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German Pages [596] Year 2001
Ernst Bruckmüller Sozialgeschichte Österreichs
ERNST BRUCKMÜLLER
SOZIALGESCHICHTE ÖSTERREICHS
2001
VERLAG FÜR GESCHICHTE UND POLITIK WIEN OLDENBOURG VERLAG MÜNCHEN
Die Deutsche Bibliothek — CIP Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich
© der 2. Auflage: 2001. Verlag für Geschichte und Politik, Wien.
Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Lektorat: Mag. Ulrike Zdimal-Lang, 1170 Wien Satz: Maria Scherrer, Wien Druck: Druckhaus Grasl, Bad Vöslau Umschlaggestaltung: Katharina Uschan
ISBN 3-7028-0361-0 Verlag für Geschichte und Politik Wien ISBN 3-486-56410-2 R. Oldenbourg Verlag München
INHALT Vorwort
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I Das Konzept einer Sozialgeschichte Österreichs
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II Die gesellschaftliche Entwicklung von der Vorgeschichte bis zum Frühmittelalter
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1 Vom Beginn der menschlichen Siedlung bis zur Römerzeit . 2 Gesellschaftliche Verhältnisse in der römischen Kaiserzeit . 3 Die Herrschaftsorganisationen des Frühmittelalters 3.1 Die Baiern 3.2 Die Karantaner-Slawen 3.3 Die Awaren 3.4 Die Alpenromanen 3.5 Die Alemannen III Feudalismus — Kolonisation — Landesbildung 1 2 3 4 5 6 7 8 9
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Die Feudalgesellschaft — Entstehung und Entwicklung bis ins 13. Jahrhundert Die karolingische Expansion und ihre sozialen Folgen Großmähren und Ungarn Die ottonischen Marken und das Reichskirchensystem . . . Kolonisation und neue Sozialformen Grundherrschaft und bäuerliche Abhängigkeit Die Landesentstehung Von der „Burg" zur „Stadt" Christianisierung und gesellschaftliches Bewusstsein
IV „Krise" des Spätmittelalters. Ständekämpfe und Bauernkriege
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1 Die Bevölkerungsentwicklung 2 Gesellschaftliche Veränderungen im ländlichen Raum 2.1 Verbesserung der bäuerlichen Situation 2.2 Ländliche Unterschichten 2.3 Herren und gemeine Leut' 2.4 Gemeindebewegung 3 Die Entwicklung der Städte 3.1 Städtische Oberschichten 3.2 Handwerker, Zechen und Ausweitung der Bürgerschaft 3.3 Judengemeinden
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3.4 Die Stadt als komplexes System 3.5 „Bürgerkämpfe" Ansätze einer frühkapitalistischen Entwicklung 4.1 Modernisierung im Montanwesen 4.2 Die Knappen Herrschaft und Gesellschaft — neue Territorienkomplexe .. 5.1 Der Aufstieg des Hauses Österreich 5.2 Die Ausweitung von Regierungshandlungen — Mittel und Wege Länder, Stände, Ständekämpfe 6.1 Die Landstände 6.2 Die Ständerevolte von 1519/20 6.3 Ständischer Widerstand im 16. und frühen 1 7. Jahrhundert 6.4 Scheitern der Stände: Ursachen und Folgen Bauernkriege in Österreich 7.1 Die wichtigsten Aufstände 7.2 Die Feinde der Bauern 7.3 Ablaufschema und Trägergruppen 7.4 Organisationsformen 7.5 Zielsetzungen der Aufständischen Gründe für das Scheitern der ständisch-kommunalen Bewegung
V Höfische Gesellschaft, Sozialdisziplinierung und Merkantilismus 1 Wirtschaftliche und demographische Entwicklung 2 Agrarkonjunktur und ländliche Bevölkerung 2.1 Agrarkonjunktur 2.2 Struktur der ländlichen Bevölkerung 2.3 Ländliche Familienformen 2.4 Bauer, Grundherr, Landesfürst 3 Die städtische Bevölkerung 3.1 Die Krise der Handels- und Gewerbestädte 3.2 Das Wachstum der „höfischen" Städte 4 Entstehungsbedingungen, Funktion und Entwicklung des Hofes im Absolutismus 4.1 Hofadel und Repräsentation 4.2 Die Entstehung der Bürokratie 5 Höfische Gesellschaft, Protoindustrialisierung und Merkantilismus 5.1 Der Hof als Ausgangspunkt einer neuen Wirtschaftsgesellschaft 5.1.1 Die Hoffaktoren 5.1.2 Hofbefreite und Dekretisten
