kriemhilt den armen gleichgestellt wird." Das beeinträchtigt ihren Status allerdings nur zum Teil, denn für Etzel zählt, was sie an Sivrits Seite war: Wenn der beste Held sie zur Frau nahm, ist sie auch für den mächtigsten König begehrenswert: Do sprach der künic Et%el: „was si des recken wip, so was wol also tiure des edelen fürs ten lip, da^ ich niht versmahen die küneginne sol. durch ir großen scheme so gevellet si mir wol." (1158)
Etzels Begehren (gevellet] gilt nicht der Person, die er nicht kennt, sondern der Schönheit und dem durch sie angezeigten Adel, die sich aus dem Wert (tiure) ihres ersten Mannes ergeben und die es verbieten, sie jetzt gering zu achten (versmahen). Kriemhilt ist für ihn durch den Status definiert, den sie an Sivrits Seite erhielt. Für Kriemhilt steht dagegen im Vordergrund, was sie durch Sivrits Tod verloren hat. Sie nennt Etzels Werbung daher spot, wie ihn Gott nicht zulassen dürfe, denn er gilt einer arme[n] Frau (1218,3). ,Armut c meint einen Zustand der Ohnmacht und materiellen Abhängigkeit, der Schonung verlangte, doch tatsächlich Kriemhilt der Willkür der Mächtigen aussetzt. Weil die Ausschaltung von Sivrits Macht und die Zerstörung seiner Person und Schönheit'6 zwei Seiten derselben Sache sind, ist mit Sivrits Tod nicht nur Kriemhilts Stellung vernichtet, sondern auch ihre Schönheit wertlos. Wenn sie nach dem Mord an Sivrit die schasne[] vreudelose[] (1009,2) genannt wird, dann ist das eigentlich ein Widerspruch von allgemeinem Status und gegenwärtigem Zustand, der gleiche Widerspruch wie in der Wendung: Kriemhilt diu here und vil trürec gemuot (1225,1)." Zu ihrer zerstörten gesellschaftlichen Stellung ,paßt' (%emen\) weinen (1242,4; 1245,2),'' nicht das, was man von einer Herrscherin erwartet, die Demonstration 14
Entsprechend dem von Bosl (1963) untersuchten Begriffspaar potens und pauper. " In diesem Sinne nennen sich im ,Tristrant' Kurneval und Brangäne arme Hute (Trt 5643); über die Selbstkasteiung der Isalde wird gesagt: si gehabet sich als ein arm wip (Trt 7223). '6 do was gelegen ringe sin grasyu scharte und auch sin leben (1063,4; vgl. 1068,2; 1112,1). " So nach Hs. B; die Hss. A und C glätten diesen Widerspruch nach der einen oder der anderen Seite: A .vergißt' die gegenwärtige Lage: Criemhilt div schone vnd vil reine getnvt (A 1165,1); C dagegen vereinheitlicht im Sinne des gegenwärtigen Zustandes: Chriemh' div vil arme, div trurich gemvt (C 1249,1). >s Weinen ist der angemessene Ausdruck eines Defektes; es darf nicht nur auf Kriemhilts Gefühl für Sivrit ausgelegt werden (Schröder, 1968, S. 108). 226
Kriembilt, die gates arme
von Schönheit. Schönheit nämlich ist keine Qualität, die an der Person haftet, sondern sie setzt eine dem Rang gemäße Position voraus. So zweifelt Kriemhilt, ob sie noch schön genug ist, um neben Etzel auftreten zu können: wie sold' ich vor recken da wart min Itp ie schatte, des bin ich ane getan.
(124 5, 3 f.)
Niemand darf nachrechnen, wie es nach so vielen Jahren wohl um Kriemhilts Schönheit stehen mag, und unangemessen ist es, in den Worten nur die Selbsteinschätzung einer verhärmten Witwe zu sehen. Die Verse sagen anderes aus: Schönheit gehört zu den selbstverständlichen Vorzügen, die Kriemhilts Status ausmachen; mit dessen Verlust ist die Schönheit - als öffentlich angeschauter Repräsentationswert - zunächst einmal dahin. Andererseits ist Schönheit Kriemhilt von ihrer Herkunft her angeboren, ist Potentialität, die im richtigen sozialen Kontext sofort wiederhergestellt werden kann. Rüedeger hält Kriemhilt deshalb entgegen: %wiu woldet ir verderben einen also schanen lip?
(1254,3)
Kaum hat Kriemhilt Etzels Werbung angenommen, kehren die prächtigen Kleider zurück. Als künftige Frau des Hiunenkönigs kommt sie herlichen einher (1337,3), und wenn sie vor Etzel ihren Schleier zurückschlägt, strahlt ihre Schönheit wie früher: ir varwe wol getan /diu lüht' ir »£ dem golde (i3ji,if.), ganz wie es bei ihrem Auftritt mit Sivrit in Worms geheißen hatte: ir varwe gegen dem golde den glan^ vil herlichen truoc (799,4). Sie hat die Fassung wieder, die ihr zusteht. Im ersten Disput um die Werbung Etzels geht es um Sivrit (mir hat der tot an einem so rehte leit getan, 1238,3), doch auch um Kriemhilts defizienten Status und die Möglichkeit, den Defekt zu heilen. Das setzt sich fort, wenn sie bei sich über Etzels Werbung nachdenkt: Do bat si got vil dicke füegen ir den rat, da^ si %e gebene bete galt silber unde wat, sam e bi ir manne, do er noch was gesunt.
(1247,1-3)
Kriemhilt legt Gott keine offene Frage vor, sondern bittet ihn, ihr zu helfen (rat hat ja auch die Bedeutung von Abhilfe), daß sie wieder wie einst über Gut verfügt, das sie verschenken kann, und diese Möglichkeit eröffnet Etzels Reichtum, so wie vorher Sivrits Hort. Im Plan der Rache geht der Gedanke an den materiellen Verlust und die Möglichkeit, ihn auszugleichen, nicht unter; das eine ist die Bedingung des anderen: „wa^ ob noch wirt errochen des minen lieben mannes lip?' Si gedabte: „stt da^ Et^el der recken hat so vil, sol ich den gebieten, so tuon ich swa^ ich wil. " Das ist die Formel, die Repräsentation und Ausübung von Herrschaft anzeigt: dar %uo er gekramt vor vriunden solde gan (706,3); Ca hat statt vriunden: forsten (vgl. Batts, S. 2141*.).
"7
Nibelungische Anthropologie er ist ouch wol so riebe, da^ ich %e gebene han. mich hat der leide Hage tie 'mines guotes [!] am getan."
(1259,4-1260,4)
Der Erzähler erinnert gleich zweimal an den Defekt noch in dem Augenblick, in dem er beseitigt wird: Er nennt Kriemhilt trürec lip (1263,3), wenn sie Etzels Werbung schließlich zustimmt, und er läßt sie sagen: ich ml iu volgen, ich armiu künegin (1264,1). Für die Protagonisten scheint es schlechthin unvorstellbar, daß Kriemhilt unvraliche bleiben wird, wenn sie wieder in vreuden lebt. Doch die Wiederherstellung reicht nicht aus. Offenkundig wird das genau dann, wenn die Restitution ihres Status im Herrscherzeremoniell der hoh^it augenfällig wird: Si wan' in Niderlande da vor niene gesa% mit so manigem recken, da bi geloube ich das^ was Stfrit rieh des guotes, da% er nie gewan so manigen recken edele so si sach vor E treten stan.
(1368)
Doch das , Sitzen' an der Seite eines Herrschers - Zeichen eines ständisch exklusiven Glücks und Metonymie von Herrschaft - wird unter einem anderen Aspekt abgewertet:60 Wie si %e Rtne sce^e, si gedaht' ane bi ir edelen manne, ir ougen wurden na%. si hetes vaste hale, da^ e% lernen künde sehen. ir was nach manigem leide so vil der eren geschehen.
(1371)
Als Herrscherin hat Kriemhilt mehr als zuvor; ihr vergangenes leit ist durch eren abgelöst, aber der Zustand bleibt defizitär. Hier treten, dissimuliert zwar, doch sichtbar, (restituierbarer) Status und (unwiederbringlich verlorene) Bindung. an die Person Sivrits auseinander. Mit Kriemhilts Wiederaufstieg an der Seite Etzels werden die beiden Seiten unterscheidbar und geraten miteinander in Konflikt. Die Wiederherstellung Kriemhilts als Königin bringt nicht die Versöhnung, sondern stimuliert erst die Rache. In disen hohen eren (13,1) - in der durch Macht und Ansehen der Brüder vermittelten Stellung - war Kriemhilt aufgewachsen. Diese ere, ihr königlicher Rang und Adel (adelvri, vgl. 828,1), wurde ihr zuerst von Prünhilt bestritten. Die Gegenwehr hatte Sivrits Tod zur Folge und damit die Zerstörung aller eren. Nach dem Intermezzo des Horts stattete erst die Vermählung mit Etzel Kriemhilt wieder mit vil großen eren (1387,1) aus. Doch die Rückkehr in den Ausgangszustand ist Schein. Kriemhilt benutzt sie zur Rache, als deren Ergebnis nicht nur sie untergehen wird, sondern auch die Macht, der sie die Restitution verdankte. Insofern ist der konkrete Bedeutungshintergrund bei der armen Kriemhilt bis zum Schluß präsent.
Vgl. Fromm (1990), S. 12. 228
Psychische Komplexität
Selbst die , Klage' hebt beim leit Kriemhilts an Etzels Seite nicht zuerst die Erinnerung an Sivrit hervor, sondern das Leben in der (heidnischen) Fremde (eilende): In ist wol geseit wie si %en Hiunen gesa% a/so diu edele Helche e. doch tet ir Ballen %tten we da^ si da eilende hie^ wand si der jam er nibt geruowen selten keinen tac, wand ir an dem herben lac wie si verlos ir wünne. ir aller nahstes^ künne he t ir ir lieben man benomen.
(Kl 71-81)
Damit wird der Skandal einer Restitution, die von Kriemhilt nicht als Restitution erfahren wird, abgemildert: Was Kriemhilt als Herrscherin an Etzels Seite geboten wurde, war eben keine wirkliche Wiedergutmachung für den Verrat des ncehste[n] künne, sondern war mit einem heidnischen Exil verbunden. Kriemhilts fortdauernder jamer ist einer äußeren Situation gemäß, die selbst defizitär ist. Das Epos rückt die beiden Seiten der armen Kriemhilt unverbunden nebeneinander. So ist zu erklären, daß konträre Interpretationen, jede für sich auf Harmonisierung aus, plausible Argumente aus dem Text anführen konnten, nur eben aus unterschiedlichen Textstellen. Indem die arme Kriemhilt als Königin an Etzels Seite wieder zu sein scheint, was sie schon einmal war, zeigt sich, daß ihr leit nicht im Verlust ihrer Stellung als Königin aufging. Nur jedoch als zerstörerische wird die von den anderen abgewandte Seite personaler Identität entdeckt.
Psychische Komplexität Doch bleibt es nicht bei der bloßen Aggregation unterschiedlicher Deutungsmuster. Es werden widersprüchliche Charakterisierungen eingesetzt, um ein komplexes Bedingungsgeflecht zu entwerfen. Besonders auffällig geschieht dies in der 23. Aventiure, wo sich die Antriebe Kriemhilts verwirren,6' wenn sie, als Herrscherin unbestritten und über Etzels Macht verfügend, an ihre burgondischen Verwandten und die steckengebliebene Rache denkt. Erzählt wird eine nur scheinbar wirre, in Wirklichkeit höchst kunstvolle Abfolge von Überlegungen, Erinnerung, Selbstge61
Zu diesem Meisterstück des Erzählens einer komplexen psychischen Situation vgl. Müller (1987), S. 250. Die Frage, ob diese Überlegungen „during the sexual act" und das Gespräch mit Etzel „post(or intra?) coital" seien (Frakes, 1994, S. 128), ist belanglos und behandelt wieder das literarische Konstrukt wie eine reale Szene. 229
Nibelungische Anthropologie
sprach, Gefühl, Wunsch, Traum, Gebärde, die die konkretere Gestalt eines Plans annehmen, mündend in der Bitte an Etzel, er möge die burgondischen Verwandten einladen. Erzählerrede aus personaler und aus auktorialer Perspektive, so etwas wie ,erlebte Rede' (1392,4) und direkte Rede der Figur lösen einander ab; ebenso greifen Fazit der Handlung, Gedanken der Hauptfigur, Wunsch, Traum, Vorgriff auf die Zukunft ineinander, in einer sprunghaften, a-logischen Erzählweise, in der der Glanz von Kriemhilts Stellung und ihr vergangenes leit, ihre widerstreitenden Gefühle und ihre widersprüchlichen Beziehungen zu den Burgonden unverbunden hart nebeneinander gerückt werden. Ausgangspunkt ist Kriemhilts Bewußtsein der eigenen Macht (da% ir niemen wider stuont (1391,1), dann ihre Erinnerung daran, was früher geschehen ist: si gedäht' auch maniger leide, der ir da heime geschach. Si gedäht' auch maniger eren von Nibelunge lant, der si da was getvaltic unt die ir Hagenen hant mit Sif rides tode bete gar benomen, ob im da^ noch immer von ir %e leide mähte körnen.
(i 391,4-1 392,4)
Beides wird zunächst noch nicht miteinander verknüpft. Die Erinnerung maniger leide (1391,4) ruft sogleich diejenige maniger eren (1392,1) herauf. Die Anapher (si gedäht' ouch - si gedäht' ouch) weist auf die ,Verkettung* innerhalb der memoria, wie sie zeitgenössische Theorie beschreibt.02 Zusammenhängt das eine mit dem anderen durch Hagens Verbrechen (die ir Hagenen hant /mit Stfrides tode bete gar benomen, 1392,2^). Die Folgerung daraus ist der Wunsch, sich zu rächen: ob im da% noch immer von ir %e leide mähte körnen.
(\ 392,4)
Seine Erfüllung würde voraussetzen, daß sie Hagen in ihren Machtbereich bringt: Da^ geschähe ob ich in mähte bringen in dit% lant (1393,1). Damit ist die Verknüpfung mit dem Bewußtsein ihrer Macht (1391,1) hergestellt. Offen bleibt die Realisierung. Erst einmal bricht die Überlegung ab: Stillstand. Der nächste Vers setzt scheinbar ganz neu an mit einem Traum, unterhalb der Ebene bewußten Planens also. Doch der Traum besetzt genau die Stelle, die im Wunsch offen geblieben war geschähe ...): ir träumte da% ir gienge vil dicke an der hant Giselher ir bruoder; si kuste'n 'aller stunt vil ofte in senftem slafe: sit wart in arbeiten kunt.
(1393,2-4)
Der Traum scheint auf der Oberfläche das Gegenbild des Rachewunsches zu zeigen: statt Befriedigung des Hasses auf Hagen das Glück der Nähe zum Bruder. Daß beides zusammenhängt, zeigt nur die Vorausdeutung des Erzählers im vierten Vers an, die auf das unheilvolle Ende für ,sie' verweist. Sind Kriemhilt und Giselher gemeint? alle? - Wieder bricht die Rede ab. Carruthers (1990), S. 61-64 u- ö. 230
Psychische Komplexität
Der Erzähler behält das Wort in der folgenden Strophe, die wieder ganz neu ansetzt: Ich wane der übel valant Kriemhilde da^ geriet, da^ si sich mit friuntschefte von Gunthere schief, den si durch suone kuste in Bürgenden lant. do begonde ir aber salwen von beiden trehen ir gewant.
(i 394)
Dem übel valant, einer überpersonalen Macht also, schreibt der Erzähler einen Vorgang zu, von dem bislang noch nicht die Rede war. Worauf nimmt er Bezug? Offenbar auf ein noch zukünftiges Geschehen, daß sich Kriemhilt mit friuntschefte von Guntbere schiet, also ihre friuntschaft mit Günther zerreißt,6' den sie doch zur Versöhnung (durch suone} geküßt hatte. In der Tat wird Kriemhilt ohne Rücksicht auffriuntschaft und suone ihren Racheplan gegen den Bruder verfolgen. Was da auf dem Spiel steht, zeigt eine Variante in A und B, die von Bartsch nach der Parallelüberlieferung korrigiert wurde:64 dieser Variante zufolge trennt sich Kriemhilt nämlich nicht von Gunthere, sondern von Giselhere, ihrem Lieblingsbruder also. Das ist vom Handlungsverlauf her ein ,Fehler', denn nirgends hatte Kriemhilt mit Giselher zur suone wie mit Günther einen Versöhnungskuß getauscht.6' Wie kommt Giselhers Name hierhin? Für einen Moment scheint die entferntere Handlung vergessen; positive und negative Beziehungen Kriemhilts sind am deutlichsten in Giselher und Hagen polarisiert, und so können Kuß wie Verrat dem geliebten Giselher statt dem ambivalenten Günther gelten. Der ,falsche' Name verstärkt noch den Eindruck einer Ungeheuerlichkeit, für die man an den übel valant denken muß, gleich ob sie sich nun gegen Giselher oder gegen Günther richtet. Die Strophe antizipiert den künftigen Verrat. Die Antizipation setzt eine unausgesprochene Verknüpfung zwischen den Aussagen der Strophen 1393 und 1394 dem Haß auf Hagen und der Liebe zum Bruder - voraus: Der Unmöglichkeit, Hagen ins Land zu locken, da jede Bindung an ihn zerschnitten ist, steht die Möglichkeit entgegen, die friunde zu sehen, repräsentiert in Giselher oder auch selbst in Günther, mit dem Kriemhilt wieder versöhnt ist. Was im Irrealis erwogen 6j
Ich folge de Boor beim Verständnis des schwierigen mit friuntschefte; er glossiert: „in Bezug auf ihre Freundschaft trennte, ,die Freundschaft aufsagte'". Bracke« übersetzt dagegen „in [mit'·] Freundschaft von Günther schied" (S. 59). Dann wäre es sinnvoll, das Verb als vorzeitig aufzufassen: ,daß sie sich als frinnt von Günther getrennt hatte'. Mir scheint es trotzdem plausibler, den Vers auf Kriemhilts zukünftige Haltung gegenüber Günther zu beziehen, die so ungeheuerlich ist, daß sie ihr der valant eingegeben haben muß (Kühn, 1965, S. 281; 29of; 294). 64 Ich übernehme die Konjektur von Bartsch nach DJbdh (vgl. Batts, S. 423). Die *C-Gruppe weiß überhaupt nichts von einer Verfuhrung durch den Satan (C 1421), was sich daraus erklärt, daß schon die suone nicht echt war (Kühn, 1965, S. 297^). 6 ' Giselher hat Kriemhilt zum Abschied seine Dienste auch in Etzels Land angeboten (1292), und Kriemhilt hat ihre Verwandten zum Abschied geküßt, ohne daß es da um suone ginge (Die ir möge waren, kustes' an den munt, 1293,1); an der vorliegenden Stelle mag der Kuß im Traum den Einsatz des Namens Giselher motiviert haben. 231
Nibelungische Anthropologie
wurde (Da% geschähe...}, läßt sich dank dieser Verknüpfung realisieren. Gesagt wird das hier nicht, wohl aber später ausgeführt. Wieder bricht die Rede ab. Anstelle eines Kommentars zu Vergangenem oder eines Blicks in die Zukunft: erneut Tränen Kriemhilts; wie trüren sonst scheinen sie eine offene, noch unentschiedene Situation anzuzeigen. Und wieder ein neuer Anlauf: E% lag ir an dem herben spat' unde vruo, wie man si äne schulde brtehte dar %uo
da^ si muose minnen einen heidenischen man. die not die he t ir Hagene unde Günther getan.
(i 395)
Die „törichte Einflickung des geistlichen Motivs"66 scheint in der Tat durch nichts vorher und nachher gerechtfertigt; erst in der ,Klage', ansatzweise nur in *C, wird Etzels Heidentum zum Problem. Doch im Auf und Ab von Überlegungen und Stimmungen enthält die Strophe auch ohne diesen Hintergrund ein präzises Argument. Die suone, die den Sippenfrieden rechtsverbindlich wiederhergestellt hatte, entzog den Racheplänen den Rechtsgrund; mit välant wurde angezeigt, daß Kriemhilt, wenn sie sich über sie hinwegsetzt, in Gefahr steht, die christliche Ordnung zu verlassen; die Antwort darauf war neuerliches Weinen gewesen. Wenn ihr nun dauernd an dem herben liegt, daß andere sie grundlos dazu gedrängt haben, aus eben dieser christlichen Ordnung herauszutreten, dann ist nicht mehr sie (und durch sie der välant} schuld, sondern Günther und Hagen. Standen die beiden zuvor unter dem Aspekt der suone auf entgegengesetzten Positionen, dann jetzt wieder Seite an Seite, als verantwortlich für die not (1395,4), sich außerhalb der Christenheit zu vermählen. Das mag ein an den Haaren herbeigezogener Vorwurf sein, aber er kann aus der Aporie hinausführen: Ist Günther (wie Hagen) schuldig, dann ist die Einrede suone umgangen. Und noch einmal setzt die Rede neu ein: Des willen in ir herben kom si vil selten abe (1396,1). Wieso willen? Auf der Oberfläche war in den vorausgehenden Verse zwar von Gefühlen und Überlegungen die Rede, doch nicht vom willen. Schlagartig macht der Erzähler klar, was unausgesetzt hinter jenen scheinbar so sprunghaften Gefühlen und Überlegungen stand: ein mile, nämlich der Rachewunsch. Traum, Gefühlsäußerung, das teuflische Dilemma, der Vorwurf der Auslieferung an einen Heiden, das alles läßt sich unter wille zusammenfassen, denn es ist gesteuert von dem zu Beginn geäußerten Wunsch (1392,4), der jetzt wiederaufgenommen wird: da^ ich minen vienden gefüege noch ein leit (1396,3). Jetzt kann die Rache ausdrücklich mit dem Bewußtsein unbeschränkter Macht verknüpft werden (ich bin so ruhe unt hän so gro^e habe, 1396,2), mit dem die Szene eröffnet wurde.
So de Boor, S. 224.
Name und , Identität' des Heros
Zum Ausgangspunkt zurückgekehrt, ist aus dem unübersichtlichen Ineinander unterschiedlicher Antriebe ein klarer Zusammenhang geworden, den die folgende Strophe bündig formuliert: „Nach den getriuwen jamert dicke da^ ber^e min. die mir da leide taten, mähte ich bi den sin, so würde wol errochen mines vriundes lip, des ich käme erbeite", sprach da^ Et^elen wip. (1397)
Jetzt sind die Gefühle geordnet, und ohne länger zu warten, setzt Kriemhilt den Plan ins Werk, die getriuwen einzuladen, damit sie an ihre Feinde herankommt. Das Gespräch mit Etzel, in dem sie ihren Wunsch durchsetzt, spielt mit dem dauernden Auswechseln der Termini vriunt und vient. Kriemhilt denkt einmal vriunt (1399,3), einmal vient (1400,4), wo Etzel immer nur vriunt hört und sagt (1401,4; 1402,4; 1406,2; 1407,2;): vriunt soll offiziell gelten, auch wo vient gemeint ist. Den Kausalerklärungen einer common-sense-Psychologie spricht dieses Erzählen Hohn. Komplexität entsteht über Brüche hinweg, indem Erinnerung, Wunsch, Traum, Sehnsucht, Überlegung einander ablösen und substituieren und aus der Abfolge sich die Konturen des Racheplans abzuzeichnen beginnen. Der aporetischen Überlegung, daß die Rache die Anwesenheit Hagens in Etzels Land voraussetze, .antwortet' ein Traum vertrauter Nähe mit Giselher; ihm .antwortet' der Kommentar, daß der Satan die Hand im Spiel hat, wenn Kriemhilt sich über Kuß und suone hinwegsetzt; dieser Einrede vom Boden einer christlichen Rechtsordnung , antwortet' der Vorwurf, auch Günther habe sie wie Hagen an einen Heiden ausgeliefert. Diese .Antworten' folgen gerade nicht den Regeln narrativer Verknüpfung oder schlüssiger Argumentation, aber in ihrer a-logischen Folge entsteht das Bild einer Königin, die dabei ist, alles ihrem Rachewunsch aufzuopfern. Name und .Identität' des Heros67 Der Entwurf der Kriemhilt-Gestalt zeigt, daß man mit neuzeitlichen Vorstellungen von .Identität* nicht weiterkommt. Der Entwurf anderer Figuren kommt diesen Vorstellungen noch weniger entgegen. Die Versuche der Interpreten, sie zu charakterisieren, führten daher meist in die Irre. Das ,Nibelungenlied' enthält eine große Anzahl von Namen, und wir sind geneigt, die Träger dieser Namen als mit sich identische Figuren aufzufassen und ihnen mithin bestimmte Merkmale und Eigenschaften zuzuschreiben, deren Zusammensetzung sich zwar allmählich ändern darf (.Das höfische junge Mädchen wird zur grausamen Rächerin, denn...'), die aber nicht alle zugleich ausgetauscht Die Grundgedanken diese Abschnittes wurden in Müller (iggzb) weiter ausgeführt. 233
Nibelungische Anthropologie
werden dürfen. Dann nämlich wird die Erzählung ,unglaubwürdig'. Um die Unglaubwürdigkeit zu reduzieren, sucht man deshalb Indizien für Späteres in Früherem, sucht mindestens Symptome für Verdrängtes, das später virulent wird. Sieht man sich dagegen an, wie jemand als er selbst erkannt wird, dann gibt es dafür ganz andere Kriterien als dasjenige eines sich durchhaltenden , Charakters'. Definiert wird der einzelne durch seine Herkunft. Eine Figur wird nicht sukzessiv aus vielen Einzelzügen aufgebaut, sondern sie ist, was sie ist, von Anfang an, durch Geschlecht, Verwandte, Umgebung. Sivrit wird als höfisch gebildeter junger Ritter eingeführt, zuerst wird seine Herkunft erwähnt (in Niderlanderi), dann sein Stand (eins edelen kümges kinf), drittens wird er durch den Namen des Vaters (Sigemunf) und den der Mutter (Sigelinf) bestimmt, dann durch den Ort, an dem er aufwächst (%e Santeri) und erst an letzter Stelle durch seinen Eigennamen (Sivrit, vgl. 20,1-21,4). Damit ist aber nur die soziale Rolle des Königssohns Sivrit bezeichnet, nicht der Drachentöter. Die Identifizierung als Heros wird ,aggregativ' hinzugefügt und zwar bei Sivrits Erscheinen in Worms. Dort vermutet man seinen hohen Rang zunächst wegen des Glanzes seines Auftretens. In der höfischen Welt gibt es Zeichen, die es erlauben, den Ankömmling als jemanden, der , dazugehört' zu erkennen (herlich gewant, 72,4; Waffen). Doch namentlich kennt ihn niemand, bis Hagen kommt. Auch Hagen taxiert geverte und gewant der Ankömmlinge (84,3), doch sind sie ihm vremde (84,4). Aus dem Aufzug schließt er wieder, es handle sich umfiirsten oder fürsten boten (85,2). Dann aber fährt er fort: Zwar habe er Sivrit noch nie gesehen, doch wolle er versichern - gelouben (86,3) oszilliert zwischen ,überzeugt sein' und ,als wahr behaupten' - daß er es sei, der dort so herlichen gat (86,4). Und sogleich beginnt er, die Heldentaten dieses Sivrit zu erzählen. Der Heros also ist allein von seiner Erscheinung und seinen Taten her bekannt. Deshalb kann er bei seiner Ankunft im Nibelungenland, obwohl er noch nie zuvor dort war, wie ein Bekannter als der starke Sivrit begrüßt werden (90,3), als wäre er der einzige, der da heranreiten könnte. Der Heros hat eine besondere, nur ihm gehörende Geschichte, die ihn als das ausweist, was er von Anfang an ist, der starke Sivrit. Für das höfische Protokoll umgekehrt reichen jedoch die Identifizierung als Heros und die Geschichte seiner Heldentaten allein nicht aus. Als Günther aus Hagens Erzählung und Sivrits kriegerischer Haltung folgert, wir sulen im engegene hin nider %uo dem recken gän (102,4), stimmt Hagen zu, doch jetzt, weil ihm Sivrits königliche Geburt bekannt ist: mugt ir", sprach da Hagene, „wol mit eren tuon. er ist von edelem künne, eines ruhen küneges sun [...]."
(103, if.)
,Identität' wird also auf dreifache Weise bestimmt: Erstens, in seiner angeborenen Umgebung ist der einzelne durch Stand, Umgebung, Geschlecht und erst zuletzt 234
Name und , Identität' des Heros
durch den Eigennamen definiert. In ihm verkörpert sich ein Geschlecht und die Herrschaft über einen bestimmten Raum. Was er tut oder ist, leitet sich daraus ab. Zweitens, ,Kennen' bei Hof ist auf die entzifferbaren Zeichen von Kleidung, Waffen und Gewand, dazu Gebärde und Auftreten angewiesen. Sivrit trägt die Zeichen seines sozialen Stratums. Sie sind ständisch (Fürst oder Bote eines Fürsten) nicht völlig eindeutig und erlauben noch nicht, den Fremden mit seinem Namen zu identifizieren. ,Bekanntsein', drittens, des Heros setzt weder Kennenlernen noch Entzifferung von Zeichen voraus. Hagens Wissen resultiert aus der Erscheinung Sivrits (der dort so herlichen gut, 86,4), die seine Taten anzeigt. Sivrits Auftritt ist so, daß alle anderen Möglichkeiten ausscheiden, und zwar paradoxerweise gerade deshalb, weil nichts Individuelles an ihm erkannt wird. Er erscheint als der herausragende Held, der als einzelner natürlich einen Eigennamen trägt, doch vor allem in eminentem Maß und anschaulich verkörpert, was einen Heros auszeichnet.68 Diese Formen der Identifizierung sind verschiedenen Räumen zugeordnet: dem eigenen Sozialverband, der höfischen Gesellschaft und dem Raum der Sage. Der junge Ritter muß zu dem, was er qua Geburt ist, erst noch erzogen werden; bei einem Fremden erkennt man erst nach und nach an den Zeichen seines Auftretens seine Zugehörigkeit zur Hofgesellschaft; der Heros ist von Anfang an durch das, was er tut, erkennbar. In jedem Fall ist Sivrit der Repräsentant eines Allgemeinen: eines Geschlechts, einer Lebensform, einer Kraft. Die drei Möglichkeiten der Identifizierung gelten nicht überall gleich. Im Nibelungenland und in Isenstein funktioniert nur die dritte. In Isenstein kann man, als Günther mit seinen Gefährten landet, die Ankömmlinge ihrer Herkunft nach nicht kennen, doch verkennt man auch die höfischen Zeichen. Der Auftritt ist sorgfältig inszeniert. Die vier Bürgenden tragen kostbares Gewand, zwei in weiß reht' in einer ma%e [...] von sneblanker varwe (399,if.), zwei von rabenswar^er varwe [...] richiu kleit (402,3). Sie treten damit als Mitglieder einer Hofgesellschaft von virtuell (nahezu) Gleichen auf. Günther, der Werber, und Sivrit, der Werbungshelfer, sind herausgehoben. Solche exklusive höfische Gleichheit spielt aber in Isenstein keine Rolle, weil es nur einen Herausforderer geben darf. So wird die Komödie des Zügelund Bügeldienstes inszeniert, damit die Zuschauerinnen erkennen, wer als Werber, wer als Helfer kommt. Doch die Inszenierung verfehlt ihr Ziel. Man zieht nicht den gewünschten Schluß auf die Verteilung von Rang und Rollen bei der Werbungs-
68
Die Komponenten sind dieselben, doch anders ihre Hierarchisierung im höfischen Roman. Größere Aufmerksamkeit findet das Problem im .Wigamur'. Dort wird der Held zunächst namen- und familienlos aufgebaut und muß sich als Ritter mit dem ar bekannt machen (das auch der nam mein/under ändern rittern werd geaalt, 3444^). Bei Hof wird er damit anerkannt, als kempffer muß er aber sein Geschlecht nachweisen, was er nicht kann (derfragt, o'er ich seye;/das ist mir layder unkundt, 4o6of); deshalb erzählt er seine Geschichte (4i4iff.), so daß ihn andere erkennen, und von da an hat er einen Namen. Hier ist die Reihenfolge Tat - Erwerb von Hoffähigkeit - Geschlecht - Name. Die höfischgesellschaftliche Komponente ist gegenüber Herkunft und Name aufgewertet. 235
Nibelungische Anthropologie
fahrt. Die Zeichen sagen den Frauen nichts. Erzählt wird ein Vorgang des Verkennens.69 Nur Sivrit, der Heros, ,ist bekannt': Do sprach ein ir gesinde: „vrouwe, ich mac wol jehen da^ ich ir deheinen nie mer habe gesehen, wan gelicbe Sifride einer darunder stat. den stilt ir wol enpfähen, da% ist mit triuwen min rat."
(411)
Um physiognomische Ähnlichkeit geht es nicht bei diesem geliche Sifride.10 Die konventionell sicher funktionierenden Zeichen der Neben-, Unter- und Überordnung (Kleider, Zügel- und Bügeldienst) werden konterkariert vom voraussetzungslosen Erkennen des Heros: Die Vorstellung von dem, was und wer ,der Held' ist, reicht aus, daß man Sivrit sicher erkennt, auch wenn er gekleidet ist wie Günther und diesem das Pferd geführt hat. Weil der Held unvergleichlich ist, muß einer, der geliche Sifride ist, Sivrit selbst sein. Wer der Sivrit ist, von dem ein ir gesinde spricht, ist offenbar so evident, daß Prünhilt so wenig wie vorher die Leute im Nibelungenland nachfragen muß, wen der Sprecher denn meine, also wer unter den vieren der eine denn ist.7' Die übrigen drei werden auf konventionellere Weise taxiert.72 Einen Namen gibt es für keinen von den dreien. Den hat nur Sivrit. Prünhilt begrüßt ihn selbstverständlich als Werber (und wird korrigiert). Hier dominiert also der dritte Typus. Umgekehrt erkennt Sivrit die heroische Königin und kann Günther, der die Frauen höfisch - nach Kleidung, Schönheit (392,if.) und edlem Verhalten (gebärde) 69
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Anders Ehrismann (1987), S. izjf., der das Mißverständnis auf unterschiedliche Wahrnehmungen zurückfuhrt: „Sind die Worte sorgfältig gewählt, dann sehen die hinter den Schießscharten [!?] sich drängenden Damen Siegfrieds Dienstleistungen (396, 398), die Königin aber nur den Zug zum Saal [...]. Wenn sie nun gleich auf Siegfried zugeht und ihn als ersten begrüßt, so deshalb, weil der Vasall nur ihn mit Namen genannt und weil sie seine Dienstleistungen nicht gesehen hat". Ich kann diese Unterscheidung nicht dem Text entnehmen. Die Formulierung ist nicht völlig eindeutig; der awf-Satz (,nur einer, der Sivrit gleicht, ist darunter') schließt nur locker an die vorangehende Aussage an. Er drückt m.E. keine spezielle Ausnahme von ihr aus (also in dem Sinne: ,Ich habe keinen gesehen bisher, außer den einen, der wie Sivrit aussieht'), sondern setzt neu an und relativiert damit das Kriterium .Kennen auf Grund von Gesehen haben': ,Ich kenne keinen von ihnen, nur einer sieht so aus, wie Sivrit aussieht'. Auch in der .Thidrekssaga' (Kap. 148) weiß Brunhild sofort, daß es nur Sigfrid sein kann, der ihre Wächter erschlagen hat, denn das kann nur der beste Heros; hier kennt sie sogar seiner Identität, die ihm selbst noch unbekannt ist. Bei Günther vermuten die Zuschauer, er sei ein künic rieb (412,2); Hagen wird als furchteinflößender Krieger, Dancwart als höfischer junger Ritter beschrieben. Abweichend von dieser Auffassung der Reihenfolge (Sivrit - Günther - Hagen - Dancwart) unterstellt Peeters (1982) die Folge Sivrit Dancwart - Hagen - Günther. Der Vorteil dabei ist, daß dann dem König und nicht der Nebenfigur Dancwart zwei Strophen (414f.) gewidmet würden, der Nachteil aber, daß die Antiklimax zerstört würde (vom herausragenden Sivrit zum König, dann dem Heros-Helfer, dann einem weiteren Vasallen); der Text folgt dabei dem Gesetz der .wachsenden Glieder' (der Letztgenannte erhält zwei Strophen). Überdies passen die Verse ob er gemalt des bete, wol war' er künic rieh/ob witen fürsten landen (4i2,2f.) am besten auf Günther; man bescheinigt dem Unbekannten: er sieht königlich aus. 236
übermuot
(393, 4) - taxiert, bestätigen: e% ist diu edel Prünhilt (393,2), die er auswählte. So wie nur einer Sivrit sein kann unter den Ankömmlingen, so auch nur eine Prünhilt in der Schar der Frauen, und sie wird von dem erkannt, der sich in ihrer Welt zu bewegen weiß. Die ,unwahrscheinliche' Sicherheit, mit der das heroische Personal identifiziert wird, ist mit den Räumen verknüpft, denen der Drachentöter und die Heldenjungfrau angehören. Dieses Wissen wird von anderen Weisen des Erkennens abgesetzt, wie sie gewöhnlich gelten: Herkunft, Geschlecht, höfische Zeichen des Rangs, wie sie den Figuren des zweiten Gliedes angemessen sind. So überlagern sich unterschiedliche Weisen, jemanden zu identifizieren: an die Entzifferung konventioneller Zeichen und die Einbettung in dynastische Zusammenhänge ist die eine gebunden, als eine Art von Epiphanie die andere gefaßt, alle Zeichen und Gesten überstrahlend und entwertend, sogar dort wahrgenommen, wo man den Träger des Namens noch nie gesehen hat. übermuot
Was aber zeigt sich in der Epiphanie des Heros? Ihr Kern scheint in überlegener Stärke zu liegen. Diese zeichnet aber nicht nur einen Heros wie Sivrit aus, sondern in Abstufung alle Akteure des Epos. Es sind transpersonale Eigenschaften, die im Heros zutagetreten. Die Figuren des ,Nibelungenliedes' sind als Bündel von Kräften zu beschreiben, die in ihnen und durch sie hindurch wirksam werden. Sie sind dezentriert in dem Sinne, daß es keinen Gravitationspunkt der ,Person' gibt, auf den alles zustrebt, sondern nur kollektive Kräfte, an denen sie teilhaben. Der Überschuß an Kräften heißt übermuot. Seit langem weiß man, daß übermuot als Bezeichnung für einen Charakterzug mißverstanden wäre, denn er meint eine Kraft, die oberhalb charakterlicher Besonderungen wirkt. Der volkssprachliche Begriff wurde gelegentlich als eine Übersetzung des lateinischen superbia angesehen. Das hat zur Folge, daß er theologisch überfrachtet und mit der Ursünde Lucifers identifiziert wurde. 73 Jedoch selbst in der frühmittelalterlichen lateinischen Chronistik läßt sich beobachten, daß die mit dem Begriff superbia scharf gezogene Grenze zwischen positiven und negativen Verhaltensweisen unsicher ist. An superbia/ übermuot tritt die Differenz zwischen kirchlichen und feudalen Bewertungssystemen zutage. Wenn z.B. Hermann Billung in einem „Ritual des Protestes" gegen Kaiser Otto I. „das königliche Empfangsritual bis ins letzte Detail usurpiert", dann heißt dies dem geistlichen Chronisten superbia, ist also eindeutig negativ bewertet. Doch 7i
Hempel (1970) z.B. spricht von „Schuld" der Akteure (S. 221?.), deutet übermuot christlich als ein vom Teufel (valant\) eingegebenes Laster (S. 220-222). Die Heroen seien Repräsentanten „der archaischen germanischen Virtus"; sie erschienen „dem Dichter der christlich-hochhöfischen Zeit zwar als beeindruckende Titanen und Helden, stehen jedoch, den Anschauungen der Zeit ausgesetzt, unvermeidlich im Lichte der superbia" (S. zz$£.). 2
37
Nibelungische Anthropologie
gibt er damit nur die Perspektive des Klerikers im Dienst der Sachsenkönige wieder, nicht die des Adels, der Hermann Billung und sein Verhalten unterstützte: superbia ist ein Kampfbegriff. Für die Beteiligten drückt Hermanns Auftreten anschaulich seinen Herrschaftsanspruch über Sachsen aus und stellt die Legitimität dieses Anspruchs dar.74 Ob das Anmaßung ist, hängt vom Standpunkt ab. Erst auf Grund klerikaler Bewertung wird der Akt zur superbia. Zwar ist allein sie schriftlich - durch Thietmar von Merseburg - dokumentiert, doch die konkurrierende positive Bewertung aus der Sicht der Adligen, die Hermann Gefolgschaft leisteten, ist sogar aus seiner Erzählung zu erschließen. Der theologisch abqualifizierende Begriff superbia ist antifeudal und parteilich im Sinne der von Geistlichen gestützten monarchischen Macht. Mit dem Übergang in die Volkssprache verblaßt der theologische Hintergrund, der durch die Diskussion um die Sieben Todsünden geprägt ist; übermuot wird damit für andere Besetzungen offen, als ein „sittlich indifferentes überschwengliches Gefühl von Lebenskraft und Lebensfreude", wie sich dies in der lateinischen Chronistik schon andeutete.7' Uneingeschränkt positiv oder auch nur durchweg neutral ist übermuot allerdings auch jetzt nicht. Zwar deckt sich die Bedeutung nur in bestimmten religiösen Kontexten mit dem theologischen superbia-Begriff,76 doch bleibt es auch sonst häufig bei der religiös beeinflußten, negativ-parteilichen Färbung.77 Im ,Nibelungenlied' heißt übermuot die Haltung, die hinter Aggression steht. In diesem Sinne ist vom übermuot der sächsischen Angreifer die Rede (151,2), wird Sivrits Herausforderung des Wormser Hofes übermüeten genannt (117,4) oder verbietet Gernot den burgondischen Kriegern feindselige Reden (mit übermüete, 123,3; vgl. 175,4; 240,1). Dabei ist die Frage von Recht oder Unrecht meist ausgeblendet. Könnte man noch annehmen, der übermuotder Sachsen bedeute, daß ihr Angriff als illegitim gekennzeichnet werden solle, so nennt auf der anderen Seite der Angreifer Liudegast auch die burgondische Gegenwehr starke^ übermüeten (167,4). Zuletzt, wenn wieder Friede eingekehrt ist, wird die ganze Fehde übermüeten genannt (254,4). Wie bei Hermann Billung werden Wagemut und Angriffslust vor allem aus der Sicht der Gegenseite zu übermuot.1* Die Kennzeichnung ist also perspektivegebunden.79 74 71 76
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79
Leyser (1992), S. n. Stutz (1990), S. 417 (nach dem Vorgang von Heusler, Neumann u.a.); vgl. Grenzler (1992), S. 148. So in HvM ,Von des todes gehügede' 343-45: syvene geverten hat diu übermuot,/die set^ent die riter an die gluot/der einigen viures vanchen; vgl. das Material bei Hempel (1970), S. 122-130. Vgl. etwa das ,Rolandslied', wo die Heiden durch übermuot und verwandte Bezeichnungen gekennzeichnet sind (über müt z.B. Rl 3361; 3478; 3510; 4604; 4611; 4743; hochuart 3468; 3506; 4704; 7363 u.ö.); theologisch belastet ist dort auch die Anmaßung der Verrätersippe (Rl 8844); den Kern des Lasters drückt der Vers aus: si uersahen sich %u ir chrefte (Rl 3479). Gelpfrat C 1647,3 (über Hagen); vgl. andere Heldenepen: in Bit 5047, 6447, 6505 heißt übermuot die Herausforderung der Hiunen, 6421 auch Dietrichs Kampfwillen (in den Worten Sifrits!) und 6651 die Bereitschaft der Wormser, die Herausforderung anzunehmen. Auch an Rolant und seine Anhängern wird ihr Blutdurst als hochvart und übermuot getadelt (Rl 1842, 1879, 2440), jedoch tun dies die Feinde. Dies übersehen die moralisierenden Deutungen der Sivritgestalt (dagegen Bumke, 1996^ S. 384— 386). 238
übermuot
So ist übermuot zwar keineswegs durchweg negativ besetzt,80 seine Bewertung aber strittig. Dabei ist der Terminus meist nicht Selbstbeschreibung, sondern Zuschreibung von außen. Gemeint ist ein für den potentiellen Gegner bedrohliches Selbstgefühl. Da die Fremdzuschreibungen wechselseitig erfolgen, heben sich diese negativen Akzente wechselseitig auf, und aus eben diesem Grunde trifft Stutz' Bemerkung von der sittlichen Indifferenz zu,81 denn übermuot ist nicht auf eine übergreifende moralische Ordnung bezogen (wie superbia im Septenar der Todsünden), die verbindliche Bewertungsmaßstäbe garantierte. Dies entspricht übrigens genau der Abwesenheit einer abstrakten staatlichen Ordnung, die die vielfältigen und konkreten Rechtsverhältnisse des Personenverbandes übergreifen würde. Das als übermuot qualifizierte Selbstgefühl macht die Qualität des Heros aus, der seine Stärke kennt und sich um die der anderen nicht kümmern zu müssen glaubt. So kann das Epitheton übermüete geradezu der neutralen Charakteristik eines Kriegers dienen, ohne daß die Situation besonderen Anlaß böte: der übermüete Hagen, der auf die Wasser frauen trifft (1549,1), die übermüeten degene, wie die Hiunen noch genannt werden, wenn sie sich feige zurückhalten (1792,4). Gemeint ist oft nicht mehr als Kampfwille und Kampfkraft. 82 Bei Sivrit, sagt Kriemhilt, müsse sie nicht befürchten, da% im iemen name in stürme sinen lip, /ob er niht wolde volgen siner übermuot (896,2f.). Übermuot überspielt die Grenze zwischen klugem und törichtem, legitimem und illegitimem, sittlich vertretbarem und rücksichtslos egoistischem Verhalten. Bewertungen sind nicht sicher. Man kann dies am Rat verdeutlichen, den Sivrit seinen Gefährten bei der Ankunft in Isenstein gibt, ihn als man Günthers auszugeben: durh ir übermüete ir deheiner e^ niht si jähen swes er wolde, da von in wol gescacb [...].
(387,21".)
Richtig ist Sivrits Rat, weil er Bedingung des Erfolgs in Isenstein ist (da von in wol gescach}; daß die Gefährten ihm folgen, kann übermüete sein im Sinne sorgloser Selbstgewißheit, die sich um die Folgen nicht schert - diese Bedeutung scheint hier vorzuherrschen -, doch auch im Sinne einer verhängnisvollen Selbstüberschätzung und Rücksichtslosigkeit gegenüber dem, was man in den Augen der anderen ist; und nur so kann sich übermüete paradoxerweise statt auf Selbstüberhebung auf eine Geste der Unterordnung beziehen.83
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Hempcl (1970), S. 218 glaubt dagegen das „Verhältnis 1:4 negativ" festlegen zu können; er zieht allerdings die Parteilichkeit der Wertung nicht in Betracht. Stutz (1990), S. 417. So auch Bit 7193 (dort rät Sifrit nur, wie andere auch, zum Kampf); Bit 9837 (Sifrits Kampfbereitschaft). Der latente ständische Konflikt scheint mir dagegen um seine Pointe gebracht, wenn man Sivrits Lüge in Isenstein (denn es ist eine!) zum „Zeichen souveräner Anspruchslosigkeit" verharmlost (Stutz, 1990, S. 419). 2
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Nibelungische Anthropologie
Insofern ist übermuot ambivalent. Selbstgewißheit kann in Aggressionsbereitschaft umschlagen, etwa beim übermüete[n] verge[n] , der Hagen durch seine Worte herausfordert (1553,4) und so sein Leben verliert, oder bei Hagen selbst, dem übermüeten gast (1561,1). Übermuot kann leichtsinnige Verblendung sein, die Vorsicht mit Angst verwechselt:84 Warum hat niemand Etzel auf die latente Feindschaft zwischen Kriemhilt und ihren Verwandten aufmerksam gemacht? er het' wol understanden da^ doch sit da geschach. durch ir vil starken übermuot ir deheiner ims verjach.
(1865, 3 f.)
So gerät übermuot in die Nähe rücksichtsloser Anmaßung, die keine Schranken des Rechts und der Sitte kennt: Prünhilts übermuot (340,3; 446,4) bedroht alle Ankömmlinge mit dem Tode; er muß gewaltsam niedergeworfen werden.8' Nach Sivrits Tod meint übermuot die Präpotenz der Siegerin, der das leit der Rivalin gleichgültig ist: Prünhilt diu schäme mit übermüete swa^ geweinte Kriemhilt, unmare was ir sine wart ir guoter triuwe nimmer me bereit. sit get et ouch ir vrou Kriemhilt diu vil her^enlichen leit.
(i 100)
Schließlich gerät übermuot in die Nähe von Verbrechen: Der Mord an Sivrit und der Umgang mit seinem Leichnam ist eine Geschichte von großer übermüete [...] und von eislicher räche (1003,1 f.). In der Auseinandersetzung mit der Vulgatfassung sind diese negativen Züge verstärkt worden. Die , Klage' (B) führt Sivrits Untergang auf seinen übermuot zurück (Kl 39), in der *C-Fassung auf den übermuot seiner Mörder; übermuot ist das eine Mal unfaßbarer Leichtsinn, das andere Mal verbrecherische Verwegenheit. Da die Konnotation des Luciferischen auch volkssprachlich präsent ist, ist der Umschlag ins Pejorative jederzeit möglich.86 So gerät übermuot in semantische Nähe zu hochvart, das eindeutiger negativ besetzt 87 ist und, zumal in der höfischen Epik, sich stärker der superbia annähert.88 Präsent 84
Eindeutig wird diese Bewertung in der ,Klage': die von Burgonden lant / lie^en^ durch ir übermuot (Kl 288f.), aber auch in dem oben zitierten Urteil Kriemhilts über Sivrit (896,2). ! ' In *C verstärkt: C 435,4; 466,2; auch Prünhilts Leuten wird das Prädikat erteilt (444,4). 86 Vgl. die Zusammenstellung bei Göhler (1989), S. 127-135: Zwar fehle die religiöse Komponente, doch seien die mit übermuot o.a. charakterisierten Vorgänge durchweg „konfliktschaffend oder konfliktverschärfend" (S. 134). Die negativen Konnotationen überwiegen auch bei Ehrismann (1987), S. ii4f. 87 Vgl. im .Biterolf: Dort halt da^ Sigelinde kint,/dem alle sine sache sint/u>an üf hochvart gewant (Bit 983335); in einem bochvertigen sit (Bit 11696); oder durch Hildebrant inhaltlich paraphrasiert: Stfride [...]/ dunkel da^ er alliu lant/mit siner kraft ertwinge wol (Bit 7615-17). 88 Vgl. Trt 460 und 926 homüt (über die rechtlose Anmaßung Morolts). - Parzival glaubt, sich durch Ritterschaft so auszuzeichnen, daß Gott ihn zum Gral benennen müsse, wenn er von Ritterschaft etwas verstehe; Trevrizent nennt das hochvart (Pa 472, 13 u. 17). Ebenso hochvart heißt das Vergehen des Anfortas (Pa 472,26), denjugent, richeit und minne verführten (Pa 472,27-29). Der Gral verlangt christliche diemuot (Pa 473,4). 240
übermuot
ist diese Nuance auch im ,Nibelungenlied'. Sivrits Vater Sigemunt warnt vor Hagen: der kan mit übermüete der hohverte pflegen (54,2), d.h. sein heroisches Selbstwertgefühl gerät zur Anmaßung.89 In ähnlichem Sinn bemerkt Sivrit über die besiegte Prünhilt, da^ iuwer hohverte sint also hie gelegen (474,2). Doch ist auch hier die negative Bewertung nicht ganz eindeutig. Hochvert[ig]e site scheint eher ein persönliches Merkmal der Heroen zu sein und so wie übermüete alle ihre Aktionen zu charakterisieren. Wenn sich die burgondischen Könige ins Kampfgetümmel stürzen, heißt das: si taten da^ si wolden in vil hobvertigen siten (1891,4).9° Eindeutig wird die negative Konnotation von übermuot und hochvart erst in der Rezeption des ,Nibelungenliedes', wie sie in der Kriemhiltgestalt des ,Rosengarten' bezeugt ist: Sinnlos und blutgierig hetzt die Wormser Königstochter Krieger in den Kampf. Die Herausforderung zum Turnier ist Anmaßung und wird übermuot genannt. Dietrich verkündet empört: da^ ich ir hochvart niht übersehen ml, denn die Einladung der unsinnigen meit zu Ritterspielen ist affenheit.^ Damit wird vereindeutigt, was das Epos offenläßt. Mit eher positivem Akzent gehört aber auch der stärker höfisch geprägte hohe muot in den semantischen Umkreis von übermuot. Wieder zeigt sich freilich, daß ein neues Vokabular nicht notwendig die Übernahme der darin gefaßten Inhalte einschließt. Auch in der höfischen Kultur ist die Quelle des hohen muot ein Bewußtsein der Überlegenheit einer Elite, doch sind Anlaß und Erscheinungsform von gewaltsamer Auseinandersetzung auf friedlichen Umgang übergegangen, und das überschwängliche Bewußtsein der eigenen Kraft ist durch das Hochgefühl gemeinschaftlicher Freude beim höfischen Fest verschoben.91 Im hohen muot der höfischen Kultur ist das Übermäßige und Hybride gebändigt und die Selbstbezogenheit von übermuot sozialisiert. Am hohen muot ist die epochale Verschiebung im Selbstbild des Adels ablesbar. Im ,Nibelungenlied' sind die Grenzen dagegen noch fließend. Zwar sind die Anlässe oft denen in höfischer Dichtung gleich; hohen muot löst das Hochgefühl im Frauendienst aus,93 das Fest oder der Empfang von Boten,94 der Genuß von Luxus,9' Wohlbefinden, die Harmonie geordneter Herrschaftsverhältnisse;96 das Wort 89 90
91
91
93 94 95
96
Vgl. 53,4: doch hat der kiinec Günther vil manegen hohferten man. Hochvart ist so sehr mit Prünhilt assoziiert, daß in Hs. A auch dort von ihren hochuerten siten die Rede ist (A 670), wo die Hss. B und C situationsgerechter die List hervorheben, mit der sie Günther veranlaßt, die Verwandten nach Worms einzuladen. Ro A 11,2 (ähnlich Ro A 176,2); Ro A 81,2 (vgl. 88,2); Ro A 111,31". In Ro D werden allerdings hochvart und übermuot gelegentlich auch auf positive Figuren übertragen (vgl. Heinzle, 1978, S. 254). Zum Begriff Ehrismann (1995). S. 245-248.
