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German Pages 249 Year 2008
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1111
Sozialversicherung und Grundgesetz Die Gesetzgebungskompetenz für die Sozialversicherung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) und ihre Bedeutung für die Gestaltung der Sozialsysteme
Von
Jan-Erik Schenkel
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
JAN-ERIK SCHENKEL
Sozialversicherung und Grundgesetz
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1111
Sozialversicherung und Grundgesetz Die Gesetzgebungskompetenz für die Sozialversicherung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) und ihre Bedeutung für die Gestaltung der Sozialsysteme
Von
Jan-Erik Schenkel
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Bucerius Law School Hamburg hat diese Arbeit im Jahre 2007 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-12700-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Für R. J.
Vorwort Die vorliegende Abhandlung lag der Bucerius Law School – Hochschule für Rechtswissenschaft – unter dem Titel „Die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Sozialversicherung – Zur Auslegung von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG“ als Dissertation vor. Die mündliche Prüfung fand am 18. Oktober 2007 statt. Die Arbeit wurde ursprünglich zum Jahreswechsel 2006/07 abgeschlossen. Das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz konnte daher zunächst nur in der Fassung des Gesetzesentwurfs berücksichtigt werden. Aus diesem Grunde wurde die Abhandlung für die Druckveröffentlichung aktualisiert. Dabei fanden Rechtsprechung und neu erschienenes Schrifttum bis Ende 2007, in Einzelfällen noch bis zum Frühsommer 2008 Berücksichtigung. Die Abhandlung entstand während meiner Tätigkeit als Assistent am Lehrstuhl für Öffentliches Recht IV der Bucerius Law School. Mein besonderer Dank gilt dem Lehrstuhlinhaber und Betreuer der Arbeit, Professor Hermann Pünder. Dieser hat mir von Beginn an großes Vertrauen entgegengebracht, mir die selbständige und freie Entwicklung meiner wissenschaftlichen Arbeit ermöglicht und bereitwillig die Wahl eines Dissertationsthemas akzeptiert, das keinen unmittelbaren Bezug zu seinen eigenen Forschungsschwerpunkten aufweist. Die Zusammenarbeit mit ihm war geprägt von seiner Fairness, Toleranz, Geduld und Herzlichkeit. Nicht zuletzt danke ich ihm dafür, dass er die Arbeit wohlwollend und schnell begutachtet hat. Professor Michael Fehling danke ich für die Erstellung eines freundlichen und zugleich kritischen, sorgsam ausdifferenzierten Zweitgutachtens, das wertvolle weiterführende Hinweise enthielt. Zudem stand er mir während der Entstehung der Arbeit mit seinem wissenschaftlichen Rat stets konstruktiv und unterstützend zur Verfügung. Danken möchte ich auch meinem früheren Assistentenkollegen Dr. Mario Martini, der große Teile der fertigen Arbeit gelesen und mich in der „Abgabe-Reife“ des Werkes bestärkt hat, Herrn Peter Heller vom Forschungsnetzwerk Alterssicherung, der mich auf eine Reihe von Fehlern im Manuskript aufmerksam gemacht hat, und meiner Mutter Christiane Schenkel, die die vollständige Arbeit vor der Drucklegung Korrektur gelesen hat. Für eventuell verbliebene Fehler trage selbstverständlich ich alleine die Verantwortung. Schließlich möchte ich Herrn Dr. Florian R. Simon für die Aufnahme der Arbeit in das Programm des Verlages Duncker & Humblot danken. Das Forschungsnetzwerk Alterssicherung der Deutschen Rentenversicherung Bund (FNA) und die Jo-
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Vorwort
hanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung haben die Druckkosten mit großzügigen Zuschüssen gedeckt. Dafür gilt auch diesen Institutionen mein herzlicher Dank. Hamburg, im Juni 2008
Jan-Erik Schenkel
Inhaltsübersicht Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 1 Sozialversicherung als Typus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 2 Die Abgrenzung der Sozialversicherungskompetenz von den Rechtsetzungszuständigkeiten der Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 3 Die Abgrenzung der Sozialversicherungskompetenz von anderen Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 4 Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Abgabenkompetenz und die Abgrenzung des Sozialversicherungsbeitrags von der Steuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 § 5 Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und die Rechtfertigung des sozialen Ausgleichs . . . . . . . . . . 162 § 6 Die Errichtung einer beitragsfinanzierten Sozialversicherung als obligatorische Aufgabe staatlicher Rechtsetzung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Vorschlag für eine Definition des Begriffs „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
Inhaltsverzeichnis Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A. Ziel der Abhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Dogmatische Ausgangsthesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Kompetenzauslegung als Kompetenzenabgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zurückhaltung gegenüber materiellen Gehalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 1 Sozialversicherung als Typus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und ihre Rezeption im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Kindergeld-Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Sozialversicherung als „Gattungsbegriff“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die herrschende Deutung im Schrifttum: Sozialversicherung als Typus . . . . . . . 1. Klassenmerkmale der Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Typische Merkmale der Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Missverständnisse bei der Deutung des Kindergeld-Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Dogmatische Bewertung der Typus-Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Intention: ein Mittelweg zwischen Versteinerung und Entgrenzung der Sozialversicherungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorrang der Länderkompetenzen als Grund für eine enge Auslegung von Bundeskompetenzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Primat der Bundesgesetzgebung als Grund für eine weite Auslegung von Bundeskompetenzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Typus-Denken als Methode der Verfassungsauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Flexibilität als Vorteil des Typus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundsätzliche Einwände gegen das Typus-Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Typus als Ergebnis der historischen Auslegung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Typus-Denken als Verwischung von Kompetenzgrenzen . . . . . . . . . . . . . .
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33 34 34 34 35 36 38
C. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 2 Die Abgrenzung der Sozialversicherungskompetenz von den Rechtsetzungszuständigkeiten der Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A. Zuständigkeitsabgrenzung anhand der Organisations- und Finanzierungsstruktur der Sozialversicherung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 I. Die dominante Rolle von organisationsbezogenen Abgrenzungsmerkmalen nach der herrschenden Auffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
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Inhaltsverzeichnis II. Kompensation eines Beurteilungsspielraums für die Aufgaben der Sozialversicherung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Aufgabenkonkurrenzen zwischen Bund und Ländern im Bereich der sozialen Sicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Länderkompetenz für öffentliche Versicherungsmonopole . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Länderkompetenz für die soziale Sicherung in Form der „Versorgung“ . . . . a) Die Trias aus Sozialversicherung, Fürsorge und Versorgung und die beschränkten Versorgungskompetenzen des Bundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Organisationsbezogene Abgrenzung einer Versorgungskompetenz der Länder von Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 und Nr. 12 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Eignung organisationsbezogener Merkmale zur Lösung von Kompetenzkonflikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
B. Die Abgrenzung des personellen Regelungsbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Beschränkung der Sozialversicherungskompetenz auf Arbeitnehmer und deren Angehörige? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Sozialversicherung als Arbeitnehmerversicherung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Keine Beschränkung auf sozial schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen . . . 3. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die berufsständische Altersversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Kompetenz für die soziale Sicherung von Landes- und Kommunalbediensteten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Streichung von Art. 74 a GG und ihre Folgen für die Zuständigkeiten des Bundes auf dem Gebiet der sozialen Sicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der personelle Geltungsbereich der Länderkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kompetenzrechtliche Konsequenzen für eine Einbeziehung von Landesund Kommunalbediensteten in die bundesgesetzlichen Sozialversicherungszweige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Exkurs: Die Sozialversicherung von Beamten und Art. 33 Abs. 5 GG . . . . . . a) Die Alimentationspflicht des Dienstherrn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Fürsorgepflicht des Dienstherrn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Vorsorgefreiheit als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Die Abgrenzung des sachlich-inhaltlichen Regelungsbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der historisch gesicherte Aufgabenbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Einbeziehung neuer Risiken in die Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Methodische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesetzesauslegung und Wandel der sozialen Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . b) Der Analogieschluss als Methode der Kompetenzauslegung . . . . . . . . . . . . c) Nochmals: die Typus-Lehre als Methode der Kompetenzauslegung . . . . 2. Die Analyse der historisch gesicherten Sozialversicherungsaufgaben – Schlüsse auf die Reichweite der Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das klassische Sozialversicherungsrisiko: eine Kombination aus Personenschaden und Verdienstausfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Reichweite und Grenzen der Sozialversicherungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . aa) Personenschäden ohne Ausfall des Erwerbseinkommens . . . . . . . . . . bb) Erwerbsrisiken ohne Personenschaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45 47 47 49 49 51 54 55 56 56 56 58 58 59 59 60
62 65 66 68 69 70 70 72 72 73 74 75 76 76 79 79 81
Inhaltsverzeichnis cc) dd) ee) ff)
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Ausschluss von Vermögensschäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familienleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausschluss von Sachschäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Keine Beschränkung auf allgemeine Lebensrisiken . . . . . . . . . . . . . . . .
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D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Keine Zuständigkeitsabgrenzung anhand der Organisations- und Finanzierungsstruktur der Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Abgrenzung des personellen Regelungsbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Abgrenzung des sachlich-inhaltlichen Regelungsbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 3 Die Abgrenzung der Sozialversicherungskompetenz von anderen Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 A. Die Fixierung der herrschenden Lehre auf die Abgrenzung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG von Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 und Nr. 11 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 B. Gründe für die gegenseitige Abgrenzung von Bundeskompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gefahr einer Arrondierung der Bundeskompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Materielle Funktionen von Gesetzgebungskompetenzen im Verfassungsgefüge? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beispiele für materiell orientierte Kompetenzinterpretationen . . . . . . . . . . . . . a) Die These von der „bipolaren“ Versicherungsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Grundlage des „Versicherungsprinzips“ . . . 2. Klassifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kritik an einer materiell orientierten Auslegung von Zuständigkeitstiteln . . 4. Konsequenzen der hier vertretenen Auffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Kompetenzkategorien des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Lage vor der Föderalismusreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Lage nach der Föderalismusreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Die Abgrenzung der Sozialversicherungskompetenz von der Zuständigkeit für die öffentliche Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Überschneidungen der sachlich-inhaltlichen und personellen Kompetenzbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nicht von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG erfasste Fürsorgerisiken . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Kompensation von Erwerbs- und Personenrisiken als Leistung der Sozialversicherung und der Fürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kompetenzabgrenzung anhand des Leistungsniveaus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Keine Beschränkung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG auf zufällige Risiken . . . II. Kompetenzabgrenzung anhand der Beitragsfinanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Teleologische Reduktion des Art. 72 Abs. 2 GG n. F.? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die finanzverfassungsrechtliche Funktion des Art. 72 Abs. 2 GG n. F. auf dem Gebiet der sozialen Sicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Reichweite der Finanzverantwortung des Bundes für die Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Finanzverantwortung des Bundes für Sozialversicherungsträger in mittelbarer Staatsverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88 89 92 92 92 93 95 97 99 101 102 103 104 104 105 105 106 107 109 110 110 111 113 114
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Inhaltsverzeichnis b) Die Finanzverantwortung des Bundes für eine Teilfinanzierung beitragsgestützter Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
D. Die Abgrenzung der Sozialversicherungskompetenz von der Zuständigkeit für das privatrechtliche Versicherungswesen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Überschneidungen des sachlich-inhaltlichen und personellen Regelungsbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Keine abschließende Kompetenzabgrenzung anhand der Unterscheidung zwischen staatlichen und privaten Trägern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kompetenzabgrenzung anhand der Gestaltung der Versicherungsverhältnisse . 1. Die Unterscheidung zwischen staatlichen Versicherungsmonopolen und gewinnorientierten Wettbewerbsversicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anwendung auf die Abgrenzung der Sozialversicherungs- von der Privatversicherungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Staatliche Versicherungsmonopole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Versicherungsmonopole in öffentlich-rechtlicher oder privatrechtlicher Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Versicherungsmonopole ohne soziale Umverteilung . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Versicherungstechnik: Umlage- oder Anwartschaftsdeckungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Der soziale Ausgleich als Frage der grundrechtlichen Legitimität staatlicher Versicherungsmonopole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Kein Einfluss des Europäischen Wettbewerbsrechts auf die Interpretation des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wettbewerb zwischen staatlichen Sozialversicherungsträgern . . . . . . . . . . c) Die freiwillige Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) „Sozialversicherung über Privatversicherer“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Beispiele: die private Pflegeversicherung und der Basistarif in der privaten Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kompetenzielle Zuordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gründe für die gegenseitige Abgrenzung von Bundeskompetenzen . . . . . . . . . . . . II. Die Abgrenzung der Sozialversicherungskompetenz von der Zuständigkeit für die öffentliche Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Abgrenzung der Sozialversicherungskompetenz von der Zuständigkeit für das privatrechtliche Versicherungswesen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) . . . . . . . . . .
117 118 120 122 122 124 124 124 125 125 126 127 129 129 133 134 135 138 138 139 140
§ 4 Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Abgabenkompetenz und die Abgrenzung des Sozialversicherungsbeitrags von der Steuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 A. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Sonderfall der Verknüpfung von Sach- und Abgabenkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 B. Der Meinungsstreit über die Abgrenzung von Sozialversicherungsbeitrag und Steuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Lehre vom weiten Begriff des Sozialversicherungsbeitrags . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Lehre vom engen Beitragsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der dogmatische Hintergrund: die Lehre vom „normativen Steuerstaat“ . . . . . . .
144 145 146 148
Inhaltsverzeichnis C. Der Sozialversicherungsbeitrag als legitime Abgabenform der Finanzverfassung . . . I. Zum finanzverfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab für die Abgrenzung von Steuer und Sozialversicherungsbeitrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Ertragskompetenz der Sozialversicherungsträger als legitime Ausnahme von der Haushaltsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der beschränkte Finanzierungszweck des Sozialversicherungsbeitrags . . . . . . . . IV. Gegen den engen Beitragsbegriff: die Entbehrlichkeit eines Äquivalenz- oder Homogenitäts-Kriteriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundrechtsschützende Funktion des engen Beitragsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . 2. Finanzverfassungsrechtliche Funktion des engen Beitragsbegriffs . . . . . . . . . 3. Der Sozialversicherungsbeitrag als verkappte Zwecksteuer? . . . . . . . . . . . . . . . V. Konsequenzen der hier vertretenen Auffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15 151 151 152 154 156 156 156 158 159
D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 § 5 Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und die Rechtfertigung des sozialen Ausgleichs . . . . . . . 162 A. Die ungeklärte Rolle des sozialen Ausgleichs im Verfassungsrecht der Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 B. Zur grundrechtsbeschränkenden Wirkung von Kompetenztiteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entscheidungen zu anderen Kompetenzvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Rechtsprechung zu Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Grundsätzlich keine grundrechtsbeschränkenden Wirkungen von Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
165 165 165 166
C. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG in Kollisionslage zu den Grundrechten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Art. 3 Abs. 1 GG und der Grundsatz der Belastungsgleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorteilsausgleich als einzig denkbarer Belastungsgrund einer nichtsteuerlichen Abgabe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die unterschiedlichen Rechtfertigungsanforderungen an Steuern und nichtsteuerliche Abgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Abgeltung eines individuellen Vorteils als einzig denkbare Rechtfertigung nichtsteuerlicher Abgaben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zulässige Gründe für die Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen jenseits der Abgeltung eines individuellen Vorteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Individuelle Verantwortung für eine Risikoquelle: die Arbeitgeberfinanzierung der Unfallversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Wirtschaftliche und soziale Abhängigkeit: die Arbeitgeberbeiträge in den anderen Zweigen der Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Verhaltenslenkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Arbeitgeberbeiträge für versicherungsfreie und anderweitig versicherte Beschäftigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Beitragsfreie Familienleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Solidarität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorteilsausgleich und sozialer Ausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Keine Gleichsetzung des verfassungsrechtlichen Äquivalenzprinzips mit dem „Versicherungsprinzip“ der Privatversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
170 171
167
172 172 174 175 176 178 181 182 183 184 186 187
16
Inhaltsverzeichnis b) Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Festsetzung äquivalenter Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der soziale Ausgleich als Leistung der Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . aa) Die Versicherungstechnik des Umlageverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die einkommensbezogene Beitragsbemessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Sichtung der einschlägigen Freiheitsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Freiheitsgrundrechte der Versicherten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die allgemeine Handlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die negative Vereinigungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Berufsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Eigentumsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundrechtsschutz der Arbeitgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
188 189 190 192 193 193 193 193 194 194 195 196 196 196
D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 § 6 Die Errichtung einer beitragsfinanzierten Sozialversicherung als obligatorische Aufgabe staatlicher Rechtsetzung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 A. Sozialstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 B. Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das weitgehende Fehlen sozialer Grundrechte im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Interpretation von Freiheitsrechten als staatliche Schutzpflichten . . . . . . . . . . III. Eigentumsgrundrecht und Vertrauensschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Vereinigungsfreiheit und Zugang zur Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
203 203 204 205 207
C. Art. 87 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 D. Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 E. Soziale Garantien des Völker- und Europarechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Organisationsrechtliche Neutralität des Europäischen Unionsrechts und der Europäischen Sozialcharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Art. 9 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bindungswirkung nach Art. 25 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Pflicht zur menschenrechtskonformen Auslegung des Grundgesetzes . . . . . .
211 212 214 214 215
F. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Vorschlag für eine Definition des Begriffs „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
Einführung A. Ziel der Abhandlung Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG sagt in fünf knappen Worten, dass der Bund die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit für „die Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung“ hat. Hinter dieser Formulierung verbirgt sich ein in fünf Zweige gegliedertes staatliches Transfersystem, dessen jährliches Beitragsaufkommen inzwischen das Volumen des Bundeshaushaltes übersteigt 1 und in dessen Umverteilungsmechanismen über 90 % der Bevölkerung als Pflichtversicherte, freiwillige Versicherte, Mitversicherte oder Leistungsempfänger 2 einbezogen sind. Seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts befindet sich die Sozialversicherung in einer zunehmenden finanziellen Schieflage, unter anderem verursacht durch die Überalterung der Gesellschaft, die Stagnation versicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse und die hohe Arbeitslosigkeit; in der Krankenversicherung kommen die Kosten des medizinischen Fortschritts hinzu. 3 Da der Gesetzgeber dieses Problems trotz einer wahren Flut von Gesetzen 4 zur Justierung des bestehenden Systems nicht Herr geworden ist, hat es in den letzten Jahren eine Reihe von Vorschlägen zur grundlegenden Umgestaltung der sozialen Sicherungssysteme gegeben. Als Beispiele seien nur genannt: – die Ausweitung der Sozialversicherung auf die gesamte Erwerbsbevölkerung 5;
1 Ausführliche statistische Angaben in Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Sozialbudget 2006. 2 Nicht alle Empfänger von Sozialversicherungsleistungen haben rechtlich den Status eines Versicherten. Das gilt etwa für Sozialhilfeempfänger, die nach § 264 SGB V Anspruch auf Leistungen der Krankenversicherung haben, ohne Mitglied des verpflichteten Sozialversicherungsträgers zu sein; vgl. dazu Hänlein, in: ders./Kruse, Krankenversicherungsrecht, Rn. 54 ff. 3 Vgl. zu den Gründen für die finanzielle Schieflage der Sozialversicherung statt vieler nur Bieback, Bürgerversicherung, S.15 ff., 24 f.; F. Kirchhof, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR V, §125 Rn. 17; Hauser, in: v. Maydell/Ruland, SRH, A. 5. Rn. 29 ff.; Tennstedt, in: v. Maydell/Ruland, SRH, A. 2. Rn. 81 ff. 4 Siehe zur Reformgesetzgebung der letzten Jahrzehnte die Überblicke bei Muckel, Sozialrecht, § 8 Rn. 1 ff.; Tennstedt, in: v. Maydell/Ruland, SRH, A. 2. Rn. 89 ff. 5 Sog. Modell einer „Bürgerversicherung“, im rechtswissenschaftlichen Schrifttum auch als „Volksversicherung“ bezeichnet. Auslöser für die Diskussion um die Bürgerversicherung waren die Vorschläge zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung, die von einigen Mitgliedern der Rürup-Kommission getragen wurden; siehe Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung, Bericht der Kommission, S. 143 ff.; siehe aus der verfassungsrechtlichen Diskussion um die Bürgerversicherung: Axer, in: GS Heinze, S. 1 ff.; Beer/Klahn, SGb
18
Einführung
– als Variante dazu: eine allgemeine Versicherungspflicht mit Wahlrecht zwischen staatlicher und privater Versicherung 6; – der Übergang von einkommensbezogenen Sozialversicherungsbeiträgen zu einheitlichen Pauschalbeiträgen 7 oder gar zu am individuellen Risiko orientierten Versicherungsprämien 8; – die Ersetzung der Umlagefinanzierung durch das in der Privatversicherung übliche, auf einen Kapitalstock gestützte Anwartschaftsdeckungsverfahren 9; – die Transformation der Rentenversicherung in eine steuerfinanzierte Grundsicherung, die durch eine beitragsfinanzierte zweite Säule staatlicher Sicherung und/ oder eine private Altervorsorge ergänzt werden kann 10; – die vollständige Privatisierung von Sozialversicherungszweigen 11.
2004, S. 13 ff.; Bethge, in: Bittburger Gespräche 2004/II, S. 93 ff.; Bieback, Soziale Sicherheit 2003, S. 416 ff.; ders., in: Engelen-Kefer, Bürgerversicherung, S. 126 ff.; ders., Bürgerversicherung; Brall/Voges, Bürgerversicherung; Isensee, NZS 2004, S. 393 ff.; F. Kirchhof, NZS 2004, S. 1 ff.; Muckel, SGb 2004, S. 583 ff., 670 ff.; Riedel, Die Sozialversicherung 2003, S. 287 ff.; Schmidt, SGb 2004, S. 732 ff.; Schmidt-Aßmann, NJW 2004, S. 1689 (1694); Sodan, ZRP 2004, S. 217 ff.; Steiner, in: Bittburger Gespräche 2004/II, S. 139 ff.; Storr, SGb 2004, S. 279 ff.; Unverhau, ZBR 2005, S. 154 ff.; Wieland, VSSR 2003, S. 259 ff.; zur Vereinbarkeit mit dem EG-Vertrag Gundel, EuR 2004, S. 575 ff.; aus volkswirtschaftlicher Sicht Knappe, in: Bittburger Gespräche 2004/II, S. 41 ff.; Rürup, in: Bittburger Gespräche 2004/II, S. 55 ff.; aus rechtspolitischer Sicht Wallrabenstein, SGb 2004, S. 24 ff. 6 Siehe aus der politischen Diskussion zu dieser Variante der Bürgerversicherung: Projektgruppe Bürgerversicherung des SPD-Vorstandes, Bericht, S. 10 f., 22 ff.; Andeutungen über eine Einbeziehung der privaten Krankenversicherungsunternehmen in das Modell der Bürgerversicherung finden sich auch im Bericht der Rürup-Kommission; siehe Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung, Bericht der Kommission, S. 160. Verfassungsrechtliche Bewertungen zu diesem Modell bei Bieback, Bürgerversicherung, S. 158 ff.; Neumann, in: Engelen-Kefer, Bürgerversicherung, S. 156 ff. 7 Siehe die Vorschläge für eine „Pauschalprämie“ (oder „Kopfpauschale“) bei Knappe/Arnold, Pauschalprämie; Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung, Bericht der Kommission, S. 161 ff.; Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2004/05, S. 387 ff.; zu Recht kritisch zur Verwendung des Begriffs „Prämie“, dessen versicherungsmathematischer Bedeutung das Pauschalbeitrags-Modell nicht entspricht, Wallrabenstein, SGb 2004, S. 24 (29); vgl. zur Einführung von Pauschalbeiträgen im Krankenversicherungsrecht der Niederlande Walser, ZRP 2005, S. 273 ff. 8 So der Vorschlag der von der CDU eingesetzten Herzog-Kommission zur Prämiengestaltung in der Krankenversicherung; siehe Kommission „Soziale Sicherheit“, Bericht, S. 23. 9 Siehe zur Rentenversicherung Frankfurter Institut, Rentenkrise; zur Krankenversicherung Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2004/05, S. 393 ff. 10 Siehe die Vorschläge bei Miegel, Grundsicherung; Rust, ZSR 2000, S. 674 ff.; vgl. auch B. Kaltenborn, Grundsicherung; Strengmann-Kuhn, Soziale Sicherheit 2007, S. 245 ff.; eingehend dazu aus verfassungsrechtlicher Sicht Lenze, Staatsbürgerversicherung; kritisch Neumann, NZS 1998, S. 401 (405 f.); Ruland, ZRP 1987, S. 354 ff. 11 Siehe dazu aus dem rechtswissenschaftlichen Schrifttum Hase, SDSRV 51 (2004), S. 7 (24 f.); Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 122 f.; Schmidt-Aßmann, NJW 2004, S. 1689 (1695).
B. Dogmatische Ausgangsthesen
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Ob diese Reformvorschläge die finanziellen Probleme der Sozialversicherung lösen können, sei dahingestellt. Auch soll keiner der genannten Diskussionsbeiträge im Rahmen dieser Abhandlung umfassend auf seine Verfassungsmäßigkeit untersucht werden. Allgemein werfen die genannten Vorschläge aber die Frage auf, wie offen Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG für eine grundlegende Umgestaltung der sozialen Sicherungssysteme ist. Diese Frage gewinnt an Dringlichkeit, weil sich das Bundesverfassungsgericht und mehr noch Teile des Schrifttums bei der Interpretation des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG stark an der historisch gewachsenen Erscheinungsform der Sozialversicherung orientieren. 12 Eine allgemeine Vergewisserung über Inhalt und Grenzen der Gesetzgebungszuständigkeit für die Sozialversicherung erscheint daher angezeigt. Diese Vergewisserung soll die vorliegende Abhandlung liefern. Dabei stellt es ein zentrales Anliegen dar, der bisher dominierenden historisch-genetischen Auslegung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG eine verstärkt teleologisch und insbesondere systematisch orientierte Interpretation entgegenzusetzen. Die Auslegung der Sozialversicherungskompetenz soll aus ihrer Funktion als Zuständigkeitsregelung sowie aus ihrem Verhältnis zu den Gesetzgebungskompetenzen der Länder, zu anderen Zuständigkeitstiteln der Bundesgesetzgebung, zur Finanzverfassung, zu den Grundrechten, zum Sozialstaatsprinzip sowie zu sozialen Gewährleistungen des Völkerund Europarechts entwickelt werden. Auf diese Weise soll ein rationaleres Verständnis des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gewonnen und zugleich nachgewiesen werden, dass die betont historische Orientierung der herrschenden Auffassung zu einem ungenauen Verständnis der Sozialversicherungskompetenz und teilweise zu falschen Ergebnissen führt. Außerdem sollen Tendenzen zu einer materiellen Aufladung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, dem unter dem Banner der schillernden Begriffe „Versicherungsprinzip“ und „Solidarprinzip“ einerseits grundrechtsschützende, andererseits grundrechtsbeschränkende Gehalte zugesprochen werden, einer kritischen Prüfung unterzogen werden.
B. Dogmatische Ausgangsthesen I. Kompetenzauslegung als Kompetenzenabgrenzung Die Art. 70 ff. GG verteilen die Gesetzgebungszuständigkeiten zwischen Bund und Ländern. Daher ist es naheliegend, dass die Auslegung eines Kompetenztitels primär der Abgrenzung dieser Gesetzgebungszuständigkeit von anderen Kompetenzzuweisungen dient. Kompetenzauslegung ist somit in erster Linie Kompetenzenabgrenzung. Da die Abgrenzungsfunktion der Kompetenznormen unbestritten 13 Näher dazu § 1 B. II. 3. Zwar nimmt Stettner auf der Grundlage seines betont materiellen Kompetenzverständnisses an, dass „nicht Abgrenzung, Schrankenziehung, Denken von der Grenze, dem Konflikt her, sondern inhaltsbewusste, positive, kooperative, flexible und transparente Kompetenzwal12 13
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Einführung
ist und zudem im Wortlaut des Art. 70 Abs. 2 GG prägnant zum Ausdruck kommt, wird diese Annahme als Axiom behandelt und im Weiteren bedingungslos vorausgesetzt. Entsprechend wird eine zentrale Aufgabe im Rahmen dieser Abhandlung in der Bestimmung der Grenze zwischen der Sozialversicherungskompetenz und anderen Gesetzgebungszuständigkeiten liegen. Damit stellt sich aber bereits die erste Frage: Muss Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nur von den Länderzuständigkeiten abgegrenzt werden oder auch von anderen Bundeskompetenzen? Die verbreitete Auffassung, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, sei auch von anderen Kompetenztiteln der Bundesgesetzgebung, insbesondere von der öffentlichen Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) und dem privatrechtlichen Versicherungswesen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) abzugrenzen 14, behauptet eine Abgrenzungsfunktion der Bundeszuständigkeiten untereinander, die einer näheren Überprüfung bedarf.
II. Zurückhaltung gegenüber materiellen Gehalten Nach dem zuvor Gesagten besteht die Aufgabe einer Kompetenzauslegung lediglich in der Abgrenzung von anderen Zuständigkeitszuweisungen. Doch stellt sich die Frage, ob sich eine Interpretation der Sozialversicherungskompetenz darin erschöpft. Die Antwort hängt davon ab, ob sich die Funktion des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG darauf beschränkt, den zuständigen Gesetzgeber zu bestimmen oder ob die Vorschrift darüber hinausgehende materielle Gehalte aufweist, aus denen sich einerseits besondere Gestaltungsmöglichkeiten, andererseits besondere Bindungen für die Tätigkeit des Gesetzgebers ergeben. Zu denken ist etwa an eine grundrechtsbeschränkende Wirkung der Sozialversicherungskompetenz oder an die Frage, ob aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG eine obligatorische Staatsaufgabe folgt, die den Gesetzgeber zur Schaffung und Beibehaltung eines beitragsfinanzierten Systems der sozialen Sicherung verpflichtet. Auch die im Schrifttum anzutreffenden Begründungen für die Auffassung, dass Bundeskompetenzen untereinander abgegrenzt werden müssen, postulieren zum Teil materielle, insbesondere garantierende und grundrechtsschützende Funktionen der Kompetenzabgrenzung. Das betrifft etwa die Ansicht, dass die soziale Sicherung von Personen, die selbst nicht zu eigenen Beitragszahlungen in der Lage sind, als versicherungsfremde Leistung dem Kompetenzbereich für die öffentliche Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) zuzuordnen sei und somit nicht von den Abgabenschuldnern des Sozialversicherungsbeitrags finanziert werden dürfe. 15 Gleiches gilt für die Auffassung, dass aus den Kompetenztiteln für die Sozialversitung (...) im ‚Staat der Industriegesellschaft‘ am Platze“ sei (Kompetenzlehre, S. 29). Jedoch will er den Kompetenzvorschriften bei all dem „auch weiterhin die ratio einer bereichsspezifischen Abgrenzung hoheitlicher Gewalt“ belassen (ebenda, S. 12). Stettner bezweifelt somit nicht, dass die Kompetenzvorschriften eine Abgrenzungsfunktion haben, sondern lediglich, dass dies ihre einzige Funktion ist. Näher zu der Frage, ob die Zuständigkeitstitel des Grundgesetzes auch materielle Funktionen im Verfassungsgefüge haben, § 3 B. II. und § 5. 14 Siehe dazu § 3 A. 15 Siehe dazu § 3 B. II. 1. b).
C. Gang der Darstellung
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cherung und für das privatrechtliche Versicherungswesen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) eine bipolare Versicherungsverfassung folge, die es dem Gesetzgeber verbiete, den Markt der Privatversicherung gänzlich zu beseitigen oder die privatautonome Abschluss- und Gestaltungsfreiheit der privaten Versicherungsunternehmen zu stark zu regulieren. 16 Die Primärfunktion der Kompetenztitel aus Art. 73, 74 GG als Zuständigkeitszuweisungen an den Bundesgesetzgeber sowie das Demokratieprinzip sprechen allerdings dafür, dass Bund und Länder innerhalb der Grenzen ihrer Kompetenzen jeweils frei darin sind, ob und wie sie ihre Rechtsetzungsaufgaben wahrnehmen. Daher wird hier die These aufgestellt, dass Art.74 Abs.1 Nr.12 GG über die Zuweisung einer Gesetzgebungszuständigkeit hinaus keine normativen Gehalte aufweist. Die materiellen Grenzen der Sozialversicherungsgesetzgebung wären demnach anderen Vorschriften, insbesondere den Grundrechten zu entnehmen. Diese Arbeitsthese stellt allerdings kein Axiom dar. Vielmehr wird sich im Rahmen dieser Abhandlung erst erweisen, ob sie einer kritischen Überprüfung standhält.
C. Gang der Darstellung Die folgende verfassungsrechtliche Erörterung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gliedert sich in sechs Abschnitte (§§ 1 bis 6). Am Ende jedes Abschnitts findet der eilige Leser eine Zusammenfassung. In § 1 wird die herrschende Interpretation des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als historisch gewachsener „Typus“ dargestellt und einer kritischen Prüfung unterzogen. Dies geschieht am Anfang der Abhandlung, um für deren weiteren Verlauf zu klären, ob die herrschende Auffassung in methodischer Hinsicht überzeugt und deshalb für die weitere Interpretation des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG in den folgenden Abschnitten der Abhandlung zugrunde gelegt werden kann. Die beiden folgenden Abschnitte widmen sich der Abgrenzung des Art.74 Abs. 1 Nr. 12 GG von anderen Gesetzgebungskompetenzen. § 2 behandelt die Primärfunktion des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Zuständigkeitszuweisung an den Bund und die daraus folgende Notwendigkeit zur Bildung von geeigneten Abgrenzungsmerkmalen zum Bereich der ausschließlichen Länderzuständigkeiten. In § 3 geht es um die Abgrenzung der Sozialversicherungskompetenz von anderen Bundeskompetenzen. Zunächst wird in diesem Abschnitt die Frage geklärt, ob und aus welchen Gründen die Sozialversicherungskompetenz von anderen Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes unterschieden werden muss. Auf der Grundlage der dabei gewonnenen Erkenntnisse wird anschließend die Sozialversicherungskompetenz von den Bundeszuständigkeiten für die öffentliche Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) und für das privatrechtliche Versicherungswesen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) abgegrenzt. Unter B. II. ist bereits darauf hingewiesen worden, dass die Trennung der Sozialversiche16
Siehe dazu § 3 B. II. 1. a).
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rungskompetenz von den Zuständigkeitstiteln aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 und Nr. 11 GG von Teilen des Schrifttums mit grundrechtsschützenden Aussagen über die Verfassungswidrigkeit einer Beitragsfinanzierung von versicherungsfremden Leistungen sowie über die Existenz einer bipolaren Versicherungsverfassung verbunden wird. Deshalb spielt die Frage, ob die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes auch materielle Funktionen im Verfassungsgefüge haben, im Rahmen des § 3 bereits eine wichtige Rolle. § 4 widmet sich dem Verhältnis des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zur Finanzverfassung. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG stellt nach ganz herrschender Auffassung den Sonderfall einer Sachkompetenz dar, die zugleich eine Finanzkompetenz zur Regelung einer nichtsteuerlichen Abgabe enthält: des Sozialversicherungsbeitrags. Diese Sonderstellung der Sozialversicherungskompetenz erfordert eine Abgrenzung von den abschließend in den Art. 105 ff. GG geregelten Steuerkompetenzen. Eng damit verbunden ist die Frage, ob der Sozialversicherungsbeitrag eine rechtfertigungsbedürftige Ausnahme von einer Grundentscheidung der Verfassung für eine Finanzierung des Staates durch Steuern darstellt und daher seine Erhebung einer besonderen Legitimation bedarf. In § 5 wird die Frage behandelt, ob Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG eine grundrechtsbeschränkende Wirkung zur Rechtfertigung der traditionellen Grundrechtseingriffe im Sozialversicherungsrecht – insbesondere der Pflichtmitgliedschaft und der Mechanismen sozialer Umverteilung – entfaltet. Die Antwort hängt in erster Linie davon ab, ob sich die normativen Gehalte der Sozialversicherungskompetenz und der Grundrechte inhaltlich widersprechen und daher in einer auflösungsbedürftigen Kollisionslage befinden. Um festzustellen, ob eine derartige Normenkollision besteht, müssen die Vorgaben der Grundrechte für die Ausgestaltung des Sozialversicherungsrechts einer näheren Betrachtung unterzogen werden. § 6 behandelt nochmals das in Teilaspekten bereits in den §§ 3 und 5 angesprochene Verhältnis der Kompetenzvorschrift des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zu materiellen Verfassungsbestimmungen. Abschließend geht es darum, ob das Grundgesetz einen verfassungsrechtlichen Auftrag zur Schaffung von beitragsfinanzierten staatlichen Sicherungssystemen enthält, der den Gesetzgeber zwingt, von der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG Gebrauch zu machen. Im Rahmen dieser Problemstellung wird auch die Einwirkung von sozialen Garantien des Völker- und Europarechts auf die Auslegung des Grundgesetzes erörtert. Die Abhandlung endet mit einem Resümee in Form einer kurzen Schlussbetrachtung und einem Vorschlag für eine Definition des Begriffs „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG.
§ 1 Sozialversicherung als Typus? A. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und ihre Rezeption im Schrifttum I. Das Kindergeld-Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Sozialversicherung als „Gattungsbegriff“ Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Sozialversicherungskompetenz des Bundes wird geprägt durch die dogmatische Grundkonzeption, die das Gericht im Kindergeld-Urteil 1 von 1960 entwickelt hat. In dieser Entscheidung hat das Gericht den in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG verwendeten Begriff „Sozialversicherung“ als verfassungsrechtlichen „Gattungsbegriff“ bezeichnet, der alles umfasse, was sich der Sache nach als Sozialversicherung darstelle. 2 Auch neue Sachverhalte seien darunter zu fassen, soweit sie in ihren wesentlichen Strukturelementen, insbesondere der organisatorischen Bewältigung dem Bild entsprächen, das durch die klassische Sozialversicherung geprägt sei. Zum Wesen der Sozialversicherung gehöre jedenfalls die gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit. Außerdem sei für die Sozialversicherung ein soziales Bedürfnis nach Ausgleich besonderer Lasten, die Organisation in selbständigen Anstalten oder Körperschaften des Öffentlichen Rechts sowie die Finanzierung durch Beiträge der Beteiligten kennzeichnend. An dieser Grundkonzeption hält das Bundesverfassungsgericht bis heute fest. 3 Zum Verständnis seiner Aussagen hat das Gericht allerdings nur wenig beigetragen. Insbesondere hat es bis heute nicht erklärt, was es unter einem „Gattungsbegriff“ versteht, obwohl es diesen Begriff inzwischen auch bei der Auslegung von anderen Kompetenztiteln 4 verwendet. Ebenso ist die Bedeutung der einzelnen Merkmale, die zum „Wesen“ der Sozialversicherung gehören sollen, kaum einmal BVerfGE 11, S. 105 (111–113). Zu Recht hat Butzer diese Umschreibung als Zirkelschluss bezeichnet (Fremdlasten, S. 158); ähnlich Rolfs, Versicherungsprinzip, S.101: es handele sich um kaum mehr als eine petitio principi. 3 Siehe BVerfGE 23, S. 12 (23); 62, S. 354 (366); 63, S. 1 (35); 75, S. 108 (146); 88, S. 203 (313); 113, S. 167 (195); 114, S. 196 (221). 4 Siehe zu Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG BVerfGE 81, S. 156 (186); ohne ausdrückliche Verwendung des Terminus „Gattungsbegriff“, aber mit inhaltlich gleicher Tendenz BVerfGE 106, S.62 (133); ähnlich zum privatrechtlichen Versicherungswesen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) BVerfGE 103, S. 197 (217). 1 2
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§ 1 Sozialversicherung als Typus?
präzisiert worden. 5 Als einzige inhaltliche Ergänzung zum Kindergeld-Urteil hat das Gericht in späteren Entscheidungen verlangt, dass neue gesetzliche Regelungen dem Bild der klassischen Sozialversicherung nicht nur in der organisatorischen Durchführung, sondern auch hinsichtlich der abzudeckenden Risiken entsprechen müssen. 6
II. Die herrschende Deutung im Schrifttum: Sozialversicherung als Typus Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird im Schrifttum überwiegend als Beschreibung eines Typus gedeutet. 7 Diese Annahme basiert auf der methodischen Unterscheidung zwischen Klassenbegriff und Typus. 8 Klassenbegriffe werden in dieser Gegenüberstellung als Begriffe verstanden, die durch abschließende Merkmale definiert sind. Ein Sachverhalt kann dementsprechend nur unter den Klassenbegriff subsumiert werden, wenn er dessen Merkmale vollständig erfüllt. 9 Ein Typus soll demgegenüber einen offeneren Inhalt haben: er wird nicht abschließend definiert, sondern durch eine veränderbare Reihe von „typischen“ Merkmalen beschrieben. Ob ein Sachverhalt dem Typus entspricht, wird im Wege eines Vergleichs zwischen dem Sachverhalt und den typischen Merkmalen ermittelt. Dabei kann der Sachverhalt durchaus dem Typus zugerechnet werden, ohne alle typischen Merkmale zu erfüllen. 10 Die Subsumtion ist beim Typus folglich unvollständig. 11 5 Soweit das Bundesverfassungsgericht zu einzelnen Merkmalen näher Stellung genommen hat, hat es sich jeweils für eine denkbar weite Auslegung entschieden. So hat das Gericht etwa das Merkmal „Finanzierung durch Beiträge der Beteiligten“ nicht auf die klassischen Beitragspflichtigen – Versicherte und Arbeitgeber – beschränkt, sondern auch die Erhebung der Künstlersozialabgabe bei den Vermarktern von künstlerischen und publizistischen Leistungen für zulässig erachtet; siehe BVerfGE 75, S. 108 (147, 149). 6 BVerfGE 75, S. 108 (146); 87, S. 1 (34); 88, S. 203 (313). 7 Siehe Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 26; Boecken, Pflichtaltersversorgung, S. 260: keine abschließende Aufzählung von Strukturelementen; Butzer, Fremdlasten, S. 159 ff.; Hase, Versicherungsprinzip, S. 6, 17, 201 ff. mit weiteren Nachweisen in Fußn. 205; Isensee, Umverteilung, S. 44 f.; ders., SDSRV 35 (1992), S. 7 (18); Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG III, Art. 74 Rn. 67; W. Leisner, Sozialversicherung, S. 75; S. Weber, Krankenversicherung, S. 209; Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 100 Rn. 190; Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 102; Wertenbruch, in: FS Wannagat, S. 687 (689 ff.); kritisch dazu Berne, Arbeitslosenversicherung, S.178 ff.; Bieback, VSSR 2003, S.1 (10 f.); tendenziell auch Werner, Leistungsfähigkeit, S. 77. 8 Allgemein dazu Bydlinski, Methodenlehre, S. 543 ff.; Engisch, Konkretisierung, S. 237 ff., 308 f.; Hassemer, Typus; Larenz, Methodenlehre, S. 216 ff., 461 ff.; Leenen, Typus; weitere Nachweise bei Butzer, Fremdlasten, S. 159 in Fußn. 148. 9 Larenz, Methodenlehre, S. 221. 10 Siehe Engisch, Konkretisierung, S. 242: „Variabilität und Graduierbarkeit der Merkmale“; Larenz, Methodenlehre, S. 221, 462, 468 ff.; Leenen, Typus, S. 34: „elastisches Merkmalgefüge“. 11 Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 175.
A. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
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Zum Beispiel könnte man die gemeinsame Finanzierung durch Versicherte und Arbeitgeber als typisches Merkmal der Sozialversicherung ansehen. 12 Wenn die gesetzliche Unfallversicherung davon abweichend nur durch Beiträge der Arbeitgeber finanziert wird, verhindert das jedoch nicht ihre Zuordnung zum Typus „Sozialversicherung“, soweit die Unfallversicherung nur genügend weitere typische Merkmale einer Sozialversicherung aufweist. Allerdings hat sich inzwischen die Auffassung durchgesetzt, dass das Bundesverfassungsgericht innerhalb des Typus einen festen Kern definiert habe, den ein Sachverhalt mindestens erfüllen müsse, um als Sozialversicherung eingeordnet zu werden. 13 Diese Annahme läuft darauf hinaus, dass das Tatbestandsmerkmal „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG eine Kombination aus Klassenbegriff und Typus darstellt. 14 Ein Gesetz muss demnach zumindest alle zwingenden Merkmale erfüllen, um unter die Gesetzgebungszuständigkeit für die Sozialversicherung subsumiert werden zu können. Dies alleine ist jedoch nicht ausreichend, weil die Regelung zusätzlich noch eine hinreichende Zahl der typischen Merkmale einer Sozialversicherung aufweisen muss. Es handelt sich somit um eine „zweistufige Erkenntnismethode“ 15, bei der auf die Subsumtion unter die Klassenmerkmale (1.) ein Vergleich mit den typischen Merkmalen (2.) folgt. 1. Klassenmerkmale der Sozialversicherung Gemeinhin werden der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vier Klassenmerkmale entnommen, welche die Mindestvoraussetzungen einer Sozialversicherung darstellen sollen: 16 – die Deckung eines in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit. Bei dieser Formulierung handelt es sich um eine bejahrte, auf Alfred Manes zurückgehende 17 allgemeine Definition des Begriffs „Versicherung“, unter die sowohl die Sozialversicherung als auch die PrivatverSelbiges tut Butzer (Fremdlasten, S. 171, 315). Siehe Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 28; Butzer, Fremdlasten, S. 167 ff.; Hase, Versicherungsprinzip, S. 202; Isensee, Umverteilung, S. 45; W. Leisner, Sozialversicherung, S. 75; vgl. auch Werner, Leistungsfähigkeit, S. 75. 14 So ausdrücklich Butzer, Fremdlasten, S. 171 ff. Allgemein zur Möglichkeit, Klassenbegriff und Typus zu kombinieren, Larenz, Methodenlehre, S. 223. 15 Begriff nach Butzer, Fremdlasten, S. 171. 16 Siehe Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 87 Rn. 72; Butzer, Fremdlasten, S. 168 ff.; Isensee, NZS 2004, S. 393 (395); Muckel, SGb 2004, S. 583 (585 ff.). 17 Allerdings bezieht sich das Bundesverfassungsgericht im Kindergeld-Urteil (BVerfGE 11, S. 105, 112) nicht direkt auf Manes, sondern zitiert eine Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSGE 6, S. 213, 218, 227 f.) als Quelle. Das Bundessozialgericht stützt sich seinerseits auf Walter Bogs (Grundfragen, S. 24) und Manes (Versicherungswesen, S. 3). Näher zur Rezeptionsgeschichte Butzer, Fremdlasten, S. 181 ff., der von einem „kettenzitiererischen Zugriff“ des Bundesverfassungsgerichts spricht (ebenda, S. 209). 12 13
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sicherung gefasst werden soll. 18 Das Bundesverfassungsgericht hat somit zum Ausdruck gebracht, dass es die Sozialversicherung als Versicherung versteht. Damit hat das Gericht in dem seit der Kaiserzeit ausgefochtenen Streit über die Frage, ob die Sozialversicherung ein auf Gegenseitigkeit beruhendes Versicherungsverhältnis oder eine einseitige Fürsorgemaßnahme des Staates darstelle 19, formal für die Versicherungs-Theorie Partei genommen. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht diese Aussage bereits im Kindergeld-Urteil mit dem Hinweis relativiert, dass die Sozialversicherung von jeher auch ein Stück staatlicher Fürsorge enthalte. 20 Im Schrifttum wird das Merkmal „Bedarfsdeckung durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit“ auch als das „Versicherungsprinzip“ 21 der Sozialversicherung bezeichnet, womit freilich in der Regel grundrechtsschützende Wertungen verbunden werden 22, die sich das Gericht 23, soweit es um die Auslegung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG geht, nicht zu eigen gemacht hat; – der Ausgleich sozialer Lasten. Im Schrifttum wird dieses Merkmal auch als sozialer Ausgleich 24 oder Solidarausgleich 25 bezeichnet oder gar zu einem grundrechtsbeschränkenden Solidarprinzip 26 aufgewertet. Es beschreibt nach herrschender Auffassung die soziale Umverteilung, die in der Sozialversicherung unter anderem durch die Erhebung einkommensbezogener Beiträge und die Finanzierung im Umlageverfahren bewirkt wird. 27 In dieser Lesart wird der soziale Ausgleich als Durchbrechung des Versicherungsprinzips verstanden, das an sich nur eigennützige Beitragsleistungen, aber keine Umverteilungsmechanismen in der Versichertengemeinschaft erlaube 28; – die Finanzierung durch Beiträge der Beteiligten; 18 Kritisch zur Brauchbarkeit dieser Definition für die Abgrenzung von Gesetzgebungszuständigkeiten Schnapp, VSSR 1995, S. 101 (114). 19 Siehe zur historischen Kontroverse zwischen Fürsorge-Theorie und Versicherungs-Theorie Butzer, Fremdlasten, S. 212 ff.; Hase, Versicherungsprinzip, S. 18 ff.; Wannagat, Sozialversicherungsrecht, S. 9 ff., jeweils mit zahlreichen Nachweisen. 20 Siehe BVerfGE 11, S. 105 (114). 21 Siehe etwa Gohla, Risikostrukturausgleich, S. 97 ff.; Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S. 177 f.; ders., ZESAR 2007, S. 139 (140); W. Leisner, Sozialversicherung, S. 76; Sodan/Gast, Risikostrukturausgleich, S. 113. 22 Näher dazu § 3 B. II. 1. b). 23 Siehe BVerfGE 11, 105 (114); 113, S. 167 (196); ebenso BSGE 81, S. 276 (282 f.). 24 Boecken, Pflichtaltersversorgung, S. 263; Butzer, Fremdlasten, S. 169. 25 Isensee, Umverteilung, S. 17 ff., 22 ff., 46 ff.; P. Kirchhof, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR V, § 119 Rn. 111; Kloepfer, VSSR 1974, S. 156 (157). 26 Eingehend dazu § 5. 27 Kritisch zur Gleichsetzung von sozialem Ausgleichs und sozialer Umverteilung allerdings Hase, Versicherungsprinzip, S. 254 ff. 28 Siehe Isensee, Umverteilung, S. 45: versicherungsmäßiger Risikoausgleich und sozialer Lastenausgleich seien „coincidentia oppositorum“; Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S. 179; Kleemann, Pflegeversicherung, S. 99; Ruland, in: Schmidt-Aßmann, Besonderes Verwaltungsrecht, 7. Kap. Rn. 94; Schnapp/M. Kaltenborn, Friedensgrenze, S. 20; weitere Nachweise bei Hase, Versicherungsprinzip, S. 107 in Fußn. 7.
A. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
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– die Organisation in Anstalten oder Körperschaften des Öffentlichen Rechts. Diese Aufzählung von vier Merkmalen unterschlägt allerdings, dass das Bundesverfassungsgericht seiner Beschreibung der Sozialversicherung inzwischen noch ein weiteres, fünftes Merkmal hinzugefügt hat: die Beschränkung auf Risiken, die dem Bild der klassischen Sozialversicherung entsprechen. 29 Dieses Merkmal ist keineswegs mit der Bedarfsdeckung durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit gleichzusetzen 30, weil die Klassifizierung der Sozialversicherung als Versicherung noch nichts darüber aussagt, welche Risikoarten zum Gegenstand einer Sozialversicherung gemacht werden dürfen. Ohne eine Beschränkung auf bestimmte soziale Risiken wäre etwa auch eine KfZ-Haftpflicht- oder Hausrats-Sozialversicherung möglich. 31 2. Typische Merkmale der Sozialversicherung Da das Wesen eines Typus gerade darin liegen soll, dass die typischen Merkmale nicht abschließend bestimmt werden können, ist bis heute keine Übereinkunft über einen Kanon der typischen Merkmale der Sozialversicherung erzielt worden, welche die oben aufgeführten Klassenmerkmale ergänzen sollen. Als typische Merkmale einer Sozialversicherung werden etwa genannt: – die Beschränkung auf Arbeitnehmer und soziale Notlagen32; – der Charakter als Zwangsversicherung 33; – die teilweise Finanzierung durch Steuerzuschüsse aus dem Bundeshaushalt34; 29 Siehe BVerfGE 75, S.108 (146); 88, S.203 (313); vgl. auch BVerfGE 113, S.167 (196) zur Familienversicherung als Leistung, die nach Auffassung des Gerichts das Bild der klassischen Sozialversicherung mitgeprägt hat. 30 So aber Butzer, Fremdlasten, S. 169. Schon eher lässt sich vertreten, dass die Beschränkung der Sozialversicherung auf soziale Risiken bereits in dem vom Bundesverfassungsgericht verwendeten Merkmal „Bedürfnis nach Ausgleich sozialer Lasten“ enthalten sei; so Boecken, Pflichtaltersversorgung, S. 260 f. Dann müsste man das Merkmal „Ausgleich sozialer Lasten“ allerdings durch zwei Komponenten definieren: die gegenständliche Beschränkung auf soziale Risiken und die finanzielle Bewältigung durch soziale Umverteilung. Dies käme der hier vertretenen Aufspaltung in zwei voneinander getrennte Merkmale praktisch gleich. 31 Vgl. Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 101, 102 f. Näher zur inhaltlichen Bestimmung der Sozialversicherungsaufgaben unten § 2 C. 32 Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 29; Butzer, Fremdlasten, S. 302; P. Kirchhof, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, §88 Rn.275; ähnlich Rolfs, der die Sozialversicherung nicht auf Arbeitnehmer, aber auf schutzbedürftige Bevölkerungskreise beschränken will (Versicherungsprinzip, S. 105 ff.). 33 Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 29; Boecken, Pflichtaltersversorgung, S. 262; Butzer, Fremdlasten, S. 306; Isensee, SDSRV 35 (1992), S. 7 (19 f.); Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 110. 34 Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 29; Butzer, Fremdlasten, S. 171, 173, 307 ff.; Isensee, Umverteilung, S. 46 f.; Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 117; S. Weber, Krankenversicherung, S. 243.
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§ 1 Sozialversicherung als Typus?
– die Beteiligung der Arbeitgeber an der Finanzierung35; – ein Leistungsspektrum, das anders als die Privatversicherung nicht nur Geld-, sondern auch Sachleistungen umfasst 36; – die Beschränkung der Leistungen auf eine Maximalgrenze, die sich unterhalb einer vollen Kompensation des eingetretenen Schadens bewege 37; – der Rechtsanspruchscharakter der Versicherungsleistungen 38. Bei einigen dieser Merkmale ist zudem umstritten, ob sie nur typusbildend, also auswechselbar sind oder zu den zwingenden Klassenmerkmalen der Sozialversicherung zählen. 39
III. Missverständnisse bei der Deutung des Kindergeld-Urteils Bei näherem Hinsehen erweist sich die herrschende Deutung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als einer Kombination aus Klassenbegriff und Typus – jedenfalls in der soeben dargestellten Form – als unzutreffend. 40 Allerdings hat das Gericht selbst zu diesem Missverständnis beigetragen, indem es formuliert hat, dass jedenfalls die Deckung eines in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit zum Wesen der Sozialversicherung gehöre 41. Insbesondere auf dieses „jedenfalls“ wird die Annahme gestützt, die vom Bundesverfassungsgericht verwendeten Merkmale zur Auslegung der Sozialversicherungskompetenz seien nicht abschließend gemeint. 42 Bis heute hat das Gericht zur Interpretation des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG allerdings stets nur die Merkmale „Verteilung auf eine organisierte Vielheit“, „Ausgleich sozialer Lasten“, „Beschränkung auf Risiken, die dem Bild der klassischen Sozialversicherung entsprechen“, „Finanzierung durch Beiträge der Beteiligten“ und „Organisation in Anstalten oder Körperschaften“ Butzer, Fremdlasten, S. 315; Wieland, VSSR 2003, S. 259 (274). Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 29; Butzer, Fremdlasten, S. 315. 37 Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 112. 38 Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 114 ff. 39 So wurde nach früher verbreiteter Auffassung dem Merkmal „Arbeitnehmerversicherung“ zwingender Charakter zugesprochen; siehe nur BayVerfGH, BayVGHE n. F. 4 (1951), S. II 219 (236 f.); 12 (1959), S. II 14 (17 f.); näher dazu unten § 2 B. I. 1. Hase betrachtet den Rechtsanspruchscharakter als zwingendes Klassenmerkmal (Versicherungsprinzip, S. 61, 202). Ein Teil des Schrifttums nimmt an, dass die Beteiligung der Arbeitgeber an der Finanzierung ein zwingendes Merkmal der Sozialversicherung sei; siehe Engelhard, in: Schulin, HS-PV, § 25 Rn. 6 ff., insb. Rn. 12; Fuchsloch, NZS 1996, S. 153 (154); näher dazu unten B. II. 3. Bieback (VSSR 2003, S. 1, 17) und Boecken (Pflichtaltersversorgung, S. 263) betrachten das Merkmal „Zwangsversicherung“ als konstitutiv; näher dazu unten § 3 D. III. 2. c). 40 Ähnlich wie hier Werner, Leistungsfähigkeit, S. 76 f. 41 BVerfGE 11, S. 105 (112). 42 Deutlich kommt das bei Boecken zum Ausdruck (Pflichtaltersversorgung, S. 260). 35 36
A. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
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herangezogen. 43 Von den im Schrifttum kursierenden typischen Merkmalen hat das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit der Auslegung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG überhaupt nur zwei angesprochen: die Beschränkung auf Arbeitnehmer und soziale Notlagen sowie die Beteiligung der Arbeitgeber an der Finanzierung der Sozialversicherung. 44 Eine Beschränkung der Sozialversicherung auf eine Arbeitnehmerversicherung hat das Gericht bereits im Kindergeld-Urteil ausdrücklich abgelehnt. 45 Aus dieser Aussage schließen zu wollen, das Gericht fasse die Beschränkung auf Arbeitnehmer zwar nicht als zwingendes, gleichwohl aber als typisches Merkmal der Sozialversicherung auf 46, mutet spitzfindig an. Auch die Beteiligung der Arbeitgeber an der Finanzierung stellt für das Bundesverfassungsgericht kein eigenständiges typisches Merkmal dar, sondern wird von dem ohnehin zu prüfenden Merkmal „Finanzierung durch Beiträge der Beteiligten“ umfasst. 47 Betrachtet man die einzelnen vom Bundesverfassungsgericht herangezogenen Merkmale einer Sozialversicherung, so erweist sich allerdings, dass das Gericht sehr wohl Klassenbegriff und Typus kombiniert. Dies geschieht aber auf eine andere Art, als gemeinhin angenommen. Das Gericht verwendet bei der Auslegung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zwar einen abschließenden Kanon von fünf zwingenden Merkmalen und nicht eine offene Zahl von typischen Indizien. Diese fünf Merkmale stellen aber ihrerseits keine abschließend definierten Klassenbegriffe, sondern bewegliche Typen dar. 48 So verzichtet bereits das Kindergeld-Urteil darauf, den Kreis der Beteiligten, die zur Leistung des Sozialversicherungsbeitrags herangezogen werden können, abschließend zu definieren: beteiligt an der Finanzierung seien „herkömmlich“ 49 – also nicht ausschließlich – die Versicherten und die Arbeitgeber. Entsprechend hat das Gericht in einer späteren Entscheidung auch die Vermarkter von künstlerischen und publizistischen Leistungen als taugliche Beitragsschuldner von Sozialversicherungsbeiträgen eingeordnet, obwohl sie weder dem Versichertenkreis der neu errichteten Künstlersozialversicherung angehörten, noch deren Arbeitgeber waren. 50 Das Gericht sah offenkundig eine hinreichende Über43 Siehe BVerfGE 23, S. 12 (23); 62, S. 354 (366); 63, S. 1 (35); 75, S. 108 (146); 88, S. 203 (313); 113, S. 167 (195); 114, S. 196 (221). 44 Butzer irrt, wenn er annimmt, das Bundesverfassungsgericht habe sich darüber hinaus auch zur kompetenzrechtlichen Erheblichkeit der Merkmale „Zwangsversicherung“ und „Gewährung von Bundeszuschüssen“ geäußert (Fremdlasten, S. 171 mit Fußn. 195, 196). Von den für diese Auffassung angeführten Entscheidungen (BVerfGE 10, S. 354, 369; 18, S. 257, 258; 29, S. 221, 238 ff.; 76, S. 256, 301, 307) bezieht sich nämlich keine einzige auf die Auslegung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. 45 BVerfGE 11, S. 105 (113); ebenso BVerfGE 28, S. 324 (348); 75, S. 108 (146); 88, S. 203 (313). 46 So Butzer, Fremdlasten, S. 173, 302. 47 Siehe BVerfGE 11, S. 105 (113). 48 Allgemein zur Möglichkeit, einen Klassenbegriff aus Merkmalen, die ihrerseits Typen darstellen, zusammenzusetzen, Larenz, Methodenlehre, S. 223. 49 BVerfGE 11, S. 105 (113). 50 BVerfGE 75, S. 108 (149).
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einstimmung zwischen den Vermarktern und dem Typus „Versicherte und Arbeitgeber“ als gegeben an. Ein weiteres deutliches Beispiel für einen Typus stellt das vom Bundesverfassungsgericht verwendete Merkmal „Risiken, die dem Bild der klassischen Sozialversicherung entsprechen“ dar. Ein soziales Risiko muss nach Auffassung des Gerichts gerade nicht unter die klassischen Risiken Krankheit, Alter, Unfall, Invalidität subsumiert werden können, um tauglicher Gegenstand einer Sozialversicherung zu sein; die Vergleichbarkeit mit dem historischen Typus ist ausreichend.
B. Dogmatische Bewertung der Typus-Konzeption Die Auslegung der Sozialversicherungskompetenz durch das Bundesverfassungsgericht wirft zwei grundlegende Fragen zur Auslegung von Gesetzgebungskompetenzen auf, die für den Fortgang der Arbeit geklärt werden müssen. Zum einen verfolgt das Gericht mit seiner Interpretation des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG erkennbar einen Mittelweg zwischen einer betont engen und eine uferlos weiten Auslegung. Daher ist zu prüfen, ob diese Intention Zustimmung verdient (I.). Zum anderen muss die Frage beantwortet werden, ob die Bildung juristischer „Typen“ eine legitime Methode zur Auslegung von Verfassungsbestimmungen und konkret von Gesetzgebungskompetenzen darstellt (II.).
I. Die Intention: ein Mittelweg zwischen Versteinerung und Entgrenzung der Sozialversicherungskompetenz Das Bundesverfassungsgericht verfolgt mit seiner Auslegung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG einen Mittelweg zwischen einer betont engen und einer betont weiten Auslegung der Sozialversicherungskompetenz. 51 Im Kindergeld-Urteil hat das Gericht einerseits eine Entgrenzung des Kompetenztitels im Sinne einer umfassenden Zuständigkeit für die soziale Sicherheit abgelehnt; andererseits hat es sich auch gegen eine Beschränkung der Sozialversicherung auf die bereits in der Reichsversicherungsordnung von 1911 geregelten klassischen Versicherungszweige (Alter, Unfall, Invalidität, Krankheit) ausgesprochen. 52 Für die nähere Interpretation des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ist zu klären, ob diese Prämisse im Grundsatz Zustimmung verdient.
51 52
Vgl. Boecken, Pflichtaltersversorgung, S. 253 ff., 259 ff. BVerfGE 11, S. 105 (111 f.).
B. Dogmatische Bewertung der Typus-Konzeption
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1. Vorrang der Länderkompetenzen als Grund für eine enge Auslegung von Bundeskompetenzen? Die Aussagen des Kindergeld-Urteils stehen im Gegensatz zu einer Auffassung 53, nach der die Sozialversicherungskompetenz eng auszulegen ist und deswegen personell auf Arbeitnehmer, sachlich auf die präkonstitutionell bestehenden Versicherungszweige beschränkt bleiben muss. Für diese enge Auslegung der Sozialversicherungskompetenz könnte ein aus Art. 70 Abs. 1 GG zu folgerndes Primat der Ländergesetzgebung gegenüber der Bundesgesetzgebung sprechen. Nach Art. 70 Abs. 1 GG, der die allgemeine Regelung des Art. 30 GG konkretisiert, stellt die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder den Regelfall dar, zu dem sich die Kompetenzzuweisungen an den Bund in den Art. 73, 74 GG als Ausnahmen verhalten. Daraus könnte nach dem Grundsatz singularia non sunt extenda 54 eine Vermutung für die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder folgen, welche eine restriktive Auslegung der Bundeskompetenzen verlangt. 55 Gegen eine betont enge Auslegung der Kompetenztitel aus Art. 74 GG spricht aber bereits, dass den Ländern Gesetzgebungsbefugnisse nicht nur jenseits der Grenze des Art. 70 Abs. 1 GG zustehen. Art. 72 Abs. 1 bis 3 GG räumt den Ländern vielmehr auch einen Anteil an der konkurrierenden Gesetzgebung ein. Eine Zuordnung einer Materie unter eine konkurrierende Kompetenz beseitigt also alleine noch nicht die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder. Grundsätzlich sind die Länder nur an der Gesetzgebung gehindert, solange und soweit der Bund von einer konkurrierenden Kompetenz Gebrauch gemacht hat (Art. 72 Abs. 1 GG). Selbst diese Sperrwirkung gilt für die in Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG aufgezählten Sachgebiete seit der Föderalismusreform 56 nicht mehr. Darüber hinaus muss eine Bundesregelung im Anwendungsbereich von Art. 72 Abs. 2 GG zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder zur Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit im Bundesgebiet im gesamtstaatlichen Interesse erforderlich sein, um eine Sperrwirkung für die Ländergesetzgebung zu entfalten. Bei der Prüfung der Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG hat der Bundesgesetzgeber seit der Verschärfung der Erforderlichkeitsklausel im Jahr 1994 57 auch keinen Beurteilungsspielraum mehr. 58 So BayVerfGH, BayVGHE n. F. 12 (1959), S. II 14 ff. (17 f.); siehe dazu auch § 2 B. I. 1. Für eine enge Auslegung von Ausnahmevorschriften RGZ 153, S.1 (23); BGHZ 11, S.135 (143); BSG, NJW 1959, S. 167 (168); kritisch dazu Rinck, in: FS Müller, S. 289 (292 ff.); Wernsheimer, NJW 1959, S. 566; differenzierend Larenz, Methodenlehre, S. 355 f. 55 Dafür BVerfGE 26, S.281 (297); 42, S.20 (28); Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art.74 Rn.15; Stern, Staatsrecht I, S. 673 f.; weitere Nachweise zu dieser früher herrschenden Auffassung bei Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S.228 in Fußn.23. Siehe bereits zur Weimarer Reichsverfassung Hatschek, Staatsrecht, S. 90; a. A. Lassar, in: Anschütz/Thoma, HDStR I, § 27 V (S. 309 f.). 56 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. August 2006 (BGBl. I, S. 2034). 57 Siehe zur Entstehungsgeschichte der Grundgesetzänderung Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG II, Art. 72 Rn. 43 ff. 58 Siehe BVerfGE 106, S. 62 (135 ff.); 110, S. 141 (174 ff.); 111, S. 10 (28 f.); 111, S. 226 (253 ff.); BVerfG, NVwZ 2004, S. 597 (603 f.); NJW 2005, S. 493 ff.; Kämmerer/Thüsing, 53 54
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Allerdings gilt Art. 72 Abs. 2 GG seit der Föderalismusreform nur noch für Art. 74 Abs. 1 Nr. 4, 7, 11, 13, 15, 19 a, 20, 22, 25 und 26 GG. Hinzu kommt, dass ein normiertes Regel-Ausnahme-Verhältnis noch keine Rangordnung schafft, denn die Konstruktion als Ausnahme ist nicht automatisch mit einer Abwertung der normativen Bedeutung verbunden. 59 Im Gegenteil kann eine Ausnahme Ausdruck eines Rechtsprinzips sein, das sich gegenüber der allgemeinen Regel durchsetzen soll. 60 Eine normative Abwertung kann auch für die in den Art. 73, 74 GG geregelten Bundeskompetenzen nicht angenommen werden. Diese Regelungen gewähren dem Bund Gesetzgebungszuständigkeiten, die einen sehr großen Teil der staatlichen Aufgaben abdecken 61, und tragen daher nicht den Schluss, dass eine Gesetzgebungstätigkeit des Bundes nur in wenigen unbedeutenden Ausnahmefällen in Betracht kommt. 62 Dieser Befund wird besonders deutlich, wenn man die Art. 70 ff. GG mit den Verwaltungskompetenzen aus Art. 83 ff. GG vergleicht, welche eine deutlich stärkere Stellung der Länder bei der Gesetzesausführung regeln. 63 Schließlich würde eine enge Auslegung der Bundeskompetenzen erhebliche Probleme in der zeitlichen Dimension aufwerfen. Die Kompetenztitel des Grundgesetzes reflektieren das Wissen, den technischen Entwicklungsstand und die gesellschaftliche Wirklichkeit des Jahres 1949. Eine eng am Wortlaut und am historischen Urbild der Kompetenztitel haftende Interpretation würde deshalb dazu führen, dass die Zuständigkeitszuweisungen im Laufe der Jahrzehnte einen immer geringeren Bezug zur aktuellen technischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit aufweisen. Das gilt insbesondere deshalb, weil Verfassungsbestimmungen nur in deutlich größeren Zeitabständen an die Wirklichkeit angepasst werden als einfaches Gesetzesrecht. Den Kompetenztiteln droht somit bei einer engen Auslegung eine historische GewArch 2006, S. 266 (267); Kenntner, NVwZ 2003, S. 821 (823); dagegen weiterhin für eine eingeschränkte Kontrolldichte Faßbender, JZ 2003, S. 332 (334 ff.); Neumeyer, Erforderlichkeitsklausel, S. 156: „tatbestandliches Ermessen“; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 72 Rn. 110 ff.; Schmehl, DÖV 1996, S. 724 (728); Sommermann, Jura 1995, S. 393 (395); vgl. dazu auch Depenheuer, ZG 2003, S. 177 ff. 59 Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 139; Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 228. 60 Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 139; Rinck, in: FS Müller, S. 289 (296); ähnlich Larenz, Methodenlehre, S.356: „Entscheidend ist (...) der Grund, aus dem der Gesetzgeber gerade diese Fälle ausgenommen hat.“ 61 Das Schwergewicht der Gesetzgebungsbefugnisse liegt nach den Art. 70 ff. GG beim Bund; vgl. Bullinger, AöR 96 (1971), S.237 (239); Katzenstein, DÖV 1958, S.593 (594); Kube, Finanzgewalt, S. 151; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG III, Art. 70 Rn. 5; Rozek, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG II, Art. 70 Rn. 3 mit weiteren Nachweisen in Fußn.12; Schmitt Glaeser, AöR 107 (1982), S. 337 (356); Stettner, in: H. Dreier, GG II (2006), Art. 70 Rn. 39. 62 Vgl. Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S.225, demzufolge der Verteilungsmaßstab des Art.30 GG im Bereich der Gesetzgebungskompetenzen praktisch in sein Gegenteil verkehrt ist. 63 Der unterschiedliche verfassungsrechtliche Verteilungsmaßstab für die Gesetzgebungsund Verwaltungskompetenzen lässt sich damit begründen, dass die Gesetzesausführung mit der Entscheidung von konkreten Einzelfällen einen stärkeren lokalen Bezug aufweist als die Gesetzgebungstätigkeit; siehe Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 138.
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„Versteinerung“ 64. Im Ergebnis würden die Zuständigkeiten des Bundesgesetzgebers beständig schrumpfen. Das widerspricht aber der starken Stellung, die das Grundgesetz dem Bund in der Gesetzgebung zuweist und wird dem telos der Art. 70 ff. GG daher nicht gerecht. 65 2. Primat der Bundesgesetzgebung als Grund für eine weite Auslegung von Bundeskompetenzen? Ist eine dezidiert enge Auslegung der Bundeskompetenzen abzulehnen, so stellt sich umgekehrt die Frage, ob aus den Art. 70 ff. GG ein „Gesetzgebungsprimat“ 66 des Bundes folgt, demzufolge die Bundeskompetenzen stets weit auszulegen sind. Entsprechend würde bei der Abgrenzung von Bundes- und Länderzuständigkeiten in Zweifelsfällen eine Vermutung für die Zuständigkeit des Bundes sprechen. Eine solche Vermutungsregel enthält das Grundgesetz aber weder ausdrücklich, noch lässt sie sich der Systematik der Art. 70 ff. GG entnehmen. 67 Art. 70 Abs. 1 GG beschränkt die Gesetzgebung des Bundes auf die Zuständigkeiten, die ihm das Grundgesetz ausdrücklich verleiht. Eine extensive Interpretation dieser Kompetenzen würde die abschließende Aufzählung einzelner Sachzuständigkeiten in den Art. 73, 74 GG konterkarieren. Zudem spricht die bundesstaatliche Machtbalance dafür, die ohnehin sehr weitreichenden Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes nicht in uferlose Allzuständigkeiten zu überführen. Andernfalls würde von den Länderzuständigkeiten, deren Existenz Art. 70 Abs. 1 GG schützen soll, kaum noch etwas übrig bleiben. 68 Deshalb verbietet es der Normzweck des Art. 70 Abs. 1 GG, Bundeskompetenzen durch extensive Auslegung zulasten der Länderzuständigkeiten zu entgrenzen. 69
Ossenbühl, Bundespost, S. 33. Gegen eine Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Länder auch Boecken, Pflichtaltersversorgung, S. 256; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 7; Kube, Finanzgewalt, S. 151; Ossenbühl, Bundespost, S. 33; Rinck, in: FS Müller, S. 289 ff.; Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 100 Rn. 30; Rozek, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 70 Rn. 13; Stettner, in: H. Dreier, GG II (2006), Art. 70 Rn. 40; Wolfrum, DÖV 1982, S. 674 (676). 66 So Scholz, in: FS 25 Jahre BVerfG II, S. 252 (254); zurückhaltend Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 138. 67 Ebenso BVerfGE 12, S. 205 (228 f.); 42, S. 20 (28); Heintzen, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 70 Rn. 59; März, Bundesrecht, S. 138. 68 Zu Recht warnt Butzer vor einer Aushöhlung der Länderkompetenzen durch uferlose Ausweitung der Bundeskompetenzen (Fremdlasten, S. 122 f.); ähnlich im Hinblick auf eine Überdehnung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG BVerfGE 62, 354 (366). 69 Im Ergebnis ebenfalls für eine strikte, d. h. sach- und funktionsgerechte, nicht aber betont enge Auslegung der Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 137 ff.; Boecken, Pflichtaltersversorgung, S. 255; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 7 ff.; Fehling, in: Aulehner u. a., Föderalismus, S. 31 (42 f.); Heintzen, in: Dolzer/Vogel/ Graßhof, BoK, Art.70 Rn.57; Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, §100 64 65
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3. Zwischenresümee Die Intention des Bundesverfassungsgerichts, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG weder besonders eng, noch uferlos weit auszulegen, verdient Zustimmung und kann daher der weiteren Auslegung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zugrunde gelegt werden.
II. Typus-Denken als Methode der Verfassungsauslegung Sind die Prämissen, von denen das Gericht bei der Auslegung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ausgeht, zutreffend, so stellt sich die Frage, ob das gleiche für deren methodische Umsetzung gilt: Ist die Bildung von juristischen Typen, die das Bundesverfassungsgericht und Teile des Schrifttums mit unterschiedlichen Akzenten vornehmen, eine geeignete und legitime Methode zur Auslegung von Gesetzgebungskompetenzen? Ausgangspunkt einer Antwort muss die Feststellung sein, dass für die Auslegung von Verfassungsrecht prinzipiell keine anderen Interpretationsmethoden anzuwenden sind als für die Auslegung von Gesetzesrecht. 70 Die Weite und Offenheit vieler Bestimmungen machen das Grundgesetz nicht zum Sonderfall der juristischen Methodik. Vielmehr stellen sich bei der Auslegung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen des einfachen Rechts vergleichbare Auslegungsprobleme. 71 1. Flexibilität als Vorteil des Typus Wie oben 72 bereits festgestellt wurde, verlangt die Auslegung von Gesetzgebungskompetenzen eine flexible Anpassung an Veränderungen der sozialen Wirklichkeit. Das gilt für die Sozialversicherungskompetenz in besonderem Maße, da sich sowohl die sozialen Risiken als auch die Leistungsfähigkeit des Sozialstaates im Laufe der Zeit ändern können. 73 So ist die Sozialversicherung etwa historisch geprägt von der Sicherung der Arbeitnehmer, die seit jeher als besonders schutzbeRn. 29 f.; Rinck, in: FS Müller, S. 289 (300); Rozek, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 70 Rn. 14; Stettner, in: H. Dreier, GG II (2006), Art. 70 Rn. 40. 70 Ebenso Forsthoff, Rechtsstaat, S. 131; Neuner, Privatrecht, S. 17; Rengeling, in: Isensee/ P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 100 Rn. 28; Rozek, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 70 Rn. 50; Werner, Leistungsfähigkeit, S. 70; a. A. Böckenförde, NJW 1976, S. 2089 (2090 f.); Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S.51 (61 ff.); Fehling, in: Aulehner u. a., Föderalismus, S. 31 (50 f.). 71 Siehe Werner, Leistungsfähigkeit, S. 71. 72 Siehe I. 1. 73 Daher ist die Annahme Butzers zutreffend, dass die Beschränkung der Sozialversicherungskompetenz auf den Bestand von 1949 die Weiterentwicklungsfähigkeit des Sozialversicherungsrechts in Frage stellen würde (Fremdlasten, S.157). Ähnlich Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 176; Boecken, Pflichtaltersversorgung, S. 256 f.; Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S. 267 f.
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dürftige Bevölkerungsgruppe angesehen wurden. Im Zeitalter zunehmender Selbständigkeit auf geringer Einnahmenbasis muss das unbefristete Vollzeitarbeitsverhältnis hingegen geradezu als Hort der sozialen Sicherheit gelten. Auf den ersten Blick scheint das Typus-Denken erhebliche Vorteile für eine historisch flexible Interpretation des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zu haben. Juristische Typen enthalten nämlich ihrem Anspruch nach einen stärkeren Bezug zur sozialen Wirklichkeit als abstrakt gebildete Begriffe: Die Merkmale des Typus werden vom Gesetzgeber nicht gebildet, sondern „in der Wirklichkeit des Rechtslebens vorgefunden“ 74. Ein Typus wird also aus der Beobachtung der Realität entwickelt. Entsprechend kann sich der Gehalt des Typus in dem Maße ändern, wie sich die soziale Wirklichkeit verändert. Das Merkmalsgefüge des Typus ist elastisch 75 und somit offen für neue historische Entwicklungen. 2. Grundsätzliche Einwände gegen das Typus-Denken Die Formulierung von Typen als Methode juristischer Begriffsbildung ist inzwischen allerdings eingehend und überzeugend kritisiert worden. 76 Die Typus-Lehre basiert auf der Annahme, den Inhalt des geschriebenen Rechts durch Beobachtung der Realität „erkennen“ zu können. Der sozialen Wirklichkeit wird somit aus ihrem „Wesen“ 77 oder aus der „Natur der Sache“ 78 heraus bindende Wirkung zugesprochen. Die Typus-Lehre steht damit in der Tradition der NS-Jurisprudenz, die den in der Realität vorgefundenen „konkreten Ordnungen“ 79 auch gegenüber dem geschriebenen Recht normative Durchsetzungskraft zusprach. Rechtsbegriffe können jedoch, abgesehen von ungeschriebenem Gewohnheitsrecht, nicht empirisch ermittelt werden. Sie knüpfen zwar an die Realität an, jedoch bildet die Realität selbst nicht den rechtlichen Maßstab, nach dem ein Sachverhalt bewertet wird. 80 Diesen Maßstab liefert erst die Wertung des Gesetzgebers sowie bei 74 Larenz, Methodenlehre, S. 466. An späterer Stelle bezeichnet Larenz rechtliche Typen als „in der sozialen Wirklichkeit anzutreffende Gebilde“ (ebenda, S. 469). 75 Leenen, Typus, S. 34. 76 Siehe Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 178 ff.; Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S. 73 ff.; Kuhlen, Typuskonzeptionen; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 930 ff.; vgl. zu Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG auch Bieback, der den Begriff „Sozialversicherung“ nicht als Typus, sondern (methodisch an Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S.67 ff. anschließend) als „vagen Begriff“ einordnet (VSSR 2003, S. 1, 9 ff.). 77 Diese Annahme findet sich auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Sozialversicherungskompetenz. Das Gericht bezieht sich im Kindergeld-Urteil ausdrücklich auf das „Wesen der Sozialversicherung“; siehe BVerfGE 11, S. 105 (112). 78 Typus-Denken ist stets Denken aus der Natur der Sache; siehe Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 181 f.; Leenen, Typus, S. 64; Werner, Leistungsfähigkeit, S. 77. 79 Vgl. zum Denken in „konkreten Ordnungen“ in der Rechtswissenschaft des Nationalsozialismus Röthel, Normkonkretisierung, S. 8 f.; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 926 ff. 80 Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 179.
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Auslegungsspielräumen die Wertung des Rechtsanwenders. 81 Der Rekurs auf das „Wesen“ eines Rechtsinstituts oder auf die „Natur der Sache“ verschleiert diese Wertungen mehr, als dass er zur Entscheidungsfindung beiträgt. 82 Zudem kann die Typus-Lehre keine klare und überzeugende Antwort auf die Frage geben, wann ein Gesetzesbegriff als Typus und wann als Klassenbegriff einzuordnen ist. 83 Die Annahme von Karl Larenz 84, die Subsumtion unter einen Klassenbegriff sei jedenfalls im Idealfall ein wertungsfreier, quasi „mechanischer“ Vorgang, läuft darauf hinaus, dass jeder ausfüllungsbedürftige Rechtsbegriff ein Typus ist. Das überzeugt jedoch nicht. So kann etwa die in Art. 1 Abs. 1 GG angesprochene Menschenwürde kaum aus der Beobachtung der Rechtswirklichkeit „erkannt“ und näher bestimmt werden. Die Konkretisierung des Begriffs hängt vielmehr in hohem Maße von rechtsethischen 85, also normativen Wertungen ab. 3. Der Typus als Ergebnis der historischen Auslegung? Ist das Typus-Denken als Denken aus der „Natur der Sache“ abzulehnen, so kann die Deutung der Sozialversicherungskompetenz als Typus vielleicht auf eine andere Begründung gestützt werden: die historische Auslegung als Methode der Verfassungsinterpretation. Der Verfassungsgeber hat mit dem Begriff der Sozialversicherung auf eine Institution Bezug genommen, die mehr als 60 Jahre vor Schaffung des Grundgesetzes errichtet worden ist. Daher liegt der Schluss nahe, dass die Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG vom historischen Erscheinungsbild der Sozialversicherung geprägt ist. 86 Von dieser Prämisse geht jedenfalls das Bundesverfassungsgericht ersichtlich aus, wenn es verlangt, dass eine Neuregelung im Rahmen des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG dem Bild der klassischen Sozialversicherung entsprechen müsse. 87 Auf der gleichen Linie liegen Urteile des Gerichts zu anderen Kompetenztiteln, in denen die historische Interpretation zu einem wesentlichen Auslegungskriterium erhoben wird. 88 Daran anknüpfend will Hermann Butzer 89 den Typus der Sozialversiche81 Selbst die Befürworter der Typus-Lehre gehen davon aus, dass der Vergleich eines Sachverhalts mit einem rechtlichen Typus nicht ohne Wertungen auskommt. Ob ein Sachverhalt dem Typus zugerechnet werden kann, soll sich aus einem „leitenden Wertgesichtspunkt“ ergeben; siehe Larenz, Methodenlehre, S. 221; Leenen, Typus, S. 64. 82 Immer noch grundlegend zur Scheinargumentation aus dem „Wesen des Wesens“ sowie aus der „Natur der Sache“: R. Dreier, „Natur der Sache“; Scheuerle, AcP 163 (1964), S. 431 ff.; siehe auch Röhl, Rechtslehre, S. 54 ff. 83 So zutreffend Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 185. 84 Larenz, Methodenlehre, S. 222. 85 Siehe dazu nur Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Rn. 7 ff.; Starck, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG I, Art. 1 Rn. 3 ff., jeweils mit weiteren Nachweisen. 86 Vgl. Wieland, VSSR 2003, S. 259 (261). 87 BVerfGE 11, S. 105 (112). 88 Siehe BVerfGE 3, S. 407 (414 f.); 7, S. 29 (44); 28, S. 21 (32); 33, S. 52 (61); 33, S. 125 (152); 41, S. 205 (220); 42, S. 20 (29). Vgl. zum traditionell hohen Stellenwert der historischgenetischen Auslegung für die Interpretation von Gesetzgebungskompetenzen Rozek, in:
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rung aus solchen Merkmalen bilden, die bereits 1949 oder früher zu den prägenden Bestandteilen des geltenden Sozialversicherungsrechts gehörten. Zunächst sei dazu bemerkt, dass diese vergangenheitsorientierte Variante der Typus-Lehre die historische Elastizität des Typus gerade nicht mehr aufweist. Sie leistet eher einen Beitrag zur „Versteinerung“ des Kompetenzbereiches, indem sie den Gesetzgeber an die historisch gewachsenen Prinzipien des Sozialversicherungsrechts bindet. 90 Damit befindet sie sich im Fahrwasser einer betont engen Auslegung der Sozialversicherungskompetenz, die bereits widerlegt worden ist. 91 Außerdem stellt sich die Frage, warum der Gesetzgeber gehindert sein soll, die grundlegenden Prinzipien einer historisch gewachsenen Kodifikation aufzugeben und durch gänzlich andere zu ersetzen. Das Demokratieprinzip 92 und die Hierarchie zwischen Verfassung und Gesetz 93 sprechen jedenfalls dafür, dass dem Gesetzgeber auch die vollständige Neustrukturierung der in einen Kompetenzbereich fallenden Regelungsmaterie möglich ist. Kompetenzen sind keine Übergangsvorschriften zur Bewahrung tradierter Regelungen, sondern dienen dem zukünftigen Erlass neuer Gesetze. 94 Die Auffassung, dass eine neue Regelung nur dann unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG subsumiert werden könne, wenn sie die herkömmlichen Regelungsstrukturen des Sozialversicherungsrechts beachte 95, ist daher auf den ersten Blick nicht überzeugend. Für ein derartiges Primat der historischen Auslegung könnte sprechen, dass die Fixierung der Bundeszuständigkeiten auf ein historisches Leitbild einen Beitrag dazu leistet, eine unzulässige Extension der Bundeskompetenzen zu verhindern. Zwar verdient diese Intention im Grundsatz Zustimmung.96 Doch hält nicht jedes Ergebnis der historischen Auslegung einer kritischen Überprüfung im Wege der teleologischen und systematischen Interpretation stand. Aufgezeigt sei dies am Beispiel des bei Butzer aufgeführten Merkmals „Beteiligung der Arbeitgeber an der Finanzierung der Sozialversicherung“ 97. Da die Arbeitgeber von Anfang an Beiträge v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 70 Rn. 51 ff.; kritisch dazu Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 110 ff., 143 f. 89 Butzer, Fremdlasten, S. 173, 176, 301 ff. 90 Zu Recht warnt Berne davor, vorkonstitutionell geprägte Zustände bis zur verfassungsrechtlichen Unbeweglichkeit fortzuschreiben (Arbeitslosenversicherung, S. 112); ähnlich Krause, VSSR 1980, S. 115 (121); März, Bundesrecht, S. 126; Pestalozza, Der Staat 11 (1972), S. 161 (186 f.). 91 Siehe oben I. 1. 92 Die Bedeutung des Demokratieprinzips für die Auslegung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG hebt auch Werner hervor (Leistungsfähigkeit, S. 70). 93 Auf den Vorrang der Verfassung weist auch Bieback hin, der damit den Einfluss des Gesetzesrechts auf die Auslegung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG aber nicht ausschließen, sondern nur begrenzen will (VSSR 2003, S. 1, 5); ähnlich Bleckmann, DÖV 1983, S. 129 (131). 94 So zutreffend Pestalozza, Der Staat 11 (1972), S. 161 (186 f.). 95 So Werner, Leistungsfähigkeit, S. 75; allgemein zur Auslegung von Kompetenzen Bleckmann, DÖV 1983, S. 129 (131). 96 Siehe oben I. 2. 97 Butzer, Fremdlasten, S. 315.
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§ 1 Sozialversicherung als Typus?
zu allen Zweigen der Sozialversicherung leisten mussten, handelt es sich ohne Zweifel um ein historisch gewachsenes „typisches“ Merkmal. Für eine Abgrenzung der Bundes- von den Länderzuständigkeiten spielt das Merkmal aber erkennbar keine Rolle, da sich nicht ernsthaft behaupten lässt, dass die Gesetzgebungskompetenz für die unstreitig von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG erfassten klassischen Sozialversicherungszweige gemäß Art. 70 Abs. 1 GG auf die Länder übergehen würde, sobald der Bundesgesetzgeber die Arbeitgeberbeiträge beseitigen würde. Soweit man auch eine Abgrenzung der einzelnen Bundeskompetenzen untereinander für erforderlich hält 98 (was im weiteren Verlauf dieser Abhandlung erst noch zu prüfen sein wird99), wäre mit diesem Merkmal ebenfalls wenig gewonnen, da auch das privatrechtliche Versicherungswesen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) Arbeitgeberzuschüsse zu den Versicherungsprämien kennt 100. Die Beteiligung der Arbeitgeber an der Finanzierung der Sozialversicherung ließe sich daher höchstens als verfassungsrechtliche Grundpflicht 101 der Arbeitgeber deuten. Eine derartige materielle Aufladung 102 des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG lehnt Butzer jedoch selbst zu Recht ab 103, da sie alleine auf sozialpolitischen Präferenzen beruht. Das Beispiel soll deutlich machen, dass eine historisch-deskriptive Auslegung alleine nicht weiterführt. Die historische Interpretation spielt zwar unbestritten eine wichtige Rolle für die Auslegung der Sozialversicherungskompetenz. Sie gelangt aber nur in Kombination mit anderen Auslegungsmethoden zu überzeugenden Ergebnissen. 4. Das Typus-Denken als Verwischung von Kompetenzgrenzen Zudem spricht gegen das Typus-Denken, dass es die Grenzen der Kompetenzen von Bund und Ländern verwischt 104. Als Typus hat ein Begriff – selbst wenn man ihm mit der herrschenden Lehre zu Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG einen festen Kern zu-
98 Ebendies tut Butzer. Deutlich kommt das zum Ausdruck, wenn er die begriffsbildenden und -typischen Merkmale der Sozialversicherungskompetenz zur Abgrenzung von den Bundeszuständigkeiten für die öffentliche Fürsorge und für das privatrechtliche Versicherungswesen einsetzt (Fremdlasten, S. 176). 99 Näher dazu § 3 B. 100 Siehe zu dieser Gemeinsamkeit von Privatversicherung und Sozialversicherung Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 40 ff. 101 Vgl. zu dieser Normenkategorie Hufen, Staatsrecht II, § 6 Rn. 24 f. 102 Eingehend zur Frage, ob Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG eine materielle Auftragsfunktion hat, unten § 3 B. II. 103 Siehe Butzer, Fremdlasten, S. 297; ebenso Kleemann, Pflegeversicherung, S. 163 ff.; Muckel, SGb 2004, S. 583 (589); Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 105; siehe zur Gegenauffassung die Nachweise in Fußn. 39. 104 Zu Recht bezeichnet Berne den Typus als „verwischten Begriff“ (Arbeitslosenversicherung, S. 182). Auch Bieback bemängelt die unpräzise Begrifflichkeit des Typus (VSSR 2003, S. 1, 10).
B. Dogmatische Bewertung der Typus-Konzeption
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spricht – 105 kein klares Ende, sondern zerfasert an den Rändern in begriffliche Grauzonen. 106 Erfüllt ein Sachverhalt jeweils einzelne Merkmale von unterschiedlichen Typen, so muss eine Abwägungsentscheidung darüber gefällt werden, ob die Merkmale des einen oder des anderen Typus überwiegen. Überträgt man diesen Befund auf die Abgrenzung zwischen Bundes- und Länderzuständigkeiten, so entsteht zwischen eindeutig feststellbaren Bundeszuständigkeiten und eindeutig feststellbaren Länderzuständigkeiten ein kompetenzrechtliches Niemandsland, in dem nur noch anhand einer Sammlung und Betrachtung von „typischen“ Indizien festgestellt werden kann, ob der Bund für eine bestimmte Regelung die Gesetzgebungskompetenz hat oder nicht. Die Vorstellung, dass zwischen den Kompetenzzonen des Bundes und der Länder keine klaren Grenzen bestehen, sondern schleichende Übergange und sogar Überschneidungen stattfinden, ist allerdings nicht neu. 107 Sie kommt etwa in der Auslegungsfigur der Kompetenz kraft Sachzusammenhangs zum Ausdruck. Diese soll es dem Bund erlauben, Länderzuständigkeiten punktuell an sich zu ziehen, „wenn eine dem Bund zugewiesene Materie nicht geregelt werden kann, ohne dass zugleich eine nicht ausdrücklich zugewiesene andere Materie mitgeregelt wird, wenn also ein Übergreifen in nicht ausdrücklich zugewiesene Materien unerlässliche Voraussetzung ist für die Regelung einer der Bundesgesetzgebung zugewiesenen Materie“ 108. Die Kompetenz kraft Sachzusammenhang erlaubt also in engen Grenzen109 eine flexible Ausdehnung der Bundeskompetenzen zulasten der Länder 110. Die Annahme, dass die Grenzen zwischen Bundes- und Länderzuständigkeiten beweglich sind, fordert allerdings Widerspruch heraus. So wirft die Figur der Kompetenz kraft Sachzusammenhangs die Frage auf, ob sie ein Auslegungsergebnis, das im Ergebnis richtig sein mag, nicht falsch begründet. Im Grunde handelt es sich um eine teleologische Auslegung 111, die zum Ergebnis führt, dass eine betont enge Auslegung des einschlägigen Kompetenztitels nicht angezeigt ist 112.
