Sozialreform in transnationaler Perspektive: Die Bedeutung grenzüberschreitender Austausch- und Vernetzungsprozesse für die Armenfürsorge in Deutschland (1880–1914) 9783515113045

Das komplexe und zunehmend ausdifferenzierte System öffentlicher und privater Armenfürsorge befand sich zu Beginn des 20

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German Pages 386 [394] Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung: Grenzüberschreitende Austausch- und Vernetzungsprozesse in der Armenfürsorge
1. Forschungsstand
1.1. Literatur zur Armenfürsorge in Deutschland
1.2. Armenfürsorge in internationaler Perspektive
2. Fragestellung und Schwerpunkte der Untersuchung
2.1. Zeitliche und geographische Einordnung
2.2. Quellenmaterial
3. Begriffsbestimmungen und kontextuelle Erläuterungen
3.1. Armenfürsorge
3.2. ‚Fürsorgesysteme‘ und ‚Fürsorgekulturen‘
3.3. Fürsorgeexperten und Sozialreform-Bewegungen
3.4. Armut
3.5. Internationale Vernetzung und transnationale Verflechtung
4. Methodische Herangehensweise und Aufbau der Untersuchung
4.1. Netzwerke
4.2. Fachgebiete
4.3. Leitkonzepte
4.4. Grundwissensbestände
I. Netzwerke: Formen grenzüberschreitender Beziehungen und das internationale Kongresswesen
1. Nationale und institutionelle Ausgangspunkte
2. ‚Zugänglichmachen von Material‘
3. Wissensvernetzung und internationale Debattenkultur
4. Persönliche Kontakte und Studienreisen
5. Internationales Kongresswesen und Kongresskomitee
5.1. Internationale Kongresse, Sozialreform und Armenfürsorge
5.2. Die Anfänge: Internationale Fürsorgekongresse vor 1900
Frühe Netzwerke der bürgerlichen Sozialreform
Der Wohltätigkeitskongress in Mailand 1880
Der Internationale Kongress für Armenpflege 1889 in Paris und der ‚französische Internationalismus‘
Die Gründung der Société international 1890 und der Internationale Kongress für Armenpflege 1896 in Genf
Der Wohltätigkeitskongress 1893 in Chicago
5.3. Durchbruch und Höhepunkt der internationalen Vernetzung: Die Fürsorgekongresse nach 1900 und das Comité international des Congrès d’assistance publique et privée
Der Internationale Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit 1900 in Paris
Die Gründung und die ersten Jahre des Comité international
Der Internationale Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit 1906 in Mailand
Das Comité international 1906–1910: Internationalität als Normalität
Der Internationale Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit 1910 in Kopenhagen
5.4. Allmählicher Bedeutungsverslust: Das Comité international in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg
5.5. Ausblick: Der Erste Weltkrieg und das Ende der internationalen Vernetzungen
6. Zwischenergebnis: Phasen grenzüberschreitender Vernetzung
Phase 1: 1880 bis 1900
Phase 2: 1900 bis ca. 1910
Phase 3: Transformation um 1910
II. Fachgebiete: ‚Ausländerfürsorge‘ und ‚Fürsorge durch Arbeit‘
1. Die Unterstützung hilfsbedürftiger Ausländer
1.1. Hintergründe und Rechtslage
1.2. Streitpunkte
1.3. Debattenverlauf 1880–1910
1.3.1. Die Anfänge der Auseinandersetzung und die internationalen Kongresse von 1896 und 1900
1.3.2 Die Jahre von 1906 bis 1910: Gemeinsame Resolutionen und Rückwirkungen auf die Politik
1.4. Die diplomatische Konferenz 1912 in Paris
1.5. Alternative Wege der internationalen Kooperation
1.5.1. Der Caritasverband und die ‚Italienerpastoration‘
1.5.2. Internationale Kooperation im Archiv der Berufsvormünder
1.6. Fazit: Formen und Grenzen internationaler Kooperationen
2. Fürsorge durch Arbeit: Die Unterstützung arbeitsfähiger Armer
2.1. Grundaspekte
2.2. Debatten über eine ‚universelle‘ Problemlage
2.3. Internationale ‚Allianz gegen Arbeitsscheue‘
2.4. Fazit
III. Leitkonzepte: Grenzüberschreitende Idee(n) der Armenfürsorge
1. Geschichte und ‚Modernität‘ der Armenfürsorge
2. ‚Arbeit statt Almosen‘
3. Wissenschaftlichkeit
4. ‚Armenfreund‘ und Individualisierung
5. Prüfung der Armutsfälle
6. Professionalisierung
7. Zentralisierung, Auskunft, Aufsicht
7.1. Hintergründe und die Situation in deutschen Städten
7.2. Internationale Debatten, Rück- und Wechselwirkungen
7.3. Kommunale Umsetzungsversuche und internationale Vorbilder
8. Neue Herausforderungen: Die Leitkonzepte der Wohlfahrtspflege
8.1. Kollektive Vorsorge statt individuelle Fürsorge
8.2. Erziehung statt Strafe
8.3. ‚Volksgemeinschaft‘ statt bürgerliche Ordnung
IV. Grundwissensbestände: Armuts- und Fürsorgediskurse
1. Armutsdefinitionen und Armutsverständnisse
2. Wissensproduktion über Arme
3. Eigensicht und Sinndeutung der Sozialreformer
4. Der Wandel der Fürsorgediskurse vor 1914
Schlussbetrachtung
Abkürzungen
Quellen- und Literaturverzeichnis
Ungedruckte Quellen
Bundesarchiv Berlin
Staatsarchiv Hamburg
Staatsarchiv Ludwigsburg
Historische Sondersammlung Hochschule Frankfurt
Zeitgenössische Zeitschriften
Protokolle und Verhandlungsberichte
Internationale Konferenzen (chronologisch)
Nationale Konferenzen
Gedruckte Quellen
Forschungsliteratur
Register
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Sozialreform in transnationaler Perspektive: Die Bedeutung grenzüberschreitender Austausch- und Vernetzungsprozesse für die Armenfürsorge in Deutschland (1880–1914)
 9783515113045

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Christopher Landes

Sozialreform in transnationaler Perspektive Die Bedeutung grenzüberschreitender Austausch- und Vernetzungsprozesse für die Armenfürsorge in Deutschland (1880–1914)

Geschichte Franz Steiner Verlag

VSWG – Beiheft 236

Christopher Landes Sozialreform in transnationaler Perspektive

vierteljahrschrift für sozialund wirtschaftsgeschichte – beihefte Herausgegeben von Günther Schulz, Jörg Baten, Markus A. Denzel und Gerhard Fouquet

band 236

Christopher Landes

Sozialreform in transnationaler Perspektive Die Bedeutung grenzüberschreitender Austauschund Vernetzungsprozesse für die Armenfürsorge in Deutschland (1880–1914)

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Umschlagabbildung: Europakarte aus dem späten 19. Jahrhundert mit symbolisch eingezeichneten Vernetzungslinien © shutterstock_Nicku 93758500 (bearbeitet) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11304-5 (Print) ISBN 978-3-515-11305-2 (E-Book)

INHALT VORWORT ............................................................................................................. 9 EINLEITUNG: GRENZÜBERSCHREITENDE AUSTAUSCH- UND VERNETZUNGSPROZESSE IN DER ARMENFÜRSORGE ............................ 11 1. 1.1. 1.2. 2. 2.1. 2.2. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5. 4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4.

Forschungsstand ........................................................................................... 15 Literatur zur Armenfürsorge in Deutschland ............................................... 15 Armenfürsorge in internationaler Perspektive ............................................. 19 Fragestellung und Schwerpunkte der Untersuchung .................................... 22 Zeitliche und geographische Einordnung ..................................................... 24 Quellenmaterial ............................................................................................ 25 Begriffsbestimmungen und kontextuelle Erläuterungen .............................. 26 Armenfürsorge.............................................................................................. 26 ‚Fürsorgesysteme‘ und ‚Fürsorgekulturen‘ .................................................. 29 Fürsorgeexperten und Sozialreform-Bewegungen ....................................... 33 Armut............................................................................................................ 37 Internationale Vernetzung und transnationale Verflechtung ........................ 38 Methodische Herangehensweise und Aufbau der Untersuchung ................. 40 Netzwerke ..................................................................................................... 41 Fachgebiete ................................................................................................... 42 Leitkonzepte ................................................................................................. 43 Grundwissensbestände ................................................................................. 44

I.

NETZWERKE: FORMEN GRENZÜBERSCHREITENDER BEZIEHUNGEN UND DAS INTERNATIONALE KONGRESSWESEN ................................................................................... 47

1. 2. 3. 4. 5. 5.1. 5.2. 5.3.

Nationale und institutionelle Ausgangspunkte ............................................. 47 ‚Zugänglichmachen von Material‘ ............................................................... 54 Wissensvernetzung und internationale Debattenkultur ................................ 59 Persönliche Kontakte und Studienreisen ...................................................... 65 Internationales Kongresswesen und Kongresskomitee ................................ 80 Internationale Kongresse, Sozialreform und Armenfürsorge ....................... 80 Die Anfänge: Internationale Fürsorgekongresse vor 1900 ........................... 82 Durchbruch und Höhepunkt der internationalen Vernetzung: Die Fürsorgekongresse nach 1900 und das Comité international des Congrès d’assistance publique et privée ................................................................... 103 5.4. Allmählicher Bedeutungsverslust: Das Comité international in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ............................................................... 146 6. Zwischenergebnis: Phasen grenzüberschreitender Vernetzung ................. 159

6

Inhalt

II.

FACHGEBIETE: ‚AUSLÄNDERFÜRSORGE‘ UND ‚FÜRSORGE DURCH ARBEIT‘ ..................................................................................... 163

1. 1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.5. 1.6. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4.

Die Unterstützung hilfsbedürftiger Ausländer ........................................... 163 Hintergründe und Rechtslage ..................................................................... 164 Streitpunkte ................................................................................................ 167 Debattenverlauf 1880–1910 ....................................................................... 170 Die diplomatische Konferenz 1912 in Paris ............................................... 183 Alternative Wege der internationalen Kooperation .................................... 188 Fazit: Formen und Grenzen internationaler Kooperationen ....................... 195 Fürsorge durch Arbeit: Die Unterstützung arbeitsfähiger Armer .............. 198 Grundaspekte .............................................................................................. 198 Debatten über eine ‚universelle‘ Problemlage ........................................... 202 Internationale ‚Allianz gegen Arbeitsscheue‘ ............................................ 210 Fazit ............................................................................................................ 221

III.

LEITKONZEPTE: GRENZÜBERSCHREITENDE IDEE(N) DER ARMENFÜRSORGE ................................................................................. 224

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 7.1. 7.2. 7.3. 8. 8.1. 8.2. 8.3.

Geschichte und ‚Modernität‘ der Armenfürsorge ...................................... 224 ‚Arbeit statt Almosen‘ ................................................................................ 228 Wissenschaftlichkeit ................................................................................... 231 ‚Armenfreund‘ und Individualisierung ...................................................... 239 Prüfung der Armutsfälle ............................................................................. 247 Professionalisierung ................................................................................... 251 Zentralisierung, Auskunft, Aufsicht ........................................................... 263 Hintergründe und die Situation in deutschen Städten ................................ 263 Internationale Debatten, Rück- und Wechselwirkungen ............................ 265 Kommunale Umsetzungsversuche und internationale Vorbilder ............... 272 Neue Herausforderungen: Die Leitkonzepte der Wohlfahrtspflege ........... 279 Kollektive Vorsorge statt individuelle Fürsorge ........................................ 283 Erziehung statt Strafe ................................................................................. 291 ‚Volksgemeinschaft‘ statt bürgerliche Ordnung ........................................ 306

IV.

GRUNDWISSENSBESTÄNDE: ARMUTS- UND FÜRSORGEDISKURSE ............................................................................ 311

1. 2. 3. 4.

Armutsdefinitionen und Armutsverständnisse ........................................... 311 Wissensproduktion über Arme ................................................................... 317 Eigensicht und Sinndeutung der Sozialreformer ........................................ 326 Der Wandel der Fürsorgediskurse vor 1914 ............................................... 332

SCHLUSSBETRACHTUNG .............................................................................. 339 ABKÜRZUNGEN ............................................................................................... 353

Inhalt

7

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS............................................... 354 Ungedruckte Quellen ........................................................................................... 354 Gedruckte Quellen ............................................................................................... 357 Forschungsliteratur .............................................................................................. 365 REGISTER .......................................................................................................... 382

VORWORT Diese Publikation basiert auf einer Doktorarbeit, die zwischen 2010 und 2015 an der Universität Tübingen entstand und für den Druck geringfügig überarbeitet wurde. Die Realisierung dieses Projektes wäre nicht ohne die Unterstützung einiger Personen und Institutionen möglich gewesen, denen ich an dieser Stelle meinen Dank aussprechen möchte. In erster Linie gilt mein Dank meinem Doktorvater Prof. Dr. Ewald Frie. Er hat mein Vorhaben wohlwollend aufgenommen, durch wertvolle Kommentare bereichert und während allen Phasen der Ausarbeitung kritisch begleitet. Auch danke ich Herrn Prof. Dr. Georg Schild für die Übernahme des Zweitgutachtens. Hilfreiche Hinweise und konstruktive Anregungen erhielt ich außerdem von Herrn Prof. Dr. Marcus Gräser. Sehr verbunden bin ich darüber hinaus Herrn Prof. Dr. Günther Schulz für die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe der VSWGBeihefte und der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften, die mit ihrem großzügigen Druckkostenzuschuss die Publikation dieser Arbeit erst ermöglichte. Dem hilfsbereiten Personal in den wissenschaftlichen Bibliotheken und Archiven – besonders hervorzuheben wäre die Caritas-Bibliothek in Freiburg und die Historische Sondersammlung Soziale Arbeit und Pflege in Frankfurt – fühle ich mich ebenfalls verpflichtet, da es mich bei der Quellensuche unterstützte und meine Anfragen so freundlich entgegennahm. Weiterhin trugen in den unterschiedlichen Phasen der Recherche, Ausarbeitung und Überarbeitung viele Personen aus meinem Familien- und Freundeskreis zum Gelingen dieser Arbeit bei. Die sachkundigen Anregungen und Korrekturhinweise von Thorsten Schimming haben die Arbeit entscheidend verbessert. Ein besonderer Dank gilt meiner Mutter, Ingrid Landes. Sie hat mich bei der sprachlichen Verbesserung des Manuskripts und ebenso wie mein Vater, Claus Landes, in jeder nur denkbaren Hinsicht liebevoll unterstützt. Mein Vater half mir außerdem bei der Gestaltung des Covers. Mein Bruder, Dr. Benjamin Landes-Dallat, war mir bei der Vorbereitung für die Verteidigung eine außerordentlich große Hilfe. Wesentliche Unterstützung in Form von Korrekturhinweisen, fruchtbaren Gesprächen und einer Vielzahl von (überfachlichen) Anregungen erhielt ich darüber hinaus von Sabina Ceffa, Lucas Ogden, Florian Wagner, Julia Luibrand sowie Gino Schreiber. Zuletzt möchte ich der „Abteilung für Deutsch als Fremdsprache und Interkulturelle Programme“ der Universität Tübingen und dem „International Office“ der Hochschule Reutlingen für das Ermöglichen einer berufsbegleitende Promotion danken. Sie und die vielen begeisterten internationalen Studierende, die ich während der letzten Jahre dort kennenlernte und die mir eine besonders schöne und abwechslungsreiche Arbeit boten, sind maßgeblich an dem Erfolg dieser Doktorarbeit beteiligt.

EINLEITUNG: GRENZÜBERSCHREITENDE AUSTAUSCH- UND VERNETZUNGSPROZESSE IN DER ARMENFÜRSORGE Der ehemalige französische Staatspräsident Jean Casimir-Périer sparte nicht an herzlichen Worten, als er die Teilnehmer des Internationalen Kongresses für Armenpflege und Wohltätigkeit begrüßte. Im Anschluss an die mehrtätige Veranstaltung, welche anlässlich der Weltausstellung in Paris stattfand, trafen sich die Gäste am Abend des 4. August 1900 auf dem Abschlussbankett im aufwendig dekorierten Festsaal der Orangerie des Tuileries, um den Kongress feierlich zu beenden. Das von Potel et Chabot servierte Festmahl, das musikalische Rahmenprogramm und die zahlreichen Ehrengäste ließen kaum darauf schließen, dass der Anlass eigentlich ein Fachkongress zu Fragen rund um das Thema der Armut und Armutsbekämpfung war. Unter den 400 Gästen der Abendveranstaltung befanden sich angesehene Fürsorgeexperten, Sozialpolitiker und Regierungsvertreter aus 29 Nationen. Das Deutsche Reich wurde indirekt durch den Berliner Stadtrat Emil Münsterberg repräsentiert. Dieser hatte sich als Experte für das Armenwesen einen Namen gemacht und genoss bei seinen internationalen Kollegen hohes Ansehen. Er stimmte dem engagierten Schirmherrn des Kongresses Casimir-Périer ausdrücklich zu, als dieser die Resultate würdigte, welche in den Debatten, Vorträgen und Sektionssitzungen des Fürsorgekongresses erzielt worden waren. Euphorisch und von Beifall mehrfach unterbrochen lobte der Franzose vor allen Dingen den freundschaftlichen Grundton, wie er unter den angereisten Fürsorgeexperten vorherrschte: Les rivalités, les jalousies internationales, vous ne les connaissez pas; si l’un de vous était en possession d’un secret pour guérir les infirmités physiques ou morales, avec quelle joie triomphante il le crierait à la face de l’universe!1

Es gehe, fuhr er daraufhin fort, um die Schaffung gemeinsamer Werte und den Austausch von Beobachtungen und Erkenntnissen, so dass diese ein grenzüberschreitendes „Patrimonium“ aller sozialreformerischen Unternehmungen werden könnten.2 Die Aussagen spiegeln in besonderem Maße die Ideenwelt der Sozialreformer wider. Sie veranschaulichen das Selbstverständnis der Fürsorgeexperten, welche sich gegenseitig in der Ansicht bestärkten, zur Lösung der Armutsfrage gewissermaßen berufen worden zu sein. Unverkennbar zeigte sich darüber hinaus der gemeinschaftsbildende Effekt solcher Veranstaltungen:

1 2

„Banquet du Congrès“, in: Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 2, S. 355. Ebd.

12

Einleitung Für all diese Bestrebungen zur Minderung von Not und Krankheit ist ein gemeinsamer Mittelpunkt nötig, wo alle, die dafür tätig sind, sich treffen, sich kennen lernen und ihre Meinungen und Erfahrungen mit einander austauschen können. 3

Mit diesen Worten setzte sich der französische Fürsorgeexperte Louis Rivière in der deutschen Zeitschrift für das Armenwesen für den „Fortbestand der Kongresse für Armenpflege und Wohltätigkeit“ ein. Auch für den Kongressteilnehmer Münsterberg, der insbesondere den freundlichen Empfang der deutschen Vertreter in Paris betonte, lag der „Hauptwerth derartiger Vereinigungen“ entsprechend „in der persönlichen Annäherung der nationalen und internationalen Vertreter der Fachwissenschaft“4: So habe die Internationalität der Kongresse zweifellos den Erfolg gehabt, mehr als es die Friedenskonferenz vermochte, Vertreter der verschiedensten Nationen zusammenzuführen und sie auf einem eminent friedlichen Gebiet zu der Erkenntniss zu bringen, dass die Wünsche und Hoffnungen auf diesem Gebiet in allen Ländern Hand in Hand gehen. 5

Bei den überschwänglichen Friedens- und Freundschaftsbekundungen handelte es sich keineswegs nur um Floskeln, die im Rahmen derartiger Veranstaltungen üblicherweise zu Protokoll gegeben wurden. Diese Art der Umgangsformen und das Fehlen offen konkurrierender Verhaltensweisen auf allen internationalen Fürsorgekongressen legen vielmehr die Vermutung nahe, dass es sich um wahre Kooperationsabsichten und ein ernst gemeintes Interesse an einem gemeinsamen Handeln gegen die sozialen Notlagen der Zeit handelte. Aus diesem Grund hob Münsterberg auch mit Nachdruck die positive Wirkung der internationalen Debatten und der Fachpublikationen hervor, die im Anschluss an die internationalen Kongresse Verbreitung fanden. Sie würden sich „durchweg in der Richtung neurer Anschauungen“ bewegen und hätten das Potential, „Fachpublikum und die Öffentlichkeit über Fortschritt und Wünsche“ zu beeinflussen.6 Alle Berichterstatter stimmten in der Ansicht überein, dass die Veranstaltung in Paris den Beginn einer neuen grenzüberschreitenden Verbundenheit markierte und sämtliche Darstellungen brachten die Vorstellung zum Ausdruck, eine außerordentliche Leistung im Kampf gegen die Armut vollbracht und die Fortentwicklung der Armenfürsorge durch den internationalen Austausch bereichert zu haben. Hierzu ergänzte der russische Abgesandte Yakowlew in seinem Toast, den er im Namen aller Gäste und hinsichtlich der sich anbahnenden internationalen Kooperation aussprach: „Nous donnons ici la preuve de la vraie internationalité.“7 Dieser ‚Internationalität‘ und ‚Transnationalität‘, von der viele Bereiche in Wirtschaft, Politik und Kultur betroffen waren, wird in der Geschichtswissen3 4 5 6 7

L. Rivière über den „Fortbestand der Kongresse für Armenpflege und Wohltätigkeit“, ZdA 4 (1903), 2, S. 41. E. Münsterberg, Der Internationale Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit in Paris, ZdA 1 (1900), 9, S. 33. Ders., Bericht über den internationalen Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit in Paris 1900, ZdA 2 (1901), 5, S. 19. Ebd. „Banquet du Congrès“, in: Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 2, S. 361.

Grenzüberschreitende Austausch- und Vernetzungsprozesse in der Armenfürsorge

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schaft jüngst viel Aufmerksamkeit geschenkt.8 Dabei misst man internationalen Vernetzungsformen und Ideentransfers generell mehr Bedeutung zu, als dies in der rein national ausgerichteten Geschichtsschreibung der Fall war. Den Forschungsansätzen geht es weniger um eine komplette Neubewertung historischer Entwicklungszusammenhänge, als vielmehr um die Fokussierung bislang wenig beachteter Prozesse grenzüberschreitender Art. Dieses Interesse gründet vor allem in der Beobachtung, dass das Europa des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts nicht nur von Nationalismus, sondern auch von einer fortschreitenden Erweiterung der Wahrnehmungsräume, grenzübergreifenden Wissensverflechtungen und einer noch nie dagewesenen Mobilität und Reisefreudigkeit gekennzeichnet war. Die Ausweitung von Absatzmärkten und die Zunahme von Migrationsbewegungen verweisen auf neuartige Formen internationaler Beziehungen, welche freilich nur vor dem Hintergrund der technischen Innovationen – man denke allein an die Neuerungen in Verkehr und Kommunikation – sowie einer vergleichsweise stabilen politischen Gesamtlage möglich waren. Während sich die ärmeren und ungebildeten Gesellschaftsschichten auf den sozioökonomische Strukturwandel nur langsam einstellen konnten und die negativen Begleiterscheinungen dieser Transformation unterschiedliche Überlegungen zum Umgang mit der Sozialen Frage hervorriefen, waren in anderen gesellschaftlichen Bereichen ungeahnte Dynamiken zutage getreten. ‚Fortschritt‘ und ‚Modernität‘ bildeten die Leitbegriffe einer selbst- und machtbewussten Bildungs- und Verwaltungselite, deren soziokultureller Führungsanspruch vom Aufstieg der (Sozial-) Wissenschaften begleitet und legitimiert wurde. Die Armenfürsorge war von diesen gegensätzlichen Entwicklungen in besonderem Maße betroffen: Bedürftigkeit, Krankheit und Arbeitslosigkeit waren die größten Probleme derjenigen Menschen, welche am unteren Rand der Gesellschaft lebten. Wirtschaftliche Sicherheit und gesellschaftliche Teilhabe waren für sie schwer erreichbar. Betroffene konnten in ihrer Notsituation, unter gewissen Umständen, die Unterstützung der Armenfürsorge in Anspruch nehmen. Das Hilfsangebot variierte je nach Zeitpunkt und Ort erheblich. Das Armenwesen umfasste in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg generell eine staatlich, kirchlich und privat organisierte Unterstützungsstruktur und griff auf unterschiedliche Fürsorgetraditionen zurück. Kennzeichnend war ferner das außerordentliche Engagement unterschiedlicher sozialreformerischer Gruppierungen. Sie hatten sich bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts herausgebildet und zum Ziel gesetzt, die soziale Lage der Arbeiterschaft zu verbessern. Ein wichtiger Ansatz der Sozialreformer, die sich speziell mit der Situation der Mittellosen und Bedürftigen beschäftigten, bestand darin, die Organisation, Methodik und die Praktiken der Armenfürsorge 8

Zur transnationalen Geschichtsschreibung vgl. G.-F. Budde/S. Conrad/O. Janz (Hrsg.), Transnationale Geschichte; S. Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich; M. Pernau, Transnationale Geschichte; E. Rosenberg, A World Connecting, sowie die Beiträge und Diskussionen im Fachforum zur Geschichte des kulturellen Transfers und der transnationalen Verflechtungen in Europa und der Welt, vgl. http://geschichte-transnational.clioonline.net.

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Einleitung

fortzuentwickeln. Eine Fülle an unterschiedlichsten Reformvorhaben und kontroversen Debatten waren Teil dieses Prozesses. Die Gründung neuer Vereine und verbandsähnlicher Strukturen ermöglichten dieser sich herausbildenden Fürsorgeexpertise den fachlichen Austausch. Der im Anschluss an den ersten Deutschen Armenpflegerkongress 1880 gegründete Deutsche Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit ist ein repräsentatives Beispiel für die koordinierte Zusammenführung unterschiedlicher Denkrichtungen und die allgemeine Intensivierung der Reformbestrebungen. Damit einher ging zugleich die Ausdehnung des Wahrnehmungshorizonts auf die Armenwesen anderer Nationen. Die Organisatoren, Verwalter und Experten der Armenfürsorge gehörten auch zu jenen wissenschaftsorientierten Fachkreisen, welche im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert verstärkt international in Erscheinung traten. Reformorientierte Theoretiker und Praktiker der Armenfürsorge fanden in ihren ausländischen Kollegen Gleichgesinnte und Mitstreiter für die in ihren Augen universellen Ideen des Armenwesens. Es ging ihnen aber nicht nur um die Ausprägung und Pflege eines internationalen Gemeinschaftssinns. Ziel war auch immer die Modernisierung der Armenfürsorge. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, wenn Emil Münsterberg auf den Jahresversammlungen des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit mit Nachdruck für eine stärkere internationale Ausrichtung seiner Vereinskollegen warb: „Und nun sehen wir so viel Gutes, so viel Nützliches in fremden Landen“9 und „wir lernen vom Auslande; wir vergleichen“10 waren die Worte, die er unablässig wiederholte und selbst wie kein anderer Vertreter der deutschen Armenfürsorge in die theoretische und praktische Arbeit einfließen ließ. Die gegenseitige Beeinflussung der Themen und Methoden der Armenfürsorge war die Folge von Austauschbeziehungen: Der Begriff ‚Hybridisierung‘ bezeichnet solch einen Vorgang, bei dem Mischformen aus ursprünglich kulturell oder regional verschiedenen Denk- und Handlungsmustern entstehen. Eine Vielzahl von Beispielen belegt, dass sich die internationale Orientierung der Fürsorgeexperten in sehr unterschiedlichen Formen äußerte: Neben den internationalen Kongressen verweisen der intensiv geführte Literaturaustausch, Forschungs- und Studienreisen sowie Transfer- und Adaptionsprozesse von Fachwissen auf diese grenzüberschreitenden Verbindungen. Dabei wurden Reformvorhaben nicht einfach übernommen. Dass es eines überlegten Umgangs mit internationalen Vorbildern bedarf, war bereits den zeitgenössischen Beobachtern bewusst: „wir sehen Verkehrtheiten, die dort passieren, und deren Kenntnis uns, die wir vorwärtsstreben, wohl belehren kann, was wir zu vermeiden haben.“11 In dieser Einschätzung kommt auch das Wissen um die unterschiedlichen Rahmenbedingungen der einzelnen Länder und ihrer vielfältigen Rechts- und ‚Fürsorgesysteme‘ zum Ausdruck. Nimmt man das Beispiel der deutschen Armenfürsorge, dann fällt auf, wie in nahezu allen Fachgebieten, Fragestellungen und Institutionen internationale 9

Münsterberg, Übersicht über die neuren Bestrebungen auf dem Gebiet der Armenpflege in den für uns wichtigsten Staaten des Auslandes, SDV 40 (1898), S. 7. 10 Ebd., S. 11. 11 Ebd., S. 7.

Grenzüberschreitende Austausch- und Vernetzungsprozesse in der Armenfürsorge

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Bezüge zu einem gewissen Grad vorhanden waren. Dies deutet darauf hin, dass Fürsorgeexperten unterschiedlicher Länder das Programm des ‚modernen‘ Armenwesens – hierzu zählten unter anderem eine rationale Organisation, die effektive Kooperation zwischen öffentlicher und privater Armenfürsorge sowie die Einstellung der almosenbasierten Wohltätigkeit – stets gemeinsam diskutierten und durch den grenzüberschreitenden Austausch fortentwickelten. Die in diesen Austausch- und Vernetzungsprozessen erfahrene, gelebte und in unterschiedlichen Bereichen der Sozialreform auch messbare Internationalität sowie die Bedeutung derselben für die Armenfürsorge Deutschlands bilden den Gegenstand dieser Untersuchung. 1. FORSCHUNGSSTAND 1.1. Literatur zur Armenfürsorge in Deutschland Die deutschsprachige Forschungsliteratur zur Armenfürsorge räumte den internationalen Vernetzungs- und Austauschprozessen lange Zeit geringen Stellenwert ein. Es wurde darauf aufmerksam gemacht, dass auch die transnationale Geschichtsschreibung bislang „meist ohne Verweis auf sozialpolitische Netzwerke auskommt“12. Der Untersuchungsgegenstand Armenfürsorge stand besonders in den 1980er und 1990er Jahren im Blickpunkt der Sozialgeschichte. Die noch immer bedeutendsten Grundlagenarbeiten stammen von Florian Tennstedt und Christoph Sachße.13 Ihr Interesse galt den institutionellen und strukturellen Entwicklungspfaden der Armenfürsorge unter Berücksichtigung längerer historischer Linien. Ein spezifisch nationalgeschichtlicher Fokus lag dabei in der Natur der Sache. Die vor allem in Hinblick auf die Frühe Neuzeit vertretene These der Sozialdisziplinierung blieb zwar nicht unangefochten, sie ermöglichte jedoch erstmals einen theoriegeleiteten und kritischen Zugriff auf den Untersuchungsgegenstand.14 Mithilfe der Leitkonzepte Bürokratisierung, Professionalisierung und Verwissenschaftlichung zeichneten Sachße und Tennstedt die einschneidenden Veränderungen der Armenfürsorge im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts 12 M. Herren, Sozialpolitik und die Historisierung des Transnationalen, in: GG 32 (2006), S. 547f. Vgl. ebenso Christoph Conrad in: Conrad, Sozialpolitik transnational, in: GG 32 (2006), S. 437–444 und ders., in: K. Petersen/P. Kettunen (Hrsg.), Beyond Welfare State Models, S. 218–240. 13 Chr. Sachße/F. Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Bd. 1 und 2. 14 Dies. (Hrsg.), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Vgl. auch R. Jessen, Polizei, Wohlfahrt und die Anfänge des modernen Sozialstaats, sowie in Bezug auf die Frühe Neuzeit R. Jütte, Arme, Bettler, Beutelschneider. Zur Kritik an der These der Sozialdisziplinierung vgl. M. Dinges, Frühneuzeitliche Armenfürsorge als Sozialdisziplinierung?, in: GG 17 (1991), S. 5–29; D. Peukert, Grenzen der Sozialdisziplinierung, S. 15ff., sowie E. Lerche, Alltag und Lebenswelt von heimatlosen Armen, dort insb. die auf S. 18f. vorgestellte Literatur.

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Einleitung

nach. Als Vorzeichen eines tiefgreifenden Funktions- und Strukturwandels hat ihrer Analyse nach die fortschreitende Rationalisierung und Ausdifferenzierung der Fürsorgebereiche notwendigerweise moderne Sozialtechniken und Koordinationsbestrebungen hervorgebracht. Sie würden auf die komplexen behördlichen Kontroll- und Distributionsmechanismen des Wohlfahrtsstaates verweisen.15 Die neueste Gesamtübersicht über die Entwicklung der deutschen Armenfürsorge von Larry Frohman revidiert diese Sichtweise zwar nicht, akzentuiert jedoch stärker die unterschiedlichen Strömungen und Tendenzen, die auf die Umgestaltung der Armenfürsorge einwirkten und betont insbesondere die Rolle progressiver, städtischer Reformermilieus, die sich um und nach 1900 für eine ‚sozialere‘ Interpretation des Armutsproblems einsetzten.16 Arbeiten zur Entwicklung der Armenfürsorge in bestimmten Städten und Provinzen leisteten einen wichtigen Beitrag zum Verständnis sozialpolitischer Intervention auf kommunaler Ebene.17 Auf diese Weise fiel Licht auf die konkrete Praxis der Armenpflege und das komplexe Zusammenspiel verschiedenster Akteure in Verwaltung, Vereinen und Kirchen.18 Die vielfach konstatierten Aufbrüche zur Moderne ab den 1890er Jahren stellten sich in der regionalen Sozialpolitik dabei keineswegs als einheitliche und lineare Entwicklung dar.19 Andere Studien widmeten sich den eigentlichen Akteuren von Armenfürsorge und Wohltätigkeit. Man entdeckte die besondere Rolle wieder, welche den kon15 Vgl. Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Bd. 2, S. 9ff. Siehe auch dies., Armenfürsorge, soziale Fürsorge, Sozialarbeit, in: Chr. Berg (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 4, S. 410–440; Chr. Sachße, Mütterlichkeit als Beruf (3. Aufl.), S. 20ff. Diese Sichtweise dominiert auch bei anderen Autoren, vgl. E. Heyen (Hrsg.), Bürokratisierung und Professionalisierung der Sozialpolitik in Europa; R. Landwehr/R. Baron (Hrsg.), Geschichte der Sozialarbeit; J. Reulecke, Die Armenfürsorge als Teil der kommunalen Leistungsverwaltung und Daseinsvorsorge in H. Blotevogel (Hrsg.), Kommunale Leistungsverwaltung und Stadtentwicklung, S. 71–80. In stark ideengeschichtlich geprägter Analyse G. Ritter, Der Sozialstaat, S. 61ff. 16 L. Frohman, Poor relief and welfare in Germany. 17 Auswahl: B. Althammer, Integrierende und fragmentierende Effekte von kommunaler Armenfürsorge in Köln und Glasgow (1880–1914), in: Archiv für Sozialgeschichte 46 (2006), S. 61–86; A. Gestrich, Städtische Armenfürsorge vom späten Mittelalter bis zum Ersten Weltkrieg, in: Die alte Stadt 27 (2000), S. 88–96; H.-P. Jans, Sozialpolitik und Wohlfahrtspflege in Ulm 1870–1930; G. Melinz/S. Zimmermann, Armenfürsorge, Kinderschutz und Sozialreform in Budapest und Wien 1870–1914, in: GG 21 (1995), S. 338–367; L. Scarpa, Gemeinwohl und lokale Macht (Luisenstadt/Berlin); S. Schütter, Von der rechtlichen Anerkennung zur Ausgrenzung der Armen (Straßburg), in: Archiv für Sozialgeschichte 46 (2006), S. 87–106. 18 Siehe auch B. Grzywatz, Armenfürsorge im 19. Jh., in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47 (1999), S. 583–614; A. Hanschmidt, Wie wurden Städte mit der Armut fertig?, in: F. Bölsker-Schlicht (Hrsg.), Die Stadt, S. 97–118. 19 Dies wird besonders deutlich bei: E. Frie, Wohlfahrtsstaat und Provinz; ders., Armut und Armenpolitik im langen 19. Jahrhundert. Preußen im europäischen Vergleich, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 20, (2010), S. 55–71; vgl. auch W. Rudloff, Die Wohlfahrtsstadt. Kommunale Ernährungs-, Fürsorge- und Wohnungspolitik am Beispiel Münchens 1910–1933.

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fessionellen Bestrebungen auf dem Gebiet des Armenwesens zukam.20 Die Frage, welchen Einfluss christliche Deutungsmuster und die kirchliche Wohltätigkeitsbestrebungen bei der Entwicklung der Armenfürsorge, Sozialpolitik und der Herausbildung eines zivilgesellschaftlichen Engagements im Allgemeinen spielten, wurde in diesem Zusammenhang behandelt.21 Der Zusammenschluss konfessioneller, insbesondere aber auch bürgerlicher Vereine zu größeren Verbänden wurde sodann als wichtige Entwicklung in der Organisation sozialpolitischer Instrumente bewertet.22 Sie übernahmen nicht nur eine vermittelnde Funktion zwischen den einzelnen Ebenen des ‚Fürsorgesystems‘, sie konnten auch auf politischer Ebene Reformvorschläge einbringen. Besonders hervorzuheben sei in diesem Zusammenhang die Bedeutung des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit23 und anderer lokaler oder reichsweit organisierter Vereinsgebilde, die sich mit Fragen der Armenpflege beschäftigten.24 Die städtische Vereinskultur, welche ihre soziale Tätigkeit am Ideal der bürgerlichen Selbstverwaltung orientierte, wurde für die Umsetzung der Armenfürsorge für ebenso wichtig erachtet25 wie einzelne hervorstechende Persönlichkeiten, die als sozialpolitische Akteure auffällig in Erscheinung traten.26 Ein eher nachgeordneter Stellenwert konnte dem Zusammenhang zwischen der Armenfürsorge und der Arbeiterbewegung nachgewie20 Studien über die Innere Mission, den Evangelisch-Sozialen Kongress, den katholischen Caritasverband und jüdische Wohltätigkeitsstiftungen veranschaulichten die Bedeutung des ‚Sozialprotestantismus‘ sowie der katholischen und jüdischen ‚Fürsorgekultur‘: J.-Chr. Kaiser/M. Benad (Hrsg.), Sozialer Protestantismus und Sozialstaat; E. Kouri, Der deutsche Protestantismus und die soziale Frage 1870–1919; J.-Chr. Kaiser (Hrsg.), Soziale Reform im Kaiserreich; B. Schneider (Hrsg.), Konfessionelle Armutsdiskurse und Armenfürsorgepraktiken im langen 19. Jahrhundert; A. Ludwig/K. Schilde (Hrsg.), Jüdische Wohlfahrtsstiftungen. 21 A. Kidd, Civil Society or the State?, in: Journal of Historical Sociology 15 (2002), S. 328– 342; W. Euchner, Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus, katholische Soziallehre, protestantische Sozialethik; K. Gabriel (Hrsg.), Europäische Wohlfahrtsstaatlichkeit. Soziokulturelle Grundlagen und religiöse Wurzeln; A. Bauerkämper/J. Nautz (Hrsg.), Zwischen Fürsorge und Seelsorge; R. Liedtke (Hrsg.), Religion und Philanthropie; M. Maurer/B. Schneider (Hrsg.), Konfessionen in den west- und mitteleuropäischen Sozialsystemen im langen 19. Jahrhundert. 22 Kaiser, Freie Wohlfahrtsverbände im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Westfälische Forschungen 43 (1993), S. 26–57; Sachße (Hrsg.), Wohlfahrtsverbände im Wohlfahrtsstaat. 23 Deutscher Verein für Öffentliche und Private Fürsorge (Hrsg.), Forum für Sozialreformen; Tennstedt, Fürsorgegeschichte und Vereinsgeschichte, in: ZfS 27 (1981), S. 72–100. 24 Zum Beispiel der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege oder die halbstaatliche Mittlerorganisation Zentralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen (ab 1907 Zentralstelle für Volkswohlfahrt), vgl. T. Elkeles (Hrsg.), Prävention und Prophylaxe; A. Hüntelmann/J. Vossen/H. Czech (Hrsg.), Gesundheit und Staat; R. Kaerger, Die Zentralstelle für ArbeiterWohlfahrtseinrichtungen; Tennstedt, Sozialreform in Deutschland, in: ZfS 32 (1986), S. 10– 24. 25 Vgl. H. Degethoff Campos/H. Kuhls, Von der Armenpflege zum Sozialstaat; D. Eckhardt, „Soziale Einrichtungen sind Kinder ihrer Zeit ...“; M. Nitsch, Private Wohltätigkeitsvereine im Kaiserreich; S. Pielhoff, Stifter und Anstifter, in: GG 33 (2007), S. 10–45. 26 Es sei hier zunächst auf das von E. Hansen/F. Tennstedt herausgegebene „Biographische Lexikon zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1871 bis 1945“, verwiesen.

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sen werden. Die Gründung der Gesellschaft für Soziale Reform 1901 deutete zwar langfristig die Integration der Sozialdemokratie in die Wohlfahrtspflege an.27 Sie stand mit der Armenfürsorge im engeren Sinne allerdings nicht in Verbindung.28 Neben der Geschichtsschreibung zur Sozialen Arbeit29, in welcher die Herausbildung moderner sozialpädagogischer Methoden hervorgehoben und oft anhand wichtiger Persönlichkeiten dargestellt wird, hat vor allem die Frage, wie Geschlechtergeschichte mit der Wohlfahrtspolitik zusammenhängt, eine kontroverse Debatte nach sich gezogen. Diskutiert wurde darüber, ob und in wie weit nach 1900 von einer als ‚maternalistisch‘ zu bezeichnenden Sozialpolitik gesprochen werden kann, oder wie sich die sozialpolitische Dimension der Frauenbewegung auf die Entwicklung des sozialen Berufes auswirkte.30 Christoph Sachße stellte dazu fest, dass sich die ursprüngliche Verbindungslinie zwischen bürgerlicher Frauenbewegung und sozialem Engagement in dem Maße löste, wie Sozialarbeit durch Versachlichung, Spezialisierung und Arbeitsteilung in die moderne Sozialbürokratie integriert wurde.31 Einen methodischen Perspektivenwechsel forderten die Historikerinnen und Historiker ein, die sich mit Ansätzen und Theorien der Soziologie und Kulturwissenschaften beschäftigen. Sozialkonstruktivistisch inspirierte Herangehensweisen rückten zuletzt verstärkt die historische Verfasstheit von Diskursen und Wissensformationen in den Fokus32, oder sie untersuchten soziale, politische und kulturelle Figurationen in Hinblick auf „Fremdheit und Armut“.33 Dabei stehen weniger die Geschichte der Armenfürsorge oder die der Sozialreformbewegung an sich im Zentrum, sondern vielmehr die sozialen Praktiken, an denen sich Ordnungsvor27 R. vom Bruch, Bürgerlichkeit, Staat und Kultur im Kaiserreich, S. 248–272; ausführlich U. Ratz, Sozialreform und Arbeiterschaft. 28 In der Tat stand die Arbeiterbewegung der diskriminierenden Armenfürsorge stets sehr kritisch gegenüber, vgl. Sachße, Mütterlichkeit, S. 151ff. Vgl. auch W. Ayaß, Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und Sozialversicherung, in: U. Becker/H. Hockerts/K. Tenfelde (Hrsg.), Sozialstaat Deutschland, S. 17–44. 29 R. Amthor, Die Geschichte der Berufsausbildung in der Sozialen Arbeit; S. Hering/R. Münchmeier, Geschichte der sozialen Arbeit; J. Schilling, Soziale Arbeit; Landwehr/Baron, Geschichte der Sozialarbeit; W. Wendt, Geschichte der sozialen Arbeit, 2 Bd.; W. Müller, Wie Helfen zum Beruf wurde. 30 A. Bergler, Von Armenpflegern und Fürsorgeschwestern; G. Bock/P. Thane, Maternity and Gender Politics; S. Koven/S. Michel, Womanly Duties, in: American Historical Review 95 (1990), S. 1076–1108; I. Schröder, Wohlfahrt, Frauenfrage und Geschlechterpolitik, in: GG 21 (1995), S. 368–395. 31 Sachße bezeichnet diesen Prozess als „Bürokratisierung von Mütterlichkeit“, vgl. Sachße, Mütterlichkeit, S. 261ff. 32 Beispiele: P. Becker, Strategien der Ausgrenzung, Disziplinierung und Wissensproduktion, in: GG 30 (2004), S. 404–433; L. Murdoch, Imagined Orphans: Poor Families, Child Welfare, and Contested Citizenship in London; G. Procacci, Social Economy and the Government of Poverty, in: G. Burchell (Hrsg.), The Foucault Effect, S. 151–168; R. Fuchs, Gender and Poverty in Nineteenth Century Europe. 33 Vgl. die umfangreiche Arbeit des Trierer Sonderforschungsbereiches (SFB 600), insb. A. Gestrich/L. Raphael (Hrsg.), Inklusion, Exklusion; L. Raphael (Hrsg.), Zwischen Ausschluss und Solidarität.

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stellungen sowie Inklusions- und Exklusionsprozesse vollzogen.34 Eine stärkere Miteinbeziehung der Betroffenen von Armenfürsorge eröffnete außerdem wieder Perspektiven der historischen Armutsforschung, die lange Zeit ein Schattendasein führte.35 1.2. Armenfürsorge in internationaler Perspektive Der Mehrheit der bisher vorgestellten Studien und Forschungsansätzen ist gemeinsam, dass sie eine internationale Perspektive nicht oder nur in nachgeordneter Weise miteinbeziehen.36 Anders ist dies in der historischen Sozialpolitikforschung und Wohlfahrtsstaatsforschung. Sie stehen der politikwissenschaftlichen Methodik nahe und zeichnen sich durch ihre international vergleichenden Ansätze aus.37 Im Rahmen von Vergleichsstudien wurden die Entstehung sozialer Siche-

34 Beispiele von Arbeiten, welche mithilfe solch einer mikrogeschichtlichen Methodik kommunale und ländliche Fürsorgepraktiken, die ‚Repräsentation‘ von Armut sowie die Bedeutung wirkmächtiger Armutsdiskurse untersuchen: B. Althammer (Hrsg.), Bettler in der europäischen Stadt der Moderne; G. Ammerer (Hrsg.), Armut auf dem Lande; I. Brandes/K. MarxJaskulski (Hrsg.), Armenfürsorge und Wohltätigkeit; A. Gestrich/E. Hurren (Hrsg.), Poverty and Sickness in Modern Europe; K. Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge auf dem Land; Schneider (Hrsg.), Konfessionelle Armutsdiskurse. 35 Die Frage, ob dadurch das Narrativ „about the poor“ (Gestrich/Hurren) wirklich durchbrochen werden konnte, wäre noch zu erörtern. Zweifellos bereichert der kulturhistorische Ansatz die Forschungsperspektiven und führte zu einer ausgewogeneren Einschätzung darüber, wie Armenfürsorge in die Lebenswelten der Betroffenen wirkte, vgl. Gestrich/King/Raphael (Hrsg.), Being Poor in Modern Europe; S. Hahn/N. Lobner/C. Sedmak (Hrsg.), Armut in Europa 1500–2000; A. Sczesny/R. Kießling/J. Burkhardt (Hrsg.), Prekariat im 19. Jahrhundert. Siehe auch Chr. Kühberger, Historische Armutsforschung; ders. (Hrsg.), Aktuelle Tendenzen der historischen Armutsforschung. Ältere Arbeiten zur Geschichte der Armut: B. Geremek, Geschichte der Armut; W. Fischer, Armut in der Geschichte; N. Preußer, Not macht erfinderisch: Überlebensstrategien der Armenbev̈lkerung in Deutschland seit 1807. 36 So berücksichtigt die in Fn. 33 und 34 erwähnte Literatur zwar Beispiele aus ganz Europa. Sie verfolgt jedoch einen Ansatz, der den Untersuchungsgegenstand geographisch eingegrenzt und vergleichend betrachtet, ohne dabei grenzüberschreitende Prozesse selbst in Augenschein zu nehmen. Eine dezidiert transnationale Perspektive beziehen lediglich einige der Beiträge des Sammelbandes B. Althammer/A. Gestrich/J. Gründler (Hrsg.), The Welfare State and the ‘Deviant Poor‘ in Europe, 1870–1933, mit ein. Vgl. hier vor allem Althammer, Transnational Expert Discourse on Vagrancy around 1900, in: ebd., S. 103–125. 37 Die Literatur zur historischen Wohlfahrtsstaatsforschung ist unüberschaubar angestiegen. Auswahl: P. Baldwin, The Welfare State for Historians, in: Comparative Studies in Society and History 34 (1992), S. 695–707; Chr. Conrad, Wohlfahrtsstaaten im Vergleich: Historische und sozialwissenschaftliche Ansätze, in: H.-G. Haupt (Hrsg.), Geschichte und Vergleich, S. 155–180; E. Hennock, The origin of the welfare state in England and Germany; W. Mommsen (Hrsg.), Die Entstehung des Wohlfahrtsstaates in Großbritannien und Deutschland 1850 – 1950; A. Swaan, In Care of the State. Aus politologischer Sicht mit historischen Bezügen: G. Esping-Andersen, The three Worlds of Welfare Capitalism; J. Schmid, Herkunft und Zukunft der Wohlfahrt.

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rungssysteme sowie ihre länderspezifischen Besonderheiten dargestellt.38 Der Vergleich diente dabei als Methode, um Entwicklungsanalogien oder Unterschiede bei der Herausbildung von Wohlfahrtsstrukturen zu kennzeichnen. Die Entwicklung der Armenfürsorge wurde darin allerdings meistens nur vor dem Hintergrund der funktionalen Ausdifferenzierung sozialer Sicherungssysteme analysiert. Es ist dem ‚cultural turn‘ zu verdanken, dass die einseitigen institutionsbezogenen Ansätze der Wohlfahrtsstaatsforschung und das damit verbundene Entwicklungspfaddenken um weitere Forschungsperspektiven ergänzt wurden.39 Infolgedessen wurden die Bedeutung von institutionellem und sozialem Wissen, kulturellen Deutungsmustern und anderen sozialkonfigurativen Konstellationen stärker betont sowie die Betrachtungen auf regionale Zentren sowie „periphere Wohlfahrtssysteme“ ausgeweitet.40 In unmittelbarem Zusammenhang mit der Wohlfahrtsstaatsforschung sind die Arbeiten zu sehen, welche sich mit Ideen- und Wissenstransfers beschäftigen sowie die gegenseitige Beeinflussung von Wohlfahrtsregimen und sozialen Bewegungen untersuchen.41 Dabei wird immer öfter gefordert, die Transfers nicht nur als Adaptions- oder Ablehnungsvorgänge zwischen zwei konkurrierenden, abgegrenzten Politiksphären zu begreifen. Auch in der Erforschung sozialpolitischer Themenfelder zeichnet sich der allgemeine Trend ab, den ‚methodischen Nationalismus‘ zu hinterfragen und stattdessen den wechselseitigen Austausch und das 38 In international vergleichender Perspektive: K. H. Metz, Geschichte der Sozialen Sicherung. In Bezug auf das Deutsche Reich: H. Beck, The Origins of the Authoritarian Welfare State in Prussia; Y.-S. Hong, Neither Singular nor Alternative: Narratives of Modernity and Welfare in Germany, 1870–1945, in: Social History 30 (2005), S. 133–153; L. Machtan (Hrsg.), Bismarcks Sozialstaat; G. Metzler, Der deutsche Sozialstaat; E. Reidegeld, Staatliche Sozialpolitik in Deutschland; Ritter, Der Sozialstaat; G. Steinmetz, Regulating the Social. 39 Zur Kritik an der Wohlfahrtsgeschichte ‚von Oben‘ vgl. J. Clarke, Welfare States as Nation States, in: Social Policy & Society 4 (2005), S. 407–415; B. Zimmermann, Arbeitslosigkeit in Deutschland, S. 13ff. 40 F. Ewald, L’Etat providence; A. Kidd, Civil Society or the State?, in: Journal of Historical Sociology 15 (2002), S. 328–342; M. Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat; Procacci, Pour une généalogie de l’Etat social, in: H.-J. Gilomen (Hrsg.), Von der Barmherzigkeit zur Sozialversicherung, S. 213–220; D. Rueschemeyer/T. Skocpol (Hrsg.), States, Social Knowledge and the Origins of Modern Social Policies. Zu ‚peripheren Wohlfahrtssystemen‘: S. King/J. Stewart (Hrsg.), Welfare Peripheries. 41 Der Überblick verdeutlicht, dass es vor allem englisch- und französischsprachige Historikerinnen und Historiker sind, die sich diesem Ansatz widmen: T. Adam (Hrsg.), Philanthropy, Patronage and Civil Society; ders., Transatlantic Trading, in: Journal of Urban History 28 (2002), S. 328–351; B. Harris, The Origins of the British Welfare State, hier insb. S. 25f.; B. Harris/P. Bridgen (Hrsg.), Charity and Mutual Aid in Europe and North America; E. Hennock, German Models for British Social Reform, in: R. Muhs/J. Paulmann/W. Steinmetz (Hrsg.), Aneignung und Abwehr, S. 127–142; A. Mitchell, Divided Path; D. Rodgers, Atlantiküberquerungen; P.-Y. Saunier, Trajectoires, projets et ingéniérie de la convergence et de la différence, in: Genèses 71 (2008), S. 4–25; A. Schäfer, American Progressives and German Social Reform; T. Smith, The Ideology of Charity, in: The Historical Journal 40, 1997, S. 997–1032; Chr. Topalov, Verständigung durch Missverständnis, in: Liedtke (Hrsg.), Religion und Philanthropie, S. 158–173; B. Zimmermann/C. Didry/P. Wagner/J. Delors (Hrsg.), Le travail et la nation.

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gegenseitige Lernen unterschiedlicher Akteure hervorzuheben.42 Es geht darum, sich vermehrt den produktiven Vernetzungs- und Verflechtungsprozessen zu widmen, welche in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen nachgewiesen werden können. Der transatlantische Raum fand hierbei besonders viel Beachtung. Anhand biographischer Studien konnte die Bedeutung wechselseitiger Beziehungen ebenfalls aufgezeigt werden.43 Es stellte sich heraus, dass insbesondere Anhängerinnen der Frauenbewegung internationale Kontakte pflegten und dadurch die Theorie und Praxis der sich herausbildenden modernen Sozialarbeit bereicherten.44 Zugleich entstanden mehr Untersuchungen, die sich genuin internationalen oder globalen Themen zuwandten. Die Internationalisierung von Sozialpolitik rückte hierbei in den Fokus der internationalen Netzwerkforschung.45 Es zeigte sich, dass die Schaffung internationaler Organisationsformen vor dem Ersten Weltkrieg nicht von staatlichen sondern in erster Linie von privaten Initiativen ausging. Sie standen organisatorisch dem bürgerlichen Vereinswesen nahe und versuchten über diesen Weg, auf sozialpolitische Gestaltungsprozesse Einfluss auszuüben. In Bezug auf die Armenfürsorge sind diese persönlichen internationalen Verbindungen zwischen sozialreformerischen Gruppierungen bislang wenig erforscht. Dies gilt insbesondere für das Expertennetzwerk der Armenfürsorge um 1900 und das in diesem Kontext entstandene internationale Kongresswesen.46 42 Conrad, Sozialpolitik transnational, in: GG 32 (2006), S. 437–444; ders., Social policy after the transnational turn, in: Petersen/Kettunen (Hrsg.), Beyond Welfare State Models, S. 218– 240; Herren, Sozialpolitik, in: GG 32 (2006), S. 542–559; H. Kaelble, Historischer Vergleich und Wohlfahrtsstaat – Ein Essay, in: Becker/Hockerts/Tenfelde (Hrsg.), Sozialstaat Deutschland, S. 163–170. 43 Vgl. die Beiträge aus „Women in Welfare. Soziale Arbeit in internationaler Perspektive“, in: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte 49 (2006); R. Hegar, Transatlantic Transfers in Social Work: Contributions of Three Pioneers, in: British Journal of Social Work 38 (2008), S. 716–732; A. Schüler, Frauenbewegung und soziale Reform. 44 A. Kniephoff-Knebel, Internationalisierung in der sozialen Arbeit; F. Hamburger, Innovation durch Grenzüberschreitung; L. Wagner/R. Lutz (Hrsg.), Internationale Perspektiven Sozialer Arbeit. 45 Vgl. vor allem M. Herren-Oesch, Internationale Sozialpolitik vor dem Ersten Weltkrieg; dies., Hintertüren zur Macht. Vgl. ferner M. Geyer/J. Paulmann (Hrsg.), The mechanics of internationalism, sowie D. MacKenzie (Hrsg.), A world beyond borders. 46 Einzig Leonards/Randeraad untersuchen internationale Wohltätigkeitskongresse, beschränken sich jedoch auf die Unternehmungen der 1850er und 1860er Jahre, vgl. Chr. Leonards/N. Randeraad, Transnational Experts in Social Reform, 1840–1880, in: International Review of Social History 55 (2010), 2, S. 215–239. Sonstige Erwähnungen des internationalen Fürsorgekongresswesens vor 1914 sind rar gesät. Sie beschränken sich entweder auf wenige Randnotizen oder zielen auf die langfristigen Tendenzen hin zur Entstehung des International Council on Social Welfare und anderer internationaler Netzwerke der Sozialen Arbeit, vgl. M. Blankenburg, Internationale Wohlfahrt; F. Konrad, „Ob das amerikanische Beispiel nachgeahmt werden kann...“, in Hamburger (Hrsg.), Innovation, S. 20–60; E. Kruse, Zur Geschichte der internationalen Dimension in der Sozialen Arbeit, in: Wagner/Lutz (Hrsg.), Internationale Perspektiven, S. 15ff. Die französische Forschung betrachtete die internationalen Kongressdebatten ausführlicher, fragte allerdings ausschließlich nach deren Wirkung auf die französische assistance publique, vgl. C. Bec, Deux congrès internationaux d’assistance, in:

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Der Forschungsüberblick verdeutlicht das allgemein wachsende Interesse an grenzüberschreitenden Ansätzen und den Wunsch, auch im Feld der Sozialpolitik das heuristische Potential transnationaler Perspektivierung zu erproben. In der deutschsprachigen Forschung zur Armenfürsorge fanden die von Madeleine Herren und Christoph Conrad formulierten Ansätze, welche die Sozialpolitikforschung von einer rein themenorientierten Betrachtung lösen und um eine stärker beziehungsgeschichtlich orientierte Analyse erweitern wollten, jedoch wenig Niederschlag.47 Es dürfte einerseits den nationalen Themenschwerpunkten älterer Studien48 sowie andererseits den mikrohistorisch-vergleichenden Blickwinkeln neuerer Arbeiten49 geschuldet sein, dass bisherige Forschungsansätze die Dimension grenzüberschreitender Wissensverflechtung vernachlässigten und ihre möglichen Auswirkungen auf die Theorie und Praxis der Armenfürsorge wenig in Betracht zogen. Denn auch wenn einzelne Teilbereiche der Sozialarbeit sowie bestimmte Akteurinnen des sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts erst allmählich herausbildenden sozialen Berufes nach internationalen Verbindungen hin untersucht wurden50, bleibt festzuhalten, dass es keine Darstellung gibt, welche die Armenfürsorge – als eigenständiges historisches Unterstützungssystem und insbesondere unter Berücksichtigung ihrer bedeutendsten Netzwerke, Akteure und Debatten – in einen systematischen Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Austauschund Vernetzungsprozesse bringt. Diese Studie versteht sich daher als Beitrag zur Überwindung dieser letzten „Bastion des Nationalen“51. 2. FRAGESTELLUNG UND SCHWERPUNKTE DER UNTERSUCHUNG Die hier vorliegende Studie untersucht unterschiedliche Formen grenzüberschreitender Austauschbeziehungen, um ihre Bedeutung für die Verfasstheit und Ent-

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dies. (Hrsg.), Philanthropies et politiques sociales en Europe, S. 145–157 sowie D. Renard, Assistance et bienfaisance: le milieu des congrès d’assistance, 1889–1911 in: Topalov (Hrsg.), Laboratoires du nouveau siècle, S. 187–219. Conrad, Sozialpolitik transnational, in: GG 32 (2006), S. 437–444; Herren, Sozialpolitik, in: GG 32 (2006), S. 542–559. In der englischsprachigen und französischsprachigen Forschung sind solche Ansätze bereits verbreiteter, wenngleich betont werden muss, dass auch hier meist nicht die Armenfürsorge, sondern andere sozialpolitische Felder, insbesondere die Arbeiterund Versicherungspolitik sowie die Auswirkungen internationaler Einflüsse auf die Sozialpolitik dieser Länder im Zentrum der Untersuchungen stehen, vgl. hierzu die in Fn. 41 erwähnte Literatur. Insbondere die vielbeachtete Arbeit von Rodgers, Atlantiküberquerungen, berührt die Expertennetzwerke und Fragestellungen der Armenfürsorge nur am Rande und misst der Armutsfrage generell eine sehr nachrangige Bedeutung zu, siehe ebd., S. 236–248. Vgl. die in Fn. 13–16 erwähnte Literatur, vor allem Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 1 u. 2. Vgl. insbesondere die Arbeiten, die im Rahmen des Trierer Sonderforschungsbereiches (SFB 600) „Fremdheit und Armut“ entstanden sind. Vgl. hierzu die Beiträge aus „Women in Welfare“, in: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte 49 (2006), sowie die in Fn. 43 und 44 erwähnte Literatur. So Chr. Conrad in Bezug auf das Fehlen transnationaler Studien im Bereich der Sozialpolitikund Sozialstaatsforschung, Conrad, Sozialpolitik transnational, in: GG 32 (2006), S. 437.

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wicklung der spezifisch deutschen Armenfürsorge vor dem Ersten Weltkrieg zu erfassen. Es werden insbesondere die Dynamiken, Wechselwirkungen und Synergieeffekte in Augenschein genommen, welche durch die Konzentration auf rein nationale oder regionale Entwicklungen in der Armenfürsorge unberücksichtigt blieben. Hierfür werden zwei Schwerpunkte gewählt, welche die methodische Untersuchung der Quellen im abgesteckten zeitlichen und geographischen Kontext bestimmen. Einen ersten Schwerpunkt bildet die systematische Darstellung internationaler Beziehungen in unterschiedlichen Bereichen der Armenfürsorge. Formen, Grenzen und Dynamiken grenzüberschreitender Prozesse werden quantitativ und qualitativ bemessen und verallgemeinernd eingeordnet. Das breite Spektrum und die verschiedenartigen Erscheinungsformen der internationalen Verbindungen müssen dabei erfasst werden: Neben den Debatten, Literatur- und Wissenstransfers, persönlichen und institutionellen Kontakten rücken vor allem das internationale Kongresswesen und das internationale Kongresskomitee in den Fokus der Studie. Sie verweisen auf die Vielfältigkeit von Vernetzungspraktiken und Kommunikationstypen im Wandel zwischen 1880 und 1914. Zugleich wird herausgestellt, wie und mit welchem Erfolg internationale Kooperationsabsichten tatsächlich umgesetzt wurden. Spezielles Augenmerk wird den beteiligten Akteuren und ihren Motiven geschenkt. Es wird hervorgehoben, welche Rolle einzelne Personen, Gruppen oder Länder bei den internationalen Vernetzungsprozessen spielten. Von besonderem Interesse ist ferner, welches Selbstverständnis die international agierenden Fürsorgeexperten pflegten, welche Ansichten sie teilten und welche Wechselwirkungen beobachtet werden können. Damit kann angedeutet werden, wie die Sozialreformer durch das Wechselspiel der zuordnenden Fremd- und Selbstdeutung ihr eigenes Profil schärften und sich auf diese Weise national und international konnotierte Wahrnehmungs- und Handlungsräume herausbildeten. Der zweite Schwerpunkt setzt sich zum Ziel, die Rück- und Auswirkungen der internationalen Austausch- und Vernetzungsprozesse auf die Theorie und Praxis der deutschen Armenfürsorge zu analysieren. Anhand verschiedener Beispiele wird eruiert, welche Bedeutung die vorliegenden grenzüberschreitenden Beziehungen für die Organisation und Durchführung der Armenfürsorge hatten und welche Funktion sie für das ‚Fürsorgesystem‘ und die ‚Fürsorgekultur‘ im Deutschen Reich erfüllten. Dabei gilt es zu klären, ob und in welchem Ausmaße Organisationsformen, Fürsorgekonzeptionen und institutionelle Ausgestaltungen von den grenzüberschreitenden Austauschbeziehungen betroffen waren. Mit Bezug auf die internationalen Vernetzungs- und Austauschprozesse wird herausgearbeitet, wie sich die Fürsorgedebatten entwickelten, fürsorgerelevante Wissensbestände sukzessive erweiterten und neue Problemlösungsansätze entstanden. Nationale Rechtslagen, kommunale Verwaltungspraktiken und eine Vielzahl an Partikularinteressen prägten die Wahrnehmung und Interpretation von internationalen Einflüssen. Der Referenzpunkt der Untersuchung ist das ‚Fürsorgesystem‘ und das Fürsorgeexpertentum in Deutschland, deren spezifische Eigenheiten entsprechend vorrangig berücksichtigt werden. Die Akteure und Fürsorgedebatten anderer Länder sowie der Fürsorgealltag auf unterster Ebene können nur in dem

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Umfange beleuchtet werden, wie sie sich im Rahmen der Quellenlektüre erfassen ließen. Sie werden thematisiert, wenn es darum geht, Unterschiede und Gemeinsamkeiten bei der Wahrnehmung und Rezeption fürsorgebezogener Inhalte herauszustellen oder um die Herkunft oder die Hintergründe einer Verflechtung verständlich zu machen. Beide Schwerpunkte – die systematische Darstellung internationaler Austausch- und Vernetzungsprozesse sowie die Untersuchung ihrer Bedeutung für die deutsche Armenfürsorge – ergänzen sich gegenseitig und stehen in enger Verbindung zueinander. Der hier vertretene Ansatz vereint somit eine beziehungsgeschichtliche Perspektive auf grenzüberschreitende Vernetzungsprozesse mit der Erforschung derjenigen Aspekte des deutschen Armenwesens, die aufgrund dieser Perspektive besser erklärt werden können. 2.1. Zeitliche und geographische Einordnung Die Eingrenzung des Untersuchungszeitraumes zwischen 1880 und dem Ersten Weltkrieg gründet auf der Beobachtung, dass grenzüberschreitende Austauschbeziehungen im Bereich der Armenfürsorge in dieser Phase eine deutliche Konjunktur erlebten. Sie sind damit im Kontext der allgemeinen Internationalisierungsund Transnationalisierungsprozesse zu verorten, welche in dieser Epoche viele Bereiche in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft erfassten. 52 Internationale Kontakte zwischen Sozialpolitikern und Fürsorgeexperten hatte es freilich auch schon davor gegeben und sind an sich ein wiederkehrendes Phänomen. So gab es bereits in den 1850er und 1860er Jahren internationale Kongresse, auf denen sich Sozialreformer grenzüberschreitend vernetzten und teilweise auch über Probleme der Armenfürsorge diskutierten.53 Diese Verbindungen kamen jedoch aufgrund der ungünstigen politischen Lage wieder zum Erliegen. Ab den 1880er Jahren entstanden allmählich wieder neue internationale Beziehungen. Die neu ins Leben gerufenen Internationalen Kongresse für Armenpflege und Wohltätigkeit korrelierten mit einem stetig wachsenden Interesse an den Fürsorgepraktiken anderer Länder und Regionen. Das Jahr 1880 war in Bezug auf die deutsche Armenfürsorge zusätzlich von großer Bedeutung: Der neu gegründete Deutsche Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit schuf die Grundlage für eine professionalisierte Auseinandersetzung mit den Belangen der Armenfürsorge im engeren Sinne. Das gestiegene Interesse an den Fragen der Armutsbekämpfung stand wiederum in enger Beziehung zu den veränderten ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, welche die ebenfalls in dieser Zeit einsetzende Phase der Hochindustrialisierung mit sich brachte.54 Das Jahr 1914 markierte in allen politischen 52 Vgl. hierzu ganz allgemein J. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt; Rosenberg, A World Connecting, bzw. die in Fn. 8 erwähnte Literatur. 53 Vgl. Leonards/Randeraad, Transnational Experts, in: International Review of Social History 55 (2010), 2, S. 215–239 54 Zu den Hintergründen Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 1, S. 179ff. und Bd. 2, S. 15ff.

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und gesellschaftlichen Bereichen wiederum eine Zäsur. Auch die internationalen Vernetzungen in der Armenfürsorge brachen zusammen. Vor dem dargelegten Hintergrund erweisen sich die Zäsuren 1880 und 1914 als sinnvoll. Vereinzelte Rück- und Ausblicke wird es dennoch geben, wenn sie dem Forschungsvorhaben dienlich sind. Als wichtigster Referenzrahmen der Studie wurde die Armenfürsorge und Fürsorgeexpertise des Deutschen Reiches gewählt. Da die Untersuchung jedoch ausdrücklich ihre Verbindungen zu internationalen Vernetzungs- und Austauschprozessen analysieren möchte, finden insbesondere Frankreich, England und die USA sowie des Öfteren auch Belgien, Dänemark, Italien, Österreich und die Schweiz Erwähnung. Diese Bezüge ergeben sich aus den betrachteten Quellen: Das Übergewicht dieser Länder in der Literatur zur Armenfürsorge sowie auf den internationalen Kongressen war hierfür ausschlaggebend. 2.2. Quellenmaterial Für die Erforschung der Armenfürsorge bieten Archive und Bibliotheken im Allgemeinen ein sehr umfangreiches Quellenmaterial. Um der Fragestellung gerecht zu werden, lag das Kriterium bei der Quellenauswahl in erster Linie beim Nachweis von internationalen Bezügen. Es ging also darum, sowohl institutionelle und persönliche Kontakte, als auch Themenfelder und Diskurse der Armenfürsorge auf internationale Verweise und Verflechtungen hin zu untersuchen. Neben den vielen deutsch- und fremdsprachigen Druckschriften über das Armenwesen wurden die wichtigsten europäischen und amerikanischen Fachzeitschriften ausgewertet, deren Bedeutung und Einfluss grenzüberschreitend nachweisbar war. Ein besonderer Stellenwert wurde ferner sämtlichen literarischen Zeugnissen zugesprochen, die im Umfeld der internationalen Fürsorgekongresse entstanden. Darunter fallen die Kongresspublikationen und Mitschriften, aber auch die im Vorfeld und Nachgang der Kongresse sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern erschienenen Veröffentlichungen. Einen wichtigen Einblick in die persönlichen Beziehungen der Sozialreformer gewährten die Mitschriften, die auf den Sitzungen des internationalen Kongresskomitees abgefasst wurden. Des Weiteren wurden Tagungs- und Kommissionsberichte, wie etwa der Bericht der englischen Armenkommission von 1909, untersucht. Das Studium repräsentativer Quellen der deutschen Armenfürsorge war ebenfalls unerlässlich, nur so konnten die internationalen Beziehungen, Austauschprozesse und Wechselwirkungen sinnvoll eingeordnet werden. Neben allen einschlägigen deutschen Zeitschriften, die das Thema Armenfürsorge direkt oder indirekt berühren, wurde ein sehr breites Spektrum an Publikationen zum Armenwesen, darunter sämtliche Druckschriften und stenographischen Mitschriften des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit berücksichtigt. In einigen Fällen wurden auch die Publikationen kleinerer regionaler Einrichtungen, wie zum Beispiel der Zentrale für Private Fürsorge in Berlin, hinzugezogen.

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Auch wenn die Quellenauswahl überwiegend die Theorie und Praxis der Sozialreform und der ihr nahestehenden Gruppierungen widerspiegeln sollte, wurden auch Verwaltungszeugnisse und andere Dokumente im Archivgut des Auswärtigen Amtes ausfindig gemacht, die wichtige internationale Bezüge aufwiesen. Das dort vorliegende Quellenmaterial berichtet über internationale Regelungen der Armenpflege, internationale Korrespondenzen, amtliche Stellungsnahmen zu den internationalen Kongressen sowie Informationen über die ‚Heimschaffung‘ Hilfsbedürftiger aus dem Ausland beziehungsweise ihre ‚Rückführung‘ ins Ausland. Allgemeine Nachrichten über das internationale Kongresswesen und die Sammlung und Auswertung armenrechtlicher Regelungen im In- und Ausland konnten ferner im Reichsamt des Innern dokumentiert werden. Die Staats- beziehungsweise Stadtarchive in Berlin, Hamburg und Ludwigsburg gestatteten außerdem punktuelle Einblicke in die bundesstaatliche und kommunale Ebene der Armenverwaltung. Bedauerlicherweise gibt es wenige Nachlässe von Persönlichkeiten der Armenfürsorge. Einige Archivalien deutscher Sozialreformer konnten dennoch eingesehen werden, darunter fallen Korrespondenzen und ungedruckte Quellen, die in den bereits erwähnten Archiven sowie im Alice Salomon Archiv in Berlin und in der Historischen Sondersammlung Soziale Arbeit und Pflege in Frankfurt vorliegen und somit den Quellenkorpus sinnvoll ergänzten. 3. BEGRIFFSBESTIMMUNGEN UND KONTEXTUELLE ERLÄUTERUNGEN 3.1. Armenfürsorge Die aus der Frühen Neuzeit stammenden Formen der Armenunterstützung änderten und erweiterten sich in den europäischen Staaten im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts.55 Aus dem gewandelten Armutsverständnis heraus, wonach Armut verstärkt und primär als ökonomische Problemlage aufgefasst wurde, sowie aus dem aufklärerischen Staatsverständnis heraus entwickelte sich die Überzeugung, dass Gemeinden und Städte zur Versorgung ihrer Armen grundsätzlich verpflichtet sein sollten.56 Die Soziale Frage gewann in der Phase des sozioökonomischen Strukturwandels und der Verbreitung der industriekapitalistischen Produktionsweise zusätzlich an Brisanz: Auch wenn die Bedürfnisse an überlebenswichtigen 55 Die Unterstützung von Armen war in der Frühen Neuzeit über die Bettelordnungen geregelt und stark von den karitativen Einrichtungen der Kirchen geprägt. Siehe Jütte, Arme; K. Krimm, Armut und Fürsorge in der frühen Neuzeit; Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 1, S. 23–177. 56 Zum Wandel des Armutsbegriffes und -verständnisses um 1800 G. Seiderer, Von „wahren Armen“ und „Scheinarmen“. Bettel und Armut im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Sczesny/Kießling/Burkhardt (Hrsg.), Prekariat im 19. Jahrhundert, S. 21–38 und VeitsFalk, Der Wandel des Begriffs Armut um 1800, in: Kühberger (Hrsg.), Aktuelle Tendenzen, S. 15–44.

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Gütern im ausgehenden 19. Jahrhundert weitgehend gedeckt werden konnten, blieben andere Formen der Bedürftigkeit, insbesondere der Mangel an denjenigen Ressourcen, die für die gesellschaftliche Teilhabe als notwendig erachtet wurden, eine dauerhafte Problemstellung und Gegenstand zahlreicher sozialpolitischer Auseinandersetzungen.57 Im zeitgenössischen Meyer Konversations-Lexikon war zu lesen, dass die Aufgabe der Armenfürsorge dahin gerichtet sei, bedürftige Individuen in stand zu setzen, entlohnte Arbeit, die Grundbedingung der Existenzmöglichkeit, in zureichendem Maße vorzufinden und erst in zweiter Linie, falls dies infolge von in der Gesellschaft oder im Individuum liegenden Gründen unmöglich ist, die Erhaltung der Individuen schlechthin vorzunehmen. 58

Ausgehend von dieser Definition versuchte man, die Aufgabenfelder der Armenpflege59 weiter einzukreisen, insbesondere auch, um sich von anderen Bereichen sozialpolitischer Tätigkeit abzugrenzen.60 Aufgrund der allmählichen staatlichen Durchdringung sozialpolitischer Handlungsfelder und der schrittweisen Einführung einer Vorsorge- und Versicherungsgesetzgebung vollzog sich eine grundsätzliche Trennung der Arbeiter- von der Armenpolitik.61 Von der Armenfürsorge abzugrenzen sind daher die Begriffe ‚Sociale Fürsorge‘ und ‚Wohlfahrtspflege‘. Sie bezeichnen die seit den 1890er Jahren fortschreitende Ausdifferenzierung von Fürsorgebereichen beziehungsweise die allgemeine Ausweitung, Verrechtlichung und Zentralisierung von Fürsorgeund Vorsorgeleistungen.62 Diese Entwicklungen mündeten zwar erst nach dem Ersten Weltkrieg langsam in einem einheitlichen sozialstaatlichen System. Da es jedoch bereits vorher entscheidende Impulse zur Ausweitung der Wohlfahrtspflege gab und diese an verschiedenen Stellen in enger Beziehung zur Armenfürsorge standen, werden diese Berührungs- und Überschneidungspunkte im Laufe der Studie verschiedentlich thematisiert. Über die Ausgestaltung der öffentlichen Armenfürsorge während des Untersuchungszeitraumes lässt sich festhalten, dass sie, wie im Falle des Deutschen Reiches, trotz des Ausbaus einer ergänzenden, am Vorsorgegedanken orientierten 57 Zu den veränderten „Erscheinungsformen von Armut“ auf dem Land und in der Stadt siehe Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 1, 181ff. und 188ff. Allgemein zur sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung im 19. Jahrhundert am Beispiel Deutschlands und in sozialgeschichtlicher Perspektive F.-W. Henning, Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands; J. Kocka, Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung, Bd. 2; H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3. 58 Siehe den Artikel „Armenwesen“, in: Meyers Konversations-Lexikon, Jahres-Supplement (1890–1891), S. 1866. 59 Die Begriffe ‚Armenpflege‘ und ‚Armenwesen‘ werden in dieser Arbeit – trotz zeitgenössischer Nuancierungen – synonym für ‚Armenfürsorge‘ verwendet. 60 Sachße/Tennstedt definieren Armenfürsorge generell als die am „unentbehrlichen MinimalLebensunterhalt orientierte traditionelle Form der Armenunterstützung“, vgl. Sachße/ Tennstedt, Geschichte, Bd. 2, S. 11. 61 Das Deutsche Reich führte als erstes Land eine Krankenversicherung (1883), Unfallversicherung (1884) Invaliditäts- und Altersversorgung (1889) ein. Vgl. hierzu Metzler, Der deutsche Sozialstaat; F. Raden, Barmherzige Mächte; Reidegeld, Staatliche Sozialpolitik. 62 Vgl. Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 2, S. 11.

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Infrastruktur grundsätzlich in einem von der Lohnarbeit unabhängigen Unterstützungssystem verharrte und somit einen nachrangigen und diskriminierenden Charakter beibehielt. Die Armenfürsorge wurde als letzte Instanz zur Linderung der äußersten Not verstanden. Hierzu hatten die Städte und Kommunen eine – wenngleich inhaltlich sehr unbestimmte – gesetzliche Pflicht.63 Da das Problem der Armut meist weder in seinem sozioökonomischen Strukturzusammenhang noch als Feld sozialpolitischer Betätigung gesehen wurde64, blieben moralische Fragen nach Schuld und Würdigkeit des Verarmten wichtige Kriterien in der öffentlichen Armenpflege. Die örtlichen Armenbehörden interpretierten ihre Rolle daher nicht selten im Sinne einer polizeilichen Disziplinarmacht65: Eine strenge Kontrolle und quasi strafrechtliche Behandlung der Bittsteller durch die Armenverwaltungen, der Verlust des Wahlrechtes, Stigmatisierung und soziale Ausgrenzung, Arbeitszwang und Zwangserziehung waren oftmals die Folge. Der Umgang mit den Bedürftigen konnte allerdings je nach Ort und Region stark variieren. Während sich die öffentliche Armenfürsorge in den großen Städten und industriellen Zentren immer weiter ausdifferenzierte und zu einem „System persönlicher Dienstleistungen entwickeln konnte“66, lagen auf dem Land oftmals andere Dynamiken vor.67 Letztlich spielten vor allem die finanziellen Möglichkeiten, das sozialpolitische Selbstverständnis und ein oftmals undurchsichtiges Eigenleben der städtischen oder ländlichen Verwaltungspraxis eine entscheidende Rolle dabei, wie dem Armutsproblem in unterschiedlichen europäischen Städten und Regionen begegnet wurde.68 63 Ein komplementärer Unterstützungsanspruch im Sinne eines positiven sozialen Rechtes entwickelte sich in Deutschland erst in der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik. Zur Herausbildung des Sozialrechts vgl. A. Hänlein/F. Tennstedt, Geschichte des Sozialrechts, in: B. Maydell/F. Ruland/U. Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, S. 67–112. Vergleichbare Entwicklungen lagen in England und Frankreich vor, wo es ebenfalls keinen Rechtsanspruch auf Armenunterstützung gab, vgl. Metz, Geschichte der sozialen Sicherung, S. 47–77. 64 Dies verdeutlicht vor allem Daniel Rodgers sehr anschaulich: Rodgers, Atlantiküberquerungen, S. 238–245. 65 Vgl. Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 1, S. 212f.; Sachße/Tennstedt (Hrsg.), Soziale Sicherheit. Zum Verhältnis von Polizei und Wohlfahrt siehe ferner Jessen, Polizei, in: GG 20 (1994), S. 157–180. 66 Sachße, Mütterlichkeit, S. 35. 67 Die vergleichsweise niedrigen Zahlen von Unterstützungsfällen in ländlichen Regionen verweisen auf eine grundlegend andere Situation als in den Städten. Es liegt nahe, dass eine höhere Hemmschwelle der Betroffenen zur Beanspruchung der öffentlichen Armenpflege vorlag. Zum anderen dürften die Existenz informeller Hilfsnetzwerke und unterschiedliche Formen der ‚Ökonomien des Notbehelfs‘ manche Armutsrisiken abgefedert haben. Speziell zur Armenfürsorge und zum Alltagsleben sozialer Unterschichten auf dem Land vgl. Ammerer (Hrsg.), Armut auf dem Lande; I. Brandes/K. Marx-Jaskulski (Hrsg.), Armenfürsorge und Wohltätigkeit. Ländliche Gesellschaften in Europa, 1850–1930; Lerche, Alltag und Lebenswelt von heimatlosen Armen. Zu Formen der ‚Ökonomien des Notbehelfs‘ vgl. Gestrich/King/Raphael (Hrsg.), Being Poor; Hurren, Protesting about Pauperism; Fuchs, Gender and Poverty. 68 Steven King macht darauf aufmerksam, wie schwer es für Historiker ist, sich aufgrund der ungleich ausgeprägten lokalen Überlieferungen ein Bild von den tatsächlich gewährleisteten

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Zu den traditionellen Formen der Armenunterstützung gehörten schließlich auch die kirchlichen, privaten oder unternehmerischen Initiativen. Sie widmeten sich ebenfalls der Armenfürsorge und wuchsen gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einer unüberschaubaren Menge an.69 Darunter fielen beispielsweise philanthropische Gesellschaften, Vereine der bürgerlichen Sozialreform, die Frauenbewegung, Stiftungen sowie die konfessionellen Fürsorgebestrebungen. Anders als dies im rechtlich und finanziell eingeengten Rahmen der öffentlichen Armenpflege möglich und vorgesehen war, konnten die private und kirchliche Wohltätigkeit oftmals als Ideengeber und Motor für den Ausbau von Fürsorgestrukturen in Erscheinung treten.70 Die Armenfürsorge des Deutschen Reiches und diejenige anderer Staaten umfasste im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert also ein umfassendes Gebilde an heteronomen Einrichtungen und Praktiken auf sehr unterschiedlichen Ebenen. Berücksichtigt man diese Gesichtspunkte, erscheint es sinnvoll, den Begriff Armenfürsorge nicht nur auf das öffentliche, steuerfinanzierte Sicherungssystem anzuwenden. Aus diesem Grund werden unter Armenfürsorge, sofern nicht ausdrücklich als öffentliche Armenfürsorge oder private Wohltätigkeit gekennzeichnet, alle institutionell organisierten Maßnahmen gegen Armut verstanden. Armenfürsorge wird in diesem Sinne als ‚Fürsorgesystem‘ gedacht. 3.2. ‚Fürsorgesysteme‘ und ‚Fürsorgekulturen‘ Der Begriff ‚Fürsorgesystem‘ bezeichnet das dynamische Zusammenwirken der öffentlichen und privaten Akteure, Institutionen, Gesetze, Verwaltungen und Fürsorgetraditionen, die an der Organisation und Durchführung der Armenunterstützung beteiligt waren. Dieses ‚Fürsorgesystem‘ lässt sich als ein komplexes Zusammenspiel verschiedenster Kräfte auf unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Ebenen charakterisieren, wobei die einzelnen Akteure nicht selten in einem produktiven Konkurrenzverhältnis zueinander standen.71

Unterstützungsleistungen in unterschiedlichen europäischen Regionen zu machen, vgl. King, Welfare Regimes and Welfare Regions in Britain and Europe, c.1750–1860, in: Journal of Modern European History 9 (2011), 1, S. 47. 69 Für einen Überblick über die unterschiedlichen Akteure vgl. Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 1, S. 222ff. Zum Verhältnis von öffentlicher und privater bzw. kirchlicher Fürsorge vgl. ebd., S. 241ff.; W. Rudloff, Private Armenpflege und konfessionelle Wohltätigkeit im „profanen Diskurs“ des Kaiserreichs, in: Maurer/Schneider (Hrsg.), Konfessionen, S. 118–140, sowie vom Bruch, Bürgerlichkeit, hier S. 201ff. Über Formen der „mixed economy of welfare“, in international vergleichender Perspektive siehe Harris/Bridgen (Hrsg.), Charity and Mutual Aid; M. Katz/Chr. Sachße (Hrsg.), The Mixed Economy of Social Welfare. 70 Siehe auch Sachße, Mütterlichkeit, S. 75. 71 Der Begriff ‚Fürsorgesystem‘ wird in einfache Anführungszeichen gesetzt. Damit soll angedeutet werden, dass er weniger theoriegebunden verwendet wird als dies bei Sachße und Tennstedt der Fall ist. Sie bezeichneten den Interaktionszusammenhang innerhalb der Armenfürsorge in Anlehnung an die soziologische Systemtheorie ebenfalls als „System der Fürsor-

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Die praktische Ausgestaltung dieses Unterstützungssystems war von vielen Faktoren beeinflusst: Rechtliche, sozialpolitische, wirtschaftliche, soziokulturelle und regionale Eigenheiten wirkten auf die historisch gewachsenen Fürsorgestrukturen, Pfadabhängigkeiten definierten den Spielraum für Veränderungen und Reformen.72 Damit waren die unterschiedlichen ‚Fürsorgesysteme‘ von spezifischen Eigendynamiken und Fürsorgetraditionen gekennzeichnet, die es in Hinblick auf die möglichen Einwirkungen durch internationale Austauschprozesse jeweils im Einzelfall zu berücksichtigen gilt.73 Es seien an dieser Stelle lediglich einige sehr allgemeine Grundaspekte und Grundtendenzen der Organisationsprinzipien angesprochen, welche die ‚Fürsorgesysteme‘ speziell auf nationaler Ebene beeinflussten. Wichtige Unterschiede zwischen einzelnen Ländern gab es in Bezug auf die rechtliche Grundlage (‚gesetzlich‘ oder ‚freiwillig‘), den Grad der Verstaatlichung und der finanziellen Lastenverteilung, das Verhältnis von öffentlicher Armenfürsorge und Privatwohltätigkeit, die vorherrschende Pflegeform (‚offen‘ oder ‚geschlossen‘) und die berufliche Situation der Armenpfleger (besoldete Ämter oder freiwillige Armenpfleger).74 Die Unterstützung von Hilfsbedürftigen war in den deutschen Staaten etwa durch eine obligatorische, in Kommunen verankerte75 und über Armendirektionen beziehungsweise Armenverbände organisierte öffentliche Armenfürsorge gewährleistet. Den rechtlichen Handlungsrahmen bildete das preußische Gesetz über den Unterstützungswohnsitz, dessen Wirkungsbereich 1871 auf das ganze Reich ausgedehnt wurde.76 Neben den zahlreichen privaten

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ge“ sowie „Wohlfahrtspflege“ und kennzeichneten die darin liegenden funktionalen, reproduktiven und autoreferentiellen Prozesse, vgl. Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 2, S. 9ff. In diesem Zusammenhang wurde der System-Begriff auch schon in der zeitgenössischen Literatur verwendet: Statt einer reißbrettartig geplanten Organisationsstruktur handelte es sich bei der Armenfürsorge demnach um ein historisch gewachsenes Gebilde sich gegenseitig beeinflussender und teilweise auch ergänzender Strukturen, Akteure und Rechtsformen. Vgl. W. Roscher, System der Armenpflege. So betonen neuere Forschungen einerseits die Uneinheitlichkeit der ‚Fürsorgesysteme‘ innerhalb eines Nationalstaates. Andererseits heben sie die Ähnlichkeiten bestimmter „welfare regimes“ unterschiedlicher Regionen in verschiedenen Ländern hervor, die aufgrund vergleichbarer Rahmenbedingungen ähnliche Unterstützungspraktiken („welfare outcomes“) hervorbrachten. Vgl. hierzu King, Welfare Regimes, in: Journal of Modern European History 9 (2011), 1, S. 44–67. King skizziert darin eine methodisch reflektierte Typologie unter Berücksichtigung der Absichten und „emotionalen Wirkung“ der Fürsorgeorganisation. Zeitgenössische Darstellungen unterschieden in Hinblick auf diese Eigenschaften idealtypisch zwischen dem sogenannten „germanischen“, „romanischen“ und „angloamerikanischen System der Armenpflege“, vgl. Münsterberg, Übersicht, in: SDV 35 (1898), S. 1. Diese Einteilung wich jedoch mit der Zeit differenzierteren Betrachtungsweisen, wie z. B. im „Handẅrterbuch der Staatswissenschaften“, vgl. „Armengesetzgebung in den einzelnen Ländern“, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften (3. Auflage, 1909), S. 30–143 sowie in der Einleitung zum Artikel „Armenwesen“ von Aschrott, ebd., S. 1–5. Vgl. hierzu Reulecke, Die Armenfürsorge, in: Blotevogel (Hrsg.), Kommunale Leistungsverwaltung, S. 71–80. Im Gegensatz zum früher vorherrschenden Heimatprinzip, wonach eine Unterstützungsleistung nur in der Heimatgemeinde geleistet wurde, hatte somit jede hilfsbedürftige Person das

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und kirchlichen Wohltätigkeitseinrichtungen, welche als Teil des „dualen Systems der Fürsorge“ 77 weitgehend unabhängig und ohne staatliche Unterstützung agierten, war das vielfach kopierte Elberfelder System für die Praxis der öffentlichen Armenfürsorge vielerorts im Deutschen Reich entscheidend. Seine Organisationsprinzipien und Weiterentwicklungen, wie etwa durch die Einführung des Straßburger Systems78, definierten den Handlungsrahmen der deutschen Armenfürsorge im ausgehenden 19. Jahrhundert. Die Armenfürsorge in Frankreich kennzeichnete ein hoher Grad privater und vor allem kirchlicher Tätigkeit, die durch öffentliche Mittel finanziell unterstützt wurde. Wenngleich die Armenpflege ursprünglich keinen obligatorischen Charakter hatte und zeitweilig entsprechend als ‚fakultative Maßnahme‘ bezeichnet wurde, umfasste das ‚französische Fürsorgesystem‘ vielfältige Hilfsstrukturen in Form der geschlossenen Anstaltspflege (‚hospices et hôpitaux‘) beziehungsweise der offenen Armenunterstützung (z. B. die ‚bureaux de bienfaisance‘), welche einer halbamtlichen und zentralisierten Kontrolle unterstanden. Die Armenfürsorge in England und den USA wurde hingegen über Zentral- und untergeordnete Ortsarmenbehörden organisiert. Das prägende Element stellte die ‚geschlossene Armenpflege‘ (‚in-door relief‘) in Armenhäusern dar, die als effektive Abschreckungsmaßnahme (‚Werkshausprinzip‘, seit 1834) durchaus einige Anerkennung hervorrief. Von großer Bedeutung war ferner die besonders weit entwickelte Privatwohltätigkeit. Die Wohltätigkeitsvereine, insbesondere die Charity Organisation Society, traten als wichtige Akteure des städtischen Fürsorgewesens in Erscheinung.79 Diese und weitere Rahmenbedingungen bestimmten die Fürsorgedebatten und Reformprojekte der einzelnen Akteure, sie bestimmten aber auch die Anknüpfungspunkte und die Grenzen der internationalen Verständigung. Dabei gilt zu betonen, dass bereits von Zeitgenossen ein grenzüberschreitend ähnlich verlaufender Entwicklungstrend in allen ‚Fürsorgesystemen‘ beobachtet wurde: Die Ausweitung der obligatorischen Unterstützungsangebote, mehr staatliche EingrifRecht, auch in der Gemeinde Unterstützung zu beantragen, wo sie sich tatsächlich aufhielt. Ausgenommen von der Regelung blieben zunächst Bayern und Elsass-Lothringen. Ähnliche Gesetze gab es in Fraunkreich und England, nicht jedoch in Österreich, wo das Heimatprinzip erhalten blieb. Zur Geschichte und Entwicklung des Unterstützungswohnsitzes: E. Reidegeld, Armenpflege und Migration, in: M. Bommes/J. Halfmann (Hrsg.), Migration in nationalen Wohlfahrtsstaaten, S. 253–282; Sachße/Tennstedt, Sozialpolitik vor dem Sozialstaat, in: ZfS 47 (2001), S. 205–222. 77 Sachße, Verein, Verband und Wohlfahrtsstaat. Entstehung und Entwicklung der dualen Wohlfahrtspflege, in: T. Rauschenbach/Chr. Sachße/T. Olk (Hrsg.), Von der Wertgemeinschaft zum Dienstleistungsunternehmen, S. 123–149. 78 Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 2, S. 25ff. 79 Für einen raschen Überblick vgl. A. Brundage, The English poor laws; Metz, Die Geschichte der sozialen Sicherheit, insb. S. 52ff. und S. 66ff.; J. Weiss, Origins of the French Welfare State, in: French Historical Studies 13 (1983), S. 47–78. Für eine zeitgenössische, vergleichende Überblicksdarstellung vgl. den Artikel „Armenwesen“, dort „Einleitung“ sowie „Armengesetzgebung in den einzelnen Ländern“, in: Handẅrterbuch der Staatswissenschaften (3. Auflage, 1909), S. 1–143.

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fe und Koordination speziell auch der privaten Wohltätigkeit sowie die Ausdifferenzierung des Fürsorgeangebots stellten sich als Merkmale aller ‚Fürsorgesysteme‘ heraus und boten Ansatzpunkte für grenzübergreifende Diskussionen. Neben den eben erwähnten Rahmenbedingungen wirkten bestimmte Leitkonzepte, Fachdebatten und Armutsdiskurse auf das Denken und Handeln der wichtigen Organisatoren und Akteure des Armenwesens ein und nahmen dadurch Einfluss auf die jeweilige Fürsorgepraxis. Die Faktoren lassen sich als ‚Fürsorgekultur‘ zusammenfassen.80 Im Gegensatz zur Wohlfahrtsstaatsforschung soll hier ‚Kultur‘ jedoch nicht als Korrektiv zur Erklärung von Divergenzen in unterschiedlichen ‚Wohlfahrtswelten‘ herangezogen werden. ‚Fürsorgekultur‘ wird vielmehr als ein komplexes, für die ‚Fürsorgesysteme‘ konstitutives Ideen- und Wertsystem konzipiert: Es umfasst Leitmotive, Handlungsmodelle und andere Wissensbestände, welche einen sinnstiftenden Begründungszusammenhang bereitstellten und somit auf sozialpolitische Prozesse vorgeschaltet einwirkten. Ein solches entterritorialisiertes und fluides Kulturverständnis ist im Kontext sozialer Aushandlungsprozesse und Ordnungsvorstellungen angesiedelt. Es tritt jeder Form der Essentialisierung entgegen und misst transnationalen Verflechtungen eine große Bedeutung bei. Indikatoren, die auf die Existenz einer oder mehrerer spezifischer ‚Fürsorgekulturen‘ hinweisen, gibt es viele.81 Die Einheitlichkeit und Häufigkeit bestimmter Schlüsselelemente ermöglichen einen empirischen Zugriff. Dazu gehören zum einen die Armutsbilder und Armutsdiskurse, die auf ein bestimmtes Armutsverständnis schließen lassen. Eine wichtige Rolle spielten zum anderen die Kohärenz und Stabilität von Leitbildern, welche als Begründungen für die Organisation der Armenfürsorge herangezogen wurden. Als kollektive Sinnkonstruktion zeigte und reproduzierte sich eine spezifische ‚Fürsorgekultur‘ unter anderem in den Fürsorgedebatten. Außerdem rücken bei solch einer Analyse auch die Akteure der Armenfürsorge und ihr spezifisches Selbstverständnis in den Mittelpunkt, da ihnen im Prozess der ‚Kulturbildung‘ besonders viel Einfluss zugeschrieben werden kann. Die hier skizzierten deskriptiven Begriffe ‚Fürsorgesystem‘ und ‚Fürsorgekultur‘ stehen keineswegs für ein klar abgeschlossenes, nationalstaatliches Gebilde. 80 Der Begriff ‚Fürsorgekultur‘ lehnt sich an die Ansätze der Wohlfahrtsstaatsforschung an, in deren Rahmen das Konzept einer Wohlfahrtskultur schon länger verwendet wird. Es geht darum, den Einfluss kultureller Faktoren, wie z. B. denjenigen kultureller Werte und Leitbilder, auf die Entwicklung wohlfahrtsstaatlicher Strukturen verständlich zu machen. Vgl. hierzu F.X. Kaufmann, Wohlfahrtskultur, in: R. Nippert/Chr. Ferber (Hrsg.), Kritik und Engagement, S. 19–27; B. Pfau-Effinger, Wohlfahrtsstaatliche Politiken und ihre kulturellen Grundlagen, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 34 (2009), 3, S. 3–21; C. Ullrich, Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtskultur. Zu den Perspektiven kultur- und wissenssoziologischer Sozialpolitikforschung (Arbeitspapier Nr. 67). 81 Pankoke/Sachße bezeichnen sie als „innere Kräfte“, vgl. dies., Armutsdiskurs und Wohlfahrtsforschung, in: W. Leibfried/W. Voges (Hrsg.), Armut im modernen Wohlfahrtsstaat. Folgende Studien messen den ‚kulturellen Faktoren‘, wenngleich jeweils verschieden operationalisiert, ausdrücklich viel Bedeutung bei: Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft; Himmelfarb, Poverty and Compassion; Pankoke, Wechselwirkung aus Freiheit, in: Gabriel (Hrsg.), Europäische Wohlfahrtsstaatlichkeit, S. 99–128.

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Die Armenfürsorge und die Fürsorgeexpertise des Deutschen Reiches sind zwar die Referenzpunkte der Untersuchung. Entgegen einer Betrachtung, welche den nationalen Bezugsrahmen als gesetzte Einheit gewissermaßen verdinglicht, wird hier die Ansicht vertreten, dass es sich beim Nationalstaat um ein Konstrukt handelt, dessen Konfigurationen zwar wirkungsmächtig und für das Zusammenwirken der Akteure im ‚Fürsorgesystem‘ und die Herausbildung einer ‚Fürsorgekultur‘ eine wichtige Rolle spielten, aber zugleich durchlässige Grenzen und vielfältige Formen grenzüberschreitender Interaktionen aufwiesen.82 Diese methodisch reflektierte „Relativierung des Nationalstaats“83 ermöglicht und vereinfacht die Analyse der unterschiedlichen Vermittler, welche die Armenfürsorge auf unterschiedlichen Ebenen gestalteten und repräsentierten. 3.3. Fürsorgeexperten und Sozialreform-Bewegungen Die hier angewandte Forschungsperspektive rückt vor allem jene dominanten und gut vernetzten sozialreformerischen Gruppierungen in den Fokus, die alle Bereiche der Armenfürsorge als Organisatoren und Wortführer prägten. Ihnen gelang es, Debatten, Institutionen und Sichtweisen in besonderem Maße zu beeinflussen und sich als Träger beziehungsweise Vermittler einer ‚Fürsorgekultur‘ hervorzutun. Um die spezifische Verfasstheit dieses Fürsorgeexpertentums und ihre generelle internationale Vergleichbarkeit herauszustellen, eignet sich ein Blick auf die Zusammensetzung der Internationalen Kongresse für Armenpflege und Wohltätigkeit.84 Auf ihnen präsentierte sich ein repräsentativer Querschnitt der Fachwelt, die im Mittelpunkt dieser Arbeit steht. Auf diesen Veranstaltungen zeigte sich zugleich ihre Eigentümlichkeit. Die Personen, die auf die internationalen Kon82 Vgl. auch Zimmermann, Arbeitslosigkeit, S. 17: „Weit davon entfernt, den Staat als vordefinierten strukturellen Rahmen zu postulieren, nähert man sich hier dem Staat über die miteinander konkurrierenden Rahmen, die dazu beitragen, ihn zu formen.“ Die darin geäußerte Kritik an der lange dominierenden Vergleichsgeschichte, welche dazu tendierte, nationale Unterschiede und Besonderheiten hervorzuheben und zu essentialisieren, führte man unter dem Schlagwort „methodological nationalism“ zusammen, vgl. A. Wimmer/N. Schiller, Methodological nationalism, in: Global Networks 2 (2002), S. 301–334. Methodische Zugänge wie die der „connected history“, der Transfergeschichte oder der „histoire croisée“ zielen auf die Überwindung dieser nationszentrischen Engführung. Einen schnellen Überblick über die einzelnen Forschungszugänge bietet Pernau, Transnationale Geschichte, S. 36ff. 83 Zur reflektierten Bedeutung des Nationalstaats im Rahmen der transnationalen Geschichtsschreibung siehe Conrad, Sozialpolitik transnational, S. 439; ders., Social policy after the transnational turn, in: Petersen/Kettunen (Hrsg.), Beyond Welfare State Models, S. 218–240, sowie I. Löhr/R. Wenzlhuemer (Hrsg.), The Nation State and beyond, Einleitung. Zugleich warnen Christoph Conrad und Sebastian Conrad davor, durch einseitige Fokussierung auf internationale Vernetzungen einen am Rande liegenden Forschungsgegenstand zu überzeichnen, vgl. Conrad/Conrad, Wie vergleicht man Historiographien?, in: Chr. Conrad (Hrsg.), Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich, S. 17f. 84 Die Kongresspublikationen beinhalteten immer eine ausführlich dokumentierte Teilnehmerliste, vgl. beispielsweise Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 1, S. 27ff. bzw. Xff.

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gresse gingen, waren weder ‚ausgebildete‘ Fachkräfte noch Sozialwissenschaftler. Das Berufsbild der Sozialen Arbeit sollte aus dem synergetischen Effekt des internationalen Wissenstransfers heraus erst noch entspringen. Ärzte und Nationalökonomen waren ebenfalls selten anzutreffen, das gleiche gilt für philanthropische Unternehmer. Die wenigen offiziellen Regierungsvertreter, die meist als Ehrenpräsidenten eingeladen waren, konnten den Kongressen nicht ihr Gepräge geben. Das Gros der Referenten und Kongressteilnehmer bestand hingegen auf der einen Seite aus Juristen und Verwaltungsfachleuten. Je nach Herkunftsland und ‚Fürsorgesystem‘ waren sie entweder Beamte der kommunalen Armenverwaltung oder der ministerialen Bürokratie. Auf der anderen Seite kamen viele ehren- und hauptamtliche Armenpfleger aus sozialen Vereinen, entweder als offizielle Abgesandte oder private Interessenten. Nicht wenige stachen als Gründer oder Vorstände von Wohltätigkeitseinrichtungen hervor, die teilweise weit über die Ländergrenzen hinaus bekannt waren. Besonders taten sich hierbei die Delegierten größerer Verbandsorganisationen hervor. Vertreterinnen der Frauenbewegung und Kirchenvertreter waren zunächst eine Minderheit, traten aber ab 1900 vermehrt in Erscheinung. Generell kann gesagt werden, dass viele der Kongressteilnehmer in ihrer Person mehrere Funktionen vereinten. Ausgehend von diesen Gemeinsamkeiten lässt sich die spezifische Fachwelt der Armenfürsorge durchaus länderübergreifend miteinander vergleichen. Denn auch wenn im Einzelnen Unterschiede vorlagen, gab es ein Merkmal, das die meisten Teilnehmer international verband: Sie können der sozialpolitischen Formation zugeordnet werden, die sich aus den wohlhabenderen, gebildeten und sozial engagierten bürgerlichen Mittel- und Oberschichten rekrutierten und in der deutschsprachigen Historiographie mit dem Begriff der bürgerlichen Sozialreform gleichgesetzt wird.85 Dieses sozialpolitische Konglomerat entwickelte im Laufe des 19. Jahrhunderts eine enorme sozialpolitische Gestaltungskraft. Ihre Anhänger begriffen sich im Spannungsfeld der antagonistischen sozioökonomischen Kräfte als Vertreter eines mediatisierenden ‚Dritten Weges‘ und schufen eine weitläufige Vereinskultur.86 Trotz ihrer heterogenen Zusammensetzung und der vielen regionalen Schattierungen bildeten solche moderate sozialreformerische Strömungen in Europa 85 Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 2, S. 15ff.; Tennstedt, Sozialreform in Deutschland, in: ZfS 32 (1986), S. 10–24; vom Bruch, Bürgerlichkeit, hier vor allem „Bürgerliche Sozialreform im Kaiserreich“, S. 166–272; ders. (Hrsg.), Weder Kommunismus noch Kapitalismus. Vgl. ferner ausführlich zu deutschen Reformermilieus und Gruppierungen progressiver Sozialreformer Frohman, Poor relief, ab S. 112ff. sowie K. Repp, Reformers, critics, and the paths of German modernity. 86 Für das Deutsche Reich muss betont werden, dass die Sozialreformbewegungen vor allem als ein kommunales Projekt anzusprechen sind: „Dabei waren Wissenschaftlichkeit und rationale Verwaltungsorganisation wichtige Leitformeln, mit denen man sich von karitativen Hilfskonzepten und autoritärer Hoheitsverwaltung abgrenzte.“ Vgl. Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 2, S. 18. Siehe ferner T. Küster, Bürgertum und städtische Armut, in: Westfälische Forschungen 43 (1993), S. 58–80; A. Lees, Cities, Sin, and Social Reform in Imperial Germany; J. Reulecke, Stadtbürgertum und bürgerliche Sozialreform, in: L. Gall (Hrsg.), Stadt und Bürgertum im 19. Jh., S. 171–197.

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und in den USA im Kern ähnliche Strukturen heraus und prägten beziehungsweise dominierten die nationalen und internationalen Debatten rund um die Fragen der Armutsbekämpfung. Der bürgerlichen Sozialreform, der nébuleuse réformatrice oder den progressives lag eine ähnliche Denkwelt zugrunde und sie pflegten einen gemeinsamen Habitus, der sich in Institutionen, Netzwerken und diskursiven Praktiken reproduzierte.87 Sie verband der unbedingte Wille, auf die Gesellschaft gestalterisch und in ihrem Sinne einzuwirken.88 Die Ähnlichkeit der sozialen Problemlagen unterschiedlicher Länder begünstigte den internationalen Austausch der Sozialreformer. Entscheidend für die Verständigung war eine ‚gemeinsame Sprache der Reform‘89. Der internationale Austausch in unterschiedlichen Sprachen hatte freilich manche Hürde der Verständlichkeit und Übersetzbarkeit zu nehmen. Die Kompatibilität der Verwaltungs-, Rechts- und Medizinbegriffe in der Armenfürsorge bildete jedoch eine geeignete Kommunikationsgrundlage, außerdem bot die sozialwissenschaftliche Methodik ein anerkanntes Instrumentarium an Strategien, Routinen und Problemlösungsansätzen.90 Die Theoretiker und Praktiker der Armenfürsorge sind allerdings insofern von der wissenschaftlichen Sozialreform91 (‚Kathedersozialisten‘) oder der Sozialre-

87 Marcus Gräser konnte in seiner Studie „Wohlfahrtsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat“ darstellen, dass in den USA und in Deutschland trotz struktureller und institutioneller Unterschiede eine grundsätzlich vergleichbare bürgerliche Sozialreform anzutreffen war, welche die gleiche wissenschaftliche Sprache sprach und den gleichen bürgerlichen Habitus pflegte, vgl. Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft. Diese Vergleichbarkeit wird auch bei Thomas Adam hervorgehoben, der darüber hinaus den transatlantischen Ideentransfer als wichtigen Grund für die Entstehung ähnlicher bürgerschaftlicher Hilfs- und Wohltätigkeitsstrukturen in Europa und den USA nennt: Adam, Bürgerliches Engagement und Zivilgesellschaft in deutschen und amerikanischen Städten des 19. Jahrhunderts im Vergleich, in: R. Jessen/S. Reichardt/A. Klein (Hrsg.), Zivilgesellschaft als Geschichte, S. 155ff. Siehe ferner zur Vergleichbarkeit sozialreformerischer Gruppierungen Baldwin, The Politics of Social Solidarity; Conrad, Sozialpolitik transnational, in: GG 32 (2006), S. 437–444; Rodgers, Atlantiküerquerungen, S. 65ff.; Topalov, Les „réformateurs“ et leurs réseaux: enjeux d’un objet de recherche, in: Topalov (Hrsg.), Laboratoires, S. 11–60. 88 Zur „Begriffsgeschichte von Sozialreform“ vgl. auch Chr. Dipper, Gesellschaftspolitik vor dem Wohlfahrtsstaat, in: Sozialwissenschaftliche Informationen 33 (2004), S. 12–26, sowie ders., Sozialreform. Geschichte eines umstrittenen Begriffs, in: Archiv für Sozialreform 32 (1992), S. 323–351. 89 Frei nach Topalov („Reform kann als gemeinsame Sprache verstanden werden“), siehe Topalov, Verständigung durch Missverständnis, in: Liedtke (Hrsg.), Religion, S. 167. 90 Vgl. ebenso Saunier, Trajectoires: les régimes circulatoires du domaine social 1800–1940, in: Genèses 71 (2008), S. 4–25, insb. S. 7; vgl. ferner Chr. Conrad, Die Sprachen des Wohlfahrtsstaates, in: S. Lessenich (Hrsg.), Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe, S. 55–72; A. Rasmussen, À la recherche d’une langue internationale de la science, in: R. Chartier/P. Corsi (Hrsg.), Sciences et langues en Europe, S. 139–155. 91 Das Übergewicht des wissenschaftlich-sozialreformerisch geprägten Vereins für Sozialpolitik in der Historiographie zur bürgerlichen Sozialreform entspricht nicht der Bedeutung, die er für die Entwicklung der Armenfürsorge hatte, vgl. Pankoke/Sachße in: Leibfried/Voges (Hrsg.), Armut im modernen Wohlfahrtsstaat, S. 149; Tennstedt/Sachße, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 2, S. 24f.

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form-Bewegung der Arbeiterfrage92 zu unterscheiden, als sie sich lediglich im engeren Sinne mit der Organisation und Praxis der Armenfürsorge und damit einem Bereich beschäftigten, den man ‚außerhalb‘ beziehungsweise ‚unterhalb‘ der Arbeiter- und Wohlfahrtspolitik verortete.93 Neben den kommunalen und privaten Initiativen der Armenfürsorge treten vor allem die großen verbandsähnlichen Vereine als zentrale Akteure hervor.94 Die Autorität und Reputation der dort versammelten Armenpfleger und Verwaltungsfachleute gründete vorrangig in der gesammelten Erfahrung in praktischen Bereichen der Armenpflege, etwa in den städtischen Verwaltungsapparaten oder privatwohltätigen Einrichtungen. Dieser Erfahrungsschatz förderte auch ein spezifisches Berufsethos des Armenpflegers. Vereine und verbandsähnliche Institutionen waren ferner die Treffpunkte, wo man über neueste Themen der Armenfürsorge beriet, Ideen- und Methodenaustausch vorantrieb und einen sozialreformerisch-geprägten Gemeinschaftssinn ausbildete. Sie waren die Orte, wo fürsorgebezogene Standards ausgehandelt und Gesetzesinitiativen erarbeitet wurden, die über diesen Weg in konkrete praktische Umsetzungen münden sollten. Dabei ging es den Gestaltern der Armenfürsorge auch immer um die Verbindung von professioneller Kompetenz mit dem Ideal bürgerschaftlichen oder religiösen Engagements.95 Beide Ideale sollten in die öffentliche Armenfürsorge und in die private sowie kirchliche Wohltätigkeit vermittelt werden. Da es trotz internationaler Vergleichbarkeit keinen Sammelbegriff gibt, werden die Akteure im Folgenden als Fürsorgeexperten, Fürsorgefachleute oder, ent-

92 Zu nennen wäre die einflussreiche Gesellschaft für Soziale Reform, welche sich auf die Belange der Arbeiterbewegung konzentrierte und dabei versuchte, ‚klassenvers̈hnende‘ Reformvorschläge über praktische und vereinsbezogene Aktivitäten in die sozialpolitische Ebene hineinzutragen, vgl. vom Bruch, Bürgerlichkeit, S. 248ff. 93 Es handelte sich insofern um eine spezialisierte ‚Randgruppe‘ der Sozialreform. Auch Daniel Rodgers macht in seiner Studie darauf aufmerksam, dass sich die Mehrzahl der (bis heute) prominentesten Sozialreformer mit den Belangen der Arbeiterklasse auseinandersetzten und die Armutsfrage an den Rand der sozialpolitischen Debatten verdrängte. Vgl. Rodgers, Atlantiküberquerungen, S. 238–245. 94 Dazu zählten beispielsweise der Deutsche Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit, die britischen und amerikanischen Charity Organisation Societies, die französische Société internationale pour l’étude de questions d’assistance oder die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft. Vgl. Deutscher Verein für Öffentliche und Private Fürsorge (Hrsg.), Forum für Sozialreformen; Hurren, Protesting about Pauperism; D. Levine, Die Charity Organization Societies in den Vereinigten Staaten, in: Sachße/Tennstedt (Hrsg.), Soziale Sicherheit; Renard, Assistance et bienfaisance, in: Topalov (Hrsg.), Laboratoires, S. 187–219; B. Schumacher (Hrsg.), Freiwillig verpflichtet, S. 37ff. 95 Vgl. auch Pankoke, Wechselwirkung aus Freiheit, in: Gabriel (Hrsg.), Europäische Wohlfahrtsstaatlichkeit, S. 99–128, insb. S. 120f. In Bezug auf die Sozialreform und Armenfürsorge vgl. Schröder, Arbeiten für eine bessere Welt. Zur Bedeutung und zum Einfluss des Protestantismus bzw. Katholizismus auf die Sozialreform in Deutschland und Europa vgl. Kaiser, Innere Mission als Sozialreform, in: R. Myrrhe/K. Pollmann (Hrsg.), Geschichte als Beruf, S. 209–224; Kaiser (Hrsg.), Soziale Reform; Maurer/Schneider (Hrsg.), Konfessionen.

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sprechend des implizierten Selbstverständnisses, als Sozialreformer96 angesprochen. Solch ein Fürsorgeexperte war in der Regel männlich97, wohlsituiert bürgerlich, juristisch ausgebildet, in der Fürsorgeverwaltung beziehungsweise Privatwohltätigkeit engagiert und hatte eine stark ausgeprägte Bürokratenmentalität: „Besser als gute Gesetze und mangelhafte Verwaltung sind mangelhafte Gesetze und gute Verwaltung.“98 Diese ‚Armenverwalter‘ sozialliberalen bis sozialkonservativen Spektrums dominierten die nationalen und internationalen Fürsorgedebatten. Es gab wenige Frauen99, keine Arbeitervertreter und kaum linkspolitische Denker.100 Trotzdem zeichnete sich in all diesen Grundkoordinaten ab circa 1900 ein langsamer Wandel ab: Neue Expertengruppen und progressive Denkströmungen fanden verstärkt Eingang in die Fürsorgedebatten und überdachten nach und nach die bestehenden Theorien und Praktiken der Armenfürsorge. Wichtig ist die Betonung eines graduellen Übergangs. Neue und alte Ansichten, aber auch personelle Strukturen, überschnitten sich und kennzeichneten diese ambivalente Übergangsphase in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. 3.4. Armut Der Begriff Armut lässt sich methodisch sehr unterschiedlich auffassen. In der Regel wird zwischen absoluter und relativer (oder auch primärer und sekundärer) 96 Mit dem Begriff Sozialreformer werden in dieser Untersuchung speziell die sozialreformerisch geprägten, ‚praxisorientierten‘ Fürsorgeexperten Verwaltungseliten bezeichnet, die im Zentrum dieser Untersuchung stehen. Sie gilt es, wie bereits angedeutet, von anderen sozialreformerischen Gruppierungen, insbesondere von der wissenschaftsorientierten Sozialreform (‚Kathedersozialisten‘) und den Sozialreformern, die sich vorrangig mit der Arbeiterklasse auseinandersetzten, zu unterscheiden. 97 Aus diesem Grund und aus darstellerischen Erwägungen heraus wird in dieser Arbeit auf die weiblichen Formen für Armenpfleger, Fürsorgeexperten und Sozialreformer dann verzichtet, wenn nicht explizit Frauen in der Armenfürsorge thematisiert werden. 98 „Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der 30. Jahresversammlung des deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit“, SDV 94 (1910), S. 20. 99 Auch wenn die Historiographie den spezifisch weiblichen Anteil an der Herausbildung der ‚Fürsorgekulturen‘ betont, darf nicht übersehen werden, dass die öffentliche Armenfürsorge vor dem Ersten Weltkrieg überwiegend in ‚Männerhand‘ blieb. Damit einher ging auch eine ‚männliche‘ Sicht auf die Armenfürsorge. Die männliche Dominanz betraf vor allem die Plan- und Organisationsstellen, aber auch die überwältigende Mehrheit der städtischen Armenpfleger. Auch im Deutschen Verein traten nur sehr vereinzelt Frauen in Erscheinung. Ihre Bemühungen trugen allerdings zu einem allmählichen Bedeutungswandel von Frauen in der Armenpflege und sozialen Arbeit bei, der freilich erst während des Ersten Weltkrieges zum Durchbruch gelangte. Im Bereich der privaten und kirchlichen Wohltätigkeit zeigt sich hingegen ein anderes Bild: Dort war das weibliche Engagement stets ein wichtiger und wesentlicher Bestandteil der Fürsorgepraxis. Vgl. hierzu die in Fn. 30 erwähnte Literatur. 100 Die Annäherung bürgerlich sozialreformerische Kreise an die Arbeiterbewegung blieb, ausgenommen im Bereich der Gesundheitspflege, sporadisch, vgl. vom Bruch, Bürgerlichkeit, S. 191f. und S. 200; Frohman, Poor relief, S. 138ff. sowie „Sozialdemokratie und Wohlfahrtspflege“, in: Sachße, Mütterlichkeit, S. 151–162.

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Armut unterschieden.101 Diese Definition geht im Wesentlichen auf ökonomische Erwägungen zurück und bringt die Schwierigkeit mit sich, dass die vorliegenden Quellen, insbesondere die Armenstatistiken, wenig Anhaltspunkte für eine Quantifizierung von Armut geben.102 In neueren Forschungen wird der Armutsbegriff deutlich erweitert. Unter Berücksichtigung subjektiver, wahrnehmungsorientierter Analysekategorien versucht man speziell die Dimensionen sozialer Isolation und Exklusion in die (historische) Armutsforschung mit einzubeziehen.103 Für die Fragestellung der hier vorliegenden Arbeit ist in erster Linie interessant, wen die zeitgenössischen Fürsorgeexperten im Blickfeld hatten, wenn sie von Armen und Bedürftigen sprachen. Ausgehend von der soziologischen Theoriebildung Simmels wird ‚Armut‘ daher im Folgenden als das konzipiert, was die Theorie und Praxis der Armenfürsorge als solche betrachtete und anerkannte.104 In diesem Sinne konstituieren sich Armut und Armenfürsorge gegenseitig und der Begriff ‚Armut‘ wird in der Form als eine für den sozialpolitischen Diskurs relevante soziale Kategorie festgelegt, in der die Fürsorgeexperten über sie schreiben, sprechen und gegen sie agieren.105 3.5. Internationale Vernetzung und transnationale Verflechtung Die Untersuchung beabsichtigt aufgrund ihrer Fragestellung auch einen Beitrag zur transnationalen Geschichtsschreibung zu leisten. Hierzu sind einige konzeptuelle Bemerkungen geboten.106 101 Unter absoluter Armut versteht man den Mangel an existenzsichernden Gütern, relative Armut bezieht sich auf den im gesellschaftlichen Umfeld üblichen Lebensstandard. Weiterführend Schäuble, Theorien, Definitionen und Beurteilung der Armut. 102 Die Armenstatistiken standen schon bei Zeitgenossen in der Kritik, vgl. E. Mischler, Die Methode der Armenstatistik. Über die Schwierigkeit, Armut statistisch zu erfassen, siehe auch Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 1, S. 236. 103 Kühberger, Armutsforschung und Geschichtswissenschaft, in: T. Böhler (Hrsg.), Armut als Problem, S. 43–53, insb. 46ff. Hierbei gilt es vor allem die Arbeiten des Trierer Sonderforschungsbereiches „Fremdheit und Armut“ (SFB 600) zu erwähnen, vgl. Gestrich/Lutz (Hrsg.), Inklusion, Exklusion; Raphael (Hrsg.), Zwischen Ausschluss und Solidarität. Vgl. ferner für eine soziologische Auseinandersetzung mit dem Begriff ‚Armut‘: S. Paugam, Die elementaren Formen der Armut. 104 „Und dies wird wohl allgemein gelten: soziologisch angesehen ist nicht die Armut zuerst gegeben und daraufhin erfolgt Unterstützung [...], sondern derjenige der Unterstützung genießt bzw. sie nach seiner soziologischen Konstellation genießen sollte [...] dieser heißt der Arme. [...] Der Arme als soziologische Kategorie entsteht nicht durch ein bestimmtes Maß von Mangel und Entbehrung, sondern dadurch, dass er Unterstützung erhält oder sie nach sozialen Normen erhalten sollte.“ Vgl. G. Simmel, Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, S. 345–374, Kapitel VII: Der Arme, hier S. 371f. 105 Auf dieselbe Weise wird hier auch die soziale Kategorie ‚Bedürftigkeit‘ verwendet, die noch stärker als ‚Armut‘ die Abhängigkeit von fremder Hilfe hervorhebt. Zur Entstehung sozialer Kategorien vgl. Zimmermann, Arbeitslosigkeit, S. 9ff. 106 Die Publikationen und Beiträge zur transnationalen Geschichtsschreibung sind inzwischen unüberschaubar angewachsen. Einführend zu den Theoriedebatten und methodologischen

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Vernetzungs- und Austauschprozesse in der Armenfürsorge konnten je nach Ort, Zeit und Inhalt sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Das internationale Kongresswesen, der Austausch von Fachliteratur, Studienreisen und persönliche Beziehungen verweisen auf vielfältige institutionelle und persönliche Verbindungen. Sie lassen sich als ‚internationale Vernetzungen‘ zusammenfassen und sofern eine internationale Kooperation beabsichtigt war, beschreibt der zugrundeliegende Prozess eine Internationalisierung.107 Solche Vernetzungen verlangen eine genaue Analyse, weil in ihnen das subjektiv erlebte oder auch normativ gewünschte Verhältnis der Protagonisten zum Ausdruck kommt. Darüber hinaus können auch andere grenzüberschreitende Prozesse ausfindig gemacht werden, die in einer vergleichsweise stark vernetzten Umgebung generell vorliegen. So lassen sich Wissensbestände rekonstruieren, die sowohl mit als auch ohne erkenntliche Absicht ihrer Wortführer aufgrund der Durchlässigkeit und der Unbestimmtheit des internationalen Systems miteinander verflochten waren. Fürsorgekonzeptionen und Armutsdiskurse folgten ihren eigenen, subjekt- und ortsunabhängigen Diffusionsdynamiken, ohne dass ihre Herkunft an sich permanent thematisiert und als Grundlage für eine subjektive Positionsbestimmung in der internationalen Staatenwelt genommen worden wäre. In diesen Fällen wird im Folgenden von ‚transnationalen Verflechtungen‘ gesprochen, wobei ‚transnational‘ im Sinne des Wortes ‚grenz-überschreitend‘ angewandt wird.108 Der zugrundeliegende Prozess kann entsprechend als ‚Transnationalisierung‘109 zusammengefasst werden. Ein solcher Vorgang lässt sich in einem zunehmend globalisierten Kultur-, Wissenschafts- und Wirtschaftssystem besonders häufig beobachten.110 Für Vernetzungspraktiken und Austauschprozesse in der Armenfürsorge gilt im Allgemeinen, dass sie nicht für sich alleine stehen, sondern nur im Kontext einer spezifischen Gruppe von Fürsorgeexperten und bei der Umsetzung konkre-

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Überlegungen vgl. Budde/Conrad/Janz (Hrsg.), Transnationale Geschichte; Pernau, Transnationale Geschichte, sowie das Fachforum http://geschichte-transnational.clio-online.net. Zu Internationalisierungsprozessen vgl. Geyer/Paulmann (Hrsg.), The mechanics of internationalism, insb. S. 1–26. Als Beispiele können die Studien von Herren-Oesch herangezogen werden, vgl. Herren, Internationale Sozialpolitik; dies., Hintertüren zur Macht. Für kritische begrifflich-theoretische und methodische Überlegungen zu ‚international‘ und ‚transnational‘ vgl. Zimmermann, International – transnational: Forschungsfelder und Forschungsperspektiven, in: Unfried/Mittag/van der Linden (Hrsg.), Transnationale Netzwerke im 20. Jahrhundert, S. 27–46. „In diesem Sinne wird weniger auf Abgrenzungs- oder Inkorporierungsprozesse rekurriert, sondern vielmehr das Spannungsverhältnis, das sich aus der Konstruktion des ‚Fremden‘ und des ‚Eigenen‘ ergibt, ins Blickfeld gerückt. Über die Richtung und Zielsetzung solcher Interaktionen wird dabei zunächst keine Aussage getroffen, sondern eine prinzipielle Offenheit des Prozesses unterstellt.“ Mittag/Unfried, Transnationale Netzwerke – Annäherung an ein Medium des Transfers und der Machtausübung, ebd., S. 14. Susan Zimmermann spricht sich für eine „integrative Herangehensweise an das Themenfeld des Trans- und Internationalen“ aus, vgl. Zimmermann, ebd., S. 27–46. Zur Bedeutung von Globalisierungsprozessen im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert vgl. Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich; Löhr/Wenzlhuemer (Hrsg.), The nation state and beyond; Rosenberg (Hrsg.), A World Connecting, hier vor allem Kapitel 5: „Transnational Currents in a Shrinking World“, S. 815–999.

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ter Fürsorgepraktiken innerhalb eines nationalen oder regionalen Kontextes eine Wirkung entfalten konnten. Dabei wird ersichtlich, dass Praktiken und Diskurse der Armenfürsorge sehr unterschiedliche Ausgangsorte haben und sich erheblich verändern konnten, wenn sie von einem ‚Fürsorgesystem‘ in ein anderes gelangten.111 Der Sprache als Vermittler von Konzepten muss in diesem Prozess eine wichtige Bedeutung beigemessen werden. International zirkulierendes Wissen veränderte in einem national kodierten Handlungsrahmen häufig seine anfängliche Form oder bekam vor dem Hintergrund struktureller Rahmenbedingungen und Pfadabhängigkeiten einen ganz anderen Stellenwert zugesprochen. Diese Selektionsvorgänge verweisen auf wahrnehmungsgesteuerte oder funktionale Filterungsprozesse. Sie müssen ebenso berücksichtigt werden wie die Vorstellung einer ‚universellen Sozialreform‘, welche zu weitreichenden Vernetzungsdynamiken einer bestimmten Gruppe von Fürsorgeexperten zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte. 4. METHODISCHE HERANGEHENSWEISE UND AUFBAU DER UNTERSUCHUNG Die angedeuteten Unterschiede grenzüberschreitender Prozesse sollen für die methodische Herangehensweise sensibilisieren. Sie hat zugleich die zwei Schwerpunkte der Untersuchung zu berücksichtigen: Zum einen sollen grenzüberschreitende Verbindungen im Bereich der Armenfürsorge ermittelt, zum anderen deren Bedeutung für das ‚Fürsorgesystem‘ und die ‚Fürsorgekultur‘ im Deutschen Reich bemessen werden. Für eine praktische Umsetzung dieser Aufgabenstellung empfiehlt es sich zunächst, die vielfältigen Formen der Austausch- und Vernetzungsprozesse, welche in der Armenfürsorge und der Fürsorgefachwelt vorlagen, in jeweils unterschiedlichen beziehungsgeschichtlichen Perspektiven zu erfassen.112 Ausgehend von den internationalen Verbindungslinien unterschiedlicher Akteure und Institutionen des Armenwesens lassen sich auf diese Weise bestimmte (I.) Netzwerke der Armenfürsorge identifizieren, in denen internationale Beziehungen aufgebaut und gepflegt wurden. Der Erfahrungsaustausch und die theoretischen Debatten über einzelne (II.) Fachgebiete der Armenfürsorge verdeutlichen hingegen die inhaltsbezogene Dimension dieser internationalen Beziehungen. Weitere Vernetzungs- und Austauschprozesse können in Bezug auf die (III.) Leitkonzepte der Fürsorgeexperten sowie im Bereich der (IV.) Grundwissensbestände, welche die Fürsorge- und Armutsdiskurse strukturierten, herausgestellt werden. 111 Zur methodisch reflektierten Transfergeschichte vgl. A. Arndt (Hrsg.), Vergleichen, verflechten, verwirren?, sowie H. Kaelble/J. Schriewer (Hrsg.), Vergleich und Transfer. 112 Zu den Vorteilen einer multiperspektivischen Geschichtsschreibung, welche historische Transfer- und Verflechtungsprozesse durch den permanenten Wechsel der Blickwinkel und die Fokussierung auf unterschiedliche Interaktionsprozesse verfolgt, vgl. M. Werner/B. Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung, in: GG 28 (2002), S. 607–636. Der von Werner/Zimmermann vertretene Ansatz der ‚histoire croisée‘ kann aus forschungspraktischen Gründen allerdings nur sehr bedingt berücksichtigt werden.

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Durch die Herangehensweise werden unterschiedliche Teilaspekte der Armenfürsorge beleuchtet, die sich einerseits methodisch sinnvoll isolieren lassen, andererseits eng miteinander zusammenhängen. Ziel ist es, die Quantität und Qualität grenzüberschreitender Prozesse exemplarisch an einigen Stellen zu bemessen, an denen sie anzutreffen sind. Dabei wird jeweils nicht nur den Institutionen und Akteuren Beachtung geschenkt, welche sich als Theoretiker und Praktiker der ‚Fürsorgesysteme‘ besonders hervortaten. Es rücken zugleich auch verschiedene Debatten, Handlungsorientierungen und Diskursformationen in den Fokus, welche der institutionellen und rechtlichen Ausgestaltung der Armenfürsorge vorgeschaltet waren und somit ihre ‚Kultur‘ prägten. Die Untersuchung deckt auf diese Weise sozial-, kultur-, netzwerk- und institutionengeschichtliche Blickpunkte gleichermaßen ab und bringt sie in einen systematischen Zusammenhang mit der Entwicklung der Armenfürsorge im Deutschen Reich. Die Kapiteleinteilung entspricht der Gliederung, welche sich durch die vier beziehungsgeschichtlichen Analysen ergibt. Ein Zwischenergebnis (nach Kapitel I) stellt drei unterschiedliche Phasen grenzüberschreitender Vernetzungen zwischen 1880 und 1914 heraus. Es legt schemenhaft dar, wie sich die Austauschund Vernetzungsprozesse hausbildeten, verdichteten und veränderten. Diese Ansicht wird in den darauffolgenden Kapiteln sowie in der Schlussbetrachtung immer wieder aufgegriffen. 4.1. Netzwerke Das erste Kapitel fokussiert persönliche und institutionelle Vernetzungsformen der Armenfürsorge und ihre Bedeutung für grenzüberschreitende Beziehungen.113 Betrachtet werden alle Einrichtungen und Netzwerke, in denen die Fürsorgefachwelt repräsentiert war. Der Interessensschwerpunkt liegt nicht nur bei den Akteuren und Institutionen selbst, sondern auf den Verbindungen, die zwischen ihnen existierten.114 Es wird dementsprechend nach Kommunikations- und Interaktionsformen gefragt. Beide Aspekte – Repräsentation und Kommunikation – sind wichtig, um die kollektive Identität und Wechselbeziehungen international agierender Akteure zu erläutern. Das Kapitel gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil beschreibt internationale Vernetzungsprozesse, wie sie in lokalen und nationalen Kontexten anzutreffen 113 Zu Ansätzen, Grundlagen und Umsetzungen der historischen Netzwerkforschung und der Geschichte von ‚epistemic communities‘ vgl. M. Düring/U. Eumann, Historische Netzwerkforschung: Ein neuer Ansatz in den Geschichtswissenschaften, in: GG (2013), 3, S. 369– 390; Herren, Internationale Organisationen seit 1865; T. Dörting, Armutsforschung als Intellectual History, in: Kühberger (Hrsg.), Aktuelle Tendenzen, S. 201ff.; B. Unfried/J. Mittag/M. van der Linden (Hrsg.), Transnationale Netzwerke im 20. Jahrhundert. 114 Rosenberg nutzt den Begriff „currents“, um transnationale Netzwerke zu beleuchten. Er soll das ‚Schwimmen‘ und ‚Ineinandergreifen‘ grenzüberschreitender Beziehungsformen versinnbildlichen, vgl. „Transnational Currents in a Shrinking World“, in: Rosenberg (Hrsg.), A World Connecting, S. 815–999.

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waren. Es wird untersucht, wo die Ausgangspunkte für eine internationale Vernetzung in der deutschen Armenfürsorge lagen und wer sich daran beteiligte. Hierzu zählen Expertengruppierungen, Fürsorgevereine, Diskussionsforen und die Fachpublizistik. Persönliche Beziehungen und Studienreisen spielen ebenso eine wichtige Rolle wie der international organisierte Austausch von Fachwissen. Der zweite Teil rekonstruiert die Geschichte des internationalen Kongresswesens und des internationalen Kongresskomitees. Diese werden sehr ausführlich behandelt, da sie Formen und Grenzen eines internationalen Beziehungsnetzwerkes verdeutlichen und zugleich das Selbstverständnis der sozialreformerischen Fürsorgepraktiker widerspiegeln. Der dritte Teil fasst die Beobachtungen zusammen (Zwischenergebnis) und charakterisiert grundsätzliche Tendenzen grenzüberschreitender Vernetzungspraktiken und Repräsentationsformen. Es wird hervorgehoben, dass die Qualität und Bedeutung internationaler Beziehungen einem Wandel unterlagen, der mit allgemeineren Entwicklungen des Armenwesens korrelierte. Internationale Beziehungen, Integrationsdynamiken und Gruppenidentitäten variierten je nach Zeitraum und konnten in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Funktionen erfüllen. 4.2. Fachgebiete Die Organisation der Armenfürsorge untergliederte sich in einzelne Fachgebiete, wie beispielsweise Fürsorge für bedürftige Kranke, Waisen oder Obdachlose. Jeder dieser Bereiche brachte eigene Fragestellungen und Problemlösungsansätze hervor. Sie wurden in Debatten ausgehandelt und in Institutionen, Gesetzen oder Verwaltungs- oder Fürsorgepraktiken umgesetzt. Fachgebiete der Armenfürsorge veränderten oftmals ihre Gestalt. Das Auftreten von ‚issue circles‘ oder Themenkonjunkturen demonstrieren diese Entwicklung. Einige sozialreformerische Expertenkreise nahmen hierbei eine herausragende Stellung ein: Sie besaßen die Autorität, Fachdebatten anzustoßen, voranzutreiben und zu kanalisieren. Hierzu zählte insbesondere auch das international vernetzte Fürsorgeexpertentum. Das Kongresswesen, Studienreisen und der intensive Austausch von Fachwissen schufen in mehreren Fachgebieten eine breite Grundlage der Verständigung und förderten damit die Entstehung einer internationalen Debattenkultur. Darin wurden Problemlagen angesprochen, unterschiedliche Einrichtungen vorgestellt und Neuerungen angeregt. Oftmals wurden die Möglichkeiten der Übertragbarkeit fürsorgebezogener Praktiken und Institutionen diskutiert. Die Analyse einzelner Fachgebiete gibt somit Aufschluss über die Frage, welche konkreten Auswirkungen und Rückwirkungen der internationale Ideentransfer hervorbrachte. Es gilt an dieser Stelle zu betonen, dass Transfer niemals Kopie bedeutete.115 Die eigentliche Bedeutung grenzüberschreitender Bezie115 Für theoretische Reflexionen zur Transfergeschichte vgl. A. Bauerkämper, Wege zur europäischen Geschichte. Erträge und Perspektiven der vergleichs- und transfergeschichtlichen Forschung, in: Arndt (Hrsg.), Vergleichen, S. 33–60. M. Espagne, Transferanalyse statt Ver-

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hungen kommt vor allem in den reflektierten und gefilterten Austausch-, Aneignungs- und Verwertungsprozessen zur Geltung, die einer jeden (nationalen oder lokalen) Institutionalisierung vorausgehen. Es werden exemplarisch zwei Fachgebiete betrachtet, an denen sich die Bedeutung grenzüberschreitender Beziehungen nachzeichnen lassen. Dies betrifft zum einen das Fachgebiet ‚Unterstützung für arbeitsfähige Arme‘. Die Größe des Themenkomplexes und die Vielfältigkeit der darin vorliegenden Verflechtungen verlangen eine Spezifizierung der Untersuchung. Es wird speziell der Frage nachgegangen, auf welche Art und Weise sich eine bestimmte Gruppierung von Arbeitszwang-Befürwortern grenzüberschreitend vernetzte und wie sie sich gegenseitig in ihren Sichtweisen und Reformprojekten unterstützten. Das Fachgebiet ‚Fürsorge für Ausländer‘ ist insofern von besonderem Interesse, als es sich um eine der wenigen genuin internationalen Problematiken der Armenfürsorge handelte. Das sich herausbildende Wissen über ‚Inländer‘ und ‚Ausländer‘ lässt sich anhand dieses Themenkomplexes ebenso darstellen wie die Formen und Grenzen konkreter internationaler Kooperationen: Auf den internationalen Kongressen wurde mit Nachdruck darauf hingearbeitet, die beteiligten Regierungen zu einem internationalen Abkommen zu bewegen. Es handelte sich um erste Versuche, armenfürsorgliche Regelungen zu internationalisieren. Unabhängig von diesem grenzübergreifenden Lobbyismus entwickelten sich alternative Formen privatwohltätiger Unterstützung für ausländische Bedürftige, wodurch anhand dieses Fachgebiets die ganze Bandbreite sozialreformerischen Gestaltungswillens illustriert werden kann. 4.3. Leitkonzepte Grundlage der armenfürsorglichen Tätigkeit waren organisatorische, methodische und ethische Leitkonzepte. Hierbei handelt es sich um die Orientierungsstandards und Handlungsmaßstäbe, welche den Fürsorgepraktikern als Grundlage und Motivation für ihre Tätigkeit dienten. Sie beeinflussten die ‚Fürsorgekultur‘ nachhaltig. Diese Leitkonzepte zeigten sich als Anwendungswissen implizit in den einzelnen Fachgebieten der Armenfürsorge und konnten sich in Form von bestimmten Institutionen und Praktiken manifestieren. Sie konnten aber auch expliziter Verhandlungsgegenstand einer Fürsorgedebatte sein. Wenn dies der Fall war, wurden unter Armenpflegern die Prinzipien theoretisch erörtert, auf welchen die Armenfürsorge gründete beziehungsweise gründen sollte. In diesem Kapitel werden einige dieser Grundprinzipien charakterisiert und deren Verbindungslinien zur internationalen Debattenkultur dargestellt. gleich, in: Kaelble/Schriewer (Hrsg.), Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, S. 419–438; J. Paulmann, Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 267 (1998), S. 649–685; Werner/Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung, in: GG 28 (2002), S. 607–636.

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Nationale Unterschiede in den ‚Fürsorgesystemen‘ und Pfadabhängigkeiten dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass hinsichtlich der organisatorischen, methodischen und ethischen Leitkonzepte nicht nur weitgehend Einigkeit herrschte, sondern dass diese auch grenzüberschreitend diskutiert und weiterentwickelt wurden.116 In der Fachliteratur und auf den internationalen Kongressen gab es über die grundlegenden Fragen, wie man Armenfürsorge effizient ausüben könne, einen intensiven Ideenaustausch. Internationale Vorbilder inspirierten darüber hinaus immer wieder konkrete Umsetzungsversuche im Bereich der städtischen oder privaten Armenfürsorge. Den organisatorischen Leitkonzepten lag das Bedürfnis nach Rationalität, Funktionalität, Aufsicht und Kontrolle zugrunde. Vor dem Hintergrund, dass sich immer mehr Fachgebiete ausdifferenzierten, spezialisierten, teilweise von der Armenfürsorge loslösten, gewannen organisatorische Fragen rasch an Bedeutung. Was die Methoden des Fürsorgealltags anbelangte, führte die armenpflegerische Praxis zur Ansicht, dass Armenfürsorge individualisierend und mittels Fallprüfungen optimiert werden müsse. Wissenschaftlichkeit und Kategorisierungspraktiken bedeuteten jedoch keineswegs, dass die internationalen Debatten die normativen und ethischen Grundlagen außer Acht gelassen hätten. Die Fürsorgeexperten teilten diese Prinzipien ebenso wie die Vorstellung einer historisch verbürgten ‚Modernität‘ des Armenwesens. Der grenzüberschreitende Zusammenhang blieb auch in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg erhalten, als die Leitkonzepte der Armenfürsorge zunehmend von den Ideen einer sozialpolitischen Neugestaltung im Sinne der Wohlfahrtspflege herausgefordert wurden. Sozialpolitische Deutungskämpfe und die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Handlungsorientierungen kennzeichneten diesen Wandlungsprozess. Hierauf wird der Schwerpunk im letzten Teil dieses Kapitels gelegt. 4.4. Grundwissensbestände Der letzte Teilbereich untersucht transnationale Verflechtungen von Grundwissensbeständen. Im Gegensatz zu Leitkonzepten, welche die Handlungsorientierungen der Armenpfleger vorgaben und in den Fürsorgedebatten ausgehandelt wurden, verweisen die Grundwissensbestände auf diejenigen kognitiven Grundmuster, die sich auf diskursiver Ebene (re-) produzierten. Der Fokus dieses Kapitels richtet sich daher auf die Analyse repräsentativer Armuts- und Fürsorgediskurse.117 Der diskursanalytische Ansatz versucht auf einer vom historischen Ak116 Die Zirkulation sozialwissenschaftlicher Leitkonzepte war ein wesentliches Merkmal der ‚epistemic communities‘ vor dem Ersten Weltkrieg, vgl. „Circuits of Expertise“, in: Rosenberg (Hrsg.), A World Connecting, S. 919, und Saunier, Trajectoires, in: Genèses 71 (2008), S. 4–25; Conrad, Sozialpolitik transnational, in: GG 32 (2006), S. 440. 117 Armutsdiskurse werden als der übergeordnete, sinnstiftende Rede- und Denkzusammenhang definiert, der sich mit Fragen von Armut und Armutsbekämpfung, Erziehung und Arbeit befasst. Zur historischen Diskursanalyse vgl. Procacci, Social Economy and the Government of

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teur abstrahierten Ebene die Menge der Aussagen, Beziehungen und (Dis-) Kontinuitäten verschiedener Texte hervorzuheben, welche zum Verständnis intersubjektiver Wirklichkeitskonstruktionen und relationaler Machtbeziehungen beitragen. Auf diese Weise lassen sich stabile Armutsbilder und kollektive Deutungsmuster nachweisen. Sie bedingten Fürsorgedebatten, Leitideen, Institutionalisierungsbestrebungen und den Fürsorgealltag. Insbesondere Armutsdefinitionen spiegeln die Wahrnehmung und Deutungsmacht der Fürsorgeexpertise wider. Das Wissen, das aus der Fürsorgepraxis heraus über Bedürftige produziert wurde, ordnete und konsolidierte zugleich gesellschaftliche Ordnungs- und Normalitätsvorstellungen. Die Grundwissensbestände über Armut und Armenfürsorge waren in hohem Maße transnational verflochten und begünstigten die Sinndeutung der Sozialreformer. Dieser grenzüberschreitenden Wissensproduktion wird im letzten Kapitel Rechnung getragen, wobei besonders auch der Frage nachgegangen wird, wie sich die transnationalen Diskurse vor dem Hintergrund des sich wandelnden Fürsorgeverständnisses veränderten und wie sich zugleich auch ein spezifisches Wissen vom ‚Nationalen‘ herausbildete.

Poverty, in: Burchell (Hrsg.), The Foucault Effect, S. 151–168; F. Eder (Hrsg.), Historische Diskursanalyse; A. Landwehr, Historische Diskursanalyse; P. Sarasin, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse.

I. NETZWERKE: FORMEN GRENZÜBERSCHREITENDER BEZIEHUNGEN UND DAS INTERNATIONALE KONGRESSWESEN 1. NATIONALE UND INSTITUTIONELLE AUSGANGSPUNKTE Überall zeigt sich daher mit einer wachsenden Teilnahme für die Probleme des Armenwesens Hand in Hand gehend das Bestreben der Fachmänner, sich behufs der gemeinsamen Arbeit auch über den begrenzten Kreis der eigenen Nation hinaus mit einander in Verbindung zu setzen.1

Mit diesen Worten äußerte sich Friedrich Freiherr von Reitzenstein 1894 auf der 14. Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit in Köln über die jüngsten Veränderungen, welche als Beginn einer internationalen Vernetzung in Europa wahrgenommen wurden. Bereits zwei Jahre zuvor hatte Reitzenstein damit begonnen, regelmäßig über „die neueren Entwicklungen und Bestrebungen, welche im Gebiet des Armenwesens bei den für uns wichtigsten Staaten des Auslandes hervorgetreten sind“2 zu berichten. Mit dieser neu geschaffenen Rubrik begann zugleich die ‚internationale Öffnung‘ im Deutschen Verein: Über zehn Jahre nach seinem Bestehen wurde zum ersten Mal das Armenwesen außerhalb des Deutschen Reiches thematisiert. Es hatte zwar schon vorher in den Referaten auf den Jahresversammlungen des Deutschen Vereins vereinzelt internationale Bezüge gegeben.3 Eine derart systematische und regelmäßige Berichterstattung, welche die ausländische Literatur berücksichtigte und unterschiedliche Regionen analysierte, war jedoch etwas vollkommen Neues. Für die Entwicklung der Armenfürsorge im Deutschen Reich war der Deutsche Verein nicht nur deshalb von Bedeutung, weil er das Zusammentreffen unterschiedlicher Fürsorgetheoretiker und Fürsorgepraktiker arrangierte und erstmals erm̈glichte, die „Fragen des Armenwesens im nationalen Sinne zu behandeln“.4 1 2

3

4

SDV 20 (1894), S. 18. F. v. Reitzenstein, Übersicht über die neueren Entwicklungen und Bestrebungen, welche im Gebiet des Armenwesens bei den für uns wichtigsten Staaten des Auslandes hervorgetreten sind, in: SDV 15 (1891), S. 7–20. Meist in Form von Literaturhinweisen und nur vereinzelt in Form von konkreten Beispielen von Fürsorgeeinrichtungen anderer Länder. Vgl. z. B. die 9. Jahresversammlung des Deutschen Vereins (SDV 1888) in Karlsruhe, auf der Eduard Eberty, Fritz Kalle, Karl Flesch und Felix Aschrott jeweils für ihre Beiträge internationale Literatur berücksichtigten und auf Erfahrungen von Studienreisen zurückgriffen. Zur Gründung vgl. SDV [1], Stenographischer Bericht über die Verhandlungen in der Armenpfleger-Konferenz zu Berlin am 26. und 27. November 1880, Zitat ebd., S. 69 (von Victor Böhmert), sowie SDV [2], Stenographischer Bericht über die Verhandlungen in der Armenpfleger-Konferenz zu Berlin am 11. und 12. November 1881 in Berlin nebst den für diese Verhandlungen erstatteten Berichten und den Satzungen des Vereins 1882. Zur Geschichte und Bedeutung des Deutschen Vereins vgl. Deutscher Verein für Öffentliche und Private Für-

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Die Expertenvereinigung stellte zugleich auch einen der wichtigsten Orte dar, an denen sich die Erweiterung der fachlichen Erörterungen über das Deutsche Reich hinaus vollzog. Es war kein Zufall, dass dies so kurz nach dem internationalen Kongress von 1889 und der Gründung der Société internationale pour l’étude des questions d’assistance (Société internationale) 1890 in Frankreich geschah. Anlass des neuen Verhandlungsgegenstandes bot das gleichartige Vorgehen der dem unsrigen entsprechenden auswärtigen Vereine auswärtiger Staaten, welche ihrerseits längst dazu übergegangen sind, Übersichten über die Entwicklung im Auslande in ihre Verhandlungen aufzunehmen. 5

Reitzenstein nahm dabei neben der französischen Société internationale auch auf die englische Charity Organisation Society (COS) und die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft Bezug. Diese und andere vergleichbare Einrichtungen waren aus den sich national verdichtenden Netzwerken an Fürsorgevereinen hervorgegangen. Die Diskussionsforen sind ähnlich wie der Deutsche Verein als die ‚Denkfabriken‘ der Armenfürsorge ihrer jeweiligen Länder anzusprechen und integrierten teilweise sehr unterschiedliche Strömungen der Sozialreform. Außerdem stellten die verbandsähnlichen Institutionen den notwendigen institutionellen Rahmen für eine erneute internationale Öffnung der Fürsorgedebatten, nachdem die personenbezogenen Sozialreform-Netzwerke der 1850er und 1860er Jahre zum Erliegen gekommen waren.6 In den „fremdländischen“ Foren seien, stellte Reitzenstein fest, die deutschen Einrichtungen schon längst Thema vergleichender Betrachtungen geworden. Mit dem Argument, auch in diesen Belangen den ausländischen Vereinen in nichts nachstehen zu wollen, gewann er die Zuhörer der Jahresversammlung in dieser wie auch in den kommenden Sitzungen für diesen „neuen Gegenstand“, wie er ihn selbst bezeichnete. In den allgemein gehaltenen Vorstellungen von systemischen, legislativen und armenpflegerischen Aspekten aller Art wurde immer wieder deutlich, dass es um einen „friedlichen internationalen Wettbewerb“7 gehe, an dem auch die deutschen Fürsorgeexperten teilnehmen müssten. Wenngleich ein gewisser Schwerpunkt auf Frankreich und England ersichtlich ist, rücken die Darstellungen auch andere Länder in den Fokus. Mal geht es um die französische Gesetzgebung zur Krankenversicherung (1893), mal über die Anwendung des Elberfelder Systems in Österreich, mal über die italienische Stiftungsaufsicht und mal über die effektive Wohltätigkeitsorganisation der COS in London.8 Der Tenor blieb stets der gleiche. Er pendelte zwischen Konkurrenzkampf, anerkennender Bewunderung und ideengeschichtlichen Systemvergleichen. Trotz unterschiedli-

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sorge (Hrsg.), Forum für Sozialreformen; E. Orthbandt, Der Deutsche Verein in der Geschichte der deutschen Fürsorge; Tennstedt, Fürsorgegeschichte und Vereinsgeschichte, in: ZfS 27 (1981), S. 72–100. SDV 15 (1891), S. 7. Vgl. hierzu ‚Frühe Netzwerke der bürgerlichen Sozialreform‘, Kapitel I, 5.2. SDV 17 (1893), S. 13. Vgl. jeweils die Vorträge von Reitzenstein, Übersicht, in: SDV 15 (1891), 17 (1893), 20 (1894), ab 1898 fortgesetzt durch Emil Münsterberg.

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cher Ausgangspunkte hätten letztlich alle Bemühungen der Armenfürsorge die gleichen Zielsetzungen und könnten sich daher gegenseitig befruchten. Die internationale Ausrichtung, so betonte es Reitzenstein, müsse in diesem Sinne auch in Deutschland voranschreiten. Er erklärte, dass die Ideen und Neuerungen im Armenwesen nicht das Monopol einzelner Nationen seien. Stattdessen lägen Prinzipien vor, die die „fortschreitende Kulturentwicklung“, wie sie sich auch in der Armenfürsorge äußerte, im Austausch mit den Nationen vorangetrieben werden müsse, damit sich die „Zielpunkte und Fragen“ immer mehr ausgleichen würden.9 Mit der Einschätzung, dass die deutschen Armenpfleger hinsichtlich ihrer internationalen Ausrichtung aufzuholen hatten, lag Reitzenstein im Übrigen vollkommen richtig. Der Prozess der sich ausweitenden internationalen Vernetzung vollzog sich in den meisten europäischen Ländern sowie den USA zwischen 1880 und 1900 in unterschiedlichen Momenten sowie mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und Intensität. Im Kreise der west- und mitteleuropäischen Nationen kann Deutschland in dieser Phase als Nachzügler bezeichnet werden. Dies galt lange sowohl für die Präsenz der deutschen Fürsorgeexperten auf den internationalen Kongressen als auch deren Interesse an internationalen Debatten über das Armenwesen. Die Schriften des Deutschen Vereins und andere einschlägige Publikationsorgane weisen in den 1880er und 1890er Jahren im Vergleich zu denen anderer Nationen noch sehr wenig internationale Bezüge auf.10 In Frankreich war das Interesse an ausländischen Fürsorgepraktiken schon früh geweckt worden. England und Deutschland galten in der französischen Fachwelt als wichtigste Referenzpunkte. Die internationale Orientierung und das Miteinbeziehen positiver wie negativer Vorbilder war in den französischen Fachkreisen ein wesentlicher Bestandteil des Reformerduktus und hatte konkrete Rückwirkungen zur Folge.11 Eine ähnliche Entwicklung ist auch in England während der „Krisenjahre“ des poor law zwischen 1860 und 1890 feststellbar. Die Beobachtung des Auslands, insbesondere des deutschen Armenwesens, reichte in die 1860er Jahre zurück und dokumentierte die Anstrengungen, die nationalen Fürsorgedebatten zu beeinflussen.12 Die vergleichbaren armenrechtlichen Regelungen hatten darüber hinaus zur Folge, dass sich Österreich und die Schweiz stärker am deutschen Armenwesen und die romanischsprachigen Länder stärker an Frankreich orientierten. Die internationale Ausrichtung war in den Jahren vor 9 SDV 15 (1891), S. 18f. 10 Als Untersuchungsgrundlage dienten die eingangs vorgestellten Quellen und Zeitschriftenbände, vgl. Einleitung, 2.2. 11 Vgl. ausführlich zur Rezeption ausländischer Fürsorgewesen von Seiten der französischen Sozialreformer in praktisch jeder Ausgabe der Revue philanthropique sowie bei Mitchell, Divided Path; Smith, The Ideology of Charity; Topalov, Naissance du chômeur, sowie ders., Verständigung durch Missverständnis. 12 Vgl. M. Rose, Die Krise der Armenfürsorge in England 1860–1890, in: Mommsen (Hrsg.), Die Entstehung des Wohlfahrtsstaates, S. 57–78. Die wechselseitige Rezeption französischer und englischer Fürsorgedebatten ist ferner in der Revue d’assistance und im Charity Organisation Review gut nachvollziehbar, vgl. exemplarisch Loch, International Congress, and the Administration of Relief in Paris, COR 6 (1890), S. 1–3.

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der Jahrhundertwende je nach Land oder Region verschieden strukturiert und erfüllte jeweils andere Funktionen. Auch wenn sich die Internationalisierung in den einzelnen Ländern in unterschiedlicher Intensität und zu unterschiedlichen Momenten vollzog, waren sich die Fürsorgeexperten insgesamt einig, dass eine Vernetzung von Vorteil für die Reformbestrebungen im Armenwesen sei. Diesem Konsens folgte man auch in den USA, wo man hinsichtlich des englischen Armenwesens eine kritische Haltung pflegte, dennoch über den Mehrwehrt eines gegenseitigen Austausches hervorhob: There is no nation, whatever may be its rank, which may not serve as a lesson or an example. [...] The people may gain as much by interchange of their experience and their ideas as by that of their products, but such an interchange must take place with perfect freedom on both sides, and without any attempt to control or to misrepresent the characteristics of the national spirit.13

Im Deutschen Reich gab es seit den 1880er Jahren zwar ebenfalls die Tendenz, das Anschauungsmaterial der Armenfürsorge um Informationssammlungen aus dem Ausland und internationale Vergleiche zu erweitern. Was allerdings den unmittelbaren Kontaktaufbau und die Schaffung internationaler Kommunikationsnetzwerke anbelangte, so vollzogen sich diese weitgehend ohne deutsche Beteiligung. Es stellt sich die Frage, warum die deutschen Fürsorgeexperten lange nicht und wenn, dann verhältnismäßig zaghaft in Erscheinung traten, während man in den Fachkreisen anderer Länder schon längst dazu übergangen war, sich international zu orientieren, auszutauschen und entsprechende Kontakte zu knüpfen. Ein einziger Grund lag nicht vor, es war vielmehr ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren. Ein Sachverhalt dürfte jedenfalls keine Rolle gespielt haben: nationalistisch geprägte Abschottung. Es stimmt zwar einerseits, dass viele Internationalisierungsbestrebungen von Frankreich aus gingen und die angespannte politische Lage die Beziehungen zwischen diesen beiden Ländern beeinträchtige. Das Expertentum der Armenfürsorge verhielt sich aber in diesen politischen Fragen immer zurückhaltend und beschäftigte sich in erster Linie mit ihren Inhalten. Das Armenwesen Frankreichs war sogar eines der ersten, für das man sich interessierte. Umgekehrt war das deutsche Fürsorgewesen stets wichtiger Gegenstand ausländischer Betrachtungen. Dass keine nationalistisch geprägte Selbstbezogenheit vorlag, zeigte sich auch dadurch, dass die deutsche Fürsorgefachwelt auf und unmittelbar nach dem internationalen Fürsorgekongress 1889 in Paris von ihren Kollegen ausdrücklich gebeten wurde, sich stärker in die internationalen Debatten einzubringen.14 Ein Indiz für die ‚gehemmte‘ Internationalisierung ist in den Auseinandersetzungen der deutschen Fachwelt zu suchen, welche die Fürsorgedebatten seit der Reichsgründung 1871 begleiteten. Die erst kurz vorher geschaffene gemeinsame Rechtsgrundlage, insbesondere die Fragen über den Unterstützungswohnsitz und die Lastenverteilung der Armenkosten, boten ausufernden Gesprächsstoff. Diese 13 M. M’Callum, The English Poor Law, Its Intention and Results, in: General Exercises of the International Congress 1893, Bd. 1, S. 151–158, Zitat S. 151. 14 Vgl. hierzu Kapitel 5.2. in dieser Arbeit.

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Kontroversen, welche sich entlang der Gegensätze von staatlichem Interventionismus und kommunaler Selbstbestimmung sowie marktliberalen und sozialkonservativen Anschauungen verliefen, determinierten lange den Wahrnehmungshorizont der Fürsorgefachwelt.15 Unabhängig davon dürfte es schlicht eine Rolle gespielt haben, dass ‚internationale Orientierung‘ für die deutschen Fürsorgeexperten noch kein wichtiger Bestandteil der intellektuellen Interaktion war. Grenzüberschreitende Vernetzung war keine ausgeprägte Praxis, kein zwingendes Verhaltensmuster und stellte aus der Sicht der Sozialreformer noch keinen privilegierten Wissensfundus bereit. Man sah nicht den Mehrwert einer Internationalisierung und die Bemühungen Reitzensteins sind nur vor dem Hintergrund zu verstehen, dass er seine Kollegen von eben dieser neuen Perspektive und diesem neuen Betätigungsfeld zu überzeugen versuchte. Dementsprechend war die internationale Ausrichtung der deutschen Fürsorgeexpertise in den 1890er Jahren noch sehr sporadisch und stark an einzelne Personen gebunden. Eine weiterführende Zusammenarbeit war für diese Pioniere mit der Hoffnung verbunden daß die zwar kräftig emporschießende, aber immer noch zarte Pflanze eines Einvernehmens der Nationen in dieser Richtung sich allmählich zu einem kräftigen Baume auswachsen möge, dessen Früchte weiten Kreisen unserer notleidenden Mitbrüder zum Segen gereichen. 16

Reitzensteins Anstrengungen erzielten in der Tat erste Erfolge. Ab den 1890er Jahren wurden häufiger ausländische Armenwesen untersucht, die Vor- und Nachteile anderer Systeme debattiert und es lassen sich intensivere Bemühungen erkennen, internationale Kontakte zu knüpfen. Je öfter man sich mit den Arbeiten ausländischer Kollegen beschäftigte, bemerkte man Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten. Man stellte fest, dass sich jedes Armenwesen „aus unendlich zahlreichen Einzelheiten zusammensetzt, und die doch eine, trotz aller Nationalitätsunterschiede merkwürdige Übereinstimmung in den schließlichen Zielen und Tendenzen“ vorzuweisen hatte. Dazu gehörte beispielsweise „der stets wachsende Zug zur öffentlichen Armenpflege“.17 Die Weitung des Wahrnehmungshorizontes ging mit einer verstärkten grenzübergreifenden Identifikation einher. Die Ähnlichkeit der sozialreformerischen Grundpositionen, Sprache, Leitmotive und Handlungsorientierungen wurde augenscheinlich. Auch der Armutsdiskurs strukturierte sich auf eine ähnliche Weise, brachte ähnliche Deutungsmuster hervor. Sogar die institutionellen Ausgestaltungen, etwa im Bereich der Arbeiterkolonien oder Waisenhäuser, wiesen genug Analogien mit den ausländischen Einrichtungen auf, so dass eine komparative Betrachtung erleichtert wurde.18 Außerdem schienen überall vergleichbare Expertengremien vorzuliegen, welche die Gesetzgebung und Regierungen zu beeinflussen versuchten. Auch wenn es noch an detaillierten Kenntnissen fehlte und die 15 16 17 18

Vgl. H. Wolfram, Vom Armenwesen zum heutigen Fürsorgewesen, hier vor allem S. 69–114. SDV 23 (1895), S. 19. SDV 40 (1898), S. 8. Besonders anschaulich lässt sich dieser Trend in den Fürsorgefachzeitschriften nachvollziehen, vgl. insb. Der Wanderer (bzw. Arbeiter-Kolonie).