174,3; 2 9 2 >'; 292>4; 3 2 5,4; 35°,*·
283,4; 284,2; 543,i; 578,3; 602,2; 602,4; 787,4; 789,4; 809,3 usw. 1171,4; 1347,4 (als Kriemhilt Etzels prächtiges Gefolge sieht): des wart da vroun Kriemhilde vil ivol gehabet der muot. Brackert definiert im Kommentar zu 1171,4: das Zusammenfallen „von äußerer Präsentation, gesellschaftlicher Repräsentation und personaler Existenz" (vgl. Grenzler, 1992, S. 201). So etwa, wenn Sivrits und Günthers Herrschaften gefestigt scheinen (z.B. 721,4; 748,4; 750,2). 241
Nibelungische Anthropologie
bezeichnet überhaupt die Haltung derer, die zur höfischen Gesellschaft zählen: si sint vil hohe gemuot (390,4). Hoher muot kann im positiven Sinne von „Kampftüchtigkeit, Heldenmut, Virtus'''' verwendet werden.97 Mit der freudigen Erwartung vor dem Kampf (181,4) oder bei der siegreichen Rückkehr aus dem Krieg (243,4), mit dem Unternehmungsgeist bei einem Abenteuer (381,4), dem Hochgefühl bei der Jagd98 beginnt sich der Begriff in Richtung auf den (positiv konnotierten) übermuot zu verschieben. Aber nicht nur die selbstsichere Zufriedenheit beim Anblick eines zahlenmäßig weit überlegenen Heeres wird so genannt - Sivrit in hohem muoie sach vil vralichen da^ (i 81,4) -, sondern wieder auch Anmaßung und Selbstüberschätzung bis in die Nähe von hochvart. Der Fährmann an der Donau ist so reich und vornehm (so riebe), daß er den Burgonden seine Dienste verweigert; die zusätzliche Begründung lautet: auch waren sine knehte vil hohe gemuot (1551,3). Das meint gewiß auch deren vornehmen Status, weist jedoch zugleich auf den künftigen Zusammenstoß hin, bei dem jeder es seinem Selbstgefühlt schuldet, nicht nachzugeben. Ein weiteres Beispiel: Hatte der Erzähler die Bereitschaft der Gefährten, Prünhilt über Sivrits Stand zu täuschen, als übermüete gekennzeichnet, so fragt er, wenn Sivrit aus Prünhilts Schlafkammer Ring und Gürtel mitnimmt: im wei^ ob er da^ täte durh sinen hohen muot (680,2). Sivrit handelt aus einem Gefühl des Triumphs heraus, so weit, so gut, nur kommt ihn das teuer zu stehen. Sind übermuot und hoher muot hier noch unterscheidbar? Schließlich, wenn Sivrit sich anspornen will, um im Bettkampf Prünhilt zu besiegen und damit ein für alle Mal zu verhindern, daß die Frauen tragen gelpfen muot (673,3), dann kann diese Formulierung in der *C-Gruppe durch hohe tragen den muot (C 678,3) ersetzt werden. Das mildert den gelpfen muot, verweist aber auch noch auf die latent negativen Konnotationen des neuen höfischen Modebegriffs im nibelungischen Kontext. Eine eindeutige Trennung zwischen (eher negativem) übermuot und (positivem) hoher muot^ läßt sich nicht aufrechterhalten. Übermuot und hoher muot scheinen, anders als hochvart, häufiger neutral gebraucht,100 was gelegentliche Abwertung nicht ausschließt. Sie bezeichnen eine Skala von Erscheinungsformen eines - im Kern wohl adeligen - Selbstgefühls zwischen dem Insistieren auf der eigenen Stärke, die sich dauernd gewaltsam beweisen will, und einer als höfische vreude in Erscheinung tretenden, nicht-aggressiven Selbstgewißheit. Beide äußern sich im Übermaß an muot, das nicht eine individuell zuzurechnende Eigenschaft ist, sondern eine Kraft, die sich durch die Heroen hindurch verwirklicht. Diese Kraft macht den Heros aus, aber sie erscheint schon häufig als ambivalent. Ihr Komplement ist die körperliche Erscheinung des Heros. 97 98 99 100
Hempel (1970), S. 2i8f. 95 5,4: der herliche jägere der u>as hohe gemuot. So Hempel (1970), S. 219. Positiv ist auch die Kennzeichnung von hochmut, ubermut oder hochvart Rolants oder Karls (Rl 3689; 4038; 1842; 7627). 242
Personalität als Oberfläche
Personalität als Oberfläche Die Vorstellung von dieser Erscheinung ist seltsam zweidimensional. Jeder ,ist', was seine Oberfläche zeigt. Wo die Tarn/'»/ die Oberfläche verbirgt, verschwindet die Person. Mit hut scheint (anders als beim üblicheren vel - ,Haut"°' -) eine Schicht gemeint, die sich über den Körper legt, ähnlich einem Kleid. Vom Panzer aus Drachenblut, dem Sivrit seine Unverwundbarkeit verdankt, heißt es: sin büt wart hurntn (100,3); bei der Jagd ist sein Gewand von einer ludemes hiute (954,1).10Z Auch die tarnhüt, alternierend103 mit tarnkappe (,Tarnmantel'), ist solch eine Schicht. Was unter dem Schutz der Tarnhaut geschieht, ist ebenso verborgen wie das, was im her^e vor sich geht. Beide decken eine dunkle Realität, und es erweist sich als gleich verhängnisvoll, ob Körperliches oder Unkörperliches wie Gedanken und Emotionen dem Blick entzogen werden. Sivrit bleiben unter der Tarnhaut die Sprache und die riesigen Körperkräfte, ja er kann sogar - unsichtbar, aber fühlbar? bluten (458,1). Wer ihm nahekommt wie Günther, kann ihn hören und tasten (453). Der Körper ist anwesend und abwesend zugleich. Anwesend für Sivrit selbst und für die, die ihn berühren, abwesend für alle anderen, denn für sie ist Sivrit nur sichtbare Oberfläche. Auch im zweiten Kampf mit Prünhilt sind heroische Stärke und körperliche Erscheinung seltsam dissoziiert.104 Der Ringkampf mit Prünhilt ist fühl- und hörbar, Sivrit und Prünhilt werfen sich gegenseitig schmerzhaft gegen das Mobiliar, Prünhilts Gewand wird zerrissen (671,4), es fließt Blut (675,zf), Sivrit setzt Prünhilt so zu, da^ ir diu lit erkrachten unt ouch al der lip (677,3), aber die Kraft des Heros hat keinen identifizierbaren Körper, weil seine Oberfläche verborgen ist. Die brutale Vergewaltigungsszene10' ist so völlig entpersonalisiert, daß der Erzähler, als Sivrit Prünhilt endgültig niederzwingt, das mit den Worten kommentiert: do wart si Guntheres mp (677,4). Die Namen der Männer sind austauschbar, weil der eine ,gar nicht da* ist. Erst durch das anschaubare Äußere bekommt Sivrits Stärke ihren Namen. In diesen Szenen zerfällt die Figur Sivrit in drei Komponenten: seine Oberfläche (die verschwindet), seine übrigen Körperzeichen (die nur von einigen wahrgenommen werden können) und seine Stärke (die unabhängig von Sichtbarkeit und Wahrnehmbarkeit sich behauptet). Alle drei Komponenten sind körperhaft gedacht. Was für neuzeitliches Verständnis den Kern der Person ausmachen müßte, sein Selbstbewußtsein, ist nur Nebeneffekt des Bewußtseins überlegener Stärke. 101
In der Bedeutung .nackte Haut' findet sich but auch in Trt 1673; 7172; vgl. Wh 447,28: manic verhouwen hat (Hinweis von Christian Kiening); vgl. zu den ,Häuten' Sivrits: Seitter (1987), S. 83f. 102 Im ,Straßburger Alexander' hat der Held einen hürnenen Panzer (AI 1300-1305). IOJ So auf engstem Raum in 337 und 338; D hat helkappe, auch torenkappe. 104 Zur Verwirrung der Sinne Frakes (1994), S. i n f . '"' Zu diesem Aspekt Frakes (1994), S. 113-121.
Nibelungische Anthropologie
Die Figuren des ,Nibelungenliedes' haben keine ,Tiefe', etwas, das ,hinter' ihrer Erscheinung steht, selbst ihre Körperlichkeit ist flach, auf die sichtbare Oberfläche reduziert. Das, was unter allen Oberflächen dasselbe bleibt, ist ein Allgemeines, die exorbitante Stärke des Heros: Im Jagdgewand, unter der tarnhüt, selbst unter dem Panzer aus Drachenblut bleibt Sivrit der starke Sivrit, der allen überlegene Held. Seine Häute aber machen ihn unverwundbar, unsichtbar oder aber zum glanzvoll auftretenden höfischen Ritter. Durch sie scheint er jedesmal ein anderer. Um Klarheit über Sivrit zu gewinnen, und das heißt in dieser Vorstellungswelt: um ihn zu bewältigen, müssen seine Gegner durch alle seine ,Häute' dringen.106 Das gelingt schließlich, indem Hagen, angeblich um ihn im drohenden Krieg zu schützen, herausfindet, wo die Haut unter den Kleidern und der tarnhüt durchlässig ist. An dieser Episode zeigt sich abermals, wie das, was jemand ist, von der Oberfläche abhängt. Generationen von Lesern haben sich gefragt, wie Hagen das Geheimnis von Sivrits Verwundbarkeit im entscheidenden Moment eigentlich nutzen kann. Die Wahrscheinlichkeit wird überhaupt stark strapaziert, denn mit welchen Mitteln will Hagen die bezeichnete Stelle eigentlich schützen und wozu braucht er dazu die genaue Markierung? Kriemhilt hat die verwundbare Stelle auf Sivrits Gewand bezeichnet. Wenn man zum Schein in den Krieg aufbricht, reitet Hagen so nahe an Sivrit heran, da^ er geschouwete diu kleit (907,4). Als er genug gesehen hat (Als er gesach da^ bilde, 908,1), läßt er tougen Boten kommen, die den Krieg absagen. Eine Jagd wird angesetzt. Daß Sivrit auf ihr nicht in Kriegsrüstung reitet, das Zeichen also auf seiner Kleidung gar nicht zu sehen ist, gehört zu den Erleuchtungen der Nibelungenphilologie.107 Doch es kommt ja noch ärger, denn beim verhängnisvollen Wettlauf mit Günther ist er wie dieser nur mit einem weißen Hemd bekleidet. Trotzdem heißt es von Hagen: er sach nach einem bilde an des küenen gewant. Da der herre Sifrit ob dem brunnen träne, er schos^ in durch da% krittle [...] (980,4—981,2).
Jetzt ist das Zeichen offenbar auf dem Hemd, auf dem es Hagen zuvor kaum hätte entdecken können. Aber es geht gar nicht um die passende Zurichtung eines Requisits, sondern um die Aufdeckung von Sivrits Verwundbarkeit. Die Kraft des Heros wird bezwing106 107
Seitter (1987), S. 83. de Boors Kommentar 5 . 1 5 3 wendet das Problem wieder einmal sagengeschichtlich: „Hier liegt eine der deutlichsten Fugen zwischen alten und jungen Teilen. Alt ist der Jagdaufbruch, jung Hagens List mit dem vorgeblichen Kriegszug und dem Zeichen auf dem Gewand. Aber Siegfried reitet natürlich nicht im Kriegsgewand zur Jagd, sein Jagdgewand wird 95 iff. ausführlich beschrieben. Das seidene Kreuzchen sitzt also auf einem Kleidungstück, das im entscheidenden Augenblick gar nicht zur Stelle ist". 244
Personalität als Oberfläche
bar, indem eine schützende Haut nach der anderen entfernt wird. Dank Kriemhilts Vertrauensseligkeit wird etwas, das tougen war, durch alle verbergenden Hüllen hindurch sichtbar, und nachdem es einmal sichtbar geworden ist, kann es nie mehr verborgen sein. Einmal an der Oberfläche, bleibt es präsent. Sivrit trägt an seinem Körper das Mal seiner Verwundbarkeit. Ein anderer für die anderen sein, setzt voraus, daß man die sichtbare Gestalt verdunkelt oder über sie eine andere Hülle zieht, ein fremdes Kleid: Kriemhilt in Alltagskleidern in einer festlich gekleideten Hofgesellschaft (1225,3) ist die arme Kriemhilt, die erst wieder eingekleidet werden muß, um erneut Königin zu sein. Das ist, in die höfische Zivilisation übersetzt (und demgemäß rationalisiert), eine letztlich magische Vorstellung: daß das Überziehen einer Haut den Menschen verwandelt, zum Mitglied der Hofgesellschaft macht oder aber zum Werwolf. Die tarnhüt steht magischen Vorstellungen noch näher als jene höfischen Rationalisierungen, doch gehört sie in denselben Vorstellungsbereich, denn wie das Kleid verwandelt sie Sivrit selbst zwar nicht, wohl aber das Bild der anderen von ihm. Die mittelalterliche Literatur kennt eine Reihe von Phantasmen des scheinbaren Identitätswechsels durch Wechsel der Kleidung oder selbst der Haut. Wenn Eilharts Tristrant sich verkleiden muß, um Markes Häschern zu entgehen, zieht er ein Pilgergewand über, das ihn unkenntlich macht. Doch unter diesem Pilgergewand trägt er seine gewohnten höfischen Kleider. Zufällig zu einem ritterlichen Wettkampf stoßend, wird er mitzumachen aufgefordert und erweist sich natürlich als hervorragender Ritter. Doch wird er erst als Tristrant erkannt, wenn das Pilgergewand reißt und darunter die höfische Kleidung sichtbar wird (Trt 7811-7813). Was sich unter dem Gewand des Pilgers verbirgt, zeigen seine Taten; doch erst seine soziale ,Haut' zeigt den ändern, wer der Pilger ist, jene Kleidung, die Tristrants gewöhnliche ist und die von einer anderen nur vorübergehend verdeckt wurde.108 Die scheinbar bloß schwankhafte Verkleidungsepisode steht am Anfang einer Reihe von Veränderungen der Gestalt, die Tristrant ausprobieren muß, um Isald nahe zu sein. Die letzte Maske ist die des Narren. Sie aber ist so wenig wie Sivrits Haut aus Drachenblut bloße Verkleidung: Eine Verwundung hat Tristrants Aussehen so entstellt, daß seine frühere Gestalt verschwunden ist und niemand ihn erkennen kann (Trt 8650-8653). Der ehemals schöne Ritter scheint ein häßlicher Narr. Im Schutz des neuen Äußeren kann er sich Isald nähern, er muß sich durch ein Zeichen und Worte zu erkennen geben (Trt 8917-8921) und kann dann unbemerkt längere Zeit in ihrer Nähe leben. Die übergezogene Haut ist zur wirklichen geworden, falsche und gespielte soziale Identität miteinander verwachsen. Auch unter der neuen Hülle aber bleibt Tristrant der allen überlegene Held, der er war. 108
So legt auch Isalde ein herin hemede (Trt 7175) über ihre deine edele but (Trt 7172), wodurch sie als ein arm wip lebt (Trt 7223): vorübergehend wird die Königin zur Büßerin. 245
Nibelungische Anthropologie
Deshalb liebt Isald den häßlichen Narren, und deshalb setzt, wenn man ihn greifen will, der Narr mit seinem Kolben alle in Schrecken, wie zuvor Tristrant. Unterschieden wird hier zwischen dem, was man für die anderen ist, und dem, was für sich selbst (und in diesem Fall: die Geliebte). Die soziale Existenz - nicht nur an die Kleider gebunden, sondern im Körper verankert, eine Sache der ,Haut' - ist nicht mehr alles, und dies scheint typisch fur die Tristan-Sage. Eine fremde Haut eignet sich auch der Bösewicht Ruhart in ,Morant und Galie' an (MuG 3031-3168), damit er unerkannt an Karls Hof gegen Morant auftreten kann.109 Hier ist Haut wörtlich verstanden. Ruhart macht einen Pilger betrunken, tötet ihn und zieht ihm die Gesichtshaut samt langem schwarzen Bart ab. Die blutige Gesichtsmaske reibt er mit Salz ein und trocknet sie im Kamin. mit sines scharpen metres art begunde he eme ritten beneden sime antlit^en die hut mit deme barde inde eme ane scharde also bludich, also ro mit deme hare ave ^o. mit sal^e he si sprede, dar na he si erwede in me rauche inde machede si hart [...].
(MuG 3076-3085)
Die der Lederverarbeitung entlehnten Kniffe bei der Zubereitung der Gesichtsmaske und die technischen Überlegungen - am Kinn muß Ruhart zerren, wenn er die Maske anlegen will (vaste he ne ouch knockte/beneden sime kinne, 3i20f.) - weisen schon auf eine Spätzeit, in der die magische Vorstellung vom Tausch der Identität durch eine neue Haut sich Wahrscheinlichkeitskriterien zu stellen hat. Die Gesichtsmaske aus Haut ergänzt Ruhart durch die schäbigen Kleider des Toten; er bringt sich falsche Wunden an den Beinen bei und zieht sich Gesicht und Bart des anderen über, um ganz unkenntlich zu sein. Wo Maske, Kleid oder Tarnmantel wie eine Haut angesehen werden, die man nur überstreifen muß, um die Identität zu wechseln, da kann auch die wirkliche Haut eines anderen als Maske dienen. Ruhart wird freilich trotzdem entlarvt: Der betrügerische Identitätswechsel scheitert. Was unter der Haut sich verbirgt, wird entdeckt. In ihrer metaphorischen Prägnanz unüberbietbar ist eine Szene aus ,Salman und Morolf'. Morolf zieht dort die Haut eines fremden Menschen, nicht nur sein Gesicht, an, um ein anderer zu scheinen. Er tötet einen alten Juden, schindet ihn oberhalb dem gurtel und zieht sich die balsamierte Haut über: inn der hüte ging der ritter lobesan in allen den geberden, als were sie im gewachssen an. (SuM 163,3-5) 109
Den Hinweis verdanke ich H. Birkhan. 246
Personalität als Oberfläche
Nicht einmal der eigene Bruder Salman erkennt ihn, bis er die Haut auszieht und seine höfische Außenseite wieder zutage tritt. Sie stellt sich sogleich in einer anderen Haut dar: Scharlach cleider."0 Für die Umgebung ist, was sich unter einer fremden Hülle, der Haut des Juden oder der tarnhüt, abspielt, solange nicht existent, wie die Hülle deckt. Personale Identität, gebunden an körperliche Erscheinung, ist eine Art Kleid, ob nun tatsächlich ein Gewand oder die Oberfläche der körperlichen Gestalt. Der sozialen Existenz wird eine körperhaft-natürliche Basis zugeschrieben. Andererseits, auch Morolf bleibt, wenn er die fremde Haut übergestreift hat, der listige, der er ist, und nur deshalb kann er die Haut wechseln. Unter der Oberfläche gibt es etwas anderes, auch wenn das nicht benannt wird. Solche Phantasmen sind Hintergrund des Spiels mit Sivrits Häuten. Auch Sivrit bleibt Sivrit, nicht nur für das Publikum, sondern auch für sich selbst; noch wenn seine Gestalt den Blicken entschwindet, ist er der Stärkste. Das Eigenartige ist jedoch, daß diese von der Oberfläche der Erscheinung losgelöste Identität im Handlungszusammenhang keine Rolle spielt. Was Sivrit für sich selbst ist, zählt nicht; es zählt allein, was er für die ändern darstellt. Der Konflikt entsteht, weil Prünhilt nicht akzeptiert, was sie sieht, nachdem Sivrit die oberste Hülle, die tarnhüt, und ihr ständisches Pendant, die Rolle von Günthers man, wieder abgelegt hat. Prünhilt hält sich an das, was sie zuerst gesehen hat und bezweifelt, was ihr bei der Doppelhochzeit vor Augen geführt wird und was sie später im Turnier von Kriemhilt gezeigt bekommt. An dem, was Sivrit jetzt evidenterweise ist, kommt Prünhilt nicht mehr vorbei. Sie versucht, ,hinter das zu kommen', was sie sieht und gesehen hat. Nachdem die Wahrheit vor dem Königsgericht nicht aufgeklärt werden kann, muß eine Haut nach der anderen durchstoßen werden, auch jene hat, die Sivrit unter seinen höfischen Kleidern trägt.'" Die ,Häute' sind unterschiedlich eng mit der Person des Heros verbunden und berühren in unterschiedlichem Maße das, was er für die anderen ist: Die tarnhüt allein Sivrits Besitz, nur selten getragen und von niemandem später mehr verwendbar - steigert seine Kraft, so daß er mehr Heros ist als zuvor, und macht sie zugleich ungreifbar; das Jagdkleid, das er gleichfalls ablegen kann, bringt seine herausgehobene Stellung bei Hof zur Geltung; im Hemd ist er auf seine Körperkraft reduziert, jedoch immer noch allen anderen überlegen; die hurnin hut endlich ist die Oberfläche und zugleich die Voraussetzung seiner heroischen Potenz. Wird sie durchstoßen, sind Kraft und Leben dahin. Von Stufe zu Stufe ist jede dieser ,Häute' stärker mit dem, der sie anlegt, ,verwachsen'. Sivrits ,Häutung' und seine Zerstörung sind eins. "° SuM, 169,5; vgl. 161-169. '" Vgl. Seitter (1987), S. 83 spricht von Sivrits Spezialhaut, die unter der Kleidung unsichtbar gemacht werden kann, wobei beide wieder unter der Tarnhaut unsichtbar gemacht werden: eine Potenzierung des Verbergens. 247
Nibelungische Anthropologie
Die Figur Sivrits baut sich aus übereinandergelegten Schichten auf. Die oberste, die Tarnhaut, begründet seine Überlegenheit über alle sonst, aber sie zu tragen ist an Ausnahmesituationen gebunden und erweist sich als Sprengsatz für die höfische Welt von Worms. Die zweite, sein prächtiges Gewand bei der Jagd (951-957) ist Außenseite seiner wahren ständischen Existenz und führt für alle sichtbar ein letztes Mal seine Geltung bei Hof auf einen unerhörten Gipfel, von dem dann der Absturz umso jäher ist. Sein Tod bedeutet, daß er ganz buchstäblich ,entkleidet' wird. Als erstes legt Sivrit seine Jagdkleider ab (976), dann, als er den Wettlauf gewonnen hat, auch seine Waffen (977). Erst dann kann Hagens Speer durch das Loch im Hornpanzer durchdringen und Sivrit in seiner Lebenskraft treffen. Ohne die Panzerungen - die Tarnhaut, die prachtvollen Kleider, die Waffen und als letzte Schicht die Hornhaut - ist Sivrit nichts mehr als eine Beute für Hagens Speer. Wenn alle Häute durchstoßen sind, ist er tot, ein Kadaver, auf den man im Finstern stößt (1004-1006). Unter den Schauseiten wechselnder Oberflächen gibt es nichts.
248
v DIE TRÜBUNG DER SICHTBARKEIT Transparenz der nibelungischen Welt Grundsätzlich ist die nibelungische Welt auf Sichtbarkeit angelegt. Die „Dramaturgie der Sichtbarkeit im Spannungsverhältnis zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit" hat Wenzel als Anpassung der alten mären an die „Poetik der höfischen Repräsentation" gedeutet und - nach der Anregung Hugo Kuhns - das Fortschreiten der Handlung in „Schaubildern" und allgemein die szenische Gestaltung als Kern nibelungischer Poetik herausgearbeitet.1 Das Erzählen in Schaubildern setzt sich gegen lineare Kohärenz syntagmatischer Verknüpfung durch.1 Sichtbarkeit ist immanente Norm der nibelungischen Welt. Wo sie manipuliert oder verfälscht wird, sammeln sich im ersten Teil die Konflikte an, die sich im zweiten entladen. Der immer brutalere Durchbruch von Gewalt läßt sich als Aufdeckung eines vertuschten Rechtsbruchs verstehen, seine Vorbereitung ist tückisches Spiel mit falschem Schein. Die Wiederherstellung von Transparenz in der offenen Konfrontation erweist sich jedoch auch als ein Prozeß der Regression, in dem am Ende alles, was den Wert dieser Erzählwelt ausmachte, zu Bruch geht. Wenn alle Verstellung beseitigt ist und alles, was die Sicht verstellen könnte, aus dem Weg geräumt, gibt es auch nichts mehr zu sehen: Diu vil michel ere was da gelegen tot (2378,1). Diese ere war anschaubar im Glanz derer gewesen, die sich an einem Hof versammeln, dem in Worms und später dem Etzels, in der Ausstattung des Hofes und der Hofgesellschaft, den materiellen Mitteln dieser Ausstattung, schließlich im Strahlen des Heros. Die ere drückt sich im Ruf eines Hofes (märe) aus. Was man sich von einem Hof sagt (märe), lockt Fremde an, die den Glanz selbst sehen wollen (107,4) und die ihn dann ihrerseits steigern.5 Was erzählt wird, spiegelt sich in der Wahrnehmung derer, die es später bezeugen können und weitererzählen sollen. Paradigmatisch die Wettspiele Prünhilts: Hugo Kühn (1959); Heinzle (19873), S. 81—84; Wenzel (1992), S. 523; zum Zusammenhang zwischen Oralität und szenischer Gestaltung auch G. Müller (1975), S. . G. Müller (1975), S. 112; 105; Beispiele für das Herausfallen aus der narrativen Progression: S. lojf. Ein in der Heldenepik verbreitetes Motiv: Biterolf z. B. hört von Etzels Macht und will sie daraufhin sehen (Bit 464): da^ wir die großen ere/'hie %en Hinnen ivolden sehen (Bit ii98f.). Er bleibt an Etzels Hof und dient ihm, weil er die recken gerne sach (Bit 1353). 249
Die Trübung der Sichtbarkeit Der rinc der was bezeiget, da solde da^ spil geschehen vor manigem küenen recken, die da^ so/den sehen mir danne siben hundert, die sah man wafen tragen: sn>em an dem spil gelunge, da^ e% di beide solden sagen.
(433)
Es gibt mehrere , Ringe' von Betrachtern. Im Zentrum steht der Wettkampf, den Prünhilt und Günther miteinander ausfechten sollen. In diesem Zentrum gibt es freilich einen blinden Fleck, Sivrit, der unter seiner Tarnhaut unsichtbar ist; man sieht nur Günther, der die Bewegungen zu dem macht, was Sivrit tut. Um dieses Zentrum herum stehen bewaffnete recken, die das Ergebnis bezeugen sollen. Es sind Prünhilts Gefolgsleute:4 waffenfähige Zeugen, auf die es in der Feudalwelt ankommt, so daß also das, was sie sehen werden, im heroischen Gedächtnis Geltung besitzen wird. Dieser Kreis von immerhin 700 wird nun gleichfalls von außen gesehen (die sah man), wobei nicht gesagt wird, wer da sieht, offenbar Leute, die nicht zum inneren Kreis der Herrschaftsträger gehören. Um diese aber schließt sich ein weiterer Kreis, zu dem ,wir', Erzähler und Zuhörer, zählen, alle, die Adressaten dessen sind, was man sich von jenen alten Helden ,sagt'. Was man die 700 sehen sieht, das werden die beide später dann 'sagen'. Das Sagengedächtnis wird durch die Augen jener 700 sehen. Der Erzähler ist Sprachrohr dessen, was ,man' sehen kann und sich davon erzählt. Die Augenzeugen auf der Szene geben dem Hörer die eigene Sicht auf die Erzählwelt vor. Nur was sich vor einem solchen Forum abspielt, gilt. Es muß sichtbar und auch hörbar sein. Hörbarkeit ist Komplement von Sichtbarkeit. Vorgänge werden deshalb häufig als ,laut' gekennzeichnet. Lüte (466,2) gesteht Prünhilt vor ihrem Gefolge ihre Niederlage ein und fordert es zur Unterwerfung unter Günther auf. Indem Hagen ihn harte lüte (1183,1) vor allen begrüßt, ist Rüedeger am Wormser Hof als Gast anerkannt. Eine Beleidigung ist untilgbar, wenn sie wie die gegen Rüedeger %e lüte vor allen geäußert wird (2141,4). Wenn Volker seine Herren vil lüte auffordert (1802,4), %e hove zu gehen (1803,2), dann will er statt weiteren Versteckspiels wissen, wie der König zu ihnen steht. Hörbarkeit und Sichtbarkeit bedeuten Rechtsverbindlichkeit. Legitime Herrschaft stellt sich her, indem der König vor sinen vriunden seinen Willen kundtut (713,1) und der neue Herrscher vor [...] recken [...] kröne trägt (713,3). Wenn Kriemhilt Sivrit in heimliche vil dicke güetlichen sprach (132,4), dann bedeutet das noch nicht viel für seine Stellung am Wormser Hof. , Gut-Sprechen' muß alle erreichen, darf nicht auf die Abgeschlossenheit des Frauengemachs, beschränkt sein. Sivrits Hochzeit muß daher vor aller Augen geschlossen werden. Das besiegelt die allgemeine Anerkennung des fremden käme als Mann der Königstochter:
4
Hagen und Dancwart sind ohne Waffen (vgl. 446-448). 250
Transparent der nibelungischen Welt vor^ beiden wart geküsset diu schcene küniginne sint.
(616,4)
Die Vokabel für die öffentliche Anerkennung ist Jehen. Jehen heißt aussprechen, was allgemein gilt oder gelten soll, also etwa, die eren, die Hagen billiche verdient (1797,4), die Tapferkeit, die man seinen Leuten zuerkennen muß (1478,4), Kriemhilts milte (i333,3), 6 aber eben auch die lügnerische Ankündigung eines zweiten Krieges gegen die Sachsen (875,1). Dieses Sprechen hat kein bestimmtes Subjekt. Es meint die heroische Fama. Jehen hat Grund und schafft Grund: so müese man von schulden dem edeln recken j eben er wäre ein der beste, der ie uf ors gesa^. (7 2 3, 2 f.)
Kriemhilt spricht, wenn sie Sivrit vor dem Hof mit ihrem Gruß auszeichnet, nicht aus, was sie selbst von ihm denkt oder für ihn fühlt, sondern was sie die anderen jehen hört. Was sie ausspricht, ist das, was alle sagen und was man deshalb immer von Sivrit sagen wird und sagen muß. Man agiert vor den Augen eines adligen Publikums, das künftige Sagenerinnerung vorwegnimmt. Das drückt eine Lieblingsformel des Erzählers aus: man sack f...]1, seltener auch man hört [...].* Augenzeugenschaft ist die Quelle künftiger Erzählung und vergewissernder Erinnerung. Das Geschehen läuft nie einfach ab, sondern ,man sieht' es ablaufen. Was sich ereignet, spiegelt sich in der Wahrnehmung von Zuschauern und Zuhörern. Die Formel man sach/man hört rückt die Erzähl weit freilich nicht in eine subjektive Wahrnehmungsperspektive, sondern der Erzähler bekundet, daß sie im Licht allgemeiner Aufmerksamkeit liegt. Blicke werden mit Blicken verfolgt: under wüen blicken man Prünhilden sach (799,2). Und so wird auch gesehen, wenn jemand sich aus der hellen Sphäre dessen, was alle sehen, absondert wie Günther nach seiner mißglückten Hochzeitsnacht: swes iemen ander pf läge, man sah in trurende gan.
(647,4)
Das zeigt einen Defekt an. Was sehenswert ist und von allen gesehen wird, beschränkt sich keineswegs auf den heroischen Handlungskern — im Gegenteil vollzieht sich hier Entscheidendes im Dunkeln, ohne daß ,man' irgendetwas sieht -, sondern betrifft ebenso die vielen Szenen höfischen Lebens, die die Sagenforschung als , Schneiderstrophen' beiseiteSo in ADbd; Hs. B 615,4 hat von beiden: Der Kuß für Kriemhilt könnte eine Bestätigung der Eheschließung durch Günthers Gefolge ausdrücken (vgl. Zusatzstrophe C 616); neutraler stattdessen Ca nach siten, Ih von im (vgl. Batts, S. i86f.). Weitere Beispiele: Durch ausdrückliche Proklamation werden festgestellt: Sivrits grö%_e[] eren (971,3), der Sieger im Wettlauf (973,4; fehlt C), Kriemhilts milte (1127,4), ihre tritnve gegenüber Sivrit (1142,4), ihre Schönheit (1351,3), ihre Rolle als vorbildliche Königin (1390,2), die Pracht von Etzels Gesandtschaft (1156,2) usw. Etwa 131,3; 133,2; 579,1; 3; 5 8 4,i; 587,3; 590,4; 594,2; 788,2; 793,4; 799,2 u. ö.; gelegentlich auch man vant (580,4; 795,4). 585,3; 797,i; vgl. 589,4251
Die Trübung der Sichtbarkeit
schob, ganz gleich ob bei Empfängen, Aufzügen, Ritterspielen, Festen oder dem Vernichtungskampf. In diesen Szenen ist die Kongruenz von Sehen und Bedeutung für die zuschauende Mitwelt und die erinnernde Nachwelt am vollständigsten gewahrt; sie sind die positive Folie, von der sich die dunklen Intrigen abheben. Hörensagen ist der Anschauung unterlegen. Nachdem Rüedeger kämpfend aus Kriemhilts und Etzels Gesichtsfeld im Palas verschwunden ist, deuten beide die Stille falsch, die eintritt, als der Kampf vorbei ist (zzzZf.). Volker muß vor allen verkünden, was geschah: da^ er und sin gesinde ist hie gelegen tot (2231, if.). Und wo es noch Zweifel gibt, muß Rüedegers Leichnam vorgezeigt werden: Welt ir des niht gehüben, man so/% inch sehen län.
(2232,1)
Die Wahrnehmung durchs Gehör ist weniger eindeutig; die Klagen um Rüedeger könnten verschiedenen Personen gelten: Do bort' man allenthalben jamer also da^ palas unde turne von dem wuofe erdo%. da hart' e% auch von Berne ein Dietriches man.
(2235,1-3)
Dietrichs Bote geht aenjämer .sehen', den man zuvor gehört hat (done bet man von Hüten so großen jamer nie gesehen, 2241,4), um durch Fragen Gewißheit zu erlangen. Ob die höfische Welt in Worms, das ferne Isenstein oder das sagenhafte Nibelungenland, überall geht es darum, vor den Augen und Ohren von Zeugen zu bestehen. Auch Sivrits Krieger aus dem Nibelungenland müssen sich für die Fahrt zu Prünhilt prächtig kleiden, want uns da sehen müe^en vil minneclichiu wip (506,3). Es ist Zeichen des Schocks über Sivrits Tod, daß seine Leute einen Augenblick vergessen, wie sie sich vor Damen zu zeigen haben (io22,2f.). Vor aller Augen müssen sich Schönheit und Rang der beiden Königinnen erweisen, die man vom Hörensagen schon kannte: Do speheten mit den ougen di e horten jehen da% si also schanes heten niht gesehen so die vrouwen beide: des jach man ane lüge. auch kos man an ir libe da de keiner slahte trüge.
(592)
Wie das, was man sich erzählt (jehen), auf Augenschein beruht, so bestätigt der Augenschein, was man sich erzählt; man kann es ane lüge weitersagen (Jehen). An den Vorzügen, die man an den Frauen sehen kann, gibt es keine Täuschung (trüge). Doch fällt auf, daß die Möglichkeit von trüge überhaupt erwogen wird (592,4); gerade angesichts völliger Transparenz höfischer Idealität wird an die Grenze der Sichtbarkeit erinnert, deren Überschreitung verhängnisvolle Folgen hat.
252
Antizipierte Sagemrinnerung
Antizipierte Sagenerinnerung Die Figuren richten ihr Handeln an dem aus, was man von ihnen sehen kann und künftig von ihnen sagen wird. Dabei muß eine Gesandtschaft oder das Auftreten am fremden Hof sich ebenso dem Urteil der Zuschauer und dem Sagengedächtnis stellen wie ein Zweikampf. Auch wenn Rüedeger als Werber Etzels an den Rhein zieht, verspricht er dem König: Swä man %en Burgonden mich unt die min« sehe, da^ ir ietslicher dann« dir des jehe, da^ nie künic debeiner also manigen man so verre ba% gesande danne du %e Rine hast getan.
(1156)
Durch die Pracht seines Auftritts soll die Werbungsfahrt zum erinnerungswürdigen Ereignis werden. Selbst wo solch Auftreten deplaciert scheinen könnte wie im wilden Isenstein, ist die antizipierte Sagenerinnerung das Maß, an dem sich die prächtige Schauseite orientieren muß: des sulen wir richiu kleider vor der frouwen tragen, da% wirs iht haben scande, so man diu mare hare sagen.
(3 44,3 f.)
Die Protagonisten sind das, was man von ihnen sagt, sind ihr märe: Mtere fallen selten der wart vil geseit, wie rehte lobeltchen die recken vil gemeit lebten fallen stunden in Sigemundes lant.
(720,1-3)
Und der Erzähler breitet aus, was man sich zurecht von Sivrit, seiner Stärke, seiner Macht und seinem Reichtum erzählt. Nicht anders die Fama von Kriemhilts Schönheit, dem mächtigen Gefolge ihrer Brüder, der unermeßlichen Herrschaft Etzels. Es interessieren weniger die Fakten selbst als die Art und Weise, wie sie sich im Urteil derer spiegeln, auf die es ankommt. Grundsätzlich gibt es keine Differenzen zwischen den Instanzen dieses Urteils: Was Figuren und Erzähler sagen, ist nur Ausdruck dessen, was ,man' sehen kann und sagt und was man künftig sagen wird. Und noch wo ein Urteil umstritten ist, wird es vorgebracht, als sei es das einzig denkbare. So heißt es in Gegensatz zu allem, was man sich im Mittelalter über Kriemhilt erzählt: si was im getriuwe, des ir diu meiste menige gibt.
(i 142,4)
Was diu meiste menige feststellt, sollte Bestand haben. Das Urteil der anderen ist Maßstab des Handelns. Was wird man dazu sagen, fragt sich Kriemhilt, daß sie, die Christin, um an Etzels Macht zu partizipieren, einen Heiden heiraten muß? Sie befürchtet: des muo^ ich %er werlde immer schände hän (1248,3). Statt schände steht in einigen Handschriften schade? schade und schände sind 9
Die Edition folgt hier ADJdh; B und g haben schaden; in C 1272,3 heißt es abweichend: (ähnlich a; vgl. Batts, S. 378f.), 2
53
Die Trübung der Sichtbarkeit
eng verwandt, denn das negative Urteil der Leute be-schäd-igt das Selbst, und schade bedeutet auch schände. Das Ansehen bei den Augenzeugen und durch sie hindurch die künftige Sagenerinnerung bestimmt das Verhalten. Alle großen szenischen Auftritte sind darauf angelegt, daß viele zusehen und sich ein Urteil bilden können. Selbst Rüedegers Konflikt - das wird über der inhaltlichen Auseinandersetzung meist vergessen - wird als Kampf um die angemessene Fama erzählt und liegt deshalb allen zur Beurteilung offen. Er wird auf offener Bühne ausagiert in Worten und Gebärden, im Dialog mit dem Königspaar und in Monologen, in denen nur scheinbar der Sprecher allein mit sich selbst beschäftigt ist, in Wirklichkeit aber alle zuhören sollen. Rüedeger antizipiert, was man über ihn denken und später von ihm erzählen wird: Di Hute (2160,1), elliu diet (2154,3), diu werlt (2156,4) vertreten die Instanzen, vor denen er zu bestehen hat, Instanzen, die Schande, Haß oder den Vorwurf der Feigheit über ihn verhängen können.10 Ehrlosigkeit vor den liute[n] wäre es, gegen die Burgonden vorzugehen: wie sol ich raten in den tot? (21 59,4): Di Hute jvtznent Übte da^ ich si vertaget. deheinen mitten dienest han ich in widersaget, den vil edeln fürsten unde den i r man. auch riuwet mich diu vriuntschaft, die ich mit in geworben han.
(2 1 60)
Die vriunde im Stich zu lassen, könnte als Feigheit ausgelegt werden. Wer falschen Normen folgt, der ,ist' feige, er mag kämpfen, wie er will." Auch die Option, einer Entscheidung auszuweichen, wird am Urteil aller gemessen: ich nu la%e unt da^ ander began, so han ich basliche und vil übele getan: lasy aber ich si beide, mich schiltet elliu diet. nu ruoche mich bewisen der mir %e lebene geriet.
(2154)
Rüedeger appelliert an Gott, nicht, damit der ihm zeige, wie er einen Gewissenskonflikt löst, sondern wie er vor den anderen bestehen kann. Auch erfährt man nicht, was er über den Kniefall Etzels und Kriemhilts denkt, sondern was alle anderen an ihm sehen können: den edelen marcgräven unmuotes man do sach (21 52,3) oder noch deutlicher: trvren man do sach (C 2209,3). Die Unterwerfungsgeste setzt ihn vor den ändern unter Druck. 12 Richtmaß bleibt, was er in den Augen der anderen zu sein hat:
Vgl. Spielt (1968), S. S^f. zur Bedeutung der höfischen Öffentlichkeit bei Rüedegers Entscheidung. In diese Richtung geht de Boors Übersetzungsvorschlag: „zum Zagen, Erbärmlichen geworden" (S. 338). Vgl. S. 161. 254
Antizipierte Sagenerinnerung [...] vil sere vorhte er ob er i r einen slüege, das^ im diu a/er l t trüege ha^.
(21 56, 3 f.)
Was Rüedeger sagt und denkt, nimmt mögliche Urteile über sein Verhalten vorweg und bringt die einander ausschließenden Forderungen zur Sprache, auf die sich dieses Urteil stützen muß. Er kann sich nicht selbst aus der Verstrickung lösen, aber er legt die Motive vor allen offen, so daß auch das Urteil über ihn unwiderleglich ist. Und die Instanz Gottes, an die er appelliert (Do lie^ er an die wäge sele unde lip, 2166,1), sorgt dafür, daß er in seiner Ehre letztlich nicht beschädigt wird. Wenn seine Entscheidung gefallen ist, spiegelt sich jede seiner Reaktionen in den Blicken von Zuschauern: Man sah in von dem künege vil trureclicben gen. Do sah man Rüedegeren under helme gan.
(2167,1)
(2170,1)
da% sack der videlare: e% was im grauliche leit. Do sah der junge Gtselher sinen sweher gen.
(2170,4) (2171,1)
der videlare die rede volsprach, Rüedegern den edelen man vor dem hüse sach.
(2 174,1 f.)
Noch Hagens Bitte um seinen Schild erfüllt Rüedeger im Bewußtsein, daß alle ihm zusehen, weshalb er zuerst zögert, dann jedoch umso demonstrativer der Bitte nachkommt: torst' ich dir in bieten vor Kriemhilde. doch nim du in hin, Hagene [...]. (nt)6,z{.)
Daß Kriemhilt Zeugin ist, erhöht auf Dauer den Wert der Geste, nimmt sie doch vor einem größeren Publikum zu einem Teil Rüedegers Entscheidung für den Lehnsherrn zurück und stellt die Balance zwischen den widerstreitenden Pflichten wieder her. Die Reaktion der Anwesenden (do wart genuoger ougen von heilen traben rot, 2197,2; vgl. 2198,4; 2202,2) nimmt vorweg, wie man sich von nun an an Rüedeger erinnern wird, und Hagen verkündet das Urteil künftiger Sage: e% wirf iuiver gelicke deheiner nimmer mer
(2199,2),
sekundiert vom Erzähler: vater aller fügende lag an Rüedegere tot (2202,4).
Auch die übrigen Protagonisten handeln im Bewußtsein dessen, was man an ihnen sieht und später von ihnen erzählen wird. Das Gedenken der Sage ist Urteilsinstanz nicht nur über die einzelne Person, sondern das ganze Geschlecht. Der todwunde Sivrit klagt seine %agen (da zentrale Werte der nibelungischen Welt verletzenden) Mörder an, indem er sagt, der Verrat richte sich gegen die Ehre ihres eigenen Geschlechtes: 255
Die Trübung der Sichtbarkeit Die sint da von beschälten, su>a% ir wirt geborn her nach disen %iten. (990,1 f.)
Betroffen sind sogar scheinbar Unbeteiligte wie Sivrits eigener Sohn: Nu müe^e got erbarmen da% ich ie gewan den sun, dem man da^ itewi^en so! näh den %iten tuon, sine magen iemen mortliche hän erslagen. (995,1-3)
Entscheidungen werden darauf hin geprüft, was man über sie sagen wird: e% wi^ent uns die Hute, und ob wir si bestän.
(1887,2)
Über den Tod eines Kriegers soll man, sagt Hagen, nicht klagen, denn was ist daran schon schlimm, wenn man von jemandem erzählen kann, er sei von der Hand eines Helden gefallen: ist ein schade kleine, [...] da man saget mcere von einem degene, ob er von recken henden verliuset sinen lip.
(1954,1-3)
Am frappierendsten drückt die Selbststilisierung für künftiges Gedenken eine Strophe aus, die dem sterbenden Wolfhart in den Mund gelegt wird. Wolfhart genießt den eigenen Tod, indem er sich selbst zum Denkmal erklärt: Unde ob mich mine mage nach tode wellen klagen, den neehsten unt den besten den suit ir von mir sagen, das^ si nach mir niht weinen, da^ ist am not. vor eines küneges banden lige ich hie herlichen tot. (2302)
Als herlichen Erschlagener lebt Wolfhart fortan im heroischen Gedenken. Die Antizipation des Sagengedächtnisses erlaubt keine Distanz; individuelles und kollektives Bewußtsein sind identisch. Wolfhart feiert im eigenen Tod das Exempel künftiger Generationen, das er sein wird. In solch programmatischer Selbststilisierung könnte freilich dieses Bewußtsein schon überzogen sein. In spätmittelalterlicher Heldenepik kann daraus eine nüchterne Kalkulation mit dem eigenen Nachruhm werden. Im ,BiterolP werden Wolfhart die Worte in den Mund gelegt: %wiu sol der in hervart von dem man niht %e reden hat?
(Bit 77845.)
Gekämpft wird nur, wenn für den Nachruhm etwas herausspringt. Das ,Nibelungenlied' unterschlägt nicht den Preis dieses Denkens. Die ehernen Maßstäbe heroischen Nachruhms engen den Spielraum des Handelns ein. Seinen letzten Kampf mit Dietrich versteht Hagen als Probe darauf, wer künftig im Sagengedächtnis den ersten Platz einnehmen wird: man sol da% hiute kiesen, wem man des besten müge jehen. 256
(2326,4)
Löschen der Sichtbarkeit
Deshalb lehnt er Dietrichs Angebot eines rechtlichen Ausgleichs ab, weil man dann die falsche Geschichte von ihm erzählen würde, und das darf nicht sein: von uns en^imt da^ märe niht ivol %e sagene, da^ sich tu ergaben %wene also küene man. nu siht man bi iu niemen wan eine Hildebranden stan.
(2 341,2-4)''
Wo der Blick einer kriegerischen Nachwelt entscheidet, hat suone keine Chance, denn sie könnte als Schwäche ausgelegt werden. Schon das Ansinnen wird als Beleidigung aufgefaßt (2347,4). Solch explizite Selbstmonumentalisierung stellt die selbstverständliche Geltung jener Maßstäbe heroischen Gedenkens in Frage: Wolfhart feiert seinen Tod in einem Kampf, in den ihn seine unbedachte Wildheit verwickelte und der den Untergang seiner vriunde nach sich zieht, und Hagens Fixierung auf den eigenen Nachruhm erscheint angesichts von Dietrichs Generosität als todbringende Starrköpfigkeit. Die Reflexivität der antizipierten memoria löst weder bei Wolfhart noch bei Hagen Reflexion aus, sondern eine distanzlose Mechanik des Handelns, das rücksichtslos die eigene Kriegerehre im Visier hat und sonst nichts. Es ist bezeichnend, daß die beiden am positivsten gezeichneten Gestalten des Epos, Rüedeger und Dietrich, genau in diesem Punkt abweichen. Rüedeger sucht zwar gleichfalls aus dem, was man später von ihm sagen könnte, Maßstäbe für sein Handeln jetzt zu gewinnen, doch spricht er aus, daß jene Instanz in sich selbst widersprüchlich ist. Indem er prüft, was sie von ihm verlangen könnte, kann er ihre Normen zwar nicht aufheben, aber doch versuchen, reflektierend beiden Seiten gerecht zu werden. Und in Dietrichs bis zur Selbstverleugnung des vergeben von leit gehenden Flexibilität fehlt bezeichnenderweise das künftige Gedenken als Motiv gegenwärtiger Entscheidung. Hagens Herausforderung, um den ersten Platz in heroischer memoria zu kämpfen, beantwortet er mit noch größerer Nachgiebigkeit und läßt sich auf den Kampferst ein, als es nicht mehr anders geht. Indem die Sagenerinnerung Gegenstand subjektiver Berechnung wird, ist sie schon überschritten. Löschen der Sichtbarkeit Der Held agiert im Licht. Seine sichtbare Präsenz ist Schwundstufe seines mythischen Glanzes, wie ihn die Heldensage in Dietrichs Feueratem kennt oder im Strahlen, das von ihm und seinem Gegner Ecke ausgeht.14 Ein Rest davon ist rationalisiert zum Glanz der Waffen (1761,3; 1841,3) und darin, daß der Heros sich im Dieses Argument kommt zweimal. An der Parallelstelle (da^ sich dir ergaben -Qvene verliehe gewafent gegen dir stänt/und noch so ledecliche vor ir vianden gant (2338,2-4) hat Hs. des vierten Verses: da^ hie^ ein michel schände und hie^ auch übele getan (C 2397,4); was man könnte, ist inakzeptabel. Zur Metapher des Strahlens im ,Eckenliet': Müller (1992)3), S. 105-107. Dietrichs und wird dort als eine Epiphanie heroischer Kraft inszeniert.
257
degene/die noch C als Variante schände nennen Eckes Auftritt
Die Trübung der Sichtbarkeit
Gesehen-werden erweist. Wenn Rüedeger seinem König die Witwe des berühmten Sivrit als Frau vorschlägt und ihn daran erinnern möchte, daß er den Helden ,kennt', dann sagt er: den hästu hie gesehen (1157,3). ^as nat die Sagenforscher seit je irritiert: ein „Augenblickseinfall des Dichters"? „Keine Dichtung weiß von einem Aufenthalt Siegfrieds am Hunnenhof'.'' Ausgeschlossen ist nicht, daß hier auf eine vergessene Sage angespielt wird. Doch wichtiger ist das Prinzip, das »bekannt sein' mit ,sehen' verknüpft: Der Ruhm des Heros ist so selbstverständlich an Sichtbarkeit gebunden, daß das Wissen von ihm den Eindruck des Gesehen-habens nach sich zieht. Dieses Prinzip wird in der Intrige um Prünhilt unterlaufen. Sivrits Auftritt vor Isenstein dient dazu, seine Identität zu verbergen. Solches Verbergen von Identität ist ein beliebtes Erzählmotiv: Der Held wahrt sein Incognito, um unabhängig von seinem ererbten Namen, Ehre zu erwerben, die dann umso heller strahlt, wenn er endlich gezwungen wird, seinen Namen zu offenbaren. Dieser Typus wird im ,Nibelungenlied' verzerrt, indem Sivrit seine Taten betrügerisch dem Ehrkonto eines anderen zuschreiben läßt, das Incognito deshalb nie gelüftet werden darf. Sivrit benutzt die höfischen Zeichen der Gleichheit (durch die Kleider), die feudalen Zeichen der Unterordnung (durch den Stratorendienst) und seine Begrüßungsworte vor Prünhilt dazu, seine heroische Identität zum Verschwinden zu bringen und hinter Günther zurückzutreten. Erfolg hat er damit, weil er sich bei den Wettkämpfen jene zweite Haut des Tarnmantels über seine Kleider zieht. Mit der Oberfläche verschwindet für die Anwesenden die Person.l6 Das zeigen die Vorgänge um den Wettkampf mit Prünhilt. Kein Leser oder Hörer hält sich allzulange mit der Frage auf, wie denn eigentlich Günthers Betrug im Wettkampf funktionieren kann; allenfalls die Illustratoren der Prachtausgaben des 19. Jahrhunderts mußten versuchen, sich plausibel aus der Affäre zu ziehen, wenn der durch die Tarnhaut unsichtbare Sivrit den Wettkampf so gewinnt, daß jeder Zuschauer meint, es sei Günther gewesen. Daß Günther beim Wettkampf durch Gesten anschaubar macht, was tatsächlich Sivrit tut, ist leicht gesagt (nu hab du die gebare, diu were ml ich began, 454,3), doch schwer nachzuvollziehen. Immerhin noch vorstellbar mag sein, daß Sivrit für Günther den Schild beim Speerkampf hält und den Speer mit solcher Kraft wirft, daß Prünhilt sich geschlagen gibt. Doch schon, wie Günther den Stein hebt und Sivrit ihn wirft, ist nicht leicht auszumalen, aber daß er beim Sprung hinterher den König trägt, müßte doch irgendjemandem aufgefallen sein - wenn man neuzeitliche Vorstellungen von Körperlichkeit zugrundelegte. Ein neuzeitlicher Leser fragt sich, ob nicht ein Tausch der Kleider, der die entfernter Stehenden täuschen könnte, oder besser noch ein magisch bewirkter Tausch der Gestalt glaubwürdiger wäre.'7 " de Boor, S. 189. 10 Vgl. oben S. 243-248. 17 Der Abstand zu neuzeitlichen Konzepten der Individualität wird an der Umdeutung dieses Betrugs in 258
Löschen der Sichtbarkeit
Körperhaftigkeit bedeutet im ,Nibelungenlied' Sichtbarkeit. Ist Sivrits Körper unsichtbar, dann werden die Leistungen, die Günther mit Hilfe dieses unsichtbaren Körpers vollbringt, Günther zugeschrieben, denn man sieht ja niemanden sonst. Offensichtlich spielen Günthers konkrete Körperhaltung und -bewegung keine Rolle. Sivrit zieht über seinen Körper eine Haut oder einen Mantel und ist für die Zuschauer nicht vorhanden; ausgedrückt wird das als ein Phänomen (visueller) Wahrnehmung: dar in slauf er vil schiere, do was er niemen bekant.
(431,4)
,Er kann von niemandem erkannt werden'. dar gie er tougenltche (von listen da% geschach), alle die da waren, da^ in da niemen ensach. (4 3 2,3 f.)
Unsichtbarkeit ist entscheidend dafür, daß jemand ,nicht da ist'. Sivrits nächtlicher Kampf im Nibelungenland beruht auf ähnlichen Voraussetzungen. Bei diesem Kampf bekommen der Pförtner und Alberich zwar die Gewalt seines Körpers zu spüren, aber erkennen können sie ihn nicht, weil sie ihn nicht sehen. Nicht eindeutig gesagt wird, ob Sivrit im Nibelungenland die tarnhüt trägt. Wenn er dorthin aufbricht, geht er in siner tarnkappen zum Meer (482,2) und besteigt vil taugen das Schiff (482,3): Den schefmeister sacb niemen (483,1). Die rasende Schnelligkeit des Schiffes, alsam e% wate der wint (482,4), ein sunderstarker wint (483,3), erklärt sich von Stfrides kreften (483,2), deren Übermaß er der tarnhüt verdanken könnte. Aber das spielt mit der Ankunft im Nibelungenland keine Rolle mehr. Die tarnhüt steht nämlich vor allem für den Entzug von Sichtbarkeit, und der kann auch auf andere Weise bewerkstelligt werden. Da man bei Sivrits Kampf mit den Hütern seiner Burg wegen der Finsternis nichts sieht, ist unwichtig, ob er die tarnhüt ablegt oder nicht. Sivrit kämpft buchstäblich ,im Mantel der Dunkelheit', der sich wie die tarnhüt um seine Gestalt legt. Er kommt unerkannt (der unkunde man, 486,3). Indem er seine Stimme verstellt (487,4), wenn er sich als ein recke ankündigt (488,1), ist er unkenntlich. Selbst als er einen Riesen und den Schatzhüter Alberich bezwungen hat, kennt man ihn noch nicht. Freilich erspürt Alberich an der körperlichen Überlegenheit des Gegners den Herrn; er ruft aus, er könne seinem Bezwinger nicht dienen, weil er schon einem anderen - er meint Sivrit - gehöre. Aus diesem Dilemma gibt es einen Ausweg nur, wenn der Sieger Sivrit ist, und natürlich muß der, der stark wie Sivrit ist, Sivrit sein. So nennt er sich: ich hei^e Sifrit; ich wand' ich war' iu wol bekant (499,4).
Wagners ,Götterdämmerung' erkennbar, wo das Verkennen des wahren Siegers - wie schon in der Edda - den Gestaltentausch zwischen Günther und Siegfried voraussetzt: Trotzdem erkennt Brünhilde das Auge des Geliebten, das durch die Truggestalt .blitzt'. Siegfrieds Individualität läßt sich unter keiner Hülle verbergen. Die .Thidrekssaga' (c. zoy) begnügt sich mit dem Tausch der Kleider.
Die Trübung der Sichtbarkeit
Bekant konnte er nicht sein, weil man ihn nicht sah. Der mögliche Konflikt zwischen dem, was im Dunkeln geschah, und dem, was offen gilt, wird sogleich abgebogen, da Sieger im Zweikampf und Landesherr identisch sind. Der Name schafft Klarheit, man holt Licht (es werden vil kerben [...] en^ündet, 504,1), und alle können Sivrit erkennen.18 Die nächste Szene, in der die Tarnhaut gebraucht wird, Günthers zweite Hochzeitsnacht, bestätigt die Bedeutung der Sichtbarkeit. Zum zweiten Betrug und Kampf im Schlafgemach kommt es, weil Prünhilt unter der höfischen Oberfläche Sivrits gesellschaftlicher ,Haut' - beim Hochzeitsfest einen anderen Sivrit entdeckt hatte. Ihr war nicht entscheidbar, an welche der Wahrnehmungen sie sich zu halten hatte, diejenige in Isenstein, die in Auftrittsritual, Worten und Wettkampf Sivrit als man Günthers gezeigt hatte, oder diejenige, die sich beim Hochzeitsfest der Könige präsentierte, wenn er ihr auf gleichem Fuß als kunic gegenübersitzt. Sie sucht es herauszufinden, indem sie durch Nachfrage überprüft, was sie sieht, doch kommt sie nicht weiter. Zunächst sucht sie im Dunkel (Diu lieht begonde bergen des edeln küniges hant, 633,1) sich über Günthers Rolle bei der Werbung Klarheit zu verschaffen. Was sie über seine Stärke erfährt, widerlegt anschaubar das, was in Isenstein zu sehen war - würde es ans Licht (639,3) kommen. Den Anblick eines hilflos an der Wand hängenden Königs muß Günther bei Tagesanbruch löschen, zuerst indem er scheinbar nachgibt, dann indem er Prünhilt ihre Kraft raubt. Dazu muß noch einmal Sivrits Stärke unter Günthers Gestalt agieren. Der Betrug wird wieder als Entzug von Sichtbarkeit vollzogen. Die Tarnhaut verdeckt die Gestalt, entzieht sie den Blicken, und übergangslos ist der darunter Verborgene , nicht mehr da'. Wenn Sivrit Günther im Ehebett vertreten soll, entfernt er sich urplötzlich von Kriemhilt, ohne daß sie merkt, wie.'9 Zuerst entschwindet er ihren Augen, und folglich fühlt sie ihn dann auch nicht mehr: si trüte sine hende mit ir vil wi^en hant, er ir vor den ougen sine wesse wenne verswant.l° Do si mit im spilte unt si sin niht mer ensach, %uo sinem gesinde diu küneginne sprach: „mich hat des michel wunder, war der künic si körnen. wer hat die sinen hende ü% den minen genomen?" Die rede si lie beliben. do was er hin gegan [...].
(661,3-663,1)
Bis dahin hatte man nur akustisch den Eindringling wahrgenommen (492,2; 492,4; 493,1; vgl. 498). Ohne Basis im Text ist Anderssons (1987) Auffassung, Sivrits Identitätstausch sei ,parodistisch', Kriemhilt spiele in einem „joke" mit und Sivrit führe „dramatic charades for his own amusement" auf (S. 87). Der Redaktor von *C glättet den Vorgang, indem er diesen Vers durch einen anderen ersetzt, der an Sivrits Verpflichtung gegenüber Günther erinnert; die folgende Strophe (662) läßt er ganz weg und fährt, ohne sich auf die näheren Umstände des Verschwindens einzulassen, fort: Er stal sich von den frowen. vil tovgen chom er dan; vgl. C 668,i statt 663,1 (nach AB). 260
Politik der Blicke
Der Tastsinn folgt dem Gesichtssinn. Wenn Sivrit anstelle Günthers zu Prünhilt in die Kemenate kommt, muß die Abwesenheit seiner Gestalt, die Prünhilt doch spüren soll, aber nicht sehen darf, selbst noch einmal verdeckt werden, ebenso wie die Anwesenheit Günthers nicht bemerkt werden darf, den Prünhilt sehen könnte, aber nicht tasten wird. Sivrit, schon unsichtbar, löscht noch die Lichter der Kämmerer, die Günther zu Bett begleiten (663,$)." Damit nicht genug: Günther schickt Prünhilts Mägde und Hofdamen weg, verriegelt selbst die Tür mit zwei Riegeln und macht es ganz dunkel: Diu lieht verbarc er schiere under die bettewat.