Siehe oben A. II. Deutlich kommt das bei Butzer zum Ausdruck, der den Typus der Sozialversicherung in der Diktion Philipp Hecks in einen festen „Begriffskern“ und einen offenen „Begriffshof“ aufteilt (Fremdlasten, S. 174). 107 Vgl. dazu nur Fehling, in: Aulehner u. a., Föderalismus, S. 31 (41, 46). 108 BVerfGE 3, S. 407 (421); siehe auch BVerfGE 61, S. 149 (205); 98, S. 265 (299 f.); zahlreiche weitere Nachweise zur Rechtsprechung bei Rozek, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 70 Rn. 45. 109 Siehe Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 42; Rozek, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 70 Rn. 45; gegen eine strenge Handhabung der Kompetenz kraft Sachzusammenhangs hingegen Umbach/Clemens, in: dies., MAK II, Art. 70 Rn. 27. 110 Vgl. zur Frage, ob mit der Figur der Kompetenz kraft Sachzusammenhangs umgekehrt auch Länderkompetenzen zulasten des Bundes ausgedehnt werden dürfen, Kämmerer/Thüsing, GewArch 2006, S. 266 (271). 111 Ähnlich Cremer, ZG 2005, S. 29 (42); Ehlers, Jura 2000, S. 323 (324). 112 Siehe oben I. 1. 105 106
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§ 1 Sozialversicherung als Typus?
Zudem kennt das Grundgesetz Überschneidungen und flexible Grenzziehungen zwischen Bundes- und Länderzuständigkeiten nur innerhalb der Regelungsbereiche der konkurrierenden Kompetenztitel. Im Anwendungsbereich der konkurrierenden Zuständigkeiten steht das Recht zur Gesetzgebung sowohl dem Bund als auch den Ländern zu. Die konkrete Aufteilung der Zuständigkeiten richtet sich nach elastischen Kriterien: Die Länder haben die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat (Art. 72 Abs. 1 GG). Im Anwendungsbereich von Art. 72 Abs. 3 GG hängt umgekehrt die Anwendbarkeit von Bundesrecht in einem bestimmten Bundesland davon ab, ob dieses Land abweichendes Landesrecht erlassen hat. Die Kompetenzverteilung ist somit nicht statisch, sondern wird durch die Aktivitäten der beteiligten Gesetzgeber beeinflusst. Dagegen sieht das Grundgesetz weder für die ausschließlichen Gesetzgebungsdomänen des Bundes, noch für die der Länder eine derart flexible Verteilung der Gesetzgebungsbefugnisse vor. Nach Zweck und Systematik der Kompetenzabstufungen des Grundgesetzes sind diese Materien eindeutig dem Bund oder den Ländern zugeordnet. Art. 70 Abs. 2 GG verlangt insoweit ausdrücklich eine „Abgrenzung“, keine „Abwägung“ der Zuständigkeiten. Diese Vorgabe ist auch deshalb zu beachten, weil bei einem fließenden Übergang der Kompetenzen die Gefahr bestünde, dass der in der Gesetzgebung ohnehin dominante Bund Länderzuständigkeiten nach und nach usurpiert. 113 Aus diesem Grunde kann eine im Schrifttum 114 vertretene Auffassung, Überschneidungen zwischen Bundes- und Länderkompetenzen zu akzeptieren und daraus resultierende Kompetenzkonflikte über Art. 31 GG zu lösen, nicht überzeugen. Sie würde den Bereich der ausschließlichen Länderzuständigkeiten nach und nach aushöhlen. Die Kompetenzgrenze, die Art. 70 Abs. 1 GG der Bundesgesetzgebung setzt, ist deshalb nicht beweglich, sondern – in den Worten des Bundesverfassungsgerichts – „strikt“ 115. 116 Die mit der Bildung von Typen einhergehende Verwischung von Kompetenzgrenzen wird auch nicht dadurch legitimiert, dass die Auslegung der Bundeskompetenzen im Verlaufe der Zeit an Veränderungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit angepasst werden muss, damit ihr Regelungsbereich nicht „versteinert“ 117. Zwar stellt 113 Wie oben (I. 2.) bereits festgestellt wurde, gibt es kein Primat der Bundesgesetzgebung, das eine uferlose Extension der Bundeskompetenzen rechtfertigt. 114 Siehe Lerche, JZ 1972, S. 468 (471); Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG III, Art. 70 Rn. 9; Pestalozza, DÖV 1972, S. 181 (189 f.). 115 BVerfGE 12, S. 205 (228 f.); 15, S. 1 (17); 26, S. 281 (297 f.); 42, S. 20 (28); 61, S. 149 (174, 204); 106, S. 62 (114, 136). 116 Gegen Doppelzuständigkeiten von Bund und Ländern und eine Lösung von daraus resultierenden Kompetenzkonflikten über Art. 31 GG auch März, Bundesrecht, S. 135 f.; ders., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 31 Rn. 62; Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 74 Rn. 9; Rozek, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 70 Rn. 11, 58; Stettner, Kompetenzlehre, S. 422 f.; ders., in: H. Dreier, GG II (2006), Art. 70 Rn. 32. 117 Siehe dazu bereits oben I. 1.
C. Zusammenfassung
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der soziale Wandel eine beträchtliche Herausforderung für die Kompetenzinterpretation dar. Eine Begriffsbildung, welche die Grenzen von Bundes- und Länderzuständigkeiten von vornherein relativiert und zudem einseitig historisch-deskriptiv fixiert ist, vermag zur Lösung von Kompetenzkonflikten aber keinen überzeugenden Beitrag zu leisten. So wird sich im folgenden Abschnitt dieser Abhandlung erweisen, dass der Typus der Sozialversicherung nach der ganz herrschenden Auffassung von organisationsbezogenen Merkmalen dominiert wird, die zur Abgrenzung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG vom Kompetenzbereich der Ländergesetzgebung aber keinen tauglichen Beitrag leisten. 118
C. Zusammenfassung Das Bundesverfassungsgericht und die herrschende Lehre interpretieren den Begriff „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG – mit im Einzelnen unterschiedlichen Akzenten – nicht als abschließend definierten juristischen Begriff, sondern als Typus, der anhand von einer beweglichen Anzahl von Merkmalen beschrieben wird. Diese Auslegung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG basiert auf der Prämisse, dass die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes weder besonders eng noch betont weit auszulegen sind und zudem flexibel an Veränderungen der Wirklichkeit angepasst werden müssen, die der Verfassungsgeber bei der Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten noch nicht voraussehen und berücksichtigen konnte. Diese Prämisse verdient Zustimmung, da das Grundgesetz weder ein Primat der Bundes- noch der Ländergesetzgebung kennt. Die Deutung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Typus überzeugt jedoch methodisch nicht und kann daher der Interpretation des Kompetenztitels nicht zugrunde gelegt werden. Das Typus-Denken will den Inhalt geschriebenen Rechts aus der Beschreibung der sozialen Wirklichkeit ablesen. Gesetzesrecht basiert aber auf Wertungen und kann daher nicht alleine mit empirischen Erkenntnismethoden ermittelt werden. Auch als historische Auslegung lässt sich das Typus-Denken nicht halten. Zum einen liefert die historische Interpretation ohne Ausbalancierung mit den anderen anerkannten Auslegungsmethoden keine überzeugenden Ergebnisse. Zum anderen führt eine Auslegung von Kompetenztiteln als Typen zu einer Verwischung der Grenzen zwischen den Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes und der Länder. Das widerspricht aber dem Wortlaut, dem Zweck und der Systematik der Art. 70 ff. GG, die eine klare und eindeutige Abgrenzung der Gesetzgebungskompetenzen verlangen.
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Siehe dazu § 2 A.
§ 2 Die Abgrenzung der Sozialversicherungskompetenz von den Rechtsetzungszuständigkeiten der Länder Nach Art. 70 Abs. 1 GG haben die Länder das Recht zur Gesetzgebung, soweit das Grundgesetz nicht dem Bund Gesetzgebungsbefugnisse verleiht. Die Abgrenzung der Zuständigkeit zwischen Bund und Ländern richtet sich nach den Vorschriften über die ausschließliche und konkurrierende Gesetzgebung (Art. 70 Abs. 2 GG). Damit ist der Primärzweck der in den Art. 73, 74 GG aufgeführten Kompetenztitel klar benannt: Sie stecken den Bereich ab, innerhalb dessen der Bund für die Gesetzgebung zuständig ist. 1 Außerhalb des Geltungsbereichs dieser Kompetenztitel sind ausschließlich die Länder berechtigt, Gesetze zu erlassen. Deshalb müssen die Grenzen der Sozialversicherungskompetenz gegenüber den Gesetzgebungsbefugnissen der Länder markiert werden. Der Regelungsbereich, für den der Bund nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zuständig ist, muss zumindest unter zwei Gesichtspunkten von den ausschließlichen Länderzuständigkeiten abgegrenzt werden. In personeller Hinsicht stellt sich die Frage, ob die Gesetzgebungsbefugnis des Bundes auf die soziale Sicherung bestimmter Bevölkerungskreise oder Berufsgruppen beschränkt ist (B.). Sachlich-inhaltlich sind die sozialen Leistungen zu bestimmen, für deren Regelung der Bund nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zuständig ist (C.). Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern noch einen dritten, organisationsbezogenen Aspekt hat, demzufolge die Gesetzgebungsbefugnis des Bundes an die historisch gewachsene Organisationsform der Sozialversicherung als beitragsfinanziertes Sicherungssystem in Trägerschaft der mittelbaren Staatsverwaltung ge-
1 Butzer spricht insoweit vom „formell-bundesstaatlichen Gehalt“ der Kompetenznormen (Fremdlasten, S. 117 ff.). Wenig überzeugend ist allerdings Butzers Aufspaltung des formellbundesstaatlichen Gehalts in einen „formell-zuweisenden Gehalt“, der darin besteht, zwischen Bund und Ländern den für eine Regelung zuständigen Gesetzgeber zu ermitteln, und einen „formell-sachlichen Gehalt“, der dazu dient, den sachlichen Umfang einer Regelungsbefugnis des Bundes abzustecken. Beide Gehalte sind nämlich identisch, weil sie jeweils darauf zielen, die Grenzen zwischen Bundes- und Länderkompetenzen zu bestimmen. Deutlich wird das, wenn Butzer einerseits für den formell-zuweisenden Gehalt des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG fordert, er müsse „so exakt bestimmt werden, dass für eine etwaige neue gesetzliche Regelung zweifelsfrei entschieden werden kann, ob sie dem Kompetenztitel ‚Sozialversicherung‘ zuzuordnen ist oder nicht“, da von dieser Zuordnung abhänge, „ob die Gesetzgebungsbefugnis für eine neue Regelung dem Bund oder den Ländern zusteht“ (ebenda, S.118), und andererseits für den formell-sachlichen Gehalt verlangt, die Verfassungsinterpretation müsse „eine Maximalgrenze einer Sachmaterie“ bestimmen, bei deren Überschreitung nicht mehr der Bundesgesetzgeber, sondern die Landesgesetzgeber regelungsbefugt sind“ (ebenda, S. 121).
A. Organisations- und Finanzierungsstruktur
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knüpft ist (A.). Dieser organisationsrechtliche Aspekt wird im Folgenden an erster Stelle behandelt, weil er in der herrschenden Interpretation des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG eine zentrale Rolle spielt.
A. Zuständigkeitsabgrenzung anhand der Organisations- und Finanzierungsstruktur der Sozialversicherung? I. Die dominante Rolle von organisationsbezogenen Abgrenzungsmerkmalen nach der herrschenden Auffassung Betrachtet man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, so fokussiert sich die Auslegung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nicht auf die Aufgaben der Sozialversicherung, sondern auf deren Organisationsstruktur und Finanzierung. Im grundlegenden Kindergeld-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht die Einbeziehung neuer sozialer Risiken in die Sozialversicherung gebilligt, soweit die neuen Sozialleistungen in ihren wesentlichen Strukturelementen, insbesondere der organisatorischen Durchführung dem Bild der klassischen Sozialversicherung entsprechen. 2 Die im selben Urteile genannten vier Merkmale der Sozialversicherung – Bedarfsdeckung durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit; Finanzierung durch Beiträge; Organisation in Körperschaften oder Anstalten; sozialer Ausgleich zwischen den Versicherten – beziehen sich dieser Vorgabe folgend ausschließlich auf die Organisation sowie die Finanzierungs- und Verteilungsmechanismen der Sozialversicherung. Demgegenüber spielt die sachlich-inhaltliche Festlegung der sozialen Leistungen, die von der Aufgabenzuweisung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG umfasst sind, in der Rechtsprechung des Gerichts bis heute kaum eine Rolle.3 Im Schrifttum erfährt die Auffassung, dass der Gesetzgeber die Sozialversicherung nur als beitragsfinanzierte Sicherung in mittelbarer Staatsverwaltung regeln dürfe, fast einhellige Zustimmung. 4 Zur Begründung verweisen BundesverfasBVerfGE 11, S. 105 (112) – Hervorhebung nicht im Original. Die vom Bundesverfassungsgericht erst 27 Jahre nach dem Kindergeld-Urteil ausgesprochene Beschränkung der Sozialversicherungsaufgaben auf Risiken, die dem Bild der „klassischen“ Sozialversicherung entsprechen (BVerfGE 75, S. 108, 146; ebenso 87, S. 1, 34; 88, S. 203, 313), ist so unbestimmt, dass sie bei der Auslegung kaum weiterhilft. Entsprechend hat das Gericht nur sehr selten einmal soziale Leistungen aus dem Regelungsbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ausgeschlossen. Eines der wenigen Beispiele sind die Kindererziehungsleistungen nach dem Kindererziehungsleistungs-Gesetz vom 12. Juli 1987 (BGBl. I, S. 1585); siehe BVerfGE 87, S. 1 (34 f.); näher dazu unten C. II. 2. b) dd). 4 Siehe Bieback, VSSR 2003, S. 1 (16 f.); J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 246; Boecken, Pflichtaltersversorgung, S. 259; Butzer, Fremdlasten, S. 168 ff.; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 56 f.; Hase, Versicherungsprinzip, S. 48, 64; Isensee, Umverteilung, S. 44; ders., 2 3
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§ 2 Abgrenzung von den Rechtsetzungszuständigkeiten der Länder
sungsgericht und herrschende Lehre darauf, dass Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG keine Kompetenz für das gesamte Recht der sozialen Sicherheit darstelle, weil die Kompetenztitel aus Art. 73 Nr. 13, Art. 74 Abs. 1 Nr. 7, 9, 13, 18, 19 und 19 a GG ebenfalls Teilgebiete des Sozialrechts erfassen. 5 An dieser Begründung fällt zweierlei auf. Zum einen setzt sie stillschweigend voraus, dass die genannten Kompetenztitel auch untereinander abzugrenzen sind und daher auch nicht in einer Gesamtschau als weitreichende oder umfassende Bundeskompetenz für das Recht der sozialen Sicherheit interpretiert werden dürfen. Ob diese Prämisse zutrifft, wird an späterer Stelle behandelt. 6 Zum anderen folgt aus einer Beschränkung der Sozialversicherungskompetenz auf Teilgebiete des Sozialrechts noch nicht zwingend die Festlegung auf bestimmte Organisations- und Finanzierungsprinzipien. Denkbar und naheliegend wäre eine sachlich-inhaltliche Eingrenzung des Kompetenzbereichs, also eine Beschränkung der sozialen Leistungstatbestände, die der Bund nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG regeln darf. Solange die Bundesgesetzgebung sich gegenständlich auf diese sozialen Leistungen beschränkt, kann ein Wechsel der Organisations- und Finanzierungsform auf den ersten Blick nicht zu einer Usurpierung von Länderzuständigkeiten führen. Daher bedarf die Abgrenzung zwischen Bundes- und Länderkompetenzen anhand von organisationsbezogenen Kriterien einer besonderen verfassungsrechtlichen Begründung. Dafür kommen zwei Ansätze in Betracht, die im Folgenden auf ihre Überzeugungskraft untersucht werden. Zum einen könnte dem Bundesgesetzgeber bei der sachlich-inhaltlichen Bestimmung der Sozialversicherungsaufgaben ein Beurteilungsspielraum zustehen, der mit organisationsrechtlichen Beschränkungen kompensiert werden muss, damit Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nicht zur konturenlosen Generalklausel mutiert (II.). Zum anderen könnten die Länder ausschließliche Gesetzgebungskompetenzen haben, die sich sachlich-inhaltlich mit dem Regelungsbereich von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG überschneiden, also dieselben sozialen Leistungen abdecken. Wäre das der Fall, so müsste eine aufgabenbezogene Kompetenzenabgrenzung versagen und durch eine Zuständigkeitsabgrenzung nach anderen Kriterien – etwa nach der Organisations- und Finanzstruktur der unterschiedlichen Sicherungssysteme – ersetzt werden (III.).
NZS 2004, S. 393 (395); Muckel, SGb 2004, S. 583 (585 ff.); Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 74 Rn. 170 ff.; Papier, in: v. Maydell/Ruland, SRH, A. 3. Rn. 11; ders., in: FS 50 Jahre BSG, S. 23 (29); Umbach/Clemens, in: dies., MAK II, Art. 74 Rn. 66. 5 BVerfGE 11, S. 105 (111); 62, S. 354 (366); André, ZRP 1976, S. 177 (179); Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art.74 Abs.1 Nr. 12 Rn.25; Isensee, Umverteilung, S.44 mit Fußn.4; Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art.74 Rn.171; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art.74 Rn. 117; Papier, in: v. Maydell/Ruland, SRH, A. 3. Rn. 11; ders., in: FS 50 Jahre BSG, S. 23 (28); Pitschas, ZRP 1987, S. 283 (288); Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, §100 Rn.190; Rolfs, Versicherungsprinzip, S.102; W. Weber, in: FG Möller, S. 499 (509). 6 Siehe dazu unten § 3 B. I.
A. Organisations- und Finanzierungsstruktur
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II. Kompensation eines Beurteilungsspielraums für die Aufgaben der Sozialversicherung? Ein verfassungsrechtlicher Grund, die Gesetzgebungszuständigkeit für die Sozialversicherung an eine bestimmte Organisationsstruktur zu binden, könnte darin liegen, dass dem Gesetzgeber ein Beurteilungsspielraum bei der Bestimmung der Sozialversicherungsleistungen zusteht. Die organisationsrechtlichen Festlegungen könnten in diesem Fall erforderlich sein, um die inhaltliche Unbestimmtheit der Aufgabenzuweisung zu kompensieren. Sie würden verhindern, dass Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zur „Blankettvorschrift“ für beliebige Gesetzesvorhaben mutiert. 7 Im Kindergeld-Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird die Annahme eines Beurteilungsspielraums des Bundesgesetzgebers bei der Festlegung der Sozialversicherungsaufgaben zwar nicht expressis verbis ausgesprochen. Sie kommt in der Formulierung, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG erlaube auch die Einbeziehung neuer Sachverhalte in das Gesamtsystem der Sozialversicherung 8, aber mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck. Die in späteren Entscheidungen9 ausgesprochene Beschränkung auf Risiken, die dem Bild entsprechen, das durch die „klassische“ Sozialversicherung geprägt wird, ist so weit gefasst, dass sie kaum als eine Kehrtwende bezeichnet werden kann. Es verwundert daher nicht, wenn Teile des Schrifttums im Fahrwasser dieser Rechtsprechung für eine Einschätzungsprärogative 10 des Gesetzgebers bei der Festlegung der Sozialversicherungsaufgaben eintreten. Diese Annahme kann jedoch nicht unwidersprochen bleiben. Zunächst kann sie nicht erklären, wozu die organisationsbezogenen Festlegungen benötigt werden, soweit der Bund Leistungen regelt, für die er unzweifelhaft zuständig ist, ein Beurteilungsspielraum also weder bemüht noch kompensiert werden muss. Das betrifft zu-
7 Mit dieser Argumentation für die Festlegung der Sozialversicherungskompetenz auf bestimmte organisationsbezogene Strukturelemente: Butzer, Fremdlasten, S. 167; W. Leisner, Sozialversicherung, S. 69 f. 8 BVerfGE 11, S. 105 (112). 9 BVerfGE 75, S. 108 (146); 87, S. 1 (34); 88, S. 203 (313). 10 So ausdrücklich Butzer, Fremdlasten, S. 647; Wieland, VSSR 2003, S. 259 (262); ähnlich W. Leisner, der meint, von den Aufgaben her lasse sich nur ein äußerster Rahmen der Sozialversicherungskompetenz gewinnen (Sozialversicherung, S. 69 f.). Zumindest in der verschleiernden Diktion des Bundesverfassungsgerichts, dass Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG auch die Einbeziehung neuer Lebenssachverhalte in das System der Sozialversicherung erlaube, hat die These von der Einschätzungsprärogative des Bundesgesetzgebers in großen Teilen des Schrifttums Zustimmung erfahren; siehe Degenhart, in: Sachs, GG, Art.74 Rn.56; Heun, in: FS Selmer, S. 657 (659); Isensee, Umverteilung, S. 44; Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 74 Rn. 171; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 117; Papier, in: v. Maydell/Ruland, SRH, A. 3. Rn. 12; Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 100 Rn. 190; Schnapauff, in: Hömig, GG, Art.74 Rn. 11; Umbach/Clemens, in: dies., MAK II, Art.74 Rn. 66; kritisch dagegen zur fehlenden Festlegung der Sozialversicherungsaufgaben Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 237 f.; Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 87 Rn. 61; aus finanzverfassungsrechtlicher Sicht Selmer, Steuerinterventionismus, S. 189 f.
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§ 2 Abgrenzung von den Rechtsetzungszuständigkeiten der Länder
mindest die bei Schaffung des Grundgesetzes bereits existierenden Zweige der Sozialversicherung, welche von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG unstreitig 11 erfasst werden. Zudem sind organisationsbezogene Festlegungen nur bedingt geeignet, eine sachlich-inhaltliche Kompetenzbestimmung zu ersetzen. Bleibt die inhaltliche Aufgabe vollständig unbestimmt, so kann die Organisationsstruktur zur äußerlichen Legitimierung eines beliebigen Inhalts missbraucht werden.12 Der Bundesgesetzgeber könnte über Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG Länderzuständigkeiten usurpieren, indem er sie Trägern der mittelbaren Staatsverwaltung übertragen und durch Beiträge finanzieren ließe. Das Bundesverfassungsgericht 13 hat das wohl auch erkannt, weil es seit seiner Entscheidung zur Künstlersozialversicherung im Jahr 1987 verlangt, dass neue Sozialleistungen nicht nur in der organisatorischen Durchführung, sondern auch hinsichtlich der abzudeckenden Risiken, dem Bild der „klassischen“ Sozialversicherung entsprechen müssen. Doch auch ein derart eingeschränkter Beurteilungsspielraum bei der Bestimmung der Sozialversicherungsaufgaben ist verfassungsrechtlich zweifelhaft. Er wird im Wesentlichen damit begründet, dass der Verfassungsgeber 1949 bei der Kompetenzverteilung erst später entstandene soziale Risiken nicht habe berücksichtigen können. 14 Die Annahme, dass Gesetzgebungskompetenzen einer historisch flexiblen Interpretation bedürfen, verdient zwar Zustimmung. 15 Doch kann mit dieser Argumentation eine Einschätzungsprärogative des Bundesgesetzgebers nicht gerechtfertigt werden. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass das Grundgesetz kein Primat der Bundesgesetzgebung kennt, aus dem sich eine Zuständigkeitsvermutung folgern lässt. 16 Neue Staatsaufgaben sind im föderalen Staat des Grundgesetzes somit nicht automatisch Bundesaufgaben. 17 Zudem liefe ein Beurteilungsspielraum des Bundesgesetzgebers auf eine Verwischung der Kompetenzgrenzen zwischen Bundes- und Länderzuständigkeiten hinaus, die mit dem Zweck der Art. 70 ff. GG nicht in Einklang zu bringen ist. 18 Deshalb müssen neue soziale Staatsaufgaben immer wieder klar und eindeutig dem Bund oder den Ländern zugeordnet werden, ohne dass dabei eine allgemeine Zuständigkeitsvermutung in die eine oder andere Richtung zugrunde gelegt werden kann. Da ein Beurteilungsspielraum des Bundesgesetzgebers bei der Bestimmung der Sozialversicherungsaufgaben somit vor dem Grundgesetz keinen Bestand hat, ist 11 Vgl. nur BVerfGE 11, S. 105 (111); Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 117; Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 100 Rn. 190; näher dazu unten C. I. 12 So zutreffend Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 100; ähnlich bereits Selmer, Steuerinterventionismus, S. 189 f. 13 Siehe BVerfGE 75, S. 108 (146); 87, S. 1 (34); 88, S. 203 (313). 14 Siehe nur Butzer, Fremdlasten, S. 647. 15 Siehe dazu bereits oben § 1 B. I. 1. 16 Siehe oben § 1 B. I. 2. 17 Vgl. Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 100 Rn. 26. 18 Siehe oben § 1 B. II. 4.
A. Organisations- und Finanzierungsstruktur
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eine Kompensation durch organisationsrechtliche Festlegungen verfassungsrechtlich weder zulässig noch notwendig.
III. Aufgabenkonkurrenzen zwischen Bund und Ländern im Bereich der sozialen Sicherung Somit verbleibt als zweiter Grund, aus dem der Bund bei der Regelung von Sozialversicherungsaufgaben auf eine bestimmte Organisation und Finanzierung festgelegt sein könnte, dass die Länder möglicherweise ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeiten haben, die ganz oder teilweise den selben sachlich-inhaltlichen und personellen Regelungsbereich wie Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG abdecken, aber auf andere Organisations- und Finanzierungsformen bezogen sind. Die Organisations- und Finanzierungsprinzipien der Sozialversicherung hätten in diesem Fall eine originäre und unverzichtbare Abgrenzungsfunktion. Für die Annahme, dass die Länder ausschließliche Gesetzgebungskompetenzen haben, die inhaltlich mit Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG konkurrieren, gibt es zwei verfassungsrechtliche Ansätze: eine Länderzuständigkeit für öffentliche Versicherungsmonopole (1.) sowie eine Länderzuständigkeit für steuerfinanzierte soziale Versorgungssysteme (2.). Diese beiden Ansätze werden im Folgenden skizziert und jeweils daraufhin untersucht, ob sie in organisationsrechtlicher Hinsicht eindeutig von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und anderen Kompetenzen des Bundes unterscheidbar sind. Selbst wenn die Bildung von hinreichend klaren organisationsbezogenen Abgrenzungsmerkmalen möglich sein sollte, erscheint allerdings fraglich, ob eine organisationsbezogene Kompetenzabgrenzung eine fehlende sachlich-inhaltliche Kompetenztrennung kompensieren kann (3.). 1. Länderkompetenz für öffentliche Versicherungsmonopole Der erste Ansatz zur Begründung einer Aufgabenkonkurrenz zwischen Bund und Ländern geht auf die Länderkompetenz für öffentliche Versicherungsmonopole zurück. Nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG hat der Bund die konkurrierende Kompetenz für das privatrechtliche Versicherungswesen. Diese Formulierung hebt Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG nicht nur von der Sozialversicherung, sondern – wie sich aus der Entstehungsgeschichte 19 ergibt – auch von anderen öffentlich-rechtlichen Zwangsversicherungen ab. Für letztere besteht eine ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit der Länder. 20 Das traditionelle Beispiel sind die öffentlichen Gebäudeversicherungsmonopole 21, die inzwischen jedoch unter dem Druck des europäischen WettSiehe dazu v. Doemming/Füßlein/Matz, JöR n. F. 1 (1951), S. 516, 518 f. Siehe BVerfGE 10, S. 141 (162 f.); 41, S.205 (218 ff.); 103, S. 197 (216); Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 100; Umbach/Clemens, in: dies., MAK II, Art.74 Rn. 54. 21 Vgl. dazu Kummle, Gebäudeversicherung. 19 20
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bewerbsrechts (Art. 81 ff. EGV) abgebaut 22 worden sind. Nach einer – allerdings sehr umstrittenen – Auffassung fällt unter die Länderkompetenz für öffentliche Versicherungsmonopole auch die Alterssicherung in den berufsständischen Versorgungswerken. 23 Damit wird den Ländern eine mit Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG rivalisierende Gesetzgebungszuständigkeit für die Errichtung von beitragsfinanzierten Alterssicherungssystemen zugesprochen. Folgt man vorläufig einmal dieser Auffassung, so scheidet eine organisationsbezogene Kompetenzabgrenzung zu Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG allerdings ersichtlich aus: die Organisationsstrukturen sind nämlich weitgehend identisch.24 Sowohl die unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG fallenden Sozialversicherungszweige als auch die berufsständischen Versorgungswerke werden in mittelbarer Staatsverwaltung betrieben, durch einkommensbezogene Beiträge finanziert und sehen im Regelfall eine Zwangsmitgliedschaft der Versicherten vor. Zudem weisen beide Sicherungssysteme durch die beitragsfreie Absicherung von Familienangehörigen und die Anwendung von Finanzierungsverfahren, die eine Verwendung von Beitragsleistungen der jüngeren Alterskohorten für Leistungen an ältere Alterskohorten erlauben, vergleichbare sozial motivierte Verteilungsmechanismen auf. 25 22 Siehe dazu E. Hofmann, Privatversicherungsrecht, §1 Rn.6; Renger, VersR 1993, S.942 ff. Aus der Beseitigung der landesrechtlichen Gebäudeversicherungsmonopole kann nicht der Schluss gezogen werden, dass der Bund inzwischen für das gesamte Versicherungswesen zuständig sei. Da das europäische Kartellrecht Bund und Länder in gleichem Maße bindet, kann es die Kompetenzverteilung im Bundesstaat nicht verschieben; ebenso zur Einwirkung der Rechtsetzungszuständigkeiten der EG auf die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 6; gegen eine Bundeskompetenz für die Gebäudeversicherung auch Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 103. 23 So BayVerfGH, BayVGHE n. F. 4 (1951), S. II 219 (236 f.); 5 (1952), S. II 287 (291); 12 (1959), S. II 14 (17 f.); 16 (1963), S. II 117 (122); Lerche/Pestalozza, in: ABV, Versorgung, S. 213 (260 ff.); v. Mangoldt/Klein/Pestalozza, GG VIII, Art. 74 Rn. 140, 538, 830, 861; weitere Nachweise bei Boecken, Pflichtaltersversorgung, S. 274 in Fußn. 131. Eine stark verbreitete Gegenauffassung ordnet die berufsständischen Versorgungswerke dagegen als Sozialversicherung i. S. d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ein; so BVerfGE 63, S. 1 (35 f.); Axer, in: Dolzer/Vogel/ Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 45; Bieback, Bürgerversicherung, S. 176; Boecken, Pflichtaltersversorgung, S. 263 ff.; H. Bogs, Sozialversicherung, S. 273; W. Bogs, DVBl. 1964, S. 1 (6); Hahn, Alterssicherung, S. 209 ff.; H. P. Ipsen, in: Rohrbeck, Versicherungswirtschaft, S. 31 (46 f.); Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 74 Rn. 171; Papier, in: v. Maydell/Ruland, SRH, A. 3. Rn. 14; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 74 Rn. 31; Wannagat, Sozialversicherungsrecht, S. 392 f.; Zacher, Sozialpolitik, S. 59 f. Nach einer dritten Auffassung fallen die berufsständischen Versorgungswerke unter das Recht der Wirtschaft (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG); so BVerfGE 1, S. 264 (272); Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 50; Oeter, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 87. Offen gelassen wurde die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die berufsständischen Versorgungswerke in BVerfGE 10, S. 354 (360 f.); 12, S. 319 (323); BVerwGE 87, S. 324 (325 f.); BVerwG, NJW 1983, S. 2650; NJW 1994, S. 1888. 24 Eingehend und überzeugend dazu Boecken, Pflichtaltersversorgung, S. 263 ff., 282 ff.; vgl. auch Bieback, Bürgerversicherung, S. 176. 25 Generationenübergreifende Umverteilungen finden in den berufsständischen Versorgungswerken allerdings in geringerem Maße statt als in der Sozialversicherung, da die Versorgungswerke zumeist nicht das Umlageverfahren der Sozialversicherung, sondern das „offene
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Da sich die behauptete Länderkompetenz für die berufsständische Altersversorgung anhand von organisationsbezogenen Merkmalen von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nicht abgrenzen lässt, ist sie verfassungsrechtlich nur noch zu halten, soweit die von den Versorgungswerken erfassten Berufsgruppen aus dem Anwendungsbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ausscheiden. Dabei geht es aber nicht mehr um die organisationsbezogenen, sondern um die personellen Grenzen der Sozialversicherungskompetenz, welche erst an späterer Stelle 26 behandelt werden. 2. Länderkompetenz für die soziale Sicherung in Form der „Versorgung“ a) Die Trias aus Sozialversicherung, Fürsorge und Versorgung und die beschränkten Versorgungskompetenzen des Bundes Der zweite Ansatz zur Begründung einer Länderkompetenz für die soziale Sicherung ist mit der klassischen Einteilung der sozialen Sicherungssysteme in die Trias 27 aus Sozialversicherung, Fürsorge und Versorgung verbunden. „Sozialversicherung“ ist in dieser Einteilung gleichbedeutend mit beitragsfinanzierter Sicherung; „Versorgung“ und „Fürsorge“ meinen jeweils steuerfinanzierte Sicherungsformen, die sich darin unterscheiden, dass die Fürsorge an ein konkretes individuelles Bedürfnis anknüpft (klassisches Beispiel: Sozialhilfe), während die Versorgung unabhängig davon gezahlt wird (klassisches Beispiel: Altersversorgung der Beamten). Die Kompetenztitel des Grundgesetzes scheinen diese Dreiteilung zu übernehmen, da die Verfassung neben einer Gesetzgebungszuständigkeit für die Sozialversicherung (Art. 74 Abs.1 Nr. 12 GG) ausdrücklich auch Kompetenzen für die „Fürsorge“ (Art.73 Nr. 13, Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) und für die „Versorgung“ (Art. 73 Nr. 13 GG) ausweist. Die Versorgungskompetenzen des Bundes sind allerdings eng begrenzt. Die einzige ausdrückliche Bundeskompetenz aus Art. 73 Nr. 13 GG bezieht sich auf Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene. Zwar hatte der Bund früher nach Art. 74 a GG auch die konkurrierende Kompetenz für die Versorgung der Landes- und Kommunalbeamten sowie der Landesrichter. Art. 74 a GG ist allerdings im Zuge der Föderalismusreform im Jahr 2006 aufgehoben worden 28; die Regelungskompetenz liegt somit wie vor dem Erlass des Art. 74 a GG im Jahr 1970 wieder bei den Ländern 29. Verblieben ist dem Bund aber nach Art. 73 Nr. 8 GG die Kompetenz für die Deckungsplanverfahren“ anwenden, bei dem das Beitragsaufkommen zumindest teilweise zur Bildung eines Kapitalstocks verwendet wird; näher dazu Boecken, Pflichtaltersversorgung, S. 129 ff., 134 ff. 26 Siehe dazu unten B. I. 27 Ausführlich dazu Wannagat, Sozialrecht, S. 1 ff., 31 ff.; siehe auch Gitter/Schmitt, Sozialrecht, § 1 Rn. 9 ff.; W. Leisner, Sozialversicherung, S. 76 ff.; Ruland, in: Schmidt-Aßmann, Besonderes Verwaltungsrecht, 7. Kap. Rn. 15 ff. 28 Siehe Art. 1 Nr. 8 des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. August 2006 (BGBl. I, S. 2034). 29 Ebenso Oeter, in: Starck, Föderalismusreform, Rn. 64.
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§ 2 Abgrenzung von den Rechtsetzungszuständigkeiten der Länder
Versorgung der Bundesbediensteten. Art. 73 Nr. 8 GG enthält zwar keinen ausdrücklichen Hinweis auf diesen Kompetenzgehalt. Früher wurde die ausschließliche Bundeszuständigkeit für die Versorgung der Bundesbediensteten jedoch durch eine in Art. 74 a Abs. 1 GG enthaltene Verweisung auf Art. 73 Nr. 8 GG klargestellt. Da die Streichung des Art. 74 a GG ausschließlich den Übergang der Versorgungszuständigkeit für die Landes- und Kommunalbediensteten auf die Länder bewirken sollte, hat sich an der Versorgungskompetenz des Bundes für die Bundesbediensteten nichts geändert. 30 Eine weitere ausschließliche Versorgungskompetenz des Bundes wird zudem aus Art. 48 Abs. 3 S. 3 GG für die soziale Sicherung der Bundestagsabgeordneten abgeleitet. 31 Zwar spricht die Regelung nur von einer angemessenen Entschädigung. Der Begriff der Abgeordnetenentschädigung hat sich vom historischen Vorbild der reinen Aufwandsentschädigung aber inzwischen gelöst. 32 Unter der Geltung des Demokratieprinzips und des allgemeinen passiven Wahlrechts (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG) muss allen Bevölkerungsschichten der Zugang zum Parlament in gleicher Weise möglich sein. Die Wahl in den Bundestag darf daher nicht zu Einbußen an sozialer Sicherung während oder nach der Abgeordnetentätigkeit führen, weil dadurch potentielle Wahlbewerber von einer Kandidatur abgehalten werden könnten. 33 Daher betrachtet das Bundesverfassungsgericht 34 die soziale Sicherung der Abgeordneten zu Recht als Annex der Entschädigungskompetenz. Insgesamt beschränken sich die Versorgungskompetenzen des Bundes nach der Aufhebung des Art. 74 a GG somit auf Kriegsopfer, Bundesbedienstete und Bundestagsabgeordnete, während der Bundesgesetzgeber das Recht der Sozialversicherung und das Recht der öffentlichen Fürsorge – mit der 2006 in Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG eingefügten Ausnahme des Heimrechts – umfassend regeln darf. Aus diesem Ungleichgewicht zwischen den Bundeskompetenzen für die Sozialversicherung und die Fürsorge einerseits sowie für die Versorgung andererseits schließen Stimmen im Schrifttum, dass der Bund für die Errichtung von steuerfinanzierten Versorgungssystemen für die gesamte Erwerbsbevölkerung – etwa eine steuerfinanzierte Grund30 Ob Art. 73 Nr. 8 GG alle Bundesbediensteten in öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnissen umfasst oder einzelne Berufsgruppen unter andere Kompetenztitel – z.B. Soldaten unter Art.73 Nr. 1 GG, Bundesrichter unter Art. 98 Abs. 1 GG – fallen (vgl. dazu Heintzen, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG II, Art. 73 Rn. 80), kann dahinstehen, weil sich im Ergebnis an der ausschließlichen Kompetenz des Bundes nichts ändert. 31 BVerfGE 32, S. 157 (164 f.); 40, S. 296 (311); Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG II, Art. 48 Rn. 52; Grundmann, DÖV 1994, S. 329 ff.; Magiera, in: Sachs, GG, Art. 48 Rn. 23; Umbach, in: ders./Clemens, MAK II, Art. 48 Rn. 27. Siehe zu der entsprechenden Länderkompetenz für die Landtagsabgeordneten unten B. II. 2. 32 Vgl. dazu BVerfGE 40, S. 296 (310 ff.); Grundmann, DÖV 1994, S. 329 (329 f.); Welti, Sicherung der Abgeordneten, S. 147 ff. 33 Umgekehrt stellen Übergangsgeld und Altersversorgung auch sicher, dass der Abgeordnete sich ein Ausscheiden aus dem Parlament „leisten kann“ und sich nicht wegen seiner Existenzsicherung um eine Wiederwahl bemühen muss; vgl. Grundmann, DÖV 1994, S. 329 (330). 34 BVerfGE 32, S. 157 (164 f.); 40, S. 296 (311); 76, S. 256 (342).
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sicherung – nicht zuständig sei. 35 Damit werden soziale Leistungen, welche de lege lata die Sozialversicherung erbringt, zur Ländersache erklärt, soweit sie nicht durch Sozialversicherungsbeiträge, sondern aus Steuermitteln finanziert werden. b) Organisationsbezogene Abgrenzung einer Versorgungskompetenz der Länder von Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 und Nr. 12 GG Die Abgrenzung einer Versorgungskompetenz der Länder von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG anhand von organisationsbezogenen Kriterien scheint auf den ersten Blick einfach, da im einen Fall eine steuerfinanzierte, im anderen Fall eine beitragsfinanzierte Form der sozialen Sicherung vorliegt. Diese klare Unterscheidung wird in der Staatspraxis jedoch dadurch verwässert, dass die Sozialversicherung seit ihrer Errichtung in den 1880er Jahren regelmäßig auch durch Zuschüsse aus dem Steueraufkommen finanziert worden ist. 36 Da Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG 37 die Bundeszuschüsse zu den Lasten der Sozialversicherung ausdrücklich erwähnt, wird die grundsätzliche Verfassungsmäßigkeit einer Teilfinanzierung der Sozialversicherung aus dem Steuerhaushalt auch allgemein nicht mehr angezweifelt.38 Zudem würde eine Länderkompetenz für steuerfinanzierte Versorgungsleistungen noch gravierendere Abgrenzungsprobleme im Hinblick auf einer andere Bundeszuständigkeit aufwerfen: die konkurrierende Kompetenz für die öffentliche Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG). Da die Begriffe Fürsorge und Versorgung beide mit steuerfinanzierten Sicherungssystemen identifiziert werden, kann für ein steuerfinanziertes Sicherungssystem nicht per se eine Länderkompetenz reklamiert werden; eine Subsumtion unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG ist ebenfalls möglich. 39 Im sozialrechtlichen Schrifttum werden die Begriffe Fürsorge und Versorgung traditionell dadurch unterschieden, dass die Fürsorge sowohl in ihren Anspruchsvoraussetzungen als auch in ihrem Leistungsinhalt an ein individuell festgestelltes Bedürfnis gebunden ist, wie es etwa im Sozialhilferecht der Fall ist, während eine Versorgungsleistung unabhängig vom individuellen Bedarf aufgrund eines gesetzlichen Versorgungstatbestandes erbracht wird. 40 Nach dieser Klassifizierung knüpft die 35 So Isensee, NZS 2004, S. 393 (395): der Bund habe keine Kompetenz für eine „Volksversorgung“; im Hinblick auf die Konsequenzen aus der Unterscheidung zwischen Sozialversicherung, Fürsorge und Versorgung für die Gesetzgebungskompetenz des Bundes noch zurückhaltender: ders., Umverteilung, S. 47; gegen eine Versorgungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG auch Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 60; Hase, Versicherungsprinzip, S. 64. 36 Siehe zum Parallelproblem der Abgrenzung zwischen Sozialversicherung und Fürsorge unten § 3 C. II. 3. b). 37 Näher zur Auslegung des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG unten § 3 C. II. 3. und § 6 D. 38 Siehe BVerfGE 76, S. 256 (301); Bieback, VSSR 1993, S. 1 ff.; Butzer, Fremdlasten, S. 171, 173, 307 ff.; Hase, Versicherungsprinzip, S. 16 f.; Isensee, Umverteilung, S. 46 f.; ders., SDSRV 35 (1992), S. 19 (37); Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 117. 39 Vgl. Isensee, Umverteilung, S. 47. 40 Siehe Wannagat, Sozialversicherungsrecht, S. 6 f., 9.
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§ 2 Abgrenzung von den Rechtsetzungszuständigkeiten der Länder
Fürsorge an ein im Einzelfall festgestelltes, die Versorgung an ein gesetzlich typisiertes Bedürfnis an. Doch fragt sich, ob diese Unterscheidung für die Auslegung von Gesetzgebungskompetenzen taugt. Sie würde den Anwendungsbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG jedenfalls merklich einschränken. So wäre das Bundeskindergeldgesetz ebenso wie das 2006 vom Bundesgesetzgeber beschlossene Elterngeld 41 alleine deshalb verfassungswidrig, weil der finanziellen Zuwendung keine individuelle Bedarfsprüfung vorausgeht. 42 Im Ergebnis liefe diese Kompetenzabgrenzung auf eine betont enge Auslegung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG hinaus, die oben bereits allgemein für die Auslegung von Bundeskompetenzen abgelehnt worden ist. 43 Da gesetzliche Bedarfstypisierungen den Verfahrensaufwand bei der Ermittlung von Sachverhalten begrenzen und damit einen Beitrag zum effizienten Einsatz staatlicher Verwaltungskapazitäten leisten 44, ist auch nicht einzusehen, warum dem Fürsorgegesetzgeber die Ersetzung von Einzelfallprüfungen durch typisierende Leistungstatbestände verwehrt sein soll. 45 Zudem lässt sich nicht feststellen, dass das Grundgesetz die Begriffe Fürsorge und Versorgung klar voneinander unterscheidet und einheitlich in dem oben genannten Sinne verwendet. 46 So werden etwa in Art. 73 Nr. 13 GG die Versorgung der Kriegsbeschädigten und Hinterbliebenen und die Fürsorge für die ehemaligen Kriegsgefangenen in einem Atemzug genannt. Die Vorschrift wurde 1949 wortgleich als Art. 74 Nr. 10 GG in das Grundgesetz aufgenommen und erst im Zuge der Föderalismusreform in den Art. 73 GG verschoben. Sie orientiert sich am historischen Vorbild des Art. 7 Nr. 11 der Weimarer Reichsverfassung, nach dem das Reich die Gesetzgebung über „die Fürsorge für die Kriegsteilnehmer und ihre Hinterbliebenen“ hatte. Art. 36 Nr. 12 des Herrenchiemsee-Entwurfs zum Grundgesetz sprach dagegen ohne erkennbare Absicht einer Bedeutungsverschiebung von der „Versorgung von Kriegsteilnehmern und Kriegshinterbliebenen“. Die anschließenden Be41 Geregelt im Bundeselterngeld- und Elternteilzeitgesetz (BEEG) vom 5. Dezember 2006 (BGBl. I, S. 2748). Vgl. zu dieser neuen Sozialleistung Jung, SGb 2007, S. 449 ff.; Quambusch, ZFSH/SGB 2007, S. 529 ff. 42 Aus diesem Grunde an der Bundeskompetenz für das Kindergeldgesetz zweifelnd Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 100 Rn. 154; a. A. die ganz überwiegende Auffassung: Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 40; Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 74 Rn. 113; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 62; Umbach/Clemens, in: dies., MAK II, Art. 74 Rn. 37. Kritisch zur Bundeskompetenz für das Elterngeld Seiler, NVwZ 2007, S. 129 (130); ders., NZS 2007, S. 617 (622). 43 Siehe § 1 B. I. 1. 44 Vgl. zu den Vorteilen typisierender und pauschalierender Regelungen J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 262 ff. 45 Daher verdient Maunz Zustimmung, wenn er den Grundsatz der Nachrangigkeit der Sozialhilfe nicht als verfassungsrechtliche Frage der Gesetzgebungskompetenz, sondern als politische Entscheidung des Gesetzgebers bezeichnet (in: ders./Dürig, GG, Art.74 Rn. 114). 46 Ähnliches gilt auch für den Sprachgebrauch des einfachen Rechts. So werden die berufsständischen Alterssicherungssysteme als Versorgungswerke bezeichnet, obwohl sie nicht durch Steuern, sondern durch Beiträge finanziert werden und somit nach klassischer Terminologie keine Versorgung, sondern eine Sozialversicherung darstellen.
A. Organisations- und Finanzierungsstruktur
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ratungen des parlamentarischen Rates zu Art. 74 Nr. 10 GG 47 konzentrierten sich auf die Frage, ob nur Kriegsteilnehmer der Wehrmacht oder auch kriegsgeschädigte Zivilpersonen unter den Kompetenztitel zu fassen seien. Mögliche Überschneidungen zwischen den Begriffen Fürsorge und Versorgung wurden dabei nur am Rande angesprochen und in Kauf genommen. 48 Aufgrund dieser Entstehungsgeschichte ist es nicht zu tadeln, dass die klassische Unterscheidung zwischen bedarfsabhängiger Fürsorge und bedarfsunabhängiger Versorgung für die Auslegung des heutigen Art. 73 Nr. 13 GG gemeinhin keine Rolle spielt. 49 Rückblickend drängt sich damit die Frage auf, ob die Unterscheidung zwischen Fürsorge und Versorgung für die Auslegung der Gesetzgebungskompetenzen des Grundgesetzes nicht insgesamt aufzugeben ist, weil aus einer Gegenüberstellung von Fürsorge- und Versorgungssystemen keine klaren Abgrenzungsmerkmale zwischen Bundes- und Länderzuständigkeiten entwickelt werden können. 50 Das wäre jedenfalls die logische Konsequenz der herrschenden und zutreffenden Auffassung 51, dass die Bundeskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG weit auszulegen und nicht auf die Armenfürsorge im engeren Sinne beschränkt ist. Soweit Länderkompetenzen für Teilbereiche der sozialen Sicherung anzuerkennen sind, können sie daher jedenfalls nicht anhand ihrer Organisations- und Finanzierungsstruktur von den Bundeszuständigkeiten aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 und Nr. 12 GG abgegrenzt werden. Sie müssen sich daher entweder auf Bevölkerungskreise 52 oder auf soziale Risiken beziehen, die von den Bundeszuständigkeiten nicht erfasst werden. Siehe dazu v. Doemming/Füßlein/Matz, JöR n. F. 1 (1951), S. 514 f. So bezeichnete es der Abgeordnete Strauß (CDU) als unerheblich, wenn die Versorgungskompetenz für die Kriegsteilnehmer und Hinterbliebenen in die Kompetenz für die öffentliche Fürsorge übergreife; siehe v. Doemming/Füßlein/Matz, JöR n. F. 1 (1951), S. 514. 49 Allgemein werden die Begriffe Versorgung und Fürsorge in Art. 73 Nr. 13 GG nur dahingehend unterschieden, dass die Versorgung der Kriegsgeschädigten und Kriegshinterbliebenen auf die Begleichung von Personenschäden begrenzt sei, während die Fürsorge für die ehemaligen Kriegsgefangenen auch Sachschäden umfasse; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 73 Rn. 38; siehe zu Art. 74 Abs. 1 Nr. 10 GG a. F. Degenhart, in: Sachs, GG, Voraufl. 2003, Art. 74 Rn. 36; Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 74 Rn. 126, 128; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 74 f.; Umbach/Clemens, in: dies., MAK II, Art. 74 Rn. 42. 50 Dafür auch Rolfs, der Versorgungsleistungen unter die Fürsorgekompetenz des Bundes subsumiert (Versicherungsprinzip, S. 109 in Fußn. 63); ebenso geht W. Leisner davon aus, dass sich die Begriffe Fürsorge und Versorgung nicht voneinander abgrenzen lassen (Sozialversicherung, S. 81); ähnlich Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 74 Rn. 114; Zacher, Sozialpolitik, S. 50 ff.; aus finanzverfassungsrechtlicher Sicht Isensee, SDSRV 35 (1992), S. 7 (12 f.). 51 Siehe BVerfGE 22, S. 180 (212 f.); 42, S. 263 (281 f.); 58, S. 208 (227); 87, S. 1 (35); 88, S. 203 (329 f.); 97, S. 332 (341); Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 63; Papier, in: v. Maydell/Ruland, SRH, A. 3. Rn. 18; Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 100 Rn. 155; Seiler, NVwZ 2007, S. 129; ders., NZS 2007, S. 617 (619); Stettner, in: H. Dreier, GG II (2007), Art. 74 Rn. 46; Umbach/Clemens, in: dies., MAK II, Art. 74 Rn. 34; Welti, Behinderung, S. 298 f.; Wannagat, Sozialversicherungsrecht, S. 6; kritisch zur einer weiten Auslegung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG dagegen Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG III, Art. 74 Rn. 32 f. 52 Siehe zur Versorgungskompetenz der Länder für die öffentlich-rechtlichen Bediensteten der Länder und Kommunen unten B. II. 47 48
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§ 2 Abgrenzung von den Rechtsetzungszuständigkeiten der Länder
Zudem wird sich an späterer Stelle zeigen, dass die vorgebliche Abgrenzung der Sozialversicherungskompetenz von Versorgungskompetenzen der Länder eine verkappte Staatsaufgabenkritik darstellt, die den Ausbau des Sozialstaats zum totalen Versorgungsstaat verhindern soll. 53 Eine derartige Aussage der Verfassung müsste freilich an Bund und Länder adressiert sein und hätte daher keine Relevanz für die föderale Zuständigkeitsabgrenzung. 3. Die Eignung organisationsbezogener Merkmale zur Lösung von Kompetenzkonflikten Selbst wenn man entgegen der hier vertretenen Auffassung dennoch davon ausginge, dass sich die Länderkompetenzen für öffentliche Versicherungsmonopole und für steuerfinanzierte Versorgungssysteme anhand ihrer Organisationsstrukturen hinreichend von den Bundeskompetenzen aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 und Nr. 12 GG unterscheiden lassen, stellt sich die Frage, ob damit Kriterien gewonnen sind, die eine verfassungsrechtlich überzeugende Lösung von Kompetenzkonflikten zwischen Bund und Ländern erlauben. Wenn Bundes- und Länderkompetenzen auf dem Gebiet der sozialen Sicherung primär nach der Organisationsstruktur und Finanzierung der Sicherungssysteme abzugrenzen wären, inhaltlich aber die Sicherung derselben Bevölkerungskreise und derselben sozialen Risiken abdecken würden, wären Zuständigkeitskonflikte geradezu vorprogrammiert. So könnten die Länder im Extremfall in allen fünf Zweigen der Sozialversicherung auf das bestehende Bundesrecht nicht abgestimmte, steuerfinanzierte „Arbeitnehmerversorgungswerke“ errichten. Eine derartige Rivalität zwischen Bundes- und Landesgesetzgeber lässt das Grundgesetz aber nicht zu.54 Da nach Art. 70 Abs. 2 GG die Gesetzgebungszuständigkeiten der Länder in Abgrenzung zu den ausschließlichen und konkurrierenden Kompetenzen des Bundes zu bestimmen sind, ist eine auch nur teilweise inhaltliche Deckung von ausschließlichen Länderkompetenzen und konkurrierenden Bundeszuständigkeiten ausgeschlossen. 55 Deshalb können Zuständigkeitskonflikte zwischen Bund und Ländern auch nicht derart gelöst werden, dass dem Bundesgesetzgeber die soziale Sicherung von Bevölkerungsgruppen verwehrt ist, die bereits in ein landesrechtliches Versorgungssystem integriert worden sind. 56 Die konkurrierende Kompetenz des Bundes stünde dann nämlich unter dem Vorbehalt, dass die Länder deckungsgleiche Zuständigkeiten nicht ausgeübt haben. Damit würde die Regelung des Art. 72 Abs. 1 GG, nach dem die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung nur haben, soweit und solange der Bund von seiner konkurrierenden Zuständigkeit nicht Gebrauch gemacht hat, auf Siehe dazu unten § 3 B. II. 2. So im Ergebnis auch Zacher, Sozialpolitik, S.52: neben den Kompetenzen des Bundes bleibe kein Raum für eine Zuständigkeit der Länder für eine allgemeine Staatsbürgerversorgung. 55 Siehe dazu bereits oben § 1 B. II. 4. 56 So aber Lerche/Pestalozza, in: ABV, Versorgung, S. 213 (248 f.). 53 54
A. Organisations- und Finanzierungsstruktur
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den Kopf gestellt. 57 Im Ergebnis würde eine subsidiäre Gesetzgebungskompetenz des Bundes konstruiert, die das Grundgesetz – anders als die Reichsverfassung von 1871 – nicht kennt 58. Zudem würde ein „Wettlauf der Gesetzgeber“ eröffnet, bei dem Bund und Länder jeweils diejenigen Kompetenzen weiterhin ausüben dürften, die sie sich frühzeitig angeeignet hätten. Einen derartigen Kompetenzwettstreit zwischen Bundes- und Landesgesetzgebern erlaubt das Grundgesetz aber nicht.59 Eine Überschneidung der von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG erfassten Sozialversicherungsleistungen mit sozialen Risiken, für die eine Gesetzgebungskompetenz der Länder besteht, ist daher verfassungsrechtlich ausgeschlossen. Soweit Gesetzgebungskompetenzen der Länder auf dem Gebiet der sozialen Sicherung bestehen, können sie sich deshalb nur auf die Sicherung von anderen Bevölkerungsgruppen oder auf andere soziale Leistungstatbestände beziehen als die konkurrierende Bundeszuständigkeit für die Sozialversicherung. Eine organisationsbezogene Kompetenzabgrenzung kann eine aufgabenbezogene Kompetenzabgrenzung nicht ersetzen.
IV. Resümee Da der Bund bei der Bestimmung der Sozialversicherungsaufgaben weder einen Beurteilungsspielraum hat, der durch organisationsbezogene Festlegungen zu kompensieren wäre, noch neben Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG Raum für ausschließliche Länderzuständigkeiten ist, welche dieselben sozialen Leistungen in einer anderen Organisationsform abdecken, spielt die Organisations- und Finanzierungsstruktur der Sozialversicherung für die Abgrenzung der Sozialversicherungskompetenz von den ausschließlichen Gesetzgebungszuständigkeiten der Länder keine Rolle. Damit ist noch keine abschließende Aussage darüber getroffen, ob sich aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG organisations- oder finanzverfassungsrechtliche Bindungen ergeben. Sie bedürfen aber einer Begründung, die mit der Abgrenzung der Sozialversicherungskompetenz vom Bereich der ausschließlichen Länderkompetenzen nichts zu tun hat. Zwar wird sich an späterer Stelle erweisen, dass Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG in Abgrenzung zur Fürsorgekompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG sehr wohl auf eine bestimmte Organisations- und Finanzierungsstruktur beschränkt ist.60 Die dogmatische Trennung der Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern von der gegenseitigen Abgrenzung der Bundeskompetenzen ist aber keineswegs bedeutungslose art pour l’art. Erst die undifferenzierte Vermischung der unterschiedlichen dogmatischen Funktionen des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG konnte zu der unhaltbaren These führen, dass der Bund bei der Bestimmung der Sozialversicherungsaufgaben einen Beurteilungsspielraum habe.
57 58 59 60
Vgl. Boecken, Pflichtaltersversorgung, S. 286 f. Vgl. dazu Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 70 Rn. 43. Siehe März, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 31 Rn. 54. Siehe unten § 3 C. II. 3.
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§ 2 Abgrenzung von den Rechtsetzungszuständigkeiten der Länder
B. Die Abgrenzung des personellen Regelungsbereichs Hat die Organisationsstruktur der Sozialversicherung für die Abgrenzung von den Länderzuständigkeiten keine Bedeutung, so bleiben zur Trennung der Kompetenzbereiche personelle und sachlich-inhaltliche Merkmale. Bevor die sachlich-inhaltlichen Sozialversicherungsaufgaben des Bundes näher behandelt werden, soll im Folgenden zunächst der personelle Anwendungsbereich der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG bestimmt werden. Dabei stellt sich an erster Stelle die Frage, ob die Sozialversicherung auf ihren historischen Ursprung als Arbeiterversicherung verpflichtet und daher auf Arbeitnehmer und deren Angehörige begrenzt ist (I.). Die soziale Sicherung der übrigen Bevölkerung, insbesondere der Selbständigen, wäre dann eine exklusive Aufgabe der Länder. Selbst wenn das nicht zutrifft, könnten die Länder aber jedenfalls die ausschließliche Kompetenz für die soziale Sicherung der öffentlich-rechtlichen Amtsträger im Dienst der Länder und Kommunen haben (II.). Von diesen personellen Aspekten der Kompetenzzuweisung ist die an späterer Stelle behandelte Frage strikt zu unterscheiden, ob die Gesetzgebungskompetenz des Bundes sachlich-inhaltlich nur Risiken abdeckt, die mit dem Berufsleben in Zusammenhang stehen. 61
I. Beschränkung der Sozialversicherungskompetenz auf Arbeitnehmer und deren Angehörige? 1. Die Sozialversicherung als Arbeitnehmerversicherung? Nach einer früher insbesondere vom Bayerischen Verfassungsgerichtshof vertretenen Auffassung beschränkt sich die Gesetzgebungskompetenz für die Sozialversicherung auf Arbeitnehmer und deren mitversicherte Familienangehörigen. 62 Diese Auffassung stützt sich zum einen auf den historischen Ursprung der Sozialversicherung als Arbeiterversicherung. 63 Zum anderen sprechen die ausdrückliche Erwähnung der Arbeitslosenversicherung und die Nachbarschaft von Arbeitsrecht und Sozialversicherung in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG dafür, diesen Kompetenztitel als Sachzuständigkeit für das Recht der abhängig Beschäftigten auszulegen. 64 Siehe dazu unten C. II. 2. b) aa) und cc). Siehe BayVerfGH, BayVGHE n. F. 12 (1959), S. II 14 (17 f.); ebenso Hamann/Lenz, GG, Art. 74 Anm. 23; Schmitt-Lermann, Pflichtmitgliedschaft, S. 55; weitere Nachweise bei Boecken, Pflichtaltersversorgung, S. 253 in Fußn. 21. 63 Siehe dazu Peters, Geschichte, S. 49 ff.; Wannagat, Sozialversicherungsrecht, S. 61 ff., 70 ff. 64 Vgl. BayVerfGH, BayVGHE n. F. 12 (1959), II S. 14 (17 f.); tendenziell auch Hase, Versicherungsprinzip, S. 7. 61 62
B. Die Abgrenzung des personellen Regelungsbereichs
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Es trifft zu, dass die Sozialversicherung ursprünglich als Sicherung der Arbeiter und Angestellten mit geringem Einkommen entstanden ist. Entsprechend werden die Arbeitnehmer heute noch in § 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 Alt. 1 SGB IV an erster Stelle der Versicherungspflichtigen aufgeführt. Doch sahen schon Bismarcks Arbeiterversicherungsgesetze die Möglichkeit vor, auch „proletaroide Selbständige“ 65 der Versicherungspflicht zu unterwerfen. 66 Im weiteren historischen Verlauf sind bis zur Entstehung des Grundgesetzes bereits Hausgewerbetreibende, selbständige Lehrer, Erzieher und Musiker, Hebammen, Pflegepersonen, Artisten, Küstenschiffer, Küstenfischer sowie – als größte Gruppe der Selbständigen – die Handwerker 67 in die Sozialversicherung einbezogen worden. 68 Diese Entwicklung bringt der Begriff „Sozialversicherung“, der im Laufe des letzten Jahrhunderts die im Kaiserreich noch geläufige Bezeichnung „Arbeiterversicherung“ abgelöst hat 69, selbst zum Ausdruck. Weder die Terminologie noch die Entstehungsgeschichte 70 des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG enthalten Hinweise, dass der Verfassungsgeber das Rad dieser Entwicklung 1949 habe zurückdrehen wollen. 71 Zudem hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof dem Grundgesetzgeber zu Unrecht unterstellt, er habe bei der Formulierung des Kompetenztitels die landesrechtlichen berufsständischen Versorgungswerke bewusst ausgeklammert. 72 Abgesehen davon, dass die Entstehungsgeschichte der Vorschrift auch für diese Deutung nichts hergibt, existierte vor 1949 erst ein einziges landesrechtliches Versorgungswerk 73. Damit kann von einer gefestigten Kompetenztradition, die der Verfassungsgeber in seine Erwägungen einbezogen hat, keine Rede sein. Ferner unterscheidet sich Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG signifikant von Art. 7 Nr. 9 der Weimarer Reichsverfassung, der als Gegenstand der Reichsgesetzgebung noch die „Versicherung und den Schutz der Arbeitnehmer und Angestellten“ aufführte. 74 Die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für Begriff nach Wannagat, Sozialversicherungsrecht, S. 23. Siehe zu § 2 des Invaliditäts- und Alterssicherungsgesetzes von 1889 Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 108 mit Fußn. 57. 67 Siehe dazu Nielsen, Handwerkerversicherung. 68 Siehe dazu Butzer, Fremdlasten, S. 303 f.; Steinmeyer, in: Boecken/Hänlein/Kruse/Steinmeyer, Sicherung, S. 29 (35 ff.); Wannagat, Sozialversicherungsrecht, S. 23 ff. 69 Vgl. zum Wandel der Terminologie Peters, Geschichte, S. 75; Tennstedt, in: v. Maydell/ Ruland, SRH, A. 2. Rn. 16. 70 Siehe dazu v. Doemming/Füßlein/Matz, JöR n. F. 1 (1951), S. 521. 71 Vgl. Boecken, Pflichtaltersversorgung, S. 253 ff.; Butzer, Fremdlasten, S. 304. 72 In BayVerfGH, BayVGHE n. F. 12 (1959), S. II 14 (18) wird diese Auffassung damit begründet, dass der Grundgesetzgeber in Art.74 Abs.1 Nr. 12 GG als einzigen neueren (d.h. deutlich später als Bismarcks Arbeiterversicherungsgesetze etablierten) Zweig der Sozialversicherung die Arbeitslosenversicherung erwähnt habe. Daraus schließt das Gericht, dass der Verfassungsgeber die Versorgungswerke ebenfalls ausdrücklich erwähnt hätte, wenn er sie der Sozialversicherung habe zuordnen wollen. Wie hier kritisch zu dieser Argumentation Boecken, Pflichtaltersversorgung, S. 275 ff. 73 Es handelt sich dabei um die Bayerische Ärzte- und Apothekerversorgung von 1923. Siehe zur Errichtung der berufsständischen Versorgungswerke den historischen Überblick bei Boecken, Pflichtaltersversorgung, S. 373 ff. 74 Siehe dazu Boecken, Pflichtaltersversorgung, S. 254. 65 66
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§ 2 Abgrenzung von den Rechtsetzungszuständigkeiten der Länder
die Sozialversicherung ist somit nicht auf die Sicherung von Arbeitnehmern und deren Angehörigen begrenzt. 75 2. Keine Beschränkung auf sozial schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen Ebenso wenig wie auf Arbeitnehmer beschränkt sich die Sozialversicherungskompetenz des Bundes auf sozial schutzbedürftige Bevölkerungskreise. 76 Zwar ist die Sozialversicherung errichtet worden, um Bevölkerungsgruppen abzusichern, die typischerweise ein geringes Einkommen aufweisen. Das Kriterium der Schutzbedürftigkeit taugt jedoch nicht für die Kompetenzenabgrenzung zwischen Bund und Ländern, weil es auf eine Länderzuständigkeit für die Sicherung von nicht Sicherungsbedürftigen – drastischer ausgedrückt: für die Errichtung überflüssiger Sozialsysteme! – hinauslaufen würde. Die soziale Schutzbedürftigkeit der Versicherten ist daher nur für die Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen, also von Zwangsmitgliedschaft und Beitragspflicht in der Sozialversicherung bedeutsam. 77 Für die Auslegung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG kann dieses Merkmal daher nur eine Rolle spielen, soweit der Kompetenztitel grundrechtsbeschränkende Wirkungen entfaltet. Diese Frage wird aber erst in § 5 eingehend behandelt und hat mit der hier interessierenden Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Bund und Ländern nichts zu tun. 3. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die berufsständische Altersversorgung Da die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für die Sozialversicherung sich nicht auf die Sicherung von Arbeitnehmern beschränkt, fallen die landesrechtlichen Versorgungswerke für selbständige Berufe im Einklang mit der herrschenden Lehre 78 in den Regelungsbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. 79 Das Gesetzgebungs75 So auch BVerfGE 11, S. 105 (113); 75, S. 108 (146); 76, S. 256 (305); Axer, in: Dolzer/ Vogel/Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 45; Butzer, Fremdlasten, S. 304; Boecken, Pflichtaltersversorgung, S. 253 ff., 275 ff.; Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S. 268 in Fußn. 133; Muckel, SGb 2004, S. 383, (386 f.); Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 118; Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 106 ff.; Werner, Leistungsfähigkeit, S. 100 f. Näher zu den gesetzlichen Voraussetzungen einer Rentenversicherungspflicht von Selbständigen Preis/Temming, SGb 2006, S. 385 ff. 76 So aber v. Mangoldt/Klein/Pestalozza, GG VIII, Art. 74 Rn. 829. 77 So zutreffend Butzer, Fremdlasten, S. 302. Inkonsequent ist es daher, wenn Butzer dem Kriterium „Arbeitnehmerversicherung für Notlagen“ trotzdem eine indizielle Bedeutung für die Zuständigkeit des Bundes zumisst (ebenda, S. 306). 78 Siehe die Nachweise zum Meinungsstand oben in Fußn. 23. 79 Eine nähere Prüfung, ob die Versorgungswerke auch in den sachlich-inhaltlichen Anwendungsbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG fallen, erübrigt sich, da die Zahlung von Altersrenten seit dem Invaliditäts- und Alterssicherungsgesetz von 1889 zu den klassischen Aufgaben der Sozialversicherung gehört; siehe dazu unten C. I.
B. Die Abgrenzung des personellen Regelungsbereichs
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recht der Länder für die berufsständische Versorgung besteht deshalb nur, solange und soweit der Bund von seiner Kompetenz keinen Gebrauch macht (Art. 72 Abs. 1 GG). 80 Verfassungsrechtliche Hürden für eine Einbeziehung der freien Berufe in die bundesrechtlich geregelte Rentenversicherung bestehen somit jedenfalls aus kompetenzrechtlicher Sicht nicht, zumal Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG seit der Föderalismusreform nicht mehr der bundesstaatlichen Erforderlichkeitsklausel aus Art. 72 Abs. 2 GG unterfällt. 81
II. Die Kompetenz für die soziale Sicherung von Landes- und Kommunalbediensteten Beschränkt sich die Bundeskompetenz für die Sozialversicherung nicht auf abhängig Beschäftigte, so stellt sich die Frage, ob zumindest die soziale Sicherung bestimmter Personengruppen eine exklusive Aufgabe der Länder ist. Zu denken ist dabei an die öffentlich-rechtlichen Bediensteten der Länder und Gemeinden einschließlich der Landtagsabgeordneten.
1. Die Streichung von Art. 74 a GG und ihre Folgen für die Zuständigkeiten des Bundes auf dem Gebiet der sozialen Sicherung Verfassungsrechtlicher Ansatzpunkt für diese Länderkompetenz ist die Streichung des Art. 74 a GG 82 im Zuge der Föderalismusreform. Nach dieser Vorschrift hatte der Bund die konkurrierende Zuständigkeit für die Besoldung und Versorgung der Bediensteten von Ländern und Gemeinden, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen, sowie der Landesrichter. Unter Art. 74 a GG fielen nach allgemeiner Meinung 83 neben dem Grundgehalt auch Übergangsgelder, die Unfallfürsorge, die Alters- und Hinterbliebenenversorgung sowie nach umstrittener aber zutreffender Auffassung auch die Krankheitsbeihilfen 84. Somit war der Vgl. Papier, in: v. Maydell/Ruland, SRH, A. 3. Rn. 14. Nach alter Rechtslage war die bundesstaatliche Erforderlichkeit für eine Einbeziehung der freien Berufe in die Rentenversicherung allerdings zu verneinen, da die landesrechtlich geregelte Altersversorgung ein ausreichendes Maß an sozialer Sicherung gewährleistete; insoweit unentschieden Bieback, Bürgerversicherung, S. 176 f. 82 Aus rechtspolitischer Sicht kritisch dazu Battis, ZBR 2006, S. 186 (186 f.); Pechstein, ZBR 2006, S. 285 (285); Summer, ZBR 2006, S. 187 (188 f.). 83 Vgl. Degenhart, in: Sachs, GG, Voraufl. 2003, Art.74 a Rn.10; Kunig, in: v.Münch/Kunig, GG III, Art. 74 a Rn. 10; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 a Rn. 12; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Voraufl. 2006, Art. 74 a Rn. 3; Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 100 Rn. 247. 84 Wie hier BVerfGE 62, S. 354 (368); BVerwGE 77, S. 345 (347 f.); Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG III, Art. 74 a Rn. 8; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 a Rn. 10; Papier, 80 81
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§ 2 Abgrenzung von den Rechtsetzungszuständigkeiten der Länder
Bund nach Art. 74 a GG nicht nur für die Alimentation zur Bestreitung des Lebensunterhalts, sondern auch für die soziale Sicherung gegen Krankheit, Unfall, Erwerbsunfähigkeit und Alterung zuständig, also für soziale Risiken, deren Bewältigung auch die Sozialversicherung dient 85. Daher ist es naheliegend, dass der Bund durch die Streichung des Art. 74 a GG mit der Alimentationskompetenz auch die Sicherungskompetenz für die Landes- und Kommunalbediensteten verloren hat. Dagegen kann nicht eingewandt werden, dass die Länderkompetenz sich auf eine Zuständigkeit in der Form der „Versorgung“, also auf steuerfinanzierte Leistungen beschränke, während der Bund nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zuständig sei, soweit die Landesbediensteten in ein beitragsfinanziertes Sicherungssystem integriert werden. 86 An dieser Stelle zeigt sich noch einmal an einem plastischen Beispiel, dass organisationsbezogene Merkmale zur Abgrenzung von Bundes- und Länderzuständigkeiten nicht tauglich sind. 87 Wäre die Länderkompetenz für die soziale Sicherung der Landes- und Kommunalbediensteten an eine bestimmte Form der organisatorischen Bewältigung geknüpft, könnte der Bund eine Länderaufgabe durch einen bloßen Wechsel der Organisationsprinzipien an sich ziehen; die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern würde mit einem organisationsrechtlichen Trick ausgehebelt. Dies kann gerade bei der Alimentation und sozialen Sicherung der Landesbediensteten, welche zum Kernbereich der Eigenstaatlichkeit der Bundesländer zählt, nicht akzeptiert werden 88, zumal aus diesem Grund bereits die früher bestehende Bundeskompetenz aus Art. 74 a GG verfassungsrechtlichen Bedenken 89 im Hinblick auf Art. 79 Abs. 3 GG ausgesetzt war.
2. Der personelle Geltungsbereich der Länderkompetenz Bestehen an der Länderkompetenz für die soziale Sicherung der Landes- und Kommunalbediensteten somit im Grundsatz keine Zweifel, so muss im Weiteren in: v. Maydell/Ruland, SRH, A. 3. Rn.17; a.A. Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art.74 a Rn.7; Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 100 Rn. 243; zweifelnd auch Degenhart, in: Sachs, GG, Voraufl. 2003, Art. 74 a Rn. 8. 85 Siehe dazu unten C. I. 86 So aber zur Abgrenzung zwischen Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und Art. 74 a GG a. F. Degenhart, in: Sachs, GG, Voraufl. 2003, Art. 74 a Rn. 10; Muckel, SGb 2004, S. 583 (586); kritisch Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG III, Art.74 a Rn.10; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 a Rn. 12. 87 Ausführlich dazu oben A. III. 3. 88 Wie hier zur sozialen Sicherung der Landtagsabgeordneten Giesen, DVBl. 1999, S. 291 (297). 89 Vgl. dazu BVerfGE 34, S. 9 (19 ff.); Degenhart, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Altkommentierung Art. 74 a Rn. 15 ff.; ders., in: Sachs, GG, Voraufl. 2003, Art. 74 a Rn. 1; Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 74 a Rn. 2; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 a Rn. 5 f.; Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 100 Rn. 240; Umbach, in: ders./ Clemens, MAK II, Art. 74 a Rn. 21 ff.
B. Die Abgrenzung des personellen Regelungsbereichs
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noch geklärt werden, welche Personengruppen im Einzelnen darunter fallen. Da sich der aufgehobene Art.74 a GG auf Richter und Beamte im statusrechtlichen Sinne bezog 90, ist jedenfalls für diese Ämtergruppen das Gesetzgebungsrecht des Bundes erloschen, soweit sie nicht im unmittelbaren oder mittelbaren Bundesdienst stehen. Darüber hinaus besteht auch eine ausschließliche Länderkompetenz für die soziale Sicherung der Mitglieder von Landesregierungen einschließlich der parlamentarischen Staatssekretäre sowie der Landtagsabgeordneten. Die früher bestehende Bundeskompetenz aus Art. 74 a GG war nämlich bewusst auf Beamte im dienstrechtlichen Sinne beschränkt. Da die Rechtsverhältnisse der Ämter mit staatsleitenden Funktionen zum Kernbereich der föderalen Eigenstaatlichkeit gezählt wurden, war deren Regelung den Ländern vorbehalten. Deshalb fielen die Mitglieder der Landesregierungen einschließlich der parlamentarischen Staatssekretäre und die Landtagsabgeordneten aus dem Anwendungsbereich des Art. 74 a Abs. 1 GG heraus. 91 Bereits vor der Streichung des Art. 74 a GG war die soziale Sicherung dieser Ämter somit eine ausschließliche Angelegenheit der Länder. Zwar gibt es im Schrifttum Stimmen, die bezweifeln, dass die soziale Sicherung der Landtagsabgeordneten in dem heute bestehenden Umfang verfassungsrechtlich geboten ist. 92 Die verfassungsrechtliche Kritik richtet sich jedoch nicht gegen die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder. Aufgrund der Eigenstaatlichkeit der Länder kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Bundesgesetzgeber die Länder bei der sozialen Sicherung der Landtagsabgeordneten nicht bevormunden darf. 93 Keine Länderkompetenz besteht hingegen für die soziale Sicherung der Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst der Länder und Gemeinden. Bereits vor der Streichung des Art. 74 a GG war unbestritten 94, dass das Arbeits- und Sozialrecht dieser 90 Siehe Degenhart, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Altkommentierung Art. 74 a Rn. 32; ders., in: Sachs, GG, Voraufl. 2003, Art.74 a Rn. 4; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG III, Art. 74 a Rn. 11; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 a Rn. 8; Sannwald, in: SchmidtBleibtreu, GG, Voraufl. 2004, Art. 74 a Rn. 13. 91 Vgl. Degenhart, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Altkommentierung Art. 74 a Rn. 37; ders., in: Sachs, GG, Voraufl. 2003, Art.74 a Rn. 5; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG III, Art. 74 a Rn. 12; Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 100 Rn. 244; Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu, GG, Voraufl. 2004, Art. 74 a Rn. 15; Umbach, in: ders./Clemens, MAK II, Art. 74 a Rn. 33; a. A. in Bezug auf Landesminister und parlamentarische Staatssekretäre Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 74 a Rn. 16. 92 Gegen eine verfassungsrechtliche Gewährleistung der Abgeordnetenversorgung in dem heute bestehenden Ausmaß v. Arnim, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 48 Rn. 129; Fischer, Abgeordnetendiäten, S.94; Giesen, DVBl. 1999, S.291 (293); Klatt, Altersversorgung, S.131 f. 93 Für eine ausschließliche Länderkompetenz auch Giesen, DVBl. 1999, S. 291 (297); Welti, Sicherung der Abgeordneten, S. 195 f. 94 Siehe Degenhart, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Altkommentierung Art. 74 a Rn. 32; Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 74 a Rn. 16; Preis, NJW 2004, S. 2782 (2783); ders./Hausch, NJW 2002, S. 927. Missverständlich war insoweit die Gesetzesbegründung zum früheren Art. 74 a Abs. 1 GG, welche die Rechtsverhältnisse der Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst der Länder und Gemeinden ohne Hinweis auf Art.74 Abs. 1 Nr. 12 GG ausschließlich unter die
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Gruppe – abgesehen von Sondermaterien wie dem Personalvertretungsrecht des öffentlichen Dienstes 95 – in den Regelungsbereich von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG fällt. Da Art. 74 a GG nur die Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern in Bezug auf öffentlich-rechtliche Amtsverhältnisse regeln sollte, konnte aus der fehlenden Erwähnung der Angestellten in dieser Vorschrift kein Umkehrschluss auf eine ausschließliche Länderkompetenz gezogen werden. Weil die Streichung des Art. 74 a GG ebenfalls nur die Besoldung und Versorgung der Beamten und Richter betrifft, hat sich an der Bundeskompetenz für die soziale Sicherung der Angestellten aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nichts geändert. Das ist auch im Hinblick auf die Eigenstaatlichkeit der Länder unproblematisch, da Arbeitnehmer nach Art.33 Abs. 4 GG zumindest nicht auf Dauer mit hoheitlichen Aufgaben betraut werden dürfen 96. Der Kernbereich der föderalen Eigenverantwortlichkeit wird somit durch die Bundeszuständigkeit nicht berührt. 3. Kompetenzrechtliche Konsequenzen für eine Einbeziehung von Landes- und Kommunalbediensteten in die bundesgesetzlichen Sozialversicherungszweige Nach dem Vorherstehenden erscheint eine Einbeziehung der Landes- und Kommunalbediensteten in die bundesrechtlichen Sozialversicherungszweige als kompetenzrechtlich ausgeschlossen. Allerdings wird zur sozialen Sicherung der Landtagsabgeordneten eine Auffassung 97 vertreten, welche die ausschließliche Länderkompetenz zwar grundsätzlich anerkennt, eine Einbeziehung in die Sozialversicherung aber dennoch für zulässig erachtet, soweit sie in einer Kooperation zwischen Bundesund Landesgesetzgeber erfolgt. Einerseits habe der Bund keine Kompetenz, über eine Sozialversicherung der Landesparlamentarier zu entscheiden; umgekehrt hätten aber auch die Länder keine Gesetzgebungsbefugnis, den bundesrechtlich geregelten Sicherungssystemen neue Mitglieder aufzuzwingen. Eine Einbeziehung in die Sozialversicherung sei daher nur möglich, soweit der Bundesgesetzgeber die Anwendung des Sozialversicherungsrechts unter dem Vorbehalt bestimme, dass eine landesgesetzliche Regelung dies vorschreibe oder zulasse. Als Beispiel für eine derartige Kooperation zwischen Bundes- und Landesgesetzgeber wird die in § 23 Abs. 8 und Abs. 9 AbgG geregelte Möglichkeit angeführt, ausgeschiedene Landtagsabgeordnete in der gesetzlichen Rentenversicherung auf Antrag nachzuversichern. 98 inzwischen aufgehobene Rahmenkompetenz aus Art. 75 Abs. 1 Nr. 1 GG fasste; siehe BT-Drs. VI/1009, S. 4. 95 Vgl. Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 19. 96 Die Übertragung von Hoheitsaufgaben auf Arbeitnehmer muss nach Art. 33 Abs. 4 GG eine vorübergehende und begründungsbedürftige Ausnahme bleiben; siehe Jachmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 33 Rn. 37. 97 Siehe Giesen, DVBl. 1999, S. 291 (297); Welti, Sicherung der Abgeordneten, S. 196. 98 Vgl. Giesen, DVBl. 1999, S. 291 (297) zu § 23 Abs. 7 und Abs. 8 AbgG a. F., die mit § 23 Abs. 8 und Abs. 9 AbgG n. F. identisch sind; ebenso Welti, Sicherung der Abgeordneten, S.196.
B. Die Abgrenzung des personellen Regelungsbereichs
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Überträgt man diese Ansicht auf die seit 2006 bestehende Länderkompetenz für die soziale Sicherung der Landes- und Kommunalbeamten, so könnten auch diese Personen im Zusammenwirken von Bundes- und Landesgesetzgeber in die Sozialversicherung einbezogen werden. Diese Auffassung kann jedoch nicht unbesehen übernommen werden. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Kompetenzordnung des Grundgesetzes nach ganz allgemeiner und zutreffender Auffassung nicht disponibel ist und daher auch mit Zustimmung der beteiligten Gesetzgeber nicht verändert werden kann. 99 Die einzige zulässige Ausnahme stellt Art. 71 GG dar, nach dem der Bund im Bereich der ausschließlichen Gesetzgebung das Gesetzgebungsrecht durch Bundesgesetz auf die Länder übertragen kann. 100 Da eine Parallelvorschrift, die den Ländern gleiches erlaubt, fehlt, ist es ihnen umgekehrt nicht gestattet, ihre Gesetzgebungsaufgaben an den Bund abzutreten. 101 Somit dürfen die Länder den Bund auch nicht ihre Kompetenz für die soziale Sicherung der Landes- und Kommunalbediensteten ausüben lassen. Grundsätzlich zulässig sind allerdings landesrechtliche Verweisungen, durch die eine bundesrechtliche Regelung in das geltende Landesrecht inkorporiert wird. Daher können die Länder im Rahmen ihrer Kompetenz für die soziale Sicherung von Landes- und Kommunalbediensteten Sozialversicherungsregelungen des Bundes im Range eines Landesgesetzes zur Anwendung bringen. Als verfassungsrechtlich problematisch sind jedoch dynamische Verweisungen anzusehen, da die landesgesetzliche Regelung in diesem Fall in die Nähe einer unzulässigen Zuständigkeitsübertragung gerät. 102 Eine eingehende Behandlung dieser Problematik würde den Rahmen des für diese Abhandlung gewählten Themas sprengen. Daher muss an dieser Stelle der Hinweis genügen, dass dynamische Verweisungen zwar nicht schlichtweg ausgeschlossen sind 103, den Landesgesetzgeber aber zumindest eine „aktive 99 Siehe BVerfGE 1, S. 14 (35); 4, S. 115 (139); 32, S. 145 (156); 63, S. 1 (39); Heintzen, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 70 Rn. 65; März, Bundesrecht, S. 121; Pieroth, in: Jarass/ Pieroth, GG, Art. 30 Rn. 8; Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 100 Rn. 12; Rozek, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 70 Rn. 15; Stern, Staatsrecht I, S. 673; ders., Staatsrecht II, S. 609; Stettner, in: H. Dreier, GG II (2007), Art. 70 Rn. 39. 100 Vgl. Rozek, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 70 Rn. 15. 101 Siehe Heintzen, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 70 Rn. 65; Rozek, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG II, Art. 70 Rn. 15; Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu, GG, Art. 70 Rn. 16; Stettner, in: H. Dreier, GG II (2007), Art. 70 Rn. 39. 102 Vgl. Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG III, Art. 70 Rn. 10; Rozek, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG II, Art. 70 Rn. 16; Stettner, in: H. Dreier, GG II (2007), Art. 70 Rn. 39; siehe zur Gefahr einer versteckten Verlagerung von Gesetzgebungsbefugnissen auch BVerfGE 47, S. 285 (312); 60, S. 135 (161); großzügiger Heintzen, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 70 Rn. 39; Veh, BayVBl 1987, S. 225 (230); ausführlich zur Problematik Brugger, VerwArch 78 (1987), S. 1 ff.; Clemens, AöR 111 (1986), S. 63 ff. 103 Siehe BVerfGE 26, S. 339 (365 ff.); 47, S. 285 (312 f.); 60, S. 135 (155); 67, S. 348 (363 f.); 78, S. 32 (36).
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§ 2 Abgrenzung von den Rechtsetzungszuständigkeiten der Länder
Beobachtungspflicht“ 104 trifft, damit die Verweisung nicht zur „apokryphen Legislativdelegation“ 105 mutiert. Vor diesem verfassungsrechtlichen Hintergrund bedürfen die bundesgesetzlichen Regelungen über die Sozialversicherung von Landtagsabgeordneten einer näheren kritischen Betrachtung. So setzt die Nachversicherung nach § 23 Abs. 9 AbgG lediglich voraus, dass ein Abgeordneter aus dem Parlament ausscheidet, ohne eine landesrechtliche Anwartschaft auf eine Altersversorgung erlangt zu haben. Die Vorschrift setzt in ihrem Geltungsanspruch nicht voraus, dass sie durch eine landesgesetzliche Verweisung in den Rang eines Landesgesetzes erhoben wird. Dieser Eingriff in die Länderzuständigkeit ist auch in finanzieller Hinsicht erheblich, weil die Beitragslast für die Nachversicherung nicht durch den Abgeordneten, sondern aus dem Landeshaushalt aufzubringen ist (vgl. § 181 Abs. 5 S. 1 SGB VI). § 23 Abs. 9 AbgG bedarf daher einer verfassungskonformen Auslegung. Die Regelung kann nur angewendet werden, soweit eine landesrechtliche Vorschrift auf sie verweist. Entsprechendes gilt für die Nachversicherung gemäß § 23 Abs. 8 AbgG. Zwar knüpft diese Regelung an einen landesrechtlich geregelten Anspruch auf eine Versorgungsabfindung im Sinne des § 23 Abs. 1 AbgG an. Ein Landesgesetz, das eine Versorgungsabfindung regelt, die wie in § 23 Abs. 1 AbgG nach dem um 20 % gesteigerten monatlichen Höchstbeitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung berechnet wird, bringt aber noch keinen gesetzgeberischen Willen zum Ausdruck, alternativ zur Auszahlung einer Versorgungsabfindung auch die Nachversicherung in der Rentenversicherung zuzulassen. Das Landesrecht muss daher einen hinreichend klaren Verweis auf § 23 Abs. 8 AbgG enthalten, um diese Regelung im Range eines Landesgesetzes zur Geltung zu bringen. Kompetenzrechtlich problematisch sind ferner bundesrechtlich geregelte Versicherungstatbestände in der gesetzlichen Krankenversicherung, von denen Bedienstete der Länder und Kommunen erfasst werden können. Das betrifft etwa die Möglichkeit der freiwilligen Weiterversicherung beim Wechsel von einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis in ein öffentliches Amtsverhältnis (§ 9 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB V). Seit dem 1. April 2007 können Beamte zudem der mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz 106 neu geregelten Versicherungspflicht von Personen, die keinen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall haben und zuletzt gesetzlich krankenversichert waren, unterfallen (§ 5 Abs. 1 Nr. 13 Buchst. a SGB V 107). 108 Auch bei diesen Vorschriften ist eine verfassungskonforme
Rozek, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 70 Rn. 16. Ossenbühl, DVBl. 1967, S. 401 (403 f.). 106 Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKVWettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG) vom 26. März 2007 (BGBl. I, S. 378). 107 Art. 1 Nr. 2 Buchst. a Doppelbuchst. cc GKV-WSG. 104 105
B. Die Abgrenzung des personellen Regelungsbereichs
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Auslegung geboten, nach der die Sozialversicherung von Landes- und Kommunalbediensteten nur zulässig ist, soweit eine landesgesetzliche Verweisung das einschlägige Sozialversicherungsrecht des Bundes in Landesrecht transformiert.109 Soweit eine entsprechende Landesvorschrift fehlt, ist die Weiterversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung verfassungswidrig. 4. Exkurs: Die Sozialversicherung von Beamten und Art. 33 Abs. 5 GG Von den zuvor behandelten Aspekten der Gesetzgebungszuständigkeit strikt zu trennen 110 ist die materiellrechtliche Frage, ob eine Einbeziehung der Beamten und Richter in das gegenwärtige System der beitragsfinanzierten Pflicht-Sozialversicherung mit Art. 33 Abs. 5 GG zu vereinbaren ist. Art.33 Abs.5 GG enthält (i.V.m. Art.33 Abs.4 GG 111) eine institutionelle Garantie des Berufsbeamtentums 112 und gewährt den Beamten zugleich ein prozessual durch Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG gesichertes grundrechtsgleiches Recht 113, in dessen personellen Schutzbereich über den Wortlaut hinaus auch die Richter 114 fallen. Mit den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums im Sinne des Art.33 Abs.5 GG sind diejenigen Strukturprinzipien gemeint, die allgemein oder doch ganz überwiegend während eines längeren, traditionsbildenden Zeitraums, mindestens unter der Reichsverfassung von Weimar, als verbindlich anerkannt worden sind. 115 Art. 33 Abs. 5 GG gewährt jedoch keinen umfassenden Bestandsschutz für die historisch gewachsenen Regelungsstrukturen des Beamtenrechts. Die Vorschrift spricht lediglich 108 Siehe zur Anwendung von § 5 Abs. 1 Nr. 13 Buchst. a SGB V auf Beamten BT-Drs. 16/3100, S. 94; Peters, in: Niesel, Kasseler Kommentar, § 5 SGB V Rn. 163; Ulmer, in: Rolfs/ Giesen/Kreikebohm/Udsching, Beck’scher Online-Kommentar, § 5 SGB V Rn. 68 f. 109 Die in allen Landesrechten außer Bremen bestehenden Regelungen, eine freiwillige Krankenversicherung der Landtagsabgeordneten mit Beitragszuschüssen aus dem Landeshaushalt zu unterstützen (siehe dazu mit Nachweisen zu den landesrechtlichen Vorschriften Welti, Sicherung der Abgeordneten, S. 218 f.), wird man nur mit einigen Mühen noch als Verweisungen auslegen können, welche das SGB V für die Sozialversicherung der Parlamentarier zum geltenden Landesrecht erheben. 110 Ebenso Muckel, SGb 2004, S. 583 (586). 111 Siehe Jachmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 33 Rn. 40. 112 Siehe BVerfGE 8, S. 1 (16); 62, S. 374 (382); 64, S. 367 (379); 70, S. 69 (79); 106, S. 225 (231). 113 BVerfGE 8, S. 1 (11 f.); 43, S. 154 (167); 64, S. 367 (357); 99, S. 300 (314); 106, S. 216 (231 f.); Axer, in: GS Heinze, S. 1 (9); Battis, in: Sachs, GG, Art. 33 Rn. 65; Brall/Voges, Bürgerversicherung, S. 40; Isensee, NZS 2004, S. 393 (400); Jachmann, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG II, Art. 33 Rn. 40; Muckel, SGb 2004, S. 670; Stern, Staatsrecht I, S. 353; kritisch Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG II, Art. 33 Rn. 55; Lecheler, AöR 103 (1978), S. 349 (360 ff.); ders., in: Friauf/Höfling, BerlK, Art.33 Rn.91 f.; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art.33 Rn.44. 114 Siehe BVerfGE 12, S. 81 (88); 26, S. 141 (154 ff.); 38, S. 1 (8 ff.); 56, S. 146 (162); Battis, in: Sachs, GG, Art. 33 Rn. 69. 115 Siehe BVerfGE 8, S. 332 (343); 70, S. 69 (79); 83, S. 89 (98); 106, S. 225 (232).