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meisten Veröffentlichungen eher vergleichende Überblicksanalysen boten, prägte diese Periode insgesamt eine distanzierte, aber neugierige Beobachtungshaltung die auf konkurrierenden Vergleich ausgerichtete internationale Wahrnehmung. Der eigentliche Wandel hin zu einem neuen, international geteilten Grundverständnis der Fürsorgeexperten vollzog sich in den Jahren um die Jahrhundertwende. Bereits 1898 warb Emil Münsterberg im Deutschen Verein für eine stärkere internationale Vernetzung der Fürsorgeexperten, welche die unterschiedlichsten Kommunikations- und Austauschformen sowie die Internationalisierung der Fürsorgeexpertise selbst miteinschließen sollten: Abgesehen von den Fortschritten in den einzelnen Ländern wird auch der internationalen Bewegung größere Aufmerksamkeit zu schenken sein, die in dem 1889 zu Paris gegründeten, internationalen Kongreß und dessen ständigem Organ, der Revue d’Assistance (Bulletin de la Société internationale pour l’étude des Questions d’Assistance), ferner in dem Antwerpener Kongreß zur Fürsorge für Landstreicher und verwahrloste jugendliche Personen u. a. m. ihren Ausdruck findet.19

Auf dem Internationalen Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit 1900 in Paris gelang sodann auch die Etablierung eines internationalen Expertennetzwerkes, das sich für eine internationale Kooperation der Sozialreformbewegungen einsetzte.20 Was das Beispiel der deutschen Armenfürsorge betrifft, so können in dieser Periode entscheidende Veränderungen beobachtet werden. Ein qualitativer und gleichsam rhetorisch bemerkbarer Wandel in Bezug auf die internationale Ausrichtung vollzog sich im Deutschen Verein mit der Übernahme der Auslandsberichte durch Münsterberg. Dieser setzte die Vortragsreihe Reitzensteins nach kurzer Unterbrechung wieder mit folgenden Worten fort: Wir sind uns darüber klar geworden, daß die Bewegung auf dem Gebiete des ausländischen Armenwesens so wichtig, so vielversprechend auch für unsere Interessen ist, daß wir uns gezwungen fühlten, den einmal verlorenen, aber doch noch lose hängenden Faden wieder aufzugreifen21.

Infolgedessen lässt sich eine erhöhte internationale Aktivität unter deutschen Fachleuten des Armenwesens nachweisen, die mit einer generellen verstärkten Verknüpfung der internationalen sowie nationalen sozialpolitischen Debatten nach 1900 einherging. Deutlich wird dies auch durch die institutionellen Neugründungen, welche auf die sozialreformerische Debattenkultur einen starken Einfluss ausübten.22 Außerdem etablierten sich internationale Beziehungen zwischen den Protagonistinnen der Frauenbewegung, die sich ebenfalls mit den Themen der Armenfürsorge auseinandersetzten. Nicht nur die institutionelle, auch die persönliche Vernetzung im nationalen wie im internationalen Kontext stieg sprunghaft

19 20 21 22

Münsterberg, Übersicht, SDV 35 (1898), S. 3. Vgl. hierzu ausführlich Kapitel I, 5.3. SDV 40 (1898), S. 7. Hierzu zählten unter anderem die Abteilung für Armenpflege und Wohltätigkeit, die ‚Zentralinstitute‘ in Frankfurt und Berlin und der Caritasverband.

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an. Damit einher ging eine beispiellose Wissensansammlung und -verdichtung.23 Eine von erkennbar mehr Interesse und Erwartung getragene Wahrnehmung internationaler beziehungsweise ausländischer Vorgänge in der Armenfürsorge wurde fortan auch in den Kreisen der deutschen Fürsorgeexperten zu einem wichtigen Merkmal der sozialreformerischen Wissensvernetzung. Zwar waren die Teilnahme an internationalen Veranstaltungen und die grenzüberschreitende Debattenkultur nicht unbedingt notwendig, im Gegensatz zu den Jahren vor dem Kongress von 1900 wohl aber extrem förderlich für die Karriere eines Fürsorgeexperten. Entscheidend ist der qualitative Wandel der Beziehungen selbst. Während Reitzensteins Methode den Vergleich konkurrierender Nationen hervorgehoben hatte, dessen Ziel es war, etwas zur Fachwelt beizutragen oder von ihr lernen zu können, gingen die Vorstellungen Münsterbergs und seiner in dieser Hinsicht ebenso progressiven Kollegen noch einen bedeutenden Schritt weiter: Es sollte ein eigenständig wirkendes Netzwerk geschaffen werden, in dem wissenschaftlich orientierte Experten gemeinsam nach Lösungsansätzen suchen und die Methoden der Armenfürsorge zusammen verbessern. Entsprechend exemplarisch lesen sich Münsterbergs Anmerkungen zur internationalen Ausrichtung der deutschen Armenfürsorge gegenüber denen Reitzensteins. Letzterer hatte auf dem Wohltätigkeitskongress 1893 in Chicago noch vom „friedlichen Wettbewerb“ und gleichzeitig von einem gewinnbringenden Vergleich zwischen unterschiedlichen ‚Fürsorgekulturen‘ gesprochen: „we take part in a competitive contest and commerce, in which the noblest conquests of the mind become objects of reward and exchange.“24 Münsterberg stellte diesen Wettbewerbsgedanken nicht nur hinten an, er wollte ihn überwinden. Als er auf der 21. Jahresversammlung des Deutschen Vereins 1901 den Sinn und Zweck der Betrachtung des ausländischen Armenwesens resümierte, nannte er erstens den Mehrwert für die wissenschaftliche Forschung, zweitens die „praktische Nutzbarmachung“ internationaler Beispiele und drittens den Aspekt der Gemeinschaft, nämlich dass man nicht „alleine“ sei und die internationalen Gemeinsamkeiten ein „Gefühl der Ermutigung“ darstellen würden.25 Erst kurz zuvor wurde in einem in der Revue philanthropique veröffentlichten Artikel die Arbeit des Deutschen Vereins ausführlich dargestellt und die Gemeinsamkeiten zwischen eben diesem und der Tätigkeit der französischen Fürsorgeexperten hingewiesen.26 Man unterstrich fortan die Vorstellung, über die Landesgrenzen hinaus eine Gemeinschaft geschaffen zu haben, die von „reicher Erfahrung“ und „barmherziger Nächstenliebe“ geprägt sei: „Keine wilden Wettkämpfe“ dominiere das Geschehen, sondern die „Flamme des Friedens“, wie es Münsterberg auf dem internationalen Fürsorgekongress von Kopenhagen vor seinen applaudierenden Kollegen nicht hätte pathetischer ausdrücken können.27 Dies war 23 Auf diese Entwicklungen wird in den folgenden Abschnitten ausführlich eingegangen, vgl. insb. Kapitel I, 2, 3 und 4. 24 Reitzenstein, The International Treatment of the Poor Question, General Exercises of the International Congress 1893, Bd. 1, S. 22. 25 SDV 56 (1901), S. 26f. 26 RP IX (1901), S. 396ff. 27 Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 1, S. 81.

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der Höhepunkt einer intensiven und stabilen Internationalisierungsphase. In diesem Umfeld entstanden starke Synergieeffekte und eine grenzüberschreitend vermittelte Sozialreformer-Identität prägte sich aus, deren Strahlkraft weit in die nationalen Fürsorgedebatten hineinwirkte. 2. ‚ZUGÄNGLICHMACHEN VON MATERIAL‘ Ein Hindernis für eine internationale Vernetzung der Fürsorgedebatten war lange Zeit das Fehlen von fachspezifischem Wissen über die Armenwesen anderer Länder. Die meisten Publikationen aus den 1880er und 1890er Jahren, welche Armenfürsorge international thematisierten, waren lediglich Überblicksdarstellungen.28 Sie erklärten Gesetzgebung und Organisation der ‚Fürsorgesysteme‘ und waren damit die einzige Grundlage für eine vergleichende Betrachtung. Die Arbeiten konnten Bewunderung oder Ablehnung hervorrufen, außerdem wurden sie gelegentlich auch zur Unterstützung von Reformvorhaben herangezogen: Wir folgen aufmerksam den Maßnahmen, die andere Staaten treffen, um der Noth vorzubeugen, der eingetretenden Armuth abzuhelfen; wir versuchen, aus fremden Einrichtungen, so weit es möglich, zu lernen, was an den unseren besserungsbedürftig, was von jenen für uns anwendbar ist. Am nächsten stehen uns in dieser Beziehung die germanischen Nachbarländer, Skandinavien und Großbritannien, in denen eine ähnliche Entwicklung wie bei uns stattgefunden, in denen Reformation zum Theil gleichartige Erscheinungen hervorgerufen hat. 29

Die Beobachtungen waren, wie in diesem Beispiel, von einer komparativen Perspektive geprägt, die Ähnlichkeiten und Unterschiede des Armenwesens hervorhoben. Infolgedessen drehten sich die Debatten, welche internationale Beispiele miteinschlossen, meistens nur um Fragen der Rechtssysteme. Für eine Auseinandersetzung mit den praktischen Fragen der Armenfürsorge, wie sie von der Fachwelt zunehmend gefordert wurde, waren die Vergleichsdarstellungen nicht geeignet. Aus diesem Grunde wurde von den Befürwortern einer internationalen Vernetzung in den 1890er Jahren mit Nachdruck eine Vertiefung des eigentlichen Wissenstandes über Teilaspekte der Fürsorgepraktiken anderer Länder gefordert. Wissen sollte vermehrt gesammelt und erschlossen werden. Der Informationsaustausch und das ‚Zugänglichmachen von Material‘, wie sie auf dem Wohltätigkeitskongress von Chicago 1893 angestoßen und für wertvoll erachtet wurde30, sollten nach Ansicht der neuen ‚Internationalisten‘ jedoch weit über die großen Überblicksdarstellungen hinauszielen. Insbesondere die kleinteiligen Arbeiten, das konkrete Alltags- und Institutionenwissen rund um die Fragen 28 Vgl. F. Aschrott, Das englische Armenwesen in seiner historischen Entwicklung und in seiner heutigen Gestalt; A. Emminghaus, Das Armenwesen und die Armengesetzgebung in europäischen Staaten; Reitzenstein, Die Armengesetzgebung Frankreichs. Hierin (S. 2) erwähnt Reitzenstein auch, dass Wilhelm Roscher 1869/70 in Vorlesungen über das Armenwesen Frankreichs berichtete. Einige internationale Bezüge finden sich ferner auch bei A. Lammers, Ziele und Bahnen der deutschen Armenpflege, und L. F. Seyffardt, Die Reform des Armenwesens. 29 Münsterberg, Das englische Armenwesen, JGVV 10 (1886), S. 525. 30 Zur positiven Rezeption SDV 23 (1895), S. 18.

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der Armenfürsorge interessierten die Fachleute. Nur über die systematische Sammlung und Bereitstellung von fachspezifischem Wissen konnte ein Dialog entstehen, an dessen Endpunkt sich die Experten Reformimpulse erhofften. Wie vollzog sich konkret das Sammeln von fürsorgebezogenen Materialien? Um den Austausch voranzutreiben, waren institutionelle Strukturen notwendig. Dazu zählten zum einen die Bemühungen, ein internationales Kongresswesen zu etablieren. Die dort entstandenen und weithin verbreiteten Publikationen können als wichtige Maßnahme erachtet werden, Kenntnisse über Fürsorgepraktiken grenzüberschreitend zu vermitteln. Zum anderen müssen die Initiativen erwähnt werden, die sogenannte Sammel- und Auskunftsstellen für die Belange des Armenwesens einzurichten beabsichtigten. Hier hatten die Fürsorgeexperten unterschiedlicher Länder ebenfalls sehr ähnliche, teilweise gegenseitig inspirierte Lösungen parat. In den meisten europäischen Nationen sowie in den USA entstanden Dachorganisationen, die teilweise weit über die Sammlungs- und Auskunftstätigkeit hinaus reichende Aufgaben wahrnahmen: Ausstellungen, Bibliotheksdienste, technische Beratung bei der Gründung von Wohlfahrtseinrichtungen, Ausbildungskurse, nationale Konferenzen, Studienreisen. Der Grundstein für eine professionalisierte Wissensverarbeitung im Bereich des Armenwesens war in den verbandsähnlichen Großvereinen angelegt. Die Charity Organisation Societies in England und den USA, die Société internationale oder die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft definierten sich insbesondere auch als Sammelstelle und Vermittler von fachspezifischem Wissen aus nationalen und internationalen Quellen.31 Das deutsche Äquivalent, also der Deutsche Verein, hatte keinen solchen expliziten Sammlungsauftrag. Dies äußerte sich unter anderem auch in der bemerkenswerten Tatsache, dass in den meisten Ländern bereits vor 1900 Fachzeitschriften speziell für die Belange des Armenwesens etabliert worden waren. Im Deutschen Reich, gab es solch ein reichsweit erscheinendes Publikationsorgan erst seit der Gründung der Zeitschrift für das Armenwesen im Jahr 1900. Wer sich vorher über das Armenwesen informieren wollte und hierfür nicht die umfangreichen und detaillierten Studien des Deutschen Vereins lesen wollte, musste entweder auf regionale Zeitschriften zurückgreifen32 oder in den entsprechenden Unterrubriken zum Armenwesen suchen, welche in den Publikationsorganen der Arbeiterwohlfahrt geschaffen worden waren und die „Armenpflege und Wohltätigkeit

31 Dies galt auch für die Dachvereinigungen der Wohlfahrtspflege, welche die Themen der Armenfürsorge berührten. Hierzu zählten unter anderem die Zentralstelle für ArbeiterWohlfahrtseinrichtungen, das Musée social in Paris, das American Institute of Social Welfare in New York oder das erst 1905 gegründete British Institute of social service, vgl. ausführlich hierzu „Die Organisation der Wohlfahrtspflege“, in: Schriften der Centralstelle für ArbeiterWohlfahrtseinrichtungen 30 (1906): Vorbericht und Verhandlungen der Konferenzen, S. 16ff. 32 Vgl. zum Beispiel die Blätter für das Armenwesen (hrsg. von der Zentralleitung f̈r Wohltätigkeit in Württemberg). Gerade hier zeigte sich bereits früh das Interesse gegenüber den internationalen Armenwesen in sehr ausgeprägter Form.

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in gewissen Grenzpositionen“ berührten.33 Anfangs waren es deshalb vor allem entweder kommunale Initiativen oder die fachliche Ausdifferenzierung der Arbeiterwohlfahrt, welche dem neu geschaffenen Anliegen der (internationalen) Wissensvernetzung für das Armenwesen besser gerecht wurde als der Deutsche Verein. Für die weitere Entwicklung war die Gründung neuer Vereinsstrukturen und Zentralinstitute entscheidend. Zu nennen wären die Auskunftsstelle der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur 1893 (später: Zentrale für private Fürsorge, 1893), die Zentrale für private Fürsorge in Frankfurt a. M. (1899), der Caritasverband (1897) oder die Berliner Zentralstelle für Jugendfürsorge (1901) beziehungsweise die 1907 aus ihr hervorgegangene Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge. Diese Einrichtungen wurden mit einem expliziten Sammlungsauftrag ausgestattet, wenngleich dieser entweder nur für ihre spezifischen Fachgebiete galt oder lediglich regionale Reichweite besaß.34 Die eigentliche Lücke schloss jedoch die Abteilung für Armenpflege und Wohltätigkeit. Sie wurde im Jahre 1897 gegründet und später in Zentrale für Armenpflege und Wohltätigkeit umbenannt.35 Eine solche „selbstständige Ausgestaltung“, welche sich „deutlich von einer solchen für Arbeiterwohlfahrt abheben müsse“, war mit direktem Verweis auf die englischen und französischen Vorbilder schon im Vorfeld gefordert worden.36 Die international inspirierte Einrichtung ging als spezielle Sektion aus der Zentralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen hervor und realisierte damit die Idee, eine eigens auf das Armenwesen spezialisierte Sammlungs- und Auskunftsinstitution zu etablieren. Das Frankfurter Institut für Gemeinwohl half bei der Umsetzung dieses „Spezialzweiges“.37 Sie sollte in erster Linie die Aufgabenbereiche der Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen in Hinblick auf das Armenwesen übernehmen: Materialsammlung im In- und Ausland, Auskunftstätigkeit sowie Bereitstellung allgemein zugänglicher Veröffentlichungen für das komplette Reichsgebiet. Es ging den Gründern ausdrücklich auch darum, mit dem gesammelten Material Einrichtungen oder Neugründungen zu helfen. Mit diesen archivarischen und distributiven Funktionen wollte die Abteilung für Armenpflege und Wohltätigkeit die Arbeit des Deutschen Vereins nicht konterkarieren, sondern bewusst um diejenigen Elemente 33 Vgl. „Zentralstellen der Arbeiterwohlfahrt“, in: Münsterberg, Zentralstellen für Armenpflege und Wohlthätigkeit, S. 50ff. Als Beispiele können angeführt werden: Sociale Praxis (vorher: Socialpolitisches Centralblatt und Blätter für sociale Praxis), Volkswohl (Zeitschrift des Zentralvereins für das Wohl der Arbeitenden Klasse) oder die Zeitschrift der Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen. 34 Gleiches gilt beispielsweise für die Zentralleitung des Wohlthätigkeitsvereins in Württemberg, den Zentralverband deutscher Arbeiterkolonien, den Evangelisch-Sozialen Kongress und den Zentral-Ausschuss für die Innere Mission. 35 Im Folgenden wird die ältere Bezeichnung Abteilung für Armenpflege und Wohltätigkeit verwendet, um eine Verwechselung mit ähnlich lautetenden Einrichtungen, wie zum Beispiel mit der Zentrale für private Fürsorge in Frankfurt a. M. zu vermeiden. 36 Münsterberg, Zentralstellen, S. 66f. 37 Über die Gründung der Abteilung für Armenpflege und Wohltätigkeit siehe Sociale Praxis (1898), 23, S. 629.

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ergänzen, denen das oberste Organ der Fürsorgeexpertise nicht gerecht wurde: „das reiche Material nicht verkommen zu lassen“38. Den Grundstock für die Sammlungstätigkeit boten die Sammlungen von Reitzenstein und Münsterberg. Mit ihren Namen verband sich auch die klare Stoßrichtung der Abteilung für Armenpflege und Wohltätigkeit, die insbesondere auch die Sicherung und Bereitstellung des ausländischen Materials umfasste. Die 1912 vollzogene Eingliederung der Institution samt der Zeitschrift für das Armenwesen in den Deutschen Verein stellte sich als ein logischer Schritt dar. Das Erbe Münsterbergs wurde damit in einer einzigen Organisation vereint.39 Die internationale Vernetzung der Abteilung für Armenpflege und Wohltätigkeit mit gleichartigen ausländischen Einrichtungen wurde in den Satzungen als eine der zentralen Aufgaben festgehalten. Der Abteilung war die Aufgabe auferlegt worden, „mit Vertretern der ausländischen Fürsorgethätigkeit in Verbindung zu stehen und die Ergebnisse für deutsches Fürsorgewesen nutzbar zu machen“40. Ihr Zweck bestand also im Austausch von Informationen innerhalb des Deutschen Reiches und darüber hinaus. Dementsprechend sind dort seit der Gründung 1897 vielfältige internationale Beziehungen nachweisbar. So sind Verbindungen zu den englischen und amerikanischen COS, der Société internationale und anderen sozialreformerischen Gruppierungen aus der Schweiz, Österreich, Italien und auch Russland dokumentiert.41 Dieser rege Verkehr spiegelte sich einerseits in den Bibliographien wider: Dieses „Bedürfnis nach sorgfältiger Systematik“ von internationaler Literatur „in thunlichster Vollständigkeit“ ging auf ausländische Vorbilder zurück und hatte selbst den Anspruch, international rezipiert werden zu können.42 Andererseits zeigen sich die internationalen Verbindungen speziell auch in der Auskunftsstätigkeit selbst. Dem Jahresbericht von 1900 ist zu entnehmen, dass von 137 Anfragen immerhin 33 aus dem Ausland kamen.43 Im Jahr 1903 waren es dann schon 58 von 211. Im Jahr 1906 waren es 97 von 241 und 1910 dann etwas rückläufige, dennoch signifikante 77 von 367 Anfragen, die aus dem Ausland gestellt wurden.44 Die Verteilung der Länder stellte sich meistens so dar, dass Frankreich, Österreich und die USA überwogen, gefolgt von England, der Schweiz, den Niederlanden, Belgien und den skandinavischen Ländern. 1907 gab 38 Ebd. 39 SDV 99 (1912), S. 7–11. Die Geschäftsführung wurde daraufhin von Dorothea Hirschfeld übernommen. 40 Vgl. hierzu die Satzungen der ‚Abteilung‘, in: ZdA 1 (1900), 1, S. 2 sowie ausführlich in: ZdA 1 (1900), 2, S. 5f. Zitat: Münsterberg, Zentralstellen, S. 65. 41 ZdA 1 (1900), 1, S. 3. 42 Vgl. Vorwort in: Münsterberg, Bibliographie des Armenwesens. Diese Bibliographie entstand aus dem systematischen Katalog der Abteilung für Armenpflege und Wohltätigkeit und erschien auch auf Französisch, um auf der Weltausstellung und dem internationalen Kongress leichter rezipiert werden zu können. Als Vorbild diente A. Montheuil, L’assistance publique à l’étranger. 43 ZdA 3 (1902), 6, S. 21f. Zehn Anfragen kamen aus Frankreich, acht aus Österreich, sieben aus Russland, drei aus Amerika, zwei aus Australien und jeweils eine aus England, Norwegen und Portugal. 44 ZdA 9 (1908), 7, S. 201f.

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es sogar sechs Anfragen aus China und Japan – eine der wenigen Verbindungslinien, die in diese Regionen führte. Ebenso vielfältig waren die Themenfelder, über die Auskünfte eingeholt wurden: Waisenpflege, Arbeiterkolonien, das Elberfelder System oder Krankenpflege können als einige der häufigsten Fachgebiete angeführt werden.45 Umgekehrt liegen die von deutschen Vereinen, Verwaltungen oder Wohltätigkeitseinrichtungen an die Abteilung für Armenpflege und Wohltätigkeit gestellten Anfragen „über Ausländische Armenwesen“ im oberen Mittelfeld der Interessensschwerpunkte, was auf die Gegenseitigkeit der Wahrnehmung unter den international vernetzten Fürsorgeexperten verweist. Des Weiteren „wurde die Abtheilung auch von Fachgenossen des Auslandes [vielfach] besucht und unmittelbar zu Studienzwecken benutzt“, wodurch auch ein persönlicher Kontakt zustande kam.46 Alles in allem weisen alle Belege darauf hin, dass die Abteilung für Armenpflege und Wohltätigkeit zusammen mit ihrer Zeitschrift für das Armenwesen die wichtigste deutsche Einrichtung für die internationale Wissensvernetzung war und als eigentlicher Motor der internationalen ‚Ausrichtung‘ in der deutschen Fürsorgefachwelt anzusprechen ist.47 Aber auch in anderen Bereichen zeigte sich die Hochschätzung, fachspezifische Kenntnisse aus verschiedenen ‚Fürsorgesystemen‘ zu sammeln und zu studieren. In Fachkreisen der Armenfürsorge wurde immer wieder darauf aufmerksam gemacht, wie wichtig die Auseinandersetzung auch mit Verwaltungsschriften sei48: Im Deutschen Verein wurde ausdrücklich die Lektüre der „Blaubücher“ der englischen Local Government Board und der Verwaltungsschriften der französischen Direction de l’Assistance et de l’Hygiène publiques empfohlen. Gleiches galt für die zwei bis drei „dicken Bände“, die regelmäßig von den amerikanischen State Boards eintrafen und die neun Bände Sitzungsberichte sowie Statistiken einer italienischen Armenkommission.49 Sichtbar wurde diese Haltung darüber hinaus bei der Bewertung des Materials, welches die internationalen Kongresse zur Verfügung stellten. Ihr Wert wurde besonders hervorgehoben.50

45 Siehe ebd. 46 ZdA 3 (1902), 6, S. 21f. Siehe auch ZdA 9 (1908), 7, S. 201f. und ZdA 13 (1912), 1, S. 42f. 47 Leider ist wie im Falle des Deutschen Vereins, in welchen die Zentralstelle später inkorporiert wurde, fast kein Archivgut erhalten, weshalb für die Recherchen auf die umfangreichen Publikationen, insbesondere die Zeitschrift für das Armenwesen zurückgegriffen werden musste. 48 „Gleichwohl giebt es eine Anzahl Publikationen, die auf der Grenze zwischen Monographie und Verwaltungsbericht stehen, wie beispielsweise die englischen ‚Reports des Local Government Board‘, die ‚Annales départementales‘, die ‚Atti della commissione reale sulle opere pie‘ u. a. m., die zwar zunächst dem unmittelbaren Verwaltungszweck zu dienen bestimmt sind, die aber darüber hinaus eine allgemeinere Bedeutung für die Litteratur des Armenwesens gewinnen“, vgl. Münsterberg, Bibliographie, Vorwort, S. VI. 49 Vgl. SDV 56 (1901), S. 22 und SDV 40 (1898), S. 11. 50 Z. B. in: ZdA 2 (1901), 5, 17f. und ZdA 7 (1906), 7, S. 196f., wo der Wert der Veröffentlichungen hervorgehoben wird, welche im Rahmen der Internationalen Kongresse für Armenpflege und Wohltätigkeit entstanden waren.

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Die hier beschriebene internationale Wissensvernetzung, an der die deutsche Armenfürsorge zwar verspätet, dann aber sprunghaft aufholend mitwirkte, hatte sehr wichtige Veränderungen zur Folge. Die Zunahme des Detailwissens über die ausländischen Armenwesen bewirkte einerseits, dass man sich verstärkt auf spezifische Fachthemen der Fürsorgepraxis bezog. Andererseits wurde auch deutlich, dass die Unterschiede zwischen den Systemen aus einem fürsorgebezogenen Standpunkt heraus betrachtet gar nicht so groß waren, wie man immer annahm. So setzte sich beispielsweise die Erkenntnis durch, dass das „romanische System“, das im Wesentlichen auf dem Umfang der bestehenden Mittel eine fakultative Armenpflege bereitstellte, in seiner Wirkung den gleichen Versorgungsgrad erzielte wie das obligatorische „germanische System“. Der Ausbau der obligatorischen Elemente in den „romanischen Ländern“, wie etwa die unentgeltliche Unterstützung bedürftiger Kranker, bestätigten die deutschen Sozialreformer zusätzlich in der Ansicht, dass in den „Grundfragen“ bereits „weitgehende Uebereinstimmung“ herrsche: In allen Kulturstaaten ist die Pflicht des Gemeinwesens, sich der notleidenden Glieder anzunehmen, anerkannt und ebenso das Recht und die Pflicht des Staates, die darauf abzielenden Bestrebungen zu leiten und zu beaufsichtigen. [...] So sind denn auch die Hauptprobleme, die ihrer Lösung harren, überall dieselben. Die früher lebhaft diskutierten Fragen, ob obligatorische oder fakultative, ob bürgerliche oder kirchliche Armenpflege, sind stark zurückgetreten.51

Der intensivierte Austausch legte offen, dass man sich hinsichtlich der Leitprinzipien, welcher der Armenfürsorge zugrunde lagen, sehr nahe stand und so manche institutionelle Ausgestaltung der Armenfürsorge große Ähnlichkeiten mit den eigenen besaß. Damit einher ging ein Wandel der Wahrnehmungsperspektive. Zum einen stand nicht mehr die Idee im Mittelpunkt, dass alleine die Länder mit ähnlichen System- und Rechtsgrundlagen als Bezugspunkt zu gelten hatten. Zum anderen nahm die vom nationalstaatlichen Konkurrenzdenken geprägte Fokussierung auf spezifische Leitbilder ab. Aufgrund der betonten Praxisbezogenheit verschob sich der Betrachtungsschwerpunkt nun jeweils dorthin, wo nach Ansicht der Fürsorgeexperten die effizientesten, ‚modernsten‘ und ‚zweckmäßigsten‘ Fürsorgepraktiken, Gesetzesbestimmungen und Wohltätigkeitseinrichtungen anzutreffen waren. Dies hatte zur Folge, dass in den internationalen Debatten je nach Themenbereich und Gegenstand ein anderes ‚Fürsorgesystem‘ hervorstach. 3. WISSENSVERNETZUNG UND INTERNATIONALE DEBATTENKULTUR Wissenssammlung und Wissensorganisation war um das Jahr 1900 in den unterschiedlichen ‚Fürsorgesystemen‘ garantiert. Was die Wissensverbreitung anbelangte, auf deren Grundlage wohltätige Einrichtungen etwa Neuerungen einführen konnten, so waren hierfür neben der Auskunftsstätigkeit vor allem Fachpublikati51 Handwörterbuch der Staatswissenschaften (2. Aufl., 1898), Bd. 1, S. 1076.

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onen geeignet. Dazu muss gesagt werden, dass es einen mehr oder weniger regelmäßigen Literaturaustausch zwischen Sozialreformern unterschiedlicher Nationen schon lange gab. Beispielsweise wurden die Konzepte der englischen Wohnungsfürsorge von Sydney Waterlow (Philanthropy and Five Percent Model, 1863) oder Octavia Hill (Housing Management System, 1864) in Deutschland schon früh rezipiert52, umgekehrt wurde das Grundlagenwerk von Arwed Emminghaus über „Das Armenwesen und die Armengesetzgebung in europäischen Staaten“ (1870) ebendort wahrgenommen.53 Eine Zunahme dieses länderübergreifenden Literaturtransfers lässt sich besonders nach den internationalen Kongressen 1889, 1893 und 1896 in Paris, Chicago und Genf feststellen, als erstmals ganze Bibliographien über die nationalen Grenzen hinaus in Umlauf kamen. Ein wirklicher Durchbruch bei der Verbreitung von fachspezifischen Publikationen gelang jedoch mit der internationalen Rezeption von Zeitschriften, die sich mit dem Armenwesen befassten. Hierzu zählten die Revue d’assistance und La Revue philanthropique aus Frankreich54, The Charity Organisation Review aus England, die Rivista della beneficenza pubblica delle istituzioni di previdenza e di igiene sociale aus Italien, die niederländische Tijdschrift voor Armenzorg, Die Humanität aus Österreich, die Schweizerische Zeitschrift für Gemeinnützigkeit, die Zeitschrift Charities55 aus den USA und die russische Trudowaja Pomoschtsch (‚Die Arbeitshilfe‘). Auch hier zeigt sich ein ähnliches Bild, nämlich das von der deutschen Armenfürsorge als Nachzügler im internationalen Vergleich. Die Notwendigkeit, die nationale und internationale Wissensvernetzung mit einer adäquaten, auf die Belange des Armenwesens spezialisierten Fachzeitschrift voranzutreiben, führte 1900 in Verbindung mit der Abteilung für Armenpflege und Wohltätigkeit zur Etablierung der Zeitschrift für das Armenwesen. Dass das monatlich erscheinende Publikationsorgan von den eben erwähnten Zeitschriften inspiriert worden war und sich an deren Aufmachung orientierte, machte sein Verleger, Emil Münsterberg, deutlich: „Unsere Zeitschrift wird sich nun auch ihrem äusseren Umfange nach den genannten Zeitschriften einreihen“, und dazu gehörte insbesondere, „Material-Nachweisungen“ aus dem Ausland zu sammeln, aufzuarbeiten und bereitzustellen.56 Nachdem ihre internationalen Vorbilder teilweise schon länger existierten, hatte nun auch die deutsche Armenfürsorge eine professionelle und flächendeckend erscheinende Fachzeitschrift. 52 Lammers, Ziele und Bahnen, S. 6f., vgl. auch Adam, Transatlantic Trading, S. 328ff. sowie ders., Housing Charities and the Provision of Social Housing in Germany and the United States of America, Great Britain, and Canada in the Nineteenth Century, in: Harris/Bridgen (Hrsg.), Charity and Mutual Aid in Europe and North America, S. 158–188. 53 Vgl. Hennock, German Models, in: Muhs/Paulmann/Steinmetz (Hrsg.), Aneignung und Abwehr, S. 136f. Tennstedt, Anfänge sozialpolitischer Intervention in Deutschland und England, S. 635. 54 Die Revue d’assistance („Bulletin de la Société internationale pour l’étude des questions d’assistance“) wurde 1901 in die Revue philanthropique integriert, die bereits seit 1890 existierte. 55 Ab 1905 Charities and the Commons und ab 1909 The Survey. 56 ZdA 4 (1903), 1, S. 4.

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Bei allen erwähnten Publikationsorganen fällt schon beim Betrachten der Inhaltsverzeichnisse die beachtliche Anzahl an Artikeln auf, die sich auf ausländische oder internationale Fürsorgethemen bezogen. Vor allem die Zeitschrift für das Armenwesen, der Charity Organisation Review und die Revue philanthropique zeichnen sich durch eine hohe internationale Rezeptionstätigkeit aus, außerdem wurden eigens hierfür die Rubriken „Ausländisches Armenwesen“, „Chronique étrangère“ und „Notes on Social Work Abroad“ eingerichtet. Mindestens zwischen fünf und zehn Prozent, oft jedoch weitaus mehr der Artikel behandelten darin ausländische Armenwesen oder beziehen sich auf internationale Literatur.57 Diese Werte richten sich lediglich nach Überschriften und Leitartikeln.58 Internationale Bezüge gab es darüber hinaus regelmäßig in den unterschiedlichsten Artikeln selbst. Zwei Trends werden in allen untersuchten Publikationsorganen sichtbar: deutlich mehr internationale Bezüge nach 1900 und die Tendenz, immer spezifischere Gegenstände dauerhaft und oft über mehrere Jahre hinweg aufzugreifen und unter Berücksichtigung ausländischer Literatur oder ausländischer Berichterstatter erschöpfend darzustellen.59 Wenn es etwa darum ging, wie die englische Armenverwaltung (Local Government Board) die in Deutschland immer wieder geforderte Aufsicht über die private Wohltätigkeit ausübte, wurden durchaus ganze Jahresberichte der Inspektoren durchforstet, Statistiken abgedruckt und lokal erschienene Reporte analysiert.60 Aus den „Notes on Social 57 Vergleichend untersucht wurden die Quantität und Qualität der internationalen Bezüge in unterschiedlichen Jahrgängen vor und nach 1900. Herangezogen wurden für das Deutsche Reich die Zeitschrift für das Armenwesen bzw. für die Jahre vor 1900 insb. die Blätter für das Armenwesen, das Socialpolitische Centralblatt (bzw. Blätter für sociale Praxis und Sociale Praxis), Der Wanderer (bzw. Die Arbeiter-Kolonie), Volkswohl und die Zeitschrift der Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen. Als repräsentative Zeitschriften anderer Länder wurden La Revue philanthropique, The Charity Organisation Review, die Schweizerische Zeitschrift für Gemeinnützigkeit, Die Humanität (Österreich), La Rivista della beneficenza pubblica (Italien) und die amerikanische Zeitschrift Charities (auch: Charities and the commons bzw. The Survey) analisiert. Es gilt zu betonen, dass vor allem die Revue philanthropique, The Charity Organisation Review, die Zeitschrift für das Armenwesen sowie die Rivista della beneficenza pubblica durch eine besonders breite und anhaltend ausgeprägte internationale Rezeptionstätigkeit hervorstechen. 58 Nimmt man beispielsweise den 8. Jahrgang der Zeitschrift für das Armenwesen (1907), so berichten allein ein Drittel der Hauptartikel über ausländische bzw. internationale Themen. Darüber hinaus geht aus dem „Nachweis von Material“ hervor, dass internationale Bezüge in Form von Literatur, Autoren oder aber auch in Form von Berichten von ausländischen Einrichtungen bzw. Versammlungen generell einen sehr hohen Stellenwert einnahmen und sich auch in den nachrangigen Artikeln deutlich niederschlugen, vgl. ZdA 8 (1907), S. III – VIII. 59 Zum gleichen Ergebnis kommt Franz-Michael Konrad, der in eine quantitativqualitative Untersuchung die „Gesamtauslandsberichterstattung“ in unterschiedlichen deutschen sozialpolitischen Zeitschriften, darunter auch die Zeitschrift für das Armenwesen, für den Zeitraum von 1900 bis 1933 analysierte, vgl. F.-M. Konrad, „Ob das amerikanische Beispiel nachgeahmt werden kann ..., läßt sich noch nicht abschließend beurteilen.“ Die Bedeutung des Auslands in den sozialpädagogischen Reformdebatten in Deutschland 1900 – 1933, in: Hamburger (Hrsg.), Innovation, S. 20–60. 60 „Englisches Armenwesen“, in: ZdA 1908, 1, S. 1ff.

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Work Abroad“ im Charity Organisation Review geht umgekehrt hervor, dass man zur Darstellung deutscher Fürsorgepraktiken nicht nur die Zeitschrift für das Armenwesen und die Schriften des Deutschen Vereins ausführlich studierte, sondern unter anderem auch das Reichsarbeitsblatt, die Zeitschrift für Sozialwissenschaft, das Jahrbuch für National-Ökonomie, die Sociale Praxis, den Wanderer und auch städtische Verwaltungsberichte sowie statistische Jahrbücher in Betracht zog. Als Folge entstanden durchaus sehr detailverliebte Beschreibungen wie die des „Volksvereins Bremen“, um den Fürsorgeexperten einen möglichst exakten Einblick in die Alltagspraxis einiger Einrichtungen zu gewähren. 61 Die Beispiele belegen auch hier einen Qualitätswandel hinsichtlich der internationalen Wahrnehmung: Sie bewegte sich weg von systemvergleichenden Darstellungen hin zu professionalisierten und von jeweiligen Interessensschwerpunkten abhängigen Fragestellungen der praktischen Fürsorgetätigkeit. Ab 1900 kam es, ausgelöst durch den Internationalen Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit in Paris, zu einem zusätzlichen Anstieg der internationalen Rezeption von Fachartikeln, so dass von einer beispiellosen Verdichtung des internationalen Informationsnetzwerkes gesprochen werden kann. Für den internationalen Erfolg der Zeitschriften war entscheidend, dass die Austauschbeziehungen dauerhaft formalisiert wurden, indem sich die Redaktionen gegenseitig Exemplare ihrer Drucksachen zukommen ließen.62 Anders als die zergliederten und umfangreichen Monographien, wie sie von den großen Vereinen herausgebracht wurden, eigneten sich die Fachzeitschriften für einen schnellen Zugang zu Informationen über das Armenwesen. Ein Zeitschriftenartikel liest sich leichter, zumal in der fremden Sprache, als eine 150 Seiten starke Studie. Trotzdem zeichnet er sich durch fachlichen Tiefgang aus. Die Zeitschriften waren außerdem immer auf dem neuesten Stand. Sie berichteten von effizienten Organisationsprinzipien, vorbildlichen Fürsorgeeinrichtungen oder Methoden der Armenpflege. Die Besprechung von Lokalstudien oder Berichte über Wohltätigkeitseinrichtungen wurden ebenso ausführlich dargestellt wie verabschiedete Gesetze oder Gesetzesentwürfe. Die Lektüre weiterführender Untersuchungen wurde durch Buchbesprechungen angeregt. Zuletzt sind oftmals auch Publikationen von internationalen Kollegen, entweder in Form von Übersetzungen oder als eigens für diesen Anlass ausgearbeitete Artikel, anzutreffen. Beispielsweise bildeten Münsterbergs Kommentare zu Georges Rondels Artikel in der Revue philanthropique, in denen er von der Entwicklung des internationalen Kongresswesens berichtete, die Grundlage für eine weiterführende Erörterung des Themas und einer angepassten Neueinschätzung.63 Umgekehrt bildeten die aus dem Charity Organisation Review übernommenen und kommentierten Beiträge über „the reform of the Poor Law“ sowie „the relief of poverty“ von 1903 und 1904 den Startschuss für eine breite 61 COR (1906), 2, S. 158. 62 In „Das ausländische Armenwesen“, in: SDV 52 (1901), S. 1–3 beschreibt Münsterberg die Herkunft des „übermäßig angewachsenen“ Materials, das aus dieser Sammlungstätigkeit heraus enstand. 63 Vgl. RP XVII (1905), S. 105ff. RP XVII (1905), S. 326ff. und RP XXVI (1910), S. 633–641.

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Rezeption der englischen Reformdebatten, welche ihrerseits in Deutschland reflektiert fortgesetzt wurden.64 Das dichte Netz an Verweisen auf internationale Publikationen macht deutlich, dass von einer internationalen Debattenkultur gesprochen werden kann. Hierbei fällt die Häufigkeit auf, mit der solche Sozialreformer bevorzugt zu Wort kamen, die im Comité international des Congrès d’assistance publique et privée und auf den internationalen Kongressen ins Gewicht fielen. Sie dominierten die internationale Dimension der Fürsorgedebatten. Die oftmals wiederholte „rühmende Anerkennung“65 der internationalen Bestrebungen, vermittelt durch die Publikationen, stärkte somit das Selbstverständnis der sozialreformerischen Gruppierungen, denen im Kampf um Wahrnehmung und Deutungshoheit in den sozialpolitischen Auseinandersetzungen jede Unterstützung recht kam. Die internationalen Bezüge sind stets in einem sachlichen Ton verfasst und haben den Anspruch, die Verfeinerung und Optimierung fürsorgebezogener Ansätze herbeizuführen. Sie waren allerdings mehr als eine bloße Ideenbörse. Die internationale Rezeption förderte das Entstehen vergleichbarer Themenkomplexe und entwickelte unentwegt Analogien, die das Selbstverständnis und die sozialreformerische Tätigkeit verbessern, anpassen oder auf den Prüfstand stellen konnten. Eine gewisse Homogenisierung der Debattenkultur in der Armenfürsorge, insbesondere hinsichtlich der vertretenen Leitprinzipien und des allgemeinen ‚Agenda Settings‘, machte sich nicht nur innerhalb der ‚Fürsorgesysteme‘, wie etwa in Deutschland und Frankreich, sondern auch in den internationalen Debatten bemerkbar.66 Die Folge war eine Vereinheitlichung sowohl der Themen, über die man sprach, als auch der Art und Weise, wie man sie anging. Die Zeitschriften dienten durch ihre wissenssynthetische Funktion und praxisorientierte Darstellungsweise als Schrittmacher der Armenfürsorge, indem sie Sichtweisen bestätigten, korrigierten oder von neuen Ansätzen ablösten. Es ging darum, „die moderne Armenpflege auf dem Boden neuer socialer Auffassungen aufzubauen“ und die „heimische Thätigkeit“ durch den internationalen Austausch „befruchtend anzuregen“.67 Die Sicherung des armenpflegerischen und wissenschaftlichen Qualitätsstandards sollte dadurch erreicht werden.68 Der Gebrauch von Statistiken und der gemeinsamen ‚Sprache der Reform‘ vereinfachte die Austauschbeziehungen zusätzlich. Der Verfasser eines Artikels konnte 64 In den Artikeln „The reform oft he Poor Law“, in: COR (1903), S. 317–326, „The relief of poverty“, in: COR (1904), S. 119ff., und daran anschließend in: ZdA 1904, 10, S. 280ff. besprochen und mit umfangreicher Literaturliste versehen. Auf die daran anschließenden Debatten und die Einflüsse der englischen Reformdebatten in deutschen Fürsorgekreisen wird noch an verschiedenen Stellen dieser Untersuchung einzugehen sein, vgl. vor allem Kapitel III, 8. 65 ZdA 2 (1901), 5, S. 17. Hier in Bezug auf den internationalen Kongress 1900 in Paris. 66 Ausführlich zu diesem Trend vgl. Kapitel III dieser Arbeit. 67 „Das ausländische Armenwesen“, in: SDV 52 (1901), S. 3. 68 Dies wird insbesondere auch dadurch deutlich, dass sich die – generell selten anzutreffende – Kritik an ausländischen Publikationen zum Armenwesen meistens auf grobe „technische“ oder „wissenschaftliche“ Mängel beschränkte, wie zum Beispiel bei der Besprechung von Montheuil, L’assistance publique à l’étranger, in: ZdA 1 (1900), 12, S. 46.

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seine Argumente ohne die Berücksichtigung der internationalen Literatur nicht vollständig zur Geltung bringen. Die internationale Vernetzung erfüllte damit verschiedene Funktionen. Einerseits sicherte sie bestehende Ansichten und ermöglichte die Erweiterung des Argumentationsrepertoires, andererseits stärkte sie den sozialreformerischen Gemeinschaftssinn: mit der Möglichkeit, sich aus aller Herren Länder in kürzester Zeit über alle diese Dinge zu unterrichten, wächst das Verlangen, gemeinschaftlich den Feind gesunder Wirtschaft, die Armut, zu bekämpfen.69

Ein ausführlicher Sammlungs- und Auskunftsauftrag über „das Armenrecht fremder Staaten“ bestand daneben auch im Reichsamt des Innern beziehungsweise im Reichsversicherungsamt.70 Auch die Akten des Auswärtigen Amtes dokumentieren einen regen Verkehr: Hier ging es meistens um gegenseitige Auskünfte und Informationsbeschaffung, Übermittlung von Gesetzesentwürfen oder Gesetzestexten, Berichterstattungen über Reformtätigkeiten im Armenwesen, statistisches Material und fachkundige Kommentare über ausländische Fürsorgepraktiken.71 Einige internationale Anfragen wurden unmittelbar an die Abteilung für Armenpflege und Wohltätigkeit weitergeleitet. Dies geschah zum Beispiel, als die russische Regierung 1907 genaue Auskünfte über Gesetze, Rechenschaftsberichte und Veröffentlichungen erbat, welche sich auf die Armen- und Wohlfahrtspflege in Deutschland bezogen. Der eigens für Studienzwecke ins Deutsche Reich gesandte russische Staatsberater wurde bestens betreut und bekam ein von Münsterberg zusammengestelltes, beachtliches Gesamtpacket an Materialen ausgehändigt.72 Auch die englische Armenkommission (1905–1909) wandte sich an die Reichsregierung mit der Bitte, die beigelegten Fragebögen an die entsprechenden städtischen und kommunalen Fürsorgeeinrichtungen weiterzureichen.73 Neben den generellen Bestimmungen des Armenwesens interessierte die Kommissionsbeauftragen eine detaillierte Beschreibung der Finanzierung, Mittelbeschaffung, der beruflichen Ausbildung von Armenpflegern, Fragen hinsichtlich des Unterstützungswohnsitzes, der Kompetenzverteilung und der Rolle der privaten Wohltätigkeit. Fachreferenten aus unterschiedlichen Städten und Fürsorgeeinrichtungen sollten zu diesen und vielen anderen Fragen Stellung beziehen. Ausdrücklich hatten sie den Erfolg oder Misserfolg der deutschen Fürsorgeorganisation zu bewerten und ihren englischen Kollegen Empfehlungen (sic!) für Reformen in England

69 ZdA 4 (1903), 1, S. 10. 70 Siehe die „Akten betreffend: das Armenrecht fremder Staaten“, in: BArch R 1501 / 101309, 101310 und 101311. 71 Die ausführliche Sammlungstätigkeit und Auskunftserteilung ist in BArch R 901 / 31836–8 (und folgende) dokumentiert („Nachrichten über die Armenkolonien, über die Armengesetze, Armentaxen und das Armenwesen“). Zugleich lagen auch die Berichte des Deutschen Vereins vor, vgl. BArch R 901 / 31844. 72 Vgl. hierzu Korrespondenz mit der Abteilung für Armenpflege und Wohltätigkeit, in: BArch R 901 / 31840 1902–1905 und R 901 / 31841 1907. 73 BArch R 901 / 31841. Ausführlich dokumentiert in: „The Reform System of Poor Relief in Germany“, in: Royal Commission on the Poor Law and Relief of Distress, Report, S. 495ff.

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zu geben.74 Die Folge war die bis dahin wohl größte internationale Sammlungsund Auskunftstätigkeit, die im Rahmen einer Fachkommission zur Armenfürsorge organisiert wurde. Die in allen Beispielen zum Ausdruck kommende Selbstverständlichkeit, mit der man grenzüberschreitend Kenntnisse über das Armenwesen sammelte und verteilte, hatte letztlich auch eine latente Transnationalisierung der Wissensbestände selbst zur Folge. Für die historiographische Analyse der Armenfürsorge bedeutet dies in erster Linie, dass viele Praktiken und Umsetzungen aus der internationalen Wissensverflechtung heraus entstandenen sind und als solche berücksichtig werden müssen, auch wenn sie an sich nicht immer unbedingt explizit als spezifisch ‚international‘ betitelt wurden. 4. PERSÖNLICHE KONTAKTE UND STUDIENREISEN Die Funktionsweise und der Erfolg des grenzübergreifenden Netzwerkes werden dann erst hinreichend veranschaulicht, wenn man die persönlichen Beziehungen der Fürsorgeexperten in den Blick nimmt. Viele Armenpflegerinnen und Armenpfleger unterhielten internationale Kontakte und betonten den „Wert persönlicher Berührung“: denn diese dürfe auch „auf diesen eminent friedlichen Arbeits- und Wissensgebieten nicht unterschätzt werden“, wie es Münsterberg formulierte.75 Um der Bedeutung einzelner Frauen und Männer für die Entstehung einer sozialreformerischen Internationalen gerecht zu werden, wären jeweils ausführliche biographische Untersuchungen notwendig, die hier nicht geleistet werden können. Die Darstellung beschränkt sich im Folgenden auf einige exemplarische Verbindungslinien zwischen den international vernetzten Vertretern der Armenfürsorge und stellt verallgemeinernd einige Tendenzen heraus. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass sich weitere Forschungen geradezu aufdrängen. Die meisten Untersuchungen zu persönlichen internationalen Kontakten zwischen Vertretern der Sozialreform fokussieren die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg.76 Dabei riefen vor allem die Beziehungen derjenigen Akteurinnen Interesse hervor, welche den Anfängen der Sozialen Arbeit zugeordnet werden und häufig mit der Frauenbewegung assoziiert waren. Studien über die internationalen Verbindungen der

74 Zusätzlich erbat die Armenkommission ausführliche Informationen aus den einzelnen deutschen Staaten sowie aus Frankreich, der Schweiz, Österreich-Ungarn, Italien, Dänemark, Belgien, Schweden, Norwegen und Holland, vgl. BArch R 901 / 31841. 75 Münsterberg, Zentralstellen, S. 65. 76 So zum Beispiel A. Braune, Konsequent den unbequemen Weg gegangen (Adele Schreiber); Eilers, René Sand (1877 – 1953); S. Klöhn, Helene Simon, sowie die Studien über die Netzwerke Alice Salomons, vgl. S. Hering/B. Waaldijk (Hrsg.), History of Social Work in Europe (1900–1960), Hegar, Transatlantic Transfers. Mit stärkerem Bezug auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg vgl. Schüler, Frauenbewegung.

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empirisch nachweislich bedeutendsten Akteure der Armenfürsorge vor dem Ersten Weltkrieg gibt es wenig.77 Im Untersuchungszeitraum lassen sich unterschiedliche Typen persönlicher Netzwerke erfassen. Zunächst kann festgehalten werden, dass das Kontaktknüpfen und der persönliche Austausch zwischen Sozialreformern schon immer fester Bestandteil intellektueller Umgangsformen war.78 Die internationalen Kontakte zwischen 1880 und circa 1900 entstanden zunächst noch im Rahmen dieser traditionellen Bildungspraktiken. Dank ausreichender finanzieller Mittel war es den Oberschichten möglich, Studienaufenthalte und Studienreisen ins Ausland zu unternehmen. Die verbesserte Infrastruktur und die verkehrstechnischen Neuerungen ließen aus solchen Reisen ein Massenphänomen der Bildungselite werden.79 Die Sozialreformer sind damit auch als typische Intellektuelle ihrer Zeit anzusprechen: Grenzüberschreitende Bildungserfahrungen gehörten im 19. Jahrhundert zum Habitus eines Gelehrten. Dieser wollte seinen Wissenshorizont erweitern und seine Weltoffenheit zum Ausdruck bringen. Der Reiseerfahrung lag das Ideal zugrunde, bildungsbeflissen, kosmopolitisch und perfektionistisch in Hinblick auf alle Formen der Kenntniserweiterung zu sein. Es ging den Reisenden weniger darum, ‚Land und Leute‘ kennenzulernen, als vielmehr darum, umfassendes Wissen in dem Bereich anzusammeln, in dem man als Fachkundiger gelten wollte. Für das Expertentum der Armenfürsorge war der im 19. Jahrhundert vorherrschende Typus der ‚Gelehrtenreise‘ eine gängige Praxis.80 Viele wichtige Persönlichkeiten der deutschen Fachwelt hielten sich für Studienzwecke im Ausland auf, unter ihnen Paul F. Aschrott, Friedrich von Bodelschwingh, Victor Böhmert, Karl Flesch, Conrad von Massow, Emil Münsterberg, Ludwig F. Seyffardt, Jeanette Schwerin und Freiherr von Reitzenstein. Die meistbesuchten Länder waren Belgien, England, Frankreich, die Schweiz und die USA.81 Ein wesentlicher Bestandteil der Reiseerfahrung bestand darin, Wissen über andere ‚Fürsorgesysteme‘ zu sammeln, welches dann in Auslandsberichten dokumentiert und den heimischen Kollegen geschildert wurde. Bestimmte Orte traten als bevorzugte Studienziele in Erscheinung: So zum Beispiel die belgischen Arbeiterkolonien oder die Settlements in England. Die Besonderheiten anderer ‚Fürsorgesysteme‘ wurden in den

77 Ein erster Einstieg zur Literatur von und über wichtige Persönlichkeiten der Sozialreform und Sozialarbeit ist dank Hansen/Tennstedt (Hrsg.), Biographisches Lexikon zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1871 bis 1945, möglich. Weitere Arbeiten, welche die Bedeutung persönlicher Beziehungen von Sozialreformern unterschiedlicher Länder vor dem Ersten Weltkrieg hervorheben: Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft; Herren-Oesch, Women in Welfare; R. Egloff, Schweizer Modelle im internationalen Diskurs, in: Gilomen (Hrsg.), Von der Barmherzigkeit zur Sozialversicherung; Rodgers, Atlantiküberquerungen; Schäfer, American Progressives. 78 Zu früheren Netzwerken der Sozialreform vgl. Leonards/Randeraad, Transnational Experts, in: International Review of Social History 55 (2010), 2, S. 215–239. 79 Vgl. P. Gonon, Reisen und Reform, in: E. Fuchs (Hrsg.), Bildung International, S. 116ff. 80 Vgl. ebd, S. 117f. 81 Vgl. hierzu die Kurzbiographien in Hansen/Tennstedt (Hrsg.), Biographisches Lexikon.

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Forschungsarbeiten und Reiseberichten stets hervorgehoben.82 Oftmals lag ein bestimmtes Erkenntnisinteresse vor oder die Studienreisenden trugen ihre Vorstellungen und Erwartungen an das Studienobjekt heran, um dann in den heimischen Fürsorgedebatten reformfördernde Ansichten zu verbreiten oder umgekehrt ablehnende Haltungen mittels dieses Erfahrungsschatzes zu untermauern.83 In diesem Sinne sind die englischen Delegationen zu fassen, die sich in Deutschland 1871, 1888 und 1905 aufhielten, um unter anderem das in Elberfeld etablierte Quartierssystem zu studieren.84 Vereinzelt wurden auch langlebige persönliche Kontakte zu ausländischen Kollegen geknüpft. Dies betraf beispielsweise die amerikanischen progressives, die in Europa, meistens in England, Deutschland und Österreich studiert hatten und deren Verbindungen zu ihren transatlantischen Kollegen bereits gut erforscht sind.85 Auf der Mikroebene der Sozialreformbewegungen dienten die direkten persönlichen Beziehungen als wichtige Quelle der fachlichen Inspiration. Zum Beispiel hatten die Reiseerfahrungen Reitzensteins dazu geführt, dass er die Armenfürsorge der europäischen Staaten stärker miteinbezog und die Vorteile eines internationalen Austausches generell propagierte. Neben den Studien und der Literaturbetrachtung führte er auch internationale Korrespondenzen.86 Reitzensteins Sichtweise ist auch vor dem Hintergrund seiner Tätigkeit in Elsass-Lothringen zu sehen, wo die historische Verbindung mit Frankreich stets präsent war. All diese Eindrücke überzeugten ihn davon, dass die Zeit reif sei für eine neue Form der internationalen Vernetzung, oder wie er es formulierte: für eine „hearty cooperation between nations in the great questions of civilisation“87. Auf diese Weise äußerte er seine Hoffnungen anlässlich des Chicagoer Wohltätigkeitskongresses 1893 und versuchte zugleich eben diese Vorstellungen in den Deutschen Verein hineinzutragen. Einen noch stärkeren Eindruck hinterließen die Reiseerfahrungen bei Jeanette Schwerin. Sie lernte im Sommer 1894 England und das dortige Armenwesen kennen und reihte sich damit in eine spezifische Tradition der internationalen Vernet82 Auf sie wird in den Kapiteln II. und III. dieser Arbeit verschiedentlich eingegangen. Exemplarisch seien hier die Arbeiten von Felix Aschrott über das englische Armenwesen angeführt, vgl. Aschrott, Das englische Armenwesen; ders., Die Entwicklung des Armenwesens in England seit dem Jahre 1885, JGVV (1898), S. 441–504. 83 Siehe beispielsweise Aschrotts positive Ausführungen über die „vorbildlichen“ Waisenhäuser in England und den USA, welche er auf Studienreisen besuchte und von denen er auf der 9. Jahresversammlung (1888) des Deutschen Vereins berichtete, SDV 7 (1888), S. 31f. 84 Zum stark ausgeprägten Interesse britischer Sozialreformer am deutschen Fürsorge- und Vorsorgewesen vgl. Hennock, German Models, in: Muhs/Paulmann/Steinmetz (Hrsg.), Aneignung und Abwehr, S. 127–142, hier insbesondere zur Auseinandersetzung mit dem Elberfelder System S. 133ff. 85 Rodgers, Atlantiküberquerungen, insb. S. 76ff., S. 92ff. und S. 101–131 sowie Schäfer, American Progressives. 86 Zum Beispiel mit der Société internationale (bzgl. der Fragen über die Fürsorge für ausländische Hilfsbedürftige), SDV 15 (1891), S. 16. 87 Reitzenstein, The International Treatment, in: General Exercises of the International Congress 1893, Bd. 1, S. 21.

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zung: Sie verband Protagonistinnen der bürgerlichen Frauenbewegung, die sich speziell über Fragen der sozialen Tätigkeit international berieten.88 Ihrem Beispiel der persönlichen Vernetzung folgten andere Sozialreformerinnen und Frauenrechtlerinnen, unter ihnen Marie Baum, Frieda Duensing, Minna Cauer, Helene Simon, Alice Salomon und Adele Schreiber. Ihre Beiträge zur Professionalisierung der Sozialarbeit und Ausweitung der Wohlfahrtspflege sind unbestritten und verschiedentlich international inspiriert.89 Es war charakteristisch für die Phase vor 1900, dass fast alle internationalen Verbindungen im Armenwesen auf den Erfahrungen dieser Gelehrtenreisen beruhten beziehungsweise an den daraus entstandenen punktuellen Kontakten hingen. Dies zeigte sich besonders auf den internationalen Kongressen. So kann die hohe englische und deutsche Beteiligung auf dem Chicagoer Wohltätigkeitskongress von 1893, wie im Falle von Richmond Mayo Smith, auf die Beziehungen der amerikanischen Sozialreformer zu ihren transatlantischen Kollegen zurückgeführt werden.90 Gleichzeitig versuchte man in Frankreich nach dem internationalen Kongress von 1889 vergeblich, mit der Société internationale pour l’étude des questions d’assistance eine internationale Expertengruppe zu institutionalisieren. Persönliche Kontakte ins Ausland etablierten sich nur in die Schweiz und nach Belgien.91 Diese Art der persönlichen Beziehungen änderte sich mit dem Internationalen Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit 1900 in Paris grundlegend. Mit dem Kongresswesen und dem internationalen Kongresskomitee wurden Plattformen geschaffen, wo man nicht nur die bestehenden Kontakte intensivieren, sondern vor allem auch neue herstellen konnte. Das Netzwerk erweiterte sich und aus den Punkt-zu-Punkt-Verbindungen entstanden multiple Beziehungsgeflechte, die weit über die traditionellen Verbindungslinien hinaus reichten. Die Einbindung in das Kongresswesen bot eine Struktur und vermittelte ein Gefühl der grenzüberschreitenden Verbundenheit.92 Dies gelang auf der einen Seite durch die Kongresse selbst, wo man sich durch Bankette, gemeinsame Ausflüge und Besuche von Fürsorgeeinrichtungen kennenlernen konnte. Auf der anderen Seite dienten die regelmäßig stattfindenden Komiteesitzungen in Paris dazu, die Kontakte auch wäh88 Degethoff de Campos, Jeanette Schwerin und die Anfänge der Sozialarbeit als Frauenberuf, S. 75. 89 Vgl. die Kurzbiographien mit Verweisen auf die Reiseaktivitäten und internationalen Kontakte bei J. Dick, Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert jüdischer Frauen, sowie ausführlicher M. Eggemann, Wegbereiterinnen der modernen Sozialarbeit; vgl. auch Herren-Oesch, Women in Welfare, sowie die in Fn. 76 (in diesem Kapitel) erwähnte Literatur. 90 Vgl. hierzu Kapitel 5.2. in dieser Arbeit. 91 Dies wird auch auf dem internationalen Kongress 1896 in Genf deutlich, der unter Mitwirkung der Société internationale entstand und in dessen Organisationskomitee ausschließlich Schweizer und Franzosen repräsentiert waren und dessen Hauptberichterstatter ebenfalls aus diesen Ländern kamen, vgl. II. Congrès international d’assistance, S. 10ff. sowie Kapitel I, 5.2. dieser Arbeit. 92 Zur internationalen Verbundenheit, die laut L. Rivière speziell durch die Schaffung des internationalen Kongresswesens und des Comité international erreicht wurde, vgl. ZdA 4 (1903), 2, S. 41f.

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rend der Jahre ohne Kongresse aufrecht zu halten. Die Experten sahen sich nicht mehr nur als individuelle Gelehrte auf Bildungsreisen, sie stellten ihre Beziehung vermehrt in den Dienst der internationalen Sozialreformer-Gemeinschaft: „Mon éminent collègue du Comité international des Congrès d’Assistance publique et privée“, schrieb Georges Rondel in einer persönlichen Buchwidmung an Münsterberg und machte damit deutlich, in welchem Verhältnis sie zueinander standen und welche Bedeutung das Comité international für die internationale Vernetzung der Fürsorgeexpertise hatte.93 Im internationalen Kontext spielten die teilweise unterschiedlichen Positionen bei fürsorgebezogenen Fragen auch eine kleinere Rolle als in den nationalen Vereinen, wo die persönlichen Beziehungen unter den fachlichen Differenzen viel stärker litten. Dieser Effekt ist nicht ungewöhnlich. Die kulturelle und sprachliche Distanz konnte zur Versachlichung der Inhalte und gleichzeitig zu einem auf Sympathie beruhenden Umgang beitragen. Dies lässt sich vor allem dann beobachten, wenn sich der persönliche Kontakt weniger auf rein themenbezogene Aspekte, sondern mehr auf die identitätsstiftende Funktion von Internationalität selbst stützte. In diesem Sinne kann davon ausgegangen werden, dass die harmonische Rhetorik zwischen den Fürsorgeexperten unterschiedlicher Länder und die häufig anzutreffenden Freundschafts- und Solidaritätsbekundungen durchaus ernst gemeint waren.94 Der von Reitzenstein 1893 herbeigesehnte „spirit of brotherhood“95 wurde von der internationalen Fürsorgefachwelt nun ausdrücklich als ein Vorhaben gefeiert, das durch die anhaltende Zusammenarbeit realisiert worden sei. Den internationalen Treffen sei es demnach sogar noch besser als der „Friedenkonferenz“ gelungen, Vertreter aus unterschiedlichen Ländern zusammenzubringen und sie „auf einem eminent friedlichen Gebiet zu der Erkenntniss zu bringen, dass die Wünsche und Hoffnungen auf diesem Gebiet in allen Ländern Hand in Hand gehen.“96 Diese überschwänglichen Verbrüderungsbekundungen verdeutlichen den Qualitätswandel der internationalen Beziehungen: Sie entwickelten ein produktives Eigenleben. Es war nicht mehr alleine wichtig, welches Interesse man an die internationalen Beziehungen herantrug oder was man von internationalen Kollegen in einem Zwiegespräch lernen konnte. Auf dem Fundament persönlicher Kontakte entstanden gemeinsame Zielsetzungen. Darin kam die Überzeugung zum Ausdruck, das Armenwesen mithilfe der internationalen Wissenssynthese fortwährend bereichern zu können. 93 Die in Büchern erhaltenen Widmungen sind einige der wenigen persönlichen Dokumente, welche noch erhalten sind und den Kontakt zwischen den Sozialreformern veranschaulichen. Sie belegen auch, dass es üblich war, sich gegenseitig die eigene oder andere empfehlenswerte Literatur zuzuschicken, vgl. G. Rondel, La Commune et l’Assistance Obligatoire (Exemplar der historischen Sondersammlung FH Frankfurt). 94 Beispiele hierfür finden sich unter anderen in den Eröffnungs- und Abschlussreden der internationalen Kongresse, welche in Kapitel I, 5 ausführlich behandelt werden. 95 Reitzenstein, The International Treatment, in: General Exercises of the International Congress 1893, Bd. 1, S. 22. 96 Münsterberg, in: ZdA 2 (1901), 5, S. 19.

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Die internationale Integration in das Expertennetzwerk zeigte sich nun vermehrt auch durch persönliche Einladungen auf nationale Versammlungen. Charles R. Henderson, der mehrmals in Deutschland war und ebendort in Nationalökonomie und Statistik promoviert hatte, wohnte der 21. Jahresversammlung des Deutschen Vereins in Lübeck bei. Dort wurde der Präsident der National Conference of Charities and Correction mit warmen Worten begrüßt: „Ich freue mich sehr, daß er uns die Freude macht, in unserm Kreise zu erscheinen und hoffe, daß sein Erscheinen auch zur Stärkung der friedlichen Beziehungen der beiden Länder beitragen wird.“97 Diese engen Beziehungen prägten Theorie und Praxis des bedeutenden Sozialreformers aus Chicago nachhaltig.98 Auch der Österreicher Ludwig Kunwald nahm „getreulich seit seinem Bestehen an den Arbeiten des Deutschen Vereins“ teil.99 Ausländische Besucher waren aber auch auf den Veranstaltungen der Société internationale zugegen100 und die Besichtigungen der Einrichtungen der COS und der Settlements in England nahmen für viele Sozialreformer fast schon den Charakter einer Pilgerfahrt an.101 Die Auslandsbesuche änderten in diesem Kontext ebenfalls ihre Form. Sie hatten nun als professionalisierte Studienreisen eine reziproke und wertschöpfende Funktion zu erfüllen. Als der schwedische Sozialreformer Stenkula eine Studienreise durch Deutschland machte, um sich über den Stand der Armenfürsorge zu informieren, war man wiederum erfreut, im Gegenzug in der Zeitschrift für das Armenwesen einen Artikel über „Die Armenpflege der nordischen Länder“ aus seiner Feder abdrucken zu dürfen.102 Umgekehrt profitierten deutsche Fürsorgeexperten von ihren Reiseerfahrungen in den skandinavischen Ländern, insbesondere im Bereich Kinderfürsorge und Erziehungswesen.103 Das Thema des ‚Landstreicherwesen‘ eignete sich in besonderer Weise für den internationalen Austausch, da man konkrete Fürsorgeeinrichtungen besichtigen und fremde Praktiken anschaulich studieren konnte. Die Studienreisen in Verbindung mit persönlichen Kontakten ermöglichten es, ausführliche Informationen, sozusagen direkt von der Quelle, einzuholen.104 Die Redaktion von Der

97 SDV 56 (1901), S. 20. 98 Henderson hatte unter anderem bei Wagner, Schmoller und Roscher studiert und promovierte in Deutschland in Nationalökonomie und Statistik. Axel Schäfer macht darauf aufmerksam, dass die ‚Chicagoer Schule‘ sehr stark von deutschen und europäischen Sozialtheorien beeinflusst war, Schäfer, American Progressives, S. 163. 99 ZdA 10 (1909), 4, S. 123. 100 Vgl. zum Beispiel die Sitzung der Société international von 1906: RP XVIII (1906), S. 247. 101 Vgl. hierzu Kapitel III, 6. 102 A. Stenkula, Die Armenpflege der nordischen Länder, ZdA 6 (1905), 8, S. 238ff. 103 Deutlich in: SDV 60 (1902) und SDV 62 (1902), S. 123ff. (jeweils über „Handarbeitsunterricht für nicht vollsinnige und verkrüppelte Personen“); Chr. Klumker, Beobachtungsheime. Reiseerfahrungen aus Dänemark, in: Jahrbuch für Fürsorge 4 (1910), S. 41ff. sowie H. Tost, Kinderfürsorge in Dänemark, Jahrbuch für Fürsorge 6 (1912), S. 1ff. 104 Die Zeitschrift Die Arbeiter-Colonie (später Der Wanderer) berichtete immer wieder von internationalen Studienreisen zum Zwecke der Besichtigung von Arbeitshäusern und Arbeiterkolonien. So verbrachten beispielsweise englische Interessierte zu Studienzwecken längere

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Wanderer und der französische Fachmann Louis Rivière schickten sich regelmäßig Lektüre, Verwaltungsberichte und statistisches Material zu. Der Franzose besuchte einige deutsche Arbeiterkolonien, deren Entwicklungen man in Frankreich genau beobachtete. Er war ein „treuer Leser des Wanderers und verfolge mit Teilnahme die Anstrengungen unserer deutschen Freunde, der doppelten Landplage des Landstreichers und der Arbeitslosigkeit zu begegnen.“ In dem im Wanderer abgedruckten Glückwunschschreiben zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen der Arbeiterkolonie Wilhelmsdorf wies Rivière auch auf die Erinnerung hin, dass er auf seinen Besuchen besonders herzlich aufgenommen worden sei.105 Ähnliche Reisen ausländischer Fürsorgeexperten in Deutschland, gerade bei den Arbeiterkolonien, sind verschiedentlich erwähnt und dokumentiert. So zum Beispiel von William Harbutt Dawson: Der ‚Deutschlandexperte‘ und enge Vertraute Münsterbergs unternahm eine Studienreise, um die „Herbergen zur Heimat“ in England bekannt zu machen.106 Diese Art von Studienreisen hatte schon in der Zentralstelle für ArbeiterWohlfahrtseinrichtung107 eine gewisse Tradition und wurde nun vermehrt auch in Bezug auf das Armenwesen gefördert und finanziert.108 Die neue Qualität der Vernetzungsform zeigte sich auch im Zusammenhang mit den Besichtigungen von Fürsorgeeinrichtungen, welche im Rahmen der internationalen Kongresse angeboten wurden. Diese fanden meist im Anschluss an die Kongresssitzungen statt und boten dem angereisten Fachpublikum die Gelegenheit, die städtischen Einrichtungen gemeinsam zu begutachten. Arthur Delpy, französischer Kongressteilnehmer in Kopenhagen, war so sehr von den Besichtigungen begeistert, dass er einen ausführlichen Bericht über die dänischen Fürsorgeeinrichtungen in der Revue philanthropique verfasste. Vor allem die dänischen Kinderheime, welche in den Fachzeitschriften ohnehin schon einen hohen Bekanntheitsgrad errungen hatten, zogen seine Aufmerksamkeit auf sich. Die Darstellung schilderte detailliert den Aufbau und die Funktionsweise der Einrichtung, den Zustand der Insassen, den Tagesablauf und die methodische Betreuung durch Erzieher.109 Ähnliche Begeisterung rief der „Streifzug durch Pariser Wohlfahrtseinrichtungen“ bei Anna Friedmann hervor, der ihr 1913 anlässlich des Internationalen Frauenkongresses ermöglicht wurde.110 Sie verweilte eine Woche lang in der „Société Amicale“ – eine Rettungsanstalt für diejenigen Bedürftigen, welche von

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Zeit in Wilhelmsdorf und Berlin, vgl. Die Arbeiter-Colonie (Der Wanderer) 10 (1893), S. 362ff. Der Wanderer 24 (1907), S. 219. Der Wanderer 29 (1912), S. 301ff. Vgl. Kaerger, Die Zentralstelle, S. 98. Dies erschließt sich durch das gestiegene Volumen an Publikationen, die auf Studienreisen zurückgingen. Die Finanzierung von Auslandsaufenthalten und Kongressbesuchen wurde teilweise privat bewerkstelligt, oft aber auch durch Mithilfe von Vereinen und Fürsorgeeinrichtungen ermöglicht. Dies geht aus einem Schreiben Mangoldts an Klumker im Jahre 1914 hervor, vgl. Schreiben K. v. Mangoldt an Klumker, in: Nachlass Klumker, K11/9.22. A. Delpy, Visites du Congrès de Copenhague, RP XXVIII (1911), S. 62–67. ZdA 14 (1913), 9, S. 284–292.

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den bestehenden Einrichtungen nicht aufgefangen oder abgelehnt wurden. Dort beobachtete sie aufmerksam den Fürsorgealltag, lernte sowohl die Armenpflegerinnen als auch die Bittsteller persönlich kennen, wohnte den Plenarsitzungen bei und begutachtete den Prüfungsausschuss, der die einzelnen ‚Fälle‘ von Arbeitslosigkeit bis Krankheit sortierte. Friedmann lobte die Organisation sowie die „systematische, soziale Schulung der Helferinnen“. Die aus den Studienaufenthalten basierenden Erfahrungsberichte hätten, so Friedmann, einen „fach- und sachlichen Nutzen“.111 Sie sollten auf diese Weise in allen Ländern eine zweckdienliche Entwicklung des Armenwesens vorantreiben. Keine museale Wissensdarstellung und kein einseitiger Wissenstransfer, sondern eine grenzübergreifende Wissensverarbeitung stand im Vordergrund. Das Reisen war ein wichtiger Beitrag zur internationalen Vernetzungen in der Armenfürsorge. Dies verdeutlichten auch die internationalen Aktivitäten der englischen Gruppe von Fürsorgefachleuten, welche sich im Auftrag der englischen Armenkommission in Belgien, in den Niederlanden, im Deutschen Reich und in der Schweiz aufhielten, um die ‚Fürsorgesysteme‘ zu analysieren und unter anderem die Arbeiterkolonien zu besichtigen.112 Die persönlichen Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Armenkommission zu ihren internationalen Kollegen vereinfachten die Unternehmung: Individuelle Führungen und der unkomplizierte Austausch von Materialien waren die Folge. Darüber hinaus ließ man sich von ausländischen Experten, darunter die Mitglieder des Comité international J. F. L. Blankenberg, Henri Monod und Emil Münsterberg, beraten. Ihre Beiträge wurden in den Abschlussbericht der Armenkommission eingearbeitet.113 Damit kann der Report in seiner ganzen Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Er gab nicht nur die entscheidenden Impulse für die Reformdebatten und die Forderungen der Wohlfahrtspflege.114 Die Arbeit der Armenkommission war darüber hinaus in seiner spezifischen Verfasstheit selbst Produkt einer grenzüberschreitenden Vernetzungsarbeit. An diesen Beispielen wird zugleich ersichtlich, welche herausragende Rolle einzelne Persönlichkeiten für die internationalen Austauschprozesse spielten. Sie waren der Dreh- und Angelpunkt für den Zusammenhalt des SozialreformerNetzwerkes. Sie fanden im Umfeld der etablierten Strukturen des Kongresswesens ihre geistige Heimat und verbanden sich mit gleichdenkenden Experten anderer Nationen. Dies galt in besonderem Maße für die Zeit nach 1900, als Internationalität und eine dezidierte internationale Ausrichtung als wesentlicher Bestandteil des Handlungsrepertoires und als wichtiger Aspekt der intellektuellen Interaktion 111 Ebd., S. 284. 112 Royal Commission, Report, S. 6f.; BArch R 901 / 31841, Akten betreffend: Nachrichten über die Armenkolonien, über die Armengesetze, Armentaxen und das Armenwesen (1906–1908). 113 Vgl. Royal Commission, Report, S. 495ff. und 602ff. sowie Weiss, Origins, in: French Historical Studies 13 (1983), S. 61. 114 Zur Bedeutung und zu den Hintergründen der Armenkommission vgl. D. Englander, Poverty and Poor Law Reform in Britain, S. 80–84; M. Doolittle, The Duty to Provide: Fathers, Families and the Workhouse in England, 1880–1914, in: Althammer/Gestrich/Gründler (Hrsg.), The Welfare State, hier S. 59ff.

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galt. Die Austauschbeziehungen hätten nicht nur den von Friedmann eben erwähnten „fach- und sachlichen Nutzen“, sondern betonten vor allem den Gemeinschaftssinn: Auf unserem Gebiet zum mindestens werden durch nationale und internationale Veranstaltungen, die den persönlichen Einblick in Wohlfahrtsorganisationen anderer Städte und Länder sowie die persönliche Annäherung an dortige soziale Arbeiter vermitteln, Werte geschaffen, die anderweitig nicht zu ersetzen wären. 115

Exemplarisch kann für diese Phase der internationalen Vernetzung Emil Münsterberg herangezogen werden. Er bildete zusammen mit seinen Kollegen des Comité international das Gesicht der international orientierten Fürsorgeexpertentums. Sein Wirken trat in nahezu jedem Sachverhalt, der grenzübergreifende Aspekte mit dem Armenwesen in Verbindung brachte, in Erscheinung. Kaum eine andere Person lebte den sozialreformerischen Internationalismus ähnlich nachdrücklich wie er. Gleichzeitig war er die „unbestrittene Autorität auch über Deutschlands Grenzen hinaus“.116 Münsterbergs Interesse am ausländischen Armenwesen reichte weit zurück: Studienaufenthalte und erste Bezüge zur internationalen Literatur in seiner noch jungen Laufbahn als Fürsorgefachmann zeugen davon.117 Nach seiner Tätigkeit als Bürgermeister in Iserlohn war er mit der Reform des Armenwesens in Hamburg und daraufhin in Berlin betraut, wo er ab 1896 lebte.118 In dieser Zeit zeigte er großes Interesse an Reitzensteins Sammlungstätigkeit in Bezug auf das ausländische Armenwesen. Außerdem begann er, sich mit Kollegen aus anderen Ländern in Kontakt zu setzen. Hieraus ergab sich eine einzigartige Karriere als international anerkannter Fürsorgeexperte. Er strickte ein dichtes internationales Geflecht an institutionellen und persönlichen Kontakten. Im Ausland war er ein angesehener Gast und geschätzter Repräsentant der deutschen Armenfürsorge. Kein anderer Deutscher wurde in ausländischen Fachzeitschriften öfter erwähnt und

115 ZdA 14 (1913), 9, S. 284. 116 A. Friedmann, Emil Muensterberg und seine Bedeutung für die Entwicklung des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, in: DZfW 4 (1930), 8, S. 465; vgl. auch die internationalen Nachrufe in: COR (1911), S. 114 sowie in: RP XXIX (1911), S. 348–349. 117 Münsterberg, Das englische Armenwesen, JGVV 10 (1886), S. 525 oder ders., Zusammenwirken zwischen öffentlicher Armenpflege und organisierter Privatwohltätigkeit, SDV 15 (1891), S. 79ff. Münsterberg schrieb auch einen Bericht für den internationalen Wohltätigkeitskongress 1893 in Chicago bzw. berichtete von der Veranstaltung in: Münsterberg, Report of the Proceedings of the International Congress of Charities, Correction and Philanthropie, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 3, 1895, S. 597–605. 118 Vgl. gesammelte Nachrufe und Todesanzeigen: Staatsarchiv Hamburg, 351–2 II Allgemeine Armenanstalt II, Nr. 85. „Einige biographische Notizen“ finden sich bei Tennstedt, Stadtrat Dr. Emil Muensterberg, in: Soziale Arbeit 33 (1984), S. 258–265. Eine ausführliche Biographie und Einordnung seiner Tätigkeit in die Entwicklung der Armenfürsorge in Berlin, Deutschland und auf internationaler Ebene ist nach wie vor ein Desiderat. Viele, bisher weniger bekannte oder weniger beachtete Aspekte seiner Tätigkeit, insb. die internationalen Aktivitäten, werden im Laufe dieser Untersuchung immer wieder eine wichtige Rolle spielen und besonders hervorgehoben.

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wurde öfter gebeten, Beiträge zu verfassen.119 Darüber hinaus übernahm er wichtige Aufgaben der Kongressorganisation und war ebendort immer als Generalberichterstatter und ‚ausländischer Präsident‘ tätig. Auch als Geschäftsführer der Abteilung für Armenpflege und Wohltätigkeit und Verleger der Zeitschrift für das Armenwesen war er maßgeblich an der grenzüberschreitenden Vernetzung der Fürsorgefachwelt beteiligt und wirkte als wichtigster Förderer einer internationalen Ausrichtung im Deutschen Verein. Seinen intensiven Bemühungen war es zu verdanken, „daß er mit allen in der Armenpflege und Sozialpolitik führenden Männern Europas und Amerikas in regen Beziehungen stand“.120 Dazu gehörten unter anderem C. S. Loch, Louis Rivière, Georges Rondel, Edward Devine, Charles R. Henderson, Cyrille van Overbergh, Ludwig Kunwald und natürlich die Präsidenten des Comité international Émile Loubet und Jean Casimir-Périer. Aber auch mit William H. Beveridge und dem Ehepaar Webb in London „und vielen anderen“ stand er „in wissenschaftlichem und freundschaftlichem Gedankenaustausch“.121 Seine Sprachgewandtheit und das professionelle Auftreten brachten ihm einen exzellenten Ruf ein: Namentlich in England und Amerika, aber auch in Frankreich, Oesterreich und den nordischen Staaten Europas galt Muensterberg als der erste deutsche Theoretiker und Praktiker seines Faches, dessen Rat man häufig einholte,

konnte man in den Blättern für die Berliner Armen- und Waisenpflege nach seinem Tod 1911 lesen.122 Internationale Beziehungen prägten im Übrigen auch sein familiäres Umfeld: Hugo Münsterberg, sein Bruder, war ein angesehener Psychologe und fast überwiegend in den USA tätig und Münsterbergs Tochter Else heiratete William Harbutt Dawson, einen wichtigen englischen Schriftsteller, dessen Interessenschwerpunkt auf der deutschen Sozialpolitik lag.123 Besonders auffallend sind Münsterbergs intensive Beziehungen in die USA: Die eben erwähnten Devine und Henderson, aber auch Robert T. Paine gehören zu

119 Zum Beispiel hier: Münsterberg, L’assistance en France: opinion d’un étranger, RP 11 (1902), 129–141; ders., American poor relief, in: American Journal of Sociology 7 (1902), 4, S. 501–538; ders., On Charity in Germany, COR (1900), S. 265ff. sowie ders., On Foreign Poor Relief Systems, COR (1901), S. 269ff. 120 Rieß, Dem Andenken Emil Münsterbergs, in: Blätter für die Berliner Armen- und Waisenpflege 1 (1911), 2, S. 9–11, hier S. 11; vgl. auch Friedmann, Emil Muensterberg, in: DZfW 4 (1930), 8, S. 464–467. 121 Rieß, Dem Andenken, S. 11. 122 Rieß, Dem Andenken, S. 9. Sogar in The New York Times gab es eine entsprechende Würdigung, vgl. The New York Times vom 26. Januar, 1911, S. 11 nachdem bereits in der Ausgabe vom 24. November, 1907, ein großformatiger und mit Bild versehener Artikel über Münsterberg und dessen Verständnis von Armenfürsorge erschienen war. 123 Vgl. S. Berger, William Harbutt Dawson: The Career and Politics of an Historian of Germany, in: The English Historical Review 116 (2001), S. 76–113, hier S. 78. Else Münsterberg förderte ebenfalls durch Publikationen und Übersetzungen den internationalen Literaturaustausch im Bereich der Armenfürsorge und Sozialen Arbeit, vgl. „Dr. Barnardos Liebestätigkeit in London“ ZdA 10 (1909), 2, S. 44ff. sowie J. Addams, Zwanzig Jahre sozialer Frauenarbeit in Chicago (Berechtigte Übersetzung von Else Münsterberg).

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den Persönlichkeiten, die ihn auf seiner Amerikareise 1904 begleiteten.124 Ungewöhnlich ist Münsterbergs außerordentliches Interesse an den USA schon deshalb, weil in der Forschung zur Sozialreform meistens von einem ‚asymmetrischen‘ transatlantischen Verkehr die Rede ist, von dem in erster Linie die USA profitiert hätten.125 Für das Armenwesen und die städtischen Wohltätigkeitsbestrebungen kann jedoch das Gegenteil festgestellt werden. Keiner anderen Nation widmete der Berliner Stadtrat so viel Aufmerksamkeit und über keine andere ‚Fürsorgekultur‘ berichtete er in vergleichbarer Ausführlichkeit als über diejenige der USA. Er sammelte Monographien und Veröffentlichungen, alle Berichte der National Conference of Charities and Correction und sogar diejenigen der einzelstaatlichen Konferenzen, darüber hinaus zahllose Einzelberichte aus den Staaten, Städten, Vereinen und Gesellschaften. 1906 räumte er in der Zeitschrift für das Armenwesen ein, dass er die regelmäßigen Darstellungen über das amerikanische Armenwesen nicht mehr fortsetzen kann, da das informative Material den Rahmen der Zeitschrift sprengen würde.126 Aus diesem Grund machte er sich an separate Publikationen, unter anderem im Rahmen des Deutschen Vereins.127 Hatte Münsterberg schon immer ein großes Interesse an den amerikanischen Wohltätigkeitsbestrebungen, setzte nach seiner Studienreise 1904 eine regelrecht enthusiastische Berichterstattung ein. Diese Reise hatte er im Zusammenhang mit der Weltausstellung in St. Louis angetreten, auf die er von Henderson eingeladen worden war, um dort einen Vortrag über „The Problem of Poverty“ zu halten.128 Seine Reise führte ihn außerdem nach Washington, Chicago, Philadelphia, Boston und New York. Erkennbar begeistert erzählte er in der „Übermittlung persönlicher Eindrücke“129 im Deutschen Verein von den Fürsorge- und Wohltätigkeitseinrichtungen der Großstädte. Durch die „persönliche Aussprache mit den leitenden Persönlichkeiten“130 gewann er tiefe Einblicke in das private Fürsorgewesen, dessen Gründlichkeit und Effizienz ihn besonders beeindruckte. Er traf sich unter ande124 Münsterbergs detaillierter Reisebericht findet sich in: ZdA 7 (1906), 8, S. 225–233. 125 Zu diesem Befund kommen Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft, S. 147, Rodgers, Atlantiküberquerunge, hier insb. 85ff. und Schäfer, American Progressives. 126 ZdA 7 (1906), 9, S. 257. 127 Nachdem das amerikanische Armenwesen in den Übersichten „über die neuren Bestrebungen auf dem Gebiet der Armenpflege“ ausführlich Beachtung fand, vgl. SDV 35 (1898) und SDV 52 (1901), publizierte Münsterberg einen Band ausschließlich über das amerikanische Armenwesen, SDV 77 (1908); vgl. ferner ZdA 5 (1904), 1, S. 2ff. und ZdA 7 (1906), 8, S. 225ff. 128 Münsterberg, The Problem of Poverty, in: Rogers (Hrsg.), Congress of Arts and Science, Band VII, S. 833ff., ebenso veröffentlicht in: Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik. Dritte Folge, 28 (1904), S. 577–591, sowie auf Englisch in: American Journal of Sociology (Nov. 1904), S. 335–353. Einige Anmerkungen zur Vorgeschichte und Entstehung des Kongresses auf Grundlage des Beziehungsnetzwerkes zwischen Henderson und Emil bzw. Hugo Münsterberg gibt es bei E. Fuchs, Wissenschaft, Kongreßbewegung und Weltaustellungen: Zu den Anfängen der Wissenschaftsinternationale vor dem Ersten Weltkrieg, in: Comparativ (1996), S. 156–177. 129 Münsterberg, Amerikanisches Armenwesen, SDV 77 (1906), S. 1. 130 Münsterberg, Das amerikanische Armenwesen, ZdA 7 (1906), 8, 226.

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rem mit Robert de Forest, John S. Kennedy, Homer Folks, Edward Devine, Francis G. Peabody, Jeffrey Brackett, Charles Henderson, Alice Higgins, Jane Addams, bei denen er teilweise sogar zu Hause einkehrte.131 Eine „überragende Gastfreundschaft“, war überall anzutreffen, „wo immer ich anklopfte“, ließ er seine deutschen Kollegen wissen.132 Über 200 Buchbände und Verwaltungspublikationen nahm er mit nach Deutschland, den Rest bekam er fortan zugeschickt, so dass die Bibliothek der Abteilung für Armenpflege und Wohltätigkeit diesen regionalen Schwerpunkt ausbauen konnte. Die persönlichen Eindrücke, gab Münsterberg zu verstehen, hätten ihn am meisten beeinflusst, da sie sowohl die Problemlagen dieses Einwanderungslandes als auch das herausragende Engagement der amerikanischen Kollegen im Kampfe gegen die Armut am klarsten veranschaulicht hätten. Beispielsweise konnte er sich in Boston bei „Miss Higgins“ davon überzeugen, dass die weibliche Leitung „an Sachkunde und Fähigkeit der Leitung ihren männlichen Kollegen nichts nachgibt“133. Nachahmenswerte Vorbilder seien durchaus in vielen Bereichen denkbar. Als besonders positiv sei auch „die strenge, unbefangene, an sachlichen Kriterien orientierte Buch- und Registerführung“ hervorzuheben. „Fröhlichkeit und Effizienz“ würden „der Psychologie des amerikanischen Wesens charakteristisch erscheinen“.134 Die freundschaftliche Beziehung zu Devine und der fachmännische Eindruck, den Münsterberg auf seiner Reise hinterließ, führten zu einer weiteren Einladung 1907, dieses Mal anlässlich des fünfundzwanzigjährigen Jubiläums der COS in New York. Als europäischer Ehrengast hielt er dort eine Festrede in der Carnegie Hall.135 Im Nachbericht brachte er den deutschen Lesern die Vorteile der COS nahe, denen „feste Grundsätze und eine charakteristische Arbeitsmethode nachzurühmen“ seien: „Wir empfehlen unsern Lesern dringend die Lektüre des interessanten Berichts“ über die organisierte Wohltätigkeit in New York.136 Dass auch diese persönlichen Kontakte nicht für sich alleine standen sondern in die Dienste des internationalen Fürsorgeexpertentums rückten, beweist das nachdrückliche Bemühen Münsterbergs, sich im Comité international für das Thema der Ausbildungsstätten für Armenpflegerinnen einzusetzen.137 Die Reiseerfahrungen und die gründliche Auseinandersetzung mit solchen Einrichtungen in 131 Ebd. Zu den Personen: De Forest war der „Commissioner des Tenement House Department“ und Präsident der COS von New York, Kennedy der Gründer des Charity Building in New York. Folks war der „ehem. Commissioner of public charities“, jetzt Generalsekretär der „State Charities Aid Association“, Devine der Generalsekretär der COS in New York, Peabody Professor der Sozialwissenschaft (Harvard), Brackett Vorkämpfer der Philanthropic Schools. Higgins und Addams hingegen haben sich als Wegbereiterinnen der modernen Sozialarbeit einen Namen gemacht, vgl. ebd. 132 Ebd. 133 Ebd., S. 228. 134 Ebd. 135 Friedmann, Emil Muensterberg, in: DZfW 4 (1930), 8, S. 466. 136 Vgl. „25 Jahre organisierter Wohltätigkeit in New York“, in: ZdA 9 (1908), 2, S. 33. 137 Sitzungsprotokoll des Comité international, in: RP XVII (1905), S. 37.

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den USA waren hierfür der ausschlaggebende Grund und das wichtigste Argument, die Philanthropic Schools auch in diesem Kontext publik zu machen. Münsterberg und andere, ihm gleichgesinnte Berichterstatter138 zielten darauf ab, das amerikanische Armenwesen noch stärker in die europäischen Fürsorgedebatten einzubringen. Auch andere wichtige Themen der Armenfürsorge standen in enger Verbindung mit Münsterbergs Studienreise oder entwickelten sich aus den dort geknüpften Austauschbeziehungen heraus beziehungsweise wurden durch sie intensiviert: Die Frage nach Zentralarmenbehörden und der Wohltätigkeitsaufsicht, die Charity Buildings, die Beschäftigung von Frauen in der Armenfürsorge, die ‚Besoldungsfrage‘, professionalisierte Ausbildungskurse, sozialwissenschaftliche Methodik, Settlement-Bewegung und Jugendgerichte.139 Es ging Münsterberg dabei niemals um rein oberflächliche Kontakte zwischen den Vertretern der unterschiedlichen ‚Fürsorgesysteme‘. Sein Anspruch war es stets, eine sachbezogene und wissenschaftliche Vernetzung zu fördern, welche dem Ideal der effizienten Hilfeleistungen dienlich sein konnten und der Entwicklung des Armenwesens in allen Ländern zugutekam. Der bevorzugte Blick in die USA ist in genau diesem Kontext zu verstehen. Als Josef Weydmann 1911 Münsterbergs Hinterlassenschaft auf dem Gebiet der Wanderarmenfürsorge fortsetzen sollte, gab er zu, welche Schwierigkeiten er hatte, in dessen Fußstapfen zu treten: Hier zeigt sich nicht nur, mit welchem Interesse Muensterberg die ausländische Fachliteratur studierte, sondern auch wie ernst und gründlich er alles geprüft und durchgearbeitet hatte, ehe er an die Abfassung seiner so klar und inhaltsreichen Exposés in dieser Zeitschrift ging. 140

Nicht nur für die deutsche Armenfürsorge, generell für das internationale Sozialreformer-Netzwerk war Münsterbergs Tod 1911 ein großer Verlust. Noch vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges setzten allmählich Auflösungserscheinungen in den von Münsterbergs ‚Generation‘ unterhaltenen internationalen Beziehungen ein. Die Fürsorgeexpertinnen und Fürsorgeexperten, welche nun als innovative Reformkräfte hervortraten, unterhielten entweder keine internationalen Kontakte, oder pflegten persönliche Beziehungen unabhängig des bestehenden Netzwerkes rund um das Comité international und das internationalen Kongresswesen. Aus dem Beziehungsgeflecht wurden verstärkt wieder Einzelverbindungen. Sie wurden von Partikularinteressen und einer stärkeren politischen Grundhaltung geprägt. Hierzu zählten insbesondere die vielen internationalen Kontakte unter Sozialreformerinnen. Sie konnten auch auf die Strukturen der Frauenbewegung zurückgreifen. Salomons Amerikareise von 1909 ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen, auf der sie Jane Addams kennenlernte.141 Mit ihr verband sie 138 Zum Beispiel Viktor von Boronini, der auf Bitten Münsterbergs hin in der Zeitschrift für das Armenwesen (ZdA 11 (1910), 9, S. 267–282) einen ausführlichen Bericht über seine persönlichen „Eindrücke von der amerikanischen Armen- und Wohlfahrtspflege“ ver̈ffentlichte. 139 Auf einzelne Aspekte wird in Kapitel III eingegangen. 140 ZdA 12 (1911), 7, S. 194. 141 A. Salomon, Soziale Arbeit in Amerika, in: Centralblatt des Bundes deutscher Frauenvereine XI (1909), S. 97–99 und S. 105–107.

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eine langjährige Bekanntschaft, welche auch die politischen Krisenzeiten überdauern würde.142 Zu nennen sind aber auch die Verbindungen linksgerichteter Sozialreformerinnen zur Fabian Society in England. Dazu gehörten beispielsweise Helene Simon und Adele Schreiber. Beide bereisten England und lernten die Ideen einer sozialistisch geprägten Wohlfahrtspflege kennen. Diese Erfahrungen prägten beide Frauen, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise. Adele Schreiber leitete aus den in England gemachten Erfahrungen eine ihrer wichtigsten Arbeiten ab, nämlich die über Kinder- und Mutterschutz. Hierfür waren die von ihr besuchten Einrichtungen, sowie das Studium der amerikanischen und französischen Erziehungskolonien ausschlaggebend.143 Helene Simon hingegen wurde stärker von den eigentlichen sozialpolitischen Konzepten der Fabian Society beeinflusst: Staatliches Eingreifen im Sinne eines reformsozialistisch geprägten Wohlfahrtsapparats stehen für das Denken linksorientierter sozialreformerischer Kreise nach der Rezeption des Minderheitsberichtes, den Helene Simon mit Erlaubnis von Beatrice und Sidney Webb ins Deutsche übersetzt hatte. Aber auch ihre vielbeachtete Arbeit über die ‚Schulspeisung‘, war aus den Reihen der Fabians inspiriert worden.144 Die Kontakte zu ihren englischen Vorbildern beeinflussten sowohl Schreiber als auch Simon entscheidend, wenngleich die daraus resultierenden Reformvorhaben freilich erst während und nach dem Ersten Weltkrieg zum großen Durchbruch gelangten. Dies verdeutlicht zwar, dass die produktiven Austauschbeziehungen zwischen den ‚Fürsorgekulturen‘ keineswegs zum Erliegen gekommen waren. Beide Beispiele verweisen aber auf eine sich wandelnde Form der internationalen Vernetzung: Emphatisch zelebrierte Internationalität, die vielfach verflochtene internationale Sozialreform als Selbstzweck, verlor an Bedeutung. Stattdessen rückten entweder eine sozialwissenschaftliche Sachbezogenheit oder eine ideologische Neuausrichtung beziehungsweise, wie im Falle von Alice Salomon und vielen ihrer Mitstreiterinnen, die internationale Frauenbewegung ins Zentrum der internationalen Vernetzungsstrategien. Die spezifische Einbindung in eine grenzüberschreitende Vereinskultur des Armenwesens auf Basis und unter dem Primat des ‚alten‘ Fürsorgeexpertentums, wie es durch die Mehrheit der nationalen Fürsorge- und Wohltätigkeitseinrichtungen repräsentiert wurde, hatte für sie jedoch an Attraktivität wieder verloren. Als Beispiel dafür, wie sich die Vorzeichen der internationalen Beziehungen änderten, kann Christian Jasper Klumkers Studienreise in Dänemark im Herbst

142 Ausführlich hierzu Schüler, Frauenbewegung, sowie dies., Jane Addams und Alice Salomon. Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen des transatlantischen Reformdialogs um 1900, in: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte 49 (2006), S. 16–23. 143 Alles Braune, Konsequent den unbequemen Weg gegangen, S. 123ff.; über den Kontakt zu den Fabians S. 157ff. sowie zum Zusammenhang mit den Arbeiten über Kinder- und Mutterschutz S. 162ff. 144 Klöhn, Helene Simon. Deutsche und britische Sozialreform und Sozialgesetzgebung im Spiegel ihrer Schriften und ihr Wirken als Sozialpolitikerin im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, S. 79 und S. 604, sowie Simon, Die Schulspeisung, SDV 89 (1909).

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1909 angeführt werden.145 Im ersten der im Auftrag der Frankfurter Zentrale für private Fürsorge publizierten Jahrbücher der Fürsorge hatte Klumker bereits einen Plan für eine Beobachtungsanstalt für Kinder und Jugendliche entwickelt. Über einen Hinweis von einem finnischen Studienreisenden wurde er auf das Fürsorgewesen Dänemarks aufmerksam gemacht, wo es ein ganzes System solcher Anstalten gab. Er begab sich daraufhin mit der Hilfe des Instituts für Gemeinwohl selbst im Rahmen einer Studienreise dorthin. Das System der Pflegschaftsräte, wie es in Dänemark seit 1905 etabliert war und das in der internationalen Fachwelt viel Anerkennung hervorrief, bildete in Klumkers Reisebericht die Grundlage für eine ausgiebige Auseinandersetzung mit dem Thema. Seine Erörterung kann als Beispiel für eine sozialwissenschaftlich orientierte, nüchtern-sachliche und streng auf das Wesentliche reduzierte Forschungsarbeit herangezogen werden. Es werden weder die Kontakte zu seinen internationalen Kollegen erwähnt, noch spielte eine wie auch immer geartete internationale Verbundenheit eine Rolle, stattdessen ist der Austausch punktuell auf das hier vorliegende fachspezifische Interesse gerichtet.146 Zuletzt geben auch die Rückblicke von Alice Salomon aus den späten 1920er Jahren in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg Einblicke in die Wahrnehmung einer Zeitgenossin, welche diese Internationalisierungsphase selbst miterlebt hatte und nach Wegen suchte, diese Tradition erneut aufzugreifen. Immer wieder erläuterte sie, „warum internationale Wohlfahrtspflege notwendig ist“147. Unterschiedlichste Motive hätten demnach die Fürsorgeexperten viele Jahre zuvor dazu bewogen, sich grenzüberschreitend in Verbindung zu setzen: Regelung der gegenseitigen Unterstützungsansprüche zwischen den Ländern, Erfahrungsaustausch zur Herbeiführung besserer Methoden in sozialer Arbeit, gemeinsame Förderung der Maßnahmen zur Vorbeugung von Nöten, Anbahnung friedlicher Beziehungen zwischen den Sozialarbeitern der verschiedenen Völker haben allen internationalen Zusammenkünften und 148 Vereinigungen für Armen- und Wohlfahrtspflege zugrunde gelegen.

Auch auf dem internationalen Kongress für Soziale Arbeit von 1928 erinnerte man sich an „ces hommes de la première heure“. Zu dieser „élite de la bienfaisance mondiale“ gehörten unter anderem Henri Monod, C. S. Loch, Emil Münsterberg, J. F. L. Blankenberg, Richmond Henderson und Jules Le Jeune:

145 Klumker, Beobachtungsheime, in: Jahrbuch für Fürsorge 4 (1910), S. 41ff. 146 Vgl. ebd. 147 Salomon, Warum internationale Wohlfahrtspflege notwendig ist. Zugleich ein Ueberblick über die Organisationen allgemeiner Art, in: Freie Wohlfahrtspflege 4 (1930), S. 531–535; vgl. auch Salomon, Die Bedeutung internationaler Kongreße für soziale Arbeit, in: DZfW 3 (1928), S. 495ff. 148 Ebd., S. 534. Mit ähnlicherArgumentation H. Eiserhardt, Vom Wert internationalen Erfahrungsaustausches in der sozialen Arbeit, in: Die Frau 39 (1931/32), S. 450–454.

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I. Netzwerke Grâce à ces initiateurs, des mouvements importants furent suscités dans tous les pays. En nous souvenant de l’énergie de ces anciens, nous nous efforcerons de faire à notre tour un pas 149 en avant.

Die Darstellungen vermitteln einen Eindruck von den fruchtbaren internationalen Kontakten in den Jahren nach der Jahrhundertwende und verweisen auf die Bedeutung grenzüberschreitender Austauschbeziehungen für die Entwicklung der Armenfürsorge. 5. INTERNATIONALES KONGRESSWESEN UND KONGRESSKOMITEE 5.1. Internationale Kongresse, Sozialreform und Armenfürsorge Wie die Vertreter künstlerischer und wissenschaftlicher Interessen in allen Ländern schon seit lange Annäherung, Verständigung und gegenseitige Belehrung suchen, so wollen neuerdings auch die Vertreter der Armenpflege verschiedener Nationen sich nicht mehr ausschließlich an nationale Traditionen halten, ohne Anregung und Belehrung bei ausländischen Kollegen, in ausländischen Systemen und Gepflogenheiten zu suchen. 150

Wie dieses Zitat von Alice Salomon verdeutlicht, ordnen sich die Internationalen Kongresse für Armenpflege und Wohltätigkeit in die Internationalisierungstendenzen und den allgemeinen Wunsch nach Wissensvernetzung ein. Auch wenn internationale Austauschbeziehungen zwischen Wissenschaftlern und Fachleuten historisch keineswegs ein neues Phänomen darstellten, nahmen die Begegnungen in Form von Kongressen gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts – sowohl was ihre Anzahl als auch ihre öffentliche Wirkung angeht – ein bisher unbekanntes Ausmaß an und ergänzten traditionelle Formen der Vernetzung wie den Literaturaustausch, Studienreisen und persönliche Korrespondenzen. Dieser ‚Kongressboom‘ ging mit einer allgemeinen Intensivierung grenzübergreifender Beziehungen in Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft einher.151 Die Bereitschaft zur Partizipation am internationalen Wettbewerb traf auf weite Teile der gesellschaftlichen Eliten zu. Die internationalen Kongresse fanden oftmals im Rahmen von Weltausstellungen statt.152 Zum einen zogen die Weltausstellungen ein breites Publikum an und garantierten somit die nötige mediale Aufmerksamkeit. Zum anderen gab es neben dieser kommunikationsfördernden Funktion an den Austragungsorten in der Regel bereits eine großzügige Infrastruktur. Den Gastgebern war es zugleich ver149 Recueil des travaux du sixième Congrès international d’assistance publique et privée (1928), Bd. 1, S. 69. 150 Salomon, Der Internationale Kongreß für Armenpflege und Wohltätigkeit, in: Centralblatt des Bundes deutscher Frauenvereine 8 (1906), 50–52, Zitat S. 50. 151 Vgl. Rosenberg, A World Connecting, hier insb. Kapitel 5 „Transnational Currents in a Shrinking World“, S. 815–999. Siehe auch Geyer, The mechanics of internationalism. 152 Zu Weltausstellungen und Wissenschaftskongressen vgl. u. a. J. Findling, Historical Dictionary of Worlds Fairs and Expositions; Fuchs, Wissenschaft; Rasmussen, Les Congrès internationaux.

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gönnt, ihre Außenwirkung positiv zu fördern, während die Teilnehmer von einem eindrucksvollen Freizeitprogramm profitierten. Nicht selten wurden bereits Jahre vor ihrer Austragung Organisationskomitees eingesetzt, deren Aufgabe darin bestand, einen reibungslosen Ablauf der Kongresse zu garantieren. Schirmherrschaft, Finanzierung, Einladungen, diplomatische Etikette, Referate, Druckschriften – alles musste minutiös geplant werden und hatte im Laufe der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts eine formelle Etablierung des Kongresswesens zur Folge. In die Phase zwischen 1880 und 1910 fallen sieben internationale Kongresse, die sich im engeren Sinne mit der Armenfürsorge beschäftigten.153 Ein weiterer war 1915 geplant, dessen Umsetzung aufgrund des Ersten Weltkrieges nicht erfolgte. Unabhängig davon fand im gleichen Zeitraum eine Fülle an speziellen Fachkongressen statt, die das Armenwesen direkt oder indirekt zum Thema hatten. Dazu zählen Kongresse über den Arbeiterschutz, Versicherungswesen, Säuglingsschutz und Kinderschutz, Hygiene und Tuberkulose, Arbeitslosigkeit, Wohnungsbau, Alkoholismusbekämpfung, Krankenpflege und Blindenfürsorge, aber auch im weiteren Sinne die Demographie- und Statistikkongresse, welche bereits eine weit zurückreichende Tradition vorzuweisen hatten.154 Die internationalen Kongresse der Arbeiterbewegung und Frauenbewegung dürfen an dieser Stelle ebenfalls nicht unerwähnt bleiben.155 Somit wurden fast alle Bereiche der Fürsorge beziehungsweise Sozialpolitik auf internationalen Kongressen abgedeckt. Es erscheint durchaus angemessen, in diesem Prozess der Internationalisierung eine grenzübergreifende Weiterentwicklung des bürgerlichen Vereinswesens zu sehen.156 Die Abhaltung von internationalen Kongressen bot den fortschrittsgläubigen Zeitgenossen „eine Grauzone“ von „sinnstiftenden Synergien und grenzübergreifenden Identitäten“157. Manchem Teilnehmer dienten die Kongresse 153 Die Kongresse werden im Folgenden auf Deutsch als ‚Internationale Kongresse für Armenpflege‘ (ab 1900 mit dem Zusatz: ‚und Wohltätigkeit‘) bezeichnet. Auf die zeitgenössische Zählweise wird verzichtet, da sie inkonsistent und zuweilen verwirrend ist. Stattdessen wird jeweils ergänzend auf den Austragungsort und das Jahr hingewiesen. Die Kongresse von 1880 in Mailand und 1893 in Chicago standen außerhalb dieser Kongresslinie und werden jeweils in Anlehnung an den Originaltitel als ‚Wohltätigkeitskongress‘ bezeichnet. 154 Eine umfangreiche Aufzählung der internationalen Kongresse findet sich bei C. Rollet-Vey, La santé et la protection de l’enfant vues à travers les Congrès internationaux (1880–1920), in: Annales de démographie historique 1 (2001), S. 97–116 (Aufzählung im Anhang). Zu den einzelnen Fachkongressen gibt es teilweise auch Literatur. Für Kinderschutz siehe dies., La santé et la protection; für Hygiene und Tuberkulose siehe D. Barnes, The Making of a Social Disease; für Arbeitslosigkeit siehe E. Lecerf, Les Conférences internationales pour la lutte contre le chômage au début du siècle, in: Mil neuf cent. Revue d’histoire intellectuelle 7 (1989), S. 99–126; für Statistik siehe E. Brian, Transactions statistiques au XIXe siècle, in: Actes de la recherche en sciences sociales 5 (2002), S. 34–46, sowie ders., Y a-t-il un objet Congrès? in: Mil neuf cent. Revue d’histoire intellectuelle 7 (1989), S. 9–22. 155 Vgl. Herren, Sozialpolitik und die Historisierung; L. Klejman, Les Congrès féministes internationaux, in: Mil neuf cent. Revue d’histoire intellectuelle 7 (1989), S. 71–86. 156 Zu diesem Ergebnis kommt Herren, Hintertüren zur Macht, S. 26ff., insb. S. 31. 157 Herren, Sozialpolitik und die Historisierung, S. 544.

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sogar als persönliches Karrieresprungbrett. Man konnte durch die Herstellung internationaler Kontakte einen hohen Bekanntheitsgrad erreichen – unter Umständen einen höheren als es den Betroffenen in ihrem nationalen Umfeld möglich gewesen wäre. Die Welt der internationalen Kongresse war allerdings nicht frei von Hierarchien und Formen der Exklusion. Nur wer das richtige Wissen vermittelte und dabei den richtigen Habitus pflegte, konnte an der epistemischen Gemeinschaft teilhaben. Sprache, Verhaltensformen und der wissenschaftliche Duktus verweisen auf die Machtverhältnisse des internationalen Expertentums und vermitteln Exklusivität. Nicht zuletzt deshalb ist es wichtig, neben den Teilnehmern auch die Organisation und Durchführung der Kongresse genauer zu betrachten. Die Frage danach, wer die Kongresse gestaltete, eingeladen wurde und einen Vortrag halten durfte wirft Licht auf die strukturierenden Rahmenbedingungen des Wissenstransfers. Gleichzeitig ist diese Form des Expertennetzwerkes nicht identisch mit den Personen und ihren Herkunftsinstitutionen. Auf internationaler Ebene entwickelten sich vielmehr neue Identitäten und Ordnungskonzepte. Sie lassen auf die produktiven Dynamiken internationaler Vernetzungen schließen. 5.2. Die Anfänge: Internationale Fürsorgekongresse vor 1900 Frühe Netzwerke der bürgerlichen Sozialreform Internationale Vereinigungen der Armenfürsorge sind auch keineswegs eine Neuerung des späten 19. Jahrhunderts. Tatsächlich ordnen sich die Internationalen Kongresse für Armenpflege und Wohltätigkeit in eine ältere Tradition der internationalen Kooperation ein, die von bürgerlichen Kreisen der Sozialreform und Wohltätigkeit seit Beginn des 19. Jahrhunderts ausgegangen waren. In den späten 1840er Jahren fanden erste internationale Versammlungen statt, die verschiedene soziale Bereiche wie zum Beispiel das Gefängniswesen, die öffentliche Hygiene, das Wohnungswesen, die Krankenhaus- und Hospizorganisation, Kinderarbeit oder Prostitution grenzüberschreitend thematisierten. Der 1856 in Brüssel ausgetragene Congrès International de Bienfaisance war der erste Versuch, dem Armenwesen eine eigene internationale Diskussionsplattform zu geben. Dieser erste Armenfürsorgekongress wurde allerdings noch sehr weit gefasst, so standen beispielsweise auch Themen das Krippen- und Elementarschulwesen betreffend auf der Tagesordnung. Auf dem Folgekongress von 1857 in Frankfurt wurden die Beiträge dann besser gebündelt und die Etablierung der internationalen Armenfürsorgekongresse zu einer in regelmäßigen Abständen tagenden Organisation beschlossen.158 Die festgelegten Ziele des 1857 gegründeten Internationalen Wohl-

158 Eine Analyse der internationalen Kongresse und anderer internationaler Bestrebungen der bürgerlichen Sozialreform zwischen 1840 und 1880 bieten Leonards/Randeraad, Transnational Experts, in: International Review of Social History 55 (2010), 2, S. 215–239. Etwas veraltet aber dennoch ein schneller Überblick über das internationale Kongresswesen: Blanken-

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tätigkeitsvereines waren die allgemeine Verbesserung der Lage der ärmeren Bevölkerungsschichten, die Förderung von Wohltätigkeitsanstalten und -vereinen, die Vernetzung unter bereits bestehenden Vereinen sowie der Austausch von Nachrichten und Veröffentlichungen. Auf dem darauffolgenden Kongress 1862 in London spalteten sich die Themen weiter auf: Unter anderem wurden erstmals die Behandlung ‚sittlich verwahrloster Kinder‘, Fragen zum Schulzwang und Hilfsangebote für Blinde und Taubstumme diskutiert. Ferner beschloss man, nationale Sektionen des Internationalen Wohltätigkeitsvereines einzurichten. Die Kommunikation zwischen den einzelnen Ländergruppen sollte mittels eines internationalen Komitees organisiert werden. Mit diesem Schritt vollzog sich bereits eine Formalisierung des Kongresswesens, die von den internationalen Experten des Armenwesens in dieser Form erst nach 1900 wieder erreicht wurde. Auch wenn die Teilnehmerzahl des Kongresses in London von 294 Sozialreformern gegenüber den weit über 1000 Teilnehmern auf den späteren Kongressen noch gering war, so garantierte die Vertretung aus immerhin 20 verschiedenen Staaten eine erstaunliche Internationalität. Diese Entwicklung betraf nicht nur das Kongresswesen, sondern insgesamt die Orientierung der Sozialreformer, die sich fortan durch Literaturaustausch, Studienreisen und Korrespondenzen international zu vernetzen suchte.159 Der Aspekt transnationaler Verflechtung und grenzüberschreitenden Wissensaustausches erlebte in den frühen 1860er Jahren einen vorläufigen Höhepunkt, bevor die Zusammenarbeit durch die politischen Auseinandersetzungen in der Folgezeit wieder gänzlich zum Erliegen kam. Der Wohltätigkeitskongress in Mailand 1880 Im Jahr 1880 wurde der Versuch unternommen, die Kongresstätigkeit nach der politisch bedingten Unterbrechung wieder aufzunehmen. Angestoßen wurde die Initiative auf einem italienischen Armenpflegekongress 1879 in Neapel. Die Idee war, an die ins Stocken geratenen Bemühungen der Sozialreformer aus den 1850er und 1860er Jahren anzuknüpfen. Der Kongress von 1880, welcher in Mailand abgehalten werden sollte, stellte sich damit bewusst in die Tradition der Kongresse von Frankfurt, Brüssel und London. Um so viele Interessenten wie möglich zu erreichen, wurden im Vorfeld über die ausländischen Botschaften in Rom Einladungsschreiben verteilt. Das Deutsche Reich wurde darin gebeten, zwei offizielle Delegierte zu schicken und die Einladung an alle interessierten Gruppierungen und Personen weiterzuleiten. Sowohl die professionelle Organisation als auch die spezifische Themenwahl verdeutlichen, dass es den Veranstaltern um mehr als eine bloße internationale

burg, Internationale Wohlfahrt. Eine knappe zeitgenössische Darstellung findet sich bei Reitzenstein, Übersicht, in: SDV 17 (1893), S. 11. 159 Vgl. Leonards/Randeraad, Transnational Experts, in: International Review of Social History 55 (2010), 2, S. 215–239.

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Solidaritätsbekundung gegenüber den Bedürftigen ging.160 Die Vorträge spiegelten im Wesentlichen repräsentative Fragekomplexe der Armenfürsorge um 1880 wider. Man sprach unter anderem über die Organisation der Wohltätigkeit nach administrativen Gesichtspunkten (Erste Frage), ferner zählten die scharfe Ächtung der Almosen-Wohltätigkeit (Zweite Frage), die hygienische Hausarmenpflege (Dritte Frage), die Versorgung entlassener Strafgefangener (Vierte Frage) sowie die Unterstützung verwahrloster Kinder (Fünfte Frage) zu den behandelten Themen. Für den Verfasser der Kongresschronik, die 1906 anlässlich des Vierten Kongresses für Armenpflege und Wohltätigkeit in Mailand in Auftrag geben wurde, stellte das Jahr 1880 eine wichtige Zäsur in der Betrachtung des Armenwesens dar. Der Autor Mariani hielt drin fest, dass damals eine „neue Zeit“ („tempi nuovi“) hereingebrochen sei, welche sich durch die in allen Ländern vorherrschende Tendenz auszeichnete, das Armenwesen mittels institutioneller Zusammenarbeit, statistischer Erhebungen, finanzieller und organisatorischer Rationalisierung sachgemäß und effizient zu gestalten. Auch wenn manche Einschätzung auf eine etwas verklärte Rückschau zurückzuführen ist, die darauf abzielte, den völlig in Vergessenheit geratenen Kongress von 1880 wieder in einen sinnstiftenden Zusammenhang mit dem Kongress von 1906 zu bringen, kann dennoch festgehalten werden, dass die Fragestellungen des Kongresses von 1880 prinzipiell den Kurs einschlugen, welcher die Armenfürsorge auch in den kommenden 30 Jahren überwiegend prägen sollte. Über den Kongress und seine Teilnehmer selbst ist wenig bekannt. Eine stenographisch verfasste Mitschrift der Vorträge und Verhandlungen gab es zwar, war aber bereits 1905 vergriffen, als der stets um die Schaffung einer einheitlichen Kongresstradition bemühte Emil Münsterberg Nachforschungen darüber anzustellen versuchte.161 Die Korrespondenzen des italienischen Kongresskomitees mit dem Auswärtigen Amt in Berlin werfen Licht auf die Frage, warum das Anknüpfen an das internationale Kongresswesen aus den 1850er und 1860er Jahren nicht erfolgreich fortgesetzt werden konnte.162 Zum einen traf das Einladungsschreiben erst im Frühjahr 1880 im Auswärtigen Amt ein und somit verblieb zu wenig Zeit, um die nötigen Vorbereitungen für eine Teilnahme am Kongress zu treffen. Es wurde deutlich, dass eine großzügige Vorbereitungszeit erforderlich war, um die richtigen Adressaten zu erreichen, Delegierte zu bestimmen, die Reise zu planen, Gelder zu beantragen, Vorträge vorzubereiten und sich mit der Kongressleitung über die Details in Verbindung zu setzen. Ein anderes Problem betraf die interne Kommunikation zwischen der Deutschen Botschaft in Rom, dem Auswärtigen Amt, dem Reichsamt des Innern und den einzelnen Bundesstaaten. Die Hauptschwierigkeit bestand darin, dass völlige 160 Die Kongressberichte sind verschollen. Ein Bericht liegt in der Kongresszeitschrift vor, die anlässlich des internationalen Armenfürsorgekongresses 1906 in Mailand herausgebracht wurde, vgl. IV. Congresso internazionale, Bollettino ufficiale, Nr. 4, S. 5–9. 161 RP XVII (1905), S. 327. 162 BArch R 901 / 31847, Akten betreffend: die internationalen Regelung der Armenfrage, 1880– 1910.

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Unklarheit darüber herrschte, in wessen Zuständigkeitsbereich die Entsendung von Delegierten auf einen Wohltätigkeitskongress fallen sollte. In Deutschland war das Armenwesen, von den reichsgesetzlichen Bestimmungen einmal abgesehen, Angelegenheit der Städte und Kommunen. Einzig dort wären die Interessenten und Fürsorgeexperten anzutreffen gewesen, die von dem Kongress hätten profitieren können. Eine Aufsicht oder „Generalinspektion der Wohltätigkeitsanstalten“ mit „technisch geschultem“ und ein „mit informativen Funktionen betrautes Organ“, wie in Frankreich, gab es auf Reichsebene nicht.163 Da in dieser obersten Instanz kein zuständiges Personal anzutreffen war, lehnte das Reichsamt des Innern auch grundsätzlich die Beschickung der Kongresse mit der plausiblen Begründung ab, dass ihrerseits kein Interesse vorliege.164 Das fehlende Zuständigkeitsgefühl äußert sich letztlich auch in der Kommunikation mit den Behörden der Bundesstaaten, die mehrheitlich ebenfalls kein Personal zur Verfügung stellten und sich auch nicht bemühten, das Einladungsschreiben an die kommunalen Armendirektionen, Wohltätigkeitsvereine und kirchliche Einrichtungen weiterzureichen. Einzig die königliche Regierung in Württemberg reagierte mit Interesse und bat nachdrücklich um die Weiterleitung des Einladungsschreibens und des Programmes.165 Hierfür gibt es eine einfache Erklärung: Im Königreich Württemberg gab es bereits seit 1816 eine halbamtliche Dachorganisation, die in die Zentral-Staats-Behörde inkorporiert war. Unter der Zentralleitung des Wohltätigkeitsvereins in Württemberg wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts sämtliche öffentlichen, kirchlichen und privaten Wohltätigkeitseinrichtungen mit dem Ziel vereint, das Armenwesen in dem von Wirtschaftskrisen und Hungersnöten gebeutelten Land zu fördern und zu beaufsichtigen.166 Die Zentralleitung hatte mit ihrem Publikationsorgan Blätter für das Armenwesen – damals schon eine der wenigen überregionalen Zeitschriften, die sich programmatisch der Armenfürsorge widmeten – auch ein adäquates Instrument zu Hand, um gezielt und flächendeckend die in der Armenfürsorge tätigen Personen zu informieren. Damit ist ein zentraler Aspekt angesprochen, der nicht nur das Scheitern einer deutschen Beteiligung am internationalen Wohltätigkeitskongress von 1880 in Mailand erklärt, sondern generell die Schwierigkeit einer internationalen Vernetzung in dieser Periode verdeutlicht: Im Bereich der Armenfürsorge fehlte es – sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene – an einer ausdifferenzierten Kommunikationsinfrastruktur unabhängig von den staatlichen Behörden. Die Gründung des Deutschen Vereins 1880 setzte den Prozess erst langsam in Gang, in dem die Armenfürsorge einen eigenen Stellenwert innerhalb der sozialreforme163 Reitzenstein, Die Armengesetzgebung Frankreichs, S. 116. 164 Erste und einzige Ausnahme war der 1910 in Kopenhagen tagende Internationale Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit. Siehe ausführlich dazu ‚Der Internationale Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit 1910 in Kopenhagen‘ in Kapitel I, 5.3. 165 Vgl. den Bestand der Zentralleitung für Wohltätigkeit in Württemberg, insbesondere „Einladungen, Korrespondenzen und Programme zu Kongressen“ im Staatsarchiv Ludwigsburg, Bestand E 191, Bü 4243. 166 Vgl. W. Schmierer, Akten zur Wohltätigkeits- und Sozialpolitik Württembergs im 19. und 20. Jahrhundert, S. 9.

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rischen Bewegung zugesprochen bekam. Dort bildeten sich übergeordnete verbandsähnliche Strukturen und speziell auf das Armenwesen bezogene Publikationsorgane heraus, die für die bürgerliche Sozialreform charakteristisch waren und in dessen Folge sich die Experten der Armenfürsorge in Verbindung setzen konnten. Die Jahre nach 1880 sind in dieser Hinsicht als institutioneller Wendepunkt im Bereich des Armenwesens zu bezeichnen. Was den Wohltätigkeitskongress von 1880 betrifft, so fand er zu einem Zeitpunkt statt, an dem die internationalen Kontakte der 1850er und 1860er Jahre unter den Sozialreformern nicht mehr vorhanden waren, während sich die nationalen institutionellen Strukturen der Armenfürsorge, die später eine internationale Ausrichtung und Vernetzung ermöglichen würden, noch nicht etabliert hatten. Folglich verlief die Werbung für den Wohltätigkeitskongress ebenso im Sande wie die mediale Aufarbeitung nach seiner Austragung. Es dauerte fast zehn weitere Jahre, bis ein weiterer Anlauf für einen internationalen Kongress unternommen wurde. Der Internationale Kongress für Armenpflege 1889 in Paris und der ‚französische Internationalismus‘ Die Zeit nach dem vergeblichen Versuch, das internationale Kongresswesen 1880 wiederzubeleben, ist in Deutschland und in den meisten europäischen Ländern von einer gewissen Konsolidierung der ‚Fachdisziplin Armenfürsorge‘ geprägt: Es entstanden viele neue Vereine und sozialreformerische Gruppierungen, verbandsähnliche Strukturen bildeten sich langsam heraus, nationale Kongresse und Versammlungen tragen zu einer Vereinheitlichung der Themen und Sichtweisen bei, die in einer zunehmenden Anzahl an eigenständigen Fachpublikationen weiter vertieft wurden.167 Auf diesen Zusammenhang ist eine Initiative führender französischer Fürsorgeexperten zurückzuführen, 1889 in Paris ein internationales Kongresswesen ins Leben zu rufen. Der Grundstein hierfür wurde in Paris gelegt und der Titel der Veranstaltung, Premier Congrès international d’assistance, sollte ausdrücklich auf die Neuheit und Originalität des Unternehmens hinweisen. Die Commission Supérieure der Weltausstellung von Paris 1889 hatte erst im November 1888 mit der Genehmigung des Pariser Munizipalrates ein aus französischen Experten bestehendes Organisationskomitee damit beauftragt, für den Zeitraum zwischen dem 28. Juli und 4. August 1889 eine internationale Veranstaltung zum Armenwesen zu organisieren.168 Daraufhin wurden angesehene Persönlichkeiten der Armenfürsorge im In- und Ausland gebeten, Berichte vorzubereiten und auf Wunsch weitere Themenvorschläge einzureichen. Wie sich herausstellte, sollte das Organisationskomitee mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben wie die Veranstalter des Kongresses von 1880. Wie Henri Thulié zu Beginn der Ver167 Vgl. hierzu Kapitel I, 1–3. 168 Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 272ff. Über die Rahmenbedingungen des Kongresses und den Kontext der französischen Armenfürsorge siehe auch Bec, Philanthropies et politiques sociales, S. 145–157.

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anstaltung bemerkte, lag das Hauptproblem immer noch in der fehlenden Vernetzung und Kommunikation der unterschiedlichen Einrichtungen und Personen, die in der Armenfürsorge tätig sind: „les coopérations étendues sont rares, et c’est ce qui rend la connaissance du personnel de la bienfaisance difficile à acquérir, même dans notre pays.“169 Man habe, so der Generalsekretär des Kongresses, kaum Vorstellungen oder Wissen über die Arbeit im Ausland und daher sei es nicht einfach gewesen, ausländische Armenpfleger zu erreichen, die teilnehmen und einen Vortrag halten könnten.170 Deutsche Vertreter waren aus politischen Motiven nicht explizit eingeladen worden. Die überwiegende Mehrheit der 450 Teilnehmer war französischer Herkunft, außerdem hatten die Vorträge und Debatten vorwiegend eine Ausrichtung auf Sachverhalte, die für die französische Armenfürsorge relevant waren, wodurch die Partizipation der 93 ausländischen Teilnehmer zusätzlich erschwert wurde. ‚Internationalität‘ zeigte sich dennoch in einigen, immerhin viel beachteten Vorträgen von ausländischen Gästen. Außerdem gab es für jede der vier Sektionen einen französischen und einen internationalen Vorsitzenden, welche sich gelegentlich in Form von Redebeträgen in die Versammlungen einbrachten. Dass der Kongress in erster Linie ein französischer mit internationaler Beteiligung war, zeigte sich bereits in der Eröffnungsrede des Kongresspräsidenten und Senators Théophile Roussel. Er bezeichnete die Zusammenkunft als eine logische Konsequenz des gestiegenen Interesses an Fragen der Armenfürsorge. Während in Frankreich die Arbeit der öffentlichen und privaten Armenfürsorge lange ohne legislative Koordination gewesen sei und dadurch an eingeschränkter Funktionalität gelitten habe, hätten nun der „Geist der Solidarität“ und das „Prinzip der Brüderlichkeit“ neue, rationale Formen der Armenfürsorge hervorgebracht. Dieses plötzliche Erwachen eines regen Austausches zwischen den sozial engagierten Akteuren hätte wiederum 1889 zum Ersten internationalen Kongress für Armenpflege geführt, von dem er sich erhoffe, dass er manches dringende Problem löse. Zugleich betonte er den „universellen Charakter“ der Fragenstellungen, die sich um die Unterstützung armer und hilfsbedürftiger Menschen drehten.171 Obwohl Roussel das gemeinsame Interesse der Armutsbekämpfung herausstellte und den zivilisatorischen Fortschritt und internationalen Frieden im Sinne des „culte de la fraternité humaine“ hervorhob, galten seine den Gemeinschaftssinn beschwörenden Worte weniger den internationalen Vertretern, sondern in erster Linie den zerstrittenen Gruppierungen der französischen Sozialreform. In dem Land war eine Kontroverse zwischen den Anhängern der sozialpolitischen Verwaltungselite, welche die Ausdehnung der öffentlichen Armenfürsorge (assistance publique)

169 H. Thulié, in: Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 273. 170 Ebd., S. 273f. 171 T. Roussel, in: „Séance d’ouverture“, Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 267ff.

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forderten, und der mehrheitlich konservativ und konfessionell geprägten Privatwohltätigkeit (bienfaisance privée) entbrannt.172 Ein einflussreicher Kreis von Fürsorgeexperten, darunter Henri Monod, Émile Cheysson, Hermann Sabran, Henri Thulié, Désiré-Magloire Bourneville, Théophile Roussel, Félix Voisin und Paul Strauss, nutzte die internationale Bühne zur öffentlichkeitswirksamen Darbietung ihrer Ansichten. Diese heterogenen und an verschiedenen Stellen mit der französischen Politik vernetzten „pressure groups for social reform“173 lieferten sich teilweise heftige Wortgefechte über die Frage nach den Kompetenzen der öffentlichen Armenpflege, also ob sie obligatorisch und insgesamt ausgebaut und ob eine staatliche Aufsicht über die private Wohltätigkeit eingerichtet werden sollte.174 Auf dem Kongress trat ein deutliches Übergewicht der republikanisch gesinnten Vertreter zutage, welche die ‚réforme sociale‘ im Sinne einer flächendeckenden, ausdifferenzierten und mit Aufsichtsrechten ausgestatteten öffentlichen Armenfürsorge favorisierten.175 Viele Vertreter der katholischen Wohltätigkeit blieben der Veranstaltung demonstrativ fern.176 Diese auch in der Folgezeit anhaltende Lagerbildung innerhalb der französischen Sozialreform wurde von den internationalen Beobachtern als störend empfunden.177 Es lässt sich generell zwar festhalten, dass der Kongress den Grundstein für eine internationale Vernetzung bildete. Er stand aber zugleich in enger personeller und thematischer Abhängigkeit zu der Entwicklung des Armenwesens in Frankreich, so dass man von einer spezifisch ‚französischen Version‘ des Internationalismus sprechen könnte. Viele der anwesenden Experten der französischen Armenfürsorge präsentierten sich als Vorkämpfer für eine internationale Zusammenarbeit und verstanden darunter hauptsächlich die Konsolidierung der öffentlichen Armenfürsorge Frankreichs unter der gewinnbringenden Beteiligung des 172 Viele aus der Politik verdrängte Personen konservativer Ausrichtung besetzten wichtige Positionen in den privaten Wohltätigkeitsorganisationen, welche generell in katholischer Hand lagen und von den staatlichen Netzwerken isoliert agierten. Im Bereich der bienfaisance privée waren außerdem viele Ärzte, Ingenieure und Lokalpolitiker, in der assistance publique eher republikanisch gesinnte Kommunalpolitiker anzutreffen. Über diese Frontlinien und die daraus resultierenden Kontroversen der französischen Sozialpolitik vgl. Bec, Assistance et République; Smith, Creating the Welfare State in France; Topalov, Langage de la réforme. 173 Zu diesen Reformergruppierungen als „Scources of Social Reform“, Mitchell, Divided Path, S. 68ff. 174 Diese Frontstellung kam sogar bei der Namensgebung des internationalen Kongresses zum Ausdruck. Der Zusatz ‚und private Wohltätigkeit‘ (‚et bienfaisance privée‘) zum Titel ‚Internationaler Kongress für Armenpflege‘ (Congrès international d’assistance) wurde von den Unterstützern einer unabhängigen und primär privaten Wohltätigkeit – wozu die umfangreiche konfessionelle Fürsorgetätigkeit in Frankreich zählte – erst für den Kongress 1900 erreicht. 175 Vor allem H. Monod, Vorsitzender der Direction de l’Assistance Publique und Gründer des Conseil Superieur de l’Assistance Publique, und ein ihm nahestender Kreis (radikaler) Republikaner setzte sich für die Ausweitung der obligatorischen Armenfürsorge ein, vgl. Weiss, Origins, in: French Historical Studies 13 (1983), S. 59. Sie waren entscheidend von den Ideen des ‚Solidarismus‘ geprägt, vgl. ebd. sowie Metz, Geschichte der sozialen Sicherung, S. 70ff. 176 Topalov, Laboratoires, S. 16. 177 Vgl. hierzu auch Kapitel 5.2. in dieser Arbeit.

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kritischen ausländischen Fachpublikums. Von diesem sei noch viel zu lernen, wie Sabran178 es seinen Fachgenossen vor Augen hielt: „Nous sommes en retard, sur beaucoup de nos voisins; nous avons beaucoup à faire. [...] Il manque de l’union et de la direction.“179 Ausdrücklich begrüßte er die Einrichtung des Conseil Supérieur de l’Assistance publique, welche er durch die Beschäftigung mit dem ausländischen Armenwesen inspiriert sah. Auf entsprechend große Zustimmung stießen daher auch die Vorträge von Charles Stewart Loch (England) und Nathaniel S. Rosenau (USA), jeweils Generalsekretäre der vielfach gelobten Charity Organisation Societies (COS). Sie referierten beide über die Vorteile einer gesetzlich geregelten Kooperation zwischen öffentlicher und privater Armenfürsorge. 180 Die von Monod eingeforderte Beschäftigung mit ausländischen Systemen der Armenfürsorge verfolgte den offensichtlichen Zweck, die Entwicklung der französischen Armenfürsorge in diese Richtung voranzutreiben. International war der Kongress vor allem in Hinblick auf ein Merkmal: Die wissenschaftliche Ausrichtung, deren Anspruch universell verstanden wurde, erhob man zur Leitidee. Dieser gemeinsame Nenner musste allerdings erst noch gefunden und in Bezug auf konkrete Fragestellungen präzisiert werden. Die vier Hauptfragen181 boten den Kongressteilnehmern jedoch die Möglichkeit, Wissen und Erfahrungen zu vermitteln, auf deren Grundlage eine erste internationale Annäherung möglich werden sollte. Verständlicherweise waren dem Austausch dadurch Grenzen gesetzt, dass es sehr große Unterschiede besonders in Bezug auf die rechtlichen und institutionellen Organisationsformen der Armenfürsorge gab. Hinzu kam, dass aus jedem Kongressthema ein Stellvertreterkampf der französischen Kontrahenten zu werden schien. Unabhängig davon stellte sich allerdings immer wieder positiv heraus, dass die Teilnehmer aus den unterschiedlichen Nationen durchaus über ähnliches Anschauungsmaterial verfügten und vergleichbare Methoden der Armenunterstützung bevorzugten. Ermöglicht wurde diese auf Vergleich beruhende Annäherung durch ein gemeinsam geschaffenes Sprachsystem und die an den Sozialwissenschaften orientierte Herangehensweise in der Armenfürsorge. Der von allen Fürsorgeexperten geteilte Grundsatz hieß demnach: ‚Moderne Armenfürsorge‘ durch ‚rationelle Methoden‘ und die ‚Überwindung des Almosengebens‘. An verschiedenen Stellen wurde den Kongressteilnehmern auch

178 Bedeutender Sozialreformer in Lyon und „Président du Conseil général d’administration des Hospices civils de Lyon“, Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. XVIII („Liste des membres du Congrès par Pays“). 179 H. Sabran, in: Congrès international d’assistance 1889, Bd. 2, S. 375. 180 Die vieldiskutierten Vorträge endeten in einer gemeinsamen Resolution, wobei die gesetzlichen Rahmenbedingungen der COS als vorbildlich anerkannt wurden. Siehe C. S. Loch, De l’organisation de l’assistance, Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 51ff. und Rosenau, Charity Organisation, Ses méthodes et ses théories, ebd., S. 111ff. 181 Eingeteilt in vier Sektionen: I. Allgemeine Fragen der Armenfürsorge, II. Kindheit, III. Krankenfürsorge, IV. Fürsorge für Geisteskranke, vgl. Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. XXVff.

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deutlich gemacht, dass die Offenheit vom Ausland zu lernen eine Möglichkeit zur Optimierung des Armenwesens bot.182 Was die Kongressorganisation anbelangte, kam trotz überwiegend positiver Bewertung vereinzelt auch Kritik gegenüber den Organisatoren auf. Wie sich herausstellte, konnte eine zielführende internationale Debatte nur im Bereich spezifischer Methodenfragen oder in der Betrachtung spezieller Fachgebiete geführt werden. Eine Ausrichtung der Fragen auf zu allgemeine, die Eigenart der unterschiedlichen ‚Fürsorgesysteme‘ betreffende Sachverhalte schien hingegen nicht in die richtige Richtung zu führen. In diesem Sinne bedankte sich Bourneville, ein französischer Kinderarzt und engagierter Kongressteilnehmer, bei seinen italienischen und englischen Kollegen für konkrete und praktisch umsetzbare Reformanstöße im Bereich der Pflege der an Rachitis erkrankten Kinder oder in Bezug auf die Ausbildung von Krankenschwestern.183 Der Armenfürsorgekongress von 1889 kann insgesamt als ein erster Schritt auf der Suche nach einer gemeinsamen Grundlage und einem gemeinsamen Selbstverständnis der internationalen Fachwelt bewertet werden. Auch wenn es in erster Linie eine französische Veranstaltung war, konnten erste persönliche Kontakte über die Ländergrenzen hinweg geknüpft werden. Auf dem Bankett lobten die Teilnehmer schließlich den „brüderlichen Geist“ und das „gewachsene gegenseitige Verständnis“ in überschwänglichem Ton.184 Der österreichische Vertreter und Leiter des Wiener Vereins gegen Verarmung Ludwig Kunwald bestätigte, dass in Form des Congrès international d’assistance publique sowohl die „moderne Armenfürsorge“ als auch die „Rückkehr der Humanität“ gefeiert werden konnte.185 Die deutsche Sozialreform wohnte dem Gründungsakt dieses grenzübergreifenden Sozialreform-Netzwerks nicht bei. Einerseits verhinderten politische Gründe eine offizielle Vertretung des Deutschen Reiches, andererseits hatten sich auch keine Privatpersonen auf den Weg nach Paris gemacht. Es liegt nahe, dass Unkenntnis über den Kongress dafür ausschlaggebend war.186 An verschiedenen Stellen wurde die Abwesenheit deutscher Experten beklagt, da das Interesse am Nachbarland durchaus sehr groß war. Dieses Bedauern äußerte sich insbesondere bei Fragen, die das Elberfelder System187, das Gesetz über den Unterstützungs182 So z. B. auch Roussel, der an verschiedenen Stellen auf die Versicherungsgesetzgebung im Deutschen Reich und dessen Möglichkeiten aufmerksam machte, die Armenfürsorge zu entlasten: „Je crois, pour mon compte, ne pas cesser d’être bon Français, lorsque, contrairement à mes prévisions, je constate avec satisfaction, les succès, au-delà du Rhin, des Caisses d’assurance obligatoire.“ Deutlich kam hierin die Forderung zum Ausdruck, dass die nationalen Ressentiments überwunden werden müssten, vgl. Roussel, in: Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 271. 183 Congrès international d’assistance 1889, Bd. 2, S. 377. 184 Monod, in: Congrès international d’assistance 1889, Bd. 2, S. 365. 185 Ebd. 186 Weder auf den Sitzungen des Deutschen Vereins, noch in den Fachzeitschriften sind Hinweise auf den Kongress zu finden. 187 P. A. Le Roy, in: Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 501ff.

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wohnsitz188 oder die Versicherungspolitik189 betrafen. Über das System der Naturalverpflegungsstationen und der deutschen Arbeiterkolonien, welche ebenfalls viel Interesse weckten, hielt der russische Delegierte Raffalovich einen Vortrag, worin er vor allem die Einrichtungen Friedrich von Bodelschwinghs als einen erfolgreichen Schlag gegen das ‚Bettlertum‘ pries.190 Auch wenn keine deutschen Vertreter auf dem Kongress zugegen waren, konnten sich deutsche Interessenten durch die Kongresspublikationen im Nachhinein über seine Debatten und Resolutionen in Kenntnis setzen. Reitzenstein hob auf der zwölften Jahresversammlung des Deutschen Vereins ausdrücklich die seiner Meinung nach herausragende Bedeutung des Kongresses von 1889 hervor, der nach langer Pause ohne internationale Aktivitäten eine grenzübergreifende Zusammenarbeit forcierte.191 Er begrüßte diesen Trend ausdrücklich und rief seine Mitstreiter im Deutschen Verein dazu auf, die nationale Selbstbezogenheit zu überwinden und Anschluss an diese Entwicklung zu finden. Für ihn stellten die fachlichen Interessen und gemeinsamen Ziele den Ausgangspunkt dar. Eine Wissenssammlung, wie sie auf dem Internationalen Kongress für Armenpflege 1889 mit den Kongresspublikationen geschaffen wurde, war daher die perfekte Grundlage für weiterreichende Studien. Reitzenstein hielt abschließend fest: Es ist ein gewaltiger Raum, der durch diese im Werden befindlichen Organisationen sich der wetteifernden Bethätigung der Nationen öffnet; wir sind, wie es scheint, damit an den Anfang einer neuen Entwicklung gestellt, welche ihr vornehmstes Ziel darin findet, daß dem Studium jener Fragen das vollständigste Maß von Erfahrungen zu Grunde gelegt, daß zwischen demjenigen, was durch den besonderen Entwicklungsgang bezw. die Vorurteile der einzelnen Völker bedingt ist, und demjenigen, was die Verwirklichung der als allgemein gültig anerkannten Idee fördert, die Scheidung ermöglicht werde, und daß die Beurteilung der Reformpläne von den weitesten Gesichtspunkten aus sich vollziehe. 192

Die Gründung der Société international 1890 und der Internationale Kongress für Armenpflege 1896 in Genf Wie sollte eine weiterführende Zusammenarbeit aussehen? Welche Rolle sollten dabei deutsche Vertreter der Armenfürsorge spielen? Schon während der Kongressvorträge von 1889 wurde mehrfach der Wunsch geäußert, ein international besetztes Komitee einzurichten, das den Fortbestand des Kongresswesens gewährleisten würde. Man erkannte durchaus das Potential und den möglichen Nutzen solch einer grenzüberschreitenden Einrichtung. So zum Beispiel der böhmische Delegierte Palacky. Er regte während des Kongresses wiederholt einen weitergehenden und organisierten Informationsaustausch zwischen den Ländern an: 188 Monod, ebd., S. 345ff. 189 Mauriac, ebd., S. 63ff. 190 Raffalovich, Les colonies agricoles de mendiants en Allemagne, in: Congrès international d’assistance 1889, Bd. 2, S. 46ff. 191 Reitzenstein, Übersicht, in: SDV 15 (1891), S. 7ff., insb. S. 16. 192 Ebd., S. 19.

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I. Netzwerke il faut les faire fructifier et réaliser quelque chose de durable. [...] Dans ce but votre comité d’organisation vous propose de nommer une commission permanente dans laquelle toutes les nations représentées au congrès actuel figureront. 193

Auch andere hochrangige Persönlichkeiten des Kongresses bekundeten ihr ausdrückliches Interesse an einer internationalen Vereinigung. Man war sich einig, dass sowohl der Gründungsort als auch die Bedeutung des französischen Engagements bei der Wahl der Kommission berücksichtigt werden mussten. Innerhalb kurzer Gespräche wurde über die Nominierung einer internationalen Kongresskommission entschieden und die Gründung eines Pariser Büros veranlasst. Die führenden Köpfe waren die Franzosen Roussel, Monod, Sabran, Thulié, Muteau, der COS-Generalsekretär Loch aus London und der in verschiedenen Wohltätigkeitsvereinen engagierte Hof- und Gerichtsadvokat Kunwald aus Wien. Auftrag der unter französischer Schirmherrschaft stehenden internationalen Kommission war die Einrichtung eines Kongresskomitees, welches die Austragung weiterer internationaler Kongresse organisieren sollte. Thulié betonte in diesem Zusammenhang, dass er ausdrücklich alle Nationen zur Beteiligung aufrief, insbesondere auch diejenigen, die hier nicht vertreten waren. Außerdem wurde von einzelnen Kongressteilnehmern gewünscht, dass die Vertreter für das Kongresskomitee nicht per Blockwahl, sondern jedes Mitglied einzeln bestimmt wird. Auf diese Weise sollte eine Lagerbildung unter den französischen Kontrahenten der Armenfürsorge vermieden werden. Es wurde eine Liste erstellt, auf welche sich ausdrücklich auch die auf dem Kongress von 1889 nicht- oder unterrepräsentierten Gruppen eintragen sollten. Dazu zählten speziell auch Frauen und Vertreter der Armenfürsorge, die nicht aus dem Pariser Großraum kamen. Thulié schloss den Gründungsakt mit pathetischer Rhetorik: J’espère qu’elle aidera puissamment au résultat que nous cherchons tous: l’amélioration matérielle et morale des peuples. La première moitié de ce siècle a donné aux nations la 194 liberté, la deuxième l’égalité, espérons que le siècle prochain leur donnera la fraternité.

Die Anforderungen, die Thulié an die internationale Kommission stellte, konnten im Folgenden nie erfüllt werden. Als sich die 193 Mitglieder – darunter 162 Franzosen und 100 ‚Parisiens‘ – im Jahre 1890 in Paris einfanden und gemeinsam die Société internationale pour l’étude des questions d’assistance gründeten, zeichnete sich bereits ab, dass diese Vereinigung nur dem Namen nach international war. In erster Linie entwickelte sich aus ihr eine einflussreiche und für die französischen Reformdebatten immens wichtige Institution. Zum ersten Mal traten Armenpfleger, Philanthropen, Vorsitzende von Wohltätigkeitsvereinen und der öffentlichen Armenfürsorge in einer Dachorganisation zusammen, um über grundlegende Fragen des Armenwesens zu diskutieren. Mit der Société internationale wurde in Frankreich eine wichtige verbandsähnliche Struktur geschaffen. In der Vereinigung wurden einerseits die neuesten Errungenschaften des Armenwesens 193 Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 490, über die Gründung der Société international S. 487ff., insbesondere S. 490–492. 194 Ebd., S. 491.

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vorgestellt, andererseits konnten die Richtungskämpfe der französischen Sozialreform ausgetragen werden.195 So gesehen ist die Société internationale, sowohl was ihre Zusammensetzung als auch ihre Funktion betraf, vergleichbar mit dem Deutschen Verein. Neben den Persönlichkeiten, die auch auf dem Kongress 1889 stark in Erscheinung traten, gehörte auch der Anwalt und Kommunalpolitiker Muteau196 zum engeren Führungskreis. Zusätzlich zur Informations- und Kommunikationstätigkeit, welchen auf den jährlichen Versammlungen nachgegangen wurde, organisierte die Vereinigung binnen 10 Jahre verschiedene nationale und zwei internationale Kongresse: den internationalen Armenpflegekongress 1896 in Genf und 1900 in Paris. Der Zweite internationale Kongress für Armenpflege in Genf wurde anlässlich der schweizerischen Landesausstellung und in Kooperation mit dem Zweiten internationalen Kinderschutzkongress ausgetragen.197 Trotz großer Anstrengungen von Muteau, der zum Generalsekretär der Société internationale gewählt wurde, kann die Veranstaltung weitgehend als Misserfolg gewertet werden, wenn man seine internationale Dimension als Richtschnur anlegt. Gerade einmal neun Nationen ließen sich vertreten.198 Das Deutsche Reich wurde von Seiten der schweizerischen Regierung offiziell eingeladen, entsendete aber wie schon beim Armenfürsorgekongress 1880 in Mailand aus „Gründen der fehlenden Zuständigkeit“ keine Delegierten.199 Auch zwei wichtige Köpfe des Kongresses von 1889, Thulié und Monod, fehlten krankheitsbedingt. Der international renommierte Loch und der jüngst sehr an den internationalen Entwicklungen interessierte Reitzenstein, der seit 1890 mit der Société internationale in Kontakt stand, entschuldigten sich ebenfalls.200 Die Gründe für die deutsche Nichtbeteiligung sind einerseits auf die ungünstige Rolle der Société internationale zurückzuführen, die sich in die Debatten der französischen Sozialpolitik zurückzog und ihren Ambitionen in puncto ‚internati195 Dies gilt insbesondere für die in der Folgezeit organisierten nationalen Fürsorgekongresse, vgl. Weiss, Origins, in: French Historical Studies 13 (1983), S. 59ff. 196 Als ‚Conseil général‘ des Departements Côte D’Or beschäftigte sich speziell mit Fragen der Bildung, der Künste, des Versicherungswesens und der Armenfürsorge. Er verfasste einige vielbeachtete Schriften über die ‚Fürsorge für Alte und unheilbar Kranke‘. Eine Kurzbiographie über Alfred Muteau befindest sich auf der Webseite der französischen Nationalversammlung, vgl. URL: http://www.assemblee-nationale.fr/sycomore/fiche.asp?num_dept=5491 (Stand: 14.11.2015). 197 Präsident war Renard Didier (‚Conseiller d’État‘ sowie Abgeordneter des Kantons Genf), das Organisationskomitee bestand aus Schweizern und Franzosen, II. Congrès International d’Assistance, S. 10ff. 198 Außer aus der Schweiz und Frankreich gab es Delegierte aus Argentinien, Chile, den USA, Luxemburg, Portugal, Schweden, Spanien und Ungarn. Siehe II. Congrès International d’Assistance, S. 13ff. 199 BArch R 901 / 31847. 200 Siehe die Kongressveröffentlichung: II. Congrès International d’Assistance, S. 36. Reitzenstein fehlte vermutlich ebenfalls krankheitsbedingt, wie schon auf der Sitzung der 16. Jahresversammlung des DV (in Straßburg) im selben Jahr, siehe SDV 28 (1896).

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onale Vernetzungsarbeit‘ nicht gerecht wurde. Die Fachleute der deutschen Armenfürsorge trugen andererseits ihren Teil dazu bei, indem sie sich einer internationalen Vernetzung gegenüber zwar nicht verschlossen, doch aber sehr passiv verhielten. Für den Kongress 1896 in Genf bedeutete dies, dass die französischen Sozialreformer erneut das Geschehen dominierten. Hinzu kamen wichtige Vertreter der schweizerischen Armenfürsorge.201 Trotz der geringen Teilnehmerzahl und wiederholten Konzentration auf Fragestellungen, welche die Armenfürsorge Frankreichs beziehungsweise die der Schweiz betrafen, konnte der Kongress auch ein Novum vorweisen: Erstmals wurde im Beisein eines internationalen Publikums über die strittigen Fragen der „Fürsorge ausländischer Hilfsbedürftiger“ („l’assistance aux étrangers“) debattiert. Die Vorträge von Gustave Drouineau und des Schweizers Iselin wurden entsprechend interessiert entgegengenommen.202 Innovativ war daran, dass es sich dabei um eine grenzüberschreitende Thematik im eigentlichen Sinne handelte, welche die versammelten Experten gemeinsam erarbeiteten mussten.203 Reitzenstein war schon vor dem Kongress gebeten worden, ein Gutachten über die Rechtsgrundsätze bezüglich der Fürsorge ausländischer Hilfsbedürftiger in Deutschland zu erstellen.204 Leider gab es keinen Ersatzreferenten, weshalb die deutsche Armenfürsorge auch in dieser Frage in Genf unterrepräsentiert blieb. Die übrigen Hauptfragen betrafen die Organisation von Wohltätigkeitsgesellschaften, die Unterstützung Hilfsbedürftiger durch Arbeit sowie Fragen bezüglich des Mutterschutzes. Die legislativen und administrativen Schutzmechanismen für verwaiste Kinder wurden auf dem parallel stattfindenden Kinderschutzkongress diskutiert. Auch wenn die Bemühungen und Themen eine Richtung einschlugen, die für die internationale Debattenkultur in der Folgezeit prägend sein würden, war der Kongress organisatorisch gesehen und in Hinblick auf seine internationale Wirkung kein Erfolg. Auf der Veranstaltung selbst erkannte man schnell die Notwendigkeit, die internationalen Bemühungen auszuweiten und auf einem breiteren Konsens zu errichten. Kongresspräsident Renard Didier wies bezüglich der ‚Ausländerfürsorge‘ darauf hin, dass „realisierbare Lösungen“ („solutions réalisables“) nur dann gefunden werden können, wenn man ein permanentes internationales Komitee einrichtete, welches folgendermaßen organisiert sein sollte: 201 „Liste des Adhérents au Congrès“, II. Congrès International d’Assistance, S. 15ff. 202 Vgl. die Berichte III. Drouineau, L’assistance aux étrangers, und IV. Iselin, Lassistance aux étrangers dans le canton de Bâle, in: II. Congrès International d’Assistance (Anhang). Zur Diskussion über die „Assistance publique et privée et assistance aux étrangers“, vgl. ebd., S. 39ff. und S. 91ff. 203 Der Wunsch wurde bereits 1889 geäußert, einen internationalen Kongress über diese wichtige Frage zu organisieren. Siehe ausführlich zu diesem Thema Kapitel II, 1. 204 Vgl. SDV 15 (1891), S. 16 und Volkswohl XIX (1895), 23, S. 119. Dieser Artikel ist dann in Frankreich erschienen: Reitzenstein, L’assistance des étrangers en Allemagne (Bulletin de la Société internationale pour l’étude des questions d’assistance), Paris 1893; vgl. auch ders., Die Armenfürsorge für Ausländer insbesondere in Deutschland, in: Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Statistik 28 (1895), 1, S. 1–49.

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Leur tâche doit être de faire adopter, chacun dans sa patrie respective, les principes, sinon l’intégralité des vœux qui auront été formulés. Leurs membres, soit par correspondance, soit par des réunions, conserveraient entre eux le contact. 205

Er hoffte, dass ein neues Expertennetzwerk entstehen würde, das seine Themen nicht aus einem nationalen Kontext heraus formulieren, sondern an gemeinsamen Interessensgebieten orientieren würde. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Société internationale und die Kongresse von 1889 und 1896 für eine ‚gehemmte‘ Internationalisierungsphase der 1890er Jahre stehen. Ihr Verdienst bestand zunächst darin, ein generelles Bewusstsein dafür zu schaffen, dass eine internationale Vernetzung für die Entwicklung des Armenwesens von Vorteil ist und dazu gewisse Kommunikationsstrukturen geschaffen und gepflegt werden mussten. Umgekehrt überwogen die französischen Teilnehmer auf den Veranstaltungen und es ging in erster Linie um ‚französische Themen‘. Darin kommt eine eigentümliche Mischung aus internationaler Vernetzungsstrategie und inhaltlicher Selbstbezogenheit zum Ausdruck. Diese ambivalente Haltung hatte in der französischen Sozialreform eine lange Tradition. Den Untersuchungen Timothy B. Smiths zufolge verlief die französische Kontroverse über die öffentliche Armenfürsorge schon seit den 1830er Jahren immer unter Bezugnahme auf das englische poor law. Demnach schufen die Wortführer verschiedener sozialpolitischer Gruppierungen ein überzeichnet negatives Bild der englischen Verhältnisse, um die Einführung eines steuerfinanzierten, obligatorischen ‚Fürsorgesystems‘ in Frankreich zu verhindern. Von Frankreichs Fürsorgeexperten sei das poor law argumentativ immer mit dem entwürdigenden Werkhaussystem in Verbindung gebracht worden, was letztlich zur Folge hatte, dass man die Einführung einer staatlich organisierten Armenfürsorge fortwährend diskreditierte.206 Während das englische System dieser wohlfahrtsstaatsgeschichtlichen Leseart als ‚Bremse‘ für den sozialreformerischen Diskurs in Frankreich bewertet wurde, diente das ‚deutsche System‘ als dessen Beschleuniger. Allan Mitchell sieht in seiner Untersuchung über „The German Influence on Social Reform in France after 1870“ eine zwischen Konkurrenzdenken und Anerkennung oszillierende Haltung der französischen Fachwelt. Das Motiv von ‚Fortschritt durch Wettbewerb‘ prägte die Wahrnehmung der sozialpolitischen Neuerungen des Deutschen Reiches, dessen Methoden und gesetzliche Regelungen man ständig im Auge behielt.207 Auf ähnliche Weise zeigt Christian Topalov, dass die Pro205 Redebeitrag von R. Didier während der „Séance d’ouverture“, in: II. Congrès International d’Assistance, S. 35. 206 Vgl. Smith, The Ideology of Charity. Hierin beschreibt Smith die Haltung unterschiedlicher Gruppierungen der französischen Sozialreform gegenüber dem englischen poor law: In den Augen der Liberalen war das poor law zu teuer, außerdem untergrub es die Reize einer individuellen Förderung. Die private Wohltätigkeit, vor allem die katholischen Einrichtungen, befürchteten ihren Einfluss zu verlieren und sahen die christliche Idee der freiwilligen Armenpflege gefährdet. Für die Sozialisten hingegen präsentierte sich die englische Version der Armenunterstützung als inhuman, während Republikaner die Zementierung und Isolierung einer Armenschicht befürchteten. 207 Vgl. hierzu Mitchell, Divided Path.

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fessionalisierung des Fürsorgesektors in Frankreich und die Legitimierung staatlicher Hilfen seit den 1890er Jahren durch die intensive Beschäftigung mit dem Ausland zustande kamen.208 Die genannten Beispiele verdeutlichen, wie bedeutsam die internationale Ausrichtung der französischen Fachwelt war und welche reformfördernde Wirkung sie in den innenpolitischen Debatten erzielen konnte. Der Wohltätigkeitskongress 1893 in Chicago In der Reihe internationaler Veranstaltungen stellte der Internationale Wohltätigkeitskongress in Chicago in jeder Hinsicht eine Ausnahme dar. Der Wunsch, auf der Weltausstellung von 1893 in Amerika einen Kongress auszurichten, wurde zwar schon auf demjenigen in Paris von 1889 geäußert. Es handelte sich allerdings weder um einen offiziellen Nachfolgekongress noch stand er in irgendeiner Weise mit der französischen Kongresstradition oder der Société internationale in Verbindung.209 Tatsächlich entstand der Kongress aus einer regionalen Initiative heraus: Der Generalsekretär der „Chicago Relief and Aid Society“210 unterbreitete auf den jährlich in unterschiedlichen Städten stattfindenden ‚Nationalkonferenzen für Wohltätigkeit‘211 den Vorschlag, die 20. Sitzung dieser Versammlung anlässlich der Weltausstellung in Chicago abzuhalten und daraus einen internationalen Kongress zu machen. Ein fünfzehnköpfiges, ausschließlich aus Amerikanern bestehendes Komitee212 war mit der Organisation des International Congress of Charities, Correction and Philanthropy213 betraut. Zu den wichtigsten Organisatoren der Veranstaltung gehörten Frederich Howard Wines, John G. Shortall, James M. Flower, Nathaniel S. Rosenau und Robert Treat Paine. Außerdem wären noch Francis G. Peabody, Alkred T. White, Richmond Henderson, Robert de Forest 208 Topalov, Verständigung durch Missverständnis. Demnach wirkte England mit seinen Reformdebatten und der darin verwendeten Sprache als Bezugsrahmen. Interessanterweise bezog man sich auf ältere Debatten der COS. Dort hatten die in Frankreich bekannten Reformer jedoch nach 1900 zugunsten der New Liberals (wie z. B. Beverdige) an Einfluss verloren. Somit entsteht der Modellcharakter Englands laut Topalov auf einer verfälschten Wahrnehmung. 209 Im Preface der General Exercises of the International Congress 1893, Bd. 1, S. 26ff. ist zu lesen, dass der Kongress ein „indirect result of 1889“ sei. Allerdings gibt es in den Kongresspublikationen von 1889 keinerlei Hinweise auf eine Fortführung des Kongresswesens in Chicago. 210 Charles G. Trusdell, zugleich Präsident der Illinois Board of State Commissioners of Public Charities. 211 National Conference of Charities and Correction. 212 Es gab lediglich internationale „Honorary Vice-Presidents“ aus folgenden Nationen: England, Henry C. Burdett; Frankreich, Marquis de Chasseloup Laubat; Österreich, Dr. Isidor Singer und R, Michael Kazárin; Italien, F. Zampini Salazar; Schweiz, Edward Boos-Jeglier; Belgien, Prosper Van Geert; Australien, Miss Cahterine H. Spence. 213 „Correction“, worunter man in Deutschland „Gefangenenfürsorge“ verstand, war ein Bereich, der in der europäischen Fürsorgeorganisation nicht mehr zur eigentlichen Armenfürsorge gerechnet wurde. Im Gegensatz dazu standen im amerikanischen Verständnis „Charities“ und „Correction“ auch gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch in einer engen Verbindung.