(665,1)
Die dreifache Löschung der Sichtbarkeit weist auf die Potenzierung des Werbungsbetrugs. Erst jetzt im völligen Dunkel kann Sivrit seine Körperkraft gegen Prünhilt einsetzen. Wieder geschieht das so, daß er gebarte sam e% wäre Günther der künic rieh (668,i), indem er kein anderes Körperzeichen gibt, das ihn verraten könnte: Do hat er sine stimme, da^ er niht ensprah.
(667,1)
So ist er nicht zu erkennen, obwohl Prünhilt seine körperliche Präsenz zu spüren bekommt. Wenn er sich nach seinem Sieg zurückzieht, um Günther im Bett Platz zu machen, sucht er immer noch den Schein zu wahren, sam er von im stehen wolde siniu kleit (679,2). Die Wahrnehmung dieser Kleider durch den Tastsinn war nicht durch die Tarnhaut getrübt. Der Tastsinn gibt, wie vorher bei Kriemhilt, zwar eine zuverlässigere Wahrnehmung, ohne den Gesichtssinn aber kann er nichts ausrichten, weil er nicht die Wahrnehmung einzelmenschlicher Besonderheit erlaubt. Im Dunkel des Kampfes mit Prünhilt, in dem Sivrit wieder alle Körperzeichen unterdrückt, ist er, solange er nicht gesehen wird, für Prünhilt nicht da. Der besorgt lauschende Günther wird durch die Geräusche darüber beruhigt, da^ heimlicher dinge von in da nihtgeschach (667,3). Weil aber Sivrit unter seiner tarnhüt präsent ist und Zeichen dieser Präsenz mitnimmt," ergeben sich unauflösbare Zweifel, welche Realität denn nun gelten soll. Bei Günthers Werbung ist Sivrit ein Fremd-Körper, der aufwendig zum Verschwinden gebracht werden muß, zuerst nur visuell, später, als der Betrug nicht länger verborgen werden kann, wirklich. Im Kern der Intrige steht der Kampf um das, was sichtbar ist und daher Geltung beansprucht.
Politik der Blicke Was gesehen werden kann und gesehen wird, ist also manipulierbar. Sichtbarkeit ist ein Machteffekt. In der Verteilung der Blicke bildet sich ein Machtspiel ab. Blicke Das ist auch als Zeichen mit Günther vereinbart. Vgl. S. 2 7 2f.
261
Die Trübung der Sichtbarkeit
werden kontrolliert, mit Blicken macht man Politik. Nicht jeder darf alles sehen. Die Verteilung von Blicken spiegelt den Rang der Protagonisten und ihr Verhältnis zueinander. Die Formel , jemanden gerne sehen"3 schreibt dem Blick ein hierarchisches Verhältnis ein, denn der, der , gerne sieht', bestimmt, wessen Nähe ihm erwünscht ist und warum. Über den Anblick verfugen signalisiert Macht. Ein mächtiger Herrscher heißt der, der viele Recken oder gar Könige ,vor sich sieht' (1391,3). Der Blick aus der Nähe bedeutet Nähe zur Macht, etwa wenn Gotelint zu Kriemhilt beim Empfang im Hiunenland sagt: nu wol mich, liebiu vrouwe, da% ich iuwern scheinen lip ban in disen landen mit ougen min gesehen. (1313,2 f.) si ir vrouwen sahen, da von engerten si niht mir.
(i 342,4)
Der Blick verspricht Gunst: sol ich gesunt beltben und Botelunges kint, e% mag m kamen %u liebe da^ ir mich habt gesehen.
(13 14, 2 f.)
Einander ,gerne sehen' zeigt soziale Integration an: die Hute in sähen gerne (24,2), heißt, daß Sivrit ein Mittelpunkt des Xantener Hofes ist. Der Ausdruck bezeichnet intakte Beziehungen.24 Deshalb will Sigemunt mit Sivrit nach Worms kommen: sit da% iuch min sun Sifrit %e vriunde gewan, do rieten mine sinne, da% ich iuch solde sehen.
(7 90, 2 f.)
Den gleichen Wunsch hat Etzel: ir'n kündet iuwer vriunde so gerne niht gesehen als ich si gestehe, der edeln Voten kint. mich müet da% harte sere, da% si uns so lange vremde sint.
(1406,2-4)
Nicht-sehen erregt den Verdacht, daß Beziehungen gestört sind. Etzel frage sich, so sagen seine Boten in Worms, ob ir iuch iuwer swester niht sehen woldet lan, so wold' er doch gerne wiegen n>a% er iu hete getan, Da^ ir in also vremdet und auch siniu lant. ob iu diu küneginne wäre nie bekant, so mäht' er doch verdienen da% ir in ruochet sehen.
(1448, 3-1449,3)*'
Indem sie ihre Brüder dem Blick ihrer neuen Untertanen ausstellt, macht Kriemhilt ihren königlichen Rang sichtbar; andernfalls könnten die Hiunen wcenen da% ich am vriunde si (1416,3): 15 24 1S
Vgl. Müller (1987), S. 232-238. 750,4; vgl. 794,4; bis hin zur Liebe: 547,4! vgl. S. 315 und Althoff (1997), S. 296. Etzel beruft sich auf eine allgemein akzeptierte Regel; seine Botschaft ähnelt also gerade nicht einer „Vorladung" (so Schröder, 1989, S. 22) - welche Sanktionsmöglichkeiten hätte es übrigens gegeben? 262
Politik der Blicke ich hän vil hoher mage; dar umbe ist mir so leit da^ mich die so selten ruochent hie gesehen. ich hare min di Hute niwan für eilende jehen. (1403,2—4)
Sehen dürfen umgekehrt ist ein Privileg, das nicht jeder genießt, Sivrit z. B. noch nicht, auch wenn er in den Wormser Hof aufgenommen wird. Er ist bloßes Objekt der Blicke Kriemhilts und ihrer Frauen (133,3). Das Machtspiel um Blicke hat begonnen. Sivrit ist zwar ,gern gesehener' Gast des Hofes (128,4) - *n sack vil lüt^el iemen der im wäre geha^ (129,4) -, doch ist er auf das Wohlwollen derer angewiesen, die über Kriemhilts Anblick verfügen. Wer gesehen wird, aber nicht selbst sehen darf, ist vom Blick des anderen abhängig. Die Abhängigkeit des Blicks zieht weitere Abhängigkeiten nach sich. Sivrits Wunsch, Kriemhilt zu sehen, bleibt volleclich ein jar unerfüllt, da^ er die minneclichen die %ite niene gesach (138, 2f). Ihm ist selbst die Tatsache ihrer interessierten Blicke verborgen: Wess' er da^ in sähe die er in herben truoc, da het er kur^ewtle immer von genuoc. sahen sie siniu ougen, ich ml wol wiegen im in dirre werlde künde nimmer werden ba%.
(134)
Der Zweifel, ob er si gesehen mähte (260,2), und die vergebliche Hoffnung, da% ich die mage t edele mit ougen müge sehen (136,2), versetzen ihn in den minnetypischen Zustand des trüren (136,4), den er durch Taten für die Könige und den Hof zu überwinden hat. Nach seinem Sieg im Sachsenkrieg bleibt es zunächst bei der eingespielten Hierarchie der Blicke: da gie an diu venster vil manec scceniu meit. si warten uf die strafe [...]. (243, zf.)
Kriemhilt kann den Sieger sehen, bleibt ihm aber verborgen. Das ändert sich erst beim Siegesfest. Jetzt benutzen die Könige den Blick ausdrücklich als Machtinstrument. Die Krieger sollen damit belohnt werden, daß sie die Frauen zu sehen bekommen, an ihrer Spitze Kriemhilt: lasset iuwer swester für iuwer geste gan.
(274,3)
Das für (,vor') drückt aus, daß die Distanz zwischen Zuschauern und dem preziosen Objekt des Begehrens gewahrt bleibt. Von einer kemenaten sah man si alle gan.
(280,1)
Wenn die Frauen erscheinen, wird ein leerer Raum um sie hergestellt wie eine Aureole: Die mit den frouwen giengen, die biegen von den wegen wichen allenthalben, da^ leiste manec degen. (287,1 f.)
263
Die Trübung der Sichtbarkeit
Kriemhilt ist wie eine ferne Lichterscheinung: Nu gie diu minnecliche also der morgenröt tuot ä% den trüeben wölken [...]. (281,1) Ja lühte ir von ir wette vil manec edel stein. Sam der liebte mäne vor den Sternen stat, des sein so lüterltche ab den wölken gat.
(282,1)
(28 3,1 f.)
Eine solche kosmische Erscheinung wird , gewissermaßen:
unten* angestaunt, , angehimmelt'
si was da %e ougenweide vil manegem recken erkörn.
(300,4)
Über die Metaphorik wird eine Rangordnung zwischen Sehenden und angeschautem Objekt hergestellt. man sach in hohen Buhten manec herltche^ wip. er sach die minneclicben nu vil herlichen st an. da% er %e dirre werlde het iht scaners gesehen.
(287,4) (281,4) (282,4)
Sivrit wird zu Kriemhilt erhoben werden müssen. Noch ist der Blick kollektiv, Alle drängen sich, da^ si die maget edele solden vraliche sehen (280,4), und dabei trägt jeder Sorge, da^ er an %e sehenne den frouwen wäre guot (277,2). Die Zuschauenden wünschen, selbst Objekt interessierter Blicke zu sein. Die Asymmetrie soll aufgehoben werden. Dies gelingt nur Sivrit. Sein Übergang in die Nähe Kriemhilts wird vorbereitet, wenn er selbst vom Subjekt zum Objekt der Blicke wird: Do stuont so minnecltche da% Sigmundes kint, sam er entworfen wäre an ein permint von guoten meister s listen, als man im jach, man helt deheinen nie so scanen gesach. (286)
Wie zuvor die Lichterscheinung der vrouwe wird auch das Kunstwerk des jungen Ritters den anderen bei Hof entrückt. Man kann ,sehen', daß Sivrit von gleichem Rang wie Kriemhilt ist. Die Erlaubnis des Blicks aus der Nähe soll ihn auszeichnen. Bisher waren es alle, die Kriemhilt sehen durften. Niemandes Blick war gegenüber dem des anderen bevorrechtigt, und niemand wurde durch einen Blick der Damen vor den anderen vor allen disen recken (288,4) - belohnt. Der Gruß vor aller Augen ist Teil höfischen Zeremoniells: Sivrit soll %e hove gän (290,3).
264
Politik der Blicke Der herre in sinem muote was des vil gemeit [...] er sehen solde der sccenen Voten kint. (291,1; 3)
Dieses Sehen bedeutet Nähe, gemessenen Gruß, Berührung der Hände, zeremoniellen Kuß, schließlich feierliche Anrede. Bis zu diesem Punkt sind Blicke und Gesten vor allen ausgestellt. Erst jetzt öffnet sich für Sivrit eine Sphäre, die den anderen entzogen ist. Der Blick geht hin und her, statt daß nur der eine die andere anstaunt (do begund'er minmcliche anfroun Kriem bilden sehen, 303,4): mit lieben ougen blicken ein ander sahen an der herre und auch diufrouwe da% wart vil tougenlicb getan.
(29 3, 3 f.)
Zum heimlichen Blick kommt die heimliche Berührung, von der niemand etwas weiß, ja von der nicht einmal der Erzähler etwas zu wissen behauptet: Wart iht da friwentltche getwungen wi^tu hant von herben lieber minne, da^ ist mir nihf bekant. doch enkan ich niht gelouben da^ e% wurde lan. (294,1—3)
Indem die Kompetenz des allwissenden Erzählers, der Sprachrohr der Sage ist, zurückgenommen wird, wird ausgedrückt, daß hier ein Raum jenseits heldenepischer Transparenz sich öffnet. 26 Die Auszeichnung durch Nähe trennt Sivrit von den anderen und weckt ihren Neid: bey war' mir sam gescehen, da^ ich ir gienge enebene, sam ich in ban gesehen, oder bi %e ligene! da% lie^ ich äne ha%. (296,1-3)
Die Wendung gienge enebene meint , neben', auf gleicher Höhe.27 Dabei bleibt die wörtliche Bedeutung präsent: Sivrit ist zu Kriemhilt heraufgehoben und darf an ihrer Seite gehen. Die vertikale Ausrichtung des Blicks ist durch die horizontale ersetzt, und dies zeichnet Sivrit vor den anderen aus. Die Nähe, die ihm gestattet ist, ist der genauen Wahrnehmung des Hofes entzogen, kann aber von allen von weitem angeschaut werden. Bezeichnend ist, daß die Wünsche, die sich jetzt über Sivrit auf Kriemhilt richten, nicht nur irgendeiner vertrauten Nähe gelten, wie sie Sivrit jetzt genießt, sondern daß sie weitergehen und die verbotene ,heimliche' Nähe des Beiliegens imaginieren. Durch Sivrits Auszeichnung dirigieren die Könige die Blicke der anderen: die namen al gelicbe niwan ir -^weier war.
z6
(297,2)
Grenzler (1992), der die Szene ausführlich paraphrasiert, spricht von ,,eine[r] weitere[n] Form zeremoniellen Austausche", die „der höfischen Öffentlichkeit verborgen" bleibe (S. 179). Entscheidend ist aber gerade, daß diese Blicke nicht mehr zeremoniell sind; sie gehören einer anderen Sphäre an. de Boor, Kommentar S. 55. 265
Die Trübung der Sichtbarkeit
Und die Botschaft wird verstanden, daß die Auszeichnung ,verdient' werden mußte, oder wie der König von Tenemarke es sarkastisch ausdrückt: diss vil hohen gruo^es lit maneger ungesunt (des ich vil wol enpfinde) von Sivrides hant.
(298,21".)
Jetzt erscheint nicht mehr Kriemhilt allein in unnahbarer Ferne; der Hof weicht jetzt vor beiden zurück (299,1). Für den Rest des Festes ist Sivrit an Kriemhilts Seite und bewegt sich ,vor* den übrigen Burgonden; er ist über die anderen hinausgehoben: Inre tagen %welven, der tage al iesltch, sah man bi dem degene die maget lobeltch, so si %e hove solde vor ir vriwenden gan.
(305,1-3)
Die Politik der Blicke hat Erfolg: Als Sivrit, neuerlich an seinem Ziel verzweifelnd, den Hof verlassen will, stellt Giselher ihm in Aussicht: hie ist vil scaner frouwen, die sol man iuch gerne sehen lan.
(321,4)
Der Blick wird freigegeben. Sivrit bleibt, da er nu tägeliche die scomen Kriemhilden such (323,4). Immer noch aber bedarf es eines Vermittlers, wenn er sich Kriemhilt nähern will. Wenn er mit Günther nach Isenstein aufbrechen will, müssen der König und sein Gast um die Nähe eines Gesprächs eigens nachsuchen: Do enbot er siner swester da^ er si wolde sehen [!] und auch der degen Sivrit. (3 47,1 f.)
Und wenn Sivrit als Bote das erfolgreich bestandene Abenteuer in Worms melden soll, muß er Giselher bitten, ihm Zugang in die Nähe Kriemhilts zu verschaffen: Ir suit da^ ahten schiere, swie so da^ geschehe, ich die küneginne unt iwer swester sehe [! ] .
(546, if.)
Immer noch wird der Auftritt %e hove (550,2; 551,2) höfisch inszeniert, durch festliche Kleidung (347,3; 348,1; 551,1) und zeremoniöse Rede (349,1; 552,1) und ist von formeller Erlaubnis abhängig: diu magt siht iuch gerne: des wil ich iuwer bürge sin (547,4). Der Blick aus der Nähe bleibt ein Privileg, das man verdienen muß. Im Rahmen dieser zeremoniell lizenzierten Nähe kann man dann andere Blicke wechseln (Friwentliche blicke und güetliche^ sehen, 353,1), und was zeremoniell vorbereitet ist, bekommt für die Beteiligten eine persönliche Bedeutung, want er si gerne sach (5ji,3). 2 8 Erst mit der öffentlichen Vermählung werden die Blicke aus dem Machtspiel herausgenommen und können sich offen zeigen: Von lieber ougen blicke wart Sif rides varwe rot.
28
(614,1)
Vgl. die güetliche[] Rede (551,4), die Mimik (561,4), das Verlangen nach dem (zeremoniellen) Kuß. 266
Verwirrung der Blicke
Verwirrung der Blicke Auch in Isenstein versucht man, Politik mit Blicken zu machen. Bei der Ankunft Günthers und seiner Gefährten gibt es sogar ein Tauziehen, wer sehen darf und wer sich den fremden Blicken darbietet. Anfangs ist - im Vergleich mit Sivrits Auftritt in Worms - die Richtung der Blicke vertauscht. Sivrit hatte sich das fremde Worms im Zweikampf mit Günther aneignen wollen, aber das mißlang, und dem entsprach die Verteilung der Blicke bei seinem Auftritt: Da wurde er von oben taxiert, während ihm der Blick auf Kriemhilt, das Ziel seiner Fahrt, lange entzogen blieb. Auch Prünhilt und ihre Frauen stehen zwar oben in den venstern (389,3) und schauen her nider (390,3), doch erzählt wird zunächst der Blick von unten nach oben, der der Ankömmlinge auf die Burg und ihre Bewohnerinnen. Günther kann sie taugen*** betrachten (391,1) und unter ihnen sich seine Frau wählen. So sihe ich ir eine in jenem venster st an, in snewi^er wcete, diu ist so wol getan, die welent miniu ougen durch ir scanen lip.
(392,1-3)
Sivrit bestätigt ihm: Dir hat erweit vil rehte diner ougen schin.
(393,0
Das ist der taxierende Blick der Wormser Hofgesellschaft, die sich die Welt von Isenstein in der Person der Königin aneignen wird. Erfolg und Mißerfolg sind in der Verteilung der Blicke konfiguriert. Prünhilt sucht den prüfenden Blick der Ankömmlinge zu unterbinden, und deshalb müssen die Positionen des Sehens und Gesehenwerdens ausdrücklich (und für den Handlungsverlauf scheinbar höchst entbehrlich) vertauscht werden. Prünhilt sucht die ,richtige' Verteilung der Blicke erst herzustellen, indem sie ihr Gefolge den Blicken der Fremden entzieht. Sie sollen nicht Beute der fremden Blicke sein: Do hie% diu küneginne u% den venstern gan ir herliehe mägede. sin' solden da niht stan den vremden an %e sehene. (394,1-3)
Jetzt, paradoxerweise also, wenn sie nicht mehr gesehen werden können, legen die Frauen für die unkunden Ankömmlinge Festgewänder an (395,1). Sie treten an diu engen venster, aus denen sie nun ihrerseits ungesehen die Fremden beobachten können (395,3): da si die beide sähen; da% wart durh schouwengetan (395,4). Warum bedarf es des Umwegs und Prünhilts Gebots? Offensichtlich ist umstritten, wer wen mustern darf. Prünhilt sucht aus der Defensive herauszukommen. 29
In C 400,2 ist taugen, da zur Situation nicht recht passend (oder allenfalls, weil es um minne geht) durch von hinnen ersetzt. 267
Die Trübung der Sichtbarkeit
Nachdem die Blickrichtung einmal umgedreht ist, bleibt den Wormsern der Blick ins Innere der fremden Welt verwehrt (404). Sie selbst sind Objekt der fremden Blicke: doch wart michel schouwen an die küenen getan (408,4), durch die recken Prünhilts wie durch ihr weibliches Gefolge: e% wolden sehen die geste diu vil watlichen wtp (417,4). Für Prünhilt und ihre Frauen, die, selbst ungesehen, die Ankunft der Fremden betrachten, wird mit Sivrits Zügel- und Bügeldienst ein Schauspiel inszeniert, das ihnen Auskunft über die Rollenverteilung bei dem Unternehmen geben soll. Sivrits Zügeldienst für Günther soll diesen vor einem Publikum von Damen (da^ sähen durch diu venster die vrouwen schosn' unde her, 398,4) als König und Werber auszeichnen, und so versteht den Vorgang auch Günther, obwohl er es besser weiß (396,4): des dühte sich getiuret des künec Guntheres lip (396,4). Die Inszenierung hebt Günther über Sivrit empor und steigert seine ere; daß er es sich gefallen läßt, ist sein Anteil an der Dienstmannenlüge. Doch obwohl man von Isenstein aus alle^ beobachtet (396,3; 398,4), auch Prünhilt (401,4), sehen die Frauen nicht, was sie sehen sollen, weder die Inszenierung der Unterordnung noch die Zeremonie der Gleichheit, die ihr vorausging.30 Das höfische Schauspiel mit seiner doppelten Botschaft - Vorrang des einen innerhalb der exklusiven Gleichheit der Hofgesellschaft - ist an Prünhilt verschwendet.'1 Indem sie bestimmt, wer sieht und wer sich sehen lassen muß, gelingt es ihr zwar, die gewöhnliche, ihrem Rang entsprechende Ordnung der Blicke herzustellen. Doch mißlingt die Organisation des Blickes, indem sie trotz dem, was sich vor ihren Augen abspielt, die Bedeutung der Szene, die die Burgonden inszenieren, verkennt. Ihr Irrtum zeigt ein grundsätzlicheres Verkennen der Welt an, in die man sie verpflanzen will. Prünhilts Blick richtet sich auf ein unverständlich Fremdes.52 Die anfängliche Blickrichtung war .verkehrt', indem nicht die Ankömmlinge sich den Blicken des Hofes darboten, sondern Prünhilt und ihr Gefolge den Ankömmlingen, und doch ist sie in einem anderen Sinne ,richtig', denn die Fremden bemächtigen sich des Landes. Nach der Korrektur der Positionen mißlingt trotzdem das Sehen und die Interpretation des Gesehenen, und doch gelingt sie wiederum in einem anderen Sinne: Indem sie die Inszenierung der Dienstmannlüge nicht wahrnimmt, schätzt Prünhilt die Situation und Sivrits Rolle darin richtig ein. Die Blindheit der einen Seite fordert das Blendwerk der anderen heraus, und die wechselseitige Verblendung wird sich bis zur Wormser Mordintrige fortsetzen. Wenn Sivrit mit dem ritterlichen Gefolge aus dem Nibelungenland kommt, schreiben die 30
Panzer (1945), S. schreibt, was bis heute communis opinio ist: „Die Damen ziehen aus dem Geschauten den Schluß, daß Günther der ,herre\ Siegfried ,stn man1 ist. Siegfrieds List ist also gelungen; das Gefolge in der Burg weiß Bescheid in dem von den Helden gewünschten Sinne" - davon steht allerdings nichts im Text. Dort erfährt man nur, daß Prünhilt nichts weiß, keine Rede von den ,Schlüssen' ihres Gefolges. '' Anders Wenzel (1992), S. ^ j f . ^ Vgl. S. 324 zur Raumdisposition. 268
Verwirrung der Blicke
Frauen (diu minneclichen kint, 508,1) seinen prächtigen Auftritt wieder Günther zu. Sie sehen jetzt, was sie sehen sollen und was Günther ihnen versichert: e% sint mine man (509,1). Das ganze Arrangement der Lüge setzt sich fort. Was in Isenstein schließlich alle zu sehen und anzuerkennen gezwungen sind, läßt sich, wie sich in Worms erweist, nicht mehr ohne weiteres aus der Welt schaffen. Das Kriterium der Evidenz bindet Wahrheit zwar an einzelne anschaubare Situationen, doch können diese miteinander verglichen werden. Die Präsenz des einen wird durch die Präsenz des anderen nicht gelöscht. Prünhilt erinnert sich, und das bedeutet, daß ihr Blick und der der anderen nicht mehr übereinstimmen. Bei Prünhilts und Günthers Hochzeit ist noch alles in Ordnung. Günther und Prünhilt bieten sich gekrönt den Blicken dar (604,2): do sach man. Doch dann wird die Zeremonie unterbrochen, damit Sivrit seinen Lohn, die Hand Kriemhilts, erhalten kann. Beider Vermählung erfolgt regelgerecht wieder vor aller Augen (vor beiden, 616,4) - außer denen Prünhilts." Prünhilt wird als Augenzeugin, wenn das Paar vor dem königlichen Gefolge auftritt (da stuonden riffer edele von maniger fürsten lant, 611,2), ausdrücklich entfernt (611,4). Der allgemeine Blick54 (an da^ gegensidele man Sifriden sah /mit Kriem bilde sitzen, 6i7,2f.) und die Sicht Prünhilts differieren jetzt, was die nahezu wörtliche Wiederholung akzentuiert: da sah si Kriemhilde (do wart ir nie so leit) hi Sifride sitzen: weinen si began. (6i8,2f.)
Nicht mehr Sivrit sitzt bei seiner legitimen Frau, sondern Kriemhilt sitzt bei einem Mann, den Prünhilt für inferior hält: die sihe ich sitzen nahen dem eigenholden din. muo^ ich immer weinen, sol si also verderbet sin.
(62o,3f.).
Der heraufziehende Konflikt kündigt sich in der Trübung des Blicks an, den Günther bemerkt: da^ ir so lä^et truoben vil Hehler ougen schin.
(619,2)
Die Tränen der Königin (620,1) machen die Störung öffentlich, doch eine öffentliche Erörterung des Streits wird von Günther unterbunden: ir mügt wol stille dagen. / ich wil iu Rändern %iten disiu mure sagen (621,1 f.). Das Kräftemessen, das darüber entscheiden soll, wer von wem Auskunft verlangen darf, verliert Prünhilt. Die .andere Gelegenheit' (Rändern tyteri), auf die Gun" Sie wird - in einer Zusatzstrophe in C - von allen gebilligt: do sprachen! al geliche: „st mag in wol mit eren A«w."(C6i6,4). 14 Salmon (1976), S. 3i6f. weist zurecht daraufhin, daß allein Prünhilt sich über Sivrits Stand täuscht, denn die burgondischen Zeugen der Szene in Isenstein wissen es besser. In C 626,1 wird dies ausdrücklich gemacht. Sie kennt die Abmachungen nicht (Sine ivesse niht der märe > man da wolde tvri). 269
Die Trübung der Sichtbarkeit
ther Prünhilt vertröstet, wird es nie geben. Der weitere Disput bleibt den Blicken entzogen, findet im ehelichen Schlafzimmer (635,4) statt, wo nichts geklärt wird, und dann in einer nicht näher lokalisierten Folge von .heimlichen' Gesprächen mit Günther. Sie sind ,ortlos', weil sie nirgends einen legitimen Platz haben: si reite^ heinliche, des si da bete muot (726,3). Der Kasus wird aus der transparenten Sphäre legitimen Handelns abgedrängt. Der Streit wächst sich zuerst zu einem Streit um Günthers Ehre als König aus; der offenkundigen Schande vor seinen kamemre entgeht er nur knapp und um den Preis, daß er das Ziel der ganzen Unternehmung um Isenstein aufgibt; bei der Festkrönung am nächsten Tag ist, was ,man sieht' (645,4), bloße Fassade, die beim anschließenden Fest zusammenbricht. Es ist eine fatale Lösung, daß - mit Sivrits Hilfe - der Kampf um den Augenschein im Dunkel entschieden werden soll.
Worte und Zeichen I: Sivrits Trophäe Im Zusammenhang mit dem Betrug an Prünhilt hat Wenzel vom „Untergang einer verläßlichen Zeichenwelt" gesprochen.35 Die Zeichen sind mehrdeutig. Zeichen sind seit je manipulierbar und werden manipuliert, nur gibt es im .Nibelungenlied* keine Instanz, vor der dies eindeutig an den Tag treten könnte. In Situationen mündlicher Verständigung gelten Zeichen für die Dauer ihrer Präsentation jeweils absolut, können von anderen nur abgelöst oder verdrängt werden, und so treten sie im ,Nibelungenlied' auf. Im schriftlichen Text dagegen ist das Zeichen aus seinem primären Kontext gelöst; es muß interpretiert werden; damit wird aber die „kontextuelle Beschreibung der jeweiligen Zeichenverwendung" erforderlich. Das Zeichen erscheint von vorneherein vor dem Hintergrund konkurrierender Geltung anderer Zeichen.'6 Das ,Nibelungenlied' reflektiert den unterschiedlichen Modus des Zeichengebrauchs, indem es von der Verwirrung der Zeichen in einer Welt ohne Schrift erzählt, doch so, daß die Schriftlichkeit des Buchepos dem Rezipienten die Verwirrung zu durchschauen erlaubt. Der Hörer erfährt von Sivrits Dienstgebärde in Isenstein, anders als die Zeugen der Szene, vor dem Hintergrund dessen, was ihm zuvor mitgeteilt worden ist, und er weiß deshalb, daß sie Betrug ist. Dasselbe gilt für die, die in Worms und Isenstein dabei waren, für Günther und seine höfischen Begleiter,57 während Prünhilt " Wenzel (1992), S. 341; vgl. zur Kritik am „Symbolschematismus der Zeit" schon G. Müller (1975), S. no. )6 Wenzel (1992), S. 329: Die Schrift ermöglicht „mit der Fortführung oraler Traditionen [...] nicht nur die Konservierung des vorliterarischen Zeichenrepertoires [...], sondern auch die kontextuelle Beschreibung der jeweiligen Zeichenverwendung". '7 Sivrit ist auch „für die nibelungische Öffentlichkeit" (gemeint ist: den Wormser Hof) „weder eigen noch man" (Dinkelacker, 1990, S. 88). 270
Worte und Zeichen I: Sivrits Trophäe
und ihre Leute hilflos dem ausgeliefert sind, was sie gesehen und gehört haben. Wenn man beim Wettkampf mit Prünhilt ander niemen wan Günther den degen sieht (465,2), dann gilt für die Zuschauer eine andere Realität als für die Hörer. Prünhilt und die übrigen Augen- und Ohrenzeugen von Sivrits Inszenierung blicken nicht über die Szene hinaus und werden daher vom entgegengesetzten Augenschein hier und dort verwirrt. Erst recht gilt das, wenn das, was man sieht, selbst widersprüchlich ist, wie Günthers Auftreten nach der Hochzeitsnacht,58 oder wenn Zeichen und Worte einander widersprechen oder bei nächster Gelegenheit widerrufen werden. Zeichen funktionieren immer nur in einem bestimmten sozialen Rahmen mit bestimmten Konventionen, in Isenstein anderen als in Worms.59 Und eben dies muß Prünhilt erfahren, wenn der, der sich als untergeordnet gezeigt hat, jetzt als gleichgeordnet auftritt. Es gibt seit dem Betrug auf Isenstein zwei Realitäten. Was Günther in Worms versichert und was Prünhilt sehen kann, kollidiert mit ihrem Wissen von dem, was sie in Isenstein gehört und gesehen hat. Worte und Zeichen stimmten untereinander zwar jedesmal überein, aber was sie das eine und das andere Mal besagten, deckt sich nicht. Durch Rede Gewißheit zu erlangen, ist Prünhilt verbaut. Bleiben die Zeichen. Was sie sieht, ist mit dem, was man ihr und allen anderen verkündet hat (jeheri) und was sie daher zu wissen glaubt, unvereinbar. Sie hält sich an die Worte von damals. Indem sie sie mit den Zeichen für Sivrits Herrenstatus jetzt vergleicht, muß sie eine Wahl treffen. Sie wählt die Version, die für ihre Rolle als Königin und Frau Günthers die einzig mögliche ist, und sie erprobt die Wahrheit dieser Version, indem sie ihre Konsequenz, die Unterwerfung unter Günther, probeweise noch einmal zur Disposition stellt. Diese Probe (die es nicht geben dürfte, würde das, was sie in Isenstein hörte, zweifelsfrei gelten) geht negativ aus: Der angebliche Sieger von Isenstein muß sich an einen Nagel im Schlafgemach hängen lassen. Das ist schwerlich der König, der Sivrit zum gefährlichen Unternehmen in Isenstein zwingen konnte. Die Wiederholung der Probe in der folgenden Nacht widerlegt jedoch dieses Ergebnis, so daß die Folgerung wieder offen ist. Da der Betrug wiederholt wird, kann Prünhilt den Widerspruch zwischen Zeichen und Worten nicht aufklären. Die zum zweiten Mal bezwungene Prünhilt bestätigt: ich hän da^ wol erfunden, da^ du kanst vrouwen meister sin (678,4). Nur richtet sie unwissentlich ihre Worte an Sivrit, den falschen Mann; denn Günther ist dieser vrouwen meister nicht. Für Prünhilt hat sich also ein weiteres Mal die (falsche) Version von Isenstein bestätigt, aber Sivrits befremdlicher Status als Mann der Schwester des Königs ist damit immer noch nicht geklärt. '" )9
Vgl. S. 212f.
Wenzel (1992), S. 3 3 5 . 271
Die Trübung der Sichtbarkeit
In Frage gestellt wird damit aber ein fundamentales Prinzip der Geltung von Wahrheit: Das, was man sehen kann - Sivrit herrscht als König -, und das, was gesagt wurde - er ist Günthers man -, muß übereinstimmen. Die Anzeichen liegen auf der gleichen Ebene; eine Entscheidung scheint unmöglich, denn es gibt keine Instanz, die hinter Rede und Gebärde die wahren Umstände aufzuspüren erlaubte. Die Aufdeckung des Betrugs vollzieht sich nicht als Entzifferung von unwillkürlichen Symptomen, von dementierten Indizien, die auf verborgene Antriebe weisen und die die offen vorgebrachten Worte und Zeichen Lügen strafen. Es gibt keinen durchgehenden, die wahren Verhältnisse mehr oder minder geschickt dissimulierenden Text. Vielmehr werden zwei miteinander unvereinbare Bilder der Realität übergangslos einander konfrontiert. Eine der beiden Realitäten muß wahr sein, denn es besteht unbezweifelbar der Anspruch, daß das, was alle sehen, und das, was alle hören, übereinstimmt und gilt. Konkurrierende Bilder von Realität kann es dann nur als manifesten Betrug geben. Was sich im Dunkel der Kemenate zwischen Prünhilt, Sivrit und Günther abgespielt hat, bleibt verborgen und ist deshalb der Prüfung entzogen. Nicht einmal die Akteure können etwas sehen. Ihre Wahrnehmung ist beschränkt und unzuverlässig. Günther kann immerhin hören, daß Sivrit sich an die Abmachung hält (667,2; 676,2), während Prünhilt glauben muß, von Günther überwältigt zu werden. Aber die sichtbaren Zeichen, Ring und Gürtel, die Sivrit mitnimmt, stoßen Prünhilt erneut auf ihren Irrtum.40 Wieder fallen Wahrnehmung und Zeichen auseinander. Das Zeichen weist auf Sivrits Sieg im nächtlichen Kampf und widerlegt seine (persönliche und ständische) Unterlegenheit. Was dagegen Prünhilt wahrzunehmen glaubt, spricht für die Überlegenheit Günthers und als Konsequenz für die Wahrheit der Behauptung, Sivrit sei sein man. Was man ihr zeigt, sagt das Gegenteil. Das Verhältnis von Zeichen und Realität ist dabei dem in Isenstein entgegengesetzt. Sprach in Isenstein das Zeichen (die Gebärde) für Günther, obwohl Sivrit die were gehörten, so sprechen jetzt Gebärde (Er gebarte sam e^ wäre Günther der künic rieb, 668,i) und Zeichen (der Ring und der Gürtel) für Sivrit, obwohl Günther die wen vollbringt. Sivrit nimmt das Zeichen, dem keine Realität entspricht, während er zuvor auf die reale Trophäe seines Sieges verzichtet hatte, damit sie Günther zufiel. Die Situationen sind also symmetrisch, die Positionen vertauscht. Beide Male ist das, was man sehen kann, objektiv falsch, doch beide Male erhält es durch den Kontext Verbindlichkeit. Wenn nämlich Kriemhilt Prünhilts Ring und Gürtel öffentlich vorzeigt, ist deren rechtliche Bedeutung (Sivrit hat Prünhilt ,besessen') nicht bezweifelbar, obwohl nach Aussage des Erzählers unzutreffend; 4
° „Ring und Gürtel [fungieren] als Memorialzeichen im Sinne der Bezeugung eines Rechtsanspruchs: der Ring als Zeichen der Bindung, der Gürtel als Zeichen der Lösung, beide zusammen als Zeichen der unehelichen Preisgabe Brünhilds an Siegfried" (Wenzel, 1992, S. 332). Mit dem Gürtel wurde Günther überdies von Prünhilt gefesselt; er ist also Zeichen dafür, wer im Geschlechterkampf die Oberhand behält.
Worte und Zeichen 1: Sivrits Trophäe
und wenn Sivrit vor den Augen des Hofes Günther den Dienst eines Vasallen leistet, dann bestimmt er damit seinen Status vor diesem Kreis eindeutig, gleich was der Erzähler und seine Figuren wissen. Paradox ist der Zeichencharakter von Ring und Gürtel,4' denn weshalb nimmt Sivrit eine Trophäe aus dem Dunkel der Kemenate mit, die er billigerweise nicht offen zeigen darf? Ein Zeichen also, das nur Falsches anzeigen würde?42 Die Antwort ist kryptisch: ine wei^ ob er da^ täte durh sinen hohen muot (6 80, z).45 Sivrits höher muot speist sich aus seinem persönlichen Triumph in einem Kampf, der die Ehre der Königin wie die des Königs ins Zwielicht bringt. Soweit Sivrit allein betroffen ist, wäre die Reaktion aus hdhe[m] muot unproblematisch. Indem sie aber anderen bekannt wird, muß sie zum Konflikt führen. Sivrits hoher muot ist nicht höfischer Ausdruck gemeinschaftlicher Harmonie - das unterscheidet ihn von Minnesang und Artusroman -, sondern ist ganz und gar selbstbezogenes Bewußtsein seiner Überlegenheit über Günther.44 Als Zeichen ist die Trophäe keineswegs dazu bestimmt, verborgen zu bleiben ein Sieg im Kampf findet Anerkennung erst durch den Beweis41 -, und sie bleibt es auch nicht. Nicht Sivrit „hatte geschwätzt, das Symbol hatte gesprochen".46 Nahezu unbeachtet47 blieb, daß die Trophäen bei auffälliger Gelegenheit in Kriemhilts Hände gelangen. Nur anfangs nämlich, so heißt es, verbarg sie Sivrit, er hal si sit vil lange da% er ir bete si under krone49 in stnem lande gie. er ir geben solde, wie lüt^el er% beliben He!
41 42
43 44
45 46
47
48
49
(684,2-4)
Hierzu auch Wenzel (1992), S. 334. Naumann (1933), 8.47 verweist auf den Parallelfall des jungen Parzival bei Jeschute, in dem auch nicht das tatsächlich Vorgefallene gilt, sondern das, was die Zeichen sagen. Zur Bedeutung von höher muot S. 241 f. Vgl. Grenzler (1992), S. 2oif.: Sivrit bringe, indem die Zeichen Prünhilt als kebse ausweisen, ein Beweisstück für seinen eigenen Status in seinen Besitz, das Prünhilts Forderung widerlege (der hohe muot also als Ausdruck adligen Selbstgefühls). Gephardt (1994), S. 36. Berühmt ist der Kampf Iweins mit Ascalon. Naumann (1933), S. 47; dort auch Kritik am Schulmeistern des „schwatzhaften" Sivrit. Es steht, wie Naumann richtig bemerkt, nichts davon im Text, daß Sivrit Kriemhilt „in das gefährliche Geheimnis" einweihte (de Boor, S. 117): Er gibt ihr die Zeichen, das genügt. Eine Ausnahme: Grenzler (1992), S. 203; er vermutet allerdings darin einen Schachzug im Machtspiel um Sivrits Status. Mittels der Trophäen weise Sivrit Kriemhilt gegenüber den öffentlich ausgesprochenen (?) Zweifel an diesem zurück. Was Sivrit verbirgt, ist nach dieser Formulierung nicht die Antwort auf Kriemhilts vrage, der si hete gedäht (684,1), vermutlich also die Frage nach seiner Abwesenheit (so G. Müller, 1975, S. m), sondern es muß den Gegenstand meinen, der ,Kriemhilt zugedacht war' (su>a% er ir geben solde), der ihr jedoch anfangs vorenthalten wurde (Bezug des da%\). Ich nehme daher an, daß kein mit doppeltem Akkusativ steht (Lexer I, Sp. i242f.); das erste Objekt enthält der Relativsatz, das zweite ist si. In C stattdessen da heime (C 693,3; in a fehlt selbst diese Angabe). In diesen beiden Hss. ist der Nexus zwischen Selbstbeweis und Herrschaft ausgespart; entsprechend ist die Bemerkung, daß Sivrit die Trophäen geben solde (684,4) durch eine vage Vorausdeutung ersetzt (vgl. Batts, S. 2o6f.). 2
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Die Trübung der Sichtbarkeit
Auch wenn man die Zeitbestimmung nicht ganz präzise versteht (er verbarg die Trophäe bis zum Zeitpunkt der Krönung), gilt: Die zeichenhafte Gabe von Ring und Gürtel ist mit Sivrits und Kriemhilts Königsherrschaft verbunden, vielleicht sogar mit dem Herrschaftszeremoniell, der öffentlichen Zurschaustellung königlicher Macht, mindestens aber - wenn man under krone gie durativ auffaßt - mit der Ausübung von Herrschaft. Insofern hat Sivrit die Zeichen tatsächlich durh stnen höhen muot genommen. Auch der Herrscherin Kriemhilt können beide Trophäen die Festesfreude und das Selbstgefühl steigern. Kriemhilt triumphiert in einem Augenblick über die ferne Rivalin, in dem ihr königlicher Status festgestellt wird. Dieses Zeichen ihres Triumphs durfte Sivrit ihr nicht vorenthalten (geben solde}. Gefahrlos ist das, weil das Zeremoniell in sinem lande stattfindet, am .richtigen' Hof also. Dort ist nicht die ere eines anderen gefährdet, kann das Zeichen andererseits den Glanz der übrigen Krönungssymbole noch erhöhen. Erst die neuerliche Verbindung zwischen beiden Höfen - hervorgetrieben von Prünhilts Beunruhigung über den Widerspruch zwischen Worten und Zeichen - muß zum Konflikt führen, indem Kriemhilts Trophäen Indizien des Betrugs an Prünhilt werden. Daß es weiterhin Trophäen sind, die zur rechten Zeit durchaus eingesetzt werden dürften, erhellt daraus, daß Kriemhilt sie - was anscheinend kaum jemanden verwunderte50 - im Reisegepäck mit sich führte: warum, wenn nicht, damit sie vorgezeigt würden? Wieder gefährdet die Herauslösung des Zeichens aus seinem ursprünglichen Kontext seine Geltung oder macht sie unberechenbar. Was in Isenstein gegolten hat, gilt nicht in Worms und Xanten, und was in Xanten gezeigt werden kann, bliebe in Worms besser verborgen. Mittelalterliche Öffentlichkeit setzt Anwesenheit voraus. Wenn der Kreis der Zuschauer wechselt, ist sie wieder neu herzustellen. Weichen Zeichen und Worte in verschiedenen Situationen voneinander ab, dann kann darüber, was ,wahr', was ,falsch' oder ,bloß gespielt' ist, nur entschieden werden, indem neuerlich eine Situation herbeigeführt wird, in der noch einmal Augenschein genommen werden kann. Prüfstein soll die allgemeine Zustimmung sein. Deshalb kann Günthers Wort beim Hochzeitsmahl allein nichts ausrichten, deshalb muß Prünhilt Sivrit und Kriemhilt einladen — nur so kann sich zeigen, welcher Augenschein gilt, der von Isenstein oder der beim Krönungs- und Hochzeitsmahl -, deshalb muß der Streit der Königinnen - anders als in der nordischen Überlieferung - vor aller Augen, beim Turnier und dann beim Kirchgang, ausgefochten werden, und deshalb muß Kriemhilt, wo ihr Selbstwertgefühl bestritten wird, das Zeichen, das es ihr bestätigt, am veränderten Ort ausprobieren. Zeichen können in die Irre führen. Ring und Gürtel machen etwas sichtbar, was es nicht gegeben hat;'1 sie verweisen damit indirekt auf etwas, das unerkennbar ist, !
° Jedoch Bachorski (1996). '' Bischoff (1970), S. 19 stellt fest: „Kriemhild war der Sprache der Symbole zum Opfer gefallen". 2
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Worte und Zeichen I: Sivrits Trophäe
weil es - mehrfach und ausdrücklich - ins Dunkel abgedrängt wird. Das Zeichen täuscht Evidenz nur vor. Das ,Nibelungenlied' berührt hier ein Problem, das auch andere Erzählungen des i2./i3. Jahrhunderts dilemmatisch aufgreifen und das in wissenschaftlichen - theologischen und juristischen - Diskursen zur Entwicklung besonderer Beweisverfahren führt: die Unzuverlässigkeit sichtbarer Zeichen und die Unzuverlässigkeit allgemein bezeugter Worte. Im .Nibelungenlied' wird die daraus resultierende Verstrickung vorgeführt, aber nicht reflektiert. Anders in der höfischen Epik: Vor allem die höfischen Ehebruchserzählungen spielen das Problem durch. Der Ehebruch bietet - wie im ,Nibelungenlied' - einen besonders geeigneten Anlaß, weil er jenseits der Grenze liegt, in der Sichtbarkeit als Kriterium für Wahrheit gilt. An ihm wird die Unzuverlässigkeit der Zeichen dekliniert. Für Marke in Eilharts ,Tristrant' etwa, der den Denkformen von Heldenepik noch recht nahesteht, ist das Indiz des Ehebruchs - die Spuren im Mehl und das Blut im Bett - widerlegt, wenn er Tristrant und Isalde im Bett, jedoch das Schwert zwischen sich, mit eigenen Augen sieht. Das sichtbare Rechtszeichen ist stärker als das bloße Indiz. Für Marke hat das Schwert so unbezweifelbare Geltung, daß er die (angebliche) Intaktheit seiner Ehe vor dem ganzen Land bekannt macht und Isalde neuerliche Anerkennung als Königin verschafft (Trt 4865-71). Für den Erzähler und sein Publikum dagegen ist klar: Was er da offen feststellt, ist ein kläglicher Irrtum. Für Gottfried von Straßburg ist das Vertrauen auf das Rechtszeichen - gegen die Evidenz der Indizien - schon so anstößig, daß er Markes Rückzug auf das, was er sehen kann und was alle sehen sollen, psychologisch mit verblendeter Begierde erklären muß, die nicht wahrnehmen will, was ihr widerspricht (Tr i7534f£). Wegen seiner lasterhaften Verblendung ist Marke jene andere Sphäre, der Innenraum der minne, verschlossen. Weil er ihn nicht kennt und es für ihn nichts jenseits öffentlicher Zurschaustellung zu geben scheint, greift er auch in der entgegengesetzten Situation daneben, wenn er Tristan und Isot am hellen Tag im Bett entdeckt, und ihren Ehebruch vor dem ganzen Hof publik machen will, um so der sichtbaren Wahrheit Geltung zu verschaffen; das ist dumm und roh und mißlingt entsprechend, ein Akt, der Marke ein letztes Mal diskreditiert. Die Qualen der Lektüre widersprüchlicher Zeichen durchleidet auch König Artus im ,Prosa-Lancelot', so daß er immer wieder zögert, aus dem, was er entdeckt, Konsequenzen zu ziehen; er bekommt einen Beweis nach dem anderen für den Ehebruch der Königin, aber er zweifelt weiter, denn er will den Augenschein, nicht nur das Gerücht, nicht nur das Zeugnis anderer, nicht einmal die offene Darstellung des Ehebruchs im Bild, obwohl dieses von Lancelot - Täter und Maler zugleich - autorisiert ist und die erklärende Schrift vom Ehebruch berichtet. So bemüht er sich selbst, die Situation herbeizuführen (das ich sie by einander finden mag), die seine Schande offenbar macht und an der sein Reich zugrunde gehen muß:' 2 anschaubare Wahrheit als Movens der Selbstzerstörung. Lc III, S. 470; die Auseinandersetzung erstreckt sich über 80 Druckseiten. Besonders auffällig ist, daß 275
Die Trübung der Sichtbarkeit
In all diesen Fällen geht es um die Unzuverlässigkeit der Zeichen für einen von der höfischen Öffentlichkeit abgewandten Raum, die (Ehebruchs-)Liebe, mithin also die Inkommensurabilität zweier unterschiedlicher Sphären, die jede ihre eigene Wahrheit haben. Im .Nibelungenlied' gibt es eine Sphäre jenseits von Sichtbarkeit nur als Verrat und Intrige, und deshalb hat die Täuschung Prünhilts, obwohl sie keinen Ehebruch einschließt, unmittelbar katastrophale Folgen, denn sie zersetzt das soziale System insgesamt. Während im höfischen Roman das Sichtbarkeitskriterium dubios wird, indem es die Realität jenseits der Grenze verfehlt, behauptet es im ,Nibelungenlied' auf problematische Weise seine Geltung, auch wenn das, was vor aller Augen gesagt und getan wird, immer deutlicher als falscher Schein entlarvt wird.
Worte und Zeichen II: Kampf um den Augenschein Prünhilt betreibt die Suche nach Sivrits wirklichem Status in der Form einer Rangprobe.'5 An der Börse des Hofes war der Rangstreit zwischen Kriemhilt und Prünhilt schon verhandelt worden, bevor er ausbrach, als nämlich Prünhilt zum ersten Mal nach Worms kam: Die vrouwen spehen künden unt minneclichen lip, die lobten durch ir schane da% Guntheres wtp. da sprachen da die wisen, die heten^ ba% besehen, man mähte Kriemhilden wolfür Prünhilden jehen.
(593)
Wer schärfer zusehen kann (besehen)., entdeckt Unterschiede, so daß man übereinkommt: Kriemhilts Fama (jehen) übertrifft die Prünhilts noch. Der Rangkonflikt ist also latent von Anfang an da, doch vorerst in jener friedlich-agonalen Form, die Hofgesellschaft allgemein kennzeichnet und die die Person, die verliert, nicht diskreditiert. Freilich würde Kriemhilts Vorrang an Schönheit durch Sivrits minderen Status aufgehoben. Prünhilt sieht daher Kriemhilts schane und ^uht (622,1) durch die (vermeintliche) Mesalliance mit Sivrit verderbet (620,4). Weil sie keine Klarheit gewinnt, will sie ,mehr sehen': da^ si Kriem bilde solde noch gesehen (726,2) und: da% wir si hie gesehen (729,2f.). Als ihre Boten aus Nibelungenland zurückgekehrt sind, befragt sie sie, was sie an Kriemhilt gesehen haben: hat noch ir schaner lip/behalten iht der %ühte, der si wol künde pflegen? (771,2^). Das zielt auf Kriemhilts Rang, der sich in ihrem Gebaren und ihrer Erscheinung ausdrückt und dessen Indikator das ist, was man sehen kann: Erscheint sie als Frau eines eigenholden oder als Königin?'4 das Beweismittel, das sich rechtsgeschichtlich durchsetzt — die Schrift —, nur ein Verdachtsmoment unter vielen begründet. " Zu Varianten des Königinnenstreits in der nordischen Überlieferung Andersson (1980), S. 186—204. 54 Ehrismann (1987), S. 138. 276
Worte und Zeichen II: Kampf um den Augenschein
Wenn Kriemhilt und Sivrit nach Worms kommen, ist der Vergleich nicht mehr harmlos. Der Glanz der beiden Höfe spiegelt sich nicht mehr in interesseloser Anerkennung durch den wechselseitigen Blick; Prünhilts Blick sondert sich, wie schon beim Hochzeitsmahl, von dem der anderen; er ist prüfend-interessiert; ,man sieht' sie beobachten: under mien blicken man Prünhilde sach an vroun Kriembilde, diu schane was genuoc. ir varwe gegen dem golde den glan^ vil herlichen truoc.
(799,2-4)
Prünhilt erforscht nicht, wie ein neuzeitlicher Leser glauben möchte, das Aussehen einer vielleicht gealterten Verwandten, sondern beobachtet die Erscheinung von Kriemhilts Status. Der Blick sondiert Herrschaftskonkurrenz. Beim Streit der Königinnen werden nicht mehr die Frauen, sondern die Männer taxiert, von denen der Status der Frauen abhängt. Dies geschieht beim Zurschaustellen ritterlichen Könnens im Turnier. Der Streit beginnt regelkonform; man will sehen, wer der beste ist: da liefen dar durch schouwen vil manic wtp unde man.
(814,4)
Auch Kriemhilts erster ,Beweis' für Sivrits Überlegenheit ist wieder der Augenschein. Im Streit der Königinnen geht es um die Interpretation eines Bildes: nu sihestu wie er stät, wie rehte herliche er vor den recken gat, alsam der liehte mane vor den Sternen tuot?
(817,1-3)
Der Austausch von Argument und Gegenargument ist oft analysiert worden; ich skizziere die Szene vor dem Hintergrund des Problems der Geltung von Zeichen, Augenschein und Worten: Kriemhilt eröffnet den Streit indem sie, was alle sehen können, hyperbolisch kommentiert (da^ elliu disiu riebe %e sinen banden solden stan, 815,4), was Prünhilt als Herrschaftsanspruch versteht." Während Kriemhilt auf Sivrits strahlende Erscheinung deutet, weist Prünhilt dies als Kriterium ausdrücklich zurück (swi watlich [...]; swi biderbe [...]; swi schane, 8i8,if.): Günther stehe an der Spitze aller Könige. Kriemhilt besteht auf ihrem Urteil über Sivrit, doch leitet sie daraus keine standesrechtliche Überlegenheit ab (819,4). Auf eben diesen standesrechtlichen Konsequenzen besteht Prünhilt, wobei sie sich auf Sivrits öffentliche Behauptung (jach\) stützt, er wäre 'sküneges man. Daraus folgert sie: des ban ich in für eigen, sit ihs in horte jehen (821,2f.). Sivrits vor allen gesprochene Rede steht gegen seine von allen anschaubare Erscheinung. Da Prünhilt sie öffentlich wiederholt (820,2), muß Kriemhilt sie ausdrücklich auffordern, die diskriminierende rede zu unterlassen (822,4), ur>d eben wegen deren rechtlicher Verbindlichkeit ,kann' Prünhilt ,das nicht' (Ine mac ir niht geladen, 823,1), tangieren die Folgen doch ihre eigene Stellung als Königin. Kriemhilt muß den Anspruch ebenso öffentlich bestreiten: Es " Vgl. zur ,Virtualisierung' von Herrschaftskonkurrenzen im Geltungsbereich höfischer Normen unten S. 410-414. 277
Die Trübung der Sichtbarkeit
ist falsche, unrechtmäßige Rede (verjehen, 827,2; 831,4), die widerrufen (laugen) werden muß (831,4).
Beide unterstellen die Verbindlichkeit öffentlich wahrnehmbarer Rede, und beide wollen deren Geltung, von allen wahrnehmbar, durchsetzen, mittels der Ehrbezeugung der anderen. Prünhilt hofft: nu wil ich sehen gerne [! ] , ob man den dinen lip babe %e solhen eren so man den minen tuot. (826,2f.)
Und auch Kriemhilt fordert: et nu geschehen. sit du mines mannes für eigen hast verjehen, nu müe^en hiute kiesen [! ] der beider künige man, ob ich vor küniges wibe %em münster türre gegan. (827) Du muost da^ hiute schouwen [! ] , da% ich bin adelvrt, und das^ min man ist tiwerr danne der dine si. (8 28,1 f.)
Da der Anblick entscheidet, müssen alle visuellen Mittel eingesetzt werden, um Prünhilt zum Widerruf ihrer Rede zu zwingen: e% muo% äne schände beliben hie min lip. ir suit wol lä^en schouwen, und habt ir riche wät. si mac sin gerne lougen, des Prünhilt verjehen hat.
(83i,2-4)' 6
So werden prunkvolle Kleider hervorgeholt, die Kriemhilt ergingen kann (836,4) und die man, wie es in einer typischen epischen Hyperbel heißt, noch nie so sehen konnte (837,2). Die Fortsetzung des Streits wird durch das öffentlich ausgesprochene Wort ausgetragen. Vor aller Ohren bringt Prünhilt den ständischen Konflikt auf den Begriff: ja sol vor küniges wibe niht eigen diu gegan (838,4), und vor aller Ohren nennt Kriemhilt die Königin dafür mannes kebse (839,4). Indem sie Prünhilt öffentlich verkebset (840,1), sichert Kriemhilt sich den Vortritt im Angesicht des Hofes (843,2). Prünhilt hat dem Wort von Isenstein vor allen in Worms Geltung zu verschaffen versucht. Kriemhilt setzt ihr Wort dagegen. Würde es gelten, wäre die Königin entehrt, ihre Schönheit damit entwertet (du hast geschendet selbe den dtnen schanen /ip, 839,3), Prünhilt bricht in Tränen aus (843,1). Den Kampf ums Wort hat sie verloren, wie Kriemhilt ihr höhnisch vorhält (839,2; 849,2). Um die Geltung von Kriemhilts Wort, die öffentliche Behauptung (jehen), muß es Prünhilt jetzt gehen, wenn sie die beschädigte Ehre wiederherstellen will: )6
Den „äußeren Aufwand als Manifestation ihres Geltungsanspruches und als bewußte Provokation" aufzufassen (Heinzle, 1978, S. 253), verbietet sich m. E., da herrscherlicher splendor den Charakter eines Beweismittels hat. Erst im ,Rosengarten' wird Kriemhilts Prunksucht kritikwürdig (vgl. S. 250), da dort jeder Anlaß für die Statusdemonstration fehlt. 278
Worte und Zeichen II: Kampf um den Augenschein [...] mich muo% Kriemhilt mere baren [!] lan des mich so lute [!] %ihet da^ vortrage wip.