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§ 2 Abgrenzung von den Rechtsetzungszuständigkeiten der Länder
von „Grundsätzen“, die der Gesetzgeber zu „berücksichtigen“ hat, und lässt daher Spielräume für Anpassungen und Modernisierungen des Dienstrechts.116 Das gilt erst recht seit der Änderung des Art.33 Abs. 5 GG im Jahr 2006, weil der Gesetzgeber die gesetzlichen Regelungen, welch die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums konkretisieren, nun ausdrücklich auch fortentwickeln darf. 117 Allerdings gibt es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einen Kernbereich von grundlegenden Prinzipien des Beamtenrechts, bei denen sich die Berücksichtigungspflicht zur umfassenden verfassungsrechtlichen Bindung verdichtet. 118 a) Die Alimentationspflicht des Dienstherrn Zu diesen bindenden Kernprinzipien des Berufsbeamtentums zählt das Alimentationsprinzip 119, welches den Gesetzgeber verpflichtet, für den angemessenen Unterhalt des Beamten und seiner Familie zu sorgen 120. Ein Teil des Schrifttums bewertet eine Sozialversicherungspflicht der Beamten als Verstoß gegen das Alimentationsprinzip. 121 Als zentrales Argument fungiert dabei die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der sich der Dienstherr hinsichtlich der zentralen Alimentationsleistungen nicht durch einen Dritten entlasten und daher weder das Gehalt des aktiven Beamten noch das Ruhegehalt oder die Hinterbliebenenversorgung in Leistungen anderer Qualität wie z. B. Sozialversicherungsleistungen überführen darf. 122 Das Gericht hat allerdings in denselben Entscheidungen auch gegenläufige Aussagen getroffen. So soll der Dienstherr seiner Alimentationspflicht auch dadurch nachkommen dürfen, dass er Versorgungsberechtigte auf Einkünfte aus ande116 Vgl. Bieback, Bürgerversicherung, S. 123; Battis, in: Sachs, GG, Art. 33 Rn. 70; LübbeWolff, in: H. Dreier, GG II (2006), Art. 33 Rn. 80. 117 Vgl. dazu Kluth, in: ders., Föderalismusreformgesetz, Art. 33 Rn. 9 ff.; Masing, in: H. Dreier, GG II (2007), Art. 33 Rn. 72 a; kritisch zur „überflüssigen und schädlichen“ Neufassung des Art. 33 Abs. 5 GG Battis, ZBR 2006, S. 186 (186 f.); Pechstein, ZBR 2006, S. 285 (286); Summer, ZBR 2006, S. 187 (187 f.). 118 Siehe BVerfGE 56, S. 146 (163 f.); 61, S. 43 (58); 62, S. 374 (383); 81, S. 363 (375); 99, S. 300 (314); kritisch zur Differenzierung des Gerichts zwischen zu „berücksichtigenden“ und zu „beachtenden“ Grundsätzen des Berufsbeamtentums Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG II, Art. 33 Rn. 59; Lübbe-Wolff, in: H. Dreier, GG II (2006), Art. 33 Rn. 81; Trute, in: Starck, Föderalismusreform, Rn. 189. 119 BVerfGE 8, S. 1 (16 f.); 11, S. 203 (210); 76, S. 256 (298); 81, S. 363 (375); BVerfG, NJW 1999, S. 1013 (1014); kritisch zum Alimentationsprinzip Bull, 15. Deutscher Verwaltungsrichtertag, S. 291 ff. 120 Siehe BVerfGE 3, S. 58 (160); 3, S.288 (342 f.); 4, S.115 (135); 11, S.203 (210); 16, S.94 (115); 81, S.363 (375); 83, S.89 (98); 99, S.300 (314 f.); 106, S.225 (233); BVerfG, NZS 2002, S. 87. 121 So Axer, DVBl. 1997, S. 698 (700 f.); ders., in: GS Heinze, S. 1 (10); Egger, SGb 2003, S. 76 (78); Grün, Beihilfe, S. 55 ff.; Isensee, NZS 2004, S. 393 (399 f.); Jachmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 33 Rn. 51; W. Leisner, Beamtensicherung, S. 22 ff., 57; Merten, NZS 1998, S. 545 (548 f.); Ruland, NVwZ 1995, S. 417 (422); Wolff, ZBR 2006, S. 361 (362). 122 BVerfGE 44, S. 249 (269 f.); 76, S. 256 (319 f.).
B. Die Abgrenzung des personellen Regelungsbereichs
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ren öffentlichen Kassen verweist, sofern diese ebenfalls der Existenzsicherung der Versorgungsberechtigten und ihrer Familien zu dienen bestimmt sind. 123 Ausgeschlossen sei lediglich, dass solche Leistungen an die Stelle der Beamtenbesoldung und -versorgung treten; eine Anrechung sei dagegen möglich. 124 Dem ist beizutreten. In seinem von Art. 33 Abs. 5 GG absolut geschützten Kernbereich verbietet das Alimentationsprinzip, dass sich der Dienstherr der Verantwortung für die Besoldung und Versorgung entzieht. Solange dies nicht der Fall ist, bestehen gegen eine Übertragung der Durchführung auf Dritte keine Bedenken. Deshalb ist eine Einbeziehung der Beamten in die Sozialversicherung möglich, solange der Dienstherr rechtlich für die Angemessenheit der Alimentation einsteht und die Sozialversicherungsleistungen gegebenenfalls durch eine Zusatzversorgung aufstockt. 125 Auch eine Belastung der Beamten mit Beiträgen zur Sozialversicherung wäre nicht per se verfassungswidrig. Sie würde zwar faktisch zu einer Absenkung der Besoldung führen. Der Gesetzgeber hat jedoch bei der Frage, welcher Lebensunterhalt nach Art. 33 Abs. 5 GG angemessen ist, einen Bewertungsspielraum. 126 Deshalb besteht kein absoluter Schutz vor Absenkungen der Besoldung und Versorgung. 127 Die Alimentation muss allerdings in jedem Fall gewährleisten, dass der Beamte nicht gezwungen ist, seinen Unterhalt und die Versorgung seiner Familie durch zusätzliche Arbeit oder Aufwendungen sicherzustellen, weil in diesem Fall eine stabile, gesetzestreue Verwaltung nicht mehr gesichert wäre. 128 Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts wäre die Alimentation etwa bei einer übermäßigen Belastung mit Prämien zu einer privaten Krankenversicherung nicht mehr angemessen. 129 Für Pflichtbeiträge zu einem staatlichen Sozialversicherungssystem kann nichts anderes gelten. Daraus folgt jedoch kein Verbot einer beitragsfinanzierten Sozialversicherung. Sofern die Alimentation nach Abzug der Sozialversicherungsbeiträge nicht mehr angemessen wäre, müsste der Gesetzgeber lediglich die Besoldung erhöhen. 130
BVerfGE 76, S. 256 (298). BVerfGE 44, S. 249 (270) – Hervorhebung im Original. 125 Vgl. Bieback, Bürgerversicherung, S. 128; F. Kirchhof, NZS 2004, S. 1 (3); wohl auch Beer/Klahn, SGb 2004, S. 13 (18). 126 BVerfGE 8, S. 1 (22 f.); 26, S. 141 (158); 55, S. 372 (392); 58, S. 68 (78); 81, S. 363 (375 f.); BVerfG, NZS 2002, S. 87 (88). 127 Siehe BVerfGE 8, S. 1 (12 ff.); 18, S. 159 (166 f.); 70, S. 69 (79 f.); 76, S. 256 (310); vgl. dazu auch Wolff, ZBR 2006, S. 361 (364 ff.). 128 Vgl. BVerfGE 16, S. 94 (115); 21, S. 329 (345); 39, S. 196 (201); 44, S. 249 (265); 70, S. 69 (80). 129 BVerfGE 58, S. 68 (78); 106, S. 225 (233). 130 Ebenso zum bestehenden System der Krankheitsbeihilfen BVerfGE 58, S. 68 (78); 106, S. 225 (233). Im Schrifttum umstritten ist die Frage, ob im Fahrwasser dieser Rechtsprechung die Besoldung der Beamten bei einer Einbeziehung in die gesetzliche Krankenversicherung erhöht werden müsste; dies bejahend Isensee, NZS 2004, S. 393 (400); verneinend Bieback, Bürgerversicherung, S. 127; Brall/Voges, Bürgerversicherung, S. 43 f. 123 124
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§ 2 Abgrenzung von den Rechtsetzungszuständigkeiten der Länder
Ähnliches gilt für die aus Art. 33 Abs. 5 GG folgende Verpflichtung, die Alimentation amtsangemessen 131 auszugestalten, d. h. nach dem Dienstrang sowie der Bedeutung und Verantwortung des ausgeübten Amtes abzustufen. 132 Solange die Leistungen der Sozialversicherung proportional zur Besoldung „mitwachsen“, wie es bei den Entgeltersatzleistungen der Sozialversicherung grundsätzlich der Fall ist, besteht ohnehin kein Grund zu verfassungsrechtlichen Bedenken. Verzerrungen könnten sich jedoch aufgrund der im Sozialversicherungsrecht üblichen Kappung der Beitragsbemessung bei einer absoluten Obergrenze und der korrespondierenden Begrenzung der Entgeltansprüche ergeben. 133 So könnte der Fall eintreten, dass zwei in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherte Beamte für eine Versicherungsperiode, in der sie unterschiedlichen Besoldungsgruppen angehört haben, identische Anwartschaften erwerben, weil ihre Alimentation jeweils über der Beitragsbemessungsgrenze lag. In diesem Fall wäre die Rentenversicherungspflicht jedoch nicht per se verfassungswidrig, sondern der Gesetzgeber wäre lediglich zu einer vom Regelfall abweichenden Rentenberechnung oder zur Zahlung einer Zusatzversorgung verpflichtet. Im Übrigen gebietet Art. 33 Abs. 5 GG nicht, dass jede Leistung des Dienstherren in einem angemessenen Verhältnis zu Dienstrang und Amt des Beamten steht. Ausreichend ist es, wenn das Gesamtbild, insbesondere die Hauptleistungen der Besoldung und Versorgung diesem Grundsatz entsprechen. Verfassungsrechtliche Einwände gegen einheitliche Sachleistungen für Beamte in der gesetzlichen Kranken-, Unfall- und Pflegeversicherung wären daher ebenso unbegründet wie die Bedenken 134, die gegen das bestehende egalitäre System der Krankheitsbeihilfen erhoben werden. b) Die Fürsorgepflicht des Dienstherrn Auch das Fürsorgeprinzip, das wie das Alimentationsprinzip zum Kernbereich des Art. 33 Abs. 5 GG zählt 135, spricht nicht gegen eine Einbeziehung der Beamten in die Sozialversicherung. 136 Selbiges verpflichtet den Dienstherren zwar dazu, Vorkehrungen zu treffen, damit der amtsangemessene Lebensunterhalt des Beamten auch bei Eintritt besonderer finanzieller Belastungen durch Krankheits-, Geburtund Todesfälle gesichert bleibt. 137 Der Dienstherr hat dabei jedoch einen noch wei131 Vgl. dazu BVerfGE 61, S. 43 (57) mit weiteren Nachweisen; Jachmann, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG II, Art. 33 Rn. 50; Summer/Rometsch, ZBR 1981, S. 1 (2). 132 Anders als hier ordnen einzelne Stimmen im Schrifttum eine Sozialversicherungspflicht der Beamten als Verstoß gegen diese Ausprägung des Art. 33 Abs. 5 GG ein; so Axer, DVBl. 1997, S. 698 (701); ders., in: GS Heinze, S. 1 (10); Grün, Beihilfe, S. 57 f. 133 Vgl. F. Kirchhof, NZS 2004, S. 1 (3). 134 Siehe Grün, Beihilfe, S. 130 f. 135 BVerfGE 8, S. 332 (356 f.); 43, S. 154 (165); Isensee, NZS 2004, S. 393 (400); Jachmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 33 Rn. 53. 136 A. A. Isensee, NZS 2004, S. 393 (400), der sich allerdings auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Alimentationsprinzip stützt. 137 BVerfGE 83, S. 89 (100); 106, S. 225 (232).
B. Die Abgrenzung des personellen Regelungsbereichs
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teren Gestaltungsspielraum als bei der Alimentation. Er kann der Fürsorgepflicht durch eine entsprechende Bemessung der Dienstbezüge, durch Sachleistungen, Zuschüsse oder in sonstiger geeigneter Weise nachkommen. 138 Daher besteht auch keine verfassungsrechtliche Garantie des bestehenden Systems der steuerfinanzierten Krankheitsbeihilfen. 139 Wenn eine Sozialversicherung der Beamten mit dem Alimentationsprinzip vereinbar ist, so gilt das somit erst recht für das Fürsorgeprinzip. c) Die Vorsorgefreiheit als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums? Die gegenteilige Auffassung hält eine Einbeziehung der Beamten in die Sozialversicherung auch deshalb für verfassungswidrig, weil sie die Vorsorgefreiheit zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums zählt.140 Nach diesem Prinzip soll es den Beamten zur freien Entscheidung überlassen sein, ob, in welchem Umfang und bei welchen Unternehmen sie sich gegen soziale Risiken versichern wollen. Das Bundesverfassungsgericht 141 hat bisher allerdings offen gelassen, ob die Vorsorgefreiheit durch Art. 33 Abs. 5 GG geschützt wird. Jedenfalls könne ein solcher Grundsatz keinen absoluten Vorrang vor gegenläufigen vernünftigen Erwägungen haben, die für eine Versicherungspflicht sprechen. 142 Deshalb sah das Gericht die Pflicht der Beamten zum Abschluss einer privaten Pflegeversicherung wegen der mangelnden Bereitschaft der Bevölkerung zur freiwilligen Vorsorge als gerechtfertigt an. 143 Auf dem Boden dieser Rechtsprechung bestehen daher im Hinblick auf Art. 33 Abs. 5 GG keine durchgreifenden Einwände gegen die für 2009 beschlossene Verpflichtung der Beamten, eine private Krankenversicherung abzuschließen, soweit sie keine freie Heilfürsorge und keinen umfassenden Beihilfeanspruch genießen und auch nicht Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung sind (§ 193 Abs. 3 VVG 2009 144). BVerfGE 83, S. 89 (100); 106, S. 225 (232); BVerwGE 121, S. 103 (106). Das gilt auch deshalb, weil die Gewährung von Krankheitsbeihilfen erstmalig 1942 umfassend geregelt worden ist und daher selbst keinen hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums darstellt. Es mangelt an der traditionsbildenden, langfristigen Anerkennung; siehe BVerfGE 44, S. 249 (263); 58, S. 68 (77); 79, S. 223 (235); 83, S. 89 (98); 106, S. 225 (232); mit näherer Darstellung der historischen Entwicklung Muckel, SGb 2004, S.670 f.; a.A. W. Leisner, Beamtensicherung, S. 53 ff.; wohl auch Isensee, NZS 2004, S. 393 (399). 140 So Axer, DVBl. 1997, S. 698 (701); ders., in: GS Heinze, S. 1 (10 f.); Isensee, NZS 2004, S. 393 (400); Grün, Beihilfe, S. 54 f.; W. Leisner, Beamtensicherung, S. 32 ff. 141 Siehe BVerfGE 79, S. 223 (232); 83, S. 89 (105); BVerfG, NZS 2002, S. 87 (88); zweifelnd auch F. Kirchhof, NZS 2004, S. 1 (3). 142 Siehe BVerfG, NZS 2002, S. 87 (88). 143 BVerfG, NZS 2002, S. 87 (88). Im Anschluss an diese Entscheidung hält Bieback auch eine Einbeziehung der Beamten in die gesetzliche Krankenversicherung mit der Vorsorgefreiheit für vereinbar (Bürgerversicherung, S. 124 f.). 144 Diese Regelung wurde zunächst im Zuge des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes als künftiger, ab dem 1. Januar 2009 geltender § 178 a Abs. 5 VVG beschlossen (Art. 43 Nr. 01 138 139
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§ 2 Abgrenzung von den Rechtsetzungszuständigkeiten der Länder
Darüber hinausgehend ist die Anerkennung eines Grundsatzes der Vorsorgefreiheit gänzlich abzulehnen. Auch wenn Art. 33 Abs. 5 GG ein grundrechtsgleiches Recht darstellt, zielt er nicht auf einen Schutz „wohlerworbener Rechte“ der Beamten. 145 Schutzgut ist vielmehr die Existenz und Funktionsfähigkeit des Berufsbeamtentums als Institution, welche eine stabile, gesetzestreue Verwaltung gewährleisten soll. 146 Auch überzeugt es nicht, wenn die Vorsorgefreiheit als Ausdruck der von Art. 33 Abs. 5 GG geschützten persönlichen Unabhängigkeit bezeichnet wird 147, weil nicht ersichtlich ist, dass die Einbeziehung in ein Zwangsvorsorgesystem die unparteiische Amtsführung der Beamten bedroht.148 Art. 33 Abs. 5 GG steht somit einer beitragsfinanzierten Sozialversicherung der Beamten nicht entgegen. 149
C. Die Abgrenzung des sachlich-inhaltlichen Regelungsbereichs Da aus der Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für die Sozialversicherung in personeller Hinsicht nur die öffentlich-rechtlichen Ämter der Länder und Gemeinden ausscheiden, bleibt als letztes und entscheidendes Kriterium zur Eingrenzung des Kompetenzbereichs die sachlich-inhaltliche Bestimmung der Sozialversicherungsaufgaben, also der sozialen Leistungen, die der Bund nach Art.74 Abs. 1 Nr. 12 GG regeln darf. Dabei sind zwei Bereiche des Kompetenzfeldes zu unterscheiden. Unproblematisch ist der erste Teilbereich. Er umfasst die Sozialversicherungsleistungen, welche schon vor 1949 kodifiziert waren und daher den gesicherten Bestand der Bundeszuständigkeit bilden (I.). Schwierigkeiten bereitet hingegen die Frage, ob und in welchem Umfang der Bundesgesetzgeber über diesen historisch gesicherten Aufgabenbestand hinausgehen und neue Sozialleistungen regeln darf (II.).
I. Der historisch gesicherte Aufgabenbestand Der Parlamentarische Rat hat den Begriff „Sozialversicherung“ 1949 nicht neu erfunden. Vielmehr stand der Begriff nach dem damals bereits bestehenden SprachGKV-WSG, BGBl. I 2007, S. 378), dann aber durch Art. 10, 11 des Gesetzes zur Reform des Versicherungsvertragsrechts vom 23. November 2007 (BGBl.I 2007, S. 2631) in den künftigen § 193 Abs. 3 VVG verschoben. 145 Siehe BVerfGE 8, S. 1 (11 f.); 43, S. 242 (278); 64, S. 323 (351); 67, S. 1 (12); 70, S. 69 (79); Jachmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 33 Rn. 40; Wolff, ZBR 2006, S. 361 (361). 146 BVerfGE 8, S. 1 (16); 11, S. 203 (216 f.); 21, S. 329 (345); 56, S. 146 (162); 64, S. 367 (379). 147 So aber Axer, in: GS Heinze, S. 1 (10 f.); Isensee, NZS 2004, S. 393 (400). 148 Ähnlich wie hier Brall/Voges, Bürgerversicherung, S. 42. 149 Wie hier Bieback, Bürgerversicherung, S. 123 ff.; ders., Soziale Sicherheit 2003, S. 416 (421); F. Kirchhof, NZS 2004, S. 1 (3); Brall/Voges, Bürgerversicherung, S. 40 ff.; Beer/Klahn, SGb 2004, S. 13 (18); Muckel, SGb 2004, S. 670 f.; Unverhau, ZBR 2005, S. 154 (160 f.).
C. Die Abgrenzung des sachlich-inhaltlichen Regelungsbereichs
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gebrauch für Kodifikationen wie die Reichsversicherungsordnung, die zum großen Teil schon im Kaiserreich entstanden waren. Daher ist unbestritten, dass der Verfassungsgeber mit dem Kompetenztitel für die Sozialversicherung jedenfalls diejenigen sozialen Leistungen erfassen wollte, die in den 1949 bereits existenten Sozialversicherungszweigen gewährt worden sind. 150 Im Einzelnen gehören damit zu den historisch gesicherten Aufgaben 151 der Sozialversicherung: – unter dem Dach der 1883 errichteten Krankenversicherung 152: Entgeltersatzleistungen für Arbeitnehmer im Krankheitsfall; Heilbehandlungsleistungen (Arztbesuch; Krankenhausaufenthalte; Arznei- und Heilmittel); finanzielle, ärztliche und pflegerische Wöchnerinnenunterstützung; Sterbegeld; – als Leistungen der 1884 eingeführten Unfallversicherung 153: Erwerbsunfähigkeits- und Hinterbliebenenrenten bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten sowie Fördermaßnahmen zur Wiedergewinnung oder Erhöhung der Erwerbsfähigkeit; – in der seit 1889 bestehenden Invaliden- und Altersversicherung 154 (nach heutigem Sprachgebrauch: Rentenversicherung): Rentenzahlungen bei Erreichen einer Altersgrenze; Invaliditätsrenten bei von der Unfallversicherung nicht erfassten Fällen von Erwerbsunfähigkeit; Hinterbliebenenrenten sowie Witwen- und Waisengeld; – schließlich als Leistungen der 1927 errichteten 155 und in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ausdrücklich erwähnten 156 Arbeitslosenversicherung: Ersatzentgelte bei Arbeitslosigkeit; Arbeitsvermittlung 157; Berufsberatung.
150 Siehe nur BVerfGE 11, S. 105 (111); 114, S. 196 (221); Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG II, Art. 74 Rn. 117; Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 100 Rn. 190. 151 Siehe zur Entwicklung der Sozialversicherung bis 1949: Peters, Geschichte, S. 49–142; Stolleis, Geschichte, S. 52–208; Wannagat, Sozialversicherungsrecht, S. 61–97. 152 Eingeführt durch das Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter vom 15. Juni 1883 (RGBl., S. 73). 153 Eingeführt durch das Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884 (RGBl., S. 69). 154 Eingeführt durch das Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung vom 22. Juni 1889 (RGBl., S. 97). 155 Eingeführt durch das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 16. Juli 1927 (RGBl., S. 187, 320). 156 Siehe zu den Gründen für die ausdrückliche Erwähnung der Arbeitslosenversicherung unten II. 2. b) cc). 157 Die ausdrückliche Erwähnung der Arbeitsvermittlung in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ist im Grunde überflüssig, weil sie als klassische Leistung der Arbeitslosenversicherung ohnehin von der Kompetenz für dieselbe umfasst ist.
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§ 2 Abgrenzung von den Rechtsetzungszuständigkeiten der Länder
II. Die Einbeziehung neuer Risiken in die Sozialversicherung Ist der historisch gesicherte Bereich der Sozialversicherungskompetenz damit abgesteckt, so stellt sich die Frage, ob und in welchem Maße der Bundesgesetzgeber über diesen Aufgabenbereich hinausgehen und neue Sozialleistungen „erfinden“ darf. Sie wurde in der Staatspraxis der Bundesrepublik erstmalig relevant, als der Gesetzgeber 1954 ein durch Arbeitgeberbeiträge finanziertes Kindergeld einführte 158. 159 Die verfassungsrechtliche Auseinandersetzung um diese Regelung gipfelte im Kindergeld-Urteil von 1960, in dem das Bundesverfassungsgericht seine Dogmatik zur Auslegung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG entwickelt hat. 160 Das Gericht sah das Kindergeldgesetz von 1954 vom Kompetenztitel für die Sozialversicherung als gedeckt an. 161 In der jüngeren Vergangenheit hat die Errichtung der gesetzlichen Pflegeversicherung 162 die Frage nach der Reichweite der Sozialversicherungskompetenz erneut aufgeworfen. Auch dieses Gesetz hat das Bundesverfassungsgericht unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG subsumiert. 163 1. Methodische Überlegungen Aufgrund der bisherigen Ergebnisse der Abhandlung bestehen folgende Prämissen für die Einbeziehung neuer Sozialleistungen in den Kompetenzbereich der Sozialversicherung: Zum einen sind die Kompetenztitel der Art. 73, 74 GG nicht betont eng auszulegen, weil sich das Kompetenzgefüge des Grundgesetzes sonst im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen, die der Verfassungsgeber noch nicht vorhersehen konnte, schrittweise zugunsten der Länder verschieben würde. 164 Da-
Kindergeldgesetz vom 13. November 1954 (BGBl. I, S. 333). Der Gesetzgeber hat die Konstruktion eines beitragsfinanzierten Kindergeldes allerdings bereits 1964 wieder aufgegeben. Die Leistungen nach den Bundeskindergeldgesetzen von 1964 (BGBl.I, S.265) und 1995 (BGBl.I, S.1250) wurden und werden durch Steuern finanziert. Deshalb fallen diese Regelungen nach herrschender Auffassung nicht unter Art.74 Abs.1 Nr.12 GG, sondern unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG; vgl. Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 40; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 62; Umbach/Clemens, in: dies., MAK II, Art. 74 Rn. 37; generelle Zweifel an der Bundeskompetenz hegt Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 100 Rn. 154. Ob die Zuordnung unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG richtig oder eine gegenseitige Abgrenzung der Kompetenztitel für die öffentliche Fürsorge und für die Sozialversicherung überhaupt notwendig ist, kann hier noch dahinstehen, da es insoweit nicht um die Abgrenzung von Bundes- und Länderzuständigkeiten, sondern um die gegenseitige Abgrenzung von Bundeszuständigkeiten geht, die erst in § 3 eingehend behandelt wird. 160 Siehe dazu oben A. I. 161 Siehe BVerfGE 11, S. 105 (111 ff.). 162 Eingeführt durch Art. 1 des Gesetzes zur sozialen Absicherung der Pflegebedürftigkeit vom 26. Mai 1994 (BGBl. I, S. 1014). 163 BVerfGE 103, S. 197 (215). 164 Siehe oben § 1 B. I. 1. 158 159
C. Die Abgrenzung des sachlich-inhaltlichen Regelungsbereichs
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her fallen neue Sozialleistungen nicht von vornherein aus dem Kompetenzbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG heraus. Zum anderen kennt das Grundgesetz aber auch keine Vermutungsregel, die für eine Bundeskompetenz spricht und infolgedessen auch keinen Beurteilungsspielraum des Bundesgesetzgebers bei der Festlegung der Sozialversicherungsaufgaben. 165 Historisch neue Gesetzgebungsaufgaben sind daher per se weder Bundes- noch Länderaufgaben. 166 a) Gesetzesauslegung und Wandel der sozialen Wirklichkeit Damit ist ein klassisches Problem der Gesetzesinterpretation angesprochen: Veränderungen der Wirklichkeit werfen Rechtsfragen auf, die der Gesetzgeber noch nicht vorhersehen konnte. 167 Dies betrifft die Verfassungsauslegung in besonderem Maße, weil das Grundgesetz wegen der besonderen Verfahrenshürden für verfassungsändernde Gesetze (Art. 79 Abs. 1 und Abs. 2 GG) seltener an den Wandel der gesellschaftlichen und technischen Verhältnisse angepasst wird als andere Rechtsnormen. Damit treten zeitablaufbedingte Auslegungsprobleme bei der Verfassungsinterpretation allerdings nur quantitativ häufiger auf als bei der Auslegung von Gesetzen, Verordnungen und Satzungen, nicht aber in qualitativ anderer Form. Entsprechend gelten die Methoden für die Anpassung des einfachen Rechts an Veränderungen der Wirklichkeit auch für die Auslegung der Verfassung. 168 Mit dieser Feststellung ist allerdings noch kein allzu sicheres Terrain erreicht, denn die Anpassung von älteren Rechtsvorschriften an die soziale Wirklichkeit stellt ein traditionelles Problem der juristischen Methodenlehre dar, für das es keine einfache Lösung gibt. Die Suche nach gangbaren Wegen ist eng verbunden mit dem bereits seit dem 19. Jahrhundert bestehenden Disput 169 zwischen der „subjektiven“ und der „objektiven“ Theorie der Gesetzesauslegung. Die objektive Theorie, die dem Gesetz einen eigenen „objektiven“ Willen unterstellt, der über den Willen des historischen Gesetzgebers hinausgeht, hat den Vorteil der größeren historischen Flexibilität, da sie offen ist für die Aufnahme neuerer Wertungen in die Gesetzesauslegung. Sie kann die Herkunft dieser Wertungen allerdings rational kaum begründen und erlaubt es dem Rechtsanwender damit in hohem Maße, eigene subjektive Überzeugungen in das Gesetz hineinzulesen. 170 „Die Unterstellung einer Ratio, die unter keinem anderen Gesichtspunkt nachweisbar ist, disqualifiziert sich“ aber „als normgelöste subjektive ‚Wertung‘ oder ‚Abwägung‘.“ 171 Andererseits kann eine strenge Siehe oben § 1 B. I. 2. und § 2 A. II. Ähnlich Fehling, in: Aulehner u. a., Föderalismus, S. 31 (44). 167 Vgl. dazu nur Bydlinski, Methodenlehre, S. 574 ff.; Looschelders/Roth, Rechtsanwendung, S. 239 f.; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 816, 861. 168 Es gibt keine eigene Methodik der Verfassungsauslegung; siehe oben § 1 B. II. 169 Vgl. dazu Larenz, Methodenlehre, S. 316 ff.; Röhl, Rechtslehre, S. 610 ff.; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 796 ff. 170 Daher ablehnend zur objektiven Theorie: Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 722, 806 ff. 171 Müller, Methodik, S. 208. 165 166
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§ 2 Abgrenzung von den Rechtsetzungszuständigkeiten der Länder
Bindung an den Willen des historischen Gesetzgebers ebenso wenig überzeugen, da dieser Wille im Gesetzgebungsprozess nur unvollständig geäußert wird und Rechtsfragen, die durch nachträgliche Veränderungen der normierten Wirklichkeit entstehen, ohnehin nicht erfasst. 172 b) Der Analogieschluss als Methode der Kompetenzauslegung Vollständig wird sich dieses methodische Dilemma der Rechtswissenschaft kaum auflösen lassen. Damit die hier interessierende Kompetenzauslegung nicht völlig in das subjektive Belieben des Interpreten gestellt wird, wird man aber die Orientierung der Interpretation am historischen Willen des Verfassungsgebers nicht gänzlich aufgeben können. Wo sich dieser nicht ermitteln lässt, stellt sich Frage nach dem hypothetischen Willen 173: Wem hätte der Verfassungsgeber die Kompetenz für eine neue Gesetzgebungsmaterie verliehen, wenn er die nach Erlass des Grundgesetzes eingetretenen Veränderungen der sozialen Wirklichkeit in seine Erwägungen einbezogen hätte? Damit die Antwort auf diese Frage nicht zur reinen Spekulation gerät, sind Vergleichsschlüsse zu Gesetzgebungsaufgaben, über die der Verfassungsgeber bewusst entschieden hat, naheliegend. Ist eine neue Gesetzgebungsaufgabe mit den von einer Bundeskompetenz erfassten Aufgaben vergleichbar, muss sie diesem Kompetenztitel zugeordnet werden. Ähnelt sie hingegen einer Aufgabe, die nach traditionellem Verständnis als ausschließliche Ländermaterie eingestuft wird, fällt sie unter die Länderzuständigkeit. Diese Methode läuft darauf hinaus, Analogieschlüsse im Bereich der Kompetenzauslegung zuzulassen. 174 Das scheint der Systematik der Art. 70 ff. GG, insbesondere der Grundsatznorm des Art. 70 Abs. 1 GG zunächst zu widersprechen. Die Verfassung geht ersichtlich von einer lückenlosen Aufteilung der Gesetzgebungsaufgaben zwischen Bund und Ländern aus. 175 Eine lückenlose Kompetenzordnung lässt sich aber nur bei einer betont engen Auslegung der Bundeskompetenzen durchhalten, bei der vom Verfassungsgeber nicht geregelte neue Gesetzgebungsaufgaben stets als Länderaufgaben eingeordnet werden. Es wurde bereits dargelegt, dass eine derartige Versteinerung der Bundeskompetenzen dem Grundgesetz widerspricht, welches dem Bund bewusst eine starke Stellung in der Gesetzgebung zuspricht. 176 Scheidet eine enge Auslegung der Bundeskompetenzen aber aus, so wird die lückenlos gedachte Kompetenzordnung des Grundgesetzes im historischen Zeitver172 Aus diesem Grunde wird die subjektive Theorie von ihren eigenen Vertretern nicht konsequent durchgehalten; vgl. dazu Larenz, Methodenlehre, S. 317 mit Nachweisen. 173 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 317. 174 Für eine Analogiefähigkeit der verfassungsrechtlichen Aufgaben der Sozialversicherung auch Krause, VSSR 1980, S. 115 (123). 175 Siehe Erbguth, in: Sachs, GG, Art. 30 Rn. 17; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 9; Kube, Finanzgewalt, S. 266; Rinck, in: FS Müller, S. 289; Rozek, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 70 Rn. 14; Wolfrum, DÖV 1982, S. 674 (676). 176 Siehe oben § 1 B. I. 1.
C. Die Abgrenzung des sachlich-inhaltlichen Regelungsbereichs
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lauf unvermeidbar lückenhaft. 177 Die Kompetenzinterpretation kommt daher nicht ohne Analogieschlüsse aus. 178 Trotzdem ist daran festzuhalten, dass dem Bund bei der Festlegung der Sozialversicherungsaufgaben keine Einschätzungsprärogative zukommt. 179 Vergleichsschlüsse zwischen alten und neuen Gesetzgebungsaufgaben dürfen nicht im Belieben des Bundesgesetzgebers stehen, da die Bundeskompetenzen sonst zu grenzenlosen Allzuständigkeiten mutieren würden. Zunächst kann es dabei von vornherein nur um Gesetzgebungsaufgaben gehen, die der historische Verfassungsgeber nicht in seine Erwägungen einbeziehen konnte, weil sie auf Veränderungen der sozialen Wirklichkeit nach 1949 beruhen 180. Besteht danach überhaupt die Möglichkeit zur Fortbildung der Sozialversicherungsaufgaben, so müssen die neu geschaffenen Sozialleistungen mit dem traditionellen Aufgabenbestand des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG außerdem in nachprüfbarer Weise vergleichbar sein. c) Nochmals: die Typus-Lehre als Methode der Kompetenzauslegung Aufgrund dieser methodischen Überlegungen zeigt sich, dass in der herrschenden Interpretation der Sozialversicherungskompetenz als Typus 181 zumindest ein wahrer Kern steckt. Indem Bundesverfassungsgericht und herrschende Lehre verlangen, dass neue Gesetze dem klassischen Bild der Sozialversicherung entsprechen müssen, um unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG subsumiert werden zu können, betreiben sie Vergleiche zwischen dem gewachsenen Bestand der Sozialversicherung und neuen Sozialversicherungsgesetzen, die der Methode des Analogieschlusses sehr ähneln. Das Typus-Denken mit seiner unvollständigen Subsumtion unter eine bewegliche Zahl von Merkmalen kann geradezu selbst als Methode der Analogie begriffen werden. 182 Nicht von ungefähr bezeichnen die Vertreter dieser 177 So auch Maunz, der in diesem Fall allerdings von einer Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Länder ausgeht (in: ders./Dürig, GG, Art.70 Rn.30). Allgemein zur nachträglichen Entstehung von Rechtslücken Röhl, Rechtslehre, S. 616; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 816. 178 Ähnlich bereits Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 51 (62): im Verfassungsrecht liege die Notwendigkeit kontinuierlicher Rechtsfortbildung offen zu Tage; für einen rechtsschöpferischen Umgang mit Kompetenzkatalogen auch Fehling, in: Aulehner u. a., Föderalismus, S. 31 (53 f.). 179 Siehe dazu bereits oben A. II. 180 Für eine solche nachkonstitutionelle Veränderung der sozialen Wirklichkeit liefert die Pflegeversicherung ein anschauliches Beispiel. Das Pflegerisiko resultiert zum einen aus der zunehmenden Auflösung der Familie als Einrichtung der gegenseitigen Hilfe, zum anderen aus dem medizinischen Fortschritt und dem damit verbundenen Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung. Die Diskussion um die Absicherung der Pflegebedürftigkeit begann in Deutschland im Jahr 1974 – also deutlich nach der Entstehung des Grundgesetzes – mit einem Gutachten des Kuratoriums Deutsche Altershilfe über die stationäre Behandlung von Krankheiten im Alter; vgl. dazu BVerfG-K, NZS 2002, S. 87 (88); siehe auch Bieback, VSSR 2003, S. 1 (15). 181 Siehe dazu oben § 1 A. 182 Vgl. insoweit Kaufmanns programmatischen Buchtitel: Analogie und „Natur der Sache“ – zugleich ein Beitrag zum Typus.
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Lehre ihren offenen Subsumtionsschluss als „Vergleich“ 183 oder „Strukturvergleich“ 184. Das ändert jedoch nichts daran, dass die herrschende Interpretation des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Typus in die Irre führt. Bei ihr sind nämlich nicht die Sozialversicherungsaufgaben, sondern die grundlegenden Prinzipien der traditionellen Sozialversicherungskodifikationen Gegenstand des Vergleichsschlusses. Die Reichweite der Kompetenz wird somit nicht oder nur teilweise danach bestimmt, welche Aufgaben unter den Kompetenztitel fallen, sondern wie die Bewältigung der Aufgabe traditionell geregelt worden ist. Damit zeigt sich erneut eine der Schwächen des Typus-Denkens: Da der Typus aus der „Beobachtung“ der Rechtswirklichkeit gebildet wird, erfolgt die Begriffsbildung ohne zureichende Reflektion der Frage, welche der „erkannten“ überkommenen Regelungsstrukturen des Sozialversicherungsrechts überhaupt einen inhaltlichen Bezug zur Funktion des Art.74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Aufgabenzuweisung haben. 185 Das gipfelt in der bereits widerlegten Annahme, der Bundesgesetzgeber sei auf die traditionelle Organisations- und Finanzierungsstruktur der Sozialversicherung festgelegt, habe aber einen verfassungsrechtlichen Beurteilungsspielraum bei der Festlegung der Sozialversicherungsaufgaben. 186 Ganz im Gegenteil ist alleine der personelle und sachlich-inhaltliche Aufgabengehalt des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG für die Abgrenzung von Bundes- und Landesgesetzgebung von Bedeutung. 2. Die Analyse der historisch gesicherten Sozialversicherungsaufgaben – Schlüsse auf die Reichweite der Kompetenz Aus dem Vorherstehenden ergibt sich, dass der Bundesgesetzgeber auf der Grundlage des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG neue Sozialleistungen schaffen darf, soweit sie mit den klassischen Leistungen der Sozialversicherung vergleichbar sind. Somit stellt sich die Aufgabe, durch eine Analyse der traditionellen Sozialversicherungsaufgaben verfassungsrechtlich tragfähige Vergleichskriterien zu entwickeln. a) Das klassische Sozialversicherungsrisiko: eine Kombination aus Personenschaden und Verdienstausfall Bei näherer Betrachtung erweist sich, dass der historische Ursprung der Sozialversicherung durch eine bestimmte Kombination von Risiken gekennzeichnet ist. In den klassischen Zweigen der Bismarck’schen Arbeiterversicherung wurden zunächst fast ausschließlich Entgeltersatzleistungen erbracht, soweit ein Personen183 184 185 186
Butzer, Fremdlasten, S. 163. Isensee, Umverteilung, S. 45. Siehe dazu bereits oben § 1 B. II. 3. Siehe dazu oben A. II.
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schaden (Krankheit, Unfall, Invalidität, Alter) zur Arbeitsunfähigkeit und somit indirekt zum Verlust des Erwerbseinkommens führte. 187 Sowohl die Unfall- als auch die Invaliditäts- und Altersversicherung erbrachten ursprünglich ausschließlich Renten- und Hinterbliebenenleistungen 188 als Ersatz für den Arbeitslohn. Selbst in der Krankenversicherung, die von Anfang an auch Heilbehandlungsleistungen umfasste, stand die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zunächst im Vordergrund. 189 In der Altersversicherung wurde der Personenschaden allerdings von Anfang an nicht positiv festgestellt, sondern die altersbedingte Arbeitsunfähigkeit mit dem Erreichen einer Altersgrenze unwiderlegbar vermutet. Daher ist es naheliegend, dass die Sozialversicherungskompetenz die Regelung neuer sozialer Risiken jedenfalls dann umfasst, wenn es um den Ersatz eines Verdienstausfalls geht, der durch ein Gebrechen oder einen anderweitigen körperlichen Zustand verursacht worden ist. 190 Das trifft zum Beispiel auf die Entgeltersatzleistungen für Wöchnerinnen zu, die allerdings ohnehin von Anfang an zu den Leistungen der Krankenversicherung gehörten 191 und daher zum klassischen Aufgabenbestand des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zählen. 192 Da auch Selbständige vom personellen Aufgabenkreis der Sozialversicherungskompetenz umfasst sind 193, ist die Versicherungspflicht von bestimmten selbständigen Berufsgruppen in der Kranken-, Rentenund Unfallversicherung (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 4 SGB V; § 2 SGB VI; § 2 Abs. 1 Nr. 5 bis 7 und Nr. 9 SGB VII) ebenfalls von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gedeckt; denn auch hier geht es sachlich-inhaltlich um die Kombination aus Personenschaden und Verdienstausfall. Eine Ausdehnung der Unfall- und Rentenversicherung auf alle selbständigen Berufe wäre daher kompetenzrechtlich möglich. Schwierigkeiten wirft die zurzeit nur in Einzelfällen vorgesehene 194 Zahlung von Krankengeldleistungen an Selbständige auf. Zum einen ist das Einkommen der Selbständigen kurzfristigen Schwankungen unterworfen, so dass nur die Zahlung von Mindestleistungen möglich ist. 195 Zum anderen droht die Gefahr, dass Selbständige in schlechter wirtschaftlicher Lage die Krankschreibung zur Einkunftserzielung missbrauchen. Daher wäre die Einführung eines Krankengeldes für alle Selbständigen rechtspoli187 Zutreffend weist bereits Peters darauf hin, dass die klassische Sozialversicherung im Wesentlichen Tatbestände entschädigt hat, die in der körperlichen Situation des Menschen begründet sind (Geschichte, S. 120); vgl. dazu auch Werner, Leistungsfähigkeit, S. 82 f. 188 Siehe oben I. 189 Die Angaben im Schrifttum über den ursprünglichen Anteil der Lohnersatzleistungen an den Gesamtleistungen der Krankenversicherung schwanken zischen 60 % (Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 27) und 90 % (Waltermann, Sozialrecht, Rn. 47). 190 Ähnlich bereits Krause, VSSR 1980, S. 115 (123). 191 Vgl. Peters, Geschichte, S. 58. 192 A. A. Sodan, Leistungserbringer, S. 337 f.: es handele sich um eine „krankenversicherungsfremde“ Leistung; näher zum Problemkreis der sog. versicherungsfremden Leistungen § 3 B. II. 1. b). 193 Siehe oben B. I. 1. 194 Siehe § 9 KVLG 1989 (Betriebshilfe für Landwirte). 195 Vgl. Eichenhofer, Sozialrecht, Rn. 376.
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tisch zweifelhaft. Von der Kompetenzzuweisung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG wäre sie aber gedeckt. Wenn das klassische Risiko der Sozialversicherung aus einer Verbindung von Personenschaden und Verdienstausfall besteht, heißt das freilich nicht, dass die Sozialversicherungskompetenz nur Entgeltersatzleistungen abdeckt. Denn bereits vor 1949 gab es in allen Sozialversicherungszweigen außer der Rentenversicherung auch Sach- und Dienstleistungen 196: In der gesetzlichen Krankenversicherung wurden von Anfang an auch Heilbehandlungsleistungen erbracht197; in der Unfallversicherung wurden die Berufsfürsorgemaßnahmen zur Wiedergewinnung und Erhöhung der Erwerbsfähigkeit erstmals 1925 geregelt 198; unter dem Dach der Arbeitslosenversicherung (die allerdings nicht an einen Personenschaden anknüpft und daher bereits keine klassische Sozialversicherungsaufgabe mehr darstellt 199) wurde von Beginn an auch Arbeitsvermittlung und Berufsberatung angeboten 200. Die Gemeinsamkeit dieser Leistungen besteht darin, dass sie darauf abzielen, die Erwerbsfähigkeit oder -möglichkeit des Versicherten wiederherzustellen, damit dieser in Zukunft seinen Lebensunterhalt wieder selbst bestreiten kann. Die Sozialversicherung hatte somit bereits nach der Vorstellung des präkonstitutionellen Gesetzgebers nicht nur die Funktion der Schadenslinderung, sondern auch der Schadensvorbeugung und Schadensbeseitigung. Entsprechend fallen Präventions-, Förderund Rehabilitationsmaßnahmen aller Art unter die Sozialversicherungskompetenz, solange sie nur darauf ausgerichtet sind, dass der Versicherte sein Auskommen in Zukunft wieder aus eigener Kraft zu bestreiten kann.201 Daher bestehen aus kompetenzrechtlicher Sicht keine Einwände gegen die Kraftfahrzeughilfe, Wohnungshilfe, Haushaltshilfe und Reisekostenerstattung im Unfallversicherungsrecht (§§ 39 ff. SGB VII) und die Haushaltshilfe im Krankenversicherungsrecht (§ 38 SGB V). 202 Da der Zweck der Wiedereingliederung in das Erwerbsleben nicht nur durch Sachund Dienstleistungen, sondern auch durch eine finanzielle Unterstützung gefördert werden kann, sind darüber hinaus auch staatliche Lohnzuschüsse von der Aufgabenzuweisung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gedeckt. Die Ausdehnung der Sozialversicherungsaufgaben auf Sach- und Dienstsleistungen führt zu einem weiteren Aspekt der Bundeszuständigkeit aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. Da die Sachleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung seit jeher Vgl. dazu bereits oben I. Vgl. Peters, Geschichte, S. 58. 198 Durch das zweite Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung vom 14. Juli 1925 (RGBl. I, S. 97); vgl. dazu Peters, Geschichte, S. 89. 199 Siehe dazu unten b) bb). 200 Vgl. dazu Peters, Geschichte, S. 102. 201 Ähnlich Krause, VSSR 1980, S. 115 (141 f.); kritisch zu den Präventions- und Rehabilitationsleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung Sodan, Leistungserbringer, S. 337 f.; vgl. auch Boecken, in: Boecken/Hänlein/Kruse/Steinmeyer, Sicherung, S. 243 ff. 202 A. A. zur Haushaltshilfe im Krankenversicherungsrecht Sodan, Leistungserbringer, S. 336. 196 197
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nicht von den staatlichen Sozialversicherungsträgern, sondern durch dritte, zum großen Teil private Leistungserbringer (Ärzte, Apotheker, private Krankenhäuser) erbracht werden 203, bezieht sich Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nicht notwendigerweise auf Leistungen, die alleine von staatlichen Trägern angeboten werden. Entsprechend schließt die Sozialversicherungskompetenz auch die Befugnis des Bundes ein, die Leistungsbeziehungen im Dreieck zwischen Versicherten, Sozialversicherungsträgern und privaten Leistungserbringern zu regeln. Daher ist das Vertragsarztrecht der gesetzlichen Krankenversicherung (§§ 69 ff. SGB V) ebenso wie vergleichbare Regelungen im Unfallversicherungs- und im Pflegeversicherungsrecht (§§ 27 ff. SGB VII; §§ 36 ff. SGB XI) von der Sozialversicherungskompetenz gedeckt. 204 Die Zulassung zu ärztlichen und anderen Heilberufen fällt aber nach dem eindeutigen Wortlaut der Regelung unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG. b) Reichweite und Grenzen der Sozialversicherungsaufgaben aa) Personenschäden ohne Ausfall des Erwerbseinkommens Da die klassischen Sozialversicherungsaufgaben durch eine Kombination von Personenrisiko und Verdienstausfall gekennzeichnet sind, beginnen die verfassungsrechtlichen Fragezeichen dort, wo es entweder um Personenschäden ohne Verdienstausfall oder um Verdienstausfälle ohne Personenschaden geht. Ein praktisches Beispiel für die Ablösung von Personenrisiken vom Erwerbsleben liefert die gesetzliche Pflegeversicherung, die auf soziale Risiken abzielt, welche sich regelmäßig 205 erst im Rentenalter verwirklichen. 206 Entsprechend kennt die Pflegeversicherung auch keine Entgeltersatzleistungen. Die Verselbständigung der Personenrisiken vom Arbeitsleben ist allerdings keine Entwicklung neueren Datums. In der Krankenversicherung hat sie bereits lange vor 1949 eingesetzt, da die ursprünglich dominierende Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gegenüber den Heilbehandlungsleistungen eine immer geringere Rolle spielte207. 208 Zwar mögen die Heilbe203 Eingehend zum Recht der Leistungserbringer in der Sozialversicherung Schmitt, Leistungserbringung; Rixen, Sozialrecht; Sodan, Leistungserbringer. 204 Siehe zum Vertragsarztrecht BVerwGE 65, S. 362 (365); Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 43; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 58; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG III, Art. 74 Rn. 67; Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 74 Rn. 175; Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 100 Rn. 191. Von der Gesetzgebungskompetenz zu unterscheiden ist die Frage, ob das gegenwärtige Vertragsarztrecht, welches die Berufsausübung der privaten Leistungserbringer in erheblichem Maße reglementiert, mit Art. 12 GG vereinbar ist; dezidiert kritisch dazu Sodan, Leistungserbringer, S. 310 ff. 205 Nach Schätzungen sind von den Pflegebedürftigen nur ca. ein Viertel jünger als 65 Jahre; vgl. Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 104. 206 Wegen des fehlenden Bezugs der Pflegeversicherung zum Erwerbsleben kritisch zur Gesetzgebungskompetenz des Bundes Friauf, DB 1991, S. 1773 (1779). 207 Triebfedern dieser Entwicklung waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Fortschritt der therapeutischen Möglichkeiten bei typischen Arbeiterkrankheiten sowie die Entwicklung des
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handlungsleistungen ursprünglich die Funktion gehabt haben, die Arbeitsfähigkeit wieder herzustellen. Jedoch waren sie von Anfang an weder auf die Kurierung von Berufskrankheiten beschränkt, noch setzten sie einen Ausfall der Arbeitsfähigkeit voraus. 209 Entsprechend nannte bereits Art. 161 der Weimarer Reichsverfassung 210 neben der Arbeitsfähigkeit ausdrücklich auch die Gesundheit als Aufgabe einer vom Reich zu schaffenden Versicherung. Spätestens mit der 1930 beschlossenen Erhebung der Familienkrankenpflege von Ehegatten und Kindern zur Regelleistung 211 hat sich das Krankheitsrisiko vollständig vom Erwerbsleben gelöst. Aufgrund dieser präkonstitutionellen Entwicklung zeigt sich, dass der Verfassungsgeber bei der Formulierung der Sozialversicherungskompetenz auch soziale Sicherungssysteme in seinen Willen aufgenommen hat, bei denen es um körperliche Risiken ohne Bezug zum Arbeitsleben geht. 212 Somit wird auch die Pflegeversicherung vom Kompetenzbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG erfasst. 213 Gleiches gilt für die Krankenversicherung von Studenten (§ 5 Abs. 1 Nr. 9 SGB V) und für die Unfallversicherung von Kindern beim Besuch von Tageseinrichtungen, Schülern, ehrenamtlich Tätigen, Hilfeleistenden, Blut- und Organspendern sowie Pflegepersonen (§ 2 Abs. 1 Nr. 8 bis 13 und Nr. 17 SGB VII). 214 Kassenarztrechts und die damit verbundene Klärung der Leistungsbeziehungen zwischen Sozialversicherungsträgern und Ärzten; vgl. dazu Tennstedt, in: v. Maydell/Ruland, SRH, A. 2. Rn.5 f. In der Bundesrepublik ist die Bedeutung des Krankengeldes unter anderem aufgrund der in den 50er Jahren eingeführten arbeitsrechtlichen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall weiter geschrumpft. Daher macht das Krankengeld heute im Vergleich zu den Heilbehandlungsleistungen nur noch einen geringen Teil der Kassenleistungen aus. So betrugen die Leistungsausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 2002 insgesamt 142 Mrd. Euro. Davon entfielen nur noch 6,7Mrd. Euro auf Einkommensersatzleistungen. Quelle: Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung, Sozialbudget 2002, S. 22. 208 Vgl. dazu Butzer, Fremdlasten, S. 193 mit Fußn. 272. 209 Entsprechend differenziert auch das geltende Recht der Krankenversicherung nicht danach, ob Belastungen im Arbeitsleben irgendeinen Einfluss auf die Erkrankung haben; siehe Werner, Leistungsfähigkeit, S. 81. 210 Art. 161 WRV lautete: „Zur Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, zum Schutz der Mutterschaft und zur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Schwäche und Wechselfällen des Lebens schafft das Reich ein umfassendes Versicherungswesen unter maßgebender Mitwirkung der Versicherten.“ 211 Durch die Notverordnung vom 26. Juli 1930 (RGBl. I, S. 311); vgl. dazu Peters, Geschichte, S. 84. 212 Ebenso Butzer, Fremdlasten, S. 193; Werner, Leistungsfähigkeit, S. 81 ff.; a. A. W. Weber, in: FS Möller, S. 499 (508); kritisch auch Schnapp, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, Besonderes Verwaltungsrecht II, § 26 Rn. 9. 213 Siehe BVerfGE 103, S. 197 (215); BSGE 85, S. 250 (250 ff.); Bieback, VSSR 2003, S. 1 (15); Fuchs, in: Schulin, HS-PV, § 4 Rn. 3; Maschmann, SGb 1991, S. 300 (302 ff.); Pitschas, ZRP 1987, S. 283 (288); Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 104 f.; Schnapauff, in: Hömig, GG, Art. 74 Rn. 11; Umbach/Clemens, in: dies., MAK II, Art. 74 Rn. 66. 214 A. A. Rolfs mit der Begründung, dass diese Personengruppen keine Beziehung zum Berufsleben haben (Versicherungsprinzip, S. 109). Rolfs widerspricht sich allerdings selbst, weil er an früherer Stelle zutreffend darlegt, dass der Bezug zum Arbeitsleben keine „conditio sine qua non für ein sozialversicherungsfähiges Risiko“ darstellt (ebenda, S. 105). Im Übrigen be-
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bb) Erwerbsrisiken ohne Personenschaden Umgekehrt stellt sich die Frage, ob der Bundesgesetzgeber Erwerbsrisiken auch dann regeln darf, wenn sie nicht auf einem Personenschaden beruhen. Bereits der Wortlaut des Art.74 Abs. 1 Nr. 12 GG zeigt, dass dies möglich ist. Als einziger Zweig der Sozialversicherung wird ausdrücklich die Arbeitslosenversicherung aufgeführt, bei der die Einkommenslosigkeit gerade nicht auf einem körperlichen Gebrechen oder Ähnlichem, sondern auf der Beendigung des Arbeitsverhältnisses beruht. Da eine betont enge Auslegung des Begriffs „Arbeitslosenversicherung“ verfassungsrechtlich nicht geboten ist 215, lassen sich darunter auch Entgeltersatzleistungen bei einer betriebsbedingten Störung oder Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses subsumieren. Entsprechend bestehen keine Bedenken gegen die bundesrechtliche Regelung von Kurzarbeitergeld und Insolvenzgeld für Arbeitnehmer (vgl. §§ 169 ff., 183 ff. SGB III). 216
cc) Ausschluss von Vermögensschäden Nach den bisherigen Betrachtungen liegt es nahe, dass die Absicherung von Vermögensschäden, die weder auf einem körperlichen Risiko noch auf dem Verlust des Arbeitseinkommens beruhen, mit den verfassungsrechtlich gesicherten Sozialversicherungsaufgaben nicht mehr vergleichbar und daher von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nicht erfasst ist. 217 Damit wäre zum Beispiel die in den 70er Jahren diskutierte218 bundesrechtliche Regelung einer sozialen Rechtsschutzversicherung verfassungswidrig. 219 Allerdings scheint das Bundesverfassungsgericht auf der Grundlage seiner im Kindergeld-Urteil entwickelten Dogmatik die Einbeziehung von Vermögensrisiken in den Kompetenzbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG grundsätzlich für möglich zu halten. Das Gericht schließt aus der ausdrücklichen Erwähnung der Arbeitslosenversicherung in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, welche nach dem 1949 üblichen Sprachgebrauch noch nicht als Sozialversicherung bezeichnet wurde, dass der trifft die verfassungsrechtliche Kritik an den genannten Regelungen den an dieser Stelle noch nicht interessierenden Umstand, dass die versicherten Personengruppen nur geringe oder gar keine Sozialversicherungsbeiträge zahlen (sog. „unechte“ Sozialversicherung); näher dazu unten § 3 B. II. 1. b). 215 Siehe oben § 1 B. I. 1. 216 Siehe zur Bundeskompetenz für das Insolvenzgeld BVerfGE 89, S. 132 (144); Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu, GG, Art. 74 Rn. 156. 217 Für den Ausschluss von Vermögensrisiken aus dem Kompetenzbereich des Art.74 Abs. 1 Nr. 12 GG auch Butzer, Fremdlasten, S. 192 ff.; Krause, VSSR 1980, S. 115 (123). 218 Siehe dazu André, ZRP 1976, S. 177 ff.; Baur, NJW 1976, S. 1380 (1383). 219 Ebenso Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 31; André, ZRP 1976, S. 177 (179); Butzer, Fremdlasten, S. 194; Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 103.
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Grundgesetzgeber die Sozialversicherung nicht auf die klassischen Zweige der Arbeiterversicherung habe beschränken wollen, sondern auch die Regelung neuer Lebenssachverhalte in seinen Willen aufgenommen habe. 220 Diese Folgerung ist freilich zu pauschal und hat zur der nicht akzeptablen These geführt, der Bundesgesetzgeber habe bei der Bestimmung der Sozialversicherungsaufgaben einen Beurteilungsspielraum. 221 Bei einer Ausdehnung der Sozialversicherungskompetenz auf Vermögensschäden aller Art wären dem Kompetenzbereich faktisch keine Grenzen mehr gezogen, da der Bundesgesetzgeber wirtschaftliche Risiken aus allen Lebensbereichen regeln könnte. Das verfassungsrechtliche System der enumerativen Bundeskompetenzen würde durch einen generalklauselartigen Zuständigkeitstitel konterkariert. Zudem nimmt das Bundesverfassungsgericht die Entstehungsgeschichte und Formulierung der Norm zu Unrecht für seine Deutung in Anspruch.222 Dem Parlamentarischen Rat ging es ausschließlich darum, die Bundeskompetenz für die Arbeitslosenversicherung klarzustellen, da eine Subsumtion unter die in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG aufgeführten Begriffe „Arbeitsrecht“ und „Sozialversicherung“ jeweils als nicht gesichert galt. 223 Das zeigt nur, dass der Verfassungsgeber von einem an Personenschäden anknüpfenden Verständnis des Begriffs „Sozialversicherung“ ausging, welches daher bereits das Risiko des Arbeitsplatzverlustes nicht mehr unzweifelhaft einschloss. Eine Ausdehnung der Sozialversicherung auf andere Vermögensrisiken als den Lohnausfall wurde im Parlamentarischen Rat hingegen gar nicht in Betracht gezogen. dd) Familienleistungen Da die Sozialversicherungskompetenz somit abgesehen vom Verlust des Arbeitslohns keine Vermögensschäden umfasst, bedürfen die Familienleistungen der Sozialversicherung einer näheren Betrachtung. Unproblematisch werden sie von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG umfasst, soweit es um Personenschäden geht: Das gilt etwa für die Familienversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung 224, für Wöchnerinnenleistungen 225 sowie für Hinterbliebenenrenten. Schwieriger verhält es sich mit der Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung (§ 70 220 Vgl. BVerfGE 11, S. 105 (111 f.); siehe aus der zustimmenden Literatur Isensee, Umverteilung, S. 44; Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art.74 Rn. 171; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 117; Papier, in: v. Maydell/Ruland, SRH, A. 3. Rn. 12; Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 100 Rn. 190; Umbach/Clemens, in: dies., MAK II, Art. 74 Rn. 66. 221 Siehe dazu oben A. II. 222 Wie hier Butzer, Fremdlasten, S. 157. 223 Siehe zur Entstehungsgeschichte Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 10 ff.; v. Doemming/Füßlein/Matz, JöR n. F. 1 (1951), S. 521; Butzer, Fremdlasten, S. 156 f. 224 Ebenso BVerfGE 113, S. 167 (196); vgl. auch BVerfGE 107, S. 205 (206). 225 A. A. Sodan, Leistungserbringer, S. 337 f.
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Abs. 2 SGB VI). Denn dabei geht es weder um den Gesundheitsschutz noch um den Verlust der Arbeitsfähigkeit vor und nach der Geburt, sondern um den Ausgleich von Beitragslücken bei der Alterssicherung, also um eine Vermögenseinbuße. Die Regelung fußt allerdings auf gesellschaftlichen Veränderungen nach der Entstehung des Grundgesetzes: der zum Regelfall werdenden Berufstätigkeit der Frauen; dem dramatischen Geburtenrückgang; dem aus beidem resultierende Bedarf nach einer staatlichen Familienpolitik, welche die Vereinbarkeit von Beruf und Mutterschaft fördert. 226 Da der Parlamentarische Rat diese Entwicklungen noch nicht vorhersehen konnte, ist eine eindeutige verfassungsrechtliche Entscheidung über die Gesetzgebungskompetenz nicht feststellbar. Die in der Krankenversicherung und bei den Hinterbliebenenleistungen bereits vor 1949 bestehende Familienorientierung der Sozialversicherung spricht für eine Ausdehnung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG auf Kindererziehungsleistungen, soweit sie an eine Unterbrechung der Berufstätigkeit anknüpfen und daher mit den klassischen Entgeltersatzleistungen der Sozialversicherung noch vergleichbar sind. 227 Entsprechend ist auch das Krankengeld bei Erkrankung eines Kindes (§ 45 SGB V) von der Sozialversicherungskompetenz gedeckt. 228 Nicht mehr von der Zuständigkeit umfasst sind dagegen Erziehungsleistungen, die unabhängig von der Unterbrechung einer Erwerbsbeschäftigung gezahlt werden, etwa eine Rentenanwartschaft die alleine auf der Mutterschaft beruht. 229 Da es insoweit nicht mehr um die Kompensation von Verdienstausfällen geht, besteht keine hinreichende Vergleichbarkeit mit den verfassungsrechtlich gesicherten Sozialversicherungsaufgaben. Aus dem gleichen Grunde war entgegen der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts 230 auch das Kindergeldgesetz von 1954 nicht mehr von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gedeckt. 231
226 Prägnanter Beleg für diese nachkonstitutionelle gesellschaftliche Entwicklung ist die Tatsache, dass erst 1976 das Leitbild der Hausfrauen-Ehe vollständig aus dem BGB-Familienrecht getilgt worden ist; vgl. dazu Hase, Versicherungsprinzip, S. 274 f. in Fußn. 74. 227 Ebenso im Ergebnis BVerfGE 87, S. 1 (33 f.); wohl auch Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 109. 228 Ebenso Butzer, Fremdlasten, S. 194; a. A. Sodan, Leistungserbringer, S. 337 f. 229 Aus diesem Grunde konnte das Kindererziehungsleistungs-Gesetz (KLG) vom 12. Juli 1987 (BGBl. I, S. 1585), welches einen Anspruch auf Kindererziehungsleistungen unabhängig von einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung der Mutter oder des Ehemannes vorsah, nicht auf die Bundeskompetenz aus Art.74 Abs.1 Nr.12 GG, sondern nur auf Art.74 Abs.1 Nr.7 GG gestützt werden; vgl. BVerfGE 87, S. 1 (34 f.); zustimmend Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 102. 230 BVerfGE 11, S. 105 (111 ff.). 231 So im Ergebnis bereits Selmer, Steuerinterventionismus, S.189 mit weiteren Nachweisen in Fußn. 28. Dass es beim Kindergeld nicht mehr um die Kompensation von Personen- oder Erwerbsrisiken, sondern um den Ausgleich eines Vermögensaufwandes geht, gesteht im Übrigen auch das Bundesverfassungsgericht zu: „Der Grundgedanke der Kindergeldregelung ist, den durch Kinder bedingten erhöhten Aufwand einer Familie teilweise auszugleichen, insbesondere den Leistungslohn zu korrigieren“ (BVerfGE 11, S. 105, 115).
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ee) Ausschluss von Sachschäden Ebenfalls nicht mehr vom Kompetenzbereich erfasst ist die Absicherung von Sachschäden. 232 Da vor 1949 in keinem Sozialversicherungszweig Sachrisiken abgesichert worden sind und der feuerbedingte Gebäudesachschaden im Gegenteil den klassischen Fall der Länderkompetenz für öffentliche Versicherungsmonopole darstellt 233, kann ein verfassungsgeberischer Wille, sie in irgend einer Weise unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zu fassen, nicht festgestellt werden. Soweit nicht andere Kompetenztitel des Grundgesetzes bestimmte Sachschäden einschließen234, liegt die Gesetzgebungszuständigkeit alleine bei den Ländern. Damit wäre etwa die bundesrechtliche Regelung einer öffentlich-rechtlichen Hausratsversicherung verfassungswidrig. ff) Keine Beschränkung auf allgemeine Lebensrisiken Entgegen einer im Schrifttum anzutreffenden Auffassung 235 beschränken sich die Sozialversicherungsaufgaben, für die der Bund nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zuständig ist, dagegen nicht auf die Sicherung von allgemeinen Lebensrisiken (oder „Jedermann-Risiken“). Diese Ansicht klingt zwar auch in der vom Bundesverfassungsgericht 236 aus Art. 161 der Weimarer Reichsverfassung übernommenen – insgesamt allerdings nichtssagenden 237 – Formulierung an, die Sozialversicherung diene dem Schutz der menschlichen Existenz vor den „Wechselfällen des Lebens“. Die Forderung nach einer Beschränkung der Sozialversicherung auf Jedermann-Risiken betrifft jedoch nicht die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Bund und Ländern, sondern Fragen des materiellen Verfassungsrechts. Zum einen verbirgt sich hinter dieser Ansicht eine Staataufgabenkritik, welche die gesetzgeberische Regulierungswut bei selten auftauchenden sozialen Risiken eindämmen will. 238 Als solche ist sie
232 Ebenso Butzer, Fremdlasten, S. 194; für die Gebäudeversicherung Rolfs, Versicherungsprinzip, S.103; a.A. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art.74 Rn. 30; Umbach/Clemens, in: dies., MAK II, Art. 74 Rn. 66; tendenziell auch Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 31 mit Fußn. 123. 233 Siehe dazu bereits oben A. III. 1. 234 So umfasst etwa die Fürsorge für die ehemaligen Kriegsgefangenen (Art. 73 Nr. 13 GG) auch Sachschäden; siehe zum wortgleichen Art. 74 Abs. 1 Nr. 10 GG a. F. Degenhart, in: Sachs, GG, Voraufl. 2003, Art. 74 Rn. 36; Umbach/Clemens, in: dies., MAK II, Art. 74 Rn. 42. 235 Siehe etwa Fuchs, in: Schulin, HS-PV, § 4 Rn. 3; Grabau, ZRP 1993, S. 142 (143); Rolfs, Versicherungsprinzip, S.104 f.; kritisch dazu Butzer, Fremdlasten, S.195 mit Fußn.279; Werner, Leistungsfähigkeit, S. 79 f. 236 Siehe BVerfGE 28, S. 324 (348). 237 Ähnlich Werner, Leistungsfähigkeit, S. 79. 238 Klar zum Ausdruck kommt das bei Fuchs, demzufolge die Bundeskompetenz für die Pflegeversicherung erlöschen würde, soweit das Pflegerisiko nur noch eine verschwindend geringe Zahl von Bürgern beträfe (in: Schulin, HS-PV, § 4 Rn. 3); ihm zustimmend Rolfs, Versiche-
D. Zusammenfassung
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jedoch in ihrer pauschalen Form verfehlt, da grundrechtliche Schutzpflichten 239 staatliches Tätigwerden auch bei selten auftretenden Risiken verlangen können. So kann der Staat die sozialversicherungsrechtlich finanzierte Heilbehandlung von lebensbedrohenden Erkrankungen kaum von der statistischen Häufigkeit ihres Auftretens abhängig machen. Zum anderen zielt die Beschränkung auf allgemeine Lebensrisiken darauf ab, dass kein Versicherter Beiträge für die Sicherung von Risiken entrichten muss, von denen er selbst nicht betroffen ist, weil sie nur bei bestimmten sozialen Gruppen (z. B. das Pflegerisiko nur bei Senioren) oder einem bestimmten Geschlecht (z. B. die Schwangerschaft nur bei Frauen) auftreten, und hat damit eine grundrechtsschützende Funktion. Da die gesetzgebenden Gewalten von Bund und Ländern aber in gleichem Maße an die Vorgaben der Grundrechte gebunden sind, können daraus keine Maßstäbe für die Abgrenzung der Gesetzgebungskompetenzen entwickelt werden. 240 Ein materiell verfassungswidriges Bundesgesetz hätte als Landesgesetz mit gleichem Inhalt kein besseres Schicksal. Damit ist noch kein abschließendes Urteil über die an späterer Stelle näher behandelte Frage gesprochen, ob aus dem Kompetenztitel für die Sozialversicherung über die Zuständigkeitszuweisung an den Bund hinaus auch materielle Bindungen folgen, denen der Bundesgesetzgeber unterworfen ist. 241 Jedenfalls hätten derartige Bindungen aber keinerlei Bezug zu der hier alleine interessierenden Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern und müssen daher von der bundesstaatlichen Primärfunktion des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG klar unterschieden werden.
D. Zusammenfassung I. Keine Zuständigkeitsabgrenzung anhand der Organisationsund Finanzierungsstruktur der Sozialversicherung Anders als die ganz herrschende Auffassung annimmt, spielt die Organisationsund Finanzierungsstruktur der Sozialversicherung für die Abgrenzung von Bundesund Länderkompetenzen keine Rolle. Weder hat der Bund eine Einschätzungsprärogative bei der inhaltlichen Bestimmung der Sozialversicherungsaufgaben, der durch organisationsrechtliche Festlegungen kompensiert werden kann, noch bleibt neben Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG Raum für Länderzuständigkeiten, welche dieselben sozialen Leistungen in einer anderen Organisationsform abdecken.
rungsprinzip, S. 104 f.; mit gleicher Argumentation für die Verfassungswidrigkeit der Pflegeversicherung Grabau, ZRP 1993, S. 142 (143). 239 Näher dazu unten § 6 B. II. 240 So auch der Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz der westlichen Besatzungszonen, Verfassungskonvent, S. 30. 241 Näher dazu unten § 3 B. II.
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§ 2 Abgrenzung von den Rechtsetzungszuständigkeiten der Länder
II. Die Abgrenzung des personellen Regelungsbereichs In personeller Hinsicht beschränkt sich die Sozialversicherungskompetenz nicht auf Arbeitnehmer und deren Angehörige. Deshalb fallen die landesrechtlich geregelten berufsständischen Versorgungswerke in den Kompetenzbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. Ihre landesrechtliche Regelung ist daher nur zulässig, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch macht (Art. 72 Abs. 1 GG). Außerhalb jeglicher Bundeszuständigkeit liegt seit der Streichung des Art. 74 a GG im Zuge der Föderalismusreform allerdings die soziale Sicherung der Landes- und Kommunalbeamten sowie der Landesrichter. Gleiches galt bereits vor der Föderalismusreform für die Landesparlamentarier und die Mitglieder der Landesregierungen einschließlich der parlamentarischen Staatssekretäre. Eine bundesgesetzliche Einbeziehung dieser Ämter in die bestehenden Sozialversicherungszweige ist daher nicht möglich. Sie kann aber durch landesgesetzliche Regelungen erfolgen, die auf das Bundesrecht der Sozialversicherung verweisen. Das einschlägige Sozialversicherungsrecht gilt in diesem Fall im Range eines Landesgesetzes.
III. Die Abgrenzung des sachlich-inhaltlichen Regelungsbereichs Sachlich-inhaltlich sind zumindest alle sozialen Leistungen, welche die Sozialversicherung bereits vor Entstehung des Grundgesetzes erbracht hat, von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gedeckt. Darüber hinaus können im Wege eines Analogieschusses auch neue soziale Leistungen auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gestützt werden, soweit sie mit den klassischen Sozialversicherungsaufgaben in nachprüfbarer Weise vergleichbar sind. Das ist jedenfalls bei allen sozialen Leistungen der Fall, die an einen Personenschaden anknüpfen, der zum Ausfall der Erwerbseinkommens führt. Im Bereich der Personenschäden beschränkt sich Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG allerdings nicht auf Erwerbsrisiken, da sich die Personenrisiken in der Sozialversicherung bereits vor 1949 vom Arbeitsleben gelöst haben. Entsprechend bestehen keine kompetenzrechtlichen Einwände gegen die Pflegeversicherung, die Mitversicherung von Familienangehörigen in der gesetzlichen Krankenversicherung und weitere Versicherungstatbestände außerhalb des Erwerbslebens im Recht der Kranken- und Unfallversicherung. Umgekehrt zeigt die ausdrückliche Erwähnung der Arbeitslosenversicherung in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, dass die Sozialversicherungskompetenz auch Entgeltersatzleistungen umfasst, die nicht auf einem Personenschaden beruhen. Andere Vermögensrisiken als den Verdienstausfall umfasst der Kompetenztitel aber nicht. Kindererziehungsleistungen sind daher nur von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG erfasst, soweit sie an eine Unterbrechung der Erwerbstätigkeit anknüpfen. Gänzlich scheiden Sachschäden aus dem Kompetenzbereich aus; sie fallen unter die Länderkompetenz für öffentliche Versicherungsmonopole.
§ 3 Die Abgrenzung der Sozialversicherungskompetenz von anderen Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes A. Die Fixierung der herrschenden Lehre auf die Abgrenzung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG von Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 und Nr. 11 GG Ging es in § 2 um die Grenzen zwischen der konkurrierenden Bundeskompetenz für die Sozialversicherung und den Gesetzgebungszuständigkeiten der Länder, so soll nunmehr die Frage behandelt werden, ob Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG auch von anderen Bundeskompetenzen abgegrenzt werden muss. Im Schrifttum 1 wird namentlich der Abgrenzung der Sozialversicherungskompetenz von den konkurrierenden Bundeskompetenzen für die öffentliche Fürsorge (Art.74 Abs.1 Nr.7 GG) und für das privatrechtliche Versicherungswesen (Art.74 Abs.1 Nr.11 GG) eine hervorgehobene Bedeutung zugemessen. Bei näherer Betrachtung der einschlägigen Literatur fällt auf, dass alle vier Merkmale, die das Bundesverfassungsgericht im Kindergeld-Urteil zur Auslegung der Sozialversicherungskompetenz entwickelt hat (i.e.: Versicherung; Beitragsfinanzierung; Trägerschaft der mittelbaren Staatsverwaltung; sozialer Ausgleich) 2, nicht zur Trennung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG von den ausschließlichen Länderkompetenzen, sondern zur Unterscheidung von den soeben erwähnten Bundeszuständigkeiten verwendet werden. Von der in Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG genannten Fürsorge soll sich die Sozialversicherung durch die Beitragsfinanzierung und die damit einhergehende versicherungsmäßige Bewältigung sozialer Risiken, vom in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG genannten privatrechtlichen Versicherungswesen durch die öffentlich-rechtliche Trägerschaft und den sozialen Ausgleich innerhalb der Versichertengemeinschaft unterschieden. 3 Mit anderen Worten: Die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Bund und Ländern ist in der herrschenden Interpretation des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG weitgehend in den Hintergrund gerückt. Sie spielt im Vergleich zu der Abgrenzung von anderen Bundeszuständigkeiten nur noch eine untergeordnete Rolle für die Auslegung der Sozialversicherungskompetenz, obwohl die 1 Siehe Butzer, Fremdlasten, S. 176; Bieback, VSSR 2003, S. 1 (14 f.); Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 39, 49; Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 44, 48; Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 74 Rn. 175; Rengeling/Szczekalla, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 Rn. 138; Werner, Leistungsfähigkeit, S. 89, 99. 2 Siehe dazu oben § 1 A. I. und II. 1. 3 Siehe Butzer, Fremdlasten, S.176, 181, 219, 244, 256; Werner, Leistungsfähigkeit, S.89, 99.
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§ 3 Abgrenzung von anderen Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes
Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern unstreitig die Primärfunktion der Art. 70 ff. GG darstellt. Vorbehaltlich der im Weiteren noch zu untersuchenden Gründe für eine Abgrenzung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG von anderen Bundeszuständigkeiten zeigt sich an diesem Phänomen eine allgemeine Schwäche der Kompetenzordnung des Grundgesetzes. Weil die Gesetzgebungsmaterien, für welche die Länder im Einzelnen zuständig sind, im Verfassungstext regelmäßig 4 nicht ausdrücklich aufgeführt und daher inhaltlich nur schwer zu fassen sind, geraten sie in der Kompetenzinterpretation nur allzu leicht in den Hintergrund 5. Die herrschende Interpretation des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG liefert ein plastisches Beispiel für diese Tendenz. Mit der These, der Bundesgesetzgeber habe bei der Festlegung der Sozialversicherungsaufgaben einen Beurteilungsspielraum 6, wird die Zuständigkeitsgrenze zwischen Bund und Ländern zugunsten des Bundes weitgehend aufgelöst, während mit den im Kindergeld-Urteil entwickelten vier organisationsbezogenen Merkmalen die Abgrenzung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG von Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 und Nr. 11 GG in den Blickpunkt der Kompetenzauslegung rückt. Vor diesem Hintergrund sind im Schrifttum 7 anzutreffende Bemühungen zur Extrapolation eines ungeschriebenen Katalogs der Länderzuständigkeiten zu begrüßen. Sie geben dem von Art. 70 Abs. 1 GG vorausgesetzten Bereich der ausschließlichen Länderzuständigkeiten inhaltliche Konturen und tragen auf diese Weise dazu bei, dass die Interpretation der Kompetenztitel des Grundgesetzes stärker auf die Frage fokussiert wird, wo die Regelungsbereiche der Bundeszuständigkeiten enden und das Hausgut der Länder beginnt.
B. Gründe für die gegenseitige Abgrenzung von Bundeskompetenzen Die herrschende Auffassung zur Auslegung der Sozialversicherungskompetenz setzt ohne nähere Begründung voraus, dass es verfassungsrechtliche Gründe gibt, 4 Allerdings werden einzelne Gesetzgebungsmaterien, für welche die Länder zuständig sind, im Grundgesetz ausdrücklich benannt. Das gilt insbesondere für die im Zuge der Föderalismusreform in einige Kompetenztitel des Art.74 Abs. 1 GG eingefügten Zusätze, mit denen einzelne Sachgebiete aus dem Bereich der Bundeskompetenzen ausdrücklich herausgelöst wurden; vgl. dazu Kämmerer/Thüsing, GewArch 2006, S. 266 (271). 5 Exemplarisch ist insoweit die von Oeter vorgelegte Kommentierung zu Art. 74 GG, in der die einzelnen Zuständigkeitstitel jeweils unter der Überschrift „Abgrenzung zu anderen Kompetenztiteln“ (also anderen Kompetenzen des Bundes) behandelt werden; siehe in: v.Mangoldt/ Klein/Starck, GG II, u. a. Rn. 31, 35, 39, 44, 51, 55, 69, 71, 74, 78, 113. 6 Siehe dazu oben § 2 A. II. 7 Siehe den Katalog bei Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG III, Art. 70 Rn. 8; grundsätzlich zur Beidseitigkeit der Kompetenzverteilung im Bundesstaat Heintzen, DVBl. 1997, S. 689 ff.; relativierend Rozek, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 70 Rn. 12.
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aus denen die Kompetenztitel für die Sozialversicherung, die öffentliche Fürsorge und für das privatrechtliche Versicherungswesen voneinander geschieden werden müssen. Dabei scheint gelegentlich die Ansicht durch, dass Bundeskompetenzen untereinander stets abzugrenzen seien, etwa wenn von der „Trennungsfunktion“ 8 der Kompetenzvorschriften die Rede ist oder gefordert wird, dass eine Kompetenz „in jedem Fall abgrenzbar gegenüber anderen Kompetenzzuweisungen sein“ 9 müsse. Das ist jedoch nicht ohne Weiteres einsichtig, zumal es sich bei Art. 74 Abs. 1 Nr. 7, 11 und 12 GG in allen drei Fällen um konkurrierende Kompetenzen des Bundes handelt. Bevor die Unterscheidung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG von den Bundeskompetenzen aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 und Nr. 11 GG im Einzelnen näher behandelt wird (C. und D.), muss daher zunächst geklärt werden, ob und warum diese Abgrenzung verfassungsrechtlich geboten ist. Ein valider Grund dafür wäre gegeben, wenn die zusammenfassende Auslegung mehrerer Bundeszuständigkeiten zu einer Überdehnung derselben zulasten der Länderkompetenzen führen würde (I.). Ein weiterer Grund könnte darin liegen, dass die einzelnen Kompetenztitel über die Zuweisung einer Zuständigkeit hinaus auch eine materielle Auftragsfunktion haben, durch die der Gesetzgeber verpflichtet wird, die in unterschiedlichen Kompetenztiteln genannten Rechtsinstitute – etwa die Sozialversicherung, die öffentliche Fürsorge und das privatrechtliche Versicherungswesen – gerade auch in Abgrenzung zueinander „typenrein“ zu errichten (II.). Naheliegend ist, dass thematisch verwandte Zuständigkeitstitel dann voneinander abzugrenzen sind, wenn sie unterschiedlichen Kompetenzkategorien angehören (III.); so müssen zum Beispiel ausschließliche von konkurrierenden Bundeszuständigkeiten geschieden werden.
I. Gefahr einer Arrondierung der Bundeskompetenzen Der erste mögliche Grund für eine gegenseitige Abgrenzung von Bundeskompetenzen führt indirekt noch einmal zurück zu der in § 2 behandelten Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern. Eine zusammenfassende und zusammenschauende Auslegung von mehreren Kompetenztiteln könnte zu einer verfassungswidrigen Extension der Bundeszuständigkeiten zulasten der Länder führen, soweit aus einer Addition von mehreren Zuständigkeitstiteln übergreifende Generalkompetenzen gebildet würden. Auf der Prämisse, eine derartige Arrondierung der Bundeszuständigkeiten zu verhindern, basiert erkennbar die ganz herrschende Auffassung,
Schnapp, VSSR 1995, S. 101 (114). Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 101. Ebenfalls ohne nähere Begründung, warum zwei Bundeskompetenzen untereinander abgrenzbar sein müssen, beklagt Isensee in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Entgrenzung der Sozialversicherungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zulasten der Privatversicherungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG (NZS 2004, S. 393, 395). 8 9
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dass weder Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG 10 noch Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG 11 und auch nicht beide Kompetenzen zusammen 12 dem Bund eine Kompetenz für das gesamte Recht der sozialen Sicherheit verleihen, weil das Grundgesetz dem Bund in Art. 73 Nr. 13, Art. 74 Abs. 1 Nr. 7, 9, 12, 13, 18, 19 und 19 a GG nur die Regelungsbefugnis für einzelne, konkret benannte Sachgebiete des Sozialrechts zuweise. Die Annahme, dass eine Zusammenziehung mehrerer Kompetenztitel stets zu einer verfassungswidrigen Extension der Bundeszuständigkeiten führt, lässt sich allerdings nur halten, wenn man davon ausgeht, dass die einzelnen Bundeszuständigkeiten eng auszulegen sind und untereinander keinerlei Überschneidungspunkte aufweisen. Bildhaft gesprochen sind die Bundeszuständigkeiten nach diesem Verständnis Inseln in einem Meer aus Länderkompetenzen. Brückenschläge zwischen den einzelnen Inseln sind infolgedessen verfassungswidrig, weil sie stets zu einer unzulässigen „Landgewinnung“ des Bundes auf Kosten der Länder führen würden. Jedoch wurde bereits dargelegt, dass eine betont enge Auslegung der Bundeszuständigkeiten verfassungsrechtlich nicht geboten ist. 13 Zudem lässt sich anhand der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes nachweisen, dass der Parlamentarische Rat keineswegs davon ausging, dass die einzelnen Kompetenzen des Bundes stets trennscharf voneinander abgrenzbar sind, sondern im Gegenteil Überschneidungen zwischen einzelnen Kompetenztiteln erkannt und akzeptiert hat. Das gilt zum Beispiel für die Abgrenzung der öffentlichen Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) von der Kriegsbeschädigtenversorgung und Kriegsgefangenenfürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 10 GG a. F.; heute Art. 73 Nr. 13 GG). 14 Die Bundeskompetenz für die Verhütung des Missbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) war nach Auffassung des Zuständigkeitsausschusses des Parlamentarischen Rates sogar vollständig im Recht der Wirtschaft (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) enthalten und wurde alleine aus „politischen Gründen“ in einer eigenen Ziffer aufgeführt. 15 Auch für die hier besonders interessierenden Kompetenztitel „Sozialversicherung“ und „öffent10 Siehe BVerfGE 11, S. 105 (111); 62, S. 354 (366); Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 25; André, ZRP 1976, S. 177 (179); Isensee, Umverteilung, S. 44 mit Fußn. 4; Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 74 Rn. 171; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 117; Papier, in: v. Maydell/Ruland, SRH, A. 3 Rn. 11; Pitschas, ZRP 1987, S. 283 (288); Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 100 Rn. 190; Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 102; W. Weber, in: FS Möller, S. 499 (509). 11 Siehe Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 39; Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 74 Rn. 109; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 69; Oeter, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG II, Art.74 Rn.69; Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 100 Rn. 156. 12 Siehe Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 148 f.; Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 74 Rn. 109, 171; Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 100 Rn. 156. 13 Siehe oben § 1 B. I. 1. 14 Siehe dazu bereits oben § 2 A. III. 2. b); vgl. auch Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 74 Rn. 118: Art. 74 Abs. 1 Nr. 10 GG (a. F.) sei neben Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG überflüssig. 15 Siehe v. Doemming/Füßlein/Matz, JöR n. F. 1 (1951), S. 527.
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liche Fürsorge“ lässt sich anhand der Entstehungsgeschichte belegen, dass der Parlamentarische Rat sachlich-inhaltliche Überschneidungen in Kauf genommen hat: Lohnersatzleistungen für Arbeitslose ordnete er sowohl Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als auch Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG zu. 16 Vor diesem Hintergrund bestehen auch keine Bedenken gegen kompetenzübergreifende Bundesgesetze, bei denen sich die Zuständigkeit des Bundes für das gesamte Regelungswerk erst aus einer Addition von mehreren Kompetenztiteln ergibt. 17 Die Verfassung verlangt vom Gesetzgeber nicht, dass er Gesetze so „maßschneidert“, dass die einzelnen Normen sämtlich demselben Kompetenztitel zugeordnet werden können. 18 Damit ist aber auch gegen eine zusammenfassende Auslegung der einzelnen Bundeskompetenzen auf dem Gebiet der sozialen Sicherung grundsätzlich nichts einzuwenden. Bei einer Zusammenschau der sozialen Zuständigkeiten muss lediglich darauf geachtet werden, dass die Gesamtkompetenz des Bundes im Ergebnis nicht die Summe seiner einzelnen Zuständigkeiten überschreitet. 19 Allerdings verbleibt neben Art. 73 Nr. 13, Art. 74 Abs. 1 Nr. 7, 9, 12, 13, 18, 19 und 19 a GG wenig Raum für eine landesrechtliche Sozialgesetzgebung, da der Verfassungsgeber dem Bund Zuständigkeiten für fast alle Gebiete des Sozialrechts übertragen hat. Länderkompetenzen bestehen daher nur in Randbereichen 20 wie etwa der sozialen Sicherung der Landes- und Kommunalbeamten 21, zumal nach der hier vertretenen Auffassung selbst die landesrechtlichen berufsständischen Versorgungswerke unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG fallen 22. Das Grundgesetz überträgt dem Bund zwar auch in der Summe der einzelnen Kompetenztitel keine Generalzuständigkeit für das Sozialrecht, der verfassungsrechtliche Befund kommt dem aber sehr nahe. 23
16 Siehe zur kompetenziellen Zuordnung der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenfürsorge v. Doemming/Füßlein/Matz, JöR n. F. 1 (1951), S. 521. 17 Siehe Heintzen, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 70 Rn. 138 f.; Isensee, in: FS Gitter, S. 401 (407); Rozek, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 70 Rn. 57: „Mosaikkompetenz“; Stern, Staatsrecht II, S. 600. 18 Rozek, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 70 Rn. 57. 19 Siehe Heintzen, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 70 Rn. 138; Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 70 Rn. 47; Rozek, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 70 Rn. 57. 20 Siehe Waltermann, Sozialrecht, Rn. 18. 21 Siehe dazu oben § 2 B. II. 22 Siehe oben § 2 B. I. 3. 23 Ebenso Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 74 Rn. 41, 106; Papier, in: v. Maydell/Ruland, SRH, A. 3. Rn. 22; Rüfner, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, § 96 Rn. 75; Zacher, Sozialpolitik, S. 52, 80; weitergehend, eine umfassende Kompetenz des Bundes für das Recht der sozialen Sicherheit reklamierend, Gitter/Schmitt, Sozialrecht, § 3 Rn. 12 ff.