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und Richmond Mayo Smith als besonders wichtige Persönlichkeiten zu erwähnen, die auf dieser wie auch anderen internationalen Veranstaltungen immer wieder eine wichtige Rolle spielen würden. Unabhängig des jüngst ins Leben gerufenen internationalen Kongresswesens in Europa konnte sich der International Congress of Charities, Correction and Philanthropy völlig eigenständig entwickeln. Der von Reitzenstein konstatierte „vorherrschend amerikanisch[e] Charakter“214 ist nur vor dem Hintergrund der amerikanischen sozialpolitischen Debatten und dem spezifisch amerikanischen Verständnis von Armenfürsorge zu verstehen. Dort waren traditionell die Idee der ‚freien Wohltätigkeit‘ und eine staatskritische Haltung prägend für die Ausgestaltung der Armenfürsorge. Dies zeigte sich auch in der Namensgebung, in der ‚poor relief‘, welcher dem deutschen ‚Armenfürsorge‘ oder dem französischen assistance publique entsprochen hätte, nicht vorkam. Folglich wurden einige Fragen als die der ‚charity organization‘ behandelt, während man diese in europäischen Staaten der öffentlichen Armenfürsorge zugordnet hätte. Daraus ergab sich eine für den europäischen Beobachter ungewohnte Vermischung.215 In seiner Eröffnungsrede sprach Prof. Peabody vor den über 800 Teilnehmern von den universellen Aufgabenstellungen, welche die Armenpfleger auf diesem Kongress vereinten: The truest measure of the progress of the age is the development of what is known as Moral and Social Reform. Antagonizing the fierce strife of selfishness for wealth and power, it offers as a substitute, to enlighten mankind, a generous service of the wants and welfare of others. Moral and social reform follows with the white flag of purity and peace the terrible army of pauperism, insanity and crime, saving and protecting all who come within the reach of its heavenly hand. To charity, using this word in its most comprehensive sense, everything human is sacred, because everything truly human is an offspring of the Divine. 216

Die im europäischen Kontext ungebräuchliche Formulierung der „Moral Reform“ verweist auf die in Amerika stärkere Rückbindung der sozialen Tätigkeit an die christliche Wohltätigkeitspraxis. Auch wenn eine rationale und effiziente Organisation die unbestrittene Methode der Armenfürsorge darstellen sollte, waren viele amerikanische Vertreter zugleich von einem ausgeprägten christlichen Sendungsbewusstsein erfüllt. Nicht nur die religiöse Rhetorik, sondern auch der Kongressgottesdienst verwies auf „die enge Beziehung der Kirche zur Wohltätigkeit und Reform“217. In den USA war die Armenpflege größtenteils in kirchlichen Strukturen eingebettet oder stand diesen sehr nahe. So verwundert es wenig, dass in den Sitzungen viele kirchliche Vertreter anwesend waren und der englischen Salvation Army um den vielzitierten ‚General Booth‘ viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Pastorin Spencer sagte dazu: „The relation of the church to charities and re214 Reitzenstein, Übersicht, in: SDV 20 (1894), S. 17. 215 Allgemein zur Entwicklung der Armenfürsorge, Wohltätigkeit und Wohlfahrt in den USA vgl. Axinn, Social Welfare. 216 General Exercises, Bd. 1, S. 29. 217 Vgl. den Vortrag von Rev. Anna Garlin Spencer, The Relation of the Church to Charities and Reform, General Exercises, Bd. 1, S. 35ff.

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forms is the relation of one uniting aspiration, one altar of worship to all special workers.“218 Dieses traditionelle Verständnis von Armenfürsorge stand in einem natürlichen Spannungsfeld mit der Ideenwelt der progressive reformers. Letztere waren stark akademisch geprägt – auf keinem der europäischen Kongresse waren so viele Hochschulprofessoren und Dozenten anwesend – und standen den europäischen, besonders auch den deutschen Theorien der Sozialwissenschaften, Nationalökonomie und Psychologie nahe.219 Dieses Spannungsfeld und die häufige religiöse Rückbindung führten jedoch weder auf dem Kongress noch im transatlantischen Dialog zu Missverständnissen. Aussagen über die moralischen Letztbegründungen der Sozialreform wären zwar unter den europäischen Vertretern der Armenfürsorge vermutlich nicht so oft angeklungen. Letztlich spielten diese bei konkreten Fragen bezüglich der Organisation und Methoden der Armenfürsorge eher eine nachrangige Rolle. Ungewöhnlich war für die internationalen Gäste hingegen die unkonventionelle, mitunter ‚chaotische‘ und in mancher Hinsicht ‚undogmatische‘ Organisationsform des Kongresses.220 So waren beispielsweise freie Diskussionen üblich, in denen es wenig Struktur und für nichtamerikanische Teilnehmer unersichtliche Hierarchien gab. Die Kongressarbeit wurde in einzelne Sektionen unterteilt und umfassten ein weites, wenig zusammenhängendes Themenspektrum: I. Öffentliche Armenfürsorge, II. Kinderfürsorge, III. Krankenpflege, IV. Irrenpflege, V. Behandlung von Verbrechen und Verbrechern, VI. Organisation und Verbindung der Wohltätigkeitsbestrebungen, VII. Soziologie als ein spezieller Lehrgegenstand und VIII. Fürsorge für schwachsinnige Kinder. Vor allem in der I. und VI. Sektion gab es starke internationale Beteiligung.221 Eine andere amerikaspezifische Besonderheit stellte zu diesem Zeitpunkt die große Frauenbeteiligung dar. Frauen hatten in der amerikanischen Wohltätigkeit eine zentrale, mit der benachteiligenden Situation in Europa nicht zu vergleichende Stellung. So verwundert es nicht, dass es neben den „General Officers“ der Organisationskomitees auch immer einen „Woman’s Branch“ gab, dessen Vorsitz James M. Flower innehatte.222 Die internationale Beteiligung war unmittelbar auf dem Kongress zwar nicht groß: In den Debatten traten vor allem englische und australische Vertreter in Erscheinung, während sich die Delegierten anderer Nationen völlig zurückhielten. Dafür fielen die zahlreichen internationalen ‚papers‘ stark ins Gewicht. Die Beiträge deckten nicht nur international breitgefächert Themen der Armenfürsorge ab, sie dienten auch als Diskussionsgrundlage für die Sektionssitzungen. Das Organisationskomitee hatte bereits im Vorfeld des Kongresses viele internationale Experten des Armenwesens aufgefordert, sich auch dann durch sachkundige Artikel zu beteiligen, selbst wenn sie die Reise nach Chicago nicht antreten konn218 219 220 221 222

Ebd., S. 36. Vgl. Schäfer, American progressives. So zum Beispiel in: Münsterberg, Report of the Proceedings, S. 558ff. General Exercises, Bd. 1, S. 6f. Ebd., S. 5.

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ten.223 Die Folge war ein breitgefächertes und im eigentlichen Sinne internationales Themenspektrum.224 Diese Form der internationalen Wissenssammlung war neuartig und auch mit den Kongresspublikationen von 1889 keineswegs vergleichbar. Darunter befanden sich einerseits historische und international vergleichende Überblicke über die Entwicklung und Ausgestaltung des Armenwesens in verschiedenen Ländern. Andererseits boten auch spezifischere Beiträge über Methoden und die Vorstellung einzelner Fürsorgeeinrichtungen „eine Fülle von wertvollem Material und Anregungen auch allgemeiner Art“225. Sowohl in der I. als auch in der VI. Sektion ist ein deutliches Übergewicht deutschsprachiger Beiträge erkennbar. Reitzensteins Beitrag über „The International Treatment of the Poor Question“ wagte sich an einen internationalen Vergleich der unterschiedlichen ‚Fürsorgesysteme‘ und betonte darin: we take part in a competitive contest and commerce, in which the noblest conquests of the mind become objects of reward and exchange. The differences that exist between these methods are not comparable with what they possess in common. 226

Fachspezifischer waren hingegen die Beiträge von Emil Thoma, Bürgermeister in Freiburg im Breisgau und L. F. Seyffardt, die jeweils über die Vorzüge und praktischen Erfahrungen mit dem Elberfelder System berichteten.227 Victor Böhmerts Aufsätze über die „Zusammenarbeit zwischen öffentlicher und privater Fürsorge“ sowie über den Verein „Volkswohl“ in Dresden rundeten das umfangreiche Bild über die deutschen Bestrebungen in der Armenfürsorge ab.228 Diese starke Repräsentation, speziell auch durch hochrangige Vertreter des Deutschen Vereins, korrespondiert mit einer im Vergleich zu den Kongressen von 1889 und 1896 viel breiteren Wahrnehmung des Kongresses durch die deutsche Sozialreform. Ankündigungen vor229 und eine wiederholte Berichterstattung nach dem Kongress230 sowie der sechsbändige Kongressbericht, dessen Studium Reitzenstein seinen Kollegen „dringend empfiehlt“231, steigerten das Interesse an einer internationalen Debattenkultur und einer möglichen deutschen Beteiligung daran. Das allgemeine

223 Vgl. Reitzenstein, Übersicht, in: SDV 17 (1893), S. 11f.; Volkswohl XVII (1893), 14, S. 78. 224 Beiträge gab es aus beinahe allen amerikanischen Staaten sowie England, Schottland, Kanada, Frankreich, Deutschland, Österreich, Russland, Italien, Belgien, Dänemark, den Niederlanden, Norwegen und Australien. 225 Reitzenstein, Übersicht, in: SDV 23 (1895), S. 18. 226 Reitzenstein in: General Exercises, Bd. 1, S. 22. 227 Alle diese Beiträge sind in der „Sixth Section“ des Kongresses publiziert, welcher hier als „Bd. 2“ nummeriert wird, vgl General Exercises, Bd. 2, Inhaltsverzeichnis. 228 Ebd. 229 Auf den Sitzungen des Deutschen Vereins, vgl. SDV 15 (1891), SDV 17 (1893) und in: Sozialpolitisches Centralblatt 33 (1893), S. 399. 230 Berichte über den Kongress finden sich jeweils in: Reitzenstein, Übersicht, in: SDV 20 (1894) und SDV23 (1895); Münsterberg, Report of the Proceedings, S. 558ff.; „Kurze Mitteilung“, in: Sociale Praxis 1 (1895), 25f., sowie Münsterberg, Zentralstellen, S. 27. 231 Reitzenstein, SDV 13 (1895), S. 19.

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Urteil fiel trotz vereinzelter Kritikpunkte sehr positiv aus.232 Zugleich kann der Kongress als Grundstein für die Auseinandersetzung der deutschen Armenfürsorgeexpertise mit den amerikanischen Methoden gesehen werden. Münsterberg nahm in der Folgezeit schwerpunktmäßig auf die amerikanische Armenfürsorge Bezug und attestierte diesem „jungen, frischen System“ eine nützliche „praktische Anpassungsfähigkeit“, frei von „Humanitätsduselei“233. Er würde 1904 auf seiner Amerikareise im Übrigen viele der Hauptprotagonisten des Chicagoer Kongresses persönlich kennenlernen.234 Die Langzeitfolgen der sich damals herausbildenden transatlantischen Achse sind insbesondere im Bereich der Sozialarbeit unbestritten.235 Doch auch bei der Krankenpflege sowie der Kinder- und Jugendfürsorge galten die amerikanischen Einrichtungen bereits 1893 als nachahmenswert, weil „sie auf dem betreffenden Gebiet als gewissermaßen abschließende Leistungen angesehen werden können“236. Auf ähnliche Art und Weise hinterließ der hohe Anteil an Frauen in allen organisatorischen und ausführenden Bereichen der Armenpflege bei den europäischen Beobachtern einen starken Eindruck und befeuerte die in Deutschland neu entbrannte Debatte über Frauen in Führungsfunktionen der öffentlichen Armenfürsorge.237 Das internationale Interesse an der deutschen Armenfürsorge, vor allem bezüglich des Elberfelder Systems, der Arbeiterkolonien und der Naturalverpflegungsstationen erfüllte Reitzenstein umgekehrt mit Stolz. Aus seiner Sicht hätten die „Hingebung“ und der spezifisch deutsche „Bürgersinn“, wie er auch in den liberalen Städteordnungen zum Ausdruck komme, auf diese Weise auch Anerkennung im Ausland gefunden. Er ermutigte seine Mitstreiter auf der 13. Jahresversammlung des Deutschen Vereins ausdrücklich „zu dem friedlichen internationalen Wettbewerb auch auf diesem Gebiet stets einen Einsatz [zu] bringen, der uns eine geachtete Stellung in demselben sichert!“238 Hier wird besonders die Funktion eines internationalen Wissensaustausches sichtbar, wie sie von deutscher Seite aus gesehen wurde: Die Fachleute der deutschen Armenfürsorge sollten sich an dem „internationalen Wettbewerb“ beteiligen, um durch die friedliche Konkurrenz einen wertvollen Beitrag zur Armutsbekämpfung leisten zu können. Die Bedenken, bei der Armenfürsorge ins Hintertreffen geraten zu können, werden hier erstmals erkennbar und können als ein wichtiger Motor für diese Phase der Internationalisierung gelten. Die Selbst- und Fremdwahrnehmung war dabei durch die politische Großwetterlage und nationale Deutungen zweifellos gekennzeichnet. 232 So urteilte Münsterberg in: Münsterberg, Zentralstellen, S. 27: „Die Arbeitsleistung, die in den Veröffentlichungen der genannten Kongresse zu Tage tritt, verdient, ganz abgesehen davon, ob der Zweck der Kongresse in seinem ganzen Umfange erreicht worden ist, höchste Anerkennung.“ 233 Münsterberg, Report of the Proceedings, S. 558f. 234 Unter anderem die Sozialreformer Paine, White, Henderson, Robert de Forest und Peabody, vgl. „Das amerikanische Armenwesen“, ZdA 7 (1906), 8, S. 225f. 235 Einführend: Hamburger (Hrsg.), Innovation. 236 Reitzenstein, Übersicht, in: SDV 17 (1894), S. 17. 237 Vgl. hierzu Kapitel III, 6. 238 Reitzenstein, Übersicht, in: SDV 17 (1893), S. 13.

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Die internationale Ausrichtung der Fachkollegen, wie sie Reitzenstein im Deutschen Verein propagierte, war also auch ein Aufruf dazu, den ‚Kulturnationen‘ die Vorzüge des deutschen Systems der Armenfürsorge mitzuteilen. Liegt in diesem neu erwachten Interesse an der internationalen Debattenkultur der Grund für die verhältnismäßig starke Beteiligung deutscher Beiträge auf dem Kongress von Chicago? Dies kann nur teilweise bejaht werden. Denn wäre dies der ausschließliche Grund, dann wäre ein ähnliches Interesse am Armenfürsorgekongress von 1896 in Genf zu erwarten gewesen – schließlich machte Reitzenstein auch hierfür Werbung im Deutschen Verein. Auch kann die naheliegende Vermutung, dass die Vertreter des Deutschen Vereins aus politischen Gründen nichts mit ihren französischen Kollegen zu tun haben wollten und stattdessen die amerikanische Version des Kongresses bevorzugten aus den vorliegenden Quellen nicht bestätigt werden. Stattdessen muss erneut betont werden, dass zu diesem Zeitpunkt von deutscher Seite wenig aktives Engagement zur Schaffung internationaler Vernetzungen ausging. Viel wahrscheinlicher spielte umgekehrt das amerikanische Interesse am europäischen und hier insbesondere am deutschen Armenwesen die entscheidende Rolle. Neben Englands progressives, zu denen seit jeher enge Beziehungen bestanden, rückten die amerikanischen Fachleute die dort sehr fortschrittlich konnotierte deutsche Sozialpolitik vermehrt in den Fokus. Viele amerikanische Sozialwissenschaftler und in der Wohltätigkeit engagierte Persönlichkeiten hatten sich in Deutschland für Studienzwecke aufgehalten und waren dadurch in engen Kontakt mit dem deutschen Sozialsystem und den Ideen des ‚Kathedersozialismus‘ gekommen.239 Mayo Smith beispielsweise, der mit der ausländischen Korrespondenz im Vorfeld des Kongresses betraut worden war240, hatte zwei Jahre lang in Berlin und Heidelberg Nationalökonomie und Statistik studiert.241 Er wusste dadurch genau, an welche Spezialisten er sich bezüglich Fragen der Armenfürsorge zu wenden hatte. So dürfte die verhältnismäßig starke Repräsentation der deutscher Beiträge in Chicago auf die konkreten Bemühungen und persönlichen Anfragen an die Experten des Deutschen Vereins zurückzuführen sein. Diese wurden individuell um ihre Expertenmeinung gebeten – eine Aufgabe, die sie verständlicherweise als eine Ehre empfanden und gerne erfüllten. Frankreichs Fürsorgeexpertise war hingegen kaum und nur durch Beiträge wenig namhafter Fachleute der Armenfürsorge repräsentiert. Weder die offizielle Delegierte Marie Marshall noch die Referenten Grosseteste-Thierry und Herbert Valleroux traten besonders in Erscheinung. Aus den Kongresspublikationen geht nicht hervor, dass zwischen den amerikanischen Organisatoren und den französischen Sozialreformern ein persönlicher Kontakt bestand. Umgekehrt unternahm man von Seiten der Société internationale keinen Versuch, sich in irgendeiner 239 Rodgers, Atlantiküberquerungen, hier insb. S. 101ff. und Schäfer, American Progressives. Es gab auch viele amerikanische Sozialarbeiterinnen, die in einer sogenannten „finishing tour“, eine Studienreise anlässlich des Abschlusses der Collegezeit Europa kennenlernten und auf diese Weise persönliche Kontakte knüpften. Vgl. Schüler in: Herren, Women in Welfare, S. 18. 240 Vgl. General Exercises, Bd. 2, S. VI. 241 Rodgers, Atlantiküberquerungen, S. 121.

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Weise mit dem Chicagoer Organisationskomitee in Verbindung zu setzen – man schickte nicht einmal einen Vertreter.242 Hinweise für eine bewusste oder beabsichtige Ablehnung des amerikanischen Kongresses von Seiten der französischen Fachwelt liegen nicht vor. Frankreichs Experten hatten mit der Société internationale allerdings gerade erst ihre eigene Plattform geschaffen, welche regelmäßig zu nationalen und internationalen Kongressen einlud. Die Vermutung liegt nahe, dass das Interesse an den amerikanischen Bemühungen, der damit verbundene Aufwand und die für die französischen Reformdebatten wenig relevanten Inhalte zur Folge hatten, dass weitreichendere Kontaktversuche nicht unternommen wurden. Fragt man nach der allgemeinen Bedeutung des Kongresses 1893 für die Schaffung internationaler Netzwerke der Armenfürsorge, muss ein Urteil sehr gespalten ausfallen. Münsterberg hielt einerseits zu Recht fest: „noch kein internationaler Kongress [hat] sich seine Ziele weiter gesteckt, noch die vor ihn gebrachten Fragen in einem mehr praktischen und utilitaristischen Geiste behandelt“.243 Offenbar verdiente dieser Kongress mehr noch als der von 1889 in Paris das Prädikat ‚international‘ hinsichtlich der vergleichenden Fragestellungen und Beiträge. Andererseits konnte keine personelle oder inhaltliche Verknüpfung zu den bereits vorhandenen Unternehmungen hergestellt werden, wodurch die Permanenz einer Wissensgemeinschaft wieder nicht erreicht wurde. Obwohl die Kongresspublikationen international als Erfolg gewertet wurden, geriet der Kongress selbst wieder in Vergessenheit. Exemplarisch stand der Kongress daher für eine für diesen Zeitraum zaghafte, selektive und meist personenbezogene Verbindung unter den internationalen Vertretern der Sozialreform. ‚Internationalität‘ in Form einer geregelten und anhaltenden Vernetzung steckte allenfalls in den Kinderschuhen. Die Bemühungen erschienen hingegen meist sporadisch, partiell, wahrnehmungs- und interessensgesteuert. Ihr Erfolg hing von persönlichen Kontakten oder wenigstens von den außerordentlichen Bemühungen einzelner Persönlichkeiten ab. Die relativ lose Blockbildung zwischen Vertretern Frankreichs und denjenigen seiner romanischsprachigen Anrainer244, wie sie sich auf den Kongressen 1889 in Paris und 1896 in Genf bereits abzeichnete, sowie den englischen beziehungsweise amerikanischen und deutschen Armenpflegern, hatte allerdings keinen dogmatischen Charakter und wurde so auch nie offen forciert. Sie ist vielmehr Produkt praktischer Zufälligkeiten: Neben den sprachlichen Ähnlichkeiten hatten sich in den romanischsprachigen Regionen in Bezug auf ihre Rechtsgrundsätze und hinsichtlich der Rolle der katholischen Wohltätigkeit vergleichbare ‚Fürsorgesysteme‘ herausgebildet. Ähnliches trifft auf die sogenannten „germanischen“ und „angloamerikanischen“ Systeme zu.245 242 Nicht zuletzt deshalb entstand auf dem amerikanischen Kongress erneut der Wunsch, eine „praktikable“ und „effektive“ internationale Kongressorganisation zu gestalten, vgl. „Preface“, in: General Exercises, S. 28. 243 Münsterberg, Report of the Proceedings, S. 559. 244 Vor allem Belgien, die französische Schweiz und Italien. 245 In den Publikationen der Armenfürsorge werden die Begriffe ‚germanisches‘, ‚romanisches‘ und ‚angloamerikanisches‘ System häufig verwendet. Sie spiegeln freilich lediglich zeitge-

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Gleichzeitig stand der Wohltätigkeitskongress in Chicago für den Anfang einer internationalen Neuausrichtung im Bereich der Wissenssammlung und Wissensvermittlung. Dies zeigte sich in den Kongresspublikationen. Erstmals wurde das Fachwissen der Armenfürsorge mit dem Anspruch zusammengetragen, ein internationales und leicht zugängliches Kompendium zu erschaffen: Gleichwohl wird man anzuerkennen haben, dass mit den Veröffentlichungen ein großes Stück Arbeit geleistet ist, welches zweifellos der wechselseitigen Kenntnis der Einrichtungen in den verschiedenen Staaten und Ländern, wie der gegenseitigen Verständigung über die modernen Aufgaben der Armenpflege und Wohltätigkeit zu gute kommen wird. 246

Es wurde klar, dass die „wechselseitige Kenntnis“, „vieles bringt und daher jedem etwas bringt“247. Wissenschaftlichkeit und effiziente Organisation waren auf beiden Seiten des Atlantiks von großer Bedeutung und auch wenn es sich um sehr allgemeine Darstellungen, historisch-kulturelle Erläuterungen und abstrakte Vergleiche der Systeme handelte, lieferten die Beiträge den Grundstock für weitere Untersuchungen. Längerfristig trug das ‚Zugänglichmachen von Material‘ entscheidend zu einem Wandel der Wahrnehmungsperspektive bei. 5.3. Durchbruch und Höhepunkt der internationalen Vernetzung: Die Fürsorgekongresse nach 1900 und das Comité international des Congrès d’assistance publique et privée Der Internationale Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit 1900 in Paris Verdeutlichten die internationalen Armenfürsorgekongresse von 1880, 1889, 1893 und 1896 einen fragilen Prozess der internationalen Vernetzung, so kann der Congrès international d’assistance publique et de bienfaisance privée 1900 in Paris als Wendepunkt und hinsichtlich seiner Auswirkungen als bis dahin erfolgreichste internationale Unternehmung der Armenfürsorge bezeichnet werden. Der große Unterschied bestand darin, dass im Umfeld dieses Kongresses zum ersten Mal die Gründung einer dauerhaften internationalen Organisation des Fürsorgeexpertentums erreicht wurde. Die Idee dazu entstand bereits im Vorfeld des Kongresses. Damals schrieb Paul Strauss248 in der von ihm verlegten Zeitschrift Revue philanthropique, dass der folgende Kongress alle bisherigen und gewissermaßen gescheiterten Bemühungen der internationalen Vernetzung in den Schatten stellen nössische Rechts-, Fürsorge- und Kulturvortellungen wider, wenngleich gewisse Übereinstimmungen der ‚Fürsorgesysteme‘ in den genannten Regionen vorlagen und auf historische Verbindungslinien zurückzuführen sind. Vgl. z. B. Münsterberg, Übersicht, in: SDV 35 (1898), S. 1–3. 246 Münsterberg, Report of the Proceedings, S. 604. 247 Ebd. 248 Französischer Journalist, Verleger der Revue philanthropique, Abgeordneter des Senats (demokratische Linke) und zeitweise dessen Vizepräsident sowie international bekannter Vorkämpfer des Kinderschutzes.

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müsse. Er wünschte sich ein dauerhaftes Projekt, das freilich nur durch eine breite und gut organisierte internationale Partizipation zustande kommen könne: L’entente internationale nécessite, au contraire, un groupement bien coordonné des forces et des lumières de chaque pays. [...] Il est nécessaire, il est indispensable que les œuvres de paix et de fraternité aient en tout temps leur centre de ralliement. 249

Ihm war bewusst, dass zur Realisierung dieses Zieles drei grundlegende Probleme gelöst werden mussten. Erstens mussten auf dem Kongress selbst möglichst viele internationale Fachleute erscheinen. Dann musste zweitens ein international besetztes ‚Büro‘ eingerichtet werden, das im Gegensatz zur Société internationale seinem Namen gerecht werden sollte. Beides schien jedoch nur dann möglich, wenn sich drittens die verfeindeten Lager der französischen Sozialreform versöhnten oder wenigstens „im Namen der Solidarität“250 zueinander fanden. Alle drei Vorhaben konnten zu einem gewissen Grad umgesetzt werden. Um sämtlichen Ansprüchen gerecht zu werden, scheute man für die Veranstaltung weder Kosten noch Mühen. Ort und Zeit hätte man nicht besser wählen können: Die Weltausstellung von 1900 zog viele Menschen nach Paris und bot den Teilnehmern einen spektakulären Rahmen. Ziel war es, von der medialen Aufmerksamkeit zu profitieren. Auf der Weltausstellung selbst war im ‚SozialPalast‘ eine vom Musée sociale251 organisierte Ausstellung zur ‚Économie sociale‘ zu sehen. Dort konnten die Errungenschaften im Kampf gegen die sozialen Probleme der Zeit betrachtet werden. Viele Länder, unter ihnen das Deutsche Reich, dokumentierten publikumswirksam ihre Erfahrungen und Leistungen im sehr weit gefassten Bereich der sozialen Wohlfahrtspflege.252 Mit der deutschen Ausstellung war die „Arbeitsgruppe für soziale Wohlfahrtspflege“ beauftragt worden, welche aus obersten Regierungskreisen und in Verbindung mit der Zentralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen gegründet wurde. Die Zielvorgabe der Arbeitsgruppe253 war eindeutig: Es galt die Leistun249 P. Strauss, Lex voeux du Congrès, in: RP VII (1889), S. 384–387, Zitat S. 384. 250 Ebd. (Übersetzung des Verf.). 251 Das Musée sociale war eine wichtige sozialpolitische Interessensorganisation in Frankreich, am ehesten vergleichbar mit der Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen, mit welcher sie auch in Kontakt stand, vgl. „Die Organisation der Wohlfahrtspflege im Auslande“, in: Schriften der 30 (1906), S. 16ff. Im Musée social sind unterschiedliche Interessen und Expertengruppen, die im weitesten Sinne zur sozialen Wohlfahrtspflege gerechnet werden können, vertreten. Das ursprünglich verbindende Merkmal von „République conservatrice, du patronage industriel et de paix sociale“ erweiterten sich im 20. Jahrhundert um vielfältige und heterogene Strömungen. Da es den Teilnehmern vor allem um Themen der Arbeiterfürsorge und Hygiene ging, welche den engeren Rahmen der Armenfürsorge deutlich sprengen, wird hier auf das Musée sociale nicht näher eingegangen, vgl. J. Horne, L’antichambre de la Chambre: le Musée social et ses réseaux réformateurs, 1894–1914, in: Topalov (Hrsg.), Laboratoires, S. 121–141, Zitat S. 122. 252 Für eine anschauliche Beschreibung der Ausstellungen des Sozial-Palastes siehe Rodgers, Atlantiküberquerungen, S. 22ff. 253 Neben dem Geschäftsführer Julius Post bestand die Gruppe aus in der höheren Verwaltung tätigen Regierungsräten sowie Professoren, darunter Heinrich Albrecht, Konrad Hartmann, Franz Hitze, Richard Roesicke. Beteiligt waren ferner das Reichs-Versicherungsamt, Parla-

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gen der deutschen Sozialpolitik darzustellen, um den „weniger fortgeschrittenen Ländern“ ein „Vorbild“ zu sein.254 So nutzten das Reichs-Versicherungsamt und das Kaiserliche Statistische Amt diesen Ausstellungsbereich, um die Arbeiterversicherungen „durch Herstellung von graphischen (statistischen) Tafeln, bildlichen Darstellungen, Modellen und Drucksachen den Besuchern der Ausstellung vor Augen zu führen“.255 Gefördert wurde das Konkurrenzdenken durch einen Wettbewerb: Eine internationale Jury zeichnete die aus ihrer Sicht zweckmäßigsten Einrichtungen im Kampf gegen die sozialen Probleme aus.256 Der Internationale Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit war im Gegensatz dazu als Fachkongress geplant und der allgemeinen Öffentlichkeit nicht zugänglich. Aufgrund der fehlenden politischer Dimension traten der „internationale Wettstreit“257 deutlich in den Hintergrund. Als größter von nicht weniger als 127 Kongressen, die sich im weitesten Sinne mit der Sozialen Frage auseinandersetzten, tagte dieser im Kongresspalast, der sich unmittelbar auf dem Gelände der Weltausstellung befand und genug Platz bot, um die 1639 Teilnehmer der Eröffnungsveranstaltung zu beherbergen. Nachmittags verlagerten sich die Versammlungen der kleineren Kongresssektionen in das Hôtel des Sociétés savantes. Unter den wichtigsten Organisatoren befanden sich Thulié, Rondel, Rivière und alle, die in der französischen Armenfürsorge und Sozialpolitik Rang und Namen hatten, darunter die bereits 1889 und 1896 in Erscheinung getretenen Vertreter der Société internationale.258 Als Novum konnte die stärkere Miteinbeziehung der französischen Privatwohltätigkeit gelten, was sich auch in der Namensgebung niederschlug (‚et bienfaisance privée‘). Darüber hinaus waren Ehrengäste aus hohen politischen Kreisen Frankreichs und hochrangige Delegierte aus dem Ausland eingeladen. Diese erschienen allerdings ausschließlich auf der Eröffnungsveranstaltung, so dass der Kongress wie auch schon seine Vorgänger eine reine Expertenversammlung blieb. Zum Präsidenten des Kongresses wurde Jean Paul Casimir-Périer gekürt. Dieser war 1894–

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mentsvertreter, das Ministerium der öffentlichen Arbeiten, der Kommerzienrat und das Gesundheitsamt. L. Lass/F. Zahn, Einrichtung und Wirkung der deutschen Arbeiterversicherung, Vorwort; vgl. auch Sociale Praxis (1900), 5, S. 112 über die „Dauernde Erhaltung der Gruppe Economie sociale auf der Weltaustellung in Paris“. Das Buch wurde auch ins Französische übersetzt: Lass/Zahn, Einrichtung, Vorwort. Ein Preis ging – in der entsprechenden Kategorie – an den Deutschen Herbergsverein und den Zentralvorstand Deutscher Arbeiterkolonien, vgl. „Soziale Wohlfahrtspflege auf der Pariser Weltausstellung“, in: Der Wanderer 17 (1900), S. 257ff. Lass/Zahn, Einrichtung, S. 244. Redner, die sich auf den Kongressen von 1889 und 1900 besonders hervortaten: René Béranger, Dr. P. Billon, Raoul Bompard, Désiré-Magloire Bourneville, Émile Cheysson, PaulGabriel d’Haussonville, Jules-Étienne Gigault de Crisenoy, Gustave Drouineau, Camille Ferdinand-Dreyfus, Mathieu Jules Gaufrès, Henri Henrot, Louis Lucipia, Eugène Marbeau, Henri Monod, Alfred Muteau, Henri Napias, Georges Picot, Eugène Prévost, Théophile Roussel, Hermann Sabran und Paul Strauss. Auf die Bedeutung einzelner Persönlichkeiten kann nur vereinzelt eingegangen werden. Weiterführend zur französischen Sozialreform vgl. Renard, Assistance et bienfaisance, in: Topalov (Hrsg.), Laboratoires, S. 187–219.

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1895 Präsident der Dritten Republik gewesen und seitdem engagierter Förderer von Wissenschaft und Wohltätigkeit. Er spielte sowohl auf dem Kongress, als auch anschließend bei der Schaffung des Internationalen Komitees eine sehr aktive Rolle.259 Die Planung des Kongresses, bei der die Société internationale entscheidend mitwirkte, versuchte die internationale Fachwelt über eine engagierte Werbekampagne zu erreichen und nicht nur durch Referate, sondern auch in den einzelnen Sektionen als Berichterstatter und ausländische Vorsitzende organisatorisch einzubinden. Der internationale Kongress sollte auch ein mediales Ereignis werden. In allen Botschaften waren Einladungen eingegangen, in allen wichtigen Fachzeitschriften wurde vor, während und nach dem Kongress ausführlich davon berichtet, außerdem schrieb man die wichtigsten Vereinigungen und Fachleute persönlich an.260 Der gegenüber 1889 und 1896 überarbeitete Kongressablauf zielte außerdem auf eine stärkere Einbindung der Teilnehmer in die Debatten. Darüber hinaus wurden für das Fachpublikum auch Besuche bei städtischen Fürsorgeeinrichtungen organisiert, ein viel genutztes und vom Fachpublikum sehr geschätztes Angebot.261 Schließlich gab es eine pompöse Eröffnungszeremonie, auf welcher der französische Präsident Émile Loubet eine Rede hielt. Abgerundet wurde das Programm durch diverse Angebote für das „gesellige Zusammensein der Kongresstheilnehmer“, das im Schlussbankett seinen Höhepunkt fand.262 Die große Mehrheit der Teilnehmer, Redner und Vortragenden war zwar nach wie vor Franzosen, dennoch gesellte sich zu ihnen eine deutlich gestiegene Zahl ausländischer Fachleute: Aus dem Deutschen Reich waren 29263 Besucher ange259 Vgl. auch „Casimir-Périer“, in: ZdA 8 (1907), 4, S. 97f. 260 Vgl. die Einladungsschreiben in BArch R 901 / 31847, Akten betreffend: die internationalen Regelung der Armenfrage, 1880–1910. In allen deutschen und europäischen Fachzeitschriften liegen in den Jahrgängen 1899, 1900 und 1901 Vor- und Nachberichte über den Kongress vor. In Deutschland finden sich Ankündigungen in diversen Fachzeitschriften, siehe unter anderem Sociale Praxis (1898), 19, S. 501 und Concordia (1900), 10 und 11, S. 117 und 127f. Außerdem wurde in den Jahresversammlungen des Deutschen Vereins auf das Kongresswesen aufmerksam gemacht, vgl. SDV 35 (1898), S. 3. 261 Vgl. Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 2, S. 364ff. 262 Münsterberg, Bericht über den internationalen Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit in Paris 1900, in: ZdA 2 (1901), 5, S. 17ff. Fortsetzung in den Ausgaben 6, 7 und 8. 263 Namentlich erwähnt werden: Alwin Bielefeldt (geheimer Regierungsrat, ständiges Mitglied des Reichs-Versicherungsamtes), Ferdinand Blumenthal (Privatdozent an der Universität Berlin), Sigismond Dziembowski (preuß. Landeshauptmann der Provinz Posen), Edmond Friedeberg (Doktor der Rechtswissenschaft und Gerichtsassessor, Berlin), Ludwig Holle (Landeshauptmann der Provinz Westfalen), Rudolf von Moser (Staatsrat, K.-Württembergischer Gesandter), Conrad Massow (Mitglied des Reichsgerichtshofes, Potsdam, Präsident der Vereinigung zur Bekämpfung des Bettels in Brandenburg), Emil Münsterberg (Präsident der Armendirektion Berlin und Stadtrat in Berlin), Baron Othon von Manteuffel (1. Vize-Präsident der oberen Abgeordnetenkammer in Preußen), Gottho Pannwitz (Generalsekretär des Deutschen Zentralkomitees zur Bekämpfung der Tuberkulose), Ludwig Friedrich Seyffardt (Leiter der Krefelder Armendeputation), Baron von Tann und Klatenhoff (Präsidenten der Société allemande de bienfaisance in Paris), Andreas Voigt (Prof. für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Geschäftsleiter des Instituts für Gemeinwohl in Frankfurt), Paul Voigt (Privatdozent der Staatswissenschaften an der Universität, Berlin), Anna und Ilse Wallich (Verein Berliner

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reist, aus Belgien 38, England 20, Spanien 14, Österreich 8, Russland 25, der Schweiz 17 und den USA 23 – um nur die größten Gruppen zu nennen. Trotz des ungleichen Zahlenverhältnisses kann festgehalten werden, dass es sich bei den internationalen Teilnehmern überwiegend um angesehene und bedeutende Persönlichkeiten ihres Metiers handelte. Sie verliehen der Länderrepräsentation durchaus Glanz.264 Umgekehrt war praktisch jeder französische Armenpfleger in leitender Position erschienen. Auch wenn diese zahlenmäßig ins Gewicht fielen, begnügten sich die allermeisten damit, wie es auf solchen Veranstaltungen üblich war, die Vorträge in aller Stille anzuhören und das Wort den renommierten Vertretern zu überlassen. Der Frauenanteil war äußerst gering und es gab auch kaum Redebeiträge von weiblichen Kongressteilnehmerinnen – ein vermehrt bemängelter Umstand.265 Man entschloss sich, den Kongress in vier Hauptfragestellungen zu gliedern, die durch Vorträge namhafter französischer Experten eingeleitet und durch internationale Beiträge ergänzt wurden. Das erste Thema handelte von der Funktionsweise und Effektivität der häuslichen Fürsorge, das zweite von der Versorgung und Erziehung ‚verwahrloster‘ Kinder. Die Mehrheit war sich einig, dass eine kontrollierte Zusammenarbeit von öffentlichen und privaten Institutionen eine Notwendigkeit geworden war und die Zukunft der Armenfürsorge in der Ausweitung öffentlicher Strukturen und der Übertragung von Kontrollbefugnissen auf öffentliche Einrichtungen liegen müsse.266 Auffällig ist die Tatsache, dass sowohl die dritte als auch die vierte Hauptfragestellung – sie betrafen die Arbeiterunterstützung beziehungsweise die Tuberkulosebekämpfung – eigentlich von anderen Fachkongressen behandelt wurden.267 Diese Fragekomplexe trotz der inhaltlichen Distanz zur Armenfürsorge im engeren Sinne aufzunehmen, war dem Wunsch des Organisationskomitees geschuldet, ein möglichst großes Fachpublikum zu errei-

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Hauspflege) sowie folgende Kommunalpolitiker, meist in ihrer Funktion als Bürgermeister: Clemens Delbrück (Danzig), Georg Bender (Breslau), Heinrich Fromm (Hannover) und Wilhelm Marx (Düsseldorf). Neben den wichtigsten deutschen Teilnehmern, zu denen Münsterberg, Massow, Bielefeldt, Seyffardt und Pannwitz zählten, traten unter anderem folgende nichtfranzösische Persönlichkeiten besonders hervor: L. Kunwald (Österreich), Le Jeune (Belgien), Loch und Rhodes (England), Krieger (Dänemark), Blankenberg (Niederlande), Cassano (Italien), Lachenal (Schweiz). Dies kam unter anderem im Vortrag von Moreau, Point de vue de la femme, in: Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 6, S. 414ff. zum Ausdruck. Die Verhandlungen über die Hauptfragestellungen sind in Bd. 1 und 2 in: Recueil des travaux du congrès international 1900 abgedruckt. 1899 fand in Berlin der Erste Kongress zur Bekämpfung der Tuberkulose als Volkskrankheit statt, der eine eigene Kongresstradition und internationale Zusammenarbeit in Form der 1902 gegründeten Internationalen Vereinigung gegen die Tuberkulose entwickelte, vgl. G. Pannwitz (Hrsg.), Ein Jahrzehnt Internationaler Tuberkulose-Arbeit, siehe auch Barnes, The Making of a Social Disease. Kongresse zum ‚Arbeiterwohl‘, ‚Arbeiterschutz‘ und zur ‚Arbeiterversicherung‘ gab es als Parallelveranstaltungen auf der Weltausstellung 1900 in Paris. Als deutsche Vertreter traten dort unter anderem Tonio Boediker und Victor Böhmert in Erscheinung, vgl. V. Böhmert, Die Weltkongresse für Arbeiterwohl auf der Pariser Weltausstellung von 1900, in: Der Arbeiterfreund 38 (1901), S. 335.

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chen. In der Sektionsarbeit wurde allerdings deutlich, dass eine Spezialisierung der Fragestellungen notwendig gewesen wäre. Im Großen und Ganzen waren die Berichte als Überblicksdarstellungen angelegt, die allgemeine Grundsatzvorstellungen äußerten. Es konnte zwar nicht vermieden werden, dass die französische Reformkontroverse immer wieder anklang. Die großen Dispute blieben allerdings aus und es wurde den Beiträgen ausländischer Fachleute viel Raum gegeben. Die politischen und konfessionellen Gegensätze der französischen Fürsorgeexperten, die dem Streit zwischen öffentlicher und privater Fürsorge zugrunde lagen, hatten sich in den letzten Jahren entspannt. Wie war es zu diesem „concordat charitable“268 gekommen? Grundlage für die Annäherung der gegensätzlichen Lager war der gemeinsame Wunsch nach Einheit der Sache wegen und einer damit verbundenen „Normalisierung des sozialen Sektors“269. Damit beruhigte sich die Auseinandersetzung im Umfeld des Kongresses von 1900. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Wirkung, welche speziell von den Aussagen der nichtfranzösischen Sozialreformer ausgegangen war. Nach den Kongressen von 1889 und 1896 war nämlich die internationale Kritik am französischen Reformdisput, beziehungsweise an seiner Austragung auf den internationalen Kongressen, immer lauter geworden. Adrien Lachenal270 hatte sich in der französischen Revue philanthropique über den ewigen „Antagonismus“ der französischen Kongressteilnehmer beschwert. Seiner Meinung nach stand dieser „antiquierte“ Kampf zwischen dem „religiösen Geist der Wohltätigkeit“ und dem „wissenschaftlichen Geist der Fürsorge“ einer internationalen Debatte im Wege.271 Münsterberg schrieb mit den gleichen Argumenten in derselben Zeitschrift einen Artikel über „l’assistance en France: opinion d’un étranger“, auf den Rivière direkt antwortete und zu mehr Einigkeit in der französischen Armenfürsorge aufrief.272 Ebenso kritisch äußerte sich der italienische Kongressdelegierte Cassano. Er forderte mehr Zusammenarbeit zwischen den Fachleuten und die Suche nach einem Konsens, welcher zugleich von internationalen Kooperationen getragen werden müsse.273 Letztlich veranschaulichen diese 268 Topalov, Verständigung durch Missverständnis, in: Liedtke (Hrsg.), Religion und Philanthropie, S. 161. 269 Ebd. Laut Topalov vollzog sich dies Entwicklung insbesondere auch in der Auseinandersetzung mit dem englischen poor law. Dass es trotz der Konflikte zu einer von Pragmatismus geprägten Zusammenarbeit zwischen der öffentlichen Armenfürsorge und katholisch geprägten Wohltätigkeit kam zeigt auch Catherine Maurer in: Maurer, Das soziale Wirken der Katholiken in französischen Städten und seine Auseinandersetzung mit anderen sozialen Initiativen im langen 19. Jahrhundert, Maurer, Michaela/Schneider (Hrsg.), Konfessionen, S. 235– 255; vgl. auch Fuchs, Gender und der Wettbewerb um Wohltätigkeit und Fürsorge in Frankreich, ebd., S. 363–382, insb. S. 373ff. 270 Schweizerischer Politiker und Bundespräsident während der Landesausstellung in Genf 1896, außerdem publizierte er in der Zeitschrift für Gemeinnützigkeit und der Revue philanthropique über Themen der Armenfürsorge. 271 A. Lachenal, Opinion de Lachenal sur le congrès, in: RP XII (1902), S. 369f. (Übersetzungen des Verf.). 272 RP XI (1902), S. 129–141 und RP XI (1902), S. 251–253. 273 Cassano, L’évolution des Congrès internationaux, in: RP VII (1899), 552–553.

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Aufrufe, dass die Gegensätze der französischen Sozialreformer auf dem Kongress von 1900 zwar immer noch hin und wieder zum Vorschein kamen. Dennoch brachten der innere Reformdruck und die von ‚außen‘ herangetragene Kritik frischen Wind in die Debatte.274 Damit wurde der Raum für internationale Diskussionen weit geöffnet. So bestätigte auch Münsterberg, dass der Anspruch, einen internationalen Kongress abzuhalten, erreicht wurde.275 Die Entsendung offizieller Delegierter aus dem Deutschen Reich wurde von Seiten der französischen Organisatoren ausdrücklich erwünscht. Im Einladungsschreiben wurde das Auswärtige Amt nicht nur gebeten, mögliche Interessenten zu informieren, sondern auch mehrmals eine Mitarbeit im Organisationskomitee angeboten. Nach Rücksprache mit dem Staatssekretär des Innern wurde die Beschickung abgelehnt – als Grund kann, wie schon auf den vorherigen Kongressen, die fehlende Zuständigkeit der Reichsregierung im Bereich des Armenwesens angeführt werden. Folgendes Beispiel belegt die eindeutige Haltung in dieser Angelegenheit: Aus einem persönlichen Schreiben von Casimir-Périer an Conrad von Massow geht hervor, dass er ihn als ausländischen Vizepräsidenten in einer der Kongresssektionen nominieren wollte. Nach Ansicht des Auswärtigen Amts sollte es jedoch weder offizielle Delegierte des Deutschen Reiches noch sonstige Beihilfen, insbesondere finanzieller Art, geben, weshalb die Behörde dem „Geheimen Ober-Regierungsrath Massow“ eine Teilnahme am internationalen Kongress untersagte. Massow reagierte mit deutlichen Worten der Irritation und ließ die Behörde wissen, dass es ihm selbst überlassen sei, „als Vorsitzender des Central-Vorstandes deutscher Arbeiter-Colonien und nicht im Auftrage der kaiserlichen Regierung daran teilzunehmen.“276 Einige Bundesregierungen und Kommunen ließen sich hingegen vertreten.277 Darunter war auch wieder die königlich-württembergische Regierung, welche der Entwicklung der Armenfürsorge wie auch schon auf den vorherigen Kongressen großes Interesse entgegenbrachte.278 Einmal mehr wurde das partikulare Interesse am internationalen Austausch sichtbar, das stark von den vorliegenden Organisationsstrukturen der Armenfürsorge oder aber vom persönlichen Engagement einzelner Fürsorgeexperten abhing. Preußen entsandte zwar keinen offiziellen Delegierten, die Stadt Berlin hatte mit Emil Münsterberg jedoch einen angesehenen inoffiziellen Repräsentanten.

274 Zu diesem Ergebnis kommt auch Paul Strauss, vgl. Strauss, Assistance sociale, S. 245ff. 275 ZdA 2 (1901), 5, S. 18. 276 BArch R 901 / 31847, hierin C. v. Massow in den Akten betreffend: die internationale Regelung der Armenfrage. 277 Vgl. Fn. 263 in diesem Kapitel. 278 Die engen Beziehungen zur Zentralleitung des Wohlthätigkeitsvereins ermöglichte die unkomplizierte Entsendung. Der offizielle Delegierte, Rudolph von Moser, nahm sich auch die Zeit, die mitgeschickten Fragebögen über die Organisation der Armenfürsorge im Königreich Württemberg ausführlich zu beantworten und mit zusätzlichem statistischem Material zu versehen. Vgl. Staatsarchiv Ludwigsburg Bestand E 191, Bü 4243, „Einladungen und Programme zu Kongressen“.

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Insgesamt waren, mehr als jemals zuvor, namhafte Fachleute aus verschiedenen Fachgebieten der Verwaltung und der privaten Wohltätigkeit präsent. Vor allem die großen Vereine der bürgerlichen Sozialreform waren vertreten. Dass die deutsche Armenfürsorge auf diesem Kongress und auch in der Folgezeit in der internationalen Debattenkultur viel stärker in Erscheinung trat, lag aber nicht nur an der groß angelegten Werbekampagne, sondern kann auch auf Münsterbergs unermüdlichen Einsatz für eine internationale Vernetzung der Fürsorgedebatten zurückgeführt werden. In Paris war er zu einem der Generalberichterstatter ernannt worden. Sein Bericht über die historische Genese und die aktuelle Entwicklung der deutschen öffentlichen und privaten Armenfürsorge stieß auf großes Interesse.279 Auch wusste er sich aufgrund seiner ausgezeichneten Französischkenntnisse gut in die Diskussionen einzubringen, wodurch er in kürzester Zeit zum bekanntesten deutschen Fachmann auf internationaler Bühne avancierte. Ihm kam sein abwägend-konsensueller Stil zugute, der eine sozialwissenschaftliche Methode mit den traditionellen Werten der bürgerschaftlich organisierten Armenpflege zu vereinen suchte. Dem Direktor des Berliner Armenwesens gelang es besonders gut, die aktuellsten Entwicklungen und Denkströmungen der Armenfürsorge zu verstehen, abstrahierend darzustellen und daraus allgemeingültige Grundsätze abzuleiten, auf die man in allen Lagen zurückgreifen konnte. Seine Herangehensweise wurde auch deshalb sehr geschätzt, weil er sich stets bemühte, weltanschauliche Aspekte mit professioneller Distanz zu umgehen, um stattdessen den Fokus auf die effektivsten Methoden einzelner, oftmals sehr technischer Sachverhalte zu richten. Die von ihm gebetsmühlenartig wiederholten Prinzipien – Analyse und Unterscheidung der Armutsfälle, Individualisierung der Hilfe, effektive Verwaltung – fanden international Zustimmung und stehen für das zeitgenössische Gesamtverständnis der Armenfürsorge im Sinne einer universell-rationalen und unumkehrbar professionalisierten Disziplin. Dementsprechend positiv äußerte sich Münsterberg auch über die Vorträge des Kongresses, die sich „durchweg in der Richtung neurer Anschauungen“ bewegen und den Drang nach Fortschritt befriedigen würden. 280 Der Stadtrat lobte ausdrücklich die Errungenschaften im Bereich der Kinder- beziehungsweise Jugendfürsorge und der Unterstützung arbeitsfähiger Personen – alles Themen, denen in der Folgezeit in den nationalen und internationalen Debatten ein hoher Stellenwert zuteilwurde. Im Deutschen Verein und insbesondere durch die neu geschaffene Zeitschrift für das Armenwesen gelang es dann auch viel weitreichender als vorher, diese neue Form der internationalen Rezeption in die allgemeinen Reformdebatten einzubetten. Der Kongress von 1900 und Münsterbergs anhaltende Berichterstattung über die Armenwesen des Auslandes können hierfür als maßgeblich betrachtet werden. Zugleich schien die internationale Orientierung als Distinktionsmerkmal im Kreis des Fürsorgeexpertentums allgemein an Bedeutung zu gewinnen. Die Teilnehmer und Referenten der Kongresse konnten sich mit

279 Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 1, S. 191ff. 280 ZdA 2 (1901), 5, S. 19.

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ihrer internationalen Präsenz schmücken, schließlich war ihre Wirkung eindeutig: Sie wurde gleichgesetzt mit ‚modern‘, ‚fortschrittlich‘ und ‚wissenschaftlich‘. Als gutes Beispiel dafür, wie Internationalität zur Identitätsstiftung einer spezifischen Gruppe von Armenpflegern beitrug, kann Münsterbergs selektive Darstellungsweise des internationalen Kongresses in Paris dienen. Auf den ersten Blick ist es erstaunlich, dass Münsterberg darin mit keinem Wort Conrad von Massow erwähnt, der auf dem Kongress ebenfalls als Referent auftrat. Dieser war immerhin Mitglied des Reichsgerichtshofes, Präsident der Vereinigung zur Bekämpfung des Vagabundentums in Brandenburg, wichtiger Redner im Deutschen Verein sowie im Zentralvorstand deutscher Arbeiterkolonien tätig. Münsterberg kannte Massow nicht nur persönlich aus den jährlichen Sitzungen des Deutschen Vereins, er war auch mit seinen Veröffentlichungen bestens vertraut.281 Trotz zustimmender Haltung in technischen Fragen282 stand ihm Münsterberg jedoch in grundsätzlichen Überlegungen zum sozialreformerischen Selbstverständnis diametral gegenüber. Massows Vorstellung einer protestantisch-moralischen Sozialreform sowie sein monarchisch-konservativer Nationalismus, der sich gelegentlich in Diffamierungen von Sozialdemokraten entlud, hatten wenig mit den nüchternen und sozialwissenschaftlich orientierten Ansätzen Münsterbergs gemeinsam.283 Massow stand für das paternalistische Fürsorgemodell der sittlichen ‚Erziehung durch Arbeit‘, wie es in den Arbeiterkolonien und Arbeitshäusern realisiert worden war. Schienen diese Einrichtungen noch die richtige Antwort auf die ‚Vagabundenkrise‘ der 1880er Jahre gewesen zu sein, hegten einige progressivere Vertreter des Deutschen Vereins Zweifel an deren Effektivität.284 Weniger moralische Bedenken als vielmehr der sachliche Verweis auf die negativen Statistiken löste eine allgemeine „Orientierungskrise“ der Arbeiterkolonien aus.285 Als Massow also auf dem Internationalen Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit weitgehend unkritisch über die Vorzüge und Qualitäten der Arbeiterkolonien im Deutschen Reich sprach286, geschah dies zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Münsterberg trat unterdessen für aktuellere Themen sowie eine sachliche, praxis281 Einige Male hatte Münsterberg in den Schriften des Deutschen Vereins Beiträge von Massow besprochen, wobei es jeweils um die ‚Vagabundenfrage‘ ging, vgl. „Das Landarmenwesen“, in: SDV 10 (1890) und „Fürsorge für Obdachlose“, in: SDV 17 (1893), S. 17ff. und SDV 22 (1895). 282 Hinsichtlich einer zentral koordinierten „Verbindung der verschiedenen Fürsorgebestrebungen“ stellte sich Münsterberg hinter Massows Forderungen. Nachzulesen in: Münsterberg, Zentralstellen, S. 1–10. 283 Die Ansichten Massows kommen vor allem hier zum Ausdruck: Massow, Reform oder Revolution und Massow, Die soziale Frage vom konservativen Standpunkt, in: Zeitfragen des christlichen Volkslebens 13 (1898), S. 1–47. Münsterbergs Argumentationsweise und Stil zeigt sich schon früh und ist in allen seinen Publikationen wiederzufinden, vgl. exemplarisch Münsterberg, Zur Theorie und Praxis des Armenwesens, in: ZdA 6 (1905), 2, 33ff. 284 Vgl. weiterführend Kapitel II, 2.3. Speziell zu Klumkers Kritik an den Arbeitshäusern und Armenkolonien, vgl. ders., in: ZVSV 19 (1910), S. 10–15. 285 Vgl. hierzu J. Scheffler, Die Gründungsjahre 1883–1913 in: Kiebel (Hrsg.), Ein Jahrhundert, S. 23ff. 286 Massow in: Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 2, S. 126ff.

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orientierte Herangehensweise ein und tat dies unter ständigem Bezug auf die modernsten Fürsorgebestrebungen. Seine Autorität fußte nicht nur in der praktischen Arbeit, die er in Berlin leistete, sondern auch besonders in seinem internationalen Renommee als Fachmann der Armenfürsorge und als Unterstützer grenzüberschreitender Vernetzung. Zugleich betonte er stets, dass der internationale Gedankenaustausch im Prozess der Rationalisierung und Professionalisierung eine entscheidende Rolle spielen würde. Dies zeigte sich deutlich auf dem Kongress 1900 in Paris. Dort war auf Basis der vielen Übereinstimmungen, die man in den Arbeitsgruppen gefunden hatte, ein neuer Grundgedanke der internationalen Kooperation entstanden. Hatte man auf den vorherigen Kongressen noch vergeblich versucht, das spezifische Wissen über Armut und Armutsbekämpfung der nationalen Kodierung zu entreißen, so wurde auf dem Kongress von 1900 erstmals der Versuch gewagt, ein eigenständiges und grenzübergreifendes Projekt zu entwickeln, das über den nationalen Denkstrukturen stehen sollte. Diese Vorstellung der neuen Einheit kam auf den Erörterungen des Kongresses deutlich zum Ausdruck. Darin wurde immer wieder hervorgehoben, dass die internationale Fachwelt nicht nur von den Berichten und Erinnerungen profitieren könne, sondern dass in den inhaltsreichen und bereichernden Diskussionen der Grundstein für eine langfristige internationale Verständigung gelegt wurde: „Il s'établit ainsi entre nous un lien, que tout d’abord nous ne voyons pas, mais ce lien existe cependant, et tous nos efforts tendront à le fortifier davantage.“287 Die Bemühungen Einzelner für diese neue Form der internationalen Vernetzung wären jedoch im Sande verlaufen, wenn sie bei den unterschiedlichen Sozialreformern nicht auf Resonanz gestoßen wären. Auf dem Kongress von 1900 fanden sich Gesinnungsgenossen, die einen Synergieeffekt auszulösen beabsichtigten. Da gab es zum einen die französischen Fürsorgeexperten, die den nationalen Kontroversen überdrüssig waren und nach neuen Entwicklungswegen der Armenfürsorge suchten. Zum anderen gab es die englischen Vertreter, die von der Reformbedürftigkeit des englischen poor law überzeugt waren und internationalen Impulsen gegenüber aufgeschlossen waren. Die amerikanischen progressives hatten schon lange den Blick auf ihre europäischen Kollegen gerichtet. Für die Fürsorgeexperten aus kleinen oder ‚peripheren‘ Nationen – z. B. Schweiz, Belgien, Niederlande, Dänemark, Russland – ergab sich hingegen die Chance, auf der internationalen Bühne in Erscheinung zu treten und sich Gehör zu verschaffen. Letztlich spielten aber auch die politischen Rahmenbedingungen eine wichtige Rolle. Sie begünstigten vor allem die Annäherung der französischen und deutschen Fachwelt.288 Im Kontext dieser Konstellationen wurde der Internationale

287 Münsterberg, in: Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 2, S. 347. 288 Im Deutschen Verein waren die Protagonisten des Kongresses wie z. B. Monod, Sabran, Rivière, Kunwald oder Loch bekannte Namen, die auf den Tagungen oder in den Schriften des Deutschen Vereins sowie speziell in der Zeitschrift für das Armenwesen oft zitiert wurden. Umgekehrt gelangten viele deutsche Beiträge in die Revue philanthropique.

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Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit als „Siegesfest“289 der Armenfürsorge wahrgenommen. Das mediale Echo war entsprechend nicht nur im Deutschen Reich, sondern in den meisten vertretenen Nationen groß.290 Hinzu kamen die beispiellose Verdichtung und auch der qualitative Sprung der internationalen Austauschbeziehungen im Bereich der Armenfürsorge.291 Die Betonung der Gemeinsamkeiten und die prinzipiell übereinstimmenden Ansichten bezüglich der Praxis der Armenfürsorge, die ein Zurückstellen der systemischen Fragen ermöglichte, brachte diese Gruppe von Sozialreformern länderübergreifend zusammen. Dem Kongress war es somit gelungen, trotz unterschiedlichster Interessenlagen eine in der Sache der Sozialreform ankernde Idee der grenzüberschreitenden Kooperation zu vermitteln. Das Selbstverständnis dieser epistemischen Gemeinschaft war erstmals von der Überzeugung geprägt, dass der internationaler Austausch und die internationale Zusammenarbeit eine wichtige Komponente für den Fortschritt in der Armenfürsorge sei. Tatsächlich öffneten sich den Fürsorgeexperten ungeahnte Möglichkeiten der internationalen Vernetzung und selbst die Kritik am bisherigen Kongresswesen wurde als Ansporn aufgefasst, den internationalen Wissens- und Meinungsaustausch auf eine neue Stufe zu stellen. Denn es war auch deutlich geworden, dass die Veranstaltungsform noch viele Schwächen hatte. Die Fragestellungen waren zu allgemein, die Themen unsystematisch und teilweise zu weit von der Armenfürsorge entfernt, die Diskussionen unstrukturiert, außerdem zeigte sich, dass das Übergewicht der französischen Sozialreformer noch zu groß war. Cassano brachte es in der Revue philanthropique auf den Punkt: Die Bedeutung der internationalen Kongresse solle nicht nur in der Aneinanderreihung von Fachvorträgen bestehen, sondern vielmehr Fortschritt und eine „friedevolle Vereinigung der Völker“ bewirken, die vom „Ideenaustausch“ unter den befreundeten Vertretern der Sozialreform getragen werde.292 Dieser Konsens führte auf der 289 Münsterberg, Übersicht über die neuren Bestrebungen, SDV 52 (1901), S. 3. 290 In diversen größeren europäischen Zeitschriften des Armenwesens findet man Vor- und Nachberichte zum internationalen Kongress von Paris, meist in Form von ausführlichen Hauptberichten. Vgl. dazu (Auswahl) „Notes on social work abroad“, in: COR (1901), S. 104ff.; „Kongressberichte“, in: Schweizerischen Zeitschrift für Gemeinnützigkeit (1900), S. 441ff. und (1901), S. 247ff.; „Congress für Armenpflege in Paris“, in: Die Humanität (1900), S. 13 und (1902), S. 21; „Congresso internazionale della assistenza pubblica e beneficenza privata a Parigi“, in: Rivista della benficenza pubblica XXVII (1899), S. 889ff. In den USA berichtete man von dem Kongress u. a. auf der National Conference of Charities and Correction, vgl. National Conference of Charities and Correction, Official proceedings of the annual meeting (1901), S. 357ff. Die französische Revue philanthropique fungierte praktisch als Kongresszeitschrift und berichtet in ihren Ausgaben von 1899–1901 ausführlich von der Veranstaltung, außerdem druckte sie mehrere internationale Berichte ab. 291 Vgl. hierzu Kapitel I, 2 und 3. 292 Cassano über „L’évolution des Congrès internationaux“ (Übersetzung des Verf.), in: RP VII (1899), S. 552–553: „L’importance des Congrès internationaux n’est plus à démontrer et chacune de ces réunions marque, par la variété de ses travaux et par l’intérêt qu’on y attache, un progrès de plus dans l’échange des idées qui amène la sympathie entre individus, prépare l’union entre peuples et permet d’entrevoir dans l’avenir la paix du monde.“

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Schlusssitzung des Kongresses von Paris zur Gründung des dauerhaften Comité international des Congrès d’assistance publique et privée. Die Gründung und die ersten Jahre des Comité international Die Erfahrungen vor dem internationalen Kongress 1900 in Paris hatten gezeigt, dass eine dauerhafte internationale Vernetzung keine einfache Unternehmung sein würde. Die Rahmenbedingungen mussten erst geschaffen werden. Münsterberg äußerte sich in einer 1897 veröffentlichten Schrift daher immer noch sehr skeptisch gegenüber den Erfolgsaussichten einer internationalen Vereinigung der Armenfürsorge. Er verwies auf das Fehlen der dafür notwendigen Institutionen, die Kosten weiter Reisen, die Verständigung in fremden Sprachen, die Komplexität des ausländischen Materials und das Überwiegen nationaler Teilnehmer auf den internationalen Kongressen, womit er auf die französische Dominanz auf den Kongressen von 1889 und 1896 anspielte. Sein Fazit aus dieser Zeit: Diese Probleme werden „die Thätigkeit internationaler Verbände dieser Art immer sehr fragwürdig machen“.293 Bereits wenige Jahre später sollten sich die Situation und mit ihr die Ansichten Münsterbergs grundlegend verändert haben. In einem 1903 erschienen Beitrag in der Zeitschrift für das Armenwesen berichtete der Stadtrat von den „mannigfachen nationalen Vereinigungen“ zu denen sich in jüngster Zeit „eine nicht unerhebliche Zahl internationaler Vereinigungen und Kongresse“ gesellten. Er begrüßte die neu erwachsenen internationalen Bestrebungen ausdrücklich und versprach sich viel Nutzen von den Möglichkeiten des internationalen Austausches.294 Als offensichtliche Gründe für die jüngsten internationalen Vernetzungen können die Festigung der nationalen Verbandsstrukturen auf der einen und der Erfolg des Kongresses von 1900 auf der anderen Seite genannt werden. Damit waren die Rahmenbedingungen geschaffen, um geordnete und nachhaltige internationale Beziehungen zu etablieren. Dies zeigte sich insbesondere auch in der Bereitschaft der Fürsorgeexperten, aus den Schwächen der bisherigen Kooperationsansätze zu lernen. Angestoßen wurde die Gründung eines dauerhaften Kongresskomitees während der Einführungsveranstaltung des Kongresses von 1900. Präsident CasimirPérier beauftragte den russischen Delegierten Serge Yakowlew295 mit einer vorläufigen Ausarbeitung, welche dann auf der Schlusssitzung des Kongresses konkrete Gestalt annahm.296 Der Beschluss sah wie folgt aus: Man schuf das Comité international des Congrès d’assistance publique et privée (Comité international), dem Mitglieder verschiedener Nationen angehörten und mit ähnlich gestalteten 293 294 295 296

Münsterberg, Zentralstellen für Armenpflege, S. 65. ZdA 4 (1903), 1, S. 6. Präsident der kaiserlichen philanthropischen Gesellschaft, Moskau. Entstehung und Gründungsakt können in: Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 2, S. 339ff. nachgelesen werden.

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nationalen Komitees in Verbindung stehen sollte. Diese ‚nationalen Sektionen‘, auch Comités nationaux genannt, konnten Gremien innerhalb bereits existierender Einrichtungen sein, oder sie mussten, falls eine entsprechende Struktur nicht vorhanden war, auf Betreiben des Comité international aufgebaut werden. Das Comité international verstand sich entsprechend als eine Dachorganisation und war daher mit weitreichenderen Kompetenzen ausgestattet als dem bloßen Organisieren von Kongressen. Es sollte regelmäßig tagen, die Kommunikation zwischen den ‚nationalen Sektionen‘ über Ländergrenzen hinweg vereinfachen und dadurch den internationalen Wissensaustausch im Bereich des Armenwesens vorantreiben. Entscheidend für die reibungslose Integration in das Kommunikationsnetzwerk war, dass die dafür notwendigen nationalen Verbandsstrukturen der Armenfürsorge vorhanden beziehungsweise ausreichend ausgebaut waren. Im Deutschen Reich übernahm erwartungsgemäß der Deutsche Verein diese Funktion, in Frankreich standen sowohl die Société internationale als auch das Office central des institutions charitables als Partner für ein nationales Komitee bereit. Permanente Strukturen dieser Art existierten beispielsweise auch in Italien, Belgien und den USA. In England waren die rund 70 COS zwar gut organisierte Zentralinstitute, diese standen allerdings mehr oder weniger für sich, auch wenn sie mit The Charity Organisation Review über ein zentrales Publikationsorgan verfügten. Aus diesem Grund schickten manche COS eigene Vertreter, wobei der Generalsekretär des Londoner Instituts, C. S. Loch, eine herausragende Rolle spielte und in gewisser Weise die Armenfürsorge Englands als Ganze zu repräsentieren beanspruchte. In Norwegen und in der Schweiz wurden eigens für die Kommunikation mit dem Comité international nationale Gremien gegründet297 – ein erstaunlicher Vorgang, wenn man bedenkt, dass das internationale Kongresskomitee damit das Potential besaß, auf die Gründung und Verfasstheit nationaler Institutionen Einfluss zu nehmen.298 Das Comité international war ursprünglich ähnlich wie die Internationale Vereinigung für Arbeiterschutz konzipiert worden, die ebenfalls im Anschluss an einen Kongress auf der Weltausstellung 1900 in Paris gegründet wurde. Auch sie sah die Bildung ‚nationaler Sektionen‘ vor. Im Deutschen Reich wurde hierfür eigens die Gesellschaft für Soziale Reform ins Leben gerufen, welche sich zu einem der wichtigsten und einflussreichsten Vereine der Sozialreform entwickelte.299 Während die Gründer der Internationalen Vereinigung für Arbeiterschutz 297 Zur Gründung der ‚nationalen Sektionen‘ vgl. RP XIV (1904), S. 211 und ZdA 4 (1903), 2, S. 41f. In der Schweiz wurde von der Zentralkommission der Schweizerischen gemeinnützigen Gesellschaft ein Komitee gegründet, vgl. Schweizerische Zeitschrift für Gemeinnützigkeit (1900), S. 450. 298 Eine ähnliche Beeinflussung könnte bei der Gründung des „Niederländischen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit“ 1908 vorgelegen habe, wie es einige Ausführungen Blankenbergs nahelegen, vgl. ZdA 10 (1909), 2, S. 81ff. 299 Die Gesellschaft für Soziale Reform (GfSR) entwickelte sich unter Beteiligung von ‚Kathedersozialisten‘ wie Berlepsch, Schmoller, Sombart zu einem zahlenmäßig großen Verein, der „die Ausgestaltung der sozialen Gesetzgebung stark beeinflußt.“ Vgl. Wolfram, Vom Armenwesen, S. 79. Zum Profil der GfSR vgl. vom Bruch, Bürgerlichkeit, S. 248ff. Allerdings

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allerdings eine breite Partizipation von Vereinen, Arbeiterverbänden und Nationalökonomen beabsichtigen und den Austausch dieser Gruppierungen als Ziel verfolgten, waren und blieben das Comité international und seine ‚nationalen Sektionen‘ reine Expertengebilde der Armenfürsorge. Für die Beschlüsse des Komitees galt, dass sie einstimmig getroffen werden mussten, was eine maximale Kooperationsbereitschaft der Mitglieder voraussetzte. Auf Wunsch der Vertreter sollte das Comité international mit den ‚höchsten Autoritäten‘ der Fachwelt bestückt werden. Über die Entsendung solcher Experten entschieden die ‚nationalen Sektionen‘, wobei festgelegt wurde, dass, wenn das Komitee erst einmal bestand, die darauffolgenden Mitglieder durch Kooptation aufzunehmen sind. Diese Methode wurde favorisiert, um die Arbeit zu vereinfachen, „pour donner à ses décisions toute l’autorité désirable“300. Dahinter verbarg sich der Wunsch, eine handlungsfähige Vereinigung zu schaffen, die möglichst ohne Opposition ihren Aufgaben nachgehen konnte. Die offiziellen Korrespondenzen, stenographischen Mitschriften und Protokolle der Sitzungen wurden in der Revue philanthropique veröffentlicht. Somit konnte sich auch das Fachpublikum über die internen Prozesse des Comité international informieren.301 Die aktiven Teilnehmer des Gründungsaktes sind zugleich jene, die sich auch in den internationalen Debatten und auf dem Kongress hervortaten. Für Frankreich wurden beispielsweise Paul-Gabriel d’Haussonville, Henrie Monod, Louis Rivière, Paul Strauss, Georges Rondel, Hermann Sabran, Félix Voisin, Georges Picot und Camille Ferdinand-Dreyfus bestimmt. Andere namhafte internationale Mitglieder waren unter anderem Ludwig Kunwald aus Österreich, Jules Le Jeune aus Belgien, Charles R. Henderson und Robert de Forest aus den USA, C. S. Loch aus England, Marquis Paulucci di Calboli aus Italien, H. J. de Dompierre de Chaufepié aus den Niederlanden, Anthonius Krieger aus Dänemark, Serge Yakowlew aus Russland sowie Albert Dunant und Fritz Hunziker aus der Schweiz. Das Deutsche Reich war neben Münsterberg, der erwartungsgemäß die wichtigste Rolle spielen würde, auch durch Hedwig Leyden, Vorsitzende des Frauenheims Victoria in Berlin, den Düsseldorfer Oberbürgermeister Wilhelm Marx, den Landesbankrat und Vorsitzenden des Roten Kreuzes Rudolf Osius aus Kassel und den Vorsitzenden des Caritasverbandes, Lorenz Werthmann aus Freiburg im Breisgau vertreten. Als das Comité international 1901 erstmals tagte, waren nominell 36 Nationen eingeschrieben. Allerdings reduzierte sich die Zahl der tatsächlich teilnehmenden Länder in Kürze auf die Hälfte. 302 Trotzdem war

beschäftigte sich die GfSR nicht mit der Armenfürsorge, weshalb sie hier nicht weiter berücksichtigt wird. 300 Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 2, S. 341. 301 Weniger ausführlich aber trotzdem hinreichend informiert wurden die deutschsprachigen Interessenten regelmäßig in der Zeitschrift für das Armenwesen über das Comité international. 302 Auf der ersten offiziellen Sitzung waren folgende 19 Nationen vertreten (in Klammer die Anzahl der eingeschriebenen Mitglieder): Deutsches Reich (5), Argentinien (1), Österreich (2), Dänemark (1), Belgien (1), Brasilien (1), Spanien (2), USA (5), Frankreich (11), England

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das Fortbestehen der Vereinigung, vor allem durch das anhaltende Engagement der europäischen Vertreter, garantiert. Es partizipierten aber auch einzelne Persönlichkeiten der Armenfürsorge Russlands und der USA. Schon bei einem flüchtigen Blick auf die Mitgliederliste wird deutlich, dass im Comité international besonders namhafte Vertreter von Armenfürsorge und Wohltätigkeit zusammentrafen: Alle oben erwähnten Personen waren bedeutende Sozialreformer und Vorsitzende wichtiger öffentlicher oder privater Fürsorgeeinrichtungen.303 Infolgedessen etablierte sich im Comité international ein zahlenmäßig überschaubarer, aber einflussreicher Zirkel internationaler Fürsorgeexperten. Zunächst provisorisch, später dann endgültig wurde Paris als Hauptsitz und Tagungsort des Komitees bestimmt. Damit wurde nicht nur der besonderen Rolle der französischen Fürsorgeexperten für das internationale Kongresswesen Rechnung getragen. Man erkor überdies die wohl wichtigste und gewissermaßen ‚internationalste‘ Stadt der damaligen Welt, um die Dauerhaftigkeit der Internationalen Kongresse für Armenpflege und Wohltätigkeit zu gewährleisten.304 Was den Einfluss der französischen Sozialreformer im Comité international anbelangte, so war dieser erstmals im Begriff, sich zugunsten einer stärkeren internationalen Prägung abzuschwächen. Dies machte sich sowohl bei der Wahl der Austragungsorte, als auch der Themen und Berichterstatter der künftigen Kongresse bemerkbar. Einen wesentlichen Anteil an dieser verstärkten internationalen Ausrichtung hatte Casimir-Périer, dem es gelang, die französischen Fürsorgeexperten nach den jahrelangen Auseinandersetzungen auf eine sachbezogene Geschlossenheit einzuschwören. Die nationalen Kongresse in Frankreich, betonte er, seien der richtige Ort um über die Meinungsverschiedenheiten zu diskutieren. Im Comité international und auf den internationalen Kongressen gehe es hingegen um die „Vermehrung ehrenvoller Prinzipien“ und das Schaffen gemeinsamer Lösungsansätze.305 Zum Ausdruck kommt hier eine veränderte Rolle der französischen Sozialreform im internationalen Vernetzungsprozess. Sie war vormals Vorreiter und Motor des internationalen Kongresswesens. Allerdings wurde diese internationale Struktur lange Zeit nur mit den Inhalten der französischen Reformdebatten gefüllt. Diese ‚instrumentelle‘ Vernetzungspraxis der französischen Fürsorgeexpertise wurde durch die Gründung des Comité international von der neuen Formel eines „œuvre réellement internationale“306 abgelöst, wie Rondel, selbst französisches Komiteemitglied der ersten Stunde, 1910 rückblickend die Gründungsphase des Comité international beschrieb.

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(4), Italien (4), Luxemburg (1), Norwegen (1), Niederlande (1), Portugal (1), Rumänien (1), Russland (4), Schweden (1), Schweiz (2). Vgl. RP X (1901), S. 361 und S. 478–481. Für eine exakte Auflistung samt Berufsbezeichnungen und den sozialpolitischen Aufgabenfeldern der Komiteemitglieder, vgl. ebd. Zur Konstituierungsphase und ausführlich über das Comité international, seiner Organisation und seinen Aufgaben vgl. RP X (1901), S. 361 und S. 478–481 sowie RP XI (1902), S. 22– 31. RP XI (1901), S. 22–31, Zitat S. 26 (Übersetzung vom Verf.). RP XXVI (1910), S. 633.

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Das in Paris 1901 endgültig konstituierte Komitee307 nahm unter der Leitung seines Präsidenten Casimir-Périer seine Tätigkeiten auf: Die Organisation eines folgenden internationalen Kongresses sowie die Förderung nationaler Vereine, Versammlungen und Projekte, mit denen das Comité international in enger Verbindung stehen wollte. Die Hauptidee der Verantwortlichen war es, eine dauerhafte, von der Politik unabhängige internationale Struktur zu schaffen, in welcher internationale Kontakte koordiniert, eine Interessensgemeinschaft gepflegt, Wissen ausgetauscht, und wenn möglich die nationalen sozialpolitischen Ebenen rückwirkend beeinflusst werden sollten. Das Komitee leitete die internationale Korrespondenz, wobei sich der Dialog zwischen den Mitgliedern nicht nur auf die Sitzungen des Komitees beschränkte, in denen trotz der französischen Sprache allgemein eine rege internationale Redebeteiligung vorzufinden war, sondern darüber hinaus auch in Form von persönlichen Briefwechseln gepflegt wurde. Wer nicht zu einer der Versammlungen kommen konnte, sicherte seine Stimme durch öffentliche Schreiben, die in den Sitzungen vorgelesen wurden und in denen das Abstimmungsverhalten publik gemacht wurde.308 Um ihren Ansprüchen gerecht werden zu können, sicherte sich die internationale Vereinigung von Anfang an wichtige Entscheidungsbefugnisse. Insbesondere monopolisierte sie die Organisationsrechte über künftige internationale Kongresse. Auch wenn die Mailänder Kongresskommission, in dessen Zuständigkeitsbereich der nächste Kongress fiel, den organisatorischen Ablauf der Veranstaltung bestimmen und alle finanziellen Mittel309 für die konkrete Umsetzung übertragen bekam, blieben die wesentlichsten Entscheidungen dennoch dem Comité international vorbehalten. Vor allem oblagen ihm die Auswahl der Themen und Referenten. Auf diese Weise nahm es auf die Ernennung der Generalberichterstatter entscheidenden Einfluss, welchen wiederum eine zentrale Aufgabe bei der Sammlung und dem Zusammenführung der Vorträge zuteilwurde. 310 Durch das Filtern und Ordnen der Themen und Diskussionsgrundlage konzentrierten die Mitglieder 307 RP XI (1901), S. 497. Als internationale Vizepräsidenten gewählt wurden: Wolcott (USA), Kunwald (Österreich), Le Jeune (Belgien), Lindblom (Schweden), Loch (England), Münsterberg, Paulucci de Calboli (Italien), Ripalda (Spanien), Yakowlew (Russland); Sekretäre: Abaujo (Brasilien), Dompierre de Chaufepié (Niederlande), Dunant (Schweiz), Krieger (Dänemark). 308 Öffentliche Schreiben und persönlicher Briefwechsel sind in den Komiteesitzungen dokumentiert, vgl. z. B. RP XIV (1905), S. 596. Über die persönlichen und institutionellen Beziehungen der Komiteemitglieder vgl. ferner Kapitel I, 3. 309 Die Bereitstellung finanzieller Mittel für das Comité international oblag den ‚nationalen Sektionen‘. Die internationalen Kongresse selbst wurden zu einem großen Teil von den Teilnahmegebühren getragen, hinzu kamen finanzielle Hilfen durch die austragenden Städte bzw. Regierungen, vgl. RP XIX (1906), S. 369–371 und RP XXIV (1909), S. 260–262. Wenngleich eine private Organisation, kann das Comité international als „semioffizielle Mischform“ angesprochen werden, da sowohl die Mitglieder als auch die Finanzierung an verschiedenen Stellen mit der politischen Ebene verwoben war. Zur Typisierung internationaler Organisationen vor 1914 vgl. S. 7 und vor allem das zweite Kapitel in: Herren, Internationale Organisationen. 310 Vgl. ZdA 4 (1903), 10, S. 311.

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des Comité international wichtige Vorrechte auf sich. Sie konnten damit auf die grenzüberschreitend vernetzten Fürsorgedebatten entscheidend Einfluss ausüben und diejenigen Leitkonzepte der Sozialreform verbreiten, auf welche sich die Armenpfleger zu beziehen hatten. Die Generalberichterstatter waren bezeichnenderweise selbst überwiegend Persönlichkeiten aus dem Comité international – eine Kontinuität, die auf eben jene neuen exkludierenden und identitätsstiftenden Grenzziehungen hindeuten, die sich immer dann beobachten lassen, wenn internationale Vereinigungen im Entstehen sind. Denn in dem Maße, in dem die Kategorie des Nationalen zugunsten eines internationalen Akzents zurückgedrängt wurde, schuf sich diese spezifische Expertengruppe der Armenfürsorge ihren eigenen Zugehörigkeitsrahmen. Der gemeinsame Nenner jenes Zugehörigkeitsrahmens bestand indes aus mehr als nur aus einem Minimalkonsens, wie folgende Aussage auf der konstituierenden Sitzung des Comité international über die Deutung der internationalen Beziehungen verdeutlicht: Il marque dans toutes les directions un effort colossal de l’esprit humain en quête de solutions et de rapprochements. N’est-ce point en matière de charité que la solidarité internationale est vraiment une réalité? Et quel objet plus noble d’émulation, quel instrument plus efficace de réconciliation entre les hommes que le désir et la volonté de porter aide et secours à l’homme lui-même?311

Die rhetorischen Fragen deuten es an: Vereint in der Idee der zivilisatorischen Mission zur Armutsbekämpfung teilte man grenzüberschreitend dieselbe ‚Fürsorgekultur‘, die sich im Wesentlichen aus den Praktiken des bürgerlich-sozialreformerischen Vereinswesens heraus formierte. Das Fundament der Kommunikation bildeten die grundsätzlich vergleichbaren Themenkomplexe und Methoden der Armenfürsorge. Ihnen lag ein homogener Armutsdiskurs zugrunde. Die Mitglieder des Comité international konnten sich somit auf eine gemeinsame Deutung des Armutsproblems berufen. Die universellen Ideen der Sozialwissenschaften waren zusätzlich wichtiger Anknüpfungspunkt. Das bewusst wissenschaftliche, da autoritätsvermittelnde Auftreten festigte das neue Zusammengehörigkeitsgefühl, welches die Fürsorgeexperten des Comité international trotz vielfältiger Unterschiede durch geschickte Selbstaffirmation behaupten konnten. Diese legitimationsstiftende Eigendarstellung nahm in den Jahren nach 1900 deutlich zu und konnte mitunter den Charakter zeremonieller Feierlichkeiten annehmen.312 Die „Jury international de l’Exposition de St. Louis“ 1904 trug ihren Teil dazu bei, als sie dem Comité international den „Großen Preis“ für seine Verdienste bei der internationalen Kooperation im Bereich des Armenwesens überreichte.313 Diese Form der internationalen Gemeinschaftsbildung brachte automatisch auch Abgrenzungen hervor, die wiederum von unterschiedlichen Interessenlagen 311 RP XI (1901), S. 31. 312 Exemplarisch können hierfür die Reden und Feierlichkeiten zu Beginn und am Ende der Kongresse, die überschwänglich positive Berichterstattung sowie die Redebeiträge auf den Sitzungen des Comité international angeführt werden. 313 IV. Congresso internazionale, Bollettino ufficiale, Nr. 2, S. und RP XVII (1905), S. 105ff.

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gekennzeichnet waren. Schließlich ging es auch immer darum, Verbündete zu finden, die ähnliche Anliegen und Interessen gegen andere Konzepte der Armenfürsorge durchsetzen wollten. Zum einen beabsichtigten die international vernetzten Fürsorgeexperten, sich von anderen, nationalen Gruppierungen und Einrichtungen der Armenfürsorge abzuheben. Vor allem die ‚planlose‘ Hilfe, worunter man die unprofessionelle Wohltätigkeitsarbeit verstand, war der erklärte Gegner. Zum anderen kritisierte man sowohl die konservativ-paternalistischen als auch die liberal-utilitaristischen Strömungen, wie sie unter den Sozialreformbewegungen in den 1880er und 1890er Jahren noch vorherrschend gewesen waren. Darüber hinaus sah man sich in der internationalen Gemeinschaft aber auch als sozialwissenschaftlicher und zugleich als betont ‚humanistischer‘ Gegenspieler zur staatlichen Sozialpolitik. Es war ein erklärtes Ziel des Comité international auf die politischen Entscheidungen im Bereich der Armenfürsorge zugunsten einer moderat reformorientierten Ausrichtung Einfluss zu nehmen. Zuletzt festigte das internationale Netzwerk die gesellschaftliche Rolle der professionellen Armenpfleger, indem die sozialwissenschaftlich legitimierte Konstruktion von Armut das Ideal der bürgerlichen Lebensführung unterstrich. Die international vernetzte Sozialreform kann so gesehen auch als eine Fortführung des „bürgerlichen Vergesellschaftungsprozesses“ gesehen werden, der nicht nur organisierte Vereine umfasste, sondern eben auch „ein Ensemble aus Mentalität und Handeln“ beinhaltet, „das von der Konstituierung des bürgerlichen Subjekts in der Begegnung mit dem Armen bis hin zum Einsatz der Sozialreform als Macht-Instrument der politischen Aktionsgemeinschaft Bürgertum reicht“.314 Mit der Emphase der ‚internationalen Solidarität‘ bestätigten sich die Sozialreformer so gegenseitig ihre gesellschaftliche Vermittlerrolle und ermutigten sich im Kampf gegen die Armut, denn wie es Ferdinand-Dreyfus auf den Punkt brachte: „La misère est la même partout.“315 Die deutsche Armenfürsorge hatte vor 1900 zwar nur einen sehr geringen aktiven Anteil an den hier vorliegenden Prozessen der Transnationalisierung, doch dann wurde der Rückstand sprunghaft aufgeholt, insbesondere dank des Einsatzes von Münsterberg. Er avancierte zu dem internationalen Gesicht der deutschen Armenfürsorge. Er steht ebenso wie seine Kollegen im Comité international für eine spezifische Gruppierung von Fürsorgefachleuten, die in der grenzüberschreitenden Ausrichtung eine Form der Selbstbestärkung fanden. Fragt man nach den unmittelbaren Wirkungen des Comité international unabhängig von seiner identitätsstiftenden Funktion, so wird vor allem hervorzuheben sein, dass ihm die dauerhafte Etablierung des internationalen Kongresswesens glückte. Es wurde eine Struktur geschaffen, welche die Kommunikation von Fürsorgeexperten sowie die Systematisierung und Vernetzung von Wissen arrangierte. Ein wichtiger Verdienst lag in der beschleunigten Professionalisierung der Inhalte und Formen: Die Festlegung wissenschaftlicher Standards in bestimmten Bereichen der Armenfürsorge wurde zunehmend durch die internationalen Debat-

314 Vgl. Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft, S. 17. 315 RP XI (1901), S. 31.

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ten geprägt.316 Erstmals wurde dabei nicht in erster Linie der Konkurrenzkampf, sondern eine sachbezogene und oftmals dezidiert ‚freundschaftliche‘ Vernetzung als Ziel definiert. Dies versuchte man auch bei den Vorbereitungen für den internationalen Kongress in Mailand umzusetzen. In der Folgezeit entschied man sich für Mehrsprachigkeit, um ein noch breiteres Fachpublikum zu erreichen. Sämtliche Hauptund Spezialberichte mussten zusätzlich eine französische Zusammenfassung enthalten, wodurch ein möglichst großer Rezipientenkreis abgedeckt werden konnte. Eine ähnliche Strategie verfolgte man bei der Themenwahl. Man legte bei den gegenüber 1900 deutlich spezialisierten Fragestellungen Wert auf eine anwendungsorientierte Diskussion.317 Die internationalen Kongresse sollten fortan nicht nur einen enzyklopädischen Charakter, sondern auch einen ‚schöpferischen‘ haben. Eine Hand voll Experten musste daher unter Anweisung des Hauptberichterstatters – einer vom Comité international mit weitreichenden Kompetenzen ausgestatteten Person – allen anderen Teilnehmern ein nützliches Kompendium der neuesten Errungenschaften auf dem zu behandelten Gebiet zur Verfügung stellen. Mithilfe einer eigens ins Leben gerufenen Kongresszeitschrift wurden alle Teilnehmer zwischen 1904 und 1906 über den neuesten Stand der Kongressvorbereitungen auf dem Laufenden gehalten sowie über die einzelnen Themen vorab soweit informiert, dass auf dem Kongress selbst ein möglichst fortgeschrittener Ideen- und Meinungsaustausch gewährleistet werden konnte.318 Jede Form des Wissensaustausches konnte ihre Wirkung allerdings nur durch die Rückbindung an die nationalen Ebenen entfalten. Sie waren der Dreh- und Angelpunkt der internationalen Vernetzung, wie sie sich die Schöpfer des Comité international vorstellten. Die Kommunikation mit den ‚nationalen Sektionen‘ war das entscheidende Instrument, um auf die Sozialpolitik und die Praxis der Armenfürsorge Einfluss ausüben zu können. Zugleich legte man viel Wert auf das Ansehen der im Comité international in den ‚nationalen Sektionen‘ vertretenen Fürsorgeexperten. Dabei traten wechselseitige Dynamiken zutage. In vielen Fällen bedingten sich das nationale und internationale Ansehen sogar gegenseitig und erfüllten auf diese Weise eine autoritätsfördernde Funktion. Der Internationale Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit 1906 in Mailand Die positive Resonanz, welche die Vorgängerveranstaltung in der internationalen Fachwelt erzeugt hatte, sollte nach Ansicht der verantwortlichen Organisatoren auch in Mailand erzielt werden. Aus diesem Grund zog man es vor, den für 1905 316 Vgl. hierzu ausführlich Kapitel III in dieser Arbeit. 317 Vgl. RP XVII (1905), S. 34–37. 318 Die Zeitschrift kam in kurzen, meist zwei- bis dreimonatigen Abständen heraus und wurde den Kongressteilnehmern zugeschickt, vgl. IV. Congresso internazionale dell’Assistenza pubblica e privata, Bollettino ufficiale del Comitato Esecutivo, 1904–1906. Siehe auch RP XVII (1905), S. 37.

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geplanten Kongress auf 1906 zu verschieben, um erneut vom Großereignis der in der norditalienischen Stadt stattfindenden Weltausstellung zu profitieren.319 Die vom Präsidenten des Comité international, Casimir-Périer, und vom Präsidenten des italienischen Exekutivkomitees, Angelo Filipetti, verfassten Einladungsschreiben ließen keine Zweifel daran aufkommen, dass die in der internationalen Fachwelt der Armenfürsorge jüngst hergestellten Verknüpfungen intensiviert und die Zusammenarbeit fortgeführt werden sollte. Das erklärte Ziel war kein geringeres als die Schaffung einer Wissenschaftsinternationalen im Bereich der Armenfürsorge, welche „im Geiste der menschlichen Brüderlichkeit“ und zum Zwecke der „moralischen und ökonomischen Hebung der Völker“ zusammenzufinden habe.320 Entsprechend ließ man im Bollettino ufficiale del Comitato esecutivo verlautbaren, dass es eine Pflicht der internationalen Fachleute sei, die „geordnete und disziplinierte Aktion“ im Lichte der aufgeklärten Armenfürsorge fortzuführen, um die „primitiven Formen“ der Wohltätigkeit endgültig zugunsten von „Recht und Organisation“ abzulösen. Man wünschte ferner, ein „Echo in alle sozialen Klassen, Institutionen und Regierungen“ zu bewirken: „le Congrès réussira une solennelle manifestation de solidarité dans le champ de l’assistance publique et privée.“321 Die seit 1904 in regelmäßigen Abständen an alle „Freunde der Armenpflege“322 herausgegebenen Informationsblätter dienten als zusätzliches Medium zur Aufrechthaltung der internationalen Kommunikation. Die Zeitschrift trug zur Schaffung einer Kongresskultur bei, indem sie die Erwartungen und das Interesse durch regelmäßige Vorankündigungen schürte. Die Blätter berichteten ausführlich über die Kongressvorbereitungen, den Stand der Organisation, druckten vorab die wichtigsten Themen und Beiträge ab und legten Werbung sowie Anmeldeformulare bei. Es sollten möglichst viele Fachleute aus öffentlichen Einrichtungen der Armenfürsorge und der privaten und kirchlichen Wohltätigkeit sowie Vertreter aus den Kommunen, Provinzen, Versicherungsanstalten und anderen sozialen Einrichtungen erreicht werden.323 Auch dieser Kongress wurde wieder durch Feierlichkeiten und ein Bankett begleitet. Außerdem arrangierte man gemeinsame Besuche auf der Weltausstellung, einen eintägigen Ausflug an den Lago Maggiore sowie eine optionale „Tour 319 Allerdings gingen die Meinungen über die Verschiebung des Kongresses weit auseinander. Vor allem Casimir-Périer war davon wenig überzeugt, da er die Planung als zu weit fortgeschritten bewertete. Ebenso kritisch äußerte sich Münsterberg, der die Verschiebung bedauerte und seine Bedenken zum Ausdruck brachte, dass die Gepflogenheit, die Kongresses anlässlich einer Weltausstellung auszutragen, auch gegenteiligen Effekt bewirken könne und die Besonderheit des Kongresses sogar schmälere, wenn sie mit der Großveranstaltung in Konkurrenz trete. Letztlich einigte man sich dennoch mehrheitlich auf den Austragungstermin vom 23.-27. Mai 1906. Vgl. die kontroverse Debatte zum Thema RP XVII (1905), S. 34–37. 320 Aus dem Einladungsschreiben: Bollettino ufficiale, Nr. 1, S. 1 (vom Verf. übersetzt). 321 Bollettino ufficiale, Nr. 4, S. 1. 322 ZdA 7 (1906), 7, S. 194. 323 Die deutschen Behörden und Fürsorgeexperten wurden darüber hinaus direkt angeschrieben ZdA 7 (1906), 4, S. 97.

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d’Italie“, einer im Anschluss an den Kongress geplanten zehntätigen Kulturreise durch Italien. Unverkennbar war also auch hier das Bemühen, den Formen bürgerlicher Geselligkeit und der Schaffung eines Gemeinschaftssinnes viel Platz einzuräumen. Zugleich war man daran interessiert, möglich viele Gelegenheiten für Fachgespräche zu bieten. Für diese praktisch orientierte Durchführung stand vor allem das Comité international, das trotz der Organisationhoheit der ‚italienischen Sektion‘ faktisch im Hintergrund die Fäden zog.324 Die Anzahl der eingeschriebenen Teilnehmer lag mit 1560 etwas unter der des Kongresses in Paris.325 Anzutreffen waren jedoch viele Vertreter der Armenfürsorge mit Rang und Namen. Ein zahlenmäßiges Übergewicht der italienischen Teilnehmer lag in der Natur der Sache, trotzdem war der Kongress in jeder Hinsicht ein ‚internationaler‘. Dies bezeugen nicht nur die zahlreichen internationalen Gäste und die mehrsprachigen Vorträge, sondern auch die umfangreiche Berichterstattung vor, während und nach dem Kongress.326 Frankreich war mit 170 Teilnehmern zahlenmäßig nach den italienischen Kollegen die größte Gruppe. Alle bekannten Persönlichkeiten des Comité international waren ebenfalls vertreten.327Aus Deutschland reisten 26 Personen an, nachdem in vielen Publikationsorganen und im Deutschen Verein erfolgreich dafür geworben worden war.328 Hinzu kamen neben Münsterbergs Hauptbericht die vielen Spezialberichte einiger Vertreter der deutschen Armenfürsorge, welche in den Kongresspublikationen veröffentlicht und diskutiert wurden.329 Zu einer offiziellen Vertretung des Deutschen Reiches war es trotz intensiver Bemühungen des Comité international allerdings nicht gekommen. Neben den offiziellen Rundschreiben, die beim Auswärtigen Amt eingegangen waren, hatte sich Emil Münsterberg direkt beim Reichsamt des Innern für eine offizielle Vertretung mit folgenden Zeilen stark gemacht:

324 Vgl. RP XVII (1905), S. 34–37. 325 In ZdA 7 (1906), 7, S. 195 wird bezweifelt, dass alle eingeschriebenen Teilnehmer anwesend waren. Tatsächlich reduzierte sich die Teilnehmerzahl deutlich durch die parallel laufende Sektionsarbeit. 326 Sowohl das Bollettino ufficiale als auch die Kongressbände wurden allen ‚nationalen Sektionen‘ des Comité international zugeschickt. 327 Besonders häufig in Erscheinung traten Casimir-Périer, P. Strauß, L. Mirman (Direktor des Armenwesens und der öff. Gesundheitspflege im Ministerium des Innern), É. Mesureur (Direktor der Pariser Armenpflege), E. Cheysson, F. Voisin, L. Kunwald, A. Dunant, J. Le Jeune, H. J. de Dompierre de Chaufepié und A. Krieger. 328 Zum Beispiel in: JF 7 (1906), 5, S. 319, wo explizit zu mehr Partizipation deutscher Fachleute aufgerufen wurde. 329 Darunter fanden sich Artikel von Lorenz Werthmann, Kanonikus Müller-Simonis, Adolf Buehl und Hans Samter (beide aus dem Deutschen Verein), Alice Salomon und Marie Sprengel (beide als Vertreterinnen des Kinderschutzvereins) und Adele Schreiber. Abgedruckt sind die Berichte in den offiziellen Kongresspublikationen, Recueil des travaux du congrès 1906.

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I. Netzwerke Der Kongress ist mit vieler Sorgfalt vorbereitet und wird von der Mailänder Munizipalbehörde und der italienischen Regierung mit sehr reichen Mitteln unterstützt. Man würde es sicher mit grossem Dank empfinden, wenn die Reichsregierung sich offiziell vertreten liesse. 330

Nachdem die Beschickung ohne Angabe von Gründen abgelehnt worden war, setzte sich Münsterberg abermals in einem an den zuständigen Geheimrat gerichteten Brief für eine Entsendung von Delegierten ein. Er betonte darin die „Ernsthaftigkeit“ des Kongresses und welchen Wert die Leitung des Kongresses und die deutschen Teilnehmer insbesondere darauf legen würden, dass auch die Kaiserliche Regierung dort vertreten ist. Nicht minder würden wir dankbar sein, falls der Herr Staatssekretär sich entschliessen könnte, seine Vertretung zu veranlassen.331

Vor allem das Argument, dass auch Frankreich sich vertreten lassen würde, brachte einen erneuten Briefverkehr mit dem Staatssekretär ins Rollen, wobei nun erstmals über die Vertretung des Reichs beraten wurde. Letztlich geht aus den Akten hervor, dass die Entscheidung zu spät fiel und eine Vertretung mangels geeigneten Personals scheiterte.332 Der Briefverkehr und das persönliche Bemühen Münsterbergs verdeutlichen aber, wie sich das Netzwerk der internationalen Sozialreformer für die Aufwertung der Kongresse durch offizielle politische Vertretung einsetzte und eine mögliche Rückbindung an die politischen Entscheidungsprozesse erhoffte. Ein Novum überraschte die Kongressbesucher ebenso wie die Organisatoren: Zum ersten Mal waren auf einem internationalen Armenpflegekongress viele Frauen anwesend, die nicht nur zahlenmäßig, sondern insbesondere durch verschiedentliche Vorträge und ihr aktives Engagement in den Debatten spürbar hervorstachen. Alice Salomon, die sich zum ersten Mal auf einem internationalen Fürsorgekongress befand, berichtete im Centralblatt des Bundes deutscher Frauenvereine, „daß die weiblichen Zuhörer stark überwogen, der Versammlung geradezu das Gepräge gaben.“ Unter ihnen habe es auch „radikale Sozialistinnen“ gegeben, die durch ihre „lebhafte Teilnahme“ an den Debatten Aufsehen erregten.333 Die Tatsache, dass Frauen in verschiedenen Ländern in der Praxis und Organisation der Armenfürsorge tätig waren, stellte für Salomon zugleich eine wichtige Entwicklung dar. Ganz offen prangerte sie die Rückständigkeit des Deutschen Reiches bei der Integration von Frauen in der öffentlichen Armenfürsorge an. Speziell England und die USA galten in den internationalen Debatten schon lange als Vorbild für die Vorkämpferinnen der „Frauentätigkeit in der Armen- und Wohlfahrtspflege“. In einer Zeit, in der Stadträte noch mit ihrem Rücktritt drohten, sollten Frauen in die Armenkommissionen aufgenommen werden, war man 330 BArch R 1501 / 101346. 331 Ebd. 332 In BArch R 1501 / 101344 steht, dass die amtliche Beschickung des Kongresses in Mailand beachsichtig wurde, aber im letzten Augenblick daran scheiterte, dass kein geeigneter Vertreter zur Verfügung stand. 333 Salomon, Der Internationale Kongreß, in: Centralblatt des Bundes deutscher Frauenvereine 8 (1906), S. 50–52, hier S. 50.

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schließlich auf jedes Argument angewiesen.334 Die englischen Verhältnisse wurden besonders oft zitiert, aber auch ein aufsehenerregender französischer Artikel von Hélène Moniez, der von positiven Erfahrungen mit Frauen in der öffentlichen Armenpflege berichtete, wurde als Begründung für eine stärkere Einbindung von Armenpflegerinnen in der öffentlichen Armenfürsorge herangezogen. 335 Der Wandel, der in den vorangehenden Jahren in den meisten europäischen Staaten zum Ausdruck kam – in den USA war eine hohe Frauenbeteiligung in der sozialen Arbeit schon lange üblich, wie es auf dem Chicagoer Kongress 1893 bereits deutlich gewesen war – spiegelte sich daher entsprechend auch auf dem internationalen Kongress wider. Zum ersten Mal kamen dort Armenpflegerinnen zusammen, um die Perspektiven von Frauen in der Armenfürsorge zu erörtern und sich international Gehör zu verschaffen. Die dort gemachten Erfahrungen bestärkten die Unterstützer in ihrem Kampf gegen die vorherrschende Diskriminierung im Fürsorgewesen. Sie konnten dabei mit der Unterstützung wichtiger Fachmänner rechnen336, welche das außerordentliche Engagement von Frauen auf dem Kongress lobten und unter anderem die italienischen Begründerinnen für Einrichtungen für verlassene und gefährdete Jugend, Ravizza und Maino, als Visionärinnen der Kinderfürsorge hervorhoben.337 Speziell die zweite Fragestellung bezüglich der „beruflichen Ausbildung in der Armenpflege“ beschäftigte sich mit Lernstätten für Frauen. Salomon hielt in Hinblick auf die Erfahrungen des Kongresses fest: „Ueberall wo Einrichtungen zur Ausbildung von Armenpflegern getroffen worden sind, haben die Frauen sich in stärkerem Umfang als Männer daran beteiligt.“338 Zu den wichtigsten deutschsprachigen Teilnehmerinnen gehörten neben Alice Salomon und Marie Sprengler auch Adele Schreiber und Ilse Arlt. Sie alle verband ein besonderes Interesse an Fragen der Armenfürsorge, außerdem waren sie in verschiedenen Vereinen der bürgerlichen Frauenbewegung aktiv. Internationale Kongresse, Auslandsreisen und das Führen internationaler Freundschaften waren damit für diese Frauen „ein selbstverständliches Merkmal“ geworden.339 Auf ganz ähnliche Art und Weise brachte sich ein weiterer Akteur verstärkt in das Kongresswesen ein: der deutsche Caritasverband. Er hatte mit seinem Präsidenten Werthmann und dem Kanonikus Müller-Simonis angesehene Delegierte auf dem Kongress und sorgte zusammen mit zahlreichen anderen katholischen Einrichtungen, etwa den französischen Elisabeth- und Vinzenzvereinen, für eine starke Vertretung der katholischen Armenfürsorge. Für diese, gegenüber 1900 334 vgl. Henschel, Frauentätigkeit in der Armen- und Wohlfahrtspflege, ZdA 5 (1904), 5, S. 129– 138. 335 Vgl. ZdA 5 (1904), 5, S. 135 bzw. der Ausgangsartikel von H. Moniez, Le rôle de la femme dans le contrôle des services de l’assistance publique, in: RP VI (1904), S. 417. 336 Insbesondere Moureau, Ferdinand-Dreyfus, Loch, die amerikanischen Kollegen und auch Münsterberg setzten sich in den Debatten für eine höhere Frauenbeteiligung in der öffentlichen Armenfürsorge ein, vgl. „Procès verbaux“, in: Recueil des travaux du congrès 1906, Bd. 2, S. 241ff. 337 ZdA 7 (1906), 7, S. 195f. 338 Salomon, Der Internationale Kongreß, S. 51. 339 Kniephoff-Knebel, Internationalisierung, S. 27.

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stark angestiegene Präsenz katholischer Wohltätigkeitseinrichtungen sind einige Gründe anzuführen. Zunächst führte das Aufbrechen des Monopols, welches bestimmte Kreise der republikanisch gesinnten, französischen Vertreter der öffentlichen Armenfürsorge auf die Entwicklung des Kongresswesens ausübten, und die daran anschließende Versöhnung der gegensätzlichen Positionen in der französischen Sozialreform zu einer verstärkten Miteinbeziehung der freien und konfessionellen Wohltätigkeit auf den internationalen Kongressen. Begünstigt wurde diese Integration durch den Austragungsort Mailand in Italien: Dort war das katholische Wohltätigkeitswesen eine tragende Säule des ‚Fürsorgesystems‘.340 Zugleich muss aber auch die erstaunliche Entwicklung erwähnt werden, mit der es dem Caritasverband seit seiner Gründung 1897 gelang, sich in das „plurale Konzert der Wohlfahrtsverbände und öffentlichen Fürsorgeeinrichtungen“341 einzureihen. War das 19. Jahrhundert lange noch von konfessionellen Konfrontationslinien bestimmt, die bis in die kommunale Armenfürsorge und in Bereiche der freien Wohltätigkeit hineinreichten, drang der katholische Caritasverband in neue Interaktionsräume vor. Auf Ebene der praxisorientierten Armenpflege und der Reformdebatten des Deutschen Vereins fand die Arbeit des Caritasverbandes zunehmend „unintendierte“342 Schnittmengen mit den Vorstellungen der bürgerlichen Sozialreform.343 Der Vorsitzende des Caritasverbandes Lorenz Werthmann war im Deutschen Verein ständig präsent und konnte dort problemlos vielen Ansichten seiner Kollegen zustimmen. Er profitierte von den Professionalisierungsimpulsen seiner Vereinskollegen und suchte Anschluss an die im Deutschen Verein proklamierte sozialwissenschaftliche Orientierung der Armenfürsorge. Umgekehrt konnte er die Interessen des Caritasverbandes in die Debatten über das Armenwesen einbringen.344 Zuletzt darf aber auch nicht unerwähnt bleiben, dass der Caritasverband und die katholische Kirche per se als transnationale Akteure anzusprechen sind, 340 Zur Bedeutung katholischer Wohltätigkeitseinrichtungen in den ‚Fürsorgesystemen‘ und ‚Fürsorgekulturen‘ Südeuropas und insbesondere Italiens: Grell/Cunningham/Roeck (Hrsg.), Health Care and Poor Relief in 18th and 19th Century Southern Europe. 341 Schneider, Katholische Armutsdiskurse, in: Bauerkämper/Nautz (Hrsg.), Zwischen Fürsorge und Seelsorge, S. 79–112, Zitat S. 93. 342 Ebd, S. 104: Schneider nennt diese Entwicklung eine „unintendierte Selbstmodernisierung des deutschen Katholizismus“. Allgemein zur Annäherung und zum Zusammenwirkungen der katholischen und der öffentlichen Armenfürsorge vgl. H.-J. Große Kracht, in: Bauerkämper/Nautz (Hrsg.), Zwischen Fürsorge und Seelsorge, S. 131–153 und ders., in: Gabriel (Hrsg.), Europäische Wohlfahrtsstaatlichkeit, S. 45–98 sowie Maurer/Schneider (Hrsg.), Konfessionen. 343 Die Schnittmenge der katholischen Fürsorge mit der staatlichen Sozialpolitik und der bürgerlichen Sozialreform war dabei naturgemäß sehr viel größer als die mit der Sozialdemokratie, die sie aus weltanschaulichen Gründen ablehnten. „Damit wuchsen große Segmente des Katholizismus allmählich in den bürgerlichen Verfassungsstaat der industriekapitalistischen Gesellschaft hinein und begannen dort, die neu entstehende Bühne der modernen Parteien- und Parlamentspolitik zu betreten“, vgl. Schneider, in: Bauerkämper/Nautz (Hrsg.), Zwischen Fürsorge und Seelsorge, S. 131–153, Zitat S. 142. 344 Vgl. dazu die Beiträge von Frie, Loth und Kaiser in: Kaiser (Hrsg.), Soziale Reform; Gabriel, Europäische Wohlfahrtsstaatlichkeit; Schneider (Hrsg.), Konfessionelle Armutsdiskurse.

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für die internationale Kongresse und grenzüberschreitende Kooperation zum gängigen Handlungsrepertoire gehörten. Der Kongressablauf wurde gegenüber 1900 in Paris neu strukturiert. Nachdem vermehrt Kritik an den zu großen Fragekomplexen und unzusammenhängenden Vorträgen laut geworden war, entschloss sich das Comité international zusammen mit dem Exekutivkomitee des Mailänder Kongresses zu einer veränderten Arbeitsweise. So wurden für jede der fünf Fragestellungen Hauptberichterstatter unterschiedlicher Nationalität auserkoren, deren Aufgabe darin bestand, viele Spezialberichte gleichen Themas aus verschiedenen Ländern anzusammeln, zu bündeln und über sie zusätzlich einen übergeordneten und zusammenfassenden Bericht wenigstens auf Italienisch und Französisch anzufertigen. Auf diese Weise wollte das Comité international Einfluss auf die Anzahl und Qualität der Berichte nehmen, ihren inneren Zusammenhang sowie das Einhalten wissenschaftlicher Standards gewährleisten. Im Idealfall sollte damit der Wissenstransfer ermöglicht werden. Die Themenkomplexe waren gegenüber dem vorherigen Kongress nicht nur auf Fragenstellungen der Armenfürsorge im engeren Sinne beschränkt, sondern auch auf international gleichermaßen geteilte Interessen ausgerichtet. Neben der bereits erwähnten zweiten Hauptfragestellung über ‚Planmäßige Ausbildung der Hilfskräfte‘, stand außerdem wieder das Thema der ‚Ausländerunterstützung‘ auf der Tagesordnung. Der italienische Hauptberichterstatter Cesare Buzzatti345 lieferte sich ein energisches Rededuell mit den internationalen Vertretern, die eine rigorosere Ausweisungspraxis von verarmten Immigranten befürworteten.346 Bereits während der Verhandlungen wurde deutlich, dass eine praktische Lösung der Frage schwer umzusetzen war. Paul Strauss vermittelte bei den gegensätzlichen Positionen, wobei dieses brisante Thema letztlich auf einen noch zu organisierenden internationalen Kongress unter Beteiligung diplomatischer Vertretungen verschoben wurde. Die übrigen Themenblöcke beschäftigten sich mit „Wohltätigkeitseinrichtungen für alleinstehende Frauen der verschiedenen Länder“347, der „Bekämpfung von Kindersterblichkeit“348 und dem „Verhältnis des sozialen Versicherungswesens zur Armenpflege“349. Über letzteres Thema referierte der „den Lesern der Zeitschrift für das Armenwesen wohlbekannte Conte Biancoli“350. Der Bedeutungszuwachs des sich langsam herausschälenden neuartigen Gesamtverständnisses der Armenfürsorge, welche ‚Vorsorge‘ stärker betonte und die Schaffung einer sozialpolitisch organisierten Wohlfahrtspflege intendierte, war damit auch auf den internationalen Kongressen angekommen.

345 Buzzati war Professor für internationales Recht in Pavia, vgl. Guilio Cesare Buzzati, Dell’assistenza agli stranieri, Recueil des travaux du congrès 1906, Bd. 1, S. 135–145. 346 „Procès verbaux“, in: Recueil des travaux du congrès 1906, Bd. 1, S. 150ff. Hintergrund war der Unmut vieler internationaler Teilnehmer über die jüngst in einigen europäischen Ländern vermehrt in Erscheinung tretenden italienischen Wanderarbeiter. 347 Hauptberichterstatter: Ferdinand-Dreyfus und Mme la Baronne de Montenach, Frankreich. 348 Hauptberichterstatter: Léon Ragosine, Russland. 349 Hauptberichterstatter: Geoffrey Drage, London. 350 Der Herausgeber der Rivista della beneficenza pubblica. Vgl. ZdA 7 (1906), 7, S. 202.

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Die deutschen Beobachterinnen bescheinigten den Vorträgen eine „meist vorzügliche wissenschaftliche Leistung“351. Auch im Deutschen Verein stießen die Kongressberichte auf positive Resonanz. Das Hauptausschuss-Mitglied Hermann Frankenberg war mit der Ausarbeitung eines Referates über „Die berufliche und fachliche Ausbildung in der Armenpflege“, beauftragt worden und profitierte dadurch besonders von den Kongressverhandlungen: So begegnet uns in den internationalen Kongressen für Armenpflege und Wohltätigkeit eine für die Gesamtheit aller Fürsorgebestrebungen außerordentlich nützliche Einrichtung, deren Wirksamkeit sich über die ganze gebildete Welt hin erstreckt. Es ist ein großartiger, herrlicher Gedanke, daß sich bei diesen Veranstaltungen, die jetzt nach längerer Unterbrechung voraussichtlich in regelmäßiger Wiederkehr stattfinden werden, die berufensten Vertreter der Kulturvölker zu friedlicher Aussprache vereinigen, um den Armen und Notleidenden zu besseren Lebensbedingungen, zu ergiebigerem und nachhaltigerem Beistand als bisher zu verhelfen. 352

Der gleiche Tenor war im Übrigen auch in anderen europäischen Fachzeitschriften anzutreffen.353 In Frankreich war das Urteil über den Kongress gewohnt überschwänglich ausgefallen. Das Comité international wurde in der Revue philanthropique als „Champions de la philanthropie universelle“ gelobt und der Kongress als weiterer Meilenstein in der Armenfürsorge gefeiert.354 Trotzdem wurden auch einige kritische Stimmen laut. Eine ganze Reihe von organisatorischen Problemen beeinträchtigte das Gesamturteil über den Kongress. Ausgangspunkt der Kritik war, dass die Ergebnisse der Hauptfragestellungen nicht gemeinsam in Expertensektionen ausgearbeitet wurden. Damit wurde die Intention des Comité international, einen möglichst effektiven Ideenaustausch zu ermöglichen, durch die unausgereifte Kongressstruktur konterkariert. Vor allem bei der Frage der ‚Ausländerunterstützung‘ und des Versicherungswesens brachte das bloße Zusammenfassen und Gegenüberstellen der im Vorfeld ausgearbeiteten Referate nicht den gewünschten Transfereffekt, stattdessen traten in den Debatten lediglich die armenrechtlichen und systemischen Gegensätze hervor. In den Diskussionsrunden kam es zu einer zusätzlichen Überschüttung von zusammenhangslosen Redebeiträgen und der Betonung von Partikularinteressen, so dass das Exekutivkomitee nur mit Mühe die Vielfalt „zu einem einheitlichen Blumenstrauße am Schlusse der Versammlungen zusammenbinden konnte“, wie es die Zeitschrift Caritas bedauerlicherweise zu konstatieren hatte.355 Die Forderung, mehr Ordnung und Struktur nicht nur in die Fragestellungen, sondern auch in die Kongressverhandlungen selbst zu bringen, wurde folglich als häufigster Kritikpunkt

351 Salomon, Der Internationale Kongreß, S. 51. 352 SDV 79 (1907), S. 82. 353 In: Schweizerischen Zeitschrift für Gemeinnützigkeit (1907), S. 253f. hieß es beispielsweise: „Im Hinblick allein auf diese Serie von Thematen, die das Armenwesen zum Gegenstand hatten, darf man gewiß sagen, es sind da wichtige brennde Fragen berührt und von den verschiedensten Seiten beleuchtet worden“. 354 RP XIX (1906), S. S. 348. 355 Caritas 11 (1906), 9, S. 239.

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angeführt.356 Es schien fast so, als ob man jetzt, da die französische Dominanz hinsichtlich der Referenten und Themenwahl zugunsten einer stärkeren Internationalität gebrochen war, noch keine genauere Vorstellung davon hatte, wie diese effektiv ausgestaltet werden könnte. Das Comité international und das italienische Exekutivkomitee versuchten, den sachlichen Zusammenhang zu wahren. Der Kongress zeigte so gesehen die Möglichkeiten und Vorteile, zugleich aber deutlich die Grenzen der internationalen Vernetzung auf praktischer Ebene. Trotz dieser Kritikpunkte wurde der Kongress von vielen Experten als wichtige und ausbaufähige Grundlage für weitere Entwicklungen gelobt. Der wohl größte Verdienst des Kongresses bestand ohnehin einmal mehr darin, dass er „eine große Zahl Angehöriger der verschiedenen Nationen zum Austausch ihrer Ansichten zusammengeführt“ hatte.357 Das Comité international 1906–1910: Internationalität als Normalität In den darauffolgenden Jahren wurden die Bemühungen des Comité international in der bestehenden Form fortgesetzt. Die Euphorie gegenüber der internationalen Kooperation ebbte dabei etwas ab. Stattdessen regelten sich die internationalen Beziehungen auf eine Art und Weise, die als Verselbständigung beschrieben werden kann. Paul Strauss beschrieb die internationale Zusammenarbeit des Comité international entsprechend als eine Normalität.358 Die Folge waren zugleich realistischere Einschätzungen über die Möglichkeiten des Kongresswesens: Die idealisierte Vorstellung eines ‚einfachen‘ Transfers derjenigen Ideen und Praktiken, die sich am besten bewährt und von der internationalen Fachwelt als wissenschaftlich anerkanntes Vorbild ausgezeichnet wurde, musste relativiert werden. Stattdessen begann man, die internationalen Beziehungen als das zu schätzen, was sie waren und leisten konnten. Neben den Möglichkeiten der Wissensbereicherung, war es speziell die Stärkung der sozialreformerischen Gemeinschaft, was die Protagonisten des Comité international zu verwirklichen suchten. Im Rahmen der Abschlussveranstaltung des Kongresses von 1906 in Mailand traf sich das Comité international und bekräftige seinen Führungsanspruch. Es wählte erneut und einstimmig sowohl seinen Präsidenten, Casimir-Périer, als auch

356 So zum Beispiel in der in der Abschlussdiskussion in: Recueil des travaux du congrès 1906, Bd. 2, S. 241ff. 357 Salomon, Der Internationale Kongreß, S. 51f. Diese Grundansicht spiegelt sich auch in den vielen Berichten der europäischen und amerikanischen Fachzeitschriften über den Kongress wider, vgl. (Auswahl) „Notes on social work abroad“, in: COR (1907), S. 105ff.; „Kongressberichte“, in: Schweizerischen Zeitschrift für Gemeinnützigkeit (1907), S. 131ff. und S. 253ff.; „Il IV Congresso internazionale di assistenza pubblica e privata“, in: Rivista della benficenza pubblica XXXIV (1906), S. 405ff.; „Le quatrième Congrès international...“, in: RP XIX (1906), S. 283ff., 348ff., 411ff. und 668ff.; „The International Congress of Public and Private Relief“, in: Charities XVII (1906–1907), S. 447ff. 358 Vgl. RP XIX (1906), S. 284 und S. 411.

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das Büro.359 Frankreich war darin wieder überproportional vertreten, was jedoch keinerlei Protest hervorrief, schließlich erkannte man nach wie vor seine Vorreiterrolle im Bereich der internationalen Vernetzungsarbeit an. 360 Der Wunsch, als dauerhafte internationale Institution bestehen zu können äußerte sich in der Neuregelung der Finanzierungsfrage: Der neugewählte Sekretär und Schatzmeister Rondel sprach sich für eine gemeinschaftliche Beitragsfinanzierung aus, die den ‚nationalen Sektionen‘ auferlegt werden sollte. Diese hatten die Mittel wiederum entweder eigenständig oder über die jeweiligen Regierungen aufzubringen.361 Als möglicher nächster Austragungsort eines internationalen Kongresses kamen Wien und Kopenhagen ins Gespräch. Die aufkommenden Zweifel einiger Komiteemitglieder, dass ein Austragungsort, an dem man nicht überwiegend französisch spricht, Kommunikationsschwierigkeiten mit sich bringen würde, wurden von Rondel umgehend zerstreut. Mehrsprachigkeit sollte unbedingt erhalten und die reibungslose Kommunikation mittels Übersetzer gewährleistet werden. Letztlich bekam Kopenhagen den Zuschlag, was vor allem mit der konkreten Zusage des dänischen Komiteemitglieds Krieger zusammenhing, der bereits die Unterstützung der dänischen Regierung hinter sich wusste.362 Wenn auch nur ein kleines Detail, so zeigen die Komiteeverhandlungen im Allgemeinen und die Haltung Rondels im Speziellen deutlich, wie sehr sich die Mitglieder für eine Umwandlung der einst französisch geprägten Veranstaltung in ein internationales Projekt einsetzten. Die am Kongress 1906 in Mailand geäußerte Kritik über die organisatorischen Schwächen führte auch zu einigen Kurskorrekturen im Comité international. Auf der darauffolgenden Sitzung in Paris wurden die Fragestellungen und eine Verbesserung der Kongressstruktur diskutiert, des Weiteren einigte man sich auf Dänisch, Französisch, Englisch und Deutsch als offizielle Kongresssprachen. Casimir-Périer drängte die nationalen Vertreter außerdem dazu, vakante Stellen im Comité international möglichst schnell wieder zu besetzen. Er mahnte auch erneut die Gründung ‚nationaler Sektionen‘ an, wo es sie noch nicht gab. Damit wurde die Absicht, die etablierten Strukturen der Vernetzung zu festigen und weiter auszubauen, erneut unterstrichen.363 Eine wesentliche Neuerung betraf die Themenfindung für den nächsten internationalen Kongress. Vor dem Treffen 1907 verfasste das Pariser Büro ein Rundschreiben, welches an alle Ländersektionen geschickt wurde und mittels dessen 359 Die Arbeit von Casimir-Périer als Präsident des Komitees wurde außerordentlich geschätzt, so dass dieser insbesondere auf Drängen der nichtfranzösischen Mitglieder wiedergewählt wurde, vgl. ZdA 8 (1907), 4, S. 97. 360 Vor allem Münsterberg kann als Fürsprecher der Sonderrolle Frankreichs gelten. Die allgemeine Wertschätzung der französischen Experten zeigte sich auch dadurch, dass durch die Zuwahl des Italieners Filippetti rechnerisch ein Franzose aus dem 60–köpfigen Komitee hätte austreten müssen. Dies wurde einstimmig abgelehnt, stattdessen erhöhte man die Mitgliederzahl. Außerdem bestätigte man den Standort des Büros in Paris. Vgl. ebd. 361 RP XIX (1906), S. 369–371. 362 Zu den Hintergründen ebd., S. 369–371 und S. 483–485. 363 Ebd., S. 484f.

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die gewünschten Hauptfragestellungen des kommenden Kongresses gefunden werden sollten.364 Solch eine Demokratisierung der Kongressgepflogenheiten erschien geradezu revolutionär, durchbrach man doch damit das monopolartige Festlegen der Debattengrundlage, wie sie im Comité international durchgesetzt worden war. Als direkte Folge des Mailänder Kongresses erhoffte man sich durch diese Neuerung, das Interesse der unterschiedlichen Kongressteilnehmer besser zu integrieren und eine möglichst breite internationale Partizipation zu erreichen. Darüber hinaus forderte Strauss, einer der zentralen Akteure des Comité international, künftige Kongresswesen noch mehr auf die eigentlichen Themen der Armenfürsorge zuzuschneiden und sich in dieser Frage mit anderen, bestehenden Veranstaltungen abzusprechen, um etwaige Überschneidungen zu vermeiden. Dies betraf vor allem die Bereiche Kinderschutz, Hygiene und Gesundheitswesen.365 Das Comité international wollte sich mit diesen Maßnahmen seinem eigentlichen Publikum, nämlich den an Weiterbildung interessierten Armenpflegern unterschiedlicher Nationen, ausdrücklicher zuwenden. Dies soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Komitee seinen bestimmenden Einfluss bewahrte. Es erkor nach wie vor die einflussreichen Generalberichterstatter. Diese wurden damit beauftragt, über das Kommunikationsnetzwerk mit den Ländersektionen geeignete Spezialberichterstatter ausfindig zu machen. Die Vorgabe war für den kommenden Kongress noch deutlicher formuliert worden als für die Mailänder Versammlung: Kein zufälliges Stückwerk, sondern ein „wirklich umfassendes, vollständiges und zuverlässiges Material“ sollte gewonnen werden, damit eine zusammenhängende Arbeit „mit literarisch bleibende[m] Wert“ entsteht.366 Den Generalberichterstattern wurde die Aufgabe zuteil, alle Beiträge nach Belieben zu bearbeiten und zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfassen, wodurch der kleine Kreis des Comité international letzten Endes eine wissensorganisierende und -zensierende Funktion aufrechterhielt. Der Kongress in Kopenhagen sollte nach Ansicht des Comité international auch in einer anderen Hinsicht seinen Publikumskreis vergrößern. Unter dem ernüchternden Eindruck der Kongressresolutionen von Mailand stehend, die nicht mehr als Absichtserklärungen darstellten, beabsichtigte man, der kommenden Veranstaltung eine stärkere sozialpolitische Dimension zu verleihen. Dazu gehörte, unter allen Umständen die Teilnahme von politischen Delegierten der auf dem Kongress vertretenen Nationen zu erwirken. Insbesondere die offenen Fragen der ‚Ausländerfürsorge‘, aber auch andere Themengebiete, in denen legislative Anforderungen gestellt wurden, würden ohne eine Einbindung der politischen Entscheidungsträger keinen Erfolg verzeichnen können.

364 Henderson druckte zu diesem Zwecke in der Zeitschrift Charities sogar einen Aufruf und eine komplette Zusammenstellung aller auf internationalen Kongressen behandelter Themen ab, um Wiederholungen zu vermeiden, vgl. Henderson, The International Congress of Public and Private Relief, in: Charities (and the commons) XVII (1906–1907), S. 447ff. 365 Alles in RP XIX (1906), S. 411f. 366 ZdA 8 (1907), 12, S. 354.

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Die Zusammensetzung des Komitees änderte sich indes nicht. Frankreichs Fürsorgevertreter blieben personell die stärkste Fraktion im Comité international. Allerdings fielen die wichtigen Positionen und mit ihnen die Deutungshoheit über die internationale Kooperation in die Hände jener Gruppe von Fürsorgeexperten, welche sich bewusst für eine Internationalisierung der Gruppierung einsetzten. Dies verdeutlicht folgendes Beispiel: Als Rondel kurz vor dem Mailänder Kongress in der Revue philanthropique über „l’œuvre des trois premiers congrès internationaux d’assistance“ von 1889, 1896 und 1900 berichtete, bediente er sich einer Darstellungsweise, welche vor allem die Bedeutung des Kongresswesens für die französische Armenfürsorge hervorhob. Als besonders wichtige Errungenschaft nannte er darin die Impulse für die Gesetzgebung zur medizinischen Grundversorgung sowie die Bildung des „Conseil central de l’assistance publique“.367 Anknüpfend an diesen Bericht veröffentlichte Münsterberg – ebenfalls in der Revue philanthropique – einen mehrseitigen Artikel, in welchem er auf Rondels Ausführungen Bezug nahm und stärker noch auf die eigentliche internationale Bedeutung des Kongresswesens abhob. Er erwähnte unterschiedliche Beispiele von wissenschaftlichen Beiträgen, die auf den internationalen Versammlungen geleistet wurden und widersprach Rondels Ansicht, dass es nur drei internationale Armenfürsorgekongresse gegeben hätte. Stattdessen erwähnte er die Kongresse von 1856, 1857 und 1862 in Brüssel, Frankfurt und London, den Kongress von 1880 in Mailand sowie den Wohltätigkeitskongress von 1893 in Chicago, dessen Leistungen neue Maßstäbe gesetzt hätten.368 Münsterberg war darum bemüht, die aus französischer Sicht interpretierte Traditionslinie Rondels in ein gleichermaßen von allen internationalen Fachleuten gewünschtes und hervorgebrachtes Kongresswesen umzudeuten. Dahinter lag die Absicht, die Verdienste der ReformerGemeinschaft und ihre gemeinsamen Werte auch historisch zu fundieren. Münsterbergs korrigierende Hinweise wurden von Rondel zur Kenntnis genommen. Tatsächlich reagierte der Franzose dankend auf die Kritik und als er 1910 erneut über die Ziele und Resultate der Internationalen Kongresse für Armenpflege und Wohltätigkeit in der Revue philanthropique schrieb, veränderte sich seine Darstellung zugunsten der von Münsterberg geforderten ‚internationalen‘ Perspektive. Nun führte er ebenfalls die Kongresse der 1850er und 1860er Jahre, sowie den Kongress von 1893 in Chicago an und würdigte das permanente Bemühen, sich international im Kampf gegen die Armut zu verbinden: „Les personnes qui cherchaient à perfectionner les procédés de secours ont senti le besoin d’échanger leurs vues dans des réunions plus ou moins périodiques, plus ou moins générales.“ Dank einiger herausragender Persönlichkeiten, fuhr er fort, sei es zu einer erstarkten und nachhaltigen internationalen Zusammenarbeit in Form des Comité international gekommen. Die Kongresse hätten, trotz der Einbindung in die Struktur der französischen Kongresstradition, eine unabhängige und erfolgreiche internationale Zusammenarbeit hervorgebracht.369 367 RP XVII (1905), S. 105ff. Zitat S. 106. 368 RP XVII (1905, S. 326ff. 369 RP XXVI (1910), S. 633–641, Zitat S. 633.

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Für die französischen Fürsorgeexperten waren das Comité international und das internationale Kongresswesen wichtige und angesehene Einrichtungen. Die Sozialreformer konnten sich gewissermaßen damit rühmen, die internationale Vernetzung der Armenfürsorge als Vorreiter in die Wege geleitet zu haben. In der Revue philanthropique waren daher auch nur positive Töne über die Entwicklung des Comité international und der internationalen Kongresse zu hören. In der Tat gingen von den Kongressen seit 1889 beachtliche Reformimpulse für die französische Armenfürsorge aus. Die Gesetze zur Regelung der obligatorischen und öffentlich finanzierten Versorgung, Erziehung und Kontrolle von ‚kranken, verlassenen oder kriminellen Kindern‘ war zusätzlich zur verpflichtenden Versorgung von alten und kranken Hilfsbedürftigen eines der großen Reformprojekte, die in Frankreich seit dem internationalen Kongress 1889 in Paris in Angriff genommen wurden.370 Dementsprechend lobten die französischen Fürsorgefachleute die reformfördernde Wirkung, welche von den Kongressdebatten auf die französische Armenfürsorge ausstrahlte.371 Freilich profitierten davon in erster Linie die Vertreter der assistance publique, deren Ansichten hier zum Ausdruck kamen.372 Das internationale Beziehungsnetzwerk hatte aber auch für die Armenfürsorge außerhalb Frankreichs eine wichtige Bedeutung erlangt. Vergleichbare Problemstellungen, daran anknüpfend vergleichbare Entwicklungen und Debatten des Armenwesens vereinfachten die grenzübergreifende Behandlung der Thematiken. Auch in der deutschen Fachwelt genoss die Arbeit „dieser Kongresse die allerhöchste Anerkennung“, befand Münsterberg in dem bereits erwähnten Artikel, den er für die Revue philanthropique verfasste.373 Besonders die wissenschaftlichen Berichte, so der Grundton, seien stets von großem Wert für die Entwicklung der Armenfürsorge.374 In England war indes mit der Einberufung der Royal Commission on the Poor Laws and Relief of Distress ein Reformvorhaben gestartet worden, welches ebenfalls einige Verbindungslinien zum internationalen Reformernetzwerk aufwies. Die 1909 aus der Kommissionstätigkeit hervorgegangenen Majority Report und Minority Report standen exemplarisch für ideologisch diametral entgegengesetzte Auffassungen von Sozialpolitik und schlugen hohe Wellen in der Fachwelt.375 Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, wie sehr die Kommission von der international vernetzten Fürsorgeexpertise profitierte. Der Vorstand der Londoner COS und zugleich Architekt des moderaten Mehrheitsberichtes, Loch, war Mitbegründer und wichtigster englischer Vertreter im Comité 370 Das Gesetz zur Kinderfürsorge wurde durch einen Vortrag von Henri Rollet auf dem Kongress 1889 in Paris entscheidend vorangetrieben: „Des Modes de Placement des Enfants qui sont à la charge des administrations publiques. Et des moyens pris ou à prendre pour assurer leur mise en valeur physique, intellectuelle et morale“, in: Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 133ff. Über die Bedeutung der Kongress für die französischen Reformdebatten und Gesetzgebung vgl. Bec, Philanthropies et politiques sociales, S. 145–157. 371 Z. B. hier RP XIX (1906), S. 411f. 372 Vgl. Renard, Assistance et bienfaisance, in: Topalov (Hrsg.), Laboratoires, S. 187–219. 373 RP XVII (1905), S. 326ff., Zitat (vom Verf. übersetzt) S. 328. 374 Ebd. 375 Vgl. hierzu ausführlich Kapitel III, 8.

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international, außerdem stand er in „wissenschaftlichem“ und „freundschaftlichem Gedankenaustausch“ mit Münsterberg.376 Im Comité international trat somit ein einflussreiches Netzwerk der Fürsorgefachwelt zusammen, welches sich auf gemeinsame Reformpositionen und eine gemeinsame ‚Fürsorgekultur‘ bezog. Es brachten sich allerdings nicht nur die Vertreter der französischen, englischen und deutschen Armenfürsorge in das Netzwerk ein. Zu nennen wären auch die in Mailand stärker in Erscheinung getretenen italienischen Sozialreformer und die Fürsorgevertreter anderer Nationalitäten, wie zum Beispiel der dänische Delegierte Krieger, der Generaldirektor für höhere Bildung in Brüssel van Overbergh, der niederländische Fürsorgeexperte Dompierre de Chaufepié und der schweizerische Philanthrop und Präsident der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft Fritz Hunziker. Die USA waren durch den international renommierten Professor Henderson repräsentiert, der als eine der Schlüsselfiguren der ‚social ethics‘ in den USA stark in die sozialwissenschaftlichen Debatten eingebunden war.377 Zu nennen wären außerdem der Staatsminister Jules Le Jeune aus Brüssel, der Schweizer Albert Dunant (Richter am Genfer Kassationsgericht), sowie die russischen Staatsberater Bioncourt und des Carriéres. Angesichts dieser Zusammensetzung wird deutlich: Sowohl das Comité international als auch das internationale Kongresswesen standen im Spannungsfeld zwischen national oder lokal geprägten Sichtweisen und Interessenlagen sowie der permanenten Anstrengung, das Verbindende der Fachwelt zu betonen und dadurch eine neue, grenzüberschreitend angelegte Aktion zu fördern. In dieser Absicht vereint, gelang es den Fürsorgeexperten durchaus – ähnlich wie der Frauen- und Arbeiterbewegung – ein Netzwerk „außerhalb des nationalistischen Konkurrenzkampfes über Sozialpolitik“378 zu etablieren. Die identitätsstiftende Wirkung, die in diesem Zeitraum von der Idee einer internationalen Sozialreformbewegung ausging, soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Comité international in seiner Zusammensetzung durchaus eine elitär-verschlossene Einrichtung blieb. Die Gruppierung rekrutierte sich nach wie vor aus ‚FürsorgeTechnokraten‘ der angestammten Sozialverwaltungen und man zeigte wenig Interesse, Vertreter anderer sozialpolitischer, gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Strömungen aufzunehmen. Dies betraf beispielsweise die Gruppe der Armenpflegerinnen: Trotz des enormen Anstiegs weiblicher Beteiligung auf den Kongressen und trotz der Appelle, Frauen leitende Positionen der Armenfürsorge zu übertragen, spiegelte sich diese Haltung im Comité international selbst nicht wider.379 Auch andere Impulse, zum Beispiel diejenigen, die eher von radikaleren, linkspolitischen Lagern ausgingen, fanden in der ‚Schaltzentrale‘ des internationalen 376 Rieß, Dem Andenken, in: Blätter für die Berliner Armen- und Waisenpflege 1 (1911), 2, S. 11. 377 Vgl. Schäfer, American Progressives, S. 163ff. 378 Rodgers, Atlantiküberquerungen, S. 31f. 379 Nur sehr vereinzelt wurden Frauen in das Comité international aufgenommen. Zu nennen wäre Hedwig Leyden, die allerdings weder in einer der Komiteesitzungen noch auf den internationalen Kongressen in Erscheinung trat.

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Kongresswesens wenig Niederschlag.380 Stattdessen blieben sowohl die moderatsozialreformerische Grundausrichtung als auch der enge Blick auf die verwaltungstechnischen Probleme der Armenfürsorge bestimmend. Letztlich verweilte man auf den Standpunkten, wonach das bestehende ‚Fürsorgesystem‘ an den Leitprinzipien der rationalen Verwaltung und der individualisierenden Hilfe ausgerichtet werden sollte. Gerade die auf den internationalen Kongressen repräsentierten Fürsorgeexperten galten hierbei als Meister ihres Faches. Die betonte Internationalität verlieh ihnen zusätzlich Anerkennung. Sie war es auch, die sie aus der „atemberaubend anschwellende[n] Buntscheckigkeit bürgerlicher Sozialreform“ hervorstechen ließ.381 Der Internationale Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit 1910 in Kopenhagen Nachdem der Internationale Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit 1906 in Mailand einige Kritik an der Organisation und Durchführung hervorgerufen hatte, entschloss man sich, für den Kongress 1910 in Kopenhagen neue Wege zu beschreiten. Das Comité international, dessen Vorsitz nach dem Tod CasimirPériers 1907 Émile Loubet382 übernahm, hatte sich zum Ziel gesetzt, per Fragebogen die vier Hauptfragestellungen zu ermitteln. Das Konzept sah eine stärkere Einbindung der Kongressteilnehmer vor. Statt der simultanen Sektionsarbeit plante man außerdem eine vertiefende Behandlung von sehr präzise abgesteckten Themengebieten, welche die Kongressbesucher bereits im Vorfeld zugeschickt bekamen.383 Streng begrenzte Artikellängen, klare inhaltliche Vorgaben und redigierendes Eingreifen der Hauptberichterstatter sowie erstmals auch begrenzte Redezeiten auf den Kongresssitzungen wurden ebenfalls als Eckpunkte festgelegt. Damit kulminierten die jahrelangen experimentellen Erfahrungen in einer äußerst effektiven Kongressausgestaltung, deren erklärtes Ziel es war, die störend empfundene Selbstdarstellung mancher Teilnehmer und das Hervortreten persönlicher Ansichten zugunsten eines stärkeren Dialogs einzuschränken: „Le congrès aura pour but de contribuer ultérieurement à développer la coopération personnelle, si profitable à l’exécution rationnelle de toute œuvre de charité.“384 Auch von deutscher Seite wurde erneut darauf aufmerksam gemacht, dass ein realistischer Mehrgewinn in erster Linie in den persönlichen Austauschbeziehungen zu suchen sei:

380 Diese Haltung wurde auf dem Kongress 1900 in Paris schon ersichtlich, als ein Arbeitervertreter das Wort ergriff und auf die präkeren Arbeits- und Lohnverhältnisse hinwies. CasimirPérier unterband daraufhin die Debatte. Vgl. ZdA 2 (1901), 5, S. 29. 381 vom Bruch, Bürgerlichkeit, S. 191. 382 Loubet war von 1899 bis 1906 französischer Staatspräsident gewesen und hatte in dieser Funktion den internationalen Kongress 1900 in Paris eröffnet. 383 RP XXIV (1909), S. 260–262. 384 Ebd., S. 260.

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I. Netzwerke Auf der andern Seite ist die Gelegenheit zu geselliger Zusammenkunft nach geschehener Arbeit sehr erwünscht, da gerade in der mannigfachen Berührung der Kongreßteilnehmer aus aller Herren Länder untereinander ein sehr erwünschtes Ergebnis internationaler Verständigung und Belehrung liegt.385

Um den Gedankenaustausch zu erleichtern, standen den Fachleuten vier offizielle Sprachen – Französisch, Deutsch, Englisch und Dänisch – sowie eine Vielzahl an Übersetzern zur Verfügung.386 Zum Organisationsbüro gehörten neben den dänischen Leitern und dem Präsidenten Loubet einige namhafte Vertreter des Comité international: Rondel, Le Jeune, Münsterberg, Loch, Paulucci di Calboli, Bioncourt und Lindblom. Mit letzterem gab es erstmals einen Vertreter aus Schweden. Der Parlamentspalast als Tagungsort und die feierliche Eröffnungszeremonie mit dem dänischen Königspaar verliehen dem Kongress den üblichen Glanz. Im Übrigen gab es zum ersten Mal seit 1880 einen internationalen Armenpflegekongress, der nicht anlässlich einer Weltausstellung ausgetragen wurde. Trotzdem sollte das Rahmenprogramm in nichts den vorherigen Kongressen nachstehen. Dafür garantierten das pompöse Bankett sowie ein exklusiver Besuch bei der königlichen Porzellanmanufaktur.387 Dänemark, welches das Gelingen des Kongresses durch einen Kredit mitsicherte388, präsentierte sich als „liebenswürdiger und gastfreundlicher“389 Gastgeber. Das kleine Land hatte mit Krieger zwar schon seit Jahren einen viel beachteten Fachmann im Comité international und war auch auf dem Kongress 1906 in Mailand präsent. Trotzdem musste es sich, ebenso wie auch andere kleinere Nationen, um eine internationale Wahrnehmung intensiv bemühen. Mit dem internationalen Kongress bot sich der dänischen Armenfürsorge eine Gelegenheit, aus dem Schatten der ‚Großen‘ herauszutreten und die beachtlichen Erfolge im Fürsorgewesen publikumswirksam zu präsentieren.390 Das skandinavische Land zeigte sich nicht nur als aufgeschlossene und fortschrittliche Nation, sondern auch als Vorreiter einer erfolgreichen Fürsorgepolitik. Das Gesetz über die Arbeitslosenkassen (1907), mit dem unverschuldeten Arbeitslosen geholfen werden sollte, war als Meilenstein der Arbeiterpolitik gepriesen worden.391 Aber auch im Bereich der 385 ZdA 11 (1910), 9, S. 259. 386 Dies wurde bereits 1906 im Anschluss an den Kongress in Mailand festgelegt, vgl. RP XIX (1906), S. 369–371 und S. 483–485. 387 ZdA 11 (1910), 9, S. 258. 388 RP XXIV (1909), S. 261. 389 ZdA 11 (1910), 9, S. 258. 390 Eine Analogie zu den Beobachtungen Herren-Oeschs, wonach kleinere Staaten, die sich am Rande des Großmächtesystems befanden, die neuen internationalen Netzwerke neben der herk̈mmlichen Diplomatie als „Hintertüren zur Macht“ nutzten, kann auch hier beobachtet werden, vgl. Herren, Hintertüren zur Macht. So wurde beispielsweise in der Schweizerischen Zeitschrift für Gemeinnützigkeit 1907 der Wunsch geäußert, dass sich die Schweiz auf den Internationalen Kongressen für Armenpflege und Wohltätigkeit stärker „bemerkbar“ machen solle, ganz „entsprechend ihren Leistungen auf wohltätigem, gemeinnützigem, sozialem Gebiete“, vgl. ebd. (1907), S. 276. 391 Ausführlich über die internationale Würdigung des dänischen Fürsorge- und Vorsorgesystems vgl. Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 1, S. 67ff. und S. 77ff.

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Armenfürsorge geriet das Land jüngst vermehrt in den Fokus. Dies galt vor allem für die Kinder- und Jugendfürsorge: Sowohl die französischen und auch deutschen Vertreter interessierten sich besonders für das 1905 verabschiedete Gesetz über ‚die Erziehung krimineller und moralisch verlassener Kinder‘ und begrüßten die Besichtigungen solcher Erziehungsanstalten im Rahmen des Kongresses.392 In Bezug auf seine Zusammensetzung lässt sich der Kopenhagener Kongress als der ausgeglichenste charakterisieren. Skandinavier, Deutsche und Franzosen bildeten die größten Gruppen, aber auch Italien, USA, Russland, Belgien, die Niederlande, Luxemburg sowie Österreich-Ungarn und die Schweiz hatten ihre Vertreter auf dem Kongress – einzig England schien unterrepräsentiert zu sein, worauf im Folgenden noch einzugehen sein wird.393 Noch auffälliger war die Vielfalt der Teilnehmerprofile und Gruppierungen. Vom jeweiligen Austragungsland einmal abgesehen, waren normalerweise nie mehr als eine Hand voll auserwählter Fürsorgeexperten auf den Kongressen erschienen. Nun schien sich erstmals eine Umkehrung dieses Trends abzuzeichnen. War die Präsenz von Frauen auf dem Kongress von 1906 in Mailand noch ein vielbeachtetes Novum, so wurde aus dieser Besonderheit in Kopenhagen eine Selbstverständlichkeit. Darüber hinaus kamen viele Fürsorgefachleute aus der kommunalen Armenfürsorge, den Kirchen sowie mittelgroßen bis kleinsten Fürsorgeeinrichtungen, Vereinen und anderen Körperschaften. Erstmals waren auch Vertreter jüdischer Institutionen zugegen. Die Liste der deutschen Kongressteilnehmer liest sich wie ein repräsentativer Querschnitt sämtlicher Aktivitäten und Einrichtungen, die in der Armenfürsorge bedeutsam waren.394 Als Grund für die vergleichsweise hohe Partizipation unterschiedlichster Gruppierungen dürfte zum einen die erfolgreiche Werbekampagne angeführt werden, die sich wiederum auf der allgemein breiten Akzeptanz internationaler Veranstaltungen stützen konnte. Zum anderen spiegelte die Zusammensetzung und Herkunft der Teilnehmergruppen die sprunghaft angewachsene Vielfalt der im Fürsorgesektor tätigen Akteure in Deutschland wider. Nachdem die unterschiedli392 Ein Bericht über die Besichtigung der Fürsorgeeinrichtungen findet sich in: RP XXVIII (1911), S. 62–67. Vgl. ferner Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 1, S. 13. Über die vorbildliche Rolle der dänischen Kinder- und Jugendfürsorge vgl. eben erwähnter Artikel aus der Revue philanthropique sowie Tost, Kinderfürsorge in Dänemark, in: JdF 6 (1912), S. 1ff. 393 Detaillierte Teilnehmerliste: Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 1, S. 28–64. 394 Wichtige deutsche Teilnehmer: Armenräte und/oder städtische Vertreter aus Berlin (Münsterberg), Straßburg, Hamburg (Lohse), Düsseldorf, Breslau, Dessau, Leipzig, Aachen; Vertreter aus Bundesländern und Provinzen: Landes-Versicherungsanstalt Rheinprovinz, Zentralleitung des Wohltätigkeits-Vereins Württemberg, sowie die reichsdeutsche und zugleich preußische Regierungsvertretung; Wohltätigkeitsvereine und Privatinstitute: Archiv deutscher Berufsvormünder, Breslauer Armenpflegerinnen-Verein, Caritasverband (Werthmann, Dr. Erman, Müller Simonis), Deutscher Verein, Institut für Gemeinwohl, Frauenhilfe Barmen, Gesellschaft freiwilliger Armenfreunde (Landesrat Bachmann), Generalkonferenz der Diakonissenmutterhäuser, Hilfsbund für bedürftige und Frauen und Mädchen, Vaterländischer Frauenverein, Verband für Jüdische Wohlfahrtspflege, Vereinigung der Wohltätigkeitsbestrebungen (Berlin), Zentrale für Jugendfürsorge (Frau Meyer-Liepmann), Zentrale für Private Fürsorge (Berlin, Zerline Miraurer), Zentralstelle für Armenpflege und Wohltätigkeit.

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chen Fürsorgebestrebungen ab 1900 generell stärker kooperierten, konnten und wollten sich zunehmend auch diejenigen Einrichtungen international präsentieren, die vorher weniger zu Wort gekommen waren. In besonderem Maße betraf dies die Gruppe der ‚Sozialarbeiterinnen‘ – ein neuer Begriff für Armenpflegerinnen, wie er sich, aus den USA kommend, langsam auch in den europäischen Debatten durchzusetzen begann und zugleich ein neues Selbstverständnis und Selbstbewusstsein zum Ausdruck brachte. Angereist waren unter anderem Vertreterinnen des Breslauer Armenpflegerinnen-Vereins, der Frauenhülfe Barmen, des Hilfsbundes für bedürftige Frauen und Mädchen und des Vaterländischen Frauenvereins. Hinzu kamen einige Privatpersonen, die mit einem oder mehreren Frauenhilfsvereinen assoziiert waren oder sich in anderen Fürsorgeeinrichtungen betätigten. Das große Interesse von Sozialarbeiterinnen an dem internationalen Kongress gründete nicht zuletzt in der dritten Hauptfragestellung, welche sich der „Stellung der Frau in der Armepflege“ widmete.395 Nach Ansicht der Fachwelt zeigte sich, wie die „caritative Arbeit aller Länder in hohem Maße von der Arbeit der Frauen erfüllt, ja daß die Frau vielfach Bahnbrecherin für diese Arbeit gewesen war“.396 Schritten die Ansichten über Frauen in der Armenfürsorge grundsätzlich bei allen Rednern in die gleiche Richtung, traten dennoch große Unterschiede bei der Frage zutage, ob und wie eine gesetzlich geregelte Gleichstellung und Förderung von Frauen in Ämtern der öffentlichen Armenfürsorge zulässig sein sollten. Einmal mehr erwies sich hierbei England als Vorbild, wo es seit 1894 das aktive und passive Frauenwahlrecht für die Armenbehörden gab. Der Vortrag von Emily Simeys veranschaulichte die damit gemachten Erfahrungen. Sie berichtete von den 1160 Frauen, die als „Guardians“ in 414 lokalen Armenbehörden tätig waren, wovon 146 die leitende Funktion eines „Rural District Councillors“ innehatten.397 Die USA riefen in dieser Frage gewöhnlich ebenfalls viel Bewunderung bei den Armenpflegerinnen hervor: Mehr als ein Drittel der Mitglieder der State Boards waren dort Frauen, entsprechend hoch ihr Anteil an höheren Ämtern. Auch in Skandinavien, insbesondere Dänemark, fanden die Sozialarbeiterinnen ihre Vorbilder.398 Ganz Gegensätzliches wurde vom Generalberichterstatter Münsterberg über die Entwicklung im französischen und deutschen Armenwesen berichtet.399 In Frankreich steckte die Beteiligung von Frauen in Ämtern der assistance publique noch in den Anfängen und auch im Deutschen Reich blieben Frauen, trotz wie-

395 Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 2, S. 1ff. 396 Ebd., S. 13. Insbesondere in der privaten und kirchlichen Wohltätigkeit „hat die Frau von jeher eine dominierende Stelle eingenommen.“ Hirschfeld, Die Mitwirkung der Frauen, S. 50. 397 Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 2, S. 67ff. 398 Vgl. hierzu den Generalbericht und die Abschlusssitzung zum Thema, Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 2, S. 361ff., insb. S. 363. 399 Ebd., S. 363 und S. 365.

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derholter Forderungen400, immer wieder unberücksichtigt. So gab es in Berlin unter 5000 Armenpflegern gerade einmal 100 Frauen. Dieser niedrige Wert war entweder auf die zu unbestimmten gesetzlichen Regelungen oder auf die beharrlich konservativen Wahlpraktiken kommunaler Armenräte zurückzuführen. Laut Dorothea Hirschfelds Bericht über die „Mitwirkung der Frauen in der Armen- und Wohlfahrtspflege in Deutschland“ werfe man Frauen nach wie vor „Weichherzigkeit“, „Vertrauensseligkeit“ und „Unverträglichkeit“ vor. Die zahlreichen deutschsprachigen Berichterstatterinnen und Berichterstatter verwiesen gleichzeitig auf die höchst unterschiedliche Situation in der privaten und öffentlichen Armenfürsorge. In letzterer waren das Deutsche Reich und Österreich weit zurückgefallen. Hirschfeld schlug daher vor, dass private Wohltätigkeitsvereine neue Wege beschreiten und mehr öffentliche Aufgaben übernehmen sollten, um die „Fähigkeit“ und „Nützlichkeit“ der Frauen auf dem Gebiet der öffentlichen Armenfürsorge unter Beweis zu stellen.401 Manche männliche Vertreter der Fachwelt zogen aufgrund ihrer zurückhaltenden Einstellung zu diesem Thema den Unmut der Referentinnen auf sich, die wie im Falle Ilse von Arlt ihre oppositionellen Haltungen zur Geltung brachten und einen offen frauenrechtlerischen Ton anstimmten.402 Letztlich blieben die Debatten jedoch von einem aufgeschlossenen Tenor bestimmt, der in den Leitsätzen seine Entsprechung fand.403 Exemplarisch stehen sie für ein Umdenken, das die führenden Köpfe der Sozialreformbewegungen charakterisierte. So zum Beispiel Ferdinand-Dreyfus, der den „Stellenwert der Frau in der Armenfürsorge“ neu definieren wollte: „Pour féconder l’assistance, il faut la féminiser.“404 In pointierter Ablehnung althergebrachter Ansichten attestierte man Frauen nun eine besondere ‚Tauglichkeit‘ und wichtige ‚komplementäre Fähigkeiten‘. Vielen Armenpflegern sei ihre Arbeit umgekehrt nur zugefallen, weil sie „sich bis dahin im ungestörten Besitz der Herrschaft im öffentlichen Leben befunden haben“405: Zahllose Köpfe ohne jede politische oder verwaltungstechnische Kenntnis, ohne jede Fähigkeit zur politischen Betätigung nehmen gleichwohl an allen diesen Dingen teil, eben weil sie Männer sind.406

400 Im Deutschen Verein kam es etwa schon 1896 zu einer entsprechenden Resolution über die „Heranziehung von Frauen zur ̈ffentlichen Armenpflege“, vgl. SDV 25 (1896) bzw. die Beschlüsse in: SDV 28 (1896), S. 149. 401 Vgl. hierzu den Bericht von Hirschfeld, Die Mitwirkung der Frauen, Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 2, S. 5–66, hier v.a. S. 9f. und 17ff. 402 Arlt, Die Mitwirkung der Frauen in der Armen- und Wohlfahrtspflege in Oesterreich, Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 2, S. 77–143. Zur Diskussionen vgl. ebd., S. 359ff. 403 Die Leitsätze forderten: Die Berufung der Frau für den Beruf in Armenpflege und Wohltätigkeit, die Gleichsetzung in Arbeit und Verwaltung, eine besondere Mitwirkung in Kinderfürsorge, Waisenpflegerin, Jugendpflegerin sowie die Mitgliedschaft in Vormundschaftsräten, Waisenpflegeverwaltungen und in der Verwaltung der Krankenpflege. Ferner wurde eine Ausbildung der weiblichen Jugend in Hygiene, Pädagogik, Kinderpflege gefordert. 404 Ferdinand-Dreyfus, in: Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 1, S. 77. 405 Münsterberg, in: ebd., Bd. 2, S. 382. 406 Ebd., S. 383.

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Der Konsens der Kongressteilnehmer bestand vor allem in der Ansicht, dass gebildete Frauen einer sinnvollen und gesellschaftsdienlichen Beschäftigung nachgehen sollten, die zwangsläufig auch auf eine grundsätzlich anderen sozialen Rolle der Frau hinauslaufe. Das darin zum Ausdruck kommende Grundverständnis orientiert sich am Vorbild der bürgerlichen Frauenbewegung, welche auf der internationalen Bühne selbstbewusst ihre Anliegen artikulierte. In den Vorträgen wurde daher auch stets betont, dass der Schlüssel für die Integration von Frauen in der schulischen Ausbildung liege. Die Forderung, solche Ausbildungsstätten für Armenpflegerinnen auf- und auszubauen, hatte schon in den Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1906 viel Zustimmung gefunden. Als Vorbild dienten hierfür die amerikanischen Philanthropic Schools. Eine Umsetzung in den europäischen Staaten war die logische Forderung, denn „gerade eine hochragende Stelle, wie sie dieser Kongress bildet, ist geeignet, die Forderung laut und nachdrücklich erneut zu erheben.“407 Die Frage, welche Rolle der Frau in der Armenpflege zuteilwerden sollte, demonstriert die Haltung jener internationalen Fürsorgeexperten, die das internationale Kongresswesen prägten. Zugleich verdeutlicht die Adaption dieses Themas durch die sozialreformerische Speerspitze des Comité international auch die allgemeine Bereitschaft, sich immer wieder in aktuelle Themen einzubringen und aus ihnen ‚ihre eigenen‘ zu machen. Die Bestimmung der verabschiedeten Leitsätze und ihre Interpretation blieben in den Händen der Kongresselite. Sie stand am Schluss geschlossen für den gewählten Reformkurs. Die internationale Debattenkultur hatte zugleich genug Anziehungskraft, um sozialpolitische ‚Randgruppen‘, Neulinge oder Außenseiter anzulocken. Um von der internationalen Sozialreformer-Gemeinschaft wahr- und ernstgenommen zu werden, mussten einige Kriterien erfüllt sein: Maßgeblich waren die hohe fachliche Kompetenz in technischen Fragen der Armenfürsorge, eine moderate Reformorientierung, die sprachliche und habituelle Anpassung an die Parameter der ‚bürgerlichen‘ Sozialreform, wissenschaftlich begründbare Fürsorgepraktiken und die Betonung der internationalen Ausrichtung. Es wäre aber auch eine unzulässige Verkürzung, nicht auch auf die gegenseitige Beeinflussung hinzuweisen. Denn letztlich profitierten die Mitglieder des Comité international von eben diesen neuen Gruppierungen, ohne deren Unterstützung und Einbindung sie ihren Führungsanspruch wohl kaum hätten behaupten können. Somit ergab sich ein profitables Zusammenspiel unterschiedlicher Interessenlagen. Auch für andere Gruppierungen, wie zum Beispiel die Vertreter der konfessionellen Armenfürsorge, boten die internationalen Vernetzungen eine Gelegenheit, wichtige Fachleute kennenzulernen, den Bekanntheitsgrad zu steigern und sich gegenseitig in ihren Anliegen zu unterstützen. Es ging auch stets darum, sich sowohl international als auch rückwirkend auf nationaler Ebene Gehör zu verschaffen. Nachdem in Frankreich die Frontstellung zwischen öffentlicher Fürsorge und kirchlicher Wohltätigkeit allmählich einer Verständigungspolitik gewichen war, zeigte sich insbesondere die katholische Armenfürsorge immer stärker auf den 407 Ebd., S. 386 sowie weiterführend Kapitel III, 6 in dieser Arbeit.