(845,2f.)
irjähet min %e kebesen: da^ suit ir la^en sehen [!].
(846,3)
Die gewöhnlichen Formen der Wahrheitsfindung werden eingeklagt - und pervertiert. Der Schaukampf geht weiter; zum Recht behauptenden Wort treten die Wahrheit verbürgenden Zeichen: Prünbilt mit ir frouwen (845,1) verlangt und erhält Beweise (er%iuge[n], 847,2; 849,3): Ring und Gürtel. Den Zeichen kann sie nichts entgegensetzen. Beim Ring kann sie noch vermuten, daß er widerrechtlich, nämlich heimlich'7 in Kriemhilts Hände gekommen ist, beim zweiten, dem Gürtel, nicht mehr. Aus dem Besitz des Gürtels kann Kriemhilt ableiten: ja wart min Sifrit din man (849,4). Dem Text ist nicht zu entnehmen, was Kriemhilt weiß,'8 und Spekulationen darüber, was Sivrit Kriemhilt wohl gesagt hat, sind müßig. Entscheidend ist, daß Worte und Zeichen differieren. Prünhilt wird auf die Ebene der Zeichen gezwungen, die sie nach dem, was sie in Isenstein gehört hatte, nicht akzeptieren wollte. Damit ist ihr Kampf verloren. Die Zeichen, obwohl sie falsch sind, widerlegen vor aller Augen, was sie zu wissen glaubte. Was ihre Überlegenheit zu bestätigen scheint, zeigt Kriemhilt offenliche (851,4); Prünhilts Niederlage wird von allen bemerkt: weinen si began./da^ muose vreischen Günther und alle Bürgenden man (8 5o,3f.). Auch der König sieht sie verletzt (weinen er do sach, 851,1). Prünhilts Worte zu ihm: ich muo^ unvraliche stän (852,4) bedeuten nicht ,ich bin empört' o. ä., sondern: ich bin gezwungen, mich aus der vreude, d. h. dem Fest der Hofgesellschaft, auszuschließen; das betrifft neben der Königin auch ihr Gefolge: > % weinent dise vrouwen, fragt der herbeigerufene Günther (856,3). Der Versuch der Schlichtung bleibt in der Sphäre öffentlicher Evidenz, in der doch gerade der Augenschein sich als falscher Schein herausgestellt hat. Weil diese Sphäre nicht überschritten werden kann, mißlingt der Versuch. Der Erzähler stellt klar, daß es auf den Gerichtsherrn, nicht auf Günther als Ehemann Prünhilts ankommt: heilet here gan den fürs ten vonme Rine. ich ml in beeren lan wie mich hat gehcmet siner swester lip. (851,1—3)
Prünhilt appelliert von der ersten Instanz, der Öffentlichkeit des Hofes, an die nächsthöhere, das Königsgericht. Doch nicht um die Wahrheit des Vergangenen geht es dabei, sondern um den aktuellen Tatbestand der Beleidigung. 57 58
verstoln (848,1), diep (849,1), verholn (848,2); D setzt hinzu: tougen (Batts, S. 257). Es ist für diese Szene ohne Belang, ob Kriemhilt „bewusst die Öffentlichkeit mit der Überzeugungskraft eines Symbols" belügt, also die wahren Bewandtnisse von Ring und Gürtel kennt (G. Müller, 1975, S. no).
Die Trübung der Sichtbarkeit
Angesichts der Bedeutung öffentlicher Demonstration für die Entscheidung der Wahrheitsfrage ist es nicht befremdlich, wie die Beschuldigung behandelt wird. Schon in Prünhilts Empörung trat gegenüber dem Inhalt des Vorwurfs dessen Ausbreitung vor der Öffentlichkeit in den Vordergrund: hat er sich es gerüemet, e^get an Sifrides lip (845,4). Nicht das Faktum, wie viele Interpreten glauben, sondern die beleidigende Rede darüber - offenliche (8 51,4) - ist die Hauptsache, wobei nicht Kriemhilt, sondern Sivrit als ihr Urheber gilt. Er hätte sich dann eines Vergehens schuldig gemacht, das die religiöse Didaktik des 12. Jahrhunderts ebenso anprangert wie die höfische des 13., des ruom. Dem Renommieren mit erotischen Erfolgen gelten Angriffe einer rigoristischen kirchlichen Moral vor allem deshalb, weil es nicht bloß ein Verstoß gegen eine christliche Wertordnung ist, sondern diese zugunsten einer adligen Sondermoral einfach beiseiteschiebt: Was Laster ist, soll dem Renommee dienen. Hieran knüpfen die Angriffe höfischer Minnedidaxe an, weil rüemen die Regeln höfischen Frauendienstes verletzt, indem der Mann seine Verfügungsgewalt über die Frau ohne Rücksicht auf deren ere usurpiert und sie damit vor der Gesellschaft kompromittiert.' 9 Durch die Beschimpfung vor der Kirche ist Prünhilt entehrt. Jetzt soll Günther diese Schande ebenso öffentlich aus der Welt schaffen: dune beredest, künic, mich/der vil großen schände (854,3^). Der Begriff rede gehört in den Kontext gerichtlicher Auseinandersetzung,60 und als ein Gerichtsverfahren ist die kommende Szene zu verstehen. Die verbindliche rede des königlichen Richters soll die falsche rede Kriemhilts aus der Welt schaffen. Der Konflikt spielte bisher auf der Ebene dessen, was man hören und sehen kann, und nur auf dieser Ebene wird er weiter verhandelt.6' Das Ansehen des öffentlich gesprochenen Wortes in einer oralen Gesellschaft ist Voraussetzung dafür, daß Sivrits Eid die Situation klären kann. Doch die „Magie des Schwures" gerät in Konflikt mit der „Magie des Symbols".61 Es gibt kein Indiz dafür, daß Günther taktisch geschickt die Auseinandersetzung mittels der Eidesformel auf ein Feld manövriert, das für ihn und seine klägliche Rolle in der Hochzeitsnacht ungefährlich ist, denn einen Sachverhalt jenseits dessen, was vor aller Augen und Ohren sich abspielt, scheint es für die Beteiligten nicht zu geben. Günther setzt also beim eigentlichen Konfliktpunkt, der öffentlichen Entehrung der Königin an: 59
Wenzel (1974), S. 115. Vgl. die Szene nach Ermordung des Trosses, wenn Hagen mit den Hiunen reden will (1957,3): ,zur Rede stellen für einen Rechtsbruch'. 61 Man kann den von Dodds (1991), S. 17 aus der Anthropologie übernommenen und auf die homerische Welt übertragenen Begriff der „Schamkultur" (im Unterschied zur „Schuldkultur") auf diese Auffassung von Verfehlung übertragen: Es kommt nicht darauf an, wofür man persönlich tatsächlich verantwortlich ist, sondern auf das, was in den Augen der anderen gilt. Nach Dodds ist „die Unterscheidung eine relative", da „viele Verhaltensweisen, die für eine Schamkultur bezeichnend sind" unter den Voraussetzungen einer auf persönliche Schuld bezogenen Ethik beibehalten werden (S. 19). ^ Naumann (1933), S. 47. 60
280
Worte und Zeichen II: Kampf um den Augenschein und hat er sihs gerüemet, da^ sol er hären lan, oder sin muo^ laugen der he lt u% Niderlant. (85 5, 2 f.)
Sivrit soll den ruom öffentlich wiederholen oder aber abstreiten. Bisher stützen sich bloß Behauptungen auf andere Behauptungen, die ihrerseits Behauptungen eines Dritten wiedergeben: mir hat min vrouwe Prünhilt ein märe hie geseit, du habes dich des gerüemet, da^ du ir schämen lip allererst habes geminnet, da% sagt vrou Kriemhilt din ivip.
(857,2—4)
Sivrit bietet den Reinigungseid dafür an, daß es die Behauptung nie gegeben hat, was bedeutet, daß er Prünhilt nicht beleidigt hat und Kriemhilts Worte keine Grundlage in dem haben, was er selbst ihr sagte: und wil dir da^ enpfüeren vor allen dinen man mit m inen hohen eiden, da% ich irs niht gesaget ban.
(8 5 8, 3 f.)
Indem alle ihn hören, soll der Eid die Wahrheit evident machen; nicht die der Hochzeitsnacht, sondern den Anlaß der Kränkung; in der Schwurgeste wird sie sichtbar:65 soltu lä^en sehen [ ! ] . den eit den du da biutest, unt mac der hie geschehen, aller valschen dinge wil ich dich ledic lan. (859,1-3)
Die Wendung aller valschen dinge ist ein Hysteron proteron: durch den Eid würden sich die Beschuldigungen als falsch erweisen und Sivrit wäre entlastet. Es besteht kein Grund zur Annahme, der Eid werde Sivrit erlassen,6" nachdem Günthers Leute einmal zum Ring - umbstand - zusammengetreten sind. Der Vers Sifrit der vil küene %em eide bot die hant (860, i) meint die Ausführung der Geste des Schwörens.6' Ganz ähnlich heißt es, wenn Günther von seinen Gegnern im Sachsenkrieg Garantien dafür verlangt, daß die Gefangenen nicht entfliehen: des bot L·^udeger die hant (251,4): Liudeger gibt sein Ehrenwort wie Sivrit seine Unschuld beschwört. Folgerichtig wiederholt Günther daraufhin seine eigene Formulierung ledic lan (859,3), um auszudrücken, daß die Angelegenheit beigelegt ist: mir ist so wol bekant iuwer grö^ unschulde; ich wil iuch ledic lan.
(86o,2f.)
Der Eid versichert Günther über einen Umstand, den dieser tatsächlich nicht wissen kann (Salmon, 1976, S. 318), während Günther ja dem Erzähler zufolge über Sivrits Unschuld in der Sache Bescheid weiß. Der Eid ist also auf Günthers, nicht auf Prünhilts Nicht-Wissen zugeschnitten; zur Bedeutung des Eidmotivs allgemein in der Siegfriedsage: ebd., S. 321-315. So de Boor in seinem Kommentar; zur Diskussion Salmon (1976), S. 318; abschließend Bischoff (1970), S. zof. So u. a. auch Wachinger (1960), S. 112; Grenzler (1992), S. 290; anders z. B. Beyschlag (1952/1961), S. 199; Bumke (1960), S. 18 u. a. 281
Die Trübung der Sichtbarkeit
Durch die Geste (so) wird Sivrits unscbulde allen, vor allem aber dem König, der in Prünhilt beleidigt worden ist, offenkundig (bekant, 86 , f.). Günther läßt seinen Anspruch gegen Sivrit fallen und verkündet: des iucb min swester %ihet - und das ist nach allem bisherigen das rüemen -, da^ ir des niene habt getan (860,4).66 Durch Sivrits Eid ist Kriemhilts Rede als bloßes Geschwätz entwertet; ohne Rückhalt bei einem Mann soll das öffentlich gesprochene Wort einer Frau nichts gelten. Sivrit schlägt Günther vor, den Kasus aus der Sphäre öffentlicher Auseinandersetzung, die allein den Männern vorbehalten ist und in der es deshalb allein darum geht, was Sivrit gesagt hat, in die abgeschlossene Sphäre des Hauses und der Hauszucht zurückzuspielen, in der der Ehemann rechtliche Gewalt über die Frau ausübt, um so die Gegnerin zum Schweigen zu bringen. Günthers Urteil schafft keineswegs Frieden.67 Der Widerspruch zwischen Wort und Zeichen ist durch Günthers Spruch und Sivrits Eid nicht aufgelöst, es hat sich nur wieder das Wort an die Stelle des Zeichens gesetzt, so daß dem Hin und Her zwischen Wort und Zeichen ein weiteres Glied angefügt wurde. Was laut königlichem Urteil gelten soll, schafft weder die Tatsache öffentlicher Beschimpfung aus der Welt, noch begründet es zweifelsfrei Wahrheit, denn es gibt zwar eine Stufenfolge der Macht, die entscheidet, was gelten soll, aber keine Stufenfolge von Kriterien dafür, was der Fall war. Sivrits Worte in Isenstein waren durch eine Reihe von Zeichen bei Prünhilts Hochzeit in Frage gestellt worden. Es tauchten andere, noch verstörendere Zeichen auf, die neuen Argwohn erregen. In einem förmlichen Gerichtsverfahren wird gültig festgestellt, daß das, was die Zeichen andeuten, nie behauptet worden ist. Das hat aber mit der ,Wahrheit' von Isenstein nichts zu tun. Beides kann gut nebeneinander bestehen, Sivrit man sein und sich nie gerühmt haben, Prünhilts erster Liebhaber gewesen zu sein. Die beunruhigenden Zeichen der Gleichrangigkeit bleiben unerklärt, und Gürtel und Ring sind da, gleich was Sivrit gesagt hat. Prünhilts Frage wird durch den Eid nicht beantwortet, und sie kann auch mit den Mitteln öffentlicher Demonstration nicht beantwortet werden. Statt aus der Verwirrung herauszuführen, führt der Spruch tiefer in sie hinein. Der Widerspruch ist in einer auf Worte und Zeichen vertrauenden Gesellschaft nicht auflösbar. 66
67
de Boor (S. 145) stützt seinen Zweifel am Zustandekommen des Eides auf 861,4: da sahen %uo %ein ander die guoten ritter gemeit. Er stellt sich diese Blicke als .betroffen' vor. Das steht nicht im Text (Bischoff, 1970, S. 20). Ihre Bedeutung ist alles andere als klar. Will man gemeit nicht als rein formelhaft nachgestelltes Epitheton auffassen, dann könnte es anzeigen, daß durch die (scheinbare) Wiederherstellung des Rechtsfriedens die anwesenden Ritter wieder froh (gemeit) sein dürfen. Außerdem könnten mit ritter aber auch nur Sivrit und Günther gemeint sein, die sich froh über den Ausgang anblicken (vgl. Salmon, 1976, S. 319); mit Günthers „bösem Gewissen" führt de Boor (ebd.) jedenfalls (wie vorher schon G. Weber, 1963, S. 69) eine Kategorie ein, die dem Epos fremd ist. Wo der tatsächliche Betrug gegenüber der .Fassade' des Reinigungseides ausgespielt wird, setzt man im Sinne von Dodds (1991) eine ,Schuldkultur' im Gegensatz zur .Schamkultur' voraus. Das geschieht gegen den Text. Es zeigt sich hier allerdings, daß die Regeln der .Schamkultur' in diesem Fall unbrauchbar zur Konfliktlösung sind. 282
Falscher Augenschein
Hagen und Sivrit nehmen komplementäre Positionen ein: Für beide gibt es keine Sphäre selbständigen Handelns der Frau. Der eine will den Streit in die Rechtssphäre des Hauses zurückholen und dort mit patriarchalischer Gewalt ,lösen', die Frauen also von weiteren Verhandlungen ausschließen. Und für den anderen gibt es überhaupt keine Sphäre jenseits der öffentlichen, in der allein Männer handeln; er schreibt weiterhin unbeirrbar Kriemhilts Worte allein dem Ehemann Sivrit zu, indem er fragt: Suln wir gouche Dieben (867,1) und bekundet: er sich hat gerüemet der lieben vrouwen min, dar umbe wil ich sterben, e% enge im an da% leben sin.
(867,3t~.)
Indem er Sivrit gouch^ nennt, verläßt er sich rückhaltslos aufs Sichtbarkeitsprinzip und folgt wieder dem, was man (dank Ring und Gürtel) sehen kann und was daher öffentlich gilt.
Falscher Augenschein In der folgenden Intrige steht allein zur Debatte, was vor allen zutage getreten ist, die Ehrkränkung der Königin. Prünhilts Weinen (850,3; 852,1) zwang den König einzugreifen, und als sein Versuch zu schlichten den Konflikt nicht löste, wird das Weinen der vrouive Sache des ganzen Hofes (863,4). In Prünhilt wurde die Wormser Königsherrschaft insgesamt beleidigt:6' do trüret' also sere der Prünhilde lip, da^ e% erbarmen muose die Guntheres man. dd körn von Tronege Hagene %uo siner vrouwen gegan.
(863,2-4)
Er vragete iva^ ir wäre, weinende er si vant. do sagte si im diu märe. (864, i f.)
Der Defekt zwingt den man Hagen zu handeln, denn mit der ,Freude* der Königin ist die ,Freude' des Hofes zerstört. Das zeigt sich auch daran, daß man Prünhilt beim höfischen Fest nicht mehr sieht. Mit dem Scheitern der Gerichtsszene in Worms taucht die Geschichte in ein verhängnisvolles Dunkel, in dem Verbrechen geplant werden. Das Mordkomplott gelingt, teils weil das Geschehen der Wahrnehmung entzogen ist, teils weil ein falsches Bild für die Wahrnehmung arrangiert wird (lüge> 877,4). Hinter dem, was 68
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Daß Sivrit die Ehe des Königs gebrochen hat, drückt gouche aus, wenn man den Bezug auf den Kuckuck, der Eier in fremde Nester legt, gelten läßt und nicht darin nur eine blasse Floskel sieht. Brackert übersetzt: „Sollen wir uns denn alles gefallen lassen?" (1970, Bd. i, S. 193). Kern der Metapher ist ,heimliches Handeln', das Hagen Sivrit vorwirft. Rupp (1985), S. 170 hebt hervor, daß Hagens Vorgehen, wie immer man es rechtlich-moralisch bewertet, insoweit notwendig ist. 283
Die Trübung der Sichtbarkeit
offenliche geschieht (874,4), kann Hagen heinliche seinen Plan verfolgen (873,2): Der kiinec mit sinen vriunden runende70 gie (882,1) und: Eines tages Sifrit si rünende vant (883,1). Das ist nicht die Beratung über die angebliche zweite Kriegserklärung (was gäbe es da zu überlegen, wenn man weiß, daß die Nachricht falsch ist?); rünen zeigt an, daß der Plan nicht offen-offiziell betrieben werden kann, selbst wenn alle davon wissen sollten; auch später bezeichnet rünen eine nicht offen eingestandene feindselige Haltung (1959,2), bevor die Hiunen offen zu den Waffen greifen. Mit rünen ist die moralische Verwerflichkeit einer Handlung angedeutet; rünende bezeichnet im ,Rolandslied' die heimtückischen Beratungen der Heiden (Rl 1317); rünen ist das verdächtige Getuschel zwischen Neidharts dörpern und der vrouwe, das sich der Kontrolle höfischen Frauendienstes entzieht und zu offenem Streit führt. 7 ' Doch wie alles, was heimlich geschieht, ist auch rünen wahrnehmbar; die Intrige ist nicht völlig ins Innere verschlossen. So kann Sivrit sie bemerken, doch deutet er sie falsch als Störung der auf Freude verpflichteten Schauseite des Hofes und als Zeichen für die Bedrohung durch den vermeintlichen Krieg. Sichtbarkeit wird zur bloßen Fassade bei den Vorbereitungen für den zweiten Sachsenkrieg: Sifride und den sinen %e sehen e% was getan.
(888,2)
Der falschen Fassade wird noch einmal eine sich überbietende Inszenierung von Sivrits anschaubarer Überlegenheit konfrontiert, in der das Prinzip der Sichtbarkeit zum letzten Mal triumphiert: der glänzende Auftritt (in herlichem site, 917,1), die Jagd als offener Wettstreit (wer die besten jegere an dirre waltreise sin, 930,4), den Sivrit nach aller Urteil für sich entscheidet (do wart sin jaget da^ riebe wol den Bürgenden kunt, 939,4; 942,2f.), sein prachtvoll anzusehendes72 Gewand und die glänzenden Waffen (952-956); einhellig urteilen die, die da^ sähen, er wäre ein kreftec man (963,1): man jäh im größer eren swer /'^ ie gesach (971,3). Noch Hagens hinterlistiger Vorschlag eines Wettlaufs mit Günther soll angeblich die glänzende Schauseite der heroischen Welt bestätigen: hey wolde er uns da^ sehen lan! (972,4); der Sieger soll im Ruhm von Mitund Nachwelt strahlen: dem sol man jehen danne, den man sibet gewannen hän (973,4). Und tatsächlich sehen alle Sivrits letzten Sieg: do sack man hi dem brunnen den küenen Stfriden e (976,4). Durch den Mord wird er buchstäblich ausgelöscht: Erblichen was sin varwe (987,i). 75 Sivrits Tod soll das Gespinst zerreißen. Hagen will danach gleich zur Offenheit zurückkehren (mir ist vil unmare, und wirt e% ir bekant, 1001,2). Doch wieder, wie in Isenstein und unter Verwendung der gleichen Worte, wird verabredet, die Wahrheit 70 71
Jh haben stattdessen: trvrende (Batts, S. 267). Müller (igSob), S. 445; vgl. Lexer II, Sp. 5381".
12
den sach man in tragen (952,2); in sähen %uo in körnende dt Guntheres man (957,1).
7)
Mit einer ähnlichen Metapher war das im .harmloseren' Zusammenhang des Sachsenkrieges so ausgedrückt worden: Die burgondischen Helden die lascten ime strife vil maneges heimes schin (201,2). 284
Falscher Augenschein
zu verbergen und alle dieselbe Lüge bezeugen zu lassen (ir suit e% heln alle unt suit geltche jehen, 1000,2).74 Der Mord an der Lichtgestalt Sivrit soll im Dunkel verschwinden: Do erbiten der nahte (1002,1). Kriemhilt soll über Sivrits Leiche geradezu stolpern, die man tougenlichen (1004,1) vor ihre Tür gelegt hat. Entdeckt wird sie von einem kamerare, der erst ein Licht bringen muß (1006,3). Die Verwirrung des Augenscheins zeigt die Beschaffenheit von Sivrits Schild nach seiner Ermordung an.75 Der schilt war Sivrits letzte Waffe gewesen, nachdem Hagen die übrigen heimtückisch entfernt hatte. Bis zuletzt war damit ungewiß geblieben, ob der Anschlag gelingen würde, denn gegen einen Sivrit mit seinen Waffen in Reichweite hätte Hagen nichts ausgerichtet. Der Heros scheint wehrlos, aber doch nicht ganz, denn noch mit einer Verteidigungswaffe ist er gefährlich: Swie wunt er was %em tode, so krefteclich er sluoc, da^ «£ dem Schilde drcete genuoc des edelen gesfeines; der schilt vil gar %erbrast. sich bete gerne errochen der vil her liehe gast. (985)
So schlägt er, den Speer im Rücken, Hagen zu Boden - so sere %urnt' der wunde (986,4) -, bis ihn die Kräfte verlassen. Das scheint vergessen, wenn Kriemhilt den toten Sivrit findet: Do rief vil trürecltche diu küneginne mili: „owe mich mines leides! nu ist dir din schilt mit swerten niht verhouwen; du list ermorderot. wesse ich wer i% bet getan, ich riet' im immer stnen tot."
(1012)
Man mag darüber rechten, ob in der ersten Szene vil gar ^erbrast wirklich heißen muß, daß der Schild völlig zersplitterte oder ob er nur ramponiert wurde oder auch ob Kriemhilts Worte sich vielleicht nur auf eine bestimmte Beschädigung, durch Schwerter im Kampf, beziehen. Entscheidend ist, jedesmal bedeutet der Schild etwas anderes. Beim ersten Mal macht er Sivrits Stärke noch einmal in dem Augenblick sichtbar, in dem sie zerstört wird, da noch die Verteidigungswaffe ihm zum gefährlichen Angriff dient, beim zweiten zeigt er Verrat an. Als Zeichen unstimmig, bringt der Schild zwei Aspekte einer und derselben Sache - des Verrats zum Vorschein, mag man sich auch im einzelnen darum sorgen, welche Kratzer er nun davontrug. In den folgenden Episoden werden immer neue Anläufe unternommen, das Dunkel, in das sich die Geschichte immer weiter verloren hat, aufzuhellen. Das Ent-decken der Tat und der Täter - die Wiederherstellung von Transparenz - zieht sich quälend hin bis zur Konfrontation am Hof Etzels. Die Wahrheit herauszu74
7i
Zur Erinnerung: Sivrit hatte, damit der Betrug an Prünhilt gelänge, empfohlen: ir habt einen muot. fir jehe t geliche (3 8 5, i f.) Anders als Grubmüller (1994), S. 66 scheint mir die widersprüchliche Beschaffenheit des Schildes kein „läßlicher Fehler", sondern ein kalkuliertes Signal. 285
Die Trübung der Sichtbarkeit
bringen, ist ein mühevoller Vorgang, sie durchzusetzen, noch mehr. Kriemhilt zwar ,weiß sofort', wer der Tote vor ihrer Tür ist, und auch, wer ihn erschlagen hat: E da% si reht' erfunde da^ i^ wäre ir man, an die Hagenen vräge denken si began [···]· (1008, if.) do sprach si: ,, ist Sifrit, der min vil lieber man: e% hat geraten Prünhilt, da^ e% hat Hagene getan.
( 1010,3 f.)
Aber die Intuition reicht nicht aus.76 So fragt Kriemhilt wenig später: abesse ich wer i% bet getan, ich riet' im immer sinen tot (1012,4). Für die Rache braucht sie Beweise: der mir in bat benomenjwird' ich des bemset, ich sol im schade liehe körnen (1033, 3 f.). Die scheint sie zu bekommen, wenn Günther und Hagen samt Gefolge zur Totenklage kommen, denn die Bahrprobe kann augenscheinlich für alle den Mörder entlarven: Si hüten vaste ir laugen. Kriemhilt begonde jehen: „swelber si unschuldic, der la^e da^ gesehen; der sol %uo der bare vor den Hüten gen. da bi mac man die warbeit harte schiere versten.".
(1045)
Der Beweis durch ein michel wunder (1044,1) gelingt: siva man den mortmeilen bi dem toten siht, so bluotent im die wunden, als auch da geschach. da von man die schulde da %e Hagene gesach. (1044,2-4)
Kriemhilt hat den Beweis durch die Bahrprobe gefordert (Jehen) und kann nun feststellen: Günther unt Hagene, ja habet ir i% getan.
(1046,3)
Warum aber bleibt das folgenlos? Die erstmals beim Reinigungseid zutagetretende Dissoziation von Wahrheit und Geltung kehrt unter entgegengesetztem Vorzeichen wieder: Was wahr ist, ist diesmal klar, aber Geltung verschaffen kann man ihm damit noch lange nicht. Günther bestreitet den Vorwurf. Das vor allen gesprochene königliche Wort steht gegen das allen sichtbare Zeichen, und es ist stärker. Gegen die öffentliche Bekräftigung durch den König und die Bestätigung durch sein Gefolge (Si hüten vaste ir laugen, 1043,1) kommt das wunder der blutenden Wunden des Ermordeten nicht an. Es bleibt bei der Absicht der Rache (1046,4). Der Augenschein der Bahrprobe müßte durchgesetzt werden, und das ist aussichtslos. Wahrheit hängt von Macht ab. Recht setzt Durchsetzbarkeit voraus, und gegen die Garanten des Rechts, den König und seine mächtigen Vasallen, ist Durchsetzung nicht möglich.
76
„Die sichere Ahnung genügt zur Rache nicht; sie verlangt den Erweis, der durch die Bahrprobe I043ff. geführt wird" (de Boor, S. 167). 286
Falscher Augenschein
Dafür daß sie bat betrüebet den Prünhilde muot (1001,3), muß Kriemhilt mit ihrem leit bezahlen, aber der gleiche Hagen, der das Weinen seiner Königin zu seiner eigenen Sache gemacht hatte, bekundet jetzt: e^ ahtet mich vil ringe, stva^ si weinens getuot (1001,4). Das ist nicht Zeichen seiner bekannten Roheit oder seiner Rolle als Verräter, sondern zeigt an, daß Kriemhilts Weinen nur ihre Sache ist und anders als das Prünhilts keine Bedeutung für den burgondischen Herrschaftsverband hat; es ist nicht von öffentlicher Bedeutung.77 Indem die Xantener aus der Geschichte ausscheiden, ist zunächst einmal das Forum verschwunden, vor dem Hagens und Günthers Schuld sich gezeigt hatte und Kriemhilts Tränen Folgen haben müßten. Der Rechtsstreit bleibt offen bis zur suone, die in seltsamer Abweichung von dem, was die Bahrprobe gezeigt hatte, rechtlich verbindlich festhält, was gelten soll, indem Kriemhilt Günther vom Mord freispricht (des %ihet in niemen: in sluoc diu Hagenen hant, , ) und sein Gefolge außer Hagen einschließt (1113,2). Das ist Voraussetzung dafür, daß der Hort nach Worms kommt, doch er erlaubt nicht nur, daß Kriemhilt ins Licht rühmender Aufmerksamkeit zurückkehrt (st pflac vilguoter fugende, des man der küneginm jach, 1127,4), sondern dient auch der Vorbereitung einer neuen Intrige. Erneut also ein Riß zwischen glänzender Fassade und heimlichem Plan, der erneut heimliches Gegenhandeln provoziert. Das neue Verbrechen ist kaum camoufliert; es muß nur zeitweise das Forum entfernt werden, vor dem es verurteilt werden müßte (1136). Hagen kann nur ,in Abwesenheit' der Könige und ,abseits' der von ihnen garantierten Rechtsordnung handeln. Was die Züge und Gegenzüge im einzelnen betrifft, so sind die Vorgänge alles andere als transparent: folgenloser Zorn, unwirksame Versprechen, eine pragmatische Lösung, die Kriemhilts Recht verletzt (1134), ein dubioser Eid (ii4o). 7 ' Statt Transparenz ein trübes Gewirr von Intrige und Gegenintrige. Kriemhilts Klage nach Rückkehr der Könige, mit meiden unt mit vrouwen in einem öffentlichen Gerichtsverfahren (1138), stellt Ordnung zum Schein noch einmal her. Immerhin erreicht sie eine Verurteilung Hagens. Doch bleibt das Urteil folgenlos; es kann den verletzten Rechtszustand nicht heilen, die Wiederherstellung des Rechts gegen den Täter nicht durchsetzen; die dunkle Verwicklung der Könige aber - erst nach dem Urteil erfahrt der Hörer von ihren eiden (1140,2), die sie zu Mittätern machen - bleibt unaufgeklärt. Nicht mehr nur die Wahrheit, auch die Geltung dessen, was vor dem ganzen Hof festgestellt wird, ist beschädigt. Schon mit dem ersten gescheiterten Gerichtsverfahren wurde die Auseinandersetzung in den Dämmer heimlicher Machenschaften abgedrängt, die die Sphäre von Verrat ist. Das zeigt sich, wenn Sivrits Leiche im Finstern vor Kriemhilts Tür 77 78
Tränen als Zeichen für einen Rechtsbruch: Bernreuther (1994), S. 36. Zu den konkurrierenden Rechtsinstituten der nibelungischen Welt S. 3621". - In Hs. C fehlt die letztgenannte Strophe; an ihrer Stelle wird nach 1136 eine andere eingeschoben (C 1151), die den giteklichen mvt Hagens und der Könige schärfer betont (C 1151,4). 287
Die Trübung der Sichtbarkeit
gelegt und ihm damit die Ausstellung seines heroischen Körpers im Tod verweigert wird, so daß das Begräbnis sie nachholen muß. Heimlichkeit zeitigt nach mittelalterlicher Rechtsauffassung weit schlimmere Verbrechen als noch die brutalste offene Gewalttat.79 Von der Heimlichkeit des Verrats her fallt aber nachträglich auch ein zweideutiges Licht auf alle voraufgehenden Szenen von Heimlichkeit, selbst die, die mit minne verbunden waren.80 Zwar muß Heimlichkeit nicht grundsätzlich unter negativem Vorzeichen erscheinen, doch wird sie mit Fortschreiten der Handlung mit dunklen, sich der Sichtbarkeit entziehenden Vorgängen assoziiert. Aus der Heimlichkeit der minne wird in Isenstein der heimliche Betrug. Sivrit stiehlt sich e i% iemen erfunde zu den Schiffen, wo der Tarnmantel verborgen liegt (4ji,2f.), tougenliche - von listen - kehrt er auf den Kampfplatz zurück (432,3); tougenliche rührt er Günther an (452,3) und fordert ihn auf, die List zu kein (455,1); Günther klagt - nach Hs. A81 - seine klägliche Hochzeitsnacht tougen (A 600,3); auch der zweite Betrug unter der Tarnkappe läuft tougenliche*1 ab (653,2) und im Dunkeln. Vor allem die Intrigen der Frauen werden als heimliche diskreditiert. Prünhilt verschweigt ihre Zweifel an Sivrits Stand (verdeit, 725,1) und betreibt ihren Plan verdeckt (heinliche, 726,3) in einem nur anfangs ehrlichen, dann immer heuchlerischeren Gespräch mit Günther. Die parallele Unterredung zwischen Etzel und Kriemhilt83 über die Einladung an die Brüder (1400-1407) erfolgt ausdrücklich in der ,Heimlichkeit': Do si eines nahtes bi dem künige lac [...] (1400,1). Deutlicher noch als bei Prünhilt und Günther sind alle anderen ausgeschlossen, so daß Kriemhilt die Situation zu ihrem tückischen Anschlag nutzen kann, ohne daß Etzel merkt, was er tut. Während Etzel guten Glaubens offen die Boten mit der Einladung beauftragt, spricht sie insgeheim mit ihnen (tougenliche} (1413,3), instruiert sie, was sie in Worms sagen dürfen und was nicht (1414-1419), und befiehlt ihnen einigen Handschriften zufolge84 sogar, bei ihrer Mission verdeckt (tovgenlichen) vorzugehen. Da79
80 81 81 8j
84
Vgl. etwa HRG I, Sp. 731 zu Diebstahl (R. Lieberwirth). Dies ist bei Althoffs (1990^1997) These zu bedenken, daß mittelalterliche Repräsentationsakte bloße „Inszenierungen" waren, die nur öffentlich darstellten, was zuvor in geheimen Beratungen ausgemacht worden war (S. 167): daß es vorbereitende Gespräche gab, ist anzunehmen, doch degradieren dieser schwerlich den öffentlichen Akt zum bloßen Theater, im Gegenteil befreit sie erst dieser Akt vom Odium des Heimlichen und ist konstitutiv für ihre Rechtskraft. Vgl. künftig Müller (19983). Dagegen 650,3 nach BC üf genade; ähnlich wie in A dagegen heinlichen (o. ä.) in JhQ. Fehlt in C. Das Darmstädter Aventiurenverzeichnis hat Kriemhilts Intrige bei Etzel ausdrücklich mit Prünhilts Einladung an Sivrit parallelisiert; es heißt ausdrücklich: also det brunhild vor (S. 178); beide Einladungen werden dem bose[n] fint zugeschrieben (de Boor, 1959, S. 177). So in CJKhla eine Variante von Vers 1414,2 da% ir minen willen vilgüetlichen tuet (nach AB); güetlichen ist in der Variante durch tovgenlichen ersetzt (vgl. Batts, S. 4z8f.); tugentlichn (d) setzt wohl auch diese Variante voraus. z88
Krieg der Blicke und Gewalt
bei treibt sie selbst ihnen gegenüber doppeltes Spiel, denn sie vertraut ihnen nicht ihre wahren Pläne an, täuscht Sorge für die Verwandten vor und läßt nichts von ihren Racheabsichten gegen Hagen merken (1420,1-3), so daß sie die Boten, ohne daß diese es wissen, als Komplicen mißbraucht. Hinter dem heimlichen Auftrag versteckt sich also eine weitere heimliche Absicht. Im Dreischritt der Szenenfolge ist Heimlichkeit potenziert, als Sphäre von Verrat.8' Ein einziges Mal nur, wenn Rüedeger seiner Frau das Ziel seiner Werbungsfahrt zu Etzel eröffnet (1168), ist die nächtliche Nähe nicht Mittel des Verrats, und bezeichnenderweise ist dort auch von taugen oder heinliche nicht die Rede. Dagegen erfolgt Rüedegers verhängnisvolle Unterredung mit Kriemhilt, bei der er ihr Hilfe bei leit verspricht, in heimliche (125 5,2). Allein dies schon - mehr als der umstrittene Inhalt seines Versprechens - ist dubios.
Krieg der Blicke und Gewalt In der Metaphorik von Licht und Dunkel drückt sich die Spannung zwischen scheinhafter Oberfläche und tatsächlicher Intrige aus, und mit dem Übergang vom einen zum ändern bricht sich die Katastrophe Bahn. Scheinbar wird die Transparenz der Welt wiederhergestellt, doch mit verhängnisvollen Folgen. Kriemhilts Rückkehr ins Licht der Öffentlichkeit bedeutet Wiederherstellung der Fassade. Ihr Zug zu Etzel ist eine Folge glänzender Schaubilder: wie herlichen Kriemhilt da käme durch diu lant (1337,3). Die allen sichtbare Pracht der höfischen Welt wird noch einmal aufwendig inszeniert.86 Etzels Macht ist ivit erkant (1334,1); seine Leute verkünden (Jähen) Kriemhilts Ehre (1333,3); Kriemhilt scheint, was sie schon einmal war: hey wa·^ si größer eren sit da %en Hiunen gewan! (1330,4). Nacht wird es nur, damit sogleich ein neuer Tag anbrechen kann (1317,1; i36o,if.). Wenn Kriemhilt dann aber darangeht, ihren argen willen zu verfolgen (1399,4), geschieht das wieder nachts (1400,1). Der scheinbar legitime Wunsch, die Verwandten ,bei sich zu sehen', eigentlich der Erneuerung oder Herstellung von Eintracht dienend, wird zum hinterlistigen Vorwand. Kriemhilt will, anders als Prünhilt, dabei nicht nur herausfinden, was sie nicht weiß, sondern im Gegenteil, aus dem, was sie weiß, ihre Rache ins Werk
81
Heimliches Handeln wird zum negativen Charakteristikum der Sagenfigur, so wenn im .Rosengarten' Kriemhilt sich heimliche über die Annahme ihrer Herausforderung durch die Amelungen freut (Ro A
86
Vgl. den glänzenden Einzug in Passau (1297); den Zug zu Gotelint (1301; 1304); den Empfang mit Ritterspielen (1306, 1307); die Begegnung Kriemhilts mit Gotelint (1311, 1313, 1314); das Fest in der offenstehenden Burg ( i 3 i 8 f f ) ; die Demonstration von milte (1323; 1366; 1369; 1372; 1373); den Aufzug von Etzels Völkern (1339-1547); den Empfang durch Etzel selbst (1349); Kriemhilts strahlende Erscheinung (1351,2); Ritterspiele und Mahl (1353-1359); die Hochzeit in Wien (1362-1367). 289
Die Trübung der Sichtbarkeit
setzen. Die Brüder und Hagen ,sehen' bedeutet, sie in die Gewalt zu bekommen. Kriemhilts Racheplan könnte nicht gelingen, wenn ihr Wunsch gegenüber Verwandten nicht selbstverständlich wäre und mithin harmlos schiene. Das Prinzip sozialen Zusammenhalts wird für die Rache instrumentalisiert. Ins Dunkel ist weithin der Zug der Bürgenden zu Etzel getaucht. Das Dunkel ist unsicher. Taugen (i 534,1) schleicht Hagen den mermp nach. Was wahr, was falsch ist, erweist sich als zweifelhaft: Hagen wird von ihnen zuerst mit einer Lüge abgespeist (1539,3), dann, als sie diese widerrufen haben, hält er die Korrektur der Lüge für Betrug (i 541,1); er muß die Wahrheit auf die Probe stellen; herauskommt die Wahrheit nur mittels einer willkürlichen Gewalttat. Hagen täuscht seine Herren (lougenliche, 1568,1) darüber, daß er den Fährmann erschlagen hat, als man dessen noch dampfendes Blut im Schiff entdeckt (ijoof.). Mit der Überschreitung der Donau scheint das Licht, in dem heroisches Handeln zu stehen hat, vollends gelöscht. Die Kämpfe gegen die Bayern finden im Dunkeln statt: In was des tages ^erunnen (1600,1). Der Überfall auf die Nachhut erfolgt nachts; zuerst hört man die Feinde nur (si horten hüeve klaffen, 1601,2), bevor man sie sieht (si sahen in der vinster der liebten Schilde schtn, 1602,2). Erst wenn er vorbei ist, bricht der Mond aus den Wolken (Ein teil schein ü^ den wölken des liebten manen brehen, 1620,1), doch die aus dem Dunkel drohende Gefahr besteht weiter: Bevor es Tag wird, darf sich das Heer nicht ausruhen (1623,2). Außerdem rät Hagen, den Kampf vor den Königen zu verbergen, bis der Tag das Blut auf den Rüstungen sichtbar macht (1624): Plötzlich scheint die Bewährung der Krieger im Kampf nicht mehr selbstverständlich ins Licht allgemeiner Aufmerksamkeit zu gehören. Vorübergehend scheinen die Bürgenden in Passau und Bechelaren das Dunkel hinter sich gelassen zu haben, doch an Etzels Hof geht das gewaltträchtige Versteckspiel erneut los. Erst als es keinen Rückweg mehr gibt, sagt Hagen den Bürgenden, was er von den merwip gehört hatte (1589,1). Von da an kommt die Wahrheit Stück für Stück ans Licht. Schon die Begrüßung durch Kriemhilt drückt Konfrontation in den Blicken aus. Kriemhilts Blick wird zur Waffe: wan da% si swinde blicke an ir viande sach (I749.4)-87 In der folgenden Szene bieten sich Volker und Hagen den Hiunen als Objekte neugieriger Musterung aus sicherem Abstand dar: Alsam tier diu wilden wurden gekapfet an die übermüeten beide von den Hiunen man.
(1762,1 f.)
Das ist die Kehrseite des Glanzes, den die Helden ausstrahlen: Schrecken. Für Kriemhilt ist schon der Anblick Hagens verletzend; sie bricht in Gegenwart ihres 87
Ich folge de Boors Übersetzungsvorschlag („scharfe Blicke auf ihre Feinde warf", S. 276), da er das aktiv-aggressive Moment des Blicks (.einen Blick sehen') herausstellt. 290
Krieg der Blicke und Gewalt
hiunischen Gefolges in Tränen aus: E^ mante si ir leide: weinen si began. (1763,1) Ihr Weinen ist ein Politikum wie das Prünhilts und löst eine ähnliche Reaktion aus: des bete michel wunder die Et^elen man, wa^ ir so schiere beswteret het ir muot. si sprach: „da% hat Hagene, ir beide küene unde guot. " Si sprachen %uo der vrouwen: „wie ist da^ geschehen? wand' wir iuch niuliche haben vrä gesehen.** nie niemen wart so küene, der^ iu hat getan, heilet ir% uns rechen, e% sol im an sin leben gan. " (1763,2-1764,4)
Endlich scheint die Gelegenheit gekommen, Licht ins Dunkel zu bringen. Kriemhilt erklärt den Grund ihres leit. Sie versucht die Aufdeckung der Wahrheit über Sivrits Tod und den Hortraub feierlich zu inszenieren, so daß sogleich Sanktionen erfolgen können. Indem sie ihr militärisches Gefolge verstärkt und under krone (1770,4), mit den Insignien ihrer königlichen Macht, auftritt, wird der angemessene Rahmen für die verbindliche Feststellung und sofortige Durchsetzung von Wahrheit geschaffen. Kriemhilt provoziert ein Geständnis vor dem ganzen Hof. Deshalb fordert sie ihre Leute auf, gut auf Hagens Worte zu achten (1771,1 f.): ich wei^ in so übermüeten da% er mir lougent nihi; sie gibt ihn der Rache frei: so ist auch mir unmare, swa^ im dar umbe geschiht (1771, }(.). Das erste gelingt, das zweite nicht. Worte und Zeichen stimmen jetzt wieder überein; die Wahrheit kommt heraus, doch ihre Geltung wird bestritten. Die Abfolge kehrt die des Streits mit Prünhilt vor dem Münster um. Noch bevor gesprochen wird, zeigt der übermüete Hagene offen das Beweisstück für seine Schuld, Sivrits Schwert: wol erkande^ Kriemhilt, da% e% Sifrides was (1783,4), aber er zeigt damit auch die Waffe, die Kriemhilt es verwehrt, daraus Folgerungen zu ziehen. Das Zeichen beleidigt Kriemhilt zweifach: e% mante si ir leide: weinen si began. ich wcene e% bete dar umbe der kiiene Hagene getan.
(17 84,5 f.).
Die Worte bestätigen die Geste. Wie in einem gerichtlichen Verhör stellt Kriemhilt Hagen die Frage, schon nicht mehr nach dem Ob (das steht fest), sondern nach dem Warum seiner Tat: [...] %u>iu tatet ir ir das^ habt verdienet, da% ich iu bin geha%? ir sluoget Stfrtden, den minen lieben man. (1789,1-3)
Die Worte bezieht de Boor (S. 279) auf „Kriemhilds Freudenausbruch beim Nahen der Burgunden". Das ist zu punktuell gedacht, denn der Ausruf Nu tvol mich miner vreuden (1717,1) setzt ja nur fort, was Kriemhilt an höfischer Harmonie all die Jahre vorgespielt hat. 291
Die Trübung der Sichtbarkeit
Sie bekommt zu hören, was sie hören will, indem Hagen vor ihrem Gefolge erklärt: Der rede ist nu genuoc [...] ich bin% aber Hagene, der Stfriden sluoc [...] ist am laugen [...] ich ban es alles schulde [...] ich enwolde danne liegen (1790-1791). Kriemhilt stellt vor allen fest, daß Hagen gestanden hat: Si sprach: „nu hart ir recken, wa er mir lougent niht [...]."
(1792,1)
Und sie erklärt ihn zum vogelfreien Opfer der Rache (1792,3). Es gibt waffenfähige Zeugen. Damit sollte nach den früher geltenden Regeln alles klar sein. Doch Hagens Worte nu reche^ swer der welle [...] (1791,3) schneiden die Konsequenzen ab und wiederholen seine aggressive Geste.89 Mit Sivrits Schwert auf den Knien nimmt er die Pose des Richters in eigener Sache90 ein und droht mit der Waffe (1783; 1785). Damit definiert er den Gerichtsakt in seinem Sinn um. Der Urteilsspruch ist nicht mehr Sache der Königin, sondern dessen, der sein eigenes Recht mit dem Schwert durchsetzen kann. Statt daß jetzt derselbe Mechanismus wie damals in Worms abläuft und die Gefolgsleute die Königin rächen, zucken die Hiunen zurück. Die Niederlage spiegelt sich in den Blicken. Die Blicke des hiunischen Gefolges halten das aggressive Bekenntnis der Wahrheit nicht aus und werden zurückgeworfen: die übermüeten degene ein ander sahen an.
(1792,4)
Ein Hiune fragt: wes sehet ir mich an? (1794,1), ein anderer wagt Volker nicht anzugreifen durh sine swinde blicke, die ich an im gesehen han (1795,4). Der Krieg der Blicke ist verloren, die helde kerten dannen (1799,3). Es hat sich herausgestellt, daß aus der Wahrheit, die unbestritten und öffentlich ist, keinerlei Konsequenzen folgen, weil sie eine Funktion der Macht ist. Die Wiederherstellung von Sichtbarkeit bedeutet nicht Wiederherstellung von Recht, sondern Demonstration schierer Gewalt. Solange Kriemhilt niemanden hat, der für sie eintritt, ist Hagens Position unangreifbar. Wenn damit die Haltung der Königin geklärt ist, so doch noch nicht die Etzels. Wieder geht es nur darum, was die meisten schon wissen, öffentlich wahrnehmbar zu machen. Volker fordert daher seine Herren vil lüte auf: ir suit %e hove gen und hare t an dem künege, wie der si gemuot.
89
(1803,2 f.)
Wynn (1965) hat in der Ausstellung symbolischer Gesten ein durchgängiges Gestaltungsprinzip des Epos erkannt: „At crucial points of the plot he allows the gesture to take over from dialogue and detailed description" (S. in). 9 ° Wynn (1965), S. 107; keine Rede davon, daß die Geste von ihrer rechtlichen Bedeutung abgelöst würde (Wolf, 1981, S. 59?.): Die rechtliche Bedeutung pointiert erst die ungeheuerliche Provokation. 292
Krieg der Blicke und Gewalt
Der Empfang bringt jedoch die gewünschte Klärung nicht. Was die Bürgenden bei der Begrüßung durch Etzel an Freundlichkeiten erfahren, widerspricht dem, was die Konfrontation mit Kriemhilt ergeben hatte (1808; 1811,4), und es wird erneut darauf ankommen, den Widerspruch aufzulösen. Darauf legen es in der Folge Kriemhilt, Volker und Hagen an. Etzel muß Stellung beziehen, Bis dahin muß Kriemhilt noch verdeckt agieren, und das heißt wieder Verrat. Licht und Dunkel stehen für Recht und Unrecht. Nachdem Hagen am laugen die brutale Wahrheit offengelegt hat, ist das Licht auf Seiten der Bürgenden und das Dunkel auf der Kriemhilts. Der erste Anschlag auf die Gäste erfolgt aus dem Dunkel, wenn die Bürgenden schlafen. Das disqualifiziert ihn. Wieder läßt sich, was im Dunkeln geschieht, nicht völlig verbergen. Die Attentäter werden bemerkt, weil Volker, der mit Hagen Wache hält, einen Helm verre ü% einer finster blitzen (schimn) sieht (i837,2f.). Nur versehentlich tritt ans Licht, was im Dunkeln bleiben wollte. Anders die Burgonden, Volker strahlt in hellem Licht, wobei die nächtliche Situation vergessen scheint: Der (reit üf sinem houbte einen [...] auch lohent im die ringe sam da^fiwer tuot.
(1841,1-3)
Heroischer Glanz auf der einen Seite und feiges Versteckspiel auf der anderen entsprechen der Rollenverteilung, wie sie von nun an gelten soll. Was im Dunkel ins Werk gesetzt wurde, will Volker ans Licht zerren: Do sprach aber Volker: „so lat doch da^ geschehen, wir si bringen innen da^ ich si habe gesehen. des iht haben laugen die Kriemhilde man, si ungetriweliche vil gerne beten getan." (1845)
Diesmal versucht Volker noch vergeblich, die Gegner zu zwingen, aus ihrer Verborgenheit herauszutreten, ihr laugen aufzugeben. Beim Kirchgang, tatsächlich einer Zurschaustellung kriegerischer Rüstung, setzt sich der Krieg der Blicke fort: Hagens erlogene Erklärung für den martialischen Auftritt der Burgonden beantwortet Kriemhilt nur mit einem Blick: wie rehte fientliche si im under diu ougen sach! (1864,2). Die Blicke herausfordern soll auch der bühurt: lat die vrouwen scbouwen und die degene, wie wir künnen rtten; da^ ist guot getan. man git dob lop deheinen des künec Güntheres man.
(1888,2-4)
Nicht mehr der hiunische Hof gafft die Fremden wie wilde Tiere an, sondern diese geben die aggressiven Blicke zurück; ein hiunischer Höfling reizt Volkers Blick, das reicht, ihn totzuschlagen. Aus den unbeteiligten Zuschauern des höfischen Schauspiels werden Zeugen einer Gewalttat (Et^el unde Kriemhilt e% bescheidenltchen sach, 1890,4). Den offenen Ausbruch allgemeinen Kampfes kann Etzel noch einmal ver293
Die Trübung der Sichtbarkeit
hindern, indem er öffentlich bezeugt, was er doch nicht gesehen hat (1896,3): es sei ein Unfall gewesen. Ein letztes Mal verschafft sich eine Lüge Geltung. Doch Etzels Blick ist jetzt in die verdeckte Auseinandersetzung einbezogen. Wenn Hagen beim Festmahl aggressiv den frühen Tod des Königssohns voraussagt, heißt es: Der künec an Hagene blihte; diu rede was im leit.
(1919,1)
Der Blick ersetzt die von Etzels Fürsten gewünschte Antwort auf die Provokation. Mit Dancwarts Auftritt beim Festmahl kehrt das Epos zur Transparenz des heroischen Schauspiels zurück: man sach den Hagenen bruoder %e hove herlicben gan (1947,4). Er meldet vil lüte (1952,1), was geschehen ist. Endlich kommt, was verborgen war, ans Licht, und was Recht ist, ist Gegenstand offenen Kampfes. Der Preis für diesen Durchbruch von Wahrheit ist beispiellose Brutalität und totale Vernichtung. Das Morden hört erst auf, wenn fast alle tot sind. Der Blick Kriemhilts, von der gerühmt wurde, wieviele Helden sie ,vor sich sah', hat schon vorher kein Ziel mehr: nu sehet al umbe, Kriembilt, wem ir nu gebieten weit.
(2231,3)
Das Ende bedeutet auch eine Auslöschung des Blicks. Das Fenster, vor dem sich bei zahllosen Empfängen höfische Pracht entfaltete, ist jetzt der Platz Dietrichs (2247,2), der sich, dorthin zurückgezogen, heraushalten zu können glaubt. Von diesem Fenster aus gibt es nichts mehr zu sehen. Übrig ist die melancholische Geste: Do sah er trurecliche sitzen hie den man.
(2309,1)
Hagen wird nach seiner Niederlage den Blicken entzogen; man bringt ihn an sin ungemach, da er lac besiegen unt da in niemen sach.
(23 56,1 f.)
Der alles so tat, wie man es sehen sollte, verschwindet an einen Ort, wo ihn niemand sieht - die größte Entfernung von seiner Rolle. Der Blick stiftet keinen sozialen Zusammenhang mehr, König und Mann haben sich aus den Augen verloren: Si lie si ligen sunder durch ir ungemach, ir sit dewedere den ändern nie gesach [! ] , si ir bruoder houbet hin für Hagenen truoc
(2366,1—3).
Wenn Hagen noch einmal zu einem letzten Kräftemessen auf die Bühne kommt, zwingt Kriemhilt ihm den Anblick seines toten Herrn (2370,1) auf, indem sie sein Haupt hi dem hare vor ihn trägt (2369,3) und macht Etzel zum Zeugen ihrer letzten Greueltat (2373,4). Das ist alles, was zu sehen bleibt. Die den Blicken von Mit- und Nachwelt sich darbietende Pracht ist dahin. In der anfänglichen Trübung und letzt294
Krieg der Blicke und Gewalt
endlichen Auslöschung des Blicks sind die Ursachen sowohl wie die Erscheinungsformen des Untergangs der nibelungischen Welt chiffriert.