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II. Materielle Funktionen von Gesetzgebungskompetenzen im Verfassungsgefüge? Eine gegenseitige Abgrenzung von Bundeszuständigkeiten könnte aber verfassungsrechtlich geboten sein, soweit die einzelnen Kompetenztitel nicht nur Zuständigkeiten des Bundes begründen, sondern darüber hinaus auch eine materielle (nach anderer Diktion: materiale 24) Funktion haben 25, kraft derer sie dem Bundesgesetzgeber bindend vorschreiben, ob und wie er seine einzelnen Kompetenzen – und zwar auch und gerade im Verhältnis untereinander 26 – auszuüben hat. Infolgedessen dürfte der Gesetzgeber von den in den einzelnen Kompetenztiteln enthaltenen Leitvorstellungen nicht abweichen und weder eine Kompetenz zulasten einer anderen übermäßig ausüben, noch die bindenden Vorgaben verschiedener Zuständigkeitstitel in einem kompetenziellen „Zwitter“-Gesetz vermischen. Vielmehr müsste er die in den einzelnen Kompetenzzuweisungen erwähnten Rechtsinstitute – etwa die Sozialversicherung, das privatrechtliche Versicherungswesen oder die öffentliche Fürsorge – nebeneinander „typenrein“ 27 verwirklichen. 1. Beispiele für materiell orientierte Kompetenzinterpretationen a) Die These von der „bipolaren“ Versicherungsordnung Ein Beispiel für ein derartiges materielles Kompetenzverständnis stellt die auf Walter Leisner zurückgehende These dar, dass die Kompetenztitel aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und Nr. 12 GG eine „bipolare“ Versicherungsordnung vorzeichnen, in der die Sozialversicherung und die Privatversicherung eine gleichrangige Rolle spielen und eine übermäßige, den Kernbereich wirtschaftlicher Entfaltungschancen der privaten Versicherungsunternehmen berührende Ausdehnung der staatlichen Sozialversicherungsmonopole verboten ist. 28 Eine Variation dieser programmatisch motivierten Abgrenzung zwischen den Bundeskompetenzen für die Sozialversicherung und für das privatrechtliche Versicherungswesen stellt die von Josef Isensee am Beispiel der privaten PflegeversicheSo etwa Pieroth, AöR 114 (1989), S. 422 ff. So spricht etwa Stettner den Gesetzgebungskompetenzen teilweise auch eine Auftragsfunktion zu (Kompetenzlehre, S. 330 ff.). 26 Vgl. zur Auftragsfunktion von Kompetenzen als Grund für eine Abgrenzung von anderen Zuständigkeitstiteln Heintzen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 73 Rn. 6. 27 Vgl. die Kritik an einer „Typenmischung“ bei Hase, Versicherungsprinzip, S. 384 in Fußn. 53. 28 Siehe W. Leisner, Sozialversicherung, S. 161 ff.; ebenso Isensee, in: FS Gitter, S. 401 (403); Scholz, in: FS Sieg, S. 507 (514); Schmidt-De Caluwe, SDSRV 51 (2004), S. 29 (44); Sodan, Leistungserbringer, S. 332; ders., VVDStRL 64 (2005), S.144 (152); aus grundrechtlicher Sicht für eine „gemischte Versicherungsverfassung“ H. Bogs, Sozialversicherung, S. 484; a. A. Kingreen, ZESAR 2007, S. 139 (140); Schnapp/M. Kaltenborn, Friedensgrenze, S. 24 ff. 24 25
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rung entwickelte Auffassung dar, dass sich das auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG gestützte Privatversicherungsrecht in seiner inhaltlichen Ausgestaltung nicht zu sehr dem Sozialversicherungsrecht annähern dürfe. Der Bund habe keine Kompetenz für eine „Sozialversicherung über Privatversicherer“, bei der die Abschluss- und Gestaltungsfreiheit der Vertragsparteien durch Versicherungspflicht, Kontrahierungszwang und soziale Vorgaben für die Prämiengestaltung weitgehend aufgehoben sind.29 b) Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Grundlage des „Versicherungsprinzips“ Ein weiteres Beispiel für eine materiell orientierte Kompetenzauslegung ist die im Schrifttum verbreitete Rezeption eines „Versicherungsprinzips“ aus dem in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG verwendeten Begriff der Sozialversicherung. Auf den schillernden und nur selten einmal dogmatisch klar konturierten Begriff 30 des Versicherungsprinzips wird insbesondere die These gestützt, dass sog. „versicherungsfremde“ Leistungen (oder „Fremdlasten“) nicht aus dem Beitragsaufkommen der Sozialversicherung finanziert werden dürfen. 31 Allerdings wird der topos der versicherungsfremden Leistungen in der politischen und wissenschaftlichen Debatte mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. 32 Den größten Verbreitungsgrad hat im verfassungsrechtlichen Schrifttum die Auffassung, dass die Sozialversicherungskompetenz jedenfalls nur auf Gegenseitigkeit beruhende Rechtsverhältnisse erfasse und somit Regelungen, die eine Beitragsleistung ohne Gegenleistung anordnen oder Leistungen der Sozialversicherung an Personen ohne zurechenbare eigene Beitragsleistung ausschütten, aus dem Kompetenzbereich herausfallen. 33 Als „ver29 Isensee, in: FS Gitter, S. 401 (410 f.); zustimmend Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 301 ff.; ähnlich bereits W. Leisner, Sozialversicherung, S. 165; siehe auch Boetius, VersR 2007, S. 431 (434); Sodan, VVDStRL 64 (2005), S. 144 (153); siehe dazu auch unten D. III. 2. d). 30 Eine Ausnahme stellt insoweit der Versuch Friedhelm Hases dar, den dogmatischen Gehalt des Begriffs zu schärfen, indem er drei Bedeutungsebenen voneinander unterscheidet: das Versicherungsprinzip als hermeneutisches Prinzip des einfachen Gesetzesrechts, als verfassungsrechtlicher Topos sowie als verfassungsnormative Bestimmung (Versicherungsprinzip, S. 149 ff.). Für die beiden verfassungsrechtlichen Bedeutungsebenen setzt Hase freilich ohne nähere Begründung voraus, dass sich aus Kompetenzvorschriften auch materielle Wertungen ergeben können (ebenda, S. 154 f.). Das widerspricht der hier vertretenen und im Folgenden (3. und 4.) näher begründeten Auffassung. 31 Umfassend zur verfassungsrechtlichen Fremdlasten-Problematik Butzer, Fremdlasten; siehe auch Krause, VSSR 1980, S. 115 ff. 32 Vgl. dazu die Übersichten bei J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 18 ff.; Butzer, Fremdlasten, S. 61 ff.; Krause, VSSR 1980, S. 115 (117 ff.); Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 195 ff. 33 Ausführlich Hase, Versicherungsprinzip, S.162 ff., 185 ff.; siehe auch Heun, in: H. Dreier, GG I, Art. 3 Rn. 82; Isensee, NZS 2004, S. 393 (396); F. Kirchhof, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, Besonderes Verwaltungsrecht II, § 20 Rn. 258 ff., 264; W. Leisner, Sozialversicherung, S. 75 f.; Ruland, in: Schmidt-Aßmann, Besonderes Verwaltungsrecht, 7. Kap. Rn. 94; Sodan, NZS 1999, S. 105 (110 f.); Zacher, Sozialpolitik, S. 57; ders., in: Isensee/P. Kirchhof, HStR II, § 28 Rn. 46; für „grundsätzliche Beitragsadäquanz“ auch Degenhart, in: Sachs, GG,
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sicherungsfremde“ Leistungen oder „unechte Sozialversicherung“ werden mit dieser Argumentation etwa die beitragsfreie Familienversicherung 34, die Zahlung der übergeleiteten DDR-Renten 35, die Arbeitsvermittlung und Berufsberatung für jedermann 36 oder die beitragsfreie Unfallversicherung von Schülern, ehrenamtlich Tätigen, Hilfeleistenden in Notfällen, Blut- und Organspendern sowie Pflegepersonen 37 eingeordnet. Diese Leistungstatbestände werden von den Vertretern des Versicherungsprinzips entweder dem Kompetenzbereich der öffentlichen Fürsorge 38 oder einer ausschließlichen Länderkompetenz für die soziale Versorgung 39 zugerechnet. Das Bundesverfassungsgericht beschreibt das „Wesen“ der in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG angesprochenen Sozialversicherung zwar „als gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit“ und greift damit ebenfalls auf eine alte Definition des Rechtsbegriffs „Versicherung“ zurück. 40 Definitive Aussagen über die Geltung des Versicherungsprinzips lassen sich nach Auffassung des Gerichts aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG aber nicht herleiten. 41 Deshalb verwendet das Bundesverfassungsgericht den topos „Versicherungsprinzip“ in seiner weiteren Rechtsprechung konsequent nur im Kontext von Grundrechtsprüfungen, insbesondere wenn es Gesetze am Maßstab des allgemeinen Gleichheitssatzes misst. 42 Eine beschränkte verfassungsrechtliche Bindungskraft weist das Gericht dem Versicherungsprinzip im Ergebnis nur zu, soweit dieses in dem einschlägigen Zweig des Sozialversicherungsrechts als historisch gewachsener tragender Grundsatz nachweisbar sei. In diesem Fall müsse der Gesetzgeber das Versicherungsprinzip bei einer Neuordnung des Rechtsgebiets im Rahmen der aus Art. 3 Abs. 1 GG folgenden kontinuitätswahrenden Bindung an den Gedanken der Systemgerechtigkeit berücksichtigen. 43
Art. 74 Rn. 57; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG III, Art. 74 Rn. 67; kritisch W. Meyer/Blüggel, NZS 2005, S. 1 (3). 34 Siehe zur Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung Hase, Versicherungsprinzip, S. 385 ff.; Ruland, in: v. Maydell/Ruland, SRH, C. 16. Rn. 45, 52; zur Familienversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung Sodan, Leistungserbringer, S. 334 ff.; im Hinblick auf die Finanzierung durch Arbeitgeberbeiträge W. Leisner, GewArch 1996, S. 129 (132). 35 Kingreen, JZ 2004, S. 938 (945); Ruland, in: v. Maydell/Ruland, SRH, C. 16. Rn. 52. 36 F. Kirchhof, NZS 1999, S. 161 (163); W. Leisner, NZS 1996, S. 96 (100). 37 Hase, Versicherungsprinzip, S.384; Isensee, Umverteilung, S. 47 f.; Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 109. 38 So Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 109 in Fußn. 63. 39 Siehe dazu bereits oben § 2 A. III. 2. 40 Siehe dazu bereits § 1 A. II. 1. 41 Siehe BVerfGE 11, S. 105 (114); 113, S. 167 (196 f.); ebenso BSGE 81, S. 276 (282 f.). 42 Siehe etwa BVerfGE 21, S. 362 (378); 39, S.316 (330); 59, S.36 (49); 63, S.152 (171); 79, S. 87 (101); 90, S. 226 (240); 92, S. 53 (71). 43 Siehe BVerfGE 59, S. 36 (49 f.). Eingehend und kritisch zur verfassungsrechtlichen Geltung des Prinzips der Systemgerechtigkeit Peine, Systemgerechtigkeit; vgl. dazu auch U. Becker, in: FS 50 Jahre BSG, S. 77 (82 ff.) Schnapp/M. Kaltenborn, Friedensgrenze, S. 37 ff.
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2. Klassifizierung Bevor die Frage näher untersucht wird, ob sich aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG tatsächlich materielle Vorgaben für den Gesetzgeber ergeben, sollen die materiellen Funktionen, die den Kompetenztiteln nach den soeben skizzierten Auffassungen zugeschrieben werden, zunächst klassifiziert werden. Insgesamt lassen sich vier unterschiedliche Funktionen belegen, die sich teilweise überschneiden und ergänzen, teilweise aber auch widersprechen: – Zunächst werden Kompetenzen zum Teil als verbindliche Gesetzgebungsaufträge zur Schaffung bestimmter Rechtsinstitute und spiegelbildlich dazu als Bestandsgarantien derselben interpretiert (programmatische und garantierende Funktion von Kompetenzen). 44 Eine abgeschwächte Variante stellt die These dar, dass die Zuständigkeitstitel zwar keine Gesetzgebungsaufträge enthalten, zum Teil aber eine gestaltungsbestimmende Wirkung haben, aus denen sich inhaltliche Direktiven für die Inanspruchnahme der Kompetenz ergeben. 45 Auf die programmatische und garantierende Funktion baut erkennbar die These von der bipolaren Versicherungsordnung auf, die aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG eine Institutsgarantie für die Privatversicherung herleitet. Auf einer programmatischen Aufladung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG beruht auch die bereits behandelte 46 Ansicht, dass die Arbeitgeber zwingend an der Finanzierung der Sozialversicherung zu beteiligen seien. – Zweitens werden aus den Kompetenzen Festlegungen über die Grenzen der Staatsaufgaben herausgelesen. Dabei handelt es sich quasi um eine Kehrseite der programmatischen Funktion. Diese wird so verstanden, dass dem Gesetzgeber eine Überregulierung, welche über den verfassungsrechtlichen Auftrag hinausschießt oder diesen inhaltlich konterkariert, verwehrt sein soll. Dafür liefert das Versicherungsprinzip ein anschauliches Beispiel. Soweit es vordergründig dazu eingesetzt wird, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG von einer – nach der hier vertretenen Auffassung nicht bestehenden – Länderzuständigkeit für steuerfinanzierte Versorgungssysteme abzugrenzen 47, verbirgt sich dahinter insgeheim eine Staatsaufgabenkritik. Die wahre Stoßrichtung richtet sich nicht gegen eine Überdehnung der Bundesgesetzgebung zulasten der Länder, sondern gegen die Etablierung von sozialen Sicherungssystemen, die ihren Nutznießern ein Übermaß an nicht durch eigene Beitragsleistungen erdienten Ansprüchen einräumen. Eine derartige „Überversorgung“ – etwa die Errichtung einer steuerfinanzierten Grundsiche44 Stettner spricht insoweit von der Auftragsfunktion der Kompetenzen (Kompetenzlehre, S. 330). Auch nach Lerche enthalten die Kompetenznormen „zahlreiche sachliche Programme“ (AöR 90 (1965), S. 341, 347). 45 So Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 135 f.; Bleckmann, DÖV 1983, S. 129 (131); Müller, Normstruktur, S. 205 f.; vgl. auch Murswiek, Technik, S. 271 f. 46 Siehe oben § 1 B. II. 3. 47 Siehe dazu oben § 2 A. III. 2. b) und 3.
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rung – wird von Teilen des Schrifttums als Bedrohung der freiheitlichen Eigenverantwortung des Einzelnen für seine Existenzsicherung betrachtet.48 – Eine dritte materielle Funktion wird den Kompetenzen zugeschrieben, indem grundrechtsschützende Wertungen auf sie gestützt werden. Dieser Gedanke liegt mehr oder weniger deutlich allen zuvor skizzierten Auffassungen zugrunde. Die Lehre von der bipolaren Versicherungsordnung und die Kritik an der Sozialversicherung über Privatversicherer will die Privatversicherungsunternehmen vor einer übermäßigen Ausdehnung staatlicher Sozialversicherungsmonopole beziehungsweise vor einer übermäßigen Regulierung des privaten Versicherungsmarktes schützen. Mit Hilfe der Konstruktion eines Versicherungsprinzips soll dagegen eine soziale Umverteilung zwischen beitragsstarken und beitragsschwachen Mitgliedern der Sozialversicherung beschränkt oder nach einer Extremposition im Schrifttum 49 sogar gänzlich ausgeschlossen werden. – Eine vierte materielle Funktion, die konträr zu der zuvor genannten steht, könnte schließlich darin liegen, dass Kompetenzen bestimmte Grundrechtseingriffe rechtfertigen, die mit dem in einem Zuständigkeitstitel rezipierten Rechtsinstitut traditionell verbunden sind (sog. Legitimationsfunktion 50). Bei der Auslegung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ist diese Funktion eng mit der Rezeption eines historisch gewachsenen „Solidarprinzips“ 51 verbunden, das die historisch gewachsenen sozialen Umverteilungsmechanismen des Sozialversicherungsrechts zumindest dem Grunde nach rechtfertigen soll. Wenn im Folgenden untersucht wird, ob sich aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG materielle Bindungen ergeben, bezieht sich das in erster Linie auf die ersten drei Funktionen. Ob die Sozialversicherungskompetenz auch grundrechtsbeschränkende Wirkungen entfaltet, wird dagegen erst an späterer Stelle in einem eigenen Abschnitt (§ 5) erörtert. Diese Frage betrifft weniger die an dieser Stelle im Blickpunkt stehende gegenseitige Abgrenzung der Bundeszuständigkeiten, sondern in erster Linie eine mögliche Wechselwirkung zwischen einzelnen Kompetenztiteln und den Grundrechten. Daher kann sie nicht behandelt werden, ohne näher auf die Einwirkung der Grundrechte auf das Sozialversicherungsrecht einzugehen, und würde daher an diesem Punkt der Abhandlung den Rahmen sprengen.
48 Die in der Kompetenzabgrenzung verkappte Staatsaufgabenkritik kommt deutlich in dem Postulat zum Ausdruck, dass eine steuerfinanzierte Volksversorgung nicht mit dem Menschenbild des Grundgesetzes vereinbar sei; so Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 294. 49 Siehe Ruland, SGb 1987, S. 133 (136 ff.); ders., in: v. Maydell/Ruland, SRH, B.16 Rn. 48; siehe dazu auch § 4 B. II. 50 Siehe dazu J. Becker, DÖV 2002, S. 397 ff.; Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 125 ff.; Pieroth, AöR 114 (1989), S. 422 ff.; Stettner, Kompetenzlehre, S. 327 ff. 51 Näher dazu unten § 5 A. mit Nachweisen.
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3. Kritik an einer materiell orientierten Auslegung von Zuständigkeitstiteln Bereits auf den ersten Blick ergeben sich erhebliche Zweifel an einer materiellen Auftragsfunktion der Gesetzgebungskompetenzen, da die vom Wortlaut der Art. 70 ff. GG ausgesprochenen Rechtsfolgen ausschließlich die Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern behandeln. Die Entstehungsgeschichte der Gesetzgebungskompetenzen bestätigt diesen Eindruck. Die Art. 70 ff. GG stehen in der Tradition der Zuständigkeitskataloge der Reichsverfassungen von 1871 und 1919, welche ebenfalls nur die Verteilung der Gesetzgebung zwischen Reich und Ländern regelten 52. In der Weimarer Reichsverfassung war die Zuständigkeitsverteilung zwischen Reich und Ländern (Art. 6 ff. WRV) räumlich klar von den Programmsätzen und Gesetzgebungsaufträgen getrennt, die sich zahlreich im zweiten Hauptteil über die Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen (Art. 109 ff. WRV) fanden. So war die Gesetzgebungszuständigkeit des Reiches für die Versicherung der Arbeitnehmer in Art. 7 Nr. 9 WRV geregelt, während der korrespondierende Gesetzgebungsauftrag zur Schaffung eines umfassenden Versicherungswesens zur Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, zum Schutz der Mutterschaft und zur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Schwäche und den Wechselfällen des Lebens erst in Art. 161 WRV aufgeführt war. Diese Trennung von Kompetenz und Auftrag ist im Grundgesetz fortgeführt worden. Der Konvent von Herrenchiemsee wollte bewusst jegliche programmatische Aufladung der Gesetzgebungskompetenzen vermeiden und hielt in seinem Abschlussbericht daher fest: 53 „Der Katalog der Zuständigkeiten regelt nur die Abgrenzung der Gesetzgebungszuständigkeit zwischen Bund und Ländern. Er enthält weder ein politisches Programm, noch auch eine Aufforderung an den Bund, die genannten Gebiete durch Bundesgesetze zu regeln; er gibt dem Bunde nur die formale Möglichkeit, Gesetze zu erlassen, begründet aber keine Pflicht für ihn. Er begrenzt ferner nicht den stofflichen Gehalt der Bundesgesetze, außer im Verhältnis zur Landesgesetzgebung. Er gibt den Bundesgesetzen auch keine inhaltliche Tendenz. Vielmehr ist er sozusagen neutral. Aus diesem Grunde hat der Konvent versucht, schon aus der Wortprägung der Aufzählung alles fernzuhalten, was so gedeutet werden könnte, als solle damit eine politische Wertung getroffen werden. Wo allerdings die Tendenz ersichtlich unpolitisch ist, sind solche Formulierungen vom Konvent unbedenklich zugelassen worden, z. B. in den Worten „Maßnahmen gegen Pflanzenkrankheiten“. Eine einzige scheinbare Ausnahme, über die aber im Konvent völlige Einigkeit besteht, liegt in der Ziffer 25 des Art. 36 mit der Formulierung ‚Verhütung des Missbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung‘ vor. 52 Siehe zur Reichsverfassung von 1871 Laband, Staatsrecht II, S. 120 ff.; zur Reichsverfassung von 1919 Hatschek, Staatsrecht I, S. 85 ff.; dagegen meinte Lassar in den Zuständigkeitstiteln der Weimarer Reichsverfassung teilweise auch „bestimmte politische Ziele“ erkennen zu können (in: Anschütz/Thoma, HDStR I, § 27 V, S. 310). 53 Siehe Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz der westlichen Besatzungszonen, Verfassungskonvent, S. 29 f.
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§ 3 Abgrenzung von anderen Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes Mit den vorstehenden Erwägungen soll nicht in Zweifel gezogen werden, dass es auch stoffliche Grenzen der Gesetzgebung des Bundes gibt. Aber sie stehen nicht im Zuständigkeitskatalog. Sie können sich aus anderen Teilen des Grundgesetzes ergeben, z.B. aus den Grundrechten. Der Zuständigkeitskatalog ist keine Wertordnung: er ist auch keine verschleierte Wirtschafts- und Sozialordnung. Auch hier wird durch die Aufzählung im Katalog zum Inhalt von Bundesgesetzen keine Stellung genommen. Die Aufnahme in den Katalog lässt den Inhalt der Bundesgesetze vollkommen offen und greift dem Gesetzgeber in keiner Weise vor.“
In den Beratungen des Parlamentarischen Rates finden sich keine Anhaltspunkte für eine generelle Abkehr von diesem formellen Kompetenzverständnis. Lediglich in Einzelfällen wollte der Parlamentarische Rat mit der Formulierung eines Zuständigkeitstitels auch ein inhaltliches Signal setzen. So ist oben bereits darauf hingewiesen worden, dass der Zuständigkeitsausschuss des Parlamentarischen Rates die (bereits im soeben zitierten Abschlussbericht des Herrenchiemsee-Konvents als „einzige scheinbare Ausnahme“ einer programmatisch gefärbten Kompetenz bezeichnete) Bundeskompetenz für die Verhütung des Missbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 16 GG) aus „politischen Gründen“ in einer eigenen Ziffer beließ, obwohl sie nach seiner Auffassung vollständig im Recht der Wirtschaft (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) enthalten war. 54 Echte und eindeutige Gesetzgebungsaufträge finden sich im Grundgesetz dagegen wie in der Weimarer Reichsverfassung außerhalb des Abschnitts über die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern, so etwa die in Art. 33 Abs. 5 GG geregelte Verpflichtung, das Beamtenrecht unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln – die freilich 2006 durch den Zusatz „und fortzuentwickeln“ verwässert worden ist 55. Das bedeutet freilich nicht, dass Kompetenz und Auftrag nicht in einer Vorschrift verbunden sein können. 56 So teilt Art. 98 Abs. 1, Abs. 3 GG nicht nur die Gesetzgebungskompetenz für das Dienstrecht der Bundes- und Landesrichter zwischen Bund und Ländern auf57, sondern verpflichtet Bundes- und Landesgesetzgeber zugleich, diese Materie durch „besonderes“ Gesetz, also inhaltlich separiert vom Dienstrecht der Beamten zu regeln 58. Ein weiteres Beispiel stellt Art. 21 Abs. 3 GG dar, der nicht nur eine ausschließliche Siehe oben B. I. mit Nachweis in Fußn. 15. Siehe dazu bereits oben § 2 B. II. 4. mit Nachweisen zur Kritik an der Neufassung des Art. 33 Abs. 5 GG in Fußn. 117. 56 Siehe dazu Stettner, Kompetenzlehre, S. 332, der unter anderem auch die beiden sogleich folgenden Beispiele Art. 98 GG und Art. 21 Abs. 3 GG aufführt. 57 Siehe zu Art. 98 GG als Gesetzgebungskompetenz Detterbeck, in: Sachs, GG, Art. 98 Rn. 4, 10 f.; Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 73 Rn. 138; Stettner, in: H. Dreier, GG II (2007), Art. 73 Rn. 47; freilich würde sich die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes auch aus Art. 73 Nr. 8 GG ergeben; siehe Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 98 Rn. 1. 58 Siehe zur Auftragsfunktion des Art. 98 Abs. 1, Abs. 3 GG Classen, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG III, Art. 98 Rn. 1 ff.; Detterbeck, in: Sachs, GG, Art. 98 Rn. 4 ff.; Umbach, in: Umbach/Clemens, MAK II, Art. 98 Rn. 17 ff. 54 55
B. Gründe für die gegenseitige Abgrenzung von Bundeskompetenzen
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Bundeskompetenz für das Parteienrecht begründet 59, sondern als Ausfluss der in Art. 21 Abs. 1 GG garantierten verfassungsrechtlichen Institution des Parteienwesens 60 zugleich einen Gesetzgebungsauftrag 61 darstellt. Zusammenfassend lässt sich somit sagen, dass die Kompetenztitel in Art. 73, 74 GG grundsätzlich nicht als materiell-programmatische Normen konzipiert sind 62 und Verbindungen aus Zuständigkeitszuweisung und Regelungsauftrag regelmäßig nur außerhalb des siebten Abschnitts des Grundgesetzes anzutreffend sind. Anderes gilt nur, soweit die Entstehungsgeschichte, der Wortlaut oder das unmittelbare normative Umfeld eines Zuständigkeitstitels eine materielle Funktion hinreichend belegen. 63 Für die hier interessierenden Kompetenztitel aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7, 11 und 12 GG finden sich dafür weder im Normtext, noch in den Beratungen des Parlamentarischen Rates 64 Anhaltspunkte; ein programmatisches, garantierendes oder grundrechtsschützendes Umfeld existiert innerhalb des siebten Abschnitts des Grundgesetzes ohnehin nicht. 65 Somit bestehen auf der Ebene der Kompetenzauslegung keine materiellen Gründe für eine Abgrenzung der Sozialversicherung von den Instituten der Privatversicherung und der öffentlichen Fürsorge. 4. Konsequenzen der hier vertretenen Auffassung Die hier vertretene Auffassung hat zur Folge, dass sich eine Institutsgarantie für das privatrechtliche Versicherungswesen nicht aus Art.74 Abs. 1 Nr. 11 GG, sondern allenfalls aus den Grundrechten der Versicherungsunternehmen ergeben kann. 66 Ebenso vermittelt Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG keinen Grundrechtsschutz gegen eine soziale Umverteilung des Beitragsaufkommens. Ein verfassungsrechtlich bindendes 59 Siehe BVerfGE 24, S. 300 (354); 41, S. 399 (425); J. Ipsen, in: Sachs, GG, Art. 21 Rn. 211; Morlok, in: H. Dreier, GG II (2006), Art. 21 Rn. 160; Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 21 Rn. 253 f.; eingehend dazu Harms, Art. 21 Abs. 3 GG. 60 Siehe BVerfGE 1, S. 208 (225); 44, S. 125 (145); 73, S. 40 (85). Nach einer im Schrifttum vertretenen Auffassung ergibt sich die Garantie des Parteienwesens dagegen bereits aus dem Demokratieprinzip; siehe J. Ipsen, in: Sachs, GG, Art. 21 Rn. 7; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 21 Rn. 178; Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 21 Rn. 7. 61 Siehe J. Ipsen, in: Sachs, GG, Art.21 Rn. 213; Morlok, in: H. Dreier, GG II (2006), Art. 21 Rn. 158; Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 21 Rn. 253, 255. 62 Strikt gegen eine Auftragsfunktion der Art. 73, 74 GG Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 63; Heintzen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 71 Rn. 33; Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 74 Rn. 18; Schmehl, Äquivalenzprinzip, S. 77; Welti, Behinderung, S. 299; im Grundsatz auch Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 100 Rn. 10; Stettner, Kompetenzlehre, S.330, 336, der im Ergebnis aber eine große Zahl von Zuständigkeitstiteln als Regelungsaufträge einordnet (ebenda, S. 337). 63 Ähnlich Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 133; Stettner, Kompetenzlehre, S. 336. 64 Siehe dazu v. Doemming/Füßlein/Matz, JöR n. F. 1 (1951), S. 509 ff., 515 ff., 519 ff. 65 Im Ergebnis a. A. zu Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 und Nr. 12 GG Stettner, Kompetenzlehre, S. 337. 66 Gegen eine Institutsgarantie aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG auch Kingreen, ZESAR 2007, S. 139 (140); Schnapp/M. Kaltenborn, Friedensgrenze, S. 25 ff.
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§ 3 Abgrenzung von anderen Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes
Versicherungsprinzip kann aus der Kompetenzvorschrift nicht abgeleitet werden. 67 Vorbehaltlich der in § 4 noch zu untersuchenden Implikationen der Finanzverfassung ergeben sich aus der Sozialversicherungskompetenz daher keine Vorgaben für die Bestimmung und Finanzierung von „versicherungsfremden“ Aufgaben. 68 Für eine Staatsaufgabenkritik an einer sozialen Überversorgung der Bevölkerung, insbesondere von Personen, die keine eigenen Beiträge für ihre soziale Sicherung leisten, sind die Kompetenzvorschriften ebenfalls der falsche Ansatzpunkt. Das gilt auch für die Auffassung, dass die Entgeltersatzleistungen der Sozialversicherung nicht die Höhe des Arbeitslohns erreichen dürfen (sog. „Lohnabstandsgebot“69), sowie für die Forderung 70 nach einer Rückführung der Sozialversicherungsleistungen auf das Niveau einer Grundsicherung gegen elementare Lebensrisiken. Als Grundlage eines Vorrangs der privaten eigenverantwortlichen Existenzsicherung vor staatlicher Wohlfahrt 71 – etwa im Sinne eines die Aufgabenverteilung zwischen Staat und Gesellschaft regulierenden Subsidiaritätsprinzips 72 – kommen nicht die Art. 70 ff. GG 73, sondern nur freiheitssichernde Regelungen wie das Rechtsstaatsprinzip 74 oder die Grundrechte 75 in Betracht. Im Ergebnis ist die Existenz eines verfassungsrechtlichen Subsidiaritätsgrundsatzes allerdings mehr als zweifelhaft.76 Die ausdrückliche Aufnahme dieses Prinzips in das Grundgesetz wurde sowohl im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee als auch im Parlamentarischen Rat diskutiert, im Ergebnis aber abgelehnt 77. Daran hat sich auch durch die zwischenzeitliche Einfügung 67 Ebenso BVerfGE 113, S. 167 (196 f.): die Überdehnung des Solidarprinzips zulasten des Versicherungsprinzips sei kein Kompetenz-, sondern ein Grundrechtsproblem; siehe auch BSGE 81, S. 276 (282 f.); Blüggel, Soziale Sicherheit 2004, S.61 (67); Muckel, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG III, Art. 120 Rn. 24; Neumann, NZS 1998, S. 401 (405); Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 117. 68 So auch Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 229. 69 Siehe Ruland, in: Schmidt-Aßmann, Besonderes Verwaltungsrecht, 7. Kap. Rn. 13; Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 112, 359 ff. 70 Siehe Sodan, Leistungserbringer, S. 340 f. mit weiteren Nachweisen in Fußn. 211. 71 Dafür Rüfner, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, § 96 Rn. 74; Sodan, Leistungserbringer, S. 306 ff.; vgl. auch Zacher, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR II, § 28 Rn. 25 ff. 72 Für die verfassungsrechtliche Geltung eines derartigen Prinzips Butzer, Fremdlasten, S. 465 ff.; Horn, Die Verwaltung 26 (1993), S. 545 (567 ff.); Isensee, Subsidiaritätsprinzip; Merten, in: ders., Subsidiarität, S. 77 (89 ff.); T. Oppermann, JuS 1996, S. 569 ff.; Pieper, Subsidiarität, S. 93 ff.; weitere Nachweise bei Sodan, Leistungserbringer, S. 307 in Fußn. 16. 73 So aber zu Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG Gohla, Risikostrukturausgleich, S. 88 ff. 74 Siehe Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 270 ff.; Pieper, Subsidiarität, S. 114 f.; für ein aus dem Rechtsstaatsprinzip folgendes Primat der eigenen wirtschaftlichen Existenzsicherung vor staatlicher Leistungserbringung auch Hesse, Verfassungsrecht, Rn.215; Sommermann, v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 20 Rn. 108. 75 Siehe Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 281 ff.; ders., in: ders./P. Kirchhof, HStR IV, § 73 Rn. 70; Sodan, Leistungserbringer, S. 306 ff. 76 Wie hier kritisch zum Subsidiaritätsprinzip Schnapp/M. Kaltenborn, Friedensgrenze, S. 31 ff. 77 Siehe zu diesem Aspekt der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 143 ff.
B. Gründe für die gegenseitige Abgrenzung von Bundeskompetenzen
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der Subsidiaritätsklausel in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG nichts geändert, weil diese Regelung nicht das Verhältnis von Staat und Bürger, sondern nur die Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten betrifft. 78 Mangels einer materiell-programmatischen Funktion kann Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG auch nicht zur Begründung einer institutionellen Garantie der Sozialversicherung herangezogen werden. 79 Eine verfassungsrechtliche Verpflichtung, von dieser Kompetenz Gebrauch zu machen und ein beitragsfinanziertes staatliches System der sozialen Sicherung zu schaffen, kann sich nur aus anderen Regelungen des Grundgesetzes – etwa aus dem Sozialstaatsprinzip oder der objektiven Dimension der Grundrechte – ergeben. 80 Die Frage, ob das Verfassungsrecht einen derartigen Regelungsauftrag enthält, wird eingehend in § 6 behandelt.
III. Die Kompetenzkategorien des Grundgesetzes Triftige Gründe für die gegenseitige Abgrenzung von Bundeszuständigkeiten ergeben sich aber aus der im Grundgesetz geregelten Kategorisierung der Bundeszuständigkeiten, etwa aus der Unterscheidung zwischen ausschließlichen und konkurrierenden Kompetenzen. Die Verfassung scheidet nicht nur die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes und der Länder, sondern regelt darüber hinaus auch verschiedene Arten von Bundeszuständigkeiten, bei denen das Gesetzgebungsrecht des Bundes unterschiedlichen Voraussetzungen und Grenzen unterworfen ist. Diese Kompetenzordnung hat durch die Föderalismusreform 81 allerdings bedeutsame Änderungen erfahren 82, aus denen sich unmittelbare Konsequenzen für die hier inte78 Ebenso Schnapp/M. Kaltenborn, Friedensgrenze, S.35 f.; siehe auch Berne, Arbeitslosenversicherung, S.280, 283; Classen, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art.23 Rn.47; Pernice, in: H. Dreier, GG II (2006), Art.23 Rn.70; Rojahn, in: v.Münch/Kunig, GG II, Art.23 Rn.31 ff.; a. A. Butzer, Fremdlasten, S. 471 ff.; Isensee, Subsidiarität, S. 371; T. Oppermann, JuS 1996, S. 569 (571 f.). 79 Siehe BVerfGE 39, S. 302 (314 f.); 77, S. 340 (344); 89, S. 365 (377); Schmidt-De Caluwe, SDSRV 51 (2004), S. 29 (41 f.); a. A. Neuner, Privatrecht, S. 126: aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG folge eine exzeptionell wichtige Staatsaufgabe mit Verfassungsrang; Stettner, Kompetenzlehre, S. 337; wohl auch Zacher, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR II, § 28 Rn. 45; zumindest für eine indirekte Normierungsverpflichtung aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, zugleich aber gegen eine institutionelle Garantie Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 134, 142 ff.; widersprüchlich Werner, Leistungsfähigkeit, S. 171: einerseits soll sich Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Pflicht zur Regelung der Materie Sozialversicherung interpretieren lassen, andererseits habe die Norm keine imperative Funktion. 80 Ebenso zu Art.74 Abs.1 Nr.12 GG Bieback, VSSR 2003, S.1 (12) mit weiteren Nachweisen in Fußn.45; allgemein zur Auslegung von Kompetenztiteln Maurer, Staatsrecht I, Voraufl. 2005, § 17 Rn. 27 a; Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 100 Rn. 10. 81 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. August 2006 (BGBl. I, S. 2034). 82 Siehe dazu Degenhart, NVwZ 2006, S.1209 ff.; ders., Staatsrecht I, Rn. 175, 179 ff.; J. Ipsen, NJW 2006, S. 2801 (2803 ff.); Horstmann, NZA 2006, S. 1246 ff.; Kämmerer/Thüsing, GewArch 2006, S. 266 (266 f.); Kloepfer, ZG 2006, S. 250 ff.; Kluth, Föderalismusreformgesetz; Scheidler, UPR 2006, S.423 ff.; Mammen, DÖV 2007, S.376 ff.; Selmer, JuS 2006, S.1052
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§ 3 Abgrenzung von anderen Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes
ressierende Frage ergeben, ob eine Abgrenzung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG von Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 und Nr. 11 GG verfassungsrechtlich geboten ist. Deshalb wird im Folgenden die verfassungsrechtliche Lage vor (1.) und nach der Föderalismusreform (2.) getrennt behandelt. 1. Die Lage vor der Föderalismusreform Vor der Föderalismusreform waren in den Art. 70 ff. GG drei unterschiedliche Typen von Bundeszuständigkeiten geregelt: ausschließliche, konkurrierende und Rahmenkompetenzen. 83 Von den konkurrierenden Zuständigkeiten und Rahmenkompetenzen konnte der Bund nur unter der Voraussetzung Gebrauch machen, dass eine Bundesregelung gemäß Art. 72 Abs. 2 GG im gesamtstaatlichen Interesse erforderlich war. Seit der Verschärfung des Art. 72 Abs. 2 GG im Jahr 1994 gestand das Bundesverfassungsgericht dem Bundesgesetzgeber in dieser Frage keine Einschätzungsprärogative mehr zu, sondern unterzog Bundesgesetze in mehreren Fällen einer strengen Erforderlichkeitsprüfung. 84 Auf Rahmenkompetenzen gestützte Bundesgesetze durften zudem nur ausnahmsweise in Einzelheiten gehende oder unmittelbar geltende Regelungen enthalten (Art. 75 Abs. 2 GG a. F.), weil die Konkretisierung der Rahmenregelungen des Bundes grundsätzlich Aufgabe der Landesgesetzgeber war (vgl. Art. 75 Abs. 3 GG a. F.). Lediglich ausschließliche Bundeskompetenzen konnte der Bundesgesetzgeber voraussetzungslos ausüben. Weil die Verfassung unterschiedliche Vorgaben für die Kompetenzausübung des Bundes aufstellte, war bei einer sachlich-inhaltlichen Überschneidung der Regelungsbereiche eine gegenseitige Abgrenzung von zwei Bundeszuständigkeiten immer dann geboten, wenn diese unterschiedlichen Kompetenzkategorien angehörten. 85 Unter diesem Gesichtspunkt war die hier interessierende Abgrenzung der Kompetenz für die Sozialversicherung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) von den Bundeszuständigkeiten für das privatrechtliche Versicherungswesen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) und für die öffentliche Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) vor der Föderalismusreform allerdings nicht erforderlich, weil es sich in allen drei Fällen um konkurrierende Gesetzgebungskompetenzen handelte. 86
(1056 ff.); Starck, Föderalismusreform; Stock, ZG 2006, S. 226 ff.; siehe zur Debatte vor der Verfassungsänderung Huber, 65. DJT, D. 83 Vgl. dazu Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 70 Rn. 31 ff.; Maurer, Staatsrecht I, Voraufl. 2005, § 17 Rn. 28 ff.; Stern, Staatsrecht II, S. 589 ff. 84 Siehe dazu bereits oben § 1 B. I. 1. mit Nachweisen in Fußn. 58. 85 Siehe Heintzen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 73 Rn. 6; Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 74 Rn. 7; Stettner, in: H. Dreier, GG II (2007), Art. 72 Rn. 34. 86 Tendenziell wie hier Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 74 Rn. 149: die gegenseitige Abgrenzung von konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeiten habe keine entscheidende Bedeutung.
B. Gründe für die gegenseitige Abgrenzung von Bundeskompetenzen
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2. Die Lage nach der Föderalismusreform Durch die Föderalismusreform hat sich das in den Art. 70 ff. GG geregelte Kompetenzgefüge erheblich verändert. Damit sind die verfassungsrechtlichen Gründe für eine gegenseitige Abgrenzung von Bundeskompetenzen nicht entfallen, sondern haben sich im Gegenteil verstärkt und zugleich in den Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung verschoben. Mit der Streichung des Art. 75 GG besteht der Kompetenztyp der Rahmenzuständigkeit zwar nicht mehr. Neben den nach wie vor in Art. 73 GG geregelten ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen kennt das Grundgesetz jetzt aber innerhalb der konkurrierenden Zuständigkeiten drei Unterkategorien. 87 Die erste folgt daraus, dass die Länder gemäß Art. 72 Abs. 3 GG nunmehr für große Teile der in Art. 74 Abs. 1 Nr. 28 bis Nr. 33 GG geregelten Kompetenzbereiche abweichendes Landesrecht schaffen dürfen. 88 Bedeutender für den Gegenstand dieser Arbeit sind aber die beiden anderen Unterkategorien der konkurrierenden Zuständigkeit, die sich aus der Einschränkung des Anwendungsbereichs von Art. 72 Abs. 2 GG ergeben. Die bundesstaatliche Erforderlichkeitsklausel gilt nicht mehr für alle konkurrierenden Kompetenzen, sondern ausdrücklich nur noch für Art. 74 Abs. 1 Nr. 4, 7, 11, 13, 15, 19 a, 20, 22, 25 und 26 GG. 89 Die Ausübung der übrigen Zuständigkeitstitel des Art. 74 Abs. 1 GG steht somit nicht mehr unter dem Vorbehalt des Art. 72 Abs. 2 GG. Die Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG hat zur Konsequenz, dass konkurrierende Zuständigkeiten des Bundes nunmehr voneinander abgegrenzt werden müssen, soweit davon die Anwendung der Erforderlichkeitsklausel abhängt. 90 Das betrifft auch das Verhältnis der Sozialversicherungskompetenz zu den Bundeskompetenzen für die öffentliche Fürsorge und für das privatrechtliche Versicherungswesen. Während Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nämlich zu den konkurrierenden Kompetenzen gehört, die nicht mehr der Erforderlichkeitsklausel unterfallen, gilt für Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 und Nr. 11 GG das Gegenteil. Somit hat die Föderalismusreform der von Teilen des Schrifttums 91 schon vor 2006 mit Hingabe betriebenen Abgrenzung zwischen den drei Kompetenztiteln nunmehr ihre verfassungsrechtliche Begründung quasi „nachgeliefert“.
87 Siehe J. Ipsen, NJW 2006, S. 2801 (2803 f.); Kämmerer/Thüsing, GewArch 2006, S. 266 (266 f.); Maurer, Staatsrecht I, § 17 Rn. 26; vgl. auch Uhle, in: Kluth, Föderalismusreformgesetz, Art. 72 Rn. 27 ff., 43 ff. 88 Siehe dazu Mammen, DÖV 2007, S. 376 ff. 89 Kritisch dazu Stettner, in: H. Dreier, GG II (2007), Art. 72 Rn. 32. 90 Siehe Degenhart, NVwZ 2006, S. 1209 (1210); ders., in: Sachs, GG, Art. 72 Rn. 8 f.; Oeter, in: Starck, Föderalismusreform, Rn. 24; Stettner, in: H. Dreier, GG II (2007), Art. 72 Rn. 33. 91 Siehe dazu oben A.
104
§ 3 Abgrenzung von anderen Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes
IV. Resümee Ein verfassungsrechtlicher Grund für die Abgrenzung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG von den Zuständigkeiten für die öffentliche Fürsorge und für das privatrechtliche Versicherungswesen besteht erst seit der Föderalismusreform, weil die Sozialversicherungszuständigkeit seitdem anders als Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 und Nr. 11 GG nicht mehr dem bundesstaatlichen Erforderlichkeitsvorbehalt aus Art. 72 Abs. 2 GG unterliegt. Die folgenden Erwägungen zur Trennung der Kompetenzmaterie „Sozialversicherung“ von der Fürsorge (C.) und dem privatrechtlichen Versicherungswesen (D.) dienen daher alleine dem Zweck, den Anwendungsbereich des Art. 72 Abs. 2 GG n. F. zu bestimmen.
C. Die Abgrenzung der Sozialversicherungskompetenz von der Zuständigkeit für die öffentliche Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) Besteht somit Klarheit über den Zweck der Abgrenzung der Sozialversicherung von der Fürsorge, so stellt sich als nächstes die Frage, von welcher Art die Kriterien für die Unterscheidung der Kompetenzbereiche sein müssen. Wie bei der Trennung der Sozialversicherungskompetenz von den ausschließlichen Länderkompetenzen sind sachlich-inhaltliche, personelle oder organisationsbezogene Abgrenzungsmerkmale denkbar. Nach herrschender Auffassung 92 wird die Sozialversicherung anhand eines organisationsbezogenen Merkmals, der Beitragsfinanzierung, von der nach dieser Klassifizierung ausschließlich aus Steuermitteln finanzierten Fürsorge geschieden. Allerdings wurde oben bereits dargelegt, dass organisationsbezogene Abgrenzungskriterien grundsätzlich ungeeignet sind, Kompetenzkonflikte zu lösen. 93 Dieser Gesichtspunkt kommt jedoch bei der gegenseitigen Abgrenzung von Bundeszuständigkeiten nicht in gleichem Maße zum Tragen wie bei der Abgrenzung von Bundes- und Landeskompetenzen. Weil die Kompetenzen aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 und Nr. 12 GG jeweils (auch) vom Bund ausgeübt werden dürfen, besteht die Gefahr, dass zwei sachlich-inhaltlich verwandte Kompetenzen jeweils ausgeschöpft werden, ohne dass die gesetzlichen Regelungen sinnvoll aufeinander abgestimmt werden, nicht in gleicher Weise wie bei Überschneidungen zwischen Bundes- und Länderzuständigkeiten. Trotzdem bedarf die Abgrenzung zwischen Sozialversicherung und Fürsorge anhand des Kriteriums der Beitragsfinanzierung einer näheren Begründung. Auch hier 92 Siehe Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 31; Butzer, Fremdlasten, S. 176, 256; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 39; Isensee, SDSRV 35 (1992), S. 7 (13); ders., NZS 2004, S. 393 (396); W. Leisner, Sozialversicherung, S. 75 ff.; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 117; Waltermann, Sozialrecht, Rn. 63; Werner, Leistungsfähigkeit, S. 99. 93 Siehe oben § 2 A. III. 3.
C. Abgrenzung von der Zuständigkeit für die öffentliche Fürsorge
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ist zunächst Voraussetzung, dass sich die Aufgabenbereiche der Sozialversicherungs- und der Fürsorgekompetenz in sachlich-inhaltlicher und personeller Hinsicht überlagern (I.). Bestehen keine inhaltlichen Überschneidungspunkte des Aufgabenfeldes, so sind die beiden Kompetenzen bereits hinreichend voneinander geschieden. Eine Kompetenzabgrenzung anhand der Organisations- und Finanzierungsstruktur wäre überflüssig. Bestehen aber inhaltliche Überlagerungen, so stellt sich die Frage, ob eine Kompetenztrennung anhand der Beitragsfinanzierung im Hinblick auf die hier alleine interessierende Frage des Anwendungsbereichs von Art. 72 Abs. 2 GG n. F. eine sachgerechte Kompetenztrennung ermöglicht (II.).
I. Überschneidungen der sachlich-inhaltlichen und personellen Kompetenzbereiche 1. Nicht von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG erfasste Fürsorgerisiken Wie bereits festgestellt, erfasst die Sozialversicherungskompetenz nur soziale Leistungen, die an Körperschäden, den Ausfall des Erwerbseinkommens oder eine Kombination aus diesen beiden Risiken anknüpfen. 94 In diesem Rahmen sind zwar auch über den Schadensausgleich hinausgehende Präventions- und Rehabilitationsmaßnahmen vom Kompetenzbereich gedeckt. 95 Der Anwendungsbereich der Zuständigkeit für die öffentliche Fürsorge geht über dieses Spektrum aber hinaus. In der durch die kommunale Armenfürsorge des 19. Jahrhunderts geprägten Bedeutung meint Fürsorge staatliche Hilfe in individuellen Notfällen, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. 96 Nach herrschender Auffassung ist die Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG jedoch weit auszulegen und erfasst nicht nur klassische Fürsorgemaßnahmen wie die Sozialhilfe. 97 Insbesondere sind auch Vermögensleistungen wie das Kindergeld 98 oder das zum 1. Januar 2007 neu eingeführte Elterngeld 99 nach dem Bundeselterngeld- und Elternteilzeitgesetz (BEEG)100 dem Regelungsbereich zuzuordnen. 101 Da Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG seinerseits keine anderen VermögensriSiehe oben § 2 C. II. 2. b). Siehe oben § 2 C. II. 2. a). 96 Siehe nur W. Leisner, Sozialversicherung, S. 76. 97 Siehe dazu die Nachweise in Fußn. 51 zu § 2. 98 Siehe Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 40; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 61 f.; Papier, in: v. Maydell/Ruland, SRH, A. 3. Rn. 20; Umbach/Clemens, in: dies, MAK II, Art. 74 Rn. 37; Zweifel an der Bundeskompetenz für das Kindergeldgesetz hegt dagegen Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 100 Rn. 154. 99 Wie hier für eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG die Begründung des Gesetzesentwurfs zum BEEG in BT-Drs. 16/1889, S. 16; zweifelnd Seiler, NVwZ 2007, S. 129 (130); ders., NZS 2007, S. 617 (622). 100 BGBl. I 2006, S. 2748. 101 Gleiches galt vor seiner ausdrücklichen Verschiebung in den Kompetenzbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 18 GG im Zuge der Föderalismusreform auch für das Wohngeld; kritisch zu dieser Entscheidung des Verfassungsgebers Degenhart, der im Hinblick auf die Folgen für die 94 95
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§ 3 Abgrenzung von anderen Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes
siken als den Ausfall des Erwerbseinkommens erfasst 102, sind die Kompetenzbereiche der Sozialversicherung und der Fürsorge klar voneinander geschieden, soweit es um derartige Leistungen geht. Deshalb kann eine Bundeszuständigkeit für Kindererziehungsleistungen ausschließlich aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG hergeleitet werden, soweit diese nicht an die Unterbrechung der Erwerbstätigkeit eines Elternteils anknüpfen und deshalb auch dem Kompetenzbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zugänglich sind. 103 Gleiches gilt auch für alle anderen Fürsorgeleistungen, die keinen Bezug zu einem Personenschaden oder zum Ausfall des Erwerbseinkommens haben, z. B. das erzieherisch ausgerichtete Jugendhilferecht104. 2. Die Kompensation von Erwerbs- und Personenrisiken als Leistung der Sozialversicherung und der Fürsorge Im Hinblick auf die von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG erfassten Erwerbs- und Personenrisiken sind die Sozialversicherungs- und die Fürsorgekompetenz allerdings weitgehend deckungsgleich. Im Parlamentarischen Rat bestand Einigkeit darüber, dass Entgeltersatzleistungen für Arbeitslose als „Arbeitslosenversicherung“ unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, als „Arbeitslosenfürsorge“ unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG subsumiert werden können. 105 Auch Leistungen zum Ausgleich von Personenschäden, insbesondere die Heilbehandlung bei Krankheiten, werden sowohl von der Sozialversicherung als auch von klassischen Fürsorgesystemen wie der Sozialhilfe 106 erbracht. Da die Heilbehandlungsfürsorge auf eine präkonstitutionell gewachsene Tradition zurückblicken kann 107, ergibt die historische Auslegung, dass auch sie von Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG erfasst wird. 108 Deshalb ist es zumindest missverständlich, wenn im Schrifttum mit Blick auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 und Nr. 19 a GG formuliert wird, dass aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG keine allgemeine Kompetenz für die Gesundheitsfürsorge folge. 109 Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 und Nr. 19 a GG regeln nur gesundheitspolizeiliche Maßnahmen zur Bekämpfung von Seuchen, die Zulassung zu Heilberufen, den Verkehr mit Arzneimitteln sowie die Krankenhausfinanzierung. Sie haben somit keinen thematischen Bezug zur Heilbehandlung selbst und lassen daher Anwendung des Art. 72 Abs. 2 GG n. F. einen „nur schwer nachvollziehbarer Wertungswiderspruch“ konstatiert (in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 81). 102 Siehe oben § 2 C. II. 2. b) cc). 103 Siehe bereits oben § 2 C. II. 2. b) dd). 104 Die Begründung einer Bundeskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG ist für einzelne Aspekte des Jugendhilferechts allerdings schwierig; vgl. dazu Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG II, Art. 74 Rn. 67 f. 105 Siehe v. Doemming/Füßlein/Matz, JöR n. F. 1 (1951), S. 521. 106 Siehe §§ 47 ff. SGB XII. 107 Vgl. Gitter/Schmitt, Sozialrecht, § 2 Rn. 3; Stolleis, Geschichte, S. 129. 108 Im Ergebnis ebenso Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 66. 109 So aber Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 38 f.; Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 74 Rn. 116; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 69; Stettner, in: H. Dreier, GG II (2006), Art. 74 Rn. 45.
C. Abgrenzung von der Zuständigkeit für die öffentliche Fürsorge
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auch keine Rückschlüsse auf ausschließliche Länderkompetenzen in diesem Bereich zu. Die sachlich-inhaltlichen Überschneidungen zwischen Sozialversicherungs- und Fürsorgekompetenz können auch nicht durch eine personelle Trennung der Anwendungsbereiche ausgeräumt werden. Dass Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG – abgesehen von der sozialen Sicherung der Landes- und Kommunalbediensteten, für die eine ausschließliche Länderzuständigkeit besteht 110 – nicht auf bestimmte Bevölkerungskreise begrenzt ist, wurde bereits dargelegt 111. Gleiches gilt auch für Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG. Unter der Weimarer Reichsverfassung beschränkten sich die Zuständigkeiten des Reiches noch auf einzelne Sachgebiete der Fürsorge – etwa „das Armenwesen und die Wanderfürsorge“ (Art. 7 Nr. 5 WRV) und „die Bevölkerungspolitik, die Mutterschafts-, Säuglings-, Kinder- und Jugendfürsorge“ (Art. 7 Nr. 7 WRV). Im Parlamentarischen Rat konnten sich dagegen Vorschläge zur Begrenzung der Fürsorgezuständigkeit auf einzelne konkret benannte Sachgebiete oder auf eine (mit der später in das Grundgesetz aufgenommenen und inzwischen wieder beseitigten Kategorie der Rahmenkompetenz vergleichbare) „Grundsätze“-Kompetenz nicht durchsetzen. 112 Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG ist daher – mit Ausnahme des 2006 ausdrücklich ausgeklammerten Heimrechts – weder auf bestimmte Gebiete des Fürsorgerechts noch personell auf bestimmte Berufe, Altersgruppen oder soziale Klassen beschränkt. 3. Kompetenzabgrenzung anhand des Leistungsniveaus? Allerdings meint ein Teil des Schrifttums, dass Fürsorge- und Sozialversicherungsleistungen, soweit sie an dieselben sozialen Risiken anknüpfen, zumindest anhand des wirtschaftlichen Leistungsniveaus hinreichend voneinander unterschieden werden können. Nach dieser Auffassung müssen Ansprüche gegen die Sozialversicherung ein signifikant höheres Maß an sozialer Sicherung erreichen als Maßnahmen staatlicher Fürsorge. 113 Ergänzend werden Fürsorge- und Sozialversicherungsleistungen auch danach unterschieden, dass nur die Vergabe der ersteren von einer konkreten individuellen Hilfsbedürftigkeit des Leistungsempfängers abhänge. 114 Damit sind aber keine Kriterien gewonnen, die eine funktionsgerechte Abgrenzung zwischen Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 und Nr. 12 GG ermöglichen. Zwar knüpft die klassische Fürsorgeleistung der Sozialhilfe de lege lata an eine individuelle Bedürfnisprüfung an und deckt nur einen Mindestbedarf zur Sicherung des ExistenzminiSiehe oben § 2 B. II. Siehe oben § 2 B. I. 112 Siehe v. Doemming/Füßlein/Matz, JöR n. F. 1 (1951), S. 509 ff. 113 Siehe Bieback, VSSR 2003, S.1 (16); Hase, Versicherungsprinzip, S.202, 249 f.; Ruland, in: Schmidt-Aßmann, Besonderes Verwaltungsrecht, 7. Kap. Rn. 24 f. 114 Siehe Ruland, in: Schmidt-Aßmann, Besonderes Verwaltungsrecht, 7. Kap. Rn. 24 f.; Stettner, in: H. Dreier, GG II (2007), Art. 74 Rn. 46, 69. 110 111
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§ 3 Abgrenzung von anderen Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes
mums. Die Auffassung, dass Fürsorgeleistungen von einem individuellen Bedarf abhängen müssen, wurde jedoch oben bereits widerlegt: Sie beruht auf der unzutreffenden Annahme, dass die Fürsorgekompetenz des Bundes eng auszulegen und von einer Versorgungskompetenz der Länder abzugrenzen sei. 115 Im Übrigen wird die wirtschaftliche Abhebung der Sozialversicherung von der bloßen Existenzsicherung im Wege der Fürsorge darauf gestützt, dass es mit den Grundrechten, insbesondere dem allgemeinen Gleichheitssatz unvereinbar wäre, wenn Begünstigte eines steuerfinanzierten Vorsorgesystems dasselbe Maß an sozialer Sicherung empfangen würden wie Personen, die ihre Ansprüche durch eigene Beitragszahlungen erdient haben. 116 Auf der Ebene der Kompetenzabgrenzung ist diese Betrachtungsweise schon deshalb verfehlt, weil Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG keinen grundrechtsschützenden Gehalt aufweist 117. Da die Abgrenzung zwischen Fürsorge und Sozialversicherung nur den Zweck hat, den Anwendungsbereich von Art. 72 Abs. 2 GG n. F. festzulegen, können materielle Kriterien in diesem Rahmen nur eine Rolle spielen, wenn man Art. 72 Abs. 2 GG n. F. selbst auch eine grundrechtsschützende Funktion zuweist. Dafür finden sich in der Entstehungsgeschichte der Verfassungsänderung von 2006 aber keine Anhaltspunkte. 118 Deshalb tragen die Kompetenztitel aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 und Nr. 12 GG entgegen einer im Schrifttum 119 verbreiteten Auffassung auch nicht den Schluss, dass der Bund keine Kompetenz für die Etablierung einer gehobenen steuerfinanzierten Grundsicherung habe, die nicht an eine individuelle Hilfsbedürftigkeit anknüpfe. Nochmals: Eine Staatsaufgabenkritik an einer freiheitslähmenden „Überversorgung“ der Bevölkerung wäre aus anderen Regelungen der Verfassung als der Kompetenzordnung zu entwickeln. 120 Zudem sei daran erinnert, dass es an diesem Punkt der Abhandlung darum geht, ob Sozialversicherung und Fürsorge nach genuin sachlich-inhaltlichen Kriterien derart unterschieden werden können, dass eine Kompetenzabgrenzung anhand von organisationsbezogenen Merkmalen, insbesondere anhand der Beitragsfinanzierung der Sozialversicherung, verzichtbar ist. Das ist bei einer an das Leistungsniveau anknüpfenden Zuständigkeitsabgrenzung aber gerade nicht der Fall. Die Unterscheidung der Sozialversicherung als „gehobene soziale Sicherung“ von der „Mindestsicherung“ 121 der öffentlichen Fürsorge beruht nämlich selbst auf der Prämisse, dass die Sozialversicherung anders als die Fürsorge durch Eigenleistungen der VersiSiehe oben § 2 A. III. 2. b). Vgl. Hase, Versicherungsprinzip, S. 249 f.; in diesem Sinne auch Wenner, in: FS 50 Jahre BSG, S. 625 (640 f.). 117 Siehe oben B. II. 3. und 4. 118 Siehe die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 16/813, S. 11: „Die Regelung in Art. 72 Abs. 2 bleibt in ihren Voraussetzungen unverändert, wird aber in ihrem Anwendungsbereich auf folgende Materien des Art. 74 Abs. 1 beschränkt: (...).“ – Hervorhebung nicht im Original. 119 Siehe Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 60; Hase, Versicherungsprinzip, S. 64; Isensee, NZS 2004, S. 393 (395). 120 Siehe bereits oben B. II. 4. 121 Ruland, in: Schmidt-Aßmann, Besonderes Verwaltungsrecht, 7. Kap. Rn. 24 f. 115 116
C. Abgrenzung von der Zuständigkeit für die öffentliche Fürsorge
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cherten finanziert wird, und würde ohne die Beitragsfinanzierung der Sozialversicherung ihr argumentatives Fundament verlieren. 4. Keine Beschränkung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG auf zufällige Risiken Ebenso wenig können sachlich-inhaltliche Überschneidungen der Kompetenzbereiche ausgeräumt werden, indem der Anwendungsbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG auf Risiken beschränkt wird, deren Eintritt ungewiss ist. Manche meinen zwar, dass Leistungen, die auf eigenem Verschulden des Versicherten beruhen (z. B. Selbstverletzungen; riskante Verhaltensweisen) 122 oder an eigenverantwortliche Wünsche und Lebensentscheidungen anknüpfen (z. B. die Versorgung mit empfängnisverhütenden Mitteln bis zum 20. Lebensjahr; künstliche Befruchtung; Mutterschaftsleistungen; Arztbehandlung bei Schwangerschaftsabbruch), „versicherungsfremd“ seien und daher aus dem Kompetenzbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG herausfallen. 123 Auch hier geht es aber um den Grundrechtsschutz der Versichertengemeinschaft vor einer Zweckentfremdung der Beitragsmittel, für die Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG der falsche Anknüpfungspunkt ist. 124 Zudem entstammt die Beschränkung auf ungewisse Risiken der zivilrechtlichen Definition des Versicherungsbegriffs 125, deren Zweck ersichtlich keine Relevanz für das Verfassungsrecht der Sozialversicherung hat. Der privatrechtliche Versicherungsbegriff soll nämlich den Anwendungsbereich des Versicherungsvertragsgesetzes und des Versicherungsaufsichtsgesetzes abstecken. 126 Insbesondere dient das Merkmal des ungewissen Risikos der Abgrenzung des Versicherungsvertrages von Sparverträgen, bei denen die Auszahlung der Gegenleistung zu einem vereinbarten Zeitpunkt erfolgt oder von einem beeinflussbaren Ereignis (Kündigung) abhängt. 127 Außerdem zeigt die historische Auslegung, dass der Anwendungsbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nicht auf ungewisse Risiken beschränkt ist. So hing die Zahlung von Altersrenten in der früheren Invaliden- und heutigen Rentenversicherung von Beginn an vom Erreichen einer feststehenden Altersgrenze ab. Ursprünglich lag diese zwar bei 70 Jahren 128 und damit höher als die damalige allgemeine Lebenserwartung. Somit war zumindest das individuelle Erreichen des anspruchsbeEingehend dazu Voelzke, Versicherungsfall. So etwa Sodan, Leistungserbringer, S. 337 f., 339; für eine Beschränkung der Sozialversicherung auf zufällige Schäden auch J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 162. 124 Siehe bereits oben B. II. 3. und 4. 125 Siehe Lorenz, in: Beckmann/Matuschke-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, § 1 Rn. 113; J. Prölss, in: E. Prölss/Martin, VVG, § 1 Rn. 3. 126 Siehe Lorenz, in: Beckmann/Matuschke-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, § 1 Rn. 111; J. Prölss, in: E. Prölss/Martin, VVG, § 1 Rn. 1. 127 Vgl. Schwintowski, Versicherungsvertrag, S. 55. 128 Vgl. Peters, Geschichte, S. 66. 122 123
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gründenden Rentenalters ungewiss. Jedoch wurde die Altersgrenze bereits während des ersten Weltkriegs auf 65 Lebensjahre gesenkt. 129 Im Zuge der steigenden Lebenserwartung wurde der Rentenbezug damit von der ungewissen Ausnahme zum Regelfall. 130 Im Übrigen existiert in der Sozialversicherung anders als im Versicherungsvertragsrecht auch kein historisch gewachsener allgemeiner Rechtsgrundsatz, nach dem eigenes Verschulden anspruchsausschließend oder -mindernd zu berücksichtigen ist. 131 Vielmehr hat das Sozialversicherungsrecht seit seiner Entstehung die Berücksichtigung eigenen Verschuldens weitgehend vermieden. 132
II. Kompetenzabgrenzung anhand der Beitragsfinanzierung Somit ist festzuhalten, dass zwischen den Zuständigkeitstiteln für die öffentliche Fürsorge und für die Sozialversicherung eine erhebliche inhaltliche Überlagerung besteht. Eine sachlich-inhaltliche Abgrenzung der Kompetenzbereiche gelingt nur, soweit es um Vermögensschäden und andere Fürsorgemaßnahmen geht, die nicht an ein Personen- oder Erwerbsrisiko anknüpfen. Damit stellt sich die Frage, ob die beiden Kompetenzen im sachlich-inhaltlichen Überschneidungsbereich anhand des organisationsbezogenen Kriteriums der Beitragsfinanzierung sach- und funktionsgerecht voneinander abgegrenzt werden können, wie es die herrschende Auffassung annimmt. 1. Teleologische Reduktion des Art. 72 Abs. 2 GG n. F.? Zunächst scheint die Überschneidung der beiden Kompetenztitel allerdings eher für eine teleologische Reduktion des Art. 72 Abs. 2 GG n. F. auf denjenigen Teilbereich der Fürsorgekompetenz zu sprechen, der sich inhaltlich nicht mit Art.74 Abs. 1 Nr. 12 GG deckt. Eine weitergehende Abgrenzung der beiden Zuständigkeiten im Bereich der inhaltlichen Überlagerung wäre damit entbehrlich. Da weder Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG noch Art. 72 Abs. 2 GG n. F. grundrechtsschützende Wertungen über den Ausschluss von versicherungsfremden Leistungen aus dem Kompetenzbereich der Sozialversicherung entnommen werden können, liegt der Regelungszweck des Art. 72 Abs. 2 GG n. F. einzig darin, den Radius der Bundesgesetzgebung einzuschränken, um Gestaltungsfreiräume für die Legislative der Länder zu bewahren. Wenn der Bund aber die Absicherung von bestimmten sozialen Risiken nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG regeln darf, ohne dass die bundesstaatliche ErforderlichkeitsklauVgl. Peters, Geschichte, S. 91. Mit gleicher Argumentation wie hier gegen die Beschränkung der Sozialversicherung auf zufällige Risiken Werner, Leistungsfähigkeit, S. 184. 131 A. A. W. Leisner, GewArch 1996, S. 129 (132); Sodan, Leistungserbringer, S. 339. 132 Siehe Peters, Geschichte, S. 53. 129 130
C. Abgrenzung von der Zuständigkeit für die öffentliche Fürsorge
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sel eingreift, so gibt es auf den ersten Blick keinen einleuchtenden Grund, warum eine vergleichbare Regelung derselben Sachmaterie nur deshalb an Art. 72 Abs. 2 GG n. F. zu messen sein soll, weil sie formal auf einen anderen Kompetenztitel (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) gestützt wird. Der Anwendungsbereich des Art. 72 Abs. 2 GG n. F. wäre nach dieser Lesart auf diejenigen Fürsorgeleistungen beschränkt, die nicht sozialversicherungsfähig sind, weil sie von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nicht erfasst werden. Eine derart weitgehende teleologische Reduktion des Art. 72 Abs. 2 GG n. F. scheidet im Ergebnis jedoch aus. Sie würde dazu führen, dass selbst den Kompetenzbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG prägende klassische Fürsorgeleistungen wie die Sozialhilfe nicht mehr der Erforderlichkeitsklausel unterlägen. Eine so starke Entfernung der Auslegung vom Wortlaut des Art. 72 Abs. 2 GG n. F. erschiene nur vertretbar, soweit sich ein entsprechender Wille des Verfassungsgebers entstehungsgeschichtlich belegen ließe, was aber nicht der Fall ist. Die vorstehenden Erwägungen machen aber deutlich, dass die inhaltlichen Überschneidungen zwischen den einzelnen konkurrierenden Zuständigkeiten vom Verfassungsgeber bei der Neufassung der Erforderlichkeitsklausel im Zuge der Föderalismusreform nur unzureichend bedacht worden sind. Deshalb führt die Beschränkung des Art.72 Abs.2 GG auf einzelne konkurrierende Zuständigkeitstitel in einigen Fällen zu nur schwer lösbaren Abgrenzungsproblemen.133 Das betrifft neben der Abgrenzung der Sozialversicherung von der öffentlichen Fürsorge etwa auch die nunmehr erforderliche Trennung des bürgerlichen Rechts (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) von Sondergebieten des Zivilrechts wie dem Handels- und Gesellschaftsrecht, das üblicherweise Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG 134 zugeordnet wird. 2. Die finanzverfassungsrechtliche Funktion des Art. 72 Abs. 2 GG n. F. auf dem Gebiet der sozialen Sicherung Somit steht fest, dass die Kompetenzen aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 und Nr. 12 GG in ihrem inhaltlichen Überschneidungsbereich voneinander abgegrenzt werden müssen. Die Frage, wie das zu geschehen hat, ist damit freilich noch nicht beantwortet. Weil die Unterscheidung der beiden Kompetenztitel den Zweck hat, den Anwendungsbereich des Art. 72 Abs. 2 GG zu bestimmen, kann eine sach- und funktionsgerechte Kompetenzabgrenzung nur mit Hilfe eines Abgrenzungskriteriums gelingen, das eine funktionale Beziehung zum bundesstaatlichen Regelungszweck der Erforderlichkeitsklausel aufweist. Das nach der herrschenden Auffassung entscheidende Unterscheidungsmerkmal der Beitragsfinanzierung muss deshalb daraufhin 133 Daher zu Recht kritisch zur Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG Degenhart, NVwZ 2006, S. 1209 (1210); am Beispiel der kompetenziellen Zuordnung des Wohngeldes ders., in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 81; Selmer, JuS 2006, S. 1052 (1058 f.); Stettner, in: H. Dreier, GG II (2007), Art. 72 Rn. 32. 134 Vgl. nur Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 97.
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§ 3 Abgrenzung von anderen Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes
untersucht werden, ob es in eine belastungsfähige Verbindung zum telos des Art. 72 Abs. 2 GG, der föderalen Machtaufteilung, gesetzt werden kann. Auf dem Weg zu einer Antwort auf diese Frage kann in einem ersten Schritt jedenfalls bejaht werden, dass das thematische Umfeld, dem das potentielle Abgrenzungsmerkmal „Beitragsfinanzierung“ zuzurechnen ist, mit der bundesstaatlichen Funktion des Art. 72 Abs. 2 GG sinnvoll verknüpft werden kann. Gemeint ist der mit der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme zusammenhängende Fragenkreis, wobei hier zunächst nicht die Finanzierungsart im Sinne einer Festlegung auf eine bestimmte Abgabenform (Steuer oder Sozialversicherungsbeitrag), sondern die Finanzierungsverantwortung (Bund oder Länder) interessiert. Fürsorgeaufgaben werden nämlich grundsätzlich aus dem Steueraufkommen der Länder finanziert, während die Finanzverantwortung für die Sozialversicherung nach Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG alleine beim Bund liegt. Der Zweck der Anwendung des Art. 72 Abs. 2 GG auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG kann deshalb darin erblickt werden, die Ausübung der aus Ländersicht im Verhältnis zu Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG „teureren“ Kompetenz durch den Bund zu beschränken. Dass Fürsorgeaufgaben grundsätzlich aus dem Steuerhaushalt der Länder finanziert werden, ergibt sich aus Art. 104 a Abs. 1 GG. 135 Nach dieser Vorschrift tragen Bund und Länder gesondert die Ausgaben, die sich aus der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergeben. Für die Länder gilt das zwar nur, soweit sie nicht in Bundesauftragsverwaltung handeln (Art. 104 a Abs. 2 GG). Da das Grundgesetz aber weder eine Bundeseigen- noch eine Bundesauftragsverwaltung der Fürsorgeangelegenheiten zwingend anordnet, gilt der Grundsatz der Gesetzesausführung in Landeseigenverwaltung (Art. 83 GG). Somit bleibt auch die Kostenlast im Regelfall gemäß Art. 104 a Abs. 1 GG bei den Ländern. Zwar können Bundesgesetze, die Geldleistungen gewähren und von den Ländern ausgeführt werden, anordnen, dass diese Geldleistungen ganz oder zum Teil vom Bund getragen werden (Art. 104 a Abs. 3 S. 1 GG). 136 Eine verfassungsrechtliche Pflicht des Bundes zur Kostenübernahme kann aus Art. 104 a Abs. 3 S. 1 GG aber nicht abgeleitet werden. 137 Dagegen werden Sozialversicherungsaufgaben abweichend von Art. 104 a Abs. 1 GG, soweit das Beitragsaufkommen nicht ausreicht, durch Steuerzuschüsse aus dem Bundeshaushalt finanziert (Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG). Diese Regelung gilt im Gegensatz zu den anderen Sätzen des Art. 120 Abs. 1 GG nicht nur für die Kriegsfolgelasten, sondern überträgt dem Bund die Finanzierungsverantwortung für die Siehe Seiler, NZS 2007, S. 617 (619). Von dieser Regelung hat der Bund etwa im Fall des Wohngeldes, nicht aber bei der Sozialhilfe Gebrauch gemacht, die daher von den Ländern finanziert wird; vgl. Hellermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 104 a Rn. 90. Siehe zur teilweisen Finanzierung der Grundsicherung für Arbeitsuchende aus Bundesmitteln § 46 SGB II. 137 Zutreffend hebt Heintzen hervor, dass die Kostenübernahme nach Art. 104 a Abs. 3 S. 1 GG eine politische Entscheidung des Bundes darstellt (in: v. Münch/Kunig, GG III, Art. 104 a Rn. 37). 135 136
C. Abgrenzung von der Zuständigkeit für die öffentliche Fürsorge
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Sozialversicherung umfassend, wie sich aus der Entstehungsgeschichte ergibt. 138 Landeszuschüsse an die Sozialversicherungsträger sind daher unzulässig. 139 Deshalb belasten Sozialversicherungsausgaben anders als Fürsorgeausgaben die Landeshaushalte nicht. Diese finanzverfassungsrechtlichen Implikationen sprechen dafür, dass die Einbeziehung der öffentlichen Fürsorge in den Anwendungsbereich des Art. 72 Abs. 2 GG n. F. einerseits und die Nicht-Einbeziehung der Sozialversicherung andererseits auch den Zweck haben, das Gesetzgebungsrecht des Bundes dort einzuschränken, wo es um soziale Leistungen geht, die grundsätzlich von den Ländern finanziert werden müssen. Für eine derartige finanzverfassungsrechtliche Aufladung des Art. 72 Abs. 2 GG n. F. lässt sich auch anführen, dass die Bundesgesetzgebung mit Kostenlast für die Länder im Rahmen der Föderalismusreform auch an anderer Stelle des Grundgesetzes strengeren Voraussetzungen unterworfen worden ist. So regelt Art. 104 a Abs. 4 GG n. F. in Verschärfung zum aufgehobenen Art. 104 a Abs. 3 S. 3 GG a. F. 140, dass Bundesgesetze stets der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, wenn sie Pflichten der Länder zur Erbringung von Geldleistungen oder geldwerten Sachleistungen gegenüber Dritten begründen und die Länder an der Finanzierung beteiligt sind. 141 Die Unterwerfung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG unter die bundesstaatliche Erforderlichkeitsklausel steht somit in einem engen sachlichen Zusammenhang zu Art. 104 a Abs. 4 GG n. F. 3. Die Reichweite der Finanzverantwortung des Bundes für die Sozialversicherung Nach dem soeben Gesagten reicht die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG jedenfalls nicht weiter als seine Finanzierungsverantwortung für die Sozialversicherung. Jenseits des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG beginnt nicht nur der Anwendungsbereich von Art. 104 a Abs. 1 GG, sondern auch der von Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 i.V. m. Art. 72 Abs. 2 GG. Damit stellt sich die Frage nach den Grenzen der Finanzierungskompetenz aus Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG, weil mit ihr auch die Gesetzgebungszuständigkeit für die Sozialversicherung endet. 138 Siehe BVerfGE 113, S. 167 (208 ff.); Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 274; Bieback, VSSR 1993, S. 1 (15 f.); Heun, in: FS Selmer, S. 657 (662); Muckel, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG III, Art. 120 Rn. 26 mit weiteren Nachweisen in Fußn. 92; Umbach, in: ders./Clemens, MAK II, Art. 120 Rn. 10; a. A. Diemer, VSSR 1982, S. 31 ff.; Isensee, SDSRV 35 (1992), S. 7 (11 f.); Kranz, Bundeszuschüsse, S. 87 ff. 139 Siehe Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 41; Heun, in: FS Selmer, S. 657 (663); F. Kirchhof, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR V, § 125 Rn. 37; Siekmann, in: Sachs, GG, Art. 120 Rn. 25; vgl. auch BVerfGE 113, S. 167 (207). 140 Art. 104 a Abs. 3 S. 3 GG a. F. sah eine Zustimmungspflicht erst dann vor, wenn die Länder zu einem Viertel oder mehr an der Finanzierung der bundesgesetzlich geregelten Ausgaben beteiligt waren. 141 Siehe Seiler, NZS 2007, S. 617 (619).
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§ 3 Abgrenzung von anderen Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes
a) Die Finanzverantwortung des Bundes für Sozialversicherungsträger in mittelbarer Staatsverwaltung Organisatorisch beschränkt sich die Finanzierungsverantwortung des Bundes auf die in mittelbarer Staatsverwaltung geführten Sozialversicherungsträger. 142 Zwar spricht Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG nur „die Sozialversicherung“ an, ohne auf eine bestimmte Organisationsform Bezug zu nehmen. Diese ergibt sich aber aus Art. 87 Abs. 2 GG. Nach Satz 1 dieser Vorschrift werden die Sozialversicherungsträger, deren Tätigkeit sich über das Gebiet eines Landes hinaus erstreckt, als bundesunmittelbare Körperschaften des Öffentlichen Rechts geführt. Abweichend davon werden nach Art. 87 Abs. 2 S. 2 GG Sozialversicherungsträger, deren Tätigkeit sich über mehr als ein Land aber nicht mehr als über drei Länder erstreckt, als landesunmittelbare Körperschaften des Öffentlichen Rechts geführt, wenn das aufsichtsführende Land bestimmt ist. Art. 87 Abs. 2 GG verteilt somit als Sondervorschrift zu Art. 83 GG die Verwaltungskompetenz für die Sozialversicherung zwischen Bund und Ländern. 143 Darüber hinaus enthält die Vorschrift aber auch eine Entscheidung für eine jedenfalls im weiteren Sinne körperschaftliche 144 Organisation der Sozialversicherung und damit für eine Trägerschaft in mittelbarer Staatsverwaltung. 145 Diese organisationsrechtliche Festlegung hat eine finanzverfassungsrechtliche Funktion, die in § 4 noch näher erläutert wird: sie verhindert den direkten Zugriff des Staates auf das Beitragsaufkommen der Sozialversicherung. 146 Somit endet die Finanzierungszuständigkeit des Bundes aus Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG und mit ihr die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, soweit soziale Leistungen in unmittelbarer Staatsverwaltung erbracht werden. 147 Regelt der Bund soziale Leistungen, die nicht von Sozialversicherungsträgern i. S. d. Art. 87 Abs. 2 GG ausgeführt werden, trifft ihn einerseits nicht die Kostenpflicht aus
142 Ebenso Schäfer, in: v. Münch/Kunig, GG III, Art. 120 Rn. 17; Siekmann, in: Sachs, GG, Art. 120 Rn. 24. 143 Vgl. BVerfGE 21, S. 362 (371); 39, S. 302 (314 f.); 63, S. 1 (35); Burgi, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG III, Art. 87 Rn. 66. 144 Näher zu der umstrittenen Frage, ob der Begriff der „Körperschaft“ in Art. 87 Abs. 2 GG eng auszulegen ist oder auch die Organisation als Anstalten des Öffentlichen Rechts sowie die Beleihung privater Träger zulässt, unten D. II. 145 Siehe BVerfGE 36, S. 1 (36); Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 36 f.; Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 87 Rn. 79, 87; U. Becker, in: v. Maydell/Ruland, SRH, B. 6. Rn. 15; ders., in: FS 50 Jahre BSG, S. 77 (79); Butzer, Fremdlasten, S. 244; Heun, in: FS Selmer, S. 657 (661); Jestaedt, in: Umbach/Clemens, MAK II, Art. 87 Rn. 89; F. Kirchhof, NZS 1999, S. 161 (162); Sachs, in: ders., GG, Art. 87 Rn. 53; a. A. Papier, in: v. Maydell/Ruland, SRH, A. 3. Rn. 24; für die Möglichkeit, Sozialversicherungsaufgaben zumindest in Ausnahmefällen in unmittelbarer Staatsverwaltung zu organisieren, Lerche, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 87 Rn. 163. 146 Siehe dazu unten § 4 C. II. 147 Ebenso zur Abgrenzung von Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 und Nr. 12 GG Oeter, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 117.
C. Abgrenzung von der Zuständigkeit für die öffentliche Fürsorge
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Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG. Andererseits steht sein Gesetzgebungsrecht nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 i.V. m. Art. 72 Abs. 2 GG aber unter dem bundesstaatlichen Erforderlichkeitsvorbehalt. Unter die Fürsorgekompetenz fällt auch die Leistungsverwaltung in kommunaler Hand. Die Gemeinden sind zwar ebenso wie die Sozialversicherungsträger körperschaftlich organisiert. Die seit dem Kaiserreich bestehende organisatorische Verselbständigung der Sozialversicherung gegenüber der kommunalen Armenfürsorge lässt es aber als fernliegend erscheinen, dass der Verfassungsgeber Gemeinden als potentielle Sozialversicherungsträger i. S. d. Art. 87 Abs. 2 GG angesehen hat. Deshalb fallen etwa Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II bereits aus organisationsrechtlichen Gründen nicht unter Art.74 Abs. 1 Nr. 12 GG, soweit sie nicht durch die Bundesagentur für Arbeit, sondern durch kommunale Träger verwaltet werden. 148 b) Die Finanzverantwortung des Bundes für eine Teilfinanzierung beitragsgestützter Systeme Freilich lässt sich die Reichweite der Finanzierungskompetenz des Bundes aus Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG – und mit ihr die der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG – nicht ausschließlich anhand der Organisationsform der Sozialversicherungsträger bestimmen. 149 Vielmehr beschränkt sich der Anwendungsbereich des Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG grundsätzlich auf eine steuerliche Teilfinanzierung von auch durch Beiträge finanzierten Sicherungssystemen. 150 Das zeigt der Wortlaut der Vorschrift in zweifacher Hinsicht. Zum einen macht das Wort „Zuschüsse“ deutlich, dass die Steuerfinanzierung aus dem Bundeshaushalt nicht die einzige Einnahmequelle der Sozialversicherungsträger darstellt. 151 Andernfalls würde es heißen: „Der Bund trägt die Lasten der Sozialversicherung“. Zum anderen bezieht Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG die Arbeitslosenhilfe ausdrücklich in die Finanzverantwortung des Bundes ein. Während die klassischen Zweige der Sozialversicherung und die Arbeitslosenversicherung seit ihrer Errichtung stets überwiegend durch Beiträge finanziert worden sind, wurden die Leistungsausgaben der früher in den §§ 190 ff. SGB III geregelten (und inzwischen durch die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II ersetzten) Arbeitslosenhilfe ausschließlich aus Steuermitteln bestritten 148 Siehe zur den Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Abhandlung nicht betreffenden Verfassungswidrigkeit des § 44 b SGB II, der optional die Ausführung des SGB II durch Arbeitsgemeinschaften zulässt, welche gemeinsam von der Bundesagentur für Arbeit und den kommunalen Trägern getragen werden, BVerfG, NVwZ 2008, S. 183 ff.; vgl. zur Problematik auch D. Oppermann, DVBl. 2005, S. 1008 ff. 149 Ebenso Hase, Versicherungsprinzip, S. 385; Papier, in: v. Maydell/Ruland, SRH, A. 3. Rn. 20. 150 Siehe F. Kirchhof, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, Besonderes Verwaltungsrecht II, § 20 Rn. 254. 151 Siehe F. Kirchhof, NZS 1999, S. 161 (162).
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§ 3 Abgrenzung von anderen Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes
(§ 363 Abs. 1 S. 1 SGB III a. F.) 152. Die Erwähnung der Arbeitslosenhilfe stellt daher in Gegenüberstellung zu den in Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG ebenfalls aufgeführten Begriffen Sozialversicherung und Arbeitslosenversicherung erkennbar eine Ausnahme von der Regel dar, dass der Bund nur für die Teilfinanzierung von beitragsfinanzierten Sicherungssystemen zuständig ist. An diesem Punkt zeigt der Vergleich zwischen Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG, dass die Gesetzgebungskompetenz für die Sozialversicherung enger beschränkt ist als die Finanzierungszuständigkeit. Während Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG von den „Lasten der Sozialversicherung mit Einschluss der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenhilfe“ spricht, erwähnt Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nur die „Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung“, spart also die Arbeitslosenhilfe aus. Letztere ist daher keine Sozialversicherung i. S. d. Art.74 Abs.1 Nr.12 GG, sondern öffentliche Fürsorge. 153 Das kam im ursprünglichen Wortlaut des Art. 120 Abs. 1 GG, der noch von „Arbeitslosenfürsorge“ sprach, treffend zum Ausdruck und ist zudem auch in der Entstehungsgeschichte154 des Grundgesetzes belegt. Da die Arbeitslosenhilfe als das einzige in Art.120 Abs.1 S. 4 GG erwähnte rein steuerfinanzierte Sicherungssystem von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nicht mehr erfasst wird, beschränkt sich die Gesetzgebungskompetenz für die Sozialversicherung somit exklusiv auf Sicherungssysteme, die zumindest teilweise durch Beiträge finanziert werden. 155 Rein steuerfinanzierte Sicherungssysteme sind dagegen stets Fürsorge i. S. d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG. Das gilt selbst dann, wenn sie von Sozialversicherungsträgern i. S. d. Art. 87 Abs. 2 GG verwaltet werden. 156 Deshalb sind etwa die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende auch dann der öffentlichen Fürsorge zuzurechnen, wenn sie durch die Bundesagentur für Arbeit vergeben werden. 157 Weitergehende Festlegungen über die Abgrenzung von Fürsorge und Sozialversicherung, als dass die Sozialversicherung zumindest teilweise durch Beiträge finanziert wird, können auf kompetenzrechtlicher Ebene allerdings nicht erzielt werden. 158 Aus der finanzverfassungsrechtlichen Kompetenzvorschrift des Art. 120 152 Vgl. zur Finanzierung der Arbeitslosenhilfe Wagner, in: v. Maydell/Ruland, SRH, C. 21. Rn. 128. 153 Ebenso BVerfGE 81, S. 156 (186); Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 33; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 41; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 64; tendenziell auch Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art.120 Rn. 25; a. A. Spellbrink, SGb 2000, S. 296 ff. 154 Siehe zur kompetenziellen Zuordnung der Arbeitslosenfürsorge unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG v. Doemming/Füßlein/Matz, JöR n. F. 1 (1951), S. 521. 155 Ebenso im Ergebnis Schmehl, Äquivalenzprinzip, S. 202. 156 Wie hier Papier, in: v. Maydell/Ruland, SRH, A. 3. Rn. 20. 157 Ebenso die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 15/1516, S. 49 f.; Wahrendorf/Karmanski, NZS 2008, S. 281 (282); vgl. auch Eichenhofer, NZS 2007, S. 57 (61); a. A. Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 60. 158 Vgl. Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 117.
D. Abgrenzung vom privatrechtlichen Versicherungswesen
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Abs. 1 S. 4 GG ergeben sich ebenso wenig wie aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG 159 materielle Vorgaben für die Teilfinanzierung aus Steuermitteln – etwa über einen finanziellen Ausgleich für die Aufbürdung von „versicherungsfremden Leistungen“. 160 Deshalb kann auch die im Schrifttum verbreitete Auffassung 161 nicht überzeugen, dass die Leistungsausgaben zumindest zu 50 % aus Beiträgen finanziert werden müssen, damit von einer beitragsfinanzierten Sozialversicherung i. S. d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG noch die Rede sein könne. Auch hinter dieser Forderung verbirgt sich nämlich die bereits angesprochene Staatsaufgabenkritik an einer übermäßigen Ausschüttung von steuerfinanzierten und daher nicht durch eigene Vorsorge „erdienten“ sozialen Leistungen, die jedenfalls in den Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes keine Stütze findet. 162 Die hier vertretene Auffassung hat zur Konsequenz, dass die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG auch das Modell einer überwiegend aus Steuermitteln finanzierten Grundsicherung trägt, soweit dieses System zumindest auch durch einen Sockel aus Beitragsleistungen finanziert wird. 163 Anderes gälte nur, bei einer rein steuerfinanzierten Einwohnerversorgung. Sie würde unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG fallen.
D. Die Abgrenzung der Sozialversicherungskompetenz von der Zuständigkeit für das privatrechtliche Versicherungswesen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) Auch bei der Abgrenzung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG von dem im Klammerzusatz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG aufgeführten privatrechtlichen Versicherungswesen stellt sich zunächst die Frage nach geeigneten Unterscheidungskriterien. Nach der herrschenden Auffassung werden die Kompetenztitel für die Sozialversicherung und für das privatrechtliche Versicherungswesen vornehmlich anhand der unterschiedlichen Gestaltung der Versicherungsverhältnisse voneinander geschieden. Der auf privatrechtlichen Verträgen beruhenden und im Wettbewerb zu anderen Anbietern stehenden Privatversicherung, in der sich die Prämien am individuellen Risiko orientieren und Leistungen in einem kapitalgedeckten Finanzierungssystem erbracht werden, wird die Sozialversicherung als öffentlich-rechtliche Zwangsversicherung gegenübergestellt, in der die einkommensbezogene BeitragsSiehe oben B. II. 3 und 4. Siehe BVerfGE 113, S. 167 (207 ff.); Muckel, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 120 Rn. 38; Siekmann, in: Sachs, GG, Art. 120 Rn. 26 f.; siehe dazu auch unten § 6 D. 161 Siehe Isensee, Umverteilung, S. 47; W. Leisner, Sozialversicherung, S. 75; Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 117 f.; wohl auch Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 33, 39; Wahrendorf/Karmanski, NZS 2008, S. 281 (282). 162 Siehe oben B. II. 4. 163 Ebenso Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 117. 159 160
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§ 3 Abgrenzung von anderen Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes
bemessung und die Anwendung des Umlageverfahrens zu solidarischer Umverteilung 164 führen. 165 Mit dem Abgrenzungsmerkmal „unterschiedliche Gestaltung der Versicherungsverhältnisse“ wird freilich ein im weiteren Sinne verfahrensrechtliches Unterscheidungskriterium eingeführt, das insbesondere an die unterschiedlichen Versicherungstechniken der Sozialversicherung und der Privatversicherung anknüpft. Die Anwendung eines derartigen Trennungsmerkmals setzt aber erneut voraus, dass sich die beiden Zuständigkeitstitel auf dieselben sozialen Leistungen und Bevölkerungsgruppen beziehen und deshalb überschneiden (I.). Auch hier gilt, dass die beiden Kompetenzen hinreichend voneinander geschieden sind, soweit sie nicht dieselben Leistungstatbestände und Personengruppen erfassen. Soweit sich die Regelungsbereiche aber sachlich-inhaltlich und personell überlagern, stellt sich die Frage, ob die Sozialversicherungs- und die Privatversicherungskompetenz bereits anhand der von Art. 87 Abs. 2 GG für die Sozialversicherung vorgeschriebenen staatlichen Trägerschaft abschließend voneinander abgegrenzt werden können (II.). Nur soweit danach immer noch eine Schnittmenge zwischen den beiden Kompetenzbereichen bleibt, bedarf es einer Zuständigkeitsabgrenzung, die an die Gestaltung der Versicherungsverhältnisse anknüpft (III.).
I. Überschneidungen des sachlich-inhaltlichen und personellen Regelungsbereichs Wie bei der Unterscheidung der Sozialversicherungs- von der Fürsorgezuständigkeit ist auch bei der Abgrenzung zwischen Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und Nr. 12 GG zu konstatieren, dass sich die Kompetenzbereiche sachlich-inhaltlich und personell überschneiden. Erneut heißt das aber nicht, dass die Regelungsbereiche deckungsgleich sind. Anders als Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, der nur Personenschäden und den Ausfall des Erwerbseinkommens erfasst 166, erstreckt sich Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG auf das gesamte 167 privatrechtliche Versicherungswesen, also auch auf die Absicherung gegen Vermögens- und Sachschäden (z. B. Haftpflicht- oder Hausratsversiche-
164 Näher zu den unterschiedlichen Dimensionen des sozialen Ausgleichs in der Sozialversicherung unten § 5 A. 165 Siehe BVerfGE 103, S. 197 (216 f.); Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 49; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG III, Art. 74 Rn. 54; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 100; Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 100 Rn. 179; ders./ Szczekalla, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 Rn. 138; Thüsing, in: Kämmerer/Thüsing, Vertragsfreiheit, S. 19 f.; vgl. auch Lorenz, in: Beckmann/Matuschke-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, § 1 Rn. 70. 166 Siehe oben § 2 C. II. 2. b). 167 Siehe Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 100 Rn. 179; Umbach/Clemens, in: dies, MAK II, Art. 74 Rn. 54.