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Inhalt
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5.1.3 Privilegierungen 5.1.4 Nobilitierungen 5.2 Unternehmens- und Betriebsformen, Arbeitsorganisation und Arbeiterschaft 5.2.1 Der Bergbau und die mit ihm zusammenhängenden Wirtschaftszweige 5.2.2 Fabriken und Manufakturen 5.2.3 Arbeitsverhältnisse in der Protoindustrialisierung 5.2.3.1 Gewerbliche Arbeitswelt 5.2.3.2 Bergbau 5.2.3.3 Lohnverhältnisse 5.2.3.4 Arbeitszeit 5.2.3.5 Arbeitsorganisation in der frühen Fabrik 5.2.3.6 Frauen-und Kinderarbeit 6 Sozialdisziplinierung in der höfischen Gesellschaft 6.1 Waisen-, Zucht-und Arbeitshäuser 6.2 Das Heerwesen 6.3 Das Schulwesen 7 Sozialer Wandel in der höfischen Gesellschaft? 7.1 „Stände" und „Klassen" in der höfischen Gesellschaft . 7.2 „Landesvater" und paternalistische Ordnung der Gesellschaft
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VI Vom Reformabsolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft . . . .
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1 Das Problem der Industriellen Revolution in Österreich . . . 2 Die Bevölkerungsbewegung 3 Die ländliche Bevölkerung 3.1 Die Reformen und die Aushöhlung des Feudalsystems 3.2 Agrarrevolution, Industrielle Revolution und die Agrarisierung der „Industriebauern" 3.3 Der Wandel der Grundherrenklasse 4 Die städtische Bevölkerung 5 Soziale Voraussetzungen, Begleiterscheinungen und Folgen der Industriellen Revolution 5.1 Die Befreiung der gewerblichen Produktion und des Handels 5.2 Von der Manufakturperiode zur Industrialisierung . . . . 5.3 Neue Fabriken und Industriesiedlungen 5.4 Hausrechtliche Abhängigkeit und freier Arbeitsvertrag — die Dienstboten 5.5 Pauperismus und Widerstand 6 Die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft 6.1 Das neue Unternehmertum 6.2 Bürgerlichkeit und Bildung
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Inhalt
6.3 Die theresianisch-josephinischen Reformen und ihre sozialen Auswirkungen 6.3.1 Die Reform des Schulwesens 6.3.1.1 Die Universitäten 6.3.1.2 Das mittlere Schulwesen 6.3.1.3 Grundschulausbildung 6.3.2 Die Reformen auf kirchlichem Gebiet 6.3.3 Heeres- und Verwaltungsreform: Die Formierung von Offizierskorps und Bürokratie 6.4 Bürgerliche Kultur und ihre Institutionen 6.4.1 Kaffeehäuser 6.4.2 Salons und musikalische Gesellschaften 6.4.3 Die Logen 6.4.4 Die Anfänge des freien Vereinswesens 7 Adel, Stände und Nationen 7.1 Der Hochadel 7.2 Die „zweite Gesellschaft" 7.3 Ständische Opposition und erwachender Nationalismus VII Von der Revolution zum Ersten Weltkrieg 1 Die Revolution des Jahres 1848 1.1 Die Ereignisse 1.2 Interpretationsversuche 1.3 Die Folgen 2 Die Modernisierung der Habsburgermonarchie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 3 Die Bevölkerungsentwicklung 3.1 Globalzahlen, demographische Indikatoren 3.2 Stadt und Land 3.3 Die Verteilung der Bevölkerung nach Wirtschaftssektoren 3.4 Die Verteilung der Berufstätigen 4 Beruf, Familie und Klassenbildung 4.1 Berufspositionen 4.2 Land- und Forstwirtschaft 4.2.1 Bauern, Dienstboten, Landarbeiter 4.2.2 Überbetriebliche Organisationsformen — Landwirtschaftsvereine, Genossenschaften, Bauernvereine 4.2.3 „Klassenbildung" in der Landwirtschaft? 4.3 Sozialtypen, Arbeitsverhältnisse und Klassenbildung in Gewerbe und Industrie 4.3.1 Berufspositionen und Arbeitsverhältnisse im Kleingewerbe 4.3.2 Wohnen, Rekrutierung, Familienverhältnisse . . . 4.3.3 Organisationsbildung im Kleingewerbe