295
VI RÄUME Offener vs. abgeschlossener Raum1 Hagens Erzählung von Sivrits Jugendtaten hatte eine fremde Welt ohne jedes feste raumzeitliche Koordinatensystem entworfen. Dadurch hatte sie sich von der gewöhnlichen nibelungischen Erzählwelt abgehoben, doch weicht auch diese von alltagsweltlichen Raumvorstellungen ab. Es gibt keine deutlich geschiedenen Räume, die gegeneinander abschließbar wären. Was verhandelt wird, findet in der Regel auf offener Szene statt, zu der prinzipiell jeder Zutritt hat. Der grundsätzlich offene Raum erklärt die Beliebtheit des Motivs .Kampf in der Halle' im heroischen Epos, denn die äußere Abgrenzung erlaubt Konzentration des Geschehens.1 Absonderung muß immer ausdrücklich angezeigt werden. Sie wird, wie an der Darstellung der Intrigen Prünhilts und Kriemhilts zu sehen war, nicht immer lokalisiert, wohl aber als totigen, heimliche u. ä. gekennzeichnet. Es reicht anzuzeigen, daß niemand zuhört. Der Raum ist kein Kontinuum. Er ist die Bühne, auf der jeweils gehandelt wird. Alle Akteure, die gebraucht werden, sind auf der Szene. Wer dort nicht ist, hat derzeit mit dem Geschehen nichts zu tun. Oft wird nur der, der etwas zu tun hat, genannt. Wer gebraucht wird, ist plötzlich da. Nicht wer einen Raum betritt, nimmt am Geschehen dort teil, sondern wer daran teilnehmen soll, ist in räumlicher Nähe. Die Auftritte der Protagonisten sind allein von ihrer Funktion für die Handlung gesteuert. Aus der Abwesenheit eines Namens darf man nicht auf Abwesenheit der Figur schließen.3 Man agiert auf Hör- und Sichtweite. Was in einem abgeschlossenen Raum gesagt wird - dem Festsaal des Hiunenkönigs z. B. - können die Draußenstehenden hören, wenn es die Handlung erfordert und umgekehrt.4 Man nimmt wahr, was der Gegner tut. Was in einem Kampf auf jeder der beiden Seiten gesprochen wird, Zum historischen Raum der Sage: Brunner (1990); er wird im folgenden nicht erörtert werden. Wolf 0995), S. 3 8 3 f. Man kann deshalb nie wissen, ob nur die ausdrücklich Genannten anwesend sind, wer Zeuge einer Szene ist und wer nicht (dagegen etwa Grenzler, 1992, S. 160; 163; 371 u. ö.). Dem Erzähler geht es nie um vollständige Situationsprotokolle, was als Intention implizit vorausgesetzt wird, wenn ein Realistischer' Ablauf aus dem Wortlaut des Textes gezimmert wird. Vgl. etwa 2034; 2230. 2
97
Räume
vernehmen die ändern mit und reagieren darauf. Wo eben noch erzählt wurde, daß die Kämpfer weit auseinandergezogen werden - z. B. wenn die Burgonden die Hiunen aus dem Saal vertrieben haben und gewaltsam auf Distanz halten: den Et%elen man/gab er herberge hoher von dem sal (2018,2f), - ist man sich doch nahe genug, um alles vom Gegner zu verstehen: Hagen und Volker verhandeln mit Etzel (2oi9,2f); Kriemhilt mischt sich ein (2021,2-4); Hagen beleidigt Etzel und Kriemhilt, die in unmuote (2024,2) ist, weil dies vor Et^elen man (2024,3), also in deren Hörweite, geschieht. Wenn Kriemhilt an Etzels Leute ihr Versprechen reichen Lohns richtet, dann antwortet ihr der Burgonde Volker mit höhnischen Worten über deren Feigheit (2026f.). Irinc befindet sich in Kriemhilts Gefolge, wenn er nach seinen Waffen ruft (2028); darauf warnt ihn von der Gegenseite Hagen (2029), und Irinc repliziert (2030); erst danach sieht Volker, wie Irinc mit 1000 Mann heranrückt. Oder die Schlußszene: Dietrich verläßt Kriemhilt mit weinenden ougen (2365,2); Kriemhilt läßt Hagen und Günther getrennt durch ir ungemach gefangen halten (2366,1); dann geht sie, da si Hagenen sach (2367,1) - in sein Gefängnis also? -, und streitet mit ihm um den Schatz; nach Hagens Weigerung läßt sie - wo? - Günther enthaupten und trägt - hat sie sich entfernt? - sein Haupt bt dem hare vor Hagen (2369,3); ein weiterer Wortwechsel schließt sich an; als er in Gewalt ausartet, sind plötzlich Etzel, Hildebrant und wieder Dietrich auf der Szene - doch wo? Kein Wort davon, wann sie hinzukamen und welche Bewegungen inzwischen stattgefunden haben.' Weil der Raum des Handelns offen, Räume nicht gegeneinander abgegrenzt sind, müssen Veränderungen im Raum in der Regel nicht erzählt werden. Eben hat Kriemhilt noch vergebens versucht, Dietrich in den Kampf zu ziehen, da gelobt sie schon Bloedelin Lohn für Hilfe bei der Rache (1903/04), ohne daß gesagt werden müßte, daß sie den einen verließ, um den anderen aufzusuchen. Sogleich fordert Bloedelin sein (bei der Unterredung anwesendes?) Gefolge auf, sich zu wappnen (1910). Wenn Kriemhilt ihn verläßt und %e tische geht (1911,2), dann zeigt das an, daß sie bei den folgenden Aktionen nur aus dem Hintergrund mitwirkt. In räumlichen Konfigurationen drücken sich Rangverhältnisse aus. Das Beieinanderstehen des Königspaars macht geordnete Herrschaft anschaubar (604,2-4): Daß Sivrit vor [...] recken [...] krone trägt (713,3), bedeutet, daß sie ihm untergeben sind. Günthers und Prünhilts Auftritt unter Krone findet nicht an einem genauer lokalisierbaren Ort statt, sondern ,vor dem Land' (in des küneges lande, 604,4). Das anschließende Krönungsmahl, der nächste Teil der Hochzeitszeremonie, ist von diesem Staatsakt unterschieden, folglich gehört er an einen ,anderen* Ort (obwohl es zuerst so scheint, als befände sich das gesidele im gleichen Raum); man muß Schröder (1968), S. 162 denkt über eine „wahrscheinlichere" Lösung nach, indem Kriemhilt z. B. Hagen „vorführen ließ" und „der ganze Wortwechsel vor Zeugen" stattfand. Das ist zweifellos plausibler, hat aber nichts mit der Raumbehandlung im Text zu tun. 298
Offener vs. abgeschlossener Raum
,sich dorthin begeben' (der künic wolde gan/^e tische mit den gesten, 604,1 f.). Wohin, bleibt offen. Prünhilt tritt tatsächlich ab (611,4). Wie selbstverständlich gleitet man von einem Raum in den anderen. Wenn Sivrits Hochzeit mit Kriemhilt derjenigen Günthers mit Prünhilt gleichwertig sein soll, muß sie am selben Ort stattfinden. Kriemhilt ,ersetzt' dann Prünhilt. Danach muß nicht eigens gesagt werden, daß man sich zum Hochzeitsmahl in einen anderen Raum begibt, und natürlich ist Prünhilt sogleich wieder dabei. In der männlich dominierten Welt gibt es keinen Raum jenseits der Bühne, auf der vor allen agiert wird und die manchmal um die Gesellschaft der Frauen erweitert werden kann, es gibt allenfalls abgedunkelte oder unzugängliche Sphären, in denen heimliche Dinge vor sich gehen. Diese Räume sind nicht ,privat' in einem modernen Sinne, sondern allenfalls in der ursprünglichen Wortbedeutung, daß ihnen .etwas fehlt'. Hier handeln vor allem die Frauen. Entgegengesetzt werden weniger Räume als Sphären legitimen und illegitimen Handelns. Wenn Kriemhilt Etzel überredet, ihre Verwandten einzuladen, gibt es eine Abfolge von drei Räumen: das eheliche Schlafgemach (Do si eines nahtes bi dem künige lac, 1400,1), der Raum, in dem Etzel die Boten abfertigt, und der, in dem Kriemhilt anschließend die Boten gesondert instruiert. Man hat sich gewundert, daß die nächtliche Unterredung unmittelbar in die Szene übergeht, in der Etzel mit den Boten spricht (die guoten videlare hie^ er bringen sa %ehanf, i407,4).6 Kriemhilt beordert sie immerhin danach in ir kemenaten (1413,2). Doch nicht der Wechsel von Raum zu Raum ist von Interesse, sondern die Tatsache, daß einer der Räume öffentlich ist und von zweien die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Gemeint ist bei der ersten Unterredung gar nicht eine Szene ehelicher Intimität, sondern eine öffentlichkeits-abgewandte Situation, die ein Doppelspiel erlaubt: für Kriemhilt das Einfädeln eines hinterlistigen Planes, dessen Mitspieler nur halb unterrichtet sind, dagegen für Etzel eine Demonstration von Eintracht des Sippenverbandes, die alle angeht und daher prinzipiell öffentlich ist. Die Fortsetzung findet deshalb in verschiedenen Räumen statt, je nach den Zielen der Beteiligten. Für das, was Etzel von Kriemhilts Vorschlag versteht, ist keine Abschließung in Heimlichkeit nötig. Deshalb kann das Resultat der Unterredung - die Einladung an die Bürgenden - übergangslos vor anderen publik gemacht werden. Etzel bewegt sich von Anfang an, schon in der Unterredung mit Kriemhilt, in der Sphäre herrscherlichen Handelns, und deshalb finden ihn die Boten auch sogleich dort - da der künec sa% (1408,1) - und nicht im Bett bei Kriemhilt. Kriemhilt dagegen handelt, auch nachdem der offizielle Auftrag ergangen ist, versteckt und in abgesonderten Räumen. Und deshalb müssen die Boten, nachdem sie vom König ihre Instruktio6
Vgl. 1407-1413; Masser (1981) nimmt hier Vortragsvarianten an, denn „die als Boten vorgesehenen Spielleute eilen kaum mitten in der Nacht ins königliche Schlafgemach" (S. 130). Einen Fehler sieht auch Andersson (1987), S. 134. 299
Räume
nen erhalten haben, den öffentlichen Raum verlassen und sie in ir kemenäten aufsuchen (1413,2). Solch symbolisch konnotierter Raum ist aus heldenepischer Darstellung wohlbekannt. Im Vergleich mit Werken wie dem ,Rolandslied'7 fällt sogar auf, daß der Raum klarer definiert, nicht nur durch ein Requisit gesetzt ist. Er ist in abgegrenzte Teilräume gegliedert, die Handlungssbereiche und Personenkonstellationen bezeichnen. Insofern ist er immer mehr als nur Raum.
Raum, Institution, Personenkonstellation: %e hove Das zeigt die Wendung %e hove. Damit wird sowohl ein Raum wie eine Personengruppe wie eine Institution benannt, häufig aber alles zugleich. Meist ist hove ein unbestimmter Raum mit unbestimmten Grenzen, der das Zentrum der Herrschaft ist. So sieht man die angeblichen Boten der Sachsen mit der falschen Kriegserklärung %e hove riten (877,2), was wohl die weitere Umgebung der Könige meint. Dort bekommen sie dann urloup, vor dem König selbst zu erscheinen (878,1). Die Ankunft der Bürgenden in Etzels Burg heißt hin %e hove reiten, d. h. sie verlassen das freie Feld (1719,3), wo sie ein Zeltlager aufgeschlagen haben, um zu Etzels Regierungssitz zu gelangen (1732,1); %e hove im Sinne von ,zum König' gehen sie dann erst später (1803,2; 1804,4). B£i diesem zweiten Mal ist also nicht der Sitz des Hofes, sondern enger der Herrscher gemeint, wo immer der sich gerade aufhalten mag. In diesem Sinne werden die Boten der Sachsen %e hove für den künec geleitet (141,4). Die Wendung in was %e hove erhübet meint deshalb: ,sie wurden beim König vorgelassen' (744,4)·' Daneben gibt es eine rein räumliche Bedeutung. Mit hof kann der freie Platz im Inneren der Burg gemeint sein, auf dem sich Ankömmlinge aufhalten, die jungen Ritter ihre Kräfte messen oder ein bühurt stattfindet.9 Bei der Ankunft der Burgonden bei Etzel bleiben zunächst die herren üf dem hove stan (1760,1), während Volker und Hagen über den hof vil verre für einenpalas ivtt gehen (1760,3). Hier ist der Hof der Raum zwischen den verschiedenen Gebäuden.10 Man denke etwa an die An- und Abwesenheit des Königs Marsilie in der ersten Schlacht. Er nimmt zunächst an ihr nicht teil, empfängt aber mehrfach Nachricht von ihrem Verlauf, auf den er unmittelbar reagieren kann; als alle diese Reaktionen den Verlauf der Schlacht nicht ändern, greift er selbst ein: Ein am realistischen Roman geschulter Leser müßte annehmen, er habe sich die ganze Zeit in der Nähe aufgehalten, und würde fragen, wo und wie das möglich war. Das ,Rolandslied' drückt auf diese Weise nur aus, daß er ,an der Schlacht beteiligt ist', zuerst durch sein Heer, dann durch direkt Beauftragte, schließlich in eigener Person. Dies ist in Heldenepen üblicher Sprachgebrauch. In der .Kudrun' etwa erscheinen Hartmuots Boten, nachdem sie schon vorher in der Burg angekommen sind, %e hove (K 766,1 f.), d. h. vor den Königinnen; Hilde erlaubt, daß Hartmuot ohne Fesseln %e hove, nämlich vor sie, kommen darf (K 1599,2). 133,1: üf dem hove; 741,2: an dem hove; 742,2; 1869,4; 1872,3: üf dem hove usw. So auch ,Kudrun' 1618,4: Kudrun geht des hoves an ein ende. 300
Raum, Institution, Personenkonstellation: %e hove
Die unterschiedlichen Vorstellungen sind aber nicht immer klar geschieden, und die Bedeutung kann innerhalb einer einzigen Episode wechseln. Wenn Hagen und Volker, nachdem sie über den hof gegangen sind, zu ihren Königen zurückkehren, wird auch das hin %e hove gehen genannt (1800,3): Hof wieder als Personenkonstellation. Kurz darauf schiebt sich erneut die Raumvorstellung nach vorne, wenn es heißt, si giengen da si funden die gieren degene in großem antpfange an dem hove stan.
(iSoz.zf.)
Wenn gleich danach Volker seine Herren auffordert ir suit %e hove gen (1803,1 f.), ist , wieder anderswo; gemeint ist weder der Platz, auf dem man steht, noch die Gruppe um die burgondischen Könige, in der man sich befindet; gemeint ist: zu Etzel, in die Umgebung des hiunischen Königs." Weil %e hove räumlich und institutionell nicht eindeutig definiert ist, kann der Herrscher, wenn er seine Leute um sich versammeln will, %e hove schicken: [Günther] bat ouch harte balde %e hove nach Gernote gan (148,4). I2 Hof ist die Versammlung derer, die über das Land herrschen.1' Wenn Kriemhilt öffentlich auftreten soll, ordnet Günther an, daß sie vor ihm und seinen Leuten erscheint: si mit ir mageden hin %e hove solde gan.
(275,4)
Oder bei der Eheschließung mit Sivrit: dd hie^ man Kriem bilde %e hove für den künic gan.
(609,4)
Was %e hove passiert oder laut wird, hat die Umgebung des Herrschers zu Zeugen, ist also im mittelalterlichen Sinne , öffentlich'. Daher Rüedegers Empörung und Rache für die Schmährede eines Hiunen, die %e hove %e lute erfolgte (2141,4). Schließlich kann %e hove auch noch die Umgebung der Damen meinen. So sucht Sivrit um die Erlaubnis nach, %e hove, d. h. zu Kriemhilt und ihrer Mutter, zu gehen (550,2). Ze hove gehen ist ein feierlicher Auftritt in Festgewändern; die Damen kleiden sich ebenfalls um, bevor sie Sivrit zu kommen auffordern. Auch wenn der König sich dorthin begibt, geht er %e hove.14 Neben dem Herrschaftszentrum in der Nähe des Fürsten gibt es ein zweites mit der vrouwe als Mittelpunkt. Umgebung der Damen und Herrschaftszentrum fallen in eins, wenn man %e hove zu Prünhilt fährt > 2 ; 4)" So auch 1805,1 und 1806,1. 12 Am wahrscheinlichsten ist %e hove hier Angabe der Richtung, in die jemand kommen soll. Dann wäre zu übersetzen: ,Günther schickte nach Gernot, daß er an den Hof kommen sollte'. Die syntaktische Ordnung läßt jedoch auch die Bedeutung zu: ,Er schickte an den Hof nach Gernot', was bedeuten würde, daß auch des anderen Königs Umgebung %e hove genannt würde. '' So auch etwa Rl 8674; 8681 u. ö. 14 2 9°. 3; 349.3; 550,2; 55 1 , 2 ; vgl. 1109,1. 301
Räume
Herrschaftszentrum und Raum, in dem die Herrschaft zentriert ist, können füreinander eintreten: hie en hove, . h. in Worms in der Umgebung Günthers, ist der Platz der Tronegare (699,3). Die Damen gehören das eine Mal (wo es um die Herrschaft geht) nicht dazu; das andere Mal ist ihre Sphäre der Mittelpunkt von Hof, zu dem sogar der König um Zutritt bittet. Es überlagern sich also unterschiedliche Vorstellungen, die erst der höfische Roman integrieren wird. All diese Verwendungen sind jedoch recht unspezifisch; %e hove impliziert in der Regel nicht eine besondere Lebensform. Genauere räumliche Vorstellungen sind mit %e hove allenfalls als Aufenthaltsort der Frauen verbunden. In diesem Kontext ist der Einfluß der zeitgenössischen höfischen Kultur am deutlichsten zu spüren. Mit dem kulturellen Muster wechselt die poetische Figurierung des Raums. Die räumliche Absonderung hat die gesellschaftliche Trennung von Männern und Frauen anzuzeigen. Die männlich dominierte Welt des Hofes als Versammlung von Feudalherren um den König kann von den Frauen angeschaut werden (i33,2f.), doch bleiben sie in der Regel ausgeschlossen. In umgekehrter Richtung sind Blick und Zugang blockiert. Gesehen werden können die Frauen nur, wenn sie in der Sphäre des (männlichen) Hofes auftreten, wenn z. B. Kriemhilt und ihre Frauen in feierlicher Prozession im Festgewand erscheinen (276-280): Mit ir vil schatten mägeden si kom für den sal (610,1).'' Die Sphäre der Frauen ist nur unter genau festgelegten Bedingungen zugänglich. Wenn Sivrit Günthers Botschaft den Frauen verkünden will, hat er eigens die Erlaubnis zu erwirken, daß er %e hove gän darf (551,2; vgl. 550,2). So entfaltet sich .höfisches Leben' im prägnanten Sinn hauptsächlich, wenn die Absonderung der beiden Räume momentan aufgehoben wird. Dies geschieht meist in feierlicher Form. Der Übergang vom Hof in die Frauengemächer ist zeremoniell formalisiert. Vorbereitet wird er wie ein diplomatischer Empfang (Do enbot er siner swester da% er si wolde sehen, 347,i).16 Man verkehrt durch Boten miteinander.'7 Die Frauen wie die Männer legen Festkleider an; Begrüßung, Einnehmen der Plätze, Rede und Gegenrede, Abschied gehen ihren gemessenen Gang.'8 Hier, wo ein im engeren Sinne ,höfisches' Leben faßbar ist, unterscheiden sich die Interaktionsformen deutlich von denen des höfischen Romans. Es gibt keine entlastete, Männer und Frauen umgreifende, exklusive Geselligkeit, sondern nur den hochformellen Kontakt zweier gewöhnlich getrennter Gesellschaftssphären.
11 16 17
18
Vgl. 581, 582. Vgl. 546, 549, 550; so später noch beim Versöhnungsritual. So vor der Fahrt nach Isenstein, wenn Kriemhilt den Bruder verständigen will: Nach den hergesellen wart ein böte gesant, ob si wolden scouwen niuwe^ ir gewant [...] (369,1 f.) 348—361; 552—562; vgl. Rüedegers Auftritt vor Kriemhilt (1225,3f.). 302
Regionalität und Fremde
Regionalität und Fremde Es gibt Zentren höfischer Ordnung und politischer Macht, die verhältnismäßig ähnlich strukturiert sind: Worms, Xanten, Passau, Bechelaren, Etzelburg, selbst Isenstein, insofern es Sitz von Prünhilts Herrschaft und Ziel der Werbung des höfischen Günther ist. Raum wird von Punkten politischer Herrschaft aus gedacht. Die Welt zwischen ihnen ist leer. Es zählt allein, was an jenen Zentren sich abspielt. Die bekannte Feudalwelt verteilt sich auf eine Anzahl von ,Inseln' in einer bedrohlichen Wildnis. Auf den ,Inseln' hat man Verwandte, dort ist man bekannt, selbst wenn man sich noch nie von Angesicht sah. Zwischen den ,Inseln' dagegen, auf denen die geschlossene feudale Kriegergesellschaft fest institutionalisiert ist, liegt ein gefahrlicher Raum, den man schwer bewaffnet und mit größter Vorsicht durchmessen muß. Das gilt insbesondere für den Raum, der sich zwischen dem burgondischen und dem hiunischen Machtbereich erstreckt. Eine solche geographisch-soziale Struktur beruht auf „segmentärer Differenzierung".'9 Es gibt eine Reihe gleicher Einheiten, doch nicht oder kaum Strukturen, die diese Einheiten übergreifen: weder eine verbindliche Rechtsordnung, die lokale Gewalten mediatisiert hat - daher muß der Racheanspruch sich immer wieder neu beweisen -, noch eine Herrschaft, die sich kleinere Herrschaften unterordnet Versuche dazu sind negativ besetzt -, und nur ansatzweise sichere Verhaltensstandards, die überall gelten - daher die .Mißverständnisse' bei der Ankunft von Fremden oder betreffs regionaler site.10 Eine solche Welt hat um 1200 - gerade auch im Vergleich mit der höfischen Kultur - schon archaisches Gepräge. Gleichwohl wird sie eng an die bekannte herangerückt. Die Ortsnamen, die gewöhnlich im Heldenepos die Handlung irgendwo lokalisieren, ob nun im ,Orient', in ,Lamparten', ,Bern' oder ,im Gebirge', sind hier mit präzisen geographischen Vorstellungen verbunden: in Bürgenden (2,1), genauer %e Worme^ bi dem Rine (6,i). 21 Das ist nicht irgendwo im unvertrauten Raum einer epischen Sonderwelt, sondern eine bekannte Stadt, wenn auch der alte Name %en Bürgenden (21,4) befremden mag; selbst wenn die Ortskenntnisse des vermutlich aus dem Südosten des Reichs stammenden Dichters in Bezug auf den Oberrhein nicht allzu gut sind, wird man ihm doch eine Unterscheidung von heldenepischem und zeitgenössischem Burgund zutrauen können, und Worms dürfte als eines der Zentren der Königsmacht im 12. Jahrhundert ein bekannter Name gewesen sein. Bekannt sind dann erst recht die Namen im Donauraum, deren ausführliche Nennung in seltsamem Kontrast zur Bedeutungslosigkeit der Geschehnisse steht, die sich dort ab19
Luhmann (1980), I S. 25. Die segmentäre Differenz ist freilich schon verfügbar, wenn man wie Hagen zum eigenen Vorteil eine site erfindet (1863,2). " Vgl. Wolf (1995), S. 3 i 5 f f . 10
503
Räume
spielen. Das ist ein geographisches Pendant zur ,Ansippung' von Dynastengeschlechtern an Gestalten der Heldensage, wie sie vor allem im Spätmittelalter dann üblich werden wird; gezeigt wird, daß die Heldensage ,bei uns' spielt. Den geographisch fixierbaren Räumen stehen im Dunkel der Sage verschwimmende gegenüber." Hinter Isenstein mag eine Vorstellung von Island stehen, doch liegt es außerhalb der bekannten Welt, über se (326,1). Es wird aus dem Epos verschwinden, wenn die Macht Prünhilts gebrochen ist. Als Ort des Wettkampfs mit ihr liegt es jenseits'. Nachdem aber Prünhilt einmal bezwungen ist, erweist sich ihr Reich dem der Burgonden als eine Erbmonarchie relativ verwandt, zumal wenn obendrein die weibliche durch eine männliche Herrschaft ersetzt wird, indem Prünhilts Mutterbruder an ihre Stelle tritt. Insofern entpuppt sich Isenstein nach dem Sieg im Wettkampf doch als .normal' strukturiertes Land, das mit Prünhilts Abschied nicht sofort zusammenbricht, wie dies zu erwarten wäre, gründete Herrschaft allein auf ihrer Person. Isenstein ist nun zwar nicht mehr fremd, aber auch erzählerisch uninteressant. Anders das Nibelungenland. Wo es sich befindet, liegt im Dunkeln/ 5 Zufallig kommt Sivrit das erste Mal dorthin; in kurzer Zeit - bi des tages %ite unt in der einen naht (484,1) - erreicht er es von Isenstein aus. Diese beiden Orte sind .benachbart', weil sie beide jenseits der gewöhnlichen Welt liegen. Im Nibelungenland gibt es Riesen und Zwerge. Aus der gewöhnlichen Welt könnten sonst nur noch die merivtp herausfallen. Das aber ist neuzeitliche Täuschung: Sie sind Wassergeister, wie sie nach mittelalterlicher Vorstellung in der bekannten Welt, hier am Ufer der Donau, durchaus anzutreffen sind, denn das Wasser war von derartigen Wesen bevölkert/4 Allerdings halten sich die merwip an einer Grenze auf, an der die Burgonden die sichere eigene Welt für immer hinter sich lassen und in den gefahrlichen Raum jenseits ihres Einflußbereichs hinüberwechseln. Die Epenwelt zerfällt aufs Ganze gesehen in zwei Teile, in die höfische Welt von Worms, Xanten, Bechelaren und selbst noch von Etzelburg, und eine fremdartige Welt, aus der Prünhilt kommt und in der Sivrit seinen Hort gewinnt. Insgesamt wird die Grenze der gewöhnlichen Welt nur an zwei Punkten überschritten, wobei Isenstein gewissermaßen kolonisiert wird und das Nibelungenland anfangs das gleiche Schicksal zu erleiden scheint, bis es dann eine eigentümliche Gewalt über die bekannte Welt gewinnt.2' " Auf die unterschiedlichen - ,mythischen' und Realistischen' — Raumvorstellungen des Epos macht Gillespie (1987) aufmerksam. 23 Wenn Peeters (1986) aus den geographischen Angaben über die Lage des Nibelungenlandes Schlüsse zu ziehen sucht (S. 6), dann übersieht er, daß sich solche Angaben erst machen lassen, nachdem das Land später aus seiner nebelhaften Ferne zu einem Teil der burgondischen oder niederländischen Machtsphäre geworden ist. 24 Lecouteux (1978), S. 295 u. (1979), S. 76. 21 Vgl. S. 337-343· 304
Regionali tä( und Fremde
Grundsätzlich gelten aber auch innerhalb der gewöhnlichen Welt Regeln ,regional', d. h. die Unterordnung, die in Isenstein nötig ist, ist es nicht mehr, ja ist sogar anstößig in Worms; Sivrits Trophäen kann man in Xanten zeigen, nicht unter den Burgonden; der Beweis für Hagens Mord ist nur für die Trauergemeinde in Worms erbracht; vor den Hiunen muß Hagen sein Schuldgeständnis wiederholen. Verhalten wird plausibel jeweils in Bezug auf einen bestimmten Kontext. Latente Konflikte eskalieren beim Übergang von einem Raum in den anderen, so wenn Prünhilt ihr Wissen von Isenstein nach Worms bringt oder Kriemhilt die Trophäe ihres Siegs über Prünhilt nicht nur im eigenen Herrschaftsbereich gebraucht. Die durch suone und Königsgericht neu gefestigte Wormser Herrschaft geht zugrunde, wenn der burgondische Herrschaftsverband die Last eines ungesühnten Verbrechens zu Etzel schleppt. So entstehen nicht nur Konflikte, indem die fremde Welt Jenseits' in die Feudalwelt hineinragt (Prünhilt, Sivrits Stärke, sein Hort). Virulent werden auch sie erst, wenn die Grenzen zwischen den ,Sektoren' der Feudalwelt überschritten werden, von Isenstein zu Günthers Hof, von Xanten nach Worms, von Worms nach Etzelburg. Nur für sich sind die Sektoren der Feudalgesellschaft einigermaßen sicher. Die Grenzen der bekannten Welt werden sichtbar, wenn man sich aus dem eigenen Sozialverband herausbegibt und beim gleich strukturierten, verwandten noch nicht angekommen ist. So wenn das nibelungische Heer auf dem Weg zum Hiunenhof, über die Donau setzen muß. Die Donau markiert eine Grenze. Bis hierher hatten Kriemhilt bei ihrem Zug zu Etzel ihre Getreuen begleitet (1291). Hier fängt eine bedrohliche Welt an. Hagen ist hier auf den Rat übernatürlicher Wesen, der Wasserfrauen, angewiesen, die er um Auskunft über die Auspizien der Fahrt zu Etzel angeht. Hier treten sofort wieder heroische Sonderbedingungen ein, wie man sie aus dem Umkreis des Nibelungenhortes kennt, etwa das kleine Boot, das wie bei der Fahrt nach Isenstein ausreicht, diesmal sogar, um ein riesiges Heer überzusetzen.26 Die Fremde ist Ort einer nicht weiter erklärungsbedürftigen Gewalt. Was Hagen von den Wasserfrauen über das Land erfährt, das er durchqueren muß, und über die Möglichkeit, das ganze Heer heil über die Donau zu bringen, läßt einen Sozialverband erkennen, der dem burgondischen sehr ähnlich ist. Die Wasserfrauen erklären Hagen, wie er versuchen soll überzusetzen: Flußaufwärts gibt es eine herberge und einen Fährmann; nur dort kommt man über den Fluß (i544,2f.); dirre marc herre heißt Eise (1545,4), sein Bruder Gelpfrat; der Fährmann ist Gelpfrafe holt (1547,4), d. h. ein Gefolgsmann des Landesherrn. Für einen Fremden wie Hagen ist dieser Fährmann dagegen lebensbedrohlich: so grimmes muotes, er
Fromm (1990), S. 8. 305
Räume
lat iuch niht genesen, /ir enwelt mit guoten sinnen bi dem beide wesen (15 47,1 f.), d. h. wenn ihr nicht klug auf die Situation reagiert. Daher raten die Wasserfrauen Hagen zu einer List: Er solle sich als ein gewisser Amelrich ausgeben, der was ein helt guot, der durch fientschefte rümte ditye lant. so kumt iu der verge, swenne im der name wirt genant.
(i 548,2—4)
Das ist eine recht komplizierte Auskunft, ein veritables Soziogramm des fremden Landes: Wie in Worms herrschen Brüder gemeinsam. Wie die Wormser haben sie in dem Fährmann einen unheimlich starken Gefolgsmann, der wie Hagen dank persönlicher Verpflichtung (holt] ihnen dient/7 Amelrich endlich, der vierte namentlich genannte, ist auf dunkle Weise mit den übrigen verbunden (vgl. 1552,3). Er ist wegen einer Fehde exiliert (so wie auch Hagen den Wormser Hof einige Zeit meiden mußte), aber trotzdem offenbar so im Land verwurzelt, daß man ihm über die Donau helfen wird. Hagen folgt dem Rat. Der Fährmann ist am anderen Ufer. Aber an eine gewöhnliche Vereinbarung über die Überfahrt ist offenbar nicht zu denken. Hagen ruft zwar: nu hol mich hie, verge [...], so gib' sich dir %e miete einen baue von golde rot (1550,2-3). Doch miete allein reicht nicht aus: Der verge was so riebe, da% im niht dienen da von er Ion vil selten von iemen da genam.
(1551,1—2)
Das nun erinnert an die Stellung, die Sivrit zugeschrieben wurde; auch er war so riebe, daß er keinen Ion nahm. Anders als Sivrit ist der Fährmann jedoch offenbar man des Landesherrn, eine lockere Abhängigkeit, die diesen jedoch später veranlassen wird, den erschlagenen helt %en banden (1603,4) zu rächen. Das lockere Herrschaftsgefüge gleicht der burgondischen Herrschaft. Hagen muß sich als jener Amelrich ausgeben, als Eisen man, /der durch starke fientschaft von disem lande entran (i 5 52,3^. Damit sagt er mehr, als er von den Wasserfrauen gehört hat. Hagen versteht die fremde nach den Regeln der ihm bekannten Welt und baut darauf seine List; denn er schlußfolgert, Amelrich müsse Eisen man gewesen sein, wenn sein Name so angesehen ist. So kann er auf die Hilfe des anderen hoffen. Obwohl offenbar primär personale Beziehungen zählen, muß Hagen jedoch außerdem den versprochenen goldenen Ring vil hohe an dem su>erte (1553,1) zeigen, damit er Erfolg hat. Dies scheint den Gegner zu disqualifizieren, wie es später die hiunischen Krieger disqualifizieren wird, nur für Gold kämpfen zu wollen: Er ist mvlich gesit (nach A 1 494, i), 28 und die gir nach großem guote (1554,2) 11 28
1591,2 heißt er auch Eisen verge. Diese Lesart , schlechter Gewohnheit, Gemütsart' (so auch in CDla) scheint mir auch für die *AB-Gruppe, trotz der Reimschwierigkeit, dem nivlicb gehit in B (das erste Wort verschrieben? verlesen?) vorzuziehen; b hat - mit falscher Diphthongierung des vom Reim geforderten Langvokals 306
Regionalität und Fremde
verleitet ihn, Hagen überzusetzen. Eine merkwürdige Doppelmotivation, doch ist die Priorität klar: Der Fährmann nimmt nur (und das heißt: begibt sich in Abhängigkeit) innerhalb des ihm vertrauten Personenverbandes. Soziale Beziehung wird doppelt, personal und materiell, abgesichert. Selbst Amelrich, der (vermeintliche) Bruder, muß dem vergen einen goldenen Ring zeigen, damit der vom anderen Ufer aufbricht, um ihn überzusetzen.29 Doch dann merkt der verge, als er Hagen aus der Nähe sieht, daß er betrogen wurde: den er da nennen horte, do er des nibt envant, do %urnde er ernstlichen [...]. (i 5 5 5,*£) des ich mich hie verwarn, dem sit ir ungelich. von vater und von muoter was er der bruoder min.
(i 5 56,zf.)
Und sogleich weigert er sich, ihn überzusetzen. Hagens Vorschlag, ihn, den vremde[n] recke [n], trotzdem wie einen Freund (vriuntlicbe) gegen Bezahlung über die Donau zu bringen, lehnt er ab: e% babent fiande die lieben herren min, dar umbe ich niemen vremden füere in dit^e lant.
(i 5 58,2-3)
Nach außen stabilisiert sich der Personenverband durch strikte Abschließung. Als Hagen insistiert, versetzt der Fährmann ihm mit dem Ruder einen heftigen Schlag. Hagen schlägt zurück. Der Fährmann wird getötet. Die Burgonden setzen in da^ unkunde lant über (i 572,4); die Rache der Landesherrn Eise und Gelpfrat zieht weitere Kämpfe nach sich und weitere Todesopfer. Die Fremde ist zugleich feindlich und vertraut. Sie erschließt sich über Namen. Indem er über den Namen des exilierten Mitgliedes des Personenverbandes verfügt, kann Hagen hoffen, in den fremden Raum einzudringen, denn damit würde er sich als vriunt, als Mitglied des Personenverbandes ausweisen.50 Regeln - Dienst auf Grund von Lohn - gelten nur innerhalb der eigenen Gruppe, wo man einander holt, liep, vriunt ist. Nicht einmal die Gier nach Gold kann den Fährmann dazu bringen, mulich gesait; d (newlich geschieht} steht B näher (Batts, S. 472f.). De Boor folgt, in Anlehnung an die ,Thidrekssaga', B: ,frisch verheiratet' - ein isoliertes, seltsam privates Detail; de Boor will daraus — ohne jede Stütze im Text oder wenigstens indirekt in der Charakteristik des verge — schließen, der Fährmann habe „den Ring seiner jungen Frau schenken" wollen (S. 247). Hält man an der Lesart von B fest, dürfte es aber eher darum gehen, den Fährmann durch die angeheiratete Sippe im Land noch fester zu verwurzeln. 19 Obwohl ganz pragmatisch motiviert, weist die Szene auch auf die von Althoff beschriebene Verhandlung des deutschen König Heinrich I. mit dem französischen König, bei der jeder der Parteien an einem Ufer des Rhein sich postiert und über den Rhein hinweg zunächst durch Blicke sich mit den anderen vertraut macht, bevor die eigentlichen Verhandlungen beginnen. .Sehen' aus sicherer Entfernung soll Vertrauen schaffen (Althoff, 1993/1997, S. 246). '° Über Kenntnis der Namen sucht sich im ,Hildebrantslied' auch Hiltibrant dem Sohn Hadubrant als Freund zu empfehlen. 3°7
Räume
diese Grenzen zu überschreiten. Hagens Versuch, die Überfahrt %e minne (i 5 59,2) zu regeln, scheitert an der Abwehr des Fremden. Das Fremde beginnt jenseits des eigenen Sozialverbandes. Hier funktionieren Absprachen offenbar nicht. Allem, auch dem Gold, vorgeordnet sind personale, im Kern verwandtschaftliche Beziehungen. Die personalen Bindungen an den angestammten Sozialverband werden durch Fehde (ftentschefte, 1548,3), in deren Gefolge Amelrich das Land verlassen mußte (verbannt wurde?), nicht aufgehoben, sondern erweisen sich als stärker als jede ßentscbaft innerhalb der eigenen Gruppe. Vertragsbeziehungen zu einem Unbekannten, wie Hagen sie vorschlägt, können nicht an ihre Stelle treten. Hagens List gelingt fast, wäre die Verbindung des Exilierten zum Fährmann nicht enger gewesen, als er wissen kann, denn den eigenen Bruder hätte der verge erkannt. Ist die Behauptung entlarvt, bleibt nur der Kampf. Auf dieser Ebene funktioniert Kommunikation wieder problemlos. Die Kontrahenten gehören der gleichen Herrenschicht an; auch der Fährmann ist ein mächtiger Herr, der nicht um Sold dient. Insofern ist er für Hagen ein ebenbürtiger Gegner, und insofern gibt es zwischen den fremden Sozialverbänden dann doch wieder ein wechselseitiges Verstehen, wenn auch nicht als friedlicher Ausgleich, sondern als intuitives Begreifen von Feindschaft: Man bemerkt den Angriffswillen des anderen und sucht ihm mit List und Gewalt zu begegnen. Das ,Nibelungenlied' entwirft eine segmentär differenzierte Welt.5' Die Welt zerfällt in viele gleich strukturierte Einheiten (Segmente), die untereinander keine Beziehungen unterhalten und die daher nur konflikthaft in Kontakt treten können. Im heroischen Epos wird nur von der Spitze jener Segmente erzählt, der Gruppe jener Herren, die ihre Herrschaft auf militärische Überlegenheit gründen und die durch verwandtschaftliche oder sonstwie geartete personale Beziehungen untereinander verbunden sind. Alle wesentlichen Funktionen sind bei ihnen konzentriert; so leistet der Bewacher der Grenze nicht nur militärischen Schutz, sondern übt auch die Aufgabe des vergen aus, ähnlich wie Hagen nicht nur mächtiger Heerführer ist, sondern seinen Königen auch den Weg weist oder als Bote dienen könnte. Die Segmente sind so gleichartig, daß intuitives Verstehen (freilich nicht Verständigung) zwischen ihnen möglich ist, zuerst durch Anpassung (Hagen verstellt sich und sucht sich in den fremden Personenverband mit dem Namen Amelrich hineinzulügen) und, wenn das mißlingt, mindestens dadurch, daß man zur Waffe greift. Anders als im höfischen Roman gibt es keine das einzelne Segment übergreifende (Herren-) Schicht (stratum), die auf gemeinschaftliche Interaktionsregeln - mit Ausnahme derer gewaltsamer Auseinandersetzung - verpflichtet wäre. Es ist das archaische Gegenmodell zur ,stratifikatorischen' Differenzierung der höfischen Gesellschaft.32 In Konrads von Würzburg ,Engelhart' wird hypothetisch eine verwand JI
JZ
Zur Begrifflichkeit: Luhmann (1980), I S. 25-27; mit anderer theoretischer Begründung: Czerwinski (1979), S. 62. Luhmann (1980), I S. 44. 308
Anwesenheit — Abwesenheit
te Situation durchgespielt:55 Was passiert, wenn man ,draußen', außerhalb des Hofes, einem Fremden begegnet und nicht weiß, wie man ihn einzuschätzen hat, ob als Freund oder nicht? Der Vater des Helden gibt für diesen Fall den Rat, dem anderen einen Apfel anzubieten; ißt er ihn allein auf, läßt man ihn besser laufen; teilt er ihn aber und gibt die Hälfte zurück, dann taugt er als ,Freund'. Engelhard probiert den Rat zweimal aus, mit negativem Ergebnis. Beim dritten Mal teilt der Fremde den Apfel nicht nur, sondern gibt ihn geschält zurück: Das ist der rechte Freund. Was hier vorgeführt wird, ist das Funktionieren von Interaktionsregeln innerhalb der gleichen Gesellschaftsschicht. Die Mitglieder des gleichen Stratums erkennen sich auch unter unwahrscheinlichen Bedingungen (auf der beide] an einem gemeinschaftlichen Verhaltenscode und insofern als potentielle ,Freunde'. Die Probe, die der Vater empfiehlt, formuliert eine Kernbedingung des höfischen Verhaltenscodex: Reziprozität, wechselseitige Berücksichtigung von Interessen. Der andere, der die Bedingung erfüllt, fügt noch etwas hinzu: die schöne Form der zivilisierten Geste. Anders als im ,Nibelungenlied' gibt es innerhalb des eigenen Stratums keine ,Fremde'; man versteht sich überall und kann unter jedweden Umständen ,Freund' werden. Das ist in der nibelungischen Welt anders. Regeln, die gesicherten Umgang jenseits des eigenen Sozialverbandes garantieren, gibt es nicht, wenn Machtgarantien fehlen. Man trifft immer auf dieselben Strukturen, aber die garantieren nicht gewaltfreien Umgang. Die ,Regionalität' der nibelungischen Welt entspricht der Punktualität sozialer Beziehungen. Anwesenheit - Abwesenheit Räumliche Nähe ist daher mit weiterer sozialer Bedeutung aufgeladen. Anwesenheit und Abwesenheit sind Zeichen der Verwicklung oder der Distanz zu einem Geschehen. Sie ersetzen Darlegungen zu Handlungsmotivationen und Aussagen zu psychischen Vorgängen. Anwesenheit und Abwesenheit werden deshalb immer wieder ausdrücklich hergestellt. Wenn Sivrit zum ersten Mal bei Hof erscheint, muß Hagen abwesend sein, denn ,es fehlt das Wissen' über die Person des Ankömmlings, und dieses Wissen ist in Hagen repräsentiert. Man kann das Fehlen von Wissen bemerken und nach Hagen rufen. Sein Wissen erhält einen feierlichen Auftritt: man sack in herliche mit recken hin %e hove gan (82,4). Wenn Hagen da ist, erfährt man, wer Sivrit ist. So wie heroische Kraft anschaubar sich zeigen muß, so muß auch das Fehlen und die Verfügbarkeit heroischen Wissens sich bemerkbar machen. Das gilt selbst bei Nebenfiguren: Wenn Rüedeger ankommt, muß Hagen fehlen, damit er geholt werden kann: der wirt nach Hagene sande, ob si im kündec mähten sin (H77,4)· 34 " Müller (1984/1985), S. 299^ )4 Ebenso bei der Ankunft der Boten Etzels: Der König, ratlos, muß fragen; niemand weiß etwas, da^ si sach/Hagene von Tronege (1431,3f.). 309
Räume
Ähnlich fehlt Prünhilt bei Sivrits Eheschließung, ohne daß gesagt werden muß, warum sie den Raum verläßt: da was diu vrouwe Prünhilt vol hin un^ an den tisch gegän.
(61 1,4)
Es ist belanglos, wo jener Tisch steht, wichtig ist allein ihre Abwesenheit, die anzeigt: Sie ist von den Abmachungen über die Heirat samt deren dunklen Implikationen ausgeschlossen. Da sie ,woanders' ist, fehlt ihr Einverständnis mit dem, was jetzt geschieht. Analog An- und Abwesenheiten bei Rüedegers Konflikt. Für seine Zurückhaltung vom Kampf schwärzt ihn ein Hiune an, der %er küneginm spricht (2138,3), die sich mithin in seiner Nähe aufhalten muß. Das bedeutet, er macht seinen Vorwurf offenbar, dort wo er Resonanz findet. Rüedeger schlägt ihn tot. Der König, der, ohne daß das gesagt werden mußte, , dabei stand', wirft ihm darauf vor, wie er seine , Hilfe' als Vasall auffasse. Damit ist der Vorwurf auf die Ebene gehoben, auf der er verhandelt werden muß: als Vasallitätskonflikt. Er geht den König, nicht so sehr die Königin an, die deshalb, obwohl zu ihr doch eben noch der Hiune gesprochen hatte, jetzt erst ,hinzukommen' muß, wenn sie eingreifen soll: Do kom diu küneginm und he t i% auch gesehen.
(2147,1)
Mit Kriemhilt .tritt' nämlich eine neue Verpflichtung zum Anspruch des Lehnsherrn auf helfe ,hinzu', Rüedegers persönliches Versprechen ihr gegenüber. Der Konflikt baut sich auf, indem die Kontrahenten des Wortwechsels samt ihren Argumenten zusammengebracht werden. Der Raum ist eine Funktion der Konfliktkonstellation. Besonders auffällig spiegelt die Dramaturgie der Auftritte beim Streit der Königinnen die wachsende Dimension des Konflikts. Der Streit bricht im Zwiegespräch aus, doch vor dem Gefolge der Königinnen als Zeugen; sein Eskalieren hat zur Konsequenz, daß sich das Gefolge Kriemhilts von dem Prünhilts trennen muß, ohne daß die Hute, am Disput nicht teilnehmende, umstehende Beobachter, wissen, was das bedeutet (834,1). Kriemhilt kehrt, prächtig geschmückt mit ihren Hofdamen zurück, begleitet offenbar auch von Sivrits Gefolge (ir warten vor dem hüse alle Sif rides man, 833,4)." Das hebt den Streit weiter über ein Gezänk zwischen Frauen hinaus. Sivrit selbst ist nicht dabei, denn er wird noch nicht gebraucht und muß erst in einem späteren Stadium geholt werden. Auch Prünhilt ist umgeben von ir froiven (845,1) und vil maniges riffers lip (835,2), jedoch gleichfalls nicht begleitet von den angesehensten Männern des Hofs, denn die müssen später eigens mit Günther kommen. Nach Kriemhilts Sieg im Wortgefecht weitet der Kreis sich noch einmal aus. Prünhilt macht die Beleidigung vor atmfürsten vonme Rine anhängig, so daß GunVgl. 846,1: Kriemhilt kommt aus dem Münster mit manigem küemm man. 310
Anwesenheit - Abwesenheit
ther seinen Auftritt bekommt (heilet here gan, 851,1 f.): Der künic kom mit recken (852,1). Zur Klärung des Streits ist auch Sivrits Erscheinen notwendig: er sol her für gan (855,1); damit sein ,Hinzutreten' erzählt werden kann, darf er sich nicht in der Entourage Günthers befinden. Sivrit leistet seinen Eid vor dem ganzen Hof, vor allen dinen man (858,3), die %uo dem ringe zusammentreten (859,4). Jetzt scheinen alle versammelt. Unter ihnen scheint jedoch seltsamerweise Hagen zu fehlen, denn Hagen muß ,hinzukommen und fragen', wenn Günthers Schlichtungsversuch scheitert und Prünhilt unversöhnt weiter trauert. Ausgerechnet Hagen, der sonst alles weiß, sollte vom Skandal nichts gehört, nicht zu den Zeugen im Gefolge des Königs gehört haben und deshalb erst Informationen bei Prünhilt einholen müssen?'6 Die Frage ist falsch gestellt. An- und Abwesenheit bedeuten offenbar anderes: Hagen wird in der vorausgehenden Szene nicht erwähnt, weil er für die mißglückte Schlichtung ,nicht verantwortlich' ist. Seine Stunde kommt erst, wenn die Schlichtung erfolglos bleibt und man sich anders um Abhilfe bemühen muß; jetzt betreibt er die Sache der Königin: do kom von Tronege Hagene %uo siner vrouwen gegän (863,4). Hat inzwischen die Szene gewechselt? Befindet man sich noch am selben Ort? Der Erzähler gibt keine Auskunft. Klar ist nur, daß etwas anderes anfangt, das vom vorigen öffentlichen Gerichtsakt unterschieden ist, eine heimliche Intrige nämlich. Deshalb müssen die, die doch eben schon versammelt waren, erneut versammelt werden. Jetzt sind nicht mehr ,alle' anwesend, die beim Gericht dabei waren. Vor allem fehlt Sivrit. Es spinnt sich ein Komplott an, das vor einigen geheimgehalten werden muß und von dem andere sich ausschließen: Zuo der rede körnen Qrtwin und Gernot da die beide rieten den Stfrides tot. dar %uo kom auch Giselher [...]. (865,1-3)
Unsinnig die Frage, ob all die Genannten denn vorher bei der Eidesleistung gefehlt haben: Was jetzt beginnt, ist nicht mehr öffentlich, und deshalb muß der Kreis der Mitwisser neu bestimmt werden. An die Stelle von Gemeinschaftshandeln tritt Vereinzelung: Hagen rät zum Mord; der hinzukommende Ortwin stimmt zu; der gleichfalls hinzukommende Giselher spricht dagegen; von Gernots Reaktion verlautet nichts, doch wird er sich später am Komplott nicht beteiligen. Plötzlich ist auch Günther dabei (868,i), und dann zerfällt die Versammlung wieder so rasch, wie sie sich zusammengefunden hatte: Sin gevolgete niemen, niwan da% Hagene riet in allen %ften [...]. (870,1)
Im folgenden sprechen - wo? wann? wie oft? - nur noch die, auf die es ankommt: Günther und Hagen. Die Mordintrige hat keinen Raum, denn sie kann sich ja nicht auf der Bühne höfischen Handelns zeigen. 56
Salmon (1976), S. 320. Es ist müßig zu spekulieren, wer beim Reinigungseid alles dabei ist. S 11
Räume
Beteiligung an der Tat wird als Anwesenheit, Entfernung als Ausschluß von ihr verstanden." Giselher und Gernot reiten nicht mit 2ur Jagd, folglich gelten sie als unschuldig am Tod Sivrits. Gernot und Giselher die wären da heime bestän (926,4). Erst der Redaktor von *C wird fragen, warum sie denn Sivrit nicht warnten, denn schließlich waren sie doch beim Mordrat anwesend:38 Do die vil vngetriwen vf geleiten sinen tot, st wisten^ al gemeine. Giselher vnd Gernot niht tagen riten. ine weis^ durch weihen nit, si in niht en warenden; idoch erarneten si^ sit.
(C 923)
Das ist die Frage eines christlichen Rezipienten an den Lakonismus der alten mären: Gernot und Giselher bekommen ein Gewissen, das sie verpflichtet, einen Mord zu verhindern, und ihnen Schuld zuspricht, wenn sie ihr Wissen nicht weitergeben; ihr Untergang kann daher als Strafe gedeutet werden. Die Strophe ist deutlich als eingeschoben erkennbar; die Frage, warum sie schwiegen, stört, denn beide werden fortan auch in der *C-Gruppe als schuldlos behandelt. Das Prinzip, daß nur Anwesenheit Beteiligung bedeutet, wurde nachträglich einer anderen Ethik angepaßt, während ursprünglich ihre Abwesenheit ausreicht, um sie freizusprechen.39 Die Änderung belegt gleichwohl, daß solch eine Fassung von Verantwortlichkeit im Begriff steht, obsolet zu werden. Für die Symbolik des Raums ist sie konstitutiv, denn so können Schuld und Unschuld räumlich vergegenwärtigt werden. Das dies nicht mehr ganz aufgeht, zeigt der Hortraub. An ihm ist keiner der Könige direkt beteiligt; Günther hatte von dem Plan abgeraten, Giselher hatte zornig reagiert, Gernot immerhin, um den Anstoß des Streits zu beseitigen, empfohlen, den Schatz im Rhein zu versenken. Nur der aus der suone ausgeschlossene Hagen war bereit, den Hort zu rauben: lät mich den schuldigen sin (1131,4). Die Könige haben ritennes wän (1135,4) und sind außer Landes, wenn er den Schatz versenkt. So setzt Giselhers Schutz gegenüber Kriemhilt vorübergehend aus (ii35,3f.). Es entsteht im wörtlichen Sinne ein rechtsfreier Raum, in dem Hagen tätig werden kann. Bei der Rückkehr der Könige tritt die ursprüngliche Rechtsordnung wieder in Kraft. Jetzt können sie - am Verbrechen auf Grund von Abwesenheit unbeteiligt - über Hagen zu Gericht sitzen, und Giselher kann Kriemhilts Rechte vertreten (gerne war ir Giselher aller triuwen bereit, ii38,4). 4 ° Hagen wird verurteilt. Ausübung der königlichen Gewalt setzt Anwesenheit voraus. 37
38
39
40
Vgl. HRG I, Sp. 989-1001 zur mittelalterlichen Diskussion der Erfolgshaftung (E. Kaufmann). Anwesenheit als Kriterium für Beteiligung/Unterstützung: Althoff (1997), S. 296. Die Zusatzstrophe folgt nach 6912 (915), und zwar nicht nur in den meist zusammengehenden Hss. C und a, sondern auch in Jdh, in d sogar ein zweites Mal nach € 9 1 3 (Batts, S. 273, 277). Zu bedenken sind auch die Verpflichtungen innerhalb des Personenverbandes (S. 157-159): Angesichts ihrer Bindung an den Bruder und seine vriunde würde es schlecht passen, wenn sie diese dem fremden Sivrit verrieten. de Boor, Kommentar S. 186; vgl. Müller (1987). 312
Anwesenheit - Abwesenheit
Wenn man freilich sieht, wie sie in die Rache für den Raub hineingezogen werden, wird solch eine Bewertung 2weifelhaft. Bezeichnenderweise ersetzen C und a den Vers über Giselhers triuwe, indem sie auf das Farcenhafte dieser angeblichen Nicht-Beteiligung aufmerksam machen: do gebarten die degene sam si im beten mderseit (C 1154,4). Gegenüber dem Mord an Sivrit, in den nur Günther verstrickt ist, ist die Lage diesmal komplizierter. Zwar wird Hagen von nun an als der Horträuber behandelt, doch die Könige sind von Anfang an mitverantwortlich (1140), durch geheime Absprachen, aber auch indem sie Hagen den Raum freigeben und damit ihre Pflicht, als Könige das Recht zu schützen, zeitweise aussetzen. Denkt man vom Ergebnis - der Rache - her, dann läßt sich der Schuldzusammenhang nicht mehr säuberlich mittels räumlicher An- oder Abwesenheit abgrenzen. Im allgemeinen gilt jedoch Anwesenheit noch als Zeichen intakter Rechtsbeziehungen. Günther begleitet Kriemhilt, wenn sie zu Etzel aufbricht, ein lüi^el für die stat (1288,4) - das drückt schon eine gewisse Distanz aus zu dem, der am weitesten in die Mordintrige verwickelt war -, doch Gernot und Giselher geben der swester ,sehr weit', nämlich bis zur Donau4' Geleit, ebenso Gere, Ortwin und Rumolt. Warum gerade sie, wird nicht gesagt. Doch fehlen später in Etzelburg gerade sie beim Vernichtungskampf, Rumolt weil er lieber bei Hof bleibt; die beiden anderen werden nicht mehr erwähnt.42 Geleit beim Abschied, Abwesenheit beim Vernichtungskampf drücken das intakte persönliche Verhältnis aus. Dauernde Abwesenheit bedeutet umgekehrt Ausscheiden aus der höfischen Ordnung. Wenn Prünhilt sich nach dem Königinnenstreit entfernt, deutet sich an, daß sie als Königin von der höfischen Bühne abtritt. 45 Anfangs bleibt sie nur von der Demonstration höfischer Freude im Turnier ausgeschlossen, das allein vor Kriemhilt fortgesetzt wird (871), dann wird ihr noch Agieren aus dem Hintergrund, die Anstiftung zum Mord, zugeschrieben (917,4; 1010,4), ihr Triumph vermerkt (noo), doch verschwindet sie aus der Handlung. Zu einer Versöhnung mit Kriemhilt kommt es nicht. Bei den Trauerfeierlichkeiten fehlt sie, ebenso bei den Botschaften Etzels. Wenn Rüedeger um Kriemhilt wirbt, ist gar nicht von ihr die Rede. Ausdrücklich markiert dagegen ist ihre Abwesenheit beim Auftritt von Kriemhilts Boten. Wärbel und Swämmel sollen Prünhilt Grüße ausrichten (1426,1), und sie erhalten auch die Erlaubnis, sie zu sehen: Der künic in erlaubte, (des was noch niht geschehen) ob si wolden gerne froun Prünhilde sehen, si für si solden mit sinem willen gän. (1485,1-3) Die Donau ist immerhin zwölf Tagereisen entfernt (1525,1). Zum Vergleich: Sigemunt muß zunächst an'geleite Worms verlassen (1095,1), bis Gernot und Giselher zu ihm kommen, Gernot seine Unschuld an Sifrides tot versichert (1097,2) und nur Giselher ihm guot geleite gibt dem lande (io98,if.). Hier sind Verbindungen gekappt. Dem Redaktor von *C ist das aufgefallen, und er läßt Ortwin zu Günthers Verdruß ausdrücklich daheim bleiben (vgl. S. 181); k läßt ihn gar sterben (so auch Bit 6001-6003). Ehrismann (1987), S. 147.
Räume Doch dann verhindert Volker das Treffen: da^ was ir liebe getan (1485,4): „Jane ist min vrouwe Prünhilt nu nibt so wol gemuot da% ir si müget schouwen", sprach der ritter guot. „bit et un% morgen, so lät mans' iuch sehen. " da si sie wänden schouwen, done kund es niht geschehen.
(1486)
Warum dieser Umweg, wenn die Boten Prünhilt am Ende doch nicht sehen?44 Warum kund es niht geschehen? Bedenkt man, daß vröude und kit anderes als subjektives Befinden (,sie fühlt sich nicht danach') meinen, dann ist mit niht so wol gemuot nicht eine vorübergehende Indisposition gemeint, sondern jene dauerhafte Beeinträchtigung, die an ihrem trüren nach dem Streit mit Kriemhilt erstmals sichtbar wird. Ihre Beziehung zu Kriemhilt, repräsentiert in Etzels Boten, ist dauerhaft gestört, ebenso ihre Stellung am Wormser Hof untergraben. Sie hat mit Sivrits Tod Genugtuung erfahren (daher ihr übermuot}, aber konnte ihr Ziel nicht durchsetzen. Deshalb die widersprüchliche und gegenläufige Disposition: Günther erlaubt ihr einen Auftritt mit den Boten, Volker verhindert ihn, der Volker, der neben Hagen der erbittertste Feind Kriemhilts sein wird und der schon hier zeigt, daß verwandtschaftliche Bindungen gekappt sind. Prünhilt hat keinen Part mehr zu spielen, und dies soll durch ihre Abwesenheit bewußt gemacht werden. Nicht mehr als Königin, nur noch als Frau, die die Nacht vor dem Aufbruch mit dem König verbringt (1515,4), wird sie noch einmal erwähnt.45 Erst in der , Klage' wird sie wieder eine herausragende Rolle spielen, als Adressatin der Nachricht vom Untergang der Bürgenden, als Landesherrin und Mutter des künftigen Königs.