D. Abgrenzung vom privatrechtlichen Versicherungswesen
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rungen). Soweit es um Sach- oder Vermögensrisiken geht, besteht somit eine klare inhaltliche Grenze zwischen den beiden Zuständigkeitstiteln. 168 Umgekehrt decken sich die Kompetenzbereiche allerdings ebenso wie Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 und Nr. 12 GG, soweit es um Personen- oder Erwerbsrisiken geht. Sowohl der soziale als auch der private Versicherungsmarkt bieten – wenn auch in unterschiedlicher Gestaltung – Versicherungsprodukte zur Erstattung von Krankheitsund Pflegekosten, zur Einkommenssicherung bei Erwerbsunfähigkeit, zur Hinterbliebenensicherung und zur Altersvorsorge an. In der Personenversicherung besteht daher eine funktionale Parallelität zwischen Privat- und Sozialversicherung. 169 Aus kompetenzrechtlicher Sicht gilt das auch für die Sicherung gegen Arbeitslosigkeit. Zwar wird eine private Arbeitslosenversicherung auf dem Versicherungsmarkt nicht angeboten. Das hat aber keine rechtlichen, sondern ökonomische Gründe. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts unternommene Versuche zur privatrechtlichen Absicherung der Arbeitslosigkeit 170 sind wirtschaftlich gescheitert und haben kein ausreichendes Maß an sozialer Sicherung herbeigeführt. Ein Teil des Schrifttums 171 bezweifelt zwar die rechtliche Versicherungseigenschaft der Arbeitslosenversicherung, weil zumindest die Kosten der konjunkturbedingten und daher kurzfristig schwankenden Arbeitslosigkeit im Voraus nur schwer schätzbar 172 seien. Dabei wird aber ein ökonomischer Versicherungsbegriff zugrunde gelegt, der sich auf versicherungsmathematisch kalkulierbare Risiken verengt. Diese Verwechslung der wirtschaftlichen mit der rechtlichen Perspektive wird zu Recht kritisiert. 173 Dem privaten Versicherungsrecht lässt sich keine Wertung entnehmen, die den Versicherungsunternehmen die (ökonomisch riskante) Absicherung unkalkulierbarer Risiken – etwa von Kernkraftwerken, Großtankern, Satelliten oder Staudämmen 174 – verbietet. 175 Da kein Grund ersichtlich ist, warum für den kompetenziellen Versicherungsbegriff des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG anderes gelten soll, wäre die Aufnahme einer privaten Arbeitslosenversicherung in das Versicherungsvertragsgesetz von dem Zuständigkeitstitel ohne Weiteres gedeckt. Überschneidungen zwischen der Sozialversicherungs- und der Privatversicherungskompetenz können auf der Ebene der Gesetzgebungszuständigkeit auch nicht derart ausgeräumt werden, dass Erstere personell auf sozial schutzbedürftige PersoVgl. Rengeling/Szczekalla, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art.74 Abs.1 Nr.11 Rn.138. Siehe v. Maydell, in: ders./Ruland, SRH, A. 1. Rn. 50; vgl. dazu auch Heinze, ZVersWiss 2000, S. 243 ff. 170 Vgl. dazu Peters, Geschichte, S. 100. 171 So Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 68 ff.; Bieback, KJ 1984, S. 257 (260); Mönks, Arbeitslosigkeit, S. 23; tendenziell auch Spellbrink, JZ 2004, S. 538 (539); weitere Nachweise bei Butzer, Fremdlasten, S. 187 in Fußn. 249. 172 Vgl. dazu auch Gössl, Sozialversicherung, S. 100. 173 Siehe Butzer, Fremdlasten, S. 187 mit weiteren Nachweisen in Fußn. 247. 174 Beispiele nach Butzer, Fremdlasten, S. 187. 175 Siehe Schwintowski, Versicherungsvertrag, S. 54. 168 169
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nenkreise, sachlich-inhaltlich auf eine Grundsicherung beschränkt sei, während eine „Komfort-Sicherung“ nur in der Privatversicherung erfolgen dürfe. Hinter der gegenteiligen Ansicht 176 verbirgt sich nämlich die bereits angesprochene und verworfene These von der „Bipolarität“ der Versicherungsverfassung. 177 Erneut: Der Rechtsschutz der privaten Versicherungsunternehmen gegen eine übermäßige personelle und sachliche Ausdehnung der staatlichen Versicherungsmonopole kann nicht aus der Kompetenzordnung des Grundgesetzes, sondern nur aus den Grundrechten entwickelt werden.
II. Keine abschließende Kompetenzabgrenzung anhand der Unterscheidung zwischen staatlichen und privaten Trägern Die sachlich-inhaltlichen Überschneidungen der Regelungsbereiche lassen sich auch durch die Unterscheidung zwischen staatlichen und privaten Rechtsträgern nicht vollständig ausräumen. 178 Zwar enthält Art. 87 Abs. 2 GG, der die Verwaltungskompetenzen zwischen Bund und Ländern aufteilt, zugleich auch das Gebot, die Sozialversicherung exklusiv in staatlicher Trägerschaft zu organisieren („Körperschaften des öffentlichen Rechts“). 179 Das heißt aber nicht, dass die Betätigung von Verwaltungsträgern stets Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zugeordnet werden kann. Umgekehrt fällt die Tätigkeit privater Unternehmen zwar im Regelfall, doch nicht ausnahmslos unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG. Zum einen schafft die Anordnung des Art. 87 Abs. 2 GG noch keine Klarheit darüber, ob Handlungen eines Hoheitsträgers auch gegenständlich als „Sozialversicherung“ i. S. d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zu qualifizieren sind. Insbesondere im Falle einer erwerbswirtschaftlichen Betätigung öffentlicher Träger auf dem Versicherungsmarkt erscheint auch eine Zuordnung unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG denkbar und ist – wie sich im Weiteren noch zeigen wird 180 – im Ergebnis zutreffend. Zum anderen erlaubt Art. 87 Abs. 2 GG entgegen einer im Schrifttum verbreiteten Auffassung 181 eine Beteiligung privater Rechtsträger zumindest in der Form der Be176
W. Leisner, Sozialversicherung, S. 175 f., 184 f.; Sodan, Leistungserbringer, S. 328 ff.,
340 f. Siehe oben B. II. 1. a) und 4. Vgl. Lorenz, in: Beckmann/Matuschke-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, § 1 Rn. 73. 179 Siehe U. Becker, in: v. Maydell/Ruland, SRH, B. 6. Rn. 9; Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG III, Art. 87 Rn. 80; Lerche, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 87 Rn. 162; Hermes, in: H. Dreier, GG III, Art. 87 Rn. 62; Sachs, in: ders., GG, Art. 87 Rn. 56; S. Weber, Krankenversicherung, S. 243 f.; vgl. auch Ehlers, Privatrechtsform, S. 117 f. 180 Siehe III. 1. und 2. c). 181 Siehe Egger, SGb 2003, S. 76 (77); Hermes, in: H. Dreier, GG III, Art. 87 Rn. 62; Lerche, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 87 Rn. 162; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 87 Rn. 10; tenden177 178
D. Abgrenzung vom privatrechtlichen Versicherungswesen
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leihung. 182 Deshalb ist auch die Übertragung von Sozialversicherungsaufgaben auf private Versicherungsunternehmen prinzipiell möglich. Nach herrschender und zutreffender Ansicht ist der Begriff „Körperschaften“ weit auszulegen und umfasst jede Rechtsform der mittelbaren Staatsverwaltung. 183 Zwar unterscheidet sich der Wortlaut der Vorschrift von Art. 87 Abs. 3 S. 1 GG, der ausdrücklich auch „Anstalten“ als Organisationsform der Bundesverwaltung erwähnt. Daraus kann jedoch nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass Art. 87 Abs. 2 GG nur Körperschaften des Öffentlichen Rechts im engeren Sinne als Träger der Sozialversicherung zulässt. 184 Die Regelung geht auf Art.116 Abs.3 des Herrenchiemsee-Entwurfs zurück, der die Sozialversicherungsträger noch untechnisch als „Selbstverwaltungseinrichtungen“ bezeichnete. Es ist entstehungsgeschichtlich belegt, dass mit dieser Formulierung nicht nur Körperschaften, sondern auch Anstalten und Stiftungen des Öffentlichen Rechts gemeint waren. 185 Die anschließenden Beratungen des Parlamentarischen Rates geben keine Hinweise darauf, dass mit dem endgültigen Wortlaut des Art. 87 Abs. 2 GG eine inhaltliche Akzentverschiebung beabsichtigt war. 186 Der ursprüngliche Begriff „Selbstverwaltungseinrichtungen“ taucht noch in mehreren Entwurfsfassungen auf, über die der Zuständigkeitsausschuss sowie der Hauptausschuss positiv votiert haben. 187 Erst relativ spät wurde er durch die endgültige Formulierung „Körperschaften des öffentlichen Rechts“ ersetzt, die auf einen Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses zurückgeht und im Hauptausschuss ohne Diskussion über eine mögliche Bedeutungsverschiebung angenommen wurde. 188 Wenn aber Art. 87 Abs. 2 GG jede Form der mittelbaren Staatsverwaltung zulässt, so ist kein Grund ersichtlich, warum das die Beleihung nicht einschließen soll. Durch die Beleihung wird der Private in die Staatsverwaltung eingebunden und somit funktional zum Verwaltungsträger. 189 Entsprechend bestehen auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die privatrechtliche Organisationsform von Spitzenverbänden der Sozialversicherungsträger. 190 Auch soweit man mit der herrschenziell auch U. Becker, in: v. Maydell/Ruland, SRH, B. 6. Rn. 9; Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG III, Art. 87 Rn. 80; wohl auch S. Weber, Krankenversicherung, S. 243 f. 182 Wie hier Axer, Normsetzung, S.281; ders., in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art.74 Abs.1 Nr. 12 Rn. 36; Butzer, Fremdlasten, S. 245. 183 Siehe BVerfGE 63, S. 1 (34 f.); Axer, Normsetzung, S. 279 f.; ders., in: Dolzer/Vogel/ Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 36; Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 87 Rn. 71; U. Becker, in: v. Maydell/Ruland, SRH, B. 6. Rn. 10; Butzer, Fremdlasten, S. 244 f.; Jestaedt, in: Umbach/Clemens, MAK II, Art. 87 Rn. 90; Hermes, in: H. Dreier, GG III, Art. 87 Rn. 61. 184 So aber Sachs, in: ders., GG, Art. 87 Rn. 54 mit weiteren Nachweisen in Fußn. 94. 185 Siehe v. Doemming/Füßlein/Matz, JöR n. F. 1 (1951), S. 623. 186 Vgl. U. Becker, in: v. Maydell/Ruland, SRH, B. 6. Rn. 10 mit Fußn. 20. 187 Siehe v. Doemming/Füßlein/Matz, JöR n. F. 1 (1951), S. 644 ff. 188 Siehe v. Doemming/Füßlein/Matz, JöR n. F. 1 (1951), S. 649. 189 Siehe Axer, Normsetzung, S. 281; vgl. auch Ruland, NZS 2007, S. 337 (340). 190 Wie hier Axer, Normsetzung, S. 277 f.; mit anderer Begründung S. Weber, Krankenversicherung, S. 243 f.; a. A. Bull, in: Wassermann, AK, Art. 87 Rn. 97.
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§ 3 Abgrenzung von anderen Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes
den Lehre davon ausgeht, dass aus Art. 87 Abs. 2 GG eine Garantie der sozialen Selbstverwaltung folgt 191, ergibt sich nichts anderes, da eine Mitbestimmung der Versicherten auch unter dem Dach eines privaten Trägers möglich ist. Ein historisches Beispiel dafür sind die über Jahrzehnte privatrechtlich organisierten Ersatzkassen 192, die erst im Nationalsozialismus in Körperschaften des Öffentlichen Rechts umgewandelt worden sind 193. Da private Rechtssubjekte somit soziale Versicherungsträger i. S. d. Art. 87 Abs. 2 GG sein können, fällt ihre Betätigung nicht vollständig aus dem Anwendungsbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG heraus. Allerdings kann der formale Akt der Beleihung alleine nicht ausschlaggebend für die Abgrenzung der Gesetzgebungskompetenzen für die Sozial- und die Privatversicherung sein. Die Beleihung ist zwar eine notwendige Voraussetzung für die Einordnung eines Privaten als Sozialversicherungsträger i. S. d. Art. 87 Abs. 2 GG, beantwortet aber wiederum nicht die Frage, ob eine erwerbswirtschaftliche Betätigung unter Art.74 Abs. 1 Nr. 11 oder Nr. 12 GG fällt. Umgekehrt ist die Tätigkeit eines nicht beliehenen Privaten nicht stets dem Kompetenzbereich des privatrechtlichen Versicherungswesens zuzurechnen, sondern kann ebenso eine verfassungswidrige Usurpation von Sozialversicherungsaufgaben darstellen. Art. 87 Abs. 2 GG besagt nicht, dass eine Sozialversicherung aus privater Hand unter die Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG fällt, sondern legt fest, dass sie ohne Beleihung gegen das Grundgesetz verstößt. Damit bedarf die Anwendung des Art. 87 Abs. 2 GG auf private Rechtsträger freilich selbst eines Maßstabes, der festlegt, welche Handlungen gegenständlich als „Sozialversicherung“ einzuordnen sind und daher eine Beleihung erfordern.
III. Kompetenzabgrenzung anhand der Gestaltung der Versicherungsverhältnisse 1. Die Unterscheidung zwischen staatlichen Versicherungsmonopolen und gewinnorientierten Wettbewerbsversicherungen Eine vollständige Abgrenzung der Kompetenzen aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und Nr. 12 GG ist somit weder auf der sachlich-inhaltlichen und personellen Ebene noch anhand der Entscheidung des Art. 87 Abs. 2 GG für eine staatliche Sozialversicherungsträgerschaft möglich. Deshalb kann eine abschließende Trennung der beiden Zuständigkeitstitel nur an die unterschiedliche Gestaltung der Versicherungsverhältnisse anknüpfen. Nach der herrschenden Auffassung hat dabei nicht die „mehr oder weniger zufällige“ 194 öffentlich-rechtliche oder private Natur der Versicherungsverhältnisse, sondern die Unterscheidung zwischen staatlichen Monopolen 191 192 193 194
Näher dazu § 6 C. Näher dazu Peters, Geschichte, S. 58, 79, 82. Siehe Peters, Geschichte, S. 111 f. Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 100 Rn. 179.
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und Wettbewerbsmärkten, auf denen private (und gegebenenfalls auch staatliche) Anbieter als gleichberechtigte und gewinnorientierte Anbieter auftreten, entscheidende Bedeutung. 195 Dem ist zuzustimmen. Zwar spricht Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG vom privatrechtlichen Versicherungswesen. Doch kann die kompetenzielle Zuordnung nicht ausschließlich an die private oder öffentliche Rechtsform des Versicherungsverhältnisses bei einem staatlichen Träger anknüpfen. Der vor dem Klammerzusatz stehende Oberbegriff des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG lautet „Recht der Wirtschaft“. Nach allgemeinem Sprachverständnis transportiert der Begriff „Wirtschaft“ das Bild von einem Markt, auf dem verschiedene Anbieter in Konkurrenz zueinander stehen und gewinnorientiert 196 agieren. Soweit staatliche Anbieter an diesem Wettbewerb gleichberechtigt teilnehmen, gehören auch sie zur „Wirtschaft“. 197 Das gilt selbst dann, wenn sie die Rechtsverhältnisse zu ihren Kunden formal öffentlich-rechtlich (etwa als Verwaltungsverträge) ausgestalten. Andernfalls könnten die Länder Teilbereiche der Bundeskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG alleine dadurch an sich ziehen, dass sie den Rechtsbeziehungen von Wettbewerbern in öffentlicher Hand den Deckmantel der öffentlich-rechtlichen Handlungsform überstreifen würden.198 Deshalb grenzt die herrschende Auffassung die Bundeszuständigkeit für das privatrechtliche Versicherungswesen zutreffend alleine anhand der staatlichen Monopolstellung von der bereits erwähnten 199 Länderkompetenz für das öffentlich-rechtliche Versicherungswesen ab. Soweit staatliche Versicherungsanbieter nicht als Monopolisten tätig sind, fallen sie unabhängig von der Rechtsform der Versicherungsverhältnisse unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG. 200 Es erscheint naheliegend, dieses Kriterium auf die gegenseitige Abgrenzung der Bundeskompetenzen für das privatrechtliche Versicherungswesen und für die Sozialversicherung zu übertragen, zumal die Sozialversicherung seit ihrer Entstehung kontinuierlich für den Großteil ihrer Mitglieder als Pflichtversicherung ausgestaltet war. Der historisch gewachsene Begriff der Sozialversicherung ist eng mit dem staatlichen Versicherungszwang verbunden und unterscheidet sich in dieser Hinsicht signifikant vom privaten Versicherungsmarkt, auf dem die Versicherungsver195 Siehe BVerfGE 103, S. 197 (216 f.); Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG III, Art. 74 Rn. 54; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 100. 196 Siehe zur Bedeutung der Gewinnorientierung für die kompetenzielle Zuordnung unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG BVerfGE 28, S. 119 (147); Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 101. 197 Siehe Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 44. 198 Auch aus diesem Grunde schließt Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG sowohl das private als auch das öffentliche Wirtschaftsrecht in den Kompetenzbereich ein; siehe Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG III, Art. 74 Rn. 45; Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 74 Rn. 135; Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 100 Rn. 167. 199 Siehe § 2 A. III. 1. 200 Siehe BVerfGE 41, S. 205 (220); 103, S. 197 (216); Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG III, Art. 74 Rn. 54; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 100.
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hältnisse regelmäßig 201 der Abschluss- und Gestaltungsfreiheit der Vertragsparteien unterliegen. 202 2. Anwendung auf die Abgrenzung der Sozialversicherungsvon der Privatversicherungskompetenz Bei näherer Anwendung der zuvor entwickelten Grundsätze auf die Abgrenzung zwischen Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und Nr. 12 GG ergeben sich allerdings Zweifelsfälle. Stets der Sozialversicherungskompetenz zuzurechnen sind jedenfalls die staatlichen Monopole im Bereich der Personen- und Erwerbsausfallversicherung – und zwar auch dann, wenn sie nicht die im Sozialversicherungsrecht üblichen Umverteilungsmechanismen aufweisen (a). Dasselbe gilt für gesetzliche Pflichtversicherungen mit Wahlfreiheit zwischen mehreren Versicherungsträgern, soweit ausschließlich staatlich beherrschte Anbieter zu diesem Mitgliederwettbewerb zugelassen sind (b). Schwierigkeiten im Hinblick auf die kompetenzielle Zuordnung ergeben sich dagegen bei der freiwilligen Sozialversicherung, die gerade kein staatliches Versicherungsmonopol statuiert (c). Ähnliche Probleme bestehen bei privatrechtlichen Pflichtversicherungen (etwa der privaten Pflegeversicherung), soweit die Abschlussund Gestaltungsfreiheit der Vertragsparteien durch eine soziale Regulierung der Versicherungsverhältnisse weitgehend aufgehoben ist (d). a) Staatliche Versicherungsmonopole aa) Versicherungsmonopole in öffentlich-rechtlicher oder privatrechtlicher Gestaltung Staatliche Versicherungsmonopole sind stets unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zu subsumieren, soweit es sich nicht um Vermögens- oder Sachversicherungen handelt, die unter die ausschließliche Länderkompetenz fallen 203. Das gilt unabhängig davon, ob die Zwangsversicherung in öffentlich-rechtlicher Form betrieben wird oder eine privatrechtliche Hülle überstreift. Zwar war die Sozialversicherung im Verlaufe ihrer Geschichte stets öffentlich-rechtlich ausgestaltet. Wenn jedoch für die Kompetenzabgrenzung zwischen Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG und landesrechtlichen Versicherungsmonopolen nicht die Rechtsform, sondern der Versicherungszwang bei einem staatlichen Anbieter entscheidend ist, so kann für die Abgrenzung von Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und Nr. 12 GG nichts anderes gelten. Somit wäre vom Zu201 Freilich bestehen auch im privaten Versicherungsrecht gesetzlich geregelte Versicherungspflichten; siehe daher zur kompetenziellen Zuordnung von privaten Pflichtversicherungen unten 2. d). 202 Vgl. nur Butzer, Fremdlasten, S. 306 f. 203 Siehe zur Ausgrenzung von Sach- und Vermögensrisiken aus dem Kompetenzbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG oben § 2 C. II. 2. b) cc) und ee).
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ständigkeitstitel für die Sozialversicherung auch die Einführung einer privatrechtlich ausgestalteten Pflichtversicherung aus der Hand der Sozialversicherungsträger gedeckt. Freilich läge bei einer derartigen Pflichtversicherung keine echte Privatrechtlichkeit vor, selbst wenn der Gesetzgeber sie ausdrücklich anordnen würde. Das Versicherungsverhältnis wäre durch den Versicherungszwang bei einem Verwaltungsträger öffentlich-rechtlich überlagert. bb) Versicherungsmonopole ohne soziale Umverteilung Ebenso wenig wie auf die Rechtsform kommt es entscheidend darauf an, ob die staatliche Zwangsversicherung Mechanismen sozialer Umverteilung aufweist. Aus diesem Grunde ändert etwa die schleichende Erosion des sozialen Ausgleichs in der gesetzlichen Krankenversicherung im Zuge des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes 204, die unter anderem in den nunmehr in § 53 SGB V geregelten Selbstbehalten, Prämienzahlungen und Kostenerstattungen 205 zum Ausdruck kommt, nichts an der Zuordnung der Krankenpflichtversicherung 206 unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. 207 Zwar zählt der Ausgleich sozialer Lasten nach herrschender Auffassung zu den prägenden Merkmalen des „Gattungsbegriffs“ oder „Typus“ der Sozialversicherung. 208 Die Annahme, dass die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG bei einem Verwaltungsmonopol ohne soziale Umschichtung des Beitragsaufkommens nicht eingreife 209, überzeugt jedoch nicht. (1) Die Versicherungstechnik: Umlage- oder Anwartschaftsdeckungsverfahren Wie sich im Wege der historischen Auslegung ergibt, ist die Versicherungstechnik des Umlageverfahrens, die neben der einkommensbezogenen Beitragsgestaltung als Rückgrat des sozialen Ausgleichs in der Sozialversicherung gilt 210, von Art.74 Abs.1 Nr. 12 GG nicht bindend vorgegeben. Sie wird heute zwar in allen Zweigen der Sozialversicherung angewendet. Die Rentenversicherung wurde aber bis 1957 zumin204 Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKVWettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG) vom 26. März 2007 (BGBl. I, S. 378). 205 Kritisch dazu aus grundrechtlicher und kartellrechtlicher Perspektive Huber, Wahltarife; Isensee, NZS 2007, S. 449 ff.; siehe auch Kingreen, ZESAR 2007, S. 139 (143 ff.); Kretschmer, SGb 2008, S. 65 (72); Roth, GRUR 2007, S. 645 (650 ff.). 206 Siehe aber zur freiwilligen Versicherung unten c). 207 A. A. Isensee, NZS 2007, S. 449 (453). 208 Siehe oben § 1 A. II. 1. 209 So Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 35; Isensee, Umverteilung, S. 48; ders., NZS 2007, S. 449 (453); Papier, in: v. Maydell/Ruland, SRH, A. 3. Rn. 13; ders., in: FS 50 Jahre BSG, S. 23 (30); ders./Möller, NZS 1998, S. 353 (354); Wenner, in: FS 50 Jahre BSG, S.625 (633 f.); Wieland, VSSR 2003, S.259 (274 f.); Zacher, Sozialpolitik, S.58. 210 Näher zur Typologie des sozialen Ausgleichs in der Sozialversicherung § 5 A.
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dest formal 211 noch auf der Basis des auch in der Privatversicherung praktizierten Anwartschaftsdeckungsverfahrens betrieben. 212 In der reinen Form kommt das Umlageverfahren in diesem Sozialversicherungszweig erst seit 1969 zur Anwendung.213 Aus der maßgeblichen Sicht des historischen Verfassungsgebers von 1949 fällt somit auch ein Versicherungsmonopol, das seine Beitragseinkünfte nicht in jeder Haushaltsperiode vollständig für Leistungsausgaben aufbraucht, sondern teilweise zur Bildung eines Kapitalstocks verwendet, unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. 214 (2) Der soziale Ausgleich als Frage der grundrechtlichen Legitimität staatlicher Versicherungsmonopole Im Übrigen ist der soziale Ausgleich keine Frage der Zuständigkeitsabgrenzung von Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und Nr. 12 GG, sondern der materiellen Legitimität von staatlichen Zwangsversicherungen. Ein öffentliches Versicherungsmonopol, das private Anbieter von einem bestimmten Marktsegment ausschließt, obwohl es seine Leistungen zu Preisen anbietet, die den versicherungsmathematischen Kalkulationen der Privatversicherung gleichen, kann auch bei Zugrundelegung einer Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers 215 nicht mehr als erforderlich eingeordnet werden und verstößt daher gegen das Übermaßverbot. Weil die Etablierung von privaten Pflichtversicherungen an sich zur Sicherstellung der Eigenvorsorge ausreichend wäre, hängt die Rechtfertigung eines Verwaltungsmonopols entscheidend davon ab, ob dieses für die Absicherung der Versicherten soziale Lösungen anbietet, die auf dem privaten Markt nicht erhältlich sind. 216 Der Staat darf den Bürgern keine Mitgliedschaft in einem öffentlich-rechtlichen Zwangssystem oktroyieren, wenn dieses ihnen lediglich eine soziale Absicherung bietet, die sie sich ebenso gut oder besser anderweitig beschaffen könnten. 217 Dieses Ergebnis folgt aber nicht aus der Kompetenzordnung des Grundgesetzes 218, sondern aus den Grundrechten der Pflichtversicherten und der privaten Versicherungsunternehmen. 211 Real war der Kapitalstock der Rentenversicherung allerdings durch den zweiten Weltkrieg und die Währungsreform von 1948 vernichtet worden; vgl. Borchert, in: Boecken/Hänlein/Kruse/Steinmeyer, Sicherung, S. 133 (135); Köhler, in: Ruland, Rentenversicherung, Kap. 2 Rn. 106; Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 235. 212 Vgl. BVerfGE 76, S. 256 (302). 213 In der Übergangsphase zwischen 1957 und 1969 wurde das sog. Abschnittsdeckungsverfahren praktiziert; vgl. dazu Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 235. 214 Ebenso Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 234 f.; im Ergebnis auch Butzer, Fremdlasten, S. 218; a. A. wohl Lenze, Staatsbürgerversicherung, S. 419. 215 Vgl. dazu BVerfGE 30, S. 292 (319); Epping, Grundrechte, Rn. 53; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 287. 216 So zutreffend Bieback, VSSR 2003, S. 1 (18). 217 Siehe Hase, SDSRV 51 (2004), S. 7 (23); mit gleicher Tendenz aus europarechtlicher Sicht Kingreen, ZESAR 2007, S. 139 (146 f.). 218 Aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG ergeben sich keine grundrechtsschützenden Wertungen im Sinne einer „bipolaren“ Versicherungsordnung; siehe oben B. II. 4.
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(3) Kein Einfluss des Europäischen Wettbewerbsrechts auf die Interpretation des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG Ebenso wenig überzeugt die Auffassung des Bundessozialgerichts 219, dass ein Versicherungsmonopol ohne soziale Umverteilung nicht von der Sozialversicherungskompetenz gedeckt sei, weil die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Europäischen Wettbewerbsrecht in die Interpretation des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG einfließen müsse. Es trifft zwar zu, dass der Europäische Gerichtshof staatliche Zwangsversicherungen nur dann nicht als öffentliche Unternehmen i. S. d. Art. 86 Abs. 1 EGV einordnet (und somit aus dem Anwendungsbereich des Wettbewerbsrechts ausnimmt), wenn sie maßgeblich auf dem Grundsatz der Solidarität beruhen.220 Als entscheidende Kriterien betrachtet der Gerichtshof dabei die einkommensbezogene Beitragsbemessung, die Anwendung des Umlageverfahrens sowie eine Leistungsberechnung, die sich gar nicht oder jedenfalls nicht streng proportional an den individuellen Beitragszahlungen orientiert. 221 Versicherungsmonopole, die keine oder nur geringe Mechanismen sozialer Umverteilung aufweisen, unterliegen deshalb dem Europäischen Wettbewerbsrecht und somit der strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung des Art. 86 Abs. 2 EGV. Deshalb lassen sie sich im Ergebnis kaum rechtfertigen. 222 Doch gibt es keinen Grund, die Auslegung der Art. 81 ff. EGV und des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zueinander in einen systematischen Zusammenhang zu stellen. Eine Angleichung der Interpretation wäre nur geboten, soweit das Europäische Wettbewerbsrecht und die Sozialversicherungskompetenz den gleichen oder einen ähnlichen Regelungszweck verfolgen würden oder soweit zwischen dem EG-Vertrag und der verfassungsrechtlichen Zuständigkeitsbestimmung eine Kollisionslage
219 Siehe BSGE 81, S. 276 (283); zustimmend Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 35; Bieback, VSSR 2003, S. 1 (26 ff.); Lenze, Staatsbürgerversicherung, S. 432; dies./Zuleeg, NZS 2006, S. 456 (459). 220 Siehe EuGH – Poucet und Pistre –, Slg. 1993 I, S. 637 (668, Rn. 8); – Fédération française –, Slg. 1995 I, S. 4013 (4028, Rn. 5); – Albany –, Slg. 1999 I, S. 5751 (5886, Rn. 77); – Pavlov –, Slg. 2000 I, S. 6497 (6529, Rn. 109); – Cisal –, Slg. 2002 I, S. 717 (730 ff., Rn. 34 ff.); – AOK-Bundesverband –, Slg. 2004 I, S. 2493 (2542, Rn. 47). 221 Siehe EuGH – Poucet und Pistre –, Slg. 1993 I, S. 637 (668, Rn. 10); – Fédération française –, Slg. 1995 I, S. 4013 (4028 f., Rn. 15, 17); – Albany –, Slg. 1999 I, S. 5751 (5886 f., Rn. 77, 79, 81); – Pavlov –, Slg. 2000 I, S. 6497 (6529 f., Rn. 109 ff.); – Cisal –, Slg. 2002 I, S. 717 (731, Rn. 39 f.); – AOK-Bundesverband –, Slg. 2004 I, S. 2493 (253, Rn. 50). 222 Eingehend zur Rechtfertigung der Sozialversicherungsmonopole vor Art. 81 ff. EGV Brall/Voges, Bürgerversicherung, S. 57 ff.; Fuchs, SGb 2005, S. 65 ff.; Giesen, Sozialversicherungsmonopol; Jung, in: Ebsen, Gestaltungsvorgaben, S. 67 (70 ff.); Hänlein/Kruse, in: Boecken/Hänlein/Kruse/Steinmeyer, Sicherung, S. 215 ff.; Haverkate/Huster, Europäisches Sozialrecht, Rn.459 ff.; Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S.311 ff.; Lenze, Staatsbürgerversicherung, S. 433 ff.; Rolfs, SGb 1998, S.202 ff.; ders., Versicherungsprinzip, S.78 ff.; Seewald, SGb 2004, S. 387 ff., 453 ff.
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bestünde. 223 Jedoch weisen die Art. 81 ff. EGV keine Verbindung zum telos des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, der Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Bund und Ländern, auf. Das Wettbewerbsrecht betrifft nicht die Rechtsetzungskompetenz für staatliche Monopole, sondern ihre Legitimität. Insoweit besteht eher ein thematischer Bezug zu den Grundrechten privater Wettbewerber, die durch staatliche Zwangsversicherungen von bestimmten Märkten ausgeschlossen werden. Soweit eine Ausstrahlung der Art. 81 ff. EGV auf die Auslegung des Grundgesetzes in Betracht kommt, wäre sie daher bei der Berufsfreiheit zu verorten. Eine Integration der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Unternehmens-Eigenschaft sozialer Verwaltungsmonopole in die Dogmatik der Drei-Stufen-Theorie erscheint zumindest erwägenswert. Zwischen den Art. 81 ff. EGV und Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG besteht auch keine Normenkollision, die durch eine Anpassung des Verfassungsrechts an die Aussagen des Wettbewerbsrechts zu lösen wäre. Da der Zuständigkeitstitel für die Sozialversicherung keine materiell-programmatischen Aussagen enthält224, kann er nicht in einen inhaltlichen Konflikt mit dem Wettbewerbsrecht geraten. Ebenso wenig muss Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG aus Sicht des Gemeinschaftsrechts als Auftragsnorm zur Umsetzung der europäischen Vorgaben interpretiert werden. Da das Gemeinschaftsrecht nur einen Anwendungs-, aber keinen Geltungsvorrang hat 225, bleibt es dem nationalen Gesetzgeber unbenommen 226, widersprechendes Recht zu erlassen. Dieses darf lediglich nicht angewendet werden, solange das kollidierende Gemeinschaftsrecht besteht. Eine Kollisionslage zwischen Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und den europäischen Vorgaben besteht insbesondere auch deshalb nicht, weil die Sozialversicherungskompetenz keinen verfassungsrechtlichen Vorbehalt gegen eine übermäßige gemeinschaftsrechtliche Überformung des deutschen Sozialversicherungsrechts formuliert. Die Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes können schon deshalb nicht als Integrationsschranken ausgelegt werden, weil die Verfassung nur die Zuständigkeiten des Bundes ausdrücklich aufführt. Eine Interpretation der Bundeskompetenzen als Vorbehalte nationaler Rechtsetzungsdomänen würde daher die Bundgesetzge223 Insoweit gelten die späteren Ausführungen zu einer möglichen Wechselwirkung von Kompetenz- und Grundrechtsauslegung unter § 5 B. II. entsprechend. 224 Siehe oben B. II. 4. 225 Siehe Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, Rn. 187 ff.; Herdegen, Europarecht, § 11 Rn. 3; T. Oppermann, Europarecht, § 7 Rn. 12. 226 Auch der Europäische Gerichtshof geht davon aus, dass die Unvereinbarkeit einer neu erlassenen Vorschrift des innerstaatlichen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht nicht dazu führt, dass die nationale Rechtsnorm inexistent sei; sie müsse von den nationalen Gerichten lediglich unangewendet bleiben; siehe EuGH – IN.CO.GE ’90 –, Slg. 1998 I, S. 6307 (6332, Rn. 18 ff.); siehe auch EuGH, – Nimz –, Slg. 1991 I, S. 297 (321, Rn. 19); – Hünermund –, Slg. 1993 I, S. 6787 (6820, Rn. 8); für eine Sperrwirkung des Gemeinschaftsrechts gegenüber einer kollidierenden nationalen Gesetzgebung hingegen noch EuGH – Simmenthal II –, Slg. 1978, S. 629 (644, Rn. 17/18).
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bung gegenüber den Ländern privilegieren, ohne dass dafür ein überzeugender Grund ersichtlich wäre. Zudem belegt die Entstehungsgeschichte der Föderalismusreform, dass die Art. 70 ff. GG nach wie vor nur das Verhältnis von Bund und Ländern regeln sollen. 227 Verfassungsrechtliche Grenzen der europäischen Integration können daher zumindest aus dem siebten Abschnitt des Grundgesetzes nicht hergeleitet werden. Der zunehmende Einfluss des Unionsrechts auf das nationale Sozialrecht ist zwar ein Faktum, zumal der EG-Vertrag unter anderem in Art. 42 und Art. 137 Abs. 1 Buchst. c und k EGV Regelungskompetenzen 228 der Gemeinschaft auf diesem Gebiet ausweist. Diese Rechtsentwicklung fordert aber aus Sicht der im deutschen Verfassungsrecht geregelten Sozialversicherungskompetenz keine dogmatische Reaktion heraus. b) Wettbewerb zwischen staatlichen Sozialversicherungsträgern Ebenfalls dem Kompetenzbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zuzurechnen sind Pflichtversicherungen, bei denen der Versicherte die Auswahl zwischen mehreren Versicherungsträgern hat, die sich allesamt in staatlicher Hand befinden. Dieses Modell ist zur Zeit im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung verwirklicht. Seit 1996 liegt es weitgehend in der Hand der Versicherten, welcher öffentlichrechtlichen Kasse sie beitreten (§§ 173 ff. SGB V). 229 In Zukunft soll dieser Wettbewerb zwischen den öffentlichen Krankenversicherungsträgern durch die vom Gesetzgeber (allerdings unter dem Vorbehalt eines noch nicht erlassenen weiteren Bundesgesetzes) beschlossene Insolvenzfähigkeit aller gesetzlichen Krankenkassen weiter verschärft werden (§ 171 b SGB V 230). 231 Von einer Wettbewerbsversicherung, die unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG fällt, kann bei dieser Ausgestaltung der Krankheitssicherung jedoch keine Rede sein, weil ein „privatrechtliches Versicherungswesen“ in jedem Fall die Zulassung privater Anbieter zum Markt voraussetzt. c) Die freiwillige Sozialversicherung Größere Schwierigkeiten bereitet die Zuordnung der freiwilligen Sozialversicherung (§ 9 SGB V; § 7 SGB VI; § 6 SGB VII; § 26 f. SGB XI). Einerseits steht sie im 227 Sie dazu die Gesetzesbegründung der Verfassungsänderung in BT-Drs. 16/813, S. 7 ff.; im gleichen Sinne zum Rechtszustand vor der Föderalismusreform Heintzen, DVBl. 1997, S. 689 (689). 228 Eingehend dazu Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S. 295 ff. 229 Eingehend dazu U. Becker, SDSRV 48 (2001), S.7 ff.; Pester, Mitgliederwettbewerb; vgl. auch Ebsen/Knieps, in: v. Maydell/Ruland, SRH, C. 14. Rn.174 f.; Ramsauer, NZS 2006, S.505 (505); Schlegel, Soziale Sicherheit 2006, S. 378 (381 f.); Waltermann, Sozialrecht, Rn. 139. 230 Art. 1 Nr. 131 GKV-WSG (BGBl. I 2007, S. 378). 231 Vgl. dazu Kingreen, ZESAR 2007, S. 139 (143).
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Wettbewerb zu privaten Anbietern, da sie gerade nicht auf einem öffentlichen Monopol beruht. Das spricht dafür, die freiwillige Versicherung unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG zu subsumieren. 232 Andererseits gehört sie zu den historisch gewachsenen Erscheinungen des sozialen Versicherungsrechts. Daher wird sie nach dem allgemeinen Sprachgebrauch als „Sozialversicherung“ bezeichnet und von der herrschenden Auffassung dem Regelungsbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zugerechnet. 233 Die freiwillige Sozialversicherung blickt in der Tat auf eine Tradition zurück, die bereits bei der Ursprungsgesetzgebung zur Krankenversicherung der Arbeiter von 1883 beginnt. 234 Dem Verfassungsgeber von 1949 kann vor diesem Hintergrund nicht unterstellt werden, er sei von einem Verständnis des Begriffs „Sozialversicherung“ ausgegangen, nach dem sich der Kompetenzbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG strikt auf öffentliche Zwangsversicherungen beschränkt. Deshalb kann die grundsätzlich zu Recht an die Unterscheidung zwischen staatlichen Monopolen und Wettbewerbsmärkten anknüpfende Kompetenzabgrenzung von Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und Nr. 12 GG nicht schematisch auf die freiwillige Sozialversicherung angewendet werden. Allerdings können freiwillige Versicherungsangebote der Sozialversicherungsträger auch nicht in beliebigem Umfang der Sozialversicherungskompetenz zugerechnet werden, weil die seit der Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG gebotene klare Trennung zwischen Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und Nr. 12 GG dann nicht mehr möglich wäre. Sachgerecht erscheint es, dieses Problem durch ein Verständnis des Abgrenzungsmerkmals „Wettbewerb zwischen privaten und staatlichen Anbietern“ zu lösen, das nicht schematisch an die förmliche Unterscheidung zwischen staatlichen Monopolen und der Wahlfreiheit unter öffentlichen und privaten Versicherungsträgern gekoppelt ist. Für die kompetenzielle Zuordnung der freiwilligen Sozialversicherung kommt es vielmehr entscheidend darauf an, ob die staatlichen Versicherungsträger in eine echte Preis-Konkurrenz zu den privaten Versicherungsunternehmen treten. Nur in diesem Fall ist ihre Tätigkeit der Gesetzgebungskompetenz für das privatrechtliche Versicherungswesen zuzurechnen. Bieten die Sozialversicherungsträger ihre Leistungen dagegen zu gänzlich anderen, nämlich sozialen Konditionen an, so fallen sie unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. 235 Das ist insbesondere der Fall, soweit die freiwillige Sozialversicherung in ihrer rechtlichen Ausgestaltung als Auffangbecken für Personen konzipiert ist, denen ihre soziale Absicherung auf dem privaten Versicherungsmarkt nicht oder nur zu unerschwinglich teuren Konditionen möglich ist. Die Sozialversicherung bedient dann ein Marktsegment, an dem die priIn diesem Sinne Zacher, Sozialpolitik, S. 58. Siehe Butzer, Fremdlasten, S. 306; Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 74 Rn. 172; Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 110 ff.; vgl. auch Lorenz, in: Beckmann/Matuschke-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, § 1 Rn. 74. 234 Vgl. Butzer, Fremdlasten, S. 306 in Fußn. 622. 235 Vgl. BVerfGE 17, S. 1 (9); Bieback, VSSR 2003, S. 1 (15); Neumann, NZS 1998, S. 401 (405); Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 117. 232 233
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vaten Versicherungsunternehmen entweder kein Interesse haben oder in dem der Abschluss privater Versicherungsverträge an der finanziellen Überforderung der Kunden scheitert. Insoweit spielt der soziale Ausgleich, anders als bei echten staatlichen Versicherungsmonopolen 236, eine entscheidende Rolle für die Abgrenzung von Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und Nr. 12 GG. Eine freiwillige öffentliche Versicherung ohne Mechanismen sozialer Umschichtung gehört kompetenzrechtlich zum privaten Versicherungswesen. Nach diesen Grundsätzen fällt jedenfalls das geltende Recht der freiwilligen Renten-, Unfall- und Pflegeversicherung in den Kompetenzbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. Der auf dem privaten Versicherungsmarkt üblichen, am individuellen Schadensrisiko orientierten Prämienkalkulation 237 steht die einkommensbezogene Bemessung der Sozialversicherungsbeiträge gegenüber, die nur im Unfallversicherungsrecht eine begrenzte Orientierung an Gefahrenklassen kennt (vgl. § 157 SGB VII). Die unterschiedliche Berechnung des Versicherungspreises führt dazu, dass die freiwillige Sozialversicherung auf dem Markt nur sehr bedingt als Konkurrentin der privaten Versicherungsunternehmen auftritt. Zwar unterbietet sie zum Teil die Prämien der Privatversicherung. Das betrifft etwa die sog. „schlechten Risiken“, also Personen mit hohen individuellen Gesundheitsrisiken, die eine Absicherung auf dem privaten Versicherungsmarkt nur gegen Zahlung von Risikozuschlägen erhalten. Gleiches gilt für Versicherte, die aufgrund ihres geringen Einkommens nur relativ niedrige Sozialversicherungsbeiträge zahlen oder Familienangehörige beitragsfrei mitversichern. Die freiwillige Sozialversicherung betreibt in diesen Fällen aber kein erwerbswirtschaftlich motiviertes Preis-Dumping, um private Konkurrenten vom Markt zu verdrängen. Sie fungiert als soziales Netz für Personen, die vom Preisgefüge des privaten Versicherungsmarktes finanziell überfordert sind. 238 Zum Teil betrifft das „schlechte Risiken“, deren Versicherung die privaten Anbieter gänzlich ablehnen 239, so dass eine Wettbewerbssituation zwischen Sozial- und Privatversicherung realiter nicht besteht. Überschritten ist die Grenze zwischen Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 und Nr. 11 GG allerdings, soweit die freiwillige Sozialversicherung ihre Leistungen in gleicher oder ähnlicher Form wie die Privatversicherung durch risikobezogene Prämien 240 finanziert. In diesem Fall treten die staatlichen Versicherungsträger in eine echte Preisund Mitgliederkonkurrenz zu den privaten Anbietern und die freiwillige Sozialversicherung gliedert sich damit dem Recht der Wirtschaft ein. Insoweit spricht viel dafür, dass die freiwillige Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung Siehe oben a) bb). Näher dazu Müller, in: Beckmann/Matuschke-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, § 44 Rn. 29 ff.; Weyers/Wandt, Versicherungsvertragsrecht, Rn. 92 ff. 238 Vgl. Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 111. 239 Vgl. Kingreen, ZESAR 2007, S. 139 (149). 240 Siehe dazu die Vorschläge der von der CDU eingesetzten Herzog-Kommission; Kommission „Soziale Sicherheit“, Bericht, S. 23. 236 237
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§ 3 Abgrenzung von anderen Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes
aufgrund der durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz in § 53 SGB V eingefügten Optionen zur Wahl von Selbstbehalten, Prämienzahlungen oder Kostenerstattungen nicht mehr unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, sondern nunmehr unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG fällt. 241 Ein differenziert zu beurteilender Grenzfall ist der in der politischen Debatte für die gesetzliche Krankenversicherung diskutierte einheitliche Pauschalbeitrag für alle Versicherten („Kopfpauschale“) 242. Soweit es sich dabei nur um einen marginalen Zuschlag zu den einkommensbezogenen Beiträgen handelt, ändert sich nichts an der Zuordnung der freiwilligen Versicherung unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, weil der soziale Ausgleich nach wie vor systemprägenden Charakter hat. Das betrifft in der Gesetzgebungspraxis den für 2009 beschlossenen potentiellen Zusatzbeitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung in Höhe von maximal 8 Euro (§ 242 Abs. 1 S. 3 SGB V 2009 243). 244 Anders würde es sich freilich verhalten, wenn der Pauschalbeitrag die einkommensbezogene Beitragsbemessung vollständig ablösen würde. Zwar würde der Verzicht auf individuelle Risikozuschläge weiterhin ein geringes Maß an sozialer Umschichtung bewirken. Diese Modifizierung der gewinnorientierten Preiskalkulation wäre alleine aber zu geringfügig, um noch von einer „Sozial“-Versicherung sprechen zu können. 245 Anderes gälte aber, soweit bei der Verwirklichung des Kopfpauschalen-Modells weiterhin eine kostenfreie Mitversicherung von Familienangehörigen stattfinden würde. 246 Die besonders hohe „Mitversicherungsquote“ 247 unter den freiwilligen Mitgliedern der gesetzlichen Krankenversicherung zeigt, dass in diesem Fall weiterhin ein großer Teil der Leistungen kostenfrei nach sozialen Kriterien vergeben würde. Entgegen einer im Schrifttum vertretenen Auffassung 248 muss die freiwillige Versicherung keine Randerscheinung der Sozialversicherung bleiben. Selbst die vollständige Beseitigung des bestehenden Versicherungszwangs zugunsten einer Pflichtversicherung mit Wahlrecht zwischen Sozial- und Privatversicherung 249 241 Gegen jegliche Kompetenz des Bundes für die neuen „Wahltarife“ in § 53 SGB V Isensee, NZS 2007, S. 449 (453). 242 Vgl. die rechtspolitischen Vorschläge für eine „Pauschalprämie“ bei Knappe/Arnold, Pauschalprämie; Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung, Bericht der Kommission, S. 161 ff.; Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2004/05, S. 387 ff. 243 Art. 1 Nr. 161 GKV-WSG (BGBl. I 2007, S. 378). Die Regelung tritt nach Art. 46 Abs. 10 GKV-WSG zum 1. Januar 2009 in Kraft. 244 Vgl. zum kassenindividuellen Zusatzbeitrag Schott, RVaktuell 2007, S. 410 (412 f.). 245 Mit ähnlicher Argumentation kritisch zur Vereinbarkeit der Kopfpauschale mit dem Europäischen Wettbewerbsrecht Kingreen, MedR 2004, S. 188 (190 f.). 246 Ähnlich Muckel, SGb 2004, S. 583 (587). 247 Sie ist doppelt so hoch wie unter den Pflichtversicherten; siehe Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 112 mit Fußn. 74; vgl. auch Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S. 492 f. 248 Siehe Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 110; in diesem Sinne auch Bieback, VSSR 2003, S. 1 (17); Boecken, Pflichtaltersversorgung, S. 262 f. 249 Siehe die dahingehenden Vorschläge der Projektgruppe Bürgerversicherung des SPDVorstandes, Bericht, S. 10 f., 22 ff.
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wäre von der Kompetenzordnung des Grundgesetzes gedeckt. Die Tätigkeit der staatlichen Versicherungsträger würde nach wie vor unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG fallen, soweit das Sozialversicherungsrecht weiterhin auf Risikoprüfungen verzichtet und einkommensbezogene Beiträge vorsieht, also ein soziales Auffangbecken für Personen bereitstellt, die aus finanziellen oder anderen Gründen keinen Zugang zur Privatversicherung finden. Die im Schrifttum 250 für diesen Fall befürchtete Flucht der zahlungskräftigen „guten Risiken“ aus der Sozialversicherung ist kein verfassungsrechtliches, sondern ein sozialpolitisches Problem. Zuzugeben ist, dass bei einem Ausscheiden der einkommensstarken Mitglieder das Beitragsaufkommen der Sozialversicherung sinken und der Bedarf nach Zuschüssen aus dem Bundeshaushalt steigen würde. Allerdings wurde bei der Abgrenzung zwischen Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 und Nr. 12 GG bereits festgestellt, dass die Einschlägigkeit des Kompetenztitels „Sozialversicherung“ nicht von einer bestimmten Quote der Beitragsfinanzierung abhängt. 251 Ob eine derartige Marktaufteilung zwischen Privat- und Sozialversicherung sozial- und finanzpolitisch sinnvoll ist, sei dahingestellt. Der Reiz eines derartigen Modells läge jedenfalls darin, dass in der Sozialversicherung nur noch die wirklich schutzbedürftigen Bevölkerungsgruppen versammelt wären. Betont sei, dass die vorstehenden Überlegungen nur über die kompetenzielle Zuordnung der freiwilligen Versicherung entscheiden sollen. Sie enthalten daher keine Aussagen über die materiellrechtliche Frage, ob die insbesondere auf der hohen Mitversicherungslast beruhende „Quer-Subventionierung“ der freiwillig Versicherten und ihrer Angehörigen durch Beiträge der Pflichtversicherten zu Wettbewerbsnachteilen der Privatversicherer führen, die mit deren Grundrechten und Grundfreiheiten oder dem EG-Wettbewerbs- und Beihilfenrecht 252 unvereinbar sind. d) „Sozialversicherung über Privatversicherer“ Die Kompetenztrennung zwischen Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und Nr. 12 GG wird nicht nur durch die freiwillige Sozialversicherung herausgefordert, sondern Abgrenzungsfragen ergeben sich auch bei der umgekehrten Tendenz, privatrechtliche Versicherungszweige als Pflichtversicherungen zu gestalten, in der sowohl die Abschluss- als auch die Gestaltungsfreiheit der Versicherungsparteien durch sozial motivierte Vorgaben des Gesetzgebers beschränkt werden.
250 Siehe nur Bieback, VSSR 2003, S. 1 (17); Boecken, Pflichtaltersversorgung, S. 262; Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S. 273; Kretschmer, in: Boecken/Hänlein/Kruse/Steinmeyer, Sicherung, S. 13 (22). 251 Siehe oben C. II. 3. b). 252 Eingehend dazu Giesen, VSSR 1996, S. 311 ff.; Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S. 492 ff.
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aa) Beispiele: die private Pflegeversicherung und der Basistarif in der privaten Krankenversicherung Als Prototyp, an der sich die bereits erwähnte 253 Kritik an einer „Sozialversicherung über Privatversicherer“ entzündet hat, gilt die private Pflegeversicherung. Sie wird zwar ausschließlich von privaten Anbietern und in zivilrechtlicher Handlungsform angeboten. Die Privatautonomie der Versicherungsunternehmen wird aber durch gesetzliche Vorgaben weitgehend zurückgedrängt. Es besteht nicht nur eine Versicherungspflicht (§ 23 Abs. 1 S. 1 SGB XI), sondern zugleich ein Kontrahierungszwang für die Versicherer (§ 110 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 1 SGB XI). Auch eine Beendigung des Vertrages durch Kündigung oder Rücktritt ist letzteren nicht möglich (§ 110 Abs. 4 SGB XI). Selbst der Marktzutritt der Versicherungsunternehmen wird gesetzlich erzwungen, weil die privaten Krankenversicherer verpflichtet sind, ihren Kunden zugleich Pflegeversicherungsverträge anzubieten (§ 23 Abs. 1 S. 1 SGB XI). 254 Ebenso wird die inhaltliche Gestaltungsfreiheit in erheblichem Maße reguliert. Gemäß § 110 Abs. 3 SGB XI dürfen private Pflegeversicherungsverträge: – keine Risikoausschlüsse und keine längeren Wartezeiten als in der gesetzlichen Pflegeversicherung enthalten (Nr. 2, Nr. 4); – Prämien nicht nach dem Geschlecht staffeln (Nr. 3); – für Versicherte, die bei Vertragsschluss bereits über eine Vorversicherungszeit von fünf Jahren in der privaten Kranken- oder Pflegeversicherung verfügen, keine Prämien vorsehen, die den Höchstbetrag zur gesetzlichen Pflegeversicherung übersteigen (Nr. 5). – Außerdem ist eine beitragsfreie Mitversicherung von Kindern gesetzlich vorgegeben (Nr. 6). Soweit die versicherte Person bei Einführung der privaten Pflegeversicherung im Jahr 1995 bereits Mitglied in der privaten Krankenversicherung war, wird die Vertragsfreiheit noch stärker eingeschränkt (§ 110 Abs. 1 Nr. 2 SGB XI). Die privaten Krankenversicherungsunternehmen werden daher in ihrer Funktion als Anbieter der Pflegeversicherung „in mancher Hinsicht fast schon wie Sozialversicherungsträger behandelt“ 255. Vergleichbares hat der Gesetzgeber im Zuge des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes für den privaten Krankenversicherungsmarkt beschlossen. Zum 1. Januar 2009 müssen alle privaten Krankenversicherungsunternehmen einen Basistarif anbieten, dessen Leistungen den Pflichtleistungen der gesetzlichen Krankenversiche253 254 255
Siehe oben B. II. 1. a). Kritisch zu diesem „Aufgabenoktroi“ Isensee, in: FS Gitter, S. 401 (412 f.) mit Fußn. 55. Igl, in: v. Maydell/Ruland, SRH, C. 17. Rn. 129.
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rung entsprechen (§ 12 Abs. 1 a S. 1 VAG 2009 256). 257 Außerdem werden die Privatversicherer einem Kontrahierungszwang unterworfen. Er gilt zugunsten der freiwilligen Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung, der Personen ohne Krankenversicherungsschutz, der beihilfeberechtigten Beschäftigen des öffentlichen Dienstes, soweit sie eines ergänzenden Krankenversicherungsschutzes bedürfen, sowie zugunsten der Personen, die bereits zu einem anderen Tarif einen Vertrag auf Krankenvollversicherung abgeschlossen haben (§ 12 Abs. 1 b S. 1 VAG 2009). Die Versicherungsprämie für den Basistarif darf den durchschnittlichen Höchstbeitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung nicht übersteigen (§ 12 Abs. 1 c S. 1 VAG 2009). bb) Kompetenzielle Zuordnung Am Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Bewertung der soeben skizzierten Regelungen sei betont, dass auch an dieser Stelle nur die Frage der Gesetzgebungskompetenz, insbesondere die Abgrenzung zwischen Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und Nr. 12 GG interessiert. Die nachstehenden Zeilen enthalten daher keine Aussagen über die materielle Rechtmäßigkeit von sozialstaatlich regulierten privaten Pflichtversicherungen. Weil Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG keinen spezifisch freiheitswahrenden Gehalt hat, kann die Kompetenzabgrenzung zwischen Privat- und Sozialversicherung nicht mit grundrechtsschützenden Aussagen verknüpft werden, die einem übermäßigen staatlichen Eingriff in die Privatautonomie der privaten Versicherungsunternehmen wehren sollen. 258 Im Hinblick auf die Kompetenzabgrenzung stellt sich zudem nur die über den Anwendungsbereich des Art. 72 Abs. 2 GG n. F. entscheidende Frage, ob eine soziale Privatpflichtversicherung unter Art.74 Abs. 1 Nr. 11 oder Nr. 12 GG fällt: tertium non datur. Da sowohl die Sozial- als auch die Privatversicherungskompetenz Personenund Erwerbsrisiken abdecken 259, besteht auf diesem sachlich-inhaltlichen Regelungsfeld kein Raum für eine ausschließliche Länderkompetenz. 260 Die Annahme, dass die private Pflegeversicherung vollständig durch das Raster der Bundeskompetenzen falle 261, kann daher nicht überzeugen. Der übermäßige bundesgesetzliche Eingriff in die Privatautonomie der Versicherungsunternehmen ist kein Kompetenz-, sondern ein Grundrechtsproblem.
256 Art. 44 Nr. 5 Buchst. b GKV-WSG (BGBl. I 2007, S. 378); siehe zum Inkrafttreten Art.46 Abs. 10 GKV-WSG. 257 Vgl. dazu Kingreen, ZESAR 2007, S. 139 (145 f.); kritisch Boetius, VersR 2007, S. 431 ff.; Sodan, Gesundheitsreform 2007, S. 76 ff.; ders., NJW 2006, S. 3617 (3619 f.). 258 Siehe oben B. II. 4. 259 Siehe oben I. 260 A. A. Isensee, in: FS Gitter, S. 401 (409 ff.); ders., NZS 2007, S. 449 (453); Thüsing, in: Kämmerer/Thüsing, Vertragsfreiheit, S. 28. 261 So Isensee, in: FS Gitter, S. 401 (409 ff.).
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§ 3 Abgrenzung von anderen Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes
In seiner Entscheidung zur privaten Pflegeversicherung im Jahr 2001 hat das Bundesverfassungsgericht zutreffend darauf hingewiesen, dass weder Pflichtversicherungen noch eine Regulierung des Vertragsinhalts der Privatversicherung fremd sind. 262 So kannte das Privatversicherungsrecht bereits vor der Einführung der Pflegeversicherung eine Vielzahl von Pflichtversicherungen. 263 Gesetzliche Vorgaben über den Leistungskatalog finden sich etwa in Form der Mindestversicherungssummen der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (vgl. die Anlage zu § 4 Abs. 2 PflVG). Da derartige Vorgaben die Preis-Konkurrenz der Versicherungsunternehmen im Hinblick auf die Kalkulation des günstigsten Angebots nicht unterbinden, ändern die Regelungen nichts daran, dass die Versicherungsanbieter in einem gewinnorientierten Wettbewerb zueinander stehen. Daher sind private Pflichtversicherungen mit dem Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG zugrunde liegenden Verständnis der „Wirtschaft“ 264 ohne Weiteres vereinbar. Auch eine soziale Umschichtung des Prämienaufkommens ist aufgrund der historisch gewachsenen Ausgestaltung des Privatversicherungsrechts nicht ausgeschlossen. Die generelle Qualifizierung der Privatversicherung als genossenschaftliche „Gefahrengemeinschaft“ 265 ist zwar abzulehnen, da die einzelnen Versicherten grundsätzlich nur Vertragspartner des Versicherungsunternehmens werden, aber untereinander keine rechtlichen Bindungen aufbauen. 266 Andererseits sind genossenschaftliche Gestaltungen jedoch auch nicht unzulässig. Das zeigt bereits die gesellschaftsrechtliche Konstruktion des Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit 267, bei der die Kunden zugleich auch Mitglieder des Versicherungsunternehmens werden (vgl. § 20 VAG). Außerdem steht es den Vertragsparteien frei, sich auf soziale Vertragsgestaltungen zu einigen. 268 Die Prämienkalkulation und -höhe unterliegt im Privatversicherungsrecht grundsätzlich in vollem Umfang der privatautonomen Gestaltung. 269 Anderes gilt nur für einzelne, stärker regulierte Versicherungszweige, etwa für die substitutive Krankenversicherung (§§ 12 ff. VAG i.V. m. der Kalkulationsverordnung und der Überschussverordnung). 270 Daher ist die Kalkulation der Prämie nach dem individuellen Risiko ebenso wie die Versicherungstechnik des Anwartschaftsdeckungsverfahrens grundsätzlich nur eine betriebswirtschaftliche Regel ohne rechtlich bindende Geltungskraft. 271 Zudem ist die soziale Umverteilung Siehe BVerfGE 103, S. 197 (218 f.). Siehe dazu die Übersicht bei J. Prölss, in: E. Prölss/Martin, VVG, Vorb. IV. 264 Siehe dazu oben 1. 265 In diesem Sinne etwa Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S. 178; J. Prölss, in: E. Prölss/Martin, VVG, Vorb. II. Rn. 1. 266 Wie hier Hase, Versicherungsprinzip, S. 96 ff.; Weyers/Wandt, Versicherungsvertragsrecht, Rn. 99. 267 Eingehend dazu Benkel, Versicherungsverein. 268 Siehe Butzer, Fremdlasten, S. 200. 269 Siehe Hahn, in: Beckmann/Matuschke-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, § 12 Rn. 12; E. Hofmann, Privatversicherungsrecht, § 11 Rn. 15. 270 Siehe dazu Weyers/Wandt, Versicherungsvertragsrecht, Rn. 863 f. 271 Siehe Butzer, Fremdlasten, S. 199 f., 218. 262 263
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des Prämienaufkommens innerhalb der Versichertengemeinschaft der Privatversicherung nicht nur eine theoretische Möglichkeit, sondern findet realiter auch statt. So müssten etwa die älteren Mitgliederkohorten der privaten Krankenversicherung trotz der gesetzlich vorgegebenen Altersrückstellungen (12 a VAG) 272 mit deutlich höheren Prämienanstiegen im Alter rechnen, wenn nicht die Prämien der jüngeren Kohorten teilweise auch zur Finanzierung der Krankheitskosten der älteren Versicherten verwendet würden. 273 All das spricht ebenso wie die hier vertretene strikte Trennung zwischen der Kompetenzauslegung und dem Grundrechtsschutz der privaten Versicherungsunternehmen dafür, auch sozial regulierte Pflichtversicherungen wie die private Pflegeversicherung und den Basistarif unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG zu subsumieren. 274 Davon ist jedoch eine Ausnahme zu machen: Die Schwelle zum Kompetenzbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ist überschritten, soweit der Gesetzgeber privaten Unternehmen eine Rechtsmacht überträgt, die nur als hoheitliches Handeln eingeordnet werden kann. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass Art. 87 Abs. 2 GG eine Beleihung privater Träger mit Aufgaben der Sozialversicherung zulässt. 275 Die Privatversicherung mutiert mit der Beleihung zugleich kompetenzrechtlich zur Sozialversicherung. Das wäre etwa der Fall, wenn der Gesetzgeber Privaten die Befugnis verleihen würde, einzelnen Personen ein Versicherungsverhältnis gegen ihren Willen aufzuzwingen oder den Beitragseinzug auch ohne gerichtlichen Titel mit Zwangsmitteln durchzusetzen. Naheliegend ist eine hoheitliche Einordnung der Versicherungstätigkeit auch bei dem politischen Vorschlag 276, das gesetzliche Krankenversicherungsrecht mehr oder weniger global auf die privaten Krankenversicherungsunternehmen anzuwenden. Letztere sollen danach zu einem Kontrahierungszwang ohne Risikoprüfung sowie zu einer einkommensbezogenen Beitragsbemessung verpflichtet werden, den selben Leistungskatalog wie die gesetzliche Krankenversicherung anbieten und in den kassenübergreifenden Risikostrukturausgleich einbezogen werden. Im Ergebnis läuft dieser Plan darauf hinaus, die privaten Versicherungsunternehmen in den Kreis der öffentlich-rechtlichen Sozialversicherungsträger zu inkorporieren. Kompetenzrechtlich ist damit der Anwendungsbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG eröffNäher dazu Weyers/Wandt, Versicherungsvertragsrecht, Rn. 862 ff. Siehe Wallrabenstein, SGb 2004, S. 24 (26); vgl. zu den solidarischen Elementen im privaten Krankenversicherungsrecht auch Jaeger, NZS 2003, S. 225 (229 f.). 274 Wie hier BVerfGE 103, S. 197 (216 ff.); Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 36; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 49; Musil, NZS 2008, S. 113 (115); Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 74 Rn. 100; Stettner, in: H. Dreier, GG II (2007), Art. 74 Rn. 65; Umbach/Clemens, in: dies., MAK II, Art. 74 Rn. 54; a. A. Thüsing, in: Kämmerer/Thüsing, Vertragsfreiheit, S. 19 ff.; einschränkend auch Rengeling/Szczekalla, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 Rn. 138; Schmidt-De Caluwe, SDSRV 51 (2004), S. 29 (43 ff.); in Bezug auf den Basistarif Boetius, VersR 2007, S. 431 (433 f.). 275 Siehe oben II. 276 Siehe Projektgruppe Bürgerversicherung des SPD-Vorstandes, Bericht, S. 10. 272 273
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net 277, organisationsrechtlich eine Beleihung erforderlich. Aufgrund der vollständigen Erdrosselung der freien Berufsausübung der Privatversicherungsunternehmen kann der Vorschlag allerdings kaum mit Art. 12 GG in Einklang gebracht werden. 278
E. Zusammenfassung I. Gründe für die gegenseitige Abgrenzung von Bundeskompetenzen Die herrschende Auffassung im Schrifttum ist fixiert auf die Abgrenzung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG von den Bundeszuständigkeiten für die öffentliche Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) und für das privatrechtliche Versicherungswesen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG). Ein verfassungsrechtlicher Grund für diese Kompetenzunterscheidung besteht aber erst seit der Föderalismusreform. Da die Sozialversicherungskompetenz nicht mehr in den Anwendungsbereich des Art. 72 Abs. 2 GG fällt, muss sie von der Fürsorge- und der Privatversicherungszuständigkeit geschieden werden, welche nach wie vor dem bundesstaatlichen Erforderlichkeitsvorbehalt unterliegen. Hingegen kennt das Grundgesetz keine generelle Pflicht zur Trennung der Bundeszuständigkeiten. Thematische Überschneidungen zwischen einzelnen Bundeskompetenzen hat der Verfassungsgeber wissentlich in Kauf genommen. Sie dürfen daher nicht durch eine betont enge Auslegung der einzelnen Zuständigkeitstitel beseitigt werden. Außerdem hat Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG auch keine materielle programmatische, garantierende oder grundrechtsschützende Funktion, die eine Abgrenzung von anderen Zuständigkeitszuweisungen gebietet. Der Kompetenztitel enthält weder eine institutionelle Garantie der Sozialversicherung, noch schreibt er vor, das Rechtsinstitut der Sozialversicherung inhaltlich nach anderen Prinzipien zu gestalten als die Kompetenz-„Typen“ der öffentlichen Fürsorge oder des privatrechtlichen Versicherungswesens. Aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG kann insbesondere kein grundrechtsschützendes „Versicherungsprinzip“ rezipiert werden, welches eine Finanzierung von Fremdlasten aus dem Beitragsaufkommen der Sozialversicherung verbietet. Ebenso ergibt sich aus der Unterscheidung zwischen Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und Nr. 12 GG keine „bipolare“ Versicherungsordnung, die eine Beseitigung oder übermäßige Regulierung des privaten Versicherungsmarktes untersagt.
277 278
Ebenso Bieback, Bürgerversicherung, S. 166 f. A. A. Bieback, Bürgerversicherung, S. 168 ff.
E. Zusammenfassung
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II. Die Abgrenzung der Sozialversicherungskompetenz von der Zuständigkeit für die öffentliche Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) Bei der über die Anwendung des Art. 72 Abs. 2 GG n. F. entscheidenden Abgrenzung zwischen Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 und Nr. 12 GG ist zunächst zu konstatieren, dass sich die Regelungsbereiche sachlich-inhaltlich überschneiden. Personen- und Erwerbsrisiken werden sowohl von der Sozialversicherungszuständigkeit als auch von der Kompetenz für die öffentliche Fürsorge erfasst. Da Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG keine programmatische oder grundrechtsschützende Funktion hat, kann diese Überlagerung weder durch eine Unterscheidung zwischen sozialhilfeähnlicher Grundsicherung (Fürsorge) und „gehobener“ Lebensstandardsicherung (Sozialversicherung) noch durch eine Beschränkung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG auf „versicherbare“ zufällige Risiken beseitigt werden. Eine vollständige Trennung der beiden Bundeszuständigkeiten gelingt daher nur auf der organisationsrechtlichen Ebene. Ausgangspunkt ist insoweit die Feststellung, dass Art. 72 Abs. 2 GG n. F. im Grenzbereich zwischen Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 und Nr. 12 GG auch eine finanzverfassungsrechtliche Funktion hat. Er unterstellt die aus Ländersicht „teurere“, da dem Grundsatz des Art. 104 a Abs. 1 GG unterfallende Fürsorgegesetzgebung des Bundes strengeren Voraussetzungen als die Sozialversicherungsgesetzgebung, für die gemäß Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG alleine der Bundeshaushalt aufkommen muss. Die Gesetzgebungszuständigkeit aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG darf daher jedenfalls nicht weiter reichen als die Finanzierungszuständigkeit aus Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG. Organisationsrechtlich beschränkt sich die finanzielle Verantwortung des Bundes und somit auch die Gesetzgebungskompetenz für die Sozialversicherung auf Verwaltungsträger der mittelbaren Staatsverwaltung. Umfänglich erlaubt Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG im Falle der Arbeitslosenhilfe auch eine Vollfinanzierung aus dem Bundeshaushalt. Jedoch wird die Arbeitslosenhilfe in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nicht erwähnt. Sie ist mit dem ursprünglichen Wortlaut des Art. 120 GG „Arbeitslosenfürsorge“ und fällt daher unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG. Die Gesetzgebungskompetenz für die Sozialversicherung ist somit enger gefasst als die Finanzierungskompetenz und erfasst ausschließlich soziale Sicherungssysteme, die zumindest teilweise durch Beiträge finanziert werden. Mangels einer programmatischen Funktion gebietet Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG allerdings kein Überwiegen der Beitrags- vor der Steuerfinanzierung, so dass auch eine steuerfinanzierte Grundsicherung mit einem kleinen Beitragssockel von der Kompetenzvorschrift gedeckt wäre. Nur eine rein steuerfinanzierte Versorgung fällt unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG.
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§ 3 Abgrenzung von anderen Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes
III. Die Abgrenzung der Sozialversicherungskompetenz von der Zuständigkeit für das privatrechtliche Versicherungswesen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) Die Kompetenzbereiche von Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und Nr. 12 GG überschneiden sich ebenfalls sachlich-inhaltlich, weil auch die Bundeszuständigkeit für das privatrechtliche Versicherungswesen Personenschäden und den Ausfall des Erwerbseinkommens erfasst. Das daraus resultierende Abgrenzungsproblem kann durch die Unterscheidung zwischen staatlichen und privaten Versicherungsträgern nicht abschließend gelöst werden. Zum einen beantwortet diese Klassifizierung noch nicht die Frage, ob eine erwerbswirtschaftliche Tätigkeit von Verwaltungsträgern unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 oder Nr. 12 GG fällt. Zum anderen lässt Art. 87 Abs. 2 GG nach umstrittener aber zutreffender Auffassung auch eine Beleihung privater Rechtsträger mit Aufgaben der Sozialversicherung zu. Synchron zu der Unterscheidung der Bundeszuständigkeit für das privatrechtliche Versicherungswesen von der ausschließlichen Länderkompetenz für öffentlichrechtliche Versicherungsmonopole sind auch Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und Nr. 12 GG grundsätzlich durch die Unterscheidung zwischen Verwaltungsmonopolen und Wettbewerbsmärkten voneinander abzugrenzen. Staatliche Versicherungsmonopole fallen daher stets unter die Sozialversicherungskompetenz, soweit sie sachlich-inhaltlich nicht Risiken bewältigen, für die ausschließlich die Länder zuständig sind. Soweit Verwaltungsträger an einem gewinnorientierten Wettbewerb teilnehmen, zu dem auch private Anbieter zugelassen sind, ist dagegen der Anwendungsbereich von Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG eröffnet. Nach dieser Grundregel fallen jedenfalls echte Verwaltungsmonopole unter Art.74 Abs. 1 Nr. 12 GG. Unerheblich sind insoweit die Rechtsform und die Versicherungstechnik, in der die staatliche Zwangsversicherung betrieben wird. Die herrschende Auffassung, nach der die Bundeszuständigkeit aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nur bei einer sozialen Umschichtung des Beitragsaufkommens eingreift, überzeugt nicht. Sie vermengt in unzulässiger Weise Fragen der Gesetzgebungszuständigkeit mit Aspekten der materiellen Rechtfertigung des Versicherungszwangs. Das gilt auch für die vom Bundessozialgericht vertretene Ansicht, dass Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur wettbewerbsrechtlichen Unternehmens-Eigenschaft von staatlichen Versicherungsmonopolen auszulegen sei. Ebenfalls von der Sozialversicherungskompetenz gedeckt ist ein Mitgliederwettbewerb unter den Sozialversicherungsträgern, wie er im Krankenversicherungsrecht besteht. Soweit private Anbieter von der Konkurrenz ausgeschlossen sind, ändert der Kassenwettbewerb im Ergebnis nichts an dem staatlichen Monopol. Schwierigkeiten bereitet die kompetenzielle Zuordnung der freiwilligen Sozialversicherung. Zwar beruht sie nicht auf einem staatlichen Monopol, was dafür spricht, sie Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG zuzuordnen. Doch hat die Möglichkeit der freiwilligen Versicherung eine Tradition, die bis zur Urgesetzgebung für die Arbeiter-
E. Zusammenfassung
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versicherung zurückreicht, und wird deshalb begrifflich der Sozialversicherung zugerechnet. Daher fällt die freiwillige Versicherung jedenfalls dann unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, wenn sie nicht in eine gewinnorientierte Preiskonkurrenz zur Privatversicherung tritt, sondern als soziale Auffangversicherung für Personen konzipiert ist, die wegen finanzieller Überforderung oder als „schlechte Risiken“ keinen Zugang zur Privatversicherung haben. Ist das der Fall, muss die freiwillige Sozialversicherung auch keine Randerscheinung bleiben. Die Flucht der guten Risiken ist keine Frage der Gesetzgebungskompetenz, sondern der Sozial- und Finanzpolitik. Da Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG keine Mindestquote der Beitragsfinanzierung gebietet, wäre es kompetenzrechtlich unerheblich, wenn eine für alle Mitglieder freiwillige Versicherung überwiegend aus Steuermitteln finanziert werden müsste. Da Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG keine grundrechtsschützenden Aussagen zugunsten der privaten Versicherungsunternehmen trifft, fallen auch sozial regulierte Pflichtversicherungen wie die gesetzliche Pflegeversicherung oder der Basistarif in der privaten Krankenversicherung unter den Kompetenztitel. Anderes gälte nur für eine gesetzliche Ausgestaltung der Versicherungsverhältnisse, die den privaten Versicherungsunternehmen hoheitliche Befugnisse gegenüber ihren Kunden einräumen würde. Die Privatversicherungsunternehmen würden damit funktional Teil des staatlichen Sozialversicherungssystems. Diese mit Art. 87 Abs. 2 GG vereinbare Beleihung würde in den Anwendungsbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG fallen.
§ 4 Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Abgabenkompetenz und die Abgrenzung des Sozialversicherungsbeitrags von der Steuer Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG stellt nach allgemeiner Auffassung nicht nur eine Sachzuständigkeit, sondern zugleich auch eine Abgabenkompetenz dar, auf deren Grundlage der Bund die Erhebung des Sozialversicherungsbeitrags regeln darf (A.). Damit wird der Sozialversicherungskompetenz eine finanzverfassungsrechtliche Funktion zugewiesen, die es erfordert, das Verhältnis des Zuständigkeitstitels zu den Art. 104 a ff. GG zu klären. Insbesondere müssen Sozialversicherungsbeitrag und Steuer begrifflich voneinander abgegrenzt werden – unter anderem, weil der zehnte Abschnitt des Grundgesetzes eigene Gesetzgebungskompetenzen für die Steuererhebung enthält. Eng mit der Abgrenzung von Sozialversicherungsbeitrag und Steuer verbunden ist die Frage, ob die Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen ähnlich wie etwa die Erhebung von Sonderabgaben eine begründungsbedürftige Ausnahme von der Finanzierung des Staates durch Steuern darstellt und daher einer besonderen finanzverfassungsrechtlichen Legitimation bedarf. Da dies äußerst umstritten ist, werden der Meinungsstand und der dogmatische Hintergrund der verfassungsrechtlichen Diskussion, die Lehre vom normativen Steuerstaat, zunächst dargestellt (B.), bevor sich eigene Überlegungen zur finanzverfassungsrechtlichen Stellung des Sozialversicherungsbeitrags anschließen (C.).
A. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Sonderfall der Verknüpfung von Sach- und Abgabenkompetenz Nach ganz herrschender Auffassung 1 handelt es sich bei Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG um den Sonderfall einer Sachzuständigkeit, die zugleich eine Abgabenkompetenz in 1 Siehe BVerfGE 14, S. 312 (318); 75, S. 108 (148); 81, S. 156 (185); 93, S. 319 (344); 113, S. 167 (195); 114, S.196 (221); BSGE 81, S. 276 (284); BSG, NZS 2000, S. 139 (140); Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 41; J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 33; Bieback, VSSR 2003, S. 1 (23); Brall/Voges, Bürgerversicherung, S. 54 f.; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 59; Gössl, Sozialversicherung, S. 48 ff.; Hase, Versicherungsprinzip, S. 172; Heun, in: H. Dreier, GG III, Art. 105 Rn. 23; Isensee, SDSRV 35 (1992), S. 7 (13); Jachmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 105 Rn. 8; F. Kirchhof, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, Besonderes Verwaltungsrecht II, § 20 Rn. 254; P. Kirchhof, in: Isensee/ P. Kirchhof, HStR V, § 119 Rn. 110; Muckel, SGb 2004, S. 583 (588); Selmer, Steuerinterventionismus, S. 188; Spellbrink, Soziale Sicherheit 1996, S. 423 (425); S. Weber, Krankenversi-
A. Verknüpfung von Sach- und Abgabenkompetenz
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sich trägt. Zusammen mit dem Sachgebiet „Sozialversicherung“ darf der Bund daher auch die Erhebung des Sozialversicherungsbeitrags regeln. Der Sozialversicherungsbeitrag wird allgemein als Abgabe sui generis 2 qualifiziert, die sich nicht nur von der Steuer, sondern auch von den anderen nichtsteuerlichen Abgaben, insbesondere Gebühren und Beiträgen (sog. Vorzugslasten) sowie Sonderabgaben unterscheidet 3. In welchem Maße sich der Sozialversicherungsbeitrag von anderen nichtsteuerlichen Abgaben abhebt, kann an diesem Punkt der Abhandlung noch nicht umfassend beantwortet werden, da damit auch Fragen der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen verbunden sind, die abschließend erst in § 5 behandelt werden. 4 Die Einordnung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Abgabenkompetenz verdient aber Zustimmung. Zwar wird der Sozialversicherungsbeitrag als eigenständige Abgabenform weder in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG noch an anderer Stelle des Grundgesetzes ausdrücklich erwähnt. Jedoch wurde bereits darauf hingewiesen, dass die in Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG ausgesprochene Beschränkung der Steuerfinanzierung auf einen Zuschussanteil voraussetzt, dass die Kosten der Sozialversicherung zumindest teilweise durch eine nichtsteuerliche Abgabe gedeckt werden. 5 Da die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für diese Abgabe nirgendwo, insbesondere nicht in der Finanzverfassung ausdrücklich geregelt ist, kommt alleine Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Anknüpfungspunkt für die Gesetzgebungszuständigkeit in Betracht. 6
cherung, S. 210 f.; Werner, Leistungsfähigkeit, S. 99; Wieland, VSSR 2003, S. 259 (262); a. A. nur Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 256. 2 Siehe Gössl, Sozialversicherung, S. 52; Hase, Versicherungsprinzip, S. 171; Heun, in: H. Dreier, GG III, Art. 105 Rn. 23; Isensee, Umverteilung, S. 41 f.; F. Kirchhof, in: Isensee/ P. Kirchhof, HStR V, §125 Rn.23; ders., in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, Besonderes Verwaltungsrecht II, § 20 Rn. 256; P. Kirchhof, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR V, § 119 Rn. 110 ff.; Siekmann, in: Sachs, GG, vor Art. 104 a Rn. 127; S. Weber, Krankenversicherung, S. 211. 3 Siehe zur Abgrenzung von anderen Abgabenformen Butzer, Fremdlasten, S. 277 ff.; Hase, Versicherungsprinzip, S. 172 ff. mit zahlreichen Nachweisen; Heun, in: H. Dreier, GG III, Art.105 Rn.23; Isensee, Umverteilung, S.31 ff.; Siekmann, in: Sachs, GG, vor Art.104 a Rn.126. 4 Siehe zur Frage, ob die Kriterien, die zur grundrechtlichen Rechtfertigung von anderen nichtsteuerlichen Abgaben entwickelt worden sind, auch zur Legitimierung des Sozialversicherungsbeitrags herangezogen werden dürfen, unten § 5 C. I. 1. c). 5 Siehe oben § 3 C. II. 3. b). 6 Fernliegend wäre die Annahme, dass nach Art. 70 Abs. 1 GG die Länder für die Regelung des Sozialversicherungsbeitrags zuständig seien. Der Sozialversicherungsbeitrag war seit der Errichtung der Arbeiterversicherung in den 1880er Jahren reichsrechtlich geregelt. Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes enthält keine Hinweise darauf, dass der Verfassungsgeber mit dieser Kompetenztradition brechen wollte. Bei einer Länderkompetenz für das Abgabenrecht der Sozialversicherung wäre auch die Regelung des Art.120 Abs.1 S. 4 GG, nach dem der Bund die alleinige Zuständigkeit für die steuerliche Mitfinanzierung der Sozialversicherung hat, kaum verständlich.
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§ 4 Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Abgabenkompetenz
B. Der Meinungsstreit über die Abgrenzung von Sozialversicherungsbeitrag und Steuer Mit der Anerkennung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Abgabenkompetenz stellt sich das Problem, wie diese Abgabe von der in den Art. 104 a ff. GG geregelten Steuer abzugrenzen ist. Das ist zunächst für die Frage von Bedeutung, aus welcher Vorschrift der Bund die Gesetzgebungszuständigkeit für eine Abgabenregelung reklamieren kann. Die Finanzverfassung regelt in Art. 105 GG für die Steuergesetzgebung eine eigene Zuständigkeitsaufteilung zwischen Bund und Ländern, die gegenüber den Art. 70 ff. GG eine abschließende Sonderregelung darstellt. 7 Darüber hinaus enthält der zehnte Abschnitt des Grundgesetzes auch eigenständige Vorschriften über die Ertragshoheit (Art. 106, 107 GG) und die Abgabenverwaltung (Art. 108 GG), die exklusiv für die Steuer gelten, während die Ertragskompetenz für den Sozialversicherungsbeitrag bei den in Art. 87 Abs. 2 GG geregelten Verwaltungsträgern liegt 8. Die Abgrenzung von Sozialversicherungsbeitrag und Steuer ist im Einzelnen sehr umstritten 9, wobei die begriffliche Unterscheidung fließend in Fragen der finanzverfassungsrechtlichen und grundrechtlichen Legitimation nichtsteuerlicher Abgaben übergeht. Der verfassungsrechtliche Steuerbegriff kann als geklärt gelten und ist nach allgemeiner Auffassung 10 weitgehend mit dem historisch gewachsenen Steuerbegriff der Abgabenordnung gleichzusetzen: Demnach ist die Steuer eine hoheitlich auferlegte, einmalige oder laufende Geldleistung, die von einem erhebungsberechtigten Gemeinwesen ohne Gegenleistung erhoben wird und der Deckung des allgemeinen Finanzbedarfs des Staates dient. Im Gegensatz dazu konnte bis heute keine Übereinkunft über eine Definition des Sozialversicherungsbeitrags erzielt werden. Das Bundesverfassungsgericht und ein Teil der Lehre vertreten einen weiten Begriff des Sozialversicherungsbeitrags, der kaum Aussagen über die Legitimation der Abgabenerhebung trifft (I.). Dagegen nehmen Teile des Schrifttums an, dass die Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen vor der Finanzverfassung einer be7 Siehe BVerfGE 108, S. 186 (212); Heun, in: H. Dreier, GG III, Art. 105 Rn. 44; Martini, Verteilungslenkung, S. 473; Rozek, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 70 Rn. 9; J.-P. Schneider, in: Wassermann, AK, Art. 105 Rn. 3; Siekmann, in: Sachs, GG, Art. 105 Rn. 4; Vogel/Walter, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 105 Rn. 62; Wendt, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 104 Rn. 17. 8 Näher zur Ertragskompetenz der Sozialversicherungsträger unten C. II. 9 Eingehend dazu mit Darstellung der unterschiedlichen Positionen und zahlreichen Nachweisen Butzer, Fremdlasten, S. 258 ff. 10 BVerfGE 3, S.407 (435); 49, S.343 (353 ff.); 55, S.274 (99) mit weiteren Nachweisen; 65, S. 325 (344); 72, S.330 (433); Butzer, Fremdlasten, S.264; Heun, in: H. Dreier, GG III, Art.105 Rn. 13; Jachmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 105 Rn. 3; Kube, Finanzgewalt, S. 119; Martini, Verteilungslenkung, S. 472 f.; Schmehl, Äquivalenzprinzip, S. 69 f.; Schuppert, in: Umbach/Clemens, MAK II, Art. 105 Rn. 18; Siekmann, in: Sachs, GG, vor Art. 104 a, Rn. 74 ff.; Spellbrink, Soziale Sicherheit 1996, S. 423 (424).
B. Sozialversicherungsbeitrag und Steuer
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sonderen Rechtfertigung bedarf. Diese Rechtfertigung soll durch eine enge Auslegung des Begriffs erreicht werden, die den Sozialversicherungsbeitrag entweder der Sonderabgabe oder der Abgabenform der Vorzugslast annähert (II.). Den dogmatischen Hintergrund dieser Debatte bildet die inzwischen herrschende Lehre vom normativen Steuerstaat, die aus den Art. 104 a ff. GG folgert, dass die Finanzierung des Staates durch Steuern die Regel, die Finanzierung durch andere Abgaben dagegen die rechtfertigungsbedürftige Ausnahme darstellt (III.).
I. Die Lehre vom weiten Begriff des Sozialversicherungsbeitrags Nach dem auch vom Bundesverfassungsgericht vertretenen weiten Begriff des Sozialversicherungsbeitrags unterscheidet sich dieser durch drei Merkmale von der Steuer: 11 – Das Abgabenaufkommen des Sozialversicherungsbeitrags ist rechtlich und faktisch vom Steueraufkommen getrennt, weil die Ertragskompetenz für den Sozialversicherungsbeitrag nicht bei dem numerus clausus der in Art. 106 GG genannten Steuergläubiger (Bund, Länder, Gemeinden, Gemeindeverbände) liegt, sondern den in mittelbarer Staatsverwaltung organisierten Sozialversicherungsträgern zusteht; – Der Zweck des Sozialversicherungsbeitrags ist auf die Finanzierung von gesetzlich festgelegten sozialen Leistungen beschränkt, die sachlich-inhaltlich vom Kompetenzbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG erfasst werden, während die Steuererhebung im Regelfall 12 keinerlei Zweckbindung unterliegt; – Der Sozialversicherungsbeitrag kann anders als die Steuer nicht bei jedermann erhoben werden, sondern nur bei Versicherten, denen im Gegenzug zur Beitragsleistung Ansprüche auf Sozialversicherungsleistungen eingeräumt werden, sowie bei sonstigen Beteiligten, soweit ein sachorientierter Anknüpfungspunkt vorliegt, der eine Beitragsleistung zugunsten Dritter rechtfertigt. Nach dieser Auffassung spielt die Rechtfertigung der Abgabenerhebung für die finanzverfassungsrechtliche Definition des Sozialversicherungsbeitrags kaum eine Rolle. Die Beitragspflicht der Versicherten setzt zwar voraus, dass ihnen im Gegenzug Leistungsansprüche eingeräumt werden; ob diese den wirtschaftlichen Wert der Beitragslast erreichen, ist aber unerheblich. Auch die Heranziehung von sonstigen 11 Siehe BVerfGE 75, S. 108 (148 f.); BSG, NZS 2000, S. 139 (140); Butzer, Fremdlasten, S. 126, 292 ff.; Gössl, Sozialversicherung, S. 56 ff.; ähnlich Bieback, VSSR 2003, S. 1 (23 f.); ders., Soziale Sicherheit 2003, S.416 (418 f.); ders., Bürgerversicherung, S. 62 f.; Muckel, SGb 2004, S. 583 (588 f.); Werner, Leistungsfähigkeit, S. 99 ff.; vgl. auch Osterloh, NJW 1982, S. 1617 (1619 f. mit Fußn. 46). 12 Anders verhält es sich allerdings bei der grundsätzlich zulässigen Zwecksteuer; siehe dazu unten C. IV. 3.
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§ 4 Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Abgabenkompetenz
Beteiligten zur Abgabenleistung ist vom Bundesverfassungsgericht bisher großzügig gehandhabt worden. Neben den traditionell üblichen Arbeitgeberbeiträgen hat das Gericht auch die Künstlersozialabgabe der Vermarkter von künstlerischen und publizistischen Leistungen (§§ 23 ff. KSVG) als Sozialversicherungsbeitrag eingeordnet, da zwischen Künstlern und Vermarktern aufgrund ihrer in der Lebenswirklichkeit bestehenden wechselseitigen Angewiesenheit ein integrierter Arbeits- und Verantwortungszusammenhang bestehe. 13 Fragen der Beitragsgerechtigkeit haben somit nach dem weiten Beitragsbegriff für die Auslegung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Abgabenkompetenz nur eine geringe Bedeutung.