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internationalen Kongressen. Diese trug auf der Veranstaltung in Kopenhagen mehrere Referate bei und brachte sich selbstbewusst in die Debatten ein. 408 Die konfessionellen Einrichtungen wurden zugleich als wichtige Partner einer Armenfürsorge gesehen, unter der man zunehmend das kooperative Zusammenwirken öffentlicher, privater und kirchlicher Träger verstand. In diesem Kontext ist die Annäherung zu bewerten, die sich zwischen den unterschiedlichen sozialpolitischen Akteuren in der Zeit nach 1900 vollzog und auch auf den internationalen Kongressen abbildete. Unter dem Dach der internationalen Fürsorgefachwelt versammelten sich somit sehr unterschiedliche Strömungen, die aus unterschiedlichen Beweggründen großes Interesse daran hatten, sich auf den Kongressen in Szene zu setzen. Es gab allerdings auch klare Grenzen ideologischer Art. Linkspolitische Denker oder Vertreter der Arbeiterschaft, Gewerkschaften oder Sozialdemokraten konnten sich in den nationalen Fürsorgedebatten zwar vereinzelt Gehör verschaffen.409 Jedoch kamen sie weder im Comité international noch auf den internationalen Kongressen zu Wort. Auf der internationalen Bühne war die Vormachtstellung des Comité international, dessen Mitgliedern aus den etablierten Verwaltungseliten stammten, ungebrochen. Ihr Reformkurs war, wie gezeigt werden konnte, durchaus offen für Neues und von vielen Seiten umkämpft. Auch musste die Deutungshoheit ständig neu ausgefochten werden. Eine revolutionär verstandene Umwälzung der ‚Fürsorgesysteme‘ ging den Verantwortlichen jedoch zu weit. In diesem Sinne ist das gespaltene Verhältnis der Komiteemitglieder zu den neueren Strömungen der Fachwelt zu sehen, welche die Ideen einer staatlichinterventionistischen Wohlfahrtspflege vertraten. Die sozialpolitischen Auseinandersetzungen, die in allen Fürsorgebereichen Einzug gehalten hatten, gingen auch an den Debatten des internationalen Kongresses nicht vorüber. So klang die Bedeutung der neuen Vorsorge- und Versicherungskonzepte bereits bei der Eröffnungsrede an: „L’assurance et la prévoyance sociale ont fait des progrès énormes“410, hob Krieger hervor. Zum Ausdruck kam dabei immer die Grundidee, nach welcher zwischen den Aufgaben der Wohlfahrtspflege und denen der Armenfürsorge unterschieden werden müsse: Auf der einen Seite die nationalstaatlich gestaltete Wohlfahrtspflege, die Prophylaxe und Prävention in Form von Ren408 Auf deutscher Seite waren neben dem Caritas-Verbandspräsident Werthmann auch der Geschäftsführer der Caritasvereinigung für Landkrankenpflege und Volkswohl, Rektor Kinn in Arenberg, außerdem Dr. Erman, Müller Simonis und die Generalkonferenz der Diakonissenmutterhäuser vertreten. Vorträge katholischer Fürsorgevertreter (Auswahl) vgl. Kinn, Die Krankenpflege auf dem Lande in Deutschland, Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 1, S. 89–103; ders., Wie die unter dem Protektorat Ihrer Majestät der deutschen Kaiserin stehende Frauenhülfe die Krankenpflege auf dem Lande organisiert hat, ebd., S. 104–118. Zum Redebeitrag von Werthmann zum selben Thema, vgl. ebd., S. 279ff.; vgl. ferner Goyau, Note sur les œuvres catholiques d’assistance dirigées par des femmes, ebd., Bd. 2, S. 205–210; Brondi, Le rôle de la femme dans la bienfaisance en Italie, ebd., Bd. 2, S. 243–254; Hanssen, L’organisation de l’assistance féminine dans l’Église catholique en Norvège, ebd., Bd. 2, S. 261–262. 409 Vgl. Kapitel III, 8 in dieser Arbeit. 410 Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 1, S. 67.

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ten, Versicherungswesen oder Hygiene propagierte und auf der anderen Seite die kommunal und privat organisierte Armenfürsorge und Wohltätigkeit, welche ohne Rechtsanspruch blieb und daher auf den Prinzipien der individuellen Fallprüfung beharrte. Die „Männer des Armenwesens“, hieß es entsprechend weiter, würdigten ausdrücklich die Arbeit der „Männer der Versicherung“, wodurch die programmatische Grenzziehung zwischen Vor- und Fürsorge eine konkrete Form annahm. Auf diese Weise betonte man zwar, an derselben Sache und für dieselben Ziele zu arbeiten. Dennoch hob man zugleich die Notwendigkeit hervor, beide Aufgabenfelder aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln.411 Auf dem Kongress kam es dann zu punktuellen Annäherungen zwischen der traditionellen Armenfürsorge und dem System des Vorsorge- und Versicherungsparadigmas, was man rückblickend auch als Annäherung an linkspolitisch inspirierte Wohlfahrtskonzeptionen interpretieren kann. So wurden die Stimmen lauter, die den Staat in der Pflicht sahen, rechtliche Ansprüche zu sichern und die allgemeine Wohlfahrtspflege auszubauen, wie zum Beispiel durch Miet- und Steuererleichterung sowie die vieldiskutierten Möglichkeiten einer Arbeitsvermittlung. Die auf spezifische Fragestellungen ausgerichteten Leitsätze des Kongresses dürfen allerdings nicht über die generellen Vorbehalte der Kongresselite gegenüber dem Gesamtsystem der Wohlfahrtspflege hinwegtäuschen. Vor allem nahm man gegenüber den als revolutionär empfundenen Vorschlägen des Minderheitsberichtes eine skeptische Haltung ein. Dieser war im Anschluss an die englische Armenkommission (1905–1909) von einer kleinen Gruppe im gedanklichen Umfeld der Fabian Society entstanden.412 Der Bericht hatte hohe Wellen geschlagen, da er in markanten Worten die Auflösung der Armenfürsorge (The Break-Up of the Poor Law) forderte. Erstmals wurden die Ansätze für eine umfangreiche Neugestaltung der Wohlfahrtspflege programmatisch ausformuliert. Dieses sah das Ersetzen der Leistungen der Armenpflege durch ein komplexes System staatlich organisierter Versicherungs- und Vorsorgebehörden vor, die Erziehung, Gesundheitspflege, Renten und Erwerbslosigkeit verwalten sollten. Das mit hohem sozialwissenschaftlichen Anspruch verfasste Werk vertrat damit auch Auffassungen, die in Widerspruch zur vorherrschenden Meinung in liberalen und konservativen Kreisen standen. Die Handschrift der Fabian Society war unverkennbar. Viele Forderungen gingen den moderaten Sozialreformern daher zu weit. Wenngleich die Kernaussagen als ‚richtig‘ empfunden wurden, bezeichnete man das Gesamtkonzept als utopisch, unrealistisch, zu teuer und (noch) nicht durchführbar.413 Die Grundprinzipien des modernen Armenwesens: Individualisierung, Scheidung der Fälle, effiziente Verwaltung sowie die erzieherische Aufforderung zur Selbsthilfe durch Fleiß standen nicht zur Disposition. 411 Ebd. (Übersetzung des Verf.). 412 Neben Beatrice und Sidney Webb unterstützen auch Russel Wakefield, Francis Chandler und George Lansbury die Ideen des Minderheitsberichts. Siehe „The Minority Report of the Poor Law Commission“, in: Royal Commission, Report, S. 719–1238. Vgl. auch Englander, Poverty, S. 73–79. 413 Vgl. insb. Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 1, S. 80.

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Aus diesem Grund waren auch keine Vertreter des Minderheitsberichts auf dem Kopenhagener Kongress. Stattdessen genoss Loch als praktisch einziger englischer Experte uneingeschränkt höchste Anerkennung, obwohl er als einer der Hauptverfasser des im traditionellen Fürsorgeverständnis verfassten Mehrheitsberichtes lediglich für eine Anpassung und Humanisierung des rigiden poor law eintrat.414 Manches Liebäugeln der progressiven Kongressteilnehmer mit seinen Kontrahenten des Minderheitsberichtes mussten ihm umso unangenehmer aufstoßen, hatten diese doch die „fundamental errors of the Charity Organisation Society“415 angefochten und damit sein persönliches Lebenswerk verunglimpft. Lochs Einfluss und Reputation war im Comité international und auf dem internationalen Kongress jedoch ungebrochen, die Umkehrung seiner Ideale und die Unterstützung seiner radikalen Gegner musste er nicht befürchten. Damit deutet der Fall des Minderheitsbericht umso mehr auf eine grundsätzliche Dynamik der international vernetzten Sozialreform hin: Die Deutungshoheit über den richtigen sozialreformerischen Kurs lag nach wie vor bei der Kongresselite. Bei ihr überwogen die Ansichten einer rationellen, fallbezogenen und individualisierten Armenfürsorge im Sinne einer sozialliberalen und auf dem bürgerlichen Wert- und Erziehungsmodell beruhenden Gesamtordnung. Diese Gesamtordnung war es auch, in welcher viele Fürsorgeexperten ihre Anerkennung genossen und einen beachtlichen Einfluss hatten: Sei es in der kommunalen oder staatlichen Armenfürsorge oder in den privaten Wohltätigkeitsvereinen. In diesem Sinne ist auch das intensive Bemühen des Comité international zu verstehen, stärker die sozialpolitische Ebene zu beeinflussen. Unbedingt sollte es nach Ansicht des Comité international darum gehen, Gesetzgebung und öffentliche Meinung vorzubereiten.416 Nachdem der Kongress von 1906 in dieser Hinsicht deutlich hinter den Erwartungen zurückgeblieben war, versuchte die Kongressleitung mit Nachdruck offizielle Regierungsvertreter einzubinden, was eine enorme Aufwertung des Kongresses und eine stärke Wahrnehmung in politischen Kreisen zur Folge haben sollte. Insbesondere die Frage nach der ‚Ausländerunterstützung‘ verlangte unter allen Umständen die Miteinbeziehung politischer Kreise. Während das Expertentum der Armenfürsorge über die üblichen Beziehungsnetzwerke erreicht werden konnte417 mussten größere Anstrengungen unternommen werden, wenn man die Regierungen einbinden wollte. Während das Entsenden von Delegierten für Frankreich, Belgien, Italien und auch die Schweiz ein Regelfall war, musste man hingegen große Überzeugungsarbeit leisten, um den Regierungen des Deutschen Reiches, Englands und der USA eine offizielle Vertretung abzuringen. Hierzu bedurfte es der tatkräftigen Unterstützung angesehener Fachleute sowie eines koordinierten Vorgehens. 414 ‚Mehrheit‘ bezieht sich darauf, dass die Mehrzahl der Kommissionsmitglieder unter der Führung von George Hamilton (ingesamt 14) sich diesen reformorientierten Ansichten anschlossen. Siehe Royal Commission, Report, S. 596ff. 415 Vgl. Townshend, The Case against the Charity Organisation Society, S. 6. 416 „Séance de clôture“, in: Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 2, 591. 417 Krieger und Haarlov unternahmen sogar eine Werbereise und sprachen unter anderem auf der Jahresversammlung der Société international, vgl. RP XXIII (1908), S. 247.

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Mit entsprechend viel Nachdruck und Vorlaufzeit bemühte sich das Comité international eben diese Hürde zu nehmen. Einladungsschreiben und ausführliche Erläuterungen über die Inhalte und politikbezogene Bedeutung des internationalen Kongresses gingen beim Auswärtigen Amt und parallel dazu bei der deutschen Gesandtschaft in Kopenhagen ein. Der Deutsche Verein und Münsterberg, denen es 1906 fast gelungen wäre, die Reichsregierung von einer offiziellen Vertretung zu überzeugen, versuchten außerdem das Reichsamt des Innern direkt zu kontaktieren. Tatsächlich war eben dort die Beschickungspraxis erst geregelt worden. Das Dekret des preußischen Staatsministeriums von 1908 sah die „Einschränkung der amtlichen Beteiligung an internationalen Kongressen“ vor.418 In einem an alle Behörden gerichteten Schreiben berichtet der damalige Staatsminister des Innern Bethmann von Hollweg von der Anordnung, dass alle eingehenden Einladungen zu internationalen Kongressen an eine zentrale und weisungsbefugte Sammelstelle im Reichsamt des Innern geschickt werden sollten, wo eine etwaige Beschickung erörtert und die entsprechende Behörde informiert würde. Man reagierte damit auf die Flut von internationalen Kongressen, die „in unaufhörlichem Steigen begriffen“ war. Bei Bethmann von Hollweg löste vor allem die Tatsache Besorgnis aus, dass untergeordnete Ressorts mit unterschiedlichen Absichten Beamte oftmals entgegen ihren eigentlichen Aufgabenbereichen und für eine rein „repräsentative Wirksamkeit“ entsendeten, während die Kernbereiche der „eigentlichen Geschäftsprozesse und die gesetzgeberischen Vorarbeiten“ darunter litten. Die Kriterien, unter denen eine künftige Beschickung von internationalen Kongressen in Betracht gezogen werden durfte, wurden daraufhin festgelegt. Entweder mussten „Internationale Rücksichten oder Courtoisie gegen inländische Interessengruppen“ vorliegen, oder es musste ein ersichtlicher Nutzen für die Beamten selbst ausschlaggebend sein. Ferner sollte eine zentrale Genehmigung im Reichsamt des Innern eingeholt werden.419 Was den Internationalen Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit 1910 in Kopenhagen anbelangte, so bedeutete dieses Dekret eine große Hürde, zugleich bot es mit den vorgegebenen Kriterien auch klar formulierte Möglichkeiten, eine offizielle Entsendung zu erbitten. Der Mann der Stunde, der die erste offizielle deutsche Vertretung auf einem internationalen Armenpflegekongress in die Wege leitete, war der deutsche Gesandte in Kopenhagen, Julius Wilhelm von Waldthausen. Es war wahrscheinlich persönlichen philanthropischen Neigungen geschuldet, dass der Botschafter dem Anliegen des Comité international sofort viel Interesse entgegenbrachte. Er war es dann auch, der diverse Begründungsschreiben an das Auswärtige Amt verfasste, in denen er die Notwendigkeit einer offiziellen Beschickung durch das Deutsche Reich hervorhob. Als Gründe nannte er zum einen den ausdrücklichen Wunsch der dänischen Regierung, zum anderen erwähnte er, dass bereits 13 Nationen ihre offizielle Teilnahme bestätigt hätten – die Zahl von neun offiziellen 418 Vgl. BArch R 1501 / 114839, Akten betreffend: die Entsendung von Vertretern zu internationalen Kongressen und inländischen Interessentenversammlungen. 419 Außerdem durfte generell nie mehr als ein Repräsentant entsendet werden, der im Falle des Deutschen Reiches und Preußen dieselbe Person darstellen musste, vgl. ebd.

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Delegierten aus Frankreich wurde auf dem Telegramm dick unterstrichen. Außerdem wären die Erörterungen vor allem für das Reichsversicherungsamt von großem Nutzen. Waldthausen bot sich sogar selbst als möglicher Abgesandter an, wodurch der Reichsregierung keine zusätzlichen Kosten entstehen würden. Nach erneutem Schriftverkehr mit der zuständigen Sammelstelle im Reichsamt des Innern segnete der Staatssekretär die offizielle Beschickung ab, da sie den oben genannten Kriterien der „internationalen Rücksichten und Courtoisie“ offenbar entsprach.420 Waldthausen begleitete daraufhin als offizieller Vertreter des Deutschen Reiches das diplomatische Zeremoniell des Kongresses. In verschiedenen Korrespondenzen mit der Reichsregierung ging er aber auch auf die Vorträge und Berichte selbst ein. Sowohl die Beschlüsse zu den einzelnen Kongressthemen, als insbesondere auch die offenen Fragen bezüglich einer internationalen Regelung der ‚Fürsorge für Ausländer‘ thematisierte er in mehreren längeren Berichten, denen er die gedruckten Vorträge des Kongresses zusätzlich beifügte. 421 Hier bahnte sich erstmals ein direkter Informationskanal von den internationalen Kongressen zur Reichsregierung an. Damit war die Rechnung des Comité international aufgegangen: In Sachen ‚Ausländerfürsorge‘ brachte man den Stein nach zahlreichen schwerfälligen Debatten endlich ins Rollen. Als direkte Folge konnte die Abhaltung einer diplomatischen Konferenz 1912 in Paris zur Lösung der Fragen betreffend der ‚Ausländerunterstützung‘ in die Wege geleitet und umgesetzt werden.422 Diesen Erfolg konnte sich das Comité international zuschreiben.423 Generell wurde der Kongress als Erfolg bewertet. Die Kongressberichte und Kongressdebatten stießen in allen führenden Zeitschriften der Armenfürsorge auf positive Resonanz.424 Auch wenn sich das Expertentum durchaus bewusst war, dass es gewisse Hürden für eine internationale Kooperation gab und dass auch ein Ideentransfer nie einfach vonstattengehen konnte, so war diese Phase der internationalen Vernetzung von einem anhaltenden Optimismus geprägt. Rondel nannte die „Internationalisierung“ metaphernreich eine „Welle“, die alles durchströme und Reformhindernisse beseitige: „c’est un fait indéniable que les frontières nati420 Vgl. BArch R 901 / 31847, Akten betreffend: die internationalen Regelung der Armenfrage, Kongress Kopenhagen 1910. 421 Ebd. 422 Vgl. hierzu Kapitel II, 1 in dieser Arbeit. 423 Schließlich gab es auf dem Kongress offizielle Delegierte aus 18 verschiedenen Nationen: Argentinien, Österreich-Ungarn, Belgien, Brasilien, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Italien, Japan, die Niederlande, Norwegen, Portugal, Rumänien, Russland, Schweden, Schweiz und die USA. Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 1, S. 28–30. 424 Kongressberichte finden sich wieder in verschiedenen europäischen und amerikanischen Fachzeitschriften, vgl. (Auswahl) „Der internationale Kongreß für Armenpflege und Wohltätigkeit in Kopenhagen“, ZdA 11 (1910), S. 257ff.; „Kongressbericht“, in: Schweizerischen Zeitschrift für Gemeinnützigkeit (1910), S. 271f.; „Il V Congresso internazionale di assistenza pubblica e privata“, in: Rivista della benficenza pubblica XXXVIV (1906), S. 645ff.; „Le quatrième Congrès international...“, in: RP XXVI (1910), S. 231ff., S. 633ff. und XXVIII (1911), S. 62ff.; „International Congress of public relief and private philanthropy at Copenhagen“, in: Charities XXIV (1910), S. 883ff.

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onales n’arrêtent plus, aujourd’hui comme autrefois, la radiation de la charité agissante.“425 Trotzdem irrte sich der Präsident des Comité international Loubet in einem Punkt: „Les rivalités disparaissent, les causes de conflict sont oubliées, au moins pour un instant. C’est un spectacle.“426 Kopenhagen sollte der letzte Ort sein, an dem ein Internationaler Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit abgehalten wurde. 5.4. Allmählicher Bedeutungsverslust: Das Comité international in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg Als Loubet auf dem Kongress 1910 in Kopenhagen die selbstauferlegte ‚Retter‘Funktion der Armenpfleger und die daraus abgeleitete ‚Wohltat für die Bedürftigen‘ stilisierte, knüpfte er rhetorisch an die Darstellungsweise an, welche die internationale Reformergemeinschaft seit zehn Jahren zusammenschweißte. Darüber hinaus machte die Kongressarbeit nach Ansicht des Komiteevorsitzenden greifbare Fortschritte, indem sie auf Gesetzgebungsprozesse und diplomatische Abkommen hinarbeitete.427 Auf diese Weise ermutigt setzte das Comité international seine Arbeit unmittelbar nach dem Kongress fort und sah sich auch weiter als Impulsgeber der internationalen Armenfürsorge. Die Tatsache, dass im Gegensatz zum Mailänder Kongress von 1906 an der organisatorischen Umsetzung des Kongresses kaum Kritik geäußert wurde, dürfte die Akteure des Komitees zufriedengestellt haben.428 Zweifellos lag dies am langjährig erprobten und schließlich optimierten Kongressablauf. Eine große Rolle dürfte aber auch die angepasste Erwartungshaltung gespielt haben: Nachdem man sich einige Jahre zuvor, sozusagen im Eifer des internationalen Kooperationsgedankens, zu viel von den Versammlungen erhofft hatte, sorgte der Kopenhagener Kongress umgekehrt eher für einige positive Überraschungen. Insbesondere hinsichtlich der ‚Ausländerfürsorge‘ war man einen entscheidenden Schritt weitergekommen. Georges Rondel berichtete von den Bemühungen des Comité international, zusammen mit der Société internationale und dem Bureau international d'information et d’études des question d’assistance aux étrangers in möglichst kurzer Zeit eine diplomatische Konferenz zu organisieren, auf der die offenen Fragen der ‚Ausländerfürsorge‘ unter Teilnahme politischer Vertretungen behandelt werden sollten.429 Das beharrliche Engagement des Comité international trug Früchte: 1912 eröffnete man in Paris 425 426 427 428

RP XXVI (1910), S. 633–641, Zitat S. 641. Ebd., S. 76. Vgl. Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 1, S. 76. Einzig der amerikanische Autor Alexander Johnson übte in seinem Kongressbericht Kritik an den seiner Ansicht nach zu kurzen Redezeiten der Vortragenden. Er verglich dabei den Kongress mit den National Conferences of Charities and Correction, die viel stärker auf Diskussionen als auf Fachvorträge ausgerichtet waren. Dies entsprach mehr den amerikanischen ‚Gepflogenheiten‘. Vgl. Johnson, International Congress of public relief and private philanthropy at Copenhagen, Congress, in: The Survey (Charities) XXIV (1910), S. 883ff. 429 Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 2, S. 588ff.

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die Konferenz für Ausländerfürsorge.430 In der Tat lässt sich die Einberufung einer diplomatischen Konferenz als wichtigen Teilerfolg des Comité international bewerten. Damit wurde die Idealvorstellung, dass „Wissenschaft“ und „Erfahrung“ als „Kanäle für die Gesetzgebung“431 dienen sollten, einen Schritt vorangebracht. Paradoxerweise führte die forcierte Einbindung politischer Entscheidungsträger dazu, dass sich die Initiatoren in dieser Fragestellung selbst etwas an den Rand gedrängt sahen. Dies zeigte sich unter anderem dadurch, dass die diplomatische Konferenz in Paris von 1912 unter Ausschluss der Fürsorgeexperten stattfand und sowohl der Deutsche Verein als auch die Zentralstelle für Armenpflege und Wohltätigkeit große Mühe hatten, sich über die Einzelheiten des Treffens zu informieren.432 Unterdessen beabsichtigte das Comité international seine Aktivitäten auch auf ein anderes Projekt auszuweiten. Das Büro in Paris prüfte die Möglichkeit, internationale Studienreisen zu organisieren, um noch mehr Kollegen den Besuch von Fürsorgeeinrichtungen zu ermöglichen.433 Die Besichtigungen unterschiedlicher Institutionen im Anschluss an die internationalen Kongresse hatte stets großes Interesse hervorgerufen. Das konkrete Anschauungsmaterial war für die Experten der Armenfürsorge eine willkommene Abwechslung zu den Referaten in den Sektionssitzungen. Die Besuche waren „admirably planned and splendidly administered“, wie der amerikanische Beobachter Alexander Johnson befand: „One or two of them, indeed, are so fine that to visit them alone justified the journey to the city.“434 Die positiven Rückmeldungen435 führten im Comité international zu den Überlegungen, das Potential der Veranschaulichung fürsorglicher Praktiken in Form von Studienreisen noch weiter auszuschöpfen. Alle diese Aktivitäten und die gewohnt euphorische Rhetorik innerhalb des Comité international täuschten allerdings darüber hinweg, dass an anderer Stelle vermehrt Kritik an der bestehenden Form der internationalen Vernetzung laut wurde. Ausgangspunkt waren unterschiedliche Ansichten darüber, was eine internationale Kooperation zu leisten imstande war und leisten sollte. In Frankreich gab es einige Stimmen, vermutlich aus dem Umfeld der Société international, welche bedauerten, dass es an zukunftsweisenden Reformkonzepten fehle und die Umsetzung derjenigen innovativen Ideen, welche auf den Kongressen zur Diskussion standen, oft nicht erreicht worden sei. Manche Kritik bezog sich auch auf die überladenen Feierlichkeiten, die nach Ansicht mancher Beobachter nicht im Verhältnis standen zu den tatsächlichen Errungenschaften der internationalen Koope430 Ausführliches zur Konferenz und zu den Verhandlungen über Frage der ‚Ausländerfürsorge‘ vgl. Kapitel II, 1 in dieser Arbeit. 431 Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 2, S. 591 (Übersetzung des Verf.). 432 Nur über die persönlichen Kontakte Hirschfelds sowie der Abteilung für Armenpflege und Wohltätigkeit zu Georges Rondel gelang es, ein Exemplar des Kongressbandes für das weitere Studium zu erhalten, vgl. hierzu den Briefwechsel mit dem Auswärtigen Amt in BArch R 901 / 31850. 433 Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 2, S. 589. 434 Johnson, International Congress, in: The Survey (Charities) XXIV (1910), S. 885. 435 Vgl. auch A. Delpy, Visites du Congrès de Copenhague, RP XXVIII (1911), S. 62–67.

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ration. Diese Kritikpunkte bewogen Rondel dazu, in einem ausführlichen Artikel in der Revue philanthropique Stellung zu beziehen und die zahlreichen Errungenschaften des internationalen Kongresswesens und des Comité international hervorzuheben. Trotz der Schwierigkeiten, unterschiedliche Ansichten in Einklang zu bringen, hätten die internationalen Kongresse letztlich vorzügliche Arbeit geleistet. In diesem Artikel erwähnte Rondel die französische Gesetzgebung zur obligatorischen Armenpflege für Kinder, Alte und Kranke als unmittelbare Folge der Kongressdebatten. Er hob darüber hinaus den besonderen Verdienst der internationalen Kongresse hervor, dass sich französische Vertreter der öffentlichen Armenfürsorge und privaten Wohltätigkeit überhaupt zusammensetzten und zielführend diskutierten. Einen vergleichbaren Erfolg stellte er der Frage nach der ‚Ausländerunterstützung‘ in Aussicht.436 Auch auf Seiten des Comité international reagierte man auf die kritischen Töne. Dort erkannte man zwar die Schwierigkeiten bei der konkreten Umsetzung der Kongressbeschlüsse, sah aber weniger sich selbst als vielmehr die Gesetzgeber in der Pflicht. In einer selbstbewussten Eigendarstellung unterstrich auch Loubet die herausragende und pionierhafte Leistung der Kongresse und warf den Regierungen Trägheit und Gleichgültigkeit bei der Umsetzung der Vorschläge vor.437 Dieser Schuldzuweisung lag natürlich die desillusionierende Einsicht zugrunde, keinen fertigen Hebel für die Reform der Armenfürsorge zu besitzen. Dass der Spielraum der Einflussnahme auf die sozialpolitischen Entscheidungsprozesse beschränkt blieb, wurde in diesen Auseinandersetzungen noch einmal deutlich. Das Comité international nahm parallel zu den ‚nationalen Sektionen‘ in dieser Hinsicht keine andere Funktion ein als die des vorbereitenden, beratenden und Einflussräume suchenden Expertentums. Folglich deutete Loubet an, dass die internationalen Aktivitäten der Fürsorgeexperten, ähnlich wie die Bemühungen im nationalstaatlichen Rahmen, nicht ausschließlich an den unmittelbaren sozialpolitischen Umsetzungen gemessen werden dürften.438 Im Deutschen Reich fragte man sich ebenfalls, ob die aufwendigen und kostspieligen Kongresse im Verhältnis zu ihrem tatsächlichen Nutzen stünden439, denn auch dort war bemerkt worden, „daß die internationalen Kongresse mehr und mehr den Charakter festlicher Veranstaltungen annehmen, darüber herrscht kaum noch eine Meinungsverschiedenheit.“440 Die kritischen Stimmen, die hier lauter wurden, bezweifelten nicht den eigentlichen Sinn der internationalen Vernetzung und Austauschbeziehungen, sondern nur ihre konkrete Ausgestaltung. Infolgedessen setzte sich bei einigen Fachleuten die Vorstellung durch, dass ein internationaler Kongress nur dann abgehalten werden sollten, wenn ihm ein konkreter Anlass in Form einer zu erörternden Sachfrage vorausgehe und ein unmittelbarer Mehrwert zu erwarten sei. Die gelebte Internationalität ihrer selbst willen, wie sie das 436 437 438 439 440

RP XXVI (1910), S. 633–641. Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 1, S. 73–77, hier S. 76. Ebd. Z. B. hier ZdA 14 (1913), 9, S. 284. So sah es das Reichsversicherungsamt, vgl. BArch R 1501 / 114839.

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Comité international jahrelang gefördert hatte und wie sie in dieser Phase der Internationalisierung und des ‚Kongressbooms‘ durchaus plausibel erschienen war, diese Internationalität sah sich nun zunehmend einem Rationalisierungsimperativ ausgesetzt: Internationale Ausrichtung ja, aber nur in der Form, auf der Ebene und in den Bereichen, in denen man sachbezogen davon profitieren konnte. Das gleiche galt für die persönlichen Beziehungen. Diese verloren keineswegs ihre Bedeutung. Sie schienen sich allerdings vom Umfeld des internationalen Kongresswesens zu lösen, um eigene, effektivere Wege zu beschreiten, unabhängig des etablierten Netzwerkes rund um das Comité international. Als bestes Beispiel hierfür können die Netzwerke der Frauenbewegung genannt werden. Hatten Sozialreformerinnen und Sozialarbeiterinnen auf den Kongressen 1906 und 1910 noch den direkten Anschluss an die internationale Fachwelt gesucht und auch dadurch an Einfluss hinzugewonnen, konnten sie sich mit dem Umstand nicht zufrieden geben, weder im Comité international noch als Hauptberichterstatterinnen noch in sonst irgendeiner leitenden Funktion berücksichtigt worden zu sein – und das trotz anhaltend gegenteiliger Bekundungen von Seiten der ‚Fachmänner‘. Die Intensivierung eigenständiger Beziehungsnetzwerke unter Sozialreformerinnen hatte vor diesem Hintergrund eine zusätzliche Motivation.441 Auch andere Spezialisten suchten eigene Wege, darunter die sich dezidiert als Fachwissenschaftler und weniger als ‚Armenverwalter‘ verstehenden Fürsorgeexperten. Für sie hatten die Chiffren und Leitsätze der konventionellen Sozialreform – ‚philanthropischer Geist‘, ‚weltumspannende Solidarität‘, ‚Brüderlichkeit im Kampf gegen die Armut‘ – nur noch wenig Anziehungskraft. Diese neue ‚Generation‘ von Fürsorgetheoretikerinnen und -theoretikern handelte verstärkt aus dezidiert sozialwissenschaftlich geprägten Denkweisen heraus und operierte eher punktuell und vor allem in diesem fachspezifischen Sinne auf internationaler Ebene.442 Woher kam dieser allgemeine Bedeutungsverlust, dem sich das Comité international ausgesetzt sah? Zum einen muss der enorme Anstieg an alternativen, hochspezialisierten Fachkongressen erwähnt werden, welcher die schrittweise Ausdifferenzierung und Abtrennung fürsorgebezogener Fachgebiete aus dem Armenwesen verdeutlicht.443 Zum anderen dürfte der Hauptgrund für die nachlassende Ausstrahlungskraft des Comité international in seiner Struktur selbst zu suchen sein. Als Casimir-Périer 1907 starb, verlor die internationale Organisation einen ihrer prominentesten Förderer. Seine Eröffnungsrede auf dem Kongress 1900 in Paris galt für viele als Auftakt der internationalen Vernetzung.444 In der 441 Vgl. Bock/Thane, Maternity and Gender Politics; Hegar, Transatlantic Transfers; HerrenOesch, Women in Welfare; Koven/Michel, Womanly Duties; Schüler, Frauenbewegung. 442 Vgl. hierzu Kapitel III, 8. 443 Catherine Rollet-Vey verdeutlicht dies am Beispiel der internationalen Bestrebungen für Kinderfürsorge, siehe Rollet-Vey, La santé et la protection, in: Annales de démographie historique 1 (2001), S. 97–116. Im Anhang des Artikels befindet sich eine umfangreiche Auflistung von internationalen Fachkongressen. 444 Zur Würdigung des verstorbenen Präsidenten vgl. Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 1, S. 75.

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Zeitschrift für das Armenwesen hieß es entsprechend: „Sein Verlust ist für die internationale armenpflegerische Arbeit unersetzlich; sein Andenken wird in den hieran beteiligten Kreisen unvergesslich bleiben.“445 Casimir-Périers Nachfolger als Präsident des Comité international Loubet bescheinigte man zwar „lebhaften Eifer“446, dennoch konnte dieser die Aufgabe des Vermittelns und der Identitätsstiftung nicht mehr im gleichen Maße erfüllen wie sein Vorgänger. In der Folgezeit starben weitere wichtige Komiteemitglieder: Hunziker († 1908), Kunwald († 1909), Cheysson († 1910), Dompierre de Chaufepié († 1911), Le Jeune († 1911), Münsterberg († 1911). Andere waren hingegen schon in die Jahre gekommen, so dass ihre aktive Rolle im Comité international abnahm, wie im Falle von Sabran († 1914), Henderson († 1915), Ferdinand-Dreyfus († 1915) und Muteau († 1916). In dieser Phase verlor das Comité international also viele seiner zentralen Repräsentanten, die für diese spezielle Form des sozialreformerischen Internationalismus gestanden hatten und diesen in die ‚nationalen Sektionen‘ hineingetragen hatten. Ausschlaggebend war nun, dass im Comité international wenige Vertreter der neueren Strömungen oder kaum jüngere Sozialreformer aufgenommen wurden, die in den letzten Jahren vermehrt in den Fürsorgedebatten auf sich aufmerksam gemacht hatten und die Armenfürsorge stärker in die Debatten zur Wohlfahrtspflege einbinden wollten. Stattdessen schuf man sich mit dem auf Kontinuität ausgelegten System der Kooptation eine Personalstruktur, die sich im Wesentlichen auf den Grundpositionen der ‚rationellen Armenfürsorge‘ stützte oder lediglich die graduelle Ausweitung beziehungsweise Weiterentwicklung der etablierten ‚Fürsorgesysteme‘ favorisierte.447 Als bestes Beispiel aus deutscher Sicht wäre die Berufung Franz Heinrich Rulands als Nachfolger Münsterbergs im Comité international anzuführen.448 Der Justizrat hatte sich als Redner und Autor des Deutschen Vereins einen Namen gemacht und war Vorstandsmitglied sowie ab 1911 dessen Vorsitzender. Er setzte sich insbesondere für eine Reform der Armenfürsorge im Elsass ein, die noch dem französischen Muster folgte.449 Er genoss in der deutschen Armenfürsorge hohes Ansehen. Seine Wahl durch die deutschen Mitglieder des Comité international entsprach damit der Idee, sich auf internationaler Ebene wieder von einem renommierten Fürsorgefachmann vertreten zu lassen. Ruland war aufgrund seines Alters (1852 – 1930) und der von ihm vertretenen Positionen aber eher der älteren Gruppierung von „Armenverwaltern“ zuzurechnen, die nach Meinung von Klumker „über jeden frischen, durchgreifenden Ge-

445 ZdA 8 (1907), 4, 98. 446 ZdA 11 (1910), 9, S. 257. 447 Hierfür standen die Mehrheit der auf der Sitzung des Comité international am 3. Juli 1912 anwesenden Fürsorgevertreter: Bioncourt (Russland), Caubet und Dubief (Frankreich), Dunant (Schweiz), Ferdinand-Dreyfus (Frankreich), Haarlov (Dänemark), Henderson (USA), Krieger (Dänemark), Loch (England), Loubet (Frankreich), van Overbergh (Belgien), Philipson (Italien), Rivière, Rondel und Strauss (Frankreich). RP XXIX (1912), S. 348–349. 448 ZdA 12 (1911), 11, S. 349. 449 Vgl. SDV 27 (96) und 38 (1898).

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danken zu Tode“ erschraken.450 Er wusste weder den gewünschten ‚frischen Wind‘ hineinzubringen noch der Überalterung entgegenzuwirken. Mehr noch: Außer der Tatsache, dass er des Französischen mächtig war, qualifizierte ihn wenig für die Arbeit im Comité international. Er war weder auf den internationalen Kongressen gewesen, noch weisen seine Schriften und Beiträge internationale Bezüge auf. Er pflegte außerdem keine nachweisbaren Beziehungen ins Ausland, was für die Arbeit im Kongresskomitee von Vorteil gewesen wäre. Seine Berufung war dem Umstand geschuldet, dass die deutschen Komiteemitglieder nach einem adäquaten Ersatz für Münsterberg suchten und sich vielmehr vom Ansehen der Person leiten ließen als von seiner Qualifikation hinsichtlich ‚internationaler Kompetenzen‘. Die außergewöhnliche Rolle Münsterbergs bei der Schaffung und Aufrechterhaltung des internationalen Beziehungsnetzwerkes konnten weder er, noch die anderen deutschen Mitglieder des Comité international ausfüllen. Auch Werthmann, der generell um eine internationale Vernetzung sehr bemüht war, brachte sein Engagement verständlicherweise vor allem in die Arbeit des Caritasverbandes ein. Als Münsterberg starb, verlor damit die internationale Ausrichtung in der deutschen Fachwelt generell an Bedeutung. Entsprechend büßte die ‚deutsche Sektion‘ im Comité international nach 1910 deutlich an Einfluss ein. Dies machte sich auch auf den Sitzungen des Comité international und bei den Planungen für den internationalen Kongress in London bemerkbar, auf denen die deutschen Vertreter kaum noch in Erscheinung traten. Als es darum ging, einen deutschsprachigen Hauptberichterstatter für die vierte Fragestellung des Kongresses zu ermitteln, mussten die deutschen Komiteemitglieder Rudolf und Osius lange darüber beraten, wem sie das spezielle Thema „Fürsorge für die Familien von Strafgefangenen“ anvertrauen würden. Am Schluss wurde die Aufgabe an Klumker weiterdelegiert.451 Christian Jasper Klumker war Geschäftsführer der Zentrale für private Fürsorge in Frankfurt und stand für eine neue Denkwelt im Deutschen Verein. Der einstige Münsterberg-Schüler trat fachwissenschaftlich weit aus dessen Schatten hinaus und hatte einen wesentlichen Anteil an einem neuen Verständnis von Sozialarbeit, mit dem man sich von der Armenfürsorge abzuheben versuchte. Er hatte schon früh mit wissenschaftlich fundierten Argumenten gegen die einseitig armenrechtlichen und moralistischen Ansichten der deutschen Fürsorgevertreter auf sich aufmerksam gemacht.452 Als Professor für soziale Fürsorge stand Klumker für eine sozialwissenschaftlich orientierte Professionalisierung der Armenfürsorge, wobei er mit der Ideenwelt des Minderheitsberichtes rund um das Ehepaar Webb sympathisierte. Der Kongress und sein Umfeld mussten ihn zwangsläufig befremden, wenngleich er den Sinn internationaler Austauschbeziehungen durch450 Brief Klumker an Blaum vom 1.12.1915, in: Nachlass Klumker, siehe Findbuch_gesamt_Ia (Alte Signatur, Nr. 552). 451 Vgl. Brief des „Acting Secretary“ an Klumker in: Nachlass Klumker, K11/9.2. 452 So zum Beispiel auf der 21. Jahresversammlung des Deutschen Vereins in Auseinandersetzung mit u. a. Karl Flesch über die „Sociale Ausgestaltung der Armenpflege“, vgl. SDV 56 (1901), S. 28ff., hier insb. S. 46. Zur Biographie vgl. G. Neises, Christian Jasper Klumker, S. 1–28.

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aus erkannte. Diese sollten jedoch von Fall zu Fall erwogen und den Kriterien einer auf Wissenschaft beruhenden Organisation standhalten können. Dass die Kongresse diesen Zweck erfüllen konnten, bezweifelte er.453 In einem persönlichen Brief an Karl von Mangoldt, der ebenfalls gebeten wurde, ein Fachreferat auszuarbeiten, äußerte er seinen Unmut: „Dass das Thema Ihnen nicht gefällt, ist sehr natürlich. Die Themen sind fast alle von Leuten formuliert worden, die sich über Verhältnisse in den einzelnen Ländern gar nicht klar sind.“454 Letztlich erfüllte Klumker die an ihn herangetragene Aufgabe, die überhaupt nicht zu seinem Spezialgebiet gehörte, mit viel Aufwand und Akribie455 – mehr aber auch nicht. Die gemeinschaftsbildende und gemeinschaftserhaltende Funktion des Kongresses hatte er nicht umsetzen können und wollen. Dafür fehlte es ihm an Kenntnissen über die Gepflogenheiten des Comité international und an den konkreten Kontakten: Klumker war nie in das internationale Netzwerk eingeführt worden und war dem Comité international völlig unbekannt.456 Aus seiner Sicht war bereits der Deutsche Verein überaltert und er bedauerte das Fehlen neuer, junger Akteure. Die Repräsentanten des Comité international und ihre selbstbezogene Form der Internationalität mussten ihm daher ähnlich missfallen. Die englische Kongresskommission bereitete sich unterdessen weiter auf den anstehenden internationalen Kongress vor und setzte dabei auf einflussreiche Politiker und Sozialreformer, darunter Ernest Aves, William Chance, William J. Collins, Geoffrey Drage und C. S. Loch.457 Vor allem letztgenannter hatte einen unangefochtenen Platz im Comité international und war dort das Gesicht des englischen Armenwesens. Die gewohnte Kooperation zwischen dem Comité international und einer separaten englischen Kongresskommission nahm bis zum Kriegsausbruch ganz routinemäßig Gestalt an. Prinz Arthur de Connaught, Cousin 453 In der 1931 verfassten Schrift „Vom Werden deutscher Jugendfürsorge“ schrieb Klumker rückblickend: „Viele internationale Kongresse über Fürsorge und Kinderschutz haben sich vor dem Kriege mit Reden, Beschlüssen und Akten betätigt, deren Richtigkeit und Brauchbarkeit gering ist.“ Klumker, Vom Werden deutscher Jugendfürsorge, S. 61. 454 Nachlass Klumker, K11/23. 455 Das Comité international und das englische Exekutivkomitee unterstützten Klumker beim Zusammentragen von Material, bei der Suche von Spezialberichterstattern und beim Ausarbeiten eines internationalen Fragebogens zum Thema der Strafgefangenenfürsorge. Aus den umfangreichen Korrespondenzen wird ersichtlich, wie das internationale Beziehungsnetzwerk miteinander verflochten war. Klumker, der kein Experte für die Fragestellung war, konnte auf die Hilfe der bestehenden Vernetzungen zurückgreifen. Über die Kongressleitung bekam er direkten Kontakt mit Fachleuten aus Holland, Belgien, den USA, England, Italien, Ungarn, dem Deutsches Reich und den skandinavischen Staaten. Darüber hinaus beauftragte er Dorothea Hirschfeld in der Berliner Zentrale für Armenpflege und Wohltätigkeit mit einer Materialsichtung, um sein eigenes Referat vorzubereiten. Der Nachlass Klumkers bietet interessante Einblicke in das internationale und nationale Beziehungsnetzwerk der Fürsorgeexperten vor dem Ersten Weltkrieg, vgl. Nachlass Klumker, K11/9.3 und K11/9.12–20 456 Das geht aus den Korrespondenzen mit dem „Acting Secretary“ hervor, vgl. Nachlass Klumker, K11/9.2. 457 Für Einzelheiten zur Organisation und den Mitgliedern der Exekutivkommission vgl. das Einladungsschreiben zum „Sixth International Congress of Social Work and Service“, Nachlass Klumker, K11/9.1.

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des Königs, wurde zum Präsidenten ernannt, die Finanzierungen bereitgestellt, mehrsprachig verfasste Themen vorformuliert und internationale Generalberichterstatter ernannt458 – in diesen Fragen zeigte sich die übliche Gestaltungshoheit des Comité international. Die Tendenzen hinsichtlich der zu behandelten Themen war ähnlich wie auf dem Kongress von 1910: Mehr spezifische Fragestellungen, außerdem wurde erwartungsgemäß den Versicherungs- und Vorsorgekonzepten viel Interesse entgegengebracht.459 Die Werbemaschinerie wurde zugleich angeworfen, Programme entworfen, Rundschreiben verfasst.460 Um dem abflachenden Interesse an den internationalen Kongressen entgegenzuwirken wurden weite Kreise eingeladen.461 Ein Erfolg bestand in der offiziellen Teilnahmebestätigung von deutschen Regierungsdelegierten. Im Antwortschreiben auf die Einladung unterstrich der zuständige Staatssekretär: Bei der Bedeutung, die den internationalen Kongressen für Armenpflege und Wohltätigkeit (Congrès d’Assistance Publique et Privée) innewohnt, und angesichts der lebhaften Beteiligung anderer Staaten an ihnen, erscheint mir die amtliche Beteiligung Deutschlands auch an dem für Juni 1915 in London geplanten Kongresse erwünscht. 462

Die neuerdings zum Ausdruck kommende Wertschätzung kann auf die positiven Erfahrungsberichte des Regierungsdelegierten vom Kopenhagener Kongress zurückgeführt werden. Dass dieser Kongress in der britischen Hauptstadt stattfinden sollte, war wiederum auf Lochs Initiative zurückzuführen, für den die Veranstaltung vermutlich auch eine persönliche Dimension gehabt hätte. Seit Beendigung der Arbeit der Poor Law Commission war in England eine heftige Kontroverse darüber entbrannt, wie die Zukunft der Armenfürsorge auszusehen hatte. Loch war Hauptverfasser des sogenannten Mehrheitsberichtes, der die Reform und Weiterentwicklung des englischen poor law favorisierte.463 Dieses Vorhaben sollte mithilfe der Unterstützung der COS realisiert werden, welcher Loch vorstand und deren Vor-

458 RP XXXIII (1913), S. 354–356 und RP XXXIV (1914), S. 249. 459 Folgende Fragestellungen und Hauptberichterstatter waren bereits festgelegt: I. The influence which, in accordance with modern ideas, thrift and providence should exercise in questions of assistance (van Overberg), II. International provisions for the assistance of deserted or morally abandoned children (Ferdinand-Dreyfus), III. The assistance of families of prisoners and extradited persons (Klumker), IV. The care and control of mentally defective persons, other than certifeied lunatics (Sir Bryan Donkin). Vgl. „Sixth International Congress of Social Work and Service“, vgl. das Kongressprogramm in: Nachlass Klumker, K11/9.1. 460 RP XXXIV (1914), S. 634–637. 461 Vgl. Nachlass Klumker, K11/9.5, 6, 7: Außer für die Komiteemitglieder Osius, Marx, Ruland, Leyden und Werthmann liegen Einladungsschreiben vor für die staatlichen und kommunalen Behörden und Körperschaften, Städte (ca. 50), Vereine (ca. 40) und Privatpersonen (über 30), darunter: Böhmert, Flesch, Francke, Friedeberg, Jastrow, Koehne, MüllerSimonis und Salomon. 462 BArch R 901 / 31850. 463 Abgedruckt in: Royal Commission on the Poor Law, Report, S. 719–1238.

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machtstellung er in den sozialpolitischen Gestaltungsprozessen zu sichern beabsichtigte. Die Unterstützer des Mehrheitsberichtes standen ähnlich viele der international vernetzten Fürsorgeexperten für eine moderate Reformtätigkeit im Rahmen der rechtlichen und sozioökonomischen Ordnungsvorstellungen. Diese Haltung zeigte sich am deutlichsten im Umgang mit den neuen Ansätzen einer staatlich organisierten Wohlfahrtspflege. Schon auf dem Kopenhagener Kongress waren das Ersetzen der Leistungen und Organisation einer als ineffektiv und restriktiv charakterisierten Armenfürsorge durch den Ausbau eines umfangreichen Vorsorge-, Versicherungs- und Erziehungsapparates vermehrt zur Sprache gekommen. Jedoch stand man dieser wirkmächtigen Strömung rund um das neuartige staatsinterventionistische Konzept linkspolitischer Prägung eher skeptisch gegenüber. Emil Münsterberg zitierte zwar den „staunenswerten“ Minderheitsbericht der englischen Armenkommission, welcher die Auflösung der Armenfürsorge (The Break-Up of the Poor Law) propagierte. Letztlich bezeichnete er diesen Weg noch als „Zeichen der Zukunft“ und nannte die Gedanken „utopisch“. Er betonte, dass auf absehbare Zeit weder auf die öffentlichen noch die privaten Wohltätigkeitsbestrebungen und die internationalen Kongresse selbst verzichtet werden könne. Seiner Meinung nach müssten die neuen Gedanken aber sehr wohl als eine Inspiration für konkrete Fachgebiete der Armenfürsorge dienen. So verwies er auf den Sprung, den die moderne Armenpflege dadurch gemacht habe, dass sie die seit jeher ausgeübte ‚Barmherzigkeit‘ gegenüber Notleidenden um den Verstand und das Expertenwissen erweitert habe. Dieser Prozess dürfe, zum Wohle der Unterstützungsbedürftigen, nicht ins Stocken geraten.464 Münsterbergs Auffassungen legen die Vermutung nahe, dass er durchaus eine Brücke hätte schlagen können zwischen den Fürsorgeexperten, die mehrheitlich eine zögerliche Haltung gegenüber den sozialpolitischen Neuerungen einnahmen, und den Befürwortern einer umfangreichen Reform zugunsten eines als total verstandenen Wohlfahrtskonzeptes.465 Innerhalb der gespaltenen Lager vertrat Loch jedoch eine klare Haltung. In die Exekutivkommission in London wurden Vertreter des Minderheitsberichtes nicht eingebunden. Deutlich wird hierbei erneut die Integrationsdynamik der internationalen Expertengemeinschaft: Sie verlangte vor allem die grundsätzliche Anpassungsfähigkeit an die vorherrschenden Reformpositionen. Wer sich Gehör verschaffen wollte und in die Kreise der internationalen Fürsorgeexpertise aufgenommen werden wollte – damit waren auch immer konkrete Karrierewege verbunden – durfte sich nicht zu radikal gegen die Wortführer des Comité international und diejenigen ihrer ‚nationalen Sektionen‘ stellen.

464 Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 1, S. 79ff., Zitate S. 80. 465 Münsterbergs Interesse an Fragen der Arbeitslosigkeit, Versicherungswesen und wirtschaftlichen Konjunkturen verdeutlichen sein grundsätzliches Interesse für die Ansätze der Wohlfahrtspflege. Mit Beverdige beispielsweise stand er in persönlichem Kontakt, siehe hierzu auch die persönliche Buchwidmung in: Beveridge, Unemployment (Exemplar historische Sondersammlung FH Frankfurt).

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Die Entwicklung des Comité international und des internationalen Kongresswesens weist darauf hin, dass die allgemeine Bedeutung von internationaler Vernetzung innerhalb des Fürsorgeexpertentums in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wieder abnahm. Obwohl die einzelnen Mitglieder des Comité international nach wie vor hohes Ansehen genossen und auf dem Kongress 1915 mit vielen offiziellen politischen Delegierten hätten rechnen können, verloren das Netzwerk als Ganzes und die in ihm etablierten institutionellen und personellen Vernetzungspraktiken an Einfluss. Vormals war die Sache des Komitees ein Selbstläufer gewesen und seine Mitglieder wurden als internationale Schrittmacher der modernen Armenfürsorge gefeiert. Doch nach dem Kopenhagener Kongress schien dieser elitäre Zirkel zunehmend auf der Stelle zu treten und die von ihm propagierte Internationalität hatte an Attraktivität eingebüßt, was auch auf die fehlende personelle und inhaltliche Neuausrichtung zurückgeführt werden kann. Das innovative Potential der international vernetzten Sozialreform, das auf dem internationalen Kongress 1900 in Paris noch so hoch gelobt worden war, verlagerte sich in andere sozialpolitische Gruppierungen. Die Grundsätze der im Comité international vertretenen Fürsorgeexperten, welche stets auf eine effiziente, individualisierende und fallorientierte Armenfürsorge verwiesen hatten, wurden immer mehr durch Vertreter der neuen, staatsinterventionistischen Konzeptionen von Vorsorge und Versicherung auf den Prüfstand gestellt. Es lag in der Natur der Sache, dass damit der Fokus stärker auf das Nationale ausgerichtet wurde. Damit einher gingen ein auffallend schneller Bedeutungsverlust der grenzüberschreitenden Sinnstiftung und die Marginalisierung dieses transnational organisierten Vereins der Armenfürsorge. 5.5. Ausblick: Der Erste Weltkrieg und das Ende der internationalen Vernetzungen Am Vorabend des Ersten Weltkrieges nahmen die Vorbereitungen für den Internationalen Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit in London ihren gewohnten Gang.466 Noch im Juli 1914 informierte Klumker die Londoner Exekutivkommission über Einzelheiten der ihm anvertrauten Sektionsarbeit. 467 Es ist schwer zu sagen, wie der Kongress in London verlaufen wäre und ob er Erneuerungsimpulse für das Comité international geliefert hätte. Der kurze Ausblick in die Kriegsjahre und die vom sozialpolitischen Umbau geprägten 20er Jahre dient im Folgenden dazu, die internationalen Vernetzungen der Armenfürsorge in Form

466 Ankündigungen, welche den Stand der Vorbereitungen dokumentieren, finden sich in verschiedenen Zeitschriften, vgl. (Auswahl) ZdA 15 (1914), 2, S. 33; „Congrès d’Assistance publique et privée (Londres 1915)“, in: RP XXXIII (1913), S. 354ff. und XXXIV (1914), S. 634ff.; „Congresso internazionale della assistenza pubblica e beneficenza privata a Londra“, in: Rivista della benficenza pubblica XLII (1914), S. 24. 467 Korrespondenzen des „Acting Secretary“ mit Klumker, vgl. Nachlass Klumker, K11/9.19.

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des Comité international und der internationalen Kongresse im größeren historischen Rahmen zu charakterisieren. Als der Krieg ausbrach, kam das langjährige Kommunikationsnetzwerk komplett zum Erliegen. Die Revue philanthropique berichtete Anfang 1915 ein letztes Mal von dem internationalen Unternehmen. In der Zeitschrift wurde erläutert, dass der Kongress aufgeschoben und die Gelder bis auf weiteres einbehalten würden.468 Damit trat ein, was generell für internationale Vereinigungen zu gelten scheint: „sie sterben leise und unbemerkt.“469 Nicht einmal zwischen den Fürsorgeexperten der einzelnen Kriegsparteien konnte der internationale Kontakt aufrechterhalten werden. Entsprechend stark gingen die internationalen Bezüge in allen Fachpublikationen zurück. Die ‚nationalen Notstände‘ forderten eine intensive Beschäftigung mit der Kriegsfürsorge und allem, was mit ihr zusammenhing. Notgedrungen wurde aus der einstigen „philanthropie universelle“ eine „solidarité patriotique“ – so formulierte es Strauss, den nationalen Zusammenhalt beschwörend.470 Die im Comité international und auf den Kongressen gelebte Internationalität auf Basis der gemeinschaftsbildenden Idee einer grenzübergreifenden Sozialreform wich einer propagandistisch aufgeladenen Rückbesinnung auf das Nationale. Der letzte Bezug der Zeitschrift für das Armenwesen auf den geplanten Kongress in London verdeutlicht diesen radikalen Wandel. Der Hannoveraner Schatzrat Drechsler veröffentlichte in der Märzausgabe des Jahres 1915 das ursprünglich für den Kongress vorgesehene Referat über „Die Stellung der Gemeinden zur öffentlichen und privaten Armenpflege in Deutschland und dem Auslande“. Darin heißt es: Der Aufsatz wollte durch einen Überblick und Vergleich der deutschen Zustände mit denjenigen der anderen Kulturstaaten das deutsche Recht dem Auslande näher bringen. Wie der inzwischen ausgebrochene Krieg zeigt, haben die internationalen Kongresse, wenn sie auch unsere Kenntnisse der ausländischen Verhältnisse vermehrten, doch wenig dazu beigetragen, dem Ausland Verständnis für deutsches Wesen näherzubringen. Es scheint, daß nur das deutsche Schwert uns Anerkennung verschaffen kann. Wenn so der Aufsatz seinen eigentlichen Zweck verfehlt hat, so wird er doch dem deutschen Leser neben manchen bekannten Tatsachen deutlich vor Augen führen, daß wir auch auf dem Gebiete des Armenwesens durch einen Vergleich mit dem Auslande nur gewinnen und die Vorzüge unserer Entwicklung und Organisation erst wahrhaft zu schätzen wissen. 471

Auch wenn dies ein ungewöhnlich harsches Beispiel ist – eine solche Rhetorik wäre vor 1914 niemals in der Zeitschrift für das Armenwesen anzutreffen gewesen und auch während des Krieges pflegte man in Kreisen der Fürsorgeexperten einen sachlichen Ton – so wird damit unmissverständlich deutlich: Der Krieg besiegelte das Ende einer Ära der international vernetzten Sozialreform, deren ausdrucksstärkste Form der Selbstrepräsentation die internationalen Kongresse gewesen waren. 468 469 470 471

„Ajournement du Congrès“, in: RP XXXVI (1915), S. 59. Herren, Internationale Organisationen, S. 9. RP XXXV (1914), S. 399. ZdA 16 (1915), 3, S. 37f.

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Der Erste Weltkrieg, der den Ansätzen der Wohlfahrtspflege zum Durchbruch verhalf, ist Teil der Wohlfahrtsstaatsforschung und wird hier nicht weitergehend behandelt. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass die meisten Denkerinnen und Denker, die an der Ausarbeitung der sozialpolitischen Neuerungen entscheidend mitwirkten, nicht Teil des internationalen Expertennetzwerks der Armenfürsorge gewesen waren. Einige wenige Residuen des Comité international und des internationalen Kongresswesens lassen sich dennoch in der Folgezeit beobachten und sollen nicht unerwähnt bleiben. Van Overbergh, ‚Internationalist‘ und einer der progressiven Akteure des ehemaligen Comité international, trat auch in den internationalen Fürsorgedebatten der 20er Jahren in Erscheinung.472 Im Rahmen der Konferenz für Soziale Arbeit 1928 in Paris erklärte er: Der Londoner Fürsorgekongreß hätte der der öffentlichen Fürsorge und Vorsorge sein sollen, auf dem gemeinsam über die zentrale Frage beraten worden wäre: die allmähliche Ersetzung der Fürsorge der Armengesetzgebung durch die Vorsorge. 473

Die hierin zum Ausdruck kommende Überzeugung ist nicht frei von verklärendem Optimismus. Tatsächlich gab es Mitte der 20er Jahre den Versuch, das Comité international mit den bereits in die Jahre gekommenen Rondel und Strauss an der Spitze erneut ins Leben zu rufen und als neuorganisiertes Kongresskomitee wieder aufzubauen. Dieser Versuch scheiterte zunächst ebenso wie das Vorhaben, den Kongress von 1915 Mitte der 20er Jahre nachzuholen, um damit an die bestehende Tradition der international vernetzten Sozialreform anzuknüpfen.474 Stattdessen wurden diese wie auch andere Bemühungen in einem langwierigen, komplizierten Prozess gebündelt, welcher 1928 in der ‚sozialen Doppelwoche‘ in Paris mündete.475 Dieser Veranstaltungsreihe drückten die neuen Kräfte der Wohlfahrtspflege und Sozialarbeit ihren Stempel auf: Edith Abbott, Jane Addams, Gertrud Bäumer, Christian Klumker, Alice Masarykova, Wilhelm Polligkeit, Mary

472 Zur Bedeutung van Overberghs und dessen Rolle als Unterstützer einer Internationalisierungspolitik in Belgien vgl. ausführlich Herren, Hintertüren zur Macht, S. 190ff. und insbesondere 200ff. 473 Recueil des travaux du sixième Congrès international d’assistance publique et privée, Bd. 1, S. 78, zitiert (in deutscher Übersetzung) nach Blankenburg, Internationale Wohlfahrt, S. 77f. 474 Vgl. Blankenburg, Internationale Wohlfahrt, S. 77ff., Zitat S. 78. Ausführlich über die Entstehungsgeschichte, Durchführung und Inhalte der Konferenz von 1928 vgl. Première Conférence Internationale du Service Social, Bd. 1, S. 7ff. bzw. Recueil des travaux du sixième Congrès international d’assistance publique et privée, Bd. 1, S. 59ff. sowie Eilers, René Sand, S. 100ff. 475 Erste Ansätze für eine erneute internationale Kooperation nach dem Krieg gab es zwar bereits 1920. Diese scheiterten jedoch, vgl. Salomon, Die neue Initiative zu internationaler Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege, S. 3ff. Wichtigster Ausgangspunkt der neuen Initiativen waren die USA und die National Conference of Social Work. Nach einem langwierigen, die neuen völkerrechtlichen Strukturen einbindenden Prozess fand die Konferenz 1928 statt. In sie wurde auch der Sechste internationale Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit integriert. Vgl. ebd.

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I. Netzwerke

Richmond, René Sand und Alice Salomon – um nur einige zu nennen.476 Sowohl Siddy Wronsky als auch Alice Salomon – beide kannten die Vorkriegskongresse – verwiesen in ihren Konferenzberichten auf die enormen Veränderungen, die zu einer deutlichen Verlagerung von „öffentlicher und privater Fürsorge“ zu „Wohlfahrtspflege“, „Sozialpolitik“ und „Soziale Arbeit“ geführt hatten.477 In der neu gegründeten internationalen Organisation, International Council on Social Welfare, spiegelten sich die neuen Kräfteverhältnisse in den Fürsorgedebatten ebenfalls wider.478 Hinsichtlich der internationalen Kooperationsabsichten lässt sich generell festhalten, dass sie erst wieder Ende der 20er Jahre und unter den eben erwähnten veränderten Vorzeichen zustande kamen. Die neu geschaffenen Rechtsstrukturen vereinfachten zwar die Schaffung internationaler Organisationen. Die leidvollen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges standen neuen Vernetzungen jedoch lange im Wege. Insbesondere die persönlichen Verbindungen mussten auf breiterer Ebene erst wieder erschaffen werden. Wie mühsam diese Arbeit war, verdeutlichen die Schriften Alice Salomons, deren vorsichtig optimistischer Ton nichts mit der einstigen Euphorie des Comité international gemein hatte. In einem Artikel in der „Deutschen Zeitschrift für Wohlfahrtspflege“ sprach sie sich nach Abwägung der Vor- und Nachteile für verstärkte Teilnahme an der internationalen Vernetzung aus und kam letztlich zu dem Ergebnis, dass die „Entwicklung des Fürsorgewesens im Ausland auch im Interesse Deutschlands“ sei. Vor dem Hintergrund grenzüberschreitender Problemlagen – sie erwähnte die internationale Arbeitslosenbekämpfung, aber auch Seuchengefahren – würde die Schaffung friedlicher Beziehungen zwischen den Ländern eine wichtige Rolle spielen für die Entwicklung von Fürsorge, Wohlstand, Sittlichkeit und Gesundheit. Dementsprechend forderte sie ihre Kollegen auf, die „seit vierzehn Jahren mehr oder weniger ohne Verbindung mit anderen Ländern gewesen“ seien, an den internationalen Bemühungen mitzuwirken.479

476 Dort gab es 5000 Teilnehmer aus 40 Ländern. Die neu geschaffenen Internationalen Organisationen spielten darauf erstmals eine zentrale Rolle. Vgl. auch Blankenburg, Internationale Wohlfahrt, S. 77ff. 477 Aufteilung der Sektionen: 1. Kongress für Städtebau und Wohnungswesen, 2. Kongress für öffentliche und private Armenpflege (Rondel und Gräfin Carton de Wiart), 3. Kinderschutzkongress (Paul Strauss) 4. Kongress für soziale Arbeit. Die Sektion über Soziale Arbeit war die größte und spielte mit Abstand die wichtigste Rolle. Vgl. Kommentar von Salomon und Wronsky über die internationale Konferenz, in denen auch das neue sozialpolitische Verständnis und Kritik an der ‚alten‘ Armenfürsorge deutlich wird. Salomon, Die Internationale Doppelwoche; S. Wronsky, Internationaler Kongreß, S. 255ff. sowie ausführlich in den zwei Kongressbänden: Recueil des travaux du sixième Congrès international d’assistance publique et privée. 478 Vorsitzende: A. Masarykova, Generalsekretäre: Wilhelm Polligkeit und René Sand, Vgl. Première Conférence Internationale du Service Social, Bd. 1. Zwei weitere Konferenzen wurden geplant und umgesetzt, bevor der Zweite Weltkrieg die Bemühungen erneut zum Erliegen brachte, vgl. Blankenburg, Internationale Wohlfahrts, S. 79ff. 479 Salomon, Die Bedeutung internationaler Kongreße, in: Deutsche DZfW 3, 1928, S. 495f.

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Ähnlich sah dies Siddy Wronsky, die ihre Wurzeln ebenfalls im Deutschen Verein hatte und einst von Münsterberg gefördert worden war. Sie verkörperte nicht nur als Person – weiblich, Jüdin, Sozialarbeiterin – sondern auch speziell in ihren Ansichten exemplarisch das neue sozialpolitische Gesamtverständnis der 1920er Jahre, wie abschließendes Zitat verdeutlicht: Nicht mehr der Helfende steht im Mittelpunkt der Gestaltung der Hilfe, und damit verlieren auch die Erwägungen der sittlichen Beeinflussung des Helfers durch die Ausübung der Wohlfahrtspflege an Bedeutung. [...] Diese Entwicklung der Mitbeiligung der Hilfsbedürftigen an der Ausübung der Fürsorge, wie sie in Deutschland durchgeführt ist, stellt einen Schlußpunkt einer Entwicklung dar, die in den meisten anderen Ländern auch begonnen hat und die die stärkste Ausdrucksform der Idee der Gerechtigkeit und der Wertung aller Menschen, auch der 480 Schwachen, in der Gesellschaft darstellt.

6. ZWISCHENERGEBNIS: PHASEN GRENZÜBERSCHREITENDER VERNETZUNG In den bisher untersuchten Bereichen der Armenfürsorge lagen vielfältige Formen internationaler Vernetzungen vor. Zu beobachten ist ein im Untersuchungszeitraum zunehmend dichter werdendes Geflecht von institutionellen und persönlichen Beziehungen. Davon zeugen der intensive Literaturaustausch, persönliche und institutionelle Kontakte, Studienreisen sowie das internationale Kongresswesen. Als ein wesentliches Merkmal kann herausgestellt werden, dass die internationalen Beziehungen eine identitätsstiftende Funktion erfüllten. Insbesondere die internationalen Kongresse waren für eine bestimmte Gruppe von Fürsorgeexperten ein Ort der Repräsentation, beziehungsweise wie es Christophe Prochasson formulierte: „un lieu pour exister“481. Es gehörte zum Duktus einer selbstbewussten Fürsorgefachwelt, internationale Kontakte zu pflegen, Fachwissen auszutauschen, Vorgehensweisen zu vergleichen und gesammelte Daten der Armenfürsorge miteinander in Verbindung zu bringen. Zwischen den Akteuren entstand auf diese Weise ein Gefühl der grenzüberschreitenden Verbundenheit, sie schufen und teilten die gleichen Werte, Leitideen, dieselbe ‚Sprache der Reform‘ und ‚Fürsorgekultur‘. Für eine spezifische Expertengruppe des Armenwesens stellte die internationale Ausrichtung und die Pflege internationaler Austauschbeziehungen auch eine Möglichkeit dar, sich in den Fürsorgedebatten Autorität zu verschaffen. Betrachtet man die einzelnen Entwicklungsabschnitte der internationalen Kooperationsbemühungen, so lassen sie sich idealtypisch in drei Phasen einteilen, in denen sich sehr unterschiedliche Dynamiken entfalteten. Zusammenfassend können einige Grundtendenzen abgeleitet werden.

480 Wronsky, Internationale Kongreß für Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik in Paris im Juli 1928, in: DZfW 4 (1929), 5, S. 229. 481 Prochasson, Les Congrès, lieux de l’échange intellectuel. Introduction, in: Mil neuf cent. Revue d’histoire intellectuelle 7 (1989), S. 5.

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Phase 1: 1880 bis 1900 Es scheint sich zunächst zu bestätigen, dass „grenzüberschreitende Prozesse anderen Raum- und Zeitkonzepten als die Geschichte der Nation“ folgen.482 So bildeten die internationalen Kongresse in den 1850er und 1860er Jahren zusammen mit dem Wiederbelebungsversuch von 1880 in Mailand eine eigenständige Vernetzungsphase, deren Protagonisten auch unabhängig der internationalen Kongresse miteinander in Kontakt standen. Eine direkte Kontinuitätslinie zu den Kongressen Ende des 19. Jahrhunderts gab es jedoch nicht. Ausgangspunkt für die internationale Vernetzung bildete in den Folgejahren einerseits die institutionelle Konsolidierung des Fürsorgeexpertentums auf den nationalen Ebenen, andererseits die internationalen Initiativen einiger herausragender Persönlichkeiten. Kennzeichnend für die Austauschbeziehungen dieser Vernetzungsphase war ihr instrumenteller und konkurrenzbetonter Charakter. Die Fürsorgeexperten verstanden sich in erster Linie als Repräsentanten eines ‚Fürsorgesystems‘, dessen Stärken und Schwächen international gegenübergestellt wurden. Der Vergleich war die bevorzugte Methode einer abstrakten Betrachtungsweise des Armenwesens. Instrumentell waren diese internationalen Vernetzungen deshalb, weil sie den Fürsorgeexperten dazu dienten, eigene Positionen zu entwickeln und argumentativ zu unterstützen. Eine wichtige Wegmarke hin zu einer internationalen Vernetzung der Sozialreformer bildete der Internationale Kongress für Armenpflege 1889 in Paris. Der daraus entstandene Internationalismus ging vorrangig von den Vertretern der französischen assistance publique aus, welche ihn sowohl personell als auch in Bezug auf die verhandelten Themen dominierten. Frankreichs Sozialreformer waren damit sowohl Ausgangspunkt für eine internationale Vernetzung der Fürsorgfachwelt als auch ‚Bremse‘ hinsichtlich der Transnationalisierung von Inhalten. Eine Formalisierung der Beziehungen im Sinne einer permanenten internationalen Institution wurde indes nicht erreicht. Von Seiten der deutschen Fachwelt ging dabei keine Initiative für eine internationale Vernetzung aus und letztlich ist es dem außerordentlichen Interesse einiger weniger Akteure zu verdanken, dass die deutsche Armenfürsorge Anschluss an die bestehenden Ansätze fand. Man kann festhalten, dass die Grundidee einer internationalen Orientierung im Selbstverständnis der Fürsorgeexperten in dieser Phase nur eine nachgeordnete Rolle spielte. Die Partizipation an den internationalen Debatten war vielmehr von Diskontinuität, partieller Wahrnehmung und dem Engagement einzelner Persönlichkeiten geprägt.

482 Herren, Internationale Organisationen, S. 4.

Formen grenzüberschreitender Beziehungen und das internationale Kongresswesen

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Phase 2: 1900 bis ca. 1910 Das Jahr 1900 kann aus zweierlei Gründen als wichtiger Wendepunkt für die internationalen Beziehungen der Fürsorgefachwelt herausgestellt werden. Zum einen erlebte der rasant gestiegene Austausch von konkretem, praxisbezogenem Fachwissen eine neue Qualität und leistete auf diese Weise Vorschub für eine Professionalisierung der internationalen Debattenkultur. Zum anderen entstand ein internationales Sozialreformer-Netzwerk, das von einem neuartigen Selbstverständnis geprägt war. Die Abschwächung der sozialpolitischen Auseinandersetzungen in Frankreich kam der internationalen Vernetzung fürsorgebezogener Fragestellungen zusätzlich zugute. In derselben Zeit endete auch die deutsche Passivität in Bezug auf die internationale Ausrichtung, was insbesondere auch auf Emil Münsterbergs Engagement zurückzuführen ist. Wichtigstes Ereignis für diese zweite Vernetzungsphase war der Internationale Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit 1900 in Paris. Mit der Gründung des Comité international gelang der Durchbruch: Eine permanente Institution wurde auf Grundlage eines international herbeigeführten Konsens geschaffen. Die Rückbindung an die ‚nationalen Sektionen‘ ermöglichte die Stabilisierung der Beziehungen und förderte die Transnationalisierung der Fürsorgedebatten. Die Pflege internationaler Kontakte, die Berufung auf gemeinsame Leitideen sowie der Ausbau des internationalen Wissensaustauschs waren Disktinktionsmerkmale dieser Fürsorgexperten. Das neu geschaffene, grenzübergreifende Gemeinschaftsgefühl vermittelte Exklusivität und setzte zugleich die Wertigkeit der Kategorie ‚Nation‘ spürbar herab. Stattdessen verlieh man der Mission zur Armutsbekämpfung einen universalen Sinn und schuf sich eine gemeinsame Identität, welche die Fürsorgeexperten im Comité international zusammenhielt. Teilweise profitierten auch ‚Außenseiter‘ oder ‚Neulinge‘ der Fürsorgefachwelt – wie z. B. die Vertreter kleinerer Nationen oder in Bezug auf das Deutsche Reich: die Gruppe der Armenpflegerinnen und der katholischen Armenfürsorge – von der reputationsfördernden Funktion der internationalen Beziehungen. Dies geschah allerdings nur, sofern sie sich den moderaten sozialreformerischen Grundpositionen nicht entgegenstellten. Die hier vorliegende Form der internationalen Vernetzungen lässt sich als konstitutiv beziehungsweise in ihrer Wirkung als identitätsstiftend beschreiben. Die internationalen Beziehungen wurden zu einem wichtigen Teil des sozialreformerischen Selbstverständnisses und das dadurch vermittelte und geschaffene Wissen konstitutiver Teil der deutschen und internationalen Fürsorgedebatten. Weitreichender als noch vor 1900 wurden die intellektuelle Interaktion und die aus ihr hervorgehenden Wissenssynthese hervorgehoben. Inzwischen war nicht mehr nur relevant, was man zu einem Kongress hin- oder zurückbrachte, sondern was auf ihm Neues entstehen sollte. Durch das gemeinsame Festlegen und das bestätigende Wiederholen der Fürsorgestandards schuf man die Grundlage für eine gemeinsame ‚Fürsorgekultur‘. Zugleich ging es den Sozialreformern darum, über den Weg der internationalen Vernetzung auf die ‚Fürsorgesysteme‘ und die politischen Entscheidungsträger im eigenen Land Druck ausüben. Letztere ver-

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I. Netzwerke

suchte man stets in das Kongresswesen miteinzubeziehen und durch Resolutionen zu beeinflussen. Phase 3: Transformation um 1910 Zwischen dem Kopenhagener Kongress von 1910 und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zeichnete sich hingegen ein neuer Trend ab, der als eine eigene, dritte Vernetzungsphase beschrieben werden kann. Das internationale Netzwerk rund um das Comité international verlor in diesen Jahren an Anziehungskraft. Dies hing vor allem mit der personellen Struktur und den inhaltlichen Positionen der Reformergemeinschaft zusammen: Nach dem Tod bedeutender Förderer des Netzwerkes versäumte man es, neue Strömungen in Form von jungen Fürsorgeexperten zu integrieren. Stattdessen reproduzierte man die sozialreformerischen Grundpositionen aus der Zeit um 1900, während man die neuen Konzepte, die ein Umwälzen der sozialpolitischen Strukturen zugunsten der Wohlfahrtspflege favorisierten, nur sehr zurückhaltend aufnahm. Unterdessen hatten sich die internationalen Austauschbeziehungen auf anderen Ebenen und Bereichen der Armenfürsorge soweit verselbstständigt, dass man von ausdifferenzierten und punktuell-funktionalen Vernetzungspraktiken sprechen kann. Ihr Bezugspunkt war nicht das personenbezogene, identitätsstiftende Netzwerk des Comité international, dessen Selbstzweck zunehmend unzeitgemäß erschien und in der Kritik stand. An seine Stelle traten stark versachlichte, auf spezialisierte Anliegen bezogene, punktuell-ausgerichtete Vernetzungspraktiken, die im System der Wissensaustausches immer dann eine Funktion erfüllen konnten, wenn es der Inhalte wegen sinnvoll erschien. In der Folgezeit verschob sich der Motor zur Herausbildung der Wohlfahrtspflege und der wissenschaftlichen Sozialarbeit in andere Bereiche und sozialpolitische Gruppierungen, die sich entweder nicht oder in alternativen Netzwerken international verbanden. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges besiegelte schließlich das Ende des internationalen Kongresswesens und mit ihm fast alle Formen der grenzüberschreitenden Kooperation.

II. FACHGEBIETE: ‚AUSLÄNDERFÜRSORGE‘ UND ‚FÜRSORGE DURCH ARBEIT‘ 1. DIE UNTERSTÜTZUNG HILFSBEDÜRFTIGER AUSLÄNDER Bei der Frage nach der ‚Unterstützung hilfsbedürftiger Ausländer‘ handelt es sich um ein internationales Thema per se, sozusagen um ein „traveling problem“ im eigentlichen Sinne.1 Im Gegensatz zur Fürsorge für arbeitsfähige Hilfsbedürftige etwa ist die ‚Ausländerfürsorge‘ ein Thema, das durch seine grenzübergreifende Behandlung erst seine eigentliche Bedeutung erlangte. Die Debatten berührten zugleich grundsätzliche Überlegungen zu Nation, Volk, Grenze und Grenzüberschreitung, welche sich den politischen und gesellschaftlichen Akteuren in der zunehmend nationalstaatlich strukturierten und gleichsam globalisierten Welt aufdrängten.2 Im Folgenden wird es darum gehen, die Problematik der ‚Ausländerfürsorge‘ darzustellen, wie sie sich während des Untersuchungszeitraumes in den internationalen Debatten des Fürsorgeexpertentums widerspiegelte. Zunächst werden die Problemlagen und bestehenden Regelungen aufgezeigt, aus denen heraus die Reformvorhaben formuliert wurden. Nationale Gesetze des Armenrechts spielten ebenso eine Rolle wie die Bestimmungen zur Freizügigkeit und internationale Abkommen. Daraufhin wird der Verlauf der internationalen Debatten nachgezeichnet, wobei insbesondere zwischen den unterschiedlichen Akteuren und Ebenen unterschieden werden muss. Hierfür rücken einmal mehr die internationalen Kongresse in den Blickpunkt: „Aucune question ne saurait, plus que celle relative à l’assistance aux étrangers, retenir l’attention d’un Congrès international.“3 Zu dieser Feststellung gelangte der Generalberichterstatter Drouineau4 auf dem internationalen Fürsorgekongress 1896 in Genf. Im Gegensatz zu anderen Sachverhalten, die nicht zwingend auf einer solchen Tagung besprochen werden mussten, wurde den Verwaltungs- und Fürsorgefachleuten bewusst, dass es hinsichtlich der ‚Ausländerfürsorge‘ ohne eine internationale Gesprächsplattform weder zum Austausch noch zu einer wie auch immer gearteten Verständigung kommen konnte. Den Möglichkeiten der theoretischen Erörterungen und internationalen Kongresse 1 2

3 4

Conrad, Sozialpolitik transnational, S. 442. Vgl. hierzu Chr. Reinecke, Migranten, Staaten und andere Staaten. Zur Analyse transnationaler und nationaler Handlungslogiken in der Migrationsgeschichte, in: Arndt (Hrsg.), Vergleichen, S. 243–267, hier S. 244. G. Drouineau, Rapport sur l’assistance aux étrangers, in: II. Congrès international d’assistance (2. Sektion), S. 1. Gustave Drouineau war Generalsekretär der allgemeinen Verwaltung des städtischen Armenwesens von Paris und einer der wichtigsten Redner auch auf den internationalen Fürsorgekongressen von 1889, 1896 und 1900.

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II. Fachgebiete

waren allerdings auch klare Grenzen gesetzt. Besonders dann, wenn es darum ging, auf die politische Ebene Einfluss zu nehmen. Wie der Sachverhalt letztlich auf diplomatischer Ebene verhandelt wurde, wird anschließend skizziert. Innerhalb der begrenzten Möglichkeiten schufen sich einige Fürsorgeexperten auch alternative Handlungsspielräume und organisierten beachtenswerte, eigenständige internationale Kooperationen. Um solche alternativen Netzwerke wird es im zweiten Abschnitt gehen. 1.1. Hintergründe und Rechtslage Die sozioökonomischen Veränderungen des 19. Jahrhunderts bedingten die Fragestellungen der ‚Ausländerfürsorge‘ in hohem Maße. Wirtschaftliche Wechsellagen und die Durchdringung aller Lebensbereiche durch die Logiken des industriekapitalistischen Marktmodells hatten weitreichende Folgen für die internationalen Migrationsströme. Migrationsbewegungen gab es freilich schon immer, insbesondere in Form von arbeitssuchenden Wandernden. Die Wahrnehmung derselben und die Frage nach einer möglichen Regelung bekamen jedoch vor dem Hintergrund der politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts eine neue Dimension. Im gleichen Zeitraum setzte sich auf der einen Seite der Nationalismus, mit seinem klaren Bekenntnis zu einer genau definierten Staatlichkeit durch, während auf der anderen Seite die Entgrenzung der Absatzund Arbeitsmärkte voranschritt. In dem Maße, wie sich die sozialen Leistungen und Angebote ausweiteten und ausdifferenzierten, lässt sich parallel auch die Nationalisierung dieser Privilegien erkennen.5 Mit der rechtlichen Ausweitung der Freizügigkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts änderte sich die Qualität der Migrationsbewegungen. 6 In dieser Phase stieg besonders in grenznahen Regionen, begünstigt durch die gelockerten Grenzkontrollbestimmungen, die Zahl der wandernden Arbeitssuchenden. Für Deutschland gilt jedoch, dass der größte Teil der Migration zunächst innerhalb der Reichsgrenzen stattfand. Hinzu kamen Arbeitsuchende aus Belgien, der Schweiz, Polen und auch Italien, die im Deutsch Reich ihr Glück als Saisonarbeiterinnen und -arbeiter suchten. Sie selbst lebten in ökonomisch schwachen Regionen und profitierten von den Regelungen. Viele arbeiteten, schickten Geld nach Hause und

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6

Vgl. einführend und zu den Hintergründen von Migration und Wirtschaftsentwicklung K. J. Bade, Arbeitsmarkt, Ausländerbeschäftigung und Sicherheitspolitik: Auslandsrekrutierung und Inlandsvermittlung ausländischer Arbeitskräfte in Preußen vor dem Ersten Weltkrieg, in: J. Oltmer (Hrsg.), Migration steuern und verwalten, S. 59–84; Bommes/Halfman (Hrsg.), Migration in nationalen Wohlfahrtsstaaten sowie S. Hahn, Historische Migrationsforschung, vor allem S. 152ff. Vgl. ferner Althammer, Armut und Fremdheit, in: Raphael (Hg.), Zwischen Ausschluss und Solidarität, S. 277–309 und Reinecke, Migranten, Staaten und andere Staaten, S. 249. Im Deutschen Reich galt seit 1871 ein gemeinsames Indigenat. Zu den Hintergründen vgl. Torpey, The Invention of the Passport.

‚Ausländerfürsorge‘ und ‚Fürsorge durch Arbeit‘

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reisten danach wieder in ihre Heimatgemeinden zurück, manche blieben auch.7 Vorbehalte der Gemeinden gegenüber den Migrationsströmen gab es anfangs vor allem in dem Rahmen, in dem man sich generell über den plötzlich auftretenden, ausufernd erscheinenden und finanzielle Belastungen hervorrufenden Zustrom fremder Arbeitskräfte Sorgen machte, ganz gleich, woher sie kamen. So unterschied man oftmals auch nicht explizit zwischen Wanderbewegungen innerhalb oder über Nationsgrenzen hinaus. Die Wahrnehmung von Migranten war in erster Linie davon gekennzeichnet, dass es sich um Ortsfremde handelte, die sich aus wirtschaftlichen Gründen veranlasst sahen, ihre Heimatgemeinde zu verlassen und in ein fremdes Territorium zu wandern. Statistisch ohnehin schwer erfassbar, sahen die Behörden in Migration zunächst eine wirtschaftsbezogene Entwicklung, der unmittelbar sicherheitspolitische Erwägungen folgten. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts kamen, mit Beginn der in viele Lebensbereiche greifenden Konstruktion des ‚Nationalen‘ und mit Unterstützung der Definitionen schaffenden und autoritativ-legitimierenden Sozialwissenschaften, neue Bewertungen hinzu, die sich auf ethnische, historisch-kulturelle, sprachliche und zuletzt nationsstiftende oder nationalistische Überlegungen bezogen.8 Damit änderte sich – nicht in Form einer abrupten Kehrtwende, wohl aber in der Tendenz – das Konzept von Migration um die Jahrhundertwende. Es begann die Zeit, in welcher die (fremde) Nationalität der Migranten als konzeptuelle Grundlage an Konturen gewann.9 Während die Anwesenheit ‚Fremder‘ immer wieder als ein Risiko für die Sicherheit der Ortsansässigen und im Falle der Verarmung als Belastung empfunden wurde, erhielt dieses spezifische Phänomen durch die Unterscheidung von ‚Inländern‘ und ‚Ausländer‘ eine neue, nationsbezogene Deutungsebene und schürte zusätzliche Bedrängungsängste hinsichtlich der territorialen und kulturellen Integrität. Umgekehrt interessierten sich die Nationalstaaten zunehmend auch für den Verbleib ihrer Staatsangehörigen, wenn sich diese im Ausland befanden. Damit begannen die Schutzpolitik und die für diese Untersuchung relevante Frage nach der Verarmung und Armenunterstützung. Wie wurde mit verarmten oder anderweitig unterstützungsbedürftigen ‚Reichsausländern‘ – und entsprechenden Angehörigen des Deutschen Reiches im europäischen Ausland – umgegangen und wie beriet man darüber international? Aussagekräftige Zahlen gibt es wenige. Migrationsbewegungen wurden allgemein 7 8

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Wimmer/Schiller, Methodological Nationalism and Beyond, S. 312f. Zu diesem Ergebnis kommen sowohl Althammer/Gestrich, Normen und Praktiken der Ausweisung, in: Raphael/Uerlings (Hrsg.), Zwischen Ausschluss und Solidarität, S. 379–406, als auch Wimmer/Schiller, S. 313f. Vgl. insbesondere ebd., S. 314: „It was in the context of this competition and of the salience of ideas about nation and race that nation-state builders, including elites, political leaders, state officials and intellectuals, initiated systematic efforts to erase, deny or homogenize the internal cultural and national diversity that existed within all the industrializing states of Europe and the Americas.“ Diese Beobachtung wurde auch im Deutschen Verein gemacht: „Neben diesem Zug der wirtschaftlichen Freiheit geht mit unverkennbarer Deutlichkeit nebenher [...] ein nicht minder deutlicher Zug des Nationalitätsprincips, d. h. also gewissermaßen in kosmopolitischer Hinsicht ein Zug zur Einschränkung, zur Abgrenzung gegeneinander.“ SDV 40 (1898), S. 10.

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II. Fachgebiete

schlecht und wenn dann meist ohne Rücksicht auf die Nationalität der Migrierenden erfasst, so dass in den Armenstatistiken selten Differenzierungen anzutreffen sind.10 Entscheidend war wohl die Wahrnehmung und Deutung des Problems in den betroffenen Gemeinden, sowohl in der Presse als auch in der Fachliteratur zur Armenfürsorge. Wie auch andere Fragen hinsichtlich des Armenwesens blieben die gesetzlichen Bestimmungen vage. Ihre Interpretation beziehungsweise ihre Durchführung oblag den Kommunen, wodurch sich naturgemäß ein sehr unterschiedlicher und uneinheitlicher Umgang mit den verarmten Zuwanderern ergab.11 Unabhängig eines mehr oder wenig anerkannten „Gebots der Menschlichkeit“12 trafen die reichsgesetzlichen Bestimmung des Unterstützungswohnsitzes13 und des Gothaer Vertrages14 auf alle Hilfesuchenden zu, ganz gleich welcher Herkunft oder Nationalität. Es sei an dieser Stelle betont, dass der Begriff ‚Ausländer‘ im Folgenden bewusst in dem Sinne gebraucht wird, wie er im Untersuchungszeitraum als Terminus technicus Verwendung fand: Demnach war ein ‚Ausländer‘ – stets vom Standpunkt des Geltungsbereiches des Unterstützungswohnsitzes aus betrachtet – eine Person, welche keinem Bundesstaat angehörte, in dem das Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz Gültigkeit besaß. Ein ‚Ausländer‘ war in diesem Sinne nicht ein ‚Nicht-Deutscher‘, sondern konnte – beispielsweise aus preußischer Sicht – auch eine Person aus Bayern, ElsassLothringen oder Helgoland sein.15

10 Laut Alfred Olshausen, der sich auf den Zensus von 1900 bezog, waren 1,38% (778.000 Personen) der Gesamtbevölkerung Ausländer. Die Zahl beinhaltete auch diejenigen Personen, die aufgrund der verschiedenen Armengesetzgebungen ebenfalls als Ausländer galten (Bayern, Elsass-Lothringen). Olshausen selbst machte auf die Ungenauigkeit der Zahlenwerte aufmerksam. Vgl. A. Olshausen, Fürsorge für Ausländer in Deutschland, in: SDV 69 (1904) und SDV 71 (1904), S. 83ff. 11 Vgl. hierzu Althammer/Gestrich, Normen, in: Raphael/Uerlings, S. 379–406. 12 Olshausen, Fürsorge für Ausländer, in: SDV 71 (1904), S. 83. 13 Nach dem Erwerb des Unterstützungswohnsitzes (nach zwei, ab 1905 nach einem Jahr) konnten Bedürftige auch außerhalb ihrer Heimatgemeinde Unterstützung beantragen. Vorläufige Unterstützung musste auch vor dieser Frist gewährt werden, sofern eine Prüfung der Bedürftigkeit diese rechtfertigte. Über die Bestimmungen des Unterstützungswohnsitzes vgl. Reidegeld, Armenpflege und Migration, in: Bommes/Halfmann (Hg.), S. S. 253–282 und Sachße/Tennstedt, Sozialpolitik vor dem Sozialstaat, S. 205–222. 14 Zu den Verhandlungen und Bestimmungen vgl. D. Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen, S. 153ff. 15 Dies änderte sich mit der Ausweitung des Unterstützungswohnsitz-Gesetzes auf ElsassLothringen 1908, Helgoland 1909 und Bayern 1913. Zur Definition von ‚Ausländer‘ siehe Olshausen, Fürsorge für Ausländer, in: SDV 69 (1904), S. 3. Konsequenterweise müsste im Folgenden nicht von ‚Inländern‘ und ‚Ausländern‘, sondern von einer ‚Person aus dem Gültigkeitsbereich bzw. außerhalb des Gültigkeitsbereiches des UnterstützungswohnsitzGesetzes‘ gesprochen werden. Da die Begriffe ‚Inländer‘ und Ausländer‘ in der Literatur selbst schon in diesem Sinne differenziert benutzt und oftmals mit Anführungszeichen versehen wurden, werden sie daran angelehnt auch hier so verwendet. Diese Form des Gebrauchs berücksichtigt zugleich den Aspekt der Leserlichkeit. Aus diesem Grund wird auch auf die feminine Form verzichtet.

‚Ausländerfürsorge‘ und ‚Fürsorge durch Arbeit‘

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Dem Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz nach konnte nach zweibeziehungsweise seit der Novelle des Gesetzes von 1905 nach einjährigem Aufenthalt in einer Gemeinde eben dieser erworben werden. Damit wurde die Möglichkeit zur Beantragung öffentlicher Armenhilfen geschaffen. Die vorläufige Hilfe eines Unterstützungsbedürftigen konnte nach eingehender Prüfung bei demjenigen Ortsarmenverband gewährt werden, wo sich die Hilfsbedürftigkeit einstellte. Auch in diese Regelung waren gleichermaßen ‚Inländer‘ wie ‚Ausländer‘ eingeschlossen. Es gab in dieser Frage also eine generelle Gleichstellung, wenngleich sich das Hilfsangebot nur auf die Fürsorgeeinrichtungen der Armenpflege im engeren Sinne bezog.16 Die Versorgung eines ausländischen Unterstützungsbedürftigen dauerte wie bei Inländern in der Regel bis zur Beendigung der Hilfsbedürftigkeit oder bis die Unterstützungsleistungen aus fürsorgetechnischen Überlegungen heraus verweigert wurden. Dann traten die Bestimmungen der Rückführung in Kraft, die eine Abschiebung beziehungsweise Ausweisung bedeutete. Seit der in Deutschland geltenden Gothaer Konvention von 1851 und dem Freizügigkeitsgesetz hatte jeder Staat die Pflicht, Auszuweisende bis zur Übernahme wie Inländer zu versorgen.17 Es gab zwar keine allgemeinen internationalen Rechtsbestimmungen, jedoch einige explizite Staatsverträge zwischen dem Deutschen Reich und anderen europäischen Staaten, darunter Österreich-Ungarn, Belgien, Dänemark, Italien und der Schweiz. Je nach Abmachung wurden zum Beispiel die Unterstützung von Verarmten, die Verpflegung von Erkrankten, die Beerdigung verstorbener Angehöriger beidseitig versichert. Die staatsvertraglichen Bestimmungen verpflichteten die Staaten wiederum, im Falle einer Ausweisung ihre Angehörigen wieder zu übernehmen18 – eine solche Mindestabmachung, welche den Transport und die Verpflegung beinhaltete, gab es auch mit Frankreich und Russland, aber – zum Vorteil des Deutschen Reichs – nicht mit England und den USA. Eine gegenseitige Kostenerstattungsverbindlichkeit lag hingegen in keinem der Fälle vor.19 1.2. Streitpunkte Auf Grundlage dieser partiellen und oftmals vage gehaltenen Bestimmungen sowie vor dem Hintergrund der gestiegenen Mobilität in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die zwangsläufig vermehrt zu Verarmungs- und Krankheitsfällen von Migranten auf fremdem Staatsgebiet führte, entbrannte im Kreis der Fachexpertise eine internationale Debatte zum Thema der ‚Ausländerfürsorge‘. Darin standen die Anerkennung und Unterstützungsverpflichtung von heimatfremden 16 Olshausen, Fürsorge für Ausländer, S. 104. 17 Diese Regelung war vor allem vor dem Hintergrund des ‚Reichsauslandes‘ Bayern und Elsass relevant. 18 Zum „Verhältnis zum Auslande“ vgl. A. Buehl, Das Armenwesen, in: T. Weyl (Hrsg.), Soziale Hygiene, S. 238. 19 „Öffentliche Fürsorge für Ausländer“, in: Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 1, S. 292ff.

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Bedürftigen sowie der in den Staatsverträgen vorgeschriebene Gleichbehandlungsgrundsatz zu keinem Zeitpunkt zur Diskussion. Streitpunkte gab es dennoch viele. Ein zentrales Problem betraf die konkrete Umsetzung der bestehenden Regelungen. Die Fürsorgepraxis divergierte bereits innerhalb des Deutschen Reiches in beträchtlichem Maße. Selbst wenn die Gleichbehandlung als Grundsatz bestand, wurde von den Kritikern hervorgehoben, dass sie auf lokaler Ebene keineswegs ausgeführt wurde. Die Armenbehörden vollzogen die Fürsorgepraxis weitgehend autonom und da es lediglich eine Fürsorgepflicht, jedoch keinen Rechtsanspruch auf Seiten der Unterstützungsbedürftigen oder wie im Falle des Deutschen Reiches keine Aufsicht über die Verwaltung gab, gestaltete sich der Fürsorgealltag höchst uneinheitlich. Neben der finanziellen Situation bestimmten oftmals die lokal gefärbten Verwaltungspraktiken den Umgang mit Armen beziehungsweise mit verarmten Zugewanderten.20 Wenn also von den Fürsorgeexperten die Unterstützung Aller zu den gleichen Konditionen gefordert wurde, so betraf dieser Appell eine grundsätzliche Kritik an bestimmten lokalen beziehungsweise ausländischen Fürsorgepraktiken. Umso größer die Unterschiede zwischen den einzelnen ‚Fürsorgesystemen‘ waren, desto größer schien die Sorge, dass den verarmten Migranten nicht wirklich oder eben auf eine Art und Weise geholfen wurde, die nicht den Fürsorgestandards der Heimatgemeinde – oder dessen Ideal – entsprachen. Wie sollte beispielsweise einem verarmten Deutschen in Frankreich Hilfe zuteilwerden, wenn das öffentliche französische Armenwesen nicht von obligatorischer Natur war? Einen anderen Streitgegenstand bildeten die uneinheitlichen Abschiebemodalitäten. Im Deutschen Reich hatten die verhältnismäßig liberalen Bestimmungen des Unterstützungswohnsitzes keineswegs dazu geführt, dass die Abschiebung unerwünschter Personen zurückgegangen wäre – hierzu bot das Gesetz zu viel Spielraum. Die Folge war, dass vielen Ausländern dennoch die Abschiebung drohte, insbesondere dann, wenn sie innerhalb der Zwei- beziehungsweise ab 1905 der Ein-Jahresfrist verarmten oder sich eine längerfristige Bedürftigkeit abzuzeichnen schien. Eine solche Praxis ist vom deutsch-belgisch-holländischen Grenzgebiet dokumentiert: Die Wanderbewegungen von Arbeitssuchenden ohne Dokumente und finanzielle Mittel hatten zur Überlastung der Fürsorgeeinrichtungen und zu regelmäßigen Abschiebeverfahren auf beiden Seiten geführt, ohne dass die Provinzialverwaltungen Einfluss nehmen konnten.21

20 Beispiele zum Umgang mit fremden Armen finden sich in: Althammer/Gestrich, Normen, in: Raphael/Uerlings (Hrsg.), Zwischen Ausschluss und Solidarität, S. 379ff. Über lokalen Interessen, Finanzierungsfragen und Ausweisungspraktiken als sozialdisziplinierende Maßnahme vgl. Gestrich, Trajectories of German Settlement Regulations, in: King/Winter (Hrsg.), Migration, Settlement and Belonging, S. 251–268. 21 „Wanderarmenwesen an der Landesgrenze“, in: Der Wanderer 31 (1914), S. 46. Zur Geschichte von Migration zwischen Holland und Deutschland sowie die daraus resultierenden Problemlagen und Zuwanderungsregelungen (mit weiterführender Literatur) vgl. Reinecke, Migranten, Staaten und andere Staaten, in: Arndt (Hrsg.), Vergleichen, S. 248f.

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Wer sollte die Ausweisung und Rückführung eines ausländischen Bedürftigen organisieren, wie sollte sie vonstattengehen und wer sollte die Kosten dafür tragen? Wo sollten die Abgeschobenen nach der Rückführung aufgefangen werden? Die hierfür abgeschlossenen bilateralen Staatsverträge – sofern es welche gab – waren nach Ansicht der Fürsorgeexperten unzureichend und führten immer wieder zu diplomatischen Auseinandersetzungen. Als Hauptgrund kann angeführt werden, dass die bisherigen Verträge ihren Schwerpunkt nicht auf die gegenseitige Fürsorgeverpflichtung, sondern auf die Autonomie bei der Ausgestaltung des jeweiligen ‚Fürsorgesystems‘ legten.22 In diesen Kontext ist die Forderung zu verstehen, einerseits diese – an sich anerkannte, aber kaum durchgesetzte – Fürsorgeverpflichtung im Sinne des Gleichbehandlungsgrundsatzes zu verklausulieren und andererseits über ein einheitliches internationales Abkommen vor allem die heiklen Finanzierungs- und Rückerstattungsfragen zu klären, welche einer solchen internationalen Verständigung im Weg standen. Ein weiteres Problem betraf die durchreisenden Bettler und sogenannten Vagabunden, welche grundsätzlich von den Regelungen nicht erfasst wurden. Die generell sehr umstrittene Frage nach dem Umgang mit Bettlern und ‚Vagabunden‘ gewann durch die grenzüberschreitende Zuwanderung zusätzlich an Brisanz. Als direkte Folge blieben die polizeiliche Ab- und Ausweisungsbestimmungen trotz der Freizügigkeitsgesetze erhalten und wurden besonders bei dieser unbeliebten Klientel praktiziert. Das Verbot der Niederlassung konnte als Vorsichtsmaßnahmen gerechtfertigt werden und hatte im Falle einer Verurteilung des Tatbestandes der Landstreicherei auch eine Rechtsgrundlage. Es sind darüber hinaus auch viele Fälle von Ausweisungen ohne Ortszuweisung dokumentiert.23 Die Vielzahl an Bestimmungen, die unterschiedlichen lokalen Verwaltungspraktiken, das zunehmende nationalstaatliche Regulierungsbedürfnis und nicht zuletzt das Fehlen einer verbindlichen internationalen Rechtsgrundlage führten unter den Fürsorgeexperten seit den 1890er Jahren zur verstärkten Behandlung des Problems.

22 Vgl. Reitzenstein, Die Armenfürsorge für Ausländer, S. 47. 23 Vgl. Althammer/Gestrich, Normen, S. 389f. Auf die interessante Frage nach den lebensweltlichen Bedingungen von Migranten und der kulturwissenschaftliche ‚Blick von Unten‘, also die Betrachtung der Betroffenen sowie und die daran anschließenden Überlegungen zu sozialer Inklusion und Exklusion kann hier nicht weiter eingegangen werden, da sie den Untersuchungsrahmen sprengen würden. Es sei auf die Arbeiten des Trierer Sonderforschungsbereiches (SFB 600) verwiesen.

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1.3. Debattenverlauf 1880–1910 1.3.1. Die Anfänge der Auseinandersetzung und die internationalen Kongresse von 1896 und 1900 Die spezifischen Überlegungen über die ‚Ausländerfürsorge‘ spielte in den (kontinental-) europäischen Fachdebatten der Armenfürsorge lange keine größere Rolle. Das Thema wurde nur im Rahmen größerer Fragestellungen berührt, vor allem wenn es um den Unterstützungswohnsitz und die Behandlung von Arbeitssuchenden, Wandernden und ‚Vagabunden‘ ging. Die Meinung der Fürsorgefachleute war daher lange von der Ansicht geprägt, dass es in erster Linie darum gehen müsse, das die Armenfürsorge als ganze „mehr und mehr zu einem System“ zu gestalten sei, wodurch sich die Regelung für hilfsbedürftige Ausländer „hinreichend erklären“ würden.24 Es liegt auf der Hand, dass für die USA anderes galt. Dort gab es viele fachliche und auch öffentliche Kontroversen über die Regulierung, Versorgung und präventive Ausweisung von Migranten.25 Ende des 19. Jahrhunderts gewann das Thema der ‚Ausländerfürsorge‘ allerdings auch in Kontinentaleuropa rasch an Bedeutung, was direkt auf das Aufkommen des internationalen Kongresswesens und die internationale Vernetzung der Fürsorgeexpertise zurückzuführen ist. Während im Auswärtigen Amt auf Grundlage der bestehenden Staatsverträge lediglich über Einzelfälle verhandelt wurde und sonst keine fachliche oder politische Auseinandersetzung mit der ‚Ausländerfürsorge‘ stattfand, waren es eben jene international vernetzten Anhänger der Sozialreformbewegung, die dem Thema Gewicht verliehen.26 Casimir-Périer sagte dazu auf dem Kongress 1900 in Paris: Nous ne sommes pas seulement un Congrès international par ce fait que nous réunissons ici des représentants des différentes nations, nous sommes au premier chef un Congrès international par la nature même des questions que nous traitons, et tout ce qui trouble, tout ce qui 27 émeut la conscience humaine, ne peut que trouver ici un écho profond et durable.

Welche andere Frage wäre ‚ihrer Natur nach‘ prädestinierter für eine internationale Behandlung gewesen als die der ‚Ausländerfürsorge‘? Sie konnte es den Sozialreformern ermöglichen, sich international Gehör zu verschaffen und sie half ihnen auch bei dem Versuch, Einfluss auf die politische Ebene auszuüben. Entsprechend war das Jahr 1900 mit der Einrichtung des dauerhaften internationalen Kongress24 Reitzenstein, Die Armenfürsorge für Ausländer, in Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Statistik 28 (1895), 1, S. 1. 25 Auf den National Conferences of Charities and Correction waren ‚Immigration and Migration‘ ein Dauerthema, vgl. hierzu die in regelmäßig Abständen publizierten Proceedings of the National Conference of Charities and Correction. 26 Verschiedene Fälle der internationalen diplomatischen Verhandlungen des Auswärtigen Amtes über die Rücksendung ausländischer Hilfsbedürftiger oder den Rücktransport verarmter Deutscher aus dem Ausland sind im Bundesarchiv dokumentiert: BArch R 901 / 74627, Akten betreffend: die Unterstützung bzw. Heimschaffung hilfsbedürftiger und armer deutscher Staatsbürger aus dem Ausland und umgekehrt. 27 Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 1, S. 378

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wesens auch für dieses Thema eine wichtige Wegmarke, denn das Comité international erklärte die ‚Fürsorge für Ausländer‘ zu einer ihrer wichtigsten Fragestellungen. Das ‚Auffinden‘ des Fachgebiets durch die Fürsorgeexperten, der Verlauf der Debatte und wie es allmählich zur Miteinbeziehung politischer Kreise kam, kann anhand der internationalen Kongresse skizziert werden. Es wird deutlich, dass sich ganz ähnliche Dynamiken abzeichneten, wie sie bei der Entwicklung des internationalen Kongresswesens und der internationalen Vernetzungsarbeit auftraten. Die Geschichte der ‚Fürsorge für Ausländer‘ ist in dieser Phase eng mit der internationalen Sozialreformer-Gemeinschaft rund um das Comité international verbunden. Erstmals zur Sprache kam das Thema auf dem Kongress 1889. Dort war es zunächst um die Funktionsweise des Heimatrechts und den Unterstützungswohnsitz in unterschiedlichen Ländern gegangen. In der Abschlussdiskussion erläuterten der russische Staatsberater Raffalovich, der Franzose Le Roy und der Österreicher Kunwald die Vorzüge und Nachteile der jeweiligen Rechtsgrundlagen.28 Deutsche Vertreter waren auf dem Kongress 1889 von Paris nicht eingeladen worden, dennoch bezogen sich die Referenten häufig vergleichend auf das deutsche System des Unterstützungswohnsitzes. Eher beiläufig kam dabei zur Sprache, dass es sich bei Bedürftigen auch um zugwanderte Ausländer handeln könnte. So berichtete ein Beobachter von vielen bedürftigen ‚Ausländern‘ in Nizza und über die Schwierigkeit, dem Problem gerecht zu werden. Henri Derouin, Generalsekretär der öffentlichen Armenpflege in Paris, fügte hinzu, dass es die gesetzliche Grundlage ermöglichen müsste, ihnen den nationalen Wohnsitz (domicile nationale) zuzusprechen, damit sie Hilfeleistungen beanspruchen könnten.29 Ganz ähnlich hieß es in der Abschlusssitzung der Dritten Sektion (über öffentliche Kinderfürsorge), wo der französische Staatssekretär Dreyfus-Brissac feststellte, dass es zwar seit 1851 ein Gesetz gab, das Hilfeleistungen auch für erkrankte ‚Ausländer‘ vorsah. Dieses sei jedoch nur in der Theorie der Fall, woraufhin der rumänische Delegierte Severeano den Wunsch äußerte, einen internationalen Kongress auszurichten, um über diese wichtige Frage weitergehend zu beraten.30 Die allgemeine Unkenntnis und Unsicherheit bezüglich der rechtlichen Handlungsgrundlagen führte im Anschluss an den Kongress zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema in der Société internationale. Da die Sachlage weder im Ausland noch in Frankreich selbst bekannt war, beauftragte die Société internationale eine Kommission eigens zur Zusammenstellung der nationalen und international gültigen Bestimmungen. Gutachter und Fachleute wurden damit beauftragt, die Regelungen und Praktiken der ‚Ausländerfürsorge‘ in den verschiedenen Län-

28 Vgl. die Beiträge der ersten Sektion in: Congrès international d’assistance 1889, Bd. 2, S. 5ff. 29 Ebd., S. 43f. 30 Ebd., S. 186.

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dern zusammenzutragen und für den kommenden Kongress 1896 in Genf aufzuarbeiten, so dass das Thema dort abschließend behandelt werden könnte.31 Wie bereits verschiedentlich festgestellt wurde, gingen die Impulse zur internationalen Beschäftigung mit Fragen der Armenfürsorge zunächst von den französischen Sozialreformern aus. Das deutsche Kommissionsmitglied Reitzenstein erfüllte zwar die an ihn herangetragene Aufgabe mit viel Sorgfalt und warb im Deutschen Verein für eine breitere Wahrnehmung und Partizipation an den internationalen Debatten und Kongressen. Seine Bemühungen hatten aber zunächst wenig Erfolg. Vermutlich aufgrund seiner Erkrankung konnte er an dem Kongress 1896 in Genf nicht teilnehmen und damit blieb die deutsche Fachwelt erneut unterrepräsentiert. Reitzensteins Ausarbeitung wurde zwar in den Annalen des Deutschen Reichs und im Bulletin de la Société internationale pour l’étude des questions d’assistance publiziert.32 Die ‚Ausländerunterstützung‘ wurde aber weder im Deutschen Verein noch in anderen Fachpublikationen weiter besprochen.33 Reitzenstein selbst verwies auf den „völkerrechtlichen Charakter“ der Thematik und die Schwierigkeit, an geeignetes Material heranzukommen, wenn sich die Fachleute nicht entsprechend untereinander und mit den Behörden vernetzen würden.34 Ein erster Schritt dahingehend wurde auf dem Genfer Kongress 1896 unternommen. Zum ersten Mal wurde das Thema ausführlich auf internationaler Ebene angesprochen und die angrenzenden strittigen Fragen thematisiert. Zu jeder der zu behandelnden Kongressfragen – über öffentliche und private Fürsorge, Organisation von Wohltätigkeitsbüros sowie medizinische und hygienische Versorgung – wurde zusätzlich eine Sektion eingerichtet, welche die Sachlage für ausländische Unterstützungsbedürftige erörterte.35 Die Sektionsberichte über die ‚assistance aux étrangers‘ kamen von Drouineau (Frankreich), Iselin (Schweiz) und Raimondo Rossi (Italien) und wurden positiv aufgenommen, da sie einen Überblick über die rechtlichen Grundlagen bereitstellten sowie die Defizite bei der praktischen Anwendung der ‚Ausländerfürsorge‘ verdeutlichten. Die Bestandsaufnahme zeigte, dass alle Staaten aufgrund der internationalen Verträge zur Unterstützung hilfsbedürftiger Ausländer grundsätzlich verpflichtet waren. Die Versorgungs-

31 Reitzenstein berichtete im Deutschen Verein über die Kommission, um „eine systematische die verschiedenen Völker umfassende Bearbeitung des Gegenstandes zu erm̈glichen“, vgl. SDV 15 (1891), S. 16 und Reitzenstein, Die Armenfürsorge für Ausländer, S. 4. 32 Reitzenstein, Die Armenfürsorge für Ausländer, in: Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Statistik 28 (1895), 1, S. 1–49 bzw. ders., L’assistance des étrangers en Allemagne, in: Bulletin de la Société internationale pour l’étude des questions d’assistance (1893). 33 Lediglich in der Zeitschrift Sociale Praxis findet sich eine Ankündigung des Kongresses in Genf 1896 und der Hinweis, dass das Thema der ‚Ausländerfürsorge‘ behandelt würde, vgl. Sociale Praxis (1895), 1, S. 25f. sowie 27, S. 760. 34 Reitzenstein, Die Armenfürsorge für Ausländer, S. 3f. 35 Alle Berichte sind in: II. Congrès international d’assistance abgedruckt, allerdings ohne durchlaufende Seitenangaben.

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pflicht war, wie Drouineau betonte, eine staatliche Aufgabe, auch wenn sie von Einzelstaaten oder Kommunen ausgeführt werden musste.36 Die Beschlüsse des Kongresses sahen vor, dass eben diese rechtlich vereinbarte Versorgungspflicht eingehalten und konsequent umgesetzt werden sollte, denn man wusste, dass die praktische Handhabung diesem Anspruch weit hinterherhinkte. Im Wesentlichen forderten sie ein schnelleres und unbürokratisches Vorgehen bei der Hilfe für verlassene oder verwaiste Kinder: Sie sollten entweder rasch an ihre Familien überführt oder in eine Anstalt aufgenommen werden. Was kranke, alte und andere arbeitsunfähige Personen anbelangte, so sollte nach Ansicht der Berichterstatter eine schnellere Abschiebung vollzogen werden, während arbeitsfähige Personen in Not den entsprechenden armenfürsorglichen Maßnahmen zugestellt werden müssten, bis sie sich wieder selbstständig versorgen könnten. Im Zentrum aller Überlegungen standen also die Einhaltung und Durchsetzung der bestehenden Rechtsgrundsätze, also die geordnete Rückführung und die Forderung, bis zum Zeitpunkt der Übernahme durch den Heimatstaat eine gleichwertige Fürsorge zu gewährleisten.37 Dabei gelang weder die Klärung der heiklen Frage der Kostendeckung zu einer Spezifikation – es blieb bei der umstrittenen Regelung, dass die Kosten vom auszuweisenden Staat selbst und alleine getragen werden mussten – noch der Frage danach, wie man die gestellten Anforderungen tatsächlich umzusetzen gedachte. Darüber hinaus wurden in den folgenden Jahren die Beschlüsse immer wieder dahingehend kritisiert, dass sie die Ausländerunterstützung allein den einzelnen Staaten überließen. In den Diskussionen wurde diese Fürsorgepflicht immer wieder relativiert und von einigen Rednern die Gründung und Förderung von staatlich subventionierten Hilfsvereinigungen zum Schutz verarmter Ausländer eingefordert.38 Hier divergierte das Votum der Hauptsitzung des Genfer Kongresses mit dem der Sektionsarbeit, was im Nachhinein auf die fehlende Kongressstruktur zurückgeführt wurde, die keine klare Kompetenzverteilung und Beschlussfähigkeit festgelegt hatte. Dass eine Kongressresolution in dieser Frage überhaupt zu neuen internationalen Abkommen führen könnte, wurde vom zurückhaltenden Drouineau prinzipiell in Frage gestellt. Er konstatierte, dass die Unterschiedlichkeit der ‚Fürsorgesysteme‘ und die Wahrung nationaler Interessen stets über der Lösung von humanitären Fragen lägen.39 Es wird deutlich, dass sich die internationale Debatte zu diesem Zeitpunkt noch am Anfang befand. Dabei wurde die ‚Fürsorge für Ausländer‘ erstmals generell als ein wichtiges, internationales Thema anerkannt und ausländische Bedürftige als eine speziell zu schützende Gruppe definiert. Auf dem Kongress in Genf wurde nicht nur die Bedeutung der internationalen Kooperation hervorgehoben, 36 Drouineau, Rapport sur l’assistance aux étrangers, in: II. Congrès international d’assistance. Vgl. auch die Kongressdebatten II. Congrès international d’assistance, S. 38ff. (erster Teil des Bandes). 37 Vgl. Ebd., S. 38ff. sowie RP VII (1905), S. 404. 38 Vgl. ebd. sowie die Beiträge über „L’assistance aux étrangers“, in: RP XIII (1903), S. 141– 162 und RP XVII (1905), S. 105ff. sowie RP XXXII (1913), S. 468ff. 39 II. Congrès international d’assistance, S. 91f.

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sondern insbesondere auch immer wieder herausgestellt, dass den öffentlichen ‚Fürsorgesystemen‘ eine besondere Verantwortung zufällt: Le but d’un Congrès international est justement d’établir une assistance internationale; sans elle, il n’y a aucune responsabilité. C’est la société qui est responsable de l’état social actuel; c’est elle qui doit venir en aide aux malheureuses victimes de cet état social; Les sociétés particulières passent, les états restent; ce sont eux qui doivent pourvoir à l’assistance de leurs na40 tionaux.

Man rückte damit von der Ansicht ab, dass Armenfürsorge ein rein auf nationale Belange bezogenes Aufgabengebiet sei und eröffnete eine Kontroverse über den Umgang mit ausländischen Hilfsbedürftigen. Die Diskussionen waren allerdings vor allem fachjuristischer Natur und in ihnen kam eine skeptische Haltung zum Ausdruck, was die konkrete Verbesserung der Lage von ausländischen Verarmten anbelangte. Auf dem Kongress 1900 in Paris geschah dann, was für die Weiterentwicklung der Debatte notwendig geworden war: Es wurde ein dauerhaftes internationales Netzwerk gegründet, das nicht nur hinsichtlich der Sachfragen eine Annäherung bewirkte, sondern auch im Sinne einer transnationalen Vereinigung eine auf gemeinsamen Leitideen basierende Diskussions- und Austauschplattform schuf. Der Kongress von 1900 war damit auch wegweisend für eine neue Art und Weise, über die ‚Ausländerfürsorge‘ zu beraten. Im Gegensatz zum Kongress von 1896 wurden die Sektionsarbeit und die Generalversammlungen zusammengeführt, so dass gemeinsam erarbeite Resolutionen formuliert werden konnten. Die Frage der ‚Ausländerfürsorge‘ hatte zwar keine eigenständige Sektion, wurde jedoch in der dritten Sektion (‚Fürsorgeeinrichtungen für würdige Bedürftige‘) behandelt. Dort hielt Derouin, der Vizepräsident der Société internationale, einen Vortrag über „L’assistance aux étrangers. Étude des bases d’ententes internationales“.41 Er knüpfte darin inhaltlich an die ersten Beratungsversuche von 1896 an und setzte sich wiederholt für eine stärkere Kontrolle darüber ein, dass Fremde generell in allen Ländern die Unterstützung erhalten sollten, die sie dringend benötigten. Er betonte, dass Emigration eine Normalität und für viele Menschen sogar eine Notwendigkeit („l’émigration est une nécessité“) geworden sei, um in der demographischen und industriellen Entwicklung nicht unterzugehen. Er machte zugleich deutlich, dass die bestehenden internationalen Vereinbarungen ungenügend seien und die praktische Umsetzung oftmals dem Gleichbehandlungsgrundsatz nicht entspreche. Ausdrücklich lobte er die Bestimmungen des deutschen Gesetzes über den Unterstützungswohnsitz, wonach ‚Ausländer‘ wie ‚Inländer‘ versorgt würden.42 Ohne größere Veränderungen wurden zunächst die Beratungen von 1896 in Genf wiederholt und in gemeinsame Resolutionen gegossen. Alle aktiv Beteiligten hoben hervor, dass das bisherige politische Desinteresse am Thema nicht länger hinnehmbar sei und weitere Absprachen zu folgen hätten. Derouin forderte

40 So L. Navarre über die zurückhaltenden Einschätzungen Drouineaus, ebd., S. 91. 41 Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 5, S. 1–36. 42 Vgl. ebd. sowie RP XIII (1903), S. 141–162.

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weiterführende internationale Gespräche, an deren Endziel ein handfester Konsens in Form eines allgemeingültigen internationalen Abkommens stehen sollte.43 Die Durchsetzung der Unterstützungspflicht und die Fragen nach den Erstattungsforderungen bei der ‚Rückführung‘ von Ortsfremden waren die zentralen Streitfragen. Einige Redner forderten einen verbindlichen Minimalkonsens bezüglich der Kostenerstattung. Hiervon würden besonders die stark frequentierten Kommunen profitieren. Andere Vertreter setzten sich für vereinfachte direkte Verhandlungen zwischen der Unterstützungsgemeinde und der Ursprungsgemeinde ein. Vereinbarungen dieser Art gab es beispielsweise zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn in Bezug auf die Rückführung von Schwerkranken, geistig Erkrankten oder verwaisten Kindern.44 Auch wenn der Kongress von 1900 zu keinen konkreten Ergebnissen führte, so schuf er doch eine neuartige Sensibilität innerhalb der Fachöffentlichkeit. Einhellig wurde beschlossen, sich von nun an gemeinsam und unter der Federführung des Comité international dem Thema zu widmen. Infolgedessen wurde die Behandlung ausländischer Hilfsbedürftiger in den darauffolgenden Jahren zu einem der Hauptthemen der internationalen Sozialreformer-Gemeinschaft. Die Fachwelt, insbesondere ihre deutschen Vertreter, rückte zudem von der Haltung ab, dass eine gemeinsame internationale Regelung nur nach der Anerkennung einer obligatorischen Fürsorgepflicht in den ‚romanischen Systemen‘ möglich wäre. Der allgemeine Trend der schrittweisen Ausweitung des öffentlichen und obligatorischen Armenwesens, speziell in Frankreich, überzeugte die meisten Kritiker und sorgte so generell für fachspezifischere Auseinandersetzungen als die wenig zielführende Gegenüberstellung der großen ‚Fürsorgesysteme‘ in den 1880er und 1890er Jahren. Im Folgenden erhielt die ‚Fürsorge für Ausländer‘ nicht nur einen wichtigen Platz in den Vorbereitungen für den Kongress 1906 in Mailand, das Thema wurde zugleich in die nationalen Foren und Veröffentlichungen hineingetragen. Es entstand somit unter den Fürsorgeexperten erstmals ein explizit grenzübergreifend angelegter Gestaltungswille. Die international verbreitete Revue philanthropique eignete sich besonders, um die Überlegungen voranzutreiben. Derouin knüpfte in seinem Artikel über „l’assistance aux étrangers“ an die Debatte des Kongresses an und beklagte den ‚theoretischen‘ Charakter der internationalen Kongresse, die in der Frage der ‚Ausländerfürsorge‘ bislang keine praktischen Lösungen hervorgebracht hätten.45 Er betonte die einhellige Ansicht der Fachwelt, dass es zu weiteren Verhandlungen kommen müsse und stellte ein Abkommen für den Kongress 1906 in Mailand in Aussicht. Seiner Meinung nach sollte man über ein allgemein gehaltenes internationales Abkommen nachdenken, das wiederum die rechtliche Grundlage für weiterführende bilaterale Verträge darstellen sollte. Darin könnte, so Derouin, ein „internationaler Unterstützungswohnsitz“ eingeführt und ein „minimum d’assistance à obtenir“ gewährleistet werden, das unabhängig von der Aufenthaltsdauer gewährt würde, schließlich sei es moralisch nicht hinnehmbar, 43 RP XIII (1903), S. 155. 44 Olshausen, Fürsorge für Ausländer, SDV 69 (1904), S. 74ff. 45 Derouin, in: RP XIII (1903), S. 141–162.

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dass beispielsweise ein hilfsbedürftiges Kind nicht ausreichend versorgt werde.46 Eine Ausweisung, das wurde auf den Kongressdebatten von 1896 und 1900 bereits von verschiedenen Seiten unterstrichen, dürfe lediglich auf Grundlage eines gegenseitigen Abkommens vonstattengehen.47 Hinsichtlich der extrem strittigen Kostenerstattungsfrage setzte Derouin auf weitere Verhandlungen, um den extremen finanziellen Ungleichgewichten Rechnung zu tragen. Für ihn waren solche Abkommen praktisch realisierbar, er forderte alle Kommunen auf, entsprechende Nachforschungen über Emigration zu betreiben, die unterstützungsbedürftigen Fremden zu dokumentieren und die Kosten aufzurechnen, so dass im Notfall die Differenz oder die Rücktransportkosten vom Zielort gezahlt werden könnten.48 Mit diesen Vorschlägen wurden die Resolutionen von Genf 1896 erweitert und spezifiziert. Noch wichtiger war jedoch ein anderer Punkt: Es setzte sich immer deutlicher die Ansicht durch, dass man eine internationale Debatte nicht nur auf den Kongressen und in den Publikationsorganen führen musste, sondern dass sie explizit in die politische und diplomatische Entscheidungsebene hineinzutragen war. Von deutschen Fürsorgeexperten wurde das Thema ebenfalls – wenn auch verspätet und weniger häufig – aufgegriffen, was vor allem auf die von Münsterberg verlegte Zeitschrift für das Armenwesen zurückzuführen war, die eine ähnliche Funktion wie die Revue philanthropique ausfüllte.49 Hinzu kamen 1904 ein Vortrag von Alfred Olshausen über „Die Fürsorge für Ausländer in Deutschland“ und die dazu gehörige Publikation des Deutschen Vereins.50 Olshausens Arbeit beschränkte sich nicht nur auf eine Darstellung der bestehenden Rechtsgrundsätze, sie untersuchte zugleich mittels reichsweiter Umfragen die tatsächliche Fürsorgepraxis in einzelnen Städten und Kommunen. Sie beherzigte damit die in der internationalen Debatte gestellte Forderung, Daten zu sammeln, um über die Migrationsbewegungen und die tatsächlich anfallenden Unterstützungsleistungen konkretes Vergleichsmaterial vorlegen zu können. Olshausen lieferte eine auf umfangreichen Recherchen beruhende Schrift und eine notwendige und mit den Worten Münsterbergs „handbuchfähige“51 Bestandsaufnahme, die es in Zukunft ermöglichte, sich überhaupt fachgerecht in die internationale Debatte einzubringen. Mit dem Verweis darauf, dass „man zurzeit diesem Gegenstand auch im Ausland eine erhöhte Aufmerksamkeit schenkt“52 und dieser auch auf dem internationalen Kongress in Mailand eine große Rolle spielen würde, forderte der Vortrag zur direkten Teilnahme auf.

46 Ebd., S. 155. 47 Das war im Prinzip schon in den „Conclusions“ von 1896 angelegt, vgl. II. Congrès international d’assistance, S. 93. 48 RP XIII (1903), S. 155. 49 Einschlägiger Artikel über die „Fürsorge für Ausländer in Deutschland“ vgl. ZdA 5 (1904), 10, S. 297–315. 50 Olshausen, Fürsorge für Ausländer, SDV 69 (1904), sowie besprochen auf der 24. Jahresversammlung des Deutschen Vereins, SDV 71 (1904), S. 83ff. 51 SDV 71 (1904), S. 95. 52 SDV 69 (1904), S. 2.

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Aus dem Bericht wird schnell ersichtlich, dass auch hier die Leitideen einer rationalen Fürsorgeorganisation und die Kostenerstattungsfragen im Mittelpunkt weiterführender Überlegungen stehen. Es wurde deutlich, dass die Kommunen weitgehend auf sich alleine gestellt waren. Sie mussten ihrer gesetzlich bestimmten Fürsorgepflicht auch gegenüber Fremden nachkommen und selbst bestimmen, ob sie einen bedürftigen Fremden auswiesen oder nicht. Da die internationalen Bestimmungen sehr vage blieben, waren konkrete Fürsorge- oder Ausweisungspraktiken von Fall zu Fall entschieden worden und eine Kontaktaufnahme mit der Heimatgemeinde des Bedürftigen zwecks Überführung gelegentlich dokumentiert. Olshausen berichtete von Fällen, in denen die Ausweisungs- und Überführungskosten den möglicherweise anfallenden Unterstützungskosten gegenübergestellt wurden. Im Bericht ist durchweg von Schwierigkeiten bezüglich der praktischen Umsetzung der armenfürsorglichen und internationalen Bestimmungen die Rede, so dass auch hierin der Ruf nach besseren und allgemeingültigen nationalen wie auch internationalen Absprachen laut wurde.53 Besonders hervorzuheben ist die Tatsache, dass die Frage, wer eigentlich ‚Ausländer‘ sei, eines der größten Probleme sowohl bei der Datenerhebung wie auch bei der Analyse Olshausens selbst darstellte. Für die lokalen Verwaltungen war prinzipiell jeder, der nicht in derselben Gemeinde geboren worden war ‚Ausländer‘, beziehungsweise jeder, der nach längerem Aufenthalt den Unterstützungswohnsitz erworben hatte, ‚Inländer‘. Viele Städte machten schlichtweg keine Aufzeichnungen und unterschieden nicht zwischen ‚Inländern‘ und ‚Ausländern‘54, zumal für eine in Stuttgart zugezogene und unterstützungsbedürftige Bayerin exakt die gleichen Regelungen galten wie für einen Franzosen, wenn er keinen Unterstützungswohnsitz besaß. Die explizite Erfassung von ‚Inländern‘ und ‚Ausländern‘, welche für den inneren Nationsbildungsprozess zunehmend an Bedeutung gewann, hatte gerade erst in manchen, meist nur grenznahen Städten begonnen. Die diskursive Ein- und Festschreibung des ‚Nationalen‘ und ‚Fremden‘ kann anhand der ‚Ausländerfürsorge‘ exemplarisch nachvollzogen werden. Im weiteren Verlauf der Debatte spielten zwar primär die konkreten fürsorgebezogenen und finanziellen Fragestellungen eine Rolle. Die Art und Weise der Kategorisierung zeigt gleichzeitig auf, wie sich indirekt Gewissheiten über die Nationalität von Bedürftigen festigten. Die stets eingeforderte Datenerhebung über die Herkunft der Zugewanderten belegt, dass es sich speziell auch um die Befriedigung eines Kontroll- und Rationalisierungsbedürfnisses der Fürsorgeexperten handelte. Es leitete sich aus den Logiken der international gleichermaßen gesteilten Leitprinzipien einer ‚modernen‘ Armenfürsorge ab. Auch wenn sich die Sozialreformer für eine Gleichbehandlung, in Ansätzen sogar für eine Art „transnatio-

53 Vgl. ebd. die Einleitung S. 1ff. sowie die Kapitel „über die praktische Behandlung der hilfsbedürftigen Ausländer“ S. 104ff. und „das Recht der Ausweisung und der Anspruch auf Übernahme“ S. 40ff. 54 SDV 69 (1904), S. 4.

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nal citizenship“55 einsetzten, korrelierte die Frage nach der ‚Ausländerunterstützung‘ in ihrer Wirkung eng mit dem Diskurs über die nationalstaatliche Integrität. 1.3.2 Die Jahre von 1906 bis 1910: Gemeinsame Resolutionen und Rückwirkungen auf die Politik Was nun die rechtlichen, finanziellen und fürsorgebezogenen Probleme der ‚Ausländerunterstützung‘ anbelangte, so nahm sich die internationale Fürsorgeexpertise rund um das Netzwerk des Comité international vor, diese im Rahmen des Internationalen Kongresses für Armenpflege und Wohltätigkeit 1906 in Mailand zu lösen. Das Thema wurde zur ‚Ersten Hauptfragestellung‘ erhoben und hatte damit einen hohen Stellenwert in den Kongressverhandlungen. Im Bollettino ufficiale del Comitato esecutivo, der im Vorfeld des Kongresses erscheinenden Informationszeitschrift, wurden die Hoffnungen geschürt, dass das Thema der „assistance aux étrangers indigents“ von 1896 und 1900 endlich („enfin“) zu einer tragfähigen internationalen Resolution gelangen könnte. Hierzu seien alle Ländervertreter aufgerufen, die „notwendige Handlungsfähigkeit“ („capacité civile indispensable“) aufzubringen.56 Der Autor, Émile Robert57, forderte nichts weniger, als eine konkrete Vorlage für die Gesetzgebungen der Länder und ein internationalen Abkommen auszuarbeiten.58 Die Untersuchungen der letzten Jahre hätten ergeben, so Robert, dass hinsichtlich der Gesetzgebung vor allem die Länder des ‚romanischen Systems‘ der Armenfürsorge im Hintertreffen zu sein schienen. Sowohl in Frankreich als auch Belgien und Italien sei die Lage der ausländischen Bedürftigen extrem unsicher: Kosten würden gespart, Versorgung verwehrt und teilweise sogar die Aufnahme in Krankenhäuser verweigert. Seiner Meinung nach sollte der Kongress über seine Resolutionen abschließend beraten. Folgende Eckpunkte wurden festgesetzt: Bedürftige sollten generell und überall unabhängig ihrer Nationalität in Hospitälern, Hospizen und anderen Krankenheilanstalten aufgenommen und gleich behandelt werden. Auch sonstige armenpflegerische Unterstützungsleistungen sollten bereitgestellt werden. Die Bemühungen und den Aufwand für die Rückführung müsste der ansässige Staat aufbringen, die Kosten jedoch das Heimatland erstatten. Darüber hinaus sahen seine Schlussfolgerungen die Ausweitung der reziproken Abkommen für geistig Erkrankte und verwaiste Kinder vor. Zuletzt vereinbarte man, dass ausländische Hilfsvereine etabliert und ihr Ausbau gefördert würde. Ihnen müsste dazu die juristische Handlungsfähigkeit zugesprochen werden.59 55 Vgl. hierzu P.-A. Rosental, National Citizenship and Migrants’ Social Rights in TwentiethCentury Europe, in: King/Winter (Hrsg.), Migration, Settlement and Belonging, S. 269–280, insb. S. 273ff. 56 Vgl. Bollettino ufficiale, Nr. 2, S. 9ff. 57 Präsident der Société royale de bienfaisance et de mutualité in Belgien. Robert starb vor dem Kongress und an seine Stelle trat van Overbergh. 58 Bollettino ufficiale, Nr. 2, S. 9. 59 Zusammenstellung der Ergebnisse: Bollettino ufficiale, Nr. 2, S. 18.

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Neu waren die einzelnen Forderungen für sich zwar nicht, ihre Aufstellung und Bündelung in ein und demselben Dokument hingegen schon. Robert unterstrich die Notwendigkeit, dass über diesen ambitionierten Maßnahmenkatalog dringend eine Einigung erzielt werden müsse. Denn nur, wenn die internationale Fachwelt geschlossen hinter aussagekräftigen Handlungsorientierungen stünde, könne man sich Hoffnungen machen, dass die politische Ebene überzeugt werden könne.60 Entgegen der Hoffnungen gelang es den Verantwortlichen nicht, hochrangige Regierungsvertreter aller Nationen miteinzubeziehen. Frankreich, Italien, Belgien und die Schweiz warteten zwar mit einflussreichen Sozialpolitikern auf, die offizielle Vertretung des Deutschen Reichs oder Englands war jedoch schon im Vorfeld gescheitert.61 Aus diesem Grund setzten die Berichterstatter – in Fortsetzung der Position Roberts – auf die Abhandlung einer internationalen Konferenz, die eigens zum Zwecke der ‚Ausländerfürsorge‘ einzuberufen sei, um dem Thema einen noch höheren Stellenwert zuzusprechen. Neben dem Hauptbericht des Italieners Giulio Cesare Buzzati gab es auf dem Mailänder Kongress 1906 insgesamt zehn Berichte über verschiedene Aspekte des Themas, unter anderem aus den USA, Frankreich, Belgien, Österreich, der Schweiz und dem Deutschen Reich.62 Zum ersten Mal wurden Einzelaspekte der Migration fachlich analysiert. Dabei kamen auch die Ursachen der Verarmung zur Sprache und weitere Überlegungen, wie das Problem aus armenfürsorglichen Gesichtspunkten heraus anzugehen sei. Die Beiträge machten beispielsweise auf die ökonomischen Hintergründe der Migrationsbewegungen aufmerksam und betonten ausdrücklich auch die Vorteile der individuellen Freizügigkeit sowie den Fortschritt im Transportwesen. Probleme der Hygiene, Gesundheit und Sicherheit ergaben sich hingegen bei einem sprunghaften Anstieg von bedürftigen Migranten. Die bilateralen Konventionen wurden diesen Tatsachen nicht gerecht, zumal die Staaten nicht die nötigen Gelder bereitstellten. Eine ungleiche Verteilung der Lasten war damit zu befürchten. Die Beschlüsse von 1896 und 1900 seien nach Ansicht aller Berichterstatter dringend auszuweiten und mit Leben zu erfüllen. Eine prägnante Formel hieß dabei: In dem Maße, in dem sich der Staat selbst schützt und die Einwanderung kontrolliert, müssten auch die Einwanderer selbst geschützt und unterstützt werden.63 Auch für Olshausen blieb die Kostenfrage aus staatlicher Sicht das zentrale Thema, das es in dieser Runde zu lösen galt. Die Ausweisung bedürftiger Ausländer erschien nicht immer als rechtlich oder human durchführbar, wenngleich die Umfragen ergeben hatten, dass sie aus finanziellen Gründen oftmals erwogen wurde. Über die Kostenfragen ließe sich nach Ansicht Olshausens durchaus zwischenstaatlich beraten. Besonders schwierig gestaltete sich für alle Berichterstatter 60 Ebd., S. 10. 61 Zu den Hintergründen vgl. ‚Der Internationale Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit 1906 in Mailand‘ in Kapitel I, 5.3. 62 Die Artikel sind in den Kongressbänden abgedruckt, vgl. Recueil des travaux du congrès 1906, Bd. 1, S. 9ff. 63 Vgl. insb. A. S. de Kiriaki, Dell’assistenza agli stranieri indigenti, in: Recueil des travaux du congrès 1906, Bd. 1, S. 23ff.

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der Umgang mit den Durchreisenden und ‚Vagabunden‘. Olshausens Idee, über die Konsulate und andere private Hilfsvereine Abhilfe zu leisten, denkbar auch als staatlich anerkanntes und subventioniertes Unterstützungsangebot, wurde positiv aufgenommen.64 Auch wenn zunächst alle Darstellungen von den nationalen Rechtslagen ausgingen und recht unterschiedliche Interessenlagen zutage förderten, wurde in der Abschlusssitzung der gemeinsame Dialog und Handlungswille bekräftigt. Daran änderte auch die Kontroverse zwischen Giulio Cesare Buzzati, der sich für eine Ausweitung der Unterstützungspraxis einsetzte, und Léon Mirman, der die Ausweisungsmöglichkeiten gestärkt sehen wollte, nicht besonders viel. Letztlich konnten alle den eingangs von Robert aufgestellten Resolutionen zustimmen.65 Auf Vorschlag von Münsterberg sollte das Thema auf dem nächsten Armenfürsorgekongress weiterbehandelt werden. Die Diskussionen, so der Berliner Stadtrat, müssten fortschreiten, sich vertiefen und durch eine Expertengruppe gesondert behandelt werden, denn dies habe stets zu Verbesserungen geführt. Auch dieser Vorschlag wurde angenommen.66 Obwohl dies gar nicht zur Verhandlung stand, zeigte sich in der allgemeinen Wertschätzung des deutschen ‚Fürsorgesystems‘ auf Basis des Unterstützungswohnsitzes: Dass die Zukunft des Armenwesens in der Durchsetzung der allgemeinen, öffentlichen und obligatorischen Armenpflege liege, war in der Führungselite der Armenfürsorge mittlerweile unumstritten. Entsprechend deutlich kritisierten die Vertreter der ‚romanischen Systeme‘ selbst das Fehlen der Obligation zur Armenfürsorge und Ernst Mischler, österreichischer Rechtsexperte, bedauerte offen, dass in Österreich nach wie vor das in dieser Hinsicht diskriminierende Heimatprinzip Gültigkeit besaß.67 Den internationalen Referenten war auch bewusst, dass sich bei Durchsetzung der am ‚deutschen Fürsorgesystem‘ etablierten Grundsätze auch die Frage, ob ausländischen Bedürftigen geholfen wird, zumindest teilweise erübrigen würde. Letztlich formulierte man aus dieser Einsicht heraus Resolutionen, welche die Rechte von bedürftigen Fremden eindeutig stärkten.68 Es gab noch einen erwähnenswerten Bericht von Lorenz Werthmann.69 Der Freiburger Bischof und Vorsitzende des Caritasverbandes hatte sich das Thema in den vorausgegangenen Jahren aus ganz praktischen Notwendigkeiten heraus zu Eigen gemacht. Er hatte über die Vereinigung engsten Kontakt mit ausländischen 64 Olshausen, Die Fürsorge für Ausländer in Deutschland, in: Recueil des travaux du congrès 1906, Bd. 1, S. 81ff. 65 Buzzati war Professor für internationales Recht an der Universität Pavia und Mirman „directeur de l'Assistance et de l'hygiène au ministère de l'Intérieur“. Zur kontroversen Schlussdebatte vgl. Recueil des travaux du congrès 1906, Bd. 1, S. 150ff. 66 Recueil des travaux du congrès 1906, Bd. 1, S. 213. 67 Mischler, Das internationale Armenrecht in Österreich, Recueil des travaux du congrès 1906, Bd. 1, S. 55ff. 68 Vgl. Bollettino ufficiale, Nr. 2, S. 18. 69 L. Werthmann, Private Fürsorge für die in Deutschland sich aufhaltenden Italiener, Recueil des travaux du congrès 1906, Bd. 1, S. 125ff.

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Hilfsbedürftigen. In seinem Bericht über die privaten Wohltätigkeitsbestrebungen zur Unterstützung italienischer Wanderarbeiter in Baden gab er seinen Unmut über die Situation klar zu verstehen. Während man den 170.000 italienischen Saisonarbeitern, welche in Deutschland ihr Glück versuchten, generell gleiche Arbeitsbedingungen wie den Deutschen böte, seien unter ihnen Armut, Krankheit, Analphabetismus, Unwissenheit über den Markt und die deutsche Arbeitsweise, schlechte Wohnverhältnisse und Ernährung, „Unmäßigkeit“ und „Unmoral“ vorzufinden. Werthmann, der selbst jahrelange Praxis in der Hilfe für Migranten vorzuweisen hatte, beleuchtete damit – praktisch als einziger des Kongresses – die konkreten lebensweltlichen Bedingungen, denen sich die Wanderarbeiter aber insbesondere die lokalen Fürsorgestrukturen ausgesetzt sahen. Aus diesen Erfahrungen heraus forderte er das wissenschaftliche Studium über (italienische) Emigration und drängte bemerkenswerterweise nicht auf die Unterbindung der Migration, sondern auf die Regulierung des Marktes im Interesse der Arbeiter. Diese sollten wenn möglich über einen neutralen Arbeitsvermittlungsagenten an den richtigen Ort und Arbeitsplatz vermittelt werden. Darüber hinaus seien die Wanderarbeiter in einem Vorbereitungskurs im Sinne eines Leitfades für Auswanderer („guida dell’emigrante“) zu unterrichten, damit sie den lokalen Bedingungen angepasst seien. Die Einrichtung einer Vormundschaft, die Stellung eines konsularischen Rechtsschutzes und medizinische Untersuchungen müssten ferner festgeschrieben werden.70 Neben diesem praxisnahen Erfahrungsbericht erweiterte Werthmann die internationale Debatte damit um einen weiteren, zeitgemäßen Gedanken des internationalen Fürsorgediskurses: Vorsorge statt Fürsorge. In der Folgezeit blieb das Thema der ‚Ausländerfürsorge‘ aktuell und regelmäßig in den Fachpublikationen anzutreffen. Um den Wunsch nach politischer Einflussnahme umzusetzen, wurden die Bemühungen, offizielle Regierungsvertreter auf den Internationalen Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit 1910 in Kopenhagen zu führen, noch einmal intensiviert. Diese Anstrengungen waren von Erfolg gekrönt: Fast alle Nationen schickten politische oder diplomatische Vertreter. Unter ihnen auch erstmals das Deutsche Reich. Dieses hatte sich nach langjährigen und umständlichen Überzeugungsversuchen von Seiten des Comité international und des Deutschen Vereins nun endlich dazu durchgerungen, einen offiziellen Delegierten zu verschicken.71 Der Präsident des Comité international Loubet ließ in seiner Eröffnungsrede auf dem Kopenhagener Kongress keinen Zweifel daran aufkommen, dass die „brüderliche Zusammenarbeit der Nationen“ auch auf dem Gebiete der ‚Ausländerfürsorge‘ weit vorangeschritten sei. Er unterstrich die Rolle der international vernetzten, fachmännischen Vorarbeiten und führte im Beisein der politischen und diplomatischen Vertreter aus, dass es im Grunde genommen nur noch darum ginge, die aufgestellten Resolutionen in Gesetze und diplomatische Abkommen umzuwandeln, denn „kein zivilisierter Staat“ dürfte sich leisten, „hilfsbedürftige 70 Vgl. ebd. 71 Zu den Bemühungen für eine politische Vertretung vgl. ‚Der Internationale Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit 1910 in Kopenhagen‘ in Kapitel I, 5.3.

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Ausländer“ einfach fallen zu lassen. „Schuld“ an der nach wie vor misslichen Lage und den ungeregelten Zuständen bezüglich hilfsbedürftiger „Ausländer“ hätten demnach die Legislative und die Diplomaten, die „viel zu langsam“ arbeiteten und selbst dann, wenn man sie zu einer Aufgabe verpflichtete, lediglich Desillusionierung hervorriefen.72 Hier zeigt sich deutlich der Versuch, die jüngst gefundenen Übereinstimmungen in Form der Resolutionen von 1906 in besonders gutem Lichte darzustellen, um sich selbst gewissermaßen als die tatkräftige internationale Sozialreformer-Gemeinschaft und ‚Retter‘ der verarmten ‚Ausländer‘ zu stilisieren. Auf die Gesetzgebungen einzuwirken und eine internationale diplomatische Konferenz einzuberufen war sodann auch das endgültige Ergebnis, das die im großen Ganzen ähnlich wie die 1906 verlaufenden Kongressverhandlungen über das zweite Hauptthema „Öffentliche Fürsorge für Ausländer“73 hervorbrachte. Der von Werthmann 1906 geäußerte Gedanke über die Vorsorge und präventive Fürsorge stand indes auch auf dem Kopenhagener Kongress vermehrt im Mittelpunkt der Überlegungen. Selbst beim heiklen Thema der Abschiebung und Kostenerstattung ging man in einer allgemeinen Tendenz dazu über, die neuen Konzeptionen der Vorsorge ins Spiel zu bringen, welche eine etwaige Abschiebung aufgrund langfristiger Bedürftigkeit grundsätzlich ersparen würde. Dementsprechend erweiterten die Kopenhagener Resolutionen, von dem progressiven Denker und Generalberichterstatter van Overbergh zusammengestellt, noch einmal die bestehenden Forderungen im Sinne ganzheitlich gedachter, internationaler Fürsorgepraktiken. So wurde also nicht nur die Gleichstellung von Fremden mit Einheimischen und die Förderung von ausländischen Hilfsvereinen erneut formuliert, sondern explizit auch die Ausweitung der Versicherungssysteme auf Ausländer.74 In den Sektionssitzungen waren die Übereinstimmungen über die Sachlage und den künftigen Kurs der Unterstützungspraktiken größer als jemals zuvor. Sorge bereitete den Experten vor allem die chronische Geldknappheit der Kommunen sowie die Versorgung auf dem Land. Letztere rückte auf dem Kongress 1910 stärker in den Fokus. Generell zeigte sich einmal mehr, was Münsterberg in einem Redebeitrag zu bedenken gab: ‚Ausländerfürsorge‘ wurde, ähnlich wie die Frage nach der „Rolle der Frau in der Armenfürsorge“, zu einem politischen Thema, das nach eindringlicher und vorerst abgeschlossener Behandlung nun eben dorthin, in die politische Ebene, zu gelangen habe.75 Die Weichen hierfür wurden auf dem Kopenhagener Kongress 1910 gestellt: Eine diplomatische Konferenz wurde auf Betreiben der Fachexpertise, des Comité international und der Regierungsdelegierten des Armenfürsorgekongresses hin 1912 in Paris erwirkt. Verhandlungsgrundlage waren die Resolutionen des Kon72 73 74 75

Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 1, S. 76 (Übersetzungen des Verf.). Ebd., S. 292ff. Zu den Resolutionen vgl. ebd., S. 293–345. Über die Kongressbeschlüsse und van Overberghs Resolutionsentwurf vgl. ZdA 11 (1910), 9, S. 257ff., insb. S. 260–263.

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gresses von 1910. Damit war eine nunmehr zwanzigjährige, sich zunehmend internationalisierende Debatte im Kreise der sozialreformerischen Fürsorgeexperten zu einem vorläufigen Höhepunkt gelangt. 1.4. Die diplomatische Konferenz 1912 in Paris Maßgeblichen Anteil am Zustandekommen der diplomatischen Konferenz von 1912 hat das Comité international. Es kooperierte mit den staatlichen Stellen, offerierte ihnen die jüngsten Resolutionen von 1910 als Verhandlungsgrundlage und übernahm die Korrespondenz zwischen allen diplomatischen Vertretungen. Es wurden Einladungen verschickt, nachdem der Austragungsort aus strategischen Gründen von Kopenhagen nach Paris verlegt worden war. Das Argument war ebenso einleuchtend wie ergebnisorientiert: Unbedingt sollten „délégués des puissances“ anwesend sein. Außerdem bot die Stadt realitätsnahes Anschauungsmaterial hinsichtlich der Situation ausländischer Bedürftiger.76 Diesen Argumenten brachte auch die Kaiserliche Gesandtschaft keinerlei Bedenken entgegen. Darüber hinaus wurde umgehend die Entsendung des deutschen Botschafters in Paris zugesichert.77 Man fragt sich, woher das plötzliche politische Interesse an den Belangen des Comité international rührte. Sicherlich hing das einerseits mit dem Thema ‚Ausländerfürsorge‘ selbst zusammen, bei dem die Regierungen den Handlungsbedarf zunehmend erkannten. Andererseits wurde die Debatte ausgiebig auf internationalen Kongressen geführt und man versuchte seitdem eben dort auch Regierungsdelegierte einzubinden. Der Grund für den Durchbruch auf politischer Ebene im Deutschen Reich waren letztlich die anhaltenden und nochmals gesteigerten Bemühungen des Comité international, das mithilfe seiner Fachleute in die politischen Gremien einwirken konnte. Auf deutscher Seite spielte die Unterstützung des kaiserlichen Gesandten Waldthausen eine wichtige Rolle, der in seinen Kongressberichten von 1910 eindringlich auf eine politische und diplomatische Vertretung pochte.78 Nachdem die amtliche Beteiligung der Reichsregierung durch die kaiserliche Botschaft in Paris beschlossene Sache war, begann die Suche nach geeigneten „technischen Delegierten“ aus dem Kreis des Reichsversicherungsamtes. Neben der diplomatischen Vertretung durch den Generalkonsul von Jecklin wurde Dr. Jung aus dem Reichsamt des Innern als begleitender Ratgeber und Berichterstatter beauftragt. Durch ihn sollten die Ergebnisse der Verhandlungen auch dem Bundesrat mitgeteilt werden. Hochrangige Vertreter gab es aus den meisten europäischen Ländern und auch Russland. Einzig die USA zogen ihre Beteiligung im gegenseitigen Interesse zurück, da sich ihre Migrations- und Unterstützungsbe76 BArch R 901 / 31847, Akten betreffend: die Konferenz über öffentliche Fürsorge für Ausländer 1911–1912. 77 BArch R 901 / 31848. 78 BArch R 901 / 31847.

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stimmungen gegenüber denjenigen der europäischen Länder so grundlegend unterschieden, dass ein reziprokes Abkommen keinerlei Zustimmung gefunden hätte.79 Um auf einem möglichst hohen gemeinsamen Stand über ein internationales Abkommen zu verhandeln, verschickte das Comité international im Vorfeld an alle diplomatischen Vertretungen einen Fragenbogen, der die armenrechtlichen Regelungen der jeweiligen ‚Ausländerfürsorge‘ zusammenfasste: Wer wurde wie und wo versorgt, welche Unterstützungsformen gab es und welche Abschiebepraktiken lagen vor?80 Dieser Fragebogen wurde daraufhin als Verhandlungsgrundlage an alle an der Konferenz teilnehmenden Nationen zum Studium ausgeteilt. Aus ihm ging auch die in einzelnen Regierungen bislang wenig beachtete Tatsache hervor, dass die jeweiligen Staatsangehörigen auch im Ausland unterstützt wurden.81 Dem Comité international gelang es mit diesen Informationen, erste Problempunkte zu beseitigen und die Verhandlungen in konstruktive Bahnen zu lenken. Das Anschauungsmaterial ermöglichte es den einzelnen Staaten, Positionen zu entwickeln. Außerdem nutzten die Fachreferenten die Zeit, ihre Meinungen bereits vor der Konferenz zu festigen, sich länderübergreifend zu konsultieren und einen möglichen begehbaren Kompromiss auszuhandeln. Damit bildeten sich schon früh die gegensätzlichen Vorschläge heraus. Während die grundsätzliche Einsicht, dass ausländischen Bedürftigen obligatorisch und gleichberechtigt gegenüber Inländern Unterstützung zuteilwerden sollte, keinerlei Unstimmigkeiten hervorrief, war man sich über die Bedingungen und Regelungen einer Abschiebung uneinig. Schon im Vorfeld bekam der zuständige Staatssekretär des Reichsamts des Innern die in Frankreich ausgearbeiteten Vorschläge für eine internationale Regulierung von Abschiebung ausgehändigt. Das diplomatische Tauziehen begann damit schon lange bevor die eigentliche Konferenz stattfand. Gegensätzliche Positionen entwickelten sich vor allem zwischen Frankreich und seinen Nachbarländern. Die französische Regierung forderte als hauptsächliches Anliegen die Rückerstattung derjenigen Kosten ein, die nach Rückführungsverfahren „verarmter Ausländer“ entstanden.82 Diese Position entsprach keineswegs den führenden französischen Fürsorgeexperten des internationalen Fürsorge-Kongresswesens und hatte auch in den Resolutionen des Comité international keine Mehrheit gefunden. Dass es sich hierbei um eine politische Entscheidung auf höchster Ebene handelt, zeigte die ‚Ersetzung‘ des angesehenen Loubet als Leiter der französischen Delegation durch Staatsrat Hébrard de Villeneuve, Conseiller d’État und Rechtsexperte in Fürsor79 BArch R 1501 / 101344. 80 BArch R 1501 / 101344 und R 1501 / 101345. 81 Dem Schreiben war eine Statistik beigefügt: Demnach waren die meisten Deutschen in die USA (2,6 Mio), nach Österreich (106.000), nach Russland (151.000), in die Schweiz (134.000), nach Frankreich (90.000) und nach England (53.000) ausgewandert, während umgekehrt im Deutschen Reich ein sehr regelmäßiger Anteil von Personen aus unterschiedlichen Ländern vorzufinden war. Eine Ausnahme bildeten lediglich Österreicher, von denen es in Deutschland 370.000 gab. Vgl. BArch R 1501 / 101344 82 Vg. BArch R 901 / 31848.

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geangelegenheiten.83 Loubet hatte für das Comité international und die auf den internationalen Kongressen ausgehandelten Resolutionen gestanden und war in diesem Sinne Vertreter des ‚non-reboursement‘ (keine Kostenrückerstattung bei der Rückführung ausländischer Bedürftiger). Aus diesem Grund wurde er zur Überraschung aller ausländischer Delegierter von Hébrard de Villeneuve abgelöst, welcher die Kostenerstattung und damit uneingeschränkt die Interessen der französischen Finanzverwaltung unterstützte. Nach Ansicht des Deutschen Reiches sollte es grundsätzlich keine Erstattung der Rücknahmekosten eines Abschiebeverfahrens geben. Ein Standpunkt, der den deutschen Kommunen zugutekam, da sie erstens selbst oftmals betroffen wären und zweitens, selbst wenn sie von einer Kostenerstattung profitieren würden, das unkomplizierte und schnelle Abschiebeverfahren ohne zusätzliche, kostenverursachende und politisch-einschränkende Bürokratie bevorzugten. Dieser Meinung schlossen sich auch Österreich-Ungarn, Italien und Russland an. Damit wurden schon vor der Konferenz die Gemeinsamkeiten ausgelotet und die Blockbildung nahm konkrete Formen an. Die Konferenz untergliederte sich in zwei Sektionen: I. Internationale Abkommen zur Ausländerunterstützung und II. Rechtsstellung ausländischer Hilfsvereine. Der Telegramm-Verkehr des Generalkonsuls Jecklin mit dem Auswärtigen Amt in Berlin während der Konferenztage dokumentiert den Ablauf minutiös. Es wird vor allem deutlich, wie die Resolutionen des Comité international diskutiert und den Partikularinteressen der Verhandlungsfraktionen gegenübergestellt wurden.84 „Frankreich hält an Kostenerstattung fest, Mehrheit dagegen“, hieß es in einem Blitztelegramm aus Paris über die Debatten in der I. Sektion.85 Den telegraphischen Instruktionen aus Berlin ist zu entnehmen, dass der französische Entwurf abzulehnen und ein eigenständiger einzubringen sei. Der Konsul wurde bevollmächtigt, verlauten zu lassen, dass Frankreichs Haltung von einem „bedauerlichen Rückschritt in der Diplomatie“ zeuge.86 Frankreichs beharrlicher Standpunkt beruhte indes auf finanztechnischen Überlegungen: Da es in dem Land keine privatwirtschaftlich getragenen Krankenversicherungen gab, mussten die Kosten, etwa bei erkrankten Fremden, komplett aus den staatlichen Kassen übernommen werden. Zur Widerlegung dieser Behauptung, dass das Deutsche Reich im Gegensatz zu Frankreich die Kosten nicht selbst tragen würde sondern über die Krankenkasse decken könnte, wünschte der französische Delegierte Hébrard de Villeneuve statistisches Material.87

83 BArch R 1501 / 101345. 84 BArch R 1501 / 101344 sowie G. Rondel, La conférence d’assistance aux étrangers, RP XXXII (1913), S. 81ff. sowie „Assistance aux étrangers, documents sur la conférence internationale“, ebd., S. 232ff. und S. 583ff. 85 Ebd. 86 Ebd. 87 BArch R 1501 / 101345

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Einigung konnte in dieser Frage bis zuletzt nicht erzielt werden. 88 Kritik gab es auch an dem wenig ehrgeizigen Vorschlag aus Österreich, der auf die Weiterführung der bisherigen bilateralen Abkommen setzte und damit hinter die Erwartungen dieser Konferenz zurückfallen würde. Zustimmungsbereitschaft signalisierte das Deutsche Reich hinsichtlich des schweizerischen Kompromissvorschlages, „die Kosten nach dem zweiten Monate vom Eingange des Übernahmeantrags an zu erstatten“.89 Der Schweiz war weniger an den Kostenfragen sondern stattdessen an einer reibungsloseren Übernahme von ausländischen Hilfsbedürftigen gelegen. Zum Hintergrund: Die Schweiz hatte einen extrem hohen Migrantenanteil. Sie favorisierte daher eine unmittelbare Abwicklung von Abschiebeverfahren auf Ebene der „untergeordneten Amtsstellen“ (Armenbehörden), da sie „eine wesentliche Entlastung der Schweiz bedeuten“ würde.90 Eine solche Vereinbarung gab es schon zwischen der Schweiz und dem Deutschen Reich. Sie hatte den Vorteil, dass es nur bei komplizierten Ausnahmefällen zu diplomatischen Verhandlungen kommen würde. Eine solche Regelung war zwar umstritten – der Kompetenzzugewinn in den Armenbehörden ohne gleichzeitige Kontrolle rief nicht durchgängig Zustimmung hervor –, dennoch schien der Kompromissvorschlag vor allem angesichts der Haltung Frankreichs tragbar. Der deutsche Konsul versprach sich viel vom schweizerischen Kompromissvorschlag, denn „er forderte nicht die Aufgabe des auch von uns geforderten Grundsatzes der Nichterstattung, vielmehr nur eine an sich gerechtfertigte Strafe für Verschleppung der Antwort auf ein Uebernahmegesuch“.91 Grundsätzlich sollte also eine Übernahme durch den Heimatstaat veranlasst und akzeptiert werden und in einem Zeitrahmen von drei bis vier Wochen abgewickelt werden, wobei die zwischenzeitlich anfallenden Kosten vom Armenverband getragen würden. Diesem Modell folgten – bis auf Frankreich – alle Delegationen und legten, da kein einstimmiger Beschluss feststand, weitere Verhandlungstermine fest. Was die Rechtsstellung von ausländischen Unterstützungsvereinen (II. Sektion der Konferenz) anbelangte, konnte trotz einiger Meinungsverschiedenheiten eine Einigung erzielt werden.92 Die Gründung und Verbreitung von ausländischen Hilfsvereinen sollte demnach gefördert und auch mit staatlichen Geldern unterstützt werden. Van Overberghs weiterführender Entwurf rief beim deutschen Delegierten allerdings Protest hervor. Aus Sicht des Deutschen Reiches konnte es keinesfalls angehen, dass eine ausländische Vereinigung weitergehende Rechte zugesprochen bekäme, als dies die inländische Gesetzgebung vorsähe. In diesem Falle sei ein Eingriff in die landesstaatliche Hoheit zu befürchten, außerdem könnten unter dem Deckmantel von Hilfsvereinen „staatsfeindliche Tendenzen“93 ent88 Vgl. „Assistance aux étrangers, protocole de la conférence internationale“, RP XXXII (1913), S. 468ff. 89 BArch R 1501 / 101344 90 Ebd. 91 BArch R 1501 / 101345. 92 BArch R 1501 / 101344. 93 BArch R 1501 / 101345.