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Inhalt
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4.4 Arbeit, Alltag und Klassenbildung in der Großindustrie 4.4.1 Großindustrielle Branchen und Regionen 4.4.2 Die Industriearbeiter — Qualifikation und soziales Bewusstsein 4.4.3 Gesellenvereine, Arbeitervereine und Gewerkschaften 4.4.4 Arbeiterfamilie, Wohnverhältnisse und Klassenbewusstsein 4.5 Der tertiäre Sektor — Handel und Verkehr, öffentlicher Dienst und freie Berufe — die Angestellten und Beamten 4.5.1 Berufspositionen im tertiären Sektor 4.5.2 Angestellte 4.5.3 Beamte 4.5.4 Vereine für Angestellte und Beamte 4.6 Klassenbildung der Unternehmer — das „Wirtschaftsbürgertum" 4.6.1 Großunternehmer in Industrie, Handel und Finanzwelt 4.6.2 Freie Vereine der Unternehmer in Handel, Gewerbe und Industrie 4.6.3 Das Bürgertum — führende Klasse im „bürgerlichen" Zeitalter? 4.7 Faktoren der Entstehung und Differenzierung sozialer Klassen 4.7.1 Soziale Konflikte — Streiks und Aussperrungen . 4.7.2 Konnubium und Klassenbildung 4.7.3 Die Blütezeit der Vereine 5 Soziale Gruppenbildungen im Bereich des politischen Systems 5.1 Die „alten" Kräfte: Hof, Adel, Bürokratie und Armee . . 5.2 Die „neuen" Kräfte: Parlamentarische Körperschaften und Parteien 5.2.1 Die Mitgliedschaft in den Landtagen und im Reichsrat 5.2.2 Die politischen Parteien 5.2.2.1 Die Honoratiorenparteien 5.2.2.2 Die Massenparteien 5.2.3 Die organisierte Interessenvertretung — Kammern und Beiräte 6 Der Sieg der „Nation" 6.1 Faktoren der Nationsbildung 6.2 Wege der Nationsbildung 7 Der Erste Weltkrieg 7.1 Die Militarisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse . 7.2 Gesellschaft im Krieg
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Inhalt
7.2.1 Arbeitsverhältnisse in der Kriegsindustrie 7.2.2 Frauenarbeit 7.2.3 Soziale Konflikte 7.3 Zusammenbruch oder „österreichische Revolution"? .. 7.3.1 Gesellschaftliche Verschiebungen durch den Krieg 7.3.2 Rätebewegung und revolutionäre Welle 7.3.3 Sozialgesetzgebung 1918 - 1920 7.3.4 W a r es eine Revolution? VIII Von der Ersten zur Zweiten Republik 1 2
Stagnation und Wachstum Strukturwandel der Bevölkerung 2.1 Quantitative Entwicklung 2.1.1 Regionale Verteilung 2.1.2 Die Bevölkerung nach Wirtschaftssektoren . . . . 2.1.3 Berufliche und soziale Positionen 3 Soziale Gruppenbildungen in den einzelnen Wirtschaftssektoren 3.1 Die Land- und Forstwirtschaft 3.2 Industrie und produzierende Gewerbe 3.2.1 Kleingewerbe 3.2.2 Industrie 3.3 Der tertiäre Sektor 3.4 Organisationen der Unternehmer 3.5 Organisationen der Arbeiter und Angestellten 4 Soziale Probleme der Ersten Republik 4.1 Arbeitslosigkeit 4.2 Die Entwicklung der politischen „Lager" — Integration und Desintegration 4.3 Streiks, uniformierte Wehrformationen und gewaltsame Konfliktaustragung 4.4 Das Scheitern der demokratischen Republik 4.5 Zur Frage der gesellschaftlichen Basis faschistischer Strömungen 4.5.1 Die Heimwehren 4.5.2 Das faschistische Gepräge des „Ständestaates" . 4.5.3 Nationalsozialisten in Österreich 5 Sozialer Wandel 1938 - 1945 5.1 Der Charakter des nationalsozialistischen Herrschaftssystems 5.2 Modernisierungseffekte der NS-Herrschaft 5.3 Loyalitätsprobleme im Nationalsozialismus 5.4 Das Zeitalter der Lager