,Einander Nahekommen' Wo die gesellschaftliche Ordnung noch kaum durch Institutionen abgesichert ist, spielen räumliche Konfigurationen und die ihnen korrespondierenden Handlungsund Verhaltensmuster eine zentrale Rolle. Gesellschaftliche Beziehungen müssen über personale Beziehungen konstituiert werden. Wo diese nicht durch Herkommen, Kult- und Sippengemeinschaft oder auch durch Ortsgebundenheit stabilisiert werden, sind sie vom Zerfall bedroht - die ,zentrifugalen' Tendenzen des Lehnswesens sind bekannt - und müssen daher immer wieder erneuert werden. Dies kann durch besondere Rituale geschehen, durch regelmäßig wiederkehrende Feste, durch Zusammenwirken beim Gericht, militärische Unternehmungen, aber auch bei außergewöhnlichen Gelegenheiten. 44
45
de Boor (S. 237) sieht wieder einen sagengeschichtlichen Lapsus: „Brünhild, der älteren Not fremd, wird hier vom jüngsten Dichter noch einmal - ungeschickt genug - auftauchen lassen" [sie!]. So ist jedenfalls die Abfolge in AB; *C (vertreten durch a) kennt noch einen tränenreichen Abschied vom König und dem zu Etzel ziehenden Heer (a 1555/1556). Als die Frau aber, die vor dem Zug zu Etzel warnt, tritt nicht Prünhilt, sondern wieder die alte Königin Uote auf. 314
,Einander Nabekommen'
Im ,Nibelungenlied' finden sich weniger die offiziellen Anlässe - Hof- oder Gerichtstag, Heeresaufgebot -, von denen die hochmittelalterliche Chronistik berichtet, als vielmehr nicht-formalisierte Gelegenheiten ,zusammenzukommen' und ,einander zu sehen'. ,Zusammenkommen' erfüllt die Funktion, die in späteren Gesellschaften das Rechtssystem und ein Gefüge von Institutionen zur Sicherung des sozialen Zusammenhalts übernehmen müssen. Gesellschaftlicher Zusammenhang zeigt sich in Nähe.46 Beisammensein kann in der Heldenepik metaphorisch Verwandtschaft, Bündnis, gemeinschaftlichen friedlichen Umgang ausdrücken. In der ,Kudrun' z. B. kleidet Hartmuot seinen Wunsch, Kudrun zu heiraten, in die Worte: mähte da^ geschehen, da^ ich die Hilden tohter solte hie gesehen.
(K 740,1 f.)
Die Nähe Kudruns wäre Zeichen einer bedeutenden politischen Allianz, würde Hartmuts Herrschaft aufwerten und seinen Rang erhöhen. Deshalb kann sich auch seine Schwester über Kudruns Ankunft freuen: da% si in ir vater lande/Kudrun gesahe (K 971,3f.). Kudrun aber lehnt die Heirat als politisch unerwünscht - angesichts des Rangunterschiedes zwischen beiden - ab, indem sie öffentlich sichtbare Nähe verweigert: ich wil des haben rät, da^ der kiiene Hartmuot bi mir niht enstät vor unser beider friunden [...]. (K 769,1-3)
Die vor dem Gefolge zur Schau gestellte Nähe wäre Ausdruck der Heiratsallianz. ,Bei-jemandem-sein' ist daher weit mehr als eine Aussage zur Verteilung der Figuren im Raum. Der Satz: Ortrun was ir [- Kudrun] gerne bi (K 983,2) drückt eine Verbindung zwischen der entführten Kudrun und der Schwester des Entführers aus, die diesseits des politischen Konflikts besteht und an die Kudrun deshalb später, wenn sie Frieden zwischen den verfeindeten Herrschaftsverbänden stiften will, anknüpfen kann. Solche Verbindung wird räumlich ausgedrückt: Ortrun sa% %uo ir nahen (K 1046,2). Räumliche Nähe als Abbreviatur persönlicher Beziehungen kann zu scheinbar absurden Konsequenzen führen: Wenn in Eilharts ,Tristrant' ausgedrückt werden soll, daß Marke nach kurzer Verbannung Tristrant wieder in seine Huld aufnimmt, dann läßt er Tristrants Bett in die eigene Kemenate stellen - scheinbar eine, wie man weiß, unvorsichtige Entscheidung (Trt 3733f.), doch geht ein solches Urteil an der symbolischen Bedeutung von Raum vorbei. Königsnähe ist räumlich gedacht als .Teilhabe an der persönlichen Sphäre' Markes (Trt
46 47
Althoff (1997), S. 296 zum Verhältnis von Konsens und räumlicher Nähe; vgl. S. 262. Daher ist der direkte Zugang zum Herrscher umstritten und muß reguliert werden (Althoff, 1997, S. 185-198). 315
Räume
Solch eine räumlich konkrete Vorstellung von ,Eintracht' wirkte bis ins Spätmittelalter weiter, als längst komplexere politische Gebilde den alten Personenverband abgelöst hatten; im .Weiskunig' Maximilians I. wird sie auf das Verhältnis von Territorien übertragen: Militärische Allianzen werden bildlich dargestellt, indem die ,Könige' an der Spitze der Territorien in einem Raum oder in einer Zeremonie zusammenkommen, Auflösung von Bündnissen, indem sie auseinandertreten. Daß es einen solchen gemeinschaftlichen Akt nie gab, daß damals Allianzen oft schon über weite Distanzen geschlossen werden, zwischen unterschiedlichen politischen Systemen - Fürstentümern, Städten, Eidgenossenschaften, der Kirche - und unter Einsatz vieler Mittelsmänner und Diplomaten, tut der Metaphorik der Nähe keinen Abbruch.48 Im ,Nibelungenlied' herrscht die Semantik der Nähe noch ganz selbstverständlich. Solche Nähe herzustellen, wo sie nicht schon besteht, ist ein umständliches Geschäft. Nach Sivrits Tod ist Kriemhilt mit Günther und Hagen überwerfen, doch sind ihre Beziehungen zu Gernot und Giselher, die nicht am Mord beteiligt waren, in Ordnung, was in Günthers Worten so ausgedrückt wird: mine bruoder sint ir £/(no8,i). Deshalb kann Günther die ,Nähe' der Brüder zu Kriemhilt benutzen, um seine Annäherung vorzubereiten. Das geschieht, indem die Vertreter beider Parteien zusammenkommen: Do hie% er Ortwinen hin %e hove gan unt den marcgraven Geren, da da^ was getan, man bräht' auch Gernoten und Giselher da^ kint. si versuochten^ vriuntliche an vroun Kriem bilde sint.
(i 109)
Wenn die Mission Erfolg hat, wird eine zeremonielle Zusammenkunft vereinbart: „Ich wil den kiinic grüe^en", do si im des verjach, mit sinen besten vriunden man in vor ir sach. done torste Hagene für si niht gegan. (1113,1—3)
Die Reichweite der Versöhnung endet an den Grenzen des Raums, in dem die Zusammenkunft stattfindet, denn Hagen ist nicht dabei. Kriemhilts Zerwürfnis mit ihm drückt sich darin aus, daß sie ihn in der %ite nie ges ach (1106,4) und auch Hagen sich bis zur Konfrontation an Etzels Hof von ihr fernhält. Frieden zu schließen heißt Nähe wiederherzustellen; die Chronistik hält dafür ebenso Beispiele bereit49 wie die Heldenepik. Die Versöhnungsrituale der ,Kudrun' setzen voraus, daß Hartmuots Sippe derjenigen Kudruns (K suone, 834,1) sich nähern darf: da giengen ^uo einander die recken vil gemeit.
48 49
(K 834,2)
Müller (1982), S. 138; Beispiele S. 330. Althoff (1990), S. 195-203; vgl. zu den mediatores ders. (199013/1997), S. 177; 179. 316
, Einander Nahekommen'
Kudrun muß dafür den Widerstand ihrer Mutter Hilde brechen, die ein Nahverhältnis selbst zu Hartmuots Schwester Ortrun, die Kudrun half, ablehnt. Hilde nämlich sagt: Ich wil hie niemen küssen, £/· st mir dann« bekant.
(K 1 580,1)
Die Distanz muß aufwendig überwunden werden, durch Vermittlung derjenigen, denen man , schon nahesteht': Herwic, Hildes künftiger Schwiegersohn und Kudruns Mann, führt Ortrun an siner hende (K 1579,1). Später erhält Hartmuot die Erlaubnis, ungebunden %e hove, d. h. nicht mehr als Gefangener vor die Königin zu gehen (K 1599,2). Das Geschenk höfischer Kleider gliedert ihn und seine Leute dem Hof wieder ein (vgl. K 1647, zf.). Kudrun läßt Hartmuot in ihrer Gegenwart sitzen (K 1632,1). Und so können sich schließlich auch die ursprünglichen Gegner , nahekommen': Ortrun und Hartmuot für froun Hilden ge und biete sich %e füe^en der edelen küniginne. (K 1646,2^)
Das ,Nibelungenlied' nun problematisiert wie vieles andere auch dieses Prinzip, gesellschaftliche Ordnung zu stiften. Als Mittel der Konfliktlösung bewährt sich hier die Herstellung von Nähe gerade nicht, denn die Ordnung, die Nähe ausdrückt, kann auch Unterordnung und Abhängigkeit bedeuten. In diesem Sinne ist zu verstehen, daß die Tronegare, wie Hagen sagt, bi den künigen hie en hove bestän müssen (699,3). Das legt den Schluß nahe, daß Entfernung Unabhängigkeit bedeutet, dauerhafte Nähe Abhängigkeit. Sivrits Anwesenheit am Wormser Hof ist Mißdeutungen ausgesetzt, und daß die Könige sich darum bemühen (und dafür Kriemhilt einsetzen) läßt ,Nähe' auch als Teil des Machtkalküls erscheinen. Der Rat belibet bi den recken, tuot des ich iucb bit, hi Günther dem künege und auch bi sinen man
(3 2 1,2 f.)
ist weniger harmlos, als er klingt. Sivrits dauerhafte Einfügung in die Ordnung des Wormser Hofes muß immer wieder ausdrücklich mit seiner minne zu Kriemhilt entschuldigt werden, und so ist auch sein Entschluß zur Rückkehr heim in miniu lant (690,3) wieder doppeldeutig: Rückkehr in die angestammte Position und Wiederherstellung von Selbständigkeit des künec (so sehen es fast alle) oder aber Pflichtvergessenheit des küneges man und Herauslösung aus dem burgondischen Herrschaftsverband (so sieht es Prünhilt). Sie klagt: si ir vremde waren, da^ was ir harte leit, man ir so selten diente von Sifrides lant.
(7 2 5, 2 f.)
Daher ihr Ziel, Sivrit , herbeizuholen', ihr Mittel eine Einladung zum Fest. Diese kann also zweierlei bedeuten. In der Wiederherstellung von Nähe kann sich ebensowohl verwandtschaftliches Einvernehmen wie die Aktualisierung einer herrschaftlichen Bindung ausdrücken. Und deshalb können sich Günther und Prünhilt
Räume
auf die Einladung einigen. Die Entfernung zwischen Worms und dem Nibelungenland, die die Annahme der Einladung erschweren könnte,50 macht umgekehrt eine Zusammenkunft gerade nötig, damit die Einheit des Familien- oder aber des Herrschaftsverbandes erneuert wird. So besteht Einvernehmen auf beiden Seiten, die Voraussetzungen aber sind verschiedene. Die räumliche Ordnung ist also doppeldeutig und damit konfliktträchtig. Zweimal kann die unverfängliche Bedeutung - Nähe als Zeichen von Einvernehmen arglistig ausgenutzt werden, um die fernen Verwandten in den eigenen Machtbereich zu bringen. Die verräterischen Einladungen des ersten und zweiten Teils machen sich ein fundamentales Prinzip der Her- und Darstellung sozialer Ordnung zunutze, und deshalb haben die Anstifterinnen beide Male Erfolg. So ist ,einander nahekommen' ambivalent. Besonders zeigt sich das an trügerischen Konfigurationen der Nähe, die der gewaltsamen Konfrontation vorausgehen. Wenn Kriemhilt träumt, [...] da^ ir gienge vil dicke an der hant Giselher ir bruoder; si kuste'n Caller stunt
(i39j,2f.),
drückt das ihre intakte Beziehung zum jüngsten Bruder aus. Aber diese Beziehung kann sie benutzen, um ihren Feind ins Land zu holen. Bevor der Konflikt ausbricht, stellen sich zwischen den Bürgenden und den germanischen Helden an Etzels Hof Konfigurationen von Nähe her, die die späteren Konfliktparteien übergreifen: Bi henden sich do viengen syvene degene: eine was her Dietrich, da^ andere Hagene.
(17 50,1 f.)
Andere Kombinationen treten hinzu: Der für st e von Berne der nam an die hant Günthern den vil riehen von Bürgenden lant, Irnfrit nam Gernoten, den vil küenen man. do sach man Rüedegeren %e hove mit Giselheren gan.
( 1 804)
Hawart und Irinc sach man geselleclichen bi den künegen gan, Dancwart bei Wolfhart (1807). Einvernehmen, ausgedrückt in Nähe, stellt sich auch mit Etzel her. Wenn die Burgonden vor ihm erscheinen, springt der auf, begrüßt namentlich die Könige, Hagen und Volker und setzt sie in seine Nähe: da nam der wirt vil edele die lieben geste bi der hant. ' ' Er brahte si %em sedele, da er e selbe sa^.
!
(i 81 i,4f.)
° 7^7,5; 758,4; vgl. 752,4. Zur Bedeutung des Handschlags HRG I, Sp. 19745. (A. Erler).
51
318
Bedrohliche Ferne - gewaltsame Nähe
Das sind, wie sich bald zeigt, brüchige Bündnisse, die Bindungen vortäuschen, die nicht halten. Auch das wird wieder räumlich angezeigt, an der einzigen Konfiguration, die nicht die Parteien übergreift: Hagen und Volker, die zuerst mit den anderen .zusammenstehen', scheren nämlich gleich nach der Ankunft aus: Do schieden sich die %wene recken lobeltch, Hagene von Tronege unt auch her Dietrich.
(17 58,1 f.)
Hagen trennt Volker von Giselher und ruft ihn zu sich: D6 sah er Volkeren bi Giselhere sten. den spähen videlare bat er mit im gen [...].
(1759,1 f.)
Er sondert sich mit ihm ab, niwan si %n>ene aleine (1760,2), und später gesellen sie sich als einzige nicht zu Etzels Helden. Die Sonderrolle, die beide von da an spielen, zeigt sich in ihrer Nähe, die sie von den anderen distanziert: Swie iemen sich gesellete und ouch %e hove gie, Volker unde Hagene dt geschieden sich nie, niwan in einem stürme an ir ende s %ft. (1805,1—3)
Am Zusammenspiel von Hagen und Volker zerschellen andere Nahverhältnisse.
Bedrohliche Ferne - gewaltsame Nähe Wo Verwandtschaft sich in gemeinschaftlicher Nähe ausdrückt, läßt vremden Feindschaft vermuten. Getrenntsein deutet Zerwürfnis an, Zusammenkunft belegt vriuntschaft. Doch so klar liegen die Dinge nicht. Grundsätzlich drückt sich zwar in Nähe der Zusammenhalt des sozialen Verbandes aus, des Herrschaftsgefüges, familiärer Bindungen oder allgemein der vriuntschaft zwischen einzelnen, und insofern kann räumliche Nähe die Verbindung zwischen vriunden reaktivieren, doch kann sie sie aber auch dem Mißverständnis von Abhängigkeit aussetzen, kann auf Festigung von Herrschaft gerichtet sein, ist Mittel, Konflikte anzuzetteln und auszutragen. Wenn Nähe und vriuntschaft einerseits, Ferne und Fremdheit andererseits nicht kongruent sind, drohen Konflikte. Von daher erklärt sich, welch ungeheuerliche Bedrohung Hagen für sich und seine Herren darin sehen muß, daß Kriemhilt mit Sivrits Gold vil unkunder recken (1127,2) ins Land bringt, Krieger also in ir dienst (1128,4) holt, die nur ihr persönlich, nicht dem Herrschaftsverband verpflichtet sind. Fremde in der Nähe stehen unter Gewaltverdacht, vor jedem Anzeichen von Intrige oder Aktion. Das Fremde ist das potentiell Gewalttätige: Nu nahten vremdiu märe in Guntheres lant, von boten die in verre wurden dar gesant von unkunden recken die in truogen ha%. do si die rede vernamen, let t was in warliehe da%.
519
(i 39)
Räume
Die schlechte, da fremde Botschaft, von Fremden durch Fremde von weit her gesandt (141,3), die vil manegen herlichen gast (140,4) - zahlreiche waffenfähige Feinde'1 - ankündigt, bedeutet ha^ und verursacht leit. Im Außenverhältnis des burgondischen Reichs herrscht Gewalt. Nähe außerhalb der Grenzen des eigenen Personenverbandes muß abgesichert werden, andernfalls ist sie bedrohlich. Wenn man auf ihre Bedingungen eingehen werde, lassen die Sachsen und Dänen ausrichten, sone rttent iu so nahen niht die manegen scar.
(146,2)
Entfernt bleiben, bedeutet Sicherheit; Friede mit Fremden setzt Distanz voraus. Umgekehrt heißt, die Herausforderung anzunehmen, den Gegnern nahezurücken und die Grenze zu überschreiten: wir sulen in geriten so nahen in ir lant, in ir übermüeten werde in sorgen erwant.
Entfernung bietet Schutz; deshalb ziehen Sigemunt und Sivrits Leute nach dem Mord so rasch wie möglich wieder heim: bi ir starken vtenden was in %e wesen leit.
(1076,3)
Abbruch freundschaftlicher Beziehungen drückt sich in Fernbleiben aus: man sol uns nimmer mere hie %en Bürgenden sehen.
(1092,4)
Günther unterstützt den Plan einer Ehe Kriemhilts mit dem gefährlich mächtigen Etzel mit dem Argument: ich behüete vil wol da%j da^ ich im körne so nahen da^ ich deheinen ha^ von im dulden müese [...]. (1206,1-3)
Etzels Macht ist nicht bedrohlich, solange Günther sich nicht in ihre Nähe begibt. Später dann, bei Etzels Einladung, verläßt er sich fälschlich auf die Versöhnung mit Kriemhilt als ausreichende Garantie (1460) dafür, daß die Distanz ohne Gefahr aufgehoben werden kann, denn Kriemhilt hatte wieder Nähe hergestellt. Hagen dagegen befürchtet: weit ir Kriemhilde sehen, /ir muget da wol Verliesen die ere und oucb den lip (1461, zf.). Wie buchstäblich die Ordnung davon abhängt, daß man die Körper auseinanderhält, zeigt das Wort scheiden: Es meint einerseits Aufhebung vertrauter Nähe, dann aber auch Herstellung von Abstand, der Aggression verhindert, und kann in diesem Sinne schließlich die friedliche Beilegung eines Konflikts ausdrücken. Trennung ist zunächst harmlos: Nach Sivrits Vermählung mit Kriemhilt gibt es zwei Zentren, Günther und Sivrit, jeder mit seinem Gefolge; das entspricht der Situation und Sivrits Rückkehr in seine Herrscherrolle: Sich teilte da^gesinde (617,1); Zu gast Perennec (1975). 320
Bedrohliche Ferne - gewaltsame Nähe
ähnlich etwas später: sich teilten do die recken, der %weier künige man. /do sach man vil der degene danne mit Sifride gan (627, 3 f.). Mit der Trennung bereitet sich die Konfrontation vor. Wenn Kriemhilts und Prünhilts Gefolge vor einer engen Treppe aufeinander treffen, muß ausdrücklich bemerkt werden, daß das ,noch' friedlich ist: vor des sales stiegen gesamenten sich do sit Kriemhilt und Prünhilt; noch was i% an' ir beider nit.
(626, }f.)'3
Die Frage des Vortritts stellt sich noch nicht. Das räumliche Arrangement aber weist voraus: die Verengung des Raums vor der Stiege auf die Verengung vor dem Münster, die friedliche Trennung des Gefolges auf die feindselige. Beim Streit der Königinnen geht es um Vorrang. Über Vorrang kann qua Vortritt - also durch Besetzung des Raums - entschieden werden. Zum Konflikt führt das, wenn zwei Figuren denselben Raum besetzen wollen. In der Umgebung des höfischen Festes ist der Vortritt eine Auszeichnung, die man dem anderen gewaltlos einräumt, und so läßt sich das Gespräch zwischen Prünhilt und Kriemhilt auch an, indem Kriemhilt auf Sivrit deutet, der ganz buchstäblich .hervortritt': nu sihestu wie er stat, wie ref>te herliehe er vor [!] den recken gat.
(8 17,1 f.)
Prünhilt unterscheidet zwischen Sich-hervortun und davon abhebbarem ^abstraktem') ständischen Vorrang, auch er in Raummetaphern ausgedrückt: so muost du vor im län/ Günther den recken, denn dieser muo^ vor allen künegen [...] sin (8i8,2-4).14 Nachdem der erste Wortwechsel keine Einigung brachte, macht das scheiden des Gesindes den Konflikt anschaubar. Prünhilt verlangt: so muostu dich scheiden mit den vrouwen din /von mtnem ingesinde (83O,2f.). Die räumliche Trennung zeigt an, daß vertraute Nähe zerstört ist: Die Hute nam dat^ wunder, wo von da^ geschach, man die küneginne also gescheiden sach, si bt ein ander niht giengen alsam e. (834,1-3)
Wenn danach die getrennten Gruppen wieder aufeinanderprallen, bricht Gewalt aus. Die räumliche Kulisse ,vor dem Münster' wird gebraucht, um dem Zusammenstoß einen effektvollen Hintergrund zu geben. Als Friedensbezirk kontrastiert das Gotteshaus mit dem Streit, der sich anbahnt. Der Zusammenstoß ist provoziert: Hie stuont vor dem münster da^ Guntheres wip (835,1) und Ze samne si do körnen vor dem münster wit (838,1). Das enge Portal zwingt die Kontrahentinnen in konfliktuöse Nähe. Entschieden werden soll der Streit mit der Probe des Vortritts; indem alle sehen sollen, ob ich vor küniges ivibe %em münster türre gegdn (827,4), oder statt" In C 632 ist wieder der Hinweis auf die latente Störung getilgt; es heißt stattdessen: diefroiven schieden sich /in ^yhten minnekliche, als ich tvol verwane mich. 14 Hs. C 827 ergänzt: mit lobe, was die ständische Pointe verdirbt und die konkrete Raumvorstellung metaphorisiert. 321
Räume
dessen - ironisch -, wie diu eigene diu din/Ze hove ge vor recken in Bürgenden lant (828, 4f.). Wie sich im Raum der Rang spiegeln müßte, ist klar:yö sol vor küneges wibe niht eigen diu gegän (838,4), und die kebse nicht vor der legitimen Ehefrau. Es fragt sich, wer seinen Anspruch durchsetzen kann. Kriemhilt erkämpft den Vortritt: vor des küniges wibe in% münster si do gie (843,2). Auch bei der Fortsetzung ist Nähe Ausgangspunkt von Konflikt. Prünhilt verstellt nach Ende der Messe Kriemhilt den Weg. Der Streit eskaliert noch einmal, diesmal in dauerhafter Trennung: Mit rede was gescbeiden manic schane wip (863,1). Wo Konfrontation gesucht wird, muß der Gegner in die Nähe geholt werden, um diese Nähe in Gewalt umschlagen zu lassen. An Etzels Hof legt Kriemhilt es von Anfang an darauf an, ihren Gästen den Raum zu nehmen. Die Bürgenden werden zuerst von ihrem Gefolge getrennt: Günthers ingesinde da^ wart gesundert dan. riet diu küneginne, diu im vil ha%%es truoc.
(1755, 2 f.)
Bei der ersten Begrüßung ist der Raum noch offen: Kriemhilt zieht im Wortwechsel mit Hagen den kürzeren und muß das Feld räumen: do gie si vom im balde, da% si niht ensprach (1749,3). Zurück bleiben einträchtig die Gäste und die Helden Etzels. Noch ist die Bewegungsfreiheit nicht eingeschränkt. Hagen und Volker können über den hof vil verre für einen p alas wit gehen (1760,3). So vereinzelt, sind sie das erste Mal Ziel von Kriemhilts Angriff. Ihr Versuch, Hagen ,in die Enge zu treiben' und zu einem Geständnis zu zwingen, findet wieder ganz konkret räumlichen Ausdruck. Kriemhilt , rückt ihm zu Leibe', so daß er keine Ausflüchte mehr machen kann: des gie in an denfuo^/diu edele küneginne und bot in vientliehen gruo^ (lySo^f.). Es war zu sehen, wie der Versuch scheitert und sich ihr Gefolge aus der Konfrontation mit Hagen zurückzieht: Da mit was gescheiden, da^ niemen däne streit (1799,1). Das ist nur vorübergehend; die Trennung (scheiden] verschiebt nur den Streit. Weiter kann man sich frei bewegen und zum Empfang bei Etzel in den palas gehen (1808,1); zur Nachtruhe bringt man die Gäste in einen witen sal (1824,1). Doch erscheint die Unterkunft schon als Asyl, vor das man - außen noch! - eine Wache stellen muß. Hagen und Volker giengen ü^ dem hüse für die für stan (1832,3). Volker setzt sich under die für des buses (1834,1) und spielt seine Gefährten in den Schlaf, dann nimmt er seinen Schild und geht ä% dem gademe für die tür stan (1836,3). Das Nachtlager soll nach Kriemhilts Willen eine Falle sein. Die eingeschlossenen Gäste sollen überfallen werden, doch bietet der geschlossene Raum auch Sicherheit, und so vermeiden es die hiunischen Angreifer, in konfliktträchtige Nähe zu kommen, wie Hagen es sich wünscht (lat se uns her naher ba^, 1839,1). Sie gehen von dem hüse (1842,3); sie zu verfolgen, ist schon zu gefährlich (i843f.). Der Spielraum ist enger geworden. Mit Tagesanbruch scheint er sich noch einmal auszuweiten: Kirchgang, buhurt, das Festmahl mit dem König. Doch wird die Nähe der Hiunen zunehmend als
Vertikale Ordnung
bedrohlich erfahren; umso weniger weicht man auch nur eine Handbreit zurück (i866,2f.)." Wo aus Nähe Gewalt zu erwachsen droht, muß man versuchen, mögliche Kontrahenten auseinanderzubringen (scheiden in der zweiten Bedeutung) oder aus dem Zentrum des Geschehens zu entfernen. Dietrich und Ruedeger veranlassen ihr Gefolge, dem bühurt fernzubleiben.'6 Die Zurückbleibenden prallen zusammen; Volker zufolge ist ein Schlichtungsversuch zwecklos (e% künde niemen gescheiden; e^gat im an den lip, 1886,3). Nur noch mühsam kann Etzel sie ein letztes Mal trennen (scheiden, 1894,4). Beim Festmahl des Königs sind Dietrich und Ruedeger wieder dabei, doch werden sie ein zweites Mal den Schauplatz verlassen müssen, wenn - diesmal unumkehrbar - Gewalt ausbricht. Der Versuch der Könige, das Getümmel zu scheiden (1967,2), mißlingt.
Vertikale Ordnung Mit der räumlichen Ordnung verschiebt sich das personale Gefüge. Die symbolische Besetzung des Raums ist insbesondere an der vertikalen Anordnung der Akteure ablesbar, in der sich eine gefestigte Herrschaft und Hierarchie ausprägt.57 Sie geht nach und nach zu Bruch, je rascher die nibelungische Welt in den Untergang gezogen wird. Vertikal ist die Welt vor allem im ersten Teil des Epos geordnet, ablesbar besonders an Ankunftsszenen. Dahinter steckt mehr als eine bloß durch die epische Situation erklärbare Anordnung (Jemand kommt irgendwo an und wird von der Burg aus - von oben! - betrachtet). Klar ist die Verteilung von oben und unten bei Sivrits erstem Erscheinen in Worms. Der Erzähler ist Sivrit und seinen Begleitern gefolgt (71 f.) und schildert ihren Empfang durch die hohgemuoten recken, riter unde kneht (75,0> doch dann wechselt der Blick von den Ankömmlingen auf die Umgebung des Königs, in der man die Fremden zu taxieren sucht. Hagen geht Deinem venster (84,1) und erkennt Sivrit. Das Machtgefalle spiegelt sich in der Verteilung von oben und unten. Hagens Blick entscheidet, wie man den Ankömmlingen begegnet; er billigt Günthers Vorschlag, zu ihnen hinabzusteigen (wir sulen im engegene hin nider %uo dem recken gan, 102,4): mugt ir", sprach do Hagene, „wol mit eren tuon. er ist von edelem künne, eines riehen küneges sun. [...]"
(103, if.)
Günther begibt sich also, nachdem er weiß, wen er vor sich hat, auf die gleiche Ebene mit Sivrit. Sivrits Rang wird im höfischen gruo^ anerkannt, doch seine Forderung nach einem Zweikampf zu gleichen Bedingungen abgewehrt, Sivrits " Vgl. S. 381-383 zur Bedeutungsverschiebung von dringen. '6 gescbeiden, .weggehen': 1875,1; 1877,1. 17 Wenzel (1995), S. 131-135 zur hierarchischen Strukturierung von Raum.
3*3
Räume
,Gleichheit' mit Günther wird durch die Einladung, friedlich am Hof zu bleiben, hergestellt und begrenzt; sie bleibt prekär. Im Wortwechsel wird sich der legitime König durchsetzen. Diese Verteilung der Positionen dominiert im Fortgang: Sivrit uf dem hove (133,1; 135,1), bei Ritterspielen, Kriemhilt durch diu venster (133,3), von oben, ihn betrachtend, selbst ungesehen; ebenso bei der Rückkkehr mit den burgondischen Kriegern aus dem Sachsenkrieg sich den Blicken der Frauen, wieder aus den Fenstern, darbietend (243,2); schließlich beim höfischen Fest mit den anderen Kriegern den Auftritt Kriemhilts und ihrer Frauen wie eine Himmelserscheinung anstaunend (281-283); verbildlicht wird damit das hierarchische Verhältnis von werbendem Ritter und vroum. Erst auf dem Höhepunkt des Festes wird es eingeebnet. Sivrit darf in Kriemhilts Nähe, tritt enhende mit ihr auf (295,4) und ist für die Dauer des Festes an ihrer Seite (305).' 8 Bei Günthers Werbung um Prünhilt gab es solch eine eindeutige Ausrichtung der Blicke von oben nach unten nicht. Es waren die Ankömmlinge, die die Frauen oben in den venstern von unten her musterten (389,3). Prünhilt mußte die gewöhnliche Blickrichtung von oben nach unten erst herstellen. Und nicht die Fremden suchen die Königin auf, sondern diese begibt sich dorthin, wo sie schon Platz genommen haben (418,4). Das scheinen belanglose Details; sie spiegeln aber die Tatsache, daß in Isenstein die gewöhnlichen höfischen Ordnungen nicht greifen und daß sich die Fremden diese Welt aneignen werden. Durch ,Gunthers' Sieg werden die üblichen Verhältnisse hergestellt, und sogleich ist alles, wie es sein soll: Oben steht jetzt der König - mit der die Königin - in den Binnen (508,1); sie blicken auf Sivrit, der von seiner Expedition zum Nibelungenland zurückkommt und ,Günthers' miltärisches Gefolge bringt; auf Rat des Königs geht Prünhilt hinab für den p alas (511,1), um Sivrit durch den Empfang zu ehren. Die vertikale Ordnung scheint intakt; doch sie basiert auf Betrug. Bis zum Streit der Königinnen bleibt es äußerlich gleich: Von oben beobachten die Damen die Ritterspiele beim Hochzeitsfest (647). Wenn der Markgraf Gere als Bote bei Sivrit und Kriemhilt erscheint, um sie zu Günthers Fest einzuladen, erkennt Kriemhilt ihn von oben, aus einem Fenster blickend. So ist es auch noch kurz vor Ausbruch des Streits: In diu venster sa^en diu herlichen wip/und vil der schämen mägede (8io,if.). Ze samene do gesäten die küneginne rieh.
(815,1)
Doch der Blick der Damen - nach C noch ausdrücklicher von oben'9 - auf die Turnierkämpfer mündet in Streit. Nachdem Kriemhilt über Prünhilt gesiegt hat, ist " S. 265 f. " Die Raumdispositionen eines Turniers mit Zuschauern scheinen so selbstverständlich, daß sie gar nicht auserzählt werden müssen. Erst Handschrift C präzisiert den Rahmen: [...] hvsir und dach was alle^ vol durch schonten von luten vber al (C 823,2f.). 324
Vertikale Ordnung
diese aus der höfischen Zuschauerposition vertrieben. Jetzt schaut Kriemhilt allein auf das, was von den gemeinschaftlichen Spielen übriggeblieben ist: spiln man do sach. bey wa% man starker schefte vor dem münster brach vor Sifrides wibe al %uo dem sale dan! (871,3)
Die Ordnung, die das Turnier stiftet und in der kampflos die höfischen Damen anerkannt werden, ist defizitär, denn sie schließt Prünhilt aus. Wie eine solche Szenerie ein Ordnungsversprechen enthält, das hier verspielt wird, kann der ,BiterolP zeigen, die friedfertig endende Replik auf das ,Nibelungenlied'. Dort beginnt die Auseinandersetzung zwischen den rheinischen Helden und den Helden Etzels als Krieg vor den Toren von Worms; doch schon der Krieg soll vor Zuschauerinnen stattfinden, die Logenplätze in den Fenstern einnehmen.60 Vor dem panoramatischen Blick über die Kämpfe wird, was sich blutig anließ, allmählich in ein Turnier transformiert. Die Ordnung in oben und unten setzt sich durch. Durch den ungelösten Konflikt erweist sich dies im ,Nibelungenlied' als bloßer Schein. In den Episoden zwischen den beiden großen Auseinandersetzungen, die zu Sivrits Tod und dem Untergang der Bürgenden führen, wird auf vertikale Ordnung kein Wert gelegt. Sie scheint geradezu vermieden, so daß weder eine intakte Hierarchie noch deren Störung erkennbar ist. Wenn Rüdeger in Worms für Etzel wirbt, gibt es keinen erhöhten Punkt, von dem aus sein Auftritt beobachtet würde, obwohl geradezu inflationär erzählt wird, was man sieht oder nicht sieht. Rüedeger agiert auf gleicher Ebene mit den Bürgenden. Etzel und Kriemhilt sind beide zu Pferd, wenn sie sich erstmals begegnen, steigen ab und treffen sich zu Fuß: statt Hierarchie wird Ebenbürtigkeit vorgeführt. Vorher, beim Empfang Kriemhilts in Bechelaren muß solch eine Ebene von Gleichheit erst hergestellt werden: Die Fenster der Burg stehen offen (1318,1), aber niemand schaut heraus, denn die Bewohner sind der künftigen Königin entgegengeeilt; der Blick von oben auf sie wäre unpassend. Kriemhilts höherer Rang zeigt sich darin, daß sie zu Pferd ist, wenn Gotelint sie sieht. Sie hält das Pferd an und bittet, sie rasch herabzuheben, bevor sie sich Gotelint nähert und sie küßt (1311): Zeichen ihrer rangmäßigen Überlegenheit, die durch die höfische Geste korrigiert wird. Die Balance zwischen hierarchischer Ordnung und höfisch unterstellter Gleichheit, wie sie schon die erste Begrüßung Sivrits kennzeichnete, ist gelungen. Doch das bleibt ein Intermezzo. An Etzels Hof gelingt die Wiederherstellung der ursprünglichen Ordnung von oben und unten nur noch fassadenhaft. Die Empfangsszene, wenn die Bürgenden erscheinen, sieht noch konventionell aus: Bit loojof.; 11326-29; 11834-39. 325
Räume Kriemhilt diu vrouwe in ein venster stuont: st warte nach den mägen, so friunt nach friunden tuont. von ir vaier lande sach si manigen man. der künic vriesc ouch diu mare; vor liebe er lachen began.
(1716)
Die wohlbekannte Szene - die Königin schaut von einer erhöhten Warte nach den Ankömmlingen aus - wird zitiert, damit deutlich wird: alles ist falsch. Kriemhilts Drohung (1717) gibt ihrer der Situation scheinbar angemessenen Freude einen sinistren Sinn; ihr Blick gilt Feinden, nicht Verwandten, und Etzels Lachen ist deshalb ahnungslos. Die herausgehobene Position, aus der Kriemhilt den Ankömmlingen entgegensieht, wird nicht zu halten sein. Die Begrüßung der Bürgenden durch die Amelungen kennt ohnehin keine Vertikale; man steht auf gleichem Fuß: Dietrich reitet hinaus aufs Feld den Königen entgegen (1719,3). Als Hagen ihn von weitem sieht (1720,1), empfiehlt er seinen Herren abzusitzen. Dietrich sieht sie, nachdem er gleichfalls abgestiegen ist, gegen im körnen (1723,1) und begrüßt sie. Doch das Zeremoniell höfischer Gleichheit antizipiert auch die künftige Konfrontation auf »gleichem Fuß'. Das Verhältnis zu König und Königin erweist sich noch deutlicher als nachhaltig gestört. Kriemhilt und die Burgonden stoßen bei der Begrüßung schon zusammen (1737). Den Szenen friedlicher oder feindseliger Gleichheit folgt in der 29. Aventiure eine andere des Abstiegs Kriemhilts von ihrer herausgehobenen Position. In dieser bereits mehrfach angesprochenen Episode offener Provokation durch Hagens Schuldbekenntnis wird die vertikale Ordnung in auffälliger Weise aufgegeben. Hagen und Volker setzen sich ,unten' in den Hof: vor dem hüse gegen einem sal, (der was Kriembilde) üf eine banc %etal.
(1761,1 f.)
Sie bieten sich dem gewöhnlichen Blick von oben nach unten dar und werden wie Tiere angestarrt, sagt der Erzähler (1762, i).61 Das scheint die Relation zu klären, doch scheint es nur so, wie sich herausstellt. Auch Kriemhilt sieht sie von oben, doch mißrät ihr die distanzierte Betrachtung: si ersah ouch durch ein venster da^ Et^elen wtp. des wart aber betriebet der scheinen Kriemhilde lip.
(lyoz^f.)
Nun verkehrt sich, was zuvor festgelegt war: oben und unten, Subjekt und Objekt des Sehens, distanziert und neugierig musternder Hof und den Blicken ausgesetztes ,Tier'. Kriemhilt muß ihre Position oben aufgeben und eine Treppe zu Hagen und Volker hinabsteigen. Erzählt wird das schon aus der Perspektive von unten nach oben, aus der Perspektive derer also, die vorher angegafft worden waren:
S. 290. }26
Schrumpfung des Raums Do sach der videlare [...] die edele küneginne ab einer stiege gan nider ab einem huse [...]. (1772,1-3)
,Auf gleichem Fuß mit Hagen' erleidet Kriemhilt eine Niederlage, trotz der Insignien ihrer königlichen Macht. Es ist nicht mehr die Rede davon, daß sie ,nach oben' zurückkehrt. Nur scheinbar gelingt es noch einmal, die hierarchische Ordnung herzustellen, wenn Etzel und Kriemhilt mit ir vrouwen aus dem Fenster das Getümmel von Einheimischen und Gästen vor dem Münster beobachten (1869,i£). Unter ihren Augen läuft ab, was riterschaft (1879,3) und kur^ervile (1882,1) genannt wird, sich jedoch, während die Kulisse eines höfisch geregelten Spiels präsent gehalten wird,6' in blutigen Ernst verwandelt. Jetzt ist es Etzel, der gezwungen ist, seine Beobachterposition oben aufzugeben und hinabzusteigen, um gewaltsam zu schlichten: der wirt u^ einem venster vil harte gaben began.
(1893,4)
Weder er noch Kriemhilt werden je noch einmal auf den distanzierten Platz oben zurückkehren. Das Festmahl ist der letzte gemeinsame Auftritt der Kontrahenten ,oben' im Saal. Dancwart, einziger Überlebender beim Überfall auf den Troß, muß sich durch die Angreifer dorthin nach oben durchkämpfen; jeden, der im für die stiege spranc (1950,1), schlägt er zurück.6* Der Festsaal wird für die Hiunen zum Grab. Etzel und Kriemhilt können froh sein, im Schutz Dietrichs den Saal verlassen zu dürfen, und das heißt: hinabzusteigen. Von jetzt aber sind die Grenzen klar gezogen: Die Burgonden ,oben' im Saal, Etzel und seine Leute von .unten' gegen sie anrennend, so lange, bis fast keiner mehr übrig ist. Mit dem Gemetzel beim Mahl haben sich oben und unten umgekehrt.
Schrumpfung des Raums Ordnung erzählt das ,Nibelungenlied' paradoxerweise als eine Ordnung des Untergangs, und diese Ordnung wird bis zum doppelten Zweikampf am Schluß immer übersichtlicher. Der Saal ist uneinnehmbar. Indem ihnen der Festsaal des Hiunenkönigs überlassen wird, rücken die Bürgenden ins Zentrum des Geschehens und degradieren die anderen zu Randfiguren, die sich erst ins Zentrum begeben müssen, um Erzählenswertes zu vollbringen. Es gelingt nur wenigen. Sie kommen alle dabei ums Leben. 62
1887,4; 1888,2; 1890,4. Vgl. 1948,4; er will Etzels kamerare spielen, der auf seine Art sich der stiegen annehmen will; zur Bedeutung der stiegen Wolf (1995), S. 395; 399; 411. 327
Räume
Die Vertikale bekommt eine andere Bedeutung; sie repräsentiert nicht mehr Ordnung, sondern erlaubt, deren Auflösung zu inszenieren. Man wirft die toten und verwundeten Hiunen hinaus, die Treppe hinunter, damit man im Saal die Füße frei bekommt (2011,1): vor des sales stiegen vielen si %etal.
(2013,3)
Auch die leichter Verwundeten verlieren von dem hohen valle ihr Leben (2014,3). Etzel ist aus dem Zentrum seiner Macht vertrieben; er muß von außen mit denen verhandeln, die den palas besetzt halten: Do stuonden vor dem huse vil manec tüsent man.
(2019,1)
Eine Grenzüberschreitung wie die eines Markgrafen, der seinen verwundeten, auf die Leichenberge geworfenen Verwandten retten will, endet sogleich mit seinem Tod (2016). Volker markiert mit seinem Speer, den er über da^ volc vil verre schießt (2018,2) den Abstand, den die Bürgenden verlangen: hoher von dem sal (2018,3). Auch Etzel wird gehindert, ihn zu überwinden (man muose in bi dem ve^gel Dieben wider dan, 2022,3). Damit ist ein Raum abgesteckt, in dem das Gemetzel bis zum letzten Mann sich abspielen wird. Die von Düringen und Tenemarke wurden bei Etzels Mahl nicht erwähnt. Sie sind weder ,dabei' noch ,nicht involviert', denn sie sind die ersten der fremden recken, die Kriemhilt in den Kampf zieht und die die Grenze überschreiten müssen, zuerst alle auf einmal, eine vol gro^[iu] schar (2032,1). Doch der Untergang hat seine gute Ordnung. Irinc muß seine Leute wieder hinter die Grenze zurücktreiben, um allein zu kämpfen. Ihm gelingt es, in den Saal hinauf vorzudringen. Sein Kampf sticht von den wohlgeordneten Aristien der Schlußszenen ab, indem er die zuvor nur mühsam unterdrückte, zuerst im Todeskampf des Trosses, dann beim Festmahl ausbrechende chaotische Gewalt fortsetzt: Irinc springt zu Hagen, dann zu Volker, dann zu Günther, dann weiter, wird von Giselher angefallen, doch noch gibt es keine Wunden: Hagen bleibt unverwundet (2040,1); Volker läßt er stehen; der heftige Kampf mit Günther brähte niht von wunden da^ vlie^ende bluot (2042,3); zwar erschlägt er vier aus dem edeln ingesinde[] (2044,3); doch selbst Giselhers Schlag läßt ihn am wunden (2046,4). Erst auf der Flucht gelingt es Irinc, Hagen zu verwunden. Nach heftigem Kampf rettet er sich zur Treppe: hin nider von der stiegen Hagene im volgen began.
(2052,4)
Ihm gelingt es noch einmal die Demarkationslinie zwischen den feindlichen Haufen in Gegenrichtung zu überschreiten. Beim zweiten Versuch gelangt er nicht einmal mehr hinauf.64 Hagen kommt ihm entgegen, die stiegen ü^ an ein ende (2061,3) und erschlägt ihn. Sein Tod zieht die von Düringen und Tenemark in den Kampf. Sie (
>< Wolf (1995), S. 395.
328
Schrumpfung des Raums
Sprüngen für da^ gadem, um ihn zu rächen (2070,1). Auch sie fallen; ein schrecklicher Kampf beginnt vor dem huse (2074,2), bis Volker rät, zum Schein zurückzuweichen, d. h. die überlegene Position im Saal wieder einzunehmen: lät si her ingän (2075,1); si müe^en drinne ersterben (2075,3), un d so geschieht es. Alle, die in den Saal dringen, werden getötet (2076,1; 2077,1). Mehr und mehr wird der herausgehobene Platz zum Gefängnis, das die Burgonden nur noch in kurzen Pausen des Kampfes verlassen können. Das stellt sich erst recht nach einem weiteren fürchterlichen Kampf (2083-2085) heraus, wenn die Könige um eine Entscheidung in offenem Kampf bitten, um ein schnelles Ende zu machen (da^ lät kur^ ergan, 2097,1) und sie hin aider an die wite (2096,4) hinauszulassen: die bluotvarwen beide und auch harnaschvar träten u^ dem huse, die drte künege her. (2o88,2f.)
Kriemhilt sorgt dafür, daß es nicht dazu kommt: Lät einen dem huse niht kamen über al, so hei^' ich viern enden Bünden an den sal.
(2109,1)
Die noch draußen stehen, werden hineingetrieben (zno,if.). Der W wird angezündet. Auch dieser heimtückische Anschlag scheitert zwar. Immerhin 600 Burgonden haben ihn überlebt. Aber aus den Trümmern des palas führt kein Weg mehr heraus. , -den-Kampf-hineingezogen-werden' ist ganz buchstäblich räumlich zu verstehen, als .hinzukommen' in den Fokus des Untergangs: Do riefen irgenuoge: „naber, beide, ba^/ [...] hie belibet niemen wan der doh sterben sol" (2132,1; 3).6' Wie ein schwarzes Loch verschlingt der Saal ein hiunisches Aufgebot nach dem ändern (2134,3). Auch die sich heraushalten wollen, geraten in den Sog: wine der Gotelinde kom %e hovegegän (2135,2). Rüediger hatte sich mit Dietrich aus dem Getümmel im Saal entfernt. Seine Distanz drückt sich darin aus, daß er, wenn er auf dem Schauplatz erscheint, gleichzeitig .woanders hin', nämlich zu Dietrich, der sich noch immer .fernhält', eine Botschaft abfertigt: Do sande an Dietrichen der guote Rüedeger, ob si% noch künden wenden an den kümgen her.
(2137,1 f.)
Rüedegers Platz ist zwischen zwei Orten. Von Dietrich hat er sich schon ,entfernt', indem er .hinzukommt'. Entsprechend vergeblich ist der Versuch, den Kampf zu wenden. Doch noch ,steht' er am Rand, zwar noch unentschieden ,draußen' mit weinenden ougen (2138,2), aber er steht schon bei der Partei Etzels. Wenn er sich dann entschieden hat, drückt sich das in einer Bewegung im Raum aus: Ich beziehe den Satz auf die Bürgenden, die die Gegner .hineinziehen'. 329
Räume Man sah in von dem künege vil trüreclichen gen. do vant er sine recken vil nahen bi im sten. (2 167,1 f.)
Rüedeger entfernt sich von dem künege, aber kaum (vil nähen) und nur um sich zu rüsten.66 Er nähert sich under helme, d. h. feindlich, den Bürgenden (2170,1; 2 17 1,1 f.). Noch ist er diesseits der Demarkationslinie, die die Machträume abgrenzt: Rüdeger vor dem hüse (2174,2), in den sal (2175,1) rufend. Hagen spricht von der stiegen hin %etal (2192,4); Volker schließt sich seinen Worten von dem hüse - also von oben - an (2203,1). Die Bürgenden kommen nicht heraus. Rüedeger muß sie im Saal bekämpfen; er wird durch wortreichen willen hineingelassen (2208,1) und fällt wie alle vor ihm mit seinen Leuten: die do dar inne waren, die muosen liden not (2224,2). In den beiden letzten Massenkämpfen müssen sich die Bürgenden im geschlossenen Raum behaupten, gegen Rüedeger und gegen die Amelungen. Der Saal saugt die Kämpfer in sich hinein. Auch Dietrich kann sich nicht mehr fernhalten. Seine widerwillige Annäherung an den Kampf ist noch aufwendiger erzählt als die Rüedegers. Er darf Rüedeger nicht , fallen sehen', denn bis dahin soll er , abwesend' sein. Nicht einmal er selbst, sondern ein anderer hört den Jammer um Rüedegers Tod, ohne den Grund dafür schon zu kennen. Die Distanz gegenüber dem Brennpunkt des Kampfes ist verdoppelt, aber das hilft nichts. Ein Kundschafter muß ausgeschickt, Dietrich vorläufig unterrichtet werden, nach genauerer Nachricht verlangen. Er sucht alles zu vermeiden, was die Bürgenden reizen könnte. Den ersten, der nachzufragen anbietet, lehnt Dietrich ab, weil er fürchtet, doch hineingezogen zu werden. Erst der zweite - Helpfrich - durfte dar gan (2241,1) und hie^ in da^ ervinden an Et^elen man/ oder an den gesten selben (2241, 2f.). Helpfrich überschreitet die Demarkationslinie nicht, sondern bleibt diesseits: er fragt die Hiunen.67 Auf die Nachricht von Rüedegers Tod geht Dietrich immer noch nicht selbst: Der vogt der Amdunge hie^ e% ervinden vil harte senecliche er in ein venster sa%.
(2247,1 f.)
Es gibt nur wenige Räume, die Absonderung von der Bühne heroischen Geschehens erlauben. In der Fensternische sitzend, drückt Dietrich seine Distanz aus. Er schickt andere, die wieder nur bis zur Grenze zwischen den Parteien gehen sollen, um Näheres zu erfahren (22 54,1 f.). Anfangs sieht es nach einer Einigung aus, doch » dem sal, aus dem die Amelungen den Leichnam fordern (2262,1), darf niemand zurück, auch nicht als Toter; also werden Dietrichs Leute hineingelockt: nemt in in dem hüse da der degen lit (2266,2). Aus dem Sog in den tödlichen Saal kann Hildebrant einen Augenblick Wolfhart noch zurückhalten, dann stürmt der los für des sales want (2274,1), doch schneller noch kann Hildebrant die Grenze überschreiten, die Trep66
67
Nur scheinbar ist die Bewegung handlungslogisch motiviert (etwa: er muß seine Waffen holen) denn das wäre Sache des Ingesinde (2168). Das geht aus der Auskunft hervor: da ist vil gar Bergan/sn>a% wir vreuden beten in der Hiunen lant (2242,2f.).
33°
Wege
pe erreichen und in den Saal eindringen. Dort68 tobt der Kampf los; scheiden^ heißt jetzt nur noch, die ineinander verkeilten Kämpfer für einen Augenblick auseinanderzubringen, damit sich neue Kombinationen im Gemetzel ergeben können. Nur einer kommt wieder heraus - Hildebrant; ihm gelingt es schon nicht mehr, den toten Wolfhart ü%em hüse mit im tragen dan (2300,1) —, und nur zwei bleiben übrig — Günther und Hagen. Der Spielraum wird immer enger, und er umschließt immer weniger Menschen. Die weiträumige nibelungische Welt ist auf einen Kampf im Saal geschrumpft, auf die Dimension archaischer Heldenlieder. Für den letzten Kampf der Überlebenden braucht es keine Abgrenzung zwischen den Machtblöcken mehr. Ein hiunisches Aufgebot scheint es nicht mehr zu geben. Dietrich scheint allein übrig mit Hildebrant, und im Hintergrund Etzel und Kriemhilt. Jetzt können die überlebenden Bürgenden die herausgehobene Position im Saal noch einmal verlassen. Dietrich trifft auf Hagen und Günther stende [...] ü^en vor dem hüse, geleinet an den sal (2328,3;). Hagen stürzt sich von der stiege in den Kampf (2348,3), und Günther läuft für den sal (2357,3). In den beiden letzten Zweikämpfen gibt es keinen hierarchisch geordneten Raum mehr. Die Unterlegenen werden gefangengenommen; sie können sich nicht mehr im Raum bewegen. Hagen wird eingekerkert, Günther und Hagen liegen sunder durch ir ungemach (2366). Im Schlußtableau entfallen die räumlichen Grenzen, aber nur als Szenerie für die Liquidation der Eingeschlossenen. Die Bühne ist wieder offen - es ist nicht so klar, wo sie eigentlich aufgeschlagen ist und wer sich auf ihr befindet -, aber es gibt auf ihr kaum noch Überlebende.
Wege Die Auflösung des geordneten Raums wird durch die Verwirrung der Wege vorbereitet. Die Wege, die durch die bekannte Welt führen, waren wenig auffällig. Der Weg von Xanten nach Worms, von Worms nach Isenstein und zurück ist eine nach Zeit zu bemessene Entfernung. Sieben Tage braucht man von Xanten nach Worms, zwölf dauert die Fahrt vom Rhein nach Isenstein. Die Distanz nahezu spielend zu überwinden, gehört zu den Stereotypen erfolgreicher Brautwerbung. Anders steht es mit dem Weg ins Nibelungenland. Wie man dorthin gelangt, ist dunkel, der Ort zwischen den höfischen Zentren von Worms und Xanten nicht recht unterzubringen, der Weg führt durch ein nicht meß- und lokalisierbares Nirgendwo, für das in der 8. Aventiure das Meer steht. Sivrit bewegt sich, ohne daß man Näheres erführe, souverän zwischen der bekann68 6
2287,2; 2292,3. > 2276,1; 2278,5. 331
Räume
ten und der fremden Welt, und er kann andere von der einen in die andere fuhren. Das Verfügen über den leeren Raum (das Meer) wird demonstriert, wenn Sivrit Günther, Hagen und Dancwart üfderfluot führt und da, wo es keinen Weg zu geben scheint, die rehten wa%%ersträ%en kennt (378,1-3), dann wieder, wenn er als unsichtbarer schefmeister das Schiff von Isenstein ins Nibelunge lant bewegt, so rasch als wehe ein sunderstarker wint (483,1-3).7° Der Raum bietet Widerstand, doch Sivrit (und mit seiner Hilfe auch Günther) meistert ihn, in recken wise, in der auch die Abenteuer dort zu bestehen sind. Die Raumvorstellungen verschieben sich, wenn der Hort und Prünhilt gewonnen sind und ihre Herrschaftsbereiche von den höfischen Zentren dominiert werden. Die Entfernung zwischen Günthers und Sivrits Sitz scheint zum ersten Mal zum Problem zu werden, wenn Günther die Verwandten nach Worms einlädt (727,3; 758,4), und zwar ohne daß zwischen dem, wie man weiß, in wenigen Tagen erreichbaren Niderland und dem Nibelungenland unterschieden würde. Das ist bemerkenswert, denn Nibelunge lant ist nicht mehr nur dem Heros zugänglich, es liegt nicht mehr in einem fernen Nirgendwo, sondern scheint ein Nebenland des niederländischen Königreichs geworden zu sein, wo Sivrit und Kriemhilt sich gerade aufhalten; es ist geographisch lokalisierbar (%e Nibelunges bürge [...] %e Nonvage in der marke, 739,2^). Aus mythischer Unzugänglichkeit ist eine schwer, aber schließlich doch zu überwindende Entfernung geworden; es zeigt sich, daß weiterhin Verbindungen nach Worms bestehen. Der Raum zwischen den beiden Höfen ist meßbar (in drin wachen, 739,1). Dieses Norwage ist sicher, anders als die Ortsnamen aus dem Donauraum, etwas sehr Fernes, doch ist es erreichbar. Es gehört so selbstverständlich zu Sivrits Kronländern, daß es keine Erklärung wert ist, warum die Boten Sivrit nicht in Xanten antreffen. Der Raum ist weit, aber nicht unvertraut. Schon auf Sivrits und Kriemhilts Zug von Worms nach Xanten, wo sie gekrönt werden, passierte nichts Epenwürdiges, denn die Welt dazwischen gehört zu Günthers Herrschaft. man hie^ in allenthalben ir nahtselde legen swa sis gerne nämen, al durch der künige lant.
(702,21".)