II. Die Lehre vom engen Beitragsbegriff Dagegen nimmt ein Teil der Lehre an, dass die Erhebung des Sozialversicherungsbeitrags bereits auf der kompetenziellen Ebene einer besonderen Rechtfertigung bedarf, welche in die Begriffsbildung einfließen muss und sich in einer engen Definition des Sozialversicherungsbeitrags niederschlägt. Diese Auffassung wird in zwei Varianten vertreten. Nach der ersten Variante ist der Sozialversicherungsbeitrag von der Steuer nur unterscheidbar, soweit er von einer in sich sozial homogenen Bevölkerungsgruppe erhoben und ausschließlich für diese verwendet wird. 14 Insbesondere dürfe er nicht von der Gesamtbevölkerung erhoben werden, um von der Steuer unterscheidbar zu bleiben; eine Volksversicherung sei daher ausgeschlossen. 15 Die soziale Gruppenhomogenität wird etwa bei der Zugehörigkeit zur gleichen Berufsgruppe, der Tätigkeit im selben Wirtschaftssektor oder bei der Beziehung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber bejaht. 16 Regelmäßig werden die abhängig Beschäftigten mit geringen und mittleren Einkommen als die typische sozial homogene Mitgliedergruppe der BVerfGE 75, S. 108 (149). Siehe Isensee, Umverteilung, S. 41, 49 ff.; ders., NZS 2004, S. 393 (396); ebenso Gohla, Risikostrukturausgleich, S. 88 ff.; Kim, Sonderabgaben, S. 111; P. Kirchhof, in: Isensee/ P. Kirchhof, HStR V, § 119 Rn. 111 (insoweit noch prägnanter: ders., ebenda IV, Voraufl. 1999, § 88 Rn. 275); W. Leisner, Sozialversicherung, S.93 ff.; Sodan, Leistungserbringer, S. 332 f.; offenlassend für die Beiträge der Versicherten, ablehnend für die fremdnützigen Beiträge von Arbeitgebern und anderen Beteiligten BVerfGE 75, S. 108 (157 f.); insgesamt ablehnend Bieback, VSSR 2003, S. 1 (22 ff.); ders., Soziale Sicherheit 2003, S. 416 (417 ff.); Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S. 260 f.; Kloepfer, VSSR 1974, S. 156 (157 ff.); Papier, AöR 100 (1975), S. 640 (644); Schnapp/M. Kaltenborn, Friedensgrenze, S. 21 ff. 15 So Isensee, Umverteilung, S. 41, 52; ders., SDSRV 35 (1992), S. 7 (22 f.); ders., NZS 2004, S. 393 (396 f.); Jachmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 105 Rn. 22; Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art.74 Rn. 172; Papier, Rahmenbedingungen, S.13; Rolfs, Versicherungsprinzip, S.105 f.; mit anderer Begründung W. Leisner, Sozialversicherung, S.106 ff.; Scholz, in: FS Sieg, S. 507 (515). 16 So Isensee, Umverteilung, S. 18; kritisch dagegen zu einer natürlich gewachsenen Solidargemeinschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 254. 13 14
B. Sozialversicherungsbeitrag und Steuer
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Sozialversicherung bezeichnet. 17 Dahinter steht die Intention, die soziale Umverteilung innerhalb des Systems der Sozialversicherung auf Bevölkerungsgruppen zu beschränken, die sich in einer vergleichbaren wirtschaftlichen Interessenlage befinden oder gemeinsam zu einer bestimmten historisch gewachsenen gesellschaftlichen Gruppe gehören. Dagegen kann eine gesamtstaatliche Umverteilung nach dieser Auffassung nur aus Steuermitteln finanziert werden. 18 Zudem dürfen aus dem Beitragsaufkommen der Sozialversicherung keine Leistungen an Personen erbracht werden, die selbst nicht zu eigenen Beitragsleistungen in der Lage sind.19 Im Ergebnis wird der Sozialversicherungsbeitrag nach dieser Auffassung wie eine Sonderabgabe 20 behandelt 21, welche nach den vom Bundesverfassungsgericht 22 entwickelten Kriterien ebenfalls nur von sozial homogenen Gruppen erhoben werden darf und gruppennützig verwendet werden muss. Während die zuvor skizzierte Meinung den sozialen Ausgleich in der Sozialversicherung lediglich beschränken, aber nicht ausschließen will 23, geht eine noch weitergehende Ansicht davon aus, dass der Sozialversicherungsbeitrag generell nur als Ausgleich für eine staatliche Leistung erhoben werden darf, die dem Abgabenschuldner selbst zugute kommt. Sobald die Abgabenlast den wirtschaftlichen Wert der Gegenleistung übersteige, mutiere der Sozialversicherungsbeitrag dagegen zur Steuer. 24 Sozialstaatliche Umverteilung darf nach dieser Auffassung ausschließlich aus dem Steueraufkommen finanziert werden. 25 Im Ergebnis werden Sozialversicherungsbeiträge damit wie Gebühren oder Beiträge im finanzrechtlichen Sinne (sog. Vorzugslasten) behandelt 26, die nach der herrschenden Auffas17 Siehe Isensee, NZS 2004, S.393 (396); P. Kirchhof, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 88 Rn. 275. 18 Siehe Isensee, Umverteilung, S. 41; Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 105 f. 19 Siehe Isensee, SDSRV 35 (1992), S. 7 (20 f.); P. Kirchhof, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 88 Rn. 275. 20 Näher zum Abgabentyp der Sonderabgabe Henseler, Sonderabgaben; Heun, DVBl. 1990, S. 666 ff.; Kim, Sonderabgaben; Schiller, Sonderabgaben; Simon, DÖV 2001, S. 63 ff. 21 Explizit für eine Annäherung des Sozialversicherungsbeitrags an die Figur der Sonderabgabe Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 231 ff.; Henseler, NJW 1987, S. 3105 (3107); für den Arbeitgeberbeitrag Kim, Sonderabgaben, S. 89 ff.; weitere Nachweise bei Butzer, Fremdlasten, S. 270 in Fußn. 507; vgl. auch S. Weber, Krankenversicherung, S. 211 f.; gegen eine Einordnung des Sozialversicherungsbeitrags als Sonderabgabe aber BVerfGE 75, S. 108 (147 f.); 89, S. 132 (144); BSGE 81, S. 276 (284 f.). 22 Siehe BVerfGE 55, S. 274 (300 ff.); 67, S. 256 (275 ff.); 82, S. 159 (179 ff.); 93, S. 319 (344). 23 So erachtet P. Kirchhof eine Umverteilung innerhalb der homogenen Solidargemeinschaft ausdrücklich als zulässig (in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 88 Rn. 276). 24 Siehe J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 100 ff.; Ruland, SGb 1987, S. 133 (135); ders., in: ders., Rentenversicherung, Kap. 19 Rn. 61; wohl auch Hase, Versicherungsprinzip, S. 164 f. 25 Siehe J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 219 f., 280; Ruland, SGb 1987, S. 133 (135); ders., in: v. Maydell/Ruland, SRH, C. 16. Rn. 48. 26 Eine früher verbreitete Auffassung trat explizit für eine Einordnung des Sozialversicherungsbeitrags als Vorzugslast ein; siehe Rüfner, VVDStRL 28 (1970), S. 187 (200); Vogel,
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§ 4 Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Abgabenkompetenz
sung 27 ebenfalls nur als Gegenleistung für ein staatliches Leistungsangebot erhoben werden dürfen. Indem der Sozialversicherungsbeitrag entweder wie eine Sonderabgabe oder wie eine Vorzugslast behandelt wird, laufen beide Varianten des engen Beitragsbegriffs darauf hinaus, dass der Sozialversicherungsbeitrag keine Abgabe sui generis und Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG somit keine Abgabenkompetenz darstellt. Die Erhebung von Sonderabgaben und Vorzugslasten darf nämlich auf jeden Sachkompetenztitel gestützt werden. 28 Sie erfordert daher keine finanzverfassungsrechtliche Aufwertung der Sozialversicherungskompetenz. Es verwundert, dass diese finanzverfassungsrechtliche Konsequenz von den Vertretern des engen Beitragsbegriffs nur selten offen gezogen wird. 29
III. Der dogmatische Hintergrund: die Lehre vom „normativen Steuerstaat“ Hintergrund des Meinungsstreits über die Abgrenzung von Sozialversicherungsbeitrag und Steuer ist die inzwischen 30 herrschende Auffassung vom „normativen Steuerstaat“ oder „Vorrang der Finanzverfassung“. Die Steuer ist die einzige Abgabenform, deren gesetzliche Regelung, Erhebung, Verwaltung und Verteilung das Grundgesetz in den Art. 104 a ff. GG ausführlich regelt. Daraus ziehen das Bundesverfassungsgericht und ein großer Teil der Lehre den Schluss, dass die Finanzierung von Staatsaufgaben durch Steuern die Regel, die Finanzierung durch andere Abgaben dagegen die rechtfertigungsbedürftige Ausnahme darstellt.31 Die ErheDVBl. 1958, S. 491 (492 in Fußn. 17); weitere Nachweise bei Butzer, Fremdlasten, S. 279 in Fußn. 538. 27 Siehe BVerfGE 7, S. 244 (254); 18, S. 392 (396); 28, S. 66 (86 ff.); 20, S. 257 (269); 50, S. 217 (226); 91, S. 207 (223); 93, S. 319 (347); Brohm, in: FS Knöpfle, S. 57 ff.; Helbig, in: Sacksofsky/Wieland, Gebührenstaat, S. 85 (87 ff.); Jachmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 105 Rn. 13; P. Kirchhof, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR V, § 119 Rn. 45 ff.; Martini, Verteilungslenkung, S. 485 f.; Siekmann, in: Sachs, GG, vor Art. 104 a Rn. 95. 28 Siehe BVerfGE 4, S. 7 (13); 55, S. 274 (297); 81, S. 156 (187); 108, S. 1 (13); 108, S. 186 (212); Butzer, Fremdlasten, S. 273; F. Kirchhof, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, Besonderes Verwaltungsrecht II, § 20 Rn. 29; Kube, Finanzgewalt, S. 117 mit weiteren Nachweisen in Fußn. 56; Martini, Verteilungslenkung, S. 483; Rozek, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 70 Rn. 9; Jachmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 105 Rn. 7; Schmehl, Äquivalenzprinzip, S. 77; Kim, Sonderabgaben, S. 94 f. 29 Ausdrücklich gegen die „künstliche“ Einordnung des Sozialversicherungsbeitrags als Abgabe sui generis aber Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 256. 30 Bis in die 70er Jahre hatten Bundesverfassungsgericht und Wissenschaft die Erhebung nichtsteuerlicher Abgaben in gleicher Weise für gerechtfertigt erachtet wie die Auferlegung von Steuern; vgl. Wieland, in: FS 50 Jahre BVerfG II, S. 771 (777) mit Nachweisen in Fußn.47 und 48. 31 Siehe BVerfGE 55, S. 274 (298 ff.); 78, S. 249 (266 f.); 82, S. 159 (178); 91, S. 186 (201 ff.); 93, S. 319 (342); Butzer, Fremdlasten, S. 266 f.; Heun, in: H. Dreier, GG III, Art. 105 Rn. 11; Isensee, in: FS Ipsen, S. 409 (428 ff.); ders., SDSRV 35 (1992), S. 7 (14 f.); P. Kirchhof,
B. Sozialversicherungsbeitrag und Steuer
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bung von nichtsteuerlichen Abgaben wird aus drei Gründen als Gefahr für die Finanzverfassung angesehen: 32 – Der Bund und die Länder könnten sich mit der Erhebung nichtsteuerlicher Abgaben Einnahmequellen verschaffen, die nicht den Regelungen des Grundgesetzes über die Ertragsverteilung der Steuern (Art. 106 ff. GG) unterliegen. Auf diese Weise würde die verfassungsrechtlich angeordnete Verteilung des Abgabenaufkommens zwischen Bund, Ländern, Gemeinden und Gemeindeverbänden ausgehebelt; – Die Haushaltsverfassung (Art. 109 ff. GG) und die daraus folgende demokratische Kontrolle des Parlaments über die gesamten Staatseinnahmen und -ausgaben 33 würde unterlaufen, soweit der Gesetzgeber beliebig nichtsteuerliche Abgaben einführen könnte, deren Ertragshoheit bei Trägern der mittelbaren Staatsverwaltung liegt; – Ein unkontrollierter Wildwuchs von nichtsteuerlichen Abgaben würde die Lastengleichheit der Abgabenschuldner bedrohen. Deshalb dürfen nichtsteuerliche Abgaben nach der Lehre vom normativen Steuerstaat nicht in eine unzulässige Konkurrenz zur Steuer treten, und müssen sich von dieser voraussetzungslos auferlegten Abgabe deutlich unterscheiden. 34 Strenge Vertreter 35 dieser Auffassung wollen die Unterscheidbarkeit zwischen Steuern und anderen Abgaben erreichen, indem sie alle nichtsteuerlichen Abgaben dem Äquivalenzprinzip 36 (oder Ausgleichsprinzip) unterwerfen und daher sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach nur als „Verwaltungspreis“ 37 für den Empfang einer staatliin: Isensee/P. Kirchhof, HStR V, § 119 Rn. 1; Kube, Finanzgewalt, S. 116 ff.; Pieroth, in: Jarass/ Pieroth, GG, Art. 105 Rn. 2; Siekmann, in: Sachs, GG, Art. 104 a Rn. 71; Schuppert, in: Umbach/Clemens, MAK II, Art. 105 Rn. 11 ff., 15; Vogel, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR II, § 30 Rn. 69 ff.; ders., ebenda IV, Voraufl. 1999, § 87 Rn. 43; ders./Waldhoff, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, vor Art. 104 a Rn. 337 ff.; vgl. dazu auch Wieland, in: FS 50 Jahre BVerfG II, S. 771 (776 ff.); kritisch zur Steuerstaats-Doktrin Hendler, AöR 115 (1990), S. 577 (595 ff.); Sacksofsky, Umweltschutz, S. 153 ff.; Schmehl, Äquivalenzprinzip, S. 68 ff.; J.-P. Schneider, in: Wassermann, AK, Art. 105 Rn. 6 f.; vgl. dazu auch Martini, Verteilungslenkung, S. 475 ff.; Sacksofsky/Wieland, Gebührenstaat. 32 Siehe BVerfGE 55, S. 274 (300 ff.); 91, S. 186 (202 f.); 93, S. 319 (342 f.); 114, S. 196 (250). 33 Vgl. dazu Pünder, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR V, § 123 Rn. 14 ff. 34 Siehe nur BVerfGE 93, S. 319 (343). 35 So J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 110; Hase, Versicherungsprinzip, S. 167 ff.; früher auch Siekmann, in: Sachs, GG, Voraufl. 2003, vor Art. 104 a Rn. 47 (in der aktuellen Auflage bezieht Siekmann das Äquivalenzprinzip allerdings nur noch auf Vorzugslasten; ebenda, vor Art. 104 a Rn. 73); tendenziell auch Heintzen, in: v. Münch/Kunig, GG III, Art. 105 Rn. 5. 36 Eingehend dazu Schmehl, Äquivalenzprinzip, der eine Anwendung dieses Grundsatzes auf alle nichtsteuerlichen Abgaben allerdings ablehnt (ebenda, S.107 f.) und für den Sozialversicherungsbeitrag nur eine schwache Mindest-Äquivalenzorientierung annimmt (ebenda, S. 214; ders., ZG 2005, S. 123, 134). 37 Begriff nach W. Leisner, in: GS Peters, S. 730 ff.
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§ 4 Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Abgabenkompetenz
chen Leistung oder als Ausgleich für die individuelle Verursachung von Verwaltungskosten zulassen. Auf diese Weise soll zum einen verhindert werden, dass der Staat aus der Erhebung einer nichtsteuerlichen Abgabe einen Überschuss zur freien Verwendung erzielt. Zum anderen sollen die Steuerzahler vor willkürlichen Zusatzbelastungen geschützt werden. Im Grunde gibt es nach dieser Auffassung nur zwei legitime Abgabenformen: Steuern und Vorzugslasten. 38 Das Bundesverfassungsgericht ist dieser strengen Ansicht allerdings nicht gefolgt und wendet das Äquivalenzprinzip nur auf Vorzugslasten an. 39 Die Übertragung auf den Sozialversicherungsbeitrag hat es bereits im Kindergeld-Urteil von 1960 abgelehnt. 40 Zudem hat das Gericht – trotz Kritik aus dem Schrifttum 41 – seit den frühen 80er Jahren den Abgabentyp der Sonderabgabe entwickelt. Sonderabgaben sind nach der Dogmatik des Bundesverfassungsgerichts durch die Abgabenpflichtigkeit einer in sich homogenen gesellschaftlichen Gruppe, die Bindung des Finanzierungszwecks an eine bestimmte Sachaufgabe, zu der diese Gruppe in einer besonderen Verantwortungsbeziehung steht, sowie durch die gruppennützige Verwendung des Abgabenaufkommens gekennzeichnet. 42 An die Stelle des individuellen Vorteilsausgleichs nach dem Äquivalenzprinzip tritt bei der Sonderabgabe somit eine Art „Gruppenäquivalenz“, die Umverteilungen des Abgabenaufkommens innerhalb des Kreises der Abgabenschuldner zulässt. 43 An dieser Stelle offenbart sich eine Parallele zwischen dem Meinungsstreit um die Geltung des Äquivalenzprinzips für alle nichtsteuerlichen Abgaben und den zwei Varianten der Lehre vom engen Begriff des Sozialversicherungsbeitrags. Die strengere Variante des engen Beitragsbegriffs, die den Sozialversicherungsbeitrag dem Äquivalenzprinzip unterwerfen und damit jegliche soziale Umverteilung über Sozialversicherungsbeiträge ausschließen will, deckt sich mit der strengen Auffassung von der Steuerstaatsdoktrin, die im Ergebnis Vorzugslasten als die einzigen legitimen nichtsteuerlichen Abgaben betrachtet. Dagegen folgt die Auffassung, die den Sozialversicherungsbeitrag wie eine Sonderabgabe behandelt, dem Bundesverfassungsgericht darin, dass das Prinzip des individuellen Vorteilsausgleichs nicht 38 Es ist daher aus seiner Sicht konsequent, wenn Siekmann von einem „Numerus clausus der Finanzierungsformen“ spricht (in: Sachs, GG, vor Art. 104 a Rn. 143); kritisch dazu Schmehl, Äquivalenzprinzip, S. 101. 39 Siehe die Nachweise in Fußn. 27. 40 Siehe BVerfGE 11, S. 105 (117); ebenso BVerfGE 14, S. 312 (318). 41 Siehe P. Kirchhof, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 88 Rn. 223 ff.; Siekmann, in: Sachs, GG, vor Art. 104 a Rn. 150 ff.; Wendt, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 104 Rn. 47. 42 Siehe BVerfGE 55, S. 274 (300 ff.); 67, S. 256 (275 ff.); 82, S. 159 (179 ff.); 93, S. 319 (344). 43 Siehe BVerfGE 55, S. 274 (316): die gruppennützige Verwendung gewähre eine Art „Gegenleistung“ für die Gruppe der Abgabenpflichtigen, es sei aber unerheblich, dass einzelne Gruppenmitglieder zwar abgabenpflichtig aber nicht leistungsberechtigt seien; ebenso BVerfGE 82, S. 159 (180 f.); vgl. dazu Simon, DÖV 2001, S. 63 (64 f.).
C. Der Sozialversicherungsbeitrag als legitime Abgabe
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für alle nichtsteuerlichen Abgaben gilt. Um die grundsätzlich auch vom Gericht 44 verlangte hinreichende Unterscheidbarkeit nichtsteuerlicher Abgaben von der voraussetzungslos erhobenen Steuer zu wahren, darf nach dieser Meinung sozialer Ausgleich außerhalb des Steuertransfersystems aber nur innerhalb von sozial homogenen Gruppen stattfinden.
C. Der Sozialversicherungsbeitrag als legitime Abgabenform der Finanzverfassung I. Zum finanzverfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab für die Abgrenzung von Steuer und Sozialversicherungsbeitrag Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen zur Unterscheidung des Sozialversicherungsbeitrags von der Steuer soll noch einmal die Frage nach dem finanzverfassungsrechtlichen Zweck dieser Abgrenzung sein. Die oben skizzierte Antwort der Steuerstaats-Doktrin lautet: Die Begriffsbildung soll gewährleisten, dass die in den Art. 104 a ff. GG geregelte Verteilung der Gesetzgebungs-, Ertrags- und Verwaltungskompetenzen sowie die Haushaltsverfassung des Bundes nicht unterlaufen werden; zudem muss sie sicherzustellen, dass den Steuerzahlern nicht willkürlich zusätzliche Abgabenlasten auferlegt werden. Mit dem zuletzt genannten Aspekt der Lastengleichheit wird der Finanzverfassung freilich auch eine grundrechtsschützende Funktion zugesprochen. Das überzeugt nicht, da sich in den Art.104 a ff. GG keine einzige Regelung mit einem grundrechtsschützenden Primärgehalt findet. 45 Die einzige scheinbare Ausnahme stellt Art. 106 Abs. 3 S. 4 Nr. 2 GG dar, demzufolge die Deckungsverhältnisse von Bund und Ländern so aufeinander abzustimmen sind, dass unter anderem eine Überbelastung der Steuerpflichtigen vermieden wird. Jedoch regelt diese Vorschrift selbst keinen Maßstab für die Bestimmung der Belastungsgleichheit im Abgabenrecht, sondern setzt voraus, dass dieser an anderer Stelle der Verfassung zu finden ist. 46 Außerdem hat die Berücksichtigung von Fragen der Beitragsgerechtigkeit bereits auf der Ebene der Abgrenzung von Sozialversicherungsbeitrag und Steuer zur Folge, dass Abgabendefinition und Abgabenrechtfertigung in eins gesetzt werden. 47 Diese Verquickung der Begriffsbildung mit der Abgabenlegitimation ist bereits in Bezug auf die Sonderabgaben-Dogmatik des Bundesverfassungsgerichts zutreffend Siehe BVerfGE 93, S. 319 (343). Kritisch zu grundrechtsschützenden Ableitungen aus der Finanzverfassung auch Schmehl, Äquivalenzprinzip, S. 80 ff. 46 Ebenso J. Becker, Transfergerechtigkeit, S.38; vgl. auch Werner, Leistungsfähigkeit, S.66. 47 Diese Verquickung bejahend Isensee, Umverteilung, S. 66: die Formtypik des Abgabenrechts und die materiale Abgabengerechtigkeit seien untrennbar miteinander verbunden. 44 45
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§ 4 Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Abgabenkompetenz
kritisiert worden. 48 Vorzugswürdig ist die klare Trennung zwischen begrifflicher Einordnung und rechtlicher Bewertung, da die Vermengung dieser Prüfungsschritte die Transparenz und Nachvollziehbarkeit der juristischen Argumentation beeinträchtigt. 49 Zudem führt die Berücksichtigung von Fragen der Beitragsgerechtigkeit bereits auf der Ebene der Kompetenzauslegung zu einer „Kopflastigkeit“ der verfassungsrechtlichen Prüfung. 50 Nicht zuletzt widerspricht ein derartiges Vorgehen der hier vertretenen Auffassung, dass Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG keine grundrechtsschützende Funktion hat und daher nicht als Grundlage eines die Früchte individueller Beitragsleistungen sichernden Versicherungsprinzips angesehen werden kann. 51 Im Weiteren geht es daher um eine Definition des Sozialversicherungsbeitrages, die nur den eigentlichen finanzverfassungsrechtlichen Funktionen der Abgrenzung zur Steuer dient. Sie soll ausschließlich verhindern, dass der Sozialversicherungsbeitrag zum Bestandteil einer „apokryphen Steuerverfassung“ 52 mutiert, mit der die Verteilung der Steuerkompetenzen und die Vorgaben des Haushaltsverfassungsrechts ausgehebelt werden. Die Lastengleichheit der Abgabenschuldner spielt dagegen für die Begriffsbildung keine Rolle. Ausdrücklich sei betont, dass im Gegenzug aus dem finanzverfassungsrechtlichen Begriff des Sozialversicherungsbeitrags auch keine grundrechtsbeschränkenden Rückschlüsse über die Rechtfertigung der Beitragslasten gezogen werden sollen. Vorbehaltlich einer in § 5 noch zu prüfenden eingriffslegitimierenden Funktion des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ist die Beitragsgerechtigkeit in der Sozialversicherung keine Frage der Kompetenz-, sondern der Grundrechtsauslegung. 53
II. Die Ertragskompetenz der Sozialversicherungsträger als legitime Ausnahme von der Haushaltsverfassung Eine wichtige Bedeutung für die Abgrenzung von Sozialversicherungsbeitrag und Steuer hat die Ertragskompetenz. Während die Ertragshoheit für die Steuer in Art. 106 GG abschließend zwischen Bund, Ländern, Gemeinden und Gemeindeverbänden aufgeteilt wird, liegt die Ertragskompetenz für den Sozialversicherungsbeitrag bei den Sozialversicherungsträgern 54, die gemäß Art. 87 Abs. 2 GG in mittelba48 Siehe Henseler, Sonderabgaben, S. 25; ders., NVwZ 1985, S. 398 (399); Heun, DVBl. 1990, S. 666 (667); Selmer, in: Thieme, Umweltschutz, S. 25 (38); ebenso zur Abgrenzung von Sozialversicherungsbeitrag und Steuer Bieback, Bürgerversicherung, S. 62; Butzer, Fremdlasten, S. 293 ff.; vgl. auch Werner, Leistungsfähigkeit, S. 59 f. 49 Siehe S. Meyer, Umweltressourcen, S. 59 ff.; Werner, Leistungsfähigkeit, S. 59 f., 110. 50 Siehe Butzer, Fremdlasten, S. 293; zustimmend Werner, Leistungsfähigkeit, S. 110. 51 Siehe oben § 3 B. II. 3. und 4. 52 Selmer, Steuerinterventionismus, S. 183. 53 Ebenso Butzer, Fremdlasten, S. 292 ff.; Werner, Leistungsfähigkeit, S. 110. 54 Siehe Butzer, Fremdlasten, S. 257; Isensee, SDSRV 35 (1992), S. 7 (13); F. Kirchhof, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, Besonderes Verwaltungsrecht II, § 20 Rn. 257; P. Kirchhof, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR V, § 119 Rn. 112; vgl. auch Bieback, VSSR 2003, S. 1 (17).
C. Der Sozialversicherungsbeitrag als legitime Abgabe
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rer Staatsverwaltung 55 zu führen sind. Zwar wird die Ertragshoheit der Sozialversicherungsträger weder in Art. 87 Abs. 2 GG noch anderswo ausdrücklich erwähnt. Da Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG aber nur für die Steuerzuschüsse eine Anweisung aus dem Bundeshaushalt anordnet, kann man aus dieser Regelung den Umkehrschluss ziehen, dass die Sozialversicherungsbeiträge den Versicherungsträgern direkt zufließen. Zudem wäre ohne die Verwaltung eines eigenen Abgabenaufkommens kaum zu verstehen, welchen Sinn die in Art. 87 Abs. 2 GG festgelegte Organisation in mittelbarer Staatsverwaltung haben soll. Die finanzverfassungsrechtliche Funktion bildet geradezu den Geltungsgrund für die organisatorische Verselbständigung der Sozialversicherungsträger. 56 Darin liegt bereits ein Schlüssel für die Lösung der haushaltsverfassungsrechtlichen Fragen. Soweit die Lehre vom normativen Steuerstaat verhindern will, dass die Budgetverfassung (Art. 109 ff. GG) durch eine Auslagerung der Staatsfinanzen auf parafiskalische Sonderfonds unterwandert wird 57, muss konstatiert werden, dass das Grundgesetz für den Sozialversicherungsbeitrag diese Entparlamentarisierung gerade vorsieht. Die rechtliche Trennung der Sozialversicherungshaushalte von der unmittelbaren Staatsverwaltung ist verfassungsrechtlich gewollt. 58 Sie soll das Beitragsaufkommen vor den „fiskalischen Begehrlichkeiten“ der Haushaltspolitik schützen. 59 Die Ertragshoheit der Sozialversicherungsträger stellt somit eine reguläre, da verfassungsrechtlich vorgesehene Ausnahme von der Vollständigkeit des Haushaltsplans dar. 60 Diese Entscheidung des Grundgesetzes für die Trennung der Sozialversicherungshaushalte von den allgemeinen Staatsfinanzen ist beim Wort zu nehmen: Ein auch nur „durchlaufender“ Transfer des Beitragsaufkommens in die unmittelbare Staatsverwaltung ist verfassungswidrig. Problematisch ist deshalb die Entscheidung des Gesetzgebers zur Errichtung eines Gesundheitsfonds, der ab dem Jahr 2009 als ein beim Bundesversicherungsamt einzurichtendes Sondervermögen das Beitragsaufkommen der gesetzlichen Krankenversicherung verwalten und auf die einzelnen 55 Siehe zur verbindlichen Anordnung der Organisation in mittelbarer Staatsverwaltung bereits oben § 3 C. II. 3. a). 56 Ebenso Isensee, SDSRV 35 (1992), S. 7 (16). 57 Siehe nur Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 226; P. Kirchhof, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 88 Rn. 19 ff. 58 Auch nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts muss das Beitragsaufkommen der Sozialversicherung tatsächlich und rechtlich von den allgemeinen Staatsfinanzen getrennt sein; BVerfGE 75, S. 108 (148). 59 Isensee, SDSRV 35 (1992), S.7 (15); ebenso Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art.74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 40; Heun, in: FS Selmer, S. 657 (671); F. Kirchhof, NZS 1999, S. 161 (163); P. Kirchhof, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, §88 Rn. 274 (insoweit zunehmend skeptisch ders. in der aktuellen Auflage, Bd. V, § 119 Rn. 112: der Sonderfonds der Sozialversicherung gerate zunehmend unter den Einfluss des Gesetzgebers); siehe auch die Wortmeldung von Ebsen in VVDStRL 64 (2005), S. 181. 60 So auch Bieback, Bürgerversicherung, S. 63.
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§ 4 Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Abgabenkompetenz
Kassen verteilen soll (§§ 266 ff. SGB V 2009 61). Da das Bundesversicherungsamt als selbständige Bundesoberbehörde (§ 94 Abs. 1 S. 1 SGB IV) zur unmittelbaren Staatsverwaltung gehört, verstößt der Gesetzesvorschlag gegen Art. 87 Abs. 2 GG. Zur Herstellung eines verfassungsgemäßen Zustandes muss der Gesundheitsfonds daher als Körperschaft oder Anstalt des Öffentlichen Rechts organisiert und in die mittelbare Staatsverwaltung entlassen werden. 62
III. Der beschränkte Finanzierungszweck des Sozialversicherungsbeitrags Allerdings kann die Ertragskompetenz der Sozialversicherungsträger nicht das einzige Merkmal zur Abgrenzung des Sozialversicherungsbeitrags von der Steuer sein, da sie nicht verhindern kann, dass das Aufkommen der Sozialversicherung für jegliche Aufgaben des Staates eingesetzt wird. 63 Im Extremfall könnte der Gesetzgeber die Erledigung sämtlicher Staatsaufgaben auf die Sozialversicherung übertragen und ausschließlich aus deren Beitragsaufkommen finanzieren lassen. 64 Als Konsequenz würde eine parlamentarische Haushaltsgesetzgebung nicht mehr stattfinden. Auch die verfassungsrechtlich angeordnete Verteilung der Steuerkompetenzen zwischen Bund und Ländern würde leer laufen. Deshalb muss auch der Finanzierungszweck des Sozialversicherungsbeitrages verfassungsrechtlich eingegrenzt werden. Sozialversicherungsbeiträge dürfen kein Instrument zur allgemeinen Mittelbeschaffung des Staates sein. 65 Eine verfassungsrechtliche Begrenzung des Finanzierungszwecks ergibt sich aber bereits aus den Grenzen des Kompetenzbereichs von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. Da dieser Zuständigkeitstitel als Verknüpfung von Sach- und Abgabenzuständigkeit ohnehin einen verfassungsrechtlichen Ausnahmefall darstellt, kann die Abgabenkompetenz nicht weiter reichen als die Sachkompetenz. Deshalb darf der Sozialversicherungsbeitrag nur zur Finanzierung von sozialen Leistungen verwendet werden, die gegenständlich vom Kompetenzbereich erfasst sind. 66 61 Art. 1 Nr. 178 ff. GKV-WSG (BGBl. I 2007, S. 378); vgl. zum Inkrafttreten Art.46 Abs. 10 GKV-WSG. 62 Siehe zu der darüber hinausgehenden, im Rahmen dieser Abhandlung nicht vertieft behandelten Frage, ob Risikoausgleiche zwischen den einzelnen Sozialversicherungsträgern aus anderen Gründen verfassungswidrig sind, die Hinweise in Fußn. 16 zu § 5. 63 Siehe Selmer, GewArch 1981, S. 41 (42); zustimmend Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 236; Werner, Leistungsfähigkeit, S. 108; vgl. auch S. Weber, Krankenversicherung, S. 217. 64 Ähnlich Gössl, Sozialversicherung, S. 54; F. Kirchhof, SDSRV 35 (1992), S. 65 (68); Werner, Leistungsfähigkeit, S. 108 f.; vgl. auch Pünder, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR V, § 123 Rn. 78 f. 65 Siehe BVerfGE 75, S. 108 (148). 66 Ebenso BVerfGE 75, S. 108 (148); 113, S. 167 (197); Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 40; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 59; F. Kirchhof, NZS 1999, S. 161 (162 f.).
C. Der Sozialversicherungsbeitrag als legitime Abgabe
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Nach der hier vertretenen Auffassung über die sachlich-inhaltlichen Grenzen des Regelungsbereichs von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG hat das zur Folge, dass nur die Kompensation von Personenschäden, der Ausfall des Erwerbseinkommens oder eine Kombination aus diesen beiden Risiken aus dem Beitragsaufkommen der Sozialversicherung finanziert werden darf. 67 Die Verwendung für eine öffentlichrechtliche Sach- oder Vermögensversicherung wäre verfassungswidrig. 68 Gleiches gilt für Familienleistungen, die nicht an eine Unterbrechung der Erwerbstätigkeit durch ein Elternteil oder an einen Personenschaden anknüpfen.69 Da auf der personellen Ebene die soziale Sicherung der Landes- und Kommunalbediensteten in öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnissen sowie der Landtagsabgeordneten aus dem Kompetenzbereich der Sozialversicherung herausfällt 70, dürfen auch soziale Leistungen an diese Personen nicht aus dem Beitragsaufkommen der Sozialversicherung finanziert werden. Zwar können landesrechtliche Verweisungen das Sozialversicherungsrecht des Bundes auf diese Personen zur Anwendung bringen. Weil die Länder über ihre Gesetzgebungszuständigkeiten nicht disponieren dürfen, ändert das aber nichts daran, dass der Kompetenzbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG verlassen ist. 71 Die Finanzierung von sozialen Leistungen an Landes- und Kommunalbedienstete aus dem allgemeinen Beitragsaufkommen der Sozialversicherung ist deshalb entgegen der geltenden Rechtspraxis – etwa bei einer freiwilligen gesetzlichen Krankenversicherung – unzulässig. Die Ausgaben für diese Personen müssen in den Sozialversicherungshaushalten getrennt von den anderen Leistungsausgaben aufgeführt werden und bedürfen einer gesonderten Finanzierung aus Steuermitteln oder durch Eigenleistungen der Betroffenen. Letztere sind keine Sozialversicherungsbeiträge i. S. d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, da sie außerhalb des Regelungsbereichs der Kompetenzvorschrift stehen. Eine gegenteilige Bezeichnung im Gesetz wäre als finanzverfassungsrechtliche falsa demonstratio anzusehen. Naheliegend ist die Einordnung als finanzverfassungsrechtliche Vorzugslast. Da Vorzugslasten nach dem Äquivalenzprinzip zu bemessen sind 72, darf der Gesetzgeber die Beiträge von Landes- und Kommunalbediensteten daher nicht als Umverteilungsinstrument zugunsten von anderen Versicherten gestalten. Allerdings schließt das eine am Erwerbseinkommen orientierte Beitragsbemessung nicht per se aus. Wie an späterer Stelle noch näher ausgeführt wird, lässt das Äquivalenzprinzip der Legislative einen relativ weit bemessenen Gestaltungsspielraum. 73
67 68 69 70 71 72 73
Vgl. oben § 2 C. II. 2. b). Siehe oben § 2 C. II. 2. b) cc) und ee). Siehe oben § 2 C. II. 2. b) dd). Siehe oben § 2 B. II. Siehe oben § 2 B. II. 3. Siehe dazu die Nachweise in Fußn. 27. Siehe unten § 5 C. I. 2. b).
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§ 4 Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Abgabenkompetenz
IV. Gegen den engen Beitragsbegriff: die Entbehrlichkeit eines Äquivalenz- oder Homogenitäts-Kriteriums Die kompetenzielle Beschränkung des Beitragszwecks hat zur Folge, dass eine Aushöhlung der Steuer- und Haushaltsverfassung ausgeschlossen ist, weil die außerhalb des Regelungsbereichs von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG liegenden Staatsaufgaben nicht durch Sozialversicherungsbeiträge finanziert werden dürfen. 74 Die Gefahr, dass der Steuerstaat vollständig zum Sozialversicherungsstaat mutiert, besteht bei Einhaltung dieser Grenzen nicht. Daher erscheint es zweifelhaft, ob der finanzverfassungsrechtliche Begriff des Sozialversicherungsbeitrages über die exklusive Zuweisung der Ertragshoheit an Sozialversicherungsträger i. S. d. Art. 87 Abs. 2 GG und die Beschränkung des Finanzierungszwecks auf den Kompetenzbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG hinaus einer weitergehenden Eingrenzung bedarf, wie sie von der Lehre des engen Beitragsbegriffs verlangt wird. 1. Grundrechtsschützende Funktion des engen Beitragsbegriffs Beide Varianten der Lehre vom engen Beitragsbegriff verknüpfen die finanzverfassungsrechtliche Abgrenzung zwischen Steuer und Sozialversicherungsbeitrag mit dem Grundrechtsschutz der Beitragszahler. Die Äquivalenz-Theorie geht davon aus, dass sich die Beitragserhebung als zusätzliche Belastung neben der Steuerpflichtigkeit vor Art. 3 Abs. 1 GG nur rechtfertigen lässt, soweit sich Beitrag und Gegenleistung die Waage halten. 75 Die Homogenitäts-Theorie bejaht die Grundrechtskonformität des Sozialversicherungsbeitrags nur, wenn die Abgabenschuldner ein gemeinsames Interesse an den finanzierten Leistungen haben oder zu einer Bevölkerungsgruppe mit einer historisch gewachsenen Solidaritätsbeziehung gehören. 76 Bereits diese Verquickung von Abgabenbegriff und Abgabenrechtfertigung spricht nach der hier vertretenen Auffassung gegen den engen Beitragsbegriff. 77 2. Finanzverfassungsrechtliche Funktion des engen Beitragsbegriffs Allerdings haben sowohl die Äquivalenz-, als auch die Homogenitäts-Theorie neben der grundrechtlichen auch eine originär finanzverfassungsrechtliche Funktion. Beide Auffassungen wollen verhindern, dass der Staat aus der Erhebung nichtsteuerlicher Abgaben einen Überschuss zur freien Verwendung erwirtschaftet und auf diese Weise die in der Steuerverfassung geregelte Staatsfinanzierung unterwandert 74 Ebenso BVerfGE 75, S. 108 (148); siehe auch Butzer, Fremdlasten, S. 290; Werner, Leistungsfähigkeit, S. 110. 75 Siehe J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 100 ff.; Ruland, SGb 1987, S. 133 (135). 76 Siehe nur Isensee, Umverteilung, S. 62 ff. 77 Wie hier Butzer, Fremdlasten, S. 292 ff.; Werner, Leistungsfähigkeit, S. 106 ff.
C. Der Sozialversicherungsbeitrag als legitime Abgabe
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wird. 78 Deshalb grenzen beide Ansichten den Verwendungszweck des Sozialversicherungsbeitrags über die kompetenziellen Schranken des Anwendungsbereichs von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG hinaus weiter ein und verlangen, dass das Abgabenaufkommen zur Finanzierung einer individuellen oder zumindest gruppennützigen staatlichen Leistung vollständig aufgebraucht wird. Diese finanzverfassungsrechtliche Intention ist nachvollziehbar, soweit es um die Erhebung von nichtsteuerlichen Abgaben im Rahmen von Kompetenztiteln geht, die keine Finanzierungskompetenz in sich tragen. Aufgrund der weitreichenden Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes würde eine vollständige nichtsteuerliche Deckung der von den einzelnen Sachkompetenzen erfassten Staatsaufgaben zu einer Aushebelung der Finanzverfassung führen. Gerade unter diesem Gesichtspunkt unterscheidet sich Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG aber von anderen Kompetenzen: Weil der Zuständigkeitstitel eine eigene Abgabenkompetenz in sich trägt, ist innerhalb seiner Grenzen die Erhebung einer nichtsteuerlichen Abgabe keine begründungsbedürftige Ausnahme, sondern der finanzverfassungsrechtliche Regelfall. 79 Aus diesem Grunde ist die vollständige Finanzierung der in den Anwendungsbereich der Sozialversicherungskompetenz fallenden staatlichen Leistungen aus nichtsteuerlichen Mitteln ohne Weiteres zulässig. Die Erhebung des Sozialversicherungsbeitrags bedarf deshalb anders als die Erhebung von anderen nichtsteuerlichen Abgaben keiner finanzverfassungsrechtlichen Begrenzung, die über die Beschränkung auf den Regelungsbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG hinausgeht. Dieses Ergebnis kann auch deshalb vor der Finanzverfassung bestehen, weil der Bundesgesetzgeber nach der hier vertretenen Auffassung 80 keine Einschätzungsprärogative bei der Festlegung der in den Kompetenzbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG fallenden Sozialversicherungsaufgaben hat. Stünde der Anwendungsbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG inhaltlich teilweise zur Disposition der Legislative, so würde die Sozialversicherungskompetenz in der Tat zu einer problematischen offenen Flanke der Finanzverfassung, weil die Auslagerung von Staatsaufgaben auf die Haushalte der Sozialversicherungsträger nur einer beschränkten verfassungsrechtlichen Kontrolle ausgesetzt wäre. Die Lehre vom engen Beitragsbegriff ist daher in gewisser Hinsicht eine verständliche Reaktion auf die faktische Entgrenzung, die der Kompetenzbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG durch die pauschale Ausdehnung auf „neue Lebenssachverhalte“ 81 erfahren hat. Somit wird die in § 2 entwickelte sachlich-inhaltliche Eingrenzung des Regelungsbereichs von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG durch die finanzverfassungsrechtlichen 78 Siehe J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 276; F. Kirchhof, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, Besonderes Verwaltungsrecht II, §20 Rn.59; Siekmann, in: Sachs, GG, vor Art.104 a Rn. 144 ff.; Wendt, Lenkungsmittel, S. 54 ff. 79 Vgl. BVerfGE 89, S. 132 (144); Bieback, Bürgerversicherung, S. 65; Werner, Leistungsfähigkeit, S. 109 f. 80 Siehe oben § 2 A. II. 81 BVerfGE 11, S. 105 (112).
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§ 4 Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Abgabenkompetenz
Gefahren, die von einem Beurteilungsspielraum des Bundesgesetzgebers ausgehen, nachdrücklich bestätigt. Zwar ist die Sozialversicherungskompetenz auch nach der hier vertretenen Auffassung nicht auf die präkonstitutionellen Zweige der Sozialversicherung beschränkt, sondern kann im Wege des Analogieschlusses auf neue soziale Risiken ausgedehnt werden. 82 Dabei hat der Gesetzgeber aber gerade keine Einschätzungsprärogative, sondern ist inhaltlich an die verfassungsrechtlich vorgegebenen Vergleichskriterien „Personenrisiko“ und „Erwerbsrisiko“ gebunden. 83 Gegenüber dem engen Beitragsbegriff hat der hier gewählte Ansatz den Vorteil, dass das Kompetenzproblem der Abgrenzung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG von der Steuerverfassung nicht mit dem Grundrechtsschutz der Beitragszahler vermengt wird. 3. Der Sozialversicherungsbeitrag als verkappte Zwecksteuer? Gegen den weiten Beitragsbegriff kann auch nicht eingewendet werden, dass er keine ausreichende Distanz zwischen dem Sozialversicherungsbeitrag und der (finanzverfassungsrechtlich grundsätzlich zulässigen 84) Steuer mit gesetzlich festgelegter Zweckbindung schaffe, für die den Sozialversicherungsträgern nach Art. 106 GG die Ertragshoheit fehlt 85. 86 Ein entscheidender Unterschied zwischen Sozialversicherungsbeitrag und Zwecksteuer besteht bereits darin, dass die Zweckbindung der letzteren nur auf einfachem Gesetzesrecht beruht, also jederzeit durch einen Federstrich des Gesetzgebers beseitigt werden kann. Im Gegensatz dazu ist der Verwendungszweck des Sozialversicherungsbeitrags verfassungsrechtlich festgelegt, weil er auf den Kompetenzbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG beschränkt ist, und kann vom Gesetzgeber deshalb nicht beliebig verändert werden. Im Übrigen soll gar nicht bestritten werden, dass der Begriff des Sozialversicherungsbeitrags nach der hier vertretenen Auffassung große Überschneidungspunkte zur Zwecksteuer aufweist. Da Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Abgabenkompetenz die Erhebung des Sozialversicherungsbeitrags als zweite verfassungsrechtlich anerkannte Finanzierungsabgabe neben der Steuer legitimiert, ist diese Überschneidung aber unproblematisch, solange der Sozialversicherungsbeitrag nicht für Zwecke erhoben wird, die außerhalb des Kompetenzbereichs von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG liegen. Außerdem sei erneut daran erinnert, dass an dieser Stelle Fragen der Abgabenrechtfertigung noch vollständig ausklammert sind und der finanzverfassungsrechtliche Begriff des Sozialversicherungsbeitrags nichts über die materielle RechtfertiSiehe dazu oben § 2 C. II. 1. b). Siehe oben § 2 C. II. 1. c) und 2. 84 siehe dazu Heun, in: H. Dreier, GG III, Art. 105 Rn. 15; Siekmann, in: Sachs, GG, Art. 104 a Rn. 84 f.; Vogel/Waldhoff, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, vor Art. 104 a Rn. 383. 85 Siehe W. Kannengießer/C. Kannengießer, in: FS Klein, S. 1119 (1139). 86 So aber Isensee, Umverteilung, S. 38 ff.; ders., NZS 2004, S. 393 (396 ff.); tendenziell auch F. Kirchhof, NZS 2004, S. 1 (6). 82 83
C. Der Sozialversicherungsbeitrag als legitime Abgabe
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gung der Beitragslast aussagt. Insbesondere soll aus der finanzverfassungsrechtlichen Anerkennung des Sozialversicherungsbeitrags keineswegs der Schluss gezogen werden, dass die Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen vor den Grundrechten genauso wie die Steuerlast durch die Leistungsfähigkeit der Abgabenschuldner legitimiert werden kann. 87
V. Konsequenzen der hier vertretenen Auffassung Nach der hier vertretenen Auffassung wird der finanzverfassungsrechtliche Begriff des Sozialversicherungsbeitrags alleine durch die beiden unter II. und III. entwickelten Kriterien – die Ertragskompetenz der Sozialversicherungsträger sowie die Beschränkung des Finanzierungszwecks auf den Kompetenzbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG – definiert. 88 Deshalb ist eine Unterscheidung des abgabenpflichtigen Versichertenkreises von der steuerpflichtigen Gesamtbevölkerung für die Abgrenzung des Sozialversicherungsbeitrags von der Steuer ohne Bedeutung. 89 Gleiches gilt für die Beitragsbemessung, insbesondere für das Verhältnis von Beitragslast und Gegenleistung. 90 Eine Erhöhung oder Streichung der bestehenden Beitragsbemessungsgrenzen würde den Sozialversicherungsbeitrag daher ebenso wenig in eine (wegen fehlender Ertragskompetenz der Sozialversicherungsträger verfassungswidrige) Zwecksteuer verwandeln wie eine Beitragserhebung auf Mieteinkünfte oder Kapitalerträge. 91 Auch die Abgabenerhebung bei Dritten, die selbst keine Leistungen beziehen (z. B. Arbeitgeber) ist stets als Sozialversicherungsbeitrag einzuordnen, soweit das Abgabenaufkommen nur den Sozialversicherungsträgern zufließt und für Sozialversicherungsaufgaben i. S. d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG verwendet wird. Entgegen der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts braucht es auf der Ebene der Kompetenzauslegung nicht einmal eines „sachorientierten Anknüpfungspunktes“92, der die fremdnützige Beitragslast rechtfertigt. Dieses Kriterium läuft nämlich darauf hinaus, dass die materielle Legitimität der Beitragspflichtigkeit bereits auf der Ebene der Gesetzgebungszuständigkeit „angeprüft“ und zumindest evidente Fälle der 87 Eingehend zu den unterschiedlichen Rechtfertigungsmaßstäben, die an Steuern und Sozialversicherungsbeiträge anzulegen sind, unten § 5 C. I. 1. a). 88 Ebenso Werner, Leistungsfähigkeit, S. 111. 89 Ebenso Bieback, Bürgerversicherung, S. 52 ff.; ders., Soziale Sicherheit 2003, S. 416 (418); ders., VSSR 2003, S. 1 (20 f.); Muckel, SGb 2004, S. 583 (588 f.); ders., in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG III, Art. 120 Rn. 23; Pitschas, VVDStRL 64 (2005), S. 109 (137); Werner, Leistungsfähigkeit, S. 61 f., 100 f. 90 So auch Werner, Leistungsfähigkeit, S. 62 ff. 91 Wie hier Bieback, Bürgerversicherung, S. 134 f., 157; Muckel, SGb 2004, S. 583 (588 f.); zur Beitragserhebung auf Vermögenseinkünfte Huster, JZ 2002, S. 371 (377); ihm zustimmend Kube, Der Staat 14 (2002), S. 452 (477 in Fußn. 69); vgl. auch Wieland, VSSR 2003, S. 259 (265 f., 274); a. A. Isensee, NZS 2004, S. 393 (396 ff.); F. Kirchhof, NZS 2004, S. 1 (5). 92 BVerfGE 75, S. 108 (147).
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§ 4 Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Abgabenkompetenz
Grundrechtswidrigkeit aus dem Kompetenzbereich ausgeschieden werden. 93 Dies widerspricht der hier vertretenen Trennung zwischen Kompetenz- und Grundrechtsinterpretation, die sich darauf stützen kann, dass Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG keinerlei grundrechtsschützende Aussagen enthält 94. Die auch im Schrifttum 95 herrschende Auffassung, dass die Sozialversicherungskompetenz der finanziellen Inpflichtnahme Dritter Schranken setzt, überzeugt daher nicht. Die im Ergebnis zutreffende Kritik an der bei den Vermarktern von künstlerischen und publizistischen Leistungen erhobenen Künstlersozialabgabe kann deshalb nicht aus der Sozialversicherungskompetenz 96, sondern nur aus den Grundrechten 97 entwickelt werden. Da Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG keine materiell-programmatische Funktion hat 98, folgt aus dem Kompetenztitel freilich umgekehrt auch keine Pflicht, Arbeitgeber oder arbeitgeberähnliche Auftraggeber von Versicherten paritätisch an der Finanzierung der Sozialversicherung zu beteiligen. 99
D. Zusammenfassung Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG stellt nach allgemeiner und zutreffender Ansicht den Sonderfall einer Sachkompetenz dar, die zugleich eine Finanzierungskompetenz in sich trägt, und erlaubt dem Bundesgesetzgeber daher die Regelung des Sozialversicherungsbeitrags als eigenständige Abgabenform. Damit stellt sich die sehr umstrittene Frage, wie diese Abgabe von der Steuer abzugrenzen ist, für die sich in den Art. 104 a ff. GG abschließende Sonderregelungen über die Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Ertragskompetenz finden. Nach dem hier vertretenen weiten Beitragsbegriff wird der Sozialversicherungsbeitrag alleine durch die Ertragshoheit der gemäß Art. 87 Abs. 2 GG in mittelbarer Staatsverwaltung zu organisierenden Sozialversicherungsträger sowie durch die Beschränkung des Finanzierungszwecks auf soziale Leistungen, die vom Kompetenzbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG erfasst werden, in ausreichender Weise von der Steuer unterschieden. Dieser Abgabenbegriff hat eine rein finanzverfassungsrechtliche Funktion: Er soll verhindern, dass die Steuerkompetenzen und die Haushaltsverfassung durch die ungebremste Erhebung von nichtsteuerlichen Abgaben unterVgl. Butzer, Fremdlasten, S. 649 f. Siehe oben § 3 B. II. 3. und 4. 95 Siehe Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 40; Butzer, Fremdlasten, S. 293 f.; Degenhart, in: Sachs, GG, Art.74 Rn. 60; Giesen, NZS 2006, S. 449 (453); Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG III, Art. 74 Rn. 67; Merten, NZS 1998, S. 545 (546 f.); Schnapp, SGb 2005, S. 1 (4); Umbach/Clemens, in: dies., MAK II, Art. 74 Rn. 66; Stettner, in: H. Dreier, GG II (2007), Art. 74 Rn. 70. 96 So aber v. Einem, DVBl. 1988, S. 12 (14 ff.); Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 100 Rn. 191; Siekmann, in: Sachs, GG, vor Art. 104 a Rn. 132. 97 Siehe dazu unten § 5 C. I. 1. c). 98 Siehe oben § 3 B. II. 3. 99 Siehe bereits oben § 1 B. II. 3. 93 94
D. Zusammenfassung
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graben werden. Dafür genügt es, den Finanzierungszweck des Sozialversicherungsbeitrags auf den Regelungsbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zu begrenzen. Das gilt insbesondere, weil der Gesetzgeber nach der hier vertretenen Auffassung keinen Beurteilungsspielraum bei der Bestimmung der in den Kompetenzbereich fallenden Sozialversicherungsaufgaben hat. Vorgaben über die gerechte Verteilung von Abgabenlasten spielen dagegen für die Abgrenzung des Sozialversicherungsbeitrags von der Steuer keine Rolle, weil sie nicht aus der Steuerverfassung, sondern aus den Grundrechten zu entwickeln sind. Eine Unterwerfung des Sozialversicherungsbeitrags unter das für Vorzugslasten geltende Äquivalenzprinzip ist deshalb auf der finanzverfassungsrechtlichen Ebene ebenso wenig erforderlich wie eine Annäherung an den Abgabentyp der Sonderabgabe. Auch der vom Bundesverfassungsgericht verlangte „sachnahe Anknüpfungspunkt“ für eine fremdnützige Beitragserhebung ist entbehrlich. Die daraus folgende strukturelle Ähnlichkeit zwischen dem Sozialversicherungsbeitrag und der Zwecksteuer kann hingenommen werden, weil der hier vertretene Begriff des Sozialversicherungsbeitrags keine Präjudizwirkung für die grundrechtliche Legitimation der Abgabenlast beansprucht.
§ 5 Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und die Rechtfertigung des sozialen Ausgleichs A. Die ungeklärte Rolle des sozialen Ausgleichs im Verfassungsrecht der Sozialversicherung In § 3 ist die Frage, ob Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG auch materielle Funktionen im Verfassungsgefüge hat, bereits eingehend behandelt und im Hinblick auf eine programmatische, garantierende oder grundrechtsschützende Funktion verneint worden. 1 Als letzter Aspekt dieses Problemkreises soll im Folgenden geklärt werden, ob die Sozialversicherungskompetenz über ihre Funktion als Zuständigkeitszuweisung hinaus zugleich auch eine „Legitimationsfunktion“ 2 hat, also als Grundrechtsschranke fungiert oder zumindest einen abwägungsrelevanten Faktor darstellt, der zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen beitragen kann. Teile des Schrifttums 3 und inzwischen auch das Bundesverfassungsgericht 4 interpretieren Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Grundlage eines „Solidarprinzips“, das die tradierten sozialen Umverteilungsmechanismen des Sozialversicherungsrechts zumindest dem Grunde nach rechtfertigen soll. Die dogmatischen Konturen des Solidarprinzips sind aber bis heute ebenso „diffus“ 5 geblieben wie die des gegenläufigen „Versicherungsprinzips“. Gemeinhin wird der soziale Ausgleich anhand der wirtschaftlichen Fließrichtungen der bestehenden Umverteilungsströme in der Sozialversicherung beschrieben und klassifiziert, obwohl sich aus einer rein ökonomischen Betrachtung keine rechtlichen Folgerungen ableiten lassen. 6 Im Rah-
Siehe oben § 3 B. II. Begriff nach Stettner, Kompetenzlehre, S. 328. 3 Siehe F. Kirchhof, SDSRV 35 (1992), S. 65 (69, 80); ders., NZS 1999, S. 161 (165); ders., in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, Besonderes Verwaltungsrecht II, § 20 Rn. 264; ders., in: Isensee/P. Kirchhof, HStR V, § 125 Rn. 32; für eine grundrechtsbeschränkende Funktion des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG auch Bieback, Bürgerversicherung, S. 68 f.; Butzer, Fremdlasten, S. 134 f., 141 ff., 368 ff.; Hase, Versicherungsprinzip, S. 190; Papier, ZSR 1990, S. 344 (350); ders., Rahmenbedingungen, S. 19; Werner, Leistungsfähigkeit, S. 168 ff.; einschränkend Axer, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 15. 4 Siehe BVerfGE 113, S. 167 (220 f.). 5 Hase, Versicherungsprinzip, S.254; F. Kirchhof, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, Besonderes Verwaltungsrecht II, § 20 Rn. 259. 6 Vgl. zur undifferenzierten Gleichsetzung von ökonomischer Betrachtung und rechtlicher Bewertung die Kritik bei Hase, Versicherungsprinzip, S. 254 ff. 1 2
A. Die ungeklärte Rolle des sozialen Ausgleichs
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men dieser Typologie werden im Schrifttum 7 drei Dimensionen des sozialen Ausgleichs unterschieden: – Der intergenerationelle Ausgleich findet zwischen den verschiedenen Alterskohorten der Versichertengemeinschaft statt und ist vor allem eine Folge des in der Sozialversicherung praktizierten Umlageverfahrens. 8 Besonders stark ausgeprägt ist er in der Rentenversicherung, in der die jüngeren Generationen jeweils die Renten der älteren Kohorten finanzieren. Ähnliches gilt für die Kranken- und Pflegeversicherung, da das Krankheits- und Pflegerisiko mit dem Alter erheblich ansteigt. Eine langfristige Umverteilungswirkung geht vom intergenerationellen Ausgleich allerdings nur aus, soweit die jüngeren Alterskohorten wegen sinkender Geburtenzahlen nicht davon ausgehen können, dass ihre Leistungsansprüche im Alter einmal das aktuelle Niveau erreichen werden; – Der interpersonelle soziale Ausgleich beschreibt die Umverteilung innerhalb einer Alterskohorte der Versicherten. Er beruht in erster Linie auf der einkommensbezogenen Beitragsbemessung, der in keinem Zweig der Sozialversicherung eine Leistungsberechnung gegenübersteht, die sich in versicherungsmathematisch nachvollziehbarer Weise an den individuellen Beitragsleistungen orientiert 9. Im Extremfall der gesetzlichen Pflegeversicherung steht trotz einkommensbezogener Beitragsstaffelung allen Versicherten dasselbe Leistungsangebot zur Verfügung. Gleiches gilt mit Ausnahme des Krankengeldes, das aber nur einen unbedeutenden Teil der Leistungsausgaben ausmacht 10, für die gesetzliche Krankenversicherung. Umverteilungswirkungen bestehen darüber hinaus wegen der beitragsfreien Familien- und Hinterbliebenenversicherung zwischen kinderlosen Ledigen und Familien sowie wegen dem Verzicht auf Risikozuschläge, die an das unterschiedliche individuelle Morbiditätsrisiko anknüpfen, zwischen Versicherten mit guten und schlechten Gesundheitsrisiken; – Der interkorporative oder interorganisatorische Ausgleich meint schließlich die Umverteilung, die im Rahmen der gesetzlich angeordneten Risikoausgleiche 11 unter den Sozialversicherungsträgern stattfindet. Verfassungsrechtlich besonders umstritten 12 ist der seit 1994 bestehende Risikostrukturausgleich (§§ 266 ff. 7 Siehe Isensee, Umverteilung, S. 17 f.; Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S. 269 f.; F. Kirchhof, SDSRV 35 (1992), S. 65 (66 f.); vgl. auch Butzer, Fremdlasten, S. 225 ff. 8 Vgl. Butzer, Fremdlasten, S. 234. 9 Eingehend dazu Hase, Versicherungsprinzip, S. 105 ff., der insoweit treffend von der „antiökonomischen Ausrichtung“ des Sozialversicherungsrechts spricht; siehe zur Rentenversicherung Lenze, Staatsbürgerversicherung, S. 73 f.; W. Meyer/Blüggel, NZS 2005, S. 1 (7). 10 Im Jahr 2002 betrugen die Leistungsausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung insgesamt 142 Mrd. Euro. Davon entfielen nur 6,7 Mrd. Euro auf Einkommensersatzleistungen. Quelle: Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung, Sozialbudget 2002, S. 22. 11 Vgl. dazu den Überblick zu den Regelungen in den einzelnen Sozialversicherungszweigen bei Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 125 ff. 12 Für die Verfassungsmäßigkeit des Risikostrukturausgleichs BVerfGE 113, S. 167 (194 ff.); Axer, SGb 2003, 485 ff.; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 59; Gitter, in: FS Za-
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§ 5 Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und sozialer Ausgleich
SGB V i.V. m. der Risikostruktur-Ausgleichsverordnung), der in einem sehr komplizierten Verfahren die teils erheblich divergierende Finanzkraft der gesetzlichen Krankenkassen ausgleicht und im Jahr 2002 bereits ein Volumen von insgesamt 14,3 Mrd. Euro 13 erreicht hatte. Ab dem 1. Januar 2009 wird sich die interkooperative Umverteilung in der Krankenversicherung aufgrund des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes voraussichtlich noch verstärken. Die Krankenkassen müssen ab dann ihr gesamtes Beitragsaufkommen (mit Ausnahme des kassenindividuellen Zusatzbeitrages nach § 242 SGB V 2009 14) an den beim Bundesversicherungsamt einzurichtenden Gesundheitsfonds abführen und erhalten zum Ausgleich lediglich an der Alters-, Geschlechts- und Morbiditätsstruktur ihrer Mitglieder ausgerichtete Zuweisungen aus diesem Sondervermögen (§§ 266 ff. SGB V 2009 15). Da Risikoausgleiche besondere finanzverfassungsrechtliche Probleme aufwerfen, die über den begrenzten Untersuchungsgegenstand dieser Abhandlung hinausgehen, werden sie im Folgenden aber nicht näher behandelt. 16 Nicht nur, weil der dogmatische Gehalt des Solidarprinzips bisher unklar geblieben ist, sondern auch, weil nicht auf den ersten Blick einleuchtet, warum einer Kompetenzvorschrift eine grundrechtsbeschränkende Funktion zukommen soll, bedarf die Rezeption des Solidarprinzips aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG einer kritischen Überprüfung. Eingeleitet wird diese durch grundsätzliche Erwägungen zur legiticher, S. 201 (212); G. Schneider/Vieß, NJW 1998, S. 2702 ff.; S. Weber, Krankenversicherung, S. 218 ff.; vgl. auch Möller, SGb 2007, S. 138 ff.; Wenner, Soziale Sicherheit 2006, S. 309 ff.; a. A. Gohla, Risikostrukturausgleich; F. Kirchhof, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR V, § 125 Rn. 47; Ramsauer, NJW 1998, S. 481 ff.; Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 128 ff.; Sodan/Gast, Risikostrukturausgleich; dies., NZS 1999, S. 265 ff. Kritisch zu den auf § 265 a SGB V beruhenden kassenübergreifenden finanziellen Hilfen in besonderen Notlagen oder zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit Ramsauer, NZS 2006, S. 505 ff. 13 Quelle: BVerfGE 113, S. 167 (180 f.). 14 Art. 1 Nr. 161 GKV-WSG (BGBl. I 2007, S. 378). 15 Art. 1 Nr. 178 ff. GKV-WSG; vgl. zum Inkrafttreten Art. 46 Abs. 10 GKV-WSG. 16 Als verfassungsrechtliches „Schlaglicht“ müssen folgende kurze Anmerkungen hier genügen: Problematisch ist der interkooperative Ausgleich, soweit er zu Zahlungen von Sozialversicherungsträgern der Länder an Sozialversicherungsträger des Bundes führt. Art. 104 a Abs. 1, Abs. 5 GG ordnet die gesonderte Lastentragung von Bund und Ländern für ihre Aufgaben an, und die im Grundgesetz geregelten Ausnahmen von diesem Grundsatz lassen (bis auf die drei Sonderfälle Art. 91 b Abs. 6; Art. 120 Abs. 1 S. 2; Art. 106 Abs. 6 S. 4 bis 6) nur Finanztransfers des Bundes zugunsten der Länder zu (siehe Art.91 a; Art. 104 a Abs. 2 bis 4; Art. 106 Abs. 4 S. 2, 3; Art. 106 Abs. 8; Art. 107 Abs. 2 S. 3; Art. 120 Abs. 1 S. 4). Da das Grundgesetz dem Bund nach Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG die alleinige Finanzverantwortung für die Lasten der Sozialversicherung überträgt (näher dazu oben §3 C. II. 2. und 3. sowie unten § 6 D.), erscheint es jedoch sachgerecht, ihm im Gegenzug auch die Befugnis zuzusprechen, Regelungen zur finanziellen Stabilisierung des Gesamtsystems zu treffen und strukturelle Nachteile einzelner Sozialversicherungsträger, die den Wettbewerb zwischen den gesetzlichen Krankenkassen verzerren, durch ein Finanzausgleichsverfahren aufzufangen; ebenso mit anderer Begründung BVerfGE 113, S. 167 (199 ff.); vgl. zum Risikoausgleich in der Unfallversicherung BVerfGE 36, S. 383 (393). Allerdings wurde oben bereits darauf hingewiesen, dass die geplante Einrichtung des Gesundheitsfonds beim Bundesversicherungsamt verfassungswidrig ist, da Art. 87 Abs. 2 GG einen Transfer des Beitragsaufkommens der Sozialversicherung in die unmittelbare Staatsverwaltung verbietet; siehe § 4 C. II.
B. Zur grundrechtsbeschränkenden Wirkung von Kompetenztiteln
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mierenden Funktion von Kompetenzen (B.), wobei zunächst die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu dieser Frage dargestellt wird (I.), bevor sich an den Meinungsstand im Schrifttum anknüpfende eigene Erwägungen anschließen (II.). Auf diesem dogmatischen Fundament aufbauend wird anschließend die Frage behandelt, ob eine grundrechtsbeschränkende Aufladung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG erforderlich ist, um eine Kollision zwischen der Kompetenznorm und den Grundrechten zu vermeiden (C.).
B. Zur grundrechtsbeschränkenden Wirkung von Kompetenztiteln I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 1. Entscheidungen zu anderen Kompetenzvorschriften Die Annahme, dass Gesetzgebungskompetenzen grundrechtsbeschränkende Wirkungen haben können, basiert auf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts zurückreichen.17 Am Beginn steht das Apothekenurteil 18, in dem das Gericht aus der Kompetenzvorschrift des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG geschlossen hat, dass die Verfassung Regelungen über die Zulassung zu Heilberufen nicht von vornherein habe ausschließen wollen. In der ersten Kriegsdienstverweigerer-Entscheidung 19 hat das Bundesverfassungsgericht die Vereinbarkeit der Wehrpflicht mit Grundrechten auch auf Art. 73 Nr. 1 GG gestützt, welcher dem Bund in der damals geltenden Fassung die ausschließliche Zuständigkeit für die „Verteidigung einschließlich der Wehrpflicht für Männer“ gewährte. In weiteren Entscheidungen 20 hat das Gericht aus der Zuständigkeit des Bundes für die Landesverteidigung (Art. 73 Nr. 1, Art. 87 a Abs. 1 GG) eine Garantie der Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr hergeleitet, die sogar Eingriffe in vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte legitimiere. Art. 134 Abs. 4 GG legte das Bundesverfassungsgericht als eine Regelung über die Bereinigung des Staatsbankrotts des Deutschen Reiches aus, die den Bundesgesetzgeber ermächtige, Ansprüche gegen das Reich niederzuschlagen. 21 Weitere Urteile betrafen Abhörmaßnahmen des Verfassungsschutzes (Art. 73 Nr. 10, Art. 87 Abs. 1 GG) 22, die friedliche Nutzung 17 Siehe zur Entwicklung der Rechtsprechung J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 225 ff.; Butzer, Fremdlasten, S. 130 f.; Pieroth, AöR 114 (1989), S. 422 (424 ff.). 18 BVerfGE 7, S. 377 (401). 19 BVerfGE 12, S. 45 (50). 20 BVerfGE 28, S. 36 (47); 28, S. 243 (261); 32, S. 40 (46); 48, S. 127 (159 f.); 69, S. 1 (21 f.). Die Entscheidung BVerfGE 28, S. 243 ff. war grundlegend für die Rechtfertigung von Eingriffen in vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte durch kollidierendes Verfassungsrecht; vgl. dazu Pieroth, AöR 114 (1989), S. 422 (425). 21 BVerfGE 15, S. 126 (140 ff.). 22 BVerfGE 30, S. 1 (20).
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§ 5 Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und sozialer Ausgleich
der Kernenergie (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 a GG a. F.; heute Art. 73 Nr. 14 GG) 23 sowie das Branntweinmonopol (Art. 105 Abs. 1, 106 Abs. 1 und 108 Abs. 1 GG) 24. Hinzuweisen ist ferner auf eine Entscheidung aus dem Jahr 1976, die für die vorliegende Arbeit besonders interessant ist, weil sie das Versicherungswesen betrifft: Aus der Beschränkung der Bundeskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG auf das „privatrechtliche“ Versicherungswesen hat das Bundesverfassungsgericht gefolgert, dass der Verfassungsgeber die zur Zeit des Inkrafttretens des Grundgesetzes bestehenden öffentlich-rechtlichen Versicherungsmonopole der Länder anerkannt und damit zugleich im Grundsatz auch grundrechtlich gebilligt habe.25 2. Die Rechtsprechung zu Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG In Bezug auf eine grundrechtsbeschränkende Wirkung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG war das Bundesverfassungsgericht allerdings lange zurückhaltend. Zwar hat das Gericht schon im Kindergeld-Urteil davon gesprochen, dass ein „Bedürfnis nach Ausgleich sozialer Lasten“ kennzeichnend für den kompetenziellen Gattungsbegriff der Sozialversicherung sei und das Versicherungselement in der Sozialversicherung seit jeher durch ein Stück staatlicher Fürsorge modifiziert werde. 26 Ebenso hat es in seiner Rechtsprechung zur grundrechtlichen Rechtfertigung sozialer Umverteilung häufig mit vergleichbaren Formulierungen ein „Prinzip des sozialen Ausgleichs“ 27 als prägenden Grundsatz des Sozialversicherungsrechts hervorgehoben und als grundrechtsbeschränkenden topos eingesetzt. Eine ausdrückliche Verbindung zwischen der Bejahung der Gesetzgebungskompetenz und der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen hat das Gericht aber über fünf Jahrzehnte hinweg nicht hergestellt. Vielmehr hat es in anderem Zusammenhang in mehreren Entscheidungen betont, dass Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG eine reine Kompetenzvorschrift sei, aus der keine materiellen Gestaltungsvorgaben folgen. 28 Soweit ersichtlich, hat das Gericht das Solidarprinzip in der Bedeutung als Rechtfertigungstopos – wie auch das gegenläufige Versicherungsprinzip 29 – als historisch gewachsenen Grundsatz des einfachen Sozialversicherungsrechts eingeordnet, dem lediglich im Rahmen einer aus Art. 3 Abs. 1 GG folgenden Bindung des Gesetzgebers an den kontinuitätswahrenden Gedanken der Systemgerechtigkeit eine beschränkte verfassungsrechtliche Geltung zukomme. 30
BVerfGE 53, S. 30 (56). BVerfGE 41, S. 105 (111). 25 Siehe BVerfGE 41, S. 205 (218 ff.). 26 Siehe BVerfGE 11, S. 105 (113 f.). 27 BVerfGE 59, S. 36 (49 f.); siehe auch BVerfGE 10, S. 141 (166); 17, S. 1 (10); 39, S. 169 (187); 43, S. 13 (23 f.); 76, S. 256 (300 ff.); 79, S. 223 (236). 28 Siehe BVerfGE 39, S. 302 (314 f.); 77, S. 340 (344); 89, S. 365 (377). 29 Siehe dazu oben § 3 B. II. 1. b). 30 Siehe BVerfGE 59, S. 36 (49 f.). 23 24
B. Zur grundrechtsbeschränkenden Wirkung von Kompetenztiteln
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Das hat sich mit dem Urteil des zweiten Senats zum Risikostrukturausgleich in der gesetzlichen Krankenversicherung geändert. In dieser Entscheidung aus dem Jahr 2005 heißt es nunmehr, dass die Umverteilung dem klassischen, vom Verfassungsgeber grundsätzlich gebilligten Konzept einer Sozialversicherung entspreche. 31 Wegen der in verschiedenen Bestimmungen des Grundgesetzes – Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, Art. 87 Abs. 2 und Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG – zum Ausdruck gebrachten und entstehungsgeschichtlich belegten grundsätzlichen Anerkennung des klassischen Modells der Sozialversicherung durch das Grundgesetz verbiete es sich, die sozialversicherungsgemäße Belastung mit den finanziellen Folgen des sozialen Ausgleichs als Fremdlast, versicherungsfremde Leistung oder fremdnützige Beitragslast zu begreifen. 32 Da der Senat im gleichen Urteil betont, dass sich aus Art.74 Abs. 1 Nr. 12 GG keine grundrechtsschützenden Aussagen über die Geltung eines Versicherungsprinzips ergeben 33, läuft die Entscheidung im Ergebnis darauf hinaus, dass die sozialstaatliche Umverteilung im Sozialversicherungsrecht einen verfassungsrechtlichen Vorrang vor der Eigennützigkeit der Beitragsleistungen hat.
II. Grundsätzlich keine grundrechtsbeschränkenden Wirkungen von Kompetenzen In der wissenschaftlichen Diskussion 34 hat die These von der grundrechtsbeschränkenden Wirkung der Gesetzgebungskompetenzen sowohl Befürwortung 35 als auch strikte Ablehnung 36 erfahren. Diese Extrempositionen sind inzwischen allerdings in den Hintergrund getreten. Herrschend ist eine vermittelnde Auffassung, die grundsätzlich anerkennt, dass Kompetenzvorschriften über die Zuweisung von Zuständigkeiten hinaus auch rechtfertigende Wirkungen entfalten können, gleichzeitig aber „Zurückhaltung und Vorsicht“ 37 verlangt. Eine eingriffslegitimierende WirBVerfGE 113, S. 167 (220). BVerfGE 113, S. 167 (221); ebenso bereits BSGE 81, S. 276 (282 f.), von BVerfG-K, NJW 2000, S. 2496 = NZS 2000, S. 394 f. durch globalen Verweis auf die Begründung des Bundessozialgerichts gebilligt. 33 Siehe BVerfGE 113, S. 167 (196 f.). 34 Siehe dazu die Überblicke bei Butzer, Fremdlasten, S. 130 ff.; Pieroth, AöR 114 (1989), S. 422 (428 ff.), jeweils mit weiteren Nachweisen. 35 Siehe Bleckmann, DÖV 1983, S. 129 ff.; Isensee zufolge bezeichnen Kompetenzen „legitime Staatsaufgaben“ (Subsidiaritätsprinzip, S.162); Pestalozza, Der Staat 11 (1972), S.161 ff.; Stettner, Kompetenzlehre, S. 328 ff. 36 An erster Stelle ist hier das Sondervotum von Böckenförde und Mahrenholz (BVerfGE 69, S. 57 ff.) zum Kriegsdienstverweigerungs-Neuordnungsgesetz zu nennen; siehe auch Selk, JuS 1990, S. 895 ff. 37 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, vor Art. 1 Rn. 45; mit gleicher Tendenz Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 125 ff.; J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 222 ff.; ders., DÖV 2002, S. 397 ff.; Bieback, VSSR 2003, S. 1 (5 f.); Butzer, Fremdlasten, S. 132 ff., 141 ff.; Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 73 Rn. 7, Art. 74 Rn. 22; Menzel, DÖV 1983, S. 805 ff.; Pieroth, AöR 114 (1989), S. 422 (431 ff., 439 ff.); Werner, Leistungsfähigkeit, S. 168 ff.; Wülfing, Gesetzesvorbehalte, S. 117 ff. 31 32
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§ 5 Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und sozialer Ausgleich
kung könne nicht generell für alle Zuständigkeitstitel angenommen werden, sondern müsse in jedem Einzelfall konkret nachgewiesen werden. 38 Die zurückhaltende Position der herrschenden Lehre ist begründet. Die pauschale Begründung einer eingriffslegitimierenden Funktion von Kompetenzen mit dem Schlagwort von der „Einheit der Verfassung“ 39 kann nicht überzeugen, da sich aus diesem „rhetorischen Versatzstück“ keine klaren Aussagen über das Wie der systematischen Abstimmung unterschiedlicher Verfassungsbestandteile gewinnen lassen. 40 Der Primärzweck der Art. 70 ff. GG liegt unstreitig nicht in der Regelung von Grundrechtsfragen, sondern in der Verteilung von Gesetzgebungszuständigkeiten zwischen Bund und Ländern. 41 Der Geltungsbereich der Grundrechte wird demgegenüber in erster Linie in den Art. 1 bis 19 GG bestimmt, welche mit den einfachen und qualifizierten Eingriffsvorbehalten spezielle Regelungen darüber enthalten, ob und unter welchen Voraussetzungen Grundrechte eingeschränkt werden dürfen. Die Einschränkung von Grundrechten durch Organisationsnormen birgt daher die Gefahr, dass das differenzierte System der Eingriffsvorbehalte unterlaufen 42 wird und die Grundrechte zu „Abwägungsgesichtspunkten“ 43 gegenüber anderen Verfassungsnormen herabgestuft werden. Zudem liefe eine generelle grundrechtsbeschränkende Wirkung der Kompetenzvorschriften auf die beiden wenig überzeugenden Konsequenzen hinaus, dass der Bund erstens stärker in die Grundrechte eingreifen dürfte als die Länder, weil das Grundgesetz eine vergleichbare Auflistung der Länderzuständigkeiten nicht enthält 44, und dass zweitens in einem Bundesstaat weitergehende Grundrechtseingriffe möglich wären als in einem Einheitsstaat, der ohne einen Kompetenzkatalog auskommt 45. Auch bei Zuständigkeitstiteln, in deren Regelungsbereich wie bei Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG Kodifikationen mit einer langen präkonstitutionellen Tradition fallen, kann nicht ohne Weiteres unterstellt werden, dass der Verfassungsgeber diese Gesetzeswerke im Großen und Ganzen als verfassungsgemäß angesehen habe. 46 Es Vgl. nur J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 222, 224; Werner, Leistungsfähigkeit, S. 170. So etwa Bleckmann, DÖV 1983, S. 129; Stettner, Kompetenzlehre, S. 333; ähnlich bereits Scheuner, VVDStRL 11 (1954), S. 1 (33 in Fußn. 90): im Grundgesetz gelte weithin der Satz von der Austauschbarkeit formeller Kompetenzbestimmungen und inhaltlicher Anordnungen. 40 So zutreffend Pieroth, AöR 114 (1989), S. 422 (437 f.); vgl. auch J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 223 f.; Pestalozza, Der Staat 11 (1972), S. 161 (180 ff.). 41 Vgl. Butzer, Fremdlasten, S. 142 f.; Pieroth, AöR 114 (1989), S. 422 (442). 42 Siehe J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 223; Pieroth, AöR 114 (1989), S. 422 (443); Selk, JuS 1990, S. 895 (897 f.); Schnapp/M. Kaltenborn, Friedensgrenze, S. 29. 43 Sondervotum Böckenförde/Mahrenholz, BVerfGE 69, S. 57 (63) – Hervorhebung im Original. 44 Vgl. Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 139; Butzer, Fremdlasten, S. 143; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 71; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG III, Art. 70 Rn. 4. 45 Vgl. Butzer, Fremdlasten, S. 143; Sondervotum Böckenförde/Mahrenholz, BVerfGE 69, S. 57 (62); Selk, JuS 1990, S. 895 (898). 46 So aber zur Sozialversicherungskompetenz F. Kirchhof, SDSRV 35 (1992), S.65 (80); Papier, ZSR 1990, S. 344 (350); wohl auch Kube, Der Staat 41 (2002), S. 452 (475): die Anwen38 39
B. Zur grundrechtsbeschränkenden Wirkung von Kompetenztiteln
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ist nicht einzusehen, warum ein Gesetz nur deswegen verfassungsrechtlich gebilligt sein soll, weil es in seinem Geltungsanspruch über ein langes zeitliches Beharrungsvermögen zurückblicken kann. 47 Das gilt insbesondere für Kodifikationen, die wie die Reichsversicherungsordnung noch aus der Kaiserzeit stammen, als die geltende Reichsverfassung noch keinen Grundrechtskatalog enthielt. Zudem ordnet Art. 123 Abs. 1 GG ausdrücklich an, dass Recht aus der Zeit vor dem ersten Zusammentritt des Bundestages nur dann fortgilt, wenn es dem Grundgesetz nicht widerspricht. 48 Das Grundgesetz kennt also keine ungeprüfte Rezeption präkonstitutioneller Rechtslagen. 49 Daher kann den Kompetenztiteln des Grundgesetzes grundsätzlich keine eingriffslegitimierende Funktion zugesprochen werden. Eine Ausnahme gilt nur für den Fall einer Kollisionslage zwischen Kompetenz und Grundrechten. 50 Eine Normenkollision kann aus zwei Gründen bestehen. Die grundrechtsbeschränkende Wirkung einer Kompetenzvorschrift ist erstens dann anzuerkennen, wenn der Wortlaut und/oder die Entstehungsgeschichte eindeutige Hinweise für einen entsprechenden Willen des Verfassungsgebers enthalten. 51 Zweitens ist der Verfassungsgeber bei der Formulierung der Kompetenzen davon ausgegangen, dass der zuständige Gesetzgeber sie grundsätzlich auch ausüben darf. Eine Grundrechtsauslegung, die zu dem Ergebnis käme, dass der Gesetzgeber von einem bestimmten Zuständigkeitstitel überhaupt nicht sinnvoll Gebrauch machen kann, weil jedes denkbare Gesetz verfassungswidrig wäre, kann mit dieser Intention nicht in Einklang gebracht werden. 52 In diesem Fall geht es freilich weniger um eine materielle Aufwertung von Kompetenztiteln, sondern umgekehrt um eine sinnvolle Beschränkung der herrschenden extensiven Grundrechtsauslegung. Letztere darf dung des Äquivalenzprinzips auf die Sozialversicherung sei fraglich, weil diese Institution seit jeher umverteilend gewirkt habe; in diesem Sinne auch Rüfner, NZS 1992, S. 81 (81); indirekt für die legitimierende Wirkung einer langjährigen Tradition BVerfGE 41, S. 205 (228): die in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG aufgeführte Materie Arbeitsvermittlung bewirke keine Rechtfertigung des Arbeitsvermittlungsmonopols, weil dieses „nur“ 20 Jahre vor Entstehung des Grundgesetzes errichtet worden sei. 47 So zutreffend Rolfs, Versicherungsprinzip, S.200; siehe auch Hase, Versicherungsprinzip, S. 305. 48 Diesen Einwand gegen das Traditionsargument betont Butzer zu Recht (Fremdlasten, S. 128). 49 Vgl. Hase, Versicherungsprinzip, S. 305. 50 Vgl. Pieroth, AöR 114 (1989), S. 422 (438), dessen Argumentation zur Lösung von Normkonflikten zwischen Gesetzgebungskompetenzen und Grundrechten stillschweigend voraussetzt, dass überhaupt ein Kollisionsfall vorliegt, den es zu lösen gilt; weitergehend Pestalozza, Der Staat 11 (1972), S. 161 (179): auch im „kollisionslosen Verfassungsalltag“ hätten sich organisatorischer und materieller Teil der Verfassung zu arrangieren. 51 Siehe Sondervotum Böckenförde/Mahrenholz, BVerfGE, 69, S. 57 (61); J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 223. 52 Siehe J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 224; Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 128; Butzer, Fremdlasten, S. 135; Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 202; Kloepfer, JZ 1986, S. 205 (207); Pestalozza, Der Staat 11 (1972), S. 161 (169).
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§ 5 Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und sozialer Ausgleich
nicht so weit getrieben werden, dass die Kompetenzordnung des Grundgesetzes faktisch aufgehoben wird. 53
C. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG in Kollisionslage zu den Grundrechten? Bei Anwendung der soeben aufgestellten Regeln auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG muss zunächst festgestellt werden, dass weder der Wortlaut noch die Entstehungsgeschichte Hinweise darauf geben, dass der Verfassungsgeber dem Kompetenztitel eine grundrechtsbeschränkende Wirkung zugesprochen hat. 54 Im Zuständigkeitsausschuss des Parlamentarischen Rates wurde kaum mehr als die Frage diskutiert, ob die Arbeitslosenversicherung zur Klarstellung der Bundeskompetenz im Verfassungstext ausdrücklich erwähnt werden müsse oder nicht. 55 Daher kann der Sozialversicherungskompetenz eine eingriffslegitimierende Funktion nur zugesprochen werden, soweit die Vorgaben der Grundrechte andernfalls eine sinnvolle Ausübung der Kompetenz verhindern würden. Eine derartige Kollisionslage zwischen Organisationsverfassung und Grundrechtsordnung wird regelmäßig dann angenommen, wenn ein Kompetenztitel nicht nur einen Wirklichkeitsausschnitt beschreibt (Beispiel: Hochsee- und Küstenschiffahrt, Art. 74 Abs. 1 Nr. 21 GG), sondern normativ geprägt ist und auf ein Rechtsinstitut Bezug nimmt, das nur mit Hilfe von Grundrechtseingriffen errichtet werden kann. 56 Nach dieser Klassifikation erscheint eine grundrechtsbeschränkende Wirkung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG naheliegend, da die Sozialversicherung eine Institution darstellt, die in ihrer traditionell gewachsenen und heute noch bestehenden Ausgestaltung als Zwangsversicherung mit Beitragspflicht nicht ohne Grundrechtsbeschränkungen auskommt. 57 Doch wäre dieser Schluss voreilig. Eine Kollision mit Grundrechten besteht nicht bei jeder normativ geprägten Kompetenz, die auf ein grundrechtsbeschränkendes Rechtsinstitut Bezug nimmt. 58 So ist etwa die Ausübung der Gesetzge53 Butzer weist zutreffend darauf hin, dass die grundrechtsbeschränkende Interpretation der Gesetzgebungskompetenzen eine Reaktion auf das herrschende extensive Grundrechtsverständnis darstellt (Fremdlasten, S. 132 in Fußn. 77). 54 Wie hier J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 243 ff.; dagegen ist in BVerfGE 113, S. 167 (221) ohne jeden Quellennachweis von einer entstehungsgeschichtlich belegten grundsätzlichen Anerkennung des klassischen Modells der Sozialversicherung die Rede; im Ergebnis ebenso, aber mit differenzierterer Begründung, welche die Unergiebigkeit der unmittelbaren Entstehungsgeschichte anerkennt, Bieback, Bürgerversicherung, S. 69. 55 Siehe dazu Butzer, Fremdlasten, S. 156 f.; v. Doemming/Füßlein/Matz, JöR n. F. 1 (1951), S. 521 f. 56 So Pieroth, AöR 114 (1989), S. 422 (440); vgl. auch Butzer, Fremdlasten, S. 133. 57 Mit dieser Argumentation für eine eingriffslegitimierende Funktion des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG Butzer, Fremdlasten, S. 134 f. 58 Das konzediert auch Pieroth, AöR 114 (1989), S. 422 (441).
C. Kollisionslage zu den Grundrechten?
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bungszuständigkeit für das Strafrecht (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) mit denkbar weitgehenden Grundrechtseingriffen verbunden. Jedoch enthalten die Art. 2 Abs. 2, Art. 10 Abs. 2, Art. 13 Abs. 2, 3 und 5 und Art. 104 GG einfache und qualifizierte Gesetzesvorbehalte, aus denen sich ergibt, dass Freiheitsentziehungen, körperlicher Zwang und andere strafprozessuale Grundrechteingriffe gerechtfertigt werden können, ohne dass dem Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG eine materielle Funktion zuerkannt werden muss. Auch dem Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG kann eine Legitimationsfunktion somit nicht alleine deshalb unterstellt werden, weil er ein grundrechtsbeschränkendes Rechtsinstitut rezipiert. Vielmehr kommt es entscheidend darauf an, ob sich aus den Grundrechten derart strenge Vorgaben für die Ausgestaltung des Sozialversicherungsrechts ergeben, dass der Gesetzgeber von seiner Zuständigkeit ohne eine materielle Aufwertung des Kompetenztitels keinen sinnvollen Gebrauch machen könnte. Eine derartige Normenkollision kann nicht pauschal behauptet werden, sondern muss im Wege der Grundrechtsinterpretation belegt werden. Eine hervorgehobene Rolle kommt dabei dem allgemeinen Gleichheitssatz zu, auf den ein Teil des Schrifttums die Unterwerfung des Sozialversicherungsbeitrags unter das Äquivalenzprinzip stützt. Aus diesem Grunde werden die Vorgaben des Art. 3 Abs. 1 GG für die Ausgestaltung des Sozialversicherungsrechts im Folgenden an erster Stelle erörtert (I.) und erst anschließend die Freiheitsgrundrechte behandelt (II.).
I. Art. 3 Abs. 1 GG und der Grundsatz der Belastungsgleichheit Dem allgemeinen Gleichheitssatz wird nach herrschender Auffassung eine zentrale Bedeutung für die Erhebung und Bemessung sowohl von Steuern als auch von nichtsteuerlichen Abgaben zugesprochen. 59 Er gilt als Basis für den Grundsatz der Lastengleichheit im Abgabenrecht 60 und ist in dieser Bedeutung neben der Finanzverfassung 61 der zweite Pfeiler, auf den Stimmen im Schrifttum 62 die Geltung des Äquivalenzprinzips für alle nichtsteuerlichen Abgaben stützen. 63 Damit bedürfte 59 Siehe dazu Heun, in: H. Dreier, GG I, Art. 3 Rn. 74 ff.; F. Kirchhof, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, Besonderes Verwaltungsrecht II, § 20 Rn. 53 ff.; Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 134–190; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 3 Rn. 84–129, 149–173. 60 Siehe F. Kirchhof, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, Besonderes Verwaltungsrecht II, § 20 Rn. 53; Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 231; Selmer, Steuerinterventionismus, S. 356. 61 Siehe dazu oben § 4 B. II. und III. 62 Siehe J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 100 ff.; auch Butzer nimmt an, dass die Rechtfertigung des Sozialversicherungsbeitrags vor Art. 3 Abs. 1 GG unproblematisch ist, soweit sich Beitrag und Gegenleistung die Waage halten (Fremdlasten, S. 359 ff.). 63 Die herrschende Auffassung bewegt sich in diffuser Nähe zu dieser Position, indem sie den sozialen Ausgleich in der Sozialversicherung als legitime „Durchbrechung“ des grundsätzlich gültigen Äquivalenzprinzips einordnet; siehe Heun, in: H. Dreier, GG I, Art. 3 Rn. 82; Kingreen, ZESAR 2007, S. 139 (140); Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 187; Ruland, in:
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§ 5 Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und sozialer Ausgleich
der soziale Ausgleich in der Sozialversicherung freilich vor Art. 3 Abs. 1 GG einer besonderen verfassungsrechtlichen Rechtfertigung, für die eine grundrechtsbeschränkende Aufwertung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zum Solidarprinzip als ein möglicher (freilich nicht als einzig denkbarer 64) Ansatzpunkt in Betracht käme. Im Folgenden soll allerdings aufgezeigt werden, dass Art. 3 Abs. 1 GG die Rechtfertigungsfähigkeit von nichtsteuerlichen Abgaben keineswegs auf den Ausgleich eines individuellen Vorteils verengt. Daher lassen sich bestimmte Ausprägungen des sozialen Ausgleichs in der Sozialversicherung durch andere gleichheitskonforme Belastungsgründe rechtfertigen (1.). Zudem stehen das Äquivalenzprinzip und der soziale Ausgleich entgegen der herrschenden Auffassung nicht per se in einem Spannungsverhältnis. Der Solidarausgleich kann vielmehr selbst als eine besondere Leistung der Sozialversicherung angesehen werden, die den Versicherten zugute kommt und daher vom Prinzip des Vorteilsausgleichs gedeckt ist (2.). 1. Vorteilsausgleich als einzig denkbarer Belastungsgrund einer nichtsteuerlichen Abgabe? Zunächst stellt sich die Frage, ob die Abgleichung eines Sondervorteils unter Beachtung des Äquivalenzprinzips den einzigen Belastungsgrund darstellt, der die Erhebung einer nichtsteuerlichen Abgabe rechtfertigt. Diese Auffassung stützt sich darauf, dass die Steuer die einzige verfassungsrechtlich zugelassene einseitige Abgabe ohne Gegenleistung darstelle; aus diesem Grund dürfe die Erhebung nichtsteuerlicher Abgaben nicht wie die Steuer an die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Abgabenpflichtigen anknüpfen, sondern müsse mit einer staatlichen Gegenleistung verbunden sein. 65 a) Die unterschiedlichen Rechtfertigungsanforderungen an Steuern und nichtsteuerliche Abgaben Die zuvor skizzierte Ansicht überzeugt zumindest insoweit, als sie von der Prämisse ausgeht, dass die grundrechtlichen Rechtfertigungsanforderungen an Steuern und nichtsteuerliche Abgaben nicht identisch sein können. Die Steuerlast darf nach allgemeiner Auffassung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des AbgabenSchmidt-Aßmann, Besonderes Verwaltungsrecht, 7. Kap. Rn. 94; Schnapp, in: Achterberg/ Püttner/Würtenberger, Besonderes Verwaltungsrecht II, § 26 Rn. 7; ders./M. Kaltenborn, Friedensgrenze, S. 20. 64 Insbesondere stellt sich die Frage, ob das soziale Staatsziel aus Art.20 Abs.1 GG nicht der naheliegendere Anknüpfungspunkt für die Rechtfertigung von sozialer Umverteilung wäre; vgl. zur grundrechtsbeschränkenden Wirkung des Sozialstaatsprinzips Fuchs/Preis, Sozialversicherungsrecht, S. 45 f.; Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S. 141 ff.; Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VIII. Rn. 41 ff.; Roellecke, in: Umbach/Clemens, MAK I, Art. 20 Rn. 193 ff.; siehe auch Jung, SGb 2006, S. 125 (131). 65 So J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 110.