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Inhalt
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5.5 Der Nationalsozialismus in der kollektiven Erinnerung der Österreicher Aspekte der gesellschaftlichen Entwicklung in der Zweiten Republik 6.1 Die Schichtung der österreichischen Gesellschaft in der Zweiten Republik 6.2 Soziale Mobilität — die goldenen Jahre des sozialen Aufstiegs 6.3 Rekonstruktion und wachsende Brüchigkeit der politischen Lager 6.4 Die „Sozialpartnerschaft" — ein österreichisches Spezifikum 6.5 Gesellschaftlicher Wandel — Wahlfreiheit oder Beziehungslosigkeit? 6.6 Österreich in Europa — ein „Sonderfall"? 6.7 Beschleunigung des sozialen Wandels — Beschleunigung des Wertewandels
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Literaturverzeichnis
447
Verzeichnis der Tabellen, Graphiken, Karten und Textzitate
535
Quellennachweise
539
Verzeichnis der Abkürzungen
541
Personenregister
543
Topographisches Register
549
Sachregister
558
Karten
VORWORT
Die zweite Auflage der „Sozialgeschichte Österreichs" entstand auf dem Umweg über die Aufforderung, eine Ausgabe in französischer Sprache vorzubereiten. Dadurch wurden gewisse Änderungen notwendig, vor allem musste der relativ breite Mittelalter-Teil gekürzt werden. Ansonsten halten sich die Unterschiede zur ersten Auflage in Grenzen. Manches wurde knapper (und vielleicht auch präziser) gefasst, manches Detail wurde korrigiert. Notwendig etwas umfänglicher fiel die Ergänzung der gesellschaftlichen Entwicklung im 20. Jahrhundert aus. Die gebotenen Daten reichen nun bis in die 1990er Jahre. Dementsprechend wurde auch der Tabellenteil ergänzt. An die Stelle der Schwarz-weiß-Karten treten in dieser Auflage acht färbige Kartenseiten, die inhaltlich Karten der zweiten Auflage der Neuausgabe des Historischen Weltatlas von Putzger—Bruckmüller (Wien 2000) entsprechen. Dem Verlag Cornelsen in Berlin und dem Verlag öbvfthtp ist für die Erlaubnis für den Abdruck herzlich zu danken. Da jener Verlag, bei dem die Erstauflage erschien, nicht mehr existiert, ist dem Verlag für Geschichte und Politik sehr herzlich dafür zu danken, dass dem Werk hier eine neue Heimat geboten wurde. Besonderer Dank gilt den Kollegen von der Geisteswissenschaftlichen Fakultät, Otto Urban, Ekkehard Weber und Andreas Schwarcz, die das erste Kapitel gründlich lektoriert haben und dem Autor viele wertvolle Anregungen boten. Auch den beiden Kollegen vom Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, die die französische Fassung kritisch korrigierend gelesen haben, Erich Landsteiner und Alexander Mejstrik, gilt der spezielle Dank des Autors, der diesem Lektorat zahlreiche wichtige Hinweise verdankt. Als fleißige Lektorin erwies sich auch Frau Renate Pokorny vom Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien. Die neue Rechtschreibung und ebenfalls ein gründliches Lektorat besorgte Frau Ulrike Zdimal-Lang. Ihr gebührt ebenso der Dank des Autors wie Frau Maria Scherrer, die den Satz erstellte. Die Grenzen dieses Buches liegen in der Leistungsfähigkeit und im notwendig begrenzten Horizont des Autors. Dessen Unvollkommenheit ist aber jener ebenso unvermeidliche wie unerläßliche Ansporn, der die wissenschaftliche Neugierde immer weiter treibt.