Die Reise in die Gegenrichtung, vom Nibelungenland nach Worms, zu Pferd jetzt, nicht mehr zu Schiff (779-781), ist erst recht nicht erzählenswert: leere, zu überwindende Zeit. Gleich geht der Erzähler zu den Vorbereitungen des Empfangs in Worms über. Die Grenze der Sagenwelt zur gewöhnlichen Welt ist durchlässig; man kann problemlos von Nibelunge lant (778,3) nach Worms reisen. Wenn Sivrit tot ist, können sogar Gernot und Giselher dorthin gelangen und den Schatz holen. Kaum ist das Unwegsame zugänglich, beginnen sich aber die Wege durch die bekannte Welt zu verwandeln. Unübersehbar wird das beim Zug der Burgonden zu Zu dieser Stelle Perennec (1975), S. z. 332
Wege
Etzel. Bei Kriemhilts Reise ins Hiunenland bemerkte man noch nichts davon, so weit der Weg auch ist. Der geographische Raum ordnet sich wieder um Herrschaftssitze. Kriemhilt berührt eine Reihe von markierten Punkten: bis Verge (Pföring) in Begleitung der Brüder; Einkehr in Passau beim Oheim; dann in dessen Begleitung nach Everding und Ense beim Übergang über die Traun, wo sie Gotelint trifft; mit ihr nach Bechelaren, zum Herzog Astolt nach Medelicke, der sie nach Mütaren weist, wo der Bischof sie verläßt, dann nach Zei^enmüre an der Treisen, wo Etzel eine Burg besitzt, in die Stadt Tuln, wo sie Etzel trifft, nach Wien, wo sie Hochzeit hält, über Heimburc, Misenburc schließlich nach Eti^elnburc. Kriemhilts Reise führt durch eine geordnete politische Welt7' - den Wormser Einflußbereich, Beiern, die Sphäre Pilgrims von Passau, Osterrich, das hiunische lant (1375,4). Ihr Weg durchläuft eine Folge fester Punkte. Überall wird sie gut aufgenommen, zuerst in der Einflußsphäre des Wormser Hofes, dann in Passau und in den verschiedenen Quartieren in Rüedegers und Etzels Machtbereich. Immer ist die nahtselde gesichert (si schuofen die nahtselde un^ an Tuonouwe st at, 1288,3), manchmal in hütten und gefeit (z. B. 1304,2) oder auf einem Adelssitz.72 Überall ist von gemach, von Essen und Trinken und von geregeltem Wechsel zwischen der Reise tags und der Nachtruhe die Rede: Die naht si beten ruowe bis an den morgen vruo (1317,4). So ist die Anstrengung erträglich: die wegemüeden vrouwen die beten senfte und auch gemach (1377,4). Bei jeder Station wird der fremde Raum zum vertrauten, das Fremde ,angeeignet'; die landfremde Kriemhilt kann von Anfang an die verstorbene Königin ersetzen.73 Zwölf Tage - offenbar die Normalzeit für eine ,lange' Reise - hatte Rüedegers Ritt an den Rhein in Anspruch genommen, als er um Kriemhilt warb. Zwölf Tage brauchten die Boten, als sie die Burgonden einladen fuhren. Bei Kriemhilts Reise spielte die Zeit keine Rolle, aber alles verlief geordnet und gefahrlos. Dann aber, wenn sich die Burgonden zu Etzel aufmachen, ist das anders. Derselbe Weg wird lang und beschwerlich. Nach zwölf Tagen erreichen sie gerade einmal die Donau. Man wird sagen: Natürlich benötigt ein großes Heer mehr Zeit als die kleine Schar. Trotzdem entsteht der Eindruck, daß der Zug in den Untergang nicht enden will. Er ist mühsam: Wo Kriemhilt in Verge die Donau erreichte, Verge einfach ein Ortsname war (Pföring), begegnet den Burgonden an der gleichen Donau ein gewalttätiger verge, der sie an der Weiterreise hindern will. Die Homonymie, mag sie nun Absicht sein oder nicht, verschärft noch den Eindruck der Gegenbildlichkeit. Der Raum zwischen Worms und Passau dehnt sich, danach, hinter Passau (1630), ist er leer, bis auf die marke vor Bechelaren, einen militärischen Posten, den Eckewart besetzt hält; nach der Enklave in Bechelaren geht es noch nider über sant/^etal bi Tuonouive »^ in da^ hiunische lant (1712,3^). Obwohl langsamer, bietet diese Reise 71 12 73
Keine Rede davon, daß Bechelaren der letzte Vorposten der Zivilisation ist (Frakes, 1994, S. 163). Vgl. 1316,3-1317,1. In Tuln z. B. lernt Kriemhilt vil manic site vremede kennen (1341,3). 333
Räume
den Lokalhistorikern weit weniger Anhaltspunkte als die vorausgehende Kriemhilts. Der Raum ist plötzlich gefahrlich: Etzels Ansehen hatte Rüedigers Zug (1174,4) ebenso wie die Boten Wärbel und Swämmel (1429,3f.) geschützt, Rüedeger selbst schützte Kriemhilt. Anders beim Zug der Bürgenden. Für Etzels Gäste reicht sein Schutz offenbar nicht mehr aus, denn sie haben Kämpfe zu bestehen. Dreimal, einmal unter Schwierigkeiten, geht es über einen Fluß. Die Bürgenden brechen zu Schiff auf (i5i4,4), 74 und es wird noch zweimal nötig sein, ein Wasser zu überqueren, gewaltsam die reißende Donau bei Möringen, dann den Inn (?) bei Passau (1629,3). Flußüberquerungen sind bedeutsame Überschreitungen von Grenzen.7' Hinzukommen zwei weitere Grenzüberschreitungen: die zum Herrschaftsgebiet des Herzogs von Beiern und die Mark, die Rüedegers Land schützt. Dazwischen gibt es nur zwei Ruhepunkte: Passau und Bechelaren, die sich aber nur umso krasser von ihrer Umgebung abheben. Bis zur Donau (%e Maringen, 1591,1) gibt es geographische Fixpunkte (wenn auch nicht mehr die dichte Folge von Herrschaftssitzen), den Main, Ostfranken; dann aber dehnt sich ein gefährlicher Raum, durch den der Zug ohne genauere Richtungsangaben sich bewegt. An der Hochwasser führenden Donau fangen die Gefahren an. Sie zu überschreiten, ist mühsam und führt zu den ersten kriegerischen Verwicklungen. Danach wird der Raum unübersichtlich, und es gibt keinen Aufenthalt; üf der strafe haben die Burgonden die Angriffe der Beiern abzuwehren (1602,4); sie müssen dann rasch üf disen wegen weiterreiten (1617,2). Immerhin drei Strophen lang wird auserzählt, daß es für sie trotz ihrer Erschöpfung nach dem Kampf mit den Beiern kein Nachtlager gibt: Zuerst fragt manic man nach einem Quartier und wird von Dancwart beschieden: wir mugen niht herberge ban (1621,3f.), dann erkundigt sich Volker nach einer Rast (1622,2-4), doch wieder lautet Dancwarts Antwort: „wir enmugen niht geruowen e /^ beginne tagen. swä »7 danne finden, da legen uns an ein gras." do si diu mare horten, wie leit in sümeliehen was!
(1623,2-4)
Gewiß, das betrifft die Nachhut: Hagen, Dancwart, Volker und ihr Gefolge. Doch wenig später zeigt sich: Auch die Könige, die Burgonden alle, haben keinen Ort zum Ausruhen in der feindlichen Umgebung. Sie sind aus der bekannten Welt herausgefallen: Wir kunnen niht bescheiden wa si sich leiten nider (1627,1). Auf dem Weg zu Etzel scheint aus dem festgefügten Herrschaftsverband ein Zug von Nomaden zu werden, die irgendwo ,im Gras' ausruhen müssen, wo sie gerade sind.76 Das ist in der Tat, wie de Boor S. 242 bemerkt, nicht auffallig, denn man muß von Worms aus den Rhein überqueren. Zu denken gibt nur, daß die Lage von Worms bei Sachsenkrieg und verräterischer Jagd nicht beachtet ist (ebd., S. 152). Beim Mord an Sivrit im Waskenwald setzt man (fälschlich) über, beim Sachsenkrieg nicht. Sollte die Überfahrt also doch symbolische Bedeutung haben? Vgl. Strohschneider/Vögel (1989). 334
Wege
Das wird ausdrücklich mit dem kontrastiert, was ,in Ordnung' wäre und sofort wieder eintritt, wenn sie sich einem vertrauten Herrschaftssitz nähern: si wurden wol enpfangen da %e Pa%%pun>e sint (1627,4). Doch das ist die Ausnahme. Sie wiederholt sich, wenn der Zug Rüedegers Mark erreicht: Die vollendete Bewirtung durch den Markgrafen löst einen desolaten Zustand ab, in dem Etzels Gäste nicht wissen, wo sie sich lassen sollen. Das burgondische Aufgebot ist keineswegs zu schwach, um, wie im Mittelalter sonst doch üblich, selbst für Unterkunft und Verpflegung zu sorgen. Trotzdem sind die Burgonden getrieben von der Sorge derer, die nirgendwo zuhause sind. Wenn man Hagen hört, dann fehlt es ihnen inzwischen an allem. Hagen klagt Eckewart nämlich die sorge seiner Leute umb' die herberge; man wisse nicht, wo man bleiben solle: wd wir in disem lande noch hinte nahtselde hdn; er fragt nach einem Platz ,heute abend', damit die künige und auch ir man (1636,2-4) ausruhen können. Die Ressourcen des Heeres scheinen verbraucht: „Diu ross sint uns verdorben üf den verren wegen, unt der spise Brunnen", sprach Hagene der degen. „wir vinden\ ninder veile. uns ware ivirtes not, der uns noch hinte gäbe durch sine fügende sin brot."
(1637)
Aus der Festgesellschaft scheint der Zug einer abgerissenen und halb verhungerten Soldateska geworden zu sein. Statt anderen durch freigebige Geschenke zu imponieren, sind sie selbst auf Rüedegers milte angewiesen. Das hat gewiß auch rhetorische Funktion: der Mangel ist Folie für den vollendeten wirt Rüedeger, der Gäste so aufnimmt, da^ ir %e hüse selten so wol bekamen birt (1638,2). Doch andererseits wird der bloße Aufschub, der retardierende Charakter des Aufenthalts in Bechelaren dadurch nur umso schärfer erkennbar. Der Zug in den Untergang hat schon mit dem Aufbruch in Worms begonnen, und er setzt sich, nur in Passau und Bechelaren unterbrochen - die übrigens in enger Nachbarschaft zu liegen scheinen, so wenig Erzählzeit wird vom einen zum ändern gebraucht -, unerbittlich fort. Dem Aufenthalt in Bechelaren geht ein anderes Hindernis auf dem Weg zu Etzel voraus. Man erfährt von einer bewachten Grenze zu Etzels Reich, wenn diese auch scheinbar mühelos passiert wird.77 Als Kriemhilt kam, war davon nicht die Rede gewesen. Die Grenze ist durch widersprüchliche Merkmale gekennzeichnet. Es gibt den Grenzwächter Eckewart, doch der schläft; Eckewart ist fremd und vertraut zugleich, ist Kriemhilts Gefolgsmann, doch sorgt er sich um dessen potentielle Feinde; er wehrt zwar nicht ab, aber warnt; der Übergang ist friedlich, doch erst 76
77
Mir scheint dieses ,Nomaden-Werden' wichtig im Hinblick auf die Rolle, die die Burgonden-Nibelungen bei Etzel als Zerstörer des Reichs spielen werden (S. 445 f.); zum Weg der Nomaden: Deleuze/ Guattari (1980/1992), S. 522-526. Zu ihrem Charakter als .Störung' S. 1421". 335
Räume
einmal nimmt Hagen dem Wächter die Waffen ab; die Bürgenden werden als Gäste empfangen, aber müssen erfahren: man ist iu hie geha^ (1635,3). Sie sind in einen zweideutigen Raum eingetreten, dessen Gefährlichkeit sich erst langsam herausstellt. Bei Rüedeger wird noch einmal alles anders sein; er wird sie sicher zu Etzel bringen. Wie am Anfang der Reise scheint auch am Ende alles wieder in Ordnung zu sein. Doch der Weg zu Etzel ist nicht mehr der vom Helden leichthin überwundene Widerstand des Raums noch auch eine Perlenschnur von Herrschaftssitzen und höfischen Empfängen. Er isoliert die Bürgenden total von ihrer Umgebung und setzt sie tödlicher Gefahr aus. Der Zug ist von einer seltsamen Ruhelosigkeit gekennzeichnet, und diese Ruhelosigkeit setzt sich an Etzels Hof fort. Trotz Etzels freundschaftlichem gruo^ und trotz der Bewirtung, volleclichen und nach Wunsch, kehrt auch jetzt sogleich die sorge um einen Platz zum Ausruhen zurück: die wegemiieden recken, ir sorge si an vaht, wanne si solden ruowen und an ir bette gän.
(1818,2f.)
Anders als auf Kriemhilts Reise wird die Anstrengung nicht durch Bequemlichkeit kompensiert. Obwohl alles problemlos scheint, das Lager ausladend in seiner Pracht und Bequemlichkeit geschildert wird (1824-1826), muß die Bitte lat uns eilenden hint haben gemach (i823,3) 7 8 bei Etzel und gegen die herandrängenden Hiunen erst umständlich begründet werden, und Giselher klagt Owe der nahtselde (1827,1), weil er den Angriff Kriemhilts fürchtet. Die Müdigkeit begleitet die Burgonden seit Beginn der Fahrt zu Etzel, vom Übersetzen über die Donau (1571,4) bis zum Erreichen der hiunischen Grenze Do die ivegemüeden ruowe genämen (1631,1). Man schläft nicht mehr gut. In der ersten Nacht an Etzels Hof sind es nur Volker und Hagen, die wach bleiben müssen. Indem sie die anderen bewachen, auf gemach also verzichten, indem Volkers Musik vil manegen sorgenden man einzuschlafen erlaubt (1835,4), kann das sorgen (1828,1) der stolzen eilenden (1834,4) noch einmal zerstreut werden. Dann gibt es keine Entspannung durch nahtselde mehr. Am folgenden Abend heißt es: In was des tages Brunnen: dogie in sorge not (2087,1). Ihnen wird nicht mehr nur die Ruhe bestritten, sondern man versucht, das Haus zu verbrennen, in dem sie ausruhen könnten, und sie darin: In sus getanen leiden in doch der naht %eran (2120,1). Bei Tagesanbruch geht der Kampf gleich weiter: Des tages wider morgen grüe^en man in bot/mit hertem urliuge (2128,1 f.). Statt Ruhe nur noch Erschöpfung: Den sitzen, disen leinen sah man manegen degen (2227,1). Der Rückweg heim in iuwer lant (2340,2), den Dietrich in Aussicht stellt, bleibt eine leere Illusion. Erst die ,Klage' wird die Tendenz, Wege zu verbauen und Raum zu bestreiten, umkehren, wenn Swämmel Etzels Botschaft durch die Lande verbreitet. Er wird wieder unbehelligt, offenbar unter dem Schutz von Etzels Macht (die doch eigentVgl. vorher 1819,2; 1822,4. 336
Wuchern der nibelungischen Welt
lieh zerstört ist) von Herrschaftssitz zu Herrschaftssitz ziehen: Wien - Bechelaren Passau - Worms -, niemand, auch die Beiern nicht, werden seinen Zug behelligen, und so kann er seine Botschaft überall verkünden. Die Wege sind wieder gangbar.
Wuchern der nibelungischen Welt Auf ihrem Weg in den Untegang mutieren die Bürgenden zu Nibelungen. Diese feiern in der Rotte von Kriegern, denen mehr und mehr ihr Platz in der Welt streitig gemacht wird, Auferstehung. Anfangs hatte Sivrit die Kraft der Nibelungen repräsentiert. Er war nicht wie in anderen Fassungen der Sage der nomadisierende Fremde, der , draußen' kommt, sondern an einen Hof gebunden. Doch gab es Geschichten von ihm, nach denen er herumzog: durch sines libes sferke er reit in menegiu lant (21,3). Er behauptete sich dort, wenn er auf die Nibelungen und ihren sagenhaften Schatz traf, oder später in Isenstein dank seiner überlegenen Kraft. Seine Geschichte berührte sich mit der fremden Welt ,draußen', er wußte sich als einziger dort zurechtzufinden, hatte eine Affinität zu ihr, mehr nicht. Nur dem, der genau liest, fällt auf, daß diese Affinität durch seine Gestalt angezeigt wird; Sivrit wird durch die Größe seines ger als riesenhaft gekennzeichnet: Sivrit der fuort' ir einen wol %weier spannen breit (73,3).79 Auffällig ist, daß dies nicht explizit, sondern nur im Modus einer epischen Hyperbel gesagt wird. Auch Prünhilt ist durch ihre Waffen als riesenhaft gekennzeichnet.80 Doch auch bei ihr werden daraus keine Schlüsse gezogen. Beide Male sind äußere - körperliche - Spuren, die Sivrit und Prünhilt einer heroischen Sonderwelt zugehörig ausweisen, heruntergespielt. Ist Sivrit einmal König, rückt das Nibelungenland in die Reichweite des Wormser Hofes, nach Sivrits Tod sogar noch näher: Hagens Verrat hatte Sivrits scheinbar unverwundbare Schutzschicht zerstört und damit seine exorbitante Stärke, die durch die magische tarnhüt vervielfacht worden war. Die Depotenzierung Sivrits ist auch die seines Landes. Wenn Gernot und Giselher den hört, Inbegriff nibelungischer Macht, abholen, beklagt Alberich deshalb folgerichtig den Verlust der guoten tarnhüt, der ihn und das Nibelungenland wehrlos gegen den Abtransport des Schatzes durch die burgondischen Könige mache: „Doch wurde^ nimmer" sprach Albrich, „getan, nitvan da^ wir übele da verlern ban mit samt Stfrtde die guoten tarnhüt, want die truoc alle //e8' der schämen Kriemhilde trat. 79
80 81
Joachim Heinzle machte mich hierauf aufmerksam, daß bei dieser Größe des ger Sivrit von riesenhafter Gestalt sein muß. 437,4; 441,if·; 449>4· Das kann nur bedeuten: .hatte immer in Besitz', denn davon, daß Sivrit sie .dauernd' trägt, war nicht
337
Räume Nu ist e% Sifride leider übel körnen, da% uns die farnkappen het der belt benomen unt da^ im muose dienen alle^ dit%e lant."
( 119-1120,3).
Sivrit, der neue Besitzer der tarnhut, garantierte Schutz und Verborgenheit des Nibelungenlandes. Wie die Haut ihn verbergen konnte, so lagen auch der Schatz und seine Hüter außer Reichweite der Wormser. Nachdem die tarnhut mit samt Sifrfde dahin ist, können Gernot und Giselher das Nibelungenland mit ihren 8000 Kriegern erreichen, Rechtsansprüche (%e morgengäbe, 1118,4) greifen dort, und der Schatz kann verladen und abtransportiert werden. Obwohl angeblich unerschöpflich, wird er mit einer zwar großen, doch endlichen Zahl von Fuhren weggeschafft.82 Seine mythische Potenz, materialisiert in einer Zauberrute (von golde ein rüetelin, 1124,1), die die Weltherrschaft sichert, bleibt unerkannt und ungenutzt. In *C ist diese Reduktion des Nibelungenlandes auf Normalmaß durch eine Zusatzstrophe noch unterstrichen, die von Gernot und Giselher erzählt: [...] do vnderwnden si sich sint des landes vnd der bürge und maniges rechen bait, das mvs in sider dienen bediv durch vorbt vnd gewalt.
(C 1138,2—4)
Das Nibelungenland ist eingemeindet. Doch die Depotenzierung des Hortes und damit der nibelungischen Welt geht weiter. Weil er ihn als Machtfaktor fürchtet, versenkt Hagen den Schatz im Rhein; seine einstmals mythische Größe muß inzwischen handlicher geworden sein. Nur ein Rest bleibt übrig, soviel, daß immer noch hundert Pferde ihn nicht tragen können (1271,3). Dieser Rest kann schon mit dem Schatz Etzels verglichen werden, und siehe da, der neue, in der raumzeitlich fixierten Welt des Hiunenreichs angesammelte Schatz ist größer als der mythische Hort. Der Hort - oder wenigstens, was von ihm übrig ist - wird bezifferbar. Von 30.000 Mark ist die Rede, die Kriemhilt an die Gäste verteilen will (1277,3), und von %welf schrin voll Gold, die sie mitführt (1280,1). Das Nibelungenland und sein Hort erfahren das gleiche Schicksal wie ihr Herr. Auch insofern sind beide — nicht nur für Kriemhilt — ununterscheidbar. Nun aber passiert etwas Erstaunliches: Das Nibelungenland beginnt gerade in dem Augenblick, in dem es aus dem Horizont der Geschichte verschwindet, zu wuchern.8' Nachdem die jenseitige Welt zuerst eingemeindet wurde, fängt sie an, die bekannte zu verwandeln. Sie verleibt sich die höfische Welt ein, die anfangs ihr
82 83
die Rede. In diesem Sinne präziser die Formulierung in C: trvch von allem rehten (C 1132,4); Hs. a interpretiert noch weiter: trueg vor allenn rekchenn (Batts, S. 339). Das ist zwar unsinnig, insofern als sich die tarnhut gerade nicht als Requisit öffentlicher Selbstdarstellung eignet, doch Ausdruck dessen, daß sie zu Sivrits Herrschaftsmitteln gehört. Zur Zahlensymbolik: Brunner (1990), S. 45-48. Vor allem Seitter (1990), S. 23f. hat auf das „Nibelungenwerden" (S. 24) der Burgonden aufmerksam gemacht; ich knüpfe im folgenden an ihn an, setze aber einige andere Akzente. 33»
Wuchern der nibelungischen Welt
Kontrapost gewesen war. Nibelunge ist nicht mehr mit einem bestimmten Raum verbunden, sondern meint eine Gruppe von Menschen und deren Form der Existenz. Eingeschlossen in Etzels sal werden die Nibelunge vernichtet werden. Nibelunge hießen die Könige der fernen Sagenwelt (Nibelunge lant, 92,3; 94,4), vielleicht auch ihre Gefolgsleute (87,2; 90,4), die sonst der Nibelunge man (89,3) oder di Nibelunges man (98,3) genannt werden. Nibelunc ist weiter der Name eines der jungen Fürsten (87,3; 91,1). Überhaupt schwankt der Gebrauch zwischen Eigenund Gentilname; der Name erscheint mal im Singular, mal im Plural: Nibelunges hor[f] (88,3), Nibelunges swert (93,1) oder Nibelunges man (98,3) gegen Nibelunge lant (92,3; 94,4) oder Nibelunge man (89,3). Offensichtlich ist die Unterscheidung nicht wichtig: Der Träger des Eigennamens trägt ihn, weil er zur gens gehört, und die gens bestimmt ihre Identität über den Eigennamen.84 Das entspricht durchaus frühmittelalterlichen Verhältnissen. Es erweist sich nun allerdings, daß der Name nicht nur nicht an einem einzelnen, auch nicht nur an der Dynastie oder deren Gefolgsleuten haftet, denn er kann allmählich zunächst auf Sivrit und seine Leute, dann auf die Bürgenden übergehen. Mit ihm benannt werden nicht allein Personen, nicht einmal Personengruppen, sondern ein Syndrom aus Personen, ihren Rechtsbeziehungen und Machtmitteln. In der 8. Aventiure ändert sich noch kaum etwas. Das Land heißt Nibelunge (484,4);'' in der burc gibt es Nibelunges sal (492,2); die Besatzung sind die Nibelunge (501,3) oder Nibelunge man (502,3) - bei ihnen wäre der Singular schon unpassend, denn es gibt keinen Nibelunc mehr. Sivrit dient da^ lant %en Nibelungen (721,i); 86 das Gefolge heißt auch Schilbunges recken (721,3); Sivrit residiert in Nibelunges bürge (739,2), verfügt über den hört der Nibelunge (774,3) und kommt von Nibelunge lant zum Fest nach Worms (778,3). Seltener werden er und sein Gefolge die von Niderlant genannt;87 er selbst, dann auch sein Gefolge - auch noch nach seiner Ermordung - leiten den Namen von Nibelunge lant ab.88 Auch dies entspricht noch der üblichen Namensgebung nach Herrschaftstiteln oder -sitzen. Doch der Name haftet nicht an Sivrit und den Xantenern, und deshalb verschwindet er auch nicht mit Sigemunt, der Sivrits Gefolge heimführt; er haftet nicht einmal an der väterlichen Dynastie. Wenn Sigemunt an Sivrits Stelle tritt, ist erneut der Sprachgebrauch schwankend geworden: Zuerst hieß es noch Nibelunge lant; %er Nibelunge lant nahm Sigemunt Sivrits Gefolge zurück (1083,3); 89 auch 84
Nibelunc ist deshalb nicht nur der Name des einen jungen Fürsten (dem der Hort ja nur zur Hälfte zukommt), sondern des Sippenhauptes; die Sicherheit, mit der ihn de Boor zum Namen des „Vaterfs] der jungen Könige" erklärt (S. 388), findet allerdings im Text keine Stütze. 8 ' Das ist wohl als Genitiv Plural aufzufassen wie auch in 492,4. 86 Der Ländername ist jetzt regelmäßig gebildet wie Franken o. ä. 87 888,3; 9?4> 2 1018,4: in den Worten eines Boten. 88 Sie heißen Sifrit [...] von Nibelunge lant (1003,3); der belt von Nibelunge lant (1011,4; hier hat A Niderlant, Cab eine andere Formulierung); die Sifrides beide von Nibelunge lant (1015,2; 1027,1; 1071,3) oder Nibelunge (1030,2; 1058,4). 89 Dagegen C 1094,3 heim in Niderlant (so auch a: Batts, S.3i6f). 339
Räume
Kriemhilt erklärt eigenartigerweise, sie habe in Nibelunge lant (1085,3) - un4)· Erstmals versagt der gruo^ als Spiegel von Ordnung bei der Ankunft in Isenstein: Prünhilt begrüßt - wieder formelhaft - den Falschen und muß korrigiert werden; nicht Sivrit, Günther muß begrüßt werden. Als er die Nibelungen geholt hat, zweifelt Prünhilt deshalb: sol ich die geste enpfahen oder sol ich grüe^en si verdagen? (510,4). Erst von Günther aufgefordert, begrüßt sie die Ankömmlinge: Sifride mit dem gruo^e si von den anderen schief (511,4), doch zeigt die Frage, daß die Ordnung des Grüßens unsicher geworden ist. Das setzt sich in Worms fort. Der^m?^; (591,1) für Prünhilt ist zwar eine endlose Folge von Küssen und anderen Ehrbezeugungen zwischen den Frauen, doch merkwürdigerweise fehlt Sivrit,74 so daß bis zu Prünhilts Entdeckung, daß der man Sivrit mit der Königstochter verheiratet wurde, offenbleibt, wie er in diese Ordnung einbezogen ist. Wenn Sivrit und Kriemhilt zu Günthers Fest kommen, ist das grüe^en (786,4) schon bloße Fassade von Harmonie, die Prünhilt nur zum Schein aufrecht erhält. Zwar überbietet es die vorigen Grußbezeugungen (787,2f.), doch vor allem bietet es Anlaß, die Ankömmlinge argwöhnisch zu mustern (799; 803). Die suone nach Sivrits Tod sucht die Ordnung im Grußritual wiederherzustellen, in Kriemhilts Erklärung Ich ml den künic grüe^en (1113,1). Seit dem Scheitern dieses Versuchs durch den Hortraub funktioniert der gruo^ nur noch an der Peripherie der Handlung. Vorbildlich der gruo^ der Könige für Rüedeger: Do nigen im die recken mit triuwen am ha^ (1657,1), ebenso dessen gruo^ für die burgondischen Gefolgsleute: be sunder gruo^te er Hagenen: den het er e bekant. / alsam tet er Volkern (1657,3^, der der Amelungen für Etzels Gäste (sie gruo^ten minnecluhen die von Bürgenden lant, 1722,4). Auch Etzels Begrüßung weist auf friedliches Einvernehmen. Etzel drückt zwar 74
Nur jSz.zf. wird gesagt, daß er weiter Kriemhilt dient, und später (597,if.), wie er sich im Turnier hervortut; beim eigentlichen Empfang wird er nicht erwähnt.
durchaus einen Rangabstand zu den burgondischen Königen aus, indem er ihnen nicht entgegengeht, sondern sie %e hove in den p alas kommen müssen.7' Doch ehrt er sie durch inszenierte Spontaneität (er spranc von sinem sedele [...] ein gruo^ so rehte schäm von künege nie mer geschach, 1808,31".). Sonst aber pervertiert das Grußritual. Bei der ersten Begegnung mit Kriemhilt maskiert der gruo% kaum die offene Feindseligkeit. Kriemhilts gruo^ kommt aus valschem muote (1737,2); er bietet den ersten Anlaß, gegenseitige Rechnungen zu präsentieren; er verbindet nicht, sondern spaltet, denn durch Nähe ausgezeichnet wird nur Giselher: man grüe^et sunderiingen dt künige und ir man. wir haben nibt guoter reise %uo dirre höchst getan.
(1738,31".)
Das ist nicht mehr die nach Rang abgestufte Begrüßung des höfischen Zeremoniells (wie z. B. 1 348), sondern die Unterscheidung zwischen Freund und Feind. Der eine König und Bruder wird gegenüber den ranggleichen Verwandten ausgezeichnet. Bei einem sus getanen gruo^e muß man sich vorsehen (1737,4). Kriemhilts Grußformel heißt die Burgonden nicht willkommen und verweigert ihnen den Titel vriunt; sie widerruft damit, was sonst der gruo^ bewirkt: Si sprach: „nu sit willekomen swer iuch gerne siht. durch iuiver selbes friuntschaft grüe^e ich iuch niht. [...]" (1759,'f·)
Die Verkehrung von gruo^ in Aggression wiederholt sich, wenn Hagen und Volker Kriemhilt die Ehrbezeugung verweigern (1780-1782). Kriemhilt antwortet mit einer Provokation, einem vtentltchen gruo^ (1786,4), was die Absicht des gruo^ ins Gegenteil verkehrt. Noch ist der Empfang durch das Königspaar doppeldeutig. In Etzels Gruß stellt sich eine intakte hierarchische Ordnung dar, die in den kommenden Kämpfen nicht überleben wird. Kriemhilts verbale Aggression wird in direkte umschlagen. Beim Kirchgang wird der gruo^ Gradmesser von Gewalt: und geltet ob iu iemen biete sivachen gruo^ (1858,2), Vergeltung statt Erwiderung. Dann bricht die Fassade vollends zusammen. Dancwarts Gruß für Blcedelin: willekomen her %e hüse (1922,3) beruht schon auf Mißverständnis, denn Bloedelin kommt in feindlicher Absicht und weist den Gruß zurück (Jane darf tu mich niht grüe^en, 1923,1). Statt Gruß gibt es blutigen Kampf. Erst wenn alles vorbei ist, kehrt Kriemhilt in blankem Hohn zum Grußritual zurück, wenn sie den gefesselten Günther förmlich anredet: willekomen Günther ü%er Burgonden lant (2362,4). Der gruo^ zeigt offen Aggression (Borneo gemuof} statt GeDies entspricht dem Empfang für Rüedeger in Worms. Ihm gehen nur des küniges nahsten mage entgegen (1184,1); der König erwartet ihn im Saal und zeichnet ihn dort durch einen besonders ehrenvollen Gruß aus: der herre stuont von sedele. da^ was durch gro%e %uht getan. den guoten Rüedegeren er bi der hende genam. ( 186,4)
377
(118 5,4)
Gestörte und problematisierte Interaktionsregeln
neigtheit (genadecl?che[]}y und so erwidert Günther dieses sn>ache[] grüe^en (2363,4) nicht, sondern greift die Grußformel ironisch auf, um sie zu verweigern: ich solt' iu nigen, vil liebiu swester min (2363, i).76 Auch die Gesten vertrauter Nähe, die den gruo^ begleiteten, haben ihre Bedeutung verloren: Sich bei den Händen fassen, drückte Anerkennung des gleichen Status, Freundschaft, Frieden aus.77 Wenn Kriemhilt Sivrit vor dem Hof als Sieger auszeichnet, nimmt sie ihn bi der bende (293,1). Ihre Bindung an Giselher drückt sich im Traum aus, daß er er ihr gierige vil dicke an der bant (1393,2). Bei der Hand nehmen ist Zeichen ehrenvoller Begrüßung durch einen Höhergestellten: do nam der wirf vil edele die lieben geste bt der bant (1811,4) oder überhaupt Ehrung des Gastes: Ditt junge marcgravinne diu nam bi der hant Giselher den recken von Bürgenden lant. alsam tet auch ir muoter Günther den küenen man.
(1667,1-3)
Einvernehmen zwischen verschiedenen Gruppen stellt sich in der Gebärde dar: herliche gesinde da% vie sich bi der hant. Bi henden sich da viengen %wene degene: eine was her Dietrich, da^ ander Hagene.
(794, i ) (i75o,if.)
Der fürst e von Berne der nam an die hant Günthern den vil riehen von Bürgenden lant, Irnfrit nam Gernoten, den vil küenen man. do sach man Rüedegeren %e hove mit Giselheren gan.
(1804)
Wenn der Konflikt einmal ausgebrochen ist, verschwinden solche Gesten. Sie kehren wie der gruo^ nur noch als Parodie wieder. Erst ganz am Schluß, wenn Dietrich den besiegten Günther gefesselt hat (swie künege niene solden liden solhiu bant, 2361,2), nimmt Dietrich Günther wie zuvor bi der hant, doch um ihn zu Kriemhilt zu geleiten (2362,1); Günther ist sein Gefangener, den man hinführen kann, wohin man will. Die Geste der Vertrautheit und Freundschaft wird durch die Fesseln dementiert.
76
77
Neigen des Kopfes ist eine Geste symbolischer Unterwerfung, die im höfischen Kontext, wo die Unterwerfung nur virtuell gilt (vgl. S. 410-414), eine ähnliche Geste der Gegenseite voraussetzt (genadediche); vgl. Schmidt-Wiegand (1982)3), S. 372. Vgl. HRG I, Sp. 1974^ (A. Erler); vgl. Leyser (1993), S. 3: „Zwischen Herren und Dienern war die Geste unmöglich, selbst wenn letztere von freier Geburt waren". 378
Waffentragen
Waffentragen Waffen sind bestimmten Räumen zugeordnet, in anderen sind sie verpönt. Waffen muß man naheliegenderweise ,draußen' tragen, im Krieg, auf gefährlichen Reisen, auf der Jagd. Nichts zu suchen haben sie dagegen bei Hof. Fremden nimmt man daher als erstes ihre Waffen ab, als Zeichen, daß sie willkommen sind und nichts zu fürchten haben. Wenn in der dritten Aventiure die Gefahr der Konfrontation abgewendet ist und Sivrit in den Hof aufgenommen, heißt es: Do hie^ man in gehalten alle% ir gewant (128,1). Und so geschieht es meist. In zwei Fällen allerdings gelingt das nicht so reibungslos, und beide Male zeichnet sich in der Unterbrechung erwartbarer Regeln ein künftiger Konflikt ab. Beim Empfang der Burgonden in Isenstein will ein Kämmerer den Ankömmlingen die Waffen abnehmen. Hagen lehnt ab: wir wellens' selbe tragen (406,3) und gibt nur widerwillig nach (407,4), als Sivrit ihm diu rehten märe (406,4) - wieder weiß er sie allein - sagt: Man pfliget in dirre bürge, da^ wil ich tu sagen, nebeine geste hie ivafen sulen tragen. (407,1 f.)
Das Ablegen der Waffen deutet in der Regel darauf hin, daß mit dem Hof ein Friedensraum betreten wird, doch hat das Waffenverbot in Isenstein offenbar eine andere Bedeutung. Der Hof von Isenstein ist ein Ort eines tödlichen Wettkampfes. Das Leben aller Ankömmlinge ist in Gefahr. Waffen tragen böte eine Chance des Selbstschutzes oder der Rache. Das Gebot zeigt also das Gegenteil dessen an, was sonst gilt: nicht Friedenssicherung, sondern Entwaffnung potentieller Feinde ist das Ziel. Indes, Waffen würden an diesem Hof nichts nutzen. Das wird deutlich, wenn Dancwart und Hagen bedauern, daß sie beim gefährlichen Wettkampf ihres Königs ohne Waffen sind (444—446), und Prünhilt spöttisch und geringschätzig (mit smielendem munde und über absei, 447,2) anordnet, ihnen die Waffen zurückzugeben. Ausgerechnet Sivrits Rat entwaffnet die Burgonden, und ausgerechnet die vrouwe, deren Gewalt sie fürchten, gibt die Waffen mit gleichgültiger Gebärde zurück. Der Umgang mit den Waffen zeigt, daß in Isenstein die gewöhnlichen Mittel heroischer Selbstbehauptung nichts helfen. Wie sich herausstellt, werden die Waffen nicht gebraucht, weil Sivrits Sieg und später dann seine Leute (477) sie überflüssig machen. Warum dann überhaupt das Hin und Her? Die Entwaffnung aber zeigt die latente Gewalt an, die Rückgabe der Waffen, daß gegen diese Gewalt jede Gegenwehr vergeblich wäre. Diesmal gehen alle Befürchtungen ins Leere, weil Sivrit, und er allein, dieser Gewalt gewachsen ist, aber er darf es nur insgeheim sein. Isenstein zeigt also die begrenzte Reichweite der Regeln einer Abgrenzung von Gewalt und Frieden: Waffentragen oder nicht ist in Isenstein schlicht irrelevant. 379
Gestörte und problematisierte Interaktionsregeln
Das ist ganz anders am Hof Etzels. Die Einladung der Verwandten zum Fest läßt friedlichen Umgang erwarten. Da brauchte man eigentlich keine Waffen. In Wirklichkeit wird es ein Kampf auf Leben und Tod, und da sieht man sich besser vor. Die Auseinandersetzung um die Abgabe der Waffen spiegelt die Zweideutigkeit. Die Sorge für den friedlichen Empfang sollte die vrouwe des Hofes tragen, aber, wie Kriemhilt diese Rolle spielt, ist blanker Hohn. Ihre Aufforderung, die Waffen abzugeben, klingt nach Verbot und Entwaffnung eher als nach höfischer Regel: „man sol deheiniu wäfen tragen in den sal. ir beide, ir suit mir s' ujgeben: ich wil si behalten lan." „entriuwen", sprach do Hagene, „da^ wirdet nimmer getan."
(1745,2-4)
Hagen wie Kriemhilt geht es nicht um die Geste befriedeten Umgangs, sondern um eine vorteilhafte Ausgangsposition für den bevorstehenden Kampf. Mit der höflich-korrekten Verbrämung seiner Weigerung (1746) verhöhnt Hagen die Königin.7' Waffen gehören bei diesem Fest dazu. Gesteigert ist der Bruch der Konvention beim Kirchgang, zu dem Hagen den Burgonden schwere Bewaffnung empfiehlt: sit da% wir wol erkennen der argen Kriemhilden muot (1853,4). Das Zeichen ist eindeutig - die Kirche ist Friedensraum - und wird sogleich verstanden. Etzel vermutet, wenn er seine friunde [...] under belme gan sieht (1861,3), man sei ihnen feindselig begegnet; er kündigt an, daß ihr leit sich auch gegen ihn richten würde, und will ihnen Genugtuung dafür leisten (1862). Doch Hagen macht aus dem Bruch der Konvention eine angeblich neue: es ist site miner herren, da^ si gewäfent gän fallen hohge^ften %e vollen drien tagen. (i863,zf.)
Damit täuscht er zwar Etzel, gibt jedoch Kriemhilt zu erkennen, daß er den wahren Charakter der hohge^t verstanden hat. Noch ist Waffentragen einseitig. Nachdem Volker die kur^ewile beim Tummeln der Pferde (1882,1) zum Anlaß für eine Gewalttat genommen hatte, will sich auch die Gegenseite bewaffnen: Nach swerten und nach Schilden riefen da %ehant des marcgraven mage von der Hiunen lant. si ivolden Volkeren %e tode erslagen ban. (1893,1-3)
Sie können nur gewaltsam entwaffnet werden: ein vil starke^ wäfen brach er im M% der hant (1895,2). Die Regel funktioniert nur noch mittels Gewalt. Bloedelin dann mißachtet das Waffenverbot des Königs: Nu wäfent inch [...] alle die ich ban (1910,1). Bei seinem Überfall auf den Troß sind die Angreifer alle bewaffnet, während die Angegriffenen sich teils (Die nibt swert enheten, 1931,1) mit Schemeln und Stühlen wehren müssen. Beim anschließenden Festmahl ist es um78
Vgl. S. 417.
380
dringen und schal
gekehrt; die bei der Tafel sitzenden Hiunen werden von den bewaffneten Burgonden abgeschlachtet; von draußen kommt niemand herein; die Gegenwehr hilft nichts.79 Nach Ausbruch des Kampfes ist die Regel außer Kraft gesetzt; man bewaffnet sich offen (2028,4 u- °.). Nur Rüedeger und Dietrich treten anfangs noch unbewaffnet auf, um ihre Distanz zum Konflikt darzutun, beide vergebens. Dietrich ordnet an, daß sich die Amelungen ohne Waffen den Bürgenden nähern; Hildebrant will unbewaffnet, in stnen Buhten ^uo den gesten gan (2248,3). Mit %uht sind noch einmal Regeln friedlich-höfischen Umgangs aufgerufen, doch sie kollidieren mit der ere, dem Behauptungswillen des einzelnen Helden: Die Regeln könnten hinderlich sein, gibt Wolfhart zu bedenken, wenn es zu einem Wortwechsel kommt: so müe^et ir lasterlichen tuon die widervart. körnt ir dar gewafent, da% etelicher wol bewart.
(2 249, 3 f.)
Wolfharts Rat ist unklug, und doch folgt Hiltebrant ihm: Do garte sieb der wise durch des tumben rät (2250,1), denn das liegt in der Konsequenz der Aushöhlung des Waffenverbots. Der bewaffnete Auftritt der Amelungen wird von den Bürgenden gleich als Angriff verstanden (2252^), und so brechen die letzten Reste der höfischen Ordnung zusammen.
dringen und schal Die Perversion positiv besetzter Interaktionsformen ist auch am dringen ablesbar. Im ersten Teil ist Gedränge Ausdruck freudiger Erregung. In seinem Zentrum steht der König, ein Gast oder Bote, die Dame, die Person, auf die sich aller Augen richten. Dringen drückt den Wert einer Person aus oder auch die Bedeutung eines Vorgangs in den Augen der Hofgesellschaft.80 Gelegentlich wird das Gedränge mit der großen Zahl (512) erklärt, doch auch dann ist es Ausdruck höfischen Überschwangs. Im Gedränge des Mhurt z. B. kann sich das Gefühl überschäumender Kraft austoben (585,4). Bei der Messe gibt es gedranc (33,2; 644,4), beim Empfang (788,4: dringen unde stauben künde niemen da bewarri), auch bei der Totenfeier; dort beweist es große Anteilnahme: 79
80
Ouch werten sich vil sere die Et^elen man (1972,1). Die Formeln, die das Gemetzel schildern sind nicht ganz klar; zwar ist von der passiven Bewaffnung der Hiunen die Rede (Do sluoc der fiirste selbe vil manige munde wit/durch die liebten ringe, 1968^; sin wafen herlichen durch die helme erklanc, 1970,2; 1986,4; 2006,4), doch nicht von Angriffswaffen derer, die im Saal sind. Nur Wolfhart droht Gegengewalt an (.'993)· Ähnlich in anderen Heldenepen: So heißt es z. B. beim Empfang des jungen Dietleib durch Etzel: vil beide stuont bedrungen da (Bit 3299); so auch bei der Ankunft Dietrichs von Bern (Bit 5704; 5709); wenn im .Rolandslied' der Gerichtskampf Tirrichs gegen Binabel beginnt, drängen sich um Karl seine Anhänger: ml michel was da% gedranc (Rl 8899). 381
Gestörte und probhmatisierte Interaktionsregeln Do man da^ gehorte, da% man %em münster sanc, unt man in gesarket bete, da huop sich gro^gedranc.
(io52,if.)
Natürlich gibt es auch Gedränge und Lärm im Kampf (204), doch selbst dann soll sich darin vor allem das Exorbitante heroischer Kraft äußern. Das Gedränge wird kontrolliert: Wo die Damen auftreten, weicht man ihnen aus, damit sie sich ungehindert bewegen können: Die mit den frouwen giengen, die biegen von den wegen wichen allenthalben, da^ leiste manec degen. (2 87,1 f.)
Bei Kriemhilts Erscheinen in Passau wart vil michel wichen an der selben stunt (1312,3): Noch in der Kontrolle zeigt sich, wie groß das Gedränge war. Wird das Getümmel bei einem höfischen Fest schon einmal störend, dann wird es abgebrochen (598). Das ändert sich im zweiten Teil. Zwar werden wie zuvor Ankömmlinge als Gegenstand der Neugierde umdrängt, doch weckt das dringen den Verdacht, es könnte sich unter diesem Vorwand anderes, Verrat nämlich, verbergen: Wenn Volker in großem antpfange (1802,3) seine Herren fragt: wie lange weit ir stenjda^ ir iuch lä^et dringen (1803,1 f.), dann faßt er das Gedränge plötzlich als aggressiv auf; es ist gefährlich, nicht Zeichen freundlicher Zuwendung.81 Selbst nach dem freundlichen Empfang durch Etzel wird dringen als Bedrängnis erfahren: Dringen allenthalben die geste man do sach (1820,1). Empört fragt wieder Volker: wie geturnt ir den recken für die füe^e gan? (1820,3) und: wan wichet ir uns recken? (1821,3). Ef droht: und weit irs iuch niht miden, so wirt iu leide getan (1820,4). Dringen heißt jetzt, dem anderen ,zu Leibe rücken'.82 Das Gedränge beim Kirchgang ist latent gewaltsam. Beim Kirchgang soll sich Ehre durch Waffengewalt und raumverdrängendes Auftreten darstellen, dadurch daß man keinen Zoll zurückweicht: Leget, mine friunde, die schilde für den fuo% (1858,1). Ein Zusammenstoß ist geradezu geplant; Hagen und Volker gehen vor das Münster, da^ si da% wolden m%%en,t} da^ des küneges wip müsse mit in dringen; ja was vil grimmec ir lip.
(i859,3f.)
Tatsächlich gibt es, wenn die Königin mit ihrem Gefolge erscheint, nicht nur einen geräuschvoll-prächtigen Auftritt, wie er zuvor oft geschildert wurde (do kos man hohe stauben*4 von den Kriemhilde scharn, 1860,4), sondern fast einen gewaltsamen Zusammenstoß, da der Zug nicht ungehindert vorwärtskommt und auf Widerstand trifft; keinen Zoll breit gibt man nach: 81 82 83
84
So versteht es auch de Boor S. 284. Vgl. S. 322f.; 327-331 zur Verengung des Raums, de Boor schlägt als Übersetzung vor: „zu wissen glaubten" (S. 293). Das ist ungenau, denn Hagen und Volker legen es darauf an (wolden ivisgeri), den wahren Charakter des dringen herauszubringen. Auch das stauben (1860,4) war bei den höfischen Festen in Worms Zeichen für Festfreude und zeigte noch bei Etzels erster Begegnung mit Kriemhilt den Überschwang des Empfangs. Das ist jetzt anders. 382
dringen und schal done HO/den dise %wene doch niht hoher stan %weier bände breite. da% was den Hiunen leit. ja muose si sich dringen mit den beiden gemeit.
(i866,z-4)
Dringen ist nicht mehr Ausdruck von Festfreude, sondern Gelegenheit zu einem unvermuteten Zusammenprall (1867; vgl. 1859,4). Es scheint sich ein Ton des Bedauerns einzumischen, wenn es beim bloßen Gedränge bleibt und die im dringen latente Gewalt nicht offen ausbricht: da was vil michel dringen unde doch niht anders mer.
(1867,4)
Wenn später jemand wichen oder hoher stan muß, dann nur noch unter Zwang, nämlich um der Gewalt auszuweichen: nu lat da% dreuwen und wichet hoher ba^ (1943,1), verjagt Dancwart die Hiunen, und von Volker wird gesagt: den Et^elen man/gab er herberge hoher von dem sal (2oi8,2f.). Ähnlich begleitet schal nicht mehr nur das höfische Spiel (der bühurt unt da^ schallen, 1872,2) als Zeichen eines überschwänglichen Selbstwertgefühls. Der „repräsentative schal" ist „Ausdruck bedeutender Herrschaft; im Kampf drückt sich im schal act Anspruch auf überlegene Gewalt aus; der schal repräsentiert Herrschaft".8' Berhtunc im ,Wolfdietrich' z. B. läßt sich von nieman da überschallen (Wo A 137,4; 141,3; 203,3), d. h. sein Auftritt bei Hof überbietet alle anderen;86 schal ist das höfische Fest mit seinem Waffenlärm und seiner festlichen Musik (686,2; 807,2; 808,2), der pompöse Empfang (800,i; 797), auch die Ausgelassenheit der Jagdgesellschaft (941,2), kurz Ausdruck von kur^ewüe (947,1; 950,4). Im zweiten Teil verändert sich schleichend die Bedeutung. Anfangs ist schal bloß fröhlicher Lärm, doch dann wieder mischt sich ein Ton des Bedauerns ein, daß er nicht mehr ist als dies: Swes iemen da pf läge, so was e% niwan schal.
(1881,1)
Doch schlägt das um: Was eben noch ,nichts als schal'' ist, ist plötzlich Kampfgetöse und Schmerzgeschrei. Wenn Bloedelin verspricht: so heb' ich einen schal (1909,2), dann kündigt er damit einen blutigen Überfall an, der sich in weiterem Gemetzel fortsetzt: Do huop sich von den Hüten allenthalben schal (1894,1); der Waffenlärm geht in Jammern über: von wuofe graulichen schal (1972,4).8? Der gra%ltche[] schal (2357,4) steigert sich zu einem Getöse, das die ganze Burg erschüttert: palas unde turne von den siegen do^ (2359,2). Wenn dieser schal zu Ende ist, kehrt nicht Ruhe, sondern eine unheimliche tödliche stille ein: 8|
86
Wenzel (1995), S. 143-145; zur Ambivalenz von schal m höfischem Kontext: Müller (19860), S. 445447Das ist nicht negativ wie im ,Rolandslied' der überheblich-gewaltsame Auftritt der Heiden (Rl 839; 353 8 ; 7995; 8540).
383
Gestörte und problematisierte Interaktionsregeln des was der schal gesiviftet, da^ lernen mit in streit. Dar nach wart ein stille, da der schal verdo%. da wären tot gelegen die Rüedegeres beide, vergangen was der do%. so lange wert' diu stille da% sin Et^eln verdroß.
(2008,3).
(2078,1)
(2227,2-4)
Es gibt keine Rückkehr zu dem fröhlichen Lärm des Beginns. Man hört nur noch jamer also gro^/da^ palas unde turne von dem wuofe erdd^ (223 5,if.). Dann ist es nur noch Dietrichs Klage, da% da% has erdie^en von siner stimme began.
(2324,4)
Ruhe und gaben Solche allmähliche Verkehrung ist von einer Beschleunigung der Bewegungen begleitet, derjenigen des Erzählens88 wie derjenigen der erzählten Vorgänge. Wenn sich anfangs phasenweise - zuerst in der dritten Aventiure - das Geschehen beschleunigte, so kehrte es doch immer wieder zur Ruhe zurück, und dies drückte sich im Bewegungsvokabular aus. Die Statuarik oder ruhige bzw. rasch beruhigte Bewegung des ersten Teils geht jedoch in den Turbulenzen der Katastrophe unter. Bei der Herausforderung des Wormser Hofes durch Sivrit stehen die Kontrahenten wie versteinert: Mit grimmigem muote da stuenden friwende sin.
(116,1)
Bevor die Szene in Tumult münden kann (Nach swerten rief do sere von Metren Ortwm, 119,1), verbietet Gernot seinen Leuten die immer hitzigere Rede. Auch in ihrem Handeln scheinen sie gelähmt: War umbe bitet Hagene und auch Ortwin, er niht gahet striten mit denfriwenden sin [.·.]?
(125,1 f.)
Der jähe Impuls (gäbet striten) wird unterdrückt; man bleibt abwartend (bitet). Sivrit wird durch Günthers Entgegenkommen beruhigt und erstarrt in der melancholischen Pose seiner hoffnungslos scheinenden Minne. Die Zeit steht still: Sus wont' er bi den herren, da% ist alwar, in Guntheres lande volleclich einjär. (138,1 f.)
Im Sachsenkrieg beschleunigt sich die Bewegung (man hie^ die boten balde [...]·, 141,4; do Uten si der friwende deste mer bejagen, 169,2), erst recht dann, wenn die Heere
Hierzu S. 114-116. 384
Ruhe und gäben
aufeinandertreffen: Zen rossen gahte Gernot unde sine man (196,1): Lärm, Staub, Gedränge, Schlag und Gegenschlag, herumfliegende Waffen und Rüstungsteile, kurz: ein stürm [] (210,4), dann wieder gemessene Bewegung des höfischen Zeremoniells, Sivrit zum schönen Bild erstarrt: Do stuont so minnecltche da^ Sigmundes kint, sam er entworfen wäre an ein permint von guotes meisters listen [...]. (286,1-3)
Wieder folgt eine bewegungslose Zeit von unbestimmter Dauer, bis sich erneut mit dem Aufbruch zu Prünhilt der Rhythmus beschleunigt. Von der Beratung der Helden über die siebenwöchige unmuoye der Frauen (366,2^), den raschen Abschied, die schnelle Reise, den Auftritt vor Prünhilt steigert sich das Tempo. Steht der Werber einmal fest, geht alles ganz rasch: der spile bat si gäben (428,2), so rasch, daß Sivrit, der vil schiere (431,4^) in die Tarnhaut geschlüpft ist, behaupten kann, den Wettkampf versäumt zu haben. Dieser wird als Folge jäher Bewegungen geschildert (461,1; 462,1 usw.). Höhepunkt ist Sivrits rasende Fahrt ins Nibelungenland (483,3). Dann beruhigt sich die Bewegung wieder bis hin zur ereignislosen Friedensherrschart in Worms und Xanten.*9 Aus der scheinbar ungefährdeten Dauer (fallen %iten, 720,1; fallen stunden, 720,3) löst sich wieder nur zögernd der neue Konflikt, lange und zäh vorbereitet. Aus der Ruhe des Zuschauens beim Turnier entsteht der Rangstreit, die Konfrontation vor dem Münster, die Gerichtsverhandlung, alles im gemessenen Tempo einer ritualisierten Kraftprobe. Ein Ungewisser Schwebezustand tritt ein, in dem der Verrat geplant werden kann. Bei der Mordintrige zeigt sich erstmals ein Zusammenhang zwischen Tempo und Gewalt. Die Angaben zum zeitlichen Ablauf werden umso präziser, je weiter der Plan voranschreitet: An dem vierden morgen (877,1) - von wann an gerechnet? -; Eines t ages (883,1); do gie von Tronege Hagene (891,3); Des ändern morgens (907,1); vil vruo (912,2). Nur scheinbar gerät die Bewegung noch einmal ins Stocken, wenn der angebliche Krieg gegen die Sachsen durch das friedliche Vergnügen der gemeinschaftlichen Jagd ersetzt wird. Sivrit gibt das Tempo vor, indem er alle, auch jede Beute, an Geschwindigkeit übertrifft; seine Jagderfolge steigern sich in immer rasenderes Tempo bis hin zum Wettlauf mit Günther, an dessen Ende er erlegt wird. Die heftige Bewegung setzt sich fort im wilden Schmerz Kriemhilts (1007,4; 1009,4), in den heftigen Reaktion der Xantener (spranc, Buhten, liefen, \oi\,i-y,jane mohten si der sinne vor leide niht gehaben, 1022,3), lm würfe ( I 0 2 5>5)> im hastigen Rachewunsch (do ilten nach den wäfen alle Sif rides man, 1027,4); erst dann tritt erneut eine Beruhigung ein, trotz weiteren ungefüege[n] Bekundungen des Schmerzes (1064,2 u.
Vgl. S. i n f . sowie die durativen Verben dieses Abschnitts. Man könnte sich fragen, ob der Tod Sigelints als Störungssignal eingebaut ist, um wenigstens durch ein bedeutsames Ereignis den Stillstand 2U unterbrechen. 385
Gestörte und problematisierte Interaktionsregeln
ff.) und Sigemunts eiligem Aufbruch (do wart ein michel gäben nach rossen getan, 1076,2). Wenn man sich versöhnt hat und der Hort geholt wird, beschleunigt sich das Geschehen nur kurz, bleibt sogleich stecken, bevor ein Streit ausbrechen kann. Und wieder Stillstand, dreizehn Jahre Trauer seit Sivrits Tod (1142,2), sieben und noch einmal sechs Jahre an der Seite Etzels. Die Reise zu Etzel geht ruhig vonstatten, nur dem König eilt es: der künic begondegaben da er di wolgetänen vant (i 337,4). Noch einmal tritt mit der Hochzeit Ruhe ein. Erst mit der 23. Aventiure verstärkt sich der Sog des Untergangs. Ohne rechten Anlaß heißt es über Kriemhilts Einladung und Botschaft an die Verwandten: des man do gaben began (1423,4). Die Abreise der Boten wird in Worms verzögert, um eine, dann doch unausweichliche, Entwicklung aufzuhalten (1480), dann kehren sie eilig zurück (Uten, 1494,4; gäben, 1497,1). Erst in den Aventiuren an Etzels Hof wird die rasche, heftige Bewegung unaufhaltsam. Vorher waren es nur einzelne Episoden, die - latent konfliktträchtig - das Gleichgewicht eines Idealzustandes unterbrachen. Nach der Überschreitung der Grenze zu offener Gewalt sind diese Unterbrechungen immer offenkundiger vergeblich. Erst wenn alles zerstört ist, ist dauerhaft Ruhe. Von Anfang an geht die Kontrolle über die Bewegung verloren. Die ersten Konfrontationen sind noch in ihrer Bewegung gebremst: Hagen und Volker vor Kriemhilt, der nächtliche Anschlag der Hiunen, der zurückgenommen wird, bevor er ausbrechen kann, und so fort. Kaum ist jedoch beim bühurt ein Anlaß zur Gewalt gegeben, stürzen sich Hagen und seine Leute vil harte hurtecliche (1890,1) ins Gewühl. Etzels jähes Eingreifen - der wirt einem venster vil harte gäben began (1893,4) schafft noch einmal Ruhe. Beim nächsten Mal, dem Angriff auf den Troß, gelingt das nicht mehr: mit üf erburten swerten si Sprüngen für diu kint (1929,3). Und diese heftige Bewegung (springen)90 setzt sich fort beim Festmahl, wenn alle aufeinander stürzen. Im Strudel des Untergangs setzt sich das fort: Etzel muß am Schildriemen zurückgezogen werden, damit er sich nicht in den Kampf stürzt, eine nurmehr von außen notdürftig gebändigte Bewegung (2022,3). Irincs Kampf ist eine Folge heftiger Attacken, alle so hastig abgebrochen, wie sie begonnen wurden: Er lief [...] vaste (2037,3), g&hen er began (2040,2), do lief er Guntheren [...] an (2041,4), lief Gernöten an (2043,1), Do spranc er von dem fürsten (2044,1); dann greift Giselher ihn an und verwundet ihn: Wie rehte tobeliche er ü^ dem bluote spranc (2050,1); do lief er /?£ dem hüse da er aber Hagenen vant (2050,3). Die Bewegungen gehen alle ins Leere: Irinc der lie Hagenen unverwundet stän (2040,1); den lie^ er do beliben (2041,3); Günthern er lie beliben (2043,1); Do spranc er von dem fürsten (2044,1); Wider %uo den stnen körn Irinc wol gesunt (2054,1). Der Kampf steigert sich zur Raserei (tobeliche, 2050,1), ein wilder 90
springen: 1940,1; 1940,4; 1946,1; 1950,1; 1966,1; 1967,1; 1970,1 usw; Dankwarts Rasen: 1946,3. Zum Vokabular der „Schilderung der entfesselten Kampfeswut" auch Wolf (1995), S. 409. 386
Ruhe und gäben
Taumel, der zu seinem Ausgangspunkt - Hagen - zurückkehrt, aber ohne Erfolg bleibt.91 Zur Raserei steigert sich aus dem Stillstand (sfan, 2138,1) auch Rüedegers letzter Kampf: de s muotes er ertobete, done beit er da niht mer, da lief er %uo den gesten einem degen gelich. manegen slac vil swinden sluoc der marcgräve rieh.