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stehen. Deutlich wurde auch hier das zähe diplomatische Ringen, das die ursprünglichen Resolutionen der internationalen Armenfürsorgekongresse zwangsläufig abänderte. Am Ende stand ein unter Vorbehalt abgeschlossener, vage gehaltener, aber explizit zur weiteren Erörterung für 1913 freigegebener Vertragsentwurf, dem sich Frankreich nur im zweiten Punkt (Unterstützung von ausländischen Hilfsvereinen) anschloss. Einerseits erkennt man die klaren Grenzen dessen, was unter den international vernetzten und politisch engagierten Sozialreformern vorangebracht wurde. Die vermittelnden Resolutionen des Comité international von 1906 und 1910 verloren angesichts der realpolitischen Kalküle deutlich an Strahlkraft. Andererseits dürfen die diplomatische Konferenz die daran anschließenden Verhandlungen als ein Teilerfolg der internationalen Sozialreformbewegung gewertet werden. Nur durch ihr klares Bekenntnis zu mehr Kooperation und ihr beharrliches Einwirken kam es überhaupt zur Beschäftigung höherer politischer Kreise mit dem Thema der ‚Ausländerfürsorge‘. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg blieben die Länder in diplomatischem Austausch. Eine für 1913 anberaumte Fortsetzung der Verhandlungen wurde aufgrund fehlender Fortschritte zunächst wieder aufgeschoben. Der Berichterstatter Jung ließ seinem Unmut darüber freien Lauf, dass sich Frankreich aus der Verantwortung stehle. Er warf der französischen Regierung vor, die allgemein anerkannten Standards einer öffentlichen Armenfürsorge nicht einführen zu wollen.94 In dieser Behauptung kann ein gewisses Überlegenheitsdenken der deutschen Regierung hinsichtlich des ‚deutschen Fürsorgesystems‘ herausgelesen werden, während Frankreich auf dem Argument der finanziellen Benachteiligung beharrte und sich in seinen Souveränitätsrechten angegriffen sah. Eine derart offene Unstimmigkeit hatte es auf den Internationalen Kongressen für Armenpflege und Wohltätigkeit und im Comité international nicht gegeben. Unterdessen trafen sich Vertreter des Deutschen Reichs, Österreich-Ungarns und Italiens im März 1913 in Budapest zu Konsultationen, um über eine gemeinsame Linie zu beraten. Alle Staaten verpflichteten sich gleichermaßen, der französischen Regierung jene „Budapester Vorschläge“ zukommen zu lassen, um Einigkeit bezüglich der ‚Ausländerfürsorge‘ zu demonstrieren. In einer wenig aussagekräftigen Stellungnahme der Pariser Fürsorge-Konvention wurde immerhin vorgeschlagen, eine zweite Sitzungsperiode der diplomatischen Konferenz für den 26. Mai 1915 anzusetzen. Das Reichsamt des Innern reagierte vorsichtig optimistisch und betonte, dass man auf der kommenden Konferenz eine breitere „fachmännische Beteiligung“ der Fachressorts und Bundesstaaten plane, denn die rein diplomatische Vertretung hätte 1912 eher zum Nachteil gereicht.95 Ebenso wie der Sechste internationale Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit fand die zweite diplomatische ‚Konferenz für Ausländerfürsorge‘ nicht mehr statt. Es scheint denkbar, dass es dabei zu einer Einigung oder wenigstens

94 BArch R 901 / 31848. 95 BArch R 901 / 31850.

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teilweisen Einigung – ohne Frankreich, oder mit eingeschränkter Reichweite für Frankreich – gekommen wäre. Es bleibt zu klären, wie die internationale Sozialreformer-Gemeinschaft die jüngsten Entwicklungen vor dem Krieg aufnahm. Hierbei offenbarte sich eine bezeichnende Dynamik: In dem Moment, als das Comité international das Thema der ‚Ausländerfürsorge‘ erfolgreich an die diplomatische Ebene bringen konnte, überlies die internationale Fürsorgeexpertise das Thema komplett den politischen Kreisen. Die Expertengemeinschaft verlor darüber hinaus sogar den Zugriff auf die inhaltliche Gestaltung der Verhandlungen. Allein die Tatsache, dass vom Comité international kein bedeutender Sozialreformer mehr Erwähnung findet96 und dessen Hauptvertreter Loubet sogar ‚ausgebootet‘ wurde, verweist auf den beschränkten Zugriff des Fürsorgeexpertentums in die konkreten politischen Verhandlungsebenen. Folgendes Beispiel unterstreicht die Verschiebung der Debattenhoheit zugunsten der nationalpolitischen Ebene: Aus einem an das Auswärtige Amt verfasste Schreiben von Hirschfeld geht hervor, dass sich die Zentralstelle für Armenpflege und Wohltätigkeit und der Deutsche Verein die Zusammenstellung der Ergebnisse und Druckbände der Konferenz von 1912 zum Studium erwünschten. Der Anfrage ist zu entnehmen, dass sie von ihrem „werten Kollegen Rondel“ aus Frankreich über die Existenz solcher Druckschriften erfahren hatten.97 Es ist ein aussagekräftiges Beispiel für die Selbstverständlichkeit der grenzüberschreitenden Kommunikationsströme innerhalb der Fürsorgeexpertise und die gleichzeitige Schwierigkeit, dauerhaften und wechselseitigen Informationsaustausch mit der nationalstaatlichen Politikebene zu etablieren. 1.5. Alternative Wege der internationalen Kooperation Der beschriebene Prozess verdeutlicht, wie das Thema der ‚Ausländerfürsorge‘ über die international vernetzte Debatte und die Resolutionen des internationalen Kongresswesens letztlich zu einem politischen Thema wurde. Die Verlegung der Erörterungen in den Bereich diplomatischer Verhandlungen zeigt einerseits die Möglichkeiten der Fürsorgeexperten, mit ihren Anliegen in die politischen Entscheidungsprozesse vorzudringen. Andererseits werden die Grenzen der Einflussnahme sichtbar. Insbesondere dann, wenn ein Thema auf die Ebene der politischen Entscheidungsträger befördert wurde. Einen ganz anderen Handlungsspielraum besaßen jene konkreten armenpflegerischen Einrichtungen der privaten oder kirchlichen Wohltätigkeit, die sozusagen auf unterster oder mittlerer Ebene angesiedelt waren. Hier konnte freilich nur selten politischer Einfluss erzielt werden, und wenn, dann nur über die Wege der großen Fürsorgevereine. Dies hatte Vor- und Nachteile. Wohltätigkeitsvereine mussten die gesetzlichen und armenrechtlichen Bestimmungen akzeptieren, die 96 Außer van Overbergh, auf den die Resolutionen von 1910 im Wesentlichen zurückgingen und der in der Funktion als Regierungsvertreter Belgiens angereist war. 97 Vgl. hierzu BArch R 901 / 31850 (Die internationale Regelung der Armenfrage, 1880-1910).

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ihnen das Leben oft erschwerten. Gleichzeitig boten sich im Bereich der ‚freien Wohltätigkeit‘ vor allem hinsichtlich der praktischen Ausgestaltung armenpflegerischer Tätigkeit viel größere Spielräume, als dies in der streng regulierten, langsam arbeitenden, finanziell beschränkten und gewissermaßen vom Geist bürokratischer Automatismen beherrschten öffentlichen Armenfürsorge möglich gewesen wäre. Aus diesem Grund taten sich private und kirchliche Einrichtungen vorrangig und anhaltend bei der „experimentellen Erprobung neuartiger Maßnahmen“98 hervor. Sie wirkten im ‚Fürsorgesystem‘ als innovative Kraft und brachten regelmäßig dort ihren pragmatischen Gestaltungswillen zur Geltung, wo sich der Unmut über die langsam mahlenden Mühlen der Politik und Verwaltung breitgemacht hatte. Dieses Phänomen zeigte sich auch im Bereich der ‚Ausländerfürsorge‘. Man hatte es dabei oftmals mit denselben Akteuren zu tun, die auch auf den Internationalen Kongressen für Armenpflege und Wohltätigkeit oder im Comité international in Erscheinung traten. An dieser Stelle seien zwei Beispiele namhafter deutscher Vertreter der Armenfürsorge erwähnt, die abseits der theoretischen und auf die Politik abzielenden internationalen Debatten und jeweils auf ihrem Fachgebiet beachtliche Anstrengungen unternahmen, um ausländischen Bedürftigen zu helfen.99 1.5.1. Der Caritasverband und die ‚Italienerpastoration‘ Das erste Beispiel ist in Baden angesiedelt und geht auf den Präsidenten des Caritasverbandes Lorenz Werthmann zurück. Wie bereits erwähnt, machte der Geistliche auf dem Kongress 1906 in Mailand auf die Lage der italienischen Wanderarbeiter, das hohe Armuts- und Krankheitsrisiko und die damit verbundenen Anstrengungen der Kommunen aufmerksam und forderte, den Rahmen der ‚Ausländerfürsorge‘ auszuweiten. Seine Bestandsaufnahme schien auf den ersten Blick auf eine Diskreditierung der italienischen Saisonarbeiter und eine Unterbindung grenzüberschreitender Migrationsströme hinauszulaufen. Umso bemerkenswerter sind die von Werthmann auf dem Kongress aufgestellten Forderungen, die sich in eine völlig andere Richtung bewegten. Er schlug vor, eine Art internationales Arbeitsamt in Form eines mobilen Jobvermittlers einzuführen, um den Migranten realistische Arbeitsmöglichkeiten zu bieten. Ein ‚Migrationskurs‘ sollte ihnen ferner Deutschkenntnisse und andere wichtige Fähigkeiten vermitteln. Dazu sollten seiner Meinung nach auch arbeitsmarktrelevante, haushälterische, hygienische und ernährungsbezogene Grundlagen gehören. Ein deutsch- und italienischsprachiger Vormund sollte schließlich bei allen Belangen behilflich sein. Die in all diesen Maßnahmen zum Ausdruck kommende Denkweise der Armuts-Prophylaxe 98 Sachße, Mütterlichkeit, S. 75. 99 Eine umfangreiche Darstellung von deutschen und ausländischen Hilfsvereine sowie kirchlichen Einrichtungen, die sich insbesondere der Problematik der ‚Ausländerfürsorge‘ widmeten, findet sich bei Olshausen, Die Fürsorge der Privatwohltätigkeit (SDV 69), S. 179ff.

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entsprach den neuesten Ansprüchen des bürgerlich-sozialreformerischen Umfeldes, dem Werthmann sehr nahe stand.100 Tatsächlich beruhten Werthmanns Ausführungen auf jahrelangen Beobachtungen. Er hatte die typischen Armutsfälle immigrierter Italiener im südwestdeutschen Raum genauestens studiert. Der Freiburger Erzbischof baute von 1895 an den Charitasverband für das katholische Deutschland101 auf, in dessen Aufgabenbereich er auch ‚Auswandererfragen‘ und insbesondere die Fürsorge für die heimatfremden italienischen Arbeitssuchenden stellte. Von Anfang an bemühte sich Werthmann, das Problem der Verarmung unter den italienischen Wanderarbeitern aus unterschiedlichen Gesichtspunkten heraus zu betrachten. Dies beinhaltete die Sicht der karitativen Unterstützung ebenso wie den rechtlichen Standpunkt. Im Rahmen dieser Tätigkeit knüpfte Werthmann zahlreiche internationale Kontakte und ließ sich unter anderem von Peter Paul Cahensly, dem Begründer des St. Raphaels-Verein zum Schutze deutscher Auswanderer (Koblenz) ausführlich beraten. Er nahm sich sowohl der deutschen Katholiken im Ausland als auch der ‚Fürsorge für Ausländer‘ in seinem Tätigkeitsbereich an und versuchte in Verbindung mit seinen internationalen Kontaktpersonen eine einheitliche Organisation der Fürsorge für ausländische Saisonarbeiter herbeizuführen. Nach dem Caritastag 1909 in Frankfurt wurde auf Werthmanns Betreiben hin sogar eine Konferenz für das ‚Auswandererwesen‘ unter internationaler Beteiligung abgehalten. Es folgten weitere Treffen 1910 in Berlin und 1911 in Dresden. Seine Bemühungen stießen auf positive Anerkennung bei einigen Reichstagsabgeordneten der Zentrumspartei, woraufhin in deren Fraktion sogar ein erster Gesetzesentwurf zur „Fürsorge für die fremdländischen Arbeiter“ ausgearbeitet wurde.102 Werthmanns Hauptinteresse galt jedoch unabhängig dieser politischen Debatten der praktischen Organisation und Verbesserung der Lage der sich in Deutschland aufhaltenden italienischen Arbeiter. Auf kommunaler Ebene gelang es ihm, diesen Fürsorgezweig in ein geordnetes System zu bringen. Dabei erwiesen sich das weit verzweigte internationale Beziehungsnetzwerk der katholischen Kirche und insbesondere aber auch die Caritas-Verbandsstrukturen als sehr hilfreich. So bemühte sich Werthmann, seine oberitalienischen Amtskollegen von einer gemeinsamen Herangehensweise hinsichtlich der ‚Ausländerfürsorge‘ zu überzeugen. Im Jahre 1900 entstand aus diesen Gesprächen die Opera di Assistenza für verarmte Italiener in Deutschland, welche verschiedentliche Vereinbarungen vorsah. Zum einen wurden italienische Seelsorger nach Deutschland geschickt, um ihren Landsleuten Beistand zu leisten. Ihnen folgten italienische Schwestern, da es unter den Auswanderern eine große Anzahl an Frauen gab. Dann wurden Versammlungen organisiert, um sich über mögliche Hilfsangebote und Rücktransporte zu beraten. Zum anderen flossen umfangreiche finanzielle Mittel aus Spenden und kirchlichen Kassen. Der italienische Bischof Bonomelli besuchte Werthmann 100 Biographisches über Werthmann und sein umfangreiches Engagement: Mayer, Lorenz Werthmann. 101 Ebd., S. 7ff. 102 Liese, Lorenz Werthmann und der Deutsche Caritasverband, S. 451ff.

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persönlich in Freiburg, um sich in einer eigens zum Thema der Wanderarbeiterfürsorge anberaumten Studienreise selbst ein Bild von den Fortschritten zu machen.103 Dieser „Blütezeit der Italienerfürsorge“104 folgte 1909 eine völlige Umgestaltung der Organisation. Werthmann äußerte sich zwar sehr positiv über das gesamte Projekt, war aber enttäuscht über das Verhältnis von Erfolg und aufgewandten Mühen bei der „Italienerfürsorge“. Er hatte verschiedentlich seinen Unmut darüber geäußert, dass die Leitung nicht einheitlich organisiert sei, wodurch die Effizienz der Unternehmung erheblich leide. Außerdem erwies sich die Idee der italienischen Seelsorger als nicht sonderlich praktikabel. Die ‚Missionare‘ hatten selbst keinerlei Kenntnisse, weder über Deutschland noch von den tatsächlichen Bedürfnissen der italienischen Wanderarbeiter. Diese Erkenntnisse und finanzielle Engpässe führten zur Gründung der Caritas-Fachsektion Comitato di protezione degli operai italiani in Germania, die als Folgeprojekt noch stärker an die Erfordernisse einer effizienten Fürsorgepraxis ausgerichtet wurde und ausdrücklicher in die Caritas-Organisationsstrukturen integriert wurde.105 Als Fürsorgeexperte stand den deutschen, aber italienischsprechenden Priestern der Italiener Luigi Rolando zur Seite. Diese Arbeit wurde bis zum Kriegsausbruch erfolgreich fortgesetzt. Viele Kontakte hielt Werthmann auch über den Krieg hinaus aufrecht.106 Seine Bemühungen beschränkten sich allerdings keineswegs nur auf die ausländischen Bedürftigen in Deutschland. Die gesteigerte Sensibilität für das Thema hatte auch zur Folge, dass sich Werthmann intensiv für das „Auslanddeutschtum“ und „Auslandsanstalten des Caritasverbandes“ einsetzte.107 Dazu gehörte die Übernahme und Unterstützung diverser Hilfseinrichtungen für Deutsche im Ausland durch Mittel des Caritasstiftes. Dies verdeutlicht, wie Werthmann die Problematik der Unterstützungsbedürftigkeit in der Fremde als ein typisches Phänomen seiner Zeit betrachtete, zu dessen Lösung es einer grenzübergreifenden Sicht- und Handlungsweise bedurfte. Werthmanns Bemühungen waren von der Selbstverständlichkeit eines transnationalen Akteurs, wie ihn der katholische Caritasverband darstellte, bestimmt und führten auf diese Weise zu konkreten grenzüberschreitenden Kooperationen. 1.5.2. Internationale Kooperation im Archiv der Berufsvormünder Ein ähnlich strukturiertes Beispiel internationaler Kooperation abseits der politischen Ebene liegt im Bereich der Berufsvormundschaft für ausländische Waisenkinder vor. Auch in diesem Fall handelte es sich um Akteure, die sich auf direkte 103 Vgl. „Lorenz Werthmann und die Fürsorge für die italienischen Arbeiter“, in: Caritas 34 (1929), S. 14–18, 48–59, 129–135. 104 Liese, Lorenz Werthmann, S. 452f. 105 Caritas 15 (1909/10), 87, S. 129ff. sowie Caritas 16 (1910/11), S. 115f. 106 Liese, Lorenz Werthmann, S. 454. 107 Vgl. Werthmann, Das katholische Deutschtum im Ausland, in: Caritas 17 (1911/12), S. 27ff.

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und eigenständig organisierte internationale Kontakte stützten, um einem an sich grenzübergreifenden Problem eine Lösung abzuringen. Die Berufsvormundschaft war aus der Veränderung der Einzelvormundschaft – im 19. Jahrhundert lange noch in familiärer Hand beziehungsweise in den Händen kleinerer Verbände – hervorgegangen. In dem Maße, in dem man begann, die Waisenpflege als einen wichtigen Aufgabenbereich städtischer Fürsorgepolitik zu betrachten, wurde das Vormundschaftswesen allmählich zu einem sich ausdifferenzierenden Fürsorgezweig und in Form von Anstaltsvormundschaften (Waisenanstalten, Kinderhäuser, Armenpflegeeinrichtungen) weiterentwickelt.108 Eine eigenständige, von den kommunalen Organisationsstrukturen der Armenpflege und der Aufsicht der Polizeibehörde entkoppelte Fürsorge für Pflegekinder gab es im 19. Jahrhundert im Deutschen Reich allerdings nicht. Erst mit den Erörterungen und Kritiken des Deutschen Vereins sowie der von Max Taube in der Leipziger ‚Ziehkinderanstalt‘ weiterentwickelten Berufsvormundschaft brachen neue Ansichten herein. Ziel war es, eine eigenständige, an sozialwissenschaftlichen und fürsorglichen Aspekten orientierte Kinderfürsorge zu etablieren. 109 Klumker stellte 1931 rückblickend fest, dass es sich hierbei um die ersten Versuche handelte, die Trennung von Armenamt und Kinderfürsorge in Form von Waisenräten und Vormundschaft, zu vollziehen. Auf den Einfluss, den internationale Debatten und Vorbilder auch auf die Entwicklung des deutschen Vormundschaftswesens ausübten, sei hier nur am Rande hingewiesen.110 Die neuen Bewegungen der Kinderfürsorge förderten darüber hinaus ein neues Verständnis der Vormundschaft zu Tage: Erziehung und Vormundschaft sollten in enger Verbindung stehen, die Aufsicht und Förderung von Pflegeeltern gewährleistet werden. Im Rekurs auf das französische Modell der selbstständigen öffentlichen Kinderfürsorge etwa forderten die progressiven Sozialreformer eine stärkere Betonung der erzieherischen Aspekte statt der Versorgung, wie es das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 festschrieb.111 Auch in der Folgezeit wurden die Fragen im Deutschen Verein kontrovers diskutiert, wobei sich eine kleine und langfristig sehr einflussreiche Gruppe um Knittel, Taube, Petersen, Klumker,

108 Einführend über das Vormundschaftswesen siehe Klumker, Vom Werden, S. 4ff. Zur Entwicklung der Waisenpflege, der Berufsvormundschaft und des Ziehkinderwesens vgl. ferner Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 2, S. 32ff.; Peukert, Grenzen der Sozialdisziplinierung, hier „Berufsvormundschaft und Jugendpflege“ S. 97ff. 109 Zu nennen wären die Versuche des Deutschen Vereins in den 1880er Jahren auf die Gestaltung des Bürgerlichen Gesetzbuches Einfluss zu nehmen, siehe „Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches in Bezug auf Armenpflege und Wohlthätigkeit“, SDV 8 (1886). Darin wurde unter anderem empfohlen, gr̈ßere Verbände für den Schutz „gefährdeter und verwahrloster Kinder“ in die Pflicht zu nehmen. Zur Max Taube und der ‚Ziehkinderanstalt‘ in Leizpig vgl. Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 2, S. 33. 110 Mehr hierzu und zu den internationalen Einflüssen siehe Klumker, Vom Werden, S. 10–15 oder J. Petersen, Gedanken über die Organisation der Jugendfürsorge. 111 Klumker tat sich als Verfechter eines neuen Verständnisses der Kinderfürsorge besonders hervor, vgl. Klumker, Vierteljahreshefte des Archivs deutscher Berufsvormünder 1913, Vorwort.

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Scheven, Levy und Schwander für den Grundgedanken der Trennung der Kinderfürsorge von den Armenämtern stark machte.112 Ausgehend von der Auffassung, dass man im inhaltlich wie ideologisch breitgefächerten Deutschen Verein hinsichtlich der Kinderfürsorge keine einheitliche Linie erreiche, entstand 1905 aus eben erwähntem sachkundigen Kreis heraus das Archiv der Berufsvormünder. Dabei handelte es sich um eine selbstständige Vereinigung, die sich im Rahmen privater Versammlungen um eine Erörterung der Fragen bemühte und in eigenständigen Vierteljahresheften publizierte. Diese Gruppierung wirkte zusammen mit der Frankfurter Zentrale für private Fürsorge als Pionier der Einrichtung und Entwicklung des Vormundschaftswesens. Sie förderten Teilaspekte der Berufsvormundschaft, die ihrer Meinung nach voranzubringen waren: Einführung einer Pflegestellenaufsicht und Pflegestellenvermittlung, die Gewährleistung einer Rechtsvertretung, die Beratung der Pflegemütter, die Prozessführung im Inland und auch im Ausland.113 In diesem Kontext kam es zu bemerkenswerten internationalen Kooperationen. Seit langem beschäftigte sich der Spezialist für Kinderfürsorge Klumker mit dem Thema der Berufsvormundschaft für ausländische Waisenkinder, derer es offenbar tausende gegeben habe. Es galt zwar die in den internationalen Verträgen einst geregelte Unterstützungspflicht auch bei ausländischen Waisen. Tatsächlich wurde die Unterbringung oder die Rückschickung in die Heimatgemeinde – sofern diese überhaupt bekannt war – von Fall zu Fall ausgehandelt. Als die Haager Konvention von 1902 regelte, dass die Bevormundung dem Heimatrecht des Mündels folgen musste, bedeutete dies keineswegs eine Vereinfachung des Verfahrens. Die unterschiedlichen Rechtslagen und die fehlenden Kenntnisse der Vormundschaftsrichter und -behörden über dieselben stellten ein nicht zu lösendes Problem dar. Der diplomatische Weg war hingegen meist sehr langwierig und umständlich. Am Ende kann davon ausgegangen werden, dass den Kindern kaum geholfen werden konnte.114 Das oben erwähnte Archiv der Berufsvormünder ging unterdessen seinen eigenen Weg bei der Hilfe für ausländische Waisen. Aus fürsorglichen Überlegungen heraus verzichtete man kurzerhand auf den diplomatischen Weg, dessen Erfolgsausschichten ohnehin gering erschienen. Als freier Verein der Privatwohltätigkeit ergriff das Archiv selbst die Initiative und studierte die ausländischen und internationalen Gesetzeslagen. Es dokumentierte darüber hinaus andere soziokulturelle Aspekte, die ihm bei der Versorgung von ‚fremdländischen Waisenkindern‘ wichtig erschienen. Anstatt den Rechtsweg zu begehen, baute man ein eigenständiges internationales Vermittlungsnetzwerk auf und setzte sich mit auslän112 Vgl. den stenographischen Bericht der 22. Jahresversammlung des Deutschen Vereins (Colmar 1902), in: SDV 62 (1902), hier insbesondere S. 38ff. Siehe ferner die Fortsetzung der Auseinandersetzung in: Klumker/Petersen, Berufsvormundschaft, in: SDV 81 (1906) bzw. die daran anschließende Debatte auf der 27. Jahresversammlung des Deutschen Vereins (Berlin 1907), in: SDV 83 (1907); vgl. ferner Klumker, Die öffentliche Kinderfürsorge; Petersen, Gedanken. 113 Vgl. Klumker, Vom Werden, S. 18–21. 114 Siehe ebd., S. 29–66.

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dischen Kinderhilfsvereinen und Waisenanstalten direkt in Kontakt. Das Archiv der Berufsvormünder spannte auf diese Weise ein weit über die europäischen Grenzen hinaus reichendes Kommunikationsnetzwerk, das nicht nur dazu verwendet wurde, Waisenkindern möglichst schnell einen Berufsvormund im Heimatland zu vermitteln, sondern auch dazu diente, wertvolle Kenntnisse über das Vormundschaftswesen, Gesetzeslagen und kinderfürsorgliche Praktiken international austauschen. Mit den Worten Klumkers: Beim Archiv entstand zum ersten Male eine wirkliche internationale Kinderschutzarbeit, die zu einem tieferen Verständnis und in zahlreichen Fällen zu einer lebendigen Zusammenarbeit 115 führte.

Eine weitere Neuerung betraf die Prozessführung im Ausland. Man vereinfachte die Verfahren dadurch, dass man viele Einzelfälle im Archiv der Berufsvormünder bündelte und im Prozess gemeinsam auftrat. Prozesse der Berufsvormundschaft wurden auf diese Weise zwar nicht weniger aufwendig, man steigerte aber die Erfolgschancen. Mit all diesen Aktivitäten reagierte das Archiv der Berufsvormünder mit konkreten und praktischen Umsetzungen auf die ihrer Meinung nach nicht besonders zielführenden Diskussionen, Vorschläge und rechtlichen sowie theoretischen Debatten. Denn auch das starke Engagement des Archivs auf dem Internationalen Kongress für Säuglingsschutz 1911 und dem Internationalen Jugendschutzkongress 1913 führte nicht zu einer Neuregelung der Haager Konvention beziehungsweise zu mehr internationaler Kooperation im Bereich der öffentlichen Kinderfürsorge.116 Umso dankbarer wurde der 1911 erschienene Sammelband über „Säuglingsfürsorge und Kinderschutz in den europäischen Staaten“ aufgenommen, in dem es erstmals eine Zusammenstellung internationaler Vormundschaftsrechte und -formen gab.117 Das Beispiel der Berufsvormundschaft und die internationale Vernetzungsarbeit des Archiv der Berufsvormünder verweisen auf das Potential privater, sozialreformerisch orientierter Fürsorgeakteure, innerhalb ihrer Handlungsspielräume grenzüberschreitend aktiv zu werden. Diese Maßnahmen entstanden meist aus rationalen Sachzwängen heraus und in Abgrenzung gegenüber der klassischen Armenfürsorge. Zugleich wurde deutlich, dass sich viele Fürsorgeexperten nicht mit den theoretischen und rechtlichen Debatten, weder auf nationaler Ebene wie im Deutschen Verein noch auf den internationalen Kongressen, zufrieden geben wollten. Im Gegensatz dazu organisierte man eigenständige Praktiken auf Grundlage einer autonomen und „unmittelbar für die Praxis zugeschnittenen“ Aktion für 115 Ebd., S. 61. Die Forschungsarbeiten des Archivs der Berufsvormünder sind in den Vierteljahresheften des Archivs deutscher Berufsvormünder dokumentiert. 116 Die Idee, eine neutrale schweizerische Einrichtung zu gründen oder sogar dem Archiv der Berufsvormünder die Aufgabe zu übertragen, als offizielle Vermittlungsinstanz zwischen den Staaten zu fungieren, konnte trotz internationaler Zustimmung der Fachwelt nicht umgesetzt werden. Klumker, Vom Werden, S. 62f. Über die internationalen Kongresse für Kinderschutz vgl. Rollet-Vey, La santé et la protection. 117 Besprochen in: Klumker, Fortschritte des Kinderschutzes und der Jugendfürsorge (Vierteljahreshefte des Archivs deutscher Berufsvormünder 1913).

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all diejenigen, die „wirklich internationale Kinderschutzarbeit treiben wollen“, wie es Klumker in Bezug auf die ergebnislosen Treffen der internationalen Fachwelt formulierte.118 Da diese Formen grenzübergreifender Vernetzung nicht an die politische Ebene gebunden waren sondern stattdessen eng an die Fürsorgepraxis gekoppelt blieben, konnten die Aktivitäten des Archiv der Berufsvormünder sogar im Krieg, wenn auch eingeschränkt, fortgesetzt werden.119 1.6. Fazit: Formen und Grenzen internationaler Kooperationen Gewissermaßen als ein Paradebeispiel der vorliegenden Forschungsperspektive zeigt das Thema der ‚Ausländerfürsorge‘ repräsentativ sowohl das Potential als auch die Grenzen internationaler Vernetzungen. Nachdem das Thema 1889 auf dem Armenfürsorgekongress in Paris erstmals angesprochen wurde und in den darauffolgenden Jahren langsam in den Fokus gerückt war, setzte mit der Gründung des selbstbewussten Fürsorgeexperten-Netzwerkes rund um das Comité international nach 1900 eine intensive Beschäftigung mit der Frage ein, wie man die ambitionierten Resolutionen umsetzen und auf die politischen Entscheidungsträger Druck ausüben könnte. Die sozialreformerische Gruppierung, welche in den Jahren nach 1900 die internationalen Fürsorgedebatten und das internationale Kongresswesen dominierte, stellte damit ihre Fähigkeit unter Beweis, eine solche Debatte initiieren, voranbringen und sie durch ein fortlaufendes und hartnäckiges Engagement in die politische Ebene hineintragen zu können. Dabei offenbarte sich eine in sich verwobene und beschleunigende Dynamik: Aus den nationsbezogenen Darstellungen, vor 1900 ausschließlich auf die nationalen oder kommunalen Rechts- und Verwaltungspraktiken bezogen, entstand durch die zunehmende Forschungsaktivität und den grenzüberschreitenden Informationsaustausch zügig eine in sich vernetzte Debatte, welche die rein an den nationalen Interessen orientierten Resolutionen schrittweise überwand und 1906 beziehungsweise 1910 in ‚echten‘, da von allen getragenen und die Vor- und Nachteile für einzelne Ländergruppen versöhnenden internationalen Resolutionen kulminierte. Diese sahen nicht nur das Abwägen der unterschiedlichen Positionen vor, sie waren zugleich ein an moderat-liberalen Gesetzgebungen orientierter Konsens, der zugleich fürsorgebezogene Kriterien beinhaltete. Deutlicher als bei anderen Themen betonte die Fachwelt, dass die Hilfe für die Bedürftigen an oberster Stelle zu stehen habe und man arbeitete mit Nachdruck darauf hin, eine internationale Konferenz in die Wege zu leiten. Um die absehbaren politischen Gegensätze aufzulösen, arbeiteten die Sozialreformer Lösungsansätze aus, betonten den gemeinsamen Gestaltungswillen und versuchten nachhaltig, auf die Politik Einfluss zu nehmen. Das Thema der ‚Ausländerfürsorge‘ eignete sich in besonderem Maße dazu, die Grundvorstellungen des internationalen Sozialreformer-Netzwerkes zu kommunizieren und wies zugleich einen gemeinschaftsbildenden Charakter auf. Nir118 Klumker, Vom Werden, S. 65. 119 Über die Arbeit des Archivs während des Krieges siehe ebd., S. 66–85.

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gendwo anders als auf den internationalen Fürsorgekongressen hätte das Thema der ‚Ausländerfürsorge‘ eine solche prominente Stellung eingenommen: Es gab dem Netzwerk und seinen Belangen einen zusätzlichen Sinn und trug zur Identifikation mit den Ideen der internationalen Fürsorgefachwelt bei. Die zugrundeliegenden Leitkonzepte umfassten die Vorstellung eines grenzüberschreitenden Engagements, dessen Ziel die Überwindung jeglicher willkürlicher Verwaltungspraktik und die Durchsetzung des Ideals einer ‚rationellen Armenfürsorge‘ war. Aus diesem Grund kam in der Debatte generell Bestürzung über die Lage der ausländischen Bedürftigen zum Ausdruck. Insbesondere die Ausweisung Hilfsbedürftiger sollte nach Ansicht der internationalen Fürsorgevertreter ‚human‘ gestaltet werden. Auf dieser Grundlage fanden die Akteure einen fachlichen und normativen Konsens, welchem sich die Regierungen ihrer Meinung nach nur noch anzuschließen hatten. Während sich die Fachleute auch mithilfe des Themas der ‚Ausländerfürsorge‘ international verständigten und dabei ihren eigenen Stellenwert in der Sozialreformbewegung hervorzuheben versuchten, traten auf der diplomatischen Verhandlungsebene eher realpolitische Interessensgegensätze hervor. Als Gegenstand einer diplomatischen Konferenz stießen die Kongressresolutionen von 1906 und 1910 auf den Widerstand der – vor allem französischen – Partikularinteressen. Im Vordergrund stand nach wie vor weniger die Sorge der nationalen Integrität und die Existenz internationaler Arbeitsströme, als vielmehr das pragmatische Kalkül hinsichtlich der schlechten finanziellen Situation des öffentlichen Armenwesens. Die Initiatoren der Konferenz aus dem Kreis des internationalen Kongresswesens verloren indes den Zugriff sowohl auf die Inhalte als auch auf die Debatte selbst. Damit war die Beeinflussung der politischen Ebene durch die grenzüberschreitend agierende Fürsorgeexpertise an seine Grenzen gestoßen. Einen alternativen und dezidiert praxisorientierten Weg schlugen wiederum diejenigen Fürsorgeakteure ein, die sich auf der privatwohltätigen Ebene bewegten und den Problemstellungen der ‚Ausländerfürsorge‘ aus dem Fürsorgealltag heraus annäherten. In den Beispielen des Caritasverbandes und des Archivs der Berufsvormünder standen die Bemühungen im Vordergrund, den langsamen und auf nationalen Interessen zugeschnittenen politischen Prozessen eine konkrete grenzüberschreitend kooperierende Aktion auf transkommunaler Ebene entgegenzustellen. Abseits der Debatten der international vernetzten Fürsorgeexperten und ohne den Rekurs auf die öffentlichen Strukturen der Armenfürsorge schufen sich einzelne Gruppierungen eigenständige und im Rahmen ihrer Möglichkeiten durchaus effektive Kommunikationsnetzwerke und Handlungsspielräume. Sowohl Klumker als auch Werthmann vertraten die Ansicht, dass ein grenzüberschreitendes Problem auch eine grenzüberschreitende Lösung verlangte. Abhilfe erhofften sie sich weder von der Politik noch aus den theoretischen Erörterungen der Kongresse. Sie war einzig in einer lokalen und selbstständig organisierten Initiative zu finden, die sich eigenständig vernetzte. Trotz der eingeschränkten Möglichkeiten bleibt die Erkenntnis, dass eine sozialreformerische Aktion auf dieser Ebene realisierbar war und punktuell auch realisiert wurde.

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Zuletzt können auch einige Veränderungen im Bereich derjenigen vernetzten Diskurse veranschaulicht werden, welche die Grundwissensbestände der Armenfürsorge im Verhältnis zu den Grundannahmen über moderne Nationalstaatlichkeit verhandelten. So lässt sich anhand des Fragekomplexes ‚Ausländerfürsorge‘ die Erfassung und Trennung von ‚Inländern‘ und ‚Ausländern‘ ablesen. Diese Ausdifferenzierung spielte in den Nationsbildungsprozessen eine entscheidende Rolle.120 Die Bedeutung von Nationalität wurde einerseits mittels der Sozialwissenschaften historisch und kulturell legitimiert und konnte andererseits über die immer feinere Durchdringung des rationalen Organisationsprinzips auch in den Armenverwaltungen praktische Anwendung finden.121 Auffallend ist dabei, wie die Kategorie ‚Nationalität‘ für die Fürsorgeexpertise keine explizite, etwa ideengeschichtliche Bestimmung erfuhr, sondern immer nur im Rahmen von rechtlichen, verwaltungstechnischen oder fürsorgebezogenen Überlegungen indirekt berührt wurde. Das Bedürfnis nach Systematisierung, Ordnung, Kategorisierung der Armutsfälle aber auch die Schaffung konkreter, länderübergreifender Hilfsangebote barg in sich das Wissen um Nationalität sowie um die nationalen ‚Systeme‘ beziehungsweise ‚Kulturen‘ der Armenfürsorge. Mit anderen Worten: Im Diskurs über ‚Ausländerfürsorge‘ entstanden ‚Inländer‘ und ‚Ausländer‘ implizit, das Wissen um sie nahm beiläufig Konturen an. Indem die Fürsorgeexpertise für eine internationale Regelung der Fürsorgepraxis eintrat, festigte sie die Kategorie des ‚bedürftigen Ausländers‘.122 Dennoch muss hervorgehoben werden, dass die vorliegenden Debatten zunächst noch überwiegend theoretischer Natur waren und sich die national definierten Inklusions- und Exklusionspraktiken in den Fürsorgeverwaltungen erst nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges durchsetzen konnten.123 Davor unterschied sich die tatsächliche Handhabung der ‚Ausländerfürsorge‘ oftmals in erheblichem Maße und bringt in Hinblick auf die Rolle, welche die internationale Vernetzung der Debatte spielte, teilweise sogar gegenläufige Tendenzen zutage. So konnte auf einen verarmten Wanderer (‚Vagabund‘) aus einem fremden deutschen Bundesstaat die unmittelbare Ausweisung zutreffen, während ein katholischer italienischer Wanderarbeiter in Baden ein durchaus großzügiges Integrationsangebot – Arbeitsvermittlung, Naturalverpflegung, italienischsprachige Pastoration – vor120 Reinecke, Migranten, Staaten und andere Staaten, in: Arndt (Hrsg.), Vergleichen, S. 249. Zu den Hintergründen und Entwicklung der Staats- und Nationszugehörigkeit vgl. Gosewinkel, Staatsangehörigkeit und Nationszugehörigkeit in Europa während des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Gestrich/Raphael (Hrsg.), Inklusion, Exklusion, S. 207–232. 121 Zimmermann/Didry/Wagner/Delors heben in ihrer Untersuchung über „Nation und Arbeit“ in Frankreich und Deutschland hervor, wie die Nationalstaatsgenese insbesondere auf der Nationalisierung von Regulationspraktiken im Bereich Ökonomie und Soziales beruhten. Vgl. Zimmermann/Didry/Wagner/Delors (Hrsg.), Le travail et la nation, S. 1ff. 122 Weiterführend zum Prozess der Objektivierung von Identität und seinem Verhältnis zu Nation vgl. Hahn, Exklusion und die Konstruktion personaler Identitäten, in: Raphael (Hrsg.), Zwischen Ausschluss und Solidarität, S. 65–96. 123 Zu diesem Ergebnis kommt auch Althammer, in: Raphael, Zwischen Ausschluss und Solidarität, S. 277–309 und dies./Gestrich, ebd., S. 379–406.

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finden konnte. Die präzise Differenzierung der Betrachtungsebenen und der Teilbereiche des ‚Fürsorgesystems‘ erweisen sich als methodisch notwendiger Schritt, um die Formen und Grenzen internationaler Kooperationen zu bemessen. 2. FÜRSORGE DURCH ARBEIT: DIE UNTERSTÜTZUNG ARBEITSFÄHIGER ARMER 2.1. Grundaspekte ‚Unterstützung arbeitsfähiger Armer‘ beziehungsweise ‚Bedürftiger‘ war die Umschreibung für die Hilfsangebote, welche erwachsenen, gesunden und daher arbeitsfähigen Personen unter gewissen Umständen gewährt wurden, wenn ihnen das für den Lebensunterhalt Nötigste nicht zur Verfügung stand. In der geschichtswissenschaftlichen Forschung stoßen jüngst vor allem die zeitgenössischen Debatten über ‚Bettler und Vagabunden‘ auf viel Interesse. Sie bieten Einblicke in die Verfasstheit exkludierender Sozialpraktiken und diskursiv konstruierter Bedrohungskulissen.124 Die hier weiter gefasste Frage nach dem Umgang mit ‚arbeitsfähigen Armen‘ beschäftigte das Expertentum der Armenfürsorge in den nationalen und internationalen Auseinandersetzungen gleichermaßen und kann als repräsentatives Beispiel herangezogen werden, um die Reichweite und Qualität international vernetzter Fürsorgedebatten, sowie die Bedeutung grenzüberschreitend verflochtener Wissensbestände zu rekonstruieren.125 Die zeitgenössischen Diskussionen drehten sich im Wesentlichen um zwei Fragen. Zum einen ging es um das Leitkonzept der ‚Prüfung‘ und ‚Scheidung‘ der Armutsfälle in diejenigen Bedürftigkeitsgruppen, welche nach Ansicht der Fürsorgeexperten aufgrund unverschuldeter Lebensumstände Unterstützung ‚verdienten‘, und solche Individuen, deren fehlerhaftes Verhalten zu ‚selbstverschuldeter Armut‘ geführt hätte und denen daher entweder keine Unterstützung zuteilwerden sollte oder sogar der Arbeitszwang auferlegt wurde.126 Dieser Kategorisierung ging die Vorstellung voraus, dass eine Gruppe von ‚arbeitsscheuen‘ Bedürftigen ‚außerhalb‘ der eigentlichen Arbeiterklasse existierte. Dieser Aspekt ist wichtig, um die Zuschreibungskriterien zu verstehen. Ein ‚chômer involontaire‘, ‚genuine unemployed workman‘ oder ‚unverschuldeter Arbeitsloser‘ hätte im Gegensatz 124 Vgl. Althammer, Bettler; dies., Der Vagabund. Zur diskursiven Konstruktion eines Gefahrenpotentials im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: K. Härter/G. Sälter/E. Wiebel (Hrsg.), Repräsentationen von Kriminalität und öffentlicher Sicherheit, S. 415–453; Althammer/Gestrich/Gründler, The Welfare State; Gestrich/King/Raphael (Hrsg.), Being poor; Gestrich/King (Hrsg.), The Dignity of the Poor; Ammerer/Veits-Falk, (Über-) Leben auf der Strasse, in: Hahn/Lobner/Sedmak (Hrsg.), Armut in Europa 1500 – 2000, S. 140–161; Sachße/Tennstedt, Bettler, Gauner und Proleten. 125 Insbesondere Beate Althammer setzt sich für solch eine Perspektivierung ein: Althammer, Transnational Expert Discourse, in: Althammer/Gestrich/Gründler (Hrsg.), The Welfare State, S. 104. 126 Ausführlicher zum Leitkonzept ‚Prüfung der Armutsfälle‘, Kapitel III, 5.

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zum ‚selbstverschuldeten‘ Armen die Gewöhnung an regelmäßige Arbeit, eventuell Ersparnis, familiäres Leben, Selbstrespekt, Unabhängigkeit und Moral.127 Die ‚selbstverschuldeten‘ Bedürftigen bildeten hingegen eine eigene Gruppe und wurden mit negativen Umschreibungen stigmatisiert und kriminalisiert: ‚unwürdig‘, ‚arbeitsscheu‘, ‚sittenlos‘, ‚Müßiggänger‘, ‚Schmarotzer‘, ‚Parasiten‘ und Ähnliches. Alle Begriffe hatten ihre internationalen Entsprechungen, so dass der Austausch auf dieselben sprachlichen Register und diskursiven Konstruktionen zurückgreifen konnte und dasselbe Bild von gesellschaftlichen Randgruppen zeichnete. Die Kategorisierung der Armutsfälle und effektive Rationierung von Unterstützungsleistungen waren somit wichtige Anknüpfungspunkte für die internationale Verständigung. Zum anderen ging es der Fürsorgeexpertise um die Organisation und die Durchführung der administrativen Versorgung selbst, die je nach ‚Fürsorgesystem‘ und ‚Fürsorgekultur‘ zwar unterschiedliche Ausprägungen annahmen, im Wesentlichen jedoch von denselben Legitimitätsannahmen und begrenzten finanzielle Rahmenbedingungen abhingen. Während das englische ‚Werkshaus‘Prinzip auf die sogenannte geschlossene, also in Arbeitshäusern vollzogene Armenunterstützung als dominierende Struktur der öffentlichen Armenfürsorge setzte, waren beispielsweise in Frankreich und im Deutschen Reich sowohl die geschlossene als auch die offene Armenfürsorge verbreitet und jeweils in Form von öffentlichen oder privaten Einrichtungen vorhanden.128 Die Fürsorgebürokratien verlangten generell die Objektivierung der Unterstützungspraktiken, gleichzeitig sind die Prinzipien von Zwang und Abschreckung, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaße, historisch verwurzelt.129 Ob die Hilfe, der kein rechtlich fixierter Unterstützungsanspruch vorausging, ‚obligatorisch‘ gewährt werden musste, oder ob ein ‚fakultatives‘ Hilfssystem wie in Frankreich vorlag, wirkte sich faktisch hingegen nur nachrangig auf die Unterstützungsleistungen selbst aus. 130 Da die Umsetzung von Armenfürsorge in jedem Falle von den bestehenden Mitteln abhing, war vielmehr entscheidend, wie viele finanzielle und (ehren-) amtliche Ressourcen vorlagen und nach welchen Kriterien diese verteilt wurden. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die damals uneingeschränkt geteilte Ansicht, 127 Auf diese Weise definierte Loch in einem Artikel den Unterschied zwischen Arbeitern und Armen, vgl. Loch, „The Farm or Labour Colony“, Letter to „The Times“ (6. Nov. 1893), in: Occasional Papers of the Charity Organisation Society (1907), S. 258, zitiert nach Topalov, Naissance, S. 195. 128 In Deutschland hatte die geschlossene Fürsorgeform, insbesondere die privatwohltätig organisierte, stets einen nachrangigen Charakter, vgl. Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 1, S. 248ff. Zu den Organisationsprinzipien der Armenfürsorge in unterschiedlichen Ländern vgl. Aschrott, Armenwesen, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften (3. Aufl., 1909), S. 1– 195. 129 Vgl. hierzu die Literatur über die Prinzipien der frühneuzeitlichen Armenfürsorge: Jütte, Arme; Krimm (Hrsg.), Armut; Sachße/Tennstedt (Hrsg.), Soziale Sicherheit; dies., Geschichte, Bd. 1, hier insb. „Repression und Abschreckung gegenüber arbeitsfähigen Armen“, S. 244ff. 130 Zu diesem Ergebnis kam Reitzenstein in seiner Untersuchung „Die Armengesetzgebung Frankreichs in den Grundzügen ihrer historischen Entwicklung“, ebd., S. 200ff.

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dass Armenfürsorge grundsätzlich eine Leistung ohne Gegenleistung sei.131 Alle theoretischen Überlegungen spiegelten daher stets sozioökonomische Ordnungskonzepte und die Moralvorstellungen der Fürsorgepraktiker wider. Die Auseinandersetzung war eng mit dem Erfahrungshorizont der industriellen Revolution, Migrationsbewegungen, Urbanisierung und den daraus folgenden sozialen Spannungen und Ängsten verknüpft. Die Quellen legen in erster Linie die Betrachtungsweise und die Deutungsvormacht der Sozialreformer offen, welche zu den besitzenden und gebildeten Schichten zählten. Bei näherer Betrachtung der Fachliteratur lässt sich erkennen, dass das Fachgebiet Unterstützung arbeitsfähiger Armer nie eindeutig definiert wurde. Außerdem wird ersichtlich, wie die Kategorie ‚Arbeitslosigkeit‘ langsam mit der Kategorie ‚Armut‘ in Konkurrenz trat und das Wissen um Bedürftigkeit und seine Ursachen von Grund auf infrage stellte. Weitere Differenzierungen wie beispielsweise die des ‚vorrübergehend Bedürftigen‘ ergänzten das Deutungsrepertoire und erweiterten es immer wieder um neue Aspekte. Die Einführung von Arbeitsnachweisen zeugt von diesen ersten, bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs weitgehend auf lokale Bereiche und insgesamt nicht besonders erfolgreichen Initiativen, welche beabsichtigten, Arbeitsfähige stärker in den Arbeitsmarkt einzugliedern.132 Das Armenrecht, das Vagabundentum und Betteln sanktionierte, bildete die rechtliche Grenze.133 Die Erziehung von ‚Arbeitsscheuen‘ sowie ihre Verwahrung zum ‚Schutz der Gesellschaft‘ haben weit zurückreichende geschichtliche Wurzeln.134 Maßnahmen zur Unterstützung von arbeitsfähigen Bedürftigen sowie die Bereitstellung institutioneller Hilfsangebote hatten im Laufe des 19. Jahrhunderts sehr unterschiedliche Formen angenommen und waren auch mit der wechselseitigen Wahrnehmung von ausländischen Reformbestrebungen verknüpft. Fachliteratur, Studienreisen und das Kongresswesen zählten zu den gängigen Typen des Wissenstransfers auch in diesem Fachgebiet. Internationale Verbindungen lassen sich in den bekanntesten Institutionen nachweisen, die sich mit der Unterstützung von „arbeitsfähigen Bedürftigen“ beschäftigten. Davon zeugt beispielsweise die auf private Initiativen zurückgehende Einrichtung von Arbeiterkolonien im Deutschen Reich. Die nach belgischen und holländischen Vorbildern geschaffenen Institutionen versorgten wandernde Arbeitssuchende vorübergehend mit Arbeit, Unterkunft und Verpflegung.135 Dem Geist eines christlichen Paternalismus entsprungen, verband der 131 Vgl. exemplarisch Münsterberg, Das Problem der Armut, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 28 (1904), 577–591, hier S. 578. 132 E. Krüger, Bibliographie der Arbeitslosenfürsorge; E. Meyer, Entwicklung und gegenwärtiger Stand der Arbeitsvermittlung im In- und Ausland. Vgl. ferner A. Faust, Der Staat und die Arbeitslosigkeit in Deutschland 1890–1918, in: Mommsen (Hrsg.), Die Entstehung, S. 159–174 und Zimmermann, Arbeitslosigkeit, S. 132ff. 133 Vgl. hierzu auch Topalov, Naissance, S. 197. 134 Jessen, Polizei, in: GG 20 (1994), S. 157–180. Der Artikel legt dar, wie althergebrachte Polizeifunktionen in Wohlfahrtsfunktionen übergeführt wurden. 135 Zur Herkunft und Geschichte der Arbeiterkolonien vgl. die Beiträge von Scheffler, Die Wandererfürsorge zwischen konfessioneller, kommunaler und staatlicher Wohlfahrtspflege, und

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Gründer der deutschen Arbeiterkolonien Pastor Friedrich von Bodelschwingh das religiös motivierte Konzept von ‚Erziehung durch Arbeit‘ mit den Anforderungen eines ‚fortschrittlichen‘ Fürsorgemodells.136 Die Arbeiterkolonien reagierten damit auf die Herausforderungen, welche die Industrialisierung und die rechtlichen Rahmenbedingungen des Unterstützungswohnsitzes stellten. Sie waren immer wieder Gegenstand ausführlicher Erörterungen in der internationalen Fachliteratur und galten lange als nachahmenswerte Errungenschaft im Kampf gegen die ‚Landstreicher‘.137 Eine vergleichbare Neuerung zur Unterstützung bedürftiger Wanderer waren die in der Schweiz und Süddeutschland installierten Naturalverpflegungsstationen beziehungsweise Wanderarbeitsstätten, welche zu einem regelrechten Stationsboom in den 1880er und 1890er Jahren und einer breiten internationalen Rezeption führten.138 Auch die Diskussionen über das sogenannte Werkshaus-Prinzip, wie es in England – nicht von Seiten der privaten Wohltätigkeit, sondern als Wesensmerkmal der öffentlichen Armenfürsorge – Verbreitung gefunden hatte, blieben mit ihrem Ausgangsort verknüpft. Das Abschreckungsprinzip und andere Formen der sozialen Konditionierung waren zwar immer umstritten, riefen dennoch einige kritische Bewunderung und abgewandelte Nachahmungen hervor, welche im Deutschen Reich in der Fachdebatte über die korrektionelle Nachhaft und der

Benad, Bethel zwischen 1890 und 1938, in: Kaiser/Benad (Hrsg.), Sozialer Protestantismus und Sozialstaat, S. 104ff. bzw. 139ff.; Vgl. ferner Ayaß, Das Arbeitshaus Breitenau, S. 44ff. ; Scheffler, Die Gründungsjahre 1883–1913, in: Kiebel (Hrsg.), Ein Jahrhundert, S. 23ff. Edward Snyder betont die für die Arbeiterkolonien entscheidende Beeinflussung Bodelschwinghs während seiner Missionarstätigkeit in Paris: E. Snyder, The Bodelschwingh Initiative, in: Althammer/Gestrich/Gründler (Hrsg.), The Welfare State, S. 150–174, hier S. 152– 156. Zeitgenössische Literatur zur Entstehungsgeschichte der Arbeiterkolonien, vgl. F. Bodelschwingh, Die Wanderarmen und die Arbeitslosen; „Entstehungsgeschichte der ArbeiterKolonien“, in: Arbeiter-Kolonie 2 (1885), S. 163ff.; G. Schlosser, Die Vagabunden-Noth. Zur genauen Beschreibung der Arbeiterkolonien und zeitgenössische Diskussionen über ihre Bedeutung vgl. ferner die „Protokolle der ordentlichen Versammlungen der Mitglieder des Central-Vorstandes Deutscher Arbeiter-Kolonien“ sowie „Stenographischer Bericht über die Verhandlungen in der Armenpfleger-Konferenz zu Berlin am 5. und 6. November 1883 in Dresden“, in: SDV [3], S. 13–33 und S. 197–254. 136 Zu dieser und anderer Formen christlich-konfessioneller Wandererfürsorge siehe auch Althammer, „Wider die Vagabundennoth“, in: Maurer/Schneider (Hrsg.), Konfessionen, S. 162– 182. 137 Vgl. z. B. „Colonies for the Unemployed in Germany“, COR (1895), S. 285. 138 Vgl. „Der Wert der Naturverpflegungsstationen“ ZdA 6 (1905), 6, S. 215. Weiterführend: E. Frie, Fürsorgepolitik zwischen Kirche und Staat, in: Kaiser (Hrsg.), Soziale Reform, S. 114ff.; Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 1, 235ff.; Scheffler, in: Kaiser/Benad (Hrsg.), Sozialer Protestantismus und Sozialstaat, S. 104ff.; ders., in: Kiebel (Hrsg.), Ein Jahrhundert, S. 23ff. Die internationale Rezeption spiegelt sich in den internationalen Zeitschriften und Kongressschriften wider, wo die Arbeiterkolonien und Naturalverpflegungsstationen wiederholt Gegenstand ausführlicher Erörterungen waren, z. B. hier Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 2, S. 96ff.

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Verabschiedung des ‚Arbeitsscheuengesetz‘ von 1912 einen verhältnismäßig späten Höhepunkt erreichte.139 Im Folgenden werden einige Grundlinien der internationalen Auseinandersetzung des Fachgebiets durchleuchtet und die Wechselwirkungen insbesondere mit der deutschen Fürsorgeexpertise analysiert. Dabei werden vor allem die internationalen Fürsorgekongresse und die in ihrem Kontext etablierten SozialreformerNetzwerke betrachtet.140 Die Fragen danach, welche Funktion die internationalen Beziehungen erfüllten und wie sich die theoretischen Erörterungen und praktischen Umsetzungen der Unterstützung arbeitsfähiger Armer international beeinflussten, stehen im Vordergrund. Darüber hinaus wird ersichtlich, wie sich die Vorstellungen von ‚Würdigkeit und Unwürdigkeit‘ sowie die repressiven Maßnahmen von Arbeitshaus und Arbeitszwang uneingeschränkt halten, teilweise sogar verschärfen konnten und welchen Anteil internationale Verflechtungen an diesem Prozess hatten. 2.2. Debatten über eine ‚universelle‘ Problemlage Als das Thema der Unterstützung arbeitsfähiger Bedürftiger auf dem Kongress 1889 im Kreise der internationalen Fachwelt diskutiert wurde, stand die Auseinandersetzung noch ganz im Zeichen der sogenannten Vagabundenkrise der 1880er Jahre. Mit diffamierender Semantik verbreitete man überall das Bild der ‚arbeitsscheuen Vagabunden‘. Der wirtschaftliche Abschwung und strukturelle Probleme verschärften das Problem.141 Unabhängig der schwankenden Anzahl142 sah man in den wandernden Arbeitslosen zunehmend eine gesamtgesellschaftliche Bedrohung. Die Darstellungen über den gefährlichen, arbeitsscheuen und unsittli139 Ayaß, Die „korrektionelle Nachhaft“, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 15 (1993), S. 184–201. Siehe auch Rudolph, Die Kooperation von Strafrecht und Sozialhilferecht bei der Disziplinierung von Armen mittels Arbeit. 140 Für eine weiterführende Darstellung grenzüberschreitender ‚Vagabundendiskurse‘ im Rahmen der International Penitentiary Congresses vgl. Althammer, Transnational Expert Discourse, in: Althammer/Gestrich/Gründler (Hrsg.), The Welfare State, S. 103–125. 141 Althammer, Bettler, S. 3ff.; dies., Der Vagabund, in: Härter/Sälter/Wiebel (Hrsg.), Repräsentationen, S. 415–453. Im Falle Frankreichs spielte der Rückgang der agrarischen Produktion, der einen Preissturz nach sich zog, eine wesentliche Rolle, vgl. Smith, Assistance and repression: rural exodus, vagabondage and social crisis in France, 1880–1914, in: Journal of Social History 32 (1999), S. 821–846. Zur wirtschaftlichen Ausgangslage und Binnenwanderung im Deutschen Reich vgl. auch Sachße, Mütterlichkeit, S. 20ff. Für ein repräsentatives Beispiel des Vagabundendiskurses vgl. „Stenographischer Bericht über die Verhandlungen in der Armenpfleger-Konferenz zu Berlin am 11. und 12. November 1881 in Berlin“, in: SDV [2], hier S. 115–138 und S. 170–190. 142 Timothy Smith macht auf die konjunkturelle Schwankungen aufmerksam und schätzt für Frankreich ca. 400.000 herumfahrende Arbeitssuchende in den 1890er Jahren, vgl. Smith, Assistance and repression, S. 823f. Ähnlich in: Der Wanderer 24 (1907), S. 101. Über die Schwierigkeiten der statistischen Erfassung vgl. auch Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 1, S. 236.

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chen Vagabunden griffen dabei auf eine gesamteuropäische Tradition zurück und erlebten in dieser Zeit einen Höhepunkt.143 Vor diesem Hintergrund wuchsen die Fachliteratur und die armenfürsorglichen Praktiken in starkem Maße an und wurden zugleich wesentlicher Bestandteil internationaler Erörterungen. Die gegenseitige Rezeption und der Austausch über das Thema fungierten in erster Linie als Stütze der Argumentation und trugen zur Selbstvergewisserung bei, wenn es darum ging, dem wachsenden Problem der ‚Vagabundenplage‘ Herr zu werden. Auf dem internationalen Kongress 1889 in Paris kam es zu einer ersten systematischen Erörterung und einem internationalen Austausch über die Situation in den einzelnen Nationen und die Maßnahmen, welche zur Lösung der ‚Vagabundenfrage‘ ergriffen wurden. Der russische Delegierte Raffalovich berichtete über die Zustände im Deutschen Reich, wo die Naturalverpflegungsstationen jüngst viel Interesse hervorriefen. Die „natürliche Geschichte des Bettlers“, hob der Berichterstatter hervor, sei bekanntermaßen in allen „Kulturnationen“ ähnlich verlaufen, Netzwerke von Arbeiterkolonien, Arbeitshäusern, Versorgungsstationen, Herbergen und dergleichen würden überall dieselbe Erscheinung bekämpfen. Die größte Herausforderung, welcher sich die internationalen Experten zu stellen hätten, wäre indes, eine im besten Fall gesetzlich verankerte Kooperation der Einrichtungen zu erwirken, um dem „massenhaften“ Missbrauch vorzubeugen. Offenbar würden viele der Wanderer mit falschen Identitäten reisen, um kostenlose Verpflegung an unterschiedlichen Orten zu bekommen, außerdem seien Alkoholismus und „Arbeitsscheue“ weit verbreitet.144 Der Missbrauchsvorwurf war ein zentrales Argument, um Reformbedarf anzuprangern, denn nach Ansicht der Kongressdelegierten sei die Hilfe für Wanderer noch in keinem Land besonders ausgereift, stattdessen liege an vielen Orten eine unbedachte Almosenverteilung vor. Rechtliche Fortschritte seien lediglich im Deutschen Reich zu verzeichnen, wo das Strafrecht „Faulheit und Arbeitsscheue“, im Gegensatz zu Frankreich, rigoros kriminalisierte.145 Generell riefen die strafrechtlichen Regelungen auf den internationalen Versammlungen stets viel Interesse hervor und waren Gegenstand unzähliger Erörterungen der Fachliteratur. Die Überlegungen zur administrativen Versorgung, das heißt der Unterbringung arbeitsfähiger Bedürftiger in Arbeitsanstalten auch ohne richterlichen Beschluss, war eines der häufigsten Themen nicht nur in Deutschland, sondern auch in der internationalen Fachwelt.146 Die grenzüberschreitende Rezeption trug zu dessen anhaltender Erörterung weit in das 20. Jahrhundert hinein bei. Abhilfe bezüglich der ‚Arbeitsscheue‘ versprach man sich unter anderem auch von der privaten Wohltätigkeit. Das System der Naturalverpflegungsstationen galt als vielversprechender Lösungsansatz. Man forderte seinen Ausbau sowie eine rechtliche Verankerung. Mit den Mottos ‚Brot für Arbeit‘ und ‚Heimat für 143 144 145 146

Vgl. Althammer, Bettler, S. 3ff. und Smith, Assistance and repression, S. 823ff. und 835ff. Congrès international d’assistance 1889, Bd. 2, S. 46. Ebd. Hintergrund ist die problematische Einordnung des Armenrechts zwischen dem Verwaltungsrecht und dem Strafrecht, vgl. Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 1, S. 244f.

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die Heimatlosen‘ warben auch die belgischen und die von Bodelschwingh im Deutschen Reich eingerichteten Arbeiterkolonien beim internationalen Publikum.147 Für die Mehrzahl der nicht wandernden Bedürftigen, welche unter harten Bedingungen ihren Alltag zu meistern hatten und von den diskriminierenden Folgen der Armenfürsorge gleichermaßen betroffen waren, gab es auf dem internationalen Kongress von 1889 wenige Neuerungen. Ein differenzierter Begriff für Arbeitslosigkeit und Arbeitslose lag in den 1880er Jahren noch nicht vor. Arbeitsvermittelnde Büros und das System der Arbeitsnachweise standen noch am Anfang ihrer Entwicklung. Stattdessen verweilte man mehrheitlich auf dem Standpunkt, dass sich die öffentliche Armenfürsorge nicht obligatorisch um Arbeitsfähige zu kümmern habe.148 Die vereinzelten Überlegungen zu den wirtschaftlichen Elendskrisen verortete man nicht im selben Problem- und Zuständigkeitsrahmen. Das überlieferte Selbstverständnis betrachtete Armenfürsorge ohnehin als Maßnahme zum Schutz der Gesellschaft, weshalb Versorgung oftmals mit dem Begriff der Verwahrung einherging. Dieses ‚Schutzbedürfnis‘ fand auf den internationalen Kongressen einen breiten Konsens. Die Rückkoppelung an strafrechtliche Fragen zeigte sich auf dem Wohltätigkeitskongress 1893 in Chicago am deutlichsten.149 In den USA waren die Bereiche „Charities“ und „Correction“ noch eng miteinander verbunden und wurden dementsprechend auf denselben Veranstaltungen mit denselben Vertretern debattiert.150 Die von Belgien und Frankreich ausgehenden internationalen Fürsorgekongresse gingen ebenfalls aus den „Gefängniskongressen“151 hervor und bewahrten zu ihnen eine inhaltliche und personelle Nähe. Allerdings trat in den Diskussionen der internationalen Fachwelt immer klarer zutage, dass die disziplinierenden Maßnahmen gegenüber arbeitsfähigen Bedürftigen vor dem Hintergrund des sich konstituierenden Rechtsstaates immer wieder neu legitimiert werden mussten. Die auf dem Kongress 1889 gestellte Frage „Le dépôt de mendicité doit-il être un établissement d’assistance, un établissement pénitentiaire?“ wurde dahingehend beantwortet, dass die öffentliche Armenfürsorge, „largement organisée et scrupuleusement appliquée“, das Elende zu verhindern habe. Bedürftigkeit führe unweigerlich zum „Laster“ und zur Straftat. Für eine „assistance sérieuse“ stelle das Betteln eine verwerfliche Gewohnheit dar und 147 „Dépots de mendicité départementaux“, in: Congrès international d’assistance 1889, Bd. 2, S. 253ff. 148 Zur Diskussion vgl. Congrès international d’assistance 1889, Bd. 2, S. 50. 149 Siehe J. Weber, Pauperism and Crime, General Exercises of the International Congress 1893, Bd. 1, S. 131–140. In den USA spielte die Wahrnehmung verarmter Einwanderer bei der Bewertung von Armuts- und Kriminalitätsfragen immer eine wesentliche Rolle. 150 Vgl. National Conference of Charities and Correction, Official proceedings of the annual meeting. 151 Siehe den Artikel „Gefängnisarbeit“ im „Handẅrterbuch der Staatswissenschaften“ (2. Aufl., Bd. 4, 1900). Zur Entstehung früher Sozialreformer-Netzwerke im Umfeld der Gefängniskongresse vgl. Leonards/Randeraad, Transnational Experts, in: International Review of Social History 55 (2010), 2, S. 215–239, insb. S. 222 und S. 230.

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müsse ebenso wie der Müßiggang (fainéantise) bestraft werden, um dem moralischen Missstand Einhalt zu gebieten.152 Die widersprüchliche Verbindung zwischen fürsorglichen und repressiven Maßnahmen fand im internationalen Austausch eine zusätzliche Legitimationsquelle. Hieraus ergab sich eine zentrale Fragestellung, welche infolgedessen alle Diskussionen über die Unterstützung arbeitsfähiger Armer dominierte: Wie konnte effektiv zwischen den ‚würdigen‘ oder ‚unverschuldeten‘ Bedürftigen und den ‚unwürdigen‘ beziehungsweise ‚selbstverschuldet‘ Verarmten unterschieden werden? Eine erste Unterscheidung zwischen dem „honnête ouvrier“ und dem ‚eigentlichen‘ Klientel der Armenfürsorge war bereits auf dem internationalen Kongress 1889 durch C. S. Loch angeregt worden.153 Diese Kategorisierung erforderte nach Ansicht der Fürsorgeexperten jedoch weitere Differenzierungen. Die internationalen Veranstaltungen boten die Gelegenheit, sich über diese Frage weiter zu beraten. Anhand der Trennung des „chômeur accidentel“ vom „mendiant professionnel“ eruierte man auf den Kongressdebatten das gesamte Kategorienspektrum und damit die Formen und Grenzen der Fürsorge durch Arbeit.154 Die generell sehr begrenzten finanziellen Mittel der Armenverwaltungen unterstützten darüber hinaus die Notwendigkeit, sich auf die Untersuchung der ‚moralischen Situation‘ eines Bedürftigen zu konzentrieren. Eine schnelle und effektive Hilfe sollte somit gewährleistet werden. Die Prüfung des Armutsfalles hatte für die entsprechenden „arbeitsscheuen Elemente“ ein sittliches Erziehungsprogramm zur Folge. Eine „gewisse Rigorosität“ sei da notwendig, gab Loch zu bedenken und verteidigte das in die Kritik geratene englische Abschreckungsprinzip vor seinen internationalen Kollegen. Seiner Meinung nach habe die Entwicklung der freien Wirtschaftsordnung nicht mit einer moralischen Entwicklung Schritt gehalten. Fleiß, Sparsamkeit und tugendhaftes Verhalten müssten entsprechend anerzogen werden, um die wirtschaftlichen, sozialen und kriminellen Folgen rechtzeitig abzuwenden.155 Der Franzose Tessier de Cros setzte sich auf den Kongressdebatten 1889 indes für den Gedanken der Resozialisierung ein. Die arbeitsscheuen Bedürftigen sollten mit erzieherischen Maßnahmen wieder in die Gesellschaft zurückgeführt werden. Wichtiger Referenzpunkt war auch hier das englische ArbeitshausSystem. Dort habe man, so Tessier de Cros, das Problem durchaus richtig erfasst. Negativ beurteilte er gegenüber seinem Kollegen Loch jedoch die Einseitigkeit des englischen Abschreckungsmodells, welches nur auf die geschlossene Armen152 Congrès international d’assistance 1889, Bd. 2, S. 19. 153 Loch, De l’organisation de l’assistance, in: Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 51ff. Zur Herausentwicklung der Einteilungskriterien im Spiegel internationaler Debatten vgl. Topalov, Naissance, S. 204ff. 154 So auch auf dem Kongress 1900 in Paris, vgl. Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 2, S. 96ff. 155 Loch, in: Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 69 sowie ders., International Congress, and the Administration of Relief in Paris, COR 6 (1890), S. 2–3 (Übersetzungen des Verf.). Zur kritischen Haltung der französischen Fürsorgeexperten gegenüber dem englischen Abschreckungsprinzip, vgl. Topalov, Naissance, S. 201.

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pflege setzte. Außerdem kritisierte er die fehlende Unterscheidung der verschiedenen Insassengruppen. So war es üblich, Jugendliche, Familienväter und Kranke zusammen mit Kriminellen in derselben Einrichtung und denselben Räumlichkeiten unterzubringen. Das Problem der unzureichenden Unterscheidung lag allerdings auch in Frankreich (dépôts de mendicité) und in Deutschland vor, wo man jeweils in der Fachliteratur über die Vorzüge und Nachteile des englischen Werkshausprinzips beriet.156 Aber auch den amerikanischen, privat organisierten Armenhäusern brachte man auf dem internationalen Kongress 1889 viel Interesse entgegen. Der aus den USA angereiste Rosenau berichtete über die positiven Erfahrungen, welche die amerikanischen Einrichtungen mit der Unterteilung der Bedürftigengruppen gemacht hätten. In Boston und New York sei man dazu übergangen zwischen denjenigen Armen zu unterscheiden, die für weitere Unterstützung für würdig empfunden wurden, solchen, die temporäre Hilfe benötigten und schließlich solchen, die lediglich auf der Suche nach Arbeit seien. Im Übrigen wurde auf die Tatsache, dass letztere Gruppe in dieser Klassifizierung mehr als die Hälfte (52%) ausmachte, während gerade einmal 17% der Insassen als ‚unwürdig‘ eingestuft wurden, nicht weiter eingegangen: Die Darstellung verweist auf die einseitige Problemauffassung der Fürsorgeexperten.157 Sowohl Tessier de Cros als auch Loch und Rosenau argumentierten, dass die Methodenvielfalt der einzelnen Länder ein reiches Instrumentarium böten, um dem Anspruch der effektiven Fallprüfung gerecht werden zu können. Die abschließenden Kongressresolutionen brachten es entsprechend auf den Punkt. Notwendig seien vor allen Dingen die Koordination und Kooperation der öffentlichen und privaten Fürsorge, weitere statistische Erhebungen, die Spezialisierung des Angebots für bestimmte Gruppen, außerdem die Schulung des Personals.158 Letztgenannte Forderung galt als besonders innovativ. Unter Schulung verstand man insbesondere die für notwendig erachtete Fähigkeit der ‚visiteurs‘, die ihnen anvertrauten Fälle rasch zu beurteilen und vermeintliche Schwindler zu entlarven. Der ungeprüften Verteilung von Almosen sollte damit Einhalt geboten werden. In dem Maße, wie sich das ‚Klassifizierungsparadigma‘ international als effiziente Maßnahme der Armenverwaltung und ‚Sicherheitsprävention‘ durchsetzte, etablierte sich in den Fachdebatten zur Fürsorge für arbeitsfähige Bedürftige ein reger internationaler Austausch, der sich vor allem in steigenden internationalen Bezügen und Beispielen im Bereich der Fachpublizistik ablesen lässt. Amerikanische Studien, welche den Zusammenhang von ‚poverty‘, ‚vagrancy‘ und ‚delinquency‘ tiefergehend analysierten, stießen in der europäischen Fachwelt entspre-

156 L. Tessier de Cros, De l’organisation méthodique de la bienfaisance, Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 25ff. Zur Rezeption des Werkshausprinzips in Deutschland vgl. Aschrott, Das englische Armenwesen. 157 Congrès international d’assistance 1889, Bd. 2, S. 32 sowie ausführlich S. 111ff. 158 „Conclusions, présentées conjointement par Teissier du Cros, Loch et Rosenau“, in: Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 131.

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chend auf viel Resonanz.159 Sie unterstrichen die Notwendigkeit, die ‚selbstverschuldeten‘ von den ‚unverschuldeten‘ Bedürftigen zu trennen und ersteren mit erzieherischer Strenge zu begegnen. Trotz Ausweitung des allgemeinen Fürsorgeangebotes und der Anerkennung der ‚unverschuldeten‘ Arbeitsfähigen verschärfte sich auf diese Weise die Vorgehensweise gegen solche arbeitsfähigen Bedürftige, die unter dem Generalverdacht der ‚Liederlichkeit‘ und ‚Arbeitsscheue‘ standen. Der gegenseitige Austausch von Anschauungsmaterial erfüllte hierfür eine affirmative Funktion. Es formierte sich ein sich gegenseitig argumentativ stützendes Expertenwissen, das die repressiven Elemente der Armenfürsorge als eine unentbehrliche Sicherheitsvorkehrung befürwortete.160 Hierzu gehörte auch, dass man stets neue Ansätze und Methoden der Arbeitshäuser studierte. So konnte man sich in der deutschen Zeitschrift Sociale Praxis in einem detaillierten Bericht darüber informieren, wie die Klassifizierung der Insassen im englischen „Arbeitshaus zu Hull“ vonstattenging und nach welchen Kriterien sie versorgt werden: In „Klasse 1“ fielen demnach solche Arme, die ein ordentliches und arbeitsames Leben geführt hatten aber unverschuldet in Not geraten sind. Hierunter fielen auch solche, die eine gute Erziehung genossen hatten und schon einmal Steuern gezahlt hatten. Auf sie warteten die beste Verpflegungsstufe mit abwechslungsreicherer Nahrung und die Erlaubnis, „spazieren zu gehen“. Die „Klasse 2“ mit mittlerem Versorgungsniveau umfasste die „Subsistenzlosen“, die zwar arbeitsam waren, aber ihre Not selbst verschuldet hatten. Der „Klasse 3“ zugehörig waren die „unverbesserlichen, liederlichen, Trunkenbolde, professionellen Bettler, Sträflinge etc.“.161 Darstellungen wie diese finden sich häufig in den Fachzeitschriften und sollten den Fortschritt gegenüber der vormals unterschiedslosen Behandlung der Armen belegen. Mit Interesse nahm man zur Kenntnis, dass sich die englischen Armenhäuser dahingehend verbessert hätten, dass sie Kinder, Kriminelle, Kranke und unbescholtene arbeitsfähige Erwachsene zunehmend voneinander getrennt versorgen würden. Es blieb zwar fraglich, ob bereits die „endgültigen Merkmale der Eintheilung“ gefunden worden seien. Dennoch verfolgte man jede Entwicklung genau und diskutierte jeden Verbesserungsvorschlag, „abgesehen davon, dass es bei uns zur sachgemässen Nachahmung der Institution vielfach an geeigneten Verwaltungsorganen fehlen würde“.162 Der Wohltätigkeitskongress 1893 in Chicago, wo dem Thema der ‚Vagabunden‘- und ‚Bettelbekämpfung‘ ebenfalls ein hoher Stellenwert eingeräumt wurde163, knüpfte indes noch engere Verbindungen zwischen den amerikanischen und europäischen Sozialreformern. Eine verstärkte Einbindung in die europäischen 159 So zum Beispiel Henderson, Dependent, Defective, and Delinquent Classes and of their Social Treatment. 160 Dies wurde auf dem Kongress 1889 in Paris besonders deutlich, vgl. Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 19 und 23ff. 161 „Klassifikation im Arbeitshaus zu Hull in England“, in: Sociale Praxis (1895), 21, S. 596f. 162 Ebd. 163 Siehe J. McCook, Tramps, General Exercises of the International Congress 1893, Bd. 1, S. 97–108 und Wright, Vagrancy, ebd., S. 108–117.

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Debatten wurde ausdrücklich gewünscht. Der ehemalige Präsident der State Board Charities von New York Oscar Craig betonte mit Nachdruck die schlechte Lage der europäischen Einwanderer und bezweifelte deren Arbeitswille.164 „I am free to say that we come far short of London and other parts of Europe in the matter of labor tests“, gab ein anderer Sachverständiger aus New York zu bedenken und sprach sich für die Einführung von „Arbeitshaustests“ nach englischem Vorbild aus.165 Was die Gründung von Arbeiterkolonien nach deutschem Vorbild anbelangte, so führte man über den Sinn und Zweck, besonders vor dem Hintergrund der geographisch, politisch und sozial extrem unterschiedlichen USA, eine kontroverse Debatte. Am Ende stand die Ansicht, dass die Arbeitswilligen in den USA auch stets Arbeit finden könnten, wenn sie diese ernsthaft suchen würden. Die übrigen Bedürftigen hingegen seien als „hopelessly incompetent“ einzustufen und besser einem strengen Erziehungsprogramm in den Arbeitshäusern zuzuweisen: „years would scarcely suffice to develop them physically, mentally and morally into human beings capable of self-respect, self-support and self-development.“166 Für die Jahre vor und um 1900 kann generell festgehalten werden, dass die Fürsorgeexperten, wenn sie sich auf internationale Beispiele bezogen, oftmals einen sehr unpräzisen, teilweise verstellten, teilweise auch beschönigenden Blick auf das ‚eigene‘ oder das ‚ausländische‘ Fürsorgewesen warfen. Immer wieder war den Publikationen zu entnehmen, dass es in bestimmten Städten und Regionen aufgrund einer bestimmten Maßnahme keine Bettler mehr gebe und die Armut aufgrund einer neuartigen Unterstützungsform aus der Öffentlichkeit völlig verschwunden sei.167 Übertriebene oder sogar falsche Behauptungen lassen einerseits auf noch geringe Kenntnisse über die tatsächlichen Verhältnisse schließen. Andererseits ließen sich Fachberichte auf diese Weise instrumentalisieren und Reformbedarf offenlegen. Dies gilt zum Beispiel für die Debatten des Zentralvorstandes deutscher Arbeiterkolonien, in dessen Sprachrohr Der Wanderer das Scheitern eines preußischen Gesetzes zur gesetzlichen Verankerung von Naturalverpflegungsstationen für bedürftige Arbeitssuchende schwer kritisiert wurde. „Stillstand in Preußen – Fortschritt im Ausland“ hieß es in dem Bericht, in dem man die „Rückständigkeit“ im internationalen Vergleich anprangerte:

164 General Exercises of the International Congress 1893, Bd. 1, S. 58ff. 165 Paton (von der ‚New York Association for Improving the Condition of the Poor‘), in: General Exercises, Bd. 2, S. 38. Vgl. auch White, Labor Tests and Relief in Work in the United States, General Exercises, Bd. 2, S. 87–99. 166 Lowell, Are Labor Colonies needed in the United States?, in: General Exercises, Bd. 2, S. 77– 87, Zitat S. 84. 167 Oft konstatierten Autoren, dass es in bestimmten Städten oder Regionen keine Bettler mehr gebe und bedienten sich dabei sehr unrealistischer oder übertriebener Darstellungen, so zum Beispiel in: Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 46 („keine Bedürftige im Elberfelder System“), Der Wanderer 18 (1901), S. 33ff. („keine Bettler in Frankreich“). Umgekehrt versicherte die Charity Organisation Review, dass es in London weniger Arme gebe, als in der ausländischen Literatur wahrgenommen, vgl. COR 1897, 2, S. 236.

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Jeden guten Deutschen muß ein Gefühl der Verschämung beschleichen, wenn er die bei uns seit der Ablehnung des Preußischen Gesetzentwurfes über N. Stationen am 1. Juli 1895 eingetretene Stockung und Verschleppung empfindet und sieht, wie das Ausland, welches die deut168 schen Fürsorge-Einrichtungen nachahmte, uns mehr und mehr überholt.

Verärgert über die Verschleppung betonte der Autor, dass es sich um eine „Ungerechtigkeit“ gegenüber arbeitslosen Wanderern handle, würde man das Stationswesen nicht weiter ausbauen. Die Maßnahmen, egal ob für „arbeitsuchende oder arbeitsscheue, arbeitsfähige oder -unfähige“ Personen, hätten sich an die allgemeingültigen Standards anzupassen. Die Schweiz hätte erfolgreich das System der Arbeitsnachweise und Naturalverpflegungsstationen zusammengelegt: Behörden, Verpflegungsstationsvertreter und gewerbliche Vertreter würden Hand in Hand arbeiten. Es gebe auch eine gemeinsame Konferenz und Ansätze, zwischen den Arbeitsnachweisbüros Verbindungen herzustellen. Interessant sei vor allem die Idee, dass alle Wandernden die ihnen angebotene Arbeit annehmen müssten, da sonst der Verlust des Unterstützungswohnsitzes folge.169 Auch ein anderes Beispiel beleuchtet die Funktion internationaler Bezüge in den Debatten über die Unterstützung arbeitsfähiger Bedürftiger. Als 1893 mehrere englische Fachleute verschiedene deutsche Arbeiterkolonien besuchten, standen sie diesbezüglich auch mit ihren deutschen Kollegen Massow, Berthold und Bodelschwingh in Kontakt. Der daraufhin entstandene „report on agencies and methods for dealing with the unemployed“ lobte die Arbeiterkolonien als mustergültige Einrichtungen, wobei insbesondere auch Julie Sutters Buch „A colony of mercy“ zur deren Popularität beitrug. Die Berichterstattung in der Zeitschrift Die Arbeiter-Colonie reagierte mit Stolz auf diese Wertschätzung und führte sie geschickt als Argument gegen die heimischen Kritiker der Arbeiterkolonien ins Feld: Diese ausländischen Entdeckungen und Anerkennungen deutscher Liebesthätigkeit an Arbeitslosen bilden ein Gegengewicht gegen die bei uns zu Hause leider in der letzten Zeit hervorgetretenen einseitig-kritischen Beurteilungen und ermuntern uns zu treuer, beharrlicher 170 Fortsetzung unserer Arbeit.

Ausführliche Darstellungen über ausländische Fürsorgepraktiken und deren weiterführende literarische Rezeption verfolgten immer ähnliche Ziele. Sie bedienten sich einerseits dem internationalen Konkurrenzdenken, um in den nationalen Fürsorgedebatten Reformbedarf aufzuzeigen. Mahnende Vorbilder oder auch abschreckende Szenarien stehen für diese selektive Wahrnehmungsweise. Andererseits bestärkte sich die internationale Fachwelt zugleich gegenseitig in der Ansicht, vereint auf die ihrer Meinung nach langsamen Gesetzgeber und andere untä168 Der Wanderer 15 (1898), S. 342f. 169 Ebd. Für besonders wertvoll wurde die Idee der Ausweitung des Arbeitsnachweises für die nicht wandernde Bevölkerung (aus St. Gallen) erachtet. Dieselbe Kritik am „preußischen Gesetzgeber“ wird auch laut in: Der Wanderer 18 (1901), S. 308ff. über die „Schweizerische und Badische Verpflegungsstationen“. 170 „Arbeiterkolonien auch im Ausland“, in: Die Arbeiter-Colonie (Der Wanderer) 10 (1893), S. 362ff. sowie Sutter, A colony of mercy.

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tige Fürsorgefachleute einzuwirken. Dadurch entstand ein grenzübergreifender Dialog, der Gemeinsamkeiten und Potentiale einer vereinten Aktion gegen die ‚Bettler- und Vagabundenfrage‘ eruierte. Grundlage für diesen Dialog war auch der historische Blick auf die ‚Bettlererscheinung‘, die gemeinsame literarische Tradition und die Vorstellung einer zivilisatorischen Mission, ‚Arbeitsscheue‘ und das Betteln aus den ‚Kulturnationen‘ zu verbannen. Der internationale Kongress von 1900, in dessen Folge sich die Austauschbeziehungen verdichteten und intensivierten, hatte für die Schaffung dieses Selbstverständnisses eine zentrale Bedeutung und trug zu einem Wandel der internationalen Wahrnehmung bei. In dieser Dynamik, in welcher die stetige Zunahme von Fachwissen über ausländische Fürsorgepraktiken eine entscheidende Rolle spielte, verloren rein national geprägte Deutungsmuster langsam an Bedeutung, dies lässt sich anhand der Kongressdebatten und der Fachpublikationen, wie im Wanderer, exemplarisch nachzeichnen.171 Zu beobachten ist die Versachlichung, genaue Betrachtung und Prüfung, bis hin zur Wertschätzung, selbst der kritisch beäugten englischen Armenpflege.172 Überlegungen zur konkreten Übertragbarkeit von rechtlichen oder fürsorglichen Praktiken waren auch ein Aspekt der Austauschbeziehungen. Man versprach sich großen Nutzen von allen Beobachtungen173, auch wenn ein einfacher Strukturtransfer nicht möglich war. Noch wichtiger als die Frage der Anwendbarkeit war jedoch das Gefühl der grenzüberschreitenden Verbundenheit im Kampf gegen die ‚Arbeitsscheue‘. 2.3. Internationale ‚Allianz gegen Arbeitsscheue‘ Wie dargestellt werden konnte, gab es in den letzten Jahren vor der Jahrhundertwende einen anhaltenden und sich intensivierenden Wissenstransfer zum Thema der arbeitsfähigen Bedürftigen: Organisatorische, methodische und normative Leitkonzepte bestätigten sich und schrieben sich tief in die Debatten über den Umgang mit ‚Arbeitsscheuen‘ ein, Reformen und Gesetzesänderungen wurden stets aufmerksam verfolgt. Die Entstehung einer internationalen ‚Allianz gegen Arbeitsscheue‘ erlebte auf dem Kongress von 1900 ihren eigentlichen Durchbruch. ‚Vagabundenfrage‘, Arbeitshäuser und Arbeiterkolonien waren eines der wichtigsten Themen, die professionelle Unterscheidung von selbstverschuldeter und unverschuldeter Armut eines der zentralen Anliegen der Debatten. FerdinandDreyfus hob in seinem Vortrag die Leistungen hervor, die aufgrund der internati171 Exemplarisch k̈nnen die Darstellungen über die „Vagabundenfrage“ und „Fürsorge für bedürftige Arbeitssuchende“ aus dem Wanderer, der Revue philanthropique und des Charity Organisation Review herangezogen werden. Internationale Wahrnehmung, Vergleich und die gegenseitige Rezeption von Literatur und Fürsorgemaßnahmen sind darin dicht angesiedelt. Vgl. beispielsweise die Artikel in: Arbeiter-Kolonie (Der Wanderer) 6 (1889), S. 3ff. und 161ff., 7 (1890), S. 163ff., 10 (1893), S. 195ff., 23 (1906), S. 34ff. 172 Vgl. insbesondere Aschrott, Das englische Armenwesen, S. V-XII; ZdA 4 (1903), 3, S. 65ff. 173 So wurden beispielsweise auch Verwaltungsberichte studiert, siehe Aschrott, Das englische Armenwesen, S. 382–391.

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onalen Verständigung zwischen den Experten erzielt wurden: Die belgischen Arbeiterkolonien, das schweizerische System der Naturalverpflegungsstationen, die Bodelschwinghschen Anstalten sowie die amerikanischen und englischen Ansätze für ein differenziertes Arbeitshaussystem – sie galten allen als maßgebliche Referenzpunkte für eine zeitgemäße Weiterentwicklung der Fürsorge für arbeitsfähige Bedürftige. Ferdinand-Dreyfus betonte den Wert, sich über den Aufbau und die Funktionsweisen der einzelnen Fürsorgeeinrichtungen genauestens auszutauschen. Alle denkbaren Aspekte – verfügbare Ressourcen, Finanzierung und Ausgaben, Modalitäten der Arbeitsverteilung, Versorgungsprinzipien, Resultate und Statistiken, die Beziehung zwischen Fürsorge durch Arbeit und anderen Fürsorgeformen, das Verhältnis zwischen privaten und öffentlichen Einrichtungen – sollten genauestens dokumentiert und dem internationalen Fachpublikum bereitgestellt werden.174 Der in den vorausgegangenen Jahren gestiegene Wissensaustausch löste damit die partielle Wahrnehmung und das beschönigende Interpretieren von Halbfakten ab. Statt der einseitigen Rezeption instrumentalisierbarer Publikationen bemühten sich die zwischenzeitlich oft persönlich bekannt gewordenen und über das internationale Kongresswesen vernetzten europäischen Experten um eine möglichst akkurate Berichterstattung. Die zentrale Fragestellung des Kongresses von 1889 wurde auch 1900 wieder neu formuliert: Mais comment déterminer les frontières souvent si imprécises du domaine de l’assistance et du domaine de la répression? Comment séparer le bon grain de l’ivraie et les chômeurs néces175 siteux des mendiants professionnels?

Die Resolutionsvorschläge der einzelnen Vorträge deckten sich weitgehend. Fürsorge durch Arbeit wurde darin durchgehend als ein „moyen de sélection et un moyen de reclassement“ definiert.176 Man forderte ein strenges Regelwerk, um die Scheidung der ‚würdigen‘ von den ‚unwürdigen‘ Armen und die sachgemäße Verpflegung aller Bedürftigengruppen zu ermöglichen. Entsprechend unterschiedlicher Art waren die Einrichtungen, die auf dem Kongress vorgestellt wurden: Nachtasyle, Arbeitshäuser, Fürsorgeeinrichtungen für entlassene Gefangene, Bettlerstationen, Wanderarbeitsstätten und vieles mehr. Conrad Massows unterstrich in seinem Beitrag über deutsche Maßnahmen gegen das „Vagabundenproblem“ die Ansicht, dass „fortgeschrittene Vagabondage“ nicht mehr „heilbar“ sei, weshalb man dazu übergegangen sei, sich stärker auf die Erziehung der Kinder und Jugend zur Arbeitsamkeit zu konzentrieren. Zu diesem Zwecke sei eine große Anzahl an „Rettungshäusern“ für Kinder und Jugendliche, die aus der Schule entlassen worden sind, gegründet worden, wo sie das „Arbeiten“ bereits in frühen

174 Rapport de Ferdinand-Dreyfus, in: Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 2, S. 96ff. 175 Ebd., S. 98. 176 Vgl. Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 6, S. 484, S. 492, S. 500 und S. 545.

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Jahren lernen würden.177 Die Ideen, welche die Verbindung zwischen öffentlichen und privaten Einrichtungen herzustellen versuchten, stießen ebenfalls auf viel Interesse.178 Für die Perfektion des administrativen Vorgangs stand auch wieder der „workhouse test“ zur Debatte, womit der „gute Wille“ des Hilfeempfängers mittels Probearbeiten geprüft werden könnte.179 Was den Umgang mit den Bedürftigen anbelangte, rückte auf dem Kongress 1900, wie das Beispiel Massows verdeutlichte, verstärkt das Leitprinzip der Erziehung in den Mittelpunkt der Betrachtung. Rivière, einer der wichtigsten Wortführer der ‚Vagabundenbekämpfung‘, sprach sich ferner dafür aus, das englische Abschreckungsprinzip in ein Anreizsystem umzuwandeln. Hierzu gehörte die Idee, sogenannte „bons de travail“ einzuführen und die Konditionierungsbemühungen an den neuesten sozialpsychologischen Erkenntnissen auszurichten. Ein ausreichendes Tagespensum an Arbeit erweise sich demnach als unabdingbare Grundlage für die ‚Heilung‘ der ‚Arbeitsscheue‘. Rivière veranschlagte ferner einen Mindestaufenthalt von 15 Tagen in einer Arbeitseinrichtung, um den Insassen und seine Gewohnheiten besser ‚studieren‘ zu können.180 Die Aushändigung von Zertifikaten an die Unterstützten, welche das Verhalten von Unterstützungsbedürftigen dokumentieren sollten, war zudem eine der vielen Ideen, die im Zusammenhang mit den Arbeiterkolonien diskutiert wurden.181 Auch strafrechtliche Fragen behielten ihren Stellenwert bei und beeinflussten die vorurteilsgeladenen Einstellungen hinsichtlich der Idee eines „gegen Missbrauch zu schützenden Verwaltungsverfahrens.“182 Der Impetus der Kongressvorträge und die beschlossenen Resolutionen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Fürsorgepraktiken für arbeitsfähige Bedürftige von vielen Sozialreformern vermehrt auch in Frage gestellt wurden. Um das Jahr 1900 lässt sich innerhalb der Fürsorgeexpertise eine ambivalente Haltung feststellen. Auf der einen Seite gab es Fachleute, welche den Arbeitshäusern und Arbeiterkolonien einen hohen Stellenwert einräumten. Sie vertraten die Ansicht, dass die an der ‚Schuldfrage‘ vollzogene Kategorisierung der Armutsfälle und die Durchsetzung des Arbeitszwanges für die moderne Armenfürsorge unabdingbar bleiben müssten. Zu ihren wichtigsten Vertretern zählten auf den internationalen Kongressen vor allem Rivière, Ferdinand-Dreyfus, Loch, Le Jeune und der Vorsitzende des Zentralvorstandes deutscher Arbeiterkolonien Massow. Besonders die Erstgenannten konnten ihren Einfluss auch im Comité 177 Über die „Vagabundenfrage“ in Deutschland vgl. Massow in: Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 2, S. 126ff. 178 Strauss, Nécessité d’un lien commun entre les diverses œuvres charitables publiques et privées, in: Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 1, S. 292. 179 Ebd. und ähnlich bereits auf dem internationalen Kongress 1896 in Genf, vgl. II. Congrès international d’assistance, S. 60 und 90. 180 Rivière, in: Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 6, S. 476ff.; vorher bereits in Deutschland rezipiert, siehe Arbeiter-Kolonie 7 (1890), S. 163ff. 181 Ebd., S. 445ff. und 476ff. 182 Stand der Debatte im Jahr 1909 vgl. ZdA 10 (1909), 11, S. 321ff. sowie die Arbeiten und Debatten des Deutschen Vereins, SDV 88 (1908); SDV 90 (1909).

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international geltend machen, das maßgeblich für das Agendasetting der internationalen Kongresse sowie die Wahl der Generalberichterstatter verantwortlich war. Auf diese Weise trugen sie ihre Interpretationsmuster dauerhaft in die internationalen und nationalen Debattenkulturen hinein.183 Auf der anderen Seite gab es immer mehr Fürsorgeexperten, die für ein zeitgemäßeres Fürsorgeverständnis eintraten. Sie bekämpften die Unterstützer der Arbeitshäuser und Arbeiterkolonien zwar nicht offen.184 Ohne das Schuld- und Arbeitszwangsprinzip grundsätzlich in Frage zu stellen, betonten sie jedoch andere Aspekte der Fürsorge. Da die überwiegende Mehrheit der arbeitsfähigen Bedürftigen ohnehin unverschuldet in ihre Situation geraten sei185, müsste die übergangsweise gebotene Hilfeleistung ganz auf die „Wiederherstellung der wirtschaftlichen Selbständigkeit“ angelegt sein.186 In diesem Sinne gab Münsterberg zu bedenken, dass von den Antrieben des Armenpflegers, wozu er erstens den polizeilichen, zweitens den humanitär-religiösen und drittens den des wirtschaftlichen Gemeinschaftsgefühls rechnete, vor allem der letztgenannte stärker berücksichtigt werden müsse.187 Folgende Entwicklungen gingen diesen neuen Deutungsoptionen voraus. Zum einen erlebten viele neue Angebote von Unterstützungsleistungen für arbeitsfähige Bedürftige einen Aufschwung: Sozialgesetzgebung, Arbeiterfürsorge, erste Versuche zur Einrichtung einer Arbeitsvermittlung (Arbeitsnachweise) sowie der Ausbau der Jugendfürsorge verwiesen auf das Potential präventiver Sozialpolitik. All diese Maßnahmen differenzierten das kommunale und staatliche Angebot aus und trugen zur Vorstellung bei, dass man insbesondere die ‚Arbeitswilligen‘ dem Arbeitsmarkt irgendwie zuzuführen habe, statt sie von ihm weiter zu entfernen.188 Zum anderen gab es schon länger kritische Stimmen aus Kirche, Staat und Gesellschaft, wo die Armenhäuser und Arbeiterkolonien nie viel Anerkennung gefunden hatten und im Falle der Arbeiterbewegung starken Protest hervorriefen.189 Ein

183 Topalov betont, dass die wissenschaftliche Erörterung dieser Frage auch die gegensätzlichen Positionen in der französischen Fürsorgekontroverse näher zusammenbrachte, siehe Topalov, Laboratoires, S. 19. 184 Klumker tritt als einer der wenigen deutlichen Kritiker in Erscheinung, vgl. Klumker, Zur Theorie der Armut, in: ZVSV (1910), hier insb. S. 16ff. 185 Dies belegte die Statistik im Handbuch der Staatswissenschaften (3. Auflage, 1909, Artikel „Armut“, Kap. 7. „Statistik“): Demnach seien 2,1 % wegen Trunk und 1,2 % wegen „Arbeitsscheu“ verarmt, die anderen Armutsfälle seien hervorgerufen durch Krankheit (28 %), Altersschwäche (14 %), Tod des Ernährers (18 %), Körperliche oder geistige Gebrechen (12 %) Arbeitslosigkeit (5,4 %) und große Kinderzahl (7,4 %). 186 So Levy über den Arbeitsauftrag der Berliner „Auskunftsstelle“, zitiert nach Degethoff Campos/Kuhls, Von der Armenpflege zum Sozialstaat, S. 29. 187 Münsterberg, Gedanken zur Geschichte und Theorie des Armenwesen, in: ZdA 9 (1908), 6. S. 163. 188 So zum Beispiel von Hirschberg in: „Arbeitsscheu und ihre Statistik“ gefordert, in: Sociale Praxis (1895), 2, S. 34–38; vgl. auch Topalov, Naissance, S. 209ff und 213ff. 189 Zur Kritik an der Armenfürsorge von Seiten der Arbeiterbewegung, insbesondere auch in internationaler Perspektive, siehe Bernstein, Die Entwicklung der Armenpflege in England,

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wesentlicher Kritikpunkt war neben den armenrechtlichen Sanktionen, dass man an der pauschalisierenden Klassifizierung von Unterstützungsbedürftigkeit festhielt, anstatt sich um arbeitssuchende Bedürftige hinreichend zu kümmern.190 Gerade die strengen Methoden der geschlossenen Fürsorge in England und den USA würden indirekt dadurch das Betteln hervorbringen, dass sie Bedürftige davor abhielten, das Angebot wahrzunehmen.191 Erkannte man generell die Notwendigkeit der Scheidung in ‚würdige‘ und ‚unwürdige Arme‘ nach wie vor an, zweifelte man die Vorrangigkeit von ‚Schuld‘ im Prozess der Unterstützungsvermittlung zunehmend an. Finanzierungsprobleme verschlechterten indes die Situation vieler privater Arbeitseinrichtungen.192 Die Forderung der Kongressresolutionen von 1900 sah daher eine finanzielle und gesetzlich geregelte Unterstützung privater Institutionen vor.193 Dies ging dann vielen Skeptikern zu weit, gab es doch ohnehin zu wenig öffentliche Mittel für die bestehenden Angebote der Armenfürsorge. Ein anderer Kritikpunkt nahm wiederum von den Statistiken der Arbeitshäuser seinen Ausgang: Die Studien schienen den erwünschten Effekt der „dauerhaften sittlichen Hebung“ nicht zu erzielen, die „Rückfälligkeitsquoten“ waren auffallend hoch, außerdem habe die Zahl der „Bummler“ generell nicht abgenommen.194 Gerade die ausländischen Statistiken unterstrichen die Universalität dieses Problems.195 Ähnliche Berichte über die Arbeiterkolonien führten zu einer regelrechten Orientierungskrise ihrer Befürworter.196 Alle diese Gesichtspunkte hatten zwar keine komplette Neubewertung der Fürsorge für arbeitsfähige Bedürftige zur Folge, erweiterten jedoch die Deutungsmöglichkeiten des Problems erheblich und traten an verschiedenen Stellen mit der konservativen Schuld-Semantik in Konkurrenz.197 Trotzdem hatten die

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in: Sociale Praxis (1897), 52, S. 1266–1271 sowie Jacobsohn, Die Arbeiter in der öffentlichen Armenpflege. Im Wanderer werden vor allem bei diesem Thema viele internationale Bemühungen herangezogen, welche im Rahmen der Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung unternommen wurden. Der Kritik an der Untätigkeit der deutschen Sozialpolitik sollte damit verstärkt Ausdruck verliehen werden. Vgl. „Wo aber bleibt Deutschland?“, in: Der Wanderer 23 (1906), S. 37ff. So Münsterberg vor dem Publikum des internationalen Wissenschaftskongresses 1904 in St. Louis, vgl. Münsterberg in: Rogers (Hrsg.), Congress of Arts and Science, Band VII, S. 842. Scheffler, Die Gründungsjahre, in: Kiebel (Hrsg.), Ein Jahrhundert, S. 23ff. hier S. 25. So der Konsens der 3. Hauptfragestellung des Kongresses 1900 in Paris über „Assistance par le travail“, Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 2, S. 96ff., 101ff. und Resümee S. 111. Klumker sprach in Bezug auf die Praktiken einiger Arbeitseinrichtungen sogar von „Selbsttäuschung“, da eine „Umwandlung der Stromer“ zum „ordentlichen Menschen“ niemals gelungen sei. Klumker, Deutsche Versorgungsanstalten und Heime für Alte, Sieche und Invalide. Deutsche Armen- und Arbeitsanstalten, S. 44–48. Vgl. zum Beispiel: „Die englischen Armenhäuser und die Geẅhnung zur Selbstständigkeit“, in: Sociale Praxis (1895), 4, S. 104. Scheffler, Die Gründungsjahre, in: Kiebel (Hrsg.), Ein Jahrhundert, S. 25 sowie Frie, Fürsorgepolitik, in: Kaiser (Hrsg.), Soziale Reform, S. 114ff. Dieser Prozess trat mit der Schaffung einer innovativen Lexik in Kraft, vgl. „l’émergence et la diffusion d’un nouveau lexique“, in: Topalov, Naissance, S. 162ff.

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Befürworter der sicherheitspolizeilichen Interpretation von Armenfürsorge eine starke Lobby, sowohl in den Fürsorgeeinrichtungen als auch in den internationalen Debatten. Sie reagierten mit Bedauern darüber, dass die Problemlagen der ‚Arbeitsscheue‘ und des ‚Vagabundierens‘ in den Facherörterungen offenbar an Gewicht verloren. Was folgte war eine beispiellose Publikationsoffensive, in der die „Theorie und Geschichte des Bettel- und Landstreicherwesens“, oft in dezidiert internationaler Perspektive, behandelt und zurück in den Mittelpunkt der Fürsorgedebatten gerückt wurde.198 Die Studien von Theodor Hampe, Alfred Olshausen, Robert v. Hippel und Hugo Herz reihten sich in ganze Serie von international verbreiteten Publikationen zum selben Thema ein. Hierzu zählten die Arbeiten von Louis Rivière, Eugenio Florian, Guido Cavaglieri, Wilson Carlile, Mary Higgs, William H. Dawson, Armand Pagnier sowie die besonders populären Sozialreportagen von Josiah Flynt, Louis Paulian und Hans Ostwald, welche sich durch die originelle Idee auszeichneten, die Obdachlosen und ‚Vagabunden‘ teilweise monatelang zu begleiten, um ihren Alltag und ihre Gewohnheiten zu studieren.199 Alle Studien boten viele internationale Bezüge und befeuerten das Thema in mehrerlei Hinsicht. Zum einen wurde das grenzüberschreitend konstruierte Bild vom sittenlosen, arbeitsscheuen Vagabunden durch Studien, Statistiken und teilnehmende Beobachtung präzisiert und durch die neusten Methoden im „naturwissenschaftlichen Geiste“ ergänzt, welche die Gefahren durch die „Minderwertigen“ für die lebendige, gesunde Gesellschaft anprangerten.200 Das Argumentationsrepertoire wurde dadurch zusätzlich um biologistisch begründete Degenerationslehren angereichert und international verbreitet.201 Zum anderen schienen alle Arbeiten gleichermaßen auf das Ziel hinzuarbeiten, „den wirklich Arbeitsscheuen, den Parasiten der menschlichen Gesellschaft, wie ihn Florian und Cavaglieri nennen, für die Gesellschaft völlig unschädlich zu machen.“ Die deutsche Fachpresse lobte die italienische Studie, weil sie „in das Innere der Erscheinungen“ getreten sei und weil „die Opfer der wirtschaftlichen Verhältnisse oder der individuellen Arbeitsunfähigkeit geworden, vor der Gefahr bewahrt worden sind, mit jenen andern in einen Topf geworfen zu werden.“202 Der Amerikaner Flynt, welcher als „tramp“ verkleidet unter anderem durch das Deutschen Reich reiste und ähnlich wie Rocholls „Dunkle Bilder aus dem Wanderleben“ profunde Einblicke in die Parallelwelt und Psyche der „Arbeitsscheuen“ 198 Für exemplarische Buchbesprechungen siehe ZdA 4 (1903), 11, S. 321ff. 199 Neue Studien und Kritiken vgl. ebd. sowie: Der Wanderer 18 (1901), S. 33ff. Es wurde darüber hinaus einschlägige Literatur von unter anderem Rocholl, Fleischmann, Liebich, Heim, Fisher Unwin und Flynt besprochen. 200 So Lily von Bois-Reymond über die Arbeit „Arbeitslose und Obdachlose“ von Mary Higgs in: ZdA 8 (1907), 11, S. 321ff. Der Deutungswandel vom kriminellen Gefahrenpotential des ‚Vagabunden‘ zur gesellschaftlichen ‚Krankheit‘, welche die „lebendige, gesunde Gesellschaft“ bedrohe, wird auch in den Kongressdebatten ersichtlich, vgl. zum Beispiel: Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 1, S. 43. 201 Ebenso Althammer, Der Vagabund, in: Härter/Sälter/Wiebel (Hrsg.), Repräsentationen, S. 415–453, siehe vor allem 440ff. 202 ZdA 4 (1903), 11, S. 332.

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zu gewähren schien, sah indes „zu viel Gutmütigkeit“ bei den Deutschen im Umgang mit den Vagabunden und gab den Forderungen nach einer „determined discrimination“ weiteren Auftrieb.203 Die Besuche von Arbeitshäusern im Anschluss an den internationalen Kongress von 1900 eröffneten gleichzeitig eine neue Form der internationalen Rezeption. Studienreisen wie beispielsweise die von Louis Rivière204 oder William H. Dawson205 zu den deutschen Arbeiterkolonien verweisen nicht nur auf die Intensivierung persönlicher Kontakte der Fürsorgeexperten. Sie waren ein Kernelement für die gegenseitige Bestätigung und Unterstützung im Kampf gegen die ‚Arbeitsscheue‘. Bereits auf dem Kongress 1900 war man dazu übergegangen, die Parameter für eine zeitgemäße Fürsorge für arbeitssuchende Bedürftige an internationale Standards anzupassen. Sowohl die Skizzen der „asiles pour les pauvres“206 als auch die präzisen Beschreibungen des Tagesablaufs, der Verpflegung und des Bestrafungssystems sollten allen interessierten Anstaltsleitern dabei helfen, ihre Einrichtungen nach den neuesten wissenschaftlichen Kriterien zu organisieren. Die Ausstellung der „Gruppe Economie sociale“ auf der Weltausstellung in Paris 1900 und die Verleihung der „goldenen Medaille“ unter anderem an den Zentralvorstand Deutscher Arbeiterkolonien schufen in dieser Hinsicht neue Maßstäbe. Die Ausstellungsstücke über die Arbeiterkolonien konnten dank der Verlängerung der Ausstellung des Musée sociale in Paris auch einen dauerhaften Referenzpunkt bilden, um sie „allen Interessenten der Welt dauernd zugänglich machen zu können“.207 In der Folgezeit setzte sich Rivière in Frankreich für eine verstärkte Rezeption der deutschen Arbeiterkolonien ein und stand diesbezüglich mit dem Zentralvorstand Deutscher Arbeiterkolonien in Kontakt.208 Doch wie gelang es, die Wanderarbeitsstätten und Arbeitshäuser weiter als attraktive oder gar unumgängliche Einrichtung der Armenfürsorge anzupreisen? Dem Vorwurf der Repression und Überbetonung der Schuldfrage hielt man stets das ‚Beweismaterial‘ der Studien entgegen, welches dem Vagabundendiskurs zugrunde lag. Detaillierte Darstellungen des Missbrauches fürsorglicher Leistungen, wie zum Beispiel die von Louis Paulian209, bestätigten das Bild von ‚Schwindlern und Betrügern‘. Gegenseitige Bezüge in den Fachartikeln, welche mit ähnlichem Wortlaut Geschichten vom Missbrauch öffentlicher Fürsorgemittel 203 „Neue Studien und Kritiken“, in: Der Wanderer 18 (1901), S. 33ff. und 109ff., Zitat S. 109. Vgl. auch Flynt, Tramping with tramps und Ostwald, Vagabunden. 204 Der Wanderer 24 (1907), S. 219. 205 Der Wanderer 29 (1912), S. 301. 206 Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 2, S. 138. 207 „Dauernde Erhaltung der Gruppe Economie sociale auf der Weltausstellung in Paris“, in: Sociale Praxis (1900), 5, S. 112. 208 Der Wanderer 24 (1907), S. 219. Zur intensiven Rezeption deutscher Arbeiterkolonien und anderen Maßnahmen gegen ‚Arbeitsscheue‘ vgl. beispielsweise Rivière, La réforme de l’éducation correctionelle en Allemagne, RP IX (1901), S. 32–44 bzw. ebd. über Arbeitkolonien S. 62ff. sowie generell in der Rubrik „Vagabonds, mendiants“ der Revue philanthropique, in der internationale Bezüge einen festen Platz hatten. 209 L. Paulian, Paris qui mendie. Siehe auch Münsterberg, Die Armenpflege, S. 1f.

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durch Hilfeempfänger wiederkäuten, trugen zur Validität des Problems bei.210 Gestützt wurde das gemeinsame Wissen vom ‚arbeitsscheuen Bummler‘ durch tendenziöse Statistiken, die teilweise auch international angelegt waren und trotz erheblicher Einwände hinsichtlich ihrer Brauchbarkeit immer wieder herangezogen wurden.211 Dabei gilt: Statistiken tragen zur Konstitution dessen bei, was sie messen. Sie schufen Identifikationsgrößen und festigten Begriffe wie den der ‚Arbeitsscheue‘, indem sie ihnen eine wertneutrale Objektivität beimaßen. Auf diese Weise schürte man Vorbehalte und unterstrich die Notwendigkeit von Zwang, um die ‚Schutzfunktion‘ der Armenfürsorge wahrnehmen zu können. Soziologisch und psychologisch angehauchte Studien schufen indes immer wieder Anknüpfungspunkte zur Kriminologie, Pathologie und Degenerationslehre.212 Eine andere Strategie bestand darin, mit aller Deutlichkeit die Professionalisierung im Bereich der Fürsorge für arbeitsfähige Hilfsbedürftige zu betonen, um ihr gleichsam einen ‚humaneren‘ Anstrich zu verleihen: Exakte Methoden der Fallprüfung und verbesserte, das Leitprinzip der Individualisierung wahrende Einrichtungen würden Repression auf das Mindestmaß reduzieren.213 Hugo Herz forderte in einer Schrift die Strafrichter auf, sich mit den „sozialen Verhältnisse und Massenursachen“ besser vertraut zu machen, bevor sie über einzelne Individuen die Strafe des Arbeitszwanges verhängten. Darüber hinaus entstand die Idee, entlassene Strafgefangene nicht weiter in Arbeiterkolonien sondern in eigens dafür zu entwickelnden Einrichtungen unterzubringen („korrektionelle Nachhaft“), um dem Anspruch einer „streng individualisierten Wanderarmenfürsorge“ gerecht zu werden. Die Begründungslogik wurde dabei gewissermaßen umgekehrt: Es sollte als Privileg erachtet werden, in den Arbeiterkolonien und Arbeitshäusern Verpflegung, Lebenssinn und moralische Aufrichtung zu erfahren.214 210 Beispiele zum „Missbrauchsdiskurs“ speziell mit internationalen Bezügen vgl. u. a. RP XIII (1903), S. 286; COR (1906), 1, S. 252 oder SDV 40 (1898), S. 11f. 211 Vgl. Statistik zu „Poverty“, in: W. Bliss (Hrsg.), Encyclopedia of Social Reform, S. 933ff., insb. S. 936f., oder in: „Die Wanderarbeitsstätten“, in: ZdA 14 (1913), 4, S. 117–131, insb. S. 121ff. 212 Insbesondere in der amerikanischen Literatur finden sich solche Deutungsmuster: Devine, Misery and its Causes; Henderson, Dependent; ders. auf dem Wissenschaftskongress 1904 in St. Louis, vgl. Rogers (Hrsg.), Congress of Arts and Science, Band VII, S. 827 und auch auf dem internationalen Fürsorgekongress 1906 in Mailand, vgl. Recueil des travaux du congrès 1906, Bd. 5, S. 45ff. Siehe auch ZdA 7 (1906), 8, S. 225ff. und ZdA 5 (1904), 1, S. 2ff. zur Rezeption dieser und anderer amerikanischer Schriften. Als vielbeachtetes Beispiel einer Studie, welche die ‚Psychologie‘ der ‚Arbeitsscheuen‘ zu charakterisieren beachtsichte, kann diejenige der Italiener Florian/Cavaglieri, I vagabondi (2 Bd.), angeführt werden, vgl. zur Rezeption ZdA 1 (1900), 12, S. 45f. sowie „I vagabondi“, in: Rivista della beneficenza pubblica XXVIII (1900), S. 444–449. 213 Olshausen, Geschichte des Bettelwesens, JGVV (1902), 4, S. 155–191. Auch Rivière macht sich für den Gedanken der Humanisierung stark, wenngleich er betont, dass Repression immer eine gewisse Rolle spielen müsse, weil dies an der „äußeren Erscheinung“ dieses Phänomens liege, vgl. ZdA 4 (1903), 11, S. 322 bzw. Rivière, mendiants et vagabonds. 214 Hippel, Zur Vagabundenfrage, besprochen in: ZdA 4 (1903), 11, 328f. Die gleiche Begründung im Sinne der ‚moralischen Hebung durch Arbeit‘ findet sich in den Kongressvorträgen von Paris 1900: Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 6, S. 543ff. , 445ff.

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In Deutschland hob man gleichzeitig die Leistungen der privaten Arbeiterkolonien und Wanderarbeitsstätten hervor, weil sie als einzige Anlaufstelle für wandernde Arbeitssuchende galten.215 Aufgrund der rechtlichen Rahmenbedingungen des Unterstützungswohnsitzes fiel ein großer Teil der Unterstützungsbedürftigen durch die grobmaschigen Netze der Armenfürsorge. Dieser Problematik war man sich durchaus bewusst und so lange man einen rechtlichen Anspruch auf Arbeit als ein Ding der Unmöglichkeit bezeichnete, sahen die Fürsorgeexperten den einzigen Weg in der Fortsetzung der bestehenden Ansätze.216 Von den oben genannten Autoren unterscheidet sich Ostwald insofern, als er als einziger den Wert der Naturalverpflegungsstationen komplett in Frage stellte und von einem ungewöhnlich sozialpolitischen Standpunkt heraus argumentierend insbesondere die Industrieunternehmer in der Pflicht sah, gegen den Arbeitsmangel vorzugehen. Als fernes Ziel definierte er die Einführung einer Arbeitslosenversicherung.217 Unabhängig von diesem progressiven Ansatz verweilte die Mehrheit der Sozialreformer, welche sich mit der Fürsorge für arbeitsfähige Bedürftige beschäftigten, auf den strafrechtlichen und armenpolizeilichen Grundpositionen. In diesem Zusammenhang sind auch die Debatten des Deutschen Vereins über „wirksame Zwangsmaßregeln gegen säumige Nährpflichtige“218 zu sehen. Belgien hatte im Kreise der international vernetzten Fürsorgeexperten in Bezug auf dieses Thema immer wieder viel Interesse hervorgerufen. Dort gab es seit 1891 ein Gesetz „zur Unterdrückung der Vagabundage und des Bettels“. Die anfangs kontrovers diskutierte, später aufgrund ihrer „positiven Ergebnisse“ gelobte Regelung sah die Unterbringung arbeitsfähiger Bettler in sogenannten „Zufluchtshäusern“ (maisons de refuge) vor und forderte die Trennung dieser Personengruppe von den „professionellen Landstreichern“, welche man per Gerichtsbeschluss in Korrektionshäusern unterbrachte.219 Das spätere Mitglied des Comité internati-

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und 476ff. Diese Entwicklung korrelierte vermutlich auch mit dem zunehmend rigiden Umgang mit entlassenen Strafgefangenen, vgl. hierzu D. Schauz, Convicts in the Shadow of the Rising German Welfare State: Between Permanent Detention and Rehabilitation, in: Althammer/Gestrich/Gründler (Hrsg.), The Welfare State, S. 191–212. Vgl. ferner den von S. Conrad verfolgten Ansatz, welcher die Entwicklung von Arbeitserziehung und Arbeitszwang in ‚Kolonie und Metropole‘ fruchtbar vergleicht: Conrad, „Eingeborenenpolitik“ in Kolonie und Metropole. „Erziehung zur Arbeit“ in Ostafrika und Ostwestfalen, in: Conrad/Osterhammel (Hrsg.), Das Kaiserreich transnational, S. 107–128. Vgl. ZdA 2 (1901), 9, S. 34 sowie die „Behandlung erwerbsbeschränkter und erwerbsunfähiger Wanderarmen“ (Luppe, Sell), SDV 85 (1908). Nach Ansicht der Fürsorgeexperten war es nicht m̈glich, den Armen „ein Recht auf Arbeit zuzugestehen“, vgl. Reitzenstein, Die Beschäftigung arbeitsloser Armer, SDV 4 (1887), S. 32. Dass sich ein Recht auf Arbeit negativ auswirken würde, wurde von Buehl auch mit internationalen Beispielen belegt: Buehl, das Armenwesen, in: Weyl (Hrsg.), Soziale Hygiene, S. 173ff. Vgl. H. Ostwald, Die Bekämpfung der Landstreicherei. Vgl. H. Samter/O. Lohse, in: SDV 88 (1909) bzw. die 29. Jahresversammlung des Deutschen Vereins, in: SDV 90 (1909). „Arbeitskolonien von Vagabunden und Bettlern in Belgien“, in: Sozialpolitisches Centralblatt 3 (1893/1894), S. 519.

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onal und Rechtsexperte Le Jeune trug zur internationalen Verbreitung der belgischen Reformbewegung bei, welche die Durchsetzung des Arbeitszwanges förderte. Die Fürsorgefachwelt verfolgte die Gefängniskongresse ebenso wie die Erfolge des belgischen ‚Gesetzes über die Abwehr des Bettler- und des Landstreicherwesens‘.220 Aus demselben Grund besuchte Massow im Anschluss an einen internationalen Kongress in Antwerpen ein belgisches Korrektionshaus, von dessen Innenleben er in Deutschland berichtete.221 Die internationale Gefängniskongressbewegung blieb auch nach 1900 den Fragen zur Fürsorge für Arbeitsfähige treu und intensivierte sogar ihre lobbyistischen Aktivitäten.222 Unter Berücksichtigung internationaler Bezugspunkte, „wo das Bedürfnis nach wirksamen Zwangsmaßregeln, zumal gegen säumige Nährpflichtige, immer nachhaltiger hervortrat“223, setzten sich führende Experten des Deutschen Vereins für eine Reichstagspetition zur „Zwangsarbeitshausunterbringung durch Verwaltungsentscheidung“ ein.224 Die zugrundeliegende Argumentation wurde überzeugend vorgetragen und stieß auf wenig Widerstand: Die „Mittel, die Kundschaft von der Landstraße herunterzubringen“, seien noch nicht gefunden worden. Einzige Lösung bestehe darin, „die Strafbestimmungen zu verschärfen“, „daß der Landstreicher, welcher der Landespolizeibehörde überwiesen wird, zunächst eine gerichtliche Haftstrafe zu verbüßen hat.“225 Weitere Arbeiten und Diskussionen folgten, wobei ausländische Vorbilder immer eine Rolle spielten, wenn es darum ging, die Reformbedürftigkeit anzuprangern.226 Sowohl die belgische Gesetzgebung als auch die Arbeiten von Rivière, der in Frankreich eine spezielle Kommission zur Vorbereitung eines neuen Strafgesetzbuches beriet, stießen auf besonderes Interesse. In der Debatte zum Umgang mit „Bettlern, Landstreichern und Arbeitsscheuen“ auf der 31. Jahresversammlung des Deutschen Vereins (1911) bewertete der Oberlandesgerichtsrat Diesenbach die Beschäftigung mit den belgischen Gesetzeserlässen und den direkt daran anlehnenden französischen Reformvorhaben, wie sie auf den Congrès péni220 Ferdinand-Dreyfus und Rivière traten auch immer auf den Gefängniskongressen und mit entsprechenden Publikationen in Erscheinung. Über die Behandlung dieser Frage in Frankreich (u. a. auf dem Gefängniskongress 1895), siehe SDV 23 (1895), S. 16f. und SDV 96 (1911), S. 107ff. Zur Rezeption in Frankreich vgl. RP XXXI (1912), S. 447ff. 221 Vgl. Massow, in: ZdA 10 (1909), 2, S. 71ff. 222 Vgl. hierzu ausführlich Althammer, Transnational Expert, in: Althammer/Gestrich/Gründler (Hrsg.), The Welfare State, S. 103–125, insb. 106ff. 223 Buehl, Der armenpolizeiliche Arbeitszwang, in: ZdA 6 (1905), 4, S. 97. 224 Ayaß, Das Arbeitshaus Breitenau, S. 62ff.; Ayaß, Die korrektionelle Nachhaft, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 15 (1993), S. 184–201; Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 1, S. 245ff. 225 ZdA 10 (1909), 2, S. 71–80, hier S. 76f. 226 Debatten zu Arbeitszwang und Überlegungen zur administrativen Verwahrung, die auch zum Gesetz führten, vgl. ZdA 6 (1905), 4, 97ff. Hier wird auf die einschlägigen Schriften des Deutschen Vereins verwiesen, in denen einige internationale Bezüge vorliegen, vgl. vor allem SDV 17 (1893), SDV 88 (1909), Jahresversammlung SDV 90 (1909), und die Debatte auf der Jahresversammlung 1911 über den Umgang mit „Bettlern, Landstreichern und Arbeitsscheuen“ SDV 96 (1911).

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tentiaires besprochen wurden, auch als wegweisend für Deutschland. In Hinblick auf die dort vollzogenen Reformen gelte es auch in Deutschland, „soziale Maßregeln vorbeugender Art, und zwar auch Zwangsmaßregeln, gegen Bettler und Landstreicher zu ergreifen“.227 Die Gesellschaft, hob Diesenbach hervor, sei dazu berechtigt und verpflichtet, diese Zwangsmaßregeln gemäß den Grundsätzen „einer rationellen Methode auszugestalten“. Die in den Nachbarländern vollzogene Bewertung der Straftat ‚Müßiggang‘ als Vergehen und nicht als Übertretung nannte Diesenbach einen wichtigen Schritt hin zur Erforschung der eigentlichen Ursache und Gründe des Bettelns.228 Die abschließend aufgestellten Thesen der Jahresversammlung nahmen die im belgischen Gesetz festgelegte und von der französischen Strafrechtskommission übernommene ‚Maßregel‘ der ‚administrativen Einweisung‘ in die abschließenden Leitsätze auf.229 In einzelnen Städten und Bundesstaaten setzte man „auf Drängen des Deutschen Vereins“ daraufhin entsprechende Zwangsmaßnahmen letztlich auch in Kraft.230 In Hamburg beispielsweise engagierte sich Adolf Buehl anhaltend für den armenpolizeilichen Arbeitszwang und konnte sogar die Arbeitervertreter davon überzeugen, dass die „mißbräuchliche Ausnutzung der Armenpflege zumal von seiten säumiger Nährpflichtiger“ rasche Folgen nach sich ziehen konnte. Er verglich das Vorgehen mit der Durchsetzung des Schul-, Militär- und Versicherungszwanges, die ja „zweifellos mehr oder weniger schwere Eingriffe in die persönliche Freiheit“ darstellen würden. Mit Verweis auf den englischen „Licensing Act“ von 1902, demnach „auffällige“ Personen vorübergehend sicherheitsverwahrt werden durften, wenn eine „Belastung der Armenverwaltung“ vorliege, sprach er sich offen für einen entschiedeneren Kampf gegen „parasitäre Existenzen“ aus, die sich „auf Steuerkosten zwischen Armenhaus, Krankenhaus und Branntweinschenke“ versorgen würden und geradezu mit „Hohn der Staatsautorität“ entgegnen würden.231 Der gesetzliche Arbeitszwang bildete in dieser vielfach vertretenen Argumentation ein notwendiges Korrelat zur gesetzlichen Unterstützungspflicht der Armenverbände. Auch den Bericht der englischen Poor Law Commission gilt es in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Hierin wurde die Legitimierung von Repressionsmaßnahmen gegenüber arbeitsfähigen Bedürftigen ebenfalls thematisiert. Der deutsche Sachverständige Münsterberg äußerte sich gegenüber seinen englischen Kollegen in schonungsloser Offenheit. Die Defizite etwa bei der Prüfung (inquiry) der Armen seien in Deutschland klar zutage getreten, ferner kritisierte Münsterberg

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SDV 96 (1911), S. 107. Ebd., S. 108f. Ebd., S. 145f. H. Samter/O. Lohse, Zwangsmaßregeln gegen Arbeitsscheue und gegen säumige Nährpflichtige, in: ZdA 10 (1909), 11, S. 321ff. und Fortsetzung bei Lohse, Der preußische Gesetzentwurf über den Arbeitszwang, in: ZdA 13 (1912), 3, S. 69ff.; vgl. ferner zum „Aufschwung des ergänzenden armenpolizeilichen Arbeitszwanges“ Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 1, S. 244ff. bzw. 247. 231 Buehl, Der armenpolizeiliche Arbeitszwang, in: ZdA 6 (1905), 4, S. 97f.

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die mangelhafte Handhabe gegen das stetig wachsende ‚Vagabundentum‘, wie der von ihm verfasste Bericht für die Armenkommission illustriert: It is really a pity to see the healthy and able-bodied walk through the town and desert their families, when we have no means to punish them, or if we bring them before a judge he mere232 ly fines them 10 marks, which they can earn within a week.

Die Aussage verdeutlicht, dass die Denkmuster der Fürsorgeexperten gerade im englischen Kommissionsbericht, der von einem spezifisch transnationalen Entstehungszusammenhangs geprägt war, ihren klarsten Ausdruck fanden. Auf diese Weise wurde der Handlungsbedarf bei der Bekämpfung von ‚Arbeitsscheue‘ auch in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg als wichtiger Verhandlungsgegenstand der Sozialreform immer wieder neu formuliert und mit neuen Untersuchungen und Wissensbeständen untermauert. Sowohl die stigmatisierenden Semantiken, als auch die armenpflegerische Einteilungspraxis auf Grundlage des moralischen Schuld-Prinzips blieben im Armenwesen bestehen. Das galt auch dann noch, als neue Denkweisen das Grundverständnis von Armenpflege allmählich infrage stellten. 2.4. Fazit Die Entwicklung der Fragestellung, wie und in welchem Umfang man arbeitsfähigen Hilfsbedürftigen Unterstützungsleistungen gewährte, war während des ganzen Untersuchungszeitraumes verschiedentlich international beeinflusst. Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass konkrete Reformvorhaben naturgemäß immer nur in regionalen oder nationalen Bezugsrahmen umgesetzt werden konnten. Zu uneinheitlich waren die rechtlichen, ökonomischen oder auch geographischen Rahmenbedingungen in den einzelnen Ländern, als dass eine einfache Übertragung fürsorglicher Praktiken hätte stattfinden können. Am Beispiel der Arbeiterkolonien wird dies besonders deutlich: Das belgische Vorbild entsprach zwar in modifizierter Form den Bedürfnissen einer zeitgemäßen Fürsorgestruktur auch im Deutschen Reich. In den USA hingegen konnten die Arbeiterkolonien trotz einiger Unterstützer keinen Erfolg verzeichnen.233 Die systemischen Pfadabhängigkeiten spielten also immer eine zentrale Rolle bei der Betrachtung ausländischer Fürsorgepraktiken und den Institutionalisierungsversuchen. Internationalität erwies sich im Fachgebiet Fürsorge für arbeitsfähige Hilfsbedürftige dennoch als ein Strukturmerkmal, vor allem wenn man die Vielschichtigkeit internationaler Austausch- und Vernetzungsprozesse beachtet. Grenzüberschreitende Beziehungen bereicherten die Debattenkultur, unterstützten die Ar232 „The Reform System of Poor Relief in Germany“, in: Royal Commission, Report, S. 503. 233 Die Möglichkeiten der Etablierung von Arbeiterkolonien wurde in den USA zwar schon auf dem Wohltätigkeitskongress 1893 in Chicago diskutiert, jedoch nicht umgesetzt, vgl. „Are Labor Colonies needed in the United States Lowell“, in: General Exercises of the International Congress 1893, Bd. 2, S. 77–87. Zu den Umsetzungsversuchen vgl. Rodgers, Atlantiküberquerungen, S. 243–245.

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gumentationslogik, schufen Referenzpunkte, legitimierten Deutungsmuster und generierten Vorfeldbemerkungen, welche dann in Reformvorhaben und rechtliche Ausgestaltungen einflossen. Die gemeinsam geteilten Grundwissensbestände äußerten sich im transnationalen Armuts- und Vagabundendiskurs.234 Sie ermöglichten den Rückgriff auf dieselben Weltdeutungen und förderten die Produktion neuer sozialer Devianzen mittels natur- und sozialwissenschaftlicher Methoden. Besonders ausgeprägt waren die internationalen Austauschbeziehungen bei derjenigen Gruppe, die sich als Unterstützer einer strafrechtlich legitimierten Armenpolizei verstand und sich für den Ausbau von Arbeitshäusern und Armenkolonien einsetzte. Auf den Kongressen, Studienreisen und in den internationalen Debatten tauschten sie ihre Argumente aus, bestärkten sich gegenseitig in ihren Ansichten, übermittelten sich Untersuchungen, Statistiken und Gesetzesvorhaben. Mithilfe ihrer internationalen Ausrichtung gelang es den Befürwortern des armenrechtlichen Arbeitszwanges, sich in den Fürsorgedebatten lange zu behaupteten. Die Gründung des internationalen Sozialreformer-Netzwerkes 1900 trug zum Erhalt der Deutungsvormacht bei, zumal wichtige Anführer der Strafrechtsdebatte zu den Machern des internationalen Kongresswesens gehörten. Vor dem Hintergrund der Kritik, welcher sich die Fürsorgeexperten angesichts der diffamierenden Kategorisierungspraxis ausgesetzt sahen, wurde das konservative Armutsverständnis kurzerhand neu formuliert und die Fürsorge für arbeitsfähige Hilfsbedürftige mit neuen Methoden angereichert. Dies verdeutlicht, wie sich Reformen aus Kontroversen und Deutungskämpfen herausschälten. In den Auseinandersetzungen offenbarte sich, wer die Fähigkeit besaß, ein spezifisches Verständnis von sozialen Phänomenen durchzusetzen oder anderen aufzudrängen. Auf dieselbe Weise erkannte und nutzte man im Deutschen Reich das Potential, die „bisherigen Kampfmittel des Strafrechts“ im internationalen Vergleich zu studieren, wobei sich gerade dort „manche beachtliche und nachahmenswerte Bestimmungen“235 fanden. Aufgrund der Unzulänglichkeit aller bestehenden Rechtsgrundsätze hinsichtlich der „Bekämpfung von Arbeitsscheue“ plädierte Hippel für eine Zusammenführung verschiedener, also der ‚besten‘ Regelungen, welche der Fürsorgeexpertise zur Verfügung standen. In diesem geistigen Klima war der Schritt hin zum administrativen Freiheitsentzug letztlich ein leichter.236 Unterdessen gewann die soziale Kategorie ‚Arbeitslosigkeit‘ immer mehr an Bedeutung. Die Experimente von Arbeitslosenversicherungen wurden international beobachtet, die Möglichkeiten eines „Rechts auf Arbeit“237 diskutiert und 234 235 236 237

Vgl. hierzu weiteführend Kapitel IV dieser Arbeit. ZdA 7 (1906), 12, S. 356f. Ebd. Herz, Arbeitsscheu und Recht auf Arbeit. Unter anderem Schwander unterstützte diesen Gedanken im Deutschen Verein, vgl. „Die heutigen Anforderungen an die ̈ffentliche Armepflege im Verhältnisse zur bestehenden Armengesetzgebung“, in: SDV 73 (1905). Vgl. auch die aufschlussreiche und kontrovers geführte Debatte auf der Jahresversammlung SDV 75 (1905), hier vor allem S. 90ff., 99ff. und 132ff. Siehe auch „Der Anspruch auf Armenunterstützung“, in: ZdA 8 (1907), 3, S. 65ff.

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wirtschaftspolitische Überlegungen rückten vermehrt in den Blickpunkt der progressiveren Reformerkreise.238 Das neue Verständnis rief jedoch weniger Kritiker der Arbeitshäuser und Arbeiterkolonien auf den Plan, als man es vermuten könnte.239 Stattdessen fühlten sich die Fürsorgeexperten in der Ansicht bestätigt, dass es die Aufgabe der Armenfürsorge sei, stets diejenigen ‚aufzufangen‘, die nirgends Hilfe und Unterstützung bekämen. Trotz der Anerkennung der englischen Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit240 und trotz der Polemik von Seiten der Vorkämpfer einer Wohlfahrtspflege241, hielt sich so die Ansicht, dass die traditionelle Armenfürsorge mit ihren repressiven Elementen angesichts bestimmter „arbeitsscheuer Elemente“ alternativlos blieb: Vor allem dürfte der Gedanke, daß die Inanspruchnahme der Einrichtungen der Wandererfürsorge nicht zu bequem und nicht zu angenehm gemacht werden darf, um nicht einen anreizenden Einfluß auf den in vielen Menschen schlummernden Wandertrieb auszuüben, auch bei der bevorstehenden Regelung der Wanderarmenfürsorge in Deutschland wohl beherzigens242 wert sein.

Diese Einschätzung über das englische Fürsorgewesen ist einem Artikel der Zeitschrift für das Armenwesen vom März 1914 zu entnehmen und demonstriert, wie sich das Wissen vom ‚hartnäckigen Bummler‘ weiterhin reproduzierte und dabei auf internationale Beispiele zurückgriff. Eine flächendeckende rechtliche Entstigmatisierung, welche den Großteil der arbeitsfähigen Bedürftigen umschloss, ließ indes noch lange auf sich warten.

238 Klumker, Neure Strömungen im Armenwesen, in: Kritische Blätter für die gesamten Sozialwissenschaften 2 (1906), S. 3–6; vgl. auch Frohman, Poor Relief, S. 158ff.; Topalov, Naissance, hier insbesondere „L’emergence d’une association internationale du chômage, 1906– 1910“ S. 69ff. sowie S. 213ff. und Zimmermann, Arbeitslosigkeit, insbesondere S. 129ff. 239 Ein Kritiker der Arbeitshäuser und des Arbeitszwanges war Klumker, vgl. Klumker, Zur Theorie der Armut, in: ZVSV (1910), S. 16ff. sowie ders., in: SDV 96 (1911), 119ff. 240 Unemployed Workmen Act (1905), Labour Exchange Act (1909), National Insurance Act (1911). 241 Vgl. hierzu Kapitel III, 8 sowie Kapitel IV, 4. 242 „Die Wandererfürsorge in England“, in: ZdA 15 (1914), 3, S. 112.

III. LEITKONZEPTE: GRENZÜBERSCHREITENDE IDEE(N) DER ARMENFÜRSORGE 1. GESCHICHTE UND ‚MODERNITÄT‘ DER ARMENFÜRSORGE Während des Untersuchungszeitraums von 1880 bis 1914 lässt sich beobachten, dass die Grundideen einer ‚modernen‘ und ‚fortschrittlichen‘ Armenfürsorge vermehrt Thema internationaler Verständigung wurden. Die Vorstellung, eine historische Wegmarke überschritten und neue Ansichten über das Armenwesen hervorgebracht zu haben, verband neuere Strömungen der Sozialreformbewegung gleichermaßen in nationalen und internationalen Foren. Das Leitkonzept der modernen Armenfürsorge wurde aus einem grenzüberschreitend konstruierten Geschichtsbild abgeleitet. Kein anderes Motiv betonte mit ähnlicher Deutlichkeit die Verbindungslinien zwischen den unterschiedlichen ‚Fürsorgekulturen‘ als die gemeinsame Geschichtsauffassung. Die Abgrenzung gegenüber den ‚alten Anschauungen‘ wurde zu einem wichtigen Bestandteil für die Identifikation mit der Fürsorgefachwelt. In zunehmender Häufigkeit wurde in den einschlägigen Publikationsorganen die Geschichte des Armenwesens zum Gegenstand ausführlicher Darstellungen. Dabei kann nach der Gründung des internationalen Sozialreformer-Netzwerkes nach 1900 eine Intensivierung der gegenseitigen Bezugnahme verzeichnet werden. Es lässt sich darüber hinaus beobachten, wie aus dem Thema ‚Geschichte des Armenwesens‘ ein Fachbereich mit eigenständigen Publikationen entstand. Dies sollte den „lebhaften Wunsch“ bezeugen, „aus der Kenntnis der Geschichte das Verständnis für die Aufgaben der Gegenwart zu gewinnen.“1 Als wichtiges, international breit rezipiertes Werk ist die Arbeit des französischen Anwaltes und Schriftstellers Léon Lallemand zu nennen.2 Diese und viele andere Schriften über die Geschichte des Armenwesens stießen auf so viel Resonanz, dass sie in mehreren Auflagen gedruckt wurden und aufgrund unzähliger Querverweise zu den Standardwerken der Armenfürsorge zählten.3 Zugleich hatten derartige Geschichtsdarstellungen auch auf den internationalen Kongressen ihren festen Platz.4 1 2

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Zur Geschichte des Armenwesens, in: ZdA 8 (1907), 9, S. 258. Ausführliche Besprechungen dieser und vieler anderer Geschichtsdarstellungen (u. a. von R. Schwander, Ferdinand-Dreyfus, Kirkman B. Gray) finden sich zum Beispiel ebd., S. 257ff. Vgl. auch ZdA 4 (1903), 4, S. 97ff. In der ZdA wurde auch das Schlusskapitel von Lallemand, Histoire de la charité, abgedruckt und immer wieder besprochen, vgl. ZdA 4 (1903), 2, S. 55ff., ZdA 5 (1904), 3, S. 65ff., ZdA 12 (1911), 1, S. 25ff. und ZdA 14 (1913), 9, S. 255ff. Es gibt in jedem Jahrgang der wichtigsten Fachzeitschriften Geschichtsdarstellungen unter Berücksichtigung der internationalen Literatur, außerdem werden wie in folgenden Beispielen eigenständige Publikationen mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte des Armenwesens besprochen: ZdA 8 (1907), 9, S. 257ff., ZdA 9 (1908), 6, S. 163ff.; COR (1908), 2, S. 277ff. und S. 313ff., COR (1911), S. 162; RP V (1898), S. 545ff., S. 632ff und RP VI (1899), S.

Grenzüberschreitende Idee(n) der Armenfürsorge

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Die Veröffentlichungen bemühten sich in vielen Fällen um eine internationale Historiographie. Die Armenfürsorge wurde darin selten als Teil einer Nationalgeschichte präsentiert. Sie war vielmehr Ausdruck eines übernationalen Entstehungszusammenhanges. Die Ausführungen sind dabei immer nach dem gleichen Muster gestrickt. Im Zentrum steht die Genese der modernen Armenfürsorge. Von der Antike, über das christliche Mittelalter bis zu den neuzeitlichen und aufklärerischen Armen- und Bettelordnungen teilten die Publikationen eine gesamteuropäische Perspektive. Die mit vielen Einzelbeispielen gespickten Darstellungen verfolgten die Absicht, den gegenwärtigen Zustand als Ergebnis einer ‚fortschreitenden Kulturentwicklung‘ darzustellen. Frühere Formen der Armenfürsorge wurden oftmals negativ konnotiert. In Bezug auf die Geschichtswerke von FerdinandDreyfus und Lallemand wurde in der Zeitschrift für das Armenwesen festgehalten, dass Armut in früheren Jahrhunderten gar nicht wahrgenommen worden sei: Die Betroffenen seien entweder gestorben, ausgewandert oder hätten sich mühsam durch das Leben kämpfen müssen.5 Gelegentlich versuchte man in den Geschichtsdarstellungen zu den älteren Epochen zwar auch Anknüpfungspunkte für das Selbstverständnis einer ‚fortschrittlicheren‘ Gegenwart zu suchen.6 In der Regel wurde jedoch das eigentlich Neue der jüngeren Vergangenheit stark hervorgehoben. Die Französische Revolution und der Code Napoleon galten als Wendepunkte eines grenzüberschreitend vermittelten Fortschrittsdenkens. Dies betraf insbesondere die Gesetze, Verwaltung und Methoden des Armenwesens. Den „modernen Entwicklungstendenzen“ jener Epoche wurde in den Veröffentlichungen besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt.7 Zusätzlich angereichert durch lokale und nationale Ereignisse – Eröffnung der Hamburger Armenanstalt 1788, die Poor-Law-Reform von 1834, Einführung des Elberfelder Systems 1853 –

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46ff. Ferner sei auf die Bibliographie charitable verwiesen, in der unter den Rubriken „Systematik und Geschichte“ eine Vielzahl an einschlägiger Literatur zur Geschichte des Armenwesens vorliegt, vgl. Münsterberg, Bibliographie. Da im Prinzip alle Überblicksdarstellungen und Einleitungen das historisch Gewachsene als Ausgangspunkt nehmen und oftmals verklärend zum Ausdruck bringen, sei hier nur auf einige exemplarische Stellen verwiesen, in denen speziell die ‚aufgeklärte‘ und ‚moderne‘ Armenfürsorge Gegenstand der Argumentation ist: Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 1ff.; General Exercises of the International Congress 1893, Bd. 1, S. 159f.; Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 1, S. 124ff. Ausführlich hierzu in: „Gedanken zur Geschichte und Theorie des Armenwesen“, ZdA 9 (1908), 6, S. 163ff. Lallemand findet beispielsweise in jeder Epoche Maßnahmen und Vorbilder für eine aus seiner Sicht guten Armenhilfe und führt dies auf den zugrundeliegenden christlichen Geist des Abendlandes zurück, vgl. ZdA 4 (1903), 2, S. 54ff. sowie ebd., 4, S. 97ff. Für eine ähnliche, stufenmäßig aufgebaute historische Betrachtung vgl. auch Roscher, System der Armenpflege (2. Aufl.), S. 65ff. Besonders oft erwähnt wurde das Werk von Ferdinand-Dreyfus, L’assistance sous la législative et la convention. Vgl. auch Fenner, Die französische Gesetzgebung gegen Bettel und Vagabondage bis auf Napoleon; Schwander, Armenpolitik Frankreichs während der großen Revolution und die Weiterentwicklung der französischen Armengesetzgebung bis zur Gegenwart; Strauss, Assistance sociale.

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III. Leitkonzepte

ergibt sich so das Bild von einer ihrer Gesamtheit verbundenen, sich gegenseitig stets beeinflussenden und in die Moderne schreitenden Armenpflege. Diese „Modernität“ gründete vor allem auf der Idee einer nach rationalen Gesichtspunkten organisierten Armenfürsorge, deren „ungeheurer Fortschritt“ sich in der „technischen“ Überlegenheit, etwa hinsichtlich der Anstalts- und Krankenpflege, gegenüber älteren Formen der Wohltätigkeit verdeutliche. 8 Lallemands Geschichtswerk machte dabei einen wesentlichen Entwicklungszusammenhang ausfindig: Zum einen hätten das regelmäßige Verhältnis eines Menschen zu den um Hilfe bittenden Bedürftigen „Mißvergnügen über einen Anblick“ ausgelöst, „der ihm sein eigenes Behagen zu stören geneigt ist, ihn an unerfreuliche Wechselfälle des Lebens erinnert, seine Sinne beleidigt.“ Aus der „Gesamtheit an Empfindungen, Triebgefühlen, Vorstellungen in Gewohnheitsrecht und Gesetzesrecht“ heraus sei zum anderen letztlich in allen europäischen Nationen das Bedürfnis nach „Abwehr“, sodann aber auch humanere Hilfsstrukturen und letztlich die „moderne Armenpflege“ entstanden.9 Mit Nachdruck betonten die Autoren den langen historischen Prozess und das „gewaltige Ringen“ für mehr „Menschlichkeit“ den Bedürftigen gegenüber und knüpften damit die Entwicklung der Armenfürsorge an die Geschichtsdeutungen aufklärerisch-humanistischer Tradition: „Aber die Erkenntnis hat gesiegt, [...] bei allen Verschiedenheiten und Mängeln der Armenpflege ist auch thatsächlich die Humanität überall der Grundton.“10 So sei nach der „philanthropischen Tätigkeit der Aufklärung“ nun zuletzt die „Epoche der socialen Fürsorgethätigkeit“ hereingebrochen, wobei „durch die gemeinschaftliche humane und sociale Arbeit dem socialen und damit auch dem allgemeinen menschlichen Frieden die Wege“ geebnet werde.11 Zugleich beinhalte die ‚Modernität‘ der Armenfürsorge die Erkenntnis, dass man die individuellen Ursachen der Verarmung zunehmend differenzierter betrachte, weil sich die Methoden der Untersuchung und Fallprüfung weiterentwickelt hätten. „Fortschrittlich“ seien, wie in einem Vortrag auf dem internationalen Wohltätigkeitskongress 1893 in Chicago über „Poor Law Progress and Reform“ festgehalten, die neuartigen Möglichkeiten, „Hilfsimpulse“ der Wohltätigkeit mit rational-organisatorischer Kontrolle moderner Verwaltung zu verbinden. 12 In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, wenn viele Fürsorgeexperten gegenüber der alten christlich-karitativen Form der Armenpflege klar Stellung bezogen. Diese habe neben den „humanen“ Aspekten die gleichermaßen „unentbehrliche repres-

8 ZdA 8 (1907), S. 258. 9 „Gedanken zur Geschichte und Theorie des Armenwesen“, in: ZdA 9 (1908), 6, S. 167. 10 So in der geschichtsbezogenen Einleitung über „die wechselseitige Unterstützung von Reichsangeḧrigen in den einzelnen Bundesstaaten“, (Fleischmann und Ruland) in: SDV 38 (1898), S. VI. 11 Münsterberg, Übersicht, SDV 40 (1898), S. 18. 12 „[...] the best intentions and the best sytems fail when the heart is allowed to give impluse to human action without the controlling guidance of the head“, vgl. Vallance, Poor Law Progress and Reform, General Exercises of the International Congress 1893, Bd. 1, S. 158–172, Zitat S. 159.

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sive Tätigkeit“13 gegenüber arbeitsscheuen Bettlern vermissen lassen und durch ihre Hilfeleistungen einen Kreislauf der Verarmung in Gang gehalten. Diese Darstellungsweise sieht die Schuld am Elend einerseits beim Armen selbst, der sich an „Müßiggang“ und das Leben von Almosen gewöhnt hätte. Andererseits warf man den „kirchlichen Organen“ vor, keine Maßnahmen gefunden zu haben, die Bedürftigen von der Inanspruchnahme fremder Hilfe abzuhalten. Die fehlende Unterstützung in den Gemeinden habe Bettler letztlich dazu bewogen, als Vagabunden und Landstreicher umherzuziehen, was „die öffentliche Ordnung und Sittlichkeit, das Eigentum und das Leben der Bürger gefährdete“.14 Die Ansicht, dass Arbeitsscheue zu den Hauptursachen von Armut gehöre und dem Problem mit Nachdruck zu begegnen sei, wurde in allen historischen Überblicksdarstellungen stets hervorgehoben. Der Entwicklungsgang zur „technisch“15 modernen Armenfürsorge habe sich demnach schrittweise vollzogen. Manche Armenverordnungen – etwa in Hamburg – hätten bereits vor einhundert Jahren den Grundstein einer „rationellen bürgerlichen Armenpflege“ gelegt, wodurch „sie alsbald zu denselben Anschauungen gelangten, die noch heute die Grundsätze der besten Armenpfleger sind“.16 Die Herausstellung des Historischen und des Modernen verdeutlicht zugleich den Wunsch, mit allen internationalen Entwicklungen schritthalten zu wollen. ‚Modernität‘ musste in Beziehung zur internationalen Staatenwelt gemessen werden. Auf diese Art und Weise konnte Rudolf Schwanders Arbeit über die Geschichte der „Armenpolitik Frankreichs“ den Anspruch historisch untermauern, den „unhaltbaren Zuständen“ des Armenwesens in den ‚Reichslanden‘ Abhilfe zu schaffen. In Elsass-Lothringen hatte die historische Verbundenheit mit dem französischen Armenwesen die Folge, dass die als zeitgemäß empfundene Ausgestaltung im Sinne einer obligatorischen Armenfürsorge in Verbindung mit dem Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz keine Anwendung fand. Als „historische Aufklärungsschrift“17 konzipiert, beabsichtigte Schwander aber auch umgekehrt die Vorzüge des in den Reichslanden gültigen französischen Fürsorgewesens zu behandeln, um auch diesseits des Rheins manche Reformbedürftigkeit offenzulegen. Die Direction de l’Assistance et de l’Hygiène publiques rückte in den Fokus einer Sichtweise, welche die Vorteile einer zentralisierten Aufsichtsund Kontrollbehörde unterstrich und zugleich die Fortschritte der bureaux d’assistance herausstellt, durch welche die Vereinigung der Verwaltungen der offenen und geschlossenen Armenpflege erreicht werden sollte.18 13 Aschrott, Armenwesen, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften (3. Aufl., 1909), S. 1. 14 Ebd. 15 Über die „technischen Errungenschaften“ der „modernen Armenpflege“, vgl. „Gedanken zur Geschichte und Theorie des Armenwesen“, in: ZdA 9 (1908), 6, S. 169f. 16 „Die Bettelplage vor hundert Jahren“, in: Arbeiter-Kolonie 7 (1890), S. 161f. 17 Schwander, Die Armenpolitik Frankreichs, Vorwort. 18 Ebd., S. 142ff. Zu den Hintergründen und der Geschichte der Armenfürsorge in ElsassLothringen vgl. M. Boldorf, Armenfürsorge im annektierten Elsaß-Lothringen am Beispiel Saargemünds, in: Scripta Mercaturae 29 (1995), S. 80–97. Schütter, Von der rechtlichen Anerkennung, in: Archiv für Sozialgeschichte 46 (2006), S. 87–106.

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Hinsichtlich der Geschichte des 19. Jahrhunderts wurden besonders die internationalen Austauschprozesse des Armenwesens hervorgehoben, welche sich als fruchtbar für die Modernisierung der Armenpflege erwiesen hätten. Ein Blick in das Handwörterbuch der Staatswissenschaften drängt [...] die Beobachtung auf, dass sich gegenwärtig wieder eine grössere Gemeinschaft der Ideen und eine grössere Gleichmässigkeit der Organisation anbahnt. Die Fragen der Armenpflege sind internationale geworden und werden auch bereits international behandelt, eine Nation lernt von der anderen, und gemeinsamen suchen sie die Probleme, welche die moderne Entwicklung der Volkswirtschaft stellt, zu lösen. 19

Vor dem Hintergrund der Herausforderungen, welche sich den europäischen Nationen aufgrund der sozioökonomischen Umwälzungen gleichermaßen stellten, bot die geschichtliche Herleitung die Grundlage für ein gemeinsames Selbstverständnis als Sozialreformbewegung. Aus dem Geschichtsverständnis folgte das spezifisch ‚Neue‘ der Armenfürsorge. Die Darstellung der historischen Genese des Armenwesens untermauerte überdies den Anspruch der Sozialreformer, zur Lösung der Armutsfragen gewissermaßen ermächtigt worden zu sein. Auf diese Weise ließ sich aus der gemeinsamen Geschichtsauffassung ein Sendungsauftrag ableiten: Man hat eingesehen, dass in dieser Beziehung nicht Theorien, sondern die historische Entwicklung der Armenpflege in den einzelnen Ländern entscheidet und dass der allein richtige Weg der ist, das historisch Gewordene fortzubilden. 20

Entsprechend wichtig war der historisch verbürgte Zusammenhalt für die Fürsorgeexperten in ihrem Ringen um sozialpolitische Deutungsmacht. Sie waren sich letztlich gewiss, als einzige die Ideen ‚auf Höhe der Zeit‘ zu vertreten. 2. ‚ARBEIT STATT ALMOSEN‘ Almosenbekämpfung war der Inbegriff eines modernen Fürsorgeverständnisses. Sie hatte eine lange Tradition und rückte vor dem Hintergrund der Industrialisierung erneut in den Mittelpunkt der Fürsorgedebatten.21 Die internationale Fürsorgeexpertise erklärte die ‚planlose Almosengeberei‘ ebenfalls zu ihrem größten Feind. Das Thema war schon 1880 einer der wichtigsten Verhandlungsgegenstände auf dem Mailänder Kongress: Seinen Resolutionen zufolge sollten die unbedachten Almosen einer grundsätzlich anderen Form der Unterstützungsgewährung weichen. Demnach seien sämtliche Lebensumstände der Mittellosen in Betracht zu ziehen, ihre Not und etwaige Eigenschuld zu dokumentieren und die Unterstützungsleistungen an den Fortschritten der moralischen und ökonomischen Rehabi19 Handwörterbuch der Staatswissenschaften (2. Auflage, 1898), Bd. 1, S. 1076. 20 Ebd. 21 Über Almosenbekämpfung vgl. H. Drude, Arbeiterkolonie statt Almosen – zum Hintergrund einer Hilfeidee, in: H. Kiebel (Hrsg.), Ein Jahrhundert, S. 36ff.; G. Ammerer/S. Veits-Falk, (Über-) Leben auf der Strasse, in: Hahn/Lobner/Sedmak (Hrsg.), Armut in Europa 1500– 2000, S. 140–161. Vgl. auch Althammer, Bettler.

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litation zu messen.22 Modernität und Fortschritt äußerten sich damit in einer überdachten Haltung gegenüber den Grundsätzen der christlichen Barmherzigkeit. Speziell der Umgang mit den ‚Vagabunden‘ und ‚Müßiggängern‘ war von dieser Einstellung beeinflusst. In unmittelbarem Zusammenhang bekam der Leitsatz ‚Arbeit statt Almosen‘ seine volle Ausprägung. Er konnte als Motto eine ganze Gedankenwelt transportieren und diese in Form der Fürsorge durch Arbeit vergegenständlichen. Internationale Bezüge beim Motiv der ‚schädlichen Almosen‘ weisen ebenfalls eine lange Tradition auf. Der Nationalökonom und Sozialreformer Victor Böhmert griff 1879 in einem Vortrag „Zur Reform der Armenpflege“ auf Belege aus England, der Schweiz und den Niederlanden zurück, um die Schäden der „planlosen Almosengeberei“ anzuprangern. Er zitierte unter anderem Thomas Beggs, der für seine Ausführungen über die auf Almosen beruhenden, „falsche Philanthropie“ bekannt wurde.23 Auf dem Wohltätigkeitskongress 1893 in Chicago konstatierte Robert T. Paine, dass im unüberlegten Almosengeben sogar einer der Hauptgründe für Verarmung selbst zu suchen sei.24 Karitative Hilfe ohne Gegenleistung – und sei es nur in Form des „guten Willens“ – war auch nach übereinstimmender Einschätzung der Kongressteilnehmer von 1900 ein wesentlicher Grund für anhaltende Bedürftigkeit: L’histoire de la charité nous montre que, de tout temps, aux portes des couvents, des aumôneries, des abbayes, se faisaient des distributions de pain, de vivres; une foule véritable se pressait aux portes, on entretenait ainsi la mendicité plus qu’on ne tarissait la misère 25 publique.

In Übereinstimmung mit dieser Auffassung schrieben sich auch die Gründer des Deutschen Vereins auf die Fahnen, als Verfechter einer zweckmäßigen Armenfürsorge aufzutreten und den Dilettantismus des Almosengebens als „weiblichen Sport für reiche und vornehme Müßiggängerinnen“ zu diffamieren.26 Diese Ablehnung beruhte auf zweierlei Ansichten. Zum einen wollte man die Unredlichkeit eines ‚falschen Armenfreundes‘ kenntlich machen, der die finanziellen Zuwendungen für die Zurschaustellung seiner Mildtätigkeit missbrauche. Zum anderen galt es, die Unzeitmäßigkeit der angewandten Methode zu tadeln. Letzteres empfanden die Fürsorgeexperten als besonders störend, da das Almosengeben ihrer Ansicht nach die Tätigkeit der Armenfürsorge konterkarierte. Die moderne Armenfürsorge habe sich vielmehr an objektiven Kriterien zu messen und einen erzieherischen Anspruch zu verwirklichen, statt falsche Begehrlichkeiten zu wecken. Diesen Forderungen widmeten sich die international geführten Debatten über die Schaffung von Kontroll- und Aufsichtsbehörden, mittels derer man die administrative Aufsicht über die karitative Almosen-Verteilung durch Kirchen 22 IV. Congresso internazionale, Bollettino ufficiale, Nr. 4, S. 5–9. 23 Böhmert, Zur Reform der Armenpflege (Vortrag gehalten im Dresdner Bezirksverein rechts der Elbe am 21. Februar 1879). 24 General Exercises of the International Congress 1893, Bd. 1, S. 47. 25 Zitat von Drouineau in: Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 1, S. 103f. 26 Lammers, Ziele und Bahnen, S. 6.

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und Wohlfahrtsvereine zu gewinnen glaubte.27 Hierzu zählte etwa das italienische Gesetz über die staatliche Stiftungsaufsicht (‚legge sulle istituzioni pubbliche di assistenza e beneficenza‘) von 1890, welches „in einem kein Beispiel findenden Masse die Möglichkeit der Umwandlung, Verschmelzung und Vereinigung von Stiftungen zuliess, die unzweckmässig oder unnütz geworden waren“28. Im Deutschen Verein formulierte man 1891 ebenfalls die Forderung nach gesetzlichen Neuregelungen, welche die Kontrolle über Armenstiftungen beinhaltete und auf internationale Beispiele rekurrierte.29 In den folgenden Jahren folgten erste Umsetzungen einer behördlichen Aufsicht über Stiftungswohltätigkeit in Baden, Hamburg und Lübeck mit der Absicht, die unüberlegte Almosentätigkeit zu unterbinden.30 Was das „Wohltätigkeitsfestunwesen“ anbelangte, so sollte es dem Urteil der Fürsorgeexperten nach ebenfalls eingeschränkt werden: „Zu wohlthätigen Zwecken sollen dem Vergnügen und der Zerstreuung dienende Veranstaltungen, wie Bühnenvorstellungen, Bälle u. s. w. nicht allzu häufig stattfinden“, hieß es in einem Vortrag „über die Grenzen der Wohltätigkeit“ von Fuld auf der zwölften Jahresversammlung des Deutschen Vereins.31 Auch auf den Versammlungen der Zentralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen bekannte man sich recht polemisch gegen die Almosenfürsorge: Zu dieser Art von Wohltätigkeit stehen wir allerdings in unseren Wohlfahrtsbestrebungen in einem ganz bewußten Gegensatz. Wir wollen eine vorbeugende, durchdachte Wohltätigkeit ausüben, die die Ursachen aller dieser Erscheinungen soweit wie das möglich ist, zu heben versucht.32

Die internationalen Bezüge hatten in Bezug auf diese Leitgedanken eine affirmative Funktion. Aus diesem Grund suchte die Zeitschrift Arbeiter-Kolonie (Der Wanderer) in den Wohltätigkeitseinrichtungen außerhalb Deutschlands stets nach denjenigen, die nach dem Prinzip „Arbeit statt Almosen“ als bestes Vorbild für die gemeinsame Idee eines „rationellen Direktoriums“ gelten konnten.33 Auch im Deutschen Verein wurden in regelmäßigen Abständen die internationalen Errungenschaften auf dem Gebiet der Almosenbekämpfung hervorgehoben und mit den heimischen Ansätzen verglichen, wodurch die ‚Modernität‘ der Maßnahmen im Kampf gegen unüberlegte ‚Almosengeberei‘ gesichert werden konnte.34

27 Vgl. hierzu ausführlich Kapitel III, 7. 28 ZdA 4 (1903), 2, S. 70f. 29 Siehe „Zusammenwirken zwischen ̈ffentlicher Armenpflege und organisierter Privatwohltätigkeit“, SDV 15 (1891), S. 79ff. 30 Vgl. Pielhoff, Stifter und Anstifter, in: GG 33 (2007), S. 10–45, hier S. 32. 31 SDV 15 (1891), S. 21ff. Zitat S. 28. Albert Levy machte sich als Kämpfer gegen „Wohltätigkeitsfeste“ einen Namen, vgl. Simon, Albert Levy, S. 8. 32 Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen, Vorbericht und Verhandlungen 30 (1906), S. 39. 33 Z. B. hier: „Eine belgische Arbeiter-Kolonie“, in: Arbeiter-Kolonie 7 (1890), S. 163ff. 34 Vgl. z. B. SDV 40 (1898), S. 16f. Hier werden zu diesem Zweck verschiedene ausländische Einrichtungen, vor allem der Kinder- und Krankenfürsorge, genannt.

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Die Anti-Almosen-Semantik war allerdings nicht nur gegen die karitativen Geldgaben der christlichen Tradition gemünzt. Sie war auch ein wichtiges Argument gegen die unstrukturierte Vorgehensweise der im Kontext der Industrialisierung entstandenen philanthropischen Bewegungen. Ihnen warf man vor, mittels Geldzuwendungen die eigentlichen, ausbeuterischen Absichten zu verschleiern und die Gebenden und Nehmenden in ein unnatürliches Abhängigkeitsverhältnis zu bringen.35 Diese Praktiken wollte man mittels der professionellen Tätigkeit einer ‚aufgeklärten‘ Armenfürsorge umgestalten. Eine Kernforderung lag in dem Anspruch, auf die Einstellung des Almosenempfängers erzieherisch Einfluss zu nehmen. Der Imperativ der unabhängigen und produktiven Lebensführung wurde von den Armenpflegern selbst vorgelebt und während der Armenbesuche vorgeführt. Grenzüberschreitend verbreitete stereotype Erzählungen über die negativen Folgen der Almosenpraktiken, welche das ‚gewerbsmäßige Bettelwesen‘ fördern würden, stützten die Notwendigkeit einer umfassenden Kontrolle und forderten zugleich, die willkürliche Almosenvergabe der Wohltätigkeit durch die strukturierende Macht einer rationalen Armenverwaltung zu ersetzen. Die Beispiele verdeutlichen, dass die Almosenbekämpfung als zentrales Motiv einer modernen Armenfürsorge in seiner internationalen Vernetzung betrachtet werden kann: Die wechselseitige Bestätigung der Argumentation, die Rezeption von mahnenden Beispielen oder fortschrittlichen Wohltätigkeitseinrichtungen aber auch die Wahrnehmung der literarischen Tradition begünstigten die Herausbildung eines grenzüberschreitend gleichermaßen geförderten Leitkonzeptes, wonach die ‚Verbannung der Almosen‘ an oberster Stelle der rationalen Fürsorgepraxis zu stehen habe.36 3. WISSENSCHAFTLICHKEIT Auf die Bedeutung der Wissenschaften bei der Herausbildung moderner Sozialstaatlichkeit wurde in der Historiographie verschiedentlich eingegangen. Dies gilt insbesondere auch für den Zusammenhang zwischen den Humanwissenschaften, Hygiene, Medizin, Nationalökonomie und der Armenfürsorge. Dabei wurde betont, dass die Wissenschaften unterschiedliche Leitkonzepte bereitstellten, welche die Entwicklungen im ‚Fürsorgesystem‘ entscheidend vorantrieben.37 Auch wenn 35 Vgl. hierzu auch David, Philanthropie und Macht, in: Traverse 37 (2006), 1, S. 10ff. 36 Die Ausstrahlungskraft dieser für modern empfundenen Methoden wirkte im Übrigen auch auf die kirchlichen Vertreter der Sozialreform, die hinsichtlich ihrer Fürsorgepraktiken der öffentlichen oder vereinsmäßigen Fürsorgetätigkeit in Nichts nachstehen wollten. J.-C. Kaiser spricht hierbei von einer Anpassungsleistung und Modernisierung unter Sachzwängen, vgl. Kaiser, in: ders. (Hrsg.), Soziale Reform, S. 94ff. 37 Die Rolle von Hygiene und National̈konomie als „Leitwissenschaften“ für die Sozialreformbewegungen wurde dabei besonders hervorgehoben, vgl. Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 2, S. 18ff. und Sachße, Mütterlichkeit, S. 87ff.; vgl. ferner Rueschemeyer/Skocpol (Hrsg.), States, Social Knowledge; Nowotny, Knowledge for Certainty, in: Wagner (Hrsg.), Discourses on Society, S. 23–44.