C. Kollisionslage zu den Grundrechten?
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schuldners bemessen werden. 66 Auch wenn sich im Grundgesetz anders als noch in Art. 134 der Weimarer Reichsverfassung 67 keine ausdrückliche Verankerung des Leistungsfähigkeitsprinzips findet 68, ergibt sich doch schon aus dem anerkannten verfassungsrechtlichen Begriff der Steuer als voraussetzungslos geschuldete, gegenleistungsfreie Abgabe 69, dass ihre Erhebung keinen über die wirtschaftliche Potenz des Abgabenschuldners hinausgehenden Belastungsgrund erfordert. Zwar stellt die Abgabenbelastung nach der Leistungsfähigkeit entgegen einer im Schrifttum vertretenen Auffassung 70 nicht die einzig zulässige 71, wohl aber die typische 72 Rechtfertigung der Besteuerung dar und ist daher mit Art.3 Abs.1 GG ohne Weiteres vereinbar. Mit der Erhebung der progressiv bemessenen direkten Steuern hat sich der Belastungsgrund der Leistungsfähigkeit im Abgabenrecht aber erschöpft. Es würde eine willkürliche Zusatzbelastung darstellen, wenn ein Teilausschnitt der bereits nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit besteuerten Bevölkerung mit derselben Begründung noch einmal zu einer „zweiten Einkommensverteilung“ 73 herangezogen würde. 74 Die Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen und anderen nichtsteuerlichen Abgaben bedarf daher vor Art. 3 Abs. 1 GG einer besonderen Rechtfertigung, die nicht an die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit anknüpft. 75 Zwar verbietet die Verfassung an keiner Stelle ausdrücklich, nichtsteuerliche Abgaben nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip zu bemessen. Die im Schrifttum vertre66 Siehe BVerfGE 8, S. 51 (68 f.); 61, S. 319 (343 f.); 82, S. 60 (86); 89, S. 346 (352); 99, S. 216 (232); 105, S. 17 (46); Heun, in: H. Dreier, GG I, Art. 3 Rn. 75; Kube, Finanzgewalt, S. 130 ff.; Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 134; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 3 Rn. 84; eingehend dazu Birk, Leistungsfähigkeitsprinzip. 67 Art. 134 WRV lautete: „Alle Staatsbürger ohne Unterschied tragen im Verhältnis zueinander im Verhältnis ihrer Mittel zu allen öffentlichen Lasten nach Maßgabe des Gesetzes bei.“ 68 Vgl. Kube, Finanzgewalt, S. 131 f.; Selmer, Steuerinterventionismus, S. 356. 69 Siehe dazu oben § 4 B. mit Nachweisen in Fußn. 10. 70 Siehe P. Kirchhof, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 88 Rn. 69; Selmer/ Brodersen, DVBl. 2000, S. 1153 (1159); Trzaskalik, StuW 1992, S. 135 (141); Vogel, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 87 Rn. 90 ff. 71 Wie hier gegen eine Exklusivität des Leistungsfähigkeitsprinzips im Steuerrecht: Herzog, DStZ 1988, S. 287 (289 f.); F. Kirchhof, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, Besonderes Verwaltungsrecht II, § 20 Rn. 56; Osterloh, NVwZ 1991, S. 823 (826 f.); Möckel, Umweltabgaben, S. 199 ff.; Schmehl, Äquivalenzprinzip, S. 104 f. 72 F. Kirchhof, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, Besonderes Verwaltungsrecht II, § 20 Rn. 56; ders., NZS 1999, S. 161 (163); Schmehl, Äquivalenzprinzip, S. 104. 73 Isensee, Umverteilung, S. 15. 74 Ebenso Butzer, Fremdlasten, S. 364; F. Kirchhof, NZS 2004, S. 1 (6); Schnapp, SGb 2005, S. 1 (1); vgl. auch Brosius-Gersdorf, NZS 2007, S. 410 (415). 75 So auch Butzer, Fremdlasten, S. 363 f.; F. Kirchhof, SDSRV 35 (1992), S. 65 (81); ders., NZS 1999, S. 161 (164, 166 f.); W. Kannengießer/C. Kannengießer, in: FS Klein, S. 1119 (1131 f., 1137 ff.); Siekmann, in: Sachs, GG, vor Art. 104 a Rn. 144 ff.; Spellbrink, Soziale Sicherheit 1996, S. 423 (427); Wallerath, SDSRV 45 (1999), S. 7 (16); ebenso zur Beitragspflicht von nichtversicherten Dritten BVerfGE 75, S. 108 (157); 113, S. 167 (219); zur Erhebung von Gebühren BVerfGE 93, S. 319 (343).
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§ 5 Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und sozialer Ausgleich
tene Auffassung, dass auch Sozialversicherungsbeiträge 76 und andere nichtsteuerliche Abgaben 77 an die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit anknüpfen dürfen und deshalb eine dem Steuerrecht nachempfundene progressive Beitragsbemessung grundsätzlich zulässig sei 78, würde jedoch zu einer Einebnung der unterschiedlichen grundrechtlichen Rechtfertigungsanforderungen an Steuern und andere Abgabenformen führen. Als Konsequenz würden die nichtsteuerlichen Abgaben zu voraussetzungslos geschuldeten Geldleistungspflichten mutieren und damit die in Art. 105 ff. GG getroffene Entscheidung für die Steuer als die vom Verfassungsgeber gewollte einseitige Abgabenform konterkarieren. Auch aus der Stellung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Abgabenkompetenz und der damit verbundenen grundsätzlichen Anerkennung des Sozialversicherungsbeitrags ergibt sich nichts anderes. Im Gegenteil: wenn der Verfassungsgeber mit dem Soziaversicherungsbeitrag neben der Steuer eine weitere Abgabenform vorgesehen hat, so kann das nur bedeuten, dass er dieser Abgabe auch einen eigenen verfassungsrechtlichen Anwendungsgrund zugesprochen hat, der sich von der Steuerlast signifikant unterscheidet. Als soziale Quasi-Zwecksteuer wäre der Sozialversicherungsbeitrag eine überflüssige Abgabenform. Zudem spricht auch die in Art. 87 Abs. 2 GG angeordnete Abgabenverwaltung in mittelbarer Staatsverwaltung dafür, dass die Sozialversicherungsträger keine steuergleiche Abgabe erheben dürfen. Es wurde bereits festgestellt, dass die haushälterische Trennung der Sozialversicherung von der unmittelbaren Staatsverwaltung den Zweck hat, den direkten Zugriff des Staates auf das Beitragsaufkommen der Sozialversicherung zu verhindern. 79 Diese Vorkehrung wäre überflüssig und im Hinblick auf die Budgetflüchtigkeit des Sozialversicherungsbeitrags kaum zu rechtfertigen, wenn die Sozialversicherungsträger lediglich eine der Steuer gleichende, voraussetzungslos geschuldete Abgabe verwalten würden.
b) Die Abgeltung eines individuellen Vorteils als einzig denkbare Rechtfertigung nichtsteuerlicher Abgaben? Aus dem zuvor Gesagten ergibt sich allerdings nur, dass die Erhebung von nichtsteuerlichen Abgaben nicht mit der Leistungsfähigkeit des Abgabenschuldners gerechtfertigt werden kann. Daraus kann aber nicht der Schluss gezogen werden, dass der Ausgleich eines individuellen Vorteils den einzigen zulässigen Belastungsgrund für die Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen darstellt. Eine solche Betrachtungsweise ginge nämlich davon aus, dass es nur zwei nicht gegen das Willkürver76 Siehe Kloepfer, VSSR 1974, S. 156 (165, 167); Schulin, 59. DJT, S. E 37, 60; Wieland, VSSR 2003, S. 259 (265 f.). 77 Siehe Kloepfer, AöR 97 (1972), S. 232 (257 f.); Schmehl, Äquivalenzprinzip, S. 187 f. 78 So explizit Werner, Leistungsfähigkeit, S. 216 f. 79 Siehe oben § 4 C. II.
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bot verstoßende Gründe gibt, die eine Abgabenlast rechtfertigen können: die Leistungsfähigkeit bei der Steuer, der Vorteilsausgleich bei nichtsteuerlichen Abgaben. Damit würde aber ein qualifizierter Gleichheitssatz des Abgabenrechts konstruiert, den die Verfassung nicht vorsieht. 80 Die Belastungsgleichheit der Staatsbürger unterliegt keinen strengeren Vorgaben als dem allgemeinen Gleichheitssatz. 81 Dieser regelt für das Abgabenrecht keinen abschließenden Kanon von zulässigen oder unzulässigen Differenzierungsgründen. 82 In der Diktion des Bundesverfassungsgerichts liegt ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG erst dann vor, „wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung (...) nicht finden lässt“ 83 oder „wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten“ 84. Aus der Unterscheidung zwischen Steuern und nichtsteuerlichen Abgaben ergibt sich deshalb lediglich, dass von einer offenen Zahl legitimer Differenzierungsgründe ein einziger als unzulässig ausscheidet, weil er exklusiv für die Erhebung von Steuern vorbehalten ist: das Kriterium der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. c) Zulässige Gründe für die Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen jenseits der Abgeltung eines individuellen Vorteils Da sich die Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen nicht auf die Abgeltung eines individuellen Vorteils beschränken muss, werden im Folgenden weitere dem Willkürverbot standhaltende Gründe dargestellt, die bestimmte Mechanismen des sozialen Ausgleichs im Sozialversicherungsrecht legitimieren. Dabei können teilweise Kriterien, die für die Rechtfertigung von anderen nichtsteuerlichen Abgaben – etwa Verursacher- oder Lenkungsabgaben – entwickelt worden sind, auf den Sozialversicherungsbeitrag übertragen werden. Das Grundgesetz stellt nämlich keine zwingende Verbindung zwischen bestimmten nichtsteuerlichen Abgabenformen 80 Wie hier Schmehl, Äquivalenzprinzip, S. 107 f.; vgl. auch W. Meyer/Blüggel, NZS 2005, S. 1 (3). 81 Selmer weist zutreffend darauf hin, dass sich aus Art.3 Abs. 1 GG keine qualifizierten Anforderungen an das Postulat der Belastungsgleichheit folgern lassen (Steuerinterventionismus, S. 356, 361); ebenso Schmehl, Äquivalenzprinzip, S. 106. 82 Siehe zum Steuerrecht Herzog, DStZ 1988, S. 287 (289 f.); F. Kirchhof, in: Achterberg/ Püttner/Würtenberger, Besonderes Verwaltungsrecht II, § 20 Rn. 56; allgemein zur Wertungsoffenheit des allgemeinen Gleichheitssatzes Osterloh, in: Sachs, GG, Art.3 Rn. 1 ff.; siehe auch Martini, Verteilungslenkung, S. 211: „Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, dass ein sachliches Differenzierungskriterium besteht, sagt aber nicht, worin dieses besteht.“ 83 BVerfGE 1, S. 14 (52); siehe auch BVerfGE 83, S. 1 (23); 89, S. 132 (141). 84 BVerfGE 55, S. 72 (88); siehe auch BVerfGE 82, S. 126 (146); 88, S. 5 (12); 95, S. 39 (45); 100, S. 59 (90); 102, S. 41 (54).
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und einzelnen Belastungsgründen her. 85 Die nichtsteuerlichen Abgaben werden im Grundgesetz allenfalls rudimentär geregelt; bereits ihre Existenz wird kaum einmal ausdrücklich erwähnt 86. Daher kann aus der Finanzverfassung kein numerus clausus zulässiger Abgabenarten hergeleitet werden. 87 Erstrecht findet sich kein besonderer Gleichheitssatz, der einzelnen nichtsteuerlichen Abgaben einen oder mehrere zulässige Belastungsgründe exklusiv zuordnet. 88 Die Verfassung kennt insbesondere kein eigenständiges Sozialversicherungs-Grundrecht. 89 Die einzige verfassungsrechtliche Beschränkung, die aber für alle nichtsteuerlichen Abgaben gilt und daher unter ihnen kein Unterscheidungskriterium schafft, liegt darin, dass ausschließlich die einseitig und voraussetzungslos geschuldete Geldleistungspflicht der Steuer an die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit anknüpfen darf. Eine Kombination und gegenseitige Übertragung von anerkannten Belastungsgründen ist innerhalb der Gruppe der nichtsteuerlichen Abgaben daher zulässig 90, soweit sie nicht dazu führt, dass sich die Abgabenerhebung in offener oder versteckter Form am Leistungsfähigkeitsprinzip orientiert. 91 aa) Individuelle Verantwortung für eine Risikoquelle: die Arbeitgeberfinanzierung der Unfallversicherung Besonders dringlich erscheint eine Abgabenrechtfertigung jenseits des Vorteilsausgleichs im Falle der Beitragspflicht von Arbeitgebern, die regelmäßig 92 selbst keine Leistungen der Sozialversicherung erhalten. Jedenfalls für die Beiträge zur Unfallversicherung, die alleine von den Arbeitgebern (in der Diktion des SGB VII: „Unternehmern“) aufzubringen sind, kann dabei auf einen anerkannten Rechtfertigungsgrund aus dem Gebührenrecht zurückgegriffen werden: die Verursachung von 85 Das verkennt etwa Hase, der den Abgabenzweck des Sozialversicherungsbeitrags exklusiv auf die Eigen- sowie die Fremdvorsorge in individuell spezifizierten Verantwortungsbeziehungen – z. B. zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer – beschränkt (Versicherungsprinzip, S. 184 f.); ähnliche Aussagen bei Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 268 ff.; Sodan, NZS 1999, S. 105 (109 ff.). 86 Die Ausnahmen: „Erhebung und Verteilung von Gebühren oder Entgelten für die Benutzung öffentlicher Straßen mit Fahrzeugen“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 22 GG); „Gebühren für die Benutzung der Einrichtungen des Postwesens und der Telekommunikation“ (Art. 80 Abs. 2 GG); vgl. Martini, Verteilungslenkung, S. 475. 87 Siehe P. Kirchhof, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, § 119 Rn. 107; Martini, Verteilungslenkung, S. 497; Schmehl, Äquivalenzprinzip, S. 101; a. A. Siekmann, in: Sachs, GG, vor Art. 104 a Rn. 139 ff. 88 Vgl. Selmer, Steuerinterventionismus, S. 356. 89 Siehe Pitschas, VVDStRL 64 (2005), S. 109 (134). 90 Ebenso P. Kirchhof, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 88 Rn. 281. 91 In diesem Sinne auch Isensee, SDSRV 35 (1992), S. 7 (17 f.): es komme nicht auf die gegenseitige Abgrenzung der nichtsteuerlichen Abgaben an, sondern entscheidend sei alleine ihre Unterscheidung von der Steuer. 92 Siehe aber sogleich zum Unfallversicherungsbeitrag als Gegenleistung für die Haftungsfreistellung des Arbeitgebers.
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Verwaltungskosten. Der Belastungsgrund der Gebühr erschöpft sich nicht in der Abgeltung eines individuellen Vorteils. Darüber hinaus darf auch derjenige, der für die Entstehung eines Verwaltungsaufwandes in persönlich zurechenbarer Weise verantwortlich ist, zur Abgeltung der öffentlichen Kosten herangezogen werden. 93 Deshalb sind etwa im Umweltrecht Verursacherabgaben, mit denen die Abgabenschuldner für die Kosten von umweltschädlichen Verhaltensweisen aufkommen müssen, zulässig. 94 Die Haftung muss sich dabei nicht auf Verhaltensstörer beschränken. Wie bei der polizeirechtlichen Zustandsverantwortlichkeit 95 kann die Kostenlast auch in anderen Rechtsgebieten auf den Eigentümer oder Besitzer einer Gefahrenquelle oder eines gefährdeten Objekts abgewälzt werden. 96 Eine derartige Zustandsverantwortung besteht auch im Unfallversicherungsrecht. Die Unfallversicherung kommt für Gesundheitsschäden von Arbeitnehmern bei Betriebsunfällen und Berufskrankheiten auf. In diesen Fällen stammt die Schadensursache aus der betrieblichen Sphäre und ist somit dem Verantwortungsbereich des Arbeitgebers zuzuordnen. 97 Aus diesem Grunde sind die Beiträge auch nach Gefahrenklassen gestaffelt, die sich am individuellen Betriebsrisiko orientieren. 98 Die alleinige Beitragspflicht der Arbeitgeber im Unfallversicherungsrecht ist daher mit dem Willkürverbot vereinbar. 99 Darüber hinaus kann der Beitrag zur Unfallversicherung freilich auch als Ausgleich eines individuellen Vorteils interpretiert werden. 100 Die Unfallversicherung hat historisch die früher bestehende zivilrechtliche Haftung des Arbeitgebers gegen-
93 Siehe P. Kirchhof, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 88 Rn. 185, 188; Martini, Verteilungslenkung, S. 538 f.; Vogel/Waldhoff, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, vor Art. 104 a Rn. 407, 414; Schmehl, Äquivalenzprinzip, S. 95. 94 Siehe P. Kirchhof, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR V, § 119 Rn. 38; Frenz, Verursacherprinzip im Abfallrecht, S. 116 ff.; vgl. auch dens., Verursacherprinzip im Öffentlichen Recht, S. 259 ff. 95 Näher zur Ersatzfähigkeit von Polizeikosten Gramm, in: Sacksofsky/Wieland, Gebührenstaat, S. 179 ff. 96 Vgl. P. Kirchhof, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 88 Rn. 185; Frenz, Verursacherprinzip im Öffentlichen Recht, S. 253 ff. 97 Vgl. Kleemann, Pflegeversicherung, S. 160; näher zur betriebsbezogenen Kausalität im Unfallversicherungsrecht Muckel, Sozialrecht, § 10 Rn. 38 ff. 98 Vgl. Gitter/Schmitt, Sozialrecht, § 21 Rn. 5. 99 Die verfassungsrechtliche Kritik an der Finanzierung von „Unfällen des täglichen Lebens“ und selbstverschuldeten Unfällen durch Beiträge der Arbeitsgeber (siehe etwa Rolfs, Versicherungsprinzip, S.246) braucht hier nicht weiter zu interessieren. Im Rahmen dieser Abhandlung geht es nur um die generelle Frage, ob sich die Beitragspflicht der Arbeitgeber dem Grunde nach rechtfertigen lässt, ohne dass dazu eine materielle Aufladung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG erforderlich ist. Die oben stehenden Ausführungen erheben daher nicht den Anspruch eines globalen verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeits-Testats für jegliche Normen des SGB VII. 100 Siehe Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S. 265; Werner, Leistungsfähigkeit, S. 227; Zacher, Sozialpolitik, S. 57 f.
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über dem Arbeitnehmer abgelöst. 101 Eine persönliche Haftung des Arbeitgebers besteht de lege lata nur noch bei Vorsatz und bei Wegeunfällen (§ 104 Abs. 1 S. 1 SGB VII). 102 Somit ist die Beitragspflicht zur Unfallversicherung auch eine Gegenleistung für die Haftungsübernahme des Staates. 103 bb) Wirtschaftliche und soziale Abhängigkeit: die Arbeitgeberbeiträge in den anderen Zweigen der Sozialversicherung Bei den Arbeitgeberbeiträgen in den sonstigen Zweigen der Sozialversicherung versagt allerdings der Belastungsgrund der Risikoverantwortung. Abgesehen von den in der Unfallversicherung erfassten Berufskrankheiten und Betriebsunfällen besteht zwischen der Berufstätigkeit sowie den Krankheits-, Alters- und Invaliditätsrisiken der Arbeitnehmer kein kausaler Zusammenhang. 104 Auch der Schadensfall der Arbeitslosenversicherung kann nicht generell dem Arbeitgeber zugerechnet werden, jedenfalls nicht bei einer verhaltensbedingten Kündigung. Eine im Schrifttum verbreitete Auffassung legitimiert die Arbeitgeberbeiträge durch die Qualifizierung als Teil des Arbeitslohns. 105 Das Bundesverfassungsgericht und ein anderer Teil des Schrifttums berufen sich dagegen auf die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers. 106 Beide Betrachtungen knüpfen an Kategorien des Arbeitsrechts an: Die Zahlung des Arbeitslohns gehört zu den vertraglichen Hauptpflichten 107, die Fürsorge für den Arbeitnehmer zu den Nebenpflichten 108 des Arbeitgebers. Diese zivilrechtlichen Herleitungen sind dogmatisch unsauber, weil der Arbeitgeberbeitrag nicht Teil des privatautonom ausgehandelten Arbeitsvertrages ist, sondern auf Bestimmungen des Öffentlichen Rechts beruht. 109 Zur Zahlung des Beitrags ist der Arbeitgeber auch nicht gegenüber dem Arbeitnehmer, sondern gegenüber der Sozial-
101 Vgl. Hase, Versicherungsprinzip, S. 185; Schmitt, in: v. Maydell/Ruland, SRH, C. 15. Rn. 1 ff. 102 Näher zur Reichweite des Haftungsausschlusses Waltermann, Sozialrecht, Rn. 306 ff. 103 Vgl. Waltermann, Sozialrecht, Rn. 252, 305. 104 Vgl. Kleemann, Pflegeversicherung, S. 161. 105 So etwa J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 154 f.; Isensee, SDSRV 35 (1992), S. 7 (29); Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S. 265 f.; F. Kirchhof, SDSRV 35 (1992), S. 65 (74 f., 77 f.); ders., NZS 1999, S. 161 (165); Schlegel, Soziale Sicherheit 2006, S. 378 (380); Zacher, Sozialpolitik, S.57; vom „Entgeltcharakter“ des Arbeitgeberbeitrags ist auch in BVerfGE 97, S.35 (44 f.) die Rede. 106 BVerfGE 11, S. 105 (113, 116); 14, S. 312 (317); Kleemann, Pflegeversicherung, S. 192 ff.; W. Leisner, Sozialversicherung, S. 94; Osterloh, NJW 1982, S. 1617 (1621); Werner, Leistungsfähigkeit, S. 228. 107 Vgl. dazu Brox/Rüthers/Henssler, Arbeitsrecht, Rn.272 ff.; Dütz, Arbeitsrecht, Rn.160 ff. 108 Vgl. dazu Brox/Rüthers/Henssler, Arbeitsrecht, Rn.299 ff.; Dütz, Arbeitsrecht, Rn.174 ff. 109 Vgl. die Kritik bei Butzer, Fremdlasten, S. 586 ff.; Hase, Versicherungspflicht, S. 179 f.; Schnapp, SGb 2005, S. 1 (2 f., 5 ff.); Werner, Leistungsfähigkeit, S. 226 f.
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verwaltung verpflichtet. 110 Zudem kann nicht pauschal davon ausgegangen werden, dass der Arbeitgeber die Beitragskosten vollständig auf die Arbeitnehmer abwälzt, wirtschaftlich also nur letztere belastet werden. 111 Die zivilistischen Deutungen des Arbeitgeberbeitrags enthalten dennoch einen wahren Kern: Die Rechtfertigungsmaßstäbe, die für unabdingbare zivilrechtliche und öffentlich-rechtliche Verpflichtungen der Arbeitgeber gelten, müssen prinzipiell gegenseitig austauschfähig sein, um Wertungswidersprüche zu vermeiden. Ist etwa eine Regelung, die dem Arbeitgeber die Zahlung von Prämienzuschüssen zu einer privaten Krankenversicherung des Arbeitnehmers auferlegt (vgl. § 257 Abs. 2 SGB V), verfassungsgemäß, so kann eine öffentlich-rechtliche Abgabe, die dem gleichen sozialen Zweck dient, jedenfalls nicht im Grundsatz verfassungswidrig sein. Deshalb ist auch nichts dagegen einzuwenden, dass die zivilrechtliche Fürsorgepflicht des Arbeitgebers vornehmlich durch öffentlich-rechtliche Arbeitsschutzvorschriften 112 konkretisiert wird. Öffentliches und privates Rechtsregime dürfen im Arbeits- und Sozialversicherungsrecht ebenso wie in anderen Sachgebieten als wechselseitige Ergänzungs- und Auffangordnungen konstruiert werden. 113 Zwar darf nicht verkannt werden, dass die Arbeitgeber durch die Auferlegung von Sozialversicherungsbeiträgen stärker belastet werden als durch zivilrechtliche Prämienzuschüsse. Zusätzliche organisatorische Belastungen folgen daraus, dass der Arbeitgeber gegenüber den Sozialversicherungsträgern für den Beitragseinzug verantwortlich ist. 114 Zudem macht er sich bei Nicht-Abführung der Arbeitnehmerbeiträge sogar strafbar (§ 266 a StGB). Die Auszahlung von Prämienzuschüssen an den Arbeitnehmer ist somit aus Arbeitgebersicht in den Kategorien des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes das mildere Mittel gegenüber der Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen. Das ändert jedoch nichts daran, dass mit beiden Arten von Zahlungspflichten der gleiche legitime Zweck verfolgt wird. Dieser legitime Zweck liegt in der wirtschaftlichen und sozialen Abhängigkeit des Arbeitnehmers vom Arbeitgeber. 115 Im Zuge der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts ist die abhängige Beschäftigung für große Teile der Bevölkerung zur einzigen Möglichkeit geworden, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. 116 Durch die IndustriaEbenso Schnapp, SGb 2005, S. 1 (3). So aber F. Kirchhof, SDSRV 35 (1992), S. 65 (78). 112 Vgl. dazu Dütz, Arbeitsrecht, Rn. 175, 448 ff. 113 Allgemein dazu Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann, Auffangordnungen; siehe auch Pünder, ZHR 2006, S. 567 (583). 114 Vgl. zur Rechtfertigung dieser administrativen Pflichten Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S. 266; F. Kirchhof, SDSRV 35 (1992), S. 65 (78). 115 Ähnlich Gössl, der zusätzlich darauf abstellt, dass die Arbeitgeber die Chance haben, das Produkt der Arbeitskraft der Arbeitnehmer gewinnbringend zu verwerten (Sozialversicherung, S. 59 f.). 116 Siehe zum Folgenden Waltermann, Sozialrecht, Rn. 40 ff.; vgl. auch Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S. 168 ff. 110 111
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lisierung wurde dem selbständigen Kleinhandwerk die Existenzgrundlage weitgehend entzogen; bestehende ständische Einrichtungen der sozialen Sicherung in Zünften und Gilden verfielen. Parallel dazu führte die Bauernbefreiung faktisch zu einer Verschlechterung der sozialen Lage der Landbevölkerung, weil der Gutsherr nicht mehr für die (regelmäßig freilich karge) Existenzsicherung bei Krankheit und Alter sorgte. In den Industriestädten entstand eine besitzlose Fabrikarbeiterschicht, die ihren Lebensunterhalt nur noch aus Lohneinnahmen bestreiten konnte. Das Angebot an Arbeitskräften war auch bedingt durch Kinderarbeit sehr groß und der Lohn wegen des Ungleichgewichts von Angebot und Nachfrage entsprechend niedrig. Rechtlich waren die Arbeiter zwar frei darin, ihre Arbeitsbedingungen auszuhandeln; tatsächlich mussten sie sich aber den Bedingungen des ungleich stärkeren Arbeitgebers unterwerfen. Arbeitsverträge konnten jederzeit ohne Kündigungsgrund gelöst werden, eine funktionierende Sicherung gegen soziale Risiken gab es nicht. Sowohl die Entstehung des modernen Arbeitsrechts als auch des Sozialversicherungsrechts sind Reaktionen auf dieses Machtungleichgewicht zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Im Arbeitsrecht wird die wirtschaftliche und soziale Abhängigkeit durch arbeitnehmerschützende Bestimmungen wie das Kündigungsschutzgesetz ausgeglichen, im Sozialversicherungsrecht durch die Beitragspflicht des Arbeitgebers. Das Sozialversicherungsrecht „überwölbt“ 117 somit das private Arbeitsrecht. Nach umstrittener aber zutreffender Auffassung beschränkt sich die Legitimität der Arbeitgeberbeiträge auch nicht auf die Finanzierung von sozialen Risiken, die einen inhaltlichen Zusammenhang zum Erwerbsleben aufweisen.118 Da auch die Auszahlung des Arbeitslohns rechtlich nicht an die Verwendung zu einem arbeitsplatznahen Verwendungszweck gekoppelt ist (und wegen der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte im Arbeitsverhältnis 119 nicht gekoppelt sein darf), braucht für eine öffentlich-rechtlich konstruierte Nebenlohnleistung wie den Arbeitgeberbeitrag zur Sozialversicherung nichts anderes zu gelten. Das heißt nicht, dass der Gesetzgeber den Arbeitgebern in beliebigem Umfang Sozialversicherungsabgaben aufbürden darf. Als Zwangslast durchbricht der Arbeitgeberbeitrag die privatautonome Aushandlung der Pflichten von Arbeitgeber und Arbeitnehmer und steht unter dem Rechtfertigungsdruck des Übermaßverbotes. 120 Der Sozialversicherungsbei117 So Hase, Versicherungsprinzip, S. 179 mit Nachweisen zu ähnlichen Aussagen im Schrifttum in Fußn. 127; siehe zur Verschränkung von Sozialrecht und Privatrecht auch Axer, SDSRV 51 (2004), S. 111 (115 ff.); Fuchs, Zivilrecht; Eichenhofer, NZS 2004, S. 169 ff.; ders., in: GS Heinze, S. 145 ff.; Felix, SDSRV 51 (2004), S. 91 (94 ff.). Allerdings sind Arbeits- und Sozialrecht nicht durchgängig konfliktfrei aufeinander abgestimmt; vgl. dazu Preis, NZA 2000, S. 914 ff. 118 Im Ergebnis wie hier Fuchs, in: Schulin, HS-PV, § 4 Rn. 31; Kleemann, Pflegeversicherung, S. 195 ff.; Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 248 f.; a. A. Friauf, DB 1991, S. 1773 (1778 f.); W. Leisner, GewArch 1996, S. 129 (132 f.); ders., NZS 1996, S. 97 (100); Maschmann, SGb 1991, S. 300 (306); Werner, Leistungsfähigkeit, S. 229 f. 119 Vgl. dazu Löwisch, Arbeitsrecht, Rn. 111 ff. 120 Vgl. Werner, Leistungsfähigkeit, S. 230.
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trag darf daher nicht außer Verhältnis zu der individuellen sozialen Verantwortung stehen, die der Arbeitgeber für den einzelnen, bei ihm beschäftigten Arbeitnehmer trägt. Deshalb wäre jedenfalls eine über den Umweg des Sozialversicherungsrechts konstruierte wirtschaftliche Vervielfachung des Arbeitslohns verfassungswidrig. Gleiches gilt für eine Abkoppelung des Arbeitgeberbeitrags vom individuellen Arbeitsverhältnis, etwa die Einführung einer am Unternehmensertrag orientierten Wertschöpfungsabgabe (sog. „Maschinenbeitrag“). 121 cc) Verhaltenslenkung Ein weiterer anerkannter 122 Belastungsgrund für die Erhebung von nichtsteuerlichen Abgaben, der in bestimmten Fallgruppen auch für die Rechtfertigung von Sozialversicherungsbeiträgen herangezogen werden kann, ist die Verhaltenslenkung. Der Zweck von Lenkungsabgaben liegt darin, dass sie ein sozial unerwünschtes Verhalten verteuern und für die belastete Person somit einen finanziellen Anreiz schaffen, ihr Verhalten zu ändern. Auch hier bilden Verursacherabgaben aus dem Umweltrecht ein Beispiel. 123 Lenkungsabgaben sind zwar auf kompetenzrechtlicher Ebene problematisch, soweit der Lenkungszweck einen Lebensausschnitt betrifft, für den der handelnde Abgabengesetzgeber keine Sachregelungskompetenz hat. Dieses Problem tritt jedoch eher bei Lenkungssteuern auf als bei nichtsteuerlichen Lenkungsabgaben, da im letzteren Fall Sach- und Abgabenkompetenz auf denselben Kompetenztitel gestützt werden. 124 Allerdings müssen Lenkungsabgaben an ein Verhalten anknüpfen, dessen Änderung dem Schuldner objektiv möglich und zumutbar ist, da sie sonst ihren Lenkungszweck verfehlen und aus diesem Grunde verfassungswidrig sind. 125 Deshalb meint Joachim Becker, dass dem Sozialversicherungsbeitrag der Pflichtversicherten keine Lenkungswirkung zugesprochen werden darf, weil diese keinen Einfluss auf ihre Abgabenbelastung nehmen können. 126 Doch können zumindest zwei Konstellationen des geltenden Beitragsrechts dem Belastungsgrund der Verhaltenslenkung 121 Ebenso Hase, Versicherungsprinzip, S. 178; Merten, NZS 1998, S. 545 (547); Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 249 mit weiteren Nachweisen in Fußn. 230; Ruland, in: Schmidt-Aßmann, Besonderes Verwaltungsrecht, 7. Kap. Rn. 94; a. A. v. Brünneck, ZRP 1990, S. 373 ff.; Werner, Leistungsfähigkeit, S. 230. 122 Siehe J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 266 f., 276 f.; Frenz, Verursacherprinzip im Abfallrecht, S.132 ff.; F. Kirchhof, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, Besonderes Verwaltungsrecht II, §20 Rn.58, 237; P. Kirchhof, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR V, §119 Rn.93 ff.; Kloepfer, AöR 97 (1972), S. 232 ff.; Schmehl, Äquivalenzprinzip, S. 95; Siekmann, in: Sachs, GG, vor Art. 104 a Rn. 19; Vogel/Waldhoff, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, vor Art. 104 a Rn. 430 ff. 123 Vgl. P. Kirchhof, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR V, § 119 Rn. 93. 124 Siehe Siekmann, in: Sachs, GG, vor Art. 104 a Rn. 19; eingehend zur Problematik der in Sachkompetenzen übergreifenden Lenkungssteuern Barthelmann, Steuergesetzgeber; Kube, Finanzgewalt, S. 256 ff. 125 Siehe J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 280 f. 126 J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 281.
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zugeordnet werden. Das betrifft zum einen die Arbeitgeberbeiträge für versicherungsfreie und anderweitig versicherte Beschäftigte (1), zum anderen die beitragsfreien Familienleistungen der Sozialversicherung (2). De lege ferenda wären auch weitere finanzielle Verhaltensanreize denkbar, etwa die Einführung von Zusatzbeiträgen zur gesetzlichen Krankenversicherung für Raucher oder andere Gruppen, die ihr Krankheitsrisiko durch eigenes Verhalten erhöhen. 127 (1) Arbeitgeberbeiträge für versicherungsfreie und anderweitig versicherte Beschäftigte Das Bundesverfassungsgericht hat die Lenkungswirkung als zulässigen Belastungsgrund von Sozialversicherungsbeiträgen bereits in einer Entscheidung aus dem Jahre 1962 anerkannt. 128 Es ging um die heute noch existierenden Arbeitgeberbeiträge zur Rentenversicherung bei der Beschäftigung von Personen, die bereits eine Altersrente beziehen (vgl. § 172 Abs. 1 SGB VI). Die Abgabenlast dient in diesem Fall nicht der Finanzierung einer Gegenleistung, weil der Beitrag sich nicht in einer Erhöhung der Rente niederschlägt. Daher gibt es Stimmen im Schrifttum, welche die Regelung als Verstoß gegen das Versicherungsprinzip kritisieren. 129 Mit Recht hat das Gericht die Regelung dagegen als verfassungsgemäß eingeordnet. Sie verhindert, dass für Arbeitgeber die Beschäftigung von Rentnern finanziell lukrativer ist als die Einstellung von rentenversicherungspflichtigen Arbeitnehmern und beseitigt daher eine arbeitsmarktpolitisch problematische Anreizwirkung. Aus ähnlichen Erwägungen können die Krankenversicherungsbeiträge der Arbeitgeber von geringfügig Beschäftigten (§ 249 b SGB V) zumindest im Grundsatz ebenfalls gerechtfertigt werden. 130 Auch hier steht der Beitragszahlung zwar keine Leistung gegenüber, weil geringfügig Beschäftigte nach § 7 Abs. 1 SGB V versicherungsfrei sind. Die Abgabenpflicht wird aber wiederum dem Grunde nach dadurch legitimiert, dass ein wirtschaftlicher Anreiz zum Abbau regulärer Beschäftigungsverhältnisse ausgeräumt wird. 131 Freilich ist § 249 b SGB V im Ergebnis dennoch verfassungswidrig, weil die nähere Ausgestaltung der Beitragspflicht gegen das Willkürverbot verstößt. Zunächst erweist sich als problematisch, dass der Beitrag nur für geringfügig Beschäftigte entrichtet werden muss, die aus anderweitigen Gründen (etwa als familienversicherte Ehegatten) in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind. 127 Vgl. Frenz, Verursacherprinzip im Öffentlichen Recht, S. 236 f.; Wieland, VSSR 2003, S. 259 (275). 128 Siehe BVerfGE 14, S. 312 (318 f.). 129 In diesem Sinne etwa Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 268 ff.; Sodan, NZS 1999, S. 105 (111). 130 Für die Verfassungsmäßigkeit der Regelung BSG, SozR 4–2500 § 249 b Nr. 2; Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 271 f.; Rombach, SGb 1999, S. 215 (218). 131 Vgl. die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 14/280, S. 10, 14.
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Die Regelung führt daher dazu, dass die Einstellung von privat krankenversicherten Personen wirtschaftlich lukrativ ist, weil der Arbeitgeber in diesem Fall keinen Beitrag entrichten muss. 132 Das betrifft etwa geringfügig Beschäftigte, die im Hauptberuf als Beamte oder Selbständige tätig und nicht freiwillig sozialversichert sind. Der Gesetzgeber und das Bundessozialgericht meinen, diese negative Lenkungswirkung in Kauf nehmen zu können, weil die Gruppe der privat Versicherten nur einen verschwindend geringen Anteil der insgesamt ca. zwei Millionen geringfügig Beschäftigten ausmache. 133 Diese Begründung mag noch hinzunehmen sein, solange die Praxis eine gegenteilige Wirkung der Vorschrift nicht erweist. Jedenfalls wäre gegen die im ursprünglichen Gesetzesentwurf geplante Beitragspflicht für alle geringfügig Beschäftigten 134 aus grundrechtlicher Sicht aber nichts einzuwenden gewesen. 135 Ein schwerwiegenderer Kritikpunkt ergibt sich daraus, dass der Arbeitgeberbeitrag nach § 249 b S. 1 SGB V dreizehn Prozent des Arbeitsentgelts beträgt und damit rund sechs Prozentpunkte über dem Arbeitgeberbeitrag für gewöhnliche Arbeitnehmer liegt. Diese Mehrbelastung ist von dem legitimen Lenkungszweck der Regelung nicht mehr gedeckt. Sie stellt eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung von wesentlich gleichen Sachverhalten dar und verstößt daher gegen Art. 3 Abs. 1 GG. 136 (2) Beitragsfreie Familienleistungen Als (allerdings sehr versteckte) Form einer Lenkungsabgabe können auch die Familienleistungen der Sozialversicherung eingeordnet werden, etwa die Mitversicherung von Ehegatten und Kindern in der Krankenversicherung, die Hinterbliebenenrenten und die Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung. Für all diese Leistungen müssen die Versicherten keine zusätzlichen Beiträge entrichten, so dass eine Person mit einem mitversicherten Ehegatten und mehreren Kindern keiner höheren Beitragslast unterliegt als ein kinderloser lediger Versicherter mit dem gleichen Erwerbseinkommen. Die Begünstigung der Familien führt deshalb im Ergebnis dazu, dass Ledige und Kinderlose belastet werden, weil sie mit ihren Beiträgen die mehrkostenfreien Familienleistungen mitfinanzieren. Wirtschaftlich schafft das Beitragsrecht der Sozialversicherung damit einen Anreiz zur Familiengründung, weil dem Versicherten und seinen Angehörigen in diesem Fall zum gleichen „Preis“ ein größeres Leistungsangebot winkt. 132 Kritisch dazu auch Boecken, NZA 1999, S. 393 (396 f.); Lembcke, NJW 1999, S. 1825 (1828). 133 Siehe BT-Drs. 14/441, S. 32; BSG, SozR 4–2500 § 249 b Nr. 2. 134 Siehe Art. 3 Nr. 4 des Gesetzesentwurfs (BT-Drs. 14/280, S. 5). 135 Ebenso Boecken, NZA 1999, S. 393 (396 f.); a. A. Rolfs, SGb 1999, S. 611 (614); Sodan, NZS 1999, S. 105 (106 ff.). 136 So bereits zutreffend Rolfs, SGb 1999, S. 611 (615).
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Da Art. 6 Abs. 1 GG den Staat verpflichtet, Ehe und Familie zu schützen, ist gegen diese Anreizwirkung verfassungsrechtlich nichts einzuwenden. Die von einem Teil des Schrifttums vertretene Auffassung 137, dass die Finanzierung von Familienleistungen durch Sozialversicherungsbeiträge einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG begründe, weil es sich um eine gesamtstaatliche und daher aus Steuermitteln zu bewältigende Aufgabe handele, überzeugt nicht. 138 Aus Sicht der belasteten Ledigen und Kinderlosen liegt kein Verstoß gegen den Gleichheitssatz vor, weil sie in der Lage sind, die Anreizwirkung auszunutzen und selbst in den Genuss der Familienleistungen zu kommen. 139 Problematisch erscheint vor Art. 3 Abs. 1 GG eher, dass die von der Sozialversicherung ausgeschlossenen Bevölkerungskreise von der Möglichkeit der beitragsfreien Familienversicherung keinen Gebrauch machen können. 140 Zwar verpflichtet Art. 6 Abs. 1 GG den Staat nicht dazu, jede Familienleistung der Gesamtbevölkerung zur Verfügung zu stellen. Insbesondere sind Abstufungen, die von der sozialen Lage der Betroffenen abhängen, zulässig. 141 In dieser Hinsicht wird die Arbeitnehmerzentriertheit des Sozialversicherungsrechts jedoch von der sozialen Wirklichkeit zunehmend in Frage gestellt, weil die dem System zugrunde liegende Gleichung „beruflich selbständig, also sozial nicht schutzbedürftig“ oftmals nicht mehr zutrifft 142. Das bedeutet freilich nicht, dass Ungleichbehandlungen nur durch eine Einbeziehung weiterer Bevölkerungsgruppen in die Sozialversicherung beseitigt werden können. Auch systemexterne Lösungen sind denkbar, etwa die steuerliche 143 Förderung der privaten Absicherung von Familienrisiken oder eine Regulierung des Privatversicherungsmarktes, die auch dort eine kostenfreie Mitversicherung von Familienangehörigen 144 ermöglicht. dd) Solidarität? Grundsätzliche Schwierigkeiten bereitet dagegen der vom Bundesverfassungsgericht 145 und einem Teil des Schrifttums 146 genannte Belastungsgrund der „Solidari137 So etwa J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 309; Hase, VSSR 2004, S. 55 ff.; Ruland, in: v. Maydell/Ruland, SRH, C. 16. Rn. 45 ff.; ders., NJW 2001, S. 1673 (1675 ff.); Sodan, Leistungserbringer, S. 334 ff. 138 Im Ergebnis wie hier, aber mit anderer Begründung BVerfGE 87, S. 1 (36 ff.); 94, S. 241 (263); 103, S.242 (263 f.); Kingreen, JZ 2004, S.938 (945 f.); Lenze, Staatsbürgerversicherung, S. 297 ff.; Schmehl, Äquivalenzprinzip, S. 205 ff.; siehe dazu auch unten 2. c) aa). 139 Ähnlich Hase, Versicherungsprinzip, S. 313 f.; Isensee, Umverteilung, S. 20. 140 Vgl. J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 309. 141 Siehe BVerfGE 107, S. 205 (213); Wieland, VSSR 2003, S. 259 (273). 142 Siehe dazu mit Nachweisen zu neueren sozialwissenschaftlichen Untersuchungen über die soziale Lage der Selbständigen Bieback, Bürgerversicherung, S. 17 f. 143 Kritisch zu einer Verlagerung sozialstaatlicher Regelungsmaterien in das Steuerrecht Felix, DVBl. 2004, S. 1070 (1074 ff.); dies., in: FS Selmer, S. 621 ff.; Seiler, NZS 2007, S. 617 ff. 144 Vgl. § 110 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. f, Abs. 3 Nr. 6 SGB XI, der die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern in der privaten Pflegeversicherung gebietet. 145 Siehe nur BVerfGE 76, S. 256 (300).
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tät“, der auch im Begriff des Solidarprinzips deutlich mitschwingt. Er wird regelmäßig angeführt, um die Umverteilung zwischen einkommensstarken und einkommensschwachen Pflichtmitgliedern der Sozialversicherung zu legitimieren. So geht das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass der Gesetzgeber den Mitgliederkreis der Sozialversicherung so abgrenzen darf, wie es für die Begründung einer leistungsfähigen Solidargemeinschaft erforderlich ist. 147 Mit dieser Argumentation hat das Gericht die schrittweise Ausdehnung der Sozialversicherungspflicht auf weitere Bevölkerungskreise einschließlich der Anhebung der Versicherungspflicht- und Beitragsbemessungsgrenzen bisher stets gebilligt.148 Soweit das Schlagwort der Solidarität die voraussetzungslose Umverteilung zwischen Reich und Arm begründen soll, kann dem aber nicht zugestimmt werden. Das hieße nämlich nichts anderes als Beitragspflichtigkeit aufgrund wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Der Belastungsgrund der Leistungsfähigkeit ist jedoch exklusiv der Steuerbelastung vorbehalten. 149 Deshalb ist die Steuer die einzige voraussetzungslos geschuldete, gesamtstaatliche Solidaritätsabgabe des Grundgesetzes. 150 Jenseits des Steuerrechts schafft rechtlich erzwungene Solidarität dagegen keine, sondern bedarf im Gegenteil selbst einer besonderen Rechtfertigung. 151 Aus diesem Grunde muss etwa die den Vermarktern von künstlerischen und publizistischen Leistungen auferlegte Künstlersozialabgabe (§§ 23 ff. KSVG) entgegen der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts 152 als verfassungswidrig eingeordnet werden. Soziale und wirtschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse, die eine Beitragslast zugunsten Dritter rechtfertigen 153, bestehen zwar nicht nur in Arbeitsverhältnissen. 154 Dafür liefert die schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts existierende Beitragspflicht der Auftraggeber von Hausgewerbetreibenden ein verfassungsgemäßes Beispiel. 155 Der Gesetzgeber ist deshalb grundsätzlich nicht gehindert, auch in anderen Branchen die Abhängigkeit (schein)selbständiger Personen von ihren Auftragge-
146 Siehe etwa Bieback, VSSR 2003, S. 1 (41); Jaeger, NZS 2003, S. 225 (226 f.); Kube, Der Staat 41 (2002), S. 452 (471 ff.); Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 3 Rn. 144; Wieland, VSSR 2003, S. 259 (264 f.). 147 Siehe BVerfGE 10, S. 354 (363 ff.); 12, S. 319 (323 ff.); 44, S. 70 (90); 102, S. 68 (89); 103, S. 197 (221 f.); 103, S. 271 (288); 113, S. 167 (220) – Hervorhebung nicht im Original. 148 Siehe BVerfGE 29, S. 221 (235 ff.); 44, S. 70 (89 ff.); 51, S. 257 (265); BVerfGK 2, S. 283 (287 f.). 149 Siehe oben a). 150 Vgl. Isensee, NZS 2004, S. 393 (399). 151 Siehe Isensee, NZS 2004, S. 393 (399); in diesem Sinne auch Butzer, Fremdlasten, S. 403 ff.; Hase, Versicherungsprinzip, S. 62 ff., 304 ff.; Ruland, SGb 1987, S. 133 (136); Schnapp/M. Kaltenborn, Friedensgrenze, S. 50. 152 Siehe BVerfGE 75, S. 108 (153 ff.). 153 Siehe oben bb). 154 Vgl. Werner, Leistungsfähigkeit, S. 228. 155 Vgl. Hase, Versicherungsprinzip, S. 179 f.; F. Kirchhof, NZS 1999, S. 161 (165); Osterloh, NJW 1982, S. 1617 (1621).
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bern zum Anknüpfungspunkt fremdnütziger Sozialversicherungsbeiträge zu bestimmen. Die Beitragslast eines Unternehmers zugunsten seines selbständigen Geschäftspartners unterliegt aber in besonderer Weise der Gefahr, dass die solventere Vertragspartei letztlich alleine aufgrund ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zum Sozialversicherungsbeitrag herangezogen wird. 156 Das trifft auch auf die Künstlersozialabgabe zu. Zwar haben der Gesetzgeber 157 und das Bundesverfassungsgericht 158 behauptet, dass sich die Vermarkter gegenüber den Künstlern und Publizisten in einer arbeitgeberähnlichen Stellung befinden. Diese Annahme wird jedoch bereits in der Gesetzesbegründung selbst widerlegt, die zutreffend darauf hinweist, dass „Kulturschaffende oft für eine Mehrzahl von Vermarktern in wechselndem Umfang tätig“ 159 sind. Eine Abgabenrechtfertigung jenseits der Leistungsfähigkeit ergibt sich auch nicht aus dem arbeitsteiligen Zusammenwirken von Vermarktern und Künstlern auf dem Kulturmarkt. 160 Alleine der geschäftliche Kontakt vermag eine gesteigerte soziale Verantwortung der Vermarkter für die Künstler und Publizisten nicht zu begründen. 161 2. Vorteilsausgleich und sozialer Ausgleich Im Vorherstehenden wurde gezeigt, dass es neben dem individuellen Vorteilsausgleich noch andere valide Belastungsgründe gibt, welche die Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen legitimieren können. Das betrifft aber nur die Arbeitgeberbeiträge einschließlich bestimmter Konstellationen, in denen dem Beitrag kein Leistungsanspruch des Arbeitnehmers gegenübersteht, sowie die beitragsfreien Familienleistungen. Der über die Familienversicherung hinausgehende soziale Ausgleich unter den beitragspflichtigen Versicherten lässt sich mit vergleichbaren Argumentationsmustern freilich nicht rechtfertigen. Da andere, nicht willkürlich gewählte Belastungsgründe nicht ersichtlich sind und eine Abgabenpflichtigkeit aufgrund wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit nach der hier vertretenen Auffassung ausscheidet, sind die Sozialversicherungsbeiträge der Versicherten nur als Ausgleich eines individuellen Vorteils zu legitimieren. Damit müssen sie aber sowohl dem Grunde als 156 Ähnlich F. Kirchhof, SDSRV 35 (1992), S. 65 (78 f.); Werner, die vor einer „überzogenen Fiktion“ sozialer Verantwortung für Dritte warnt (Leistungsfähigkeit, S. 228); in diesem Sinne formal auch BVerfGE 75, S. 108 (158): „allgemeine Erwägungen reichen nicht aus, um die Belastung bestimmter Bürger mit Sozialversicherungsbeiträgen, die Fremdlasten sind, zu rechtfertigen.“ 157 Siehe die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 9/26, S. 16 f. 158 Siehe BVerfGE 75, S. 108 (159). 159 BT-Drs. 9/26, S. 17. 160 So aber BT-Drs. 9/26, S. 17; ähnlich BVerfGE 75, S. 108 (158 f.). 161 Im Ergebnis wie hier v. Einem, DVBl. 1988, S. 12 (16); Isensee, SDSRV 35 (1992), S. 7 (30 f.); F. Kirchhof, NZS 1999, S.161 (165); ders., in: Isensee/P. Kirchhof, HStR V, §125 Rn.29 (anders noch ders., SDSRV 35 (1992), S.65, 78 f.); Osterloh, NJW 1982, S.1617 (1621 ff.); widersprüchlich Hase, Versicherungsprinzip, S. 182 ff.
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auch der Höhe nach dem Äquivalenzprinzip unterworfen werden, weil dem Gesetzgeber andernfalls Tür und Tor zu einer verfassungswidrigen steuergleichen Abgabenbemessung geöffnet wären. 162 Vor diesem Hintergrund erscheint die an die Höhe des Erwerbseinkommens anknüpfende (freilich durch Beitragsbemessungsgrenzen gekappte) Berechnung der Sozialversicherungsbeiträge auf den ersten Blick als verfassungsrechtlich prekär, weil ihr de lege lata in keinem Versicherungszweig eine proportional mitwachsende Leistungszuteilung gegenübersteht 163. Scheinbar orientiert sich das bestehende Sozialversicherungsrecht doch an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Versicherten. Will man nicht das in über 120jähriger Tradition praktizierte Beitragssystem dem Odium der Verfassungswidrigkeit unterwerfen, so mutet es auf den ersten Blick als nur zu verständlich an, wenn das Bundesverfassungsgericht 164 und die herrschende Lehre 165 auf einer legitimen Durchbrechung des Äquivalenzprinzips durch das Prinzip des sozialen Ausgleich beharren. Doch soll im Folgenden gezeigt werden, dass der soziale Ausgleich in der Sozialversicherung nicht per se in einem Spannungsverhältnis zu der Forderung nach Beitragsäquivalenz steht. Eine maßvolle soziale Umschichtung des Beitragsaufkommens kann auch im Hinblick auf die beitragsstarken Versicherten als individueller Vorteilsausgleich gerechtfertigt werden.
a) Keine Gleichsetzung des verfassungsrechtlichen Äquivalenzprinzips mit dem „Versicherungsprinzip“ der Privatversicherung Zunächst darf das verfassungsrechtliche Äquivalenzprinz als Maßstab für die Rechtfertigung des Sozialversicherungsbeitrags entgegen einer verbreiteten Ansicht 166 nicht mit einem angeblich aus dem Privatversicherungsrecht stammenden „versicherungstechnischen Äquivalenzprinzip“ oder „Versicherungsprinzip“ verwechselt werden, welches gebieten soll, dass sich die Prämie in versicherungsmathematisch nachvollziehbarer Weise am individuellen Risiko des Versicherten zu orientieren habe. Diesem Trugschluss ist zwar auch das Bundesverfassungsgericht aufgesessen, das seine Ausführungen zur Geltung des Solidarprinzips im Sozialversicherungsrecht regelmäßig mit dem formelartigen Hinweis einleitet, dass nur die Privatversicherung nach dem „reinen“ Äquivalenzprinzip gestaltet sei. 167 Doch ha162 Ebenso zu Gebühren Martini, Verteilungslenkung, S. 526 f.; siehe auch Helbig, in: Sacksofsky/Wieland, Gebührenstaat, S. 85 (88). 163 Siehe zu diesem Aspekt des interpersonellen Ausgleichs bereits oben A. 164 Siehe oben B. I. 2. mit Nachweisen. 165 Siehe die Nachweise in Fußn. 63. 166 Siehe etwa Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S. 177 f.; ders., JZ 2004, S. 938 (945); Schnapp, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, Besonderes Verwaltungsrecht II, § 26 Rn. 3 ff.; vgl. auch Boetius, VersR 2007, S. 431 (432 f.). 167 Siehe etwa BVerfGE 10, S. 141 (166); 17, S. 1 (9); 76, S. 256 (300 ff.); 117, S. 272 (294).
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ben Hermann Butzer 168 und Friedhelm Hase 169 zutreffend darauf hingewiesen, dass ein derartiger Grundsatz im Privatversicherungsrecht gar nicht existiert. Abgesehen von einzelnen stärker regulierten Versicherungszweigen unterliegt die Prämiengestaltung innerhalb des weiten Rahmens der §§ 138, 242 BGB der privatautonomen Vereinbarung der Vertragsparteien. 170 Der Grundsatz „Prämie nach Risiko“ hat daher keine rechtliche, sondern nur eine betriebswirtschaftliche Bedeutung.171 „Dass Güter und Dienstleistungen ‚zu ihrem Wert‘ veräußert werden können, (...) ist die in das auf Vertragsfreiheit gegründete Privatrecht investierte allgemeine Erwartung, die selbst nicht rechtlich zu fixieren und gerichtlich einzuklagen ist“ 172. Selbst wenn man entgegen der hier vertretenen Auffassung davon ausgeht, dass ein versicherungstechnisches Äquivalenzprinzip im Privatversicherungsrecht existiert, wäre dennoch nicht zu begründen, warum dieses den Berechnungsmodus für die Beitragsäquivalenz in der Sozialversicherung bindend vorgeben soll. Zwar existiert im Schrifttum eine Auffassung, nach der sich das Sozialversicherungsrecht im 19. Jahrhundert organisch aus dem Privatversicherungsrecht entwickelt hat. 173 Auf der Basis dieser Ansicht könnte es als naheliegend erscheinen, historisch verfestigte allgemeine Rechtsgrundsätze des Privatversicherungsrechts auf die Sozialversicherung zu übertragen. Der dogmatische Ausgangspunkt dieser Rechtsanalogie wäre jedoch nicht überzeugend. Das Sozialversicherungsrecht ist zwar historisch später entstanden, stellt jedoch keine natürliche Fortentwicklung des bereits bestehenden Privatversicherungsrechts dar. Die Errichtung der Sozialversicherung markiert im Gegenteil eine Zäsur 174, weil sie als öffentlich-rechtliche Zwangsversicherung mit einkommensbezogener Beitragsbemessung von Beginn an nach vollständig anderen Regeln geordnet war als die Privatversicherung. Das Sozialversicherungsrecht war die Antwort des Gesetzgebers auf soziale Fragen, die mit den privatrechtlichen Mitteln der Vertragsfreiheit nicht mehr gelöst werden konnten. 175 b) Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Festsetzung äquivalenter Beiträge Da bereits das einfache Recht (geschweige denn die Verfassung) keinen Geltungsgrund für die Rezeption eines „versicherungstechnischen Äquivalenzprinzips“ enthält, schreibt das Grundgesetz auch keine bestimmte Berechnungsmethode für die Herstellung der Beitragsadäquanz im Sozialversicherungsrecht vor. Prinzipiell liegt 168 169 170 171 172 173 174 175
Siehe Butzer, Fremdlasten, S. 198 ff., 208 f., 218 f. Siehe Hase, Versicherungsprinzip, S. 89 ff., 101 ff. Siehe bereits oben § 3 D. III. 2. d) bb). Siehe Butzer, Fremdlasten, S. 200. Hase, Versicherungsprinzip, S. 101. Siehe Fuchs, Zivilrecht, S. 32 ff. Hase spricht von einem „fundamentalen Bruch“ (Versicherungsprinzip, S. 38 f.). Siehe Eichenhofer, Internationales Privatrecht, S. 31.
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es somit beim Gesetzgeber, sich unter mehreren denkbaren Kalkulationsmethoden und Versicherungstechniken zu entscheiden. 176 Das führt zu einem grundsätzlichen Problem der Abgabenrechtfertigung nach dem Maßstab des Vorteilsausgleichs: der wirtschaftliche Wert einer staatlichen Leistung lässt sich regelmäßig nur schwer beziffern, weil diese regelmäßig auf dem privaten Markt nicht erhältlich ist. 177 Stimmen im Schrifttum, die aus diesem Dilemma den Schluss ziehen wollen, dass es ein verfassungsrechtliches Äquivalenzprinzips nicht gebe und nicht geben könne 178, schütten zwar das Kind mit dem Bade aus. Der Verzicht auf den Grundsatz des Vorteilsausgleichs würde zu dem verfassungswidrigen Ergebnis führen, dass der Gesetzgeber nichtsteuerliche Abgaben auch nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Abgabenschuldners bemessen darf. 179 Aber jedenfalls wird man dem Gesetzgeber bei der Gestaltung des Beitragsrechts – insoweit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 180 und des Bundesverwaltungsgerichts 181 folgend – einen erheblichen Gestaltungsspielraum zubilligen müssen. 182 Das Äquivalenzprinzip stellt daher nur „eine ‚Leitplanke‘ an der – breiten – Fahrspur des Gesetzgebers“ 183 dar. c) Der soziale Ausgleich als Leistung der Sozialversicherung Soeben wurde darauf hingewiesen, dass ein grundlegendes Problem bei der Anwendung des verfassungsrechtlichen Äquivalenzprinzips darin besteht, den Wert der staatlichen Leistung zu ermitteln, weil diese regelmäßig auf dem privaten Wirtschaftssektor nicht erhältlich ist und daher ein marktüblicher Preis nicht ermittelt werden kann. Das betrifft auch die Leistungen der Sozialversicherung. Die im Schrifttum anzutreffende Gleichsetzung der Beitragsäquivalenz mit der Prämienkalkulation der Privatversicherung ist auch deshalb abzulehnen, weil sie auf der unzutreffenden Annahme basiert, dass die Sozialversicherung für die Versicherten das gleiche Angebot bereithalte wie die privaten Versicherungsunternehmen. Das ist aber nicht der Fall. Insbesondere stellt der soziale Ausgleich zwischen den Versicherten selbst eine besondere Leistung der Sozialversicherung dar, die auf dem privaten Versichertenmarkt herkömmlich nur in sehr begrenztem Maße 184 angeboten wird. Ebenso Butzer, Fremdlasten, S. 218; Schmehl, Äquivalenzprinzip, S. 96. Siehe Isensee, Umverteilung, S. 33; Kloepfer, AöR 97 (1972), S. 232 (253); Martini, Verteilungslenkung, S. 536 ff. 178 So Bieback, VSSR 2003, S. 1 (30 ff.); Kloepfer, AöR 97 (1972), S. 232 (252 f.); tendenziell auch Lenze, Staatsbürgerversicherung, S. 419 ff. 179 Vgl. Martini, Verteilungslenkung, S. 530 ff. 180 Siehe BVerfGE 20, S. 257 (270); 50, S. 217 (226 f.); 91, S. 207 (223); 97, S. 332 (345). 181 BVerwGE 12, S. 162 (166); 69, S. 242 (247); 81, S. 371 (376). 182 Ebenso Helbig, in: Sacksofsky/Wieland, Gebührenstaat, S. 85 (89 ff.). 183 Schmehl, Äquivalenzprinzip, S. 214. 184 Siehe zum generationenübergreifenden sozialen Ausgleich in der privaten Krankenversicherung oben § 3 D. III. 2. d) bb). 176 177
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Die Erkenntnis, dass die sozialversicherungsrechtlichen Mechanismen der sozialen Umschichtung die Eigennützigkeit der Beitragsleistung nicht generell durchbrechen, sondern ein maßvoller sozialer Ausgleich im Gegenteil als eine Art „Zusatzversicherung“ 185 interpretiert werden kann, ist ein Verdienst der Habilitationsschrift von Friedhelm Hase. Der soziale Ausgleich bewerkstelligt demnach eine Kompensation individueller Vorsorgeschwäche. Er sorgt dafür, dass die Versicherten Vorsorge betreiben können, die sie auf dem privaten Versicherungsmarkt entweder gar nicht oder nicht zu für sie erschwinglichen Preisen erhalten können. 186 Deshalb stellt der soziale Ausgleich keine Belastung, sondern eine Begünstigung der Versicherten dar. 187 aa) Die Versicherungstechnik des Umlageverfahrens So sorgt die Versicherungstechnik des Umlageverfahrens dafür, dass die Beitragsleistungen der Versicherten nicht getrennten Versichertenkonten zufließen. Der einzelne Beitragszahler muss somit seine Leistungsansprüche nicht alleine aus eigener Kraft aufbauen, sondern profitiert in deutlich höherem Maße als in der Privatversicherung von seiner Mitgliedschaft in einer großen Beitragszahlergemeinschaft. Dieser Mechanismus sorgt dafür, dass die Versicherten teilweise Vorsorge weit jenseits der Möglichkeiten der Privatversicherung betreiben können. So empfängt etwa die heutige Rentnergeneration (freilich auf der Basis ganz erheblicher Bundeszuschüsse) Alterseinkommen, die weit über den Ertrag hinausgehen, der durch eine private Geldanlage der Beitragsmittel hätte erzielt werden können. 188 Zudem führt das Umlageverfahren dazu, dass die Einnahmen der Sozialversicherung stets innerhalb einer Haushaltsperiode vollständig ausgegeben werden und daher nur in sehr beschränktem Maße der Gefahr der Geldentwertung unterliegen. 189 Die wirtschaftlichen Zusammenbrüche des letzten Jahrhunderts haben gezeigt, dass in der Inflationsfestigkeit eine besondere Stärke des Bismarck’schen Sozialversicherungsmodells liegt. Dieser Vorteil wird freilich dadurch erkauft, dass die umlagefinanzierte Gefahrengemeinschaft immer wieder auf den Eintritt neuer Mitgliedergenerationen angewiesen ist. Damit wird der Geburtenschwund zum „Ernstfall“ 190 des bestehenden Sozialversicherungsrechts, der die von Art. 3 Abs. 1 GG geforderte Beitragsäquivalenz bedroht. Das gilt insbesondere für die Versicherungszweige der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung, die einen stark ausgeprägten intergenerationellen Hase, Versicherungsprinzip, S. 310. Siehe Hase, Versicherungsprinzip, S. 309 ff.; zustimmend Spellbrink, JZ 2004, S. 538 (543); Werner, Leistungsfähigkeit, S. 183 ff. 187 So, der Konzeption Hases ausdrücklich zustimmend, auch BVerfGE 113, S. 167 (221). 188 Siehe Hase, Versicherungsprinzip, S. 146 mit Nachweisen zu entsprechenden Berechnungen in Fußn. 4. 189 Vgl. dazu die Wortmeldung von H. Meyer in VVDStRL 64 (2005), S. 191. 190 Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S. 257; Isensee, SDSRV 35 (1992), S. 7 (34). 185 186
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Ausgleich aufweisen. Vor scheinbaren „Patentlösungen“ – etwa die Umstellung der Rentenversicherung auf die Versicherungstechnik des Anwartschaftsdeckungsverfahrens 191 – wird jedoch zu Recht gewarnt 192. Der Aufbau des erforderlichen Kapitalstocks würde, soweit er überhaupt ökonomisch zu realisieren wäre, Jahrzehnte dauern. 193 Auch eine zunehmende Steuerfinanzierung der Sozialversicherung wird nur begrenzt Abhilfe schaffen können, da das Steueraufkommen des Staates im Zeitalter des grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs einbricht. 194 Die zunehmende Überalterung ist ein gesellschaftliches und volkswirtschaftliches Problem, das nicht nur den Sozialversicherungsstaat, sondern den deutschen Sozialstaat insgesamt in den nächsten Jahrzehnten dauerhaft beschäftigen wird. Aus Sicht des verfassungsrechtlichen Äquivalenzprinzips werden die daraus folgenden Belastungen jedenfalls generationengerecht zu verteilen sein und dürfen nicht ausschließlich auf die jüngeren Kohorten der Sozialversicherung abgewälzt werden. 195 Dabei gilt allerdings eine Einschränkung. Innerhalb eines umlagefinanzierten Sicherungssystems, das immer wieder auf das „Nachwachsen“ von jungen Beitragszahlerkohorten angewiesen ist, stellt sich die intergenerationelle Gerechtigkeitsfrage nur zugunsten von Personen, die selbst Kinder aufgezogen haben.196 Sie werden gleich dreifach belastet, wenn sie die Anwartschaften der älteren Kohorten durch ihre Beiträge finanzieren, zugleich Kosten für die Erziehung ihrer Kinder (der nächsten Beitragszahlergeneration der Sozialversicherung 197) aufwenden und im Gegenzug im Alter sinkende Sozialversicherungsleistungen hinnehmen müssen. Aus Sicht von kinderlosen Versicherten ist eine demographisch bedingte Verschlechterung von bestehenden Sozialversicherungsanwartschaften dagegen eine Folge ihres eigenen Verhaltens und muss vom Staat daher nicht ausgeglichen werden. 198 Die Forderung des Bundesverfassungsgerichts 199, dass der Gesetzgeber die Kindererziehung innerhalb der umlagefinanzierten Sozialversicherungssysteme als anspruchsbegründende „Leistung“ berücksichtigen muss, verdient deshalb Zustimmung 200.
Siehe dazu die Vorschläge in Frankfurter Institut, Rentenkrise. Siehe etwa Borchert, in: Boecken/Hänlein/Kruse/Steinmeyer, Sicherung, S. 133 ff. 193 Nach Rolfs wäre bei Erhalt des heutigen Sicherungsniveaus ein Kapitalstock von weit mehr als fünf Billionen Euro erforderlich, etwa das dreifache des Bruttoinlandprodukts (Versicherungsprinzip, S. 233 f.). 194 Vgl. die Wortmeldung von Wieland in VVDStRL 64 (2005), S. 190. 195 Vgl. J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 288 ff., 348 ff.; Wenner, in: FS 50 Jahre BSG, S. 625 (638 f.). 196 Ebenso Lenze, Staatsbürgerversicherung, S. 366 f. 197 Vgl. Kingreen, JZ 2004, S. 938 (944). 198 So zutreffend Lenze, Staatsbürgerversicherung, S. 367. 199 BVerfGE 87, S. 1 (36 ff.); 94, S. 241 (263); 103, S. 242 (263 f.). 200 So auch Kingreen, JZ 2004, S. 938 (945 f.); ders., ZESAR 2007, S. 139 (146); Lenze, Staatsbürgerversicherung, S. 297 ff.; dies., NZS 2007, S. 407 ff.; Schmehl, Äquivalenzprinzip, S. 205 ff.; Seiler, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, § 81 Rn. 45. 191 192
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bb) Die einkommensbezogene Beitragsbemessung Auch der an die einkommensbezogene Beitragsbemessung anknüpfende soziale Ausgleich kann als besondere Leistung der Sozialversicherung gedeutet werden. Zwar profitieren die einkommensstarken Beitragszahler, soweit sich ihr beitragspflichtiges Einkommen während der Versicherungszeit nicht verschlechtert, von ihren Beitragsleistungen relativ weniger als die einkommensschwachen Beitragszahler. Doch bewirkt der einkommensbezogene soziale Ausgleich eine besondere Sicherung für den Fall des wirtschaftlichen Abstiegs. 201 Sinkt das beitragspflichtige Einkommen durch Verschlechterung der beruflichen Situation, so sinken auch die Beiträge. Der Versicherte kann selbst dann weiterhin Vorsorge betreiben, wenn sich seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erheblich verschlechtert hat. 202 Die Sozialversicherung ist damit eine Vorsorgeform, die sich flexibel an die Möglichkeiten des Beitragszahlers anpasst. Auch darin unterscheidet sie sich von privaten Anlageformen mit festen Prämien. Kann ein Versicherter etwa die Prämien zu einer privaten Lebensversicherung nicht mehr bedienen, so bleibt ihm im Regelfall nur die Möglichkeit, sich beitragsfrei stellen zu lassen. Mit der sinkenden Wirtschaftskraft stagniert somit auch die Vorsorge. Die Anpassungsfähigkeit an Schwankungen der individuellen Wirtschaftskraft stellt somit eine besondere Leistung der Sozialversicherung dar, die eine einkommensbezogene Beitragsbemessung rechtfertigt. Die hohen Beiträge der einkommensstarken Versicherten sind das Äquivalent für das soziale Netz, das die Sozialversicherung für den Fall des sozialen Abstiegs aufspannt. Die hier vertretene Grundrechtsauffassung darf allerdings nicht dahingehend missverstanden werden, dass der Gesetzgeber die einkommensstarken Versicherten unbeschränkt zum sozialen Ausgleich heranziehen darf.203 Sozialer Ausgleich und individueller Vorteilsausgleich verbinden sich nur, soweit die beitragspflichtigen Versicherten tatsächlich selbst vom Risiko des sozialen Abstiegs bedroht und somit schutzbedürftig sind. 204 Zwar wird man dem Gesetzgeber in dieser Frage einen weiten Beurteilungsspielraum zugestehen müssen. 205 Dieser kann aber nicht grenzenlos sein. Eine Sozialversicherungspflicht, die ersichtlich nur das Ziel hat, leistungsstarke Beitragszahler zugunsten Dritter zu verpflichten, ist verfassungswidrig. 206 Die Beitragslast der einkommensstarken Versicherten unterliegt zudem auch der Höhe nach verfassungsrechtlichen Grenzen. Da der Belastungsgrund der wirtschaftlichen So auch Rüfner, Sozialrecht, S. 139. Siehe Hase, Versicherungsprinzip, S. 310. 203 Kritisch zu einem „umfassenden“ sozialen Ausgleich auch Hase, Versicherungsprinzip, S. 345 ff. 204 Vgl. Hase, Versicherungsprinzip, S. 54 ff.; F. Kirchhof, NZS 2004, S. 1 (2); W. Leisner, Sozialversicherung, S. 58 ff. 205 Siehe BVerfGE 48, S.227 (234) mit weiteren Nachweisen; Schnapp/M. Kaltenborn, Friedensgrenze, S. 47. 206 Ebenso Hase, Versicherungsprinzip, S. 51 ff.; Isensee, SDSRV 35 (1992), S. 7 (21). 201 202
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Leistungsfähigkeit exklusiv für die Erhebung von Steuern vorbehalten ist 207, wäre eine steuergleiche progressive Beitragsbemessung mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht vereinbar. 208 Im Ergebnis sind somit sowohl die Versicherungspflicht- als auch die Beitragsbemessungsgrenzen aus verfassungsrechtlicher Sicht unverzichtbare Bestandteile des bestehenden Sozialversicherungsrechts. 209 Der Einwand, dass damit gerade die leistungsstärksten Bevölkerungsschichten aus der Solidaritätsverpflichtung der Sozialversicherung entlassen werden 210, geht fehl, weil der Gesetzgeber eine voraussetzungslose Umverteilung zwischen Reich und Arm nur über das Medium des Steuersystems bewirken darf. 3. Zwischenresümee Vor Art. 3 Abs. 1 GG lassen sich die Beitragspflicht der Arbeitgeber, die beitragsfreien Familienleistungen sowie der auf der Umlagefinanzierung und der einkommensbezogenen Beitragsbemessung basierende soziale Ausgleich unter den Versicherten dem Grunde nach auch ohne ein materielle Aufladung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG rechtfertigen. Eine Normenkollision zwischen der Gesetzgebungskompetenz und dem allgemeinen Gleichheitssatz besteht daher nicht.
II. Sichtung der einschlägigen Freiheitsgrundrechte Da zwischen Art. 3 Abs. 1 GG und der Sozialversicherungskompetenz keine Kollisionslage besteht, ist eine grundrechtsbeschränkende Aufwertung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nur dann geboten, wenn die Vorgaben der Freiheitsgrundrechte eine sinnvolle Ausübung der Gesetzgebungszuständigkeit andernfalls verhindern würden. 1. Freiheitsgrundrechte der Versicherten a) Die allgemeine Handlungsfreiheit Die Zwangsmitgliedschaft und Beitragspflicht der Versicherten misst das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung nur an der allgemeinen Handlungsfreiheit. 211 Der Grundrechtseingriff unterliegt damit keinem strengeren MaßSiehe oben 1. a). Ebenso F. Kirchhof, SDSRV 35 (1992), S. 65 (82 f.); ders., NZS 1999, S. 161 (166). 209 Ebenso Isensee, SDSRV 35 (1992), S. 7 (20 f.). 210 So etwa Huster, JZ 2002, S.371 (376); Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S.268; Kretschmer, in: Boecken/Hänlein/Kruse/Steinmeyer, Sicherung, S. 13 (24 f.); Lenze/Zuleeg, NZS 2006, S. 456 (459); Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 263; ähnlich Wallrabenstein, SGb 2004, S. 24 (26). 211 Siehe BVerfGE 29, S. 221 (235); 44, S. 70 (89). 207 208
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§ 5 Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und sozialer Ausgleich
stab als der verfassungsmäßigen Ordnung i. S. d. Art. 2 Abs. 1 GG, also einer reinen Verhältnismäßigkeitsprüfung. Da das Übermaßverbot keine Vorgaben zur Eingrenzung der prinzipiell offenen Zahl von legitimen Eingriffszwecken trifft 212, können die oben für den allgemeinen Gleichheitssatz entwickelten Kriterien deshalb entsprechend herangezogen werden, um auch die Verkürzung der allgemeinen Handlungsfreiheit dem Grunde nach zu rechtfertigen. b) Die negative Vereinigungsfreiheit Die von einem Teil des Schrifttums 213 befürwortete Aktivierung der negativen Vereinigungsfreiheit gegen die Zwangsmitgliedschaft in öffentlich-rechtlichen Verbänden wie der Sozialversicherung lehnt das Bundesverfassungsgericht 214 dagegen zu Recht ab. Bereits die Formulierung der Schranke des Art. 9 Abs. 2 GG deutet darauf hin, dass die Vereinigungsfreiheit nur privatrechtliche Zusammenschlüsse thematisiert. 215 Zudem belegt die unmittelbare Entstehungsgeschichte des Art. 9 GG, dass die Mitgliedschaft in öffentlich-rechtlichen Zwangsverbänden nicht in den negativen Schutzbereich fällt. 216 c) Die Berufsfreiheit Kein strengeres grundrechtliches Prüfungsprogramm ergibt sich, soweit man mit einer Literaturauffassung 217 davon ausgeht, dass die an die Erwerbstätigkeit anknüpfende Beitragspflicht zur Sozialversicherung einen mittelbaren Eingriff in die Berufsfreiheit der Versicherten darstellt. Jedenfalls wäre ein derartiger Eingriff im Rahmen der Drei-Stufen-Theorie nicht als objektive oder subjektive Beschränkung der Berufswahl, sondern nur als Berufsausübungsregelung zu qualifizieren. Damit könnte die Freiheitsbeschränkung durch jegliche vernünftige Erwägung des Allgemeinwohls 218 gerechtfertigt werden. Im Ergebnis fände somit eine VerhältnismäßigSiehe Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 280. Siehe etwa Bethge, JA 1979, S. 281 (284 f.); Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 414; Höfling, in: Sachs, GG, Art. 9 Rn. 22; Murswiek, JuS 1992, S. 116 (118 f.); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 730; tendenziell auch Wieland, VSSR 2003, S. 259 (269). 214 Siehe BVerfGE 10, S. 89 (102); 10, S. 354 (361 f.); 12, S. 319 (323); 15, S. 235 (239); 38, S. 281 (297 f.); 78, S. 320 (329). 215 Ähnlich Merten, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR VI, § 144 Rn. 62. 216 Siehe Merten, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR VI, § 144 Rn. 60; im Ergebnis ebenso, aber mit anderer Begründung M. Kaltenborn, NZS 2001, S. 300 ff.; Schnapp/M. Kaltenborn, Friedensgrenze, S. 66 f. 217 So Schnapp/M. Kaltenborn, Friedensgrenze, S. 42 ff. Das Bundesverfassungsgericht lehnt einen mittelbaren Eingriff in Art. 12 GG dagegen ab, weil es der Beitragspflicht zur Sozialversicherung an einer objektiv berufsregelnden Tendenz fehle; siehe BVerfGE 75, S. 108 (153 f.). 218 Siehe BVerfGE 44, S. 246 (256 f.); 70, S. 1 (28); 85, S. 248 (259); 93, S. 362 (369); 103, S. 1 (10). 212 213
C. Kollisionslage zu den Grundrechten?
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keitsprüfung statt, bei der keine strengeren Anforderungen als bei Art. 2 Abs. 1 GG gelten würden. d) Die Eigentumsgarantie Umstritten ist, ob die Erhebung von Abgaben und somit auch von Sozialversicherungsbeiträgen einen Eingriff in Art. 14 GG darstellt. Nach der ständigen Rechtsprechung des für Grundrechtsfragen zuständigen ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts schützt das Eigentumsgrundrecht nicht das Vermögen als solches, sondern nur vermögenswerte Rechtspositionen. 219 Demnach fallen staatliche Abgaben grundsätzlich nicht in den Schutzbereich des Grundrechts. Anderes soll nur gelten, soweit die Abgabenbelastung eine erdrosselnde Wirkung erreicht. 220 Von dieser Doktrin ist jedoch der zweite Senat des Gerichts in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts in zwei Entscheidungen vorsichtig abgewichen und hat Art. 14 GG zum Maßstab für staatlich auferlegte Geldleistungspflichten erhoben. 221 Der erste Senat 222 hat sich dieser Position allerdings nicht angeschlossen. Ob der zweite Senat an seiner Rechtsprechung festhalten wird, nachdem Paul Kirchhof, der spiritus rector der Anwendung von Art. 14 GG auf Abgabenpflichten, inzwischen aus dem Gericht ausgeschieden ist, bleibt abzuwarten. Selbst wenn man die Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen auch an Art. 14 GG messen will, ist eine deutliche Steigerung der Rechtfertigungsanforderungen damit jedoch nicht verbunden. Das Prüfungsprogramm für Eigentumsverkürzungen hängt entscheidend davon ab, ob eine (nach Art. 14 Abs. 3 GG stets entschädigungspflichtige) Enteignung oder eine Inhalts- und Schrankenbestimmung vorliegt. Weder der Wortlaut noch die Entstehungsgeschichte 223 des Art. 14 GG geben Hinweise darauf, dass nichtsteuerliche Abgaben den Tatbestand der Enteignung erfüllen, soweit sie nicht dem Grunde und der Höhe nach als Ausgleich für einen individuellen Vorteil erhoben werden. Die Heranziehung zum Sozialversicherungsbeitrag stellt daher auch bei einer sozialen Umschichtung des Aufkommens eine Inhalts- und Schrankenbestimmung dar und unterliegt deshalb erneut nur einer Eingriffsrechtfertigung am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes 224. Eine strengere Rechtfertigungslast ergibt sich auch nicht daraus, dass nach der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beitragserdiente Leistungsansprüche gegen den Staat dem Schutz von Art. 14 GG unterliegen 225. In dieser Lesart bewirkt das Eigentumsrecht nämlich keinen originären Grundrechtsschutz 219 220 221 222 223 224 225
Siehe BVerfGE 4, S. 7 (17); 95, S. 267 (300). Siehe BVerfGE 14, S. 221 (241); 63, S. 343 (368); 95, S. 267 (300 f.). Siehe BVerfGE 87, S. 153 (169); 93, S. 121 (137 f.). Siehe BVerfGE 95, S. 267 (300 f.). Siehe v. Doemming/Füßlein/Matz, JöR n. F. 1 (1951), S. 144 ff. Siehe Schnapp/M. Kaltenborn, Friedensgrenze, S. 62. Näher dazu unten § 6 B. III. mit Nachweisen zur Rechtsprechung.
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§ 5 Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und sozialer Ausgleich
gegen eine soziale Umverteilung von Beitragsleistungen. Eine rechtfertigungsbedürftige Verkürzung des Grundrechts aus Art. 14 GG liegt vielmehr nur dann vor, wenn konkret eingeräumte Rechtspositionen vom Gesetzgeber nachträglich beschränkt oder beseitigt werden. 226 Steht der Beitragspflicht dagegen von Anfang an keine gesetzlich geregelte Gegenleistung der Sozialversicherungsträger gegenüber, so greift das Eigentumsgrundrecht nicht ein. Art. 14 GG wirkt daher im Sozialversicherungsrecht im Ergebnis nur als eine spezielle Ausprägung des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgrundsatzes. 227 2. Grundrechtsschutz der Arbeitgeber Für die Rechtfertigung der Arbeitgeberbeiträge bestehen keine strengeren freiheitsrechtlichen Vorgaben. Nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts liegt auch in diesem Fall nur ein Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG vor. 228 Selbst wenn man wiederum davon ausgeht, dass die Abgabenpflicht darüber hinaus auch eine mittelbare Berufsausübungsregelung sowie eine Inhalts- und Schrankenbestimmung i. S. d. Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG darstellt, würde sich die Eingriffsrechtfertigung erneut in einer Verhältnismäßigkeitsprüfung erschöpfen. Da das Übermaßverbot offen für jeglichen legitimen Zweck ist, vermag die wirtschaftliche und soziale Abhängigkeit der Arbeitnehmer von ihren Arbeitgebern 229 die Beitragslast der letzteren grundsätzlich auch vor den Freiheitsgrundrechten zu rechtfertigen. 3. Zwischenresümee Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG befindet sich auch mit den Freiheitsgrundrechten nicht in einer Kollisionslage, da diese keine unüberwindbaren Rechtfertigungshürden für die Beitragspflicht von Versicherten und Arbeitgebern aufstellen.
III. Resümee Nach der hier im Einklang mit der herrschenden Auffassung im Schrifttum vertretenen Auffassung kommt eine grundrechtsbeschränkende Wirkung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nur in Betracht, wenn der Gesetzgeber von dieser Kompetenz ohne eine materielle Aufladung nicht grundrechtskonform Gebrauch machen könnte. Im Vorherstehenden wurde aufgezeigt, dass dies nicht der Fall ist. Die traditionellen 226 Siehe Wieland, in: H. Dreier, GG I, Art. 14 Rn. 63. Selbst bei einer nachträglichen Beschränkung von konkret eingeräumten Rechtspositionen liegt in aller Regel keine Enteignung, sondern nur ein Eingriff im Sinne einer Inhalts- und Schrankenbestimmung vor; siehe Hebeler, Generationengerechtigkeit, S. 104. 227 Siehe Pitschas, VVDStRL 64 (2005), S. 109 (137). 228 Siehe BVerfGE 75, S. 108 (153 ff.). 229 Siehe dazu oben I. 1. c) bb).
D. Zusammenfassung
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Mechanismen des sozialen Ausgleichs in der Sozialversicherung können dem Grunde nach vor den Grundrechten auch ohne eine materielle Aufwertung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG legitimiert werden. Es besteht daher kein Anlass, der Sozialversicherungskompetenz eine eingriffsrechtfertigende Funktion zuzusprechen. 230
D. Zusammenfassung Nach einer im Schrifttum verbreiteten Auffassung, der sich inzwischen auch das Bundesverfassungsgericht angeschlossen hat, ergibt sich aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ein „Solidarprinzip“, das die traditionell bestehenden Mechanismen sozialer Umverteilung im Sozialversicherungsrecht rechtfertigen soll. Damit wird der Gesetzgebungskompetenz eine grundrechtsbeschränkende Funktion zugesprochen. Diese Ansicht verdient jedoch keine Zustimmung. Grundsätzlich haben Kompetenzvorschriften keine eingriffslegitimierende Funktion. Anderes gilt nur, soweit der Wortlaut oder die Entstehungsgeschichte des Zuständigkeitstitels eindeutige Hinweise auf eine Legitimationsfunktion geben, was auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG aber nicht zutrifft, oder, soweit die Kompetenz mit den Grundrechten kollidiert. Letzteres ist der Fall, soweit die Grundrechte derart strenge Vorgaben für das Sachgebiet eines Kompetenzbereichs aufstellen, dass der Gesetzgeber von der Zuständigkeit keinen sinnvollen Gebrauch machen kann. Eine Kollisionslage zwischen Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und den Grundrechten besteht aber nicht, da der soziale Ausgleich im Sozialversicherungsrecht grundsätzlich auch ohne eine materielle Aufladung der Kompetenznorm gerechtfertigt werden kann. Maßgebliche Bedeutung für die Rechtfertigung der Beitragspflicht hat der allgemeine Gleichheitssatz als Grundlage des Prinzips der Lastengleichheit im Abgabenrecht. Aus Art. 3 Abs. 1 GG kann jedoch nicht hergeleitet werden, dass nichtsteuerliche Abgaben nur als Ausgleich für eine individuell empfangene staatliche Leistung erhoben werden dürfen. Der allgemeine Gleichheitssatz regelt keinen abschließenden Kanon von zulässigen Belastungsgründen. Davon gilt nur eine Ausnahme: Der Belastungsgrund der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ist exklusiv für die Steuer als die vom Verfassungsgeber vorgesehene einseitige Abgabe vorbehalten. Eine soziale Umverteilung des Abgabenaufkommens bedarf daher außerhalb des Steuerrechts einer Begründung, die nicht an die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit anknüpft. Eine derartige Begründung folgt für die Beiträge der Arbeitgeber zur Unfallversicherung aus der individuellen Verantwortung des Unternehmers für betriebsbezogene Gefahrenquellen, für die Arbeitgeberbeiträge zu den anderen Versicherungs230 So im Ergebnis auch J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 241 ff.; Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 200; tendenziell auch Bethge/v. Coelln, VSSR 2004, S. 199 (213); wohl auch Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S. 267: das Solidarprinzip sei ein Verteilungsprinzip, das für die Rechtfertigung des sozialen Ausgleichs nichts hergebe.
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§ 5 Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und sozialer Ausgleich
zweigen aus der wirtschaftlichen und sozialen Abhängigkeit der Arbeitnehmer. Zudem darf der Gesetzgeber dem Sozialversicherungsbeitrag auch eine Lenkungswirkung beimessen. Daher sind Arbeitgeberbeiträge für versicherungsfreie Beschäftige zulässig, soweit damit eine sozialpolitisch problematische Anreizwirkung zum Abbau sozialversicherungspflichtiger Arbeitsverhältnisse beseitigt wird. Auch die beitragsfreien Familienleistungen können als versteckte Lenkungsabgabe zulasten der kinderlosen und ledigen Versicherten eingeordnet werden, weil sie einen Anreiz zur Familiengründung schaffen. Der soziale Ausgleich zwischen beitragsstarken und beitragsschwachen Versicherten bedarf entgegen der ganz herrschenden Auffassung keiner Rechtfertigung jenseits des individuellen Vorteilsausgleichs. Der soziale Ausgleich stellt vielmehr selbst eine Leistung der Sozialversicherung dar. Die sozialen Mechanismen des Sozialversicherungsrechts erlauben den Versicherten eine Vorsorge jenseits der Möglichkeiten des privaten Versicherungsmarktes. So sorgt das Umlageverfahren dafür, dass die einzelnen Versicherten in hohem Maße von ihrer Mitgliedschaft in einer großen Beitragszahlergemeinschaft profitieren und schützt zudem die Leistungsanwartschaften vor einer inflationsbedingten Entwertung. Die einkommensbezogene Beitragsbemessung bewirkt eine flexible Anpassung des Vorsorgesystems an die individuellen Möglichkeiten des Versicherten. Sinkt das beitragspflichtige Einkommen wegen einer Verschlechterung der beruflichen Situation, so sinken auch die Beiträge. Strengere Vorgaben für den sozialen Ausgleich in der Sozialversicherung ergeben sich auch nicht aus den Freiheitsgrundrechten. Die Beitragspflicht der Versicherten ist nur an der allgemeinen Handlungsfreiheit zu messen und unterliegt damit einer reinen Verhältnismäßigkeitsprüfung. Eine Eingrenzung der prinzipiell offenen Zahl von legitimen Belastungsgründen kann dem Übermaßverbot nicht entnommen werden. Soweit man eine an die Erwerbstätigkeit anknüpfende Beitragspflicht mit einer Literaturauffassung zudem als mittelbaren Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit einordnen oder Abgabenlasten auch an Art. 14 GG messen will, ändert sich nichts daran, dass kein strengerer Maßstab als das Verhältnismäßigkeitsprinzip zur Anwendung kommt. Entsprechendes gilt für die Beitragspflicht der Arbeitgeber.
§ 6 Die Errichtung einer beitragsfinanzierten Sozialversicherung als obligatorische Aufgabe staatlicher Rechtsetzung? Abschließend soll die Frage behandelt werden, ob der Gesetzgeber verpflichtet ist, von der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG Gebrauch zu machen und ein zumindest teilweise durch Beiträge finanziertes staatliches System der sozialen Sicherung vorzuhalten. Ein Teil des Schrifttums 1 geht davon aus, dass das Grundgesetz eine institutionelle Garantie der Sozialversicherung enthält. In § 3 ist jedoch bereits darauf hingewiesen worden, dass Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG selbst eine derartige programmatische Aussage nicht entnommen werden kann.2 Eine Aufwertung der Sozialversicherung zur obligatorischen Staatsaufgabe 3 kommt daher nur in Frage, wenn andere Verfassungsnormen die Schaffung eines beitragsfinanzierten Sicherungssystems zwingend vorschreiben. 4 In erster Linie kommen das Sozialstaatsprinzip (A.) und die Grundrechte (B.) in Betracht. Daneben ist aber auch an Art. 87 Abs. 2 GG (C.) und Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG (D.) zu denken – neben Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG die einzigen Vorschriften des Grundgesetzes, in denen die Sozialversicherung ausdrücklich erwähnt wird. Schließlich könnte auch eine Einwirkung sozialer Garantien des Völker- und Europarechts auf die Interpretation des Grundgesetzes den Gesetzgeber zur Errichtung einer beitragsfinanzierten Sicherungsform verpflichten (E.).
1 Siehe Grabbe, Privatisierung, S. 66; Heinze, 55. DJT, S. E 59 ff.; W. Leisner, Sozialversicherung, S. 74 f.; Leopold, Selbstverwaltung, S. 124; Lerche, Übermaß, S. 231; ders., in: Maunz/Dürig, GG, Art.87 Rn.152 mit Fußn.27; Schnapp, in: FG v. Unruh, S.881 (888); W. Weber, Der Staat 4 (1965), S. 409 (416); Zacher, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR I, § 25 Rn. 45; in abgeschwächter Form auch Jung, SGb 2006, S. 125 (131); weitere Nachweise aus dem älteren Schrifttum bei Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S.27 in Fußn.1; a.A. BVerfGE 39, S.302 (314 f.); 59, S. 231 (263); 77, S. 340 (344); 89, S. 365 (377); 113, S. 167 (219); Igl/Welti, Sozialrecht, Rn. 28; Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 195, 197 f.; ders., Umverteilung, S. 27; Hermes, in: H. Dreier, GG III, Art. 87 Rn. 60; Kluth, GewArch 2006, S. 446 (447); Preis/Kellermann, SGb 1999, S. 129 (131); Sachs, in: ders., Art. 87 Rn. 57; Schiek, in: Wassermann, AK, Art.20 Rn. 81, 85; Steinacher, Staatspflichten, S. 58 f.; Wannagat, Sozialversicherungsrecht, S. 224 ff.; S. Weber, Krankenversicherung, S. 258 ff.; Werner, Leistungsfähigkeit, S. 111 ff. 2 Siehe § 3 B. II. 4. 3 Siehe zum Begriff Burgi, Privatisierung, S. 58, 194 ff.; Isensee, in: ders./P. Kirchhof, HStR IV, § 73 Rn. 29. 4 Siehe bereits oben § 3 B. II. 4.