Wien, im Frühsommer 2000
Ernst Bruckmüller
I
DAS KONZEPT EINER SOZIALGESCHICHTE ÖSTERREICHS
Als „das Sociale" zum Problem wurde, als die „sociale Frage" auftauchte, als große gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen stattfanden und noch größere teils befürchtet, teils herbeigesehnt wurden, im Zuge der Entwicklung des industriellen Kapitalismus also, entstand im Verein der neuen Sozialwissenschaften auch die Sozialgeschichte. Da jene gesellschaftlichen Veränderungen durch die enormen und auffälligen Wandlungen des Wirtschaftslebens bewirkt wurden, standen Wirtschafts- und Sozialwissenschaften insgesamt, aber auch Wirtschafts- und Sozialgeschichte in einem ganz engen Zusammenhang. Eine erste wissenschaftliche Zeitschrift für den deutschen Sprachraum hieß daher „Zeitschrift für Social- und Wirtschaftsgeschichte" (1893 ff., seit 1903 „Vierteljahrschrift für Social- und Wirtschaftsgeschichte"). Unter ihren Herausgebern befanden sich zwei Wiener Historiker, Carl Grünberg und Ludo Moritz Hartmann. Ihre wissenschaftstheoretisch-politische Einordnung würde man heute wohl mit dem Etikett „linksliberal" versehen. Hartmann schloss sich 1901 der Sozialdemokratie an und war 1920 österreichischer Gesandter in Berlin. Grünberg wurde 1924 Direktor des berühmten Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main. Im Vorwort zum ersten Band der Zeitschrift betonen die Herausgeber, es solle mit dieser „... auf die Entwicklung der Volkswirtschaftslehre sowohl als auch der Geschichte fördernd eingewirkt werden". Unter den ersten Mitarbeitern befanden sich so bekannte Namen wie Lujo Brentano und Karl Lamprecht. Damit geriet freilich die ganze Gruppe unter das Verdikt, dem Karl Lamprecht seitens der deutschen Geschichtswissenschaft unterworfen wurde. Historisch-sozialwissenschaftliche Bemühungen, wie sie hier skizziert wurden, erschienen seitdem in der „richtigen" Historie suspekt. Nicht diese „linke" Spielart der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte bestimmte die weitere Entwicklung in Österreich. 1893 wurde als neues Lehrfach für Juristen und Historiker die „Österreichische Reichs- und Rechtsgeschichte" verpflichtend eingeführt. Dadurch wurden mehrere Historiker angeregt, entsprechende Lehrbücher zu verfassen, die primär die Entwicklung des öffentlichen Rechtes, der Staatsbildung und Verwaltung zum Gegenstand hatten. Gerade für die Erforschung der mittelalterlichen Verhältnisse erwies sich dies als rechtfruchtbringend.In der Person von Alphons Dopsch führte die Verbindung von erweitertem Interesse an gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Mittelalters mit Kritik an den „herrschenden Lehren" und Herausgabe wichtiger Quellen (der landesfürstlichen Urbare) zu einem Neuansatz, der sich 1922 auch institutionell mit der Neugründung des Wiener Universitätsinstitutes für Wirtschafts- und Kulturgeschichte verfestigte.
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Das Konzept einer Sozialgeschichte Österreichs
Die Verbindung der verfeinerten Methodik der Mediävisten mit den Fragestellungen der Landeskunde (auf die man sich mit dem Ende der Monarchie teils ganz betont zurückzog!) führte zu einer kritischen Welle gegenüber der älteren Reichsgeschichte, auch gegenüber Dopsch. Otto Brunner hat schließlich 1939 die Summe der Kritik an der älteren Verfassungsgeschichte in „Land und Herrschaft" — ein durchaus originelles Ergebnis der nationalsozialistisch inspirierten „Volksgeschichte" —vorgelegt. Ihr Ergebnis: Für das Mittelalter wird man kaum von „Staat" sprechen können, die Trennung von öffentlichem und privatem Recht, von dem die Wissenschaft auf Grund der Verhältnisse des 19. und 20. Jahrhunderts ausging, existierte noch nicht. Noch im ABGB von 1811 (§ 1146) ist das grundherrschaftliche Verhältnis als Teil der „Landesverfassungen" aus dem Privatrecht ausgeschieden und gilt als Teil des öffentlichen Rechts, Untertansgesetze gelten daher als „politische". Denn der grundherrliche Hausvater nimmt an der „Polis" des Landes (also der Landstände) kraft seiner Funktion als hausväterlicher Herrschaftsinhaber teil, ebenso wie der