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III. Leitkonzepte

dieser Zusammenhang zwischen Sozialwissenschaften und Wohlfahrtsproduktion unumstritten ist, drängen sich in Hinblick auf die spezifisch historische Verfasstheit des Armenwesens während des Untersuchungszeitraums von 1880 bis 1914 einige weiterführende Bemerkungen auf. Zunächst einmal empfiehlt es sich, den Forschungsleitbegriff ‚Verwissenschaftlichung‘ und das zeitgenössische fürsorgebezogene Leitkonzept ‚Wissenschaftlichkeit‘ getrennt voneinander zu betrachten. In einem zweiten Schritt lassen sich die grenzüberschreitenden Prozesse und ihre Bedeutung für Wissenschaftskonzepte in der Armenfürsorge evaluieren. Die ‚Verwissenschaftlichung des Sozialen‘ beschreibt die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert vorliegenden Tendenzen der rationalistischen Weltdeutung und daran anknüpfend die sich herausbildenden Versachlichungs-, Professionalisierung- und Bürokratisierungsprozesse, deren Zielrichtung es war, die sozialen Beziehungen mithilfe wissenschaftlicher Kriterien (neu) zu ordnen.38 Diesem historiographischen Deutungskonzept liegt die Beobachtung zugrunde, dass das Erlösungsversprechen einer durch den Szientifismus erklärbaren und beherrschbaren Welt nicht nur die führenden Schichten aus Wissenschaft, Technik und Kultur beflügelte, sondern auch die Sozialreformbewegung nachhaltig beeinflusste. Die Vorstellung, dass objektiv begründbare Gesetzlichkeiten auch das soziale Zusammenleben determinierten, unterstützte den Glauben an die Formbarkeit der Gesellschaft. In direkter Folge, so die Geschichtsschreibung zur Verwissenschaftlichung des Sozialen, sei ein Prozess angestoßen worden, der auf die Planung, Rationalisierung und wissenschaftlichen Kontrolle aller Lebensbereiche abzielte. Die Umsetzung habe dem sozialwissenschaftlichen Expertentum oblegen, dessen Methoden in Politik, Verwaltung und Vereinen Einzug hielt und Entscheidungsprozesse steuerte. Soziale Handlungsfelder seien dadurch von der Deutungsvormacht der wissenschaftlichen Überkompetenz betroffen gewesen und hätten den klassischen sozialdisziplinierenden Herrschaftsformen eine wissenschaftsgestützte und auf Selbstregulierung zielende Verwaltungsmacht entgegengestellt.39 Was das zeitgenössische Leitkonzept der Wissenschaftlichkeit anbelangt, so kann dieses konkreten Aufschluss über die Eigensicht und Handlungsorientierungen der Fürsorgeexperten geben, welche die Theorie und Praxis des Armenwesens vor dem Ersten Weltkrieg kennzeichneten. Der Begriff ‚Wissenschaftlichkeit‘ soll nur ausdrücken, dass ein Sachverhalt dem Wesen nach der damals vorherrschen38 Die Forschungsdebatte über die Verwissenschaftlichung des Sozialen wurde insbesondere angestoßen durch Lutz Raphael, vgl. Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: GG 22 (1996), S. 165–193. Weitere Forschungsarbeiten und Vertiefungen der Debatte: Brückweh/Schumann/Wetzell/Ziemann (Hrsg.), Engineering society; Etzemüller, Die Ordnung der Moderne; Reinecke/Mergel (Hrsg.), Das Soziale ordnen; vom Bruch, Von der Sozialethik zur Sozialtechnologie? Neuorientierungen in der deutschen Sozialwissenschaft um 1900, in: Hübinger/vom Bruch (Hrsg.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900, S. 260–276 sowie dargestellt am Beispiel Frankreichs: Raphael, Vom Sozialphilosophen zum Sozialingenieur?, ebd., S. 296–317. 39 Raphael, Verwissenschaftlichung, S. 184. Zu Normalisierungsprozesse im Bereich des Sozialen vgl. auch Swaan, The Management of Normality.

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den Auffassung von Wissenschaft entsprach. Die Tatsache, dass die Grundannahmen von Wissenschaftlichkeit historisch divergierten, verweist zugleich auf die Notwendigkeit, den Begriff einer Reflektion zu unterziehen. Es geht darum, die Bedeutung von Wissenschaftlichkeit, insbesondere auch die Kriterien ihrer ‚Messung‘, in der Rückschau kritisch zu hinterfragen und die im historischen Kontext vorliegende Idee von Wissenschaftlichkeit selbst zu historisieren.40 Dies erscheint umso wichtiger, als der in den Sozialreform-Bewegungen verbreitete Wissenschaftsbegriff Gefahr läuft, retroperspektivisch einseitig vereinnahmt zu werden: So macht sich in der Geschichtsschreibung zur Sozialpädagogik die Tendenz bemerkbar, die Ursprünge der wissenschaftlichen Arbeitsmethoden und der Akademisierung des Berufsfeldes idealisierend an die außergewöhnlichen Lebensleistungen einiger Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen zu koppeln.41 Auch wenn herausragende Persönlichkeiten wie Alice Salomon zweifellos dem Bild von den Pionierinnen und Pionieren der modernen Sozialarbeit gerecht werden, versperrt diese Sichtweise ein wenig den Blick auf das sozialreformerische Umfeld, aus dessen Ideenpool sie schöpften und mit dessen Wissenschaftskonzepten sie operierten. Infolgedessen ergibt sich ein Geschichtsbild, das die Vorstellung einer positiv konnotierten ‚Wissenschaftlichkeit‘ gegenüber der negativ konnotierten ‚Verwissenschaftlichung‘ suggeriert, deren anonymisierte Kontroll- und Normierungspraktiken in den technokratischen Verwaltungsapparaten des 20. Jahrhunderts zu kulminieren schienen.42 Dieses Narrativ impliziert jedoch ein stringentes Wissenschaftskonzept, das sich in der Fürsorgefachwelt in dieser Form erst in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg und dort auch nur speziell in einer als avantgardistisch zu bezeichnenden Gruppierung herausbildete. Analysiert man die Wissenschaftskonzepte ausgehend von den einschlägigen Schriften der wichtigsten Fürsorgeexperten im hier vorliegenden Untersuchungszeitraum, so wird darin vor allem erkennbar, dass eine klar ausformulierte Idee von Wissenschaftlichkeit (noch) nicht vorlag. Sie schälte sich erst langsam heraus und das unter beachtlichem Anteil der internationalen Debatten. Tatsächlich griffen traditionell-karitative und neue ökonomischrationalistische Denkwelten stark ineinander, überlappten und beeinflussten sich. Die Fürsorgeexperten rekurrierten dabei des Öfteren, aber nicht ausschließlich auf 40 Für eine solche Reflektion der sozialwissenschaftlichen Methoden und Weltdeutung, welche die „Historisierung der Sozialwissenschaft und ihrer Kategorien“ beinhaltet, sprechen sich auch Reinecke/Mergel aus: Reinecke/Mergel, Das Soziale vorstellen, darstellen, herstellen: Sozialwissenschaften und gesellschaftliche Ungleichheit im 20. Jahrhundert, in: dies. (Hrsg.), Das Soziale ordnen, S. 7–32, hier S. 9. 41 So z. B. bei Amthor, Die Geschichte, S. 195–290; Müller, Wie Helfen zum Beruf wurde, 9ff.; Schilling, Soziale Arbeit; Hegar, Transatlantic Transfers. 42 Gefördert werde diese Einschätzung laut Lutz Raphael durch die Forschungsarbeiten, welche ihren Fokus vor allem auf die „Kollateralschäden“ der Verwissenschaftlichungsprozesse gerichtet hätten. Der Grund für die einseitig pessimistische Bewertung von Verwissenschaftlichung sei vor allem darin suchen, dass man sich dem Forschungsgegenstand überwiegend mit diskursanalytischen Herangehensweisen annähert. Raphael, Embedding the Human and Social Sciences in Western Societies, in: Brückweh/Schumann/Wetzell/Ziemann (Hrsg.), Engineering society, S. 54.

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III. Leitkonzepte

Wissenschaftlichkeit als Leitmotiv. Die Schrittmacher und führenden Köpfe einer ‚modernen‘ Armenfürsorge betonten lediglich, dass die ‚wissenschaftlichen Methoden‘ bei der Erarbeitung von Problemlösungsansätzen unbedingt heranzuziehen seien. Die Beweggründe und das Selbstverständnis der „Sozialen Reform“ beruhten hingegen auf „Mitleid, Gerechtigkeitsgefühl und politische Einheit“, wie es Berlepsch in seiner programmatischen Schrift über die Grundlagen der Gesellschaft für soziale Reform vermerkte.43 Später, 1914, ergänzte Hans Gehrig, Professor der Staatswissenschaften an der Königlichen Technischen Hochschule Hannover, in seiner „literar-historischen Untersuchung“ über die „Begründung des Prinzips der Sozialreform“, dass es neben den ethischen und politischen Motiven auch „eine wissenschaftliche Überzeugung für sozialpolitisches Handeln“ gegeben habe, welche die „wissenschaftliche Grundlegung für die soziale Gesetzgebung und Verwaltungspraxis geschaffen“ habe.44 Während sich Gehrig hierbei insbesondere auf die Programmatik der ‚Kathedersozialisten‘ bezog und ihre Rolle in Politik, Gesellschaft und Kultur verdeutlichte, waren die Praktiker der Armenfürsorge viel mehr mit alltäglichen, praxisbezogenen Fragestellungen beschäftigt. Im Gegensatz zu den Vertretern der historischen Schule der Sozialwissenschaften, deren moralisch-politischer Wissenschaftsbegriff die Verbindung von Sozialreform und Gemeinwohl einforderte, nahmen die Armenpfleger die gesamtgesellschaftlichen Visionen etwa des Vereins für Sozialpolitik eher selten in den Blick.45 Überhaupt lag ihnen wenig an einer über das lokale Geschehen hinausreichenden Politisierung oder wissenschaftstheoretischen Fundierung ihres Gegenstandes. Die Debatten des Armenwesens drehten sich entsprechend um die konkrete armenpflegerische Tätigkeit und wie diese innerhalb oder durch Erweiterung der bestehenden Rechts- und Sozialordnung optimiert werden könnte. Eine explizite Anlehnung an die ‚Kathedersozialisten‘ – einige Protagonisten des Deutschen Vereins hatten bei ihren Repräsentanten studiert – äußerte sich lediglich in Fragen der methodischen Herangehensweisen.46 Das wissenschaftliche Vorgehen, das von einem geringen „methodischen Problembewusstsein“47 geprägt war, ermöglichte Standpunkte zu untermauern und zu vermitteln, aus denen sich konkreter Handlungsbedarf ableiten ließ. Die Sozialwissenschaften dienten der Fürsorgefachwelt somit mehr als Anwendungswissen denn als eine allumfassende, säkularisierte und rationalistische Weltdeutung. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen waren weniger Grundlage für einen raschen Paradigmenwechsel, sie ‚kolonisierten‘ vielmehr nach und nach bestehende Ansichten über ein effizientes Armenwesen. 43 Berlepsch, Warum betreiben wir die soziale Reform? (Schriften der Gesell. für Soziale Reform 11), S. 19. 44 Gehrig, Die Begründung des Prinzips der Sozialreform, S. 1f. 45 Siehe auch Sachße, Mütterlichkeit, S. 87ff. 46 Auch Sachße/Tennstedt betonen, dass im Deutschen Verein eine „pragmatische Ausrichtung“ gegenüber einer politischen und sozialwissenschaftlichen überwog, wenngleich einige personelle Verknüpfungen mit dem Verein für Sozialpolitik bestanden (u. a. bei Karl Flesch, Münsterberg und Rudolf Schwander), vgl. Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 2, S. 24f. 47 Sachße, Mütterlichkeit, S. 90.

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Was die internationale Vernetzung anbelangt, so darf ihre Bedeutung für die Herausbildung eines Wissenschaftsverständnisses nicht unterschätzt werden. Insbesondere die wissenschaftlichen Methoden, wie sie in den SozialreformerGruppierungen ab den 1880er und 1890er Jahren eingefordert wurden, fanden durch die internationale Vernetzung von sozialwissenschaftlichem Wissen ihre Ausformung. Dies geschah teils durch eine vernetzte Kooperation, teils in Nachahmung, teils in der Absicht, die Arbeit der Konkurrenten zu überflügeln. Für den Zeitraum vor 1900 scheint sich zu bestätigen, dass die fehlenden internationalen Strukturen einen Austausch über wissenschaftliche Konzepte recht allgemeiner Art zur Folge hatten. Der internationale Dialog bezog sich überwiegend auf einen Vergleich und implizierte eine latente Konkurrenzsituation. Diese wurde von den Fürsorgeexperten als sehr positiv wahrgenommen, denn man leitete vom „friedlichen internationalen Wettbewerb“48 eine produktive Gestaltungskraft ab: Wenn schon in der geschichtlichen Darstellung die Vergleichung der Entwicklung bei verschiedenen Nationen zu einem immer bedeutenderen Element herangewachsen ist, so hat dieselbe doch in jenen auf die Darstellung der gegenwärtigen Zustände und Reformen gerichteten Bestrebungen noch sehr viel größeren Raum gewonnen. 49

Um einerseits die „Erkenntnisse zu vertiefen“ und andererseits aus der „Verallgemeinerung der Erkenntnis“ profitieren zu können, empfahlen die Fachleute das Studium der „mannigfachen statistischen Publikationen“, dazu gehörte auch „die von Verwaltungen, Vereinen u.s.w. herausgegebenen Schriften sowie veranlaßte Diskussion und Enqueten“. Es ging in erster Linie darum, sich an den „wichtigen Fragen dieses Zweiges der Socialwissenschaft zu beteiligen“, um dadurch „von und mit anderen zu lernen, in der Sache vorwärts zu schreiten“.50 Methodische Überlegungen zum Armenwesen waren einer der zentralen Anknüpfungspunkte für den internationalen Dialog. Die nationalstaatliche Konkurrenzsituation kann nicht alleine als treibende Kraft zur Weiterentwicklung wissenschaftlicher Methoden in der Armenfürsorge herangezogen werden. Die hier vertretene Perspektive möchte vielmehr die produktive Zirkulation von Wissen zwischen den unterschiedlichen ‚Fürsorgekulturen‘ und ‚Fürsorgesystemen‘ hervorheben. Vor allem ab der Gründung des internationalen Reformernetzwerkes 1900 lässt sich beobachten, wie sich die internationale Vernetzung beschleunigte und wie sich aus ihr heraus ein Eigenleben entwickelte. Die Fürsorgeexperten des internationalen Kongresswesens begannen mit differenzierten Begrifflichkeiten zu operieren und bezogen sich vermehrt auf die Vorstellung einer ‚vereinten Sozialreform‘. Sie sahen ihr Wissen als Ausdruck einer internationalen Wissensgemeinschaft und sich selbst als deren grenzüberschreitende Vermittler, getreu dem Motto: „Die im Armenwesen zur Geltung kommenden Ideen sind nicht das Monopol einzelner Nationen“.51 Die internatio48 49 50 51

Reitzenstein, SDV 17 (1893), S. 12f. Ders., SDV 15 (1891), S. 18. Ebd. Ebd., S. 19.

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nalen Kongresse stellten einen zentralen Ort dar, an dem die ‚Wissenschaftlichkeit‘ der Armenfürsorge mittels Austausch, Vernetzung und Synthese immer weiter vorangetrieben wurde. Diese internationalen Treffen verdeutlichen den Zusammenhang zwischen hochspezialisierten Kommunikationsformen und der sinnstiftenden Funktion des sich selbst affirmierenden Fachpublikums. Neben dem internationalen Vergleich der wissenschaftlichen Methoden war es auch die öffentlichkeitswirksame (Re-) Präsentation der Ergebnisse und der Fürsorgeexpertise selbst, die den Zusammenhalt der ‚scientific comunity‘ schufen und ihr internationalen Glanz verliehen. Am deutlichsten wurde die Idee der ‚vereinten Wissenschaften‘ auf der Weltausstellung 1904 in St. Louis zelebriert, an die eine Sektion über ‚social science‘ angeschlossen war. Der Soziologe Hugo Münsterberg, Bruder von Emil Münsterberg, war Wegbereiter einer Veranstaltungsreihe, in der amerikanische und europäische Vertreter der Sozialwissenschaften und Sozialreform zusammenkamen.52 In den allgemein gehaltenen Beiträgen dokumentierte man den weltweiten Fortschritt der Sozialwissenschaften. Der amerikanische Soziologe Henderson hatte sich unter anderem auch als Experte für die Armenfürsorge einen Namen gemacht. Zu seinen Forderungen gehörten: Die empirische Beobachtung des sozialen Phänomens Armut, die Anwendung sozialwissenschaftlicher und statistischer Methoden sowie die Ableitung allgemeingültiger Prinzipien für die Organisation einer rationalen Fürsorgestruktur. Er betonte stets die Annäherung zwischen den Sozialwissenschaften und der armenfürsorglichen Praxis im Sinne einer „rational order“.53 Welche Bedeutung in diesem Prozess ‚Internationalität‘ innehatte, wird an Hendersons Biographie selbst erkennbar. Er hatte in Leipzig promoviert, außerdem stand er in engem Kontakt mit seinen ausländischen Kollegen. Studienreisen und die Teilnahme an internationalen Kongressen gehörten zu seinem Berufsverständnis.54 Neben einigen ‚Kathedersozialisten‘ war auch Emil Münsterberg gebeten worden, in St. Louis einen Vortrag über „The Problem of Poverty“ zu halten. Darin war zu ḧren: „the problem of poverty is a problem of economics and sociology which investigates the whole relationship of man to man and to nature about him.“55 Münsterberg drückte damit die Vorstellung aus, dass Wissenschaftlichkeit bei der Analyse des Armutsproblems bereits den Ausgangspunkt für eine Lösung desselben darstelle. Tatsächlich war dieser primär wissenschaftsbezogene Blickpunkt bei Münsterberg relativ ungewöhnlich und im Wesentlichen von seinen amerikanischen Kollegen, insbesondere von Richmond Henderson inspiriert. Denn im Gegensatz zu den USA gab es in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern bislang nur sehr wenige Sozialwissenschaftler, die sich im uni52 Zur Veranstaltung in St. Louis vgl. Fuchs, Wissenschaft, 160ff. 53 Vgl. Henderson, The Definition of a Social Policy relating to the Dependent Group, in: Congress of Arts and Science, VII, S. 817ff. 54 Über die Verbindungen Hendersons seinen europäischen Kollegen siehe Schäfer, American Progressives, S. 163f. sowie Rodgers, Atlantiküberquerungen, S. 275f. 55 Münsterberg, The Problem of Poverty, in: Congress of Arts and Science, VII, S. 836.

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versitären Rahmen mit den Belangen der Armenfürsorge auseinandersetzten.56 Die wissenschaftliche Ursachenforschung war bislang eher „nebensächlicher Natur“57 gewesen. Aus den oben bereits genannten Gründen der Praxisorientierung legten die deutschen Fürsorgefachleute Wert darauf, sich nicht auf „theoretische Erörterungen über Wert und Wesen der Wohlfahrtspflege“ zu versteifen. Stattdessen stellte man sich die Frage, „wie man auf den verschiedenen Gebieten der Fürsorgetätigkeit es praktisch anzugreifen habe.“58 Münsterberg schränkte auf dem Kongress von St. Louis Hendersons Ansicht folglich auch dahingehend wieder ein, dass es sich bei Armut nicht ausschließlich um ein „topic of science“ handeln könne. So gehe es seiner Meinung nach bei Armenunterstützung nie allein um ökonomische oder wissenschaftliche Erwägungen. Armenfürsorge sei vielmehr auch ein Resultat von „Philanthropie“ und „Polizei“, welche jeweils mit „Sympathie“ beziehungsweise „Selbstschutz“ gleichzusetzen seien. Sobald die Ursachen von Armut wissenschaftlich eruiert seien, müssten „angemessene Maßregeln“ herausgearbeitet werden.59 Die Rolle der internationalen Zusammenarbeit bestünde überdies vor allem darin, sich nicht nur in ‚wissenschaftlichem Räsonieren‘ zu üben, sondern die praktischen Ziele zu fördern.60 Was jedoch die ‚beste Methode‘ zur Umsetzung einer rationalen Armenfürsorge anbelangte, so konnte er Hendersons Standpunkt von der wissenschaftsgeleiteten Herangehensweise uneingeschränkt teilen. Genau darin bestand der Kern des internationalen Austausches hinsichtlich Wissenschaftlichkeit: Sie sollte das methodische Rüstzeug für eine zeitgemäße Armenfürsorge liefern, ohne die ethischen Grundpositionen der Sozialreform zu verwässern.61 In der Folgezeit differenzierte sich das Leitkonzept der Wissenschaftlichkeit in den internationalen Debatten weiter aus und stand im Zeichen der grenzübergreifenden Evaluation. Viele Vorträge wurden in den Fachzeitschriften und auf den Kongressen als Muster „sachkundige[r] Erörterungen“62 gelobt. Auf diese Weise kanonisierte man einige Werke als wissenschaftlichen Standard und machte sie für weite Kreise zugänglich. Die internationale Sphäre diente bei diesem Normierungsprozess als öffentlicher Raum der Repräsentation, Angleichung und 56 Zur engen Verbindung von „Sozialreform und Soziologie“ in den USA siehe Gräser, Visuelle Strategien und Bildabstinenz: Varianten im Verhältnis von Soziologie und Sozialreform in den USA und in Deutschland, 1890–1920, in: Reinecke/Mergel (Hrsg.), Das Soziale ordnen, S. 33–51, insb. S. 39f. 57 So Klumker in Bezug auf die nachrangige Bedeutung wissenschaftlicher Forschung in der Armenfürsorge, vgl. Klumker, Expose: Lehrstuhl und Seminar für Armenwesen und Fürsorgewesen, in: Nachlass Klumker, 12.1 Lehrstuhl (Findbuch_gesamtIII; Alte Signatur, Nr. 475). 58 Münsterberg, Wissenschaft und Praxis der Armenpflege, in: ZdA 4 (1903), 1, S. 4. 59 Münsterberg, The Problem of Poverty, in: Congress of Arts and Science, VII, S. 834f. 60 ZdA 4 (1903), 1, S. 4f. 61 Henderson vertrat darüber hinaus den Standpunkt, dass die Wissenschaft (Soziologie) nicht nur deskriptiv erklären dürfe, sondern insbesondere auch eine teleologische und ethische Funktion erfüllen müsse. Vgl. Schäfer, American Progressives, S. 164. 62 Hier in Bezug auf die Vorträge des internationalen Kongresses in Kopenhagen 1910 über ‚Krankenpflege auf dem Land‘, vgl. ZdA 11 (1910), 9, S. 260.

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Korrektur. Hier betonte man das gemeinsame Erarbeiten von Prinzipien, deren Anspruch es war, allgemeingültig zu sein. Während vor der Gründung des sozialreformerischen Expertennetzwerkes die abstrakte Gegenüberstellung und die systemischen Fragen der Armenfürsorge überwogen, konnte die Vorstellung von Wissenschaftlichkeit nach 1900 zunehmend in kleineren, fachspezifischeren und auf konkrete Methoden bezogenen Fürsorgegebieten international diskutiert werden.63 Zu beobachten ist dabei die Tendenz des 1900 gegründeten Comité international, die Austauschprozesse des Kongresswesens stärker in seinem Sinne zu lenken: Was als modern zu gelten hatte und was nicht, stand unter der definitorischen Vormachtstellung der internationalen Kongresselite.64 Der verschiedentlich angesprochene Bedeutungsverlust der internationalen Sozialreformer-Gemeinschaft nach 1910 hinterließ auch seine Spuren in Hinblick auf die internationale Idee von Wissenschaftlichkeit. Zwar nur selten wurde der sozialreformerische Grundkonsens – „Verschmelzung von Systematik und Liebe“65 – in Frage gestellt. Die sachdienliche Wissenschaftlichkeit hatte sich stets in den Dienst des praktischen, bürgerschaftlichen Engagements zu stellen. Ein Denkumschwung deutete sich dennoch vor dem Ersten Weltkrieg an, als eine neue Gruppierung von Fürsorgeexperten und Sozialarbeitern im Entstehen begriffen war. Sie opponierte gegen die führenden Köpfe der europäischen Fürsorgefachwelt vor allem mit einem neuartigen und allumfassenden Wissenschaftsverständnis.66 Sie legten Wert darauf, sich von ihren älteren Kollegen und deren sozialreformerischen Grundpositionen abzuheben und förderten noch nachdrücklicher die Anbindung des Armenwesens an einen professionalisierten und akademischen Rahmen. Diese neue Gruppierung wollte mit aller Deutlichkeit und in expliziter Bezugnahme auf die nunmehr allein autorisierende Wissenschaft die Modernisierung und Professionalisierung der Sozialen Arbeit auf der einen und die der Wohlfahrtspflege auf der anderen Seite vorantreiben. Die zwingende Logik der Wissenschaften, welche alles Soziale rational durchdringen sollten, war dabei ihr wichtigstes Instrument. Das bestechendste Beispiel dieses neuen Wissenschaftsverständnisses, war die von Beatrice und Sidney Webb publizierte Schrift The

63 Wie etwa bei der Gegenüberstellung arbeitsbeschaffender Fürsorgemaßnahmen 1900 auf dem Kongress in Paris, vgl. Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 2, S. 101ff. 64 Dies betraf sowohl die Themenwahl als auch die Wahl der Hauptberichterstatter und die inhaltliche Bestimmungen bei der Ausarbeitung von Referaten. Vgl. hierzu die Ausführungen ‚Gründung und die ersten Jahre des Comité international‘ sowie ‚Das Comité international 1906–1910: Internationalität als Normalität‘ in Kapitel I, 5.3 dieser Arbeit. 65 Friedmann, Emil Muensterberg, in: DZfW 4 (1930), 8, S. 465. 66 Lutz Raphael setzt in seiner Periodisierung der ‚Verwissenschaftlichung des Sozialen‘ ebenfalls eine neue Phase um 1910 an. Während die Phase zwischen 1880 und 1910 von der Sozialreform und den Überlegungen zur Sozialen Frage dominiert gewesen sei, hätten von Beginn des neuen Jahrhunderts an zunehmend spezialisierte, oftmals konkurrierende Diskursformationen und mit ihnen ein neuer Typ wissenschaftlichen Expertentums an Einfluss gewonnen. Vgl. Raphael, Embedding the Human, in: Brückweh/Schumann/Wetzell/Ziemann (Hrsg.), Engineering society, S. S. 41–56, insb. 44f. und 50f.

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Break-Up of the Poor Law.67 Die Überzeugungskraft der Forderungen beruhte auf ihrer Wissenschaftlichkeit: Der Bericht von Mrs. Webb [ist] mit so einer erstaunlichen Sachkenntnis, mit seiner so unglaublich zwingenden Klarheit und Logik gearbeitet, daß es allein deswegen lohnt, diesen Bericht zu lesen, um die Freude an einem bedeutenden und weitblickenden Geist zu haben; so zwingend logisch, daß, wenn man ihn gelesen hat, man sich sagt: ja, das ist der Weg. 68

Aufgrund der logischen Argumentationsweise lobten selbst Skeptiker einer so verstandenen staatlichen Neuorganisation das Werk in höchsten Tönen. Erst in dieser Phase, unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg und unter dem Einfluss dieser Vordenker, setzt eine Denkweise ein, die in ihrer langfristigen Stoßrichtung als Verwissenschaftlichung des Sozialen charakterisiert werden kann.69 An diesem Punkt begann sich die uneingeschränkte, universelle Vormacht der Wissenschaften zu profilieren, die alle Lebensbereiche ordnen und mit ihren persuasiven Methoden unumstößliche Wahrheiten produzieren konnte.70 4. ‚ARMENFREUND‘ UND INDIVIDUALISIERUNG Als ein wesentliches Merkmal der armenfürsorglichen Leitkonzepte im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert kann festgehalten werden, dass sich in ihnen rational-wissenschaftliche und – meist historisch begründete – normative Handlungsmaximen überlagerten und vermengten. Mit den Worten Victor Böhmerts: „Die Armenpflege ist in gleicher Weise eine Sache des Herzens wie des Verstandes, sie bedarf ebenso der Gesinnung wie der Wissenschaft.“71 So führte nicht nur die Idee der Wissenschaftlichkeit zu einer internationalen Geschlossenheit. Auch der Topos des ‚Armenfreundes‘ wurde länderübergreifend gepflegt. Dieses Motiv verband sehr unterschiedliche ‚Fürsorgekulturen‘. Es hatte seine Wurzeln in der jüdisch-christlichen Tradition.72 Die darin vermittelten Bilder von 67 Von Helene Simon ins Deutsche übersetzt: Webb (Sidney und Beatrice), Das Problem der Armut. 68 Über das „Englisches Armenwesen“, in: SDV 94 (1910), S. 14. 69 Als Beispiel hierfür kann Anne-Dore Steins Untersuchung über Wilhelm Polligkeit angeführt werden. Dieser k̈nne „als prototypischer Vertreter der neuen Sozialwissenschaften im Sinne der Verwissenschaftlichung der Sozialen Frage“ gelten, siehe Stein, Die Verwissenschaftlichung, S. 27 70 Die Wirkung der Verwissenschaftlichung des Sozialen und die Folgen, welche die Implementierung sozialwissenschaftlicher Programme in Politik und Gesellschaft erzielten, müssten allerdings nach Lutz Raphael noch eingehender untersucht werden. Viele Untersuchungen hätten es demnach versäumt, die konkrete Umsetzung und Praxis solcher „Sozialingenieure“, das Verhältnis zwischen „client and user“ und die Konflikte, Entscheidungen und Routinen von Institutionen in den Blickpunkt zu rücken. Raphael, Embedding the Human, in: Brückweh/Schumann/Wetzell/Ziemann (Hrsg.), Engineering society, S. 45ff. 71 Böhmert, Zur Reform der Armenpflege (Vortrag gehalten im Dresdner Bezirksverein rechts der Elbe am 21. Februar 1879). 72 Vgl. auch Raphael, Figurationen von Armut und Fremdheit, in: ders. (Hrsg.), Zwischen Ausschluss und Solidarität, S. 27f.

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der Barmherzigkeit gegenüber den Bedürftigen wurden zu einem festen Bestandteil in der Weltauffassung des rechtschaffenen und sozial engagierten Bürgers. Ein solcher ‚Freund der Armen‘ war eine Person, die sich selbstlos für Hilfesuchende einsetzte. Als einfach verständliches Distinktionsmerkmal diente die Vorstellung des ‚Armenfreundes‘ gerade auch dazu, sich im Kontext der städtischen Stratifizierung zu behaupten. Unzählig viele Darstellungen repräsentierten den idealen ‚Armenfreund‘ im besten Lichte und verankerten Stereotypen seines Charakters in der öffentlichen Wahrnehmung.73 Dahinter verbarg sich auch der Wunsch der Hilfegebenden, sich gegenüber den ‚Nicht-Armenfreunden‘ abzugrenzen. Diese Gleichgültigen besäßen „Armseligkeit der Gesinnung“ und würden durch ihre Selbstsucht der „wirklichen Armut Vorschub leisten“.74 Gleichzeitig diente der Topos dem strategischen und gefühlsbetonten Werben für neue Wohltäter und Armenpfleger. Dabei ist zu erwähnen, dass die Zuschreibung ‚Armenfreund‘ nicht nur in Bezug auf die besonderen Verdienste eines Philanthropen angewendet wurde, sondern insbesondere auch in der öffentlichen Armenfürsorge Verbreitung fand. Auf diese Weise wurde ein spezifisches Wissen um die Existenz und Eigenschaft solcher ‚Armenfreunde‘ generiert und instrumentalisiert. Das Motiv des ‚Armenfreundes‘ impliziert das Konzept von „Hilfe als Herrschaft“ und zeigt, wie der Führungsanspruch in der Armenfürsorge auch semantisch durchgesetzt werden konnte.75 Eine solche Hilfe, ‚der Freundschaft wegen‘, war asymmetrisch. Sie unterstrich die Ansicht, dass es sich bei Armenhilfe immer nur um „eine Leistung ohne Gegenleistung“ handeln konnte.76 So lange es keinen rechtlich verbürgten Unterstützungsanspruch gab, konnte sich die idealisierte Selbstdarstellung des ‚Armenfreundes‘ aufgrund ihrer intrinsischen Logik fortwährend selbst bestätigen. Demnach gibt es keine Hilfe, wo es keinen ‚Freund‘ gibt. Die sich aber in die Hände des ‚Freundes‘ begeben, denjenigen könne auch geholfen werden. Dieser ‚Armenfreund‘ konnte aber auch ‚ehrlich‘ sein und sein ‚Freundschaftsdienst‘ bisweilen auch schonungslos hart für die Betroffenen. ‚Armenfreunde‘ waren eben nicht nur gedankenlose Mildtäter. Sie sollten die ihnen Anvertrauten begleiten, aufrichten, erziehen. Sie durften auch bestrafen, wenn es zum Wohle des Hilfsbedürftigen geschah. Das Leitbild des ‚Armenfreundes‘ legitimierte ausdrücklich ein sanktionierendes Vorgehen gegenüber denjenigen Bedürftigen, die aufgrund ihrer selbstverschuldeten Armut zurechtgewiesen werden mussten. Umgekehrt ließ sich das Motiv eng mit dem historischen Bewusstsein verknüpfen, insgesamt eine ‚humanere‘ Weltanschauung hervorgebracht zu haben. Denn zur Überwindung der alten

73 Über Philanthropie als Distinktionsmerkmal vgl. Adam (Hrsg.), Philanthropy, Patronage and Civil Society; Helas, Repräsentation der Wohltätigkeit, in: Raphael (Hrsg.), Zwischen Ausschluss und Solidarität, S. 37ff. 74 Schwerin, Armut und Armenpflege, in: Die Frau 2 (1894), S. 86–90, Zitat S. 86. 75 Vgl. auch David, Philanthropie und Macht, in: Traverse 37 (2006), 1, S. 10ff. 76 Vgl. Münsterberg, Das Problem der Armut, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 28 (1904), S. 578.

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neuzeitlichen Formen von „Zwang und Repression“ gehöre ein „menschenfreundlicher Sinn und charaktervoller Mut“.77 Die Suche nach neuen Armenpflegern wurde an das Kriterium gebunden, dass es sich um ‚echte Armenfreunde‘ handeln sollte. Entsprechend hieß es im Deutschen Verein bezüglich „der Heranziehung von Hilfskräften für Wohltätigkeitszwecke“, dass „eine sorgfältige Auswahl zu treffen“ sei, „um solche Personen auszuschließen, welche die Wohlthätigkeit sportsmäßig betreiben“.78 Der Charakter und die Aufrichtigkeit der Bewerber spielten eine entscheidende Rolle. Vorbildliche ‚Armenfreunde‘ wurden wiederum öffentlich geehrt und dienten als Referenzpunkt.79 So zum Beispiel Friedrich von Bodelschwingh, dessen Wirken ihn „in die erste Reihe der Persönlichkeiten, die auf dem Gebiete von Armenpflege und Wohltätigkeit theoretisch und praktisch vorbildlich gearbeitet haben“, stellte: Die Sorge für die Armen und gerade für die Elendsten unter ihnen füllte ihn so vollständig aus, daß er sich selbst darüber vergaß und mehr als einmal seinen Mantel hergab, [...] um sei80 ner vornehmsten Lebensaufgabe gerecht zu werden.

Nach Münsterbergs Tod hieß es gar: „Die große Zahl der Berliner Armen aber beklagen mit Recht und einstimmig den Verlust ihres besten Freundes.“81 Die Darstellungen suggerierten, dass die Eigenschaften eines ‚Armenfreundes‘ im Sinne des bürgerlichen Vervollkommnungsideals auch erlernt werden könnten. Frauen sprach man in dieser Hinsicht sogar eine natürliche Veranlagung zu, wenngleich dieser ‚Instinkt‘ zum ‚selbstlosen Helfen‘ stets der rationalen Schulung bedürfe, um des Missbrauchs von Seiten der Bedürftigen vorzubeugen, welchen man vorwarf, die „Weichherzigkeit“ der Frauen auszunutzen.82 Die grenzübergreifende Verbundenheit der Sozialreformer äußerte sich insbesondere auch im Leitmotiv des ‚Armenfreundes‘. Diese Form der „Selbstlegitimierung und Selbstkonstituierung“83 fand in den internationalen Debatten ihre Entsprechung. Die Betonung der Brüderlichkeit und internationalen Solidarität gegenüber den Armen und Schwachen barg in sich den eigentlichen „menschenfreundlichen Charakter“ der Liebestätigkeit.84 Auf den internationalen Kongressen inszenierten sich die ‚Armenfreunde‘ emphatisch:

77 So formulierte es Wintzingrode in: SDV 8 (1889) über die neueren Entwicklungen in der „Irrenfürsorge“, S. 97. 78 Fuld über „die Grenzen der Wohltätigkeit“, in: SDV 15 (1891), S. 28. 79 Eine Zusammenstellung von „30 Porträts“ mit dem Titel „Freunde der Armen“ findet sich bei Sachße/Tennstedt, Bettler, S. 269ff. 80 Vgl. die Mitteilung über Bodelschwinghs Tod in: ZdA 11 (1910), S. 97–99, Zitat S. 98. 81 Vgl. die Mitteilung über Münsterbergs Tod, Staatsarchiv Hamburg, 351–2 II Allgemeine Armenanstalt II, Nr. 85. 82 Kritisch hierzu Hirschfeld, Die Mitwirkung der Frauen, vgl. Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 2, S. 5–66, insb. S. 10. 83 Etzemüller, Die Ordnung der Moderne, S. 34. 84 Münsterberg in Bezug auf die englische private Wohltätigkeit zur „Wiederaufrichtung“ von Bedürftigen in: Münsterberg, Report of the Proceedings, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 3 (1895), S. 603.

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III. Leitkonzepte Selfishness would let the destitute perish, while charity feeds and clothes and supplies, as far as human power may go, the needs involved in human suffering. [...] Charity follows with saintly step the march of justice, seeking to reform, rather than exterminate the offender; 85 seeking to restore him to ways of righteousness and justice and peace.

Um die ehrenvollen Ziele von „Rechtschaffenheit, Gerechtigkeit und Frieden“ zu erreichen, benötige der Helfende die richtige Einstellung: „Not Alms, but a Friend“86 war die Losung, die auch auf dem Kongress 1900 in Paris ausgegeben wurde. Ein Armenpfleger müsse „un véritable ami et un conseiller“87 sein. In Frankreich etablierte der Jurist und Philanthrop Georges Harmois eine programmatische Zeitschrift mit dem Titel L’ami des pauvres88, in der er dieses Motto öffentlichkeitswirksam verbreiten wollte. Als verbindendes Element trat die Vorstellung hinzu, dass sich die ‚internationalen Armenfreunde‘ durch ihre Kooperation in noch stärkerem Maße für das Wohl der Unterstützungsbedürftigen einsetzen würden. Die Fürsorgeexperten verstanden sich als Advokaten der Armen. Sie unterstrichen, sich für das Wohl der Bedürftigen grenzüberschreitend zusammenzuschließen und für deren Interessen bei den Regierungen einzutreten. Die Idee der Autorisierung und das darin zum Ausdruck kommende Sendungsbewusstsein mündeten in der Umsetzung einer gemeinsamen Mission, durch „Wissenschaft und Erfahrung“ den „Geist der Gerechtigkeit und Menschlichkeit“ zu verbreiten.89 Zu diesem Zwecke hätten insbesondere die internationalen Kongresse beigetragen, wie es Krieger 1910 in Kopenhagen resümierend festhielt: Les congrès internationaux d’assistance poursuivent un but élevé; ils dirigent leurs recherches sur tous les points où se trouvent la misère et les souffrances de l’humanité; nous ne nous flattons pas de pouvoir effacer toutes ces souffrances, toute cette misère, mais nous sommes autorisés à espérer de pouvoir contribuer par nos œuvres à les limiter et les soulager. 90

Das Ideal des ‚Armenfreundes‘, sich den Bedürftigen persönlich zuzuwenden, fand in den Methodendebatten viel Anklang. Unter dem Schlagwort ‚Individualisierung‘ hatte sich die Anschauung verbreitet, dass die auf den Einzelfall zugeschnittene Hilfe, ausgeführt durch die Armenpfleger, die ‚Aufrichtung‘ der Bedürftigen ermögliche und ihre Unabhängigkeit, Sparsamkeit und ihren Fleiß fördere. Diese Art der ‚freundschaftlichen Begleitung‘ sah man in den Armenbesuchen beziehungsweise dem ‚friendly visiting‘ in besonderem Maße verwirklicht.91 Der direkte Kontakt sollte darauf abzielen, die Aufmerksamkeit der gehobenen Schichten noch stärker auf das Wohlergehen der Bedürftigen zu lenken. Zugleich 85 Vgl. die „Opening Session“, in: General Exercises of the International Congress 1893, Bd. 1, S. 29. 86 Paine, The public Treatment of Pauperism, in: General Exercises, Bd. 1, S. 32. 87 Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 1, S. 200. 88 Vgl. Harmois (Hrsg.), L’ami des pauvres (seit 1899). 89 Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 2, S. 591. 90 Ebd., Bd. 1, S. 68. 91 Vgl. die Beiträge von Weisbrod, „Visiting“ und „Social Control“, sowie Dießenbacher, Der Armenbesucher: Missionar im eigenen Land, in: Sachße/Tennstedt (Hrsg.), Soziale Sicherheit, S. 181ff. Siehe auch Richmond, Friendly Visiting among the Poor.

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offenbart sich hier auch eine performative Funktion: Beim Armenbesuch konstituierte sich das bürgerliche Subjekt gleichermaßen wie die auf einen ‚selbstlosen Freund‘ angewiesenen Verarmten.92 Im internationalen Dialog finden sich viele Beispiele, welche die Vorteile des direkten Kontaktes veranschaulichten. Positive und negative Vorbilder von individualisierender Armenpflege konnten dazu verwendet werden, die Armenpfleger für ihre Arbeit zu motivieren und ihre Einstellung gegenüber den Bedürftigen zu hinterfragen. In diesem Sinne konnten Berichte über ausländische Fürsorgepraktiken strategisch eingesetzt werden, wie in diesem Fall ein Text über das Londoner Chelsea Workhouse nahelegt: Ja, es will uns scheinen, daß bei den aus Unkenntniß der Verhältnisse unter uns so vielgeschmähten, als herzlose Egoisten verschrienen Engländern im Durchschnitt noch viel mehr Nächstenliebe zu finden sei als bei den entsprechenden Klassen in Deutschland; wenigstens dürfte dies im allgemeinen für die höheren Stände zutreffen. 93

In eine ähnliche Richtung argumentierte Jeanette Schwerin, als sie nach ihrer Studienreise in England das Fürsorgeverständnis von Margaret Sewell bewundernd herausstellte und deren Vortrag über die „Bedingungen einer wirksamen Armenpflege“ für die deutschen Armenpflegerinnen übersetzte. „Not measures but men“ seien für eine moderne Armenfürsorge notwendig, also die „persönliche Thätigkeit“, wobei „das Verhalten des einzelnen dem einzelnen Fall gegenüber von der größten Bedeutung sein wird“.94 Die von Schwerin geforderte Verschwisterung mit den englischen Armenpflegerinnen sollte dem Vorsatz dienen, das Leitkonzept der individualisierenden Armenfürsorge grenzüberschreitend zu vermitteln. Lange Zeit verkörpert jedoch nichts die Idee des ‚Armenfreundes‘ anschaulicher als die Prinzipien des Elberfelder Systems. Es war prägend für die Praxis der Armenfürsorge in Deutschland. Mit ihm wurden bereits seit 1853 organisatorische Kriterien festgelegt, die dem Ideal einer rationalen Armenfürsorge in industriellen Städten entsprachen. Die wesentlichen Merkmale bestanden in der Individualisierung der Fälle, einer sorgfältigen Bedürftigkeitsprüfung und der ehrenamtlichen Betreuung der Armen. Eine dezentralisierte Organisation und die Einführung von Quartieren sollten die Armenverwaltung effizient und kontrollierbar gestalten, während mit der Einbindung bürgerlicher Armenpfleger die angstvoll empfundene Distanz zwischen den sozialen Klassen ein Stück weit überwunden werden sollte.95 Das Elberfelder System wurde länderübergreifend zum Sinnbild für den Kampf gegen soziale Entfremdung. Freiwilligkeit und Ehrenamt, wie im Elberfel92 Marcus Gräser spricht hierbei von einer „Dialektik aus Nähe und Ferne“ sowie von einer „Konstruktion der eigenen Klasse ex negativo“, Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft, S. 67. 93 „Ein Londoner Armenhaus“, in: Arbeiter-Kolonie 6 (1889), S. 161. Ebendort gab es auch ein Waisenhaus, das Aschrott auf seiner Studienreise nach England besichtigte und studierte, vgl. Aschrott auf der 9. Jahresversammlung des Deutschen Vereins, in: SDV 7 (1888), S. 31. 94 Sewell, Vortrag „Von welchen Bedingungen ist eine wirksame Armenpflege abhängig?“, autorisierte Übersetzung von Jeannette Schwerin. 95 Zum Elberfelder System vgl. Berger, Die ehrenamtliche Tätigkeit in der Sozialarbeit; Frohman, Poor Relief, S. 87ff.; Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 1, S. 214ff.

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der System vorgesehen, machten aus den Armenpflegern die besten ‚Armenfreunde‘: „The paid helper is perhaps better trained, but he lacks that vital element of love which distinguishes the voluntary helper“96, gab Henderson 1904 auf dem Congress of Arts and Science über die Vorzüge der deutschen Armenfürsorge zu bedenken. Er betonte, dass es auch in den USA darum gehen müsse, ‚Armenfreunde‘ wie solche zu suchen, die das Elberfelder System hervorgebracht habe.97 Das Elberfelder System galt auch unter den deutschen Fürsorgeexperten lange als der spezifische deutsche Beitrag zur Entwicklung des Armenwesens: Dasjenige aber, um was uns andere Nationen am meisten beneiden und was sie bis jetzt am wenigsten zu erreichen vermocht haben, ist [...] die Hingebung und der Bürgersinn, mit dem weite Kreise bei uns an der Erfüllung dieser Aufgaben arbeiten und der es uns ermöglicht hat, 98 den Rahmen jener Einrichtungen auszufüllen.

Der hier geäußerte Stolz wurde dadurch angefacht, dass das Elberfelder System auf den internationalen Kongressen und ausländischen Publikationen in der Tat viel Anerkennung hervorrief.99 So bereits auf dem Kongress 1889 in Paris, wo der französische Berichterstatter Le Roy das Fehlen eines deutschen Sachkundigen ausdrücklich bedauerte. Er unterstrich die nachahmenswerte Errungenschaft des Elberfelder Systems, aus dem Fürsorgenden einen ‚Pfleger‘ zu machen. Er übersetzte das Wort ‚Armenpfleger‘ sinnigerweise mit „curateurs de pauvres“, um die eigentliche Aufgabe der ‚Pflege‘ zu unterstreichen: Le curateur a le souci de relever le pauvre de la dégradation; sa principale fonction, et cela se trouve dans tous les règlements de pauvres, est d’essayer par tous les moyens possibles de 100 relever son moral, de lui procurer du travail.

Le Roy setzte sich, ähnlich wie Paul Strauss, für eine Popularisierung der Ideen des Elberfelder Systems in Frankreich ein.101

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Congress of Arts and Science, VII, S. 841. Henderson, in: Congress of Arts and Science, VII, S. 827. SDV 17 (1893), S. 12f. Über die Wahrnehmung und Verbreitung der Ideen des Elberfelder Systems im Ausland, vor allem England vgl. Berger, Die ehrenamtliche Tätigkeit; Hennock, German Models, in: Muhs/Paulmann/Steinmetz (Hrsg.), Aneignung und Abwehr, S. 127–142; Reulecke, Formen bürgerlich-sozialen Engagements in Deutschland und England im 19. Jhd., in: Kocka/Müller-Luckner (Hrsg.), Arbeiter und Bürger im 19. Jahrhundert, S. 261–285 und Reulecke, Die Armenfürsorge, in: Blotevogel (Hrsg.), Kommunale Leistungsverwaltung, S. 71–80; Rose, Die Krise der Armenfürsorge in England 1860–1890, in: Mommsen (Hrsg.), Die Entstehung, S. 57–78; Tennstedt, Anfänge sozialpolitischer Intervention, in: ZfS 29 (1983), S. 631–648. 100 Le Roy über das Elberfelder System in: Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 513. 101 Le Roy studierte das Elberfelder System ausführlich und veröffentlichte u. a. auch ein Buch über „L’assistance publique en Allemagne“. Auch Paul Strauss setzte sich mit dem Elberfelder System auseinander, vgl. Strauss, Assistance sociale, hier das Kapitel „Système d’Elberfeld“, S. 232ff.

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Anlässlich seines fünfzigjährigen Bestehens widmete sich der Deutschen Verein 1903 ausführlich dem Elberfelder System. Auch darin hob man vor allen Dingen die Errungenschaft des Quartiersystems hervor: Und so kehren wir zu dem Ausgangspunkt unserer Betrachtung zurück, indem wir feststellen, daß überall da, wo das Elberfelder System in seiner reinen Gestalt durchgeführt werden konnte, die gleichen Erfolge wie in Elberfeld selbst bemerkt werden konnten und daß auch da, wo die Durchführung in dieser reinen Form aus Gründen der historischen Entwicklung, der Lage der Gesetzgebung, dem Zustand der Armenverwaltung nicht möglich ist, die Verfolgung seines wesentlichsten Grundgedankens nicht ohne Wirkung blieb, des Grundgedankens, den in alter und neuer Zeit wahre Freunde der Armen in dem Worte zusammenfaßten: Hilfe von 102 Mensch zu Mensch.

Auch dann, als die Prinzipien des Elberfelder Systems vermehrt in die Kritik gerieten103, hegte man keinen grundsätzlichen Zweifel an der Funktion, den Bedürftigen einen ‚Begleiter‘ aus bürgerlichen Kreisen an die Hand zu geben. Noch auf dem Kongress 1906 in Mailand sprach der österreichische Delegierte Kunwald davon, dass die Kernideen des Elberfelder Systems das „ferne Gute und Richtige“ darstellen würden und in jedem Reformvorhaben zu finden sein müssten.104 Ebenso berichtete der Abschlussbericht der englischen Armenkommission über die individualisierenden Methoden des deutschen Armenpflegers: „He must be the friend and counsellor of the poor and in the granting of relief assist them by word and deed.“105 Die englische Expertenkommission informierte sich diesbezüglich aus erster Hand: Die Besichtigung deutscher Quartiersysteme zu Studienzwecken sowie die Tätigkeit von Münsterberg als deutscher Sachverständiger in der Armenkommission zeugen von dem nach wie vor gewaltigen Interesse am Elberfelder System und sie belegen die internationale Verständigung über die Frage, was einen ‚guten Armenfreund‘ ausmache. Ganz ähnliche Bewunderung rief die Settlement-Bewegung und das ihr zugrundeliegende Prinzip des gemeinschaftlichen Zusammenlebens hervor. Auch wenn die Fragen der Übertragbarkeit kontrovers diskutiert wurden, so dienten die englischen und amerikanischen Settlements vor allem als Vorbild für das Prinzip der „freundschaftlichen Beziehungen“ zwischen Bedürftigen und den „reichen Klassen“. Offenkundig tief beeindruckt vom freiwilligen Engagement unterschiedlichster Frauen und Männer, sprach Münsterberg nach einem Besuch im Chicagoer Hull House gar von der „Wiedergeburt des Christentums“.106 Der Gedanke liegt nahe, dass Münsterbergs außerordentliches Interesse an den amerikanischen Methoden der Armenfürsorge insbesondere in den seiner Ansicht nach 102 SDV 63 (1902), S. 54. 103 Die Kritik am Elberfelder System führte immer wieder zu Modifikationen, z. B. in Form des Straßburger Systems, vgl. als Überblick Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 2, S. 23ff. und Sachße, Mütterlichkeit, S. 36ff. 104 Kunwald, Das Elberfelder System in Oesterreichischen Städten, in: Recueil des travaux du congrès 1906, Bd. 2, S. 59ff. Ebenso argumentiert Loch über „The Elberfeld System“, in: COR XV (1904), 85, S. 6–43. 105 „The Reform System of Poor Relief in Germany“, in: Royal Commission, Report, S. 501. 106 SDV 77 (1906), 98f.

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ebendort vorbildlich umgesetzten Ideen der sozialen Pflichterfüllung und der ‚Zusammenführung der Klassen‘ gründet.107 Auch Adele Schreiber, welche sich in England aufgehalten und die Settlements genau studiert hatte, bewunderte die fürsorglichen Aspekte der „nachbarschaftlichen Organisation“: „[Die Settlements] würden unsern Ländern das geben, was ihnen, im Gegensatz zu England vielfach fehlt – individuellste Beschäftigung mit dem Einzelnen“.108 Vor diesem Hintergrund ist auch die ablehnende Haltung weiter Kreise der Fürsorgeexpertise zu verstehen, die Mitarbeiter der Armenpflege zu besolden. Nur im Sinne einer ergänzenden, Verwaltungs- und Kontrollaufgaben erfüllenden Tätigkeit erschienen berufsmäßige Armenpfleger denkbar, andernfalls könne das dauernde Band „zwischen der bedürftigen und der übrigen Bevölkerung“ nicht aufrecht gehalten werden, denn nur die Armenpfleger seien „nah am Volk“, als „Helfer, Freunde und Unterstützer“.109 Auch wenn die Idee einer Besoldung nach und nach auf mehr Akzeptanz stieß, blieb der Grundkonflikt zwischen einer funktionalen Effektivität und Erfüllung des Bürgerideals in den nationalen und internationalen Debatten bestehen. Am Motiv des ‚Armenfreundes‘ lässt sich auch die Kontroverse zwischen der international etablierten Fürsorgeexpertise und den neu aufstrebenden Anhängern einer umfassenden Reform des Armenwesens zugunsten der Wohlfahrtspflege erkennen. Um sich des Vorwurfs zu entledigen, einen ‚herzlosen Verwaltungsapparat‘ einrichten zu wollen, betonte insbesondere diese junge Generation von Sozialarbeitern die Absicht, als ‚Armenfreunde‘ und im Sinne der individualisierenden Hilfe zu agieren. In Umkehrung der Argumentation warfen sie den bisherigen Armenpflegern vor, durch die paternalistische Bevormundung das eigentliche Ziel der Unterstützungstätigkeit, die „soziale Hilfe“, zu vernachlässigen. Damit kritisierten sie die Kombination des staatlichen „laissez faire“ mit einer „kommerzialisierten Wohltätigkeit“, wie sie laut Townshend von der „Charity Organisation Society“ betrieben werde: Among the rich the warm impulse to help a friend in distress is replaced by a sentimental pity for seething humanity, and the act of devotion or loving service by a donation to a charitable institution; while among the poor, glad acceptance of friendly aid in time of need is apt to degenerate into cringing dependence, for gratitude is not a wholesome emotion unless it be vi110 talized by love.

Alle diese Effekte hätten unterdessen zu den gegenwärtigen Problemen der Armenfürsorge geführt: fehlgeleitete Absichten, Doppelungen und Überschneidungen von Hilfeleistungen, „professionelles Parasitentum“.111 Die Beispiele verdeut107 In Bezug auf die Ideenwelt der progressives wie Jane Addams schreibt Axel Schäfer: „The goal was to tap into the deeper structures of the human personality and to awaken or create inner ties of loyality binding society together beyond the self-conception as separate and selfinterested individuals.“ Schäfer, American Progressives, S. 19. 108 Schreiber, Settlements, S. 16. 109 Münsterberg, Ehrenamtliche und berufsamtliche Thätigkeit in der Armenpflege, in: Zeitschrift der Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen (1894), 24, S. 294. 110 Townshend, The Case against the Charity Organisation Society, S. 3. 111 Ebd. (Übersetzung durch den Verf.).

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lichen, dass die Konzeptionen der Wohlfahrtspflege und damit einhergehend ein rechtlich verbürgter Unterstützungsanspruch im Fürsorgediskurs nicht ohne das strategische Leitkonzept des ‚Armenfreundes‘ auskamen. An der „Stellung des Armenpflegers zum Pflegling“ sollte sich nichts ändern, er müsse „Freund und Berater“112 bleiben, nur zusätzlich auch ein ‚professioneller Erzieher‘ im Dienste der sozialen und wirtschaftlichen Leistungssteigerung. 5. PRÜFUNG DER ARMUTSFÄLLE Wie sollte man zu einer möglichst wissenschaftlichen und gleichzeitig vom Geist des ‚Armenfreundes‘ inspirierten Armenfürsorge gelangen? Diese Frage stellte sich auch die englische Armenkommission auf ihrer Studienreise im Deutschen Reich. Dort verglich sie die nach dezentralen und individualisierenden Methoden ausgerichtete Armenfürsorge mit der Arbeit der Charity Organisation Societies in England. Ein zentrales Anliegen bestand darin, diejenigen Methoden ausfindig zu machen, nach denen es möglich schien, eine ‚sorgfältige Prüfung der Armutsfälle‘ umzusetzen. Es gehe um das Auffinden der „able-bodied, whatever they may be“.113 Die grundlegenden Überlegungen zur Klassifizierung der Armutsfälle waren ein zentrales Anliegen in den internationalen Debatten und wirkten von dort aus als methodische Leitkonzepte in die Fürsorgepraxis der Armenverwaltungen zurück. Ausgangspunkt war der unbedingte Anspruch, das Problem der Bedürftigkeit personenbezogen zu erfassen und exakt die angemessene Hilfeleistung zu rationieren, die nach Unterscheidung der Fälle und im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen gewährt werden könne. Es festigte sich der Gedanke, dass Armenfürsorge nur auf Grundlage möglichst detaillierter Kenntnisse über die Bedürftigen und deren Lebenswandel gewährt werden dürfe: „Die vollkommene Erkenntnis der Lebensbedingungen der unteren Bevölkerungsschichten ist davon abhängig, ob es gelingt, in die Wirtschaftsführung dieser Klassen einzudringen.“114 Dazu musste adäquates Wissen gesammelt und die sozialen Probleme genauestens vermessen werden. Es entsprach dem allgemeinen Drang nach Sammlung, Systematisierung und Ordnung, die sozialen Zustände einer Stadt, eines Wohnviertels, einer Familie bis hin zu den persönlichsten Lebensumständen der Bedürftigen selbst zu ermitteln. Die administrative Durchdringung betraf alle, die sich an die öffentliche und private Fürsorge wendeten. Jeder Lebenslauf sollte durchleuchtet und einem differenzierten Hilfsangebot zugeordnet werden. Die umfangreiche Daten- und Wissenssammlung der Armenpfleger deutet zugleich auch auf die 112 So Klumker in Bezug auf die „Stellung des Armenpflegers zum Pflegling“, in: ZdA 14 (1913), 11, S. 306–315, Zitat S. 307. 113 „The Decentralised and Individual Method in Relation to the Able-bodied“, in: Royal Commission, Report, S. 504ff. 114 „Zur Lebenshaltung der minderbemittelten Klassen“ von Dr. Elisabeth Atlmann-Gottheiner, Mannheim, in: ZdA 11 (1910), 2, S. 50.

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komplexen Prozesse der Wissensproduktion, auf welcher die Thesen der Normalisierungsgesellschaft beruhen.115 Ein berühmter ‚Kartograph‘ der Armut war zweifellos Charles Booth, dessen „Kunst, Enquêten zu machen“116 in Deutschland große Bewunderung hervorrief. Es ging darum, die Aufmerksamkeit „auf die wertvollsten der englischen Arbeiten zu lenken“ und zum „Studium derselben anzuregen“, wie es Alice Salomon in Bezug auf die in „England besonders hoch entwickelten sociologischen Studien“ formulierte.117 Booths siebzehnbändige Erhebung Life and Labour of the People in London gilt als Meilenstein der Stadtsoziologie und trug wesentlich zum Verständnis der sozialen Schichtung im urbanen Kontext bei. Seine Methode der Klassifizierung fand in England und weit darüber hinaus viel Nachahmung.118 Ein anderer wichtiger Armutsforscher war der Franzose Louis Paulian. Seine Studie Paris qui mendie galt ebenfalls als internationales Referenzwerk hinsichtlich der Untersuchung städtischer Armutsverhältnisse. Seine originelle und vielfach nachgeahmte Idee bestand darin, mit den Bettlern einige Zeit zu leben, um ihren Lebenswandel zu verstehen.119 Schilderungen wie denen vom ‚falschen Bettler‘ ist es zu verdanken, dass der Diskurs über den Missbrauch der Armenfürsorge auch nach 1900 erneut befeuert wurde und die darin geforderten Zwangsarbeitsmaßnahmen großen Zuspruch fanden. Paulian untermauerte die These: Wenn man die Mittel der Armenfürsorge erhöhe, dann erhöhe man die Gewöhnung an dieselbe und zuletzt die Armut selbst. Die genaue Untersuchung der Fälle sei hingegen der optimale Weg, um effektiv zu helfen und gegen Missbrauch vorzugehen.120 Ausgangspunkt des Klassifizierungsparadigmas war also weniger eine sozialwissenschaftlich inspirierte Ursachenforschung von Armut, als vielmehr das Bedürfnis nach effektiver Ressourcenverteilung und der Unterbindung von Missbrauch. In der zweiten Ausgabe der Zeitschrift für das Armenwesen von 1913 war zu lesen: „Die fortschreitende soziale Einsicht hat uns nun die eigentlichen Ursachen der Armut, ihre Quellen immer klarer und tiefer erkennen lassen“. Als erste, wesentlichste Ursache wird „Willensschwäche“ und als zweite alter- oder krank-

115 Weiterführend zur Theorie und Entstehung des ‚Normalisierungsparadigmas‘: Procacci, Pour une généalogie, in: Gilomen (Hrsg.), Von der Barmherzigkeit zur Sozialversicherung, S. 213– 220; Sachße/Tennstedt (Hrsg.), Soziale Sicherheit, Einleitung, S. 3ff., insbesondere S. 13; Swaan, The management of normality. 116 Salomon, Die Kunst, Enquêten zu machen, in: Centralblatt des Bundes deutscher Frauenvereine 2 (1900), S. 10–11. 117 Ebd., S. 10. 118 Vgl. auch R. Pinker, Armut, Sozialpolitik, Soziologie. Der englische Weg von der industriellen Revolution zum modernen Wohlfahrtsstaat (1830–1950), in: Leibfried/Voges (Hrsg.), Armut im modernen Wohlfahrtsstaat, S. 124–148, insb. S. 131ff.; Englander, Poverty, S. 56ff. 119 Paulian, Paris qui mendie. Paulian war „secrétaire rédacteur de la Chambre des Députés“ und „secrétaire adjoint du conseil supérieur des prisons“, vgl. Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 1, S. LXII. 120 „Mémoire de M. Louis Paulian“, in: ebd., S. 78; ebenfalls zitiert in: Münsterberg, Die Armenpflege, S. 2f.

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heitsbedingte Arbeitsunfähigkeit genannt.121 „Neu“ war an der von Karl Thode aufgestellten „fortschreitenden Erkenntnis über Ursachen“ allerdings überhaupt nichts, sie war von den Fürsorgeexperten vielmehr schon lange gebetsmühlenartig wiederholt worden. Hier zeigte sich einmal mehr das zentrale Anliegen der Armenverwaltung: Wie konnten Bedürftige, die Hilfe ‚verdienten‘, möglichst effektiv versorgt werden und wie konnten diese Verarmten von jenen unterschieden werden, denen Unterstützung aus Gründen der ‚selbstverschuldeten‘ Armut verwehrt beziehungsweise mit erzieherischen und repressiven Maßnahmen verbunden zuteilwerden sollte. Das Maß der Hilfe hing von der ‚Würdigkeit‘ des Hilfeempfängers ab. Die Begründung lag einerseits in der historisch gewachsenen Moralvorstellung – ‚wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen‘ – andererseits in der Auffassung, dass Armenfürsorge im Gegensatz etwa zu den Arbeiterversicherungen eine „Leistung ohne Gegenleistung“122 darstellte und sie sich einem ökonomischen Gestaltungsimperativ zu unterwerfen hatte. Die Bereitstellung von „angemessenen Maßregeln“123 konnte indes nur nach eindringlicher Prüfung und Scheidung der Armutsfälle zugeteilt werden. Das dafür notwendige Instrumentarium perfektionierte man in dem Maße, wie sich statistische, sozialwissenschaftliche und medizinische Methoden weiterentwickelten: Fragebögen, Hausbesuche, Lebenslaufanalysen, präzise Erfassung der Lebens- und Arbeitsweise bis hin zur Buchführung über den ‚Fortschritt‘ und die ‚Rückfälligkeit‘ eines ‚Arbeitsscheuen‘.124 Detailreiche „soziale Lebensbeschreibungen“125 in Form von Biographien ermöglichten tiefe Einblicke in das Leben einzelner Bedürftiger. Untermauert wurde die moralisch-klassifizierende Vorgehensweise durch die Schaffung von positivistischen Wissensbeständen. Sie brachten wissenschaftlich begründete Einteilungskriterien hervor und legitimierten die Verallgemeinerungen. An dieser „Epistemologie der Wohltätigkeit“126 änderte sich bis zum Ersten Weltkrieg in der Praxis wenig, auch wenn in den Expertenkreisen vereinzelt neue Denker zu Wort kamen, die sich dieser moralistischen Ansicht entgegenstellten und neue Fürsorgestrategien entwickelten. Betrachtet man die verwaltungsgestützte Armutsklassifizierung in einer geweiteten Perspektive, dann lässt sich zunächst eine wenig überraschende Parallelität zu den Vorstellungen der Fürsorgeexpertise in unterschiedlichen Ländern erkennen. Überall schien das Thema der Fallprüfung gleiche Dringlichkeit aufzuweisen, so dass die Forderungen auf allen Kongressen und in den Schriften deut121 ZdA 14 (1913), 2, S. 37. 122 U. a. hier: „Das Problem der Armut“, in: Jahrbücher für National̈konomie und Statistik 28 (1904), S. 578. 123 „Zur Theorie und Praxis des Armenwesens“, in: ZdA 6 (1905), 2, S. 33. 124 Topalov plädiert dafür, die Erforschung der Klassifizierungsmethoden von Armut im Sinne eines ‚kognitiven Systems‘ mit eigenständiger Geschichte darzustellen. Auf diese Weise lasse sich die Klassifizierung von Armut als ein Ensemble von Prozessen der Komposition (Entstehung, Zusammensetzung), Zersetzung und Rekonstruktion fassen, vgl. Topalov, Naissance, S. 162ff. 125 „Soziale Lebensbeschreibungen“, ZdA 11 (1910), 8, S. 225ff. 126 Topalov, Naissance, S. 209.

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lichsten Ausdruck fanden. Die Terminologien und Zuschreibungskriterien ließen sich beispielsweise problemlos auf die Kongressdebatten übertragen und fanden umgekehrt in den nationalen ‚Fürsorgekulturen‘ jeweils ihre Entsprechung.127 Die Übereinkunft in diesem Sachverhalt führte letztlich zu einer engeren Vernetzung der Debatten und einem konkreten Austausch von Anwendungswissen. Neue Methoden und Formen der Prüfung der Bedürftigen, die Ermittlungs- und Selektionsverfahren eigneten sich als äußerst praktikabler Verhandlungsgegenstand des internationalen Kongresswesens. Dort konnte offengelegt werden, auf welche Weise die sozialen Umstände von Bedürftigen analysiert, welche Fragebögen ausarbeitet, welche Vorgehensweisen erprobt und für sinnvoll erachtet wurden. Die im Anschluss an die Kongresse durchgeführten Besuche von Fürsorgeeinrichtungen stellten weiterführendes Anschauungsmaterial zur Verfügung. Mit großem Interesse nahm man die Studien zur Kenntnis, welche methodische Innovationen versprachen. In diesem Sinne wurde Paulians Arbeit als „si curieuse et si complète“ gewürdigt und seine Methode des ‚Eindringens‘ in die Verhältnisse bestätigt und auf dem Kongress 1900 in Paris reformuliert: néanmoins l’importance des renseignements sur la personnalité, la dignité des secours, est tellement le fondement d’une charité utile que l’on doit chercher par tous les moyens à avoir des 128 renseignements exacts.

Aus demselben Grund riefen auch die „enquêtes“, wie sie das „célèbre système d’Elberfeld“129 vorsahen, in der internationalen Fachwelt und speziell auch bei der englischen Armenkommission viel Interesse hervor.130 Die Kategorisierungspraktiken waren bereits auf dem internationalen Kongress von 1889 von Teissier du Cros ausführlich dargelegt worden. Die rationalen Prinzipien der Fallprüfung sollten seiner Ansicht nach nicht nur in der öffentlichen Armenfürsorge Anwendung finden. Effektive Planung, die Standardisierung von Verfahren, die administrative Durchdringung und Kategorisierung der Armutsfälle müssten auch die Grundlage der methodischen Organisation der privaten Wohltätigkeit darstellen.131 Dem Konzept der Armenbesuche schenkte man auch deshalb so viel Beachtung, weil es gleich zwei Funktionen erfüllte. Zum einen ermöglichte es das präzise Erfassen der materiellen und moralischen Situation von bedürftigen Antragsstellern. So kam es nach Booth besonders darauf an, „die Häuslichkeiten nach der darin herrschenden Armut oder dem Grade des Behagens zu beschreiben und die Art der 127 Besonders gut veranschaulichen lässt sich dies anhand der ersten Hauptfragestellung über „häusliche Fürsorge“ auf dem internationalen Kongress von 1900 in Paris. Die Berichte und zusammenführenden Resolutionen, welche die Funktionsweise individualisierender Fürsorgepraxis in Frankreich und anderen Ländern verglichen, konnten sich mühelos auf dieselben Methoden und Begriffe der Falleinteilung verständigen. Vgl. Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 1, S. 54ff. sowie „Conclusions“ S. 69. Zur internationalen Vergleichbarkeit der Einteilung von Armutsfälle (insb. am Beispiel der englischen und französischen Armenfürsorge dargestellt) siehe auch Topalov, Naissance, S. 210. 128 Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 1, S. 389. 129 Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 87. 130 Royal Commission, Report, S. 495ff. 131 Ebd., S. 25.

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Arbeit zu erfassen, aus der jede Familie ihren Unterhalt bezog.“132 Zum anderen galt es, dem Ideal des ‚Armenfreundes‘ zu entsprechen: „Le visiteur exerce une fonction civique“133. Internationale Vorbilder dienten somit in erster Linie dazu, die Arbeitsabläufe der Armenfürsorge an den neuesten Erkenntnissen von Effizienz und Sachdienlichkeit auszurichten, ohne dabei die ethischen Leitideen aus dem Auge zu verlieren. All dies entsprach der dringenden Forderung, dem ungeheuer komplizierten Mechanismus modernen Wirtschaftsund Gesellschaftslebens die Formen zu finden, unter denen man zweckmässig und gefahrlos 134 Armenpflege und Wohltätigkeit üben kann.

6. PROFESSIONALISIERUNG Unter Professionalisierungsbestrebungen sind im Allgemeinen zu verstehen: Die Entwicklung von Ausbildungslehrgängen, Gründung von Schulen, Kodifizierung und Standardisierung von Lerninhalten, schließlich die Akademisierung und Verberuflichung der Sozialen Arbeit. Obwohl der Zusammenhang zwischen den internationalen Vernetzungsprozessen und den Professionalisierungstendenzen gewissermaßen als sich gegenseitig konstituierend bezeichnet werden kann, wurde dieses Feld erst in jüngerer Zeit historiographisch erschlossen.135 Der Fokus ist besonders auf die ‚Herausbildung der Sozialen Arbeit‘ auf der einen und den spezifischen Anteil der ‚Frauenbewegung‘ an diesem Prozess auf der anderen Seite gerichtet. Hieraus lassen sich folgende Ergebnisse zusammenfassen: Nachdem sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die Vorstellung verbreitet hatte, dass Frauen zur sozialen Tätigkeit gewissermaßen ‚berufen‘ seien, führte dieser Umstand zu einem ersten Professionalisierungsschub, weil nach gängiger Ansicht der männlichen Sozialreformer Frauen für diese Art der Tätigkeit erst ausgebildet werden müssten.136 Die Verquickung der bürgerlichen Frauenrechtsbewegung mit 132 A. Salomon in Bezug auf C. Booths Grundlagenarbeit in: Salomon, Beatrice Webbs Kampf gegen die Armut, in: DZfW 2 (1926), 2, S. 57–62, hier S. 59. 133 Ebd., S. 87. 134 ZdA 4 (1903), 1, S. 5. 135 Viele Arbeiten zur Professionalisierungs-Geschichte der Sozialen Arbeit kommen weitgehend ohne internationale Bezüge aus, vgl. etwa Amthor, Die Geschichte; Hering/Münchmeier, Geschichte der sozialen Arbeit; Landwehr, Geschichte der Sozialarbeit. Bei Müller und Wendt stehen stärker die methodischen Impulse zur Entwicklung der Sozialarbeit im Vordergrund, weshalb hier einige internationale Aspekte erwähnt werden, vgl. Müller, Wie Helfen zum Beruf wurde, sowie Wendt, Geschichte der sozialen Arbeit. Eine dezidiert internationale Forschungsperspektive liegt bei Franz Hamburger, Innovation durch Grenzüberschreitung, vor, wenngleich wenige Informationen für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bereitgestellt werden. Weitaus deutlicher tritt die internationale Dimension der Sozialarbeit in der Literatur der 1920er Jahre in Erscheinung, vgl. etwa Salomon, Die Ausbildung zum sozialen Beruf. 136 In diesem Kontext gewann die Idee der ‚geistigen Mütterlichkeit‘ an Bedeutung, vgl. Gerhard/Simon, Mutterschaft und geistige Arbeit; Sachße, Mütterlichkeit; Schröder, Arbeiten für eine bessere Welt und dies., Wohlfahrt, Frauenfrage und Geschlechterpolitik; Bock/ Tha-

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unterschiedlichen sozialen Tätigkeitsfeldern trug zweitens ihren Teil zu dieser Entwicklung bei.137 Die spezifisch internationale Dimension der Frauenbewegung kann drittens als ein wesentliches Kennzeichen der ProfessionalisierungsBestrebungen angeführt werden.138 Auch im Folgenden soll die Bedeutung der Frauenbewegung keineswegs unterschlagen werden. Allerdings wird das Unterstützungssystem der Armenfürsorge selbst stärker in den Mittelpunkt gerückt. ‚Professionalisierung‘ war darin kein einzelnes Reformprojekt, sozusagen aus einem einzigen Entwicklungsimpuls heraus. Es gab auch nicht die einzige Keimzelle. Stattdessen zeigt sich ein komplexer, eng verflochtener und sich gegenseitig anstoßender Entwicklungszusammenhang, der nur vor dem Hintergrund der internationalen Austauschprozesse zu verstehen ist und als solcher im Folgenden hervorgehoben wird. Die zeitgenössische Fachliteratur belegt, dass man sich mit dem Leitkonzept der Professionalisierung schon früh grenzüberschreitend auseinandersetzte. Dabei ging es zunächst meistens um die Frage, wie man Frauen aus gehobenen Gesellschaftsschichten für die Armenfürsorge ‚heranziehen‘ könne. So wurde bereits in den 1880er Jahren in Ansätzen über die Möglichkeiten einer professionellen Ausbildung nicht nur für die private Wohltätigkeit, sondern auch für die öffentliche Armenfürsorge debattiert. In dieser Phase dienten internationale Vergleiche als belehrende Beispiele, die zur Nachahmung animieren sollten. Anregungen kamen beispielsweise aus Octavia Hills Werk über die „Haus-Armenpflege“ und aus dem „Lette-Verein“.139 Die insgesamt viel stärker ausgeprägte Integration von Frauen in der englischen und amerikanischen Armenfürsorge führte immer wieder zu Bewunderung.140 Vor dem Hintergrund der angloamerikanischen Vorbilder wurde auf dem internationalen Fürsorgekongress 1889 in Paris die Idee formuliert, bürgerliche Frauen auch in Frankreich im Bereich der sozialen Tätigkeiten auszubilden. Es gehe darum, so Thulié, der Voreingenommenheit zu trotzen, denn „la place de la femme est non seulement indiquée, marquée, nécessaire, mais son rôle est émi-

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ne, Maternity and Gender Politics; Koven/Michel, Womanly Duties. Kritisch hierzu J. Lewis, Gender, the Family and Women’s Agency in the Building of ‘Welfare States’: The British Case, in: Social History 19 (1994), S. 37–55. Darüber hinaus ließ sich das freigewordene Potential der bürgerlichen Frauenbewegung gut mit dem permanenten Bedarf an freiwilligen Arbeitskräften in der Armenfürsorge verknüpfen, vgl. Sachße, Mütterlichkeit, insb. S. 121ff. Die internationale Dimension der Sozialen Arbeit in Verbindung mit der Frauenbewegung wurde schon gut erforscht, vgl. Hegar, Transatlantic Transfers; Schüler, Frauenbewegung; Herren-Oesch, Women in Welfare; Kniephoff-Knebel, Internationalisierung. Vgl. Lammers, Ziele und Bahnen, S. 7f. Zur Geschichte des Lette-Vereins, der unter Berufung auf seine internationalen Vorbilder die berufliche Schulung von Frauen forderte, vgl. Hauff, Der Lette-Verein, hier insbesondere „Gründung und Vorgeschichte“ S. 77ff. sowie für die Wechselbeziehungen mit dem Ausland „Einfluß und internationale Beziehungen des Lette-Vereins“ S. 216ff.; Helene Lange warb auch intensiv um mehr Frauenbildung und bezog sich dabei in erster Linie auf das englische Vorbild, vgl. Lange, Frauenbildung. Über die Rolle von Frauen in der lokalen englischen Armenfürsorge siehe King, Women, Welfare and Local Politics; Lewis, Gender, in: Social History 19 (1994), 37–55.

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nemment aimé et honoré de tous.“141 Dem Nachteil der scheinbar ‚wesensbedingten Untauglichkeit‘ zur Ausübung eines öffentlichen Amtes brachte man zunehmend das Argument entgegen, dass sich ein ebenso naturalisierter „Helferinstinkt“ in besonderem Maße zur Ausführung der Armenpflege eigne.142 Den Vorbildern des internationalen Kongresses folgend gab Reitzenstein auf der Jahresversammlung des Deutschen Vereins von 1891 über die USA zu bedenken: [Hier ist] die Beteiligung der Damen [...] schon jetzt weit ausgedehnter als zur Zeit bei uns; in nicht wenigen Fällen fungieren dieselben als Vorsitzende und Referentinnen der vom Kongreß eingesetzten Kommissionen; da wir gewohnt sind, Anregungen der Kulturentwicklung vom Westen zu erhalten, so läßt dies ersehen, welche Zukunft im Gebiet der Armenpflege 143 auch unsern verehrten Damen noch vorbehalten sein dürfte.

Interessant ist auch hier das wiederkehrende Motiv der „vorbildlichen Kulturentwicklung im Westen“, welche den fürsorglichen Bestrebungen der 1880er und 1890er Jahre eine klare Richtung gab. Die Eindrücke des Wohltätigkeitskongresses 1893 in Chicago, wo sogar ein „Woman’s Branch“ in den Kongress integriert worden war, bestätigten die Ansicht, dass die Einbindung von Frauen, vor allem im Bereich des „friendly visiting“ als nachahmenswerte Errungenschaft zu gelten hatte und auch im Deutschen Reich dringend umzusetzen sei.144 Wiederum dem Beispiel französischer Autorinnen folgend wollte Jeanette Schwerin von ihren deutschen Armenpfleger-Kollegen wissen: „où est la femme?“ und verknüpfte die Frage damit verstärkt mit den Belangen der bürgerlichen Frauenbewegung. 145 Nachdem das Thema in den Fürsorgedebatten vermehrt behandelt wurde146, gab es auch erste praktische Umsetzungen der Forderungen: Seit 1895 waren erstmals „Frauen als Armenpflegerinnen in deutschen Städten“ zugelassen.147 Zunächst zwar nur in besonderen Sektionen, aber es folgten weitere Kompetenzzuweisungen.148 Das Thema ebbte um die Jahrhundertwende in den deutschen Fürsorgedebatten kurzeitig wieder etwas ab, bevor es danach, unter anderem auch angeregt durch die internationalen Kongresse 1906 in Mailand und 1910 in Ko-

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Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 555. Zum Beispiel hier: Böhmert, Die Armenpflege, S. 67. SDV 15 (1891), S. 16 So die Berichterstattung vom Wohltätigkeitskongress 1893 in Chicago: Münsterberg, Report of the Proceedings, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 3 (1895), S. 597–605. Schwerin, Armut und Armenpflege, S. 86. Vgl. beispielsweise Osius/Chuchul, Heranziehung von Frauen zur öffentlichen Armenpflege, SDV 25 (1896), oder Flesch, Die Mitarbeit der Frauen im Armenwesen und die Hauspflege, in: Zeitschrift der Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen 1896, 17, S. 215–218. Siehe Schr̈der, Arbeiten für eine bessere Welt, insbesondere die Kapitel über „Streit um Amt und Ehre: Soziale Arbeit und ̈ffentliche Armenpflege“, S. 115ff. Siehe „Frauen als Armenpflegerinnen in deutschen Städten“, Sociale Praxis (1895), 34, S. 935; vgl. außerdem: Zeitschrift Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen 1896, 17, S. 215–218 sowie 1898, 4, S. 41. Vgl. ferner Wegner, Die Armen- und Waisenpflege, S. 12ff. sowie S. 31ff. für eine „Zusammenstellung von 212 Städten, in denen Frauen in der öffentlichen Armenpflege tätig sind“.

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penhagen, erneut eine exponierte Stellung erlangte und auf andere Fragestellungen des Armenwesens ausstrahlte. Neben der normativen Dimension, welche Rolle die bürgerliche Frau in der Gesellschaft ausfüllen sollte, drängte sich vor allem die Frage auf, auf welche Art und Weise Frauen mit den methodischen und organisatorischen Belangen der Armenfürsorge vertraut gemacht werden könnten. Die international geteilte Antwort bestand darin, die Einrichtung von Bildungs- und Ausbildungsstätten voranzutreiben. Die professionelle Unterweisung galt von Anfang an als Dreh- und Angelpunkt einer Beschäftigung von weiblichen Armenpflegerinnen. Es ging darum, in welchem Rahmen diese Verschulung und Verberuflichung umzusetzen sei sowie welche Inhalte dabei zu vermitteln seien. Frühe Denkanstöße für diese Form der Professionalisierungsbestrebungen boten die internationalen Debatten etwa im Bereich der Krankenpflege. Über die Frage nach der „Pflege bedürftiger Genesender“ kann sogar festgehalten werden, dass sie einen der ersten internationalen Bezüge überhaupt in den Veröffentlichungen des Deutschen Vereins aufwies. Stadtsyndikus Eberty nahm in seiner Schrift zu diesem Thema Bezug auf Hilfseinrichtungen in England, welche schon seit Jahrzehnten einen wichtigen Bestandteil der Krankenpflege war. In gleichem Maße sei „auch in Frankreich [...] die Pflege bedürftiger Genesender eine längst eingebürgerte Thatsache.“ Auch wenn die Fürsorge in Deutschland für kranke Kinder zwar fortschreite, so sei hinsichtlich der krankenpflegerischen Unterstützung von Erwachsenen genau das Umgekehrte der Fall.149 Die amerikanischen Ausbildungskurse für Krankenpflege galten hingegen seit ihrer öffentlichkeitswirksamen Präsentation auf dem Wohltätigkeitskongress 1893 in Chicago als so lehrreich, „daß sie auf dem betreffenden Gebiet als gewissermaßen abschließende Leistungen angesehen werden können.“150 Für den Bereich der Armenfürsorge im engeren Sinne boten Initiativen aus England und den USA gutes Anschauungsmaterial und ließen den Reformbedarf offenkundig werden. Die „soziale Hilfstätigkeit in England und Amerika“ brachte mit der Settlement-Bewegung (Gründung der Toynbee Hall 1884) und ihren unterschiedlichen Varianten erste Ansatzpunkte für eine Professionalisierung in der Armenfürsorge.151 Die Grundgedanken dieser frühen Form der Gemeinwesenarbeit, wonach Angehörige gutgestellter Gesellschaftsschichten in den Armenvierteln nachbarschaftliche Netzwerke und Bildungsangebote schufen, verbreiteten sich rasch in anderen Ländern.152 Insbesondere die USA, wo der Beschaffenheit der urbanen Zentren denen Englands ähnelte, fand die Idee viel Nachahmung und Weiterentwicklung, so dass das Konzept auch über diesen Weg in Europa wieder

149 Eberty, Fürsorge für bedürftige Genesende, SDV 6 (1888), S. 6. 150 Reitzenstein, Übersicht, in: SDV 20 (1894), S. 17. 151 Vgl. zum Beispiel Schüler, Frauenbewegung, hier insbesondere das Kapitel „The Great Neighbor: Jane Addams, Hull House und die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit“, S. 39ff. 152 Kniephoff-Knebel, Internationalisierung, hier das Kapitel über die „Wurzeln der SettlementBewegung“ S. 69ff. und dessen Verbreitung S. 73f.; Sachße, Mütterlichkeit, S. 111ff.

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rezipiert wurde.153 Die Settlements selbst riefen in den Armenfürsorgedebatten stets viel Bewunderung hervor, auch wenn sie nach allgemeiner Einschätzung „in Deutschland keinem stark empfundenen Bedürfnis entsprechen“. Derart extreme „Armenquartiere“ lägen in Deutschland nicht vor, außerdem würden Ungleichheiten durch die allgemeine Schulpflicht, Fortbildungseinrichtungen und die „wohlgeordnete und jedem unterschiedslos zugängliche Armenpflege“ aufgefangen.154 Ganz anders beurteilten die Verantwortlichen des Armenwesens die Brauchbarkeit eines wesentlichen Teilaspekts der Settlement-Bewegungen: die Ausbildungs- und Fortbildungskurse für Armenpflegerinnen und Armenpfleger. Sie bildeten fortan den Ausgangspunkt der Debatte über das Leitkonzept von der professionalisierten Armenfürsorge. Durch die Erfahrungen, welche mit der Settlement-Bewegung gemacht wurden, erkannte man schnell, welchen Vorteil es brachte, den Mitarbeitern und freiwilligen ‚friendly visitors‘ gewisse Grundkenntnisse über die Bedingungen ihrer Tätigkeit zu vermitteln. Diese Fortbildungskurse blieben zunächst ein an das Settlement angeschlossenes Angebot. In diesem Rahmen wurde 1896 ein gemischter Ausschuss zwischen der National Union of Women Workers und der COS London mit dem Ziel ins Leben gerufen, Vorlesungen auf Grundlage der in den Settlements gemachten Erfahrungen abzuhalten. Hieraus entstand ein einjähriges Kursund Ausbildungsprogramm, das 1903 in die London School of Economics integriert wurde.155 Wichtige Professionalisierungsimpulse gingen vor allem auch von den amerikanischen Einrichtungen aus.156 Dort entstanden ebenfalls aus den amerikanischen Settlement-Bewegungen heraus Bemühungen, Frauen und Männer in ‚social work‘ aus- und fortzubilden. Mary Richmond, Vorsitzende der Baltimore Charity Organisation Society, hielt auf der National Conference of Charities and Correction von 1897 einen zukunftsweisenden Vortrag über „The Need of a Training School in Applied Philanthropy“. „We must educate them“ war ihre Forderung und sie bezog sich dabei gleichermaßen auf Frauen und Männer.157 Mit Unterstützung der COS in New York entstand daraufhin 1898 erstmals ein allgemein zu153 Salomon 1909 über die Settlements: „Nicht Musterhäuser zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit wie in Frankreich, nicht glänzend ausgestattete Heilstätten für Lungenkranke wie in Deutschland, nicht großartige Waisen- und Rettungshäuser wie in England – sondern die Settlements in den überfüllten Stadtteilen der Einwanderer sind die eigenartigsten und bemerkenswertesten Wahrzeichen des amerikanischen Bürgersinnes, der dortigen Wohlfahrtspflege.“ Salomon, Soziale Arbeit in Amerika, in: Centralblatt des Bundes deutscher Frauenvereine 11 (1909), S. 97–99 u. 105–107, Zitat S. 98. 154 Zu diesem Ergebnis kommt Münsterberg in einer ausführlichen Schlussbetrachtung zum Thema Settlements, nachdem er diese in den USA selbst besucht hatte, SDV 77 (1906), S. 113ff., Zitat S. 115. Ganz ähnlich argumentierte auch Adele Schreiber, welche die Settlements in England auf einer Reise kennenlernte, vgl. Schreiber, Settlements. 155 Zur Geschichte der Settlement-Bewegung in England: Picht, Toynbee Hall und die Englische Settlement-Bewegung; Wendt, Geschichte der sozialen Arbeit, S. 367–408. 156 Müller, Wie Helfen zum Beruf wurde, S. 9ff. 157 Richmond, The Need of a Training School, in: National Conference of Charities and Correction, Official proceedings of the annual meeting (1897), S. 181–187, Zitat S. 181.

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gänglicher Sommerkurs, Philanthropic School genannt. Aus ihm ging, parallel zur Entwicklung in England, 1904 die New York School of Philanthropy hervor.158 All diesen frühen Formen der Professionalisierung war gemeinsam, dass sie von lokalen Projekten ausgingen und mit universitären Einrichtungen in Verbindung standen. In Kontinentaleuropa fand diese Schulform wiederum in den Niederlanden Nachahmung, als 1899 die School voor Maatschappelijk Werk gegründet wurde.159 Im Deutschen Reich verliefen die ersten Schritte der Professionalisierung anders. Hier verbanden sich die fürsorgebezogenen Professionalisierungsbestrebungen schon früh mit der bürgerlichen Frauenbewegung. 160 Aus diesem Umfeld stammten die seit 1897 von Jeanette Schwerin geplanten und 1899 eingerichteten Jahreskurse im Rahmen der Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit. Dort waren schon seit 1893 Frauen zur freiwilligen Unterstützung in der Armenfürsorge und ihnen angrenzenden Bereichen angeworben worden. Mit der Einführung der Jahreskurse begann die „sozialwissenschaftliche Belehrung der Mitglieder im Verein“. Ihre Grundvorstellung folgte der Idee, „über den Dilettantismus“ in der Armenpflege hinauszuwachsen.161 Was die spezifische internationale Dimension der professionalisierten Armenfürsorge anbelangt, so lassen der intensive Literaturaustausch, die Studienreisen und das internationale Kongresswesen keinen Zweifel zu, dass sich die Entwicklung hier gegenseitig anstieß und vorantrieb. Für die Vorkämpferinnen der Bildungslehrgänge waren die Initiativen in England und den USA maßgeblicher Referenzpunkt. Aus einem Bericht von Else Conrad über die School of Philanthropy geht hervor, dass eben diese Einrichtung als Grundlage für ähnliche Bestrebungen in Deutschland anzusehen sei: „In Amerika ist diese Entwicklung etwas weiter vorgeschritten“, berichtete sie darin und betont darüber hinaus, dass sich in der School of Philanthropy schon vor vielen Jahren die Erkenntnis durchgesetzt habe, dass eine systematische Ausbildung in der Armen- und Wohlfahrtspflege notwendig sei.162 Sowohl Jeanette Schwerin als auch Minna Cauer, Alice Salomon und Adele Schreiber hatten sich auf Studienreisen in England mit den Settlements vertraut gemacht und unterstrichen bei vielen Gelegenheiten den direkten Einfluss der Settlement-Bewegung, denen „alle moderneren sozialen Bestrebungen, auch die Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit, einen Teil ihrer Methoden und ihrer Impulse verdanken.“163 158 Die theoretischen und praktischen Kurse erlebten durch Edward T. Devine 1897 ihren Durchbruch. In dieser Training School for Social Workers wurden Sommerferienkurse, Krankenpflegerinnenkurse und später auch Winterabendkurse angeboten. Zur Entwicklung der Sozialen Arbeit in den USA vgl. Steiner, Education for social work. 159 M. van der Haar, Ma(r)king Differences in Dutch Social Work, S. 51f. 160 Schröder, Arbeiten für eine bessere Welt, S. 38ff. 161 Salomon in Bezug auf Münsterberg, Salomon, Zwanzig Jahre Soziale Hilfsarbeit, S. 29. 162 Conrad, Schools of Philanthropy, in: Concordia (1906), 9, S. 125–127, hier S. 125. 163 JF 2 (1901), 8, S. 453. Siehe auch Schreiber, Settlements; vgl. außerdem über die „reflektierte Übertragungsleistung“, in: Kniephoff-Knebel, Grenzüberschreitendes Lernen und Verberuflichung, in: Ariadne 49 (2006), S. 8–15.

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Dass es sich bei der Auseinandersetzung mit den Philanthropic Schools nie um eine unbedachte Adaption handelte, sondern um ein gewissenhaftes Studium der ausländischen Vorbilder, verdeutlicht folgendes Beispiel: Die Erfolge der englischen und amerikanischen Settlement-Bewegung haben auch in Deutschland zu Versuchen geführt, die soziale Arbeit der Frauen zu vertiefen und dem wachsenden Bedürfnis nach geschulten Kräften auf allen Gebieten der Fürsorgethätigkeit durch eine systematische Ausbildung zu entsprechen. Die nationalen Eigentümlichkeiten haben aber 164 zu einer anderen Ausgestaltung dieser Bestrebungen führen müssen.

Salomon bezog sich mit „nationale Eigentümlichkeiten“ auf die Ausgestaltung des Kurses, der in Deutschland nicht die Loslösung der Mädchen aus dem Elternhaus verlangte und inhaltlich nicht an die Settlement-Arbeit gebunden war. Zum einen zeigt sich, dass die eben genannten Einrichtungen selbst Produkt eines reflektierten Ideentransfers waren. Zum anderen wird deutlich, dass der internationale Austausch eine neue Dynamik zutage förderte. Es war nun nicht mehr alleine wichtig, wo es welche modernen Einrichtungen zur Ausbildung von Armenpflegern gab und welche es in einen anderen nationalen Kontext zu übertragen galt. Es war ebenso wichtig, das Wissen über die besten Ausbildungs- und Fortbildungsformen selbst grenzüberschreitend zu kanonisieren, Ausbildungsinhalte zu vereinheitlichen und das Projekt der Professionalisierung in alle Bereiche der Armenfürsorge und Wohlfahrtspflege hineinzutragen. Denn trotz punktueller Fortschritte konnte von einem flächendeckenden Angebot zu Beginn des neuen Jahrhunderts keineswegs die Rede sein, zumal der Schwerpunkt im Deutschen Reich alleine bei der Ausbildung von Frauen lag. Nach Emil Münsterbergs Amerikareise im Jahre 1904 bekam das ohnehin große Interesse an den amerikanischen Methoden der Armenfürsorge weitere Impulse. Er konnte sich von den Settlements und den Philanthropic Schools vor Ort ein Bild machen. Er war es auch, der diese Eindrücke im internationalen Kongresskomitee wiedergab und sich für das Thema der „Berufsausbildung von Hilfskräften der Armenpflege und Wohltätigkeit“ auf dem Mailänder Fürsorgekongress 1906 stark machte. Auf der Sitzung des Comité international von 1905 warb Münsterberg ausdrücklich dafür, dem Thema auf künftigen Kongressen breiten Raum zu geben. Nicht nur im Bereich der Krankenpflege, sondern insgesamt bei jeder Form von Armenpflege müsse die „technische Ausbildung“ vorangetrieben werden. Er bekam dabei Unterstützung von Paul Strauss, der die amerikanische Form der „wissenschaftlichen Unterrichtung“ auch studiert hatte und sich im Comité international ebenfalls für das Thema einsetzte.165 Auf dem Kongress von 1906 in Mailand formulierte man eine Reihe von Resolutionen, die sich an den amerikanischen Philanthropic Schools orientierten. Als wichtigster Punkt wurde festgehalten, dass für eine effiziente Armenpflege und deren praktischen Umsetzung mehr theoretisches Wissen über die Bedingungen von Armut notwendig sei. Zu diesem Zwecke sei eine systematische Ausbildung einzuführen. Solch eine Ausbildung müsse sich ferner flexibel an die allge164 JF 2 (1901), 8, S. 456f. 165 RP XVII (1905), S. 37.

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meinen Bedingungen und Aufgabenfelder der Pflegerinnen anpassen.166 Ausführlich wurden die amerikanischen und niederländischen Philanthropic Schools analysiert und in den Kongressresolutionen als Vorbild für die ‚fortschrittlichsten Ausbildungsstäten‘ gepriesen. Für besonders wichtig wurde die breitgefächerte Grundausbildung erachtet. Dazu würden unterschiedlichste Kenntnisse über Staat und Wohlfahrt, Kinderfürsorge, Behandlung von Krankheit, Verbrechen und Immigration zählen. Nachmittags stünde hingegen die praktische Arbeit im Mittelpunkt, welche die Absolventen für ein breites Berufsspektrum qualifizieren würde: in den Settlements und anderen Wohltätigkeitseinrichtungen, in der Organisation von Fürsorgeanstalten aber auch als Fabrikinspektorinnen.167Auf dem internationalen Kongress wurde zugleich die Rolle der Frau besonders hervorgehoben. Ihr ‚Charakter‘ und ihre ‚sozialen Bedingungen‘ prädestiniere sie für die Pflegetätigkeit.168 Diese Position entsprang der spezifisch europäischen Sicht auf die Professionalisierungsdebatte: Viel stärker als in den USA koppelte man das Ausbildungsmodell – in der Philanthropic School in New York gab es mehr Männer als Frauen169 – an die Belange der Frauenbewegungen. Im Anschluss an den Kongress in Mailand wurden die Formen und Möglichkeiten der praktischen Ausbildung in der Fachliteratur weiter diskutiert.170 In Deutschland setzte man das Thema nach dem internationalen Kongress auch auf der Jahresversammlung des Deutschen Vereins 1907 in Eisenach auf die Tagesordnung. Unmittelbare Auswirkungen von der internationalen Debatte waren auch hier zu spüren: „Was diesen Unterricht betrifft, so müssen wir hier in Deutschland bekennen, daß wir noch viel zu lernen haben“171, gab Frankenberg in Bezug auf die Philanthropic Schools zu bedenken. Berichterstatter Albert Levy sah vor allem Handlungsbedarf in der öffentlichen Armenfürsorge. Um die komplexeren Zusammenhänge der Armut verstehen zu können, müssten berufsbildende Maßnahmen als Rüstzeug stärker in Betracht gezogen werden.172 Darüber hinaus wurde der Wunsch geäußert, dass diese auch auf den praktischen Verwaltungsdienst der Justiz- und Verwaltungsbeamte, Ärzte und Geistliche ausgeweitet werden.173 Eine eigens für die Frage der Professionalisierung eingerichtete Kommission wurde mit der weiteren Erörterung und Förderung der Ausbildungsfrage beauftragt und unterbreitete dem Zentralausschuss eine Reihe von Vorschlägen. Diese 166 IV. Congresso internazionale, Bollettino ufficiale, Nr. 9 und 10 167 Vgl. Conrad, Schools of Philanthropy, in: Concordia (1906), 9, S. 125–127 bzw. die Beiträge über Berufsausbildung auf dem internationalen Kongress 1906 in Mailand, Recueil des travaux du congrès 1906, Bd. 2, S. 1ff. 168 So wurde es in den Kongressresolutionen festgehalten, vgl. IV. Congresso internazionale, Bollettino ufficiale, Nr. 9 und 10. 169 1906 gab es 24 Frauen und 57 Männer in den Kursen, Concordia (1906), 9, S. 126. 170 Über die internationale Resonanz des Themas vgl. ZdA 7 (1906), 10, S. 289ff. und ZdA 7 (1906), 11, S. 321ff. 171 SDV 83 (1907), S. 82. 172 SDV 79 (1907), S. 39. Siehe auch Salomon, Soziale Frauenbildung, 35ff. 173 Vgl. die Debatte und Resolutionen über die „Ausbildung in der Armenpflege“ auf der 27. Jahresversammlung des Deutschen Vereins, in: SDV 83 (1907), S. 67ff.

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zielten einerseits darauf ab, die öffentlichen Verwaltungskörperschaften und privaten Einrichtungen reichsweit über die berufsmäßigen Ausbildungsmöglichkeiten zu informieren, um das Angebot sozusagen über die Nachfrage zu steuern. Andererseits wurde geprüft, wo und wie Lehrstühle und universitäre Bildungswege angeboten werden könnten.174 Die internationalen Entwicklungen blieben ein wichtiger Anknüpfungspunkt dieser Bestrebungen.175 Die zuletzt angesprochene Form der Professionalisierung im Sinne einer Akademisierung setzte man erstmals an der Frankfurter Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften in die Realität um. Die Vorläuferin der Frankfurter Universität war aus dem Institut für Gemeinwohl auf Betreiben des einflussreichen Stifters Wilhelm Merton hervorgegangen. Dort war auch Klumker seit 1901 als Privatdozent für Armenpflege und Soziale Fürsorge tätig, wie auch in der Zentrale für Private Fürsorge, wo bereits Ausbildungskurse angeboten wurden. 1911 bekam Klumker im Rahmen der Akademie ein persönliches Ordinariat – das erste dieser Art im Deutschen Reich. Aus dem Exposé, das Klumker im Vorfeld bezüglich der genaueren Ausgestaltung und inhaltlichen Schwerpunkte des Lehrstuhles anfertige, geht hervor, dass die Initiative zur Gründung des Lehrstuhls mit der 1907 in Eisenach stattgefundenen Jahresversammlung des Deutschen Vereins zusammenhing und sich zugleich auf die internationalen Vorbilder, insbesondere die Philanthropic Schools, bezog. Der neu geschaffene Studiengang bot einerseits die Möglichkeit zur theoretischen und praktischen Ausbildung in der Armen- und Wohlfahrtspflege. Andererseits wurde das Erstellen von wissenschaftlichen Kleinarbeiten erwünscht und damit die Akademisierung vorangetrieben. Dieses Vorgehen folge, so Klumker, auch der Entwicklung in anderen Ländern, wo die Vernetzung zwischen der Armenfürsorge und den Universitäten beachtliche Fortschritte gemacht habe. In Amsterdam und vielen anderen europäischen Städten seien Unterrichtseinheiten für Soziale Arbeit zunehmend in die Universität eingegliedert. Klumker bestätigte dadurch, dass das „Bedürfnis nach tüchtigen Ausbildungsgelegenheiten für Fürsorgewesen aller Art“ auf einem internationalen Konsens beruhte. In diesem Zusammenhang wird verständlich, warum der Lehrplan die Betrachtung der „Fürsorgesysteme der wichtigsten Kulturstaaten“ stets im Auge behielt.176 Der von Klumker an der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften beschrittene Weg unterschied sich grundlegend von den Professionalisierungsbestrebungen, die von der 1908 gegründete Sozialen Frauenschule ausgingen. Auch dieses Projekt inspirierte sich zwar beim amerikanischen Vorbild, betonte aber andere Gesichtspunkte. Die Bedeutung internationaler Beziehungen, Studienreisen und Austauschprozesse für das Leben und Wirken der Gründerin dieser Ein174 Ebd. sowie SDV 94 (1910), S. 6. 175 „Diese Forderung ist nur der Ausklang einer ganzen Reihe ähnlicher Bestrebungen, die in Deutschland wie dem Auslande während der letzten Jahre zur Geltung gekommen sind.“ Vgl. Klumker, Expose: Lehrstuhl und Seminar für Armenwesen und Fürsorgewesen, in: Nachlass Klumker, 12.1 Lehrstuhl (Findbuch_gesamtIII; Alte Signatur, Nr. 475). 176 Ebd.

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richtung, Alice Salomons, ist gut erforscht.177 Nicht ausreichende Beachtung fand hingegen die Tatsache, dass die Idee der Sozialen Frauenschule maßgeblich von den Philanthropic Schools in New York, Chicago, Boston, London und Amsterdam beeinflusst wurde: Sie sind die Vorbilder, an die man sich in Deutschland anlehnen muß, wenn man aus der Fülle der meist noch sehr unvollkommenen Versuche eine systematische Ausbildungsanstalt her178 ausheben und ausgestalten will.

In Bezug auf den internationalen Kongress 1906 in Mailand und die Jahresversammlung des Deutschen Vereins 1907 in Eisenach betonte Salomon das Bedürfnis, auch in Deutschland „besonders für die armenpflegerische Tätigkeit“ entsprechende Einrichtungen zu schaffen: Wenn es keinem Zweifel unterliegen kann, daß die vielfachen Versuche, soziale Ausbildungsgelegenheiten auf deutschem Boden zu schaffen, an diese ausländischen Vorbilder nicht heranreichen, so läßt doch gerade die Mannigfaltigkeit der einschlägigen deutschen Bestrebungen darauf schließen, daß das Bedürfnis nach fachlicher und beruflicher Ausbildung in al179 len Kreisen der sozialen Arbeiter empfunden wird.

Als Begründung für die Mängel der deutschen Einrichtungen nannte sie die schwierig zu beschaffende finanzielle Grundlage und das Fehlen ausreichender besoldeter Stellen. Allerdings sah Salomon die Entwicklung zur Professionalisierung mit der Gründung der Sozialen Frauenschule auf dem richtigen Weg. Darunter verstand sie den Weg ihres amerikanischen Musters, wo die Gründung von Ausbildungskursen der Schaffung eines professionalisierten Berufsfeldes vorausgegangen war. Auch in den USA habe Mary Richmond 1897 auf der oben erwähnten National Conference of Charities and Correction die Gründung einer beruflichen Bildungsstätte gefordert und damit die Entwicklung des eigentlichen Berufsstandes erst angestoßen.180 Ideale Unterrichtsbedingungen sah Salomon speziell in der New Yorker Einrichtung verwirklicht, in welcher die theoretischen Elemente vormittags – Prinzipien, Methoden, Gesetzeslagen – und der praktische Teil nachmittags – „Constructive Social Work“ – gelehrt wurden. Der Unterrichtsplan181 der Sozialen Frauenschule, wird etwa in derselben Weise wie die ausländischen Wohlfahrtsschulen eine Ausbildung vermitteln, die zu verantwortlicher und selbstständiger Stellung auf den verschiedenen Gebieten der Wohlfahrtspflege befähigt.

Auch werde die Leiterin „nach dem Muster englischer und amerikanischer Bildungsanstalten“ regelmäßig Sprechstunden für die Schülerinnen anbieten. Das 177 Schüler, Frauenbewegung, hier besonders das Kapitel „Die deutsche Jane Addams“, S. 187ff.; Feustel, Die Bedeutung internationaler Beziehungen und Zusammenarbeit im Werk Alice Salomons, S. 24–29; Hegar, Transatlantic Transfers. 178 Salomon, Soziale Frauenbildung, S. 74. 179 Ebd. 180 Die Ausbildung zur sozialen Hilfsarbeit, ebd., S. 35ff. 181 Ausführlich dargestellt in: „eine Wohlfahrtsschule“, JF 9 (1908), 10, S. 600ff.

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Konzept des individualisierten Lernens in persönlicher Atmosphäre war etwas vollkommen Neues. In Anlehnung an das amerikanische Modell sollte die Soziale Frauenschule unbedingt „mehr als eine Fachschule“ sein: Es gehe der Leitung um den „Dienst an der Gesellschaft“ und die „Erziehung der Frauen“.182 Im Gegensatz zur Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften blieb die Soziale Frauenschule ihrer überwiegend praktischen Ausrichtung sowie den Ideen der bürgerlichen Frauenbewegung treu verbunden. Dieser innere Zusammenhang wurde auch 1910 auf dem Kongress in Kopenhagen wieder deutlich. „Die Rolle der Frau in der Fürsorgetätigkeit“ wurde unter Aufsicht des Hauptberichterstatters Münsterberg auf den neuesten internationalen Stand gebracht.183 Auch hierbei spielten die Professionalisierungstendenzen wieder eine zentrale Rolle. Die zahlreichen internationalen Vorträge zeigten dem Publikum die anschauliche „Vermehrung solcher Ausbildungsstätten“ seit der letzten Versammlung 1906 in Mailand, auf welcher die Philanthropic Schools in den Mittelpunkt der internationalen Wahrnehmung gestellt worden waren. Als wesentliche Erkenntnis wurde neuerdings verstärkt hervorgehoben, dass besoldete Kräfte wie in den USA einen höheren Sinn erfüllen und die Effektivität von Wohltätigkeitseinrichtungen fördern würden.184 Damit war eine weitere Forderung in der Professionalisierungsdebatte angesprochen: Die Schaffung von besoldeten Stellen. Generell stand man dieser Frage sehr skeptisch gegenüber. Unter der deutschen Fürsorgeexpertise genoss das auf bürgerschaftlichem Engagement und Freiwilligkeit beruhende Elberfelder System nach wie vor hohes Ansehen, auch wenn sein Modifizierungsbedarf zunehmend erkannt wurde.185 Im Deutschen Verein setzte sich unter anderem Karl Flesch vehement dafür ein, dass das Ehrenamt ein unantastbarer Bestandteil der Armenfürsorge bleiben müsse. Die amerikanischen Ausbildungsformen seien für das amerikanische System der privaten Wohltätigkeit gemacht, gab er zu bedenken, während sich das deutsche öffentliche Armenwesen nur nachrangig dem Ausbildungsgedanken zuwenden könne.186 In den Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit beziehungsweise in der Sozialen Frauenschule hielt man ebenfalls am Ehrenamt fest, so dass die Ausbildung generell nur für Frauen aus privilegierten Schichten zugänglich blieb. Auch Münsterberg haderte noch lange mit der Idee eines besoldeten Pflegeamtes, wenngleich er die Vorteile einer teilweisen Verberuflichung kannte. Erst nach seiner Amerikareise von 1904, als er die Überlegenheit der Ausbildungsstätten und die effektive Funktionsweise der besoldeten Armenämter mit eigenen Augen sah, musste er gänzlich eingestehen, dass „die berufsmäßige Hilfstätigkeit an innerem Wert durch die Bezahlung der Arbeit nichts einzubüßen braucht“.187 Der Stolz auf die „freiwillige Armenpflege“, der 182 Alle Zitate ebd., S. 600f. 183 Münterberg, Die Rolle der Frau in der Fürsorgetätigkeit, in: Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 2, S. 360–395. 184 Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 2, S. 386. 185 Vom Elberfelder zum Straßburger System vgl. Sachße, Mütterlichkeit, S. 36ff. 186 SDV 83 (1907), S. 103f. 187 „Das amerikanische Armenwesen“, ZdA 7 (1906), 8, S. 228.

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teilweise auch auf der positiven Wahrnehmung des Elberfelder Systems in den zurückliegenden Jahrzehnten beruhte, und die damit verbundenen Befindlichkeiten mancher traditioneller Armenpfleger wich langsam einem neuen Berufsverständnis. Unter den Eindrücken des internationalen Leitkonzepts der Professionalisierung reifte der Gedanke allmählich, dass die Berufsarbeit fast immer „geordneter, gewissenhafter, systematischer durchgeführt“ werde, „als die mehr dilettantische freiwillige“.188 Dies zeigte sich auch, als die englischen Experten der Armenkommission die Methoden der deutschen Armenfürsorge untersuchten. Unter anderem in Hamburg machten sie sich vom Elberfelder System ein Bild. Im Abschlussbericht wurde sowohl von englischer als auch deutscher Seite hervorgehoben, dass die englischen besoldeten Kräfte besser ausgebildet seien und mit den Bedürftigen einen besseren Umgang pflegen würden als die deutschen Armenpfleger. Man empfahl darin dringend die Professionalisierung der Armenpfleger in deutschen Städten, selbst in den untersten Dienstbereichen. Außerdem trat man für eine Kontrolle der Armenpfleger durch besoldete Kräften ein. Münsterberg gab zu bedenken, dass einer solchen Reform im Deutschen Reich noch viele Hindernisse im Weg stünden.189 Dennoch hielt er fest: „we are in favour of its adoption, as part of the scheme of administration which we recommend.“190 Dieses Beispiel veranschaulicht einen erstaunlichen Rückkoppelungseffekt. Die deutschen Fürsorgeexperten sollten ursprünglich Empfehlungen für die englische Reformkommission geben. In Bezug auf die Professionalisierungsfragen profitierten sie selbst von dem Austausch mit ihren englischen Kollegen, was auf die Gegenseitigkeit und Produktivität internationaler Beziehungen der Fürsorgeexpertise verweist. Der Abschlussbericht der Armenkommission verdeutlicht dieses Zusammenspiel in besonderem Maße. Die ineinander vernetzten Entwicklungen, die bei der Untersuchung des Leitkonzepts der Professionalisierung zutage treten, sind keineswegs zu einer abschließenden und vollständigen Betrachtung gekommen.191 Die transnationale Perspektivierung des Untersuchungsgegenstandes erhellt jedoch den ideellen und methodischen Zusammenhang, auf dessen Basis Reformpotentiale sondiert und 188 Conrad, Schools of Philanthropy, in: Concordia (1906), 9, S. 125–127, hier S. 127. 189 Dazu zählte Münsterberg die Schwierigkeit, geeignete Leute als Pfleger zu finden sowie lokale Rivalitäten von kleinen Vereinen. Ebenso sei es schwer ‚fortschrittlich‘ denkende Leute in die Verwaltung aufzunehmen, weil es die lokalen Armenbehörden nicht zulassen würden. Das gleiche betreffe die Integration von Frauen, vgl. Royal Commission, Report, S. 502f. 190 Royal Commission, Report, S. 503. 191 So wurden überwiegend private Initiativen aus dem Umfeld der bürgerlichen Sozialreform in Betracht gezogen. Es gab jedoch auch einige kirchliche zur beruflichen Aus- und Weiterbildungseinrichtungen, welche ihrerseits einen Beitrag zu den Professionalisierungsbestrebungen leisteten. Hierzu gehörten unter anderem: Die Christlich-Soziale Frauenschule (Hannover 1905), die Frauenschule der Inneren Mission zu Berlin (1909), die Soziale und Caritative Frauenschule des Bayerischen Landesverbandes des Katholischen Frauenbundes (1909), das Evangelisch-Soziale Frauenseminar (Elberfeld 1910), die Katholische Soziale Frauenschule (1911). Vgl. Salomon, Die Ausbildung, S. 1ff.

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Anpassungsbewegungen ausgelöst wurden.192 Internationale Vernetzungen brachten Reformvorhaben hervor und befruchteten zugleich die Überlegungen, wie sich die Professionalisierungsansätze der Armenfürsorge institutionalisieren ließen. Insbesondere das amerikanische Modell der Philanthropic Schools diente als Quelle für Wissenstransfers und angepasste Übertragungen. Auf diese Weise war es den Armenpflegerinnen und ‚social workers‘ möglich, ihr Berufsethos weit über die eigenen Ländergrenzen hinaus zu vermitteln. 7. ZENTRALISIERUNG, AUSKUNFT, AUFSICHT 7.1. Hintergründe und die Situation in deutschen Städten Organization! This is the magic word which alone can solve the difficult problems of poor re193 lief.

Die organisatorischen Leitkonzepte ‚Zentralisierung‘, ‚Auskunft‘ und ‚Aufsicht‘ stießen in der deutschen und internationalen Fachwelt auf besonders viel Interesse. Sie wurden in den Debatten über die Verbindung von Wohltätigkeitsbestrebungen, das Zusammenwirkung der öffentlichen und privaten Armenpflege, oder die Schaffung einer Aufsichtsbehörde stets angeführt und brachten unterschiedliche Institutionalisierungsversuche hervor.194 Im Deutschen Reich hingen die Überlegungen zu diesem Thema eng mit der Auffassung zusammen, ein wirksames Mittel gegen die ‚planlose‘ Wohltätigkeitsorganisation finden zu müssen. Die Argumente, die für die Schaffung zentralisierter Aufsichts- und Auskunftseinrichtungen egal welcher Form vorgebracht wurden, zielten nicht auf die Aufhebung des Prinzips der institutionellen Unabhängigkeit. Der Mehrheit der Befürworter einer organisatorischen Zentralisierung ging es schlicht um die Verwirklichung einer effizienten und rationalen Armenfürsorge durch eine bessere Kooperation der öffentlichen und privaten Akteure des ‚Fürsorgesystems‘. Man kritisierte die ungewollten Doppelbetreuungen und Doppelzuwendungen und den Missbrauch von Fürsorgeleistungen, die daraus resultierende finanzielle Mehrbelastung. Außerdem bemängelte man den Einsatz unangemessener oder unzureichender Hilfeleistungen, die oftmals aus der Unkenntnis über die richtige Anlaufstelle und Unterstützungseinrichtung zustande kamen. Darüber hinaus gewann die Idee der Erfassung und Zusammenarbeit von 192 Vgl. weiterführend Herren-Oesch, Women in Welfare; Kniephoff-Knebel, Internationalisierung. 193 Münsterberg in einem Bericht über „the Elberfeld System of Poor Relief“ für den Wohltätigkeitskongress 1893 in Chicago, General Exercises of the International Congress 1893, Bd. 2, S. 189. 194 Eine andere Form der Zentralisierung beabsichtigten die verbandsähnlichen Strukturen, die entweder als Großvereine oder als halbamtliche Zentralvereinigungen zusammentraten. Ihnen ging es vor allem um die übergeordnete Sammlung, Aufarbeitung und Bereitstellung von fürsorgebezogenem Fachwissen, wie z. B. im Deutschen Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit umgesetzt.

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Fürsorgeeinrichtungen im Kontext der großstädtischen Unübersichtlichkeit zusätzlich an Bedeutung.195 All diese Formen des ‚planlosen Dilettantismus‘ wollte man durch organisatorische Maßnahmen in den Griff bekommen, welche dem Bestreben nach organisatorischer, methodischer und finanzieller Rationalität Ausdruck verleihen sollten. Zu diesem Zweck entwickelte man verschiedene Ansätze. Ein Konzept sah die Schaffung von städtischen, meist privat organisierten Zentralinstituten vor. Sie zielten darauf ab, den „Mangel an wechselseitiger Fühlung“196 zu beheben. Es sollten Register über die öffentlichen und privaten Einrichtungen angelegt werden, um diese miteinander in Verbindung zu bringen und um die Klientel einander zu vermitteln. Hierbei stand die Auskunftstätigkeit im Vordergrund, der man im Zuge der Zentralisierungsdebatte eine gewisse Vorrangstellung einräumte.197 In einem nächsten Schritt erhoffte man die „Herstellung einer Verbindung der verschiedenen Fürsorgebestrebungen“198. Man sah es zunehmend als erwiesen an, dass die Koordination und gegebenenfalls auch die Bündelung der wohltätigen Maßnahmen eine Steigerung des städtischen Fürsorgepotentials mit sich bringen würde.199 Weitergehende Vorschläge forderten die öffentliche Aufsicht als radikalste Form der Zusammenführung von Fürsorgeeinrichtungen.200 Während die privaten Zentralisierungsideen mit der Finanzierung und mit dem Durchsetzungsvermögen des sozialreformerischen Gestaltungswillens beziehungsweise mit der Akzeptanz der Armenpfleger standen oder fielen, ging es bei diesen öffentlichen Kontrollund Aufsichtsbehörden vielmehr um rechtliche und normative Fragen. Ihre Kritiker fürchteten den Autonomieverlust der privaten Wohltätigkeit, des Weiteren sahen sie die Gefahr der Vereinheitlichung, welche sowohl den Wettbewerb schädigen als auch das Selbstverständnis des kommunalen und privaten Armenwesens aushöhlen würde. Für die kommunale Armenverwaltung hatten die Prinzipien des Ehrenamtes und der Dezentralisation (Elberfelder System) lange einen sakrosankten Charakter. Sie standen für eine bürgerliche ‚Fürsorgekultur‘. Sowohl die Stadt als auch die privaten Wohltätigkeitseinrichtungen pflegten ihren Zuständigkeits-

195 Vgl. Pielhoff in: Kocka/Lingelbach (Hrsg.), Schenken, Stiften, Spenden, in: GG 33 (2007). Zu Zentralisierungsbestrebungen auch im Elberfelder System vgl. Tennstedt/Sachße, Armenfürsorge, soziale Fürsorge, Sozialarbeit, in: Berg (Hrsg.), Bildungsgeschichte, S. 416. Beispiel einer Studie, welche die fortschreitenden Kooperationen und Verflechtungen zwischen städtischen Wohltätigkeitseinrichtungen veranschaulicht, vgl. Nitsch, Private Wohltätigkeitsvereine, hier vor allem das 2. Kapitel, S. 149–310. 196 Münsterberg, Zentralstellen, S. 10. 197 Ebd., S. 30ff. 198 Ebd., S. 1. 199 Es ging nach Reulecke bei der Kooperation mit der Inneren Mission, dem katholischen Caritasverband, den Frauenvereinen, dem Roten Kreuz u.v.m. auch darum, „das kostengünstige Dienstleistungspotential der Privatwohltätigkeitsvereine für die öffentliche Armenpflege zu nutzen“, Reulecke in: Blotevogel (Hrsg.), Kommunale Leistungsverwaltung, S. 77. 200 Münsterberg, Zentralstellen, S. 1f.

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sinn und rangen um Einflussmöglichkeiten.201 Die Kontrolle und Zuweisung von fürsorgebezogenen Diensten im städtischen Kontext blieben daher stets ein heikles Thema. Eine Einigkeit gab es zur Jahrhundertwende in diesen Fragen zwar noch nicht, wohl aber „die Einsicht in die Notwendigkeit weitgehender Arbeitsteilung“202. Daher stand für die Fürsorgeexperten ein schrittweises und kompromisswahrendes Vorgehen im Vordergrund: „nicht Vereinheitlichung, sondern planmäßige Verbindung von selbständig bleibenden, aber in das Ganze sich eingliedernde Einzelgebilde“ 203 war die Devise. Insgesamt gilt es zu beachten, dass bei den Fragen nach Zentralisierung, Auskunft und Aufsicht ein systemimmanenter Prozess vorlag, der punktuelle Zielsetzungen verfolgte und dabei an sehr unterschiedlichen Verwaltungsebenen ansetzte. Die Rahmenbedingungen waren nicht nur je nach Land sehr unterschiedlich sondern auch innerhalb Deutschlands sehr uneinheitlich ausgeprägt, wie es das Spannungsverhältnis einerseits zwischen Kommune und Staat und andererseits zwischen öffentlicher, privater und kirchlicher Armenfürsorge illustriert. 204 Trotz dieser systemischen, regionalen und fürsorgekulturbezogenen Gegensätze setzte sich in der internationalen Fürsorgeexpertise in den 1890er Jahren die Meinung durch, dass letztlich alle bestehenden Organisationsprinzipien an ihrer Effektivität zu messen seien. In diesem Zusammenhang entstand ein internationaler Informationsfluss. Organisatorische Leitkonzepte wanderten über die Ländergrenzen hinweg und befruchteten Lösungsansätze für eine effektivere Armenverwaltung. 7.2. Internationale Debatten, Rück- und Wechselwirkungen Alle Debatten, die auf organisatorische Zentralisierungsbestrebungen hinausliefen, waren auf das Engste mit internationalen Vorbildern verknüpft. Der Blick der deutschen Sozialreformer war in den 1880er und 1890er Jahren auch in dieser Fragestellung auf England und Frankreich gerichtet. Einige sehr ausführliche Studien über das englische Armenwesen waren von Felix Aschrott angefertigt worden. Als Strafrechtler und Mitglied des Deutschen Vereins setzte sich Aschrott unter anderem mit den Vorzügen der englischen Armenverwaltung auseinander, die er auf seiner Englandreise 1884–1885 persönlich kennenlernen konnte. Die Existenz einer Zentralarmenbehörde und die Beschäftigung besoldeter Armenbeamter für die höheren Verwaltungs- und Kontrollaufgaben hinterließen bei ihm einen positiven Eindruck.205 Einer der „Hauptvorzüge“ bestehe seiner Meinung 201 Ludovica Scarpa veranschaulich dies anhand des Beispiels der Berliner Luisenstadt, vgl. Scarpa, Gemeinwohl und lokale Macht. 202 Münsterberg, Zentralstellen, S. 1. 203 Felisch, Gedächtnisrede auf Stadtrat Dr. jur. Emil Münsterberg. 204 Vgl. hierzu Rudloff, Private Armenpflege und konfessionelle Wohltätigkeit im „profanen Diskurs“ des Kaiserreichs, in: Maurer/Schneider (Hrsg.), Konfessionen, S. 118–140, sowie vom Bruch, Bürgerlichkeit, S. 201ff. 205 Aschrott, Das englische Armenwesen, S. 382–391; vgl. auch ders., Die Entwicklung des Armenwesens Fortsetzungen, JGVV (1898), S. 441–504.

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nach in der Kooperation zwischen der öffentlichen und privaten Fürsorgetätigkeit. In Deutschland herrsche Chaos und Unklarheit, weil die Aktionen nie ineinandergreifen würden. In England hätte die private Wohltätigkeit mit den „Charity Organisation Societies“ eine „vorzügliche“ Organisationsform geschaffen, „welche zur Nachachtung und baldmöglichster Übertragung für Deutschland zu empfehlen sind.“206 Die erste COS war 1869 in London gegründet worden. Diese Organisationsform verbreitete sich daraufhin rasch in England und den USA. Zielsetzung der COS entsprach nach Ansicht führender Fachleute exakt den Anforderungen der modernen Wohltätigkeitsorganisation: „Zusammenfassung der Wohltätigkeitsbestrebungen und die Herbeiführung einer rationellen Fürsorge für den einzelnen Hilfsbedürftigen“207. Hilfe wurde nach dem Prinzip der Subsidiarität und Individualisierung gewährt, das heißt, ein Zentralausschuss koordinierte Distriktkomitees, deren Hauptaufgabe zunächst nur in der Vermittlung von Bedürftigen an entsprechende Wohltätigkeitseinrichtungen bestand. Rationale Organisationsprinzipien sollten Ordnung in das großstädtische Chaos bringen, doppelte Zuwendungen und Missbrauch von Fürsorgeleistungen vermeiden sowie Hilfe dort bereitstellen, wo sie am nötigsten gebraucht wurde. Die COS waren, egal wo sie eingerichtet wurden, die wichtigste Anlaufstelle für kommunale soziale Dienste.208 Dabei sollte erwähnt werden, dass die COS einst selbst als eine für die Belange der städtischen Privatwohltätigkeit stark angepasste Form des Elberfelder Systems in England etabliert worden waren.209 Somit wird deutlich, wie sich fürsorgebezogene Ordnungskonzepte stets im Fluss der internationalen Austauschprozesse befanden und sich wechselseitig beeinflussten. Die COS spielten nun umgekehrt in den Überlegungen, die deutsche „primitive Form der Armenverwaltungen“210 zu reformieren, eine wichtige Rolle. Die deutschen Fürsorgeexperten hatten „namentlich die englischen Charity-Organisationen im Auge, die ganz außerordentlich Bedeutendes auf diesem Gebiete leisten“211. Auf der Tagesordnung der Jahresversammlung 1891 des Deutschen Vereins stand der Punkt „Zusammenwirken zwischen öffentlicher Armenpflege und organisierter Privatwohltätigkeit“ ganz im Zeichen des Bedürfnisses, eine koordinierende Verständigung in der städtischen Fürsorgelandschaft herbeizuführen. Keine vereinheitlichende „Centralisation“ war in den Beschlüssen zu lesen, son206 Aschrott, Das englische Armenwesen, S. 391. 207 SDV 15 (1891), S. 79. 208 Vgl. hierzu die Rezeption auf dem internationalen Kongress 1889 in Paris, II. Congrès international d’assistance, S. 78ff. Siehe auch „Organisirte Wohlthätigkeit in London“, in: Sociale Praxis (1895), 27, S. 759f. 209 Zur Geschichte der COS und ihre Anlehung an das Elberfelder System siehe McCulloch, The Committee on Charitable Organization in Cities, in: National Conference of Charities and Correction, Official proceedings of the annual meeting (1880), S. 125ff. sowie ausführlich zur Geschichte der COS in London: Bosanquet, Social Work in London. 210 Münsterberg, Zentralstellen, S. 30. 211 Referat über das „Zusammenwirken zwischen ̈ffentlicher Armenpflege und organisierter Privatwohltätigkeit“, SDV 15 (1891), S. 79.

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dern die „Verschmelzung verwandter Bestrebungen durch Herstellung einer gemeinsamen Oberleitung“ sei anzustreben.212 Eine beidseitige Vertretung der öffentlichen und privaten Armenpflege müsse in der Leitung gewährleistet sein, wodurch letztlich ein geregelter Meinungsaustausch, Zusammenkünfte, gegenseitige Aufklärung und die Gründung von Auskunftsstellen erreicht werden solle. Darstellungen über die Londoner COS boten konkrete Lösungsansätze, wie das Zusammenwirken wohltätiger Einrichtungen, die Sammlung und Bereitstellung von Informationen sowie die Vermittlung von Bedürftigen organisiert wurde: Wenn es sich um die Organisation der privaten Wohltätigkeit in deutschen Städten handeln wird, dürfte die Charity Organisation Society mit ihrem fein functionirenden Mechanismus ein werthvolles Muster abgeben.213

Auch was die Frage nach einer Aufsichtsbehörde über die städtische Armenfürsorge anbelangte, rückte England in den Fokus. Die 1889 im Auftrage des Deutschen Vereins angefertigten Berichte über die „Aufsicht über die öffentliche Armenpflege“ stellten die Geschichte und Funktionsweise der in England seit 1834 existierenden staatlichen Zentralarmenbehörden (Poor Law Board beziehungsweise ab 1871 Local Government Board) dar.214 Die auf umfangreichem Material und Studienreisen beruhenden Untersuchungen hoben die Vorteile einer Armenbehörde hervor, deren Zweck in Anlehnung an die englische Verwaltung in der Aufsicht über die Fürsorgeeinrichtungen, im Durchführen von Inspektionen und in der Prüfung sowie Begutachtung der „Lokalarmenpflege“ bestehen sollte. Diese Reform sei in der Mehrzahl der deutschen Städte dringend notwendig, so die Referenten Huzel und Reitzenstein, wobei „die Einsetzung einer Centralarmenbehörde mit den Befugnissen der englischen Centralarmenbehörde“ [...] wünschenswert [erscheint]“.215 Eine solche Kontrollbehörde ließe sich jedoch nur verwirklichen, „wenn das Bedürfnis eines einheitlichen, rationellen Armenwesens zu allgemeiner Anerkennung in der öffentlichen Meinung Deutschlands gekommen ist.“216 Die Kritik am Fehlen von sachverständigen Aufsichtsorganen und Kontrollbeamten sowie an der unzureichenden Problemwahrnehmung in den städtischen Armenverwaltungen wurde auch durch das Beispiel des zentral organisierten öffentlichen Armenwesens in Frankreich untermauert. Reitzenstein hatte über die Generalinspektion der Wohltätigkeitsanstalten bereits 1881 in einer Studie über „Die Armengesetzgebung Frankreichs“ berichtet.217 Dort gab es, ähnlich wie in England, eine Zentralbehörde (Conseil Supérieur de l’Assistance publique), die dem Ministerium des Innern zugewiesen war und Aufsichts- und Reglementierungsfunktionen erfüllte. Diese sei, im Gegensatz zum englischen Local Govern212 Ebd. 213 „Organisirte Wohlthätigkeit in London“, in: Sociale Praxis (1895), 27, S. 759. 214 Zur Entwicklung des Local Government Board vgl. Thane, Locally Administered Social Services in England and Wales, 1871–1919, in: Heyen (Hrsg.), Bürokratisierung, S. 21–38. 215 Huzel/Reitzenstein, Aufsicht über öffentliche Armenpflege, SDV 8 (1889), S. 172. 216 Ebd. 217 Reitzenstein, Die Armengesetzgebung Frankreichs, S. 113–120.

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ment Board, ein „technisch geschultes aber wesentlich nur mit informativen Funktionen betrautes Organ“. Weitreichende und selbstständige Befugnisse wie die englische Behörde hatte sie nicht. Diese Form einer spezifischen „fachmännischen Kontrolle“ ohne weiterführende Kompetenzen erschien den deutschen Experten immer wieder als reizvoller Mittelweg, wenn man über behördliche Kontrollfunktionen beriet.218 Die Schaffung der Zentralarmenbehörde (Direction de l’Assistance et de l’Hygiène publiques) im Jahre 1886, deren Aufsichtsbefugnisse noch einmal erweitert wurden, sah man überdies als einen dynamischen Faktor bei der Herausbildung eines ‚obligatorischen‘ Fürsorgesystems. In diesem Zusammenhang blieb das Armenwesen Elsass-Lothringens mit seinen französischen Strukturen immer ein interessanter Blickpunkt. Nicht zufällig entwickelte sich hier das Straßburger System, das auch auf stärkere Zentralisierung setzte und besoldete Armenverwalter ganz ähnlich wie in den bureaux de bienfaisance einsetzte.219 Darüber hinaus weckte noch eine andere französische Einrichtung das Interesse der deutschen Auslandsbeobachter: Das Office central des Institutions charitables versuchte in Paris in Anlehnung an die COS ein Band zwischen Wohltätigkeitseinrichtungen des ganzen Landes zu knüpfen und durch wechselseitige Beziehungen die Dienstleistung zu koordinieren. Auffällig war daran außerdem, dass es mit ausländischen Einrichtungen, insbesondere den COS in England und den USA in Kontakt stand, von denen man Auskünfte organisatorischer und fürsorgebezogener Art bezog.220 Die erwähnten Beispiele verwiesen auf den Nachholbedarf der deutschen Fürsorgeorganisation. Hierbei muss allerdings gesagt werden, dass viele aus dem Ausland inspirierte Konzepte sehr unausgereift waren. Das hing unter anderem damit zusammen, dass die internationalen Debatten den spezifischen Filter der ‚deutschen Fürsorgekultur‘ durchliefen und an bestehende sozialpolitische Kontroversen anknüpften. Denn trotz der internationalen Reformansätze hinsichtlich Zentralisierung, Auskunft und Aufsicht war man sich überhaupt nicht im Klaren, ob ein „einheitliches Zusammenwirken“ oder „organisiertes Nebeneinander“ von Fürsorgebestrebungen mehr Vorteile mit sich brächte.221 Die internationalen Vorbilder dienten dabei als Fundgrube für Reformideen, wobei die systemischen Verschiedenheiten und die Fragen der Übertragbarkeit oftmals bewusst ausgeblendet wurden. Aufgrund fehlender Detailkenntnisse über die Funktionsweise etwa der englischen COS neigte man dazu, Informationen falsch zu interpretieren und deren Effektivität zu überzeichnen. Dass die COS eine perfekt eingespielte Verwal218 Ebd., S. 116. 219 Boldorf, Armenfürsorge, in: Scripta Mercaturae 29 (1995), S. 80–97. Zum Straßburger System vgl. auch Sachße, Mütterlichkeit, S. 36ff. und Schütter, Von der rechtlichen Anerkennung, in: Archiv für Sozialgeschichte 46 (2006), S. 87–106. 220 Münsterberg, Die Armenpflege, S. 87f.; ders., Zentralstellen, S. 47. Zu den Verbindungen mit den COS vgl. Topalov, Verständigung durch Missverständnis, in: Liedtke (Hrsg.), Religion und Philanthropie, S. 167ff. 221 B̈hmert, in Bezug auf die fehlenden Kenntnisse über die „Verbindung nichtamtlicher mit amtlicher Tätigkeit“ in Österreich und Italien. Vgl. Böhmert, Die Armenpflege, S. 78.

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tung steuerten war natürlich ebenso eine Übertreibung wie die Behauptung, dass ihr vollständig die „Unterdrückung des Bettels“222 gelungen sei. Die partiellen Kenntnisse über die ‚ausländischen Verhältnisse‘ hatten zur Folge, dass manche Vorzüge zweifellos übertrieben dargestellt wurden. Die Beschreibungen der Londoner COS ließen sich von den Zentralisierungsbefürwortern auf diese Weise leicht für die Forderung nach besserer administrativer Kontrolle des städtischen Fürsorgewesens instrumentalisieren. Dieselbe Dynamik trat in Bezug auf die von deutscher Seite oft hervorgehobenen bureaux de bienfaisance zutage. Diese waren in Frankreich nicht unumstritten223 – zumal die Besonderheiten dieser Einrichtungen nur vor dem Hintergrund der sozialpolitischen Auseinandersetzungen zu verstehen gewesen wären, welche das ‚Fürsorgesystem‘ in vielen französischen Städten beeinflussten.224 Umgekehrt wurde in Frankreich neben den COS auch stets das Elberfelder System angeführt, wenn es darum ging, die scheinbar erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen öffentlicher und privater Fürsorge in deutschen Städten vor Augen zu führen. 225 Genau dies konnte das traditionelle Elberfelder System aber nicht bewerkstelligen, da es gar nicht zu seinen primären Aufgabenstellungen gehörte. Ebenso wie das Elberfelder System in Deutschland hinsichtlich seiner Effizienz reformbedürftig war, dennoch im Ausland als mustergültig beschrieben wurde, konnte in Bezug auf die Aufsichtsbehörden umgekehrt eine interessengesteuerte Wahrnehmung vorliegen. Genau diese selektive, stark an spezifische Reformwünsche gekoppelte Darstellungsweise hatte letztlich dennoch den Effekt, dass das Thema der zentralen Aufsichts- und Auskunftseinrichtungen in den Fachdebatten an Bedeutung hinzugewann und ein gewisser Reformdruck in die Kommunen und speziell auch in die private Wohltätigkeit hineingetragen wurde. Die internationale Vernetzung erfüllte auch in diesem Bereich eine instrumentelle und persuasive Funktion, was als charakteristisch für die Zeit vor 1900 gelten darf. Nach der Gründung des internationalen Sozialreformer-Netzwerkes 1900 eröffneten sich neue Möglichkeiten des internationalen Austausches. Einen wesentlichen Beitrag zur sachorientierten Erweiterung der Kenntnisse über zentrale Auskunfts- und Aufsichtsbehörden leistete das internationale Kongresswesen. Die Zugänglichkeit von Verwaltungsakten und der regelmäßige, personalisierte Austausch zwischen den Fürsorgeexperten hatten zur Folge, dass die Rückständigkeit 222 Münsterberg, Zentralstellen, S. 46. 223 Neben dem Fehlen einer klaren Definition des Zuständigkeitsbereiches bemängelte Eugène Prévost in der Revue philanthropique außerdem, dass der anhaltende Konflikt zwischen den Vertretern der öffentlichen Armenfürsorge und derjenigen der Privatwohltätigkeit die Zusammenarbeit in den bureaux de bienfaisance lähme, vgl. Prévost, Rapport sur les bureaux de bienfaisance et la réforme du règlement modèle de 1876, in: RP XVIII (1906), S. 313–340, 486–489 und 557–560. 224 Zu den bureaux de bienfaisance und den Konfliktlinien zwischen der assistance publique sowie der katholisch geprägten bienfaisance privée vgl. einführend Maurer, Catherine, Das soziale Wirken der Katholiken in französischen Städten, Maurer, Michaela/Schneider (Hrsg.), Konfessionen, S. 235–255, insb. 247ff. 225 Vgl. „Les offices Centraux et l’Organisation de la Charité“, in: RP VIII (1900), S. 641–666.

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der deutschen Zentralisierungsbemühungen noch deutlicher zutage trat: In diesem Bereich „fallen wir vollständig aus“, gab Münsterberg auf der 21. Jahresversammlung des Deutschen Vereins 1901 in Hinblick auf das Fehlen einer „specialistischen Aufsicht“ in den deutschen Staaten zu verstehen.226 Er empfahl seinen Kollegen ausdrücklich das Studium der ausländischen Verwaltungsakten: Egal ob Landesinspektoren in Niederösterreich, die „Blaubücher“ des englischen Local Government Boards oder die regelmäßig erscheinenden, zwei- bis dreibändigen Dokumentationen der amerikanischen State Boards: „gerade in dieser Beziehung sind meines Erachtens die Nachrichten, die wir hierüber aus den fremden Ländern haben, außerordentlich interessant und beachtenswert.“227 Neue Einblicke brachten auch die internationalen Kongresse hervor. Schon auf der Veranstaltung von 1889 waren von Teissier du Cros, Loch und Rosenau die „soziale, moralische und finanzielle Überlegenheit“ der COS im Kampf gegen die städtische Armut anerkannt worden.228 Auf dem Kongress 1900 widmete man sich noch mehr der Frage nach der staatlichen Aufsicht und konnte mithilfe der vielen Spezialberichte auf eine breite Wissensgrundlage zurückgreifen. Die Unterschiede der einzelnen Länder wurden herausgearbeitet und festgestellt, dass sich die Bemühungen in Bezug auf eine verstärkte Kooperation der öffentlichen und privaten Fürsorge in die gleiche Richtung bewegten. Wie das Verhältnis des Staates zu eben diesen auszusehen habe und in welcher Form eine öffentliche Kontrollinstanz zu etablieren sei, wurde in den Kongressdebatten kontrovers diskutiert.229 Demnach sollte die Zusammenarbeit der öffentlichen und privaten Fürsorge dadurch erreicht werden, dass sich die privaten Einrichtungen unter die staatliche Aufsicht zu stellen hatten. Damit dieses Verhältnis nicht belastet sei, müssten umgekehrt größtmögliche Freiheiten garantiert werden: „Ce contrôle doit être simple, sincère, bienveillant, exempt de toute tracasserie“.230 Kommunale, reziprok bestückte Büros sollten die Aufgaben weltanschauungsfrei koordinieren – die Betonung der Neutralität ging auf die Versöhnungsabsicht zwischen den französischen Konfliktparteien der öffentlichen und privaten Fürsorge zurück. Auch einige deutsche Armenverwaltungen diskutierten diesen Weg, wenngleich Münsterberg einräumte, dass die Idee der kombinierten Zusammenarbeit gerade einmal im Ansatz („le commencement du commencement“) erreicht worden sei und eher von privaten Einrichtungen wie den „Auskunftsbüros“ in Dresden und Berlin forciert würde.231 In den abschließenden Thesen einigte man sich darauf, dass die Notwendigkeit einer koordinierten Zusammenarbeit gleichzeitig die Au-

226 SDV 56 (1901), S. 21. 227 Ebd., S. 23. 228 „En Angleterre, aux États-Unis, la coopération des administrations publiques et des sociétés privées ne soulève aucun heurt, aucun conflit, aucune méfiance“, so Strauss sich auf die Erkenntnisse der internationalen Kongresse von 1889, 1896 und 1900 beziehend: Strauss, Assistance sociale, S. 250 (Übersetzung des Zitats durch den Verf.). 229 Vgl. Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 1, S. 377ff. 230 Sabran, ebd., S. 386. 231 Ebd., S. 388f.

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tonomie der einzelnen Glieder wahren müsse und in Verbindung mit einer gemäßigten staatlichen Aufsicht in allen Ländern umzusetzen sei.232 Im Mittelpunkt der internationalen Debatten stand erstmals weniger die Idee, vorbildliche ausländische Einrichtungen zu kopieren, sondern vielmehr gemeinsame Prinzipien aus den Strukturvergleichen abzuleiten. Der Vorsitzende der Londoner COS Loch riet seinen internationalen Kollegen indes, sich nicht zu sehr auf die äußerlichen organisatorischen Gebilde wie die COS zu versteifen, sondern der eigentlichen praktischen Fürsorgetätigkeit mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Eine elaborierte soziale Theorie auf Basis rationeller und effizienter Methoden sei Grundlage einer modernen Armenfürsorge, nicht das bloße Organisieren. 233 Hierin kam die Einsicht zum Ausdruck, dass die Fürsorgeexperten die an sich wertvollen internationalen Vorbilder kontextbezogen und nach sehr unterschiedlichen Gesichtspunkten zu evaluieren hätten. Vor diesem Hintergrund ist auch die kritische Auseinandersetzung mit dem englischen Fürsorgewesen nach der Veröffentlichung der Ergebnisse der englischen Poor Law Commission (1905–1909) zu verstehen. Dort war Kritik an der Effektivität der bestehenden organisatorischen Prinzipien laut geworden. Besonders die Auseinandersetzungen über das Local Government Board wurden auch in Deutschland zur Kenntnis genommen, wo die englische Aufsichtsbehörde generell ein hohes Ansehen genoss und „unzweifelhaft eine große Festigkeit und Einheitlichkeit“ symbolisierte.234 Der niederländische Fürsorgeexperte Blankenberg, der für die Armenkommission als Sachverständiger tätig war, informierte im Kommissionsbericht zusätzlich über die Kooperationsbemühungen zwischen der freien Wohltätigkeit und den staatlichen Behörden in den Niederlanden. In seiner Beschreibung war unter anderem zu lesen, dass die niederländischen Wohltätigkeitseinrichtungen durch obligatorische Registrierung überwacht würden und sich diese Vorgehensweise bewährt hätte. Im Gegensatz zu Deutschland, wo die Zusammenarbeit der öffentlichen und privaten Fürsorge unsystematisch und ineffektiv sei, hätte diese Beziehung in den Niederlanden bereits einen fortgeschrittenen Zustand erreicht.235 Die deutschen Fürsorgeexperten nahmen diesen Bericht zur Kenntnis. Er befeuerte zusätzlich die Debatten über die Reformbedürftigkeit der deutschen Fürsorgeorganisation. Als man im Deutschen Verein noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs Ideen zu einem neuen Reichsarmengesetz ausarbeitete, flossen die neuesten Kenntnisse über das Local Government Board in die Überlegungen ein. Auch für die im Jahre 1914 angesetzte, kriegsbedingt erst 1915 durchgeführte Jahresversammlung des Deutschen Vereins waren die Bedingungen einer staatlich organisierten Aufsicht zentraler Verhandlungsgegenstand. In den Vorberichten 232 Ebd., S. 387f. 233 Ebd., S. 78. 234 SDV 100 (1913), S. 126. Zu den Hintergründen vgl. auch ZdA 10 (1909), 8, S. 225ff. Siehe auch Woodroofe, The Royal Commission on the Poor Laws, 1905–09, in: International Review of Social History 22 (1977), S. 137–164. 235 „Comparison of Foreign and British Methods of Administration“, in: Royal Commission, Report, S. 602ff.

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wurde eingefordert, sowohl die geschichtlichen Grundlagen als auch die Wirkungsweise der Vorbilder in England, Frankreich und den USA weiter zu studieren.236 Da sich die Grundlagen des ‚Fürsorgesystems‘ von England erheblich unterschieden, forderte man, die Kontrollbehörden mehr „von unten her“ aufzubauen und den übertriebenen Bürokratismus zu vermeiden.237 In allen Überlegungen zeigte sich der Wunsch, den Verhältnissen der kommunalen Selbstverwaltung gerecht zu werden. Als „Gerippe“ könnte man sich demnach die angelsächsischen Vorbilder vorstellen, nicht jedoch in direkter Übertragung, hieß es von Seiten des Deutschen Vereins. Dies betreffe vor allem das Local Government Board: Es würde die Interessen der Zentralbehörde und der Lokalverwaltung vereinen. Eine solche Einrichtung würde in Deutschland die administrative Kontrolle der Wohltätigkeit übernehmen und das Armensteuerwesen bestimmen, ferner hätte sie die Einstellungs- und Entlassungsbefugnis von besoldeten Beamten.238 Die Diskussion hielt sich bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges auf diesem kontroversen Stand und die Ideen zu einem neuen Reichsarmengesetz blieben Entwürfe. Im Kreise der deutschen Fürsorgeexpertise stand man den Forderungen des aufsehenerregenden Minderheitsberichtes, der die zentrale Zusammenführung und Oberaufsicht über alle für- und vorsorgebezogenen Aktionen vorsah, hingegen gespalten gegenüber. So entstanden zwar noch vor dem Ersten Weltkrieg einige institutionelle Ansätze im engeren Gebiet der Armenverwaltung und Wohltätigkeit.239 Die Entwicklung von Wohlfahrtsämtern, welche die bisherigen Debatten über Zentralisierung, Auskunft und Aufsicht zugunsten einer zentralisierten Wohlfahrtspflege ändern würden, erfolgte erst später. Entscheidend war jedoch, dass die hier geschilderten, vorausgehenden Ansätze und die jahrelangen Reformdebatten von der internationalen Vernetzung beeinflusst und vorangetrieben wurden. 7.3. Kommunale Umsetzungsversuche und internationale Vorbilder Wie dargestellt werden konnte, verlief die Debatte über zentrale Aufsichts- und Auskunftseinrichtungen ganz im Zeichen der großen Reformvorhaben des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts und berührten dabei unterschiedliche Ebenen und Fragestellungen des Armenwesens. Die folgenden institutionellen Umsetzungen waren nie ein direktes Abbild der Reformdebatten. Aus lokalen Initiativen heraus 236 237 238 239

Vgl. Kaftan/Blaum, in: SDV 102 (1914), S. 1ff. SDV 100 (1913), S. 127. Kaftan/Blaum, in: SDV 102 (1914), S. 6f. P. Krautwig, Organisation der Wohlfahrtspflege, S. 13. Die Frage nach Aufsicht über die private Wohltätigkeit und die Forderung nach Wohlfahrtsämtern erlebten während des Krieges weiteren Aufschwung, vgl. H. Bolzau, Wohlfahrtsämter; W. Polligkeit, Ziele und Formen bei der Zusammenfassung der freien Liebestätigkeit, in: P. Frank (Hrsg.), Vom Wesen, S. 100–118. Zur weiteren Entwicklung vgl. Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 2, hier das Kapitel „Fürsorgeentwicklung im Weltkrieg: Die Anfänge staatlicher Wohlfahrtspflege“, S. 46– 67.

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entstanden, waren sie mal privater, mal amtlicher, in jedem Fall experimenteller Natur. Als solche hinkten sie in mancherlei Hinsicht den Vorstellungen einer zentralisierten Aufsicht oder Auskunft hinterher. Trotzdem waren sie eine „planvolle Wohltätigkeits-Uebung“240 und sie hatten alle eine spezifische internationale Dimension, auf die im Folgenden der Fokus gerichtet sein wird. Eine Form der zentralen Auskunftstätigkeit bestand darin, städtische Verzeichnisse über die bestehenden Wohltätigkeitseinrichtungen anzulegen. In den großen Städten Europas und Nordamerikas gab es unzählig viele Wohltätigkeitsvereine. Die sogenannten Auskunftsbücher hatten die Aufgabe, Ordnung in die unübersichtlichen Verhältnisse zu bringen. Erstes Verzeichnis dieser Art war das Londoner Charities Register and Digest. In dieser seit 1888 jährlich erscheinenden Publikation wurden alle in London bestehenden Wohlfahrtseinrichtungen aufgelistet. In zusätzlichen Vermerken konnte man sich so über ihren Standort, Zweck und die vorhandenen Mittel informieren.241 Das Bedürfnis nach systematisierten und gedruckten Verzeichnissen mündete in Frankreich in einer ganz ähnlichen Publikation. La France charitable et prévoyante: tableaux des œuvres et institutions des départements hatte den ehrgeizigen Anspruch, Wohltätigkeitseinrichtungen aus der ganzen Republik aufzulisten.242 Aus diesem Grund sei es ein „wunderbares Buch, das als Vorbild für alle dienen sollte“243. Das Komitee der Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit legte in Anlehnung daran ebenfalls ein Verzeichnis von Wohlfahrtsanstalten und Vereinen in Berlin an. Es diente dazu, die Vermittlung an diejenigen Einrichtungen zu erleichtern, wo freiwillige Hilfskräfte gebraucht wurden. So wurde jungen Frauen der Weg geebnet, um mit bedürftigen Familien in „freundnachbarliche Beziehung“ zu treten – auch hier zeigt sich die Nähe zur Settlements-Idee.244 Vorbildlich war auch das detailreiche Auskunftsbuch der Auskunftsstelle der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur (Graubuch) in Berlin.245 Es kam 1896 erstmals heraus, sei das erste dieser Art und nur mit dem Bostoner Directory zu vergleichen.246 In den USA, so berichtete die Zeitschrift für das Armenwesen, hätte die „strenge, unbefangene, an sachlichen Kriterien orientierte Buch- und Registerführung“ neue Maßstäbe gesetzt: Maschinenschrift, Einfachheit der Formulare und eine gewisse „Fröhlichkeit“ seien „Züge praktischer Anpassung an die Bedürfnisse“, welche der „Psychologie amerikanischen Wesens charakteristisch erscheinen“.247 Die Beispiele belegen, dass man sich internationale Referenzpunkte 240 „Die Verbindung der Veranstaltungen für Armenpflege und Wohltätigkeit“, in: Sociale Praxis (1894), 52, S. 1021. 241 „Auskunft über Wohlfahrtseinrichtungen“, in: ZdA 1 (1900), 2, S. 5f. 242 „Paris charitable et prévoyant“, in: ZdA 1 (1900), 3, S. 9f. 243 Münsterberg, in: Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 1, S. 389. 244 JF 2 (1901), 8, S. 458. 245 Vgl. Auskunftsstelle der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur, Die Wohlfahrtseinrichtungen Berlins (Hrsg. von Herzfeld und Levy). 246 „Ein Auskunftsbuch über die Wohlfahrtseinrichtungen Berlins“, in: Zeitschrift der Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen (1896), 19, S. 239–241. 247 „Das amerikanische Armenwesen“, in: ZdA 7 (1906), 8, S. 228.

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schuf und die Herstellung neuer Sammelverzeichnisse förderte.248 Es wird außerdem deutlich, wie sich das Wissen über eine möglichst effektive Auskunft in Buch- und Registerform grenzübergreifend verband. Auskunftsstellen in Form einer örtlichen Institution gab es in deutschen Städten vergleichsweise wenig und galten als Desideratum. Alle Institutionen, die entstanden, hatten gewisse Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten zu den COS vorzuweisen, auf die sie sich teilweise explizit bezogen. Es war jedoch klar, dass eine so umfangreiche Tätigkeit wie die COS, die ja nicht nur als zentrale städtische Koordinierungsstelle, sondern auch mit wissenschaftlichen Publikationen und Ausbildungskursen in Erscheinung trat, in der heterogenen Fürsorgelandschaft der deutschen Städte nicht von einem einzigen Akteur umgesetzt werden konnte. Aus diesem Grund unterschieden sich alle deutschen Vorhaben dieser Art grundlegend: Entweder entstanden sie aus einer privaten Initiative heraus oder aus einem Zusammenschluss von Vereinen oder als Neugründung. Der Erfolg solcher Initiativen war sehr unterschiedlich. Die Strukturen passten sich stets an die Umstände der städtischen ‚Fürsorgekultur‘ an, welche die Wahrung der Unabhängigkeit und die Optimierung der Arbeitsformen miteinander zu versöhnen suchten. Hierbei wurde teilweise die Kooperation mit den städtischen Stellen angestrebt, teilweise stand allein die Privatwohltätigkeit im Mittelpunkt. Am nächsten kamen den COS die 1899 aus dem Institut für Gemeinwohl hervorgegangene Zentrale für Private Fürsorge in Frankfurt249 sowie die Auskunftsstelle der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur (seit 1906 Zentrale für private Fürsorge) in Berlin250. Die Gründerin der Berliner Einrichtung war Jeanette Schwerin. Sie war eine wichtige Persönlichkeit der bürgerlichen Frauenbewegung und beschäftigte sich mit unterschiedlichen Bereichen der Armenfürsorge. Auf einer Studienreise im Sommer 1894 in England und auf dem internationalen Frauenkongress in 1896 kam sie mit dem sozialreformerischen Umfeld im Ausland in Kontakt.251 Die Auskunftsstelle wurde mit der Absicht gegründet, alle diese Einzel-Aktionen in den einzelnen Bedürftigkeitsfällen zu einer Gesamtaktion zu vereinigen, ohne daß irgendeine der zahlreichen Wohlfahrtseinrichtungen dadurch in ihrer ei252 genen Tätigkeit beeinträchtigt und behindert werde.

248 Wie zum Beispiel beim 1910 erschienenen Auskunftsbuch Münsterberg/Hirschfeld/Kieschke, Anstaltsfürsorge in Deutschland. 249 Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft, S. 104ff.; Eckhardt, „Soziale Einrichtungen sind Kinder ihrer Zeit …“. Die Zentrale für Private Fürsorge war selbst wiederum Vorbild für ähnliche Einrichtungen etwa in Leipzig und Dessau, vgl. ZdA 6 (1905), 3, S. 83. 250 Auch hier zeigen sich internationale Verbindungslinien: Die Vorläufereinrichtung (Die Auskunftsstelle der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur) kam „unter ausdrücklichem Hinweis auf eine in Amerika bereits 1876 aktive ‚ethische Bewegung‘ zustande“, vgl. Degethoff Campos/Kuhls, Von der Armenpflege zum Sozialstaat, S. 16, sowie Schüler, Frauenbewegung, S. 187f. 251 Degethoff Campos, Jeanette Schwerin, S. 73–83, hier S. 75. 252 Zentrale für private Fürsorge E. V. in Berlin, Tätigkeitsbericht der Zentrale für private Fürsorge in Berlin, S. 11.

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Gustav Herzfeld betonte die Vorbildfunktion der COS für die Auskunftsstelle, wenngleich sich die „amerikanischen Verhältnisse“ nicht einfach übertragen ließen. Die amerikanische Einrichtung aber werden wir im Interesse eines tunlichst engen Zusammenarbeitens unserer Zentralstellen mit den hauptsächlichen Wohltätigkeitsvereinen nur mit regem Interesse weiter verfolgen 253 können.

Was die Materialsammlung und die Systematisierung der Informationen über Wohlfahrtseinrichtungen sowie die Auskunftserteilung anbelangte, leistete die Auskunftsstelle die Arbeit, wie sie von den COS bekannt war.254 Das bereits erwähnte Graubuch war Ausdruck dieser Gründlichkeit.255 Auch in anderen deutschen Städten wurde die Forderung nach einer stärkeren „Verbindung der Veranstaltungen für Armenpflege und Wohltätigkeit“ gestellt.256 Der Bezug zu ausländischen Einrichtungen, in denen der Zusammenschluss von Wohltätigkeitsvereine ohne Aufgabe ihrer Selbstständigkeit als mustergültig angesehen wurde, lag stets vor.257 In Hamburg etwa war der Wunsch nach „einer Sammelstelle für Nachrichten über die Unterstützten“ schon Anfang der 1890er Jahre artikuliert worden. Aufgrund des „starken Selbständigkeitstriebes“ und der „mangelnden Sachlichkeit“ der privaten und konfessionellen Einrichtungen war dies jedoch ein schwer zu bewältigendes Unternehmen. So dauerte es bis 1913, dass eine entsprechende Einrichtung auch in der Hansestadt erfolgte: „Die Vorbilder für solche Zentralen für private Armenpflege“, machte Otto Lohse deutlich, „sind die Gesellschaften zur Organisation der Wohltätigkeit in England und Amerika“.258 Für München diskutierte Karl Singer mit den im In- und Ausland bekannten Beispielen die Möglichkeit und Dringlichkeit der Einrichtung einer Verbindungsstelle, welche die öffentlichen und die in München stark ausgeprägten kirchlichen Fürsorgebestrebungen näher zusammenbringen würde.259 Die Übertragbarkeit der Kernidee der COS stand auch hier im Vordergrund seiner Überlegungen. In der 253 „Die Stellung der amerikanischen Wohltätigkeitsvereine“, in: ZdA 5 (1904), 3, S. 78ff., Zitat S. 84. 254 Hierzu gehörte insbesondere auch die aktive Beteiligung von Frauen an den Recherchen und der Erteilung von Auskünften, vgl. Degethoff Campos/Kuhls, Von der Armenpflege zum Sozialstaat, S. 26. 255 Vgl. ebd., S. 33ff. Die Arbeit der Auskunftsstelle wurde auch in Frankreich geschätzt und führte zu einer positiven Rezeption, vgl. „Le bureau de renseignement de Berlin“, in: RP XIII (1903), S. 285–291. 256 Eine Zusammenstellung über den Fortschritt der Bemühungen, städtische Wohltätigkeit und Armenpflege zu zentralisieren, findet man bei K. Huber, Die Zentralisierung der Wohltätigkeit und Armenpflege in deutschen Städten, S. 24ff. Vgl. ferner Sachße, Frühformen der Leistungsverwaltung. Die kommunale Armenfürsorge im deutschen Kaiserreich, in: Heyen (Hrsg.), Bürokratisierung, S. 1–20. 257 Vgl. Huber, Die Zentralisierung, S. 18f. und 23. 258 Lohse, Die Privatwohltätigkeit und ihre Organisation, S. 10. 259 Singer, Die Errichtung eines Instituts für Soziale Arbeit und die Organisation der Wohltätigkeit in München.