(2206,2-4)
Heftige Bewegungen bestimmen den Kampf Sprüngen (2209,1); brast (2209,4); sluogen [...] vaste (2210,1-3); sprangen (2211, 2); spranc (2212,2); reis (2212,3); &e wider unde dan (2213,1); do Sprüngen %uo ein ander (2218,3). Am Ende statt Ruhe tödliche Stille und bloße Erschöpfung der Überlebenden, die sich nicht mehr auf den Beinen halten, wenn es nichts mehr zu kämpfen gibt - miie^ec, sagt der Epiker in einem seltenen Anflug von Ironie: Den sitzen, disen leinen sah man manegen degen./si waren aber müe^ec (2227,if.). Die geräuschvolle Trauer um Rüedeger treibt eilends einen Dietriches man (2235,3) zu seinem Herrn: wie balde er gaben began (2235,4). Das Tempo des Untergangs steigert sich noch einmal. Vergeblich hatte Dietrich seine Leute vor brüsken Reaktionen auf den vermeinten Tod der Könige gewarnt: nu gäbet niht %e sere (2238,2). Aber im Wortwechsel zwischen Bürgenden und Amelungen geht die Besinnung unter. Der Wortwechsel eskaliert, bis schließlich Wolfhart losstürmt. im wart ein gabes^ volgen von sinen vriundengetan.
(2273,4)
Selbst der alte Hildebrant, auf dessen Besonnenheit Dietrich gesetzt hatte, stürzt noch schneller als Wolfhart davon: Sifie witer Sprunge er pfläge für des sales want, doch ergahte in vor der stiege der alte Hildebrant
(2274, i f.),
nicht um ihn zurückzuhalten, sondern um als erster loszuschlagen. Im gäben sind zwei Aspekte zusammengefaßt: die Steigerung des Tempos und die Besinnungslosigkeit des Schlusses. Es bricht ein Wüten und Toben aus (2280,4; 2282,1). Am Ende bleiben drei Kämpfer übrig, der eine nur, weil er rechtzeitig flieht.
Die Raserei dauert bis in den letzten Kampf: Günther was so sere erzürnet und ertobt (2358,2), und noch Hildebrants Tat ist wilde Bewegung: Hildebrant mit %prne %uo Kriemhilde spranc. (2376,1) Gäben wird zum besinnungslosen Toben.
91
Weitere Verben, die heftige Bewegung ausdrücken in 2029,3 und später 2061,2; 2070,1; 2071,1. 387
VIII DAS VERSPIELEN DER HÖFISCHEN ALTERNATIVE
Die Ambivalenzen in den Normen, Verhaltensmustern und sozialen Ordnungen der nibelungischen Welt lassen das Epos in der Welt um 1200 fremd erscheinen. Am radikalsten betrifft die Ambiguisierung die höfische Ordnung, wie sie zu Beginn aufgebaut wurde und am Ende in Trümmern liegt. Eine Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen adeligen Leitbildern ist der Literatur des i2./i3· Jahrhunderts keineswegs fremd. Wie höfische Welt und rauhes Heldentum sich gegenseitig relativieren, zeigen vor allem die Epen Wolframs von Eschenbach, in heroischer Perspektive aber auch etwa die Fassungen des ,Rosengarten'-Epos.' Es wäre jedoch zu einfach, von der Konfrontation zweier Welten zu sprechen, deren eine die andere kritisiere.2 Das würde nämlich zum einen die Homogenität jener Welten voraussetzen, zum anderen einen festen Standpunkt für die Kritik. An beidem fehlt es. Zu zeigen wird dagegen sein, wie sich heterogene Lebensordnungen gegenseitig durchdringen,3 perspektivieren, widersprechen und destruieren, ohne daß sich daraus eine eindeutige Botschaft ableiten ließe. Es handelt sich um Alternativen auf unterschiedlichen Ebenen, die auf vielfältige Weise einander überkreuzen und miteinander kombiniert sind, angefangen von strukturellen über soziologische und ideologische bis hin zu motivischen.4 Es gibt Elemente, die eher in den einen oder den anderen Zusammenhang verweisen, die sich gegenseitig kommentieren, in FraZu .Rosengarten D' Heinzle (1978), S. 256^; vgl. zur Fassung F S. 259-261. Die folgenden Überlegungen haben nicht die These zum Kern, daß das .Nibelungenlied' die „Desillusionierung der höfischen Welt" erzähle (Ihlenburg, 1969, S. 51) und den „Scheinoptimismus" der Artusepik entlarve, eine These, die Wolf (1987), S. 199 zurecht an Untersuchungen kritisiert, die heroisches Epos und Artusepik vergleichen. Behauptet wird auch nicht umgekehrt, daß die alten mären der Kritik durch die neue höfische Humanität verfallen. Daß eine stringente Abgrenzung höfischer und heroischer Ethik nicht möglich ist, betont Hansen (1990), S. 132. Allgemein Dürrenmatt (1945); Andersson (1980), S. 151: „old elements are obscured in new romantic and chivalric details"; Hoffmann (1974), S. 79 schreibt, das .Nibelungenlied' habe die Zerbrechlichkeit höfischer Normen zeigen wollen; vgl. dagegen die Zusammenfassung Haug (1979), S. 371. Haugs These geht über gängige Annahmen, das „höfische Leben" sei nur eine „trügerische, brüchige Fassade" (Spiewok, 1989, S. 193), weit hinaus. In Haugs grundsätzlichem Sinne - und nicht in dem des trivialen Erklärungsmusters ,Sein und Schein' - wird der Gegensatz im folgenden verstanden; kritisch zur These der Konfrontation in den ersten beiden Aventiuren: Bernreuther (1994), S. I4f. 389
Das Verspielen der höfischen Alternative
ge stellen, unterlaufen. Entscheidend ist, daß auf dem Weg von der ersten zur letzten Aventiure allmählich die Beleuchtung wechselt, in der sie erscheinen.'
Ze hove: Zeremoniell und Prachtentfaltung Ausgangspunkt ist eine idealisierte höfische Welt. Was ist im .Nibelungenlied' mit .höfisch' gemeint? Den Hof gibt es lange vor der höfischen Gesellschaft, und so gibt es auch das Wortfeld, das sich um hove lagert, ohne daß das Vokabular zum Bild einer Lebensform zusammenschießen müßte, die ,höfisch' im emphatischen Sinne wäre. Die Crux der Diskussion darüber, was höfisch, was unhöfisch sei, liegt meist darin, daß zwischen normativer und deskriptiver Perspektive, zwischen jenem emphatischen Entwurf und einzelnen Phänomenen, die sich mit der curia regis oder principis in Verbindung bringen lassen, nicht hinreichend unterschieden wird.6 Der Hof als herrschaftliches und kulturelles Zentrum ist vom ersten Vers der Erzählung an Schauplatz der Handlung. Erzählt wird Von des hoves krefte und von ir witen kraft, von ir vil hohen werdekeit und von ir ritterscaft.
(12,1 f.)
Zu dem komplexen höfischen Apparat, auf dem das burgondische Königtum beruht, gehören, wie dargestellt, Hofämter (iof.). Hofämter betreffen ursprünglich Aufgaben im königlichen Haushalt; sie werden seit dem 12. Jahrhundert (teils schon früher) als Ehrenämter institutionalisiert.7 Im ,Nibelungenlied' spielen ihre Inhaber - zumal Sindolt, Hunolt, Rumolt, Ortwin - in der Kette von Festen und Festvorbereitungen die ihnen zugewiesene Rolle, so bei den Empfängen Prünhilts (563, 564, 582, 583) und Sivrits (776, 777), während der marscalch Dancwart für Gesinde (178,if.) und Troß (1921) zu sorgen hat. Es handelt sich also nicht um reine Ehrenämter, sondern sie sind mit der tatsächlichen Funktion im königlichen Haushalt verknüpft, wenn auch ihre Träger zu den Spitzen des Wormser Herrschaftsverbandes zählen; das zeigt sich beim Krieg gegen die Sachsen.8 So gehen die Aufgaben denn auch, wie es der späteren Bedeutung der Ehrenämter entspricht, weit über die elementaren Funktionen im königlichen Haushalt hinaus. Die BedeuHier unterscheiden sich die folgenden Überlegungen von denen Haugs (vor allem 1974/1989), in denen unausgesprochen doch die höfische Welt die Norm ist, gegen die sich malgre lui der heroische Schematismus durchsetzt. Noch seine Lösung, daß dieser Schematismus im .Nibelungenlied' ins Subjekt hineingenommen werde, also in einen intentionalen Akt umgedeutet, scheint an anthropologischen Positionen des höfischen Romans orientiert. Ganz (1977) und (1986); zur Bedeutung der Wendung %e hove S. 300-302. Überblick v. W. Rösener im Lexikon des Mittelalters V, Sp. 671".; vgl. die Hofämter in der ,Kudrun' oder im .Tristrant', wo ausdrücklich erklärt wird, daß solch ein Hofamt nicht niedrige Dienste meint, welche wichtigen Aufgaben ihm übertragen sind und wie es mit fürstlichem Rang zusammengeht (Trt 316-328); vgl. (auch zu Datierungsproblemen) Bumke (1996^, S. 563. Vgl. 162; 173; 2oof.; 235, wo die Inhaber der Hofämter als herausragende Krieger genannt werden. 39°
Ze hove: Zeremoniell und
Prachtentfaltung
tung dieser Amtsträger nimmt zum Schluß hin immer mehr ab. Im ersten Teil funktioniert die höfische Verteilung der Ämter. Im zweiten verschwinden mit dem Fortfall institutioneller Garantien ihre Repräsentanten samt den Ämtern.9 Höfisches Vokabular wird meist unspezifisch gebraucht. So kann hovesite in der altertümlichsten der handschriftlichen Überlieferungen (A) nur einen Brauch meinen, der am Hof üblich ist.10 Eine deutlichere Vorstellung von ,höfischer' Lebensform ist nicht erkennbar. Der Epiker ist vor allem von der Schauseite höfischen Lebens fasziniert." Der Hof ist der Ort feierlicher Empfänge und prunkvoller Feste. Große Aufmerksamkeit gilt höfischen Zeremonien wie dem Begrüßungsritual: Umständlich wird man darüber belehrt, wer wen zu küssen hat12 oder wer vor wem aufsteht.'3 Die Detaillierung des höfischen Lebens beschränkt sich überwiegend auf die materielle Kultur: kostbare Stoffe, Pferde, Waffen, Edelsteine und -metalle, deren Pracht endlos angehäuft wird. Die vielgeschmähten .Schneiderstrophen' sind alles andere als Füllmaterial im heroischen Ablauf. Sie haben höfischen Überfluß und damit Macht und Ehre anzuzeigen. Jedes Abenteuer wird mit großem materiellen Aufwand vorbereitet, und zwar keineswegs nur im Dunstkreis von Worms. Auch über die rauhen Sitten Isensteins weiß Sivrit zu berichten: Wat die aller besten die ie man bevant, die t reit man Ballen %iten in Prünbilde lant.
(3 44,1 f.)
Das ist keine unangemessene nachträgliche Überformung, sondern der gewöhnliche Ausdruck von Macht und Glanz eines Herrschaftszentrums. Prachtentfaltung ist eine Seite von Hof, die beim höfischen Roman in den Hintergrund tritt, weil das Ethos einer exklusiven Rittergesellschaft, die komplexen Prozesse der Identitätsbildung und das prekäre Verhältnis von Einzelnem und Gesellschaft größeres Interesse fordern. Doch findet sie sich dort nicht minder; sie gehört zur höfischen Kultur des Mittelalters. '4 Vom höfischen Roman unterscheidet sich das ,Nibelungenlied' jedoch darin, daß die materielle Kultur nahezu als einziger Aspekt höfischer Lebensform gilt. Dieses reduzierte Konzept von Hof ist typisch für mittelalterliche Heldenepen. Hof ist weder ein ausgezeichneter Ort noch eine ausgezeichnete Lebensform, sondern vor allem Anhäufung und verschwenderische Verausgabung von ReichtüVgl. S. 181. Sivrit erläutert seinen Gefährten, daß es in Isenstein hovesite sei, die Waffen abzugeben (A 390,4); ähnlich neutral, aber ohne das Reizwort hovesite die Vulgatfassung nach B: do hegende im Stfrit da von ditt rehten märe sagen (406,4; vgl. C 415,4). " Jaeger (1983), S. 194^; vgl. S. iy8f.: in Übereinstimmung mit chronikalischer Darstellung. 12 Etwa beim Empfang in Bechelaren 1651 f. und 1665f. '' Etwa bei den Empfängen Rüedegers oder der Spielleute in Worms oder dem der burgondischen Könige durch Etzel. 14 Bumke (1986), Bd. i, S. 137-275.
>
10
391
Das Verspielen der höfischen Alternative
mern. Dadurch kann höfisches Leben leicht einen zweideutigen Anstrich bekommen. Im jWormser Rosengarten' kulminiert z. B. höfisches Leben im Kleiderprunk; dieser ist Ausdruck von Selbstwertgefühl (Ro A 178-180), das aber in den Augen anderer stets Gefahr läuft, in hochvart, rücksichtslose Präpotenz, umzuschlagen; eben dies wirft der rauhbeinige Wolfhart Kriemhilt vor, wenn sie ihr Gefolge auffordert, sich prächtig herauszuputzen (gieret iuch diu ba^ Ro A 178,2; vgl. 181).'' Solche Pracht gehört andererseits, durchaus nicht negativ bewertet, zu einem großen Hof. Beim Luxus der Kleider, Waffen, Gerätschaften usw., wie ihn die ,Kudrun' erzählt, ist wichtiger als die konkretisierende Beschreibung die Tatsache der Kostbarkeit. Höfische Standards werden vorwiegend quantitativ bestimmt: Hagene sine frouwen niht unberuochet baden %e allen %iten er si vli^iclichen hie%.
(K 162,1 f.)
Ein Hof, an dem unablässig gebadet wird (eigentlich: der Herr die Frauen baden läßt), ist ,höfischer' als andere. Dabei hängt diese Schauseite höfischer Zivilisation durchaus mit höfischer Friedenssicherung zusammen, wie sich zeigt, wenn Kudrun die Rückkehr zum Frieden vorbereitet: Auch dann wird erst einmal gebadet, und die Kontrahenten werden eingekleidet: Kudrun die beide taugen baden unde schone kleiden und hin %e hove bringen.
(K 1600, 2 f.)
So gibt es zwischen den Elementen materieller Kultur und dem Programm höfischer Ethik durchaus einen untergründigen Zusammenhang. Die Ethik selbst aber wird im heroischen Gattungshorizont unmittelbar nicht entfaltet, nicht einmal dort, wo es, wie in der , Kudrun', um eine Kritik an heroischen Gewaltmechanismen geht. So kann ein höfischer Zentralbegriff wie fuoge auf jede Art von Proportion angewandt werden; z. B. heißt über das Heer der Sachsen, da^ wider siner helfe mit unfuoge wac (181,2), d. h. es steht (zahlenmäßig) in keinem Verhältnis zum burgondischen Aufgebot, ist ihm weit überlegen. Über die Teilhabe an höfischer Lebensform ist damit weder für die eine, noch für die andere Seite etwas gesagt.'6 Wenn Volker die mgemüeden recken (1818,2) in den Schlaf musiziert, heißt es: sin eilen %uo der fuoge diu beidiu wären gro^.
(1835,2)
M.itfuoge ist nicht mehr als das Beherrschen schöner Proportion durch den Musiker gemeint, während eilen seine Qualität als Heros unterstreicht. Beides geht mindestens anfangs zusammen. '' Ro A wendet diese Bezeichnung aber nicht nur auf Kriemhilt an, sondern auch auf Dietrich (Ro A 170,4), dessen höchvart man mit prächtigen Kleidern begegnen muß - was meist übersehen wird, wenn das Scheitern des Rosengarten-Turniers allein auf Kriemhilts Arroganz zurückgeführt wird. 16 Anders de Boors Kommentar: „Den auserwählten, ritterlich geschulten Burgunden stellen die Sachsen ihre kulturell und technisch unterlegene Massenhaftigkeit entgegen" (S. 36). 392
Turnier und Gewalt
Turnier und Gewalt Feudale - heroische, höfische - Epik ist durchweg vom Prinzip des Agonalen bestimmt, und das ,Nibelungenlied' macht da keine Ausnahme.17 Die Handlung verläuft - typisch für eine Adelskultur - zwischen Kampfspiel und militärischer Auseinandersetzung. Ritterspiele entstehen nicht erst in der höfischen Kultur des 12. und 13. Jahrhunderts; dort aber werden sie zum zentralen Kulturmuster einer agonal strukturierten Rittergesellschaft, indem sie einem Apparat von Regeln unterworfen werden, die den latenten Gewaltcharakter kontrollieren sollen und den Sieg im Kampf zur zweckfrei schönen Demonstration machen. Das .Nibelungenlied' hat an diesem Kulturmuster teil, doch geraten die Kontrollmöglichkeiten und damit Bedeutung und Funktion der Kampfspiele nach und nach ins Zwielicht. Im ersten Teil scheinen die Spiele, im zweiten der Vernichtungskampf zu dominieren, doch lösen sich die Gegensätze bei näherem Zusehen auf. Damit wird eine Grenze verwischt, die zumal für die höfisch-ritterliche Epik, ihren Entwurf der aventiure und die Bestimmung von deren Grenzen große Bedeutung hat:'8 die Grenze zwischen direkter und formalisierter Gewalt, die wiederum in verschiedener Weise von der Abgrenzung zwischen legitimem und illegitimem Handeln überlagert wird. Aus der Ausgangssituation des .Nibelungenliedes' ist direkte Gewalt ausgeschlossen. Gewalt gehört in die Vorgeschichte. Sie hat sich im burgondischen Machtpotential verfestigt: Von des hoves krefte und von ir witen kraft, von ir vil hohen werdekeif und von ir ritterscaft, der di herren pf lägen mit vröuden al ir leben, des enkunde tu %e wäre niemen gar ein ende geben.
(12)
Das ist Vergangenheit. Sivrits Jugendabenteuer, bei denen er die Könige eines fremden Landes tötet und dort die Herrschaft samt einem riesigen Schatz gewinnt, werden temporal nicht eindeutig situiert; sie .liegen zurück', wenn der Erzähler anhebt, von der höfischen Harmonie in Worms und Xanten zu erzählen. Als gewaltsame Auseinandersetzung um die Herrschaft ist Sivrits erstes Erscheinen in Worms angelegt, wenn auch nicht, wie Sigemunt vorgeschlagen hatte, als hervart (58,3), sondern schon kanalisiert zum Zweikampf mit dem fremden Herrscher. Doch ersetzt hier nach einem längeren Wortgefecht das Turnier den Zweikampf, die formalisierte die direkte Gewalt: Sivrit wirft sich auf Ritterspiele, bei Perennec (1975), S. 13 hat auf die Omnipräsenz des Agonalen verwiesen und auf das Fehlen (besser vielleicht: das rasche Überschreiten) der Grenzen zwischen Spiel und ernstem Kampf. Vgl. etwa .Wigalois' 10183: hie enist niht aventiure, heißt es, wenn an die Stelle aventiurehafter Bewährung im ritterlichen Zweikampf eine Fehde mit großem militärischen Aufgebot tritt. 393
Das Verspielen der höfischen Alternative
denen er zeigen kann, was er im Ernst nicht zeigen durfte: so was er ie der beste swes man da began/ [...] so si den stein würfen oder schufen den scaft (130,2; 4). Seine Überlegenheit hat keine Konsequenzen für die politische Ordnung, sondern mehrt nur sein Ansehen. Die entlastete Form agonaler Auseinandersetzung antizipiert freilich ein weniger harmloses Spiel später, denn er brilliert genau in zwei der Disziplinen, in denen er in Isenstein Prünhilt besiegen muß: so si den stein würfen oder schufen den scaft (130,4). Noch geschieht das ohne Risiko, bloß zum Zweck der Demonstration von Kraft und Geschicklichkeit. Gefahrlos ist es auch, wenn er seine Kraft im Dienst Günthers nach außen wendet, im Krieg gegen die Sachsen; dort darf er das wiederholen, was im Inneren nur als geregeltes Spiel erlaubt ist: der Beste im Kampf sein. Der Krieg'9 erweist sich als beherrschbar und mündet in ein großes Friedensfest, zu dem auch wieder Ritterspiele gehören (308). Der eine Agon ist in den anderen problemlos überführbar; die Grenze zwischen legitimem und illegitimem Kampf verläuft nicht zwischen Spiel und Ernst. Das zeigt sich, nun aber auf problematische Weise, an Prünhilts Hof, an dem die driu spil, die jeder Werber mit der Königin zu spielen hat, ein hohes Risiko enthalten: gebrast im an dem einen, er bete da^ houbet sin verloren (327,4). Was Prünhilt als spil diu starken veranstaltet (424,2), hat mit realer Gewalt das Ziel gemeinsam: e^gat im an den lip (416,3). Solch ein spil10 ist nicht gewaltlose Demonstration von Überlegenheit, sondern lebensbedrohlicher Ernst und verbreitet daher Schrecken.21 Wie der Zweikampf, den Sivrit in Worms Günther vorgeschlagen hatte, sollen die Spiele über den Erwerb von Frau und Herrschaft entscheiden, und so rüstet sich Prünhilt, sam ob si solde striten umb elliu küneges lant (434,2). Obwohl Spiel, ist der Wettkampf feindliche Konfrontation: Die ^it was disen recken in gelfe vil gedreut (430,1). Am Ende muß Prünhilt Günthers Frau werden und ihren Leuten befehlen: ir suit dem künic Günther alle wesen undertan (466,4). Ihre spil dementieren die höfische Unterscheidung zwischen tatsächlicher und spielerischer Gewalt. Es ist Sivrit, der dafür sorgt, daß das spil ein Spiel bleibt: Er dahte: „ich ml niht schienen da% schatte magedin. " er kerfe des geres snide hinder den rucke sin. mit der gerstangen er schö^ üf ir gewant. (45 9, 1-5)
Daß die Grenzen zwischen Spiel und Gewalt aufrecht erhalten werden, gelingt nur unter dem Schutz der tarnhüt - als Betrug. Auch beim zweiten Kampf des Brautwerbungsabenteuers sind die Grenzen zwischen Spiel und Ernst nicht klar, diesmal aus entgegengesetzten Gründen. Der Zweikampf im Nibelungenland ist zwar ernst; er geht auf Leben und Tod, doch 19 20 11
Es ist, worauf Seitter (1995)» S. 152?. verwies, der einzige im .Nibelungenlied'. So mehrfach: 432,2; 433,i; 467,4; 471,1. 425; 43°; 43 8 ; 441-445; 45°·
394
Turnier und Gewalt
tatsächlich steht nichts auf dem Spiel, denn Sivrit ist schon Herr des Landes. Der Gegner bedroht sein Leben, doch hindert das nicht, seine Kräfte anerkennend sportlich zu taxieren: ein teil begonde fürbten Stfrit den tot, da der porten&re so kreftecliche sluoc. dar um be was im wage sin herre Sifrit genuoc.
(491,2-4)
Ein tödlicher Ausgang liegt wieder außerhalb der Absicht des Angreifers: er schonte stner %ühte als im diu tugent da^gebot (496,4), wobei die Schonung bezeichnenderweise an höfische Qualitäten (%uht, tugent} gebunden ist. Nachträglich erst erweist sich so alles als bloß spielerisches Kräftemessen. Mit der Rückkehr nach Worms hört diese Vermengung von Spiel und Ernst wieder auf; zum Hochzeitsfest der Könige gehören glänzende Turniere (596-598; 646^), ebenso wenn Sivrit und Kriemhilt Worms besuchen (797; 808-810). Doch dann ist es ausgerechnet anläßlich von ritterschefte durch kur^ewile wan (814,3), daß die Auseinandersetzung der Königinnen um Sivrits Status gegenüber den Wormser Königen eskaliert. Die Situation läßt eigentlich Herrschaftskonkurrenzen nicht zu, klammert sie gewöhnlich aus, indem jeder Kämpfer als potentiell gleich gilt. Ein Statuskonflikt ist hier nicht am Platz. Trotzdem schlägt der Streit der Königinnen darüber, wer sich als der glänzendste Turnierkämpfer erweist, um in den Streit darüber, wer wem Untertan ist, das gewaltlose Ritterspiel in einen Machtkampf. Anders als am Ausgang der dritten Aventiure kanalisiert das Kampfspiel jetzt nicht mehr Gewalt, sondern treibt sie erst hervor und erlaubt, Feindschaft verdeckt auszutragen, noch freilich nicht durch die Kämpfer selbst. Die Kontamination von Spiel durch Ernst setzt sich bei der Ermordung Sivrits fort, deren Rahmen eine Jagd und deren Anlaß ein Wettlauf ist. Der Wettlauf dient als Vorwand, den Gegner zu entwaffnen und gefahrlos zu beseitigen. Sivrit gewinnt den Lauf und verliert sein Leben; Günther unterliegt im Wettkampf und wird einen gefährlichen Gegner los: e% hat nu alle^ ende unser sorge unt unser leit. wir finden ir vil wenic, die türren uns bes tan.
(99 3,2 f.)
Die Bedeutung von bestan bezieht sich zugleich auf den (verlorenen) Wettkampf und den (gewonnenen) Machtkampf. In der langen Agonie der Leiden Kriemhilts haben Kampfspiele keinen Platz. Erst an Etzels Hof kehren sie wieder, doch immer unverhüllter als Anlaß von Provokation. Schon der Aufbruch zu Etzels Fest gleicht einem Kriegszug," und wie auf einem Kriegszug müssen die Bürgenden ihr Leben verteidigen. Das friedliche Messen der Kräfte wird an Etzels Hof zum Vorwand für Gewalt, zuerst beim buhurt. Gewöhnlich dient ein bühurt der Demonstration von Kraft und GeschickSeitter (1995), S. 155. 395
Das Verspielen der höfischen Alternative
lichkeit im Tummeln der Pferde vor dem Hof, den Frauen und dem König; er ist kur^emle (1873,3; 1882,1), indem er friedlich Reiterkampf simuliert: des wart von den beiden sit vil herlieh genten (1871,4). Ein bühurt riebe [J gehörte zum Empfang Prünhilts in Worms (584,1; vgl. 624). Auch damals war er laut vom Zusammenprall und Getöse der Waffen, staubig, als stünde das Land in Flammen (590,3f.). Aber er unterlag der Kontrolle des höfischen Festes. So hieß es von Hagen: den buhurt minmcliche do der helt gescbiet, da°^ si ungestoubet liefen diu vil schämen kint. des wart do von den gesten gevolget güetliche sint.
(598,2-4)
Die Unterbrechung des Vergnügens, um anderen Vergnügen (kur^emlen, 600,2) Platz zu machen, gelang damals leicht (598,4), denn der buhurt war nichts als ein Spiel. An Etzels Hof ist dagegen von Anfang an Gewaltbereitschaft erkennbar; man sieht, da^ in ummuote waren die Guntheres man (1876,3). Das Spiel, das Gewalt meidet, indem es Gewalt simuliert, lädt zur verdeckten Gewalt ein. Für Volker scheint das Spiel eine günstige Gelegenheit zum Losschlagen zu bieten, eine Chance, die leider verpaßt wird: ich wan' uns dise recken tiirren niht best an. ich hart' ie sagen mare, si waren uns geha%. nune kunde^ sich gef Hegen %Jt>are nimmer mere ba^
(1883,2—4).
Wieder oszilliert bestän zwischen Spiel und Ernst. Kurz darauf dient Volker der bloße Anblick eines hiunischen Höflings als Anlaß, die spielerische Ostentation für einen Gewaltakt zu mißbrauchen, und sogleich mischen sich Hagen und seine Leute in das spil (1890,3), das jetzt schon Kampfgetümmel ist, und die Könige folgen. So werden die Barrieren zwischen simulierter und realer Gewalt niedergerissen. Das Kampfspiel erweist sich als bloße Fassade, die nicht standhalten wird, seine Regelhaftigkeit als Lüge und Deckmantel für Intrige. Solch eine Überblendung von Kampfspiel und Krieg findet sich auch sonst in der Parodie höfischer Ordnung aus heroischer Perspektive. Im , Rosengarten"3 werden Kriemhilts Einladung zu einem Turnier und die Kampfspiele selbst als empörende Herausforderung24 gebrandmarkt. Bestimmend ist dort das bekannte negative Kriemhilt-Bild, wie es die , Klage' zu korrigieren trachtet, das Bild der herrschsüchtigen und blutgierigen Frau, deren höchvart (Ro A 173,4; 178,1) sich den Willen der Männer unterwirft. Die Übernahme dieses Bildes in das 1J
24
Nach Ro A; zur Verschärfung von Begriffen wie übermuot, hochvart usw. in diesem Text vgl. S. 237— 24 3· Heinzle (1978) meint, daß nicht die Herausforderung als solche, sondern deren beleidigende Übersteigerung durch Kriemhilt kritikwürdig ist und bestraft wird (S. 247-252). Im .Rosengarten' gibt es aber keine andere Form der Herausforderung als diese, und es ist nicht die Form, die gebrandmarkt wird, sondern die Tatsache. 396
Turnier und Gewalt
,Rosengarten'-Epos ist umso seltsamer, als Kriemhilt dort keineswegs ganze Reiche in die Katastrophe stürzt, sondern nur ein Kräftemessen zwischen rheinischen und südostdeutschen Helden vorschlägt. Dies wird als bösartige Willkür diffamiert, denn Kriemhilt ist kein kit zugefügt worden (Ro A 188,2), - als ob es darauf bei einem Turnier ankäme! Die Unterscheidung zwischen Spiel und Ernst fehlt; sie wird überlagert von der nach legitimer und illegitimer Gewalt. Der Willkür einer Frau zu folgen, gefährdet das Leben vieler Männer (Ro A i74,3f.). Dahinter steckt jener übermuot (Ro A 176,z),2' der Auslöser heroischer Katastrophen ist. Gewiß, heroischer Kampf wird parodiert, indem der Ausgang insgesamt komisch und grotesk,26 statt katastrophal ist (die Zweikämpfe gegen die Riesen gehen allerdings tödlich aus). Doch wird die Überführung von ernstem Kampf ins Kampfspiel denunziert, der Unterschied zum blutigen Kampf geleugnet. Es ist ein herte^ spil, das man ^prnlicbe (Ro A 194,1), gnulichen (Ro A 199,2), vreisliche (Ro A 210,3), mit grimme (Ro A 222,1) usw. ausficht und wie einen Kriegszug mit 60.000 Mann vorbereitet. Dabei ist die Domestizierung ernsten Kampfes überdeutlich, als geregelte Folge von Zweikämpfen im umhegten Bezirk (garten) mit nur symbolischer Auszeichnung durch die Dame (ein Kranz, Umarmung und Kuß, Ro A 150,3). Doch wird die Transformation des Kriegs zum Wettkampf als frivol ausgegeben: wir müe^en iuwer gespötte sin, /da% wir durch rosen willen sin körnen an den Rin (Ro A 173,if.). Auch solch ein Kampf ist willkürliches Morden (ir seht gerne morden die recken unver^eit, i87,3). 27 Da Kampfspiel und Gewalt von vorneherein ununterscheidbar sind, kann das Morden paradoxerweise ewigen Ruhm begründen: daß hernach über tüsent jar/man von uns seite und sünge (Ro A 15 2,1 f.). Der Versuch einer friedlichen Kanalisierung des Krieges, wie sie das höfische Turnier anstrebt, wird in der grotesk-widersprüchlichen Struktur des .Rosengarten' ad absurdum geführt. Eine Verwischung der Grenzen kennzeichnet auch den ,Biterolf, wobei dort freilich die fatale Bewegung des ,Nibelungenliedes' von höfischer Ordnung zur Katastrophe umgedreht werden soll.28 Ins Werk gesetzt wird ein gewaltiger Feldzug der Helden Etzels an den Rhein gegen Günther und die Wormser. Anlaß ist nicht !
' Das ganze Vokabular entspricht heroischem Selbstgefühl, angefangen von den stolzen Nibelunge (Ro A 177,3); .verkehrt* ist das, weil dahinter die hochvart einer Frau steht; vgl. S. 193. 26 Komisch ist die Weigerung Eckeharts oder Hiltebrants, den symbolischen Lohn, den Kuß der Königin, anzunehmen, ist die Bestrafung Kriemhilts durch die kratzigen Küsse des bärtigen Ilsan (Ro A 376; zum parodistischen Charakter Heinzle, 1978, S. 254).smd die blutenden Mönche, denen Ilsan Rosenkränze auf den Kopf drückt, ist vielleicht auch Dietrichs Weigerung, den letzten Kampf gegen Sivrit zu übernehmen: ir vehtet niht vor vrouwen, da manpris bejagen sol (Ro A 341,4) oder seine Balgerei mit Hiltebrant. 27 Vgl. morden (Ro A 19,2). Das Turnier löst Gewalt und Gegengewalt aus (rechen, Ro A 205,2) und wird wie eine Fehde eingeleitet (Ro A 314,4). 28 Daß der ,Biterolf als .Antwort' konzipiert ist, zeigt sich daran, daß er die Bewegungsrichtung des .Nibelungenliedes' umkehrt: von Etzel zum Rhein. Wie dort ist die Sonnenwende der Zeitpunkt der Auseinandersetzung (Bit 4667; 5022), doch mit entgegengesetztem Ergebnis. 397
Das Verspielen der höfischen Alternative
die Rache einer Frau, sondern Rache für eine Beleidigung unter Männern. Günther begegnet Etzels Fehdeabsage mit der Einladung zu einem Fest, zu dem er seine Verbündeten und ihre Frauen einlädt: scheinbar eine verräterische Einladung wie diejenige Kriemhilts - Günther will sich auf diese Weise heimlich Helfer gegen Etzel sichern, weshalb er den Gästen seine wahre Absicht verbirgt (Bit 5805). 29 Doch ist die Hinterlist deutlich abgeschwächt, denn Günther trachtet seinen Gästen anders als Kriemhilt nicht nach dem Leben. Zunächst zwar gibt es Tote und schwer Verwundete, und der Blutpegel ist knöcheltief. Doch gerät der Kampf von Anfang an zum Schauspiel. Allmählich verschiebt sich die angedrohte hervart (Bit 5011) zur höchste (Bit 5024), die Rache für einen Rechtsbruch zum Wettstreit um Ehre,30 unter Beteiligung der Damen (Bit 5114-19). Damit ist vorbereitet, daß aus dem Ernst des Krieges ein bloßes Ritterspiel wird, eine Parade der besten Helden: ich tete es^ niuwan umbe da%j als e% doch ist hie geschehen, da% wir die recken han gesehen von den wir wunder horten sagen.
(Bit 12602-05)
Zuletzt münden die Kämpfe in ein Gelage der ehemaligen Gegner. Dabei amüsiert man sich über die Wunden, die man sich wechselseitig beigebracht hat. Der Krieg, anfangs als höchst nur getarnt, wird tatsächlich zum lärmenden Fest, zu dem, was Günthers Einladung anfangs nur vorgegeben hatte: Nibelungenuntergang invers. Allerdings ist das nicht das Ergebnis einer Verabredung, die dem Kampf vorweg Grenzen zieht, sondern ein Ergebnis, das sich wie nebenher einstellt. Die Überlagerung von Krieg und Ritterspiel erlaubt einen friedlichen Ausgang. Der Antagonismus von höfischem Kampfspiel und heroischer Gewalt wird in den drei Heldendichtungen jedesmal auf andere Weise durchgespielt: das von der Dame veranstaltete Turnier als Vorwand für Gewalt (.Rosengarten'), die Transformation des Kriegs ins Turnier unter der Regie der Männer, mit den Frauen als Publikum (,BiterolP), die Perversion friedlichen Wettstreits in blutigen Kampf (,Nibelungenlied'). In allen drei Fällen steht die höfische Gewaltregulierung auf dem Spiel. Der ,Rosengarten' denunziert das Kampfspiel als Anmaßung; im jBiterolf sind Spiel und Fest nur unbeabsichtigte Folgen eines Krieges; das ,Nibelungenlied' erzählt von der latenten Destruktivität eines Wettkampfs, der als Deckmantel für eine tödliche Intrige dient. Jedesmal werden Grenzen zwischen pazifiziertem Spiel und ernstem Kampf verwischt. Die höfische Unterscheidung zwischen ritterlichem Kräftemessen und Angriff auf das Leben des Gegners ist bagatellisiert. Zwischen den beiden schlichten Lösungen - scharfer Kritik im ,Rosengarten' und entproblematisierender Transformation im ,Biterolf - steht die durchgängige Ambiguität von Zweikampf und Ritter spiel im .Nibelungenlied'. *9 Als verräterisch wird die Einladung von der Witwe des einzigen nennenswerten Opfers, des Herzogs von Piillelant, beklagt (Bit 9388f.). 50 Vgl. Curschmann (1978), S. 86f.
398
Frauendienst: das heroische Mißverständnis
Frauendienst: das heroische Mißverständnis Sivrits Minne ist an seinem Untergang schuld, indem sie ihn veranlaßt, seine verhängnisvolle Rolle beim Betrug Prünhilts zu spielen; doch ist andererseits anfangs seine tninne idealisiert.3' Der Frauendienst hat im Handlungskontext damit einen ambivalenten Stellenwert. Er ist zunächst nicht mehr als ein Bestandteil des höfischen Festes und der materiellen Hofkultur: Als solcher wird er im ,Nibelungenlied' - weit über andere Epen heroischer Provenienz hinausgehend - bei allen festlichen Gelegenheiten gerühmt. Frauendienst ist in einem konventionellen Sinn Aufmerksamkeit der Ritter gegenüber den Damen: da wart gedient vromven so beide hochgemuote tuont.
(602,4)
die vrouwen dienen künden, die beten kleinen gemach.
(i3o8,4) 31
Er gehört zur höfischen Kultur, selbst in Isenstein, und scheint geradezu eine Abbreviatur für vorbildliches Leben bei Hof. Der Tod der vroum - Helche - zerstört die Freude des ganzen Landes und beschädigt Etzels Herrschaft. Wenn Kriemhilt Helche ersetzt, beginnen die Feste und Ritterspiele aufs neue: da wart vromven dienest mit großem vli^e getan (1310,4). Auf Gotelint richten sich die Wünsche aller Männer (1669), wie dies zuvor schon am Wormser Hof mit Kriemhilt geschah (296). Frauendienst als höfische Huldigung ist ein schönes Ornament wie die prächtigen Kleider und die vollendeten Umgangsformen. In dieses Ornament sind die Heroen eingebunden, ohne daß daraus Konflikte entstehen könnten. Etzel erinnert z. B. daran, wie eng Hagens Vater Aldrian der Königin Helche verbunden war: Helche diu getriuwe was im inneclichen holt.
(1755,4)
Volker verabschiedet sich am Hof von Bechelaren, indem er ,vor Gotelint' auf der Fiedel spielt und siniu liet vorträgt (1705). Er wird dafür von der Herrin des Hofes mit Ringen belohnt und verspricht, diese ihr zu Ehren am Hof Etzels zu tragen. Gotelint will bei der Rückkehr hören, wie ir mir habt gedienet da %er hohge^it (1707,3). Kein Wort davon, daß Volkers liet eine unmittelbare Huldigung an Gotelint enthalten haben; er hat sie mit Musik unterhalten. Auch beim Dienst, den er der Fürstin gelobt, deutet nichts auf minne hin; dienen muß nicht einmal Gesang meinen, sondern nur, daß er beim höfischen Fest die Zeichen der Dame trägt und alles, was er tut, ihr zu Ehren tut. Dazu gehören dann auch die Kämpfe, in denen er sich hervortut, so daß er später Rüedeger auffordern kann, ge^iuc dafür zu sein (2204,4), daß er die Ringe verdient und für seine Dame Ehre eingelegt habe. '' Anders, als Jaeger (1983), S. 195 meint, scheint mir höfische minne nicht negativ tingiert zu sein. '* Immer wieder wird gesagt, daß man schatten wiben dient (599,3; 710,4; 792,2; 1310; 1315 u. ö.). 399
Das Verspielen der höfischen Alternative
Weil die Frauen die Attraktivität eines Hofes ausmachen, ist der Frauendienst aber auch ein politisches Instrument, das gezielt eingesetzt werden kann, um Ritter ans Herrschaftszentrum zu binden. Wenn Günther überlegt, m er lonte sinen man (256,3), erhält er den Rat, beim Siegesfest: so suit ir lä^en scouwen diu wünneclicben kint.
(273,3)
Und die Rechnung geht auf, wenn sich die mit dem Anblick der Frauen Belohnten fragen: Wa% wäre mannes wünne, des vreute sich sin lip, e% entaten s cam mägede und herlichiu mp? (274,1 f.).
Durch diese Verknüpfung mit Politik können freilich die Implikationen von Frauendienst ins Zwielicht geraten, wenn er mehr sein soll als nur Dekoration des Lebens bei Hof. Die Ausgangskonstellation des Epos zitiert den Typus höfischer Liebe, wie ihn der frühe Minnesang entfaltet. Der Falkentraum entwirft das Bild der vrouwe als Erzieherin des Mannes (wie si %üge einen valken, stare scan' und wilde, 13,2). Am Falken bewährt sich die „erzieherische Kraft der Minne", wohl in Anspielung auf das Falkenlied des Kürenbergers, in dessen Strophenform das Epos verfaßt ist. 33 Dieses Bild wird freilich durch den Fortgang nicht bestätigt. Wenn Sivrit sich in den Wormser Hof einfügt, wirkt zwar die minne zu Kriemhilt als Motiv im Hintergrund, doch erzählt wird nicht seine Erziehung, sondern seine allmähliche Integration in den Wormser Herrschaftsverband. Diese konkrete Bedeutung schwingt im höfischen Erziehungsgedanken mit, doch wird sie überlagert von einem Programm edlen Verhaltens. ,Den Falken ziehen'34 erscheint hier dagegen als Abrichtung zum dienest bei Hof. Sivrits langes und entsagungsvolles Werben um Kriemhilt scheint nur eine epische Ausfaltung der arebeit hoher minne um eine unzugängliche vrouive." Bei näherer Betrachtung löst sich die Analogie auf, denn Sivrits Bewährung durch arebeit ist ein politischer Vorgang. Sivrits minne für die ferne Königin ist der traditionelle Auslöser für eine gefährliche Brautwerbung, nicht aber für höfischen Frauendienst. Indem sie hob[iu] minne (47,1) heißt, ist dieser Begriff ins konkret Politische verschoben, denn hohiu minne richtet sich nicht auf eine vrouwe, die unerreichbar ist, weil sie den Inbegriff aller Vollkommenheiten repräsentiert, sondern bedeutet hier und später Liebe zu einer Frau, die außer Reichweite ist, wegen ihres überlegenen Status und der Macht derer, die über sie verfügen (47: Kriemhilt), oder aber wegen großer Entfernung und besonders schwer erfüllbarer Proben (j44>4 : Prünhilt). Der Begriff hohiu minne wird also im Horizont der schwierigen Brautwerbung interpretiert.
" G. Müller (1975), S. 97; 102. J4 Zum Hintergrund des Abrichtens, das auch den Falkner veredelt: Wapnewski (1979), S. 41 f. " Zu den Differenzen, die durch die Terminologie verdeckt werden, Achauer (1967), S. 108 u. ff.
400
Frauendienst: das heroische Mißverständnis
Die Überlegungen der Eltern Sivrits und des Hofes richten sich darauf, solch hohe (d. h. unerfüllbare) Minne zu vermeiden, und das bedeutet, daß sie auf ein passendes Konnubium dringen: da^ er dan eine würbe diu im möhie %emen.
(48,3)
Sivrit antwortet diesem Vorschlag der Eltern mit dem Selbstbewußtsein des Heros, der keine Grenzen akzeptiert, wobei sich seine Replik genau auf die Empfehlung, eine besser passende (%emen) Frau zu suchen, reimt: so wil ich Kriemhilden nemen (48,4)· Dabei verläßt er sich auf seine überlegene Kampfkraft. Wenn Mutter und Vater dagegen übermüete und hdhverte (54> 2 ) der Wormser Könige und ihres Gefolges einwenden,56 entgegnet er: swa^ ich fnamentliche niht ab in erbt t, da% mac sus erwerben mit eilen da min bant.
(5 j.zf.)
Und wenn Sigemunt, um der Macht der königlichen Brüder (5 6,3f.) zu begegnen, seinerseits eine Demonstration militärischer Macht vorschlägt (57), entgegnet Sivrit: Si mac wol sus erwerben da min eines hant.
(59,1)
Solche Überlegungen überschreiten den Rahmen höfischen Frauendienstes. Hobiu minne verlangt hier die Meisterung scheinbar unüberwindlicher Schwierigkeiten durch heroische Tat. Solche Schwierigkeiten sind im höfischen Minnekonzept zwar mitgedacht als Ansporn der Anstrengung, die die minne vom Ritter fordert, doch sind sie in der Regel nicht durch Standesdifferenz oder bloß physische Unerreichbarkeit begründet. Selbst der höfische Roman, der die minne ebenfalls an ritterliche Bewährung bindet, macht ihr Gelingen noch von anderen Bedingungen abhängig. Die höfische Lyrik läßt vollends äußere Hindernisse hinter ethischer Vervollkommnung im entsagungsvollen Dienst zurücktreten; hoch ist nicht ständisch zu verstehen.37 Später zwar wird auch Sivrit in seiner Werbung ein Muster höfischer Selbstkontrolle und Entsagung sein, doch zunächst zielt er auf Eroberung. In der Konfrontation mit dem Wormser Hof werden seine Wünsche in die Richtung höfischen dienern umgelenkt. Sein stetiges, am Erfolg immer wieder verzweifelndes Warten auf Kriemhilt setzt eine lyrische Situation, die Ausgangslage lyrischer Minneklage, in Erzählgeschehen um. Doch nicht dienest nach dem Vorbild hoher minne bringt ihn weiter; er muß sich durch Taten bewähren, durch seine Hilfe für Günther im Sachsenkrieg und beim Wettkampf mit Prünhilt. '6 Vg1· 5 53,4; zu den Begriffen S. 237-243. Deshalb kann Walther von der Vogelweide sein Minnekonzept gegen Standesvorstellungen profilieren (vgl. L. 74,20 u. ö.).
)7
401
Das Verspielen der höfischen Alternative
Eine ähnliche Verschiebung im «««»^-Begriff kennzeichnet auch die zweite Werbung, diejenige Günthers um Prünhilt. Auch hier geht es um Überwindung äußerer Hindernisse. Weil sie fürchtet, daß er an den äußeren Schwierigkeiten scheitern könnte, rät Kriemhilt Günther, doch lieber um eine andere, ebenso vornehme Frau wie Prünhilt zu werben; ihr geht es also auch wieder um ein passendes, weniger riskantes Konnubium: da iu so sere enivage stüende niht der lip. ir muget hie näher vinden ein also hochgeborn wip.
(372,3f.)
Schwierig ist diese minne wieder allein aus äußeren Gründen. Gernot befürchtet, als das Unternehmen schon geglückt ist, daß seine hdhiu minne (544,4) - und das meint seine gefährliche Fahrt zur gefahrlichen Prünhilt - Günther das Leben gekostet habe. Aus hoher minne ist minne mit hohem Risiko geworden. Dank dieser Bedeutungsverschiebung wird minne Teil eines Machtspiels, ist nicht mehr bloß Dekoration heroischen Handelns, sondern dessen Element. Damit aber wird Frauendienst zweideutig.
Heros und Frauendiener Blickt man über Sivrits Geschichte hinaus, dann sind die Signale für Frauendienst auffällig konzentriert, wo man (heroischer) Anstrengung ausweicht.38 Frauendienst bedeutet für Günther, daß er sich nicht den Strapazen des Sachsenkrieges aussetzen muß: „Her künec, sit hie keime", sprach do Sivrit, „sit da^ iuwer recken mir wellent volgen mit. belibet bt den frouwen und traget hohen muot. [...] "
(174,1-3)
Später schließen einige sich vom adligen Sport der Jagd aus, um höfischer Galanterie willen: die aber hie bestän hövschen mit den vrouwen, da% st mir liebe getan.
(9 12, 3 f.)
Auch Rumolt, der die Bürgenden mit der Aussicht auf gemach von der gefährlichen Fahrt zu Etzel abhalten will, empfiehlt: minnet watltchiu mp (1467,4). Wenn Günther ihm beim Abschied von Worms die Regierungsgeschäfte überträgt, schließt das den Auftrag ein: diene wol den vrouwen (1519,2). Der höfische Frauendienst ist für die, die sich nicht im Kampf aufs Spiel setzen, sondern lieber Zuhause bleiben.
j8
Das entspricht wieder geistlicher Hofkritik, die sich gegen die höfische Liebe richtet: Jaeger (1983), S. 191. 402
Heros und Frauendiener
Die Überschreibung von hoher minne durch die Fernliebe im Schema gefährlicher Brautwerbung hat eine Kette von Mißverständnissen zur Folge. Günther scheint im Horizont heroischer Brautwerbung zu sprechen, wenn er von der Werbung um Prünhilt sagt: ich ml durch ir minne wagen minen lip (329,3), doch schätzt er das Unternehmen falsch als eine Kavalierstour, eine hovereise (530,4), ein. Kriemhilt kündigt er die Fahrt mit den Worten an: wir wellen höfsehen riten (350,3) und wir wellen kur^wilen in Prünhilde lant (354,3). 59 Kriemhilt hat gleich verstanden, daß es um Minnedienst geht (der ir da gert mit minnen, 351,3). Günthers erste Sorge gilt den passenden Kleidern (343,3). Umso größer ist sein und seiner Leute Erschrecken, wenn er bemerkt, worum es bei dieser hovevart (443,2) tatsächlich geht: Alles andere als eine höfische Vergnügungsreise hat er unternommen, eine Fahrt nämlich, auf der die höfische Verehrung der Frau lebensgefährlich ist. Günther spricht noch, als er Prünhilt sieht, die Sprache höfischer Galanterie: die welent miniu ougen durch ir sccenen lip (392,3). Minne als ein seelisches Geschehen, das durch den Blick vermittelt ist, schiebt sich vor ein Konzept, in dem minne nur als Stimulus heroischer arebeit benötigt wird. Günther spricht die falsche Sprache. Die Welt, an deren Spitze tatsächlich eine Frau steht, die durch ihre Stärke nahezu allen Helden überlegen ist, erschüttert die Erwartungen einer höfischen Männerwelt.40 Was höfischen Frauendienst ausmacht, wäre in Isenstein de-placiert. Diese Einschätzung teilt das .Nibelungenlied' mit zahlreichen anderen Heldenepen. So nimmt das ,Goldemar'-Fragment Bezug auf den bekannten Typus des immerzu kämpfenden Dietrich von Bern, der wie seine Mit-Helden nur das Ziel kannte, möglichst viele Gegner totzuschlagen und nie gwan gen vrouwen hohen muot (Go 2,5). Das ist die Folie, um davon den eigenen Helden als einen anderen Dietrich abzusetzen, einen hoveltch man (Go 2,7), der von einer Frau bezwungen wurde (Go 2,i2). 4 ' Während hier Frauendienst kritisch gegen ein heroisches Klischee gewendet wird, macht sich umgekehrt die ,Virginal'-Fassung des »Dresdner Heldenbuchs' über die Liebe des sexuell unerfahrenen Dietrich zur Zwergenkönigin lustig.42 Wo Frauendienst handlungsauslösendes Moment ist und den Rahmen für ritterliche Kämpfe darstellt wie im ,Rosengarten', wird er negativ akzentuiert.4' " Zur höfischen Fehlinterpretation der Fahrt auch Newman (1981), S. 72. - Die Sorge um kostbare Kleider entspricht freilich auch dem skizzierten Bild von Hof, der sich durch Pracht auszuzeichnen hat (vgl. S. 391). 40 Zum .männerbündischen' Charakter der nibelungischen Welt: Bennewitz (1995), S. 46f. 41 Vgl. Heinzle (1978), S. 241 f. 42 Vi", Str. 125-128. 4} Heinzle (1978), S. 247-259; grundsätzlich S. 267, wo Heinzle von der „immanente[n] Spannung zwischen Heldendichtung und höfischem Roman" spricht. Das gilt besonders für den .Rosengarten A'. In anderen Versionen ist die Kritik am Frauendienst verwischt. Der Prolog in Ro D *2-*7 etwa versucht eine Integration zwischen Frauendienst und heroischem Kampf. Die Herausforderung geht hier gleichermaßen von einem Mann, König Gibeche (D 13, 18), wie von einer Frau, Kriemhilt, aus (D 23ff.). Der Konflikt, den A erzählt, ist hier nur noch in einigen Umständen und Folgen der Kämpfe zu ahnen (vgl. eine Formulierung wie den mort hat gebruwen Kriemhilt, D 604,4). 403
Das Verspielen der höfischen Alternative
Selbst in der ,Kudrun', die Frauen ins Zentrum stellt und eine Frau die Eskalation heroischen Mordens beenden läßt, bewegt sich höfischer Frauendienst am Rande der Komik. Bei der Werbung um Hagens Tochter Hilde - eigentlich einer üblichen Brautwerbungsfabel - ist die Rolle des Werbungshelfers in zwei Figuren, Wate und Horant, aufgespalten, eine Aufspaltung, die anzeigt, daß hier zwei unterschiedliche Kulturmuster aufeinander kopiert werden: Wate ist vor allem Krieger, muß handeln, die Entfuhrung ins Werk setzen und die Verfolger abwehren. Horant, sonst Heros wie Wate, versteht sich auf höfische Werbung, zumal durch Lieder. In der Welt des Hofes ist Wate fremd. Scherzhaft (K 343,1) fragen ihn die Königin Hüte und ihre gleichnamige Tochter, ob ihm lieber sei, zu kämpfen oder bei schönen Frauen ,zu sitzen'.44 ,Bei den Damen sitzen': so sieht aus heroischer Sicht die höfische Alternative aus, die, der Formulierung zufolge, mit Untätigkeit assoziiert wird. Für jemanden wie Wate ist die Entscheidung nicht schwer: nie habe er bi schanen froumn so sanfte (K 344,2) gesessen, daß er nicht doch lieber im Kampf gewesen wäre. In der Konversation mit Damen ist solch eine ehrliche Antwort eine komische Taktlosigkeit, die mit Lachen beantwortet wird (K 345,1), vor allem aber die Fremdheit des Helden zur höfischen Welt anzeigt. Diese Welt vertritt Horant, der andere Werbungshelfer, auch er sonst hauptsächlich Krieger, doch in dieser Episode plötzlich Sänger. Sein Gesang entzückt alle. Dieser Gesang ist allerdings nicht als Minnesang gekennzeichnet:45 Er ist an keinerlei höfische ,Aufführung' gebunden, denn Horant singt am Abend ,draußen' und offenbar für sich. Erst weil sein Gesang allen so gut gefällt, wird er eingeladen, ihn ,drinnen' vor den Damen zu wiederholen. Immerhin, der Gesang öffnet ihm die Türen ins Frauenzimmer. Dort kann er Hilde sprechen und ihre Zustimmung zur Heirat mit seinem König Hetel gewinnen. Davon, daß sein Lied von der Liebe des Königs handelt, verlautet nichts. Der Auftritt des Sängers vor den Damen heißt Frauendienst.46 Für die eigentliche Entführung ist Horant damit weniger geeignet und tritt deshalb in den Hintergrund. Erst wenn die Werbung nach blutigen Kämpfen abgeschlossen ist, gehört er wieder zu den hervorragendsten Helden. Der Übertritt in die andere Lebensordnung des Hofes, deren Mittelpunkt die Frauen sind, bedeutet, daß der Heros vorübergehend seine Identität wechselt.47 Indem Wate und Horant einträchtig zusammenwirken, ist die Brautwerbung erfolgreich. Aus der Perspektive der übrigen Krieger König Hetels ist allerdings Horants Rollenwechsel zum singenden Frauendiener komisch. So bemerkt Fruote: 44 45
46
47
ob in da^ diuhte guot,/swann er bi schanen fromven (also) sitzen solte (K 343,2f.). Er wird tageliet oder tageivise genannt (K 382,4). Sollte das eine Anspielung auf ein Wächterlied sein? Es handelt sich jedenfalls nicht um eine höfische Aufführung von Minnesang. K 378,1; 378,4; 396,4; 397,4. Dieser Dienst des Vasallen gerät, anders als derjenige Sivrits, nie in den Ruch der Standesminderung. Seine Nähe zu , zeigt sich noch einmal, wenn gerade er später das Geleit des höfischen Werbers Hartmuot garantiert.
404
Wie dient man der vrouwe? min neve mähte /an sin ungefüege dane, die ich in bare singen, wem mag er %e dienste als ungefüege tagewise bringen?
(K 382,2—4)
Will man nicht annehmen, daß der rauhe Fruote hier als arbiter eleganter Umgangsformen auftritt und Horant wegen unziemlichen Gesanges kritisiert, dann liegt eine seltsame Vertauschung der Leitbilder vor, denn fuoge zeichnet die Lieder Horants gerade aus:/