bürgerliche Hausvater an der Stadtgemeinde und der bäuerliche an der Landgemeinde. Brunner fordert als Konsequenz eine „Sozial- und Verfassungsgeschichte", bei der „... Menschen und menschliche Verbände in ihrem Zusammenleben, in ihrer Vergesellschaftung..." im Vordergrund stehen sollten. Diese Betrachtungsweise sollte sich auf den „inneren Bau", die „... Struktur der menschlichen Verbände" konzentrieren. Brunners Vorstellungen wurden nach 1945 infolge seiner Entlassung aus dem österreichischen Hochschuldienst eher in Deutschland wirksam. Eine kräftige Brunner-Rezeption erfolgte erst in den 1960er Jahren. Zunächst dominierte in Österreich doch wieder die Dopsch-Schule. Obgleich im Titel nur von einer „Wirtschaftsgeschichte" die Rede ist, hat Alfred Hoffmanns „Wirtschaftsgeschichte des Landes Oberösterreich" (1952) zahlreiche sozialhistorische Fragestellungen berücksichtigt. Anders als bei Dopsch dominiert in seinem Buch nicht das Mittelalter, sondern die (frühe) Neuzeit. Ähnliches gilt für Ferdinand Tremels nur wenig späteres Werk über den Frühkapitalismus in Innerösterreich. Tremel hat dann auch 1967 den ersten Versuch einer Zusammenfassung des Wissensstandes beider Teildisziplinen, der Wirtschafts- und der Sozialgeschichte, vorgelegt. Die neue Verselbständigung der Sozialgeschichte sowohl von der Wirtschafts- wie von der Verfassungsgeschichte, ausgedrückt etwa in der ersten Benennung eines Planpostens für „Sozialgeschichte" an der Universität Wien (1971 ), hängt mit der seit etwa 1960 beobachtbaren, stark verspäteten, Durchsetzung der Sozialwissenschaften auch in Österreich zusammen. In Würdigung dieser Entwicklung konzipierte der Gesetzgeber 1962 für die allgemeinbildenden höheren Schulen das Fach „Geschichte und Sozialkunde". Ein Kompromiss: Damit vermied man die Neueinrichtung eines Faches „Sozialkunde" (oder „Soziologie") an den höheren Schulen und überließ es der Universität, die Geschichtelehrer (zusätzlich) sozialwissenschaftlich zu schulen. 1971 wurde das Fach „Sozialkunde" für Historiker verpflichtend. „Sozialkunde" ist freilich weder Soziologie noch Sozialgeschichte. Man fasste darin Einführungen in Sozio-
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logie, Recht und Verfassung, Nationalökonomie und Politikwissenschaft zusammen. Die 1971 gegründeten „Beiträge zur historischen Sozialkunde" versuchten daher, historische Dimensionen dieser Sozialkunde zu eröffnen, um so dem Lehrer, Gelegenheit zu der vom Lehrplan geforderten Verbindung von Geschichte und Sozialkunde zu bieten. Ungefähr in dieser Tradition sieht sich der Autor (auch als Mitbegründer der „Beiträge"), jedoch ohne den vermessenen Anspruch, ein Historiker könne die historische Tiefendimension für alle sozialkundlichen Fächer ausloten. Im Wesentlichen fühlte sich der Autor, als er 1977 seine erste Vorlesung über die „Sozialgeschichte Österreichs" hielt, der Brunner'schen Konzeption, wie sie oben kurz skizziert wurde, verbunden. Freilich stellte sich heraus, dass dieses Konzept nicht unproblematisch ist (auch unter Absehung von Brunners nationalsozialistischen Neigungen). Brunners Forderung nach Darstellung der diversen menschlichen Verbände (also Familie, Betrieb, Gemeinde, Pfarre, Bruderschaft, Zunft, Verein, Partei, Klasse, Nation ...) in ihren Binnenbeziehungen konnte selbst für einen kleinen Raum wie Österreich nicht entsprochen werden. Ist so das Brunner'sche Konzept jedenfalls durch einen Einzelnen nicht zu bewältigen, so leidet dieses Konzept andererseits unter einer gewissen Statik — wohl deshalb, weil letztlich die Vorstellung eines überzeitlichen „Volkes" als Kern einer „Volksgeschichte" dahinterstand. Zu wenig kam dabei der Wandel in den Blick, vor allem die jeweils exogenen Faktoren des Wandels (Veränderungen der Konjunktur, der Wirtschaftsweise, der politischen Rahmenbedingungen). Obwohl in meiner „Sozialgeschichte Österreichs" immer wieder der Blick auf verschiedene Formen von Vergesellschaftung gelenkt wird, ist sie keine Summe von solch verschiedenen Sozialgeschichten. Anders als bei der aus der Brunner'schen und Conze'schen Sozialgeschichte herkommenden