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zwischen 1906 und 1909 errichteten Auskunftsstelle für Wohltätigkeit und Armenpflege schlossen sich dann ca. 70 Vereine, aber auch Privatpersonen und wohltätige Unternehmen zusammen. Allerdings blieb der Erfolg, im Gegensatz zu Charlottenburg, das innerhalb des Deutschen Reiches als „Muster einer grossartig organisierten öffentlichen und freiwilligen Armenpflege“ galt, zunächst noch aus.260 Münchens Armenfürsorge kann als Beispiel für eine Entwicklung herangezogen werden, in welcher die „örtliche Wohlfahrtskultur“ – wie zum Beispiel „Verwaltungstraditionen, Wirtschafts- und Sozialgefüge, politische Herrschaftsverhältnisse, private Infrastrukturen und Einflussgrößen, Engagement und Aufgabenverständnis der Protagonisten“ – eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung kommunaler Fürsorgepolitik spielte. Finanzielle Rahmenbedingungen, Machbarkeitsfragen und die Eigenlogiken der in München überwiegenden konfessionellen Wohltätigkeitseinrichtungen schufen Innovationshemmnisse, so dass Wilfried Rudloff in seiner Studie zur „Wohlfahrtsstadt“ München zu dem Ergebnis kommt, dass die Stadt eine unauffällige Normalität widerspiegle.261 Mit der Münchner Auskunftsstelle wurde mühsam der Grundstein für eine engere Zusammenarbeit zwischen der öffentlichen Armenfürsorge und der privaten Wohltätigkeit gelegt, die sich allerdings erst mittelfristig entfaltete.262 In den Jahren nach 1905 machte sich eine generelle Verschiebung des Fokus bemerkbar, was die Rezeption ausländischer Zentralisierungsbestrebungen in der Armenfürsorge anbelangte. Die intensivierten internationalen Austauschbeziehungen ermöglichten eine gezieltere und sachorientiertere Auseinandersetzung mit der Thematik. Die französischen Fürsorgeinspektoren und die englischen COS blieben zwar als Vorbilder einer staatlichen Aufsicht beziehungsweise einer zentralisierten Koordination der privaten Wohltätigkeit bestehen. Zugleich rückten aber vermehrt auch die USA in den Blickpunkt, wo sich mithilfe der Fachexpertise innerhalb der COS neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Wohltätigkeitseinrichtungen entwickelten: die sogenannten Charity Buildings. Hieraus entwickelten Levy und Münsterberg den Plan, in Berlin aus der Auskunftsstelle beziehungsweise Zentrale für private Fürsorge ein „Zentralwohlfahrtsgebäude“ nach amerikanischem Vorbild einzurichten. Es hätte die Zusammenfassung der städtischen, kirchlichen und privaten Einrichtungen bezwecken sollen. Eine solche, explizit auch räumliche Vereinigung in einem großen Gebäude hätte einer260 Huber, Die Zentralisierung, S. 50f., Zitat zu Charlottenburg S. 32. Vgl. auch Rudloff, Die Wohlfahrtsstadt, Bd. 1, S. 478. 261 Rudloff hält außerdem fest, dass die historiographischen Leitkonzepte „Bürokratisierung, Zentralisierung und Professionalisierung“ in Bezug auf den Untersuchungszeitraum und das Fallbeispiel München nicht überschätzt werden dürften. Der große Teil der Wohltätigkeit in München wurde demnach von kleinen, ehrenamtlichen Vereinsstrukturen getragen: „Die Wohltätigkeitsvereine waren, in Selbstbild wie Alltagspraxis, weit weniger von Rationalisierungsmaximen beherrscht als von den ziemlich entgegengesetzten Ausgangspunkten einer ehrenamtlich-laienmäßigen, unbürokratisch-informellen, hochgradig dezentralisierten Hilfstätigkeit. Parzellierung und Individualisierung waren ihre dominierenden Kennzeichen, nicht Anstaltsmäßigkeit und Bürokratisierung.“ Rudloff, Die Wohlfahrtsstadt, Bd. 1, Zitate S. 480f. 262 Ebd., S. 481.

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seits den Vorteil gehabt, erhebliche Verwaltungskosten zu sparen. Andererseits wäre der Zeit- und Kräfteaufwand bei Vermittlungs- und Auskunftstätigkeiten erheblich reduziert worden.263 Münsterberg war auf seiner Amerikareise 1904 mit diesen Charity Buildings in direkten Kontakt gekommen und konnte sich von ihrer Nützlichkeit überzeugen.264 Trotz einiger Anläufe, die eine Zusammenfassung auf Ebene einzelner Stadtbezirke anstrebten265, blieb das Unternehmen aufgrund der Zersplitterung und Uneinigkeit der städtischen Fürsorgeakteure erfolglos.266 Seine Mentoren, Levy und Münsterberg, setzten sich dennoch unentwegt dafür ein: Denn auch die Errichtung eines Hauses nach Art der amerikanischen Charity Buildings, in welchem alle bedeutsamen Wohlfahrtseinrichtungen ihre Bureaus vereinigen, liegt so sehr in der Linie der von ihr angestrebten Ziele, daß die Zentrale nicht aufhören wird, für eine solche Errichtung zu wirken, wenn sie sich auch der entgegenstehenden großen Schwierigkeit voll 267 bewußt ist.

Letztlich scheiterte Münsterbergs „Lieblingsplan seiner letzten Jahre“: Die Schaffung eines Zentralgebäudes für Wohlfahrtspflege nach amerikanischem Vorbild habe keine „hinlängliche Opferwilligkeit“ gefunden, so dass hier die Grenzen der internationalen Übertragbarkeit veranschaulicht werden.268 Als dennoch „ideengeschichtlich wertvoll“ bezeichnete Anna Friedmann rückblickend die Versuche Münsterbergs, „die Wohlfahrtsbestrebungen im Raum Berlin zu vereinen“. Diese seien keinesfalls vergebliche Bemühungen gewesen: Die städtischen Einrichtungen, Vereine und Wohltätigkeitseinrichtungen waren in der Tat näher zusammen gerückt, außerdem nahm die Vereinigung der Wohlfahrtsbestrebungen in Charlottenburg, Schöneberg, Wilmersdorf schon vor dem Ersten Weltkrieg feste Gestalt 263 Lohse, Die Privatwohltätigkeit, S. 15f. 264 Den Stifter des Charity Building in New York, John S. Kennedy, lernte Münsterberg auf seiner Amerikareise kennen. Münsterberg sah den Vorteil in der Vereinigung der Geschäftsräume. Sie würden die Beziehungen beleben, den unmittelbaren Austausch vereinfachen, die Verkürzung der Wege auch für die Bedürftigen ermöglichen sowie Kosten senken. Es gehe dabei nicht um die „Verschmelzung“, sondern eine „bessere Fühlung und Verständigung“. Auch das Gebäude selbst hinterließ auf Münsterberg einen starken Eindruck: In New York wurde unter mithilfe der COS ein Gebäude mit Geschäftsräumen für mehr als „70 Vereine, vielen Sitzungszimmern, Telefon und Bibliothek“ bezogen. Vgl. Münsterberg in: ZdA 7 (1906), 8, S. 225ff. 265 In Charlottenburg kam eine erste „Vereinigung der Wohlfahrtsbestrebungen“ in einem Wohlfahrtshaus (vom Vaterländischen Frauenverein organisiert) zustande, in dem seit 1909 elf Vereine untergebracht waren. Vgl. Lohse, Die Privatwohltätigkeit u, 15f.; Huber, Die Zentralisierung der Wohltätigkeit, S. 32f. Zur Entwicklung der Armenfürsorge und Wohlfahrtspflege in Charlottenburg siehe Bergler, Von Armenpflegern und Fürsorgeschwestern, hier insb. S. 340–342, wo Bergler auf „[l]okale Initiativen und internationale Vorbilder“ aufmerksam macht. 266 Münsterberg hatte stets dafür geworben und jahrelang versucht, für das gesamte Berlin etwas Ähnliches umzusetzen. Er starb, als das „Ziel nahegerückt war“, vgl. ebd., S. 15. 267 Zentrale für private Fürsorge E. V. in Berlin, Tätigkeitsbericht der Zentrale für private Fürsorge in Berlin, S. 11. 268 Ebd.

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an.269 Obwohl die Zentralisierungsbestrebungen aufgrund wirtschaftlicher Bedingungen scheitern mussten, führten sie zu einer „halbwegs übersehbaren Zusammenfassung der Wohlfahrtsorgane“.270 Eine andere und unmittelbar erfolgreiche Einrichtung in Berlin war hingegen die Wohltätigkeitszentrale der Berliner Kaufmannschaft. Auch sie ging auf amerikanische Vorbilder, nämlich die „Prüfungsstellen für Wohltätigkeitseinrichtungen“, zurück. Hierbei ging es darum, die nicht mehr übersehbare Vereins-Wohlfahrtspflege schärfer als bisher unter die öffentliche Kontrolle zu nehmen und von einer unparteiischen Stelle aus den Versuch zur Einwirkung auf eine bessere Verteilung der zur Verfügung gestellten Mittel und Abstellung der mannigfachen 271 Mißstände zu machen.

In erster Linie handelte es sich um eine zentralisierte Aktion gegen das „Wohltätigkeitsfestunwesen“, wie die Ausrichtung von Basaren und Tombolas oder ähnliche Veranstaltungen bürgerlicher Wohltäter abfällig bezeichnet wurden. Die daraus erzielten sowie durch andere Zuwendungen und Geldgeschenke erworbenen Mittel wurden in der Wohltätigkeitszentrale der Berliner Kaufmannschaft fortan sorgfältig geprüft und zweckmäßigen Verwendungen zugewiesen. 272 Für die Zentrale für Private Fürsorge in Berlin, welche an ihrer Gründung mitgewirkt hatte und mit dieser eng zusammenarbeite, war die „Wohltätigkeitszentrale“ das „bedeutendst[e] Ereignis in der Geschichte unseres Vereins“ 273, weil sie dem städtischen Zentralisierungs- und Koordinierungsimpetus in angemessener Weise entsprach. Letztlich bleibt festzuhalten, dass der tatsächliche Umgang mit den jeweiligen internationalen Vorbildern stark an die örtlichen Gegebenheiten und die vorherrschenden ‚Fürsorgekulturen‘ gebunden war. Sowohl die Vorstöße in den Fürsorgedebatten als auch die regional sehr unterschiedlichen Institutionalisierungen vermittelten den Zentralisierungsgedanken als ein wesentliches Element der fürsorgebezogenen Rationalisierungsprozesse. Dieser Kerngedanke, der stets in internationalen Debatten und mit internationalen Kollegen geteilt und fortentwickelt wurde, hatte sich dennoch unabdingbar an den Prinzipien der Individualisierung und des Ehrenamtes zu messen, so dass auch hier das charakteristische Element der Fürsorgedebatten um 1900 zum Vorschein kommt: Die Gleichzeitigkeit und Überschneidung verschiedenartiger Leitkonzepte.

269 Huber, Die Zentralisierung, S. 32ff. und 54. 270 Friedmann, Emil Muensterberg, in: DZfW 4 (1930), 8, S. 465–467; Zitat bei Simon, Albert Levy, S. 7f. 271 „Eine neue Wohltätigkeitszentrale in Berlin“ von Gertrud Israel, in: ZdA 12 (1911), 4, S. 99f. 272 Vgl. hierzu Nitsch, Private Wohltätigkeitsvereine im Kaiserreich, S. 261f. und weiteführend über die „Vereinigung von Wohltätigkeitsbestrebungen im Berliner Raum“, ebd., S. 256ff. 273 Zentrale für private Fürsorge E. V. in Berlin, Tätigkeitsbericht der Zentrale für private Fürsorge in Berlin, S. 17.

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8. NEUE HERAUSFORDERUNGEN: DIE LEITKONZEPTE DER WOHLFAHRTSPFLEGE Die bisherigen Ausführungen verdeutlichen, dass grenzüberschreitende Austausch- und Vernetzungsprozesse auf die Leitkonzepte der Armenfürsorge stets einwirkten. Sie trugen zum sozialreformerischen Selbstverständnis bei und gaben der Fürsorgefachwelt eine klare Ausrichtung: Praxisorientierung, effiziente Verwaltung, sozialwissenschaftliche Methoden, Individualisierung der Armutsfälle und der Nachdruck auf einige traditionelle bürgerlich-sozialreformerische Werte waren die Stützpfeiler der international in weiten Teilen übereinstimmenden ‚Fürsorgekulturen‘. Vor allem in der Zeit nach 1900 lässt sich beobachten, wie die fürsorgebezogenen Leitkonzepte zunehmend an internationalen Maßstäben ausgerichtet wurden: We are not dealing with an empty phrase when we speak of universal principles, founded, not 274 upon territorial and local customs and conditions, but on human nature.

Dies war das Credo der Fürsorgeexperten. Gleichzeitig traten die immanenten Widersprüche der Armenfürsorge vor dem Hintergrund des um sich greifenden Rationalisierungs- und Ökonomisierungsimperativs immer weiter zutage. Eine neue Gruppe von Fürsorgeexperten erschien noch vor dem Ersten Weltkrieg und forderte die angestammten Denkweisen der bürgerlichen Sozialreform heraus. Sie vertraten eine „völlig veränderte Richtung der allgemeinen Weltanschauung“275. Diese fand in den Leitkonzepten der Wohlfahrtspflege (auch ‚Sociale Fürsorge‘) ihren stärksten Ausdruck. Als wichtige Gründe für die Entstehung der Wohlfahrtspflege-Leitkonzepte im gesamteuropäischen Kontext können genannt werden: Die fortschreitende Ausdifferenzierung und Professionalisierung von Fachgebieten der Fürsorge, die organisatorische und bürokratische Durchdringung des Sozialen und ein wachsendes Verständnis für die Hintergründe der konjunkturellen Schwankungen im Wirtschaftsleben.276 Unter Wohlfahrtspflege sind alle Bestrebungen von Staat und Gesellschaft zu verstehen, die sich zum Ziele setzen, in vorbeugender oder nachgehender Weise die Lebenshaltung der wirtschaftlich schwächeren Klas277 sen zu verbessern.

Darunter fallen alle institutionellen Unternehmungen „im Sinne der Verhütung von Klassenarmut“. In einem allumfassenden, staatlich gesteuerten Gesamtkonzept sollten demnach sämtliche Bereiche der öffentlichen Fürsorge durch eine 274 Henderson sich auf eine Aussage Münsterbergs beziehend, vgl. Henderson, Dependent, Preface. 275 Salomon, Soziale Frauenbildung, S. 1. 276 Zur Entwicklung der Armenfürsorge zur ‚sozialen Fürsorge‘ bzw. ‚Wohlfahrtspflege‘ vgl. Frohman, Poor Relief, ab S. 141ff.; Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 2, S. 15ff. und 46ff.; Sachße, Mütterlichkeit, hier: „Von der Fürsorge zur Wohlfahrtspflege“, S. 47ff.; Ritter, Der Sozialstaat, S. 46–103; J. Wilden, Die Entwicklung der Armenpflege zur Wohlfahrtspflege. 277 Aus einem Vortrag von Marie Baum, Über das wissenschaftliche Fundament der Wohlfahrtspflege, S. 1.

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Neuorganisation auf eine rationale Grundlage gestellt werden. Auf Basis von wissenschaftlichen, präventiven und kollektivistischen Prinzipien gehe es darum, „die Gesamtheit des Volkes in gute körperliche, geistige und sittliche-seelische Gesundheit zu bringen und darin zu erhalten.“278 Dies bedeutete zugleich die Zusammenführung beziehungsweise Zusammenlegung aller sozialpolitischen Maßnahmen in einem korporativen Gesamtgefüge. Dazu gehörten unter anderem das Gesundheitswesen, die Jugendhilfe, das Versicherungswesen sowie die öffentliche Armenpflege und private Wohltätigkeit.279 Die rechtliche Implementierung auf Staatsebene erlebte die Wohlfahrtspflege erst nach 1918, nachdem die kommunalen Fürsorgereformen280 auf der einen Seite und die ‚Kriegswohlfahrt‘ auf der anderen Seite maßgebliche Impulse geliefert hatten.281 Für die hier vorliegende Untersuchung sind die Leitkonzepte der Wohlfahrtspflege dennoch zu berücksichtigen, weil sie sich in den Fürsorgedebatten schon weit vor dem Ersten Weltkrieg herausbildeten.282 Besonders die Jahre nach 1900 kennzeichneten den Beginn einer Kontroverse innerhalb des Fürsorgeexpertentums. In ihr standen sich die Anhänger der traditionellen, bürgerlichsozialreformerisch geprägten Armenpflege und die Vordenker der Wohlfahrtspflege gegenüber.283 Neben organisatorischen und methodischen Aspekten kennzeichnete auch eine neue ethische Grundausrichtung das Denken der ‚progressiven‘ Fürsorgeexper278 H. Simon, Aufgaben und Ziele der neuzeitlichen Wohlfahrtspflege, S. 5. 279 Insbesondere die Literatur aus den 20er und 30er Jahren gibt viel Aufschluss über die Entstehungsbedingungen und Akteure, welche die Entwicklung zur Wohlfahrtspflege begünstigten, sowie über die Veränderungen, welche die Armenfürsorge und deren Selbstverständnis beeinflussten. Vgl. I. Arlt, Die Grundlagen der Fürsorge; W. Feld, Neue Strömungen in der Wohlfahrtspflege und Fürsorge; I. Jastrow, Die Gestaltung der Wohlfahrtspflege nach dem Kriege; Klumker, Fürsorgewesen; Salomon, Leitfaden der Wohlfahrtspflege; Simon, Aufgaben und Ziele; Wilden, Die Entwicklung; Wolfram, Vom Armenwesen; Wronsky, Die Vereinheitlichung der Wohlfahrtspflege. 280 Hierbei sei auf die Einflüsse des englischen ‚Municipalsozialismus‘ und die Ausweitung der Fürsorge im Sinne einer Arbeiterwohlfahrt hingewiesen, vgl. Sachße, Mütterlichkeit, S. 47f. Siehe auch F. Adickes, Die sozialen Aufgaben der deutschen Städte; H. Lindemann, Städteverwaltung und Munizipalsozialismus in England. 281 Zum Ausbau und zur inhaltlichen Bestimmung der Wohlfahrtspflege während des Ersten Weltkrieges vgl. Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 2, S. 46ff. 282 Dabei ist zu beachten, dass sowohl der Begriff Wohlfahrtspflege als auch die ihm zugrundeliegenden Leitkonzepte erst Anfang der 1920er Jahren klare Konturen erhielten. Davor waren sowohl die institutionelle Ausgestaltung als auch die Konzeptdebatten noch unausgereift. Das Handẅrterbuch der Staatswissenschaften publizierte erstmals 1911 einen Artikel über „soziale Fürsorge“, vgl. Wolfram, Vom Armenwesen, S. 69–114. Besonders wichtige Schriften vor 1914: H. Albrecht, Weltausstellung Paris 1900. Soziale Wohlfahrtspflege in Deutschland; ders., Handbuch der sozialen Wohlfahrtspflege in Deutschland; Erdberg, Die Wohlfahrtspflege. 283 Dieser ‚Generationenkonflikt‘ und die sozialpolitischen Auseinandersetzungen lassen sich anhand der Richtungsdebatten auf den Jahresversammlungen des Deutschen Vereins exemplarisch nachzeichnen. In dieser Form untersucht hat diese Larry Frohman, vgl. Frohman, The Break-Up of the Poor Laws – German Style, in: Comparative Studies in Society and History 50 (2008), S. 981–1009 sowie ders., Poor Relief, S. 196ff.

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ten. Ihrer Ansicht nach hatte die traditionelle Armenfürsorge ausgedient und sollte schrittweise abgelöst werden. Vor allem die Fürsorge für arbeitsfähige Bedürftige wurde von den Vertretern der neuen Ansichten kritisiert. Das moralistische Schuldprinzip und das darauf gründende Abschreckungsmodell würden jeder rationalen Grundlage entbehren. Die Vordenker der Wohlfahrtspflege forderten hingegen ein auf „Vernunft und Leistungsfähigkeit“284 beruhendes Erziehungs- und Vorsorgemodell, das auf die wirtschaftliche ‚Brauchbarmachung‘ und die soziale Eingliederung von Bedürftigen in einen neu verstandenen ‚Volkskörper‘ abzielte. In einem effizient organisierten und solidarischen Gemeinwesen, so der Kerngedanke, sei Armenfürsorge überflüssig. Damit stand die Wohlfahrtspflege für einen grundsätzlichen Wandel der ‚Fürsorgekultur‘ hin zu dem, was man als ‚Wohlfahrtskultur‘ beschreiben könnte. Die Akteure, welche mitunter im Rahmen der Forschungsdebatten über das ‚social engineering‘ Erwähnung finden285, können allerdings keiner einheitlichen Strömung zugerechnet werden.286 Dies gilt insbesondere für die deutsche Fürsorgeexpertise. Ihre progressive Fraktion setzte sich aus sehr unterschiedlichen Vertretern zusammen.287 Sie vereinte zweierlei: eine dezidiert professionellsozialwissenschaftliche Fachorientierung sowie eine ablehnende Haltung gegenüber den aus ihrer Sicht überkommenen sozialliberalen und sozialkonservativen Ordnungsprinzipien ihrer Vorgänger. Die meisten fielen jedoch, im Gegensatz zu vielen ihrer ausländischen Kollegen, weniger durch ein betontes parteipolitisches Engagement auf, wenngleich die Affinität einiger Akteurinnen zur Sozialdemokratie zur Geltung kam.288 Die kontroversen Debatten des Deutschen Vereins spiegeln diesen ‚Generationenunterschied‘ wider. In ihnen wird deutlich, wie zwei Weltanschauungen einander gegenübergetreten, ähnlich denen in der englischen Königlichen Armen-Kommission, wie sie in den Mehrheits- und Minderheitsberichten niedergelegt wur289 den.

284 Wilden, Die Entwicklung, S. 3. 285 In Stein, Die Verwissenschaftlichung, wird Wilhelm Polligkeit als ‚Prototyp‘ der neuen Sozialingenieure untersucht. Zu ‚social engineering‘ vgl. Etzemüller, Social engineering als Verhaltenslehre des kühlen Kopfes, in: ders. (Hrsg.), Die Ordnung der Moderne, S. 11–41. 286 So wurde in der Forschung zu Recht betont, dass sich hinter dem Wohlfahrtsstaat weder ein einheitlicher Plan, noch eine „normative Gründungsphilosophie“ verbargen. Daher gestaltet es sich in Hinblick auf die deutsche Sozialreform schwer, einzelne Strömungen verallgemeinernd einzuordnen. Auf die Vielfältigkeit der politischen Denkrichtungen verweist Christoph Conrad: Conrad, Die Sprachen des Wohlfahrtsstaates, in: Lessenich (Hrsg.), Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe, S. 55–72, hier S. 57. 287 Allgemein über progressive Reformermilieus im Deutschen Reich vgl. vom Bruch, Bürgerlichkeit, S. 166–272; Frohman, The Break-Up, in: Comparative Studies in Society and History 50 (2008), S. 981–1009, hier: Germany and the progressive movement, S. 988ff.; ders., Poor Relief, S. 196ff.; Chr. May, Poverty in Transnational Discourses: Social Reformer’s Debates in Germany and the Netherlands around 1900, in: Althammer/Gestrich/Gründler (Hrsg.), The Welfare State, S. 21–41; Repp, Reformers, hier vor allem S. 215ff. 288 Zum Beispiel bei Helene Simon, Adele Schreiber und Dorothea Hirschfeld. 289 K. Schwarz, Rechtliche Fürsorge für die von Jugend an körperlich Gebrechlichen, S. 94. Besonders deutlich treten die Unterschiede zwischen den mehrheitlich sozialliberalen bis

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Zu den progressiven Denkern im weiteren Kreise des Deutschen Vereins, wenn auch in sehr unterschiedlicher Ausprägung, zählten beispielsweise Adolf Buehl, Alice Salomon, Christian Klumker, Dorothea Hirschfeld, Helene Simon, Johannes Petersen, Karl Flesch, Karl Thode, Kurt Blaum, Max Taube, Rudolf Schwander, Siddy Wronsky und Wilhelm Polligkeit. Sie artikulierten ihre Reformvorschläge weniger in einem großen einheitlichen Denksystem, sondern eher in punktuellen, klar formulierten, anwendungsbezogenen Reformimpulsen: Einführung eines gesetzlich verankerten Unterstützungsanspruchs, Schaffung von Aufsichtsbehörden im Sinne von Wohlfahrtsämtern, Absonderung und Zentralisierung der Jugendfürsorge, Reform beziehungsweise Abschaffung des Elberfelder Systems sowie die Einführung einer Mutterschaftsversicherung, um nur einige Beispiele zu nennen.290 Als der Minderheitsbericht der englischen Armenkommission dann international publik wurde, konnten sich viele dieser Fürsorgeexperten leicht mit seinen zentralen Ideen identifizieren.291 Auch wenn eine unmittelbare Umsetzung nicht erreicht werden konnte beziehungsweise auf einigen Widerstand stieß292, gestand man dem Minderheitsbericht einen hohen sozialwissenschaftlichen Wert zu. Auch die Reformdebatten und Reforminitiativen des Auslandes, welche auf die Ausweitung der Wohlfahrtspflege abzielten, wurden von der deutschen Fürsorgefachwelt genauestens begleitet. Hierzu zählten beispielsweise die französischen Gesetze zur staatlichen Kontrolle über die Kinderfürsorge und zur obligatorischen Kommunalunterstützung in Fällen ‚allgemeiner unfreiwilliger Arbeitslokonservativen Sozialreformern und den progressiven Wohlfahrtspflege-Vordenkern der unterschiedlichen politischen Strömungen in den kontroversen Debatten des Deutschen Vereins der Jahresversammlungen von 1905 (SDV 73), 1911 (SDV 96), 1912 (SDV 99) und 1913 (SDV 101) hervor. Im Zentrum der Debatten stand vor allem die Überlegung, welche Rolle die Armenfürsorge im Verhältnis zur Sozialpolitik spielen sollte. 290 Es würde den Rahmen der Untersuchung sprengen, auf alle Einzelaspekte einzugehen. Vgl. exemplarisch Klumker, Die Mängel des deutschen Armenwesens, in: Delbrück (Hrsg.), Preußische Jahrbücher 123 (1906), S. 463ff.; ders., Neure Strömungen, in: Kritische Blätter für die gesamten Sozialwissenschaften 2, 1906, S. 3–6; Feld, Neue Strömungen. Einige Arbeiten aus Reihen des Deutschen Vereins, wo diese ‚neuen Str̈mungen‘ in Form von Reformvorschlägen anklingen: „Die heutigen Anforderungen an die ̈ffentliche Armepflege im Verhältnisse zur bestehenden Armengesetzgebung“ (Buehl/Schwander u. a.), SDV 73 (1905); „Berufsvormundschaft“ (Petersen/Klumker), SDV 81 (1906); „Mutterschutz und Mutterschaftsversicherung“ (Salomon), SDV 83 (1907); „Die gesetzliche Regelung der Aufgaben der öffentlichen Armenpflege“ (v.a. der Mitbericht von Thode), SDV 97 (1912). 291 Vgl. hierzu auch Krug von Nidda, Beziehungen der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege in Deutschland in der Epoche des Übergangs von der Armenpflege zur Fürsorge, in: Muthesius (Hrsg.), Beiträge zur Entwicklung der deutschen Fürsorge, S. 164f. und S. 178ff. 292 Klumker erwähnte verschiedentlich, dass seine Ansichten im Deutschen Verein nur auf wenig Verständnis stießen und machte dafür die konservativen Positionen seiner Kollegen verantwortlich: „Ebenso war u. a. die Stellung des Vereins zu der Frage der Reform der Armengesetze, wo man viele Mißstände sah und beklagte, aber vor ernsten Änderungen doch aus dem Gefühl zurückschreckte, daß man damit sich auf unsicheren, schwankenden Boden begebe, wo das Ende nicht abzusehen sei.“ Klumker, Neure Str̈mungen, in: Kritische Blätter für die gesamten Sozialwissenschaften 2, 1906, S. 3. Zur ‚progressiven Minderheit‘ im Deutschen Verein vgl. auch Feld, Neue Strömungen, S. 11ff.

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sigkeit‘ oder die englischen Reformen zur Alters- und Arbeitslosenversicherung.293 Es gilt zu betonen, dass die angestrebten Reformen zwar die Verdrängung294 oder „Verstaatlichung“295 der bürgerlichen Sozialreform verstärkte und langfristig auch erwirkte. Allerdings unterschätzt der Blickpunkt, welcher die Herausbildung und spätere Verfasstheit des Wohlfahrtsstaates als Ausgangspunkt nimmt, die Gleichzeitigkeit und Verschränkung ambivalenter Fürsorgekonzeptionen sowie die Richtungskämpfe, Kontroversen und Spannungen, welche die Auseinandersetzungen der Fürsorgeexperten in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg prägten.296 Einige dieser Auseinandersetzungen veranschaulichen, wie die Leitkonzepte der Armenfürsorge von den Befürwortern einer ausgeweiteten Wohlfahrtspflege herausgefordert wurden. Internationale Vernetzung spielte in diesem Spannungsverhältnis eine außerordentlich wichtige Rolle. Sie ist in beiden Lagern anzutreffen, jedoch auf sehr unterschiedliche Weise: Während ‚internationale Verbundenheit‘ für die einen ein wesentliches Bestandteil ihrer Selbstbehauptung darstellte und diese in Form des internationalen Kongresswesens mit Leben erfüllte, diente ‚Internationalität‘ für die anderen ‚lediglich‘ als eine Form der sozialpolitischen Wissensproduktion. 8.1. Kollektive Vorsorge statt individuelle Fürsorge Ein bedeutender Wandel vollzog sich hinsichtlich des Stellenwerts, dem man Vorsorgekonzepten gegenüber der Armenfürsorge als letzte Abhilfe einräumte. Der Vorsorgegedanke war keineswegs neu. Die Hygienebewegung hatte Vorsorge als Prinzip am schnellsten über die reine Fürsorge hinausentwickelt. Die sozialpolitische Abfederung des Krankheitsrisikos mittels Krankenversicherung und Gesundheitsfürsorge fand darin seinen klarsten Ausdruck, wobei die internationalen Wechselwirkungen auch speziell in dieser Entwicklung nachgewiesen worden sind.297 Während man in der Arbeiterpolitik oder Gesundheitspflege schon früh 293 Vgl. hierzu die ausführlichen Berichte (Auswahl) über „Die Armenpflege in Frankreich“ etwa in: ZdA 7 (1906), 2, S. 33ff., ZdA 11 (1910), 4, S. 99ff. und ZdA 13 (1912), 1, S. 28ff. sowie „Die Reform des englischen Armenwesens“, in: ZdA 5 (1904), 10, S. 289ff., ZdA 9 (1908), 1, S. 1ff., ZdA 10 (1909), 2, S. 33ff. und ZdA 11 (1910), 10, S. 291ff. 294 Sachße, Mütterlichkeit, S. 263. Auf S. 92 spricht Sachße auch von einem ‚Zerfallsprozess‘ dieser spezifisch bildungsbürgerlich geprägten Reformkraft. 295 Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft, S. 417. 296 Frohman plädiert dafür, die kontroversen Reformdebatten und Reformvorschläge im Deutschen Verein als „missing link“ zwischen der Geschichte der Armenfürsorge und der Geschichte des Wohlfahrtsstaates zu betrachten, Frohman, The Break-Up, in: Comparative Studies in Society and History 50 (2008), S. S. 981. 297 Ritter, Sozialversicherung in Deutschland und England, S. 83f.; Tennstedt, Anfänge sozialpolitischer Intervention, in: ZfS 29 (1983), S. 631–648, hier S. 640. Zur Entwicklung gesundheitlicher Vorsorgekonzepte und ihren wissenschaftlichen Begründungen vgl. Labisch/Tennstedt, Prävention und Prophylaxe, in: Elkeles (Hrsg.), Prävention und Prophylaxe,

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dazu übergegangen war, Prophylaxe und Prävention in Form von Renten, Versicherungswesen oder Hygienemaßnahmen zu propagieren298, fand das Vorsorgeparadigma im engeren Bereich der Armenfürsorge lange Zeit noch keine klare inhaltliche Bestimmung. Das hing mit der Vorstellung zusammen, dass die Armenfürsorge stets den ‚Rest‘ derjenigen Bedürftigen aufzufangen habe, denen auf keine andere Weise mehr geholfen werden könnte. Eine so konzeptualisierte Armenfürsorge berührte die Fragen der aus ihr heraus entstandenen Bereiche von Versicherung und Vorsorge, klammerte sie dann jedoch immer wieder als eigentlich nicht zugehörig aus.299 Die folgenden Abschnitte beleuchten einige Überlegungen der Fürsorgefachwelt in Bezug auf das Verhältnis von Fürsorge- und Vorsorgestrategien. Dabei steht nicht die Entwicklung staatlicher Vorsorge- und Versicherungskonzepte im Vordergrund, sondern das ‚Leitkonzept Vorsorge‘ im Rahmen der Armenfürsorge und dessen Interpretation durch die Fürsorgepraktiker. Anhand der Debatten der internationalen Kongresse lässt sich beobachten, wie die Idee der Armutsprävention lange am Ideal der individualisierenden Armenfürsorge alten Typs ausgerichtet blieb und dadurch von den Maßnahmen der Wohlfahrtspflege getrennt betrachtet wurde. Was die Fürsorgeexperten in den 1880er und 1890er Jahren unter Vorsorge verstanden, wurde auf dem internationalen Kongress 1889 in Paris deutlich. Dort brachte Loch auf den Punkt, was die neuen Strömungen der Armenfürsorge kennzeichnen würde: „Le but de la charité est de prévenir le paupérisme“, gab er in seinem Vortrag zu verstehen und erklärte zugleich die eigentliche Bedeutung von „prévenir“: Überwindung des Almosenprinzips, Erziehung durch Arbeit und zum Fleiß, sowie die Organisation einer effizienten Armenverwaltung, wie sie in den COS realisiert und als internationales Vorbild anerkannt wurde.300 Das Elberfelder System galt in diesem Zusammenhang ebenfalls als methodischer Orientierungspunkt dieser Lehre. Darin definierte man Vorsorge als Prinzip der individuellen Selbsthilfe, welche die ehrenamtlichen Armenpfleger zu vermitteln hatten. Die Ausführungen Lochs lesen sich wie eine Programmschrift des sozialliberalen Reformergeists, der in diesen Jahren die Hoheit über die Fürsorgedebatten gewann. Ein anderes Verständnis vertrat hingegen der böhmische Kongressteilnehmer Palacky auf derselben Veranstaltung. In einer Diskussion über Arbeiterkolonien, S. 13–28; die Beiträge von A. Labisch und G. Göckenjan (Aspekte der Gesundheitspolitik im 19. Jahrhundert) in: Sachße/Tennstedt (Hrsg.), Soziale Sicherheit, S. 265–285 sowie 286– 304; Sachße, Mütterlichkeit, S. 91ff. In Verbindung mit der Frauenbewegung: Frevert, Fürsorgliche Belagerung, in: GG 11 (1985), S. 420–446. Zur Entwicklung und internationalen Rezeption von Versicherungskonzepten vgl. ferner: Metz, Geschichte der sozialen Sicherung, hier u. a. S. 61f., S. 64, S. 70, S. 76; Ritter, Der Sozialstaat, S. 87ff. insb. S. 99ff; Rodgers, Atlantiküberquerungen, insb. S. 246ff.; vgl. auch Hennock, The origin of the welfare state. 298 Zur sukzessiven Ausbreitung von Pflichtversicherungen, freiwilligen Versicherungen und anderen gesetzlich verankterten Vorsorgestrategien in den europäischen Ländern vgl. Ritter, Der Sozialstaat, S. 89. 299 Zur Trennung von Arbeiter- und Armenpolitik, die durch die Arbeiterversicherungsgesetzgebung hervorgerufen wurde, vgl. Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 1, S. 257ff. 300 Loch, De l’organisation de l’assistance, in: Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 54.

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die sich auf die Frage nach der Scheidung von Arbeitswilligen und Arbeitsunwilligen versteifte, forderte er die Regierungen auf, durch präventive Maßnahmen mehr gegen die wirtschaftlichen Krisen zu unternehmen: Ein Büro für Arbeitsstatistik sowie zur Produktionskontrolle seien notwendig, ebenso wie eine staatlich organisierte Arbeitsvermittlung.301 Mit dieser Ansicht stand der österreichische Delegierte allein auf weiter Flur. Dies war weniger deshalb der Fall, weil seine Kollegen dem Standpunkt nicht etwa hätten zustimmen können, sondern nur aufgrund der vorherrschenden Meinung, dass sich Armenfürsorge nicht vorrangig um das Problem der arbeitsfähigen Bedürftigen zu kümmern habe. Die Armenhilfe sei vor allem für solche Menschen gemacht, die der Hilfe ‚würdig‘ seien – auch in diesem Zusammenhang galt das Elberfelder System als Vorbild für eine sachgemäße Anwendung einer rationalen Typisierung von Bedürftigen.302 Ein fast identischer Vorfall ereignete sich auf dem Wohltätigkeitskongress 1893 in Chicago. Damals gab der österreichische Nationalökonom Kobatsch hinsichtlich der Anwendung des Elberfelder Systems in Wien zu bedenken: The best of all would probably be no poor relief at all; that is to say, such a perfect social policy as to all the economic conditions closely allied to poor relief – protection and insurance of artisans, manual and intellectual laborers, complete development of benefit societies (Genossenschaften), guardianship laws (Entmündigungsgesetze), etc., that the causes of poverty 303 would disappear.

Des Weiteren führte er für diese Denkweise ein Argument ins Feld, das seinerzeit in den Fürsorgefachkreisen kaum Erwähnung fand: „That lack of employment, and not merely aversion to work, is often the cause of poverty will probably not be denied.“304 Wie schon bei seinem Vorgänger Palacky auf dem Kongress 1889 stießen diese Ausführung auf ein geringes Echo, so dass er selbst eingestehen musste: „But these ideals can hardly even be approached in the present state of society.“305 Während die Präventionskonzepte im Sinne von Arbeitsbeschaffung zunächst nicht über den Status von Vorfeldbemerkungen hinaus kamen, blieben die von Loch geäußerten Ansichten über Vorsorge dominant und prägend für die Fürsorgedebatten der kommenden Jahre. Hierzu gehörte insbesondere die Ansicht, dass die öffentliche Armenfürsorge sich in den notwendigen Maßnahmen zum ‚Schutz der Gesellschaft‘ zu begrenzen habe. Hilfe fördere ohnehin die Entstehung von noch mehr Hilfsbedürftigkeit (‚administrative Produktion von Armut‘), weshalb vor allem die organisatorische und armenpflegerische Qualität statt deren Quantität verbessert werden müsse.306 Effizienzsteigerung im bestehenden ‚Fürsorgesystem‘, Praxisorientierung und Individualisierung waren folglich auch auf den nächsten internationalen Kongressen die wichtigsten Leitkonzepte, während 301 Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 310 und Bd. 2, S. 50. 302 So die Positionen von Teissier du Cros, Loch et Rosenau in: „De l’organisation méthodique de la bienfaisance“, in: Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 51ff. 303 General Exercises of the International Congress 1893, Bd. 1, S. 245. 304 Ebd. 305 Ebd. 306 Loch ausführlich in: Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 51ff. und 69ff.

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die Versicherungspolitik, wie sie etwa im Deutschen Reich etabliert worden war, oder die arbeitsvermittelnde Maßnahmen, wie sie um 1900 verstärkt in den Fokus sozialpolitischer Debatten rückten, nur am Rande behandelt wurden. Erste Veränderungen des Vorsorgeverständnisses waren auf dem Kongress 1900 in Paris zu beobachten. Paul Strauss konstatierte den erfreulichen Trend, dass die Themenbereiche der Armenfürsorge, Hygiene und Vorsorge stärker zusammenwachsen würden und hob die Bedeutung der internationalen Debatten für eben diese Entwicklung hervor: „Les congrès ne valent pas seulement par les résolutions votées, mais encore l’échange de renseignements.“307 Auf dem internationalen Kongress 1906 in Mailand ordnete man der Thematik dann erstmals eine eigenständige Fragestellung zu. In der fünften Kongresssektion ging es darum, das Verhältnis zwischen Armenfürsorge auf der einen und den präventiven Versicherungskonzepten auf der anderen Seite auszuloten.308 In dem Vortrag „Soziale Versicherung und Armenpflege“ räumte der Referent Rudolf Riemer ein, dass zwischen der Armenfürsorge und dem Vorsorgesystem des Versicherungswesens durchaus eine ‚innere Verwandtschaft‘ bestehe. Eine gewisse Entlastung der Armenfürsorge sei beispielsweise im Deutschen Reich zu beobachten, wo es seit den 1880er Jahren eine Kranken-, Invaliditäts- und Rentenversicherung gab. Dennoch hätten Mängel in der Durchführung und Lücken in der Ausgestaltung noch nicht zu den gewünschten Ergebnissen geführt. Riemer koppelte die über dasselbe Thema geführten Debatten des Deutschen Vereins unmittelbar an die Fragestellung des Kongresses und trug auf diese Weise zur Vernetzung des aktuellen Wissensstandes bei.309 Die Ergänzung der bestehenden Fürsorgeleistungen um ein Versicherungssystem sei generell eine erstrebenswerte Richtung, stünde jedoch noch am Anfang, so der Grundtenor der anderen Referenten des Kongresses von 1906. Weitergehend zu beachten gelte es in erster Linie solche Vorsorgekonzepte, welche die armenpflegerische Praxis im engeren Sinne verbessern würden. Individualisierung blieb damit der Leitsatz, die Trennung zwischen Armenund Arbeiterpolitik wurde wieder deutlicher hervorgehoben.310 Eine besonders skeptische Haltung gegenüber den Versprechungen der Vorsorgepolitik vertrat hingegen Henderson auf dem Kongress. Der amerikanische Sozialwissenschaftler rügte die „Enthusiasten“, die in der breiten Öffentlichkeit

307 RP XIX (1906), S. 411f. 308 Recueil des travaux du congrès 1906, Bd. 5, S. 1ff. 309 Riemer, Soziale Versicherung und Armenpflege, in: Recueil des travaux du congrès 1906, Bd. 5, S. 67ff. Zu den Untersuchungen des Deutschen Vereins zu den Auswirkungen der Arbeiterversichung auf die Armenfürsorge vgl. u. a. „Armenpflege und Arbeiterversicherung“ SDV 21 (1895) sowie „Die Armenpflege in ihren Beziehungen zu den Leistungen der Socialgesetzgebung“ SDV 29 (1897). 310 Vgl. den Beitrag vom italienischen Referent A. Osimo, „Von der Wohltätigkeit zur Vorsorge“ („Della Beneficenza alla Previdenza“), in: Recueil des travaux du congrès 1906, Bd. 5, S. 49ff. Osimo untersützte die Idee der immer präziseren Prüfung und Individualisierung der Fälle, um dadurch allmählich die gegebenen Hilfeleistungen punktuell durch vorbeugenden Maßnahmen ablösen zu können.

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bereits die Abschaffung der Arbeitshäuser und der privaten Wohltätigkeit unmittelbar nach der Einführung eines Versicherungssystems prophezeien würden: C'est un espoir illusoire sans fondation, optimisme dangereux, comme est toute erreur. Le besoin de maintenir l’assistance publique et privée est occasioné par l’existence d’une grande classe de personnes faibles, défectueuses, anormales, aliénées, idiotes, à la santé ruinée par de vices, ou démoralisées par des habitudes criminelles. Beaucoup de causes de misère se trou311 vent dans les conditions heréditaires du corps et de l’esprit et dans les conditions sociales.

Er verwarf die Versicherungsgesetzgebung zwar nicht vollständig. Arbeiterschutz, Krankheits- und Unfallversicherungen könnten demnach schrittweise auch in den USA eingeführt werden, wofür er sich persönlich auch einsetzen möchte. Ein direkter Zusammenhang zwischen Minderung der Armut und Versicherungswesen sei jedoch nicht erkannt worden, weshalb er auch künftig eine strikte Scheidung zwischen Arbeiter- und Armenpolitiken empfahl.312 Die Debatte entwickelte sich in der Folgezeit auch in Deutschland weiter.313 Einzelne Studien, wie zum Beispiel über „Mutterschutz und Mutterschaftsversicherung“ von Alice Salomon, rückten die Ideen einer sukzessiven Ausweitung der Vorsorgeeinrichtungen im weiteren Rahmen der Armenfürsorge noch stärker in den Fokus des Deutschen Vereins.314 Hierin kam stets eine ambivalente Haltung zum Ausdruck. Einerseits befürwortete man die Ergänzung beziehungsweise Entlastung der Armenfürsorge durch versicherungspolitische Maßnahmen oder Arbeitsvermittlung. Auch die Übernahme von kollektiven Vorsorgemaßnahmen durch einige Teilbereiche des Armenwesens wurde begrüßt. Andererseits hoben viele Experten die notwendigen Restbereiche sowie den eigenständigen Wert des Armenwesens hervor und verzichtete dabei nicht auf Polemik: „Soziale Hilfe ist gut, individuelle Hilfe ist besser.“315 Trotz der progressiven Kritik hielten die traditionellen Sozialreformer sowohl im Deutschen Verein als auch im internationalen Kongresswesen letztlich an der Ansicht fest, dass die Armenfürsorge in den vorgelegten Bahnen fortzuentwickeln und anzupassen sei. Dazu gehörten zwar „Maßnahmen zu ihrer Verhütung“316, aber darunter verstand man in erster Linie sicherheitsbezogene Maßnahmen, wie etwa eine Reform des Bürgerlichen Gesetzbuches, welche die Entmündigung von Trinkern oder die Zwangserziehung

311 Henderson, ebd., S. 45. 312 Ebd., S. 46. 313 Zu den kontroversen Debatten im Deutschen Verein über die Ausweitung sozialpolitischer und präventiver Fürsorgemaßnahmen und zur strittigen Frage, welche Rolle die Armenfürsorge dabei spielen sollte vgl. die Jahresversammlungen von 1901 (SDV 56) und 1905 (SDV 73). 314 Salomon, Mutterschutz und Mutterschaftsversicherung, SDV 84 (1908). Auch schon auf dem Mailänder Kongress wurde das Thema von Adele Schreiber präsentiert, vgl. Schreiber, La protection de la mère et l’assurance maternelle, ebd., S. 83ff. und Braune, Konsequent den unbequemen Weg gegangen, S. 162ff. 315 Weber, Armenwesen und Armenfürsorge, S. 116. 316 Buehl, Das Armenwesen, in: Weyl (Hrsg.), Soziale Hygiene, S. 169ff.

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von Kindern ermöglichen sollte.317 Maßnahmen gegen die „unverschuldete Arbeitslosigkeit“, hieß es in dem von Adolf Buehl verfassten Artikel im Handbuch der Hygiene von 1904, seien Ziel einer „verständigen Sozialpolitik.318 Die internationalen Bezüge in Buehls Darstellung suggerierten zusätzlich eine über Ländergrenzen hinweg verbreitete, einstimmige Haltung der Fachwelt in dieser Frage. Ebenso äußerte sich Emminghaus im Jahr 1908: „Ob sich die Gemeinnützigkeit um den Arbeitslohn-Markt zu kümmern habe, mag vielen zweifelhaft erscheinen.“ Daraus folgte: „Der Arbeitszwang für jene, die Versicherung für diese – beides ist noch nirgends in befriedigendem Maße gelungen.“ 319 Die Vorträge des internationalen Kongresses 1910 in Kopenhagen hatten indes eine neue Qualität. Dies lag unter anderem daran, dass mehr sozialreformerische Gruppierungen als jemals zuvor vertreten waren, so auch einige Befürworter der neueren Strömungen. Obwohl das Verhältnis von Vorsorgepolitik und Armenfürsorge nicht im Rahmen einer eigenständigen Fragestellung behandelt wurde, kam das Thema in unterschiedlichen Debatten zur Sprache.320 Dass immer mehr Berührungspunkte mit dem kurz vorher erschienenen Minderheitsberichtes vorlagen, der gewissermaßen als internationale ‚Programmschrift‘ der Wohlfahrtspflege angesehen werden konnte, wurde deutlich. Zugleich äußerten die etablierten Fürsorgeexperten weiterhin Bedenken gegenüber der Machbarkeit und den realistischen Erfolgsaussichten der neuen Vorsorge- und Versicherungsstrategien, wie zum Beispiel im Bereich „Unterstützung von Witwen und Kindern“. Der französische Berichterstatter Derouin bemängelte, dass es in keinem Land bislang eine rechtliche Regelung zur Hilfe speziell für Witwen mit Kindern gebe, wodurch die Kooperation mit der privaten Wohltätigkeit und öffentlichen Armenfürsorge, meist in Form finanzieller Zuwendungen oder häuslicher Unterstützung, unabdingbar blieben. Erste Versuche, Witwen und Waisen im Rahmen bestehender Arbeiterversicherungen einzubinden, hätten sich bislang noch nicht bewährt. In diesem Sinne stimmte Derouin dem Programm der Wohlfahrtspflege zu: „Il vaut mieux, en effet, être appelé à prévenir le mal qu’à le guérir.“ Entscheidende Reformimpulse wollte er zugleich vom Kongress aus anstoßen: „C’est pourquoi il avait estimé qu’il y avait lieu, par le Congrès, d’émettre un vœu favorable à la création d’une Caisse d’assurance des veuves“.321 Die Frage, warum die skeptische Haltung der etablierten Sozialreformer gegenüber den kollektivistischen Vorsorgekonzepten der Wohlfahrtspflege so beständig blieb, dürfte teilweise mit Verweis auf die Struktur und das Selbstver-

317 Ebd., S. 174f. Auch Sachße/Tennstedt betonen, dass der diskriminierende Charakter der Armenfürsorge durch die organisierte Absicherung in Form von Arbeiterversicherungen eher verstärkt wurde, Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 1, S. 263. 318 Buehl, Das Armenwesen, in: Weyl (Hrsg.), Soziale Hygiene S. 174. 319 A. Emminghaus, Aufgaben und Ziele der Gemeinnützigkeit und der praktischen Nächstenliebe, in: P. Schmidt (Hrsg.), Am Born der Gemeinnützigkeit, S. 36–53, Zitat S. 43. 320 Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 1, S. 79ff. bzw. ‚Der Internationale Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit 1910 in Kopenhagen‘ in Kapitel I, 5.3. 321 Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 2, S. 539ff., Zitat S. 542.

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ständnis der Expertenkreise zu beantworten sein.322 Darüber hinaus lag aber auch eine klare inhaltsbezogene Ablehnung vor. Die vorgeschlagenen staatlichen Interventionskonzepte gingen den kommunalen Armenverwaltern liberaler Prägung zu weit. Viele Armenpfleger befürchteten ferner, dass die neuen Ideen eines arbeitsmarktbezogenen Sicherungs- und Vorsorgesystems den menschlichen Geschäftstrieb untergraben würden. Einen großen Widerspruch rief noch ein ganz anderes Problem hervor: Die hauptsächliche Grundannahme der bisherigen Armenfürsorge, nämlich die Individualisierung der Unterstützungsfälle, wie sie von den führenden Köpfen der Armenfürsorge seit Jahren auf den Kongressen und in den ‚nationalen Sektionen‘ angemahnt wurde, würde bei solch einer Herangehensweise infrage gestellt. Derouin machte es beim eben erwähnten Beispiel der Fürsorge für Witwen mit Kindern deutlich: Il n’y a pas de motif pour accorder un privilège aux veuves sans enfants, qui ne sont ni plus, ni moins intéressantes que toute autre femme isolée. Si cette objection nous était faite, nous répondrions que notre axiome avait été formulé en matière d’assistance et non en matière de 323 prévoyance. Quand il s’agit de prévoyance, il est impossible de faire des distinctions.

Eben jene Klassifizierung und Unterscheidung („distinction“) der Fälle, die der geschulte Armenpfleger mit autoritativer Hingabe vollzog, drohte an Gewicht zu verlieren. Das ‚Wesen der Wohlfahrtspflege‘ stand dem Prinzip der Individualisierung und damit der bestehenden ‚Fürsorgekultur‘ entgegen. Das bürgerschaftliche Engagement des ‚Armenfreundes‘, welches die internationale Reformergemeinschaft vereinte und ihr einen ausgeprägten Gemeinschaftssinn verlieh, würde durch das anonymisierte System rationalisierter Hilfeleistungen an Bedeutung einbüßen. Vor allem die international vernetzten Fürsorgeexperten des Comité international vertraten mit Überzeugung das individualisierte und am bürgerlichen Erziehungsideal ausgerichtete Vorsorgedenken, das sich innerhalb der Armenfürsorge als eigenständige Unterstützungspraktik von den kollektiven Absicherungsformen der Arbeiterpolitik unterschied. Manch einer mag sogar den Verlust der hervorgehobenen Stellung, welche die Armenpfleger sich selbst zugesprochen hatten, befürchtet haben, angesichts der „Drohungen“, dass das „Elberfelder System bald nur im Auslande noch seinen Ruhm genießen“ würde.324 Gerade diese beiden Pole kamen exemplarisch in den zwei Berichten der englischen Armenkommission zum Ausdruck: Während sich der Mehrheitsbericht für die Reform der bestehenden Prinzipien einsetzte, forderte der Minderheitsbericht die Ablösung der Armenfürsorge und die Schaffung eines Vorsorge- und Versicherungssystems. Viele Sozialreformer blieben aus diesen Gründen den Vorschlägen des Minority Report gegenüber sehr zurückhaltend. Dies wurde auf dem Kongress 1910 in Kopenhagen noch einmal deutlich. Die „neuen Gedanken der Vorbeugung“, das Versicherungswesen oder Arbeitslosenhilfen, wie etwa im Gastgeberland Dänemark, in England durch den „Unemployed workmen Act“ 322 Vgl. hierzu Kapitel I, 5.4. 323 Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 2, S. 543. 324 Klumker, Neure Strömungen, in: Kritische Blätter für die gesamten Sozialwissenschaften 2 (1906), S. 6.

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oder in dem viel beachteten „Genter System“ versuchsweise umgesetzt, leiteten „aber auch schon deutlich aus der karitativen und philanthropischen Behandlung in jene über, die dem neuen Jahrhundert charakteristisch ist, in die soziale“.325 Dieser Utopie stellte man in gewohnter Rhetorik „eine Gemeinschaft, die vor allem eine Gemeinschaft barmherziger Empfindungen gegenüber der leidenden Menschheit ist“, an die Seite. Es ginge darum, die Prinzipien der vorbeugenden Maßnahmen mit der Pflicht zur barmherzigen Nächstenliebe zu vereinen.326 Eine ähnliche Denkweise zeigte sich bei der Rezeption des Minderheitsberichts im Deutschen Verein. Auf der 30. Jahresversammlung von 1910 musste Münsterberg eingestehen, dass auf dem eigentlichen Gebiet der Armenfürsorge in den letzten Jahren keine Fortschritte zu verzeichnen gewesen seien beziehungsweise diese nur auf rein technischem Gebiet gelegen hätten. Alle anderen Disziplinen wie Hygiene, Erziehungswesen, Versicherungspolitik hätten neue Präventionstechniken entwickelt. Die Armenfürsorge verharre hingegen auf den individualisierenden Methoden unter Rückgriff auf sicherheitspolizeiliche Praktiken. Für Münsterberg stellte die sozialpolitische Neuausrichtung, wie sie der Minderheitsbericht und die ihm nahe stehenden Sozialpolitiker und Fürsorgeexperten einforderten, den langfristig richtigen Weg dar: „es steckt in diesem Gedanken der Minderheit der Gedanke der Zukunft, ein großer, ein neuer sozialer Gedanke.“ Überlegungen zu Vorsorge, Arbeitsvermittlung und zur Arbeitslosigkeitsbekämpfung würden darüber hinaus immer häufiger und wirksamer in Erscheinung treten.327 Diese Ausführungen dürfen jedoch keinesfalls darüber hinwegtäuschen, dass viele Vertreter der Armenfürsorge – wie im Übrigen auch Münsterberg selbst – den Ansätzen kritisch gegenüberstanden.328 Reformen könnten ihrer Ansicht nach 325 Münsterberg, in: Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 1, S. 79. Zum „Genter System“, dem „workmen act“ und andere Berichterstattungen über internationale Bestrebungen im Bereich „Arbeitslosenversicherung und Armenwesen“ vgl. (Auswahl) ZdA 6 (1905), 8, S. 225ff.; ZdA 7 (1906), 1, 8ff.; ZdA 7 (1906), 10, S. 300ff.; ZdA 10 (1909), 12, S. 353ff.; ZdA 13 (1912), 7, S. 200ff. 326 „Overture du Congrès“, in: Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 1, S. 80f., Zitat S. 81. Auf dem geplante Kongress 1915 in London wäre das Thema Vorsorge erneut verhandelt worden: „Welchen Einfluß muß nach modernen Anschauungen der Gedanke der Vorbeugung auf die Armenpflege gewinnen?“ sollte die erste Fragestellung heißen, welche vom belgischen Sozialreformer van Overbergh betreut wurde. Inzwischen machte sich nicht nur der inhaltliche Denkumschwung sondern auch strukturellen Veränderungen im internationalen Sozialreformer-Netzwerk immer mehr bemerkbar, vgl. hierzu Kapitel I, 5.4. 327 Münsterberg, Englisches Armenwesen, in: SDV 94 (1910), S. 7ff., Zitat S. 18. 328 Münsterberg kann aufgrund seiner fürsorgebezogenen Standpunkte den moderaten Sozialreformern zugeordnet werden, wenngleich er immer wieder eine gewisse Offenheit gegenüber dem Minderheitsbericht zeigte und auch mit dem Ehepaar Webb und dem Sozialversicherungsexperten Beveridge in Kontakt stand. Vgl. Rieß, Dem Andenken, in: Blätter für die Berliner Armen- und Waisenpflege 1 (1911), 2, S. 9–11. Zum persönlichen Kontakt mit Beveridge vgl. die Widmung Beveridges an Münsterberg in: Beveridge, Unemployment (Umschlaginnenseite, Exemplar der historischen Sondersammlung FH Frankfurt). Zur teils euphorischen und teils von Skepsis und Ambivalenz geprägten Einschätzung des Minderheitsberichts durch Münsterberg vgl. SDV 94 (1910), S. 7–19.

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die überlieferten Schemata der Armenfürsorge lediglich ergänzen, ohne sie grundsätzlich in Frage zu stellen. Das Zusammenwirken von Vorsorge- und Fürsorgeprinzipien als Teil einer neuen Gesamtordnung zu denken, widersprach den „spezialistischen Kreisen“ der Armenfürsorge, „die selten über die Grenzen des eigenen Gebiete hinausschauen“, wie es von Seiten der Befürworter der Wohlfahrtspflege bemängelt wurde.329 Die punktuellen Einblicke in die internationalen Debatten machen deutlich, dass die Herausbildung und Interpretation des Vorsorgeparadigmas im Bereich der Armenfürsorge ein vielseitiger Prozess war. In den international vernetzten Fachkreisen der Armenfürsorge standen sich Sichtweisen gegenüber, welche im Wesentlichen den Unterschieden zwischen Arbeiter- beziehungsweise Versicherungspolitik auf der einen Seite und der Armenfürsorge auf der anderen Seite entsprachen. Das Leitkonzept Vorsorge wurde von beiden Gruppen, sowohl von den traditionellen Sozialreformern als auch von den progressiven Vertretern der Wohlfahrtspflege verwendet. Erstere sahen darin eine individuelle Erziehungsmaßnahme, die den Weg der Hilfe zur Selbsthilfe ebnen sollte und für die Armenfürsorge unverzichtbar erachtet wurde. Das Vorsorgekonzept diente zugleich als ein methodisches Leitkonzept zur Durchsetzung einer von Armenverwaltern angeleiteten Reform des Armewesens, das in seinen Grundzügen neben der Wohlfahrtspflege jedoch bestehen bleiben sollte. Diese Sozialreformer wurden von progressiven Denkern als „Gegner der Wohlfahrtspflege“330 wahrgenommen. Sie bezogen sich für ihre Argumentation oftmals auf internationale Fachdebatten und Fachkreise. Für sie war Internationalität außerdem ein identitätsstiftendes Bindeglied und auch dann noch wichtiger Ankerpunkt, als ihr Einfluss auf die Fürsorgedebatten zu schwinden begann. Für die Unterstützer der Wohlfahrtspflege hingegen bestand Vorsorge in einem umfangreichen, staatlich gesteuerten Versicherungs-, Erziehungs- und Arbeitsvermittlungssystem, das die schrittweise Auflösung oder in radikalster Form die Abschaffung des Armenwesens vorsah. Für diese Fürsorgeexperten waren internationale Vernetzungen ebenfalls wichtig. Allerdings konstruierten sie aus ihnen keinen Eigenwert, sondern bezogen sich, wie bei der enthusiastischen Rezeption des Minderheitsberichts, in erster Linie auf das wissenschaftliche und sozialpolitische Potential. 8.2. Erziehung statt Strafe Die Sozialtechniken der frühneuzeitlichen Armenfürsorge belegen den sozialdisziplinierenden Charakter, welcher dem Armenwesen stets anhaftete.331 Neben den 329 Krautwig, Organisation, S. 1. 330 3. Abschnitt aus Weber, Das Lebensrecht der Wohlfahrtspflege, S. 33–52. 331 Sozialdisziplinierung ist auch der Leitbegriff in: Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 1; vgl. ferner dies., Soziale Sicherheit, hier vor allem die Beiträge von R. Jütte, S. 73–100 und H. Stekl, S. 119–147. Kritische Auseinandersetzungen mit dem Konzept der Sozialdisziplinie-

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armenpolizeilichen Praktiken und sicherheitspolitischen Erwägungen erhielten seit der Epoche der Aufklärung auch armenerzieherische Leitkonzepte eine neue Qualität und theoretische Fundierung.332 Einher gingen damit nur bedingt die Liberalisierung und Humanisierung des Armenrechts. Da sozialdisziplinierende Maßnahmen mithilfe des aufklärerischen Erziehungsanspruches gerechtfertigt werden konnten, stießen Freiheits- und Wahlrechtsentzug, Arbeitszwang, soziale Ausgrenzung und andere Formen der Diskriminierung von Bedürftigen im 19. Jahrhundert lange auf wenig Widerspruch.333 Der Strafrechtler und Fürsorgetheoretiker Paul Felix Aschrott veranschaulichte dieses Erziehungsverständnis im Rahmen der Schriften, die er über das englischen Armenwesen verfasste. Darin argumentierte er unter anderem, dass der „einfache Mann“ die Vorzüge des Versicherungswesens „noch nicht“ begreife und aus diesem Grund dessen obligatorische Einführung nicht gänzlich zu empfehlen sei. Er plädierte für eine härtere Gangart bei der Beanspruchung von Armenfürsorge, um die Bedürftigen in die „Vorsorgemaßregeln“ (Versicherungen) zu drängen. „Erziehungsmaßnahmen“ wie diese hätten im englischen poor law einen sinnvollen Ausdruck gefunden.334 Die Darstellung verdeutlicht, wie sehr unterschiedliche fürsorgebezogene Handlungsmodelle ineinander griffen, so dass im 19. Jahrhundert von einer komplementären Funktion der restriktiven und pädagogischen Herangehensweisen in der Armenfürsorge und den ihr angrenzenden Fürsorgezweigen gesprochen werden kann. Während strafende Maßnahmen dem bürgerlichen Sicherheitsbedürfnis entsprachen, dienten die erzieherischen Elemente in erster Linie als Instrument zur Heranbildung einer selbstständigen und unabhängigen Arbeiterschaft. Die ‚Erziehung der niederen Volksklassen‘ war überdies ein in höchstem Maße politisierter Gegenstand, über den unterschiedliche Akteure wie der Staat, das Bürgertum und die Kirchen – konfessionelle Einflüsse spielten stets eine wichtige Rolle335 – gleichermaßen mitbestimmen wollten.336 Speziell für das Expertentum der Armenfürsorge, deren Verankerung im städtisch-bürgerlichen Reformermilieu entscheidend ist, boten die Bedürftigen ein „dankbares Objekt bürgerlicher Hilfs-

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rung vgl. u. a. Dinges, Frühneuzeitliche Armenfürsorge, in: GG 17 (1991), S. 5–29 sowie Peukert, Grenzen, S. 15ff. Ayaß, Die „korrektionelle Nachhaft“, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 15 (1993), S. 184f. Über aufklärerische und bürgerliche Bildungs- und Erziehungsdiskurse vgl. Hettling, Der bürgerliche Wertehimmel, und Bollenbeck, Bildung und Kultur; speziell in Bezug auf Armenerziehung: Herrmann, Aufklärung und Erziehung, hier das Kapitel „Armut – Armenversorgung – Armenerziehung an der Wende zum 19. Jh.“, S. 157ff. Vgl. Seiderer, Von „wahren Armen“, in: Sczesny/Kießling/Burkhardt (Hrsg.), Prekariat im 19. Jahrhundert, ins. S. 33; Herrmann, Aufklärung und Erziehung, S. 157ff. Aschrott, Das englische Armenwesen, VIf. Literatur, die sich mit dem Verhältnis und den gegenseitigen Einflüssen von Sozialpolitik, Armenfürsorge und Konfessionen auseinandersetzt: Kaiser (Hrsg.), Soziale Reform; Kouri, Der deutsche Protestantismus und die soziale Frage 1870 – 1919; Liedtke (Hrsg.), Religion und Philanthropie; Schneider (Hrsg.), Konfessionelle Armutsdiskurse; Maurer/Schneider (Hrsg.), Konfessionen. Zum Wandel moralisch-religiöser, individualisierender und sozialpädagogischer Erziehungskonzepte im 19. Jahrhundert vgl. Dollinger, Die Pädagogik der sozialen Frage, insb. S. 153ff.

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und Erziehungsbestreben“.337 Ihrer Einschätzung nach war die prekäre Situation der Bedürftigen oftmals auf individuelles Fehlverhalten zurückzuführen. Aus dieser Betrachtung folgte das pädagogische Leitkonzept, mit welchem individualisierte und individualisierende Fürsorgepraktiken Konjunktur erlebten. Die „Schaffung selbständiger bürgerlicher Existenzen“, wie es in der Zeitschrift Sociale Praxis 1896 hieß, sei das Ziel einer modernen Armenfürsorge, welche die individuelle „Besserung“ der Unterstützungsbedürftigen an deren Arbeitswillen zu messen versuchte.338 Ein Blick in die Kongresspublikationen und in die Fachliteratur verdeutlicht, dass Erziehungsdebatten der Sozialreformer generell auch grenzüberschreitend geführt wurden. Die vielen internationalen Bezüge lassen keine Zweifel zu, dass ein intensiver Ideenaustausch und eine gegenseitige Beeinflussung hinsichtlich armenerzieherischer Leitkonzepte vorlagen. Die internationale Verbundenheit bei diesem Thema gründete zunächst in der Vorstellung, dass die Sozialreformer zur Umsetzung eines universellen Erziehungsauftrages gewissermaßen ermächtigt seien. C. S. Loch legte diese Ansicht auf dem internationalen Fürsorgekongress 1889 in Paris folgendermaßen dar: „La charité nouvelle exige du riche qu’il se soumette, pour le bien commun, à la loi commune du travail, qu’il aide le pauvre à s’élever à indépendance.“339 Das soziale Gewissen, so Loch, habe die Bessergestellten und die an der Armenpflege beteiligten Kräfte, zusammengebracht, um sich für das „Gemeinwohl“ und das „Gewohnheitsrecht der Arbeit“ einzusetzen. Sie müssten nun wiederrum diese Einsichten in die Gesellschaft zurücktragen und den Bedürftigen dieselben Tugenden vermitteln.340 Denselben Gedanken formulierte Picot in einer Rede über die Privatwohltätigkeit auf dem internationalen Fürsorgekongress 1900 in Paris: „Ces œuvres de protection morale qui n’ont rien de l’ancienne aumône ne sont-elles pas une des formes les plus touchantes de la charité moderne?“341 Die häusliche Fürsorge solle ausschließlich diesen Prinzipen des moralischen Schutzes und der Hebung zur selbstständigen Lebensführung folgen. Aus diesem Grund müssten alle Fürsorgepraktiken genauestens geplant, den Umständen der Familie angepasst und unter Verzicht auf Almosen ausgeführt werden. Die Forderung nach staatlicher Kontrolle der armenpflegerischen Erziehungstätigkeit wurde in die Kongressresolutionen aufgenommen und ergänzte die Prinzipien der individualisierenden und auf dem Engagement des Stadtbürgertums beruhenden Armenpflege.342 337 Vgl. H. Dehne, Die fremde arme Welt in der heilen Stadt, in: Kühberger (Hrsg.), Aktuelle Tendenzen, S. 129–166, Zitat aus der Einleitung S. 11. Auch B. Geremek betont den aufklärerischen Paternalismus, vgl. Geremek, Geschichte, S. 309. 338 K. Brinkmann, Ziele und Zweckmäßigkeit der Armenpflege vom Standpunkt der Praxis, in: Sociale Praxis (1896), 24, S. 593. 339 Loch, De l’organisation de l’assistance, in: Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 54. 340 Ebd. 341 Picot, La bienfaisance privée, in: Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 1, S. 38. 342 Ebd., S. 69f.

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Das zugrundeliegende Erziehungsverständnis setzte auf die Vermittlung eines Verhaltens, das man für tugendhaft und sittlich erachtete: Fleiß, Mäßigung, Sparsamkeit und Willensstärke waren Gesichtspunkte einer dezidiert bürgerlich konnotierten Verhaltensweise. Erziehung zur Selbsthilfe wurde zum Leitsatz der Fürsorgepraxis und oftmals mit ‚Aufrichtung‘, ‚Hebung‘ oder ‚freundschaftlicher Begleitung‘ umschrieben. Die Ausführung einer Arbeit galt dabei als Gradmesser für die ‚moralische Besserung‘ der Bedürftigen. Hierbei bewertete man weniger die messbare Wirtschaftlichkeit einer Arbeitstätigkeit. Dies zeigte sich beispielsweise in den Resolutionen der vierten Sektion (Fürsorge durch Arbeit) des internationalen Kongresses von 1900. Darin wurde deutlich, dass es den Kongressteilnehmern im Wesentlichen weder um die Art der zu erbringenden Arbeit, noch um die Höhe der Entlohnung gehe. Stattdessen standen ‚Arbeiten an sich‘, die ‚Gewöhnung‘ an das Arbeiten und der gute Wille („bonne volonté“) im Zentrum der Argumentation. Dies seien die Prinzipien, welche den Unterstützungsbedürftigen Lebenssinn verleihen und das ‚professionelle Betteln‘ („la mendicité professionelle“) unterbinden würden.343 Erziehung zur ‚Arbeitsamkeit‘ wurde zur prägnanten Formel, welche in den Arbeitshäusern und Arbeiterkolonien ihre deutlichste Entsprechung fand. Eine vielbeachtete Initiative, die in diesem Zusammenhang ebenfalls häufig diskutiert wurde, war beispielsweise die Errichtung von städtischen Arbeitergärten.344 Begeisterung und Nachahmungsversuche löste aber auch die Rezeption der Settlement-Bewegung aus. Sie fiel durch den Versuch auf, die eigentlichen Methoden der Armenerziehung verstärkt zu thematisieren. Das pädagogische Konzept der Settlements sah vor, ein Integrationsangebot und Lebenshilfe außerhalb der öffentlichen Armenfürsorge bereitzustellen. Studienberichte und ausführliche Schilderungen von Besuchern trugen zweifellos dazu bei, die Kernideen der Settlements international zu popularisieren.345 Neue Erziehungsmodelle bereicherten auf diese Weise die Diskussionen der Fachforen, von wo aus sie in die Fürsorgepraxis zurückstrahlten. Die Sozialreformer setzten insbesondere auch viele Hoffnungen in den ‚moralischen Fortschritt‘, wie er durch den internationalen Austausch ermöglicht werden sollte. Entsprechend sind folgende Ausführungen Victor Böhmerts auf dem 343 Vgl. „Quartième Section: œuvres d’assistance par le travail“, in: Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 6, S. 1ff. insb. die Beiträge von Berthélemy S. 390ff., Cheysson S. 445ff., Rivière S. 476ff. sowie die „vœux émis par la quatrième section“, S. 543f.; vgl. auch Reitzenstein: „am frühesten ist England, wo die Unterstützung Arbeitsloser am zeitigsten Bedeutung gewonnen, mit der Ausbildung eines hierauf bezüglichen Systems vorgegangen“, in: Reitzenstein, Die Beschäftigung arbeitsloser Armer und Arbeitsnachweis als Mittel vorbeugender Armenpflege, SDV 5 (1887), S. 17. 344 Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 6, 518ff. Gerade die Errichtung von „Arbeitergärten“ wurde durch den internationalen Austausch stark gef̈rdert, vgl. ZdA 2 (1901), 5, S. 22 und ZdA 5 (1904), 8, 225ff.; Mangoldt, Ziele und Aussichten der Gartenstadtbewegung, in: Schmidt (Hrsg.), Am Born der Gemeinnützigkeit, S. 212–233; vgl. auch Stein, Inseln im Häusermeer, insb. S. 45ff. 345 Vgl. auch Gonon, Reisen und Reform, in: Fuchs (Hrsg.), Bildung International, S. 135.

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Wohltätigkeitskongress 1893 in Chicago zu verstehen, wo er unter anderem über das Erziehungsmodell des Vereins Volkswohl in Dresden berichtete: Of still greater importance is it that the nations should exchange with each other their spiritual goods, their inner experiences, and learn of each other better manners, useful methods, profounder wisdom and virtue. International Exhibitions and World’s Congresses are intended for the special purpose of bringing nations together, and causing them to see the spiritual and moral unity of man, and his community of purpose. In the sphere of poor relief and charity every nation must strive to combat not only the physical but also the spiritual and moral wretchedness of humanity. Since poverty results in many instances only from the pursuit of self, pleasure or drink, from dissipation or immorality, the roots of the evil must be extirpated, and the human soul purified and refined. The chief object to be pursued and the chief means to be used in the care of the poor is the care of the soul. Not only must the souls of the poor and the alms receiving class be cared for, enlightened and disciplined, but the souls of the rich and alms-giving class as well, in fact the souls of all classes of society.346

Deutlich tritt hier das universelle Erziehungsideal eines protestantisch-bildungsbürgerlichen Philanthropen zutage, wie es auf den internationalen Kongressen und in der Fachliteratur oft propagiert wurde. Die Verbesserung der ‚aufgeklärten‘ und ‚moralischen‘ Armenerziehung war nach dieser Darstellung ein wichtiger Gegenstand der internationalen Austauschbeziehungen.347 Um die Jahrhundertwende zeigten sich in den Diskussionen über Volksheime, Settlements oder das Elberfelder System allerdings auch immer häufiger die Grenzen der bestehenden Ansätze und etablierten Erziehungsinstitutionen. Die anfängliche, vom liberalen Geist geprägte Zurückhaltung der Sozialreformer-Gemeinschaft gegenüber staatlichen Eingriffen wich zunehmend der Ansicht, dass eine rechtlich fixierte und pädagogisch legitimierte Intervention in die Lebensweisen der ärmeren Bevölkerungsschichten gewissermaßen die Pflicht eines ‚Kulturstaates‘ darstelle. „Schönes, reiches Wohltun“ statt „karges Erretten vom Hungertod“ gab Karl Flesch in Bezug auf die Ausführungen Münsterbergs über den „socialen Geist“ der Armenfürsorge zu bedenken, wie er in allen Ländern anzutreffen sei.348 Die Ausweitung staatlicher Eingriffe in allen europäischen Staaten ging zu großen Teilen auf eine ‚Erziehungsoffensive‘ zurück, welche von den Sozialreform-Bewegungen in der Zeit um die Jahrhundertwende in alle Fürsorgebereiche hineingetragen wurde.349 Die neuen Erziehungsexperten verband eine kritische Haltung gegenüber der Tatsache, dass die Fürsorgedebatten immer einen bestimmten Typus Bedürftigen und eine spezifische Tätigkeit im Blick hatten: die verhältnismäßig geringe Zahl an erwachsenen, arbeitsfähigen Armen sowie deren Erziehung zu Moral, Mäßigung und Fleiß. Ab den 1890er Jahren identifizierte 346 Böhmert, Co-operation between public and private Poor, in: General Exercises of the International Congress 1893, Bd. 2, S. 226. 347 Zu Victor Böhmert und seiner international ausgerichteten Idee von Sozialreform vgl. Lees, Cities, S. 191–233, insb. 219f. 348 Vgl. Flesch auf der 21. Jahresversammlung des Deutschen Vereins, in: SDV 56 (1901), S. 24. 349 Zu den Hintergründen und dem breitenwirksamen Durchbruch von Erziehungsfragen im Kreis sozialreformerischer Gruppierungen, vgl. Dudek, Grenzen der Erziehung im 20. Jahrhundert, hier „Neue Menschen durch Erziehung“, S. 23ff.

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man vermehrt andere Gruppen als ‚erziehungsbedürftig‘. Es entsprach dem neu aufkommenden Vorsorgegedanken, der Erziehung von Kindern und Jugendlichen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Aus dem moralischen Erziehungsdiskurs heraus, welcher Erziehung lediglich als Fürsorgemaßnahme definierte, entwickelte sich die Idee von Erziehung als Strategie der Verhütung. In Bezug auf die „Einschränkung“ der Armenfürsorge auf „ganz bestimmte Gebiete des sozialen Lebens“ sah Nathanael Brückner 1895 unter Bezugnahme auf ausländische Vorbilder bereits voraus, dass die „Erziehungsfragen“ in Kürze „sehr nahe liegen werden“.350 In der Tat kam es daraufhin zu einem Boom der Kinder- und Jugendfürsorge in allen europäischen Staaten und Nordamerika. Mit ihm setzte sich ein neuer Erziehungs- und Gemeinwohlbegriff durch, der sich viel stärker an den Kernideen der Wohlfahrtspflege orientierte als an denjenigen der Armenfürsorge.351 Beleuchtet man die internationale Dimension, so wird deutlich, dass die neuartige Erziehungsmodelle in den einzelnen Nationen nicht völlig unabhängig voneinander entwickelten. Es lassen sich vielmehr Bezugspunkte zwischen den verschiedenen ‚Fürsorgekulturen‘ beobachten. Besonders früh ausgeprägt war in Deutschland die Beschäftigung mit Kindererziehung, Kinderschutz und Waisenwesen in Frankreich und England. Deren positive Rezeption durch deutsche Fürsorgeexperten unterstreicht diese Vorreiterrolle.352 Kleinkinderschutz und die Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit hatten in Frankreich ebenfalls eine wichtige Stellung erlangt, so dass sich die französische Kinderfürsorge auf den internationalen Kongressen und in den Fachpublikationen als wichtiger Impulsgeber etab-

350 N. Brückner, Erziehung und Unterricht vom Standpunkt der Sozialpolitik, S. 1. 351 Die Forschung zur Jugendfürsorge hat am deutlichsten hervorgehoben, wie sich gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein neuartiges Verständnis von Erziehung und Erziehungsbedürftigkeit herausbildete und wie man dabei neue Fürsorgezweige entwickelte und Zielgruppen ‚entdeckte‘. Die Folgen dieses Prozesses und die Weitentwicklung speziell der Jugendfürsorge in der Weimarer Republik ist Gegenstand unterschiedlicher Interpretationen. Detlev Peukert hat in seiner Studie die Widersprüchlichkeit der Fürsorgeerziehung und die daran sichtbare antiliberale Seite rationaler Modernisierungsprozesse hervorgehoben, während Marcus Gräser die Jugendfürsorge zu Beginn der 1930er Jahre an einer ‚Blockade‘ der Sozialreform aufgrund vorindustrieller Ideale und unzeitgemäßer Leitkonzepte im Fürsorgealltag scheitern sieht. Vgl. Peukert, Grenzen, sowie Gräser, Der blockierte Wohlfahrtsstaat. 352 Internationale Bezüge und Hinweise auf vorbildliche ausländische Einrichtungen der Kinderfürsorge gibt es in der zeitgenössischen Fachliteratur viele. Beispiele: Lammers, Ziele und Bahnen, S. 26; Brückner, Erziehung, S. 21ff.; Aschrott über Waisenpflege in England, in: SDV 7 (1888), S. 31, dort auch auf die USA und seine Studienreise bezugnehmend; Reitzenstein über Kinder- und Waisenpflege in Frankreich, in: SDV 15 (1891), S. 16; ders. über die Gesetze zur unentgeltlichen Kinderpflege in Frankreich, in: SDV 17 (1893), S. 7f.; ders. über Unterstützung „verwahrloster Kinder“ in Frankreich, in: SDV 23 (1895), S. 18f.; England als Vorbild für „Fürsorge für arme Schulkinder“ SDV 26 (1896) sowie Münsterberg über fruchtbare internationale Impulse bei der Kinderfürsorge, in: SDV 52 (1901), S. 3.

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lierte.353 Das spätere Mitglied des Comité international Paul Strauss hatte sich bei diesem Thema international einen Namen gemacht. Darüber hinaus wurden separate, von Frankreichs Sozialreformern organisierte internationale Kinderschutzkongresse ins Leben gerufen, welche zur Verbreitung armenrechtlicher, pädagogischer und sozialpolitischer Modelle der öffentlichen Kindererziehung beitrugen.354 Bereits auf dem Kongress von 1889 in Paris wandte man sich der Frage zu, wie Waisen und ‚verwahrlosten‘ Kindern per Gesetz und durch die Einrichtung öffentlicher Erziehungseinrichtungen geholfen und wie die bestehende Rechtsgrundlage ausgeweitet werden könnte. Neben der „physischen, intellektuellen und moralischen Entwicklung“ betonte Henri Rollet die Bedeutung, welche künftig „Erziehung“ für die Entwicklung des ganzen Volkes erlangen würde. „Elle (Die Erziehung; der Verf.) intéresse aussi tous ceux qui veulent la prospérité de leur pays“. Wohlstand und Volksentwicklung lägen nicht nur im Interesse der Philanthropen, sondern speziell der Staat und die öffentliche Armenfürsorge müssten ihren Beitrag leisten.355 Deutlich trat auch die Ansicht zutage, dass ein Gesetz nicht nur solche Kinder zu berücksichtigen habe, die von ihren Eltern verlassen wurden, sondern auch solche, denen aufgrund der ärmlichen Lebensbedingungen eine ‚moralische Verwahrlosung‘ drohe. Die Kongressresolutionen fassten im Wesentlichen zusammen, was als Reformprogramm in den folgenden Jahren international diskutiert und von den nationalen Fürsorgetheoretikern eingefordert wurde: Verstärkter Fokus auf Kinder- und Jugendfürsorge, die Überwachungen privater und die Schaffung staatlicher Erziehungseinrichtungen, strafrechtliche Verfolgung von Eltern, die ihrer Erziehungspflicht nicht nachkamen und Gesetze, welche es ermöglichten, Kinder ihren Eltern zu entziehen, wenn eine Verwahrlosung zu befürchten sei. Die Schaffung von Berufsschulen, Förderung von privaten Hilfsvereinen und die Gründung von ‚korrektionellen‘ Bildungseinrichtungen für schwer erziehbare Kinder rundeten die Übereinkünfte ab, welche auf allen internationalen Kongressen wiederholt behandelt und bestätigt wurden.356 Die Kongressresolutionen von 1889 stellten insofern eine Besonderheit dar, als sie einige der wenigen Forderungen solcher Veranstaltungen waren, welche in 353 „Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit“ mit diversen Bezügen zu Frankreich, vgl. SDV 74 (1905) bzw. SDV 75 (1905), S. 23ff. Ausführlich wurde das Thema auch auf dem Kongress 1906 in Mailand behandelt, vgl. Recueil des travaux du congrès 1906, Bd. 4, S. 1ff. 354 Vgl. Rollet-Vey, La santé et la protection, in: Annales de démographie historique 1 (2001), S. 97–116. Konferenzen für Kinderschutz gab es in den Jahren 1896, 1899, 1904, 1905 und 1908. 355 Rollet (Anwalt am Gerichtshof in Paris), Des Modes de Placement des Enfants qoui sont a la charge des administrations publiques, in: Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 133 (Übersetzungen des Verf.). 356 Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 186ff.; vgl. ferner die 2. Hauptfragestellung auf dem Kongress in Paris 1900: „Du traitement et de l’éducation des enfants recuillis...“, in: Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 2, S. 1ff., Generaldebatte und „Conclusions“ S. 57ff. sowie Kinder- und speziell Mädchenschutz auf dem Kongress 1906 in Mailand, in: Recueil des travaux du congrès 1906, Bd. 3, S. 1ff., Hauptbericht und „Conclusions“, S. 167ff.

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dieser Form in konkrete gesetzliche Bestimmungen mündeten.357 Die französischen Gesetze betreffend Kinder- und Waisenpflege gingen unmittelbar auf den Kongress zurück. Sie strahlten aufgrund ihres neuartigen Erziehungsverständnisses wiederum in die internationale Fachwelt zurück358 und beeinflussten in Deutschland beispielsweise die Debatte über die Berufsvormundschaft.359 Im Deutschen Verein würdigte man auch die populären Erziehungsformen, welche den hauswirtschaftlichen Unterricht für arme Mädchen vorsahen. Die Ausweitung des Haushaltsunterrichts war in anderen Nationen weiter entwickelt und stand deshalb unter Beobachtung des Deutschen Vereins. Das Thema wurde in einer Fachkommission über „Haushaltungsunterricht“ behandelt, „in welcher die in Deutschland und in anderen Staaten bestehenden bewährten Vorkehrungen“ aufgearbeitet wurden: Über das Vorgehen im Auslande, das uns in mancher Beziehung vorausgeeilt ist, hofften wir, auf einer Anschauung fußende Mitteilungen von Fräulein Förster zu erhalten, welche, wie dem Verein bekannt ist, die Absicht hatte, Belgien, Frankreich und England zum Zwecke des Studiums der in diesen Ländern getroffenen Veranstaltungen zu bereisen und uns das Ergebnis ihrer Studien zur Verfügung zu stellen.360

Ebenso viel Interesse weckte das Thema der Schulspeisung. Dieses Konzept kam aus England und fand mit Helene Simon, die auf ihrer Studienreise mit dieser Idee in Berührung gekommen war, eine beharrliche Fürsprecherin. 361 Ähnlich positiv nahm man die um 1900 verstärkt in den Fokus gerückten amerikanischen Initiativen der Kinderfürsorge auf. Münsterberg bezeichnete die Bestrebungen der Kin-

357 Siehe G. Rondel, L’œuvre des trois premiers Congrès internationaux d’assistance, in: RP XVII (1905), S. 105ff. Hierin erwähnt Rondel die Resolutionen der internationalen Kongresse für das Zustandekommen der Kinderfürsorgegesetzgebung in Frankreich. 358 Vgl. „Die Fürsorge für Kinder und jugendliche Personen auf dem Internationalen Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit in Paris 1900“, in: JF 2 (1901), 7, S. 410, sowie „die neuen französischen Gesetze betreffend Kinder- und Waisenpflege vom 27. und 28. Juni 1904“, in: ZdA 6 (1905), 1, S. 1ff. 359 Vgl. „Beaufsichtigung der Zieh- und Haltekinder“, SDV 62 (1902), S. 38ff.; „Berufsvormundschaft“ SDV 81 (1906), sowie über die Bedeutung Frankreichs als Vorreiter in dieser Thematik: Klumker, Vom Werden, insb. S. 10–15. 360 F. Kalle bedauerte ausdrücklich, dass der direkte Kontakt zu den Einrichtungen in England und Schottland, insbesondere zu den „vortrefflichen Veranstaltungen der National Training School of Cookery in London“, zu diesem Zeitpunkt noch nicht hergestellt werden konnte und man sich bislang nur auf die Kenntnisse der Fachliteratur stützen konnte, vgl. F. Kalle, Der hauswirtschaftliche Unterricht armer Mädchen in Deutschland, SDV 12 (1891), Generalbericht (Einleitung). Vgl. auch die Debatte zum selben Thema auf der 12. Jahresversammlung des Deutschen Vereins, SDV 15 (1891), S. 51ff.; vgl. ferner Brückner für die Ausweitung des Haushaltungsunterrichts nach englischem Vorbild in: Brückner, Erziehung, S. 137ff. 361 Jeweils mit vielen Bezügen zu internationalen Vorbildern: „Schulspeisung in England“, in: Sociale Praxis (1893), 4, S. 33f.; „Fürsorge für arme Schulkinder durch Speisung“, SDV 26 (1897); „Schulspeisung“ (Simon), SDV 89 (1909); ebenso auf dem Kongress in Paris 1900 behandelt: Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 5, S. 67ff und S. 85ff. Zu den internationalen Einflüssen bei Helene Simon bei der Frage der „Schulspeisung“, vgl. Klöhn, Helene Simon, S. 79.

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derpflege in den USA als „the most promising field of poor relief“362. Die „musterhafte Organisation“ des sogenannten „Mettray System“ sah die Einrichtung von staatlich kontrollierten Waisenhäusern auf dem Land vor und war immer wieder Gegenstand in den deutschen Fürsorgedebatten.363 Neues wissenschaftliches Verständnis und die Frage nach internationaler Objektivierbarkeit standen auf dem Kongress 1900 in Paris im Mittelpunkt der Überlegungen, wie Waisen und gefährdete Kinder aus verarmten Familien erzogen werden könnten. Erstmalig wurde hierfür eine interaktive Fragerunde auf dem Kongress selbst organisiert.364 Das Ziel dieser Besprechung lag darin, die in den unterschiedlichen Ländern vorliegenden Rechtsnormen, ‚Rettungsanstalten‘ und Erziehungspraktiken kennenzulernen. Auf Grundlage dieses Informationsaustausches wurden verbindliche Kriterien herausgearbeitet, wann und wie erzieherische Maßnahmen vorzugsweise durchzuführen seien und dass diese von staatlichen Behörden zu kontrollieren seien. Durch Verhandlungen wie diese nahm das spezifische Wissen über Erziehungsbedürftigkeit immer schärfere Konturen an. Nach eingehender Prüfung des Falles musste, so die Meinung der Erziehungsexperten des Kongresses, eine individualisierte Erziehungsmaßnahme am Pflegling durchgeführt werden. In der Diskussionsrunde betonte man außerdem, dass die Erziehungspraktiken von solchen der bestrafenden Armenfürsorge zu unterscheiden seien.365 In diesem Zusammenhang wurde Erziehung zunehmend mit der Idee der Rettung gleichgesetzt und die Vorstellung der Rettungsbedürftigkeit als Handlungsgrundlage konstruiert.366 „Keine Riegel, kein Gitter, keine Mauern“, stattdessen wollte man in den Anstalten den Eindruck von Schutz und Sicherheit vermitteln. Naturverbundenheit, sittliche Ordnung und die neuesten Erkenntnisse der Hygiene sollten ebenfalls berücksichtigt werden.367 Einiges Anschauungsmaterial bot darüber hinaus der ‚Sozial-Palast‘ auf der Weltausstellung in Paris 1900. Kinderfürsorge nahm dort einen erheblichen Raum ein. Münsterberg berichtete in der Zeitschrift Jugendfürsorge über die dort vorgestellten Einrichtungen und hob neben der französischen Société philanthropique 362 Münsterberg, American poor relief, in: American Journal of Sociology 7 (1902), 4, S. 501. 363 SDV 77 (1906), 73ff.; vgl. auch „Mettray Systems“ als Rettungsanstalt in: ZdA 2 (1901), 5, S. 17ff. 364 Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 2, S. 25ff. 365 Allerdings Unterschied man hier zwischen Anstalten vorbeugender Art und Erziehungsanstalten für ‚lasterhafte Kinder‘, vgl. Debatten und Resolutionen, ebd., S. 57ff. 366 Zu internationalen Debatten und Konstruktionen des ‚rettungsbedürftigen Kindes‘ vgl. auch S. Swain, Child Rescue. The Emigration of an Idea, in: J. Lawrence/P. Starkey (Hrsg.), Child Welfare and Social Action in the Nineteenth and Twentieth Centuries, S. 101–120; RolletVey, La santé et la protection, in: Annales de démographie historique 1 (2001), S. 97–116. 367 „Die Fürsorge für Kinder und jugendliche Personen auf dem Internationalen Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit in Paris 1900“, in: JF 2 (1901), S. 412: Hierin wird allerdings geschlechterspezifisch differenziert. Demnach müssten Mädchen unter strengerer Überwachung stehen, „um sie nicht zu früh verderblichen Einflüssen“ auszusetzen. Zur Geschichte der Kinderfürsorge vgl. ferner E. Dickinson, The Politics of German Child Welfare from the Empire to the Federal Republic; Murdoch, Imagined Orphans; S. Schafer, Children in Moral Danger and the Problem of Government in Third Republic France.

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auch die Darbietungen der amerikanischen, schwedischen und russischen Kollegen hervor. Einzig das Bildmaterial des Deutschen Reiches sei „sehr wenig erheblich“ gewesen. Viele „kultivierte Länder“ seien in diesen Fragen rasch vorangeschritten: Ferienkolonien und Kinderheilstätten seien in England vorbildlich, Säuglingsfürsorge hingegen in Frankreich am besten organisiert. Nun müsse es auch in der deutschen Fachwelt darum gehen, über die bisher üblichen Arten der Fürsorge für verlassene und verwaiste Kinder im engeren Sinne hinauszugehen und Massregeln zu ergreifen, um ihre körperliche und geistige Verwahrlosung zu verhindern.368

Die „deutschen Verhältnisse“, formulierte es Brückner noch drastischer, seien im Vergleich zu den französischen oder schweizerischen „geradezu kläglich“.369 In den folgenden Jahren lassen sich erhebliche Bemühungen feststellen, den Anforderungen eines modernen kommunalen Fürsorgesystems noch besser gerecht zu werden. Ausbau der Säuglingsfürsorge, Krippen, Kleinkinderschulen und Volkskindergärten waren allesamt Forderungen einer breit angelegten und auch von vielen internationalen Vorbildern inspirierten Erziehungs- und Vorsorgestrategie. Juristische, sozialwissenschaftliche und sozialpädagogische Untersuchungen sprossen aus dem Boden und es entbrannten Debatten über die Art und das Wesen einer neuen Erziehungskultur, welche „das Recht des Kindes auf Erziehung“370 einforderte. Mit der schrittweisen Ausweitung und Ausdifferenzierung der Kinderfürsorge vollzog sich auch allmählich der Wandel des Erziehungsparadigmas. Denn während sich die bestehenden Fürsorgeeinrichtungen immer nur um die dringenden Fälle der bereits unterstützungsbedürftigen armen Kinder gekümmert hatten, wandte man sich nun verstärkt den gesunden und ‚gewöhnlichen‘ Kindern zu, deren Gefährdung aufgrund ärmlicher Lebensverhältnisse zu befürchten war. Die Frage, welche Rolle die in diesen Fragen bereits zurückgedrängte öffentliche Armenfürsorge überhaupt noch spielen sollte, wurde zunehmend kontrovers diskutiert.371 Das Präventionsdenken fand seine wichtigsten Fürsprecher naturgemäß unter denjenigen Sozialreformern, welche den Ausbau der staatlich organisierten Wohlfahrtspflege unterstützten. In Hinblick auf die deutsche Kin368 369 370 371

JF 2 (1901), 3, S. 143. Brückner, Erziehung, S. 78. Polligkeit, Das Recht des Kindes auf Erziehung, in: JdF 2 (1907), S. 1ff. Kinder- und Jugendfürsorge entwickelten sich in Deutschland nicht aus der städtischen Armenfürsorge, sondern aus den Fragen nach den gesetzlichen Möglichkeiten einer Zwangserziehung heraus. Im Anschluss an das Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches 1900 kam es in Preußen zur Verabschiedung des ‚Gesetzes über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger‘, wodurch die Trennung von Armenfürsorge und Kinderfürsorge sowie der allgemeine Trend zur Erweiterung der öffentlichen Erziehung seinen vorläufigen Abschluss fanden. Vgl. Gräser, Der blockierte Wohlfahrtsstaat, S. 25ff.; Sachße, Mütterlichkeit, S. 65ff. Zugleich sei betont, dass sich die Überschneidungen der Kinderfürsorge mit der Armenfürsorge sowohl in personeller, als auch in fachlich-professioneller und städtisch-organisatorischer Hinsicht (etwa beim ‚Ziehkinderwesen‘) nur langsam l̈sten und die Fragen der Kinder- bzw. Jugendfürsorge wie selbstverständlich Verhandlungsgegenstände des Deutschen Vereins blieben, wo sie oftmals kontrovers behandelt wurden.

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derfürsorge wären beispielsweise Kurt Blaum, Max Taube, Johannes Petersen und Christian Klumker zu nennen. Letztgenannter beklagte offen, dass sich die Durchsetzung eines neuen Erziehungsverständnisses in dem „alten, eingebürgerten Gebilde des Deutschen Vereins“ nur schwer realisieren ließ.372 Breitenwirksame Popularität erlangte die Erziehungsdebatte mit dem bereits angedeuteten Aufschwung der Jugendfürsorge. Die „Entdeckung der Jugend“ um und nach 1900 lässt sich anhand der sprunghaft ansteigenden Publikationen in allen europäischen Fachzeitschriften nachzeichnen.373 Gerade die Jugendfürsorge eignete sich in besonderem Maße, um der ‚Erziehungsmission‘ der Fürsorgeexperten einen gemeinsamen, transnationalen Sinnzusammenhang zu geben. Auf den internationalen Fürsorgekongressen hatten Bezüge zur Jugendfürsorge einen festen Platz374, außerdem fanden viele eigenständige Fachkongresse statt.375 Eine der wichtigsten deutschen Zeitschriften, die 1900 gegründete Jugendfürsorge, richtete sich an „alle Freunde der heranwachsenden Jugend“ und explizit „an alle Kulturländer“.376 Die Jugendfürsorge war zugleich eines der Publikationsorgane, das von den zahlreichen internationalen Kongressen für Armen- und Jugendfürsorge berichtete und auch für die Behandlung ihrer Themen immer wieder internationale Literatur berücksichtigte.377 Aber auch aus dem Tätigkeitsbericht der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge in Berlin geht hervor, dass ihr Angebot der Auskunftserteilung von vielen internationalen Interessenten wahrgenommen wurde. „Zahlreiche Besucher“, darunter „Vertreter ausländischer Vereine und Behörden“ sowie „Regierungsvertreter“ seien „wochenlang zu informatorischer Beschäftigung unsere Gäste gewesen“.378 All diese Verbindungen legen nahe, 372 Klumker, Vom Werden, S. 18–21. 373 Die für diese Untersuchung verwendeten international zirkulierenden Zeitschriften spiegeln diesen Trend unverkennbar wider. Speziell im Deutschen Verein wurde Jugendfürsorge erstmals 1897 zu einem eigenständigen Thema, vgl. Felisch, Die Fürsorge für die schulentlassene Jugend, SDV33 (1897). Zitat: Köster, Jugend, Wohlfahrtsstaat und Gesellschaft im Wandel, S. 21. Vgl. auch Peukert, Grenzen, hier: „Die Entdeckung des Jugendlichen als sozialpädagogisches Objekt“, S. 37ff. sowie Gräser, Der blockierte Wohlfahrtsstaat, S. 23ff. 374 Auch anhand der Kongressthemen und -debatten lässt sich nachvollziehen, wie Jugendfürsorge ab 1900 einen bemerkenswerten Anstieg erlebte. Während ‚Jugend‘ auf dem Kongress 1889 kein eigenständiges Thema war und auf den Kongressen von 1893 in Chicago und 1896 in Genf der Kinderschutz stärker betont wurde, rückten auf den Kongressen von 1900 und 1906 Jugendfürsorge bzw. die sie angrenzenden Fragen der Erziehung und Bildung von Jugendlichen in den Fokus, vgl. „Die Fürsorge für Kinder und jugendliche Personen auf dem Internationalen Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit in Paris 1900“, in: JF 2 (1901), 7, S. 410, bzw. „Der internationale Kongreß für Armenpflege und Wohltätigkeit vom 22. bis 27. Mai 1906 in Mailand“, in: ZdA 7 (1906), 7, S. 195f. 375 Die Liste der internationalen Veranstaltungen zum Thema Kindheit, Jugend und Erziehung im Zeitraum von 1890 bis 1914 ist lang, vgl. Rollet-Vey, La santé et la protection, in: Annales de démographie historique 1 (2001), Annexe. 376 JF 1 (1900), 1, Titelinnenseite. 377 Vgl. hierzu die weiterführenden Hinweise in den Sachregistern von Jugendfürsorge, die in den Ausgaben 1–15 (1900–1914) der Zeitschrift abgedruckt sind. 378 Aus der Zusammenstellung der „Auskunftserteilung“ von 1910 geht hervor, dass von 234 Anfragen 29 aus dem Ausland kamen, vgl. Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge, Bericht

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dass internationale Austauschbeziehungen auch im Bereich der Jungendfürsorge eine wichtige Rolle spielten und die neuen Erziehungsideale grenzüberschreitend konstruiert wurden.379 Parallel zu den Fragestellungen der Kinderfürsorge rückte auch beim Umgang mit der Jugend verstärkt das Vorsorgedenken in den Mittelpunkt. Wie zum Beispiel sei mit der ‚schulentlassenen Jugend‘ umzugehen, damit sie vor schlechten Einflüssen bewahrt werden könnte? Die Rettungs-Semantik unterfütterte die Leitidee der forciert-präventiven und öffentlich kontrollierten Erziehung. Engagierte Kämpfer für das Wohl der Jugend fanden sich sowohl in konservativen als auch progressiven Kreisen der Fürsorgefachwelt. Im Deutschen Verein vertraten zum Beispiel Conrad von Massow, Lorenz Werthmann oder Victor Böhmert eine dezidiert christlich-konservative Betrachtungsweise. In zum Teil drastischen, vom kulturpessimistischen Geist geprägten Darstellungen prangerten sie den moralischen Verfall der heranwachsenden Generation an. Sie standen mit in ihren Einschätzungen für ein Fürsorgeverständnis, das auf die „sittliche Hebung“ und die Schaffung einer selbstständigen, moralisch integren und arbeitsbetonten Lebensweise abzielte.380 Ein anderes Grundverständnis lag dem Erziehungskonzept zugrunde, das von neueren Strömungen der Sozialreformbewegung verbreitet wurde und sich immer mehr von den Auffassungen der traditionellen Armenpfleger entfernte. Eine in den 1890er Jahren bereits in den USA und Frankreich verstärkt in Erscheinung tretende Gruppe von sozial engagierten Akteuren arbeitete beispielsweise darauf hin, das alte System der Straf- und Korrektionshäuser für Jugendliche zu reformieren. Die Idee der Rettung ‚verwahrloster‘ oder gefährdeter Heranwachsender fand auf den internationalen Kongressen für Protection, Patronage and Prevention seine Spezifizierung. Schutz und Erziehung statt Strafe wurde zu ihrem Mot-

über ihre Tätigkeit (1910), S. 13. Zitate: Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge, Bericht über ihre Tätigkeit (1911), S. 23. 379 Die historischen Forschungen zur Jugendfürsorge wählten bislang weitgehend eine nationalgeschichtliche Betrachtungsweise. Die Fragen nach dem Aufstieg, den Idealen, dem tatsächlichen Erfolg und dem letztendlichen Scheitern der spezifisch deutschen Jugendfürsorge sind mit besonderem Interesse verfolgt worden. Die in vielen Bereichen vorliegenden internationalen Bezüge in Form von Fachliteratur, Konferenzen und Studienreisen wurden dabei nur am Rande erwähnt. Vgl. Frohman, Poor relief and welfare, S. 179ff.; Gräser, Der blockierte Wohlfahrtsstaat; Oberwittler, Von der Strafe zur Erziehung?; Peukert, Grenzen; Uhlendorff, Geschichte des Jugendamtes; Wilhelm, Rationalisierung der Jugendfürsorge. 380 Vgl. C. v. Massow, Die Fürsorge für die schulentlassene erwerbsarbeitende Jugend als Voraussetzung für den Erfolg der Wohlfahrtsbestrebungen auf den allermeisten Gebieten, in: Schriften der Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen (Vorbericht und Verhandlungen der Konferenzen) 15 (1898), S. 6ff.; vgl. auch die Beiträge von R. Glum, C. Schultz, L. Werthmann und C. v. Massow u.a. zur Jugendfürsorge auf der 28. Jahresversammlung des Deutschen Vereins, in: SDV 87 (1908), S. 11ff.; H. Reicher, Die Entwicklung und der gegenwärtige Stand der Jugendfürsorge, in: Schmidt (Hrsg.), Am Born der Gemeinnützigkeit, S. 321–329.

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to.381 In den USA entstand hieraus die Jugendgerichtshofbewegung. Einige amerikanische Staaten und Städte installierten derartige Jugendgerichtshöfe und schufen eine Rechtsgrundlage, die umfangreiche Befugnisse zur sozialen Erziehung legitimierte.382 Das sogenannte Probationssystem sah vor, Jugendliche mit bedingtem Strafurteil für bestimmte Zeit einem „probation officer“ zu unterstellen, statt sie einzuschließen. Die eigens hierfür ausgebildete Aufsichtsperson „aus der bürgerlichen Gesellschaft“ hatte die „Führung, Beschäftigung und Lebensgewohnheiten des Verurteilten“ zu untersuchen und auf den Jugendlichen erzieherisch einzuwirken.383 Der Straf- und Vergeltungsgedanke wurde durch eine pädagogische Herangehensweise ersetzt, aus dem Gefängnis sollte eine Erziehungsanstalt werden. Die amerikanischen Erziehungsmethoden und Besserungsanstalten sahen die ‚jugendlichen Übeltäter‘ damit erstmals als Produkt der sie umgebenden Verhältnisse.384 Ihr Verhalten wurde auf Mangel an Erziehung und die ärmlichen Verhältnisse ihrer Familien zurückgeführt. Die Behandlung von Jugendkriminalität wurde damit in einem neuartigen, sozialen Erziehungsmodell erprobt und traf in den europäischen Fachdebatten und den internationalen Fachkongressen uneingeschränkt auf Bewunderung385: „Es gibt […] kein Werk auf dem Gebiet sozialer Tätigkeit, das in kürzester Zeit so geradezu reißende Fortschritte gemacht hätte, wie die juvenile courts.“386 Das Interesse an dieser neuen, an pädagogischen Gesichtspunkten vollzogenen Jugendgerichtsbarkeit führte zum I. Internationalen Jugendgerichtstag zu Paris. Die Erziehungsexperten tauschten dort ihre Erfahrungen aus und berichteten von den ersten europäischen Umsetzungsversuchen. Ferdinand-Dreyfuss setzte sich ferner für die Idee ein, dass insbesondere Frauen für diese Art von jugendlicher Erziehungsarbeit ausgebildet werden sollten. Die deutsche Beobachterin Elsa von Liszt berichtete im Anschluss an die Versammlung in der Zeitschrift für das Armenwesen:

381 M.-S. Dupont-Bouchat, Du tourisme pénitentiaire à l’Internationale des philanthropes la création d’un réseau pour la protection de l’enfance à travers les congrès internationaux (1840– 1914), in: Paedagogica Historica: International Journal of the History of Education 38 (2002), S. 533–566. 382 Erste Jugendgerichtsḧfe gab es in Illinois ab 1899. Vgl. „Amerikanisches Armenwesen“, in: SDV 77 (1906), S. 73ff. und zu Jugendgerichtshöfe speziell S. 89ff.; „Kinder-Gerichtshöfe in den Vereinigten Staaten von Amerika“, in: JF 8 (1907), 9, S. 513ff.; „Zehn Jahre Jugendgericht in Amerika“, in: ZdA 11 (1910), 10, S. 298ff. Siehe auch bei Peukert mit Hinweis auf die internationale Rezeption: Peukert, Grenzen, S. 87ff. 383 P. Köhne, Jugendfürsorge (Probation work im Staate New York), ZdA 9 (1908), 3, S. 78. 384 „Die Jugendgerichtsḧfe“, in: SDV 77 (1906), S. 89–97. 385 Vgl. auch Oberwittler, Von der Strafe zur Erziehung?, S. 72. 386 Münsterberg über die Jugendgerichte, in: SDV 77 (1906), S. 89–97, Zitat S. 97. Zur positiven Rezeption siehe auch Polligkeit, Strafrechtsreform und Jugendfürsorge, hier S. 18ff.

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III. Leitkonzepte Wenn wir auch die unmittelbaren Ergebnisse einer Tagung wie dieser nicht überschätzen wollen, so haben wir doch alle wieder gesehen, wie wichtig eine derartige Verständigung zwischen sachverständigen Vertretern der verschiedenen Kulturnationen ist. 387

Es folgte der Internationale Jugendschutzkongress in Brüssel, wo sich auch der Deutsche Verein und die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge vertreten ließen.388 Im Kreise der deutschen Experten des Armenwesens wurden die Jugendgerichte unter anderem durch die Reise- und Studienberichte von Emil Münsterberg, Berthold Freudenthal und Elsa von Liszt bekannt. Die anfänglichen Zweifel hinsichtlich der Möglichkeit, die Jugendgerichte auf das ‚deutsche Fürsorgesystem‘ zu übertragen, wurden schnell zerstreut und von einer euphorischen und teilweise selektiv übertriebenen, da negative Erfahrungen aussparenden Darstellungsweise abgelöst.389 In Fachkreisen setzte sich einhellig der Wunsch durch, „Jugendgerichtshöfe nach amerikanischem Vorbilde auch in Deutschland einzuführen“.390 Im Jahre 1908 wurden nach intensiver publizistischer und kommunalpolitischer Aktivität die ersten Jugendgerichte eröffnet.391 Die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge spielte bei der Vermittlung dieser international sich verbreitenden Idee in die kommunale Fürsorgepraxis eine wichtige Rolle.392 Im Deutschen Verein forderte daraufhin unter anderem Wilhelm Polligkeit eine komplette Reorganisation des Erziehungs- und Aufsichtswesens: Es erscheint uns von sehr ernstlicher Bedeutung, daß nicht nur die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge eine Erörterung dieser Fragen veranlaßt und der Verfasser nachfolgenden Berichtes seinerseits einen Gesetzentwurf formuliert hat, sondern daß sowohl im Reichstage wie

387 ZdA 12 (1911), 5, S. 137. Elsa von Liszt veröffentlichte ferner einen ausführlichen Bericht, den sie nach einer Studienreise in den USA verfasste: Liszt, Soziale Fürsorgetätigkeit in den Vereinigten Staaten. 388 ZdA 14 (1913), 11, S. 315. 389 So Oberwittler in Bezug auf den Bericht der Studienreise, welche unter der Leitung des Frankfurter Bürgermeisters Franz Adickes in England stattfand, vgl. Oberwittler, Von der Strafe zur Erziehung?, S. 72f. 390 K. Allmenröder, Entstehung und Einrichtung, in: B. Freudenthal (Hrsg.), Das Jugendgericht in Frankfurt a. M., S. 1. Vgl. auch A. Paquet, Die Hauptformen der Jugendfürsorge in den Vereinigten Staaten, in: JdF 1 (1906); ZdA 9 (1908), 3, S. 78ff., ZdA 10 (1909), 7, S. 209f. und ZdA 11 (1910), 10, S. 298ff. 391 Im Vorwort zu den abgedruckten Verhandlungen des ersten deutschen Jugendgerichtstages hieß es dazu, dass man mit der „Vervollkommnung des Strafrechts“ nun auch in Deutschland den „universell empfundenen Bedürfnissen der internationalen Bildungsgemeinschaft“ gerecht werde, siehe Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge (Hrsg.), Die Verhandlungen des ersten Deutschen Jugendgerichtstages, Vorwort. Zur Entwicklung der Jugendgerichtshöfe und zeitgenössische Debatten siehe auch JF 7 (1906), 4, S. 219ff. und JF 8 (1907), 9, S. 513ff; „Die Organisation der Jugendfürsorge“, SDV 92 (1910), S. 107–115; Petersen, Gedanken. 392 In Jahresbericht von 1911 ist zu lesen, dass „kaum eine Jugendgerichtshilfe in Deutschland organisiert wird, ohne daß man unseren Rat [den der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge, Anm. d. Verf.] in Anspruch nimmt“, vgl. Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge, Bericht über ihre Tätigkeit (1911), S. 21.

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im preußischen Landtage der Gegenstand eingehend und mit entschiedener Befürwortung der reformierenden Tendenzen erörtert ist.393

Auch wenn es bis zum Ersten Weltkrieg hauptsächlich bei lokalen Entwicklungen blieb, wurde der ideelle Grundstein für eine einheitliche, von der reinen Straf- und Abschreckungslogik losgelöste Erziehungsgesetzgebung gelegt. 394 Der Austausch mit den internationalen Kollegen und die Rezeption ausländischer Fürsorgedebatten hatten daran einen nicht zu vernachlässigenden Anteil. Auf dieselbe Weise arbeiteten „Karl Thode und seine Anhänger, die mehr die Richtung des englischen Minderheitsberichts vertreten“, auf die Verwirklichung einer „Jugendfürsorge als einen Zweig der Sozialpolitik“ hin, den sie „fein säuberlich von der Armenpflege getrennt wissen [möchten]“.395 Am Beispiel der an vielen Stellen international beeinflussten Debatten über die zeitgemäße Ausgestaltung der Jugendfürsorge lässt sich der Wandel der ‚Fürsorgekultur‘ illustrieren. Die Auseinandersetzungen verweisen insgesamt auf die Erziehungskonzepte der aufstrebenden Wohlfahrtspflege. Hierin kristallisierte sich immer mehr die Vorstellung von Erziehung der Jugend als Teil einer neuen, gesellschaftsweit angewandten Vorsorgestrategie heraus, die mit dem bestehenden ‚Fürsorgesystem‘ nicht mehr in Einklang zu bringen war. Während es traditionellen Armenpflegern und konservativen Fürsorgeexperten um die ‚moralische Hebung‘ ging und ‚Arbeit an sich‘ als moralischer Selbstzweck vermittelt wurde, rückte im neuen Erziehungsdiskurs verstärkt der Aspekt der eigentlichen und tatsächlich messbaren Produktivität in den Mittelpunkt. Diese Argumentation folgte einem ähnlichen Schema, wie es in Bezug auf die Ausbildung bürgerlicher Frauen für die soziale Arbeit anzutreffen war.396 Erziehung wurde in beiden Fällen zum Inbegriff für ein Anwendungswissen, bei dem es um die Nutzbarmachung gemeinschaftlicher und wirtschaftlicher Ressourcen ging. Das neue Erziehungskonzept erhielt von Seiten der internationalen Sozialreformer-Gemeinschaft stets Inspiration und förderte die Entstehung wechselseitiger Austauschprozesse.397 Alice Salomon etwa berichtete nach ihrer USA-Reise ausführlich von den amerikanischen Methoden der Jugendfürsorge: 393 ZdA 9 (1908), 7, S. 245. 394 Frohman spricht in seiner Studie von „a steady shift from deterrence to prevention“, vgl. Frohman, Poor Relief, hier das Kapitel „Juvenile Delinquency and the Socialization of Juvenile Justice“, S. 183–195 (Zitat S. 190). Zur Fortentwicklung der Jugendgerichte H. Ruscheweyh, Die Entwicklung des deutschen Jugendgerichts; Peukert, Grenzen, S. 89ff. Generell zur Weiterentwicklung der Jugendfürsorge und Entstehung erster Jugendämter, Sachße/ Tennstedt, Geschichte, Bd. 2, S. 34ff. 395 Schwarz, Rechtliche Fürsorge, S. 94f. Kurt Schwarz macht in seinen Ausführungen deutlich, wie sehr sich in dieser Frage die Positionen innerhalb des Deutschen Vereins (v.a. repräsentiert durch Thode und Hollander, vgl. „Die gesetzliche Regelung der Aufgaben der öffentlichen Armenpflege“, SDV 97, (1912)) gegenüberstanden. Dass man die „Armenpflege aus diesem Fürsorgezweig ausschließen könnte“ wurde zwar als etwas „äußerst Sympathisches“ erachtet aber noch nicht für realisierbar gehalten, vgl. Schwarz, Rechtliche Fürsorge, S. 95. 396 Vgl. hierzu Kapitel III, 6. 397 Vgl. weiterführend H. R̈hrs, Die Reformpädagogik, insb. das Kapitel „Wegbereitung und Gestaltung der Reformpädagogik als internationale Bewegung“, S. 49–101.

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III. Leitkonzepte Es ist charakteristisch für die sozialen Bestrebungen in den Vereinigten Staaten, daß sie viel weniger von dem Bedürfnis des Einzelnen, der Notleidenden, als von dem der Gemeinschaft, des Volksganzen ausgehen, daß sie viel weniger Armenpflege als Erziehung, Bildung im höheren Sinne Kulturarbeit leisten. 398

Eben diese „Kulturarbeit“ mit Bezug auf die Betrachtung des „Volksganzen“ rief besonders bei denjenigen Fürsorgeexperten viel Zustimmung hervor, welche das bestehende ‚Fürsorgesystem‘ durch die Wohlfahrtspflege ersetzen wollten. Jugend verkörperte für sie die „soziale Ausrichtung“ des neuen Jahrhunderts. Psychologische, sozialhygienische und auch nationalistische Tendenzen fanden darin immer breiteren Raum und erweiterten das Spektrum sozialpädagogischer Handlungsorientierungen.399 Gesichtspunkte wie Produktivität, Gesundheit, Stärke, Gesamtwohl und innerer Zusammenhalt überlagerten im Fürsorgediskurs der Wohlfahrtspflege das individualisierte, karitative und bürgerlich konnotierte Erziehungskonzept der ‚sittlichen Hebung‘.400 Beeinflusst von diesem weltanschaulichen Hintergrund nahmen die Erziehungsdebatten vor dem Ersten Weltkrieg noch einmal an Fahrt auf. Getreu dem Motto: „Es gibt keine verwahrlosten Kinder, sondern nur verwahrloste Verhältnisse“401, verbreiteten sich sozialwissenschaftlich legitimierte, vorsorgebezogene Interventionsmöglichkeiten.402 In seiner Wirkung war der Minderheitsbericht dahingehend sogar noch radikaler. Er propagierte den totalen erzieherischen Zugriff des Staates zum Wohle der ‚Volksgemeinschaft‘.403 Eine zusätzliche Radikalisierung dieser Wissensbestände folgte im Krieg. Einst durch internationale Austauschprozesse mit ausgeprägt, fanden die Erziehungskonzepte nun ihre nationalistisch gefärbte Bestimmung, die aus der „Heranziehung eines leistungsfähigen Nachwuchses des deutschen Volkes“ bestand. Aber auch „nach dem Kriege“, so Klumker 1918, bleibe die Jugendfürsorge „eine besonders dringende Aufgabe der Bevölkerungspolitik.“404 8.3. ‚Volksgemeinschaft‘ statt bürgerliche Ordnung Die Kritik an den organisatorischen, methodischen und normativen Grundlagen der Armenfürsorge ging mit einem völlig neuen Gesellschaftsverständnis einher. 398 Salomon, Soziale Arbeit in Amerika, in: Centralblatt des Bundes deutscher Frauenvereine XI (1909), S. 97–99 und S. 105–107, Zitat S. 97. 399 Vgl. ausführlich Peukert, Grenzen, S. 133 und insb. S. 151ff. 400 Vgl. auch Stein, Die Verwissenschaftlichung, S. 85f. 401 „Amerikanisches Armenwesen“, in: SDV 77 (1906), S. 88. 402 Vgl. hierzu Peukert, Grenzen, hier insb. über „Zwangserziehung“ S. 97ff.; Wilhelm, Rationalisierung („Dispositiv der Verwahrlosung“). Siehe auch in Bezug auf Kinderfürsorge Dickinson, The politics of German child welfare; Murdoch, Imagined Orphans; Rollet-Vey, La santé et la protection, S. 97–116, Swain, Child Rescue, in: Lawrence/Starkey (Hrsg.), Child Welfare and Social Action, S. 101–202. 403 „Die Verhütung der durch jugendliche Verwahrlosung entstehenden Armut“, in: Webb, Das Problem der Armut, S. 37–52. 404 „The Minority Report“, in: Royal Commission, Report, S. 719–1238.

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Den klarsten Ausdruck fand die Neukonzeption des ‚Sozialen‘ in der Schrift The Break-Up of the Poor Law von Sidney Webb, der das technische Pendant zum Minderheitsbericht war.405 Sein Gegenstück, der Mehrheitsbericht, spiegelte die Grundansichten der gemäßigt reformorientierten Sozialreformer Englands wider und konnte dabei auch auf die Unterstützung einiger Kollegen aus dem Ausland bauen. Der Minderheitsbericht bildete hingegen die Grundlagenschrift jener Gruppierung von Wohlfahrtspflege-Befürwortern, die sich in europäischen und amerikanischen Fachkreisen um 1910 verstärkt als progressive Opposition hervortat.406 In unterschiedlichen Ländern und Fachkreisen erregte die Arbeit viel Aufsehen.407 Es wurde auch auf dem internationalen Kongress 1910 in Kopenhagen thematisiert.408 Jedoch in keinem anderen Land rief das Werk bei Fachkreisen eine so starke Bewegung hervor wie in Deutschland, wo sich die Schrift dank Helene Simons Übersetzung und ausführlicher Besprechungen verbreiten konnte.409 Die Schrift propagierte ‚revolutionäre‘ Methoden zur Bekämpfung der Armut410: das Zusammenlegen aller fürsorgerelevanten Behörden, die Einführung eines neuartigen Versicherungs- und Vorsorgekonzeptes sowie staatlich gesteuerte Maßnahmen gegen Erwerbslosigkeit und für wirtschaftliche Steuerungspolitik. Der Bericht war allerdings nicht nur aufgrund der provokanten Forderung, das poor law aufzulösen, revolutionär. Die Verfasser implizierten in ihm zugleich ein neues Gesellschaftsverständnis und richteten sich damit an „die Gesamtheit der gebildeten Staatsbürger“411. Alice Salomon empfahl sogar: „alle sollten es lesen“.412 Die Kerngedanken lassen sich schwer nur mit den sozialen Ordnungskonzepten der etablierten politischen Strömungen umschreiben. Auch wenn die reformsozialistische Prägung in den Fürsorgedebatten allgemein stärker in Erscheinung trat, findet man, wie bereits erwähnt, unter den deutschen Vordenkern der Wohl405 Webb, Das Problem der Armut. 406 Zu den Verfassern des Minderheitsberichtes gehörten Russel Wakefield, Francis Chandler und George Lansbury sowie das Ehepaar Webb. Andere wichtige Sozialreformer, wie etwa William Beveridge, unterstützten die Ausarbeitung. 407 Neben Frankreich wirkten die Schriften des Ehepaares Webb auch in die amerikanischen Fürsorgedebatten hinein, vgl. Topalov, Naissance, S. 68. Frohman ordnet den Minderheitsbericht der Poor Law Commission und andere progressive Strömungen in einen breiten panatlantischen sozialen Reformdialog ein, vgl. Frohman, The Break-Up, in: Comparative Studies in Society and History 50 (2008), S. 981–1009. 408 Dies führte allerdings zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen, vgl. ‚Der Internationale Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit 1910 in Kopenhagen‘ in Kapitel I, 5.3. 409 In keinem anderen Land seien außerdem, so die rückschauende Bewertung von Heinz Wolfram aus dem Jahr 1930, so viele seiner Grundsätze verwirklicht worden, vgl. Wolfram, Vom Armenwesen, S. 87; vgl. Webb, Das Problem der Armut. 410 „Nicht Evolution, sondern Revolution“, so Münsterberg, in: SDV 94 (1910), S. 13. 411 Webb, Das Problem der Armut, Vorwort. 412 Salomon, Das Problem der Arbeit, ZdA 13 (1912), 12, S. 359. In ihren Schriften zeigt sich immer wieder deutlich, wie sehr Salomon von der englischen Sozialphilosophie ‚vom sozialen Frieden‘ beeinflusst war.

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III. Leitkonzepte

fahrtspflege sehr unterschiedliche politische Denkrichtungen. Tatsächlich zeichnete sich das Programm der Wohlfahrtspflege vielmehr durch seine dezidiert wissenschaftliche Beweisführung aus, welche die Sphären Wirtschaft, Soziales und Nation in einen neuen sinnstiftenden Zusammenhang zu bringen beabsichtigte. Das „Wesen der Wohlfahrtspflege“413 sollte sich den Sozialreformern auf diese Weise zwangsläufig erschließen. Die zugrundeliegenden Fürsorgediskurse brachten neue Wissensbestände und Wahrheitspostulate hervor.414 Diese eröffneten die Möglichkeit, die Grundkoordinaten des sozialpolitischen Ordnungsdenkens neu zu definieren. Organische Volkskonzepte und die Einheit der Nation erhalten als Weltdeutung Vorrang gegenüber den Vorstellungen einer bürgerlichen Klassengesellschaft. Das Verhältnis zwischen Arm und Reich gründete in der sozialreformerischen Gesellschaftskonzeption noch darin, dass sich die Bessergestellten den Bedürftigen individuell zuwendeten. In der freiwilligen Verpflichtung des Armenpflegers sollte sich der gesellschaftliche Zusammenhalt äußern. Dabei fand in der ‚von Oben‘ organisierten Armenfürsorge im Grunde genommen lediglich das Sicherheits- und Kontrollbedürfnis der wohlhabenden Klassen eine Entsprechung.415 Die Wohlfahrtspflege propagierte hingegen weitaus mehr als „Sicherheit und Rechtspflege“. Sie stand für eine „neue Gesellschaftsordnung“416 und die Vermittlung einer neuen Gemeinschaftsgesinnung: Daß sie Ausgang sein muß einer Bewegung, die das Gemeinschaftsleben nach dem Gesichtspunkt größerer Gerechtigkeit und Vollkommenheit ordnen will, daß sie ein Mittel derer ist, die Klassengegensätze zu überwinden suchen; die überzeugt sind, daß überkommene Schuld und Ungerechtigkeit nur durch persönliche Hingabe, nur durch Opfer der Liebe gut zu ma417 chen sind.

Demnach standen Staat und Wohlfahrt für etwas ‚großes Ganzes‘, das sich um seine einzelnen Glieder zu kümmern habe.418 Die Schaffung von Gegenseitigkeit und von einem inneren Zusammenhalt galt als wichtiges Leitkonzept. Während die älteren Sozialreformer noch mit dem universal verstandenen Kultur- und Gemeinschaftsbegriff operierten, erhielt bei den Unterstützern des Minderheitsberichts die Vorstellung der ‚Volksgemeinschaft‘ eine stärkere Betonung. Soziale Hilfe sollte als Dienst an der Gemeinschaft aufgefasst werden und nicht mehr nur als Ausdruck eines bürgerschaftlichen Engagements, wie beispielsweise im Elberfelder System versinnbildlicht. Die individuelle Freiheit der einzelnen Glieder 413 Frank (Hrsg.), Vom Wesen, hier insb. „Über die inneren Voraussetzungen der Wohlfahrtspflege“ von A. Salomon, S. 11–14. 414 Vgl. weiterführend Kapitel IV, 4. 415 Nach Wilhelm Feld bestand die Arbeit der alten Fürsorgeexperten aus „sorgfältigen Beratungen über Einzelheiten von neuen Gesetzen und Einrichtungen, die doch letztlich alle noch geordnete Finanzverhältnisse und die alte bürgerliche Gesellschaft zur Grundlage“ nahmen. Feld, Neue Strömungen, S. 12. 416 So Salomon rückblickend über Beatrice Webb, in: Salomon, Beatrice Webbs Kampf, in: DZfW 2 (1926), 2, S. 57–62, insb. S. 62. 417 Salomon, Über die inneren Voraussetzungen, in: Frank (Hrsg.), Vom Wesen, S. 11. 418 Vgl. auch Wanger/Zimmermann, Die Konstitution einer politischen Ordnung als Verantwortungsgemeinschaft, in: Lessenich (Hrsg.), Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe, S. 243–266.

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hatte sich als Verantwortung im sozialen Gefüge zu äußern, das von Interdependenz und einem organisch gewachsenen Zusammenhang geprägt sei: „daß der einzelne sich für die Gesamtheit, die Gesamtheit sich für den einzelnen in ganz anderer Weise einsetzt, als es in früherer Zeit möglich gewesen wäre.“419 Die Wohlfahrtspflege sollte nicht nur neue Formen der sozialen Interaktion verstetigen, sondern auch ein Gesellschaftsverständnis vermitteln, in dem „der Individualismus als Erziehungs- und Lebensprinzip“420 abnehmen würde. Damit verschwammen auch die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Raum.421 Der ordnende Zugriff hatte sich nach Ansicht der neuen Denker auch auf die kleinsten Einheiten des Gemeinwesens, wie etwa durch den Ausbau der Kinder-, Jugend- und Familienfürsorge, auszuwirken.422 Der Rekurs auf Begriffe, welche Nation und Volk als Wertbestimmungen übersteigerten, war in der Fachliteratur in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg sehr ausgeprägt. Die Nationsbezogenheit stellte sich jedoch in sehr unterschiedlichen Formen dar: Das Ineinandergreifen wissenschaftsbezogener, völkisch-nationalistischer und sozialistischer Begrifflichkeiten sowie die sich generell noch im Fluss befindliche Theoriebildung der Wohlfahrtspflege vor dem Ersten Weltkrieg erschweren eine klare Zuordnung. Charakteristisch war der neue Blick auf das Gesamtwirtschaftsleben. Alle nationalen Ressourcen sollten in der Wohlfahrtspflege der gesamtwirtschaftlichen Steigerung dienlich sein, um auch weiterhin im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Klumker sah ein Kernproblem der „mangelhaften Technik“ der Armenfürsorge folglich auch darin, dass sie unwirtschaftlich operiere und die Leistung der gesamten Gesellschaft mindere.423 Aus diesem Grund forderte man verstärkt die ‚Aktivierung‘ der „unwirtschaftlichen Elemente“, um sie „nutzbar“ zu machen.424 Die Wissenschaften wiederum stellten neue Sozialtechniken bereit und legitimierten ihre Anwendung. Sie überlagerten dabei viele normative Konzepte und verwandelten sie in logisch begründbare Handlungsanweisungen. Wissenschaftliche Erkenntnis, so Beatrice und Sidney Webb, würden zwangsläufig zu einer neuen Art der Behandlung der Fragen und neuen moralischen Verpflichtungen führen. Der „Gemeinsinn“ und die „Spezialisten der Sozialwissenschaft“ müssten Hand in Hand gehen. Nur auf diese Weise lasse sich die „systematisch[e] Durchdringung und Verwirklichung des Sozialzweckes“ erreichen.425 Damit war

419 420 421 422

Salomon, Über die inneren Voraussetzungen, in: Frank (Hrsg.), Vom Wesen, S. 12. Salomon, Soziale Frauenbildung, S. 1. Fuchs, Gender and Poverty, S. 240. Vgl. hierzu auch K. Marx, From ‘old’ Poor Relief (Armenpflege) to ‘new’ Welfare (Wohlfahrtspflege): Development of ‘Family Care’ in rural Germany, in: Gestrich/King/Raphael (Hrsg.), Being poor, S. 299–321. 423 Klumker, Zur Theorie der Armut, in: ZVSV (1910), S. 15. Siehe ferner Kapitel IV, 4 in dieser Arbeit. 424 Ebd., S. 25; vgl. auch „die Unterstützung der Leistungsschwachen“ bei Krautwig, Organisation, S. 1f. 425 Siehe Webb, Das Problem der Armut, Kapitel X: „Der Moralfaktor“, S. 194.

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III. Leitkonzepte

zugleich die Türe für nationalistische Deutungsmuster geöffnet, die sich „mit einer Welle nationaler Erhebung“ in den Kriegsjahren radikalisieren würden.426 Die konzeptuellen Grundlagen zur Wohlfahrtspflege gewannen jedoch schon davor und maßgeblich angeregt durch den internationalen Wissensaustausch an Profil. Der Minderheitsbericht nahm wichtige Annahmen vorweg, welche die sozialpolitischen Debatten anhaltend beeinflussen würden und das Ende derjenigen Sozialreformer-Gemeinschaft besiegelte, die seit dem Kongress 1900 in Paris an der Idee einer grenzüberschreitenden Wertgemeinschaft im Sinne eines universalen, ‚bürgerlichen‘ Fürsorgevereins festhielten. Dabei trat eine neue Dynamik der grenzüberschreitenden Vernetzung zutage: Das Leitkonzept der ‚Volksgemeinschaft‘, seinerseits durch die transnational verflochtenen Fürsorgediskurse vermittelt, hatte eine stärkere Besinnung auf das spezifisch Nationale der ‚Fürsorgekulturen‘ zur Folge.

426 Salomon, Soziale Frauenbildung, S. 1.

IV. GRUNDWISSENSBESTÄNDE: ARMUTS- UND FÜRSORGEDISKURSE 1. ARMUTSDEFINITIONEN UND ARMUTSVERSTÄNDNISSE Eine erstaunliche Tatsache fällt unmittelbar ins Auge, wenn man die deutschsprachigen Fachpublikationen der Armenfürsorge des frühen 20. Jahrhunderts betrachtet: Man findet unter ihnen kaum theoretische Arbeiten über Armut. Im Deutschen Reich gab es im Gegensatz zur Sozialen Frage der Arbeiterklasse lange weder eine theoretische Debatte noch eine universitär verankerte Forschung über Armut, weshalb immer wieder auf ausländische Literatur zurückgegriffen wurde. 1 Eine elaborierte Armutstheorie war von Seiten einiger Soziologen und Ökonomen zwar im Entstehen begriffen.2 Allerdings fanden diese Erörterungen außerhalb der Fürsorgedebatten und ohne Beteiligung der Fürsorgeexperten statt. Was für die Sozialreformer Armut theoretisch eigentlich bedeutete, äußerte sich im Armutsdiskurs daher meistens nur implizit. Die Fürsorgefachwelt beschäftigte sich vorrangig mit der „Technik der Armenpflege“: Statt „das Wesen der Armut vom geistlichen, weltlichen, vom theoretischen und vom praktischen Standpunkt“ zu behandeln, standen rechtliche, organisatorische und armenpflegerische Aspekte im Zentrum der Überlegungen.3 Genau diese enggefasste Praxisorientierung galt als Fortschritt und Maßstab einer modernen Armenfürsorge, die sich bewusst von der theoretischen Sozialwissenschaft unterscheiden wollte.4 Vor diesem Hintergrund wird plausibel, dass die Fürsorgeorganisation weitgehend ohne eine sozialwissenschaftlich fundierte Theorie der Armut auskam. Seit dem Wandel des Armutsverständnisses im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte sich wenig in den impliziten Anschauungen über Armut geändert. Damals war soziale Not den Deutungs- und Wahrnehmungsmustern der Frü1

2

3 4

Zum Beispiel hier: Riess, Zur Theorie des Armenwesens, ZdA 11 (1910), 6, S. 161ff. Hervorzuheben wären die Arbeiten des amerikanischen Ökonomen Henry George sowie das umfangreiche Werk von Charles Booth: George, Fortschritt und Armuth („Progress and Poverty“ im Original); Booth, Life and Labour of the People in London. So etwa in England, vgl. Pinker, Armut, in: Leibfried/Voges (Hrsg.), Armut im modernen Wohlfahrtsstaat, S. 124–148. Allerdings macht Pinker darauf aufmerksam, das Armutsforschung in England eher eine „Laienangelegenheit“ war und eine randständige Rolle in der Entwicklung der Soziologie spielte, vgl. ebd., S. 143f. Klumker, Theoretisches über Armenwesen, ZdA 14 (1913), 7, 200. Vgl. auch Klumker, Zur Theorie der Armut, in: ZVSV (1910), S. 1. Ebenso wie sich auch umgekehrt die frühe deutsche Soziologie von der praktisch orientierten Sozialreform distanzierte, was Marcus Gräser anhand des von Max Weber, Werner Sombart und Edgar Jaffé herausgegebenen Archiv für Sozialwissenschaft verdeutlicht, vgl. Gräser, Visuelle Strategien und Bildabstinenz: Varianten im Verhältnis von Soziologie und Sozialreform in den USA und in Deutschland, 1890–1920, in: Reinecke/Mergel (Hrsg.), Das Soziale ordnen, S. 33–51, hier S. 42.

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IV. Grundwissensbestände

hen Neuzeit entzogen und allmählich als Problemlage des wirtschaftlichen Zusammenlebens betrachtet worden.5 Armut und Arbeit gerieten in einen funktionalen Zusammenhang, wobei der individuelle und moralische Aufruf zur Arbeit lange noch über gesamtwirtschaftlichen und sozialpolitischen Überlegungen stand. Der Einfluss von Malthus‘ Prognose, wonach Armut eine der modernen Gesellschaft immanente und evolutionär bedingte Begleiterscheinung des Bevölkerungswachstums darstelle, war auch dann noch in der praktischen Ausgestaltung der Armenfürsorge zu spüren, als die zugrundeliegende Theorie bereits widerlegt worden war. Sie hatte glaubhaft den Gedanken vermittelt, dass Armut als Selbstverschulden der Armen zu verstehen sei, welche eine ‚Volksvermehrung wider die Vernunft‘ praktizieren würden.6 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts befand sich der Armutsbegriff weiterhin im Fluss und blieb rechtlich schwammig. In den verschiedenen Äußerungen der Sozialreformer kommt deutlich zum Ausdruck, dass er weder als sozialwissenschaftliches Theorem noch im Sinne einer armenrechtlichen Definition klar oder international anerkannt bestimmt war. Man griff in den Fachdebatten vielmehr auf überlieferte Armutsvorstellungen zurück und reicherte sie spontan mit neuen Argumenten an, die für eine bestimmte Form von Armenpflege sinnvoll erschienen. Diese Unbestimmtheit spiegelte sich auch im Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz wider, das Bedürftigkeit nicht definierte.7 Das daraus resultierende vage Armutsverständnis kann anhand einer Diskussion veranschaulicht werden, die sich auf dem internationalen Kongress 1889 in Paris entfachte. In ihr ging es um die in Frankreich kontrovers erörterte Frage, ob und in welchem Umfang die öffentliche Armenfürsorge einen obligatorischen Charakter haben sollte.8 Darin kam der Sachverhalt zur Sprache, welche Formen von Hilfsbedürftigkeit überhaupt existieren würden und nach welcher Definition von Armut eine Fürsorgepflicht zu greifen hätte. Es wurden mitunter erhebliche Unterschiede der einzelnen Positionen sichtbar. Arm sei beispielsweise eine Person, die ihrer sozialen Rolle, etwa als Familienvater, nicht gerecht würde, oder ein Arbeiter, der eine Familie besaß und weniger als vier Francs pro Tag verdienen würde.9 Henri Henrot sprach sich hingegen dafür aus, generell zwischen verschiedenen Bedürftigkeitsgruppen zu unterscheiden, die gewissermaßen nicht dieselben 5

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Vgl. Seiderer, Von „wahren Armen“, in: Sczesny/Kießling/Burkhardt (Hrsg.), Prekariat im 19. Jahrhundert, S. 21–38, insb. S. 36; Veits-Falk, Der Wandel des Begriffs Armut um 1800, in: Kühberger (Hrsg.), Aktuelle Tendenzen, S. 15–44; „Von der natürlichen zur gesellschaftlichen Armut“, in: Sachße/Tennstedt, Bettler, S. 153ff. Vgl. Klumker, Zur Theorie der Armut, in: ZVSV (1910), S. 2f. Nach § 4 des Freizügigkeitsgesetzes von 1867 galt die Person als hilfsbedürftig, die für sich und seine Angehörigen den notwendigen Unterhalt aus eigenen Mitteln oder Kräften nicht erwerben konnte. Die genauen Grenzen, welche Mittellosigkeit, Bedürftigkeit und Arbeitsunfähigkeit definierten, blieben reine Ermessenssache der Armenverwaltungen. Zu den rechtlichen Grundlagen und Auslegungen des Armenwesens vgl. Graeffner/Simm, Das Armenrecht. Eine systematische Darstellung sämtlicher das Armenrecht betreffenden Rechtsmaterien. „Dans quelle mesure l’Assistance publique doit-elle avoir un caractère obligatoire?“, in: Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, ab S. 1ff. Vgl. ebd., S. 311.

Armuts- und Fürsorgediskurse

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Problemlagen teilten: ‚Würdige‘ oder ‚unwürdige‘ Hilfsbedürftige, Kranke, Alte und Kinder.10 Der von Monod vertretene Standpunkt ging hingegen überhaupt nicht von sozialen, sondern von rein körperlichen Benachteiligungen aus: „Notre formule exige, pour que l’assistance soit obligatoire, que la misère ait une cause physique.“11 Armut beträfe kranke und alte Menschen sowie verwaiste Kinder. Nur in diesen ‚eindeutigen‘ Fällen von Personen, die sich temporär oder definitiv nicht in der körperlichen Situation befinden würden, ihre Existenz selbst zu sichern, ließe sich eine obligatorische Unterstützung festlegen. 12 Dieser Standpunkt rief einige Zweifel hervor, vor allem bei denjenigen, die eine weiter gefasste staatliche Fürsorgepolitik gegenüber der privatwohltätigen, katholisch geprägten Wohltätigkeit durchsetzen wollten.13 Durch die Redebeiträge der internationalen Gäste schlug die Debatte über Armutsdefinitionen eine ganz andere und für die darauffolgenden Jahre bedeutsame Richtung ein. Die Kongressteilnehmer Loch und Rosenau betonten, dass die Frage nach der angemessenen und verpflichtenden Unterstützung rein rechtstheoretischer Natur sei: Des réunions comme celles-ci sont portées à produire des théories. Que la théorie ne nous détourne pas de la pratique de la charité. Vous ne pouvez faire de la théorie avec les pauvres, car dans chaque cas la cause de la pauvreté est différente et aucune méthode statistique pour 14 la déterminer n’a encore été trouvée.

Die Armenfürsorge habe sich hingegen mit der technischen Frage auseinanderzusetzen, etwa wie Armenpflege innerhalb des rechtlich definierten Rahmens möglichst effektiv umgesetzt werden könne. Die Frage, ‚ob‘ obligatorisch geholfen werden müsse, erklärte Loch, sei nicht diskussionswürdig. Tatsächlich begrenze sich die öffentliche Armenfürsorge in allen Gemeinwesen in den für notwendig erachteten Maßnahmen zum ‚Schutz‘ der Gesellschaft. Entscheidend sei, auf welche Art und Weise und mit welchen Mitteln Armenfürsorge umgesetzt werde.15 Das im Allgemeinen sehr unspezifische Armutsverständnis der Sozialreformer zeigte sich auch in der Themenvielfalt, welche auf den internationalen Kongressen von 1889, 1893, 1896 und 1900 behandelt wurde. Während in Chicago 1893 Armut und Delinquenz in enger Verbindung zueinander gesehen wurden, fasste man in Genf 1896 die Kinderschutzfragen als solche der Armut auf. Für den 10 11 12 13

Ebd., S. 322. Ebd., S. 287. Ebd. Monods hier sehr enggefassten Kriterien sind als pragmatische Einschätzungen darüber zu verstehen, was eine öffentliche Armenfürsorge leisten kann. Monod war als Vorsitzender der Direction l’Assistance Publique zwar Schlüsselfigur bei der Ausweitung staatlicher Armenpolitik und obligatorischer Sicherungssysteme. Allerdings betonte er stets, dass der Staat die notwendigen Ressourcen nicht zur Verfügung hätte, um allen Bedürftigen zu helfen. Vgl. Fuchs, From the Private to the Public Devoir: Henri Monod and Public Assistance, in: Proceedings of the Annual Meeting of the Western Society for French History 17 (1990), S. 373– 382. 14 Rosenau in: Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 336. 15 Ebd., S. 328.

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IV. Grundwissensbestände

Kongress 1900 in Paris wurde Unterstützung durch Arbeit gleichermaßen besprochen wie Tuberkulosefürsorge. Armut blieb darin stets ein nicht näher definierter Zustand zwischen wirtschaftlicher Bedürftigkeit, Krankheit und sozialer Devianz. Sie konnte weiter oder enger gefasst werden und diente in erster Linie den Argumentationsmustern, welche die Ausweitung oder Verbesserung der bestehenden armenfürsorglichen Rechtssysteme stützten. Die Grundlagenwerke zur Armenfürsorge wiederum bestätigten in ihren Darstellungen die verbreitete Ansicht, dass Armenpflege eine „Maßregel ohne Gegenleistung“ sei. Das „Geben“ entspräche einem „Schenken“, also einem Akt des Mitleides. Insofern sei Armut nicht objektiv messbar, sondern ein wahrnehmungsabhängige Erscheinung.16 Armut wurde somit im Spiegel der Kultur betrachtet, in der sie auftrat. Hunger, Krankheit und Alter hätten zwar einen messbaren Mangel an Grundgütern zur Folge. Man war sich auch einig, dass die Formen von Armut, welche zur unmittelbaren Bedrohung des physischen Lebens führten, durchaus eine universelle Problemlage darstellen würden.17 Unabhängig davon sei Bedürftigkeit jedoch vorrangig eine relative, also zeit-, kontext- und vor allen Dingen kulturabhängige Erscheinung, wie es auf dem Chicagoer Wohltätigkeitskongress 1893 generalisierend zum Ausdruck gebracht wurde: „In times and countries where no alms are given there may be starvation, but there is no pauperism.“18 Der gehobene Lebensstil der fortschrittlichen Nationen beeinflusse die Wahrnehmung, weshalb sich Münsterberg für folgende Armutsdefinition entschied: Als arm ist der zu bezeichnen, der die Mittel entbehrt, die nach Sitte, Gewohnheit und Standesauffassung derjenigen Gemeinschaft, in der er lebt, als notwendig erachteten Bedürfnisse zu befriedigen.19

Umgekehrt kann Armut als Zustand, der die „Hilfe von fremder Seite erfordert“, nur als solcher anerkannt werden, „wenn eine derartige Hilfe tatsächlich geleistet worden ist“20 – so der Franzose Lallemand, dessen Werk zur Geschichte des Armenwesens international breit rezipiert wurde. Demnach könne über einen realen Armutszustand wenig gesagt werden, wenn der Bedürftige überhaupt erst durch die empfangene Unterstützung als arm charakterisiert werde. Die von dem Historiker und Nationalökonomen Roscher verfassten und im Kreis der Fürsorgeexpertise weit verbreiteten Ausführungen kontrastierten die Sensibilität der Kultur gegenüber Bedürftigen – „dass man sie jetzt menschenfreundlicher betrachtet“21 – hingegen mit der ‚Maßlosigkeit‘ mancher Verarmter, deren Ansprüche mit der 16 Münsterberg, Zur Theorie des Armenwesens, ZdA 6 (1905), 2, S. 33. 17 So Münsterberg auf dem Wissenschaftskongress 1904 in St. Louis. Münsterberg, The Problem of Poverty, in: Rogers (Hrsg.), Congress of Arts and Science, Bd. VII, S. 833. 18 White, Causes of Pauperism and the Relation of the State to it, in: General Exercises of the International Congress 1893, Bd. 1, S. 146. 19 „Was ist Armut“, in: Münsterberg, Die Armenpflege, S. 7–10, Zitat S. 10. 20 „Gedanken zur Geschichte und Theorie des Armenwesen“, in: ZdA 9 (1908), 6, S. 164. 21 Roscher, Zur Pathologie der Armut, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 50 (1894), S. 2.

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Wahrnehmung der reichen Bürger gewachsen seien. Das grundsätzliche „Empfinden“ habe sich demnach verändert, nicht die Armut selbst, wie Roscher in Bezug auf die Studien von Baron de Gérando und Charles Booth zu bedenken gab. Aus diesem Grund hätten auch die steuerkräftigsten Provinzen Frankreichs am meisten Arme und in England müsse im Prinzip jede dritte Person als bedürftig gelten. Die Differenzierung von Bedürftigkeit erlaube erst der Wohlstand. Seine Definition, die sich an den internationalen Bezugswerken orientierte, führte die Gedankengänge wie folgt zu Ende: Arm ist, „der unentgeltlichen Hülfe Anderer bedarf, die sich nicht speziell dazu verpflichtet halten.“22 Für Simmel hingegen, dessen 1908 erschienene „Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“ in der Fürsorgefachwelt auf wenig Resonanz stieß23, entstand gerade aus diesem wahrnehmungs- und beziehungsbezogenen Armutsverständnis heraus ein besonderes Pflichtgefühl der oberen Klassen, da diese die qualitative Diskrepanz zwischen Arm und Reich als störend empfinden würden. Eine wahrnehmungsunabhängig existierende, quantitative Armutsdefinition schloss allerdings auch Simmel aus.24 Die dargelegten Armutsdefinitionen gewannen in den internationalen Fürsorgedebatten und vor dem Hintergrund des gemeinsam konstruierten Geschichtsund Zivilisationsbildes zusätzlich an Relevanz. Dort setzte sich die Anschauung durch, dass Armut überhaupt nur im Kontext der ‚Kulturnationen‘ tatsächlich existiere, ganz so, wie die ‚Lehre der Absatzkrisen‘ lediglich „auf den ḧheren Stufen der volkswirtschaftlichen Kultur“ ihre Gültigkeit besitze.25 Dementsprechend kamen auf den Kongressen und in den international zirkulierenden Publikationen zum Armenwesen nur sehr selten Berichterstatter zu Wort, deren Schwerpunkt nicht auf der Entwicklung der sogenannten Kulturwelt lag.26 Der Vortrag über „Armut in der Türkei“ auf dem Chicagoer Wohltätigkeitskongress von 1893 stellte eine der wenigen Ausnahmen dar. Als Münsterberg in den Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik diesen Beitrag rezensierte, hielt er fest, dass es im Osmanischen Reich überhaupt keine Armut gebe. Da in der Türkei alle Familien Land besäßen und die Religion die zwischenmenschlichen Kontakte fördere, benötige man auch keine öffentliche Armenfürsorge, so sein Fazit.27 In der Betrachtungsweise der Fürsorgeexperten gab es das Problem der Armut lediglich in den 22 Ebd., S. 1. Für die Argumentation werden unter anderem die Werke von C. Booth und J. M. Gérando herangezogen. 23 Dies bemängelte auch Klumker in: Klumker, Zur Theorie der Armut, in: ZVSV (1910), S. 1. 24 „Der Arme als soziologische Kategorie entsteht nicht durch ein bestimmtes Maß von Mangel und Entbehrung, sondern dadurch, daß er Unterstützung erhält oder sie nach sozialen Normen erhalten sollte.“ Simmel, Untersuchungen, S. 372. 25 Roscher, Zur Pathologie der Armut, S. 15. 26 Darunter verstand Muteau die Vertreter „vom alten Griechenland bis zu England“, vgl. dessens Rede auf dem Kongressbankett 1910 in Kopenhagen, Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 2, 625. 27 Münsterberg, Report of the Proceedings, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 3, 1895, S. 604f., hier bezugnehmend auf T. Flakky, Charity in Turkey, in: General Exercises of the International Congress 1893, Bd. 1, S. 284ff.

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industriellen und ‚fortschrittlichen‘ Ländern. Somit finden sich im transnationalen Zivilisationsdiskurs jene strukturierenden Aussagen, welche einen konstitutiven Charakter für den Gegenstand Armut aufweisen. Nur in den „Kulturstaaten“28 zeige sich Armut als Produkt von sozialer Mobilität, humanistischer Einsicht und bürgerlichem Verantwortungsgefühl. Und tatsächlich: Nur in den ‚fortschrittlichen Nationen‘ etablierte sich eine öffentliche Armenfürsorge, welche Bedürftigkeit anerkannte, maß und verwaltete. So betrachtet kann man zu der Schlussfolgerung gelangen, dass der international verflochtene Zivilisationsdiskurs die Kategorie Armut als soziales Konstrukt mit herausbildete. Dieses Armutsverständnis erwies sich insofern als folgenschwer, als es die intrinsische Logik der Armenfürsorge unentwegt nachbildete: Indem man eine theoriegeleitete Objektivierung und Quantifizierung der Kategorie Armut ablehnte, die sich mit strukturellen und sozioökonomischen Beziehungen hätte auseinandersetzen müssen, blieb es den Fallprüfern der Armenverwaltungen überlassen, mittels subjektiver Kriterien zwischen den ‚echten‘, also ‚würdigen‘ und den ‚unwürdigen‘ Armutsfällen zu unterscheiden. Aus dem Feingefühl der Armenpfleger heraus konsolidierten sich jene sozialen Machtverhältnisse, welche die Sozialreformer in ihrer gesellschaftlichen Stellung begünstigten. Armenfürsorge blieb, im Gegensatz zur Arbeiterpolitik, in diesem Sinne als karitative Einrichtung ohne Unterstützungsanspruch alternativlos und eng mit dem Sendungsbewusstsein der Fürsorgepraktiker verwurzelt, welche sich auf den internationalen Kongressen darin gegenseitig bestätigten, eine universelle Kulturaufgabe wahrzunehmen. Ab 1900 näherten sich unterschiedlich konnotierte Armutsverständnisse im transnationalen Armutsdiskurs weiter an. Dies hing vor allem damit zusammen, dass sich in fast allen auf den Kongressen vertretenen Nationen ähnliche Leitideen und vergleichbare Organisationsformen der Armenfürsorge herausbildeten und zu einer weitgehenden Vergleichbarkeit der fürsorgebezogenen Strategien führten. Wissenssammlung und Wissensaustausch über die unterschiedlichen Formen fürsorglicher Praktiken hatten zu dieser Entwicklung geführt. Die Fokussierung auf die Praxisorientierung und die Schaffung neuartiger wissenschaftlicher Sozialtechniken äußerten sich in einer klaren Handlungsmaxime: Es galt zu prüfen, wer den bestehenden rechtlichen Bestimmungen nach als unterstützungswürdig erachtet werden konnte und wer nicht. Auf diese Weise wurde kaum neues Wissen über Armut und ihre Ursachen geschaffen. Stattdessen erweiterte man das Wissen über Arme und deren Lebenswelten. Hierin lag die spezifische Produktivität des transnationalen Armutsdiskurses um und nach 1900.

28 Zum Begriff „Kulturstaat“ und der Wandlung dieses Konzeptes im Deutschen Reich vgl. vom Bruch, Kulturstaat – Sinndeutung von oben?, in: Hübinger/vom Bruch (Hrsg.), Kultur, Bd. 1, S. 63–101.

Armuts- und Fürsorgediskurse

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2. WISSENSPRODUKTION ÜBER ARME Das Armutsverständnis der Fürsorgeexpertise speiste sich im Wesentlichen aus den Kenntnissen, die man über Bedürftige und deren Lebenswandel erfasste. Die Ursachenforschung entstand aus der Armenpflege-Praxis heraus und erschöpfte sich oftmals in der Ermittlung derjenigen individuellen Defizite, welche die Armen in ihre Not geführt hätten. So wurde trotz der wachsenden Einsicht, dass „allgemeine Ursachen“ wie wirtschaftliche Wechsellagen, Überproduktion, Urbanisierung oder auch Kriege Armut begünstigten, in erster Linie Wissen über die „individuellen Ursachen“ wie „Krankheit, Gebrechen, Trunksucht, Müßiggang, Verschwendung“29 angesammelt und in die fallorientierte Pflegepraxis integriert. Stereotypisierungen wie solche, die über die ‚dummen‘, ‚faulen‘ und ‚verbrecherischen Elemente‘ sprachen, waren trotz abnehmender Tendenz in den Fürsorgedebatten präsent. Die transnationale Verflechtung des Armutsdiskurses beruhte insbesondere auf der Basis dieser geschichtlich verankerten, moralischen Zuschreibungskategorien. Von der internationalen Vergleichbarkeit der Ordnungskriterien wird trotz kulturspezifischer Nuancen und Konnotationen bei allen Autoren ausgegangen. Die fachwissenschaftliche Semantik und die terminologische Übereinstimmung generierten dadurch ‚universale Erkenntnisse‘ von der Wesensart eines Bedürftigen. Das Wissen über verarmte Personen nahm in dem Maße immer schärfere Konturen an, in dem sich die Instrumente der Ursachenforschung modernisierten. Immer feinere Methoden der Fallprüfung, Kategorisierung und verwaltungstechnischen Durchdringung ließen immer unterschiedlichere Bedürftigengruppen zutage treten. Durch Beobachtung vergewisserte man sich der Andersartigkeit ihrer Existenz: Lebens- und Essgewohnheiten, Hygiene, Haushaltsführung und Kinderziehung wurden auf den Prüfstand gestellt. Über die Besucher der Wanderarbeitsstätten berichtete Conrad Massow entsprechend: „Die Kundschaft hat ihre besonderen Gesetze, ihre eigene Sprache, man kann sie im gewissen Sinne als‚ Verein für Arbeitsscheue und Wanderbettel‘ bezeichnen.“30 Das Narrativ verortete die bedürftigen Unterschichten in einer fernliegenden Parallelgesellschaft, deren Lebenspraxis Armut naturgemäß hervorbringen und weitervererben würde. Die transnationalen Vagabundendiskurse würdigten die wandernden Bedürftigen dabei in besonderem Maße herab, weil sie sich den individualisierenden Methoden der Armenpflege und damit allen ordnenden Zugriffen durch die Armenpfleger komplett entzogen. Die Analysen aus der Fürsorgepraxis schufen ein international vermittelbares Wissen. Bedürftige schienen sich in ihren Notlagen gleich zu verhalten, egal in welcher Stadt oder in welcher Region sie sich befanden. Die vielzitierten Arbeiten von Booth („Life and Labour of the People in London“), Paulian („Paris qui mendie“), Flynt („Tramping with tramps“) oder auch Rocholl („Dunkle Bilder aus dem Wanderleben“) stellten ein und denselben Typus Armen zur Schau. Die ge29 „Ursachen der Armut“, in: Münsterberg, Die Armenpflege, S. 11f. 30 Massow, ZdA 10 (1909), 2, S. 76.

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genseitige Bezugnahme in der Fachliteratur brachte viel Übereinstimmung hinsichtlich der Armenbilder hervor, welche die ‚Vagabundendebatte‘ beeinflussten. Neueste Kenntnisse über die Psychologie und Physiologie, etwa in den Untersuchungen von Eugenio Florian und Guido Cavaglieri, ergänzten die scheinbar allgemeingültigen und grenzüberschreitend vergleichbaren Wissensbestände über die defizitären Grundeigenschaften bedürftiger Wanderer.31 Es fanden sich in den unterschiedlichen Publikationen zum Armenwesen auch nahezu keine Ausführungen, welche einen Zusammenhang zwischen ‚Nationalcharakter‘ und Armut herzustellen versuchten.32 Unzählbar viele Querverweise auf ausländisches Datenmaterial, Statistiken, Erfahrungsberichte und Fachpublikationen demonstrieren vielmehr, dass das Wissen über ‚die Armen‘ als ein gesamteuropäisch konstruiertes anzusprechen ist.33 Das Bild, das von Armen gezeichnet wurde, beschrieb selten die soziale Not derjenigen Menschen, die von Armut am meisten betroffenen waren. Die Statistiken führten zwar Alter und Krankheit als Hauptursachen von Armut an.34 Sie identifizierten außerdem verwitwete Frauen mit Kindern als eine vom Armutsrisiko besonders betroffene Gruppe.35 Diese Objektivierungsansätze schlugen sich allerdings kaum in den verbreiteten Armutsbildern nieder. Sie wurden in vielen Fällen sogar regelrecht ignoriert.36 Der Blickpunkt war stattdessen überwiegend auf erwachsene, gesunde, arbeitsfähige Männer gerichtet, nur ab 1900 rückten im Zuge des sich wandelnden Vorsorge- und Erziehungsparadigmas noch Kinder und Jugendliche in den Fokus der Öffentlichkeit und Fachwelt.

31 Vgl. die international vergleichende Studie von Florian/Cavaglieri, I vagabondi (2 Bd.). Zur positiven Rezeption der Arbeit in Deutschland vgl. ZdA 1 (1900), 12, S. 45f., dort wird sie als „herausragendes Werk“ gelobt, welches durch seine „erstaunliche Belesenheit“ hervortrete. 32 Der einzige in der Quellenlektüre dokumentierte Fall, bei dem zwischen Armut und ‚nationalen Eigenschaften‘ (hier der Franzosen) eine Verbindung hergestellt wird, findet sich in einer frühen Schrift (1881) Reitzensteins, vgl. Reitzenstein, Die Armengesetzgebung Frankreichs, S. 204 und S. 207. 33 Vgl. auch Althammer, Bettler, S. 6. 34 „Armenstatistik“, in: Handẅrterbuch der Staatswissenschaften, 2. Aufl. (1898), S. 1218 und 3. Auflage (1909), S. 182. Dass Krankheit einer der Hauptgründe für Unterstützungsgesuche war, geht beispielsweise auch aus den von K. Marx-Jaskulski untersuchten Armenbriefen hervor, vgl. Marx-Jaskulski, Narratives of Ill-Health in Applicant Letters from rural Germany, 1900–1930, in: Gestrich/Hurren/King (Hrsg.), Poverty and Sickness, S. 209–224. 35 Vgl. insbesondere Klumker (Hrsg.), Armenstatistik einiger deutscher Städte für das Jahr 1896/97, S. 133ff. für die „Hauptursachen der Unterstützungsbedürftigkeit und Altersgruppen“ in verschiedenen deutschen Städten. 36 So verwendet Roscher in seinen Ausführungen zwar Statistiken, welche Armut weniger an der Eigenschuld messen, geht dann in der darauffolgenden Analyse der „Armutsursachen“ überhaupt nicht auf diese Sichtweise ein. Er übergeht vielmehr vollständig die Tatsache, dass die von ihm hervorgehobenen „individuellen Fehler“ der Bedürftigen überhaupt nicht mit den Werten der Statistik übereinstimmen, die fast ausschließlich „Unglücksfälle“ (Krankheit, „Tod des Ernährers“, etc.) dokumentierten, vgl. Roscher, Zur Pathologie der Armut, S. 1–32.