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§ 6 Die Errichtung einer beitragsfinanzierten Sozialversicherung
A. Sozialstaatsprinzip Ein verfassungsrechtlicher Auftrag zur Schaffung von beitragsfinanzierten Sicherungssystemen könnte sich zunächst aus dem Sozialstaatsprinzip ergeben. Zuweilen wird Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als Konkretisierung 5 des sozialen Staatsziels bezeichnet. Richtig ist an dieser Formulierung, dass das Sozialstaatsprinzip aufgrund seiner Unbestimmtheit 6 kaum unmittelbare Handlungsanweisungen enthält. Infolgedessen ist für die rechtliche Entfaltung des Sozialstaates in erster Linie der Gesetzgeber verantwortlich. 7 Die Einordnung der sozialen Sicherung als obligatorische Aufgabe der staatlichen Rechtsetzung liegt damit nahe. 8 Damit ist freilich noch nicht gesagt, dass der Staat ein beitragsfinanziertes Sicherungssystem schaffen muss. Aufgrund der vom Demokratieprinzip geforderten Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers wird ein weiter Gestaltungsspielraum der Legislative bei der organisatorischen Verwirklichung des Sozialstaates anerkannt. 9 Entsprechend hat das Bundesverfassungsgericht 10 zu Recht festgestellt, dass sich Art. 20 Abs. 1 GG keine Aussage über eine bestimmte Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme entnehmen lasse. Deshalb kommen als Alternativen einer beitragsfinanzierten Sozialversicherung die Errichtung steuerfinanzierter Versorgungssysteme und/oder eine soziale Regulierung des privaten Vorsorgemarktes in Frage. 11 Allerdings folgert ein Teil des Schrifttums 12 aus Art. 20 Abs. 1 GG ein „soziales Rückschrittsverbot“, das dem Staat verbietet, hinter den einmal erreichten Stand soSo Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 75 mit weiteren Nachweisen in Fußn. 52. Vgl. zur Unbestimmtheit des Sozialstaatsprinzips und der daraus folgenden geringen Bindungskraft Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 119 f.; Sachs, in: ders., GG, Art. 20 Rn. 46 ff. 7 Nach BVerfGE 1, S. 97 (105) kann nur der Gesetzgeber das wesentliche zur Verwirklichung des Sozialstaats tun; siehe auch BVerfGE 50, S. 57 (108); 100, S. 271 (284); Bethge/ v. Coelln, VSSR 2004, S. 199 (216); Gröschner, in: H. Dreier, GG II (2006), Art. 20 (Sozialstaat), Rn. 31; Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S. 196; Jung, SGb 2006, S. 125 (131); Krahmer, ZFSH/SGB 2007, S. 515 (516); Papier, in: v. Maydell/Ruland, SRH, A. 3. Rn. 8; ders., in: FS 50 Jahre BSG, S. 23 (25 f.); Sachs, in: ders., GG, Art. 20 Rn. 48; Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, Kap. 3 Rn. 85; Seewald, Gesundheit, S. 78 f.; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 20 Rn. 124. 8 Vgl. Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 87 Rn. 82; Papier, in: v. Maydell/Ruland, A. 3. Rn.8; Rüfner, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, § 96 Rn.72; zur Krankheitssicherung Egger, SGb 2003, S. 76 (76). 9 Siehe BVerfGE 1, S.97 (105); 18, S.257 (273); 29, S.221 (235); 40, S.121 (133); 59, S.231 (263); 100, S.271 (284); 103, S.197 (223 f.); 113, S.167 (215); Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 71 ff. mit weiteren Nachweisen; Bethge/v. Coelln, VSSR 2004, S. 199 (217); Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S.195; Krahmer, ZFSH/SGB 2007, S.515 (517); Papier, in: v.Maydell/Ruland, A. 3. Rn. 8; Sachs, in: ders., GG, Art. 20 Rn. 48; Pitschas, VVDStRL 64 (2005), S. 109 (134); Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 20 Rn. 116, 120; Steinacher, Staatspflichten, S. 58. 10 BVerfGE 39, S. 302 (315); 89, S. 365 (377). 11 Ebenso Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 123. 12 Siehe Grabbe, Privatisierung, S.66; Kittner, in: Wassermann, AK, Voraufl. 1989, Art.20 IV Rn. 29; vgl. auch Schlenker, Rückschrittsverbot; Welti, Behinderung, S. 307; kritisch zum so5 6
A. Sozialstaatsprinzip
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zialer Leistungen zurückzuweichen. Bei konsequenter Einhaltung dieser Regel wäre somit ein Rückbau der Sozialversicherung ausgeschlossen. 13 Diese Auffassung missachtet jedoch zum einen, dass die Beschränktheit der Ressourcen eine faktische Grenze sozialstaatlicher Intervention darstellt 14. Gehen diese zurück, so bleibt dem Gesetzgeber nichts anderes übrig, als staatliche Leistungen zu kürzen, wenn man nicht eine Bevorzugung gewachsener Standards zulasten neuer sozialer Aufgaben in Kauf nehmen will. 15 Zudem kann das Festhalten am bisherigen System selbst zu sozialen Rückschritten führen, wenn sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ändern. Die Verteidigung des status quo ist deshalb zuweilen nicht besonders „sozial“. 16 So stößt das überkommene Umlageverfahren zur Finanzierung der Sozialversicherung bei einer zunehmenden Überalterung der Gesellschaft an seine wirtschaftlichen Grenzen. Ein Festhalten am bisherigen Rentenniveau kann für die jüngeren Alterskohorten, die zur Finanzierung der aktuellen Rentenlasten steigende Beiträge zahlen, aber selbst mit sinkenden Leistungen rechnen müssen, zu einer Verschlechterung ihrer sozialen Lage im Alter führen.17 Außerdem bewirkt die Versteinerung der bestehenden sozialen Kodifikationen eine Einschränkung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit, die mit dem Demokratieprinzip nicht in Einklang zu bringen ist. Der Legislative dürfen oberhalb des verfassungsrechtlich zwingenden Untermaßes 18 sozialer Leistungen politische Richtungsentscheidungen über das Maß und die Finanzierung sozialstaatlicher Aktivitäten nicht verboten sein. Das führt zu der Frage, wo das Untermaß sozialstaatlicher Leistungen anzusiedeln ist. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgericht und der herrschenden Lehre folgt als einzige justiziable Verpflichtung aus dem Sozialstaatsprinzip in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, dass der Staat dem Einzelnen Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums gewähren muss. 19 Da es insoweit um den Schutz von Personen geht, die zu eigenen Beitragsleistungen nicht in der Lage sind, ist auf dem Bo-
zialen Rückschrittsverbot Isensee, in: ders./Kirchhof, HStR IV, § 73 Rn. 30; Kämmerer, Privatisierung, S. 177 ff.; Neuner, Privatrecht, S. 141 ff.; Werner, Leistungsfähigkeit, S. 116 ff. 13 Diese Konsequenz scheut Kittner allerdings (in: Wassermann, AK, Voraufl. 1989, Art. 20 IV Rn. 79). 14 Vgl. BVerfGE 33, S.303 (333); 87, S.1 (35); Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S.196 f.; Sommermann, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art.20 Rn.122; Steinacher, Staatspflichten, S.56. 15 So zutreffend Kämmerer, Privatisierung, S. 178 f. 16 Lenze, Staatsbürgerversicherung, S. 387. 17 Siehe dazu bereits oben § 5 C. I. 2. c) aa). 18 Allgemein zum Untermaßverbot BVerfGE 88, S.203 (254 ff.); Dietlein, ZG 1995, S.131 ff.; Isensee, in: ders./P. Kirchhof, HStR V, Voraufl. 2000, § 111 Rn. 165 f.; Hain, DVBl. 1993, S. 982 ff.; ders., ZG 1996, S. 75 ff.; Manssen, Staatsrecht II, Rn. 53; skeptisch zu dieser Rechtsfigur Maurer, Staatsrecht I, § 8 Rn. 58. 19 Siehe BVerfGE 82, S. 60 (80, 85 f.); 87, S. 153 (169 ff.); 99, S. 26 (233); 99, S. 246 (259 f.); BVerwGE 1, S. 159 (161 f.); Krahmer, ZFSH/SGB 2007, S. 515 (516 f.); Sachs, in: ders., GG, Art. 20 Rn. 46; Seewald, Gesundheit, S. 79; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 20 Rn. 120; Steinacher, Staatspflichten, S. 60; eingehend dazu W. G. Leisner, Existenzsicherung; Sartorius, Existenzminimum.
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§ 6 Die Errichtung einer beitragsfinanzierten Sozialversicherung
den dieser Auffassung eine verfassungsrechtliche Gewährleistung beitragsfinanzierter Sicherungssysteme fern liegend. Demgegenüber geht ein Teil des Schrifttums 20 davon aus, dass das Sozialstaatsprinzip über die existenzsichernde Armenfürsorge hinaus auch ein Minimum an Eigenvorsorge zur Sicherung des individuell erreichten Lebensniveaus garantiert. Diese weitergehende Auffassung führt jedoch nicht zwingend zu dem Schluss, dass der Staat eigene beitragsfinanzierte Sicherungssysteme aufbauen muss. Eine auf Eigenleistung basierende Eigenvorsorge ist auch für Bürger mit geringem Einkommen im Wege privater Pflichtversicherungen möglich. Der Staat muss dafür nur die rechtlichen Rahmenbedingungen schaffen. 21 Die Errichtung der bereits erwähnten 22 privaten Pflegeversicherung hat gezeigt, dass der Staat die private Versicherungswirtschaft sogar zum Angebot von Vorsorgeprodukten zwingen kann, die bisher auf dem Versicherungsmarkt nicht erhältlich waren. Entsprechendes gilt für den Basistarif der privaten Krankenversicherung. 23 Darüber hinaus sind steuerfinanzierte Prämienzuschüsse für Bevölkerungsgruppen mit geringen Einkommen denkbar. 24 Im Schrifttum wird zwar für die Vergangenheit und Gegenwart nicht zu Unrecht ein Marktversagen des privaten Versicherungssektors konstatiert, weil große Teile der Bevölkerung weder willig, noch wirtschaftlich in der Lage sind, mit den Mitteln des bestehenden Privatversicherungsrechts eine ausreichende Vorsorge zu betreiben. 25 Dabei handelt es sich aber nicht um ein unabänderliches Faktum. Die soeben genannten Beispiele und Vorschläge zeigen, dass eine soziale Regulierung und Förderung des privaten Versicherungsmarktes möglich ist. Ein Rückzug des Sozialstaates aus der Erfüllungsverantwortung auf eine regulierende, überwachende und fördernde Gewährleistungsverantwortung 26 wird durch das Sozialstaatsprinzip deshalb nicht ausgeschlossen. 27 20 So etwa Rüfner, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, §96 Rn.73; Zacher, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR II, § 28 Rn. 45: individuelle Vorsorge schaffe Rechtssicherheit und damit „Besitzstandsgerechtigkeit“. 21 Vgl. Hase, SDSRV 51 (2004), S. 7 (24); Schmidt-De Caluwe, SDSRV 51 (2004), S. 29 (42 f.). 22 Siehe oben § 3 D. III. 2. d) aa). 23 Näher dazu § 3 D. III. 2. d) aa). 24 Vgl. Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 123. Siehe dazu auch die Vorschläge des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2004/05, S. 387 ff.; zurückhaltend Welti, Behinderung, S. 307 f. 25 Siehe Bieback, VSSR 2003, S. 1 (19 f.); Hase, Versicherungsprinzip, S. 39 mit Fußn. 112, S.163, 263; Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S.113; Krölls, GewArch 1995, S.129 (139); vgl. auch Lenze, Staatsbürgerversicherung, S.71 f.; Rolfs, Versicherungsprinzip, S.204; allgemein zu den Grenzen der Bereitstellung von privaten Gütern Gramm, Staatsaufgaben, S. 254 ff. 26 Siehe zum Übergang von der staatlichen Aufgabenwahrnehmung zur staatlichen „Steuerungsverantwortung“ Hermes, Infrastrukturverantwortung, S. 152 ff.; Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S. 112; vgl. zur Erfüllungs-, Auffang- und Gewährleistungsverantwortung des sozialen Rechtsstaates auch Hoffmann-Riem, DÖV 1997, S. 433 ff.; ders., in: FS Vogel, S. 47 (52 ff.); Kämmerer, Privatisierung, S.474 ff.; Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, Kap.3 Rn.109 ff.; Schuppert, Verwaltungswissenschaft, S. 404 ff.; Voßkuhle, VVDStRL 62 (2003), S. 266 ff.; Weiß, Staatsaufgaben, S. 391 ff.
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Eine institutionelle Garantie der Sozialversicherung könnte sich aber aus den Grundrechten ergeben. Die Grundrechte sind dafür ein naheliegender Anknüpfungspunkt, weil die anerkannten Garantien öffentlicher oder privater Einrichtungen regelmäßig 28 auf Grundrechte oder grundrechtsgleiche Gewährleistungen zurückgeführt werden. 29 Das gilt für die privaten Institute der Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG), der Privatschulen (Art. 7 Abs. 4 GG) und des Eigentums (Art. 14 GG) ebenso wie für die Garantie des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG 30). Darüber hinaus werden auch die umstrittenen Einrichtungsgarantien der freien Presse 31 und der staatlichen Universität in ihrer traditionellen Gestalt 32 auf Grundrechte (Art. 5 Abs. 1 bzw. Abs. 3 GG) zurückgeführt.
I. Das weitgehende Fehlen sozialer Grundrechte im Grundgesetz Es fällt jedoch schwer, ein Grundrecht aufzuspüren, das die Schaffung oder Beibehaltung einer beitragsfinanzierten Sozialversicherung gewährleisten soll. Die Freiheitsrechte des Grundgesetzes sind als Abwehrrechte, nicht als Leistungsrechte konzipiert. 33 Auf die Normierung von sozialen Grundrechten hat der Verfassungs27 Siehe Bauer, VVDStRL 54 (1995), S. 243 (264); Kämmerer, Privatisierung, S. 177 ff.; Lenze, Staatsbürgerversicherung, S. 441 mit rechtsvergleichenden Hinweisen auf private Pflichtversicherungen in anderen europäischen Ländern; Rolfs, Versicherungsprinzip, S. 123; Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, Kap. 3 Rn. 87; Schmidt-De Caluwe, SDSRV 51 (2004), S. 29 (41 ff.); Weiß, Privatisierung, S. 137 ff.; zur Privatisierung der Krankheitsvorsorge Hase, SDSRV 51 (2004), S. 7 (24); Schmidt-Aßmann, NJW 2004, S. 1689 (1695); wohl auch Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 87 Rn. 82; skeptisch zur Privatisierung der Altersvorsorge Rüfner, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, § 96 Rn. 86; zurückhaltend auch Pitschas, VVDStRL 64 (2005), S. 109 (136); vgl. zu den Vor- und Nachteilen einer privatrechtlich organisierten sozialen Sicherung auch Peters-Lange, SDSRV 51 (2004), S. 71 ff. 28 Allerdings werden nicht alle Einrichtungsgarantien auf Grundrechte zurückgeführt. So folgt etwa aus Art. 28 Abs. 2 GG eine institutionelle Garantie der kommunalen Selbstverwaltung; vgl. nur Tettinger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 28 Rn. 154 ff. 29 Siehe dazu Epping, Grundrechte, Rn. 404 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 70 ff. Allgemein zu verfassungsrechtlichen Einrichtungsgarantien (leider, ohne auf die Sozialversicherung einzugehen) Mager, Einrichtungsgarantien. 30 Art. 33 Abs. 5 GG befindet sich zwar nicht im Grundrechtsteil der Verfassung, enthält nach zutreffender Auffassung aber eine grundrechtsgleiche Gewährleistung, wie sich auch aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a GG ergibt; siehe zum Streitstand die Nachweise in Fußn. 113 zu § 2. 31 Dafür Stammler, Presse, S. 198 ff.; einschränkend Degenhardt, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 5 Abs. 1 und 2, Rn. 55 ff.; a. A. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 72. 32 Dafür T. Oppermann, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR VI, §145 Rn. 51 ff.; a. A. BVerfGE 93, S. 85 (95); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 72. 33 Eingehend dazu Poscher, Abwehrrechte.
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geber – abgesehen von wenigen Ausnahmen 34, denen sich aber keine Vorgaben für die Ausgestaltung der sozialen Sicherung entnehmen lassen35 – bewusst verzichtet 36, obwohl es 1949 schon Vorbilder in einigen Landesverfassungen 37 gab, auf die man hätte zurückgreifen können. Im Zuge der Verfassungsreform nach der deutschen Einheit ist die Aufnahme sozialer Grundrechte in das Grundgesetz in der Gemeinsamen Verfassungskommission zwar diskutiert 38 worden, konnte sich aber – wiederum im Gegensatz zu den Verfassungen der neuen Bundesländer – 39 nicht durchsetzen 40. Im Übrigen könnte auch die Aufnahme eines Grundrechts auf soziale Sicherheit in das Grundgesetz, wie es in einigen Landesverfassungen enthalten ist 41, keine institutionelle Garantie der Sozialversicherung begründen, solange diese Regelung nicht ausdrücklich bestimmen würde, dass die soziale Sicherung in der Organisationsform einer beitragsfinanzierten Sozialversicherung erfolgen muss. 42
II. Die Interpretation von Freiheitsrechten als staatliche Schutzpflichten Allerdings ist inzwischen eine Interpretation von Grundrechten als objektive Wertordnung anerkannt und hat zur Begründung von Schutzpflichten des Staates geführt. 43 Da der Formulierung objektiver Schutzpflichten die Ummünzung in subjektive Schutzrechte stets auf dem Fuße gefolgt ist 44, fungieren die Freiheitsrechte in zunehmendem Maße auch als Leistungsrechte. Die aus Art.1 Abs. 1 i.V. m. Art. 20 Abs. 1 GG folgende Verpflichtung des Staats zur Gewährleistung des wirtschaftli34 Der Bestand der sozialen Rechte beschränkt sich im Wesentlichen auf den Schutz von Ehe und Familie (Art.6 Abs.1 GG), den Anspruch der Mütter auf Schutz und Fürsorge (Art.6 Abs.4 GG) und die Gleichstellung nichtehelicher Kinder (Art. 6 Abs. 5 GG); vgl. Waltermann, Sozialrecht, Rn. 19. 35 Siehe zum gesetzgeberischen Ermessen, auf welche Art und in welchem Umfang der Staat seinen Schutzpflichten aus Art. 6 Abs. 1 GG nachkommt, BVerfGE 82, S. 60 (81); 87, S. 1 (35 f.); 107, S.205 (313); Felix, NZS 2003, S.624 (626); Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 6 Rn. 295 ff.; Seiler, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, § 81 Rn. 22 f.; Wieland, VSSR 2003, S. 259 (272). 36 Vgl. zur Grundentscheidung des Verfassungsgebers gegen die Schaffung sozialer Grundrechte Isensee, Der Staat 19 (1980), S. 367 ff.; Hufen, Staatsrecht II, § 6 Rn. 25; Igl/Welti, Sozialrecht, Rn. 15 f. 37 Siehe dazu die Nachweise bei Sachs, in: ders., GG, Art. 20 Rn. 52 in Fußn. 165. 38 Siehe dazu BT-Drs. 12/6000, S. 75 ff. 39 Vgl. dazu Diercks, LKV 1996, S. 231 ff.; Riepe, Soziale Grundrechte. 40 Vgl. dazu Vitzthum, in: GS Grabitz, S. 819 ff. 41 Siehe etwa Art. 45 Abs. 1 Verf. Brandenburg; Art. 7 Abs. 1 Verf. Sachsen. 42 Eine solche ausdrückliche Regelung enthält auf Länderebene Art.35 Abs.1 S.1 Verf. Hessen, der das Land Hessen verpflichtet, eine das gesamte Volk verbindende Sozialversicherung zu schaffen. 43 Vgl. dazu nur Hesse, in: Benda/Maihofer/Vogel, HVerfR, § 5 Rn. 17 ff., 49 ff.; Isensee, in: ders./P. Kirchhof, HStR V, Voraufl. 2000, § 111; Wahl, in: Merten/Papier, HGR I, § 19. 44 Siehe Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 81.
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chen Existenzminimums ist unter A. bereits erwähnt worden. Doch hat sich die Bedeutung der Grundrechte für das Sozialrecht damit noch nicht erschöpft.45 So hat das Bundesverfassungsgericht in einer neueren Entscheidung aus der allgemeinen Handlungsfreiheit und dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gefolgert, dass die gesetzlichen Krankenkassen bei lebensbedrohenden Erkrankungen die Kosten für wissenschaftlich noch nicht anerkannte neue Behandlungsmethoden übernehmen müssen, wenn eine allgemein anerkannte, medizinischen Standards entsprechende Behandlungsmethode nicht zur Verfügung stehe. 46 Auch aus grundrechtlichen Schutzpflichten kann jedoch keine Systementscheidung für eine Sozialversicherung folgen. Soweit sich aus einzelnen Grundrechten soziale Schutzansprüche gegen den Staat ergeben, erscheint es zwar konsequent, auch die Etablierung von Einrichtungen zu verlangen, die deren Erfüllung gewährleisten. Aus keinem Grundrecht lässt sich aber herauslesen, dass der Staat seinen Pflichten gerade in einem beitragsfinanzierten System nachkommen muss. Grundrechtliche Schutzpflichten können es dem Staat somit nicht verbieten, die Sozialversicherung abzuschaffen, sondern höchstens, sie ersatzlos abzuschaffen. 47 Dem schon beim Sozialstaatsprinzip angesprochenen denkbaren Systemwechsel hin zu einer steuerfinanzierten Grundsicherung oder einer sozialen Regulierung und Förderung der privaten Vorsorge setzen auch grundrechtliche Schutzpflichten keine unüberwindbaren Hürden.
III. Eigentumsgrundrecht und Vertrauensschutz Anderes könnte sich jedoch aus der Perspektive des Art. 14 GG ergeben. 48 Das Eigentumsgrundrecht ist für die Sozialversicherung bedeutsam geworden, seitdem das Bundesverfassungsgericht die Anwendbarkeit von Art. 14 GG auf öffentlichrechtliche Forderungen nicht mehr gänzlich ausschließt 49. Das Gericht betrachtet seit den frühen 80er Jahren gesetzlich geregelte Ansprüche gegen den Staat als 45 Eingehend zu den aus den Grundrechten folgenden sozialen Schutzpflichten des Staates Luthe, Sozialgestaltung, S. 41 ff., 78 ff.; Seewald, Gesundheit, S. 72 ff.; zu medizinischen Versorgungsleistungen als Teil des durch Art. 1 Abs. 1 GG garantierten Existenzminimums Neumann, NZS 2006, S. 393 ff. 46 Siehe BVerfGE 115, S. 25 (41 ff.); vgl. auch BSG, NZS 2007, S. 489 (493 f.); SGb 2007, S. 363 (368 f.) mit Anmerkung Knispel; SGb 2008, S. 42 (45 ff.) mit Anmerkung Knispel; Axer, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, § 95 Rn. 24; Langhals, NZS 2007, S. 76 ff.; Saalfrank/Wesser, NZS 2008, S. 17 ff.; Wenner, Soziale Sicherheit 2006, S. 174 ff.; ders., Soziale Sicherheit 2007, S. 75 ff. 47 Ebenso aus Sicht des Sozialstaatsprinzips Kittner, in: Wassermann, AK, Voraufl. 1989, Art. 20 IV Rn. 79; Preis/Kellermann, SGb 1999, S. 329 (331); Werner, Leistungsfähigkeit, S. 116. 48 Für eine Einrichtungsgarantie zugunsten der bestehenden Rentenversicherungsträger aus Art. 14 GG Heinze, 55. DJT, S. E 63 ff. 49 So aber noch BVerfGE 1, S. 264 (272 f.); 2, S. 380 (399 ff.); offen gelassen in BVerfGE 40, S. 65 (82 ff.).
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Eigentum i. S. d. Art. 14 GG, soweit sie jedenfalls teilweise auf Eigenleistungen beruhen, dem Anspruchsberechtigten ausschließlich und privatnützig zugeordnet sind und der Existenzsicherung dienen. 50 Im Ergebnis fallen damit – abgesehen von ermessensabhängigen Nebenleistungen (z. B. zur Rehabilitation 51) sowie Leistungen, denen keine Eigenleistungen des Versicherten gegenüber stehen (z. B. Ansprüche auf Hinterbliebenenversorgung 52) – alle wesentlichen Leistungen der Sozialversicherung unter Art. 14 GG. 53 Im Schrifttum hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts überwiegend Zustimmung gefunden. 54 Teilweise wird sogar noch weitergehend vertreten, dass Art. 14 GG auch auf Leistungsansprüche anwendbar sei, die nicht auf eigenen Beitragsleistungen beruhen. 55 Daneben gibt es aber auch Stimmen, die den Eigentumsschutz von öffentlich-rechtlichen Forderungen nach wie vor ablehnen. 56 Nicht ohne Berechtigung wird gegen die Aktivierung des Art. 14 GG eingewandt, dass sie keinen weitergehenden Schutz bestehender Rechte bewirke als der ohnehin einschlägige rechtsstaatliche Vertrauensschutzgrundsatz. 57 In der Tat erkennen selbst die Befürworter der Eigentumsfähigkeit von sozialversicherungsrechtlichen Rechtspositionen einen großen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers an, der auch die Beschränkung, Kürzung und Umgestaltung von Anwartschaften erlaube. 58 Daher kann 50 Siehe BVerfGE 53, S. 257 (288 ff.); 63, S. 152 (174); 64, S. 87 (97); 66, S. 234 (247); 69, S. 272 (298 ff.); 72, S.9 (18 f.); 97, S.271 (284); 100, S.1 (32 f.); 117, S.272 (292 f.); BVerfG-K, NZS 2008, S. 86; eingehend zur Rechtsprechung Lenze, Staatsbürgerversicherung, S. 41–141. 51 Siehe BVerfGE 63, S. 152 (174). 52 Siehe BVerfGE 97, S. 271 (284) mit weiteren Nachweisen. 53 Siehe Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 14 Rn. 180 f.; zurückhaltend hinsichtlich der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung Axer, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, § 95 Rn. 25 mit Nachweisen zum Streitstand in Fußn. 150; vgl. zur Frage, ob die frühere Arbeitslosenhilfe dem Schutz des Art. 14 GG unterfiel, Spellbrink, SGb 2000, S. 296 (298). 54 Siehe die Nachweise bei Bryde, in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 14 Rn. 26. 55 So bereits das Sondervotum Rupp-v. Brünneck, BVerfGE 32, S. 129 (142 ff.); ebenso Wieland, in: H. Dreier, GG I, Art. 14 Rn. 63; tendenziell auch Bryde, in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 14 Rn. 28. 56 Siehe etwa Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 14 Rn. 182 ff.; Pitschas, JA 1980, S. 535; Thieme, in: FS Wannagat, S. 599 (608 ff.). 57 So etwa Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 14 Rn. 185; vgl. zum Verhältnis zwischen dem eigentumsrechtlichen Bestands- und dem rechtsstaatlichen Vertrauensschutz auch Appel, DVBl. 2006, S. 340 ff. 58 So BVerfGE 100, S. 1 (37 f.); 117, S. 272 (293); aus dem Schrifttum Axer, in: Isensee/ P. Kirchhof, HStR IV, § 95 Rn. 25; Berkemann, in: Umbach/Clemens, MAK I, Art. 14 Rn. 481, 485; Bredt, DVBl. 2006, S. 871 (875); Bryde, in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 14 Rn. 27; Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 14 Rn. 65; Rittsteig, in: Wassermann, AK, Art. 14/15 Rn. 123; Wieland, in: H. Dreier, GG I, Art. 14 Rn. 63; vgl. dazu auch Blüggel, Soziale Sicherheit 2004, S.61 (67 f.); Spellbrink, SGb 2000, S. 296 (300); Wenner, Soziale Sicherheit 2004, S. 177 (179); ders., Soziale Sicherheit 2007, S. 194 ff.; siehe zur Anhebung des Rentenalters von 65 auf 67 durch das RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20. April 2007 Sodan/Adam, NZS 2008, S. 1 (2 f.).
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nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts selbst die ersatzlose Beseitigung von Ansprüchen zulässig sein. 59 Im Regelfall ist der Gesetzgeber bei der Neugestaltung eines Rechtsgebiets zwar zum Erlass von angemessenen und zumutbaren Überleitungsregelungen verpflichtet 60, so dass der Verlust von bestehenden Rechtspositionen gegebenenfalls durch Übergangsfristen oder durch eine Entschädigung abgefedert werden muss. Der Bestandsschutz bestehender Rechtspositionen kann einen Rückbau der Sozialversicherung somit aber höchstens verzögern, nicht verhindern.
IV. Vereinigungsfreiheit und Zugang zur Sozialversicherung Schließlich kann auch Art. 9 Abs. 1 GG keine institutionelle Garantie der Sozialversicherung begründen, und zwar selbst dann nicht, wenn man die Regelung als Einrichtungsgarantie für das Vereinswesen interpretiert 61. Zwar können Vereinigungen zu beliebigen und damit auch zu sozialen Zwecken gegründet werden. 62 Der Schutz der Vereinigungsfreiheit als private Freiheitsbetätigung setzt aber die Freiwilligkeit des Zusammenschlusses voraus und kann daher grundsätzlich nur in privater Rechtsform erfolgen. 63 Die Mitgliedschaft in einer juristischen Person des Öffentlichen Rechts wird deshalb nur ausnahmsweise durch Art. 9 GG geschützt, soweit die Körperschaft durch freie Entscheidung ihrer Mitglieder gegründet worden ist und auch die Mitgliedschaft auf dem Prinzip der Freiwilligkeit beruht. 64 Das betrifft etwa die öffentlich-rechtlich organisierten Religionsgemeinschaften 65, nicht aber die vorwiegend als Zwangsversicherung ausgestaltete Sozialversicherung 66. An diesem Ergebnis ändert sich auch nichts, wenn man entgegen der hier vertretenen Auffassung 67 davon ausgeht, dass Art. 9 Abs. 1 GG Grundrechtsschutz gegen öffentlich-rechtliche Zwangsmitgliedschaften gewährt. Denn diese Ansicht geht gera-
Siehe BVerfGE 83, S. 201 (211 f.). Siehe BVerfGE 53, S. 336 (351); 58, S. 300 (351); 71, S. 137 (144); Bryde, in: v. Münch/ Kunig, GG I, Art. 14 Rn. 64; Wendt, in: Sachs, GG, Art. 14 Rn. 88. 61 So v.Münch, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art.9 Rn.18 mit weiteren Nachweisen; a.A. Bauer, in: H. Dreier, GG I, Art. 9 Rn. 65; Kemper, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 9 Rn. 11; Löwer, in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 9 Rn. 22. 62 Siehe Höfling, in: Sachs, GG, Art. 9 Rn. 14; Kemper, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 9 Rn. 24; Löwer, in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 9 Rn. 31. 63 Siehe BVerfGE 10, S. 89 (102); 10, S. 354 (361); 38, S. 281 (298); 85, S. 360 (370); BVerfG-K, NVwZ 2002, S. 335 (336); Bauer, in: H. Dreier, GG I, Art. 9 Rn. 40; Höfling, in: Sachs, GG, Art. 9 Rn. 13; Kemper, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 9 Rn. 27 ff.; Löwer, in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 9 Rn. 30. 64 Siehe Kemper, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 9 Rn. 33. 65 Siehe Stein/Frank, Staatsrecht, § 40 II. 1. 66 BVerfGE 21, S. 362 (369); 39, S. 302 (314); 77, S. 340 (344); 113, S. 167 (262); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 19 Rn. 24; mit anderer Begründung Isensee: die Mitgliedschaft in der Sozialversicherung erschöpfe sich in der Beitragspflicht und schaffe keine darüber hinausgehende Verbindung unter den Mitgliedern (Umverteilung, S. 66 f.). 67 Siehe dazu oben § 5 C. II. 1. b). 59 60
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de davon aus, dass die Zwangsmitgliedschaft in einer Körperschaft keine Grundrechtsausübung, sondern einen Grundrechtseingriff darstellt. Im Ergebnis lässt sich somit auch aus den Grundrechten eine institutionelle Garantie der Sozialversicherung nicht herleiten.
C. Art. 87 Abs. 2 GG Als Grundlage einer institutionellen Garantie der Sozialversicherung kommt weiterhin Art. 87 Abs. 2 GG in Betracht. Nach der herrschenden Auffassung im Schrifttum soll Art. 87 Abs. 2 GG neben seiner primären Funktion als Kompetenzvorschrift den Sozialversicherungsträgern auch eine Selbstverwaltungsgarantie gewähren. 68 Diese Ansicht wird zum einen damit begründet, dass der in der Regelung enthaltende Begriff „Körperschaften des öffentlichen Rechts“ eine mitgliedschaftliche Verfassung voraussetze, die wiederum nicht ohne ein Mindestmaß an Autonomie denkbar sei. 69 Zudem stützt sich die herrschende Lehre auf die Entstehungsgeschichte, weil der oben bereits erwähnte 70 Art. 116 Abs. 3 des Herrenchiemsee-Entwurfs noch ausdrücklich von „Selbstverwaltungseinrichtungen“ sprach. 71 Ob die Annahme einer Selbstverwaltungsgarantie überzeugt, muss im Rahmen dieser Abhandlung nicht geklärt werden. 72 Eine Festlegung der existierenden Sozialversicherungsträger auf eine selbstverwaltete Organisationsform träfe nämlich keine Aussage darüber, ob diese Träger auch bestehen müssen, kann also noch keine Einrichtungsgarantie begründen. 73
68 Die herrschende Lehre plädiert jedenfalls für einen Grundbestand sozialer Selbstverwaltung; siehe U. Becker, in: v. Maydell/Ruland, SRH, B. 6. Rn.10 ff.; Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG III, Art. 87 Rn. 77; Butzer, Fremdlasten, S. 246 ff.; Emde, Selbstverwaltung, S. 364 ff.; Hermes, in: H. Dreier, GG III, Art. 87 Rn. 61, 64; Lerche, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 87 Rn. 159; Seeringer, Bundesausschuss, S.174; wohl auch Frohn, SGb 2007, S.129 (133); Ruland, NZS 2007, S.337 (338); a.A. BVerfGE 36, S. 383 (393); Axer, Normsetzung, S.282 ff.; ders., Organisationsreform, S.37 f.; ders., in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art.74 Abs.1 Nr. 12 Rn. 37; Fuchs/Preis, Sozialversicherungsrecht, S. 45; Grün/Mühlhausen, Soziale Sicherheit 2007, S. 373 (374); Jestaedt, in: Umbach/Clemens, MAK II, Art. 87 Rn. 81; Kluth, GewArch 2006, S. 446 (447); Sachs, in: ders., GG, Art. 87 Rn. 55; Schlegel, Soziale Sicherheit 2006, S. 378 (379); Spellbrink, Soziale Sicherheit 1996, S. 423 (427); Stern, Staatsrecht II, S. 824. 69 Gegen eine zwingende Verbindung zwischen der Rechtsform der Körperschaft und der Einräumung von Selbstverwaltungsrechten allerdings Butzer, Fremdlasten, S. 246; Lerche, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 87 Rn. 159; Wannagat, Sozialversicherungsrecht, S. 225 f. 70 Siehe § 3 D. II. 71 Die Entstehungsgeschichte wird allerdings unterschiedlich gedeutet; für eine Selbstverwaltungsgarantie Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 87 Rn. 71; Emde, Selbstverwaltung, S. 366 ff.; dagegen Axer, Normsetzung, S. 283 f. 72 Zumindest dem Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG kann eine derartige Aussage nicht entnommen werden, da diese Regelung keinen materiell-garantierenden Gehalt aufweist; siehe oben § 3 B. II. 3 und 4.; a. A. Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 87 Rn. 76 f. 73 So zutreffend Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 87 Rn. 74, 82.
C. Art. 87 Abs. 2 GG
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Ein Indiz für eine Einrichtungsgarantie könnte jedoch der Vergleich mit Art. 87 Abs.1 S.2, Abs.3 GG liefern: Während dort jeweils von Behörden die Rede ist, die der Bund schaffen „kann“, setzt Art. 87 Abs. 2 GG sprachlich das Bestehen von Sozialversicherungsträgern voraus. Die Formulierungsunterschiede dürfen jedoch nicht überinterpretiert werden. Sie erklären sich dadurch, dass die Träger der Sozialversicherung bei Schaffung des Grundgesetzes bereits existiert haben. Deswegen hat der Verfassungsgeber sie sprachlich nicht als Möglichkeit, sondern als Realität angesprochen. Entsprechend kann aus der Formulierung des Art.87 Abs. 2 GG noch nicht auf eine obligatorische Staatsaufgabe zur Errichtung eines beitragsfinanzierten Sozialversicherungssystems geschlossen werden. Gegen eine solche Auslegung spricht auch, dass die Art.83 ff. GG in erster Linie Kompetenzvorschriften 74 sind, welche die Verwaltungszuständigkeiten zwischen Bund und Ländern aufteilen. In diesem normativen Umfeld ist die Annahme materiell-garantierender Gehalte eher fernliegend und wird auch durch die Entstehungsgeschichte 75 des Art. 87 Abs. 2 GG nicht belegt. Weiterhin spricht der Vergleich mit Art. 28 Abs. 2 GG, der nach allgemeiner Auffassung eine institutionelle Garantie der kommunalen Selbstverwaltung enthält 76, gegen eine entsprechende Auslegung des Art. 87 Abs. 2 GG. 77 Art. 28 Abs. 2 S. 1, 2 GG erwähnt ausdrücklich ein „Recht“ der Gemeinde und Gemeindeverbände, die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft eigenverantwortlich zu regeln. Eine vergleichbare Betonung von Selbstverwaltungsrechten lässt sich dem Wortlaut des Art. 87 Abs. 2 GG nicht entnehmen. Zudem wird die kommunale Selbstverwaltungsgarantie durch Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b GG prozessual abgesichert und unterscheidet sich auch in dieser Hinsicht von der Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger. Schließlich kann Art. 87 Abs. 2 GG auch nicht als Ausdruck einer Grundrechtsposition der Sozialversicherungsträger angesehen werden. Als juristische Personen des Öffentlichen Rechts gehören sie grundsätzlich zu den Grundrechtsverpflichteten. Über Art.19 Abs. 3 GG wächst Verwaltungsträgern nur Grundrechtsfähigkeit zu, soweit sie mittelbar einem durch Grundrechte geschützten Lebensbereich zuzuordnen sind. 78 Das trifft auf Sozialversicherungsträger aber nicht zu. 79 Da Art. 9 Abs. 1 Siehe Ehlers, Privatrechtsform, S. 116. Siehe v. Doemming/Füßlein/Matz, JöR n. F. 1 (1951), S. 620 ff., 644 ff. 76 Vgl. nur Nierhaus, in: Sachs, GG, Art. 28 Rn. 39 ff.; Tettinger, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG II, Art. 28 Rn. 126 ff. 77 Ebenso Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 87 Rn. 74; Butzer, Fremdlasten, S. 249; Hermes, in: H. Dreier, GG III, Art. 87 Rn. 64; Papier, in: v. Maydell/Ruland, SRH, A. 3. Rn. 26; Sachs, in: ders., GG, Art. 87 Rn. 55. 78 BVerfGE 31, S. 314 (322). 79 Wie hier BVerfGE 21, S. 362 (369); 39, S. 302 (314); 77, S. 340 (344); 113, S. 167 (262); Egger, SGb 2003, S. 76 (77); Isensee, Umverteilung, S. 60 f.; Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 19 Rn. 24; Ramsauer, NZS 2006, S. 505 (506 ff.); differenzierend v. Mutius, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BoK, Art. 19 Abs. 3 Rn. 141. Ein Teil der Lehre will den Sozialversicherungsträgern demgegenüber Grundrechtsfähigkeit zusprechen, soweit sie dem Staat ausnahmsweise als 74 75
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§ 6 Die Errichtung einer beitragsfinanzierten Sozialversicherung
GG den Versicherten kein Grundrecht auf Vereinigung in öffentlich-rechtlichen Trägern gewährt 80, vermag die Norm auch kein personelles Substrat zu vermitteln, aufgrund dessen den Sozialversicherungsträgern die Grundrechtsfähigkeit zuwachsen würde. Nichts anderes ergibt sich aus der von der herrschenden Auffassung befürworteten Eigentumsfähigkeit 81 von sozialversicherungsrechtlichen Rechtspositionen. Zwar verhindert die in Art.87 Abs. 2 GG angeordnete haushälterische Trennung der Sozialversicherung von der unmittelbaren Staatsverwaltung, dass der Fiskus auf das Beitragsaufkommen der Sozialversicherung zugreifen kann 82, und schützt damit faktisch auch die Anwartschaften der Versicherten. Das Eigentumsgrundrecht selbst hat jedoch keine organisationsrechtliche Dimension. Es sichert individuelle Rechte, nicht den Bestand der Sicherungsinstitution in ihrer jeweiligen Gestalt. 83 Somit ergibt sich auch aus Art. 87 Abs. 2 GG keine institutionelle Garantie der Sozialversicherung. 84
D. Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG Weiterhin könnte eine institutionelle Garantie der Sozialversicherung aus Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG folgen, nach dem der Bund abweichend von Art. 104 a Abs. 1 GG alleine die Zuschüsse zu den Lasten der Sozialversicherung trägt 85. Da die Regelung systematisch zur Finanzverfassung gehört 86, ist im Hinblick auf eine materiell-garantierende Aufladung allerdings Zurückhaltung geboten. Deshalb gehen das Bundesverfassungsgericht und die herrschende Lehre zu Recht davon aus, dass aus Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG keine Verpflichtung folgt, die Sozialversicherungsträger durch Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt zu unterstützen.87 selbständiges, nicht weisungsgebundenes Rechtssubjekt gegenübertreten; siehe Bettermann, NJW 1969, S. 1321 ff.; H. Bogs, Sozialversicherung, S. 625 f.; Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S. 228 in Fußn. 286; Krause, VSSR 1980, S. 115 (119); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 162; Schnapp, in: Schulin, HS-KV, § 49 Rn. 52. 80 Siehe oben B. IV. 81 Siehe dazu oben B. III. 82 Siehe bereits oben § 4 C. II. 83 So zutreffend Igl/Welti, Sozialrecht, Rn. 28; S. Weber, Krankenversicherung, S. 276. 84 Wie hier BVerfGE 11, S. 105 (112 f.); 21, S. 362 (371); 23, S. 12 (22 f.); 36, S. 383 (393); 39, S. 302 (314 f.); 77, S. 340 (344); 89, S. 365 (377); Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 82; Hermes, in: H. Dreier, GG III, Art. 87 Rn. 60; Jestaedt, in: Umbach/Clemens, MAK II, Art. 87 Rn. 92; Sachs, in: ders., GG, Art. 87 Rn. 57; Schmidt-De Caluwe, SDSRV 51 (2004), S. 29 (41 f.); Wannagat, Sozialversicherungsrecht, S. 226; a. A. Lerche, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 87 Rn. 152 mit Fußn. 27. 85 Siehe dazu bereits oben § 3 C. II. 2. und 3. 86 Siehe BVerfGE 14, S. 221 (235); 113, S.167 (200); J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 34; Lübbe-Wolff, in: H. Dreier, GG III, Art. 120 Rn. 16; Muckel, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 120 Rn. 33, 40. 87 Siehe BVerfGE 14, S. 221 (235); 113, S.167 (207); J. Becker, Transfergerechtigkeit, S. 34; Gössl, Sozialversicherung, S. 127; Lübbe-Wolff, in: H. Dreier, GG III, Art. 120 Rn. 16; Muckel,
E. Soziale Garantien des Völker- und Europarechts
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Allerdings hat das Bundessozialgericht aus Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip eine Garantiehaftung des Bundes für die Erfüllung der Aufgaben eines Sozialversicherungsträgers herausgelesen, soweit sich der Sozialversicherungsträger in einer existenzbedrohenden Notlage befindet, die er aus eigener Kraft nicht mehr beseitigen kann. 88 Das Gericht stützt sich dabei auf eine aus Art. 20 Abs. 1 GG folgende Pflicht des Staates, für das Funktionieren des staatlichen Sozialversicherungssystems zu sorgen. 89 Gegen diese Annahme spricht allerdings, dass Art. 20 Abs. 1 GG keine Aussage darüber enthält, in welcher Organisationsform soziale Leistungen zu erbringen sind 90. 91 Vertretbar erscheint es daher höchstens, dass die zunächst systemneutralen Wertungen des Sozialstaatsprinzips jeweils durch das vom Gesetzgeber geschaffene Sozialrecht konkretisiert werden. 92 Soweit daraus gefolgert wird, dass der Staat die gesetzlich etablierten Sicherungssysteme funktionsfähig zu erhalten habe und dies notfalls auch durch die Bereitstellung finanzieller Mittel aus dem Bundeshaushalt tun müsse93, wäre eine so verstandene Garantie jedenfalls den grundlegenden Entscheidungen des Gesetzgebers über die Organisation der sozialen Sicherung nachgelagert 94. Eine verfassungsrechtliche Bindung, die dem Gesetzgeber einen Systemwechsel verbietet, könnte aus einer Garantiehaftung des Bundes für die Sozialversicherung somit nicht erwachsen. 95
E. Soziale Garantien des Völker- und Europarechts Schließlich stellt sich die Frage, ob soziale Garantien des Völker- und Europarechts derart auf deutsches Verfassungsrecht einwirken, dass sie eine institutionelle Garantie der Sozialversicherung begründen. 96 Gewährleistungen sozialer Rechte in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 120 Rn. 37; Siekmann, in: Sachs, GG, Art. 120 Rn. 28; siehe auch Schmehl, Äquivalenzprinzip, S.202 f.; a. A. F. Kirchhof, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, Voraufl. 1999, § 93 Rn. 39; nunmehr zurückhaltender ders. in der Neuauflage, Bd. V, § 125 Rn. 53. 88 BSGE 47, S. 148 (153, 157 ff.). 89 BSGE 47, S. 148 (157); zustimmend Axer, in: Friauf/Höfling, BerlK, Art. 120 Rn. 29 f.; Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 275 f.; im Ergebnis auch Isensee, der die Garantiehaftung des Bundes allerdings auf die Grundrechte der Beitragszahler zurückführt (SDSRV 35 (1992), S. 7, 38 f.); vgl. auch Felix, NZS 2005 S. 57 (59); ablehnend Kranz, Bundeszuschüsse, S. 144: Art. 20 Abs. 1 GG garantiere die Zahlungsfähigkeit des Sozialstaats, nicht die des konkret organisierten Versicherungsträgers. 90 Siehe oben A. 91 Ebenso Muckel, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 120 Rn. 41. 92 So Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 275. 93 So Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 275; Bieback, VSSR 1993, S. 1 (19). 94 Werner spricht insoweit treffend von einem „Zwei-Stufen-Modell“ sozialstaatlicher Bindung (Leistungsfähigkeit, S. 114). 95 So zutreffend Berne, Arbeitslosenversicherung, S. 275; Muckel, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG III, Art. 120 Rn. 42. 96 Tendenziell für ein aus dem Gemeinschaftsrecht folgendes Verbot, zentrale Zweige der sozialen Sicherung abzuschaffen, Haverkate/Huster, Europäisches Sozialrecht, Rn. 91 f.
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§ 6 Die Errichtung einer beitragsfinanzierten Sozialversicherung
finden sich auf völkerrechtlicher Ebene etwa im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 97 und in der Europäischen Sozialcharta 98. Im EU-Recht gehört die „Förderung des sozialen Fortschritts“ zu den Zielen der Union (Art. 2 1. Spiegelstrich EUV) und „ein hohes Maß an sozialem Schutz“ zu den Aufgaben der Gemeinschaft (Art. 2 EGV). Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union 99 erkennt zudem in Art. 34 ein Recht auf soziale Sicherheit an. 100 Weiterhin verweist Art. 136 Abs. 1 EGV ausdrücklich auf die Festlegung sozialer Grundrechte durch die soeben erwähnte Europäische Sozialcharta und die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989 101.
I. Organisationsrechtliche Neutralität des Europäischen Unionsrechts und der Europäischen Sozialcharta Aus den sozialen Gewährleistungen des Europäischen Unions- und Gemeinschaftsrechts kann sich eine institutionelle Garantie der Sozialversicherung jedoch ersichtlich nicht ergeben. Für die Grundrechte-Charta folgt das schon daraus, dass ihr als Teil der vorerst gescheiterten Verfassung für Europa allenfalls eine beschränkte rechtliche Verbindlichkeit als soft law zukommt, das den in der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte entwickelten Grundrechtestandard in der Europäischen Union zutreffend wiedergibt 102. Außerdem verlangt keine der oben geBGBl. II 1973, S. 1569. Veröffentlichungsnachweise zur Europäischen Sozialcharta und ihren Zusatzprotokollen bei Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 20 Rn. 136 in Fußn. 418. Die Europäische Sozialcharta vom 18. Oktober 1961 ist wie die EMRK ein Rechtsakt des Europarates und normiert einen Katalog von sozialen Grundrechten; vgl. dazu Eichenhofer, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 136 EGV Rn. 22. Die Sozialcharta enthält u. a. ein Recht auf soziale Sicherheit (Art. 12), ein Recht auf soziale Fürsorge (Art. 13) und ein Recht älterer Menschen auf sozialen Schutz (Art. 23). Allerdings entfaltet nach Teil III Art. A Nr. 1 Buchst. b der Sozialcharta nur Art. 12 umfassende Bindungswirkung für die Vertragsstaaten; vgl. dazu Schilling, Internationaler Menschenrechtsschutz, S. 9. 99 Proklamiert am 7. Dezember 2000 in Nizza durch den Europäischen Rat (Abl. Nr. C 364, S. 1). 100 Vgl. zu den sozialen Grundrechten der Grundrechte-Charta Everling, in: GS Heinze, S. 157 ff. 101 Die Gemeinschaftscharta enthält in Titel I Nr. 10 ein Recht der Arbeitnehmer und Arbeitslosen auf sozialen Schutz und soziale Leistungen sowie in Titel I Nr. 24 und 25 Rechte von Arbeitnehmern auf Ruhestandsleistungen. Vgl. zur Entstehungsgeschichte der Gemeinschaftscharta und der Verweisung in Art. 136 Abs. 1 EGV Haverkate/Huster, Europäisches Sozialrecht, Rn. 30, 52. 102 Näher dazu Pfeffer, Gute Verwaltung, S. 25 ff. Unklar sind zudem die Rechtswirkungen, die von der Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer ausgehen. Ursprünglich hatte sie unstreitig keine rechtliche Verbindlichkeit; vgl. Haverkate/Huster, Europäisches Sozialrecht, Rn.30. Fraglich ist, ob sich das geändert hat, weil Art.136 Abs.1 EGV seit dem Amsterdamer Vertrag ausdrücklich auf die Gemeinschaftscharta verweist. Die Annahme Eichenhofers, die Charta habe damit den Rang einer umfassenden sozialpolitischen Einzeler97 98
E. Soziale Garantien des Völker- und Europarechts
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nannten Regelungen, dass der soziale Schutz in der Organisationsform einer beitragsfinanzierten Sozialversicherung erfolgen muss. 103 Vielmehr behält Art. 137 Abs. 4 EGV den Mitgliedstaaten ausdrücklich das Recht vor, über die Grundprinzipien ihres nationalen Systems der sozialen Sicherheit selbst zu entscheiden.104 Die Gemeinschaft hat somit keine Kompetenz, Vorgaben über die Organisation und Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme zu beschließen. Entsprechend gewährt Art. 34 Abs. 1, 2 der Grundrechte-Charta den Zugang zu Leistungen der sozialen Sicherheit nur nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten. Es bleibt damit Aufgabe der Nationalstaaten, zwischen dem Bismarck-Modell einer beitragsfinanzierten Sozialversicherung und dem Beveridge-Modell einer steuerfinanzierten Einwohnerversorgung zu wählen, Mischformen zu kreieren oder neue Modelle sozialer Sicherung zu entwickeln. 105 Der Sozialstaat ist trotz der wachsenden Bedeutung des europäischen Sozialrechts106 im Grundsatz nach wie vor ein „nationalstaatliches Projekt“ 107. Vergleichbares gilt auf der völkerrechtlichen Ebene für die Europäische Sozialcharta. Zwar verpflichtet sie in Art. 12 Nr. 1 die Vertragsstaaten, ein System der sozialen Sicherheit einzuführen. Über dessen Ausgestaltung trifft Art. 12 der Sozialcharta jedoch keine Aussage, so dass neben der Etablierung einer Sozialversicherung auch steuerfinanzierte Sicherungsformen in Betracht kommen.
mächtigung erhalten (in: Streinz, EUV/EGV, Art. 136 EGV Rn. 23), würde die differenzierte Kompetenzregelung des Art. 137 EGV weitgehend überspielen und ist daher abzulehnen. 103 Vgl. Welti, Behinderung, S. 304 f. 104 Art. 137 Abs. 4 EGV konkretisiert insoweit Art. 137 Abs. 1 EGV, demzufolge die Gemeinschaft die Tätigkeit der Mitgliedstaaten lediglich „unterstützen“ und „ergänzen“ darf; vgl. Krebber, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 137 EGV Rn. 17. Auch der Europäische Gerichtshof betont in seiner ständigen Rechtsprechung, dass das Gemeinschaftsrecht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unberührt lässt; siehe nur EuGH – Poucet und Pistre –, Slg. 1993 I, S. 637 (667, Rn. 6); – Cisal –, Slg. 2002 I, S. 717 (729, Rn. 31), jeweils mit weiteren Nachweisen. 105 Vgl. zu den unterschiedlichen Sozialmodellen in Europa – teils auch über den Mitgliederkreis der Europäischen Union hinausgreifend – Brall, Export, S. 197 ff.; Haverkate/Huster, Europäisches Sozialrecht, Rn. 17 ff.; R. Hofmann/Holländer/Merli/Wiederin, Armut; Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S.461 f.; Reinhard/Kruse/v. Maydell, Invaliditätssicherung; Schmid, Wohlfahrtsstaaten; Schulte, ZSR 1997, S. 729 ff.; Verband deutscher Rentenversicherungsträger, Vergleich; Werner, Leistungsfähigkeit, S. 38 ff. mit Fußn. 75; Zacher, Alterssicherung. 106 Siehe dazu Eichenhofer, Sozialrecht der Union; Ebsen, Gestaltungsvorgaben; Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S. 283–576; Haverkate/Huster, Europäisches Sozialrecht; Ringler, Sozialunion. 107 Siehe J.-P. Schneider, VVDStRL 64 (2005), S.238 (241 ff.); zustimmend Rüfner, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR IV, § 96 Rn. 88.
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§ 6 Die Errichtung einer beitragsfinanzierten Sozialversicherung
II. Art. 9 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte Anders könnte es sich allerdings mit dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte verhalten, der in Art. 9 ein Recht auf soziale Sicherheit gewährt, das ausdrücklich eine „Sozialversicherung“ 108 umfasst. Jedenfalls nach dem deutschen Verständnis des Begriffs wäre die Regelung so zu verstehen, dass sie die Vertragsstaaten zur Errichtung von beitragsfinanzierten Sicherungssystemen verpflichtet. Doch ist dieser Schluss im internationalen Kontext nicht zwingend, zumal nicht gesichert ist, dass das Finanzrecht aller Vertragsstaaten strikt zwischen Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen unterscheidet. 109 Darüber hinaus wird die Bindungswirkung des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte durch diesen selbst relativiert. 110 Art. 2 Abs. 1 des Paktes verpflichtet die Vertragsstaaten lediglich, unter Ausschöpfung all ihrer Möglichkeiten Maßnahmen zu treffen, um nach und nach mit allen geeigneten Mitteln die volle Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte zu erreichen. Außerdem ist eine gerichtliche Kontrolle über die Einhaltung der völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht vorgesehen. 111 Will man trotz dieser Einwände dennoch davon ausgehen, dass Art. 9 des Paktes eine völkerrechtlich verbindliche Verpflichtung zur Schaffung von beitragsfinanzierten Sicherungssystemen enthält, so stellt sich die Frage, ob daraus auch eine verfassungsrechtliche Gewährleistung folgt. Dafür gibt es zwei mögliche Ansatzpunkte: eine Bindungswirkung des Paktes nach Art. 25 GG (1.) sowie eine Pflicht zur menschenrechtskonformen Auslegung des Grundgesetzes (2.). 1. Bindungswirkung nach Art. 25 GG Zunächst gilt der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte innerhalb Deutschlands aufgrund des nach Art. 59 Abs. 2 GG ergangenen 108 Die offiziellen Vertragssprachen Englisch und Französisch verwenden die Begriffe „social insurance“ bzw. „assurances sociales“; siehe BGBl. II 1973, S. 1569 (1574). 109 So werden die Arbeitgeberbeiträge im angelsächsischen Rechtskreis anders als in Deutschland als Besteuerung qualifiziert; siehe den Eintrag zum Begriff „national insurance“ bei Walker, Oxford companion, S.865: „(...) So far as self-employed persons and employers are concerned, the contributions are a form of taxation and not related to benefits. (...)“. 110 Vgl. dazu Schilling, Menschenrechtsschutz, S. 10 f.; Sommermann, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG II, Art. 20 Rn. 138 f.; siehe zur Kontroverse über die völkerrechtliche Bindungswirkung des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte auch Nowak, Menschenrechtssystem, S. 95 ff. 111 Teil IV des Paktes regelt lediglich Berichtspflichten der Vertragsstaaten gegenüber dem Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen, welcher dafür einen eigenen Ausschuss gebildet hat. Vgl. zur Tätigkeit des Ausschusses Lohse, Recht auf Wasser, S. 79.
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Transformationsgesetzes 112 nur im Rang eines einfachen Gesetzes 113. Damit hat er als niederrangiges Recht keinen Einfluss auf die Auslegung des Grundgesetzes. Übergesetzlichen Rang haben gemäß Art. 25 S. 1, 2 GG nur die allgemeinen Regeln des Völkerrechts. Auch bei diesen ist allerdings umstritten, ob sie dem Grundgesetz gleich-, nach- oder übergeordnet sind. 114 Diese Frage kann jedoch dahinstehen, weil der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ohnehin nicht in den Anwendungsbereich des Art. 25 GG fällt. Denn unter den Begriff der allgemeinen Regeln des Völkerrechts fallen nur das Völkergewohnheitsrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Völkerrechts, nicht aber einzelne völkerrechtliche Verträge. 115 Zwar können völkerrechtliche Verträge bereits bestehende allgemeine Regeln des Völkerrechts kodifizieren. 116 Das trifft aber nicht auf Art. 9 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte zu, da dieser keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Völkerrechts zum Ausdruck bringt. Ein solcher wäre nämlich nur anzunehmen bei einem Prinzip, das sich übereinstimmend in den innerstaatlichen Rechtsordnungen aller oder jedenfalls einer signifikanten Zahl von Staaten vorfinden ließe. 117 Eine universelle Anerkennung sozialer Grundrechte kann für die nationalen Rechtsordnungen aber nicht behauptet werden. So kennt auch das Grundgesetz nach wie vor kaum soziale Grundrechte. 118 Auch wenn sich die Forderung nach sozialen Grundrechten jedenfalls im europäischen Raum auf dem Vormarsch befindet 119, so betrifft das jedenfalls nicht ein Recht auf den Zugang zu einer beitragsfinanzierten Sozialversicherung, da die Organisation und Finanzierung der sozialen Sicherung in den einzelnen europäischen Staaten nach wie vor sehr unterschiedlich 120 ausgestaltet ist und Art. 137 Abs. 4 EGV eine erzwungene Harmonisierung in diesem Bereich ausdrücklich ausschließt. 2. Pflicht zur menschenrechtskonformen Auslegung des Grundgesetzes Hat Art. 9 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte somit in Deutschland nur den Rang eines einfachen Gesetzes, so stellt sich 112 Gesetz zu dem Internationalen Pakt vom 19. Dezember 1966 über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 23. November 1973 (BGBl. II, S. 1569). 113 Siehe zum Rang der auf Grundlage des Art. 59 Abs. 2 GG erlassenen Transformationsgesetze Kempen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 59 Rn. 92; Neuner, Privatrecht, S. 126 f. 114 Vgl. zu diesem Meinungsstreit Koenig, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 25 Rn. 50 ff.; Pernice, in: H. Dreier, GG II (2006), Art. 25 Rn. 23 ff., jeweils mit weiteren Nachweisen. 115 Siehe Herdegen, Völkerrecht, § 22 Rn. 12; Koenig, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 25 Rn. 18. 116 Vgl. Neuner, Privatrecht, S. 126; Pernice, in: H. Dreier, GG II (2006), Art. 25 Rn. 17. 117 Vgl. Koenig, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 25 Rn. 22 f. 118 Siehe oben B. I. 119 Das zeigt sich prägnant in der Aufnahme von sozialen Grundrechten in die Grundrechte-Charta der Europäischen Union. 120 Siehe dazu die Nachweise in Fußn. 105.
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§ 6 Die Errichtung einer beitragsfinanzierten Sozialversicherung
die Frage, ob er dennoch als Auslegungshilfe für die Interpretation des Grundgesetzes – etwa des Sozialstaatsprinzips 121 – heranzuziehen ist. Das Bundesverfassungsgericht hat gleiches bei Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention angenommen 122, für die sozialen Grundrechte der Europäischen Sozialcharta aber offen gelassen 123. In seiner Abtreibungs-Entscheidung aus dem Jahr 1993 hat das Gericht die Pflicht des Staates zur Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie allerdings nicht nur auf Art. 6 und Art. 3 Abs. 2 GG, sondern ausdrücklich auch auf Art. 3 und Art. 7 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte gestützt. 124 Leider hat es dabei nicht klargestellt, welchen innerstaatlichen Geltungsrang es dem Pakt beimisst. Dogmatischer Angelpunkt einer menschenrechtskonformen Auslegung des Grundgesetzes ist Art. 1 Abs. 2 GG, nach dem sich das deutsche Volk zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit bekennt. 125 Schon vor Erlass des Grundgesetzes gab es Tendenzen, soziale Grundrechte in den Kreis der universellen Menschenrechte einzubeziehen. So enthält die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, die neben den klassischen Menschenrechtserklärungen des 18. Jahrhunderts für die Interpretation des Art. 1 Abs. 2 GG heranzuziehen ist 126, neben klassischen Freiheitsrechten auch Garantien sozialer Rechte. Art. 1 Abs. 2 GG stellt allerdings keine Grundlage für eine Inkorporation bestimmter Menschenrechtskonventionen in das Grundgesetz dar 127, zumal der deutsche Verfassungsgeber über die Geltung und Reichweite der Grundrechte eigenständige und differenzierte Regelungen getroffen hat. Entsprechend darf die Zurückhaltung des Grundgesetzes gegenüber sozialen Grundrechten 128 nicht durch eine extensive Auslegung des Art. 1 Abs. 2 GG überspielt werden. 129 Systematischen Einfluss auf die Auslegung des Grundgesetzes können internationale Menschenrechtskonventionen daher nur haben, soweit es um die Konkretisierung von Rechten und Prin121 Für eine Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips durch völkerrechtliche Menschenrechtskonventionen Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 20 Rn. 136 ff. 122 BVerfGE 74, S. 358 (370); 82, S. 106 (115); 111, S. 307 (315 ff.). 123 BVerfGE 88, S. 103 (112). 124 Siehe BVerfGE 88, S. 203 (260). 125 Siehe H. Dreier, in: ders., GG I, Art. 1 II Rn. 20; v. Hodenberg, Bekenntnis, S. 118; Sommermann, AöR 114 (1989), S. 391 (417 f.); ders., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 20 Rn. 137; siehe auch Neuner, Privatrecht, S. 128. 126 Vgl. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art.1 Rn. 131; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 20 Rn. 137 mit Fußn. 425. 127 So zutreffend H. Dreier, in: ders., GG I, Art.1 II Rn.19; v.Hodenberg, Bekenntnis, S.118 f.; Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 1 Rn. 29; P. Kirchhof, EuGRZ 1994, S. 16 (26 f.); Sommermann, AöR 114 (1989), S.391 (417); Starck, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art.1 Rn.125; a. A. Bleckmann, EuGRZ 1994, S. 149 (154 f.); Echterhölter, JZ 1955, S. 689 (691); explizit für die Inkorporation sozialer Menschenrechte in das Grundgesetz Neuner, Privatrecht, S. 129 f. 128 Siehe dazu oben B. I. 129 Ebenso Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 20 Rn. 138.
F. Zusammenfassung
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zipien geht, die das Grundgesetz selbst jedenfalls im Grundsatz anerkennt. Wie gesehen, ist das im Hinblick auf den Zugang zu einer beitragsfinanzierten Sozialversicherung nicht der Fall. Art. 9 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte hat daher keinen Einfluss auf die Auslegung des Grundgesetzes und kann deshalb eine institutionelle Garantie der Sozialversicherung nicht begründen.
F. Zusammenfassung Eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Ausübung der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG durch Schaffung einer beitragsfinanzierten Sozialversicherung besteht nicht. Das Sozialstaatsprinzip und grundrechtliche Schutzpflichten treffen keine Aussage darüber, wie soziale Leistungen zu finanzieren und organisieren sind. Der Staat kann seine sozialen Aufgaben alternativ durch beitragsfinanzierte Systeme, steuerfinanzierte Sicherungsformen oder die Regulierung und Förderung privater Vorsorge erfüllen. Insbesondere lässt sich aus dem Sozialstaatsprinzip kein soziales Rückschrittsverbot folgern, das dem Gesetzgeber verbietet, den einmal erreichten Standard sozialer Leistungen anzutasten. Die durch eigene Beitragsleistungen erworbenen Anwartschaften in der Sozialversicherung werden zwar durch Art. 14 GG oder durch den rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgrundsatz geschützt. Damit kann ein Rückbau der Sozialversicherung aber nur verzögert, nicht verhindert werden. Schließlich unterfällt die Mitgliedschaft in der Sozialversicherung auch nicht dem Grundrecht der Vereinigungsfreiheit, weil sie als soziale Zwangsversicherung in öffentlicher Trägerschaft nicht auf einem freiwilligen Zusammenschluss beruht. Auch Art. 87 Abs. 2 GG und Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG enthalten keine institutionelle Garantie der Sozialversicherung. Art. 87 Abs. 2 GG ist wie Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG in erster Linie eine Kompetenzvorschrift. Selbst wenn man mit der herrschenden Lehre aus Art. 87 Abs. 2 GG ein Selbstverwaltungsrecht der Sozialversicherungsträger folgert, zeigt insbesondere der Vergleich mit Art. 28 Abs. 2 GG, dass der Bestand der Sozialversicherung durch diese Regelung nicht dauerhaft garantiert werden soll. Da es kein Grundrecht auf Zugang zu einer Sozialversicherung gibt, sind die Sozialversicherungsträger auch nicht grundrechtsfähig. Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG gehört systematisch zur Finanzverfassung und erscheint daher ebenfalls nicht als geeigneter Anknüpfungspunkt für eine obligatorische Staatsaufgabe. Die vom Bundessozialgericht aus Art. 120 Abs. 1 S. 4 i.V. m. Art. 20 Abs. 1 GG hergeleitete Garantiehaftung des Bundes für die Funktionsfähigkeit bestehender Sozialversicherungsträger ist dem Bestand der Sozialversicherung nachgelagert und verbietet dem Gesetzgeber daher nicht eine Systementscheidung zu deren Beseitigung. Schließlich erzwingen auch völker- und europarechtliche Vorschriften nicht den Bestand beitragsfinanzierter Sicherungssysteme. Zwar enthält das supra- und internationale Recht eine wachsende Zahl von sozialen Gewährleistungen. Diese sind je-
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§ 6 Die Errichtung einer beitragsfinanzierten Sozialversicherung
doch fast durchweg organisationsneutral und enthalten keine Aussage darüber, wie die soziale Sicherung zu finanzieren ist. Die einzige Ausnahme könnte der in Art. 9 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte garantierte Zugang zu einer Sozialversicherung darstellen. Doch entspricht das deutsche Verständnis des Begriffs „Sozialversicherung“ als beitragsfinanzierte Form sozialer Sicherung nicht zwingend dem Sprachgebrauch aller Vertragsstaaten. Zudem hat die Vorschrift keine Ausstrahlungswirkung auf die deutsche Verfassung, da sie innerhalb Deutschlands nur im Rang eines einfachen Bundesgesetzes gilt. Sie gehört weder zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts nach Art. 25 GG, noch hat sie an der menschenrechtskonformen Auslegung des Grundgesetzes teil.
Schlussbetrachtung Zum Abschluss der Abhandlung sei noch einmal an die Ausgangsthese erinnert, dass Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG keine materiellen Funktionen im Verfassungsgefüge hat. 1 Im Verlauf der Arbeit hat sich gezeigt, dass diese These zutrifft. Dem Kompetenztitel lässt sich weder eine institutionelle Garantie der Sozialversicherung entnehmen, noch enthält er eine programmatische Verpflichtung, die Regelungsmaterie „Sozialversicherung“ inhaltlich nach anderen Prinzipien zu gestalten als die öffentliche Fürsorge oder das privatrechtliche Versicherungswesen. Insbesondere ergibt sich aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und Nr. 12 GG keine „bipolare“ Versicherungsverfassung, die der Ausdehnung der Sozialversicherungsmonopole zulasten der Privatversicherung Grenzen setzt oder eine übermäßige Regulierung von privatrechtlichen Versicherungsverhältnissen verbietet. Ebenso kann der Gesetzgebungszuständigkeit kein grundrechtsschützendes „Versicherungsprinzip“ entnommen werden, das eine Umverteilung des Beitragsaufkommens der Sozialversicherung verhindert oder begrenzt. Gleiches gilt umgekehrt freilich auch für das „Solidarprinzip“, das den sozialen Ausgleich in der Versichertengemeinschaft rechtfertigen soll. Dieser Befund wird auch aus grundrechtlicher Sicht bestätigt. Einerseits enthält die Verfassung kein besonderes Versicherungsgrundrecht, das eine Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen ausschließlich dann zulässt, wenn der Abgabenpflichtige im Gegenzug eine gleichwertige Leistung erhält. Andererseits ist der Belastungsgrund der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit exklusiv für die Abgabenform der Steuer reserviert. Damit haben weder das „Versicherungsprinzip“ noch das „Solidarprinzip“ eine tragfähige verfassungsrechtliche Verankerung. Es wäre daher wünschenswert, wenn diese beiden Schlagworte aus der verfassungsrechtlichen Diskussion verschwinden würden. Mangels einer materiellen Funktion stellt Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG eine reine Zuständigkeitsvorschrift dar. Ihre einzige Besonderheit im Vergleich zu anderen Sachkompetenztiteln liegt darin, dass sie zugleich eine Abgabenkompetenz in sich trägt und daher von den in der Finanzverfassung geregelten Steuerkompetenzen abgegrenzt werden muss. Da Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG eine reine Zuständigkeitsregelung ist, hat die Interpretation der Norm keinen anderen Zweck, als den Regelungsbereich der „Sozialversicherung“ abzustecken, für den der Bundesgesetzgeber eine konkurrierende Zuständigkeit hat. Die Auslegung erschöpft sich deshalb in der Bildung von geeigneten Abgrenzungsmerkmalen zur Eingrenzung des Sachbereichs.
1
Siehe Einführung B. II.
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Schlussbetrachtung
Insoweit hat die Abhandlung gezeigt, dass die auf das Kindergeld-Urteil des Bundesverfassungsgerichts zurückgehende herrschende Interpretation des Art.74 Abs. 1 Nr. 12 GG diesem Anliegen nur ungenügend gerecht wird. Kritikwürdig erscheint zunächst die methodisch fragwürdige Fixierung auf einen historisch gewachsenen „Gattungsbegriff“ oder „Typus“. Diese kann mit dem Demokratieprinzip nicht in Einklang gebracht werden, das dem Gesetzgeber auch die vollständige Neustrukturierung eines Kompetenzbereichs erlaubt. Mit der Dominanz der historischen Auslegung geht zudem die mangelnde Reflexion der beiden Fragen einher, von welchen Kompetenzen Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG überhaupt abzugrenzen ist und von welcher Art geeignete Abgrenzungskriterien beschaffen sein müssen. Im Fokus der herrschenden Interpretation stehen nicht die sachlich-inhaltlichen Aufgaben der Sozialversicherung, sondern organisationsbezogene Merkmale wie die Beitragsfinanzierung oder die Organisation in mittelbarer Staatsverwaltung. Eng damit einher geht die Ansicht, dass Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG in erster Linie von anderen Bundeskompetenzen – insbesondere Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 und Nr. 11 GG – abgegrenzt werden müsse. Diese Annahme ist jedoch nicht zutreffend. Ein verfassungsrechtlicher Grund für die Unterscheidung der Sozialversicherungskompetenz von den Zuständigkeitstiteln für die öffentliche Fürsorge und für das privatrechtliche Versicherungswesen besteht erst seit der Föderalismusreform, weil die kompetenzielle Zuordnung seitdem über die Anwendung des Art. 72 Abs. 2 GG n. F. entscheidet. Vor der Verfassungsänderung von 2006 war eine gegenseitige Abgrenzung der drei konkurrierenden Zuständigkeiten aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7, 11 und 12 GG dagegen entbehrlich, weil sie denselben verfassungsrechtlichen Anwendungsvoraussetzungen unterlagen und keine von ihnen eine programmatische, garantierende oder grundrechtsschützende Funktion hat. Im Hinblick auf die föderale Primärfunktion des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG hat die Abhandlung erwiesen, dass die nach der herrschenden Auffassung dominierenden organisationsbezogenen Merkmale keinen tauglichen Beitrag zur Abgrenzung der Kompetenzbereiche von Bund und Ländern leisten. Weder hat der Bund einen Beurteilungsspielraum bei der Festlegung der Sozialversicherungsaufgaben, der durch organisationsrechtliche Festlegungen kompensiert werden kann oder muss, noch bleibt neben der Sozialversicherungszuständigkeit Raum für ausschließliche Länderkompetenzen, die sich auf dieselben sozialen Risiken beziehen, aber an eine andere Organisations- oder Finanzierungsform gebunden sind – etwa eine Länderzuständigkeit für eine steuerfinanzierte „Versorgung“ der Bevölkerung. Die Interpretation des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG muss sich daher verstärkt der Frage zuwenden, welche sozialen Leistungen und welche Bevölkerungsgruppen von dem Kompetenzbereich erfasst werden, da nur auf der sachlich-inhaltlichen und personellen Ebene eine Entgrenzung der Bundeszuständigkeit zu einer generalklauselartigen Allkompetenz für soziale Fragen verhindert werden kann. Die Abhandlung hat gezeigt, dass sich die Zuständigkeit des Bundes sachlich-inhaltlich auf die Kompensation von körperlichen Personenschäden sowie von Ausfällen des Erwerbseinkommens beschränkt. Das schließt Präventions- und Wiedereingliede-
Schlussbetrachtung
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rungsmaßnahmen jeweils ein. Personenrisiken müssen dabei nicht zwingend eine Verbindung zum Erwerbsleben aufweisen. Deshalb konnte der Gesetzgeber etwa auch die Einführung der sozialen Pflegeversicherung auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG stützen. Dagegen fallen Vermögensrisiken jenseits des Ausfalls des Erwerbseinkommens sowie Sachrisiken aus dem Kompetenzbereich heraus. Der Bund könnte somit zum Beispiel weder eine Hausrats-, noch eine Rechtsschutz-„Sozialversicherung“ errichten. Familienleistungen fallen nur unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, soweit sie an einen Personenschaden oder an eine Unterbrechung der Erwerbstätigkeit zum Zwecke der Kindererziehung anknüpfen. Daher konnte etwa das Kindergeldgesetz von 1954 entgegen der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht auf den Zuständigkeitstitel für die Sozialversicherung gestützt werden. Zustimmung verdient die Ansicht des Gerichts, dass die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung nur von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gedeckt ist, soweit sie keinen originären Rentenanspruch schafft, sondern an eine Unterbrechung einer versicherungspflichtigen Berufstätigkeit gebunden ist. In personeller Hinsicht ist Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zwar nicht auf die Sicherung von Arbeitnehmern und ihren Angehörigen begrenzt. Mit der Streichung des Art. 74 a GG im Zuge der Föderalismusreform hat der Bund jedoch die Zuständigkeit für die soziale Sicherung der Landes- und Kommunalbediensteten in öffentlichrechtlichen Dienstverhältnissen verloren. Schon vorher hatte er keine entsprechende Kompetenz für die Mitglieder der Landesregierungen einschließlich der parlamentarischen Staatssekretäre und der Landtagsabgeordneten. Das hat zur Konsequenz, dass eine Einbeziehung dieser Personengruppen in die Sozialversicherung nur aufgrund von landesrechtlichen Verweisungen möglich ist, die das einschlägige Sozialversicherungsrecht im Range eines Landesgesetzes zur Anwendung bringen. Soweit eine derartige landesrechtliche Verweisung fehlt, muss etwa die freiwillige Sozialversicherung von Landes- und Kommunalbeamten als verfassungswidrig eingeordnet werden. Auf finanzverfassungsrechtlicher Ebene hat das zur Folge, dass die Sozialversicherung von Landes- und Kommunalbediensteten von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG auch in seiner Funktion als Abgabenkompetenz nicht erfasst wird. Die Leistungsausgaben für Landes- und Kommunalbedienstete dürfen daher in keinem Fall aus dem allgemeinen Beitragshaushalt der Sozialversicherungsträger finanziert werden. Sie müssen in Sonderhaushalte ausgelagert werden und sind entweder durch Eigenbeiträge der Betroffenen, die als Vorzugslasten zu qualifizieren sind, oder aus Steuermitteln zu finanzieren. Schließlich hat die Abhandlung auch gezeigt, dass der soziale Ausgleich entgegen der herrschenden Auffassung nur eine sehr geringe Rolle für die Auslegung der Sozialversicherungszuständigkeit spielt. Da Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als reine Kompetenzvorschrift keine materiellen Aussagen über die Rechtfertigung der sozialen Umverteilung im Sozialversicherungsrecht enthält, kann der soziale Ausgleich nur in der Funktion als Abgrenzungsmerkmal zu anderen Zuständigkeitszuweisungen
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Schlussbetrachtung
sinnvoll in die Interpretation der Vorschrift integriert werden. Dafür ist er jedoch weitgehend ungeeignet. Bei öffentlichen Versicherungsmonopolen ist der soziale Ausgleich eine Frage der Legitimität, nicht der Gesetzgebungszuständigkeit. Eine staatliche Zwangsversicherung, die ihren Mitgliedern soziale Vorsorge zu Konditionen anbietet, die auch auf dem privaten Markt erhältlich sind, kann vor den Grundrechten und dem EG-Wettbewerbsrecht nicht gerechtfertigt werden. Da dies für landesrechtliche und bundesrechtliche Versicherungsmonopole gleichermaßen gilt, wird die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern davon aber nicht berührt. Im Grenzbereich zwischen den Bundeszuständigkeiten aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und Nr. 12 GG kann der soziale Ausgleich nur bei der freiwilligen Sozialversicherung ein geeignetes Abgrenzungsmerkmal darstellen. Staatliche Monopole schließen private Anbieter von einem bestimmten Marktsegment aus und können daher unabhängig von ihrer näheren Ausgestaltung kein privatrechtliches Versicherungswesen darstellen. Sie fallen stets unter die Sozialversicherungskompetenz. Dagegen wird die freiwillige Versicherung bei einem staatlichen Träger von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nur gedeckt, soweit sie als soziales Auffangbecken für Personen konzipiert ist, die aus finanziellen oder anderen Gründen keine adäquate Absicherung auf dem privaten Versicherungsmarkt erhalten können. Gewinnorientierte Versicherungsangebote, die in Konkurrenz zu privaten Anbietern treten, fallen wie jede erwerbswirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand unter das Recht der Wirtschaft und somit in den Kompetenzbereich von Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG.
Vorschlag für eine Definition des Begriffs „Sozialversicherung“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG Aufgrund der Gesetzgebungskompetenz für die Sozialversicherung aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG hat der Bund das konkurrierende Gesetzgebungsrecht für die Gestaltung und Finanzierung von staatlichen Sicherungssystemen, die – in Abgrenzung zu den ausschließlichen Länderzuständigkeiten sachlich-inhaltlich auf die Kompensation von Personenschäden und Ausfällen des Erwerbseinkommens beschränkt sind und personell alle Bevölkerungsgruppen mit Ausnahme der öffentlich-rechtlichen Bediensteten der Länder und Kommunen und der Landtagsabgeordneten einschließen dürfen; – in Unterscheidung zum privatrechtlichen Versicherungswesen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) entweder auf einem staatlichen Versicherungsmonopol beruhen oder als freiwillige soziale Absicherung für Personen konzipiert sind, die von den Mechanismen des privaten Versicherungsmarktes überfordert werden; – in Gegenüberstellung zur öffentlichen Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) ausschließlich von Trägern der mittelbaren Staatsverwaltung betrieben und zumindest teilweise (wenn auch nicht notwendigerweise überwiegend) durch eine nichtsteuerliche Abgabe finanziert werden, – welche sich von der in den Art. 105 ff. GG geregelten Steuer dadurch unterscheidet, dass ihr Aufkommen in der mittelbaren Staatsverwaltung verwaltet wird und nur für die Finanzierung von sozialen Aufgaben verwendet werden darf, die sachlich-inhaltlich und personell von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG erfasst werden.
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Sachwortverzeichnis Äquivalenzprinzip – und Finanzverfassung 150 f., 156 ff. – und Gleichheitssatz 172 ff. – im Privatversicherungsrecht 187 f. – und sozialer Ausgleich 186 ff. Alimentationsprinzip 68 ff. allgemeiner Gleichheitssatz – Bedeutung für das Abgabenrecht 171 ff. – zulässige Differenzierungsgründe 174 ff. Analogieschluss und Kompetenzauslegung 74 f. Anwartschaftsdeckungsverfahren 18, 125 f., 136, 191 Arbeitgeberbeitrag 25, 28, 29 f., 37 f., 72, 95 – Deutung als Arbeitslohn 178 f. – und Finanzverfassung 146, 159 f. – grundrechtliche Rechtfertigung 176 ff., 196 – für versicherungsfreie Beschäftigte 182 f. Arbeitgeberzuschüsse zur Privatversicherung 38, 179 Arbeitnehmerversicherung 27, 29, 34, 56 ff. Arbeitslosenhilfe 115 f. Arbeitsrecht, Verhältnis zum Sozialrecht 180 Arbeitsvermittlung 72, 78, 94 Arzneimittelverkehr 106 Basistarif s. Privatversicherung Beitragsbemessungsgrenze 159, 185, 187, 193 Beleihung Privater mit Sozialversicherungsaufgaben 120 ff., 137 f. Berufsberatung 72, 78, 94 Berufsfreiheit 194 f., 196
Berufskrankheit 177 Betriebsunfall 177 Beurteilungsspielraum des Bundesgesetzgebers für die Leistungen der Sozialversicherung 45 ff., 56, 73, 75, 76, 78, 88, 157 f. bipolare Versicherungsordnung 21, 92 f., 95, 96, 120 Bürgerversicherung s. Volksversicherung Bundeskompetenz kraft Sachzusammenhangs 40 Bundeszuschüsse s. Steuerzuschüsse Delegation von Kompetenzen 63 Eigentumsgrundrecht 195 f., 205 ff., 210 Einheit der Verfassung 168 Einrichtungsgarantie – des Berufsbeamtentums 65, 98 ff. – der Privatversicherung 92, 99 – der Sozialversicherung 101, 199 ff. Einschätzungsprärogative s. Beurteilungsspielraum Elterngeld 52, 105 Enteignung 195 Entgeltersatzleistungen 68, 71, 76 ff., 81, 106 Erforderlichkeitsklausel 31 f., 59, 102 f., 108, 110 ff., 130, 135 Erfüllungsverantwortung des Sozialstaates 202 Ersatzkassen 122 Erwerbsrisiken 81, 110, 119, 135, 158 Europäische Sozialcharta 212 f. Europäisches Kartellrecht 47 f., 127 ff. Existenzminimum 201, 204 f. Familienleistungen 82 f., 94, 163, 183 f. Finanzierungszuständigkeit – für die öffentliche Fürsorge 112 f.
246
Sachwortverzeichnis
– für die Sozialversicherung 112 ff., 143, 153, 210 f. Föderalismusreform 32, 49, 52, 59, 102 f., 111, 113, 129 freiwillige Sozialversicherung – Abgrenzung von der Privatversicherung 129 ff. – von Landes- und Kommunalbediensteten 64 f., 155 Fremdlasten s. versicherungsfremde Leistungen Fürsorge 26, 49 f., 90 f. – Abgrenzung von der Sozialversicherung 104 ff. – Abgrenzung von der Versorgung 51 ff. – Arbeitslosenfürsorge 106, 116 – Gesundheitsfürsorge 106 Fürsorgepflicht des Arbeitgebers 178 f. Fürsorgeprinzip im Beamtenrecht 68 f. Garantiefunktion von Kompetenzen 20, 95, 99 Garantiehaftung des Bundes für die Sozialversicherung 211 Gattungsbegriff 23, 125, 166 Gebäudeversicherungsmonopole 47, 84 Gebühren 143, 147 f., 176 f. Gefahrengemeinschaft 136, 190 Gefahrenklassen in der Unfallversicherung 131, 177 Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989 212 Gesetzgebungsauftrag – für das Beamtenrecht 98 – Kompetenzvorschriften als Gesetzgebungsaufträge 95, 97 ff. – für die Sozialversicherung 101, 199 ff. Gesundheitsfonds 153 f., 164 Gewährleistungsverantwortung des Sozialstaates 202 GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz 64, 125, 131 f., 134 f., 164 Grundrechte-Charta der Europäischen Union 212 f. Grundrechtsbeschränkende Funktion von Kompetenzen s. Legitimationsfunktion
Grundrechtsfähigkeit der Sozialversicherungsträger 209 f. Grundrechtsfunktionen 203 ff. Grundrechtsschützende Funktion von Kompetenzen 96 ff., 108, 109, 120, 135, 152, 159 f. Grundsicherung – für Arbeitsuchende (SGB II) 115, 116 – Modell einer steuerfinanzierten Grundversorgung der Erwerbsbevölkerung 18, 50 f., 95 f., 108, 117 Gruppenhomogenität und Abgabenrechtfertigung 146 f., 150 f., 156 f. Haushaltshilfe 78 Haushaltsverfassung 149, 151, 152 ff. Heilbehandlung 71, 77, 78, 79 f., 85, 106 Heimrecht 107 Hinterbliebenenleistungen 71, 77, 82, 119, 163, 183, 206 Industrialisierung 179 f. Inhalts- und Schrankenbestimmung 195 Insolvenzfähigkeit von Krankenkassen 129 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 212, 214 ff. Jedermann-Risiken 84 f. Jugendhilfe 106 Kapitaldeckungsverfahren s. Anwartschaftsdeckungsverfahren Kindererziehungsleistungen in der Sozialversicherung 82 f., 106, 183, 191 Kindergeld 52, 72, 83, 105 Kollision zwischen Kompetenz und Grundrechten 169 ff. Kontrahierungszwang s. Privatversicherung Kopfpauschale s. Pauschalbeitrag Kostenerstattung in der gesetzlichen Krankenversicherung s. Wahltarife Kraftfahrzeughilfe 78 Krankengeld 77 f., 83, 163 Krankenhausfinanzierung 106
Sachwortverzeichnis Krankheitsbeihilfen im Beamtenrecht 59, 68, 69, 135 Kündigung als Schadensfall der Arbeitslosenversicherung 178 Künstlersozialversicherung 46 – Künstlersozialabgabe 30, 146, 160, 185 f. Länderkompetenz – für berufsständische Versorgungswerke 48 f., 57, 58 f. – für öffentliche Versicherungsmonopole 47 ff., 54, 84, 123, 166 – für die soziale Sicherung der Landesund Kommunalbediensteten 59 ff., 155 Lastengleichheit im Abgabenrecht 149, 151 f., 171 ff. Legitimationsfunktion von Kompetenzen 96, 161 ff. Leistungsfähigkeitsprinzip 159, 172 ff., 185 ff., 189, 192 f. Leistungsniveau der Sozialversicherung – in Abgrenzung zur öffentlichen Fürsorge 107 ff. – in Abgrenzung zur Privatversicherung 119 f. – Lohnabstandsgebot 100 Lenkungsabgaben 175, 181 Lohnzuschüsse 78 Maschinenbeitrag s. Wertschöpfungsabgabe Nachversicherung von Landtagsabgeordneten 62, 64 Organisationsstruktur der Sozialversicherung – Abgrenzung zu Länderkompetenzen 43 ff. – Abgrenzung zur Fürsorge 114 f. – Abgrenzung zur Privatversicherung 120 ff. – körperschaftliche Verfassung 114 f., 120 ff., 153 f., 208 ff. Pauschalbeitrag 18, 132 Personenschäden 76 ff.
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Prämienzahlungen in der gesetzlichen Krankenversicherung s. Wahltarife Prävention 78, 105 private Leistungserbringer 78 f. Privatisierung 18, 202, 205 Privatversicherung 25 f., 92 ff., 187 f., 202 – Abgrenzung von der Sozialversicherung 117 ff. – Basistarif 134 f., 202 – Kontrahierungszwang 134 f. – Mindestversicherung 136 – Prämienkalkulation 136 f., 187 f. Rahmenkompetenz 102 f., 107 Rehabilitation 78, 105, 206 Reisekostenerstattung 78 Risikoausgleiche zwischen Sozialversicherungsträgern 163 f. – Einbeziehung der Privatversicherung in den Risikostrukturausgleich 137 f. Risikoprüfung 133, 137 f. Risikozuschlag 131, 132, 163, 182 Sachleistungen 28, 78 Sachschaden 84, 118 f., 155 Selbstbehalte s. Wahltarife Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger 121 f., 208 ff. Solidarität 184 ff. Solidarprinzip 19, 26, 96, 162, 164, 166, 172, 184 f., 187 Sonderabgaben 143, 147, 148, 150, 151 f. soziale Grundrechte 203 f. sozialer Ausgleich 26, 28, 43, 147, 151 f. – als Leistung der Sozialversicherung 189 ff. – in der Privatversicherung 136 f. – Rechtfertigung 96, 162 ff., 186 ff. – Typologie 163 f. – als zwingendes Merkmal der Sozialversicherung 26, 125 ff., 130 ff. soziales Rückschrittsverbot 200 f. Sozialstaatsprinzip 200 ff. Sozialversicherungsbeitrag – Abgrenzung von der Steuer 142 ff. – einkommensbezogene Bemessung 26, 48, 117 f., 127, 131 f., 188, 192 f.
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Sachwortverzeichnis
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Ertragskompetenz 152 ff. Finanzierungszweck 154 ff. Gesetzgebungskompetenz 142 f., 174 kassenindividueller Zusatzbeitrag 132, 164 – Lenkungszweck 175 f., 181 ff. Staatsaufgaben 46 – Kompetenzvorschriften als Begrenzungen von Staatsaufgaben 95 f., 100 f., 108, 117 – obligatorische Staatsaufgaben 20, 199, 209 Steuer 142 ff., 172 ff., 185, 192 f. – Begriff 144 – Ertragskompetenz 144, 149, 152 f. – Gesetzgebungskompetenz 144 – Zwecksteuer 158 f. Steuerstaats-Doktrin 148 ff., 151 Steuerzuschüsse – zur Privatversicherung 202 – zur Sozialversicherung 27, 112 ff., 210 f. Subsidiaritätsprinzip 100 f. Systemgerechtigkeit 94, 166 Typus 23 ff. – und Analogieschluss 75 f. – und historische Auslegung 36 ff. – typische Merkmale der Sozialversicherung 27 f. – Unterscheidung vom Klassenbegriff 24 f. Umlagefinanzierung 18, 26, 117 f., 125 f., 127, 163, 190 f. unechte Sozialversicherung s. versicherungsfremde Leistungen Untermaßverbot 201 Vereinigungsfreiheit 194, 207 f., 209 f. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 126, 127, 179, 180, 193 ff. Vermögensschaden 81 f., 105 f., 118 f., 155 versicherungsfähige Risiken 109 f. versicherungsfremde Leistungen 93 f., 100, 109, 110, 116 f., 167 Versicherungspflicht
– für Beamten 64, 65 ff. – in der Privatversicherung 133 ff. – in der Sozialversicherung 27, 117 f., 123 ff., 170, 193 f. – Versicherungspflichtgrenze 185, 193 Versicherungsprinzip 19, 25 f., 93 f., 99 f., 162, 167, 187 f. Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit 136 Versorgung – Begriff 49 – der Beamten 59 ff. – der freien Berufe 48, 58 f. – der Landes- und Kommunalbediensteten 49, 59 ff. – Länderkompetenz für die Versorgung 49 ff., 95 f., 108 Vertragsarztrecht 79 Vertrauensschutzprinzip 196, 206 Verursacherabgaben 177 Völkerrecht – allgemeine Regeln des Völkerrechts 215 – soziale Rechte im Völkerrecht 211 ff. – menschenrechtskonforme Auslegung des Grundgesetzes 215 ff. Volksversicherung 17, 146, 159 Vorsorgefreiheit der Beamten 69 f. Vorzugslasten 143, 147 f., 150, 155 Wahlrecht – zwischen gesetzlichen Krankenkassen 129 – zwischen Sozial- und Privatversicherung 18, 133 f. Wahltarife in der gesetzlichen Krankenversicherung 125, 131 f. Wertschöpfungsabgabe 181 Wöchnerinnenleistungen 71, 77, 82 Zulassung zu Heilberufen 79, 106, 165 Zuständigkeitsvermutung – zugunsten des Bundes 33 ff. – zugunsten der Länder 31 ff. Zustandsverantwortlichkeit 177