Strukturgeschichte, die sich auf lange beobachtbare strukturelle Eigenheiten beschränkt, kommen hier auch die Aspekte des — langsamen oder beschleunigten — Wandels, der sozialen Brüche, Aufstände und Revolutionen stärker zur Darstellung. Trotz dieser Ausweitungen gegenüber manchen klassischen sozialhistorischen Auffassungen ist dieses Buch keine „Gesellschaftsgeschichte" im Sinne HansUlrich Wehlers: Ein Versuch, die je eigenen Entwicklungslinien von Wirtschaft, Kultur und Politik ebenso darzustellen wie deren gegenseitige Einwirkungen, erscheint nicht nur praktisch unmöglich, sondern, vor der klaren Herausbildung getrennter und abgesonderter Felder von „Kultur" oder „Politik", auch theoretisch fragwürdig. Inhaltlich folgt das Buch einer relativ herkömmlichen Epochengliederung. Die vorfeudalen Perioden wurden in einem ziemlich knappen Kapitel zusammengefasst. Das Hochmittelalter mit seiner Bevölkerungsexpansion, seiner Kolonisationsbewegung, der Ausbildung grundherrschaftlicher Formen, der Landesund Städtebildung erhielt ein eigenes Kapitel. Das Spätmittelalter und die zentralen sozialen Konfliktzonen (Bauernkriege, Ständekämpfe) des 15. bis 17. Jahrhunderts wurden zusammengezogen, was wohl einleuchtet. Die Dominanz der „höfischen Gesellschaft" im 17. und frühen 18. Jahrhundert begründet eben-
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so ein eigenes Kapitel wie die Periode des Reformabsolutismus und der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft. Die Periode von 1848 bis 1918 ist auch von einer gesellschaftsbezogenen Geschichte her als begründbare Einheit (mit ihren dominanten Erscheinungen von Nations- und Klassenbildung) anzusehen. Und dass sich mit dem Ende der Monarchie zahlreiche gesellschaftliche Veränderungen vollzogen, kann wohl als Gemeinplatz gelten. Die Zeit der beiden Republiken und der nationalsozialistischen Herrschaft hingegen könnte wohl auch anders gegliedert werden — wahrscheinlich sind die deutlichen gesellschaftlichen Konstanten ("Industriegesellschaft") in den 1980er Jahren zu Ende gegangen, doch werden solche Konturen immer erst in einem bestimmten zeitlichen Abstand deutlicher. Bestimmte soziale Konfigurationen oder Konflikte wurden in einem einzigen Kapitel untergebracht, auch wenn es entsprechende Phänomene noch später gab (etwa im Falle der Bauernkriege). In jedem Kapitel steht am Beginn eine kurze Skizze von Wachstum und Wandel der Bevölkerung, auch im Zusammenhang mit der Wirtschaftsentwicklung, anschließend wird die ländliche und die städtische Bevölkerung in ihren jeweils dominierenden Sozialformen dargestellt. Fortschreitend wird diese ältere Gliederung durch eine modernere nach (primären, sekundären und tertiären) Wirtschaftssektoren abgelöst. Schließlich folgen weitere Unterabschnitte, die die zentralen gesellschaftlichen Erscheinungen und Faktoren der jeweiligen Zeit herausarbeiten. „Sozialgeschichte" wird — um das nochmals zu betonen — nicht gleichgesetzt mit einer Geschichte der langehin unveränderten „Strukturen", der Konstanten des gesellschaftlichen Lebens. Die Darstellung von Strukturen, also von weniger „realen", als vielmehr (re-)konstruierten Bauelementen oder Gerüsten, von Rahmen, in denen sich die Individuen mehr oder weniger starr eingebunden bewegen, immobilisiert die Geschichte, von der — von welcher theoretischen Position auch immer wir an sie herangehen — jedenfalls das eine festzuhalten ist, dass sie immer in Bewegung war — für uns rückblickend zwar geronnene Bewegung, aber diese Bewegung und die Prozesshaftigkeit der Geschichte darf der Sozialhistoriker keineswegs hinwegeskamottieren. Dennoch sind solche modellhaften Abstraktionen (und nichts anderes sind „Strukturen") in der Darstellung stets notwendig, um typische Veränderungen darstellen zu können, aber auch um überregionale Vergleichbarkeit zu gewährleisten. Die Elemente solcher Strukturen können rechtlich verbindlich („verfassungsmäßig") formulierte Verhältnisse sein (etwa das bäuerliche Abhängigkeitsverhältnis), aber auch dominante ökonomische Beziehungen und Erscheinungen, wie Verlag oder industrielle Lohnarbeit. Die Darstellung einer