Armuts- und Fürsorgediskurse

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Der Wissensfundus, auf dem die diffamierenden Zuschreibungen beruhten, entstammte einerseits den tradierten, frühneuzeitlichen Armenbildern.37 Andererseits koppelte sich das Armutsverständnis des 19. Jahrhunderts an die Bedingungen des bürgerlich-industriekapitalistischen Dispositivs. Darin produzierten sich das soziale Zusammenleben strukturierende Normalitätsvorstellungen über Arbeit, Familie, Gesundheit und Moral. Die Armutsdiskurse legen insofern Grundannahmen über gesellschaftliche Ordnungskonzepte frei, wobei die Grundidee vom ‚normalbürgerlichen‘ Lebenslauf als wichtigster Referenzpunkt der Fürsorgeexperten galt. Die Armutsbilder verwiesen dementsprechend auf die „Schattenseiten der späteren Kultur“38 und riefen zugleich Zukunftsängste hervor: Anstieg der Armenbevölkerung, das massenhafte Auftreten von Wanderarbeitern und das Wachsen der Arbeiterbewegung versetzten vor allem konservative Kreise immer in einen besorgten Zustand.39 Man warf den Armen vor, durch Fehlverhalten für diese Krisen mitverantwortlich zu sein. Schuld seien demnach Laster wie ‚Liederlichkeit‘, ‚Arbeitsscheue‘, ‚Maßlosigkeit‘ und andere ‚Sittenlosigkeiten‘.40 Begriffe wie die eben erwähnten besitzen eine hohe paraphrastische Kapazität: In nur einem Ausdruck kann ein ganzes Weltdeutungskonzept transportiert oder zusammengefasst werden. Die Diskrepanz zwischen Arm und Reich wurde somit als fehlende Einsicht in die Moral und Wesensart der bürgerlichen Existenz interpretiert, welche es zu verstehen und erlernen galt. Zur Wissensproduktion über das normabweichende Verhalten der Armen gehört auch das Klischee der verbrecherischen und betrügerischen Armen.41 Der moralische Defekt der Bedürftigen und die ‚gewohnheitsmäßige Neigung‘ mancher Personen, ‚nicht arbeiten zu wollen‘, trug zu der Argumentationsweise bei, welche Armut mit kriminellem Verhalten gleichzusetzen versuchte. Die ‚Erfindung des Kriminellen‘ war eng mit den Praktiken der Armenfürsorge verwoben.42 Der Zusammenhang von Kriminologie, Korrektionshäusern und der Armenfürsorge hatte eine weit zurückreichende Tradition und blieb 37 Über Armutsbilder in der Frühen Neuzeit vgl. Jütte, Arme, S. 11ff. Zum geschichtlichen Hintergrund der in klassifikatorischen Armutsbegriffen vermittelten Topoi, vgl. Seiderer, Von „wahren Armen“, in: Sczesny/Kießling/Burkhardt (Hrsg.), Prekariat im 19. Jahrhundert, S. 21–38. 38 Roscher, Zur Pathologie der Armut, S. 5. 39 Vgl. exemplarisch: Massow, Die soziale Frage vom konservativen Standpunkt, in: Zeitfragen des christlichen Volkslebens 13 (1898), S. 1–47. Zu den Ursachen des „apokalyptischen Bev̈lkerungsdiskurses“ vgl. Etzemüller, Ein ewigwährender Untergang Bev̈lkerungsdiskurs, insb. S. 7ff. und S. 27ff. 40 Besonders anschaulich wird diese Ansicht vertreten im Artikel „Poverty“, in: Bliss (Hrsg.), Encyclopedia of Social Reform, S. 933ff. Berücksichtigt werden in dieser dezidiert internationalen Perspektive unter anderem die Untersuchungen von Böhmert, Booth, Godard und Warner. 41 Zu Armut und Delinquenz und anderen Formen der „Wissenskonstruktion des gefährlichen Menschen“ vgl. Becker, Strategien der Ausgrenzung, in: GG 30 (2004), S. 404–433; Härter/Sälter/Wiebel (Hrsg.), Repräsentationen; Jessen, Polizei, in: GG 20 (1994), S. 157–180.; Rosenblum, Beyond the Prison Gates. 42 Wetzell, Inventing the Criminal, S. 27.

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vor allem in den USA lange bestehen, so dass besonders von dort der Armutsdiskurs immer wieder mit tendenziösen Untersuchungen angereichert wurde. Die Vorträge des Wissenschaftskongresses 1904 in St. Louis zur „criminal group“ und „dependent group“ wiesen derart übereinstimmende Analysen auf, dass diese pauschale und vorurteilsbehaftete Moralisierung der Bedürftigen auch in den transnationalen Armutsdiskursen immer wieder aufgegriffen wurde.43 Die Idee vom verbrecherischen Armen blieb auch dann noch in der Fach- und Trivialliteratur bestehen, als bereits empirisch belegt worden war, dass ein Zusammenhang zwischen Armutsbekämpfung und Verbrechertum beziehungsweise Prostitution einer „ruhigen wissenschaftlichen Betrachtung“ nicht standhielt.44 Die individuelle Ursachenforschung war auch von Herangehensweisen gekennzeichnet, welche mit dem Aufstieg der Natur- und Sozialwissenschaften in enger Verbindung standen. Sie ermöglichten, Armut zusätzlich in die Nähe pathologischer Deutungsmuster zu rücken. Die Auffassung, dass Armut mit einem Krankheitszustand verglichen werden könne, war im Armutsdiskurs schon früh stark verbreitet.45 Sie lehnte sich an das Ideal der körperlichen und ‚sittlichen Reinheit‘ eines erwachsenen, unabhängigen Subjekts der bürgerlichen Gesellschaft. Eine rationale und von Mäßigung geprägte Lebensführung wurde als Grundlage für ein glückliches und gesundes Leben angepriesen. Die sich seit dem 18. Jahrhundert verbreitenden Gesundheitslehren maßen dem „Ausdrucksmedium Körper“ einen wichtigen Stellenwert bei. Die auf Mäßigung abzielende individuelle Selbstregulation fand in Körperpflege, Ernährung und Bekleidung ihre deutlichsten Entsprechungen.46 Armut galt demzufolge als Ausdruck eines unmoralischen Lebensstils, der sich in der Missachtung anerkannter Gesundheitsvorschriften und durch einen zu leichtfertigen Umgang mit dem Körper äußern würde. Vor diesem Hintergrund sind die Bemühungen der „internationalen Mäßigkeitsbestrebung“ zu verstehen, sich für das „Arbeiterwohl und Menschglück“ einzusetzen.47 Selbstbeherrschung sollte aber nicht nur den Alkoholkonsum, sondern auch das Reproduktionsverhalten regulieren. Bei den Bedürftigen beobachtete man mit Sorge, dass die Mäßigkeit und Vernunft ganz durch „die Begierde des Augenblicks lebende Genußsucht und eine vollkommene Gleichgültigkeit gegen alle 43 Vgl. die Vorträge von Henderson („The Definition of a Social Policy relating to the Dependent Group“) und Wines („The New Criminology“), in: Rogers (Hrsg.), Congress of Arts and Science, Bd. VII, S. 817ff. und S. 851ff. 44 Siehe Klumkers Vorwort und Kommentar, in: Roscher, System der Armenpflege und Armenpolitik (3. Auflage), S. 26. 45 Vgl. Gestrich/Hurren/King, Narrating the sick and poor in Europe 1780s to 1930s, in: dies. (Hrsg.), Poverty and Sickness, S. 3. 46 Vgl. ausführlich Döcker, Die Ordnung der bürgerlichen Welt, vor allem S. 71–139 zum „Ausdrucksmedium K̈rper“. Weiterführend zur Bedeutung des K̈rpers in der Herausbildung des „bürgerlichen Subjekts“ und über Hygiene als „Zauberwort der Moderne“ vgl. Sarasin, Reizbare Maschinen (Zitat S. 17). 47 Böhmert über die internationale Mäßigkeitsbewegung, in: Der Arbeiterfreund (1901), 38, S. 215. Über Armut, Alkoholismus und die Mäßigkeitsbewegung vgl. Spode, Die Macht der Trunkenheit, insb. 233ff. und 240ff.

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Folgen verdrängt wird“.48 Unter Verweis auf die Bevölkerungsentwicklung rief man die „höher kultivierten Nationen“ dazu auf, ihren gering gebildeten Schichten ein angepasstes Reproduktionsverhalten zu vermitteln. Die Konzepte, welche vorsahen, das Soziale nach hygienischen und biopolitischen Gesichtspunkten zu reorganisieren, verbreiteten sich somit allmählich auch in den sozialreformerischen Fachkreisen.49 Diese Betrachtungsweise stützte die Idee, nach der Armut ‚wie eine Krankheit‘ anzusehen sei: Das bedeutet Auffassung des ganzen Problems als eines sozialen, der Verwahrlosung insbesondere als einer ‚sozialen Krankheit‘, der gegenüber dann natürlich auch die Heilmittel vorzugsweise soziale sein müssen.50

Während Armut, wie in diesem Beispiel, lange nur ‚wie eine soziale Krankheit‘ betrachtet wurde, setzte mit den wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden eine Deutungsoption ein, welche die Grenzen zwischen Analogie und tatsächlichem pathologischem Befund zunehmend verschwimmen ließen. Vor allem der Einfluss der Hygienebewegung trug zur Verbreitung der Auffassung bei, nach der Armut selbst als Krankheit beziehungsweise als ein pathologischer oder degenerativer Zustand charakterisiert wurde. Kategorien wie Abhängigkeit, Sittenverfall sowie Verwahrlosung verknüpften Armut und Krankheit zu einem scheinbar logischen Konstrukt. Das vergleichbare Vorgehen der Sozialhygieniker, Mediziner und Armenpfleger leisteten der Synonymisierung von Pathologie und Bedürftigkeit Vorschub. Selbst die Terminologien und Methoden der Armenfürsorge funktionierten ähnlich wie die der Medizin: Diagnose, Typisierung, das Erstellen von individuellen Werten und Behandlungsstrategien. Der Werdegang der Verarmten ließ sich wie ein Krankheitsverlauf darstellen, Ätiologie und Symptomatologie der Armut wiesen bestechende Parallelen zur Medizin auf.51 Es gehe darum, so Münsterbergs Beitrag auf dem Wissenschaftskongress 1904 in St. Louis, für Armut moderne Behandlungsmethoden ausfindig zu machen: Alle Körperbedingungen, das Blut, der Kreislauf, die physischen Fähigkeiten seien zu untersuchen, um die vollständige Genesung des Bedürftigen zu ermöglichen.52 Entsprechend differenziert sollte das Hilfsangebot ausgestaltet werden. Die Behandlung von „genesenden Geisteskranken“, „Irren“ oder „Epileptikern“ galt es den jeweiligen Bedürfnissen an48 Münsterberg, Die Armenpflege, S. 14. 49 Zu biopolitischen Diskursen in der Hygienebewegung, vgl. Hüntelmann/Vossen/Czech (Hrsg.), Gesundheit und Staat, hier vor allem die Beiträge von Hüntelmann (S. 27–48) und Roßberg (S. 125–136) sowie insbesondere in Bezug auf die „biopolitische Geschichte der Gesundheitsämter“ den Beitrag von Hüntelmann, in: ebd., S. 275–294. In Bezug auf die ‚Medikalisierung‘ der Wandererfürsorge siehe auch Snyder, The Bodelschwingh Initiative, in: Althammer/Gestrich/Gründler (Hrsg.), The Welfare State, S. 150–174, hier insb. S. 162ff. 50 J. F. Landesberg in Bezug auf die sozialen Reformen in der amerikanischen Jugendfürsorge, welche als Mittel „zur Reinigung der Menschheit von Verbrechen, Verwahrlosung und Entartung“ dienen würden. Vgl. ZdA 12 (1911), 5, S. 137f. 51 Siehe auch Topalov, Naissance, S. 206, und Frevert, Fürsorgliche Belagerung, in: GG 11 (1985), S. 421. 52 Münsterberg, The Problem of Poverty, in: Rogers (Hrsg.), Congress of Arts and Science, Bd. VII, S. 837.

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zupassen. „Beachtenswerte Schriften“ aus dem Ausland halfen, die Anstaltsfürsorge nach möglichst „gesundheitsförderlichen“ Maßstäben zu gestalten.53 Milieustudien bestätigten diesen Zusammenhang, indem sie das Wissen über das Asoziale, Degenerierte, Krankhafte und Gefährliche permanent erweiterten. Gesundheitspflege und Hygiene als Leitwissenschaften gehörten zu jenen universellen Prinzipien, welche sich in der Literatur und auf den internationalen Kongressen verbreiteten.54 Studien über die „Wohnungszustände“ in London, Philadelphia oder Berlin erinnerten nicht nur an die Notwendigkeit, allgemeingültige Hygienestandards zu propagieren. Die detaillierten Einzelfalluntersuchungen aus den Großstädten verschiedener Länder, welche allesamt den krankheitsverursachenden Lebensstil in Wort und Bild dokumentierten, hätten darüber hinaus den Wert, „aufzurütteln“ und „wachzuhalten“.55 Das Ideal der gesunden, ‚würdigen‘ Gesellschaft, die sich den sozialen und hygienischen Missständen entschieden entgegensetzt, verbreitete sich im transnationalen Armutsdiskurs. So auch auf dem internationalen Fürsorgekongress 1900 in Paris: par l’initiative sous toutes les formes, par l’association sous tous les noms, qu’ils sont résolus à faire partie d’une société vivante et agissante, digne d’être, ce qui est le but, une société virile et libre.56

Der hier geäußerte Wunsch nach einer ‚lebendigen‘ und ‚gesunden‘ Gesellschaft zeigte sich insbesondere auch bei der Tuberkulosebekämpfung. Diese stand mit der traditionellen Armenfürsorge lange Zeit in enger Verbindung und war vor allem auf dem internationalen Kongress 1900 wichtiger Verhandlungsgegenstand. Der Zusammenhang zwischen Armut und Tuberkulose förderte unterdessen weitere Möglichkeiten, medizinische Erkenntnisse mit dem sozialen Wissen über Bedürftigkeit, Moralität und Mortalität zu verknüpfen und diese Erkenntnisse durch die von Gotthold Pannwitz als „reich und fruchtbar“57 bezeichneten internationalen Austauschbeziehungen zu vertiefen.58

53 In der Zeitschrift für das Armenwesen finden sich zahlreiche Verweise zum Thema Armut und Krankheit unter Berücksichtigung ausländischer Fachpublikationen und Erfahrungsberichte, vgl. beispielsweise ZdA 1 (1900), 4, S. 16 (Zitate) oder auch ZdA 5 (1904), 10, S. 335ff. 54 Zwischen 1878 und 1912 gab es allein 15 Internationale Kongresse für Hygiene und Demographie, vgl. Rollet-Vey, La santé et la protection, in: Annales de démographie historique 1 (2001), Annexe. Vgl. auch die Deutsche Vierteljahresschrift für öffentliche Gesundheitspflege, in der internationale Bezüge dicht gesät sind. 55 So E. Altmann-Gottheiner in Bezug auf Studien von Edward G. Howarth und Charles Frederick Weller, vgl. „Wohnungszustände“, in: ZdA 10 (1909), 7, S. 238. 56 Picot, in: Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 1, S. 46. 57 „Es ist in der Tat ein herzerfreuendes und erhebendes Bild, alle Kulturv̈lker bei gemeinsamer Arbeit zu sehen, um dem jammervollen Elend und den Verheerungen zu steuern, die Jahr für Jahr die Tuberkulose unter den Volksmassen anrichtet“, Pannwitz (Hrsg.), Ein Jahrzehnt Internationaler Tuberkulose-Arbeit, Vorwort. Vgl. auch ZdA 4 (1903), 8, S. 225ff., dort ist ein ganzer Band der Zeitschrift dem internationalen Kampf gegen Tuberkulose gewidmet. 58 Über die Geschichte der Tuberkulosebekämpfung unter Berücksichtigung internationaler Vernetzungen: Barnes, The Making of a Social Disease.

Armuts- und Fürsorgediskurse

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Der vielfach verflochtene Armutsdiskurs trug zweifellos dazu bei, die sozialreformerischen Überlegungen zu Armut um biologistische Betrachtungsweisen zu ergänzen. Zugleich muss hervorgehoben werden, dass radikal eugenische Tendenzen nur in einigen wenigen Expertenkreisen, vor allem in denjenigen der Hygienebewegung anzutreffen sind. Während Begründungen mit der Vererbungslehre und Eugenik unter amerikanischen und britischen Sozialwissenschaftlern schon vor 1914 sehr ausgeprägt waren59, finden sich weder auf europäischen Fürsorgekongressen noch in der europäischen Fachliteratur zur Armenfürsorge Empfehlungen für rassenhygienische Methoden.60 Auch war die Fürsorgepraxis im Deutschen Reich zunächst wenig davon betroffen.61 Die zurückhaltende Einstellung darf allerdings nicht über die Wirkung biologistischer Vorfeldbemerkungen hinwegtäuschen, welche die Gleichsetzung von Armut und Krankheit subtil erzielte. Im Armutsdiskurs traten vermehrt Begrifflichkeiten und Wahrheitspostulate in Erscheinung, welche Anknüpfungspunkte für eine Verschränkung des Armutsund des Rassenhygienediskurses bereitstellten.62 Der größte Teil des Wissens über Arme und ihre Verhaltensweisen entstammte dem Fürsorgealltag und wurde von den Armenpflegern zusammengetragen. Armenbesuche und die individuellen Betreuungen spielten eine wichtige Rolle, 59 Vgl. T. Leonard, Mistaking Eugenics for Social Darwinism, in: History of Political Economy 37, 2005, S. 200–233. Thomas Leonard veranschaulicht in diesem Aufsatz, wie sehr eugenisches Denken im angloamerikanischen Raum jener Epoche als „Mainstream“ bezeichnet werden kann. Vgl. z. B. Sidney und Beatrice Webb, Armut und Rassenschönheit, in: Die neue Rundschau (Freie Bühne) 23 (1912), S. 601–608. Allgemein zur Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene vgl. P. Weingart/J. Kroll/K. Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, hier insb. S. 286ff. zum rassenhygenischen Vorbild USA. 60 Dabei gilt es, zwischen eigentlichen Kreisen der Armenfürsorge-Fachwelt und denen der Sozialhygiene zu differenzieren. Wie Tennstedt feststellte: Bei rassenhygienischen Konzepten im Kaiserreich „handelte es sich insoweit noch mehr um eine sektiererisch-elitäre Bewegung von Außenseitern, die auf vergleichsweise schmaler Vereinsbasis ruhte und auf zwei Zeitschriften begründet war.“ Tennstedt, Sozialreform in Deutschland, in: ZfS 32 (1986), S. 10– 24, Zitat S. 20. Zu gleichem Ergebnis kommt J. Reyer, Alte Eugenik und Wohlfahrtspflege, S. 59ff. Die zurückhaltende bis ablehnende Haltung deutscher Sozialreformer gegenüber der Eugenik wird von Seiten einiger ‚Sozialhygieniker‘ auch kritisiert, vgl. unter anderem W. Schallmayer, Soziale Massnahmen zur Besserung der Fortpflanzungsauslese, in: M. Mosse/G. Tugendreich (Hrsg.), Krankheit und soziale Lage, S. 841ff. 61 Auch Sigrid Stöckel betont in ihrer Studie zur Säuglingsfürsorge in Berlin, dass es sich bei den Sozialhygienikern, welche offen eugenische Methoden einforderten, in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zwar um eine lautstarke, dennoch kleine und für die Praxis der Armenfürsorge zunächst noch wenig einflussreiche Minderheit handelte, vgl. S. Stöckel, Säuglingsfürsorge zwischen sozialer Hygiene und Eugenik, S. 48ff. 62 Einige Forschungsarbeiten weisen darauf hin, diese langen historischen Linien der Eugenik (vgl. P. Weindling, Health, race, and German Politics) nur mit Bedacht zu ziehen und stärker auf die fehlende Kohärenz in rassenhygienischen Diskursen hinzuweisen oder die tatsächliche Praxis der Armenfürsorge nicht außer Acht zu lassen, vgl. E. Dickinson, Biopolitics, Fascism, Democracy: Some Reflections on Our Discourse About „Modernity“, in: Central European History 37 (2004), S. 1–48; Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge auf dem Land, S. 410ff.; dies., From ‘old‘ poor relief, in: Gestrich/King/Raphael (Hrsg.), Being poor, S. 299–321.

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aber auch die Durchführung von Sozialstudien sowie deren Visualisierung auf Ausstellungen und Fotografien.63 Es ging darum, in die „Lebenshaltung der minderbemittelten Klassen“ vorzudringen. Die Zahlenobjektivität stellte international vergleichbares Material bereit. Die von der Ökonomin Elisabeth AltmannGottheiner in der Zeitschrift für das Armenwesen vorgestellten ausländischen Schriften zur „Ermittlung von Lebenshaltungskosten“ unterstrichen die Bedeutung, welche man der genauen Alltagsdokumentation von Bedürftigen beimaß. Sie sollten die fehlerhafte Haushaltung und die daraus resultierenden sozialen Problemlagen mittels internationaler Beispiele umfassend veranschaulichen.64 Vor allem die gegenseitige Bereicherung von „Wissenschaft und Erfahrung“, so betonte man es auf dem internationalen Kongress 1910 in Kopenhagen, vermehre die Einsichten in das Armutsproblem.65 Der grenzübergreifende Austausch bekräftigte auf diese Weise die Grundannahmen über das Wesen und die Ursachen von Armut und verankerte diese noch tiefer in den Fürsorgediskursen. Gleichzeitig präzisierte dieser Austausch das Verständnis von Modernität und Wissenschaftlichkeit. Moralistische Deutungsmuster wurden nach und nach von sozialwissenschaftlichen Erklärungsmodellen überlagert. Die Rezeption von internationalem statistischem Material demonstriert diese partielle ‚Kolonisierung‘ moralisierender Armutsverständnisse durch wissenschaftliche Kategorien.66 Die Armutsstatistiken zählten und klassifizierten alle Menschen, welche Unterstützungsleistungen nach den bestehenden Rechtsgrundsätzen empfingen. Das ‚Eingeschrieben-Sein‘ war dabei der Kern der Wirklichkeitskonstruktion des Armen.67 Bedürftigkeitsgruppen konnten dadurch direkt angesprochen und bedient werden. Gleichzeitig hob man die Fortentwicklung und ‚Modernität‘ der Unterstützungspraktiken hervor, wodurch sie öffentlichkeitswirksam legitimiert werden sollten. Ebenso wie die Statistiken konstituierte der Armutsdiskurs damit unaufhörlich die Einsichten, die zur Aufrechterhaltung der klientelbezogenen, individualisierenden und im moralistischen Schuld-Denken verhafteten Armenfürsorge notwendig waren. Die im Armenwesen praktizierten Fallprüfungen, welche die individuellen Ursachen der Unterstützungsbedürftigkeit in Augenschein nahmen, brachten allerdings auch ein spezifisches Wissen über Armutsformen hervor, das nicht oder 63 Es sei an die vom Musée sociale organisierte Ausstellung zur „Economie sociale“ im „SozialPalast“ der Weltausstellung 1900 erinnert, deren Anschauungsmaterial in den Fachpublikationen positiv aufgenommen wurde. Vgl. „Soziale Wohlfahrtspflege auf der Pariser Weltausstellung“, in: Der Wanderer 17 (1900), S. 257ff. Vgl. ferner L. Vogl-Bienek, Projektionskunst und soziale Frage. Der Einsatz visueller Medien in der Armenfürsorge um 1900, in: J. Requate (Hrsg.), Das 19. Jahrhundert als Mediengesellschaft, S. 162–177. 64 „Zur Lebenshaltung der minderbemittelten Klassen“ mit vielen internationalen Beispielen, in: ZdA 11 (1910), 2, S. 50ff.; vgl. auch „The Standard of Living among Workingmens Families in New York City“, ZdA 11 (1910), 1, S. 3ff. 65 Abschlussrede Münsterbergs in: Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 2, S. 591. 66 Münsterberg und Roscher zitieren in ihren Darstellungen jeweils oftmals ausländische Statistiken, vgl. Münsterberg, die Armenpflege, S. 15–27 und Roscher, Zur Pathologie der Armut, S. 1–32. 67 Zur Schaffung sozialer Zuordnungskategorien auch mittels Statistiken Topalov, Naissance, S. 162ff. und 192ff.

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nicht ausschließlich auf der Idee der individuellen Schuld beruhte. Schon in den 1880er Jahren finden sich in der Literatur begriffliche Differenzierungen, welche in den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg in der Festigung des ‚Arbeitslosen‘-Begriffes mündeten. Anhand der Semantiken, welche auf den internationalen Kongressen ihre Ausprägung erlebten, lässt sich dieser Prozess exemplarisch nachzeichnen. Aus den immer ausgereifteren Einteilungen heraus entstanden Kategorien wie beispielsweise ‚unwürdig‘ oder ‚selbstverschuldete‘ Arme, ‚Müßiggänger‘, ‚mendiant professionnel‘, ‚vagabond‘, ‚loafer‘ oder ‚idler‘ auf der einen Seite und ‚würdige Arme‘, ‚méritants‘, ‚pauvre valide‘, ‚worthy‘ oder ‚deserving‘ auf der anderen Seite. Hieraus ergaben sich weiterführende Einteilungen: ‚vorübergehend‘ oder ‚unverschuldet‘ arm, ‚gêne momentanée‘, ‚chômeurs nécessiteux‘, ‚chômeur accidentel‘ oder ‚temporarily poor‘, bis hin zu dem auf dem Wissenschaftskongress 1904 in St. Louis systematisch verwendeten ‚unemployed‘Begriff.68 Die öffentliche Armenfürsorge unterstützte ihrerseits diesen Prozess, indem sie objektive Kriterien für die effiziente bürokratische Unterstützung verlangte. Fragen der Legitimität, finanziellen Rahmenbedingungen und das Armenrecht definierten die Handlungsspielräume. Die an rationalen Kriterien vollzogene Zuweisung eines Hilfsangebots für Bedürftige förderte die Perfektionierung der individuell-klassifizierenden Methoden der Armenfürsorge. Es handle sich, so Salomon in Bezug auf die Vorarbeiten von Charles Booth und des Ehepaares Webb, um eine „beständig fließende Materie, die immerwährendes Weiterarbeiten und Untersuchen notwendig macht“. Jeder, insbesondere auch die Armenpflegerinnen, sei aufgerufen, „schaffend und forschend“ beizutragen, um „eine möglichst große Summe wissenschaftlicher Wahrheiten der Allgemeinheit zugänglich zu machen“.69 Die internationalen Debatten beeinflussten die neuen Untersuchungstechniken wiederum, indem sie das zugrundeliegende positivistische Wissen bekräftigten, Validationskriterien beglaubigten und soziale Eingriffe autorisierten. In dem Maße, wie sich die Grundannahmen von Arbeitslosigkeit herausbildeten, konkretisierte sich letztlich auch das Wissen über die eigentlichen Armen, die nunmehr als Substrat der Kategorisierungsprozesse zum Vorschein kamen70: „Dies ist der Bodensatz der Menschheit, der unabweislich zu ihr gehört, die unterste Schicht, die schlechterdings nicht zu beseitigen ist.“71 Für den Armutsdiskurs des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts lässt sich festhalten, dass er sich als ein komplexer Sinn- und Redezusammenhang darstellte, der zahlreiche Anknüpfungspunkte zu bereits bestehenden, aber auch neuen diskursiven Formationen aufwies. Statt einer kompletten Neuerung des Armutsbildes zu Beginn des 20. Jahrhunderts lässt sich die Existenz unterschiedlicher Deutungsebenen beobachten, die teilweise parallel verliefen, teil68 Der Begriff „unemployed“ wurde allerdings noch in Anführungszeichen gesetzt, vgl. Henderson, The Definition of a Social Policy relating to the Dependent Group, S. 825. 69 Salomon, Die Kunst, in: Centralblatt des Bundes deutscher Frauenvereine 2 (1900), S. 10. 70 Analog zur Schaffung der Kategorie ‚Arbeitslosigkeit‘, vgl. Topalov, Naissance; Zimmermann, Arbeitslosigkeit. 71 Münsterberg, Die Armenpflege, S. 15.

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weise aber auch ineinander griffen und sich gegenseitig zu bestätigen schienen. Die Bewertung der Armutsfälle oszillierte zwischen sozialkonservativen Moralvorstellungen, wirtschaftsliberalem Ordnungsdenken und sozial- beziehungsweise naturwissenschaftlichen Objektivierungsversuchen. Dass die moralischen Armutsbilder dabei tief in der täglichen Fürsorgepraxis verankert waren, demonstrierten Rudolf Osius‘ „Unterrichtsstunden für die Schwestern vom Roten Kreuz“, in denen er 1911 die „zweckmäßige Ausgestaltung“ der Armenpflege mittels der Kategorien „würdig“ und „verschämt“ als ebenso unverzichtbar lehrte, wie die „Beschaffung nachhaltiger Hilfe durch Arbeit“.72 Als Hauptursachen von Armut bezeichnete er „Tuberkulose, Trunksucht, Unkenntnis der Frau über Haushaltsführung, Säuglingssterblichkeit“.73 Osius, Vorsitzender des Roten Kreuzes und seit Gründung des Comité international dessen ständiges Mitglied, setzte sich für eine international gleichermaßen verbreitete ‚Fürsorgekultur‘ ein, welche nach wie vor die individuelle Schuldfrage in den Mittelpunkt rückte und gleichzeitig allgemeingültige Prinzipien für eine rationale Armenfürsorge ableitete, welche auf den unanfechtbaren Beweisen der Wissenschaft gründeten. Die Kenntnisse, die den Armenpflegern als Grundlage für ihre Arbeit zur Verfügung standen, erschlossen sich aus dieser Betrachtungsweise. 3. EIGENSICHT UND SINNDEUTUNG DER SOZIALREFORMER Eine zentrale These poststrukturalistischer Theoriebildung lautet: Diskurse bringen systematisch die Gegenstände hervor, über die sie berichten.74 Auch der Armutsdiskurs erzielte eine performative Wirkung, das heißt, die Wissensproduktion über Arme und die Armenpfleger kann in einem konstitutiven Zusammenhang beschrieben werden. Der Armutsdiskurs brachte die zu bekämpfende Armut ebenso ans Licht wie den ‚Armenfreund‘, der einmal als Mediator der Klassengesellschaft, einmal als Advokat der Bedürftigen und einmal als Bewahrer der gesellschaftlichen Ordnung in Erscheinung trat.75 Das Fürsorgeexpertentum sicherte sich auf diese Weise fortwährend die Deutungsvormacht über soziale Fragen. Die transnationale Perspektive auf die Grundwissensbestände der Fürsorgefachwelt verdeutlicht indes die vielfältigen Herangehensweisen der Sozialreformer im Prozess der Selbstlegitimierung und bei der Herausbildung von Sinndeutung: Internationale Kongresse, gemeinsam erarbeitete Leitideen und die grenzüberschreitende Verbreitung von Armutsbildern stellten strategische Momente der Selbstbehauptung und Identitätsbildung dar.

72 R. Osius, Unterrichtsstunden (ethischer Unterricht) für die Schwestern vom Roten Kreuz, S. 48f. 73 Ebd., S. 66f. 74 Vgl. Landwehr, Historische Diskursanalyse, S. 98f. 75 „Armutsklientel und Philanthropie“ bzw. Sozialreform-Bewegung bedingen sich gegenseitig, vgl. Geremek, Geschichte, S. 309 bzw. Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft, S. 15f.

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Es muss darauf hingewiesen werden, dass der Armutsdiskurs in erster Linie empirisch verwertbares Wissen über seine Diskursproduzenten und deren Verhältnis zum vorliegenden soziokulturellen Kontext offenbart. Die spezialisierten Expertendiskurse, wie sie in der Fürsorgefachwelt vorlagen, berichten vor allem von den Normalitätsvorstellungen der Theoretiker und Praktiker des Armenwesens. Es treten in ihnen Sozialisationsstrategien und Weltdeutungen einer Bildungselite zutage.76 Bedürftige erschienen nie als Subjekte der Armutsdiskurse, sondern nur als deren Objekte. Über die lebensweltlichen Erfahrungen der faktisch in Armut lebenden Menschen ist damit wenig gesagt. Die Selbstwahrnehmung und Alltagserfahrungen armer oder notleidender Menschen können sich erheblich von den überlieferten Darstellungen unterschieden haben. So kann von den untersuchten Fürsorgedebatten und den darin geäußerten Fürsorgekonzepten nicht auf die soziale Wirklichkeit geschlossen werden. Es würde den Rahmen der Untersuchung sprengen, die Alltagsbewältigung und den subjektiv erlebten Erfahrungshorizont von Bedürftigen zu erschließen. Hierfür müssen andere, aussagekräftige Quellenbestände berücksichtigt werden, welche auch Strategien des Selbstbehelfs, informelle Hilfsnetzwerke und lokale Verwaltungspraktiken stärker beleuchten. Es sei auf die jüngere historische Armutsforschung verwiesen.77 Was die Sinndeutung der Sozialreformer selbst betrifft, so schuf der Armutsdiskurs zweifellos jenes Wissen und postulierte jene Wahrheiten78, welche den gestalterischen Zugriff auf sozialpolitische Handlungsfelder legitimierten und systematisch ausweiteten. Diese Bevollmächtigung fußte in der moralisierenden Betrachtung von Armut.79 Sie schuf einen Standpunkt der Überlegenheit und konstruierte den für ‚anständig‘ erachteten Lebenswandel im gleichen Maße wie sein amorphes Gegenbild. Die Charakterisierung der Armen als ‚unsittliche‘ und ‚unmoralische‘ Personen war immer ein Mittel der Selbstbestätigung. Das Wissen über ‚den Armen‘ im Sinne eines sozialen, sittlichen, kulturellen und biologischen 76 Gräser bezeichnet das Handeln der amerikanischen und deutschen Sozialreformer als „Ereignis der Subjektkonstituierung und Medium der Vergesellschaftung“, vgl. Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft, S. 104. Zu ‚Philanthropie als Distinktionsmerkmal‘ siehe auch Adam, Philanthropy and the Shaping of Social Distinctions in Nineteenth-Century U.S., Canadian, and German Cities, in: ders. (Hrsg.), Philanthropy, Patronage and Civil Society, S. 15–33. David, Philanthropie und Macht, in: Traverse 37 (2006), 1, S. 10ff.; Pielhoff, Stifter und Anstifter, in: GG 33 (2007), S. 10–45. 77 Z. B. Brandes/Marx-Jaskulski (Hrsg.), Armenfürsorge und Wohltätigkeit; Fuchs, Gender and Poverty; Gestrich/Hurren/King (Hrsg.), Poverty and Sickness; Gestrich/King/Raphael (Hrsg.), Being Poor; Hurren, Protesting about Pauperism. Allgemein zur Armutsforschung im Rahmen der neueren Kulturgeschichte vgl. Kühberger, Aktuelle Tendenzen. 78 Der Begriff ‚Wahrheit‘, wie er in der Fachliteratur zur Diskursanalyse Anwendung findet, wird nicht im Sinne einer objektiv und rational erfahr- und analysierbaren Tatsache operationalisiert. Es handelt sich um einen subjektiv oder von kollektiven Akteuren erfahrbaren und damit für die „Wissenschaft als sozial geniert gedachten, relationistischen Wahrheitsbegriff“, vgl. A. Hirseland/W. Schneider, Wahrheit, Ideologie und Diskurse, in: R. Keller (Hrsg.), Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Bd. 1, S. 377–407, hier S. 383. 79 Ausführlich dargestellt anhand des englischen Beispiels in: Himmelfarb, Poverty and Compassion.

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‚Gegenübers‘ beruht auf disponiblen Vorstellungen und Erwartungen von Normalität.80 Auf diese Weise schloss sich immer wieder der Argumentationskreis und wurde intrinsisch: Die Konstruktion der Bedürftigen als deviante Subjekte bedingte die Konzeptualisierung von sittlichem und vernünftigem Lebenswandel. Die Deutung von Armut kann so gesehen innerhalb des Prozesses der Wissensproduktion in der modernen Industriegesellschaft als eine der diskursiven Praktiken gedeutet werden, die speziell die bürgerliche Identitätsstiftung vorantrieb.81 Auf die Individualisierung der Armenpflege, wie etwa durch die persönliche Betreuung im Rahmen der Armenbesuche, wurde von Seiten der Armenpfleger auch deshalb so viel Wert gelegt, weil sie immer wieder Bedürftigkeit zur Schau stellte und mit den Ratschlägen einer vernünftigen Lebensführung kontrastierte. Soziale Distinktion lässt sich so als beziehungssoziologisches Phänomen beschreiben, für das die „Macht symbolischer Systeme“82 eine zentrale Rolle spielt. Der Lösungsansatz für die Soziale Frage lag für die Vertreter der Armenfürsorge und Wohltätigkeit dementsprechend in der „Schaffung bürgerlicher Existenzen“, wie es Karl Brinkmann 1896 in der Zeitschrift Sociale Praxis formulierte.83 Roscher legte dieselbe Überzeugung dar: Nur eine wahre Bildung und Vorsicht der niederen Klassen kann diesem Uebel (Pauperismus) wirklich vorbeugen; so dass sie niemals leichtsinnig heiraten, immer für Alters- und Krankheitsfälle sparen etc.: also leben wie Bürger! Damit ist die Möglichkeit, Schwierigkeit und Methode des einzigen Heilverfahrens zugleich angedeutet. Einzelne Verarmungen werden auch da noch vorkommen; sie geben den Vorsichtigen eben die Grenze an, wie weit sie mit ihren Ausgaben, Mussestunden etc. gehen dürfen.84

Auch wenn solche Einschätzungen während des Untersuchungszeitraumes tendenziell abnehmen, blieb dieses moralisierende Armutsbild dennoch erhalten.85 Es betrachtete die Sozialreformer als Vermittler zwischen den Klassen und förderte die Entwicklung von Erziehungskonzepten. Alle Lebensbereiche des Armen sollten gleichermaßen der Konditionierung unterliegen: Von Arbeit, Familie, Haus80 Theorie, Hintergründe und historische Beispiele zur ‚Normalisierungsgesellschaft‘ vgl. Sohn, Normalität und Abweichung. Zum Konzept des „Othering“ als Prozess der Fremdwahrnehmung und Selbstdeutung vgl. auch J. Reuter, Ordnungen des Anderen, S. 9ff. 81 ‚Bürgerlich‘ bzw. ‚Bürgerlichkeit‘ werden hier im Sinne eines diskursiv konstruierten und symbolischen Ordnungssystems konzeptualisiert, das sich durch soziale Praktiken reproduziert. Dieses „System“ überdeckt dabei den Widerspruch „zwischen dem Wunsch, ein für alle Menschen gültiges Wertesystem zu proklamieren und der Neigung, diese Werte nur mit denjenigen zu identifizieren, die bestimmten gesellschaftlichen und moralischen Ansprüchen genügen“, vgl. J. Sheehan, Wie bürgerlich war der deutsche Liberalismus?, in: D. Langewiesche (Hrsg.), Liberalismus, S. 28–44, Zitat S. 43. 82 P. Bourdieu, „Über die symbolische Macht“, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (1997), S. 556–564, insb. S. 559. Beispiele für den „symbolism of poverty“ finden sich in: Gestrich/King/Raphael (Hrsg.), Being Poor, S. 363ff. 83 Brinkmann, Ziele, in: Sociale Praxis (1896), 24, S. 593. 84 Roscher, Zur Pathologie der Armut, S. 17. 85 So z. B. Karl Flesch auf der 21. Jahresversammlung des Deutschen Vereins, wo er in seinem Vortrag über die „sociale Ausgestaltung der Armenpflege“ das klassische, moralisierende Armutsbild vom individuellen Selbstverschulden darstellt, vgl. SDV 56 (1901), S. 28ff.

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haltung, Freizeitaktivitäten bis hin zum Umgang mit Hygiene und Sexualverhalten schuf man regulative Zugriffe und Angebote. Die Bedeutung der Normen, welche die Fürsorgeexperten im Blick hatten, war universell. Wenn man den Bedürftigen Maßlosigkeit und Genusssucht unterstellte, dann bezog man sich auf den ‚common sense‘ der Armenpfleger aller „höher kultivierter Nationen“86. Die Internalisierung der bürgerlichen Normen und Werte ist das Kernkonzept der Erziehung zu einer produktiven Denk- und Lebensweise. Die Fürsorgefachwelt stilisierte ihre Vermittlerrolle zu einer ‚Kulturmission‘: die Beziehungen von Mensch zu Mensch unter Leuten herzustellen, die im gewöhnlichen Leben sich nicht kennen oder sich aus dem Wege gehen, so dass diesen Besuchen nicht allein eine armenpflegerische, sondern auch eine moralische und soziale Bedeutung zukommt. 87

Eine solche und besonders wichtige „moralische und soziale Bedeutung“ bestand in der Ansicht, dass sowohl die öffentliche Armenfürsorge als auch die private Wohltätigkeit „mehr und mehr durch Maßregeln der Selbsthilfe“88 zu ersetzen seien. Der dazu passende und vielzitierte Wahlspruch Münsterbergs lautete, dass das höchste Ziel einer jeden Armenfürsorge darin bestünde, „sich selbst überflüssig zu machen“.89 Kaum eine Aussage beschreibt die Eigenansicht der Sozialreform besser als diese. Sie illustriert den kulturmissionarischen und erzieherischen Sendungsauftrag, welchem sich die Armenpfleger aufopferungsvoll widmeten. Für absehbare Zeit sei die Armenfürsorge trotz der Bemühungen der Wohlfahrtspflege unentbehrlich, „obwohl kein wahrer Freund der Armen besseres wünschen kann“.90 Münsterberg bekräftigte diesen Leitsatz der internationalen Reformergemeinschaft zuletzt auf dem internationalen Fürsorgekongress 1910 in Kopenhagen.91 Dieses ausgeprägte Sendungsbewusstsein bildete die größte Schnittmenge sozialreformerischer Gruppierungen in den unterschiedlichen Ländern. Die Besucher der internationalen Kongresse teilten eine wage Idee von universeller Bürgerlichkeit und die Veranstaltungen sind entsprechend als das „Resultat eines bürgerlichen, modernisierungsorientierten Internationalismus“92 anzusprechen. Der Gegensatz von Nationalismus und Internationalismus konnte durch den exzessiven Gebrauch gemeinschaftsbildender Rhetorik überbrückt werden. Begriffe wie 86 Münsterberg, Die Armenpflege, S. 14. 87 „Bericht über den internationalen Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit in Paris 1900“, in: ZdA 2 (1901), 5, S. 28; Pielhoff bezeichnet diese Doppelstrategie zwischen sozialreformerischer Handlungsethik und effizienzsteigender Rationalisierungsoffensive als eine „sozialkonservative Anpassungsleistung“ und einen „bildungsbürgerliche[n] Neopaternalismus“, vgl. Pielhoff, Stifter und Anstifter, in: GG 33 (2007), S. 10–45, hier S. 26. 88 Münsterberg, Zentralstellen, S. 67. 89 Ebd. Ebenso auf dem internationalen Wissenschaftskongress 1904 in St. Louis: „The most earnest effort of every true friend of the poor must always be directed toward making poorrelief itself superfluous.“ Münsterberg, The Problem of Poverty, in: Rogers (Hrsg.), Congress of Arts and Science, Bd. VII, S. 847. 90 Münsterberg, Zentralstellen, S. 67 91 Münsterberg in: Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 1, S. 80f. 92 Herren, Sozialpolitik, in: GG 32 (2006), S. 544.

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Menschheit, Brüderlichkeit und sozialer Fortschritt nährten den Glauben an eine „moralische Internationale“.93 Die Vorstellung einer grenzüberschreitenden Verbundenheit war besonders auf den Internationalen Kongressen für Armenpflege und Wohltätigkeit von 1900 und 1906 ausgeprägt und fungierte als Bindemittel zwischen den unterschiedlichen Expertengruppen.94 Die widersprüchlichen Ansätze zwischen den wissenschafts- und rechtsbezogenen Rationalisierungsbestrebungen auf der einen Seite und der neopaternalistischen Retterfunktion auf der anderen Seite schufen ein Spannungsverhältnis, auf das die transnationalen Fürsorgediskurse mildernd einwirkten, indem sie das Zusammengehörigkeitsgefühl unterstrichen. Die Fürsorgepraktiker bestärkten sich auf diese Weise gegenseitig in der Auffassung, dass Armenfürsorge eine „Kunst“ sei, die es zu verstehen und erlernen galt: „Nous croyons à l’art de la charité“95, hieß entsprechend die Losung auf den internationalen Kongressen. Die Überzeugung, dass Armut als ‚Zivilisationsproblem‘ nur durch den Zusammenhalt der Sozialreformer beseitigt werden könne, war ein wichtiger Faktor für die grenzübergreifende Kommunikation. Das gemeinsam konstruierte Geschichtsbild, aus der sich heraus die ‚Modernität‘ der Armenfürsorge ableitete, hatte viele Bezugspunkte zum zeitgenössischen Zivilisationsdiskurs. Unter dem Eindruck der Weltausstellung 1900 in Paris stehend, wo die Zurschaustellung der großen ‚Kulturnationen‘ öffentlichkeitswirksam inszeniert wurde, fand die Idee der modernen Armenpflege ihren klarsten Ausdruck: Personne ne conteste que, sous l’empire d’idées ou de lois différentes, l’assistance, dans ses manifestations variées, ait fait de sérieux efforts, dans tous les pays civilisés, pour alléger la misère publique.96

Die hier von Drouineau geäußerte Vorstellung, dass alle europäischen Nationen trotz ihrer Antagonismen ein dominantes Rechts-, Moral- und Kulturerbe hervorgebracht und geteilt hätten, war wesentlicher Bestandteil der Weltdeutung im 19. Jahrhundert. Fortschrittsgläubigkeit und kulturelles Überlegenheitsdenken verbanden sich darin zu einer imperialistischen Ideologie. Ihr lag das Bild eines kulturellen Stufenmodells zugrunde, das sich auch in Belangen der Armenfürsorge widerspiegelte.97 Organisierte Hilfe, vor allem im Sinne einer öffentlichen Ar93 Geyer/Paulmann sprechen von einem „supranational creed of a moral international“. Es muss betont werden, dass es sich hierbei stets um eine europäische Idee von Internationalismus handelte, siehe auch Geyer/Paulmann (Hrsg.), The mechanics of internationalism, S. 10 und S. 13. 94 Exemplarisch kommen diese Ansichten in den Reden der Eröffnungs- und Abschlussveranstaltungen zum Ausdruck, vgl. Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 1, S. 3ff. und Bd. 2, S. 339ff.; Recueil des travaux du congrès 1906, Bd. 6, S. 89ff. und S. 139ff. 95 Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 108. Denselben Vergleich zwischen „Kunst“ und Fürsorge zog Casimir-Périer auf der Eröffnungsrede des Kongresses von 1900 in Paris, vgl. Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 1, S. 8f. 96 Drouineau, in: Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 1, S. 88. 97 In dem Artikel: „Wer ist arm?“, in: Volkswohl XIII (1889), 47, S. 245 heißt es beispielsweise: „Der Begriff der Armut wechselt daher in erster Linie nach der Kulturstufe“. Dieses Stufenmodell liegt besonders anschaulich der Arbeit von Roscher, System der Armenpflege und Armenpolitik, zugrunde.

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menfürsorge, interpretierte man demnach als das Produkt einer höheren ‚Kulturstufe‘.98 Nur die ‚Kulturnationen‘ in Europa hätten gelernt, die Bedürfnisse ihrer Völker zu verstehen und zu befriedigen. Fürsorge und neue Formen der Vorsorge feierte man als Errungenschaften des Okzidents.99 Diese von allen Sozialreformern geteilte Ansicht zeigte sich auf den internationalen Kongressen, wo die Neuerungen des Armenwesens auf internationaler Bühne vorgestellt wurden, besonders deutlich. Für den belgischen Fürsorgeexperten und Internationalisten Le Jeune bedeuteten die gemeinsame ideelle Grundlage und der internationale Austausch ein wesentliches Merkmal der Weiterentwicklung von Armenfürsorge: Mais, parmi les prodiges réalisés par l’industrie, dans ce luxe de notre civilisation, on bénit ceux dont l’effet a été de produire la rapidité et la continuité de l’échange des idées entre les hommes.100

Da in der Denkwelt der Fürsorgeexperten das Problem der Armut überhaupt nur in den weit entwickelten Ländern existierte, müssten sich diese entsprechend daran messen lassen, wie sie mit ihren Bedürftigen umgehen: „Armenpflege ist das Barometer der wirtschaftlichen und sozialen Zustände! Sie zeigt den Stand des öffentlichen Gewissens an.“101 Aus diesem Grund spielte in dieser Argumentation das ‚soziale Gewissen‘ der ‚aufgeklärten‘ Bürger als normatives Leitmotiv eine zentrale Rolle und stellte die moralische Überlegenheit derjenigen sicher, „welche von der socialpolitischerseits ausgegebenen Parole einer Geringschätzung des Armenwesens unberührt geblieben sind“.102 Das geschichtlich hergeleitete Zivilisationsdenken gründete auch in der Vorstellung, Armenfürsorge als sichtbares Zeichen von Menschlichkeit und Vernunft zu deuten. Der Amerikaner Rosenau hob bereits auf dem internationalen Kongress 1889 in Paris die Rolle internationaler Zusammenkünfte für diesen Prozess hervor. Er führte in seinem Vortrag aus, dass sich lange niemand um die eigentliche Armutsfrage gekümmert hätte. Lange Zeit wären weder Politik noch Öffentlichkeit entschieden gegen die Not vorgegangen: „Et jusqu’ici les gouvernements se sont crus capables de s’occuper de la question de l’assistance des pauvres sans consulter le public dans un congrès international“103. Der Kongress demonstriere indes das gewachsene Interesse aller Länder der „Herrschaft der Armut“ ein Ende zu setzen. Den international versammelten Sozialreformern werde eine Schlüsselrolle zuteil, da sie im freundschaftlichen Austausch mit den Armen Bildung, Vernunft und Lebenssinn vermit98 Auch R. vom Bruch macht darauf aufmerksam, das die Auszeichnung „Kulturstaat“ eng mit dem Umgang mit Armen und Arbeitern verbunden war, vgl. vom Bruch, Kulturstaat – Sinndeutung von oben?, in: Hübinger/vom Bruch (Hrsg.), Kultur, Bd. 1, S. 63–101. 99 A. Regnard bezeichnet den „Vorsorgegedanken“ auf dem Kongress 1889 in Paris als den wichtigsten Vorsprung Europas gegenüber China, wo aufgrund einer ausfallenden Ernte unmittelbar Millionen Chinesen sterben würden. Vgl. Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 310. 100 Le Jeune, in: Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 1, S. 11. 101 ZdA 9 (1908), 6, S. 185. 102 Reitzenstein, Übersicht, in: SDV 20 (1894), S. 18. Reitzenstein spielte in diesem Zitat auf die ablehnende Haltung der Sozialdemokratie gegenüber dem ‚bürgerlichen Armenwesen‘ an. 103 Rosenau, in: Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 329.

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IV. Grundwissensbestände

teln würden, während die bestehenden Einrichtungen der Armenfürsorge nur Finanzen verwalte und der Staat eine moderne Armengesetzgebung regelmäßig verschleppe. Diese Ansicht vertrat man erneut auf dem letzten internationalen Kongress von 1910 in Kopenhagen. Loubet, Vorsitzender des Comité international, schwor seine internationalen Mitstreiter noch einmal auf ihre moralische Vorbildfunktion ein: „Y a-t-il un plus bel emploi d’intelligence, du sentiment et de la volonté?“104 In diesem Sinne sind auch die moralphilosophischen Herleitungen unter Bezugnahme auf das antike, christliche und aufklärerische Erbe zu verstehen, welches zur Begründung für die Ausgestaltung der Armenpflege stets herangezogen wurde.105 Die eurozentrische Weltdeutung und das Ideal des gebildeten, rationalen und moralisch vorbildlichen Armenpflegers wirkten in den internationalen Fürsorgedebatten identitätsstiftend. Die internationalen Vernetzungsbemühungen vermittelten ein Gefühl der grenzüberschreitenden Zusammengehörigkeit und schufen die Gewissheit, am kulturellen Fortschritt teilzuhaben.106 In Hinblick auf die Geschichte der Armenfürsorge widerstand man weitgehend den zeitgenössischen Deutungsmustern auf Basis des Nationalismus. Stattdessen operierte der Armutsdiskurs mit Abgrenzungssemantiken gegenüber den ‚unteren Volksklassen‘ sowie gegenüber denjenigen, die sich den ‚modernen Methoden‘ der Armenfürsorge verschlossen. Grundlage für die internationale Verständigung zwischen den Fürsorgeexperten bildete hierbei der aus den bürgerlichen Sozialreformbewegungen stammende Gemeinwohlbegriff107, welcher Sittlichkeits- und Gerechtigkeitsvorstellungen der ‚Kulturnationen‘ miteinander in Verbindung zu bringen versuchte. 4. DER WANDEL DER FÜRSORGEDISKURSE VOR 1914 Wie bereits verschiedentlich angesprochen, änderte sich in der dritten Vernetzungsphase (um 1910) die Bedeutung internationaler Verbindungen in der Armenfürsorge. Das Sozialreformer-Netzwerk der internationalen Kongresse und ihre transnationale Sinndeutung begannen an Einfluss zu verlieren. Zum einen „verfloss“ allmählich die „ältere Generation“108 der Sozialreformbewegung und 104 Die kritische Haltung gegenüber den staatlichen Bemühungen im Kampfe gegen die Armut kam bei Vertretern der amerikanischen Privatwohltätigkeit immer noch stärker zum Ausdruck, vgl. ebd., S. 329, sie ist aber auch auf den späteren Kongressen wieder anzutreffen, vgl. zum Beispiel in Loubets Eröffnungsrede zum Kopenhagener Fürsorgekongresses 1910, Recueil des travaux Copenhague 1910, Bd. 1, S. 73. Zitat ebd., S. 76. 105 So zum Beispiel in dem Vortrag von Albert Regnard auf dem internationalen Kongress 1889 in Paris, vgl. A. Regnard, Dans quelle mesure l’Assistance publique doit-elle être obligatoire? Résultats obtenus dans les pays où elle existe, in: Congrès international d’assistance 1889, Bd. 1, S. 1ff. 106 Sehr deutlich bei Regnard, ebd. Vgl. ebenso Rivière über „historique du secours en nature“, in: Recueil des travaux du congrès international 1900, Bd. 1, S. 126. 107 Zu den Hintergründen des sozialreformerischen Gemeinwohlbegriffes, vgl. Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 2, S. 19. 108 So kennzeichnete Klumker wörtlich die Veränderungsprozesse, ZdA 14 (1913), 7, S. 200.

Armuts- und Fürsorgediskurse

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viele derjenigen Akteure, die geblieben sind, hielten mit den neuen Leitideen nicht Schritt. Zum anderen änderten sich die sozialpolitischen Debatten und mit ihnen allmählich die Einstellungen, welche bislang die ‚Fürsorgekultur‘ geprägt hatten. Die grenzüberschreitende Verflechtung spezialisierter Fachdiskurse dauerte indes unvermindert an und begünstigte die neuen Einschätzungen über das Armenwesen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. In diesem Zusammenhang gewann die systematisch-wissenschaftliche Theoretisierung des Armutsverständnisses wieder an Bedeutung. Ohne dass die Strukturen, Gesetze und Praktiken der Armenfürsorge sofort davon betroffen gewesen wären, entstanden neue Arbeiten „zur Theorie des Armenwesens“ und damit die Grundlage für andere Betrachtungsweisen im Fürsorgesektor.109 Die zentrale Rolle des Werkes „The Problem of Poverty“110 aus der Feder von Sidney und Beatrice Webb darf auf keinen Fall unterschätzt werden, da es die Denk- und Argumentationsweise der Fürsorgeexperten maßgeblich beeinflusste. Der Bericht und die daran anschließenden sozialpolitischen Auseinandersetzungen stellten nicht nur das Armenwesen in seiner bestehenden Form in Frage, sondern auch das ihm zugrundeliegende Armutsverständnis. Aus dem idealisierten Sinnspruch, ‚sich selbst überflüssig zu machen‘, wurde gewissermaßen der Leitsatz abgeleitet, ‚die Armenfürsorge überflüssig zu machen‘. Mit der allmählichen „Ersetzung der Pflege der Armen durch die Verhütung von Klassenarmut“111 verlagerte sich damit der Armutsdiskurs vom Moral- zum Wirtschaftsdenken. War es vormals lediglich von Belang, Arbeit und Fleiß als „sittliche Güter“ individualisierend zu vermitteln, führten nun unterschiedliche Faktoren zu der Ansicht, dass die eigentliche „Wirtschaftlichkeit“, vor allem in einem kollektivistischen Sinne, einem höheren nationalen Ziel zu dienen hatte. Zu der Ansicht, daß [...] die Gedanken über Arbeiterfrage oder Arbeit nicht als etwas Isoliertes, sondern in ihrer Beziehung zu den Gedanken über Armut bzw. Armenpflege betrachtet werden sollten 112,

trugen diverse Entwicklungen bei: Neue Einblicke in volkswirtschaftliche Zusammenhänge, der wachsende Bedarf an Arbeitskräften und die Verbreitung der industriekapitalistischen Wirtschaftsideologie unterwarfen die Armenfürsorge zunehmend dem ökonomischen Gestaltungsimperativ. Die Steigerung der Leistungsfähigkeit und Arbeitsfähigkeit entsprach der Logik eines Wirtschaftsden-

109 Vgl. „Zur Theorie des Armenwesens“, in: ZdA 11 (1910), 6, S. 161ff. Anhand der Herausbildung der Familienfürsorge etwa wird der zunächst noch limitierte Einfluss wohlfahrtsstaatlicher Konzepte auf Ebene der kommunalen Verwaltungspraxis exemplarisch sichtbar, vgl. Marx, From ‘old’ Poor Relief, in: Gestrich/King/Raphael (Hrsg.), Being poor, S. 299–321. 110 Webb, Das Problem der Armut. Unter anderem ausführlich von Alice Salomon besprochen in: ZdA 13 (1912), 12, S. 359ff. 111 Simon, Aufgaben und Ziele, S. 1. 112 Kostanecki, Arbeit und Armut, S. 200.

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IV. Grundwissensbestände

kens, welches das ökonomische Potential eines jeden Individuums möglichst effizient auszuschöpfen beabsichtigte.113 Dieser Wandel schlug sich allmählich auch in den deutschen und internationalen Fürsorgedebatten nieder. So machten beispielsweise vereinzelt Stimmen darauf aufmerksam, dass die „Vagabunden“ nicht länger als „Verbrecher“ anzusprechen seien, sondern in erster Linie durch ihre „Unfähigkeit“ gekennzeichnet werden müssten, sich innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung selbstständig zurechtzufinden. „Dadurch, daß wir jemanden in einer Anstalt arbeiten lassen, gewöhnen wir ihn gar nicht an Arbeit der Art, wie er sie draußen leisten soll.“ Aus diesem Grund konstatierte Klumker 1911 auf der 31. Jahresversammlung des Deutschen Vereins, dass der Werdegang zwischen „Gefängnis, Haftstrafe, Korrektionshaus, Arbeitshaus, Siechenhaus“ unbarmherziger sei als die Methoden des Mittelalters, als man den Landstreicher am „Rade in einigen Stunden“ tötete, während man ihn heute mit unendlichen Kosten und Aufwand im „unglückseligen Kreislauf rast- und ruhelos herumjagt.“114 Diese Betrachtungsweise, welche die Bedürftigen nicht nur an ihrem Lebenswandel maß, sondern das Problem vom Standpunkt der Arbeitslosigkeit und damit von der potentiellen wirtschaftlichen Wertschöpfung anging, wurde in dieser Deutlichkeit erstmals in England formuliert, von wo aus der europäische und speziell der deutsche Fürsorgediskurs beeinflusst wurde: Und dieses soziale Problem ist in so starkem Maße ein internationales Problem, daß es gleichzeitig in allen Kulturländern auftaucht und gleichzeitig in allen Kulturländern behandelt wird, und daß diejenige Bewegung, von der ich Ihnen heute sprechen will, von diesem Problem der Arbeitslosigkeit ihren Ausgang genommen hat. 115

Die hier angesprochene Reformbewegung in England, gab Münsterberg bereits ein Jahr vorher ebenfalls auf der Sitzung des Deutschen Vereins zu bedenken, entspringe der Einsicht, dass das größte Problem nicht dasjenige der Armut, sondern dasjenige der Arbeitslosigkeit darstelle. Begriffe wie Brauchbarmachung, Erziehung und Heilung implizierten ein neuartiges Verständnis vom eigentlichen höheren Zweck der Armenfürsorge. Darin äußert sich der Glaube an die wissenschaftsgeleitete Kontrolle, Organisation und Formbarkeit von Gemeinschaft.116 Der nationale ‚Volkskörper‘ und seine einzelnen ‚Glieder‘ fanden in diesem organischen Gesellschaftsverständnis eine neue Wertigkeit und verliehen der „Sehnsucht nach lebendiger Gemeinschaft“117 113 Zu den Hintergründen des „Verhaltensbildes Produktivität“ vgl. J. Burkhardt, Das Verhaltensbild „Produktivität“ und seine historisch-anthropologische Voraussetzung, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 25 (1974), S. 277–289; S. Rieger, Arbeit an sich. Dispositive der Selbstsorge in der Moderne, in: U. Bröckling (Hrsg.), Anthropologie der Arbeit, S. 79– 96. 114 Klumker, in: SDV 96 (1911), S. 121. 115 Münsterberg, Englisches Armenwesen, in: SDV 94 (1910), S. 9. 116 Zum darin angelegten Konzept des ‚social engineering‘ vgl. Etzemüller, Social engineering, in: ders. (Hrsg.), Die Ordnung der Moderne, S. 11–41, sowie Raphael, Embedding the Human, in: Brückweh/Schumann/Wetzell/Ziemann (Hrsg.), Engineering society, S. 51f. 117 Feld, Neue Strömungen, S. 24. Vgl. auch Kapitel III, 8.3 in dieser Arbeit.

Armuts- und Fürsorgediskurse

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mehr Ausdruck. Volksgesundheit, Zusammenhalt und Stärke traten im Armutsdiskurs als wichtige Faktoren verstärkt in Erscheinung und versuchten, alten Deutungsmustern ihren Rang streitig zu machen. Durch die technischen, hygienischen und erzieherischen Neuerungen sollte die Frage nach Würdigkeit und Unwürdigkeit ihre Bedeutung verlieren. An ihre Stelle müsse „die allein entscheidende Frage nach der Heilbarkeit oder Unheilbarkeit treten.“118 Neue Vorsorge-, Erziehungs- und Verhütungskonzepte präsentierten sich als die sinnfälligen Alternativen zum entmündigenden und repressiven Armenwesen, wenn es darum ging, den Bedürftigen die Norm der allgemeinen gesellschaftlichen Leistungsfähigkeit zu vermitteln und die Sozialisation in die Produktivgemeinschaft zu ermöglichen. Die von Klumker formulierte Idee der Heilung griff einerseits auf bestehende Armutsdeutungen zurück, ergänzte diese zugleich mit naturwissenschaftlich hergeleiteten Sinnkonstrukten. International verwertbares Wissen über Normalität und Pathologie untermauerte die Meinung, dass „Geisteskranke, Epileptiker oder Haltlose“ beziehungsweise „instables“, wie sie in Frankreich genannt wurden, „nicht zur wirtschaftlichen Selbständigkeit gebracht werden“ könnten: „es gilt vielmehr, sie menschlich zu versorgen und dabei ihre Kräfte möglichst nutzbar zu machen.“119 Transnationale Wissensproduktion konnte auf diese Weise zu einer ‚nationaleren‘ Bewertung des Armutsproblems führen. Volksgesundheit, Fertilität und Stärke wurden in manchen Kreisen zu Leitkonzepten einer Denkart, welche auf die Sorge um den Zustand der nationalen Gemeinschaft abzielte. Vereinzelt wurden Fragen der „natürlichen Auslese“, „Aussterbetendenz“ und „Fruchtbarkeit“ aufgeworfen, welche manche Denker aus dem Kreise der Hygienebewegung zu radikalen Ansichten verleitete: Die Wohlfahrtspflege im engeren Sinne steht also in bezug auf den Fortschritt der Gesamtheit, im Hinblick auf die Verbesserung der Rasse weit über der Armenpflege, so daß das, was Münsterberg in erster Linie aus sittlichen und wirtschaftlichen Gründen sagt, daß unser Ziel sein müsse, die Armenpflege möglichst überflüssig zu machen, in noch erhöhtem Maße aus der naturwissenschaftlichen Betrachtung der Entwicklung der Gesellschaft sich ergibt. 120

Diese von Karl Singer zum Ausdruck gebrachten eugenischen Tendenzen waren auch im Minderheitsbericht anzutreffen und stießen erstmals auf einige interessierte Zuhörer.121 118 Diesen Standpunkt vertrat Klumker bereits in einem kontroversen Debatte auf der 21. Jahresversammlung des Deutschen Vereins, in: SDV 56 (1901), S. 28ff.; Zitat aus Simon, Aufgaben und Ziele, S. 4 (in Bezugnahme auf Klumker). 119 Vgl. Klumkers ergänzende Ausführungen in: Roscher, Das System der Armenpflege und Armenpolitik (3. Auflage), S. 16. 120 Singer, Soziale Fürsorge, S. 6. 121 Vgl. Webb, das Problem der Armut, S. 27ff. und die Rezeption in: ZdA 13 (1912), 12, 359ff. Allerdings muss hervorgehoben werden, dass die Fürsorgeexperten, auch diejenigen der jüngeren Generation, überwiegend eine kritische Distanz zu konkreten eugenischen Fürsorgepraktiken beibehielten. Als gutes Beispiel wäre Klumker zu nennen: Er sprach sich gegen eine eugenische Betrachtung sozialer Problemlagen aus und maß der Idee der „Wirtschaftlichkeit“ stets mehr Bedeutung bei, vgl. Klumker in: Roscher, System der Armenpflege und Armenpolitik (3. Auflage), S. 26f. Eine umfangreiche Auseinandersetzung mit eugenischem

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IV. Grundwissensbestände

Die Verlagerung zu einer stärkeren natur- und sozialwissenschaftlichen Betrachtung bot gleichzeitig auch neue Interpretationsspielräume hinsichtlich der vermehrt diskutierten ‚Schuld-Frage‘ im Armenwesen. Eindrucksvoll zeigte sich dies bereits auf der 21. Jahresversammlung des Deutschen Vereins, wo sich der damals noch junge Klumker offen und ironisch gegen die moralisierende Unterscheidung zwischen verschuldeter und unverschuldeter Armut stellte: Ich kann in der Unterscheidung zwischen verschuldeter und unverschuldeter Armut in keiner Weise eine sociale Ausgestaltung der Armenpflege erblicken. [...] Ich habe ein klein wenig das Gefühl, daß man bei der grundsätzlichen Hervorhebung der Unschuld (die sehr selten wirklich nachzuweisen ist) die Mängel der Weltordnung mit ein bißchen mehr Wurst zum trockenen Brot nachträglich ausbessern und der Gerechtigkeit Gottes etwas nachhelfen möchte. Socialpolitisch ist dieser Gesichtspunkt durchaus unfruchtbar.122

Mehr Anhänger gewannen diese Anschauungen im Kreis der deutschen Fürsorgeexperten allerdings nur langsam.123 In unmittelbarer Anlehnung an den Minderheitsbericht, welcher den „moral factor“124 öffentlichkeitswirksam infrage stellte, gewann das Thema allmählich an Aktualität. Das Argument des „moralischen Defekts“ der Bedürftigen, welcher durch die Fallprüfung der „Laien-Detektive“125 entlarvt werden könnte, verschwand zwar nicht aus der Fürsorgepraxis126, verlor jedoch deutlich an Zugkraft: „Nicht nach der moralischen Würdigkeit, sondern nach der Möglichkeit wirksamer Abhilfe soll daher die Scheidung sich richten“, empfahl Lohse 1914 in Bezug auf die Organisationsprinzipien der Privatwohltätigkeit in Hamburg.127 Die „Schuld“, so Salomon über Webbs Buch „Das Problem der Armut“, sei demnach weniger in einem etwaigen „moralischen Tiefstand“ der Armen zu suchen. Es handle sich vielmehr um „ein moralisches Versagen der Gesellschaft als einer Ganzheit“, wenn „Armut durch eine Krankheit entsteht, die hätte verhütet werden können, durch Verwahrlosung der Jugend oder durch das

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Gedankengut folgte, wie Ulrike Manz in ihrer Studie zur Frauenbewegung in der Weimaerer Republik darstellen konnte, erst in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, vgl. U. Manz, Bürgerliche Frauenbewegung und Eugenik in der Weimarer Republik. Siehe auch Kapitel IV, 2 bzw. Fn. 60–62 in diesem Kapitel. SDV 56 (1901), S. 46. Im Deutschen Verein etwa setzte sich insbesondere Rudolf Schwander für eine Entmoralisierung der Schuldfrage im Armenwesen und weitergehende Reformen ein, um der Fürsorgetätigkeit den bisherigen „armenrechtlichen Charakter“ abzustreifen, vgl. Schwander auf der 25. Jahresversammlung des Deutschen Vereins, SDV 75 (1905), S. 90ff., insb. S. 99. „Der Moralfaktor“, in: Webb, Das Problem der Armut, S. 170ff. So Beatrice Webb über die Methoden der COS, welche ihrer Ansicht nach die Armenpfleger lediglich ermutigt hätten, nach den „Betrügern“ Ausschau zu halten, wodurch Misstrauen und Missgunst bei den Bedürftigen hervorgerufen worden wäre. Zitiert nach Salomon, Beatrice Webbs Kampf, in: DZfW 2 (1926), 2, S. 58. Dies geht aus der gleichbleibenden Rhetorik gegenüber arbeitsfähigen Bedürftigen hervor: „Wenn der gesunde und arbeitsfähige Mann die Kolonie aufsucht, so liegt der Grund dafür, daß er das tut, an einem moralischen Defekt, mit dem er behaftet ist.“ ZdA 10 (1909), 2, S. 71–80, hier S. 75. Lohse, Die Privatwohltätigkeit, S. 8.

Armuts- und Fürsorgediskurse

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mangelnde Verantwortungsgefühl eines Unternehmers.“128 Es müsse künftig darum gehen, keinen Bedürftigen unbefriedigt und keine Behandlung unvollständig zu lassen, da sie im Interesse der „Lebensfrage der Gemeinschaft“129 stehe. Die spezifische Konfiguration der Fürsorgediskurse ist als Anzeichen eines weitreichenden Transformationsprozesses zu verstehen, bei dem die sozialwissenschaftliche Expertise und naturwissenschaftliche Legitimationsmuster eine noch wichtigere Rolle spielen würden als es bislang der Fall gewesen war.130 Hierbei zeigte sich der total verstandene Anspruch, das soziale Zusammenleben nach modernen Gesichtspunkten zu (re-) organisieren und in die Dienste des ‚Volksganzen‘ zu stellen. Armut war in dieser Betrachtungsweise eine unzeitgemäße Kategorie: ‚Arm sein‘ hieß ‚unbrauchbar‘ zu sein. Es handelte sich um eine grobmaschige, undifferenzierte und jegliche ökonomische Potentialitäten aussparende Betrachtungsweise. Im Prozess der stetigen Ausdifferenzierung und Spezialisierung des Fürsorgeangebotes entdeckte man daher auch immer speziellere Bedürftigkeitsgruppen, welche nicht mehr zwingend mit dem Attribut ‚arm‘ versehen wurden: Erwerbslose, arbeitssuchende Wanderer, Waisenkinder und Jugendliche, Genesende oder auch kranke oder nicht ‚vollsinnige‘ und ‚verkrüppelte‘ Personen.131 Da das bestehende ‚Fürsorgesystem‘ nach Ansicht der neuen Fürsorgetheoretiker lediglich „unwirtschaftliche, ja wirtschaftlich wertlose Elemente in überflüssiger Weise mit wirtschaftlichen Werten versorgt“ und dadurch die „institutionelle Produktion von Armut“ fördere, galt es eben dieses zu überdenken.132 Über die transnationale Verflechtung der Fürsorgediskurse verbanden sich zusätzlich viele neue Wissensbestände über die sozialen Probleme und die Möglichkeiten ihrer Abhilfe. Die geordnete Einbindung und messbare Integration aller gesellschaftlichen Glieder in die bestehenden Sozialisations- und Produktionsprozesse würden letztlich die Überwindung aller sozialer Notlagen zur Folge haben. Mittels exakter wissenschaftlicher Untersuchungen sollten unterstützungsbedürftige Personen den Maßnahmen zugeführt werden, welche ihren Problemlagen am effektivsten begegneten. Dabei verlor der bestehende Armutsbegriff noch mehr seine ohnehin unscharfen Konturen. Er wurde zunehmend durch Verwertungskategorien ersetzt, welche mit dem neuen sozialen Gestaltungswillen vereinbar waren. Entsprechend erweiterte sich das fürsorgebezogene Vokabular: Heilung, Therapie, Arbeitsvermittlung, Erziehung und Verhütung hatten sich als Sozialtechniken herausgeschält, die sich von der bloßen ‚Pflege‘ von Armut deutlich unterschieden. Die neuen Zuschreibungskategorien spiegelten diesen Trend ebenfalls wider und verdrängten allmählich die Begriffe ‚Armenwesen‘, ‚Arme‘ und

128 Webb, Das Problem der Armut, S. 171f. 129 Salomon, in: ZdA 13 (1912), 12, S. 359 in Bezug auf Webb, Das Problem der Armut. 130 Vgl. hierzu Raphael, Embedding the Human, in: Brückweh/Schumann/Wetzell/Ziemann (Hrsg.), Engineering society, S. S. 41–56, insb. S. 45ff. 131 Die Tendenz, immer differenziertere Fachgebiete zu generieren, spiegelt sich in allen untersuchten Fachzeitschriften und den dort entsprechend eingerichteten Spezialrubriken wider. 132 Klumker, Zur Theorie der Armut, in: ZVSV (1910), S. 15.

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IV. Grundwissensbestände

‚arm‘.133 Hinter der Webbschen Utopie und ihren Verfechtern stand die Absicht, den Armutsbegriff letztlich völlig aus den Fürsorgedebatten zu verbannen, was faktisch dem Ausschluss des Armutsbegriffes aus dem Armutsdiskurs selbst gleichkam. Da sich, wie eingangs festgehalten, Armut und die von der Sozialreform angeleitete Armenfürsorge gegenseitig konstituierten, musste sich bei der Verdrängung des Armutsbegriffes auch der Verlust der sozialreformerisch geprägten Deutungshoheit über die Soziale Frage bemerkbar machen. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass die neuen Denkströmungen und die in ihnen ausgehandelten Ideen nicht unvermittelt in den Fürsorgediskurs hereinbrachen. Stattdessen lässt sich die Gleichzeitigkeit, Überschneidung und teilweise auch die Verschränkung bestehender Grundwissensbestände beobachten, ohne dass sich die ‚alte Sozialreform‘ umgehend auflöste.134 Die Aussagen der Fürsorgeakteure lassen vielmehr auf höchst kontroverse Auseinandersetzungen schließen, die das allgemeine Ringen um Deutungsvormacht in diesen Jahren kennzeichneten. Dahinter standen das Projekt und der Denkumschwung einer Gruppe von progressiven Fürsorgetheoretikern, welche vor dem Ersten Weltkrieg noch nicht über den Status einer ‚Minderheit‘ hinaus gelangten. Sie setzten sich allerdings für eine Denkweise ein, welche sich in den darauffolgenden Jahren in den Debatten über Fürsorge- und Vorsorgekonzepte allmählich gegen den älteren sozialreformerischen Kanon von der ‚individualisierenden Hilfe von Mensch zu Mensch‘ durchzusetzen begann. Der Fürsorgediskurs, der den Begriff ‚Armut‘ aus dem Bereich des Öffentlichen zu verdrängen suchte, nahm in dieser historischen Phase seinen Ausgang. Er war transnational verflochten und prägte in seiner Langzeitwirkung das gesamteuropäische Armutsverständnis.

133 Die sinnfällige Umbenennung des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit in Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge im Jahre 1921 stand am Ende dieser Entwicklung, welche die Abkehr vom traditionell-sozialreformerisch geprägten Armutsbegriff veranschaulicht. 134 A. Doering-Manteuffel verweist in Hinblick auf den historischen Entstehungsort des ‚social engineering‘, zu dem die Vordenker der Wohlfahrtspflege gerechnet werden können, auf die langsamen Veränderungen und Übergänge unterschiedlicher zeitlicher Phasen: „Wichtiger erscheinen die unzweideutigen Anzeichen kommender Umbrüche, wenn in einer Phase des Überlagerns zweier Zeitschichten, von denen die ältere zunehmend an Verbindlichkeit für gesellschaftliches und politökonomisches Handeln verliert, während die jüngere gerade erst ihre Gestaltungsprinzipien, ihre Begriffe herausbildet.“ Doering-Manteuffel, Konturen von „Ordnung“, in: Etzemüller (Hrsg.), Die Ordnung der Moderne, S. 42.

SCHLUSSBETRACHTUNG Ausgangspunkt der Untersuchung war die Beobachtung, dass das Expertentum der Armenfürsorge während des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts zahlreiche internationale Beziehungen pflegte. Die Armenfürsorge im Deutschen Reich sowie in anderen Staaten war von grenzüberschreitenden Vernetzungs- und Austauschprozessen betroffen. Internationale Debatten, Ideentransfers, wechselseitige Beeinflussungen und Synergieeffekte verweisen auf komplexe Verflechtungen. Internationale Kongresse, Studienreisen und die Fachpublizistik waren ferner die Orte, an denen Fürsorgetheoretiker einzelner Nationen aufeinandertrafen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede ausloteten und auf eine effiziente und ‚moderne‘ Armenfürsorge hinarbeiteten. Die vielfältigen Formen grenzüberschreitender Beziehungen und ihre Bedeutung für das spezifisch deutsche Armenwesen bildeten den Gegenstand dieser Untersuchung. Ziel war es, die in der Forschungsdiskussion zur transnationalen Geschichte geforderte Miteinbeziehung einer beziehungsgeschichtlichen Betrachtungsweise1 speziell auf die Armenfürsorge und deren bedeutendste Akteure, Netzwerke und Debatten anzuwenden. Zwei Schwerpunkte wurden hierfür festgelegt. Zunächst ging es um die systematische Darstellung der transnationalen Austauschbeziehungen, die in der Forschungsliteratur zur Armenfürsorge unberücksichtigt blieben.2 Vernetzungspraktiken und Kommunikationsformen konnten sehr unterschiedliche Gestalt annehmen. Es galt, ihre Entstehungsbedingungen, Ausformung und ihre Grenzen im Wandel der Zeit zu beleuchten und verallgemeinernd einzuordnen. Zu diesem Zweck wurde der Untersuchungsgegenstand aus verschiedenen beziehungsgeschichtlichen Perspektiven analysiert. Die Austauschund Vernetzungsprozesse sollten methodisch differenziert jeweils dort erfasst und qualitativ bemessen werden, wo sie anzutreffen waren. Im Hauptteil der Arbeit wurden auf diese Weise (I.) Netzwerke, (II.) Fachgebiete, (III.) Leitkonzepte und 1

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Für diese Betrachtungsweise plädieren vor allem Christoph Conrad und Madeleine HerrenOesch: Conrad, Sozialpolitik transnational, in: GG 32 (2006), S. 437–444; ders., Social Policy after the Transnational Turn, in: Petersen/Kettunen (Hrsg.), Beyond Welfare State Models, S. 218–240; Herren, Sozialpolitik, in: GG 32 (2006), S. 542–559. Dies gilt insbesondere für die deutschsprachige Forschung. Aber auch die eingangs vorgestellte englisch- und französischsprachige Literatur, die sich der Untersuchung transnationaler Beziehungsnetzwerke der Sozialreform widmet, konzentriert sich auf andere sozialpolitische Bereiche und berührt die Armenfürsorge nicht oder nur am Rande, vgl. stellvertretend Rodgers, Atlantiküberquerungen. Die Arbeiten zu den frühen ‚Sozialarbeiterinnen‘ gehen wiederum grenzüberschreitenden Verbindungen nach, vgl. z. B. die Beiträge aus „Women in Welfare“, in: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte 49 (2006). Allerdings handelt es sich auch hierbei nur um einen Teilbereich der Geschichte der Armenfürsorge, dem aufgrund seiner Bedeutung für die Entstehung der modernen Sozialarbeit aber auch für das Selbstverständnis der Frauenbewegung vergleichsweise viel Beachtung geschenkt wurde.

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Schlussbetrachtung

(IV.) Grundwissensbestände der Armenfürsorge in Augenschein genommen. Die methodische Herangehensweise beschränkte sich somit nicht nur auf die Betrachtung institutioneller und armenrechtlicher Entwicklungen, auch wenn diese als sozialpolitische Umsetzungen immer wieder eine Rolle spielten. Die Untersuchung nahm darüber hinaus den Ideenaustausch und die Wissenszirkulation in Augenschein, die als Grundbedingungen der Fürsorgeorganisation anzusprechen sind. Sie waren der Ausgestaltung des ‚Fürsorgesystems‘ vorgeschaltet und prägten entscheidend die ‚Fürsorgekultur‘. Auf diese Weise wurden breit gefächert unterschiedliche Teilaspekte der Armenfürsorge abgedeckt und punktuell vertiefend analysiert. Eine wichtige Rolle konnte den Netzwerken von Fürsorgeexperten zugesprochen werden. Sie förderten und leiteten die grenzüberschreitenden Austauschbeziehungen. Es wurde untersucht, welche Motivationen die Sozialreformer antrieben, welches Selbstverständnis sie pflegten und welche Inhalte sie zusammenbrachten. Vor allem das internationale Kongresswesen und das in diesem Zusammenhang entstandene Sozialreformer-Netzwerk rückten in den Mittelpunkt der Betrachtung. Der zweite Schwerpunkt hatte zum Ziel, die Bedeutung und Funktion der internationalen Austausch- und Vernetzungsprozesse aufzuzeigen. Als analytischer Referenzpunkt wurden die Armenfürsorge und die Fürsorgefachwelt im Deutschen Reich herangezogen. Anhand diverser Beispiele wurde herausgearbeitet, wo Rück- und Wechselwirkungen vorlagen und wie die Theorie und Praxis der Armenfürsorge davon betroffen waren. Beide Schwerpunkte, die einen häufigen Perspektivwechsel zwischen der internationalen Beziehungsebene auf der einen Seite und den Entwicklungen der spezifisch deutschen Armenfürsorge auf der anderen Seite bedingten, hängen eng miteinander zusammen und werden in der Schlussbetrachtung entsprechend zusammenfassend dargestellt. Aus der Analyse internationaler Netzwerke im Bereich der Armenfürsorge ergab sich eine Einteilung in drei unterschiedliche Phasen grenzüberschreitender Vernetzungsprozesse. Der Internationale Wohltätigkeitskongress 1880 in Mailand sowie der Internationale Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit 1900 in Paris markierten die Eckpunkte einer ersten Vernetzungsphase. Während die Mailänder Veranstaltung noch von wenig Erfolg geprägt war und die internationalen Beziehungen in den 1880er Jahren auf den Austausch von wenigen Publikationen sowie einige Gelehrtenreisen beschränkt blieben, setzte sich mit dem internationalen Fürsorgekongress 1889 in Paris ein Trend in Gang, in dessen Folge sich die Austauschbeziehungen innerhalb der Fürsorgefachwelt intensivierten. Ausschlaggebend hierfür waren Entwicklungen in den ‚nationalen Fürsorgesystemen‘: Institutionelle Konsolidierungsprozesse und das Entstehen sozialreformerisch geprägter Diskussionsplattformen bildeten die Grundlage für eine sachorientierte Auseinandersetzung mit den Belangen der Armenfürsorge im engeren Sinne. In diesen verbandsähnlichen Gremien – zu nennen wären beispielsweise der Deutsche Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit, die Charity Organisation Society oder die Société internationale pour l’étude des questions

Schlussbetrachtung

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d’assistance – versammelten sich unterschiedliche Fürsorgeexperten, die im Allgemeinen den Sozialreformbewegungen zugerechnet werden können und in einer weitreichenden Vereinskultur verankert waren. Die internationale Vergleichbarkeit dieses Expertentums hinsichtlich ihrer beruflichen Funktionen, Arbeitsweisen und ihres sozialreformerischen Selbstverständnisses können als der entscheidende Faktor für die ersten internationalen Vernetzungsprozesse in der Armenfürsorge gelten. Die Austauschbeziehungen blieben jedoch zunächst auf einen überschaubaren Rahmen beschränkt und waren von länderspezifischen Interessenlagen geprägt. Dies veranschaulichten die internationalen Kongresse, die sich mit dem Armenwesen beschäftigten. Der Kongress 1889 in Paris war der erste in einer ganzen Reihe von Veranstaltungen, die unter der Schirmherrschaft einiger französischer Sozialreformer ausgetragen wurden. Sie standen unter dem Einfluss der Vertreter der assistance publique, die in einer heftigen sozialpolitischen Kontroverse den Befürwortern einer von staatlichen Einflüssen weitgehend unabhängigen bienfaisance privée gegenüberstanden. Erstere forcierten den Ausbau internationaler Beziehungen in der Armenfürsorge, wobei sie die Kongresse vor allem als Sprachrohr und Stütze für ihre Belange nutzten. Die Gründung der Société internationale hatte daher auch nicht die gewünschte internationale Vernetzung der Fachwelt als vielmehr die Konsolidierung der französischen Sozialreformbewegung zur Folge. Eine Formalisierung der internationalen Beziehungen wurde nicht erreicht. Die personelle und inhaltsbezogene Dominanz der französischen Sozialreform zeigte sich stattdessen auch auf dem internationalen Fürsorgekongress 1896 in Genf. Der Wohltätigkeitskongress 1893 in Chicago wiederum war von vielen englischen und deutschen Beiträgen gekennzeichnet und ging auf die guten Beziehungen der amerikanischen Organisatoren zu ihren europäischen Kollegen zurück. Diese Beobachtungen verdeutlichen, wie sehr internationale Beziehungen vor 1900 nur punktuell zustande kamen und von Partikularinteressen sowie einzelnen, engagierten Personen abhingen. Ähnliches gilt auch für den Umgang mit den Themen des Armenwesens: Instrumentelle Beobachtung sowie der konkurrenzbetonte Vergleich dominierten die Auseinandersetzung mit der Armenfürsorge anderer Nationen. Darstellungen ausländischer Fürsorgeeinrichtungen dienten beispielsweise oftmals dazu, Reformdruck aufzubauen und Missstände im internationalen Vergleich anzuprangern. Von Gegenseitigkeit oder einem produktiven Dialog kann nur vereinzelt gesprochen werden. Insbesondere die deutschen Fürsorgeexperten fielen in dieser ersten Vernetzungsphase zudem als Akteure kaum ins Gewicht: Passivität charakterisierte ihren Umgang mit grenzüberschreitenden Vernetzungsbemühungen. Die Hauptgründe für diese Zurückhaltung liegen einerseits in der spezifisch deutschen Entwicklung des Armenwesens und den daran anschließenden Fragestellungen. Offene Streitpunkte, etwa was die Regelungen des Reichsgesetzes zum Unterstützungswohnsitz oder die Verteilung der ‚Armenlasten‘ im Deutschen Reich anbelangte, schienen zunächst wenige Anknüpfungspunkte für eine internationale Verständigung zu bieten. Andererseits war Internationalität als Merkmal und wichtiger Aspekt der intellektuellen Inter-

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aktion für die deutschen Sozialreformer noch nicht ausgeprägt. Dass der Deutsche Verein überhaupt Anschluss an die internationalen Fachdebatten fand, ist auf das außerordentliche Engagement von Friedrich Freiherr von Reitzenstein und Emil Münsterberg zurückzuführen. Ein langsamer Wandel in der Wahrnehmung und Deutung internationaler Beziehungen vollzog sich durch die allmähliche Ausdifferenzierung und Professionalisierung der Fürsorgepraktiken. Für eine gewinnbringende Beschäftigung mit dem Armenwesen anderer Länder können die Institutionalisierungsprozesse, welche die Sammlung und das ‚Zugänglichmachen von Material‘ förderten, als eine zentrale Entwicklung angeführt werden. Das Bedürfnis nach Systematisierung und Vertiefung der Kenntnisse fürsorgebezogener Sachverhalte spiegelte sich nicht nur im rasanten Anstieg der Literatur auf nationaler, sondern auch in der Verdichtung des Wissenstransfers auf internationaler Ebene wider. Anfangs prägten dabei noch sehr allgemein gehaltene Überblicksdarstellungen das Gros der international rezipierten Publikationen. Ab den 1890er Jahren nahm der Austausch von spezifischen und detaillierten Fachkenntnissen zu. Die grenzüberschreitende Verständigung wurde dadurch entscheidend vereinfacht. Dass dieser Prozess im Deutschen Reich selbst durch internationale Einflüsse angeregt worden war, lässt sich anhand der Abteilung für Armenfürsorge und Wohltätigkeit und der Zeitschrift für das Armenwesen veranschaulichen: Ihre Gründungen gehen unmittelbar auf Anregungen aus dem Ausland zurück. Diese Einrichtungen waren, ähnlich wie ihre Vorbilder, maßgeblich an der internationalen Vernetzung der Fürsorgefachwelt beteiligt. Sie organisierten die Sammlung und Verbreitung von Fachwissen auch über die Ländergrenzen hinaus und begünstigten damit die Entstehung einer internationalen Debattenkultur. Infolgedessen bildete sich in den Fürsorgefachkreisen zunehmend die Ansicht heraus, sich trotz systemischer Gegensätze und verschiedener Rechtskulturen auf dieselben Leitkonzepte zu beziehen und gewissermaßen dieselbe ‚Sprache der Reform‘ zu sprechen. Grundlage dieser ersten internationalen Verbindungen waren die Überlegungen zur ‚rationellen Armenpflege‘. Darunter verstand man unter anderem die systematische und effiziente Organisation der Armenfürsorge, die möglichst effektive Kooperation zwischen öffentlichen und privaten Einrichtungen sowie die Einstellung der almosenbasierten Wohltätigkeit. Erste fruchtbare Austauschbeziehungen konnten bei der Frage nach den ‚modernsten‘ Methoden und Organisationsprinzipien im Bereich der Fürsorge für arbeitsfähige Bedürftige oder bei der Frage nach zentralisierten Aufsichts- und Kontrollbehörden im Bereich der städtischen Wohltätigkeitsorganisation beobachtet werden. Die Vernetzungs- und Austauschprozesse in der Armenfürsorge veränderten um das Jahr 1900 grundlegend ihr Erscheinungsbild. Dies gilt sowohl in quantitativer als auch qualitativer Hinsicht. Zum einen nahmen die institutionellen Austauschbeziehungen beständig zu. Bedingt durch die umfassende Erfassung und Durchdringung fürsorgebezogener Thematiken verschob sich der Blickpunkt: Partikularinteressen sowie nationales Vergleichs- und Konkurrenzdenken wurden vom Ideal eines transnationalen Professionalismus abgelöst. Anstelle der Systemgrund-

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sätze und den armenrechtlichen Problemstellungen interessierten sich die Sozialreformer nun verstärkt für die eigentliche Praxis der Armenfürsorge. Ein regelrechter Boom an internationalen Bezügen in der deutschen Literatur zur Armenfürsorge und in den deutschen Reformdebatten veranschaulicht diesen Trend. Auf den internationalen Kongressen und in der Fachliteratur zeigte sich, dass die Unterschiede zwischen den einzelnen ‚Fürsorgesystemen‘ immer seltener als ein Hindernis zur gegenseitigen Bereicherung gesehen wurden. Stattdessen rückten vermehrt die Länder oder Institutionen in den Fokus, die für jeweils eine konkrete Fragestellung der Armenfürsorge und nach ergebnisoffener Prüfung der internationalen Fachwelt als Vorbild eingestuft wurden. Zum anderen gelang mit dem Internationalen Kongress für Armenpflege und Wohltätigkeit 1900 in Paris der Durchbruch bei der Formalisierung der internationalen Beziehungen. Die Veranstaltung schuf bei den Fürsorgeexperten erstmals ein Gefühl der grenzüberschreitenden Verbundenheit. Begünstigt durch die Entspannung der Konflikte, welche die französische Fürsorgefachwelt beherrschten, sowie durch das Zusammentreffen von Sozialreformern, die sich in hohem Maße für die Sache einer internationalen Kooperation engagierten, gründete man das Comité international des Congrès d’assistance publique et privée. Die von französischen Sozialreformern dominierten Internationalisierungsbestrebungen wichen allmählich einem sach- und reformorientierten Internationalismus. Die Kongresse wurden für die internationale Expertengemeinschaft ein Ort der Identifikation und gegenseitigen Bestärkung. Bürgerliche Geselligkeitsformen vermittelten das Gefühl eines ‚transnationalen Fürsorgevereins‘. Die Vernetzungspraktiken der zweiten Vernetzungsphase, deren Wortführer die zeitgenössischen Debatten über die Armenfürsorge dominierten, können entsprechend als konstitutiv und identitätsstiftend bezeichnet werden. Die Organisatoren des Netzwerkes waren durchweg führende Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Fachgebieten, den Fürsorgeverwaltungen sowie den städtischen Wohltätigkeitsvereinen. Sie setzten sich mit Nachdruck für die internationale Vernetzung des Expertenwissens ein. Die internationale Bühne bot den Fürsorgeexperten einen Ort der gegenseitigen Bekräftigung und ein zusätzliches Sprachrohr im Kampf um die Deutungskompetenz in den Reformdebatten. Die Teilhabe an den internationalen Beziehungen hatte eine autoritätsschaffende, karrierefördernde Wirkung und die Vernetzung bedeutete intellektuelle Kommunikation ‚auf der Höhe der Zeit‘. Internationale Kontakte trugen somit auch zu Distinktionsprozessen innerhalb des Fürsorgeexpertentums bei. Von diesem Effekt profitierten unterschiedliche Akteure. Von Seiten der deutschen Fürsorgelandschaft gelang beispielsweise dem katholischen Caritasverband der Sprung in das internationale Gefüge. Gleiches gilt für die Armenpflegerinnen der bürgerlichen Frauenbewegung. Die Kongresse von 1906 und 1910 waren von den Bemühungen dieser Gruppierungen geprägt, sich im Kreise der etablierten Fürsorgefachwelt Gehör zu verschaffen. Ausschlaggebend für den Erfolg war die Anpassung der Akteure an die moderat-sozialreformerischen Grundpositionen der Kongresselite. Die neue internationale Orientierung zeigte sich auch in den vielen persönlichen, oftmals freundschaftlichen Kontakten zwischen Sozialreformerinnen und

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Schlussbetrachtung

Sozialreformern unterschiedlicher Länder. Viele der wichtigsten Fürsorgetheoretiker und -praktiker Europas und Nordamerikas führten solche Beziehungen: Persönliche Einladungen, Vorträge auf nationalen Fachtagungen, Studienreisen und Korrespondenzen zeugen von diesen Vernetzungsprozessen und auf Gegenseitigkeit beruhenden Austauschbeziehungen. Das internationale Kongresswesen trug seinerseits dazu bei, dass aus den bereits bestehenden punktuellen Verbindungen ein multiples Beziehungsgeflecht entstehen konnte. Verbindendes Element dieses Expertentums waren die organisatorischen, methodischen und ethischen Leitkonzepte. Dabei kann von international vergleichbaren ‚Fürsorgekulturen‘ gesprochen werden, die in wechselseitigem Verhältnis zueinander standen: Anpassungen, Rückkoppelungseffekte und ein ausgeprägter Hang zur Selbstaffirmation durch Fremdwahrnehmung bildeten die Dynamiken der internationalen Vernetzung. Aus dem konkurrenzbetonten ‚SchritthaltenWollen‘ der ersten Vernetzungsphase entwickelte sich eine internationale Reformergemeinschaft, die auf den Kongressen und in den nationalen Vereinen ihre eigenen Interessen und Ideen artikulierte und damit ihre privilegierte Stellung zu legitimieren versuchte. Hinzu kam ein ausgebildetes Sendungsbewusstsein, das sich zuweilen in feierlicher Selbststilisierung äußerte: Konzepte wie die der ‚Armenfreunde‘, welche sich zum Wohle der Bedürftigen grenzüberschreitend vereinen würden, förderten die Eigensicht als ‚Retter‘ der Notleidenden und überlagerten nationale Sinndeutungen der Reformtätigkeit zugunsten eines ‚moralisch überlegenen‘ Internationalismus. Die Konstruktion eines gemeinsamen Geschichtsbildes und die Betonung bürgerlich konnotierter Werte und Ordnungskonzepte als universales Heilmittel gegen das Armutsproblem gehörten ebenso zum gemeinschaftsbildenden Selbstverständnis der Fürsorgeexperten wie die Auffassung, sich international vereint gegen althergebrachte und ineffektive Wohltätigkeitsbestrebungen in den einzelnen Ländern durchsetzen zu müssen. Man pflegte auf diese Weise den Gedanken, an der Spitze einer zivilisatorischen Mission zur Armutsbekämpfung zu stehen. Die von Seiten der Redner der Internationalen Kongresse für Armenpflege und Wohltätigkeit beschworene Internationalität darf allerdings keineswegs nur auf die identitätsstiftende Funktion von rhetorischen Figuren reduziert werden. Die Vernetzung mit den ‚nationalen Sektionen‘ des Kongresskomitees gewährleistete die Rückbindung der internationalen Debatten an die Fürsorgepraxis der einzelnen Länder. Darüber hinaus wurde gezielt darauf hingearbeitet, politische Kreise in die Kongressarbeit einzubinden. Der gemeinsame Nenner in Bezug auf die Grundansichten über die Armenfürsorge ermöglichte den Austausch von Ideen und Problemlösungsansätzen. Insbesondere Deutschland profitierte von diesen Beziehungen. Weder die Geschichtsschreibung zur deutschen Armenfürsorge noch die historische Wohlfahrtsstaatsforschung nahm diese spezifische, international vernetzte Konstellation der Sozialreform-Bewegung und ihre internationalen Verbindungslinien zur Kenntnis. Es überwog vielmehr die Vorstellung einer Sonderrolle Deutschlands bei der Entstehung moderner Sozialstaatlichkeit. Dieses historiographisch überzeichnete Bild gründet auf der Feststellung, dass das Deutsche Reich in der Herausbildung moderner Arbeiter- und Versicherungspolitik

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eine Vorreiterposition einnahm.3 Internationale Verbindungen wurden daher vor allem als Transfer- oder Anpassungsleistungen anderer Staaten in Betracht gezogen.4 Die einseitige Fokussierung auf staatliche Sozialpolitik versperrt indes den Blick darauf, wie sehr die Fürsorgedebatten im Deutschen Reich, speziell die Fragen rund um die traditionelle Armenfürsorge, von internationalen Einflüssen beeinflusst waren. Die internationale Ausrichtung der Fürsorgeexperten führte besonders in den Jahren nach 1900 zur intensiven Wahrnehmung und reflektierten Einbindung international zirkulierender Wissensbestände in die Theorie und Praxis des Armenwesens. Das Gleiche gilt für den transatlantischen ‚Verkehr‘, der in Bezug auf die hier untersuchten Themengebiete keineswegs als „asymmetrisch“5 bezeichnet werden kann. Die andersartigen Konzepte und neuartigen Methoden der amerikanischen Wohltätigkeitseinrichtungen riefen unter deutschen Fachleuten ein außerordentliches Interesse hervor und mündeten in eine dauerhafte und gegenseitige Beeinflussung. In allen beobachteten Fällen der internationalen Vernetzung offenbart sich eine klare Tendenz: Je spezifischer ein Thema und je sachkundiger die Auseinandersetzung mit demselben, desto erfolgreicher ließen sich die Ergebnisse international vermitteln. Die gegenseitige Bereicherung und synergetischen Effekte zeigten sich in vielen Bereichen. Die methodischen Leitprinzipien der Individualisierung, Fallprüfung und Kategorisierung wurden durch den internationalen Austausch stets verbessert und wirkten als Maßstäbe einer ‚modernen‘ Armenfürsorge in die Armenverwaltungen und Wohltätigkeitsvereine zurück. Der in der Geschichtsschreibung zur Sozialarbeit konstatierte internationale Methodentransfer der 1920er Jahre nahm bereits hier seinen Ausgang.6 Dieser Prozess der „kognitiven Harmonisierung“ (Saunier) stützte sich auf die Universalisierbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse. Mit der gegenseitigen Wahrnehmung bildeten sich immer präzisere und homogenere Kommunikationstypen heraus. Der internationale Austausch trug dadurch zu Standardisierungsprozessen und zur Qualitätssicherung bei. Die ‚gemeinsame Sprache der Reform‘ ist in diesem Sinne als Mittler zu verstehen: Sie war produktiv, disziplinierend, integritätsbildend und innerhalb der Reformergemeinschaft identitätsschaffend. Allerdings muss betont werden, dass die international vernetzten Fürsorgefachleute die Idee einer Wissenschaftsinternationalen nur und ausschließlich hinsichtlich der methodischen Leitkonzepte einer modernen Armenfürsorge teilten. Wissenschaftlichkeit als Selbstzweck, im Sinne einer radikalen Verwissenschaft3 4

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Zur Kritik an dieser Betrachtungsweise vgl. auch Kaelble, Historischer Vergleich, in: Becker/Hockerts/Tenfelde (Hrsg.), Sozialstaat Deutschland, S. 163–170. Vgl. z.B. Hennock, German Models, in: Muhs/Paulmann/Steinmetz (Hrsg.), Aneignung und Abwehr, S. 127–142. Eine differenzierte Einschätzung über die sozialpolitische Sonderrolle und Vorbildfunktion Deutschlands, die im Wesentlichen auf einer einseitigen Überbewertung des Versicherungssystems beruht, bietet Herren, Internationale Sozialpolitik. So Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft, S. 147 und Rodgers, Atlantiküberquerungen, S. 85f. über die Haupttendenzen transatlantischer Sozialeform-Netzerke, von denen in erster Linie die USA profitierten. Vgl. hierzu auch Kniephoff-Knebel, Internationalisierung.

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Schlussbetrachtung

lichung des Sozialen war kein Ziel der Fürsorgeexperten. Die internationale Vernetzung diente dieser Gruppe von Sozialreformern stattdessen auch immer als Vergewisserung der ethischen Grundausrichtung: Die Kombination von effizienter Armenverwaltung und individuell-karitativer Zuwendung war ebenso wichtig wie die in verwaltungstechnische und juristische Fachbegriffe gekleidete Moralisierung des Armutsproblems. Charakteristisch für diese Phase war die Überlappung und Gleichzeitigkeit traditionell-armenpflegerischer und wissenschaftsorientierter Handlungsmaximen. Dieses Zusammenspiel prägte die ‚Fürsorgekultur‘ und bildete zugleich das Schlüsselmoment der internationalen Verständigung. Was die Organisationsprinzipien der Armenfürsorge anbelangte, so dienten ausländische Vorbilder viel häufiger als Vergleichs- und Anknüpfungspunkte für Weiterentwicklungen, als dies in der Forschung zur Armenfürsorge bislang festgehalten wurde. Internationale Einflüsse schlugen sich in der Ausgestaltung der Armenfürsorge in gewisser Form fast überall nieder und sind als reflektierte Anpassungsleistungen zu bewerten. Im Mittelpunkt stand der Wunsch, aus den international bekannten Rechtsformen die besten Organisationprinzipien abzuleiten. Einrichtungen wie die Charity Organisation Society in London, die Zentralarmenbehörden in Frankreich, die Charity Buildings in den amerikanischen Städten oder das deutsche Elberfelder System bildeten die Referenzpunkte für eine Auseinandersetzung, welche sich primär um Fragen der Zweckdienlichkeit und Effektivität drehte. Unterschiedliche Sammel-, Aufsichts- und Kontrollinstitutionen stehen in engem Zusammenhang mit dieser intensiven Rezeptionstätigkeit. Darunter fielen beispielsweise die Herstellung von städtischen Sammelverzeichnissen und die Gründung beziehungsweise der Ausbau von Fürsorgezentralen oder Sammelstellen in verschiedenen deutschen Städten. Die Idee, ein ‚Wohlfahrtsgebäude‘ nach New Yorker Vorbild in Berlin zu errichten, scheiterte zwar. Dennoch wurde damit der Grundstein für eine zentralisierte Koordination der städtischen Wohltätigkeitsvereine gelegt und dieser wie auch andere Zentralisierungsprozesse in den Jahren nach Kriegsbeginn fortgesetzt. Für die Beschäftigung mit den ‚nützlichsten‘ Organisationprinzipien der kommunalen Fürsorgesysteme war dabei entscheidend, dass sie nicht ohne internationale Vorbilder und den Einfluss grenzüberschreitend geführter Reformdebatten auskamen. Besonders erfolgreich gestaltete sich der internationale Austausch hinsichtlich der Frage, wie Armenpflegerinnen und Armenpfleger für ihre Tätigkeit unterwiesen werden könnten. International vermittelte Professionalisierungskonzepte wirkten stark in die Debatten des Deutschen Vereins und beeinflussten die Einrichtung einer Fachkommission über die Fortbildung von Armenpflegern unmittelbar nach dem Kongress 1906 in Mailand. Die daran anschließenden institutionellen Umsetzungen, insbesondere die Dozentur für ‚Armenpflege und sociale Fürsorge‘ an der Frankfurter Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften sowie die Gründung der Sozialen Frauenschule in Berlin, sind nur vor dem Hintergrund der internationalen Austauschbeziehungen gänzlich zu verstehen. Die besondere Rolle der amerikanischen Philanthropic Schools als Vorbild und Impulsgeber der Professionalisierungsbestrebungen muss hervorgehoben werden. Es lag jedoch auch in diesem Bereich kein einseitiger Ideentransfer vor. Von Anfang an stießen sich Entwick-

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lungen vielmehr gegenseitig an. Durch die internationale Vernetzung schuf man ein fruchtbares Umfeld der fortdauernden Reformtätigkeit und reicherte ein grenzüberschreitend diskutiertes Ausbildungskonzept sukzessive mit neuen Ideen an. Auch die Herausbildung eines spezifischen Berufsethos der Sozialen Arbeit hing eng mit der intensiven Rezeption angloamerikanischer Literatur zusammen und bekam durch die Amerika- und Englandreisen prominenter Expertinnen und Experten entscheidende Impulse. Berücksichtigt man diese Faktoren, so erscheint es notwendig, die drei Hauptentwicklungsstränge der modernen Sozialarbeit7 – 1. Organisatorische Reformen, 2. Ausbau kommunaler Fürsorge, Ausdifferenzierung, Rationalisierung und Verwissenschaftlichung, 3. Bürgerliche Frauenbewegung – um einen vierten Faktor zu erweitern: grenzüberschreitende Austauschund Vernetzungsprozesse. Die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der internationalen Kooperationsbestrebungen ließen sich anhand der Frage, wie mit ausländischen Bedürftigen umzugehen sei, aufzeigen. Dieses genuin ‚internationale Thema‘ erlebte einen enormen Bedeutungszuwachs und wurde seit 1896 auf allen internationalen Treffen in Form von kooperativen Resolutionsentwürfen vorangebracht. Man arbeitete darauf hin, die offenen Fragen hinsichtlich der Unterstützung von ‚Ausländern‘, vor allem in Bezug auf den Rücktransport und die Kostendeckung, einvernehmlich zu klären. Der grenzübergreifende Lobbyismus hatte durchaus Erfolg: Es wurde erreicht, dass die kontroversen Fragen der ‚Ausländerfürsorge‘ auf politischer Ebene in Form einer diplomatischen Konferenz verhandelt wurden. Das Comité international verlor jedoch den gestalterischen Zugriff auf die Konferenzverhandlungen von 1912, so dass hier die Grenzen sozialreformerischer Aktivitäten auf politischer Ebene aufgezeigt werden konnten. Unterdessen verweisen die erfolgreichen transkommunalen Kooperationsprojekte im Bereich der Waisenfürsorge sowie der italienischen Wanderarbeiterfürsorge auf die Komplexität internationaler Handlungsstrategien. Pragmatismus und der Wunsch nach einem effektiven sowie differenzierten Fürsorgeangebot standen im Zentrum dieser Unternehmungen. Anhand der ‚Ausländerfürsorge‘ konnte somit das ganze Spektrum der sich grenzüberschreitend organisierenden Sozialreform abgelesen werden. Unabhängig von diesen institutionellen und persönlichen Vernetzungsformen ließen sich wirkmächtige transnationale Armuts- und Fürsorgediskurse nachweisen. Sie folgten generell eigenständigen Diffusionsdynamiken und bildeten die historischen Grundwissensbestände heraus, auf welche die Fürsorgeexperten in ihrer Auseinandersetzung mit dem Armutsproblem zurückgriffen. Auf das gegenseitig konstitutive Verhältnis von Armut und Armenfürsorge wirkten transnationale Armutsdiskurse stabilisierend. Eigensicht und Sinndeutung der Sozialreformer speisten sich dabei aus universellen Grundannahmen über Bedürftige. In diesem Zusammenhang gilt es zu betonen, dass die transnationale Wissensverflechtung durch ihre intrinsische Logik keine Theorie über Armut, wohl aber stetig neues Wissen über Arme und ihre Lebenswelten hervorbrachte. Statistiken, aufwendige Sozialstudien und die international kursierende Fachpublizistik schrieben sozialre7

Sachße, Mütterlichkeit, S. 35.

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Schlussbetrachtung

formerische Bewertungskategorien unablässig in den Armutsdiskurs ein und bestätigten fortlaufend stereotype Armutsbilder. Die tendenziösen Ursachenforschungen stärkten das pejorative Armutsverständnis. Die Praxis der Armenbesuche förderte zugleich immer neue ‚Einsichten‘ über das sozial deviante Verhalten von Bedürftigen zutage und schien den Vorwurf zu bekräftigen, dass Bedürftige selbstverschuldet in ihre Lage geraten seien. Auch dann, als die Kategorie Arbeitslosigkeit in den sozialpolitischen Diskursen an Konturen gewann, wurde mit Nachdruck an der Auffindung des ‚echten Armen‘ gearbeitet. Nicht selten vertrat man die Ansicht, dass Armut einem pathologischen Zustand ähnle. Hierin kamen auch gesellschaftliche Normalitätsvorstellungen zum Ausdruck. Sie bestimmten das sozialreformerische Handeln und konsolidierten die Machtbeziehungen zwischen Unterstützten und Helfenden. Diese Faktoren wirkten sich besonders auf das Fachgebiet ‚Fürsorge durch Arbeit‘ aus. Das gestiegene Forschungsinteresse an der sogenannten Vagabundenfrage hat jüngst zu einer stärkeren Miteinbeziehung der grenzüberschreitenden Debattenkultur geführt.8 Gerade in diesem Bereich lassen sich die Wechselwirkungen nachvollziehen, die ein gesamteuropäisch vermitteltes Armutsbild festigten. So formte sich auf den internationalen Diskussionsplattformen eine ‚Allianz gegen Arbeitsscheue‘ heraus, die nicht nur von konservativen, sondern auch moderaten und progressiven Sozialreformern getragen wurde. Sie unterstützten sich gegenseitig argumentativ bei der Forderung, den Arbeitszwang rechtlich zu verankern und rigoros durchzusetzen. Die Ausweitung sozialdisziplinierender Verwaltungsmaßregeln, wie beispielsweise das belgische ‚Gesetz über die Abwehr des Bettler- und des Landstreicherwesens‘, wurde grenzüberschreitend diskutiert und fand in den deutschen Facherörterungen stets Niederschlag. Umgekehrt galten die deutschen Naturalverpflegungsstationen und Arbeiterkolonien in vielen Ländern als vielversprechende Ansätze zur Lösung der ‚Vagabundenfrage‘. Mit einer internationalen Publikationsoffensive reagierte nach der Jahrhundertwende eine Vielzahl an Autoren wiederum auf den schwindenden Einfluss in den Fürsorgedebatten. Auch deshalb blieb der repressive Charakter der Armenfürsorge erhalten und wurde sogar institutionell ausgeweitet, während sich die von einigen Fürsorgetheoretikern geforderte soziale Neuausrichtung, etwa durch Einführung eines allgemeinen Unterstützungsanspruchs, nicht durchsetzte. Alle Beobachtungen lassen darauf schließen, dass in dieser zweiten Vernetzungsphase, welche zwischen 1900 und circa 1910 anzusiedeln ist, in allen Teilgebieten der Armenfürsorge eine hohe Dichte an grenzüberschreitenden Verbindungen vorlag, die sowohl durch ein aktiv gefördertes Beziehungsgeflecht als auch durch netzwerkunabhängige Transnationalisierungstendenzen bestimmt waren. Dabei wurden die Grenzen des Austausches, welche durch die Gegensätze der ‚Fürsorgesysteme‘ und die üblichen Konkurrenz- und Nachahmungsdynamiken in der europäischen Staatenwelt bestimmt waren, als weniger wichtig erachtet. Dies zeigte sich nicht nur in den internationalen Debatten, sondern insbeson8

Vgl. Althammer, Transnational Expert Discourse, in: Althammer/Gestrich/Gründler (Hrsg.), The Welfare State, S. 103–125.

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dere auch innerhalb der deutschen Fürsorgefachwelt. Das ‚Nationale‘ als Identifikations- und Interpretationsrahmen spielte gegenüber den Jahren von 1880 bis 1900 eine weniger wichtige Rolle. Stattdessen trieb man den Ausbau und die Pflege internationaler Beziehungen voran. Besonders deutlich können die kooperativen und produktiven Vernetzungen in dieser Phase durch die Arbeit der englischen Armenkommission (1905–1909) veranschaulicht werden: Sowohl die Beratertätigkeit und Gutachten von Experten des internationalen Reformer-Netzwerkes als auch die europäische Studienreise der englischen Kommissionsmitglieder flossen in den Abschlussbericht ein. Der Mehrheitsbericht ist somit in Bezug auf seine moderate, reformorientierte Haltung, aber auch in seiner spezifischen Verfasstheit selbst Ausdruck dieser internationalen Vernetzungsarbeit. Der Bedeutungszuwachs neuartiger sozialpolitischer Konzeptionen auf der einen Seite und einschneidende Veränderungen im internationalen Netzwerk der Fürsorgeexperten auf der anderen Seite sprechen dafür, eine dritte internationale Vernetzungsphase in den Jahren vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges anzusiedeln, bevor 1914 letztlich nahezu alle internationalen Beziehungen zum Erliegen kamen. In der Forschung zur Armenfürsorge haben die Veränderungen der sozialpolitischen Debatten in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg und die einsetzende Transformation des traditionellen ‚Fürsorgesystems‘ einen besonderen Stellenwert.9 In dieser Zeit kam es zu Richtungskämpfen, Kontroversen und Spannungen innerhalb der Fürsorgefachwelt. Die Gleichzeitigkeit und zum Teil auch die Verschränkung ambivalenter Fürsorgestrategien war die Folge. In dieser Untersuchung wurde insbesondere der offenen Frage nachgegangen, welchen spezifischen Anteil internationale Austauschbeziehungen an diesem Aushandlungsprozess hatten. Die Analyse verdeutlichte, dass die grenzüberschreitenden Verbindungen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zwar in allen untersuchten Teilbereichen der Armenfürsorge erhalten blieben. Sie änderten jedoch ihre Form und Funktion. So vollzog sich der Aufstieg der Debatten über die Wohlfahrtspflege weitgehend ohne Beteiligung des etablierten internationalen Reformernetzwerkes. Gleichzeitig machte sich die fortschreitende Spezialisierung und Abtrennung einzelner Fachgebiete aus den früheren Kernbereichen der Armenfürsorge bemerkbar, so dass diese Themen verstärkt von separaten Gruppierungen und Veranstaltungen behandelt wurden, was das Expertennetzwerk rund um das internationale Kongresswesen zusätzlich schwächte. Als wichtigste Ursache dieser Entwicklung ist der langsame Wandel der ‚Fürsorgekultur‘ anzuführen, der sich in allen sozialpolitischen und fürsorgebezogenen Bereichen bemerkbar machte. Unter maßgeblichem Einfluss des Minderheitsberichts, der im Rahmen der englischen Armenkommission als Gegenstück zum gemäßigt-reformorientierten Mehrheitsbericht entstand, wurden auch in der deutschen Fürsorgefachwelt die Stimmen lauter, welche in direkter Anlehnung an die programmatische Grundlagenschrift The 9

Zuletzt Frohman, Poor Relief, S. 112ff. Vgl. ferner Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 2, S. 15ff.

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Schlussbetrachtung

Break-Up of the Poor Law die ‚Auflösung‘ der bestehenden Armenfürsorge forderten. Sie setzten sich für den Ausbau der Wohlfahrtspflege im Sinne eines umfangreichen, staatlich gesteuerten Versicherungs-, Erziehungs- und Arbeitsvermittlungssystems ein und bezogen sich dabei stets auch auf internationale Vorbilder. Beeinflusst waren diese Grundsatzdebatten vom allgemeinen Wandel des Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnisses. Die moralische Bewertung des Armutsproblems wurde zunehmend von einer ökonomischen Sichtweise überlagert, außerdem begann sich, stärker als zuvor, der uneingeschränkte Geltungsanspruch der Sozial- und Naturwissenschaften durchzusetzen.10 Die individuelle Schuldfrage sollte nach Ansicht des Minderheitsberichtes und seiner Anhänger dem Anspruch von Wirtschaftlichkeit und kollektiver Leistungsfähigkeit weichen. Die ‚Volksgemeinschaft‘ rückte zugleich in den Mittelpunkt der Argumentation. Damit einher ging die Neubewertung des Armutsbegriffes selbst und dessen Ersetzung durch Verwertungskategorien, welche mit dem neuen sozialen Gestaltungswillen vereinbar waren: Arbeitsbeschaffung, Therapie, Heilung, Erziehung und Verhütung. Die konträren Programmatiken von Armenfürsorge und Wohlfahrtspflege zeigten sich auch in den internationalen Fürsorgedebatten und auf den internationalen Kongressen. Gegensätzliche Positionen äußerten sich beispielsweise bei der Frage, ob und wie Vorsorgekonzepte für die Armenfürsorge anwendbar gemacht werden sollten. Die Auseinandersetzungen auf den internationalen Kongressen veranschaulichten das Misstrauen der angestammten Fürsorgeexperten gegenüber zu weitreichenden staatlichen Eingriffen. Die praxisorientierte und streng individualisierende Herangehensweise, wie sie in den Charity Organisation Societies oder dem Elberfelder System praktiziert wurde, hätte dafür aufgegeben werden müssen. Auch in Bezug auf die Kinder- und Jugendfürsorge wirkten sich die Kontroversen nachhaltig aus. Diese Fürsorgezweige sollten nach Ansicht fortschrittlicher Fürsorgetheoretiker vollständig aus den Armenverwaltungen gelöst und in einen selbstständigen Bereich städtischer Wohlfahrtspolitik übertragen werden. Vorausgegangen waren der Wandel des Erziehungsverständnisses sowie das allgemein gestiegene gesellschaftliche Interesse an der Jugend um die Jahrhundertwende. Studienreisen, internationale Kongresse sowie eine Flut an Fachliteratur beeinflussten das Verständnis von Erziehung und förderten den raschen Ausbau der Kinder- und Jugendfürsorge, nachdem unter anderem im ‚Sozial-Palast‘ der Weltausstellung von 1900 die Rückständigkeit des Deutschen Reiches offenkundig geworden war. Besonders die USA galten in Bezug auf die Jugendgerichtsbewegung als Vorbild einer Entwicklung, die in Europa und im Deutschen Reich zu Nachahmungen führte. Die neuen, am ‚Sozialzweck‘ orientierten Erziehungsideale fanden vor allem bei den Theoretikern der Wohlfahrtspflege viel Anklang. Sie 10 Auch Lutz Raphael spricht sich dafür aus, den Übergang in eine neue Phase der ‚Verwissenschaftlichung des Sozialen‘ um das Jahr 1910 anzusiedeln, vgl. Raphael, Embedding the Human, in: Brückweh/Schumann/Wetzell/Ziemann (Hrsg.), Engineering society, S. 41–56, insb. S. 44f. und S. 50f.

Schlussbetrachtung

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setzten sich für diese neuartigen Erziehungs- und Fürsorgekonzepte ein, da sie der Idee des nationalen Gemeinschaftssinnes sowie der Forderung nach einer effektiveren Wertschöpfung der gesellschaftlichen Ressourcen gerecht wurden. Während also neue Strömungen und Ansichten in die Fürsorgedebatten drängten, verlor das internationale Sozialreformer-Netzwerk an Einfluss und Bedeutung. Die etablierten Expertenkreise reagierten auf die Forderungen der Wohlfahrtspflege meistens mit Skepsis und Zurückhaltung. Sie unterstützten sich vielmehr gegenseitig in ihren Grundpositionen, von denen aus die ‚moderne‘ Armenfürsorge als eigenständiger Bereich neben der Wohlfahrtspflege zu erhalten und gestalten sei: effiziente Verwaltung, reformorientierte Rechtspflege im Rahmen der gegebenen Sozialordnung, Überwindung der Almosenpraxis, moralische ‚Hebung der Gefallenen‘ sowie der sukzessive Ausbau der (kommunalen) Unterstützungsangebote. Die Eigenlogik der Fürsorgepraxis beruhte auch immer auf den Einsichten über das ‚Wesen‘ der Bedürftigen. Auf das Spannungsverhältnis zwischen wissenschafts- und rechtsbezogenen Rationalisierungsbestrebungen auf der einen Seite und der neopaternalistischen Retterfunktion auf der anderen Seite hatten die transnationalen Fürsorgediskurse stets stabilisierend und gemeinschaftsbildend gewirkt. Die aufstrebenden Theoretiker der Wohlfahrtspflege hingegen lehnten die affirmative Selbstdeutung der universell verbundenen ‚Armenfreunde‘ ab. Sie sahen sich selbst vielmehr als spezialisierte Fürsorgewissenschaftler, welchen die Aufgabe zuteilwerden sollte, den sozialen Problemlagen mit rationalen und sozialwissenschaftlich begründbaren Lösungen zu begegnen. Die wirkmächtige Neubewertung des ‚Nationalen‘ als sinnstiftender Referenzrahmen trug zusätzlich zur Herabstufung der Idee einer internationalen Reformergemeinschaft bei. Der sozialreformerische Gemeinwohlbegriff und die daran geknüpfte symbolische Verbrüderungsrhetorik, welche im internationalen Netzwerk stets ihre Entsprechung fanden, verloren wieder an Gewicht. Bereits die Debatten über die ‚Ausländerfürsorge‘ machten deutlich, wie die nationalen Belange der Armenfürsorge sowie ein spezifisches Wissen über bedürftige ‚Inländer‘ und ‚Ausländer‘ ganz beiläufig an Konturen gewinnen konnten. Auf dieselbe Weise trugen die sich international verbreitenden Leitkonzepte der Wohlfahrtspflege zu einer ‚nationaleren‘ Deutung der Armutsproblematik bei. Auch wenn der internationale Ideenaustausch in vielen Bereichen des Armenwesens erhalten blieb, verlor er nach dem internationalen Kongress 1910 in Kopenhagen seine identitätsstiftende Funktion. Nachdem seine wichtigsten Akteure gestorben waren, versäumte es das Netzwerk des Comité international überdies, Vertreterinnen und Vertreter der neuen Denkrichtungen in ihre Reihen aufzunehmen. Während sich also die ‚alte Garde‘ der Sozialreformer in ihrem moderaten Reformkurs gegenseitig ermutigte und hierfür auf die gemeinschaftsfördernde Wirkung der internationalen Verbundenheit zurückgriff, pflegten die Vordenker der Wohlfahrtspflege entweder keine oder bewusst alternative Formen der internationalen Beziehungen. Eine besondere Bedeutung kann in diesem Zusammenhang den Verbindungen deutscher Fürsorgeexpertinnen und Fürsorgeexperten zu den Verfassern des Minderheitenberichts im Umfeld der Fabian Society

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Schlussbetrachtung

zugesprochen werden. Aber auch die persönlichen Beziehungen zwischen Sozialreformerinnen aus den Reihen der Frauenbewegung setzten auf ihre eigenständigen Beziehungsnetzwerke. Diese grenzüberschreitenden Verbindungen verweisen insgesamt auf eine Vernetzungspraktik, die wieder stärker auf persönlichen, oftmals dezidiert sozialpolitischen Interessen oder aber auf einem spezifisch sachthemenorientierten Austausch gründeten. Die internationalen Vernetzungsdynamiken in der hier angesprochenen Transformationsphase lassen sich insofern als ausdifferenziert und punktuell-funktional charakterisieren. Die Ergebnisse der Analyse verdeutlichen, dass die Miteinbeziehung einer transnationalen Perspektive – methodisch reflektiert und unter Berücksichtigung klar definierter Referenzpunkte – die Forschung zur Armenfürsorge sinnvoll erweitern kann. In allen untersuchten Themengebieten konnten grenzüberschreitende Austausch- und Vernetzungsprozesse nachgewiesen werden. Sie spielten für die Sozialreform im Allgemeinen und für die Entwicklung der Armenfürsorge speziell in Deutschland nicht nur eine wichtige Rolle, sondern sie waren in vielen Fällen auch konstitutiv. Die vorliegende Arbeit möchte zugleich zu weiteren beziehungsgeschichtlichen Untersuchungen in denjenigen Themengebieten anregen, die aus forschungspraktischen Gründen nicht oder nur am Rande berücksichtigt werden konnten. Neben weiterführenden Forschungen zu einzelnen Fürsorgezweigen birgt das Feld biographischer Studien ein großes Potential in sich. Als Desiderat dürfen vor allem Arbeiten über die Sozialreformer gelten, die in den hier untersuchten Netzwerken als transnationale Akteure auffällig in Erscheinung traten.

ABKÜRZUNGEN

BArch Comité international COR COS Deutscher Verein DZfW GG JdF JF JGVV RP SDV Société internationale ZdA ZfS ZVSV

Bundesarchiv Comité international des Congrès d’assistance publique et privée The Charity Organisation Review Charity Organisation Society Deutscher Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit Deutsche Zeitschrift für Wohlfahrtspflege Geschichte und Gesellschaft Jahrbuch der Fürsorge Die Jugendfürsorge Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft Revue philanthropique Schriften des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit Société internationale pour l’étude des questions d’assistance Zeitschrift für das Armenwesen Zeitschrift für Sozialwissenschaft Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS UNGEDRUCKTE QUELLEN Bundesarchiv Berlin R 901 / 31836 – 31845: Auswärtiges Amt, Nachrichten über die Armenkolonien, über die Armengesetze, Armentaxen und das Armenwesen. R 901 / 31847 – 31850: Auswärtiges Amt, Die internationale Regelung der Armenfrage, 1880– 1910. R 901 / 74627: Auswärtiges Amt, Unterstützung bzw. Heimschaffung hilfsbedürtiger und armer deutscher Staatsbürger aus dem Ausland und umgekehrt. R 1501 / 101344 – 101346: Reichsamt des Innern, Konferenz über öffentliche Fürsorge für Ausländer. R 1501 / 101309 – 101311: Reichsamt des Innern, Das Armenrecht fremder Staaten. R 1501 / 114839: Reichsversicherungsamt, Die Entsendung von Vertretern zu internationalen Kongressen und inländischen Interessentenversammlungen 1908.

Staatsarchiv Hamburg 351–2 II Allgemeine Armenanstalt II, Nr. 85: Archivalien zur Armenverwaltung und zur Tätigkeit Emil Münsterbergs.

Staatsarchiv Ludwigsburg Bestand E191, Bü4243–4250: Zentralleitung für Wohltätigkeit in Württemberg: Einladungen, Korrespondenzen und Programme zu Kongressen.

Historische Sondersammlung Hochschule Frankfurt Nachlass Klumker. Beveridge, William Henry, Unemployment. A Problem of Industry, London 1909 (Persönliche Buchwidmungen an Emil Münsterberg) Rondel, Georges, La Commune et l’Assistance Obligatoire. Secours aussurés aux malades, aux enfants, aux infirmes, aux vieillards, aux aliénés, Paris 1907.

ZEITGENÖSSISCHE ZEITSCHRIFTEN Blätter für das Armenwesen (Zentralleitung für Wohltätigkeit in Württemberg), 1880–1914.

Quellen- und Literaturverzeichnis

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Blätter für sociale Praxis, 1893–1895 Caritas, 1896–1915. Charities and the Commons, 1905–1909. Charities, 1897–1905. Concordia, 1901–1914. Der Wanderer, 1897–1914. Deutsche Vierteljahresschrift für öffentliche Gesundheitspflege, 1899–1907. Die Arbeiter-Kolonie, 1885–1896. Die Humanität, Monatsschrift für Gemeinnützigkeit, 1895–1909. Die Jugendfürsorge, 1900–1914. Jahrbuch der Fürsorge, 1906–1914 La Revue philanthropique, 1897–1915. Revue d’assistance / Bulletin de la Société internationale pour l’étude des questions d’assistance, 1890–1901. Rivista della beneficenza pubblica, 1896–1914. Schweizerische Zeitschrift für Gemeinnützigkeit, 1889–1914. Sociale Praxis, 1895–1901. Socialpolitisches Centralblatt, 1892–1894. The Charity Organisation Review, 1889–1915. The Survey, 1909–1914. Volkswohl, Allgemeine Ausgabe der Sozial-Korrespondenz, 1885–1914. Zeitschrift der Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen, 1894–1901. Zeitschrift für das Armenwesen, 1900–1915.

PROTOKOLLE UND VERHANDLUNGSBERICHTE Internationale Konferenzen (chronologisch) Congrès international d’assistance (tenu du 28 juillet au 4 août 1889), 2 Bände, Paris 1889. General Exercises of the International Congress of Charities, Correction and Philanthropy, Chicago, June 1893, 6 Bände, Baltimore 1894. IIme Congrès international d’assistance et IIme Congrès international de la protection de l’enfance (Genève 14–19 Septembre 1896), procès-verbaux et résolutions, 2 Bände, Genf 1897. Recueil des travaux du Congrès international d’assistance publique et de bienfaisance privée (tenu du 30 juillet au 5 août 1900), 6 Bände, Paris 1900. Congress of Arts and Science (Universal Exposition, St. Louis, 1904), Volume VII: Economics, Politics, Jurisprudence, Social Science, Boston/New York 1906. IV. Congresso internazionale dell’assistenza pubblica e privata. Bollettino ufficiale del Comitato esecutivo, Mailand 1904–1906. –, Atti del Congresso (Milano, 23–27 Maggio 1906), 5 Bände, Mailand 1906. Recueil des travaux du V. Congrès international d’assistance publique et privée à Copenhague (9– 13 août 1910), 2 Bände, Kopenhagen 1911. Première Conférence internationale du Service Social (Paris, 8–13 juillet 1928), Band 1, Paris 1928. Recueil des travaux du sixième Congrès international d’assistance publique et privée (tenu du 5 au 8 juillet 1928), 2 Bände, Paris 1929.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

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Quellen- und Literaturverzeichnis

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… der 23. Jahresversammlung am 24. und 25. September 1903 in Elberfeld (= SDV 67), Leipzig 1903. … der 24. Jahresversammlung am 25. und 26. September 1904 in Danzig (= SDV 71), Leipzig 1905. … der 25. Jahresversammlung am 21. und 22. September 1905 in Mannheim (= SDV 75), Leipzig 1905. … der 26. Jahresversammlung am 3. März in Berlin (= SDV 76) Leipzig 1906. … der 27. Jahresversammlung am 19. und 20. September 1907 in Eisenach (= SDV 83), Leipzig 1907. … der 28. Jahresversammlung am 17. und 18. September 1908 in Hannover (= SDV 87), Leipzig 1908. … der 29. Jahresversammlung am 23. und 24. September 1909 in München (= SDV 90), Leipzig 1909. … der 30. Jahresversammlung am 15. und 16. September 1910 in Königsberg (= SDV 94), Leipzig 1910. … der 31. Jahresversammlung am 20. und 21. September 1911 in Dresden (= SDV 96), Leipzig 1912. … der 32. Jahresversammlung am 17. und 18. September 1912 in Braunschweig (= SDV 99), Leipzig 1913. … der 33. Jahresversammlung am 25. und 26. September 1913 in Stuttgart (= SDV 101), Leipzig 1914. … der 34. Jahresversammlung am 15. und 16. September 1916 in Leipzig (= SDV 105), Leipzig 1917. … der 35. Jahresversammlung am 21. und 22. September 1917 in Berlin (= SDV 107), Leipzig 1918. Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen, Vorberichte und Verhandlungen der IX. Konferenz vom 11. und 12. Mai 1896, Berlin 1896. –, Vorberichte und Verhandlungen der Konferenz des Verbandes deutscher Wohlfahrtsvereine, Berlin 14. Mai 1898 im Reichstagsgebäude, Berlin 1898. –, Vorberichte und Verhandlungen der IX. Konferenz vom 23. und 24. April 1900 in Berlin, Berlin 1900. –, Vorberichte und Verhandlungen der XI. Konferenz vom 5. und 6. Mai 1902 in Hamburg, Berlin 1903. –, Die Organisation der Wohlfahrtspflege, XV. Konferenz der Centralstelle für ArbeiterWohlfahrtseinrichtungen am 7. und 8. Juni 1906 in Nürnberg und Fürth, Berlin 1907. National Conference of Charities and Correction, Official proceedings of the annual meeting, 1880 (Vol. 7), 1897 (Vol. 24), 1900 (Vol. 27), 1901 (Vol. 28), 1906 (Vol. 33) und 1910 (Vol. 37), New York.

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REGISTER Abbott, Edith 157 Abschreckung 31, 199, 201, 205, 212, 281, 305 Abteilung für Armenpflege und Wohltätigkeit (Zentrale für Armenpflege und Wohltätigkeit) 56–58, 60, 64, 74, 76 Addams, Jane 76f., 157 Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften 259, 261, 346 Arbeiterschaft 13, 141, 292 Arbeiterkolonie 51, 58, 66, 71f., 91, 100, 111, 200f., 203f., 208–214, 216–218, 221, 223, 284, 294, 348 Arbeitslosigkeit (Erwerbslosigkeit) 13, 71f. , 81, 142, 200, 204, 222f., 282, 288, 290, 307, 325, 334, 348 Arbeitsnachweis 200, 204, 209, 213 Arbeitszwang 28, 43, 198, 202, 212,217, 219, 220, 222, 288, 292 Archiv der Berufsvormünder 191, 193f., 195 Arlt, Ilse 125, 139 Armenlasten (Lastenverteilung) 30, 50, 341 Aschrott, Paul Felix 66, 265, 292 Auskunftsstelle der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur 56, 273–275 Auswärtige Amt 26, 64, 84, 109, 123, 144, 170, 185, 188 Baum, Marie 68 Bäumer, Gertrud 157 Bayern 166 Belgien (belgisch) 25, 57, 66, 68, 72, 107, 113, 115f., 137, 144, 164, 167f., 178f., 200, 204, 211, 218–221, 298, 348 Betteln (Bettel, Bettelwesen, Bettelbekämpfung). 200, 204, 207, 200, 214, 215, 218, 220, 225, 231, 269, 294, 317 Beveridge, William 74 Blankenberg, J. F. L. 72, 79, 271 Blaum, Kurt 282, 301 Bodelschwingh, Friedrich v. 66, 91, 201, 209, 211, 241 Böhmert, Victor 66, 99, 229, 239, 294, 302 Booth, Charles 248, 250, 315, 317, 325

Booth, William 97 Boston 75f., 206, 260, 273 Brinkmann, Karl 328 Budapest 187 Buehl, Adolf 220, 282, 288 bureaux de bienfaisance 31, 268f. Bürgerliche Sozialreform 29, 34f., 82, 86, 110, 126, 279, 283, 332 Bürgertum, Bürgerlichkeit 120, 292f., 329 Bürokratisierung 15, 232 Buzzati, Giulio Cesare 179f. Calboli, Marquis Paulucci di 116, 136 Caritasverband .56, 116, 125f., 151, 180, 189, 191, 196, 343 Carlile, Wilson 215 Cassano, Prince de 108, 113 Casimir-Périer, Jean 11, 74, 105, 109, 114, 117, 122, 129f., 135, 149f., 170 Cauer, Minna 68, 256 Cavaglieri, Guido 215, 318 Charity Building 77, 276f., 346 Charity Organisation Society/Societies 31, 48, 55, 89, 143, 246f., 255, 266f., 340, 346, 350 Charlottenburg 276f. Cheysson, Émile 88, 150 Chicago 53f., 60, 67f., 70, 75, 98, 100–103, 125, 132f., 204, 207, 226, 229, 245, 254, 260, 285, 295, 313–315, 341 Conrad, Christoph 22 Conrad, Else 256 Conseil Supérieur de l’Assistance publique 89, 267 Craig, Oscar 208 Dänemark (dänisch) 25, 71, 78f., 112, 116, 130, 134, 136, 138, 144, 167, 289 Dawson, William Harbutt 71, 74, 215f. Derouin, Henri 171, 174–176, 288f. Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge 56f., 301, 308, 304, 311 Deutscher Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit 14, 17, 25, 49, 52f., 55–

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Register 58, 62, 67, 70, 74f., 85, 91, 93, 99–101, 110f., 123, 126, 150f., 159, 172, 176, 181, 192–194, 218–220, 229f., 234, 241, 245, 253f., 259–261, 265–267, 270–272, 281f., 286f., 290, 298, 301f., 304, 334, 336, 346 Devine, Edward 74, 76 Didier, Renard 94 Direction de l’Assistance et de l’Hygiène publiques 58, 227, 268 Dompierre de Chaufepié, Henri Jean de 116, 134, 150 Drouineau, Gustave 94, 163, 172f., 330 Duensing, Frieda 68 Dunant, Albert 116, 134 Eberty, Eduard 254 Elberfelder System 31, 48, 58, 90, 99f., 225, 243-245, 261f., 264, 266, 269, 282, 284f., 289, 295, 308, 346, 350 Elsass-Lothringen 67, 166, 227, 268 Emminghaus, Arwed 60, 288 England 25, 31, 48f., 55, 57, 60, 64, 66f., 70f., 74, 78, 89, 101, 107, 115f., 124, 133, 137f., 143, 153, 167, 179, 201, 214, 229, 243, 246–248, 254, 256, 265– 268, 272, 274f., 289, 296, 298, 300, 307, 315, 334, 347 Eugenik (eugenisch, Rassenhygiene) 323, 335 Fabian Society 78, 142, 351 Ferdinand-Dreyfus, Camille 116, 120, 139, 150, 210–212, 225, 303 Flesch, Karl 66, 261, 282, 295 Florian, Eugenio 215, 318 Flynt, Josiah 215, 317 Forest, Robert de 76, 96, 116 Frankenberg, Hermann 128, 258 Frankfurt am Main .26, 56, 79, 82f., 132, 151, 190, 193, 259, 274, 346 Frankreich 25, 31, 48–50, 57, 60, 63, 66–68, 71, 74, 85, 87f., 92, 94–9, 101f., 105, 115–117, 123f., 128, 130, 132f., 138, 140, 143, 145, 147, 160f., 167f., 171f., 175, 178f., 184–188, 199, 203f., 206, 216, 219, 227, 242, 244, 252, 254, 265, 267, 269, 272f., 296–298, 300, 302, 312, 315, 335, 346

Frauenbewegung 18, 21, 29, 34, 52, 65, 68, 77f., 81, 125, 140, 149, 251–253, 256, 258, 261, 274, 343, 347, 352 Freudenthal, Berthold 304 Friedmann, Anna 71–73, 277 friendly visiting 242, 253 Frohman, Larry 16 Frühe Neuzeit 15, 26, 312 Genf 60, 91–94, 101f., 134, 163, 172–174, 176, 313, 341 Gérando, Baron de 315 Gesellschaft für Soziale Reform 18, 115, 234, Gesundheitswesen 313, 280 Gewerkschaft 141 Hamburg 26, 73, 220, 225, 227, 230, 262, 275, 336 Hampe, Theodor 215 Haussonville, Paul-Gabriel d’ 116 Hébrard de Villeneuve, Henry 184–186 Hedwig, Leyden 116 Henderson, Charles Richmond 70, 74–76, 79, 96, 116, 134, 150, 236f., 244, 286, Henrot, Henri 312 Herz, Hugo 215, 217 Higgs, Mary 76, 215 Hill, Octavia 60, 252 Hippel, Robert v. 215, 222 Hirschfeld, Dorothea 139, 188, 282 Hollweg, Bethmann von 144 Hunziker, Fritz 116, 134, 150 Huzel, Karl August 267 Hygiene (Hygienebewegung, Hygienemaßnahmen) .81f., 131, 142, 179, 231, 283f., 286, 288, 290, 299, 317, 321– 323, 329, 335 Institut für Gemeinwohl 56, 259, 274 Italien (italienisch) 25, 48, 57f., 60, 83f., 90, 108, 115f., 122–127, 129, 134, 137, 143, 164, 172, 178f., 181, 185, 187, 189–191, 197, 215, 230, 347 Jeune, Jules Le 79, 196, 134, 136, 150, 212, 219, 331 Jugendfürsorge 56, 100, 110, 137, 213, 282, 296f., 299, 301, 304–306, 350 Jugendgericht 77, 303f., 350 Kathedersozialismus 101

384 Kinderfürsorge 70, 98, 125, 171, 192–194, 258, 282, 296, 298–302 Kirchen, Konfessionen (konfessionell)16f., 29, 34, 88, 97, 108, 126, 137, 140f., 190, 213, 229, 275f., 292 Klumker, Christian Jasper 78f., 150–152, 155, 157, 192–196, 259, 282, 301, 306, 309, 334–306 Kopenhagen 53, 71, 130f., 135, 137, 141, 143–146, 153–155, 162, 181–183, 242, 253, 261, 288f., 307, 324, 329, 332, 351 korrektionelle Nachhaft 201, 217, 297 Krankenpflege .58, 81, 98, 100, 225, 254, 257 Krieger, Anthonius 116, 130, 134, 136, 141, 242 Kunwald, Ludwig 70, 74, 90, 92, 116, 150, 171, 245 Lachenal, Adrien 108 Lallemand, Léon 224–226, 314 Le Roy, P. A. 171, 244 Lette-Verein 252 Levy, Albert 193, 258, 276f. Liszt, Elsa von 303f. Local Government Board 58, 61, 267, 270– 272 Loch, Charles Stewart 89, 92f., 116, 145, 153f., 205f., 270f., 284f., 293, 313 London 48, 74, 83, 92, 115, 132f., 151, 153f. 155–157, 208, 243, 248, 255, 260, 266f., 269, 271, 273, 317, 322, 346 Loubet, Émile 74, 106, 135f., 146, 148, 150, 181, 184f., 188, 332 Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit 256, 261, 273 Mailand 83–85, 93, 121, 126, 129f., 131f., 134–7, 160, 175f., 178, 189, 245, 253, 257f., 260f., 286, 340, 346 Malthus, Thomas Robert 312 Marx, Wilhelm 116 Masarykova, Alice 157 Massow, Conrad von 66, 109, 111, 209, 211f., 219, 302, 317 Mehrheitsbericht (Majority Report) 133, 143, 153f., 289, 307, 349 Merton, Wilhelm 259 Minderheitsbericht (Minority Report) 78, 133, 142f., 151, 154, 272, 281f., 288– 291, 305f., 307f., 310, 335f., 349f.

Register Mirman, Léon 180 Mischler, Ernst 180 Monod, Henri 72, 79, 88f., 92f., 116, 313 München 275f. Münsterberg, Else 74 Münsterberg, Emil 11f., 14, 52f., 57, 60, 62, 64–66, 69, 71–77, 79, 84, 100, 102, 108–111, 113f., 116, 120, 123f., 132– 134, 136, 138, 144, 150f., 154, 159, 161, 176, 180, 182, 213, 220, 236f., 241, 245, 257, 261f., 270, 276f., 290, 295, 298f., 304, 314f., 321, 334f., 342 Münsterberg, Hugo 74, 236 Musée sociale 104, 216 National Conference of Charities and Correction 70, 75, 255, 260 Nationalismus, nationalistisch 13, 20, 50, 73, 111, 134, 164f., 306, 309f., 329, 332 Naturalverpflegung (-stationen) 91, 100, 197, 201, 203, 208f., 211, 218, 348 New York 75f., 206, 208, 255f., 258, 260, 346 Niederlande, niederländisch 57, 60, 72, 112, 116, 234, 137, 169, 229, 256, 258, 271 Nizza 171 Österreich, österreichisch 25, 48f., 57, 60, 67, 70, 90, 107, 116, 137, 139, 167, 171, 175, 179f., 185f., 187, 243, 270, 285 Office central des Institutions charitables 115, 268 Olshausen, Alfred 176f., 179f., 215 Osius, Rudolf 116, 151, 326 Ostwald, Hans 215, 218 Overbergh, Cyrille van 74, 134, 157, 182, 186 Pagnier, Armand 215 Paine, Robert T. 74, 96, 229 Pannwitz, Gotthold 322 Paris .11f., 50, 52, 60, 68, 71, 86, 90, 92f., 96, 102–104, 110–112, 114f., 117f., 123, 127, 130, 133, 145–147, 149, 155, 157, 160f., 170f., 174, 182f., 185, 195, 203, 216, 242, 244, 248, 250, 252, 268, 284, 286, 293, 297, 299, 303, 310, 312, 314, 317, 322, 330f., 340f., 343 Paulian, Louis 215f., 248, 250, 317 Peabody, Francis G. 76, 96f.

385

Register Petersen, Johannes 192, 282, 301 Philadelphia 322 Philanthropic School 77, 140, 256–346 Picot, Georges 116, 293 Polligkeit, Wilhelm 157, 282, 304 Preußen 109, 208 Reichsamt des Innern 26, 64, 84f., 123, 144f., 183, 187 Reitzenstein, Friedrich Freiherr von 49–49, 51–53, 57, 66f., 69, 73, 91, 93f., 97, 99–101, 172, 253, 267, 342 Repression, repressiv 202, 205, 207, 216f., 220, 223, 226, 241, 335, 348 Richmond, Mary 157f., 225, 260 Riemer, Rudolf 286 Rivière, Louis .12, 71, 74, 105, 108, 116, 212, 215f., 219 Robert, Émile 178f., 180 Rocholl, Carl 215, 317 Rollet, Henri 297 Rondel, Georges 62, 69, 74, 105, 116f., 130, 132, 136, 145f., 148, 157, 188 Roscher, Wilhelm 314f., 328 Rosenau, Nathaniel S. 89, 96, 206, 270, 313, 331 Rossi, Raimondo 172 Rotes Kreuz 116, 326 Roussel, Théophile 87f., 92 Royal Commission on the Poor Laws and Relief of Distress (englische Armenkommission) 25, 64, 72, 133, 142, 154, 221, 245, 247, 250, 262, 271, 282, 289, 349 Ruland, Franz Heinrich 150 Russland 57, 107, 112, 116f., 137, 167, 183, 185 Sabran, Hermann 88f., 92, 116, 150 Sachße, Christoph 15, 18 Salomon, Alice 26, 68, 77–80, 124f., 158, 223, 248, 256f., 260, 282, 287, 305, 307, 325, 336 Sand, René 158 Saunier, Pierre-Yves 345 Schreiber, Adele 68, 78, 125, 246, 256 Schwander, Rudolf 193, 227, 282 Schweden 136 Schweiz 25, 49, 66, 68, 72, 94, 107, 115, 137, 143, 179, 186, 201, 209, 229 Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft 48, 55, 134

Schwerin, Jeanette 66f., 243, 253, 256, 274 Settlement 66, 70, 77, 245f., 254–258, 273, 294f. Seyffardt, Ludwig Friedrich 66, 99 Simmel, Georg 38, 315 Simon, Helene 68, 78, 282, 298, 307 Singer, Karl 275, 335 Sittlichkeit 158, 227, 332 Smith, Richmond Mayo 68, 97, 101 Smiths, Timothy B. 95 Sozialdemokratie 18, 281 Sozialdisziplinierung, sozialdisziplinierend 15, 233, 291f., 348 Soziale Frauenschule 259–261, 346 Sozialwissenschaft (sozialwissenschaftlich) 34f., 62, 77–79, 89, 98, 101, 110f., 119f., 126, 134, 142, 149, 151, 165, 192, 197, 222, 232, 234–236, 248f., 256, 279, 281f., 286, 300, 306, 309, 311f., 320, 323, 336f., 315 Soziologie 18, 38, 98, 217, 248, 328 Sprengler, Marie 125 St. Louis 75, 119, 236f., 320f., 325 State Board 58, 138, 208, 270 Straßburger System 31, 268 Strauss, Paul 88, 103, 116, 127, 129, 131, 156f., 244, 257, 286, 297 Taube, Max 192, 282, 301 Tennstedt, Florian 15 Tessier de Cros, L. 205f. Thode, Karl 249, 282, 305 Thulié, Henri 86, 88, 92f., 105, 252 Topalov, Christian 95 Trunksucht 317, 326 Türkei 315 Ungarn (Österreich-Ungarn) 157, 167, 175, 185, 187 Unterstützungswohnsitz 30, 50, 64, 90, 166– 168, 170f., 177, 180, 201, 209, 218, 227, 312, 341 USA .25, 31, 35, 49f., 55, 57, 60, 66, 74f., 77, 97, 107, 115–117, 124f., 134, 137f., 143, 167, 170, 179, 183, 204, 206, 208, 214, 221, 236, 244, 253f., 256, 258, 260f., 266, 268, 272f., 287, 299, 302f., 305, 320, 350 Vagabunden (-bekämpfung, -krise, -problem, -tum) 111, 169f., 180, 197f., 200,

386 202f., 207, 210–212, 215f., 218, 221f., 227, 229, 317f., 334, 348 Verwahrlosung 297, 300, 321, 336 Verwissenschaftlichung 15, 232f., 239, 345, 347 Voisin, Félix 88f., 116 Volksgemeinschaft (Volkskörper) 281, 306, 308, 310, 334, 350 Waisenpflege (Waisenfürsorge) 58, 74, 192, 347 Waldthausen, Julius Wilhelm von 144f., 183 Webb, Beatrice bzw. Sidney 74, 78, 151, 238f., 307, 309, 325, 333, 336, 338 Werthmann, Lorenz 116, 125f., 151, 180– 182, 189–191, 196, 302 Wines, Frederich Howard 96 Wohlfahrtsstaat (Wohlfahrtstaatsforschung) 16, 19f., 32, 95, 157, 283, 344

Register Wohltätigkeitszentrale der Berliner Kaufmannschaft 278 Wronsky, Siddy 158f., 282 Württemberg 85 Yakowlew, Serge 12, 144, 116 Zentrale für private Fürsorge in Berlin 276, 278 Zentrale für private Fürsorge in Frankfurt .56, 79, 158, 193, 274 Zentralleitung des Wohlthätigkeitsvereins in Württemberg 85 Zentralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen 56, 71, 104, 230 Zentralvorstand deutscher Arbeiterkolonien 112f., 212, 216, 220

v i e rt e l ja h r s c h r i f t f ü r s o z i a l u n d w i rt s c h a f t s g e s c h i c h t e – b e i h e f t e

Herausgegeben von Günther Schulz, Jörg Baten, Markus A. Denzel und Gerhard Fouquet.

Franz Steiner Verlag

ISSN 0341–0846

146. Michel Hubert Deutschland im Wandel Geschichte der deutschen Bevölkerung seit 1815 1998. 368 S., kt. ISBN 978-3-515-07392-9 147. Hans-Jürgen Teuteberg / Cornelius Neutsch (Hg.) Vom Flügeltelegraphen zum Internet Geschichte der modernen Telekommunikation 1998. 480 S., kt. ISBN 978-3-515-07414-8 148. Karl Heinrich Kaufhold / Bernd Sösemann (Hg.) Wirtschaft, Wissenschaft und Bildung in Preußen Zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert 1998. 233 S., kt. ISBN 978-3-515-07424-7 149. Rolf Sprandel Von Malvasia bis Kötzschenbroda Die Weinsorten auf den spätmittelalterlichen Märkten Deutschlands 1998. 207 S., kt. ISBN 978-3-515-07425-4 150. Anne Aengenvoort Migration – Siedlungsbildung – Akkulturation Die Auswanderung Nordwestdeutscher nach Ohio, 1830–1914 1999. 371 S., kt. ISBN 978-3-515-07423-0 151. Reinhold Reith Lohn und Leistung Lohnformen im Gewerbe 1450–1900 1999. 476 S., kt. ISBN 978-3-515-07512-1 152. Thomas Rhenisch Europäische Integration und industrielles Interesse Die deutsche Industrie und die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1999. 276 S., kt.

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ISBN 978-3-515-08254-9 167. Albert Fischer Luftverkehr zwischen Markt und Macht (1919–1937) Lufthansa, Verkehrsflug und der Kampf ums Monopol 2003. 367 S., kt. ISBN 978-3-515-08277-8 168. Bettina Emmerich Geiz und Gerechtigkeit Ökonomisches Denken im frühen Mittelalter 2004. 334 S., kt. ISBN 978-3-515-08041-5 169. Günther Schulz / Christoph Buchheim / Gerhard Fouquet / Rainer Gömmel / Friedrich-Wilhelm Henning / Karl Heinrich Kaufhold / Hans Pohl (Hg.) Sozial­ und Wirtschaftsgeschichte Arbeitsgebiete – Probleme – Perspektiven. 100 Jahre Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 2003. 661 S., geb. ISBN 978-3-515-08435-2 170. Christine Reinle Bauernfehden Studien zur Fehdeführung Nichtadliger im spätmittelalterlichen römisch-deutschen Reich 2003. 589 S., geb. ISBN 978-3-515-07840-5 171. Bernd Fuhrmann Konrad von Weinsberg Ein adliger Oikos zwischen Territorium und Reich 2004. 388 S., kt. ISBN 978-3-515-08456-7 172. Thomas Hill Die Stadt und ihr Markt Bremens Umlands- und Außenbeziehungen im Mittelalter (12.–15. Jahrhundert) 2004. 423 S. mit 29 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08068-2 173. Susanne Hilger „Amerikanisierung“ deutscher Unternehmen Wettbewerbsstrategien und Unternehmenspolitik bei Henkel, Siemens und DaimlerBenz (1945/49–1975) 2004. 314 S. mit 16 Abb. und 7 Graf., geb. ISBN 978-3-515-08283-9 174.1 Gerd Höschle Die deutsche Textilindustrie zwischen 1933 und 1939 Staatsinterventionismus und ökonomische

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ISBN 978-3-515-09693-5 212. Volker Ebert Korporatismus zwischen Bonn und Brüssel Die Beteiligung deutscher Unternehmensverbände an der Güterverkehrspolitik (1957–1972) 2010. 452 S. mit 4 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09692-8 213. Markus A. Denzel / Jan de Vries / Philipp Robinson Rössner (Hg.) Small is Beautiful? Interlopers and Smaller Trading Nations in the Pre-industrial Period Proceedings of the XVth World Economic History Congress in Utrecht (Netherlands) 2009 2011. 278 S. mit 27 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09839-7 214. Rolf Walter (Hg.) Globalisierung in der Geschichte Erträge der 23. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 18. bis 21. März 2009 in Kiel 2011. 273 S. mit 29 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09851-9 215. Ekkehard Westermann / Markus A. Denzel Das Kaufmannsnotizbuch des Matthäus Schwarz aus Augsburg von 1548 2011. 526 S. mit 1 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09899-1 216. Frank Steinbeck Das Motorrad Ein deutscher Sonderweg in die automobile Gesellschaft 2011. 346 S. mit 17 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10074-8 217. Markus A. Denzel Der Nürnberger Banco Publico, seine Kaufleute und ihr Zahlungs­ verkehr (1621–1827) 2012. 341 S. mit 24 Abb. und 44 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10135-6 218. Bastian Walter Informationen, Wissen und Macht Akteure und Techniken städtischer Außenpolitik: Bern, Straßburg und Basel im Kontext der Burgunderkriege (1468–1477) 2012. 352 S. mit 3 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10132-5 219. Philipp Robinson Rössner Deflation – Devaluation – Rebellion Geld im Zeitalter der Reformation 2012. XXXIII, 751 S. mit 39 Abb.

und 22 Tab., geb. ISBN 978-3-515-10197-4 220. Michaela Schmölz-Häberlein Kleinstadtgesellschaft(en) Weibliche und männliche Lebenswelten im Emmendingen des 18. Jahrhunderts 2012. 405 S. mit 2 Abb. und 3 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10239-1 221. Veronika Hyden-Hanscho Reisende, Migranten, Kulturmanager Mittlerpersönlichkeiten zwischen Frankreich und dem Wiener Hof 1630–1730 2013. 410 S. mit 20 Abb. und 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10367-1 222. Volker Stamm Grundbesitz in einer spätmittel­ alterlichen Marktgemeinde Land und Leute in Gries bei Bozen 2013. 135 S. mit 5 Abb. und 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10374-9 223. Hartmut Schleiff / Peter Konecny (Hg.) Staat, Bergbau und Bergakademie Montanexperten im 18. und frühen 19. Jahrhundert 2013. 382 S. mit 13 Abb. und 9 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10364-0 224. Sebastian Freudenberg Trado atque dono Die frühmittelalterliche private Grundherrschaft in Ostfranken im Spiegel der Traditionsurkunden der Klöster Lorsch und Fulda (750 bis 900) 2013. 456 S. mit 101 Abb. und 4 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10471-5 225. Tanja Junggeburth Stollwerck 1839–1932 Unternehmerfamilie und Familienunternehmen 2014. 604 S. mit 92 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10458-6 226. Yaman Kouli Wissen und nach­industrielle Produktion Das Beispiel der gescheiterten Rekonstruktion Niederschlesiens 1936–1956 2014. 319 S. mit 11 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10655-9 227. Rüdiger Gerlach Betriebliche Sozialpolitik im historischen Systemvergleich Das Volkswagenwerk und der VEB Sachsenring von den 1950er bis in die 1980er Jahre

2014. 457 S. mit 28 Abb. und 42 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10664-1 228. Moritz Isenmann (Hg.) Merkantilismus Wiederaufnahme einer Debatte 2014. 289 S. mit 4 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10857-7 229. Günther Schulz (Hg.) Arm und Reich Zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ungleichheit in der Geschichte 2015. 304 S. mit 18 Abb. und 15 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10693-1 230.1 Gerhard Deter Zwischen Gilde und Gewerbe­ freiheit. Bd. 1 Rechtsgeschichte des selbständigen Handwerks im Westfalen des 19. Jahrhunderts (1810–1869) 2015. 395 S., geb. ISBN 978-3-515-10850-8 230.2 Gerhard Deter Zwischen Gilde und Gewerbe­ freiheit. Bd. 2 Rechtsgeschichte des unselbständigen Handwerks im Westfalen des 19. Jahrhundert (1810–1869) 2015. 482 S. mit 2 Abb., geb. ISBN 978-3-515-10911-6 231. Gabriela Signori (Hg.) Das Schuldbuch des Basler Kaufmanns Ludwig Kilchmann (gest. 1518) 2014. 126 S. mit 6 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10691-7 232. Petra Schulte / Peter Hesse (Hg.) Reichtum im späten Mittelalter Politische Theorie – Ethische Norm – Soziale Akzeptanz 2015. 254 S. mit 3 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10943-7 233. Günther Schulz / Reinhold Reith (Hg.) Wirtschaft und Umwelt vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart Auf dem Weg zu Nachhaltigkeit? 2015. 274 S. mit 8 Abb. und 9 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11064-8 234. Nina Kleinöder Unternehmen und Sicherheit Strukturen, Akteure und Verflechtungsprozesse im betrieblichen Arbeitsschutz der westdeutschen Eisen- und Stahlindustrie nach 1945 2015. 384 S. mit 28 Abb. und 30 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11129-4

Das komplexe und zunehmend ausdifferenzierte System öffentlicher und privater Armenfürsorge befand sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem Wandlungsprozess. Traditionelle Unterstützungsformen und neuartige sozialstaatliche Konzepte standen dabei in einem Spannungsverhältnis, das die Armenpfleger, Fürsorgeexperten und Sozialreformer in Verwaltung, Vereinen und in der alltäglichen Fürsorgepraxis zu lösen versuchten. Grenzüberschreitende Austausch- und Vernetzungsprozesse spielten bei der Frage, wie man die Armenfürsorge am effektivs-

ten organisieren und Armut am besten bekämpfen sollte, eine entscheidende Rolle. Internationale Konferenzen, Studienreisen und die intensive Rezeption der Fachliteratur zeugen von einem dichten Netzwerk an fruchtbaren Beziehungen. Christopher Landes untersucht in einem beziehungsgeschichtlichen Ansatz systematisch diese in der Forschung zur Armenfürsorge bislang unberücksichtigten Formen internationaler Vernetzungen und stellt deren Bedeutung für das Fürsorgewesen in Deutschland heraus.

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ISBN 978-3-515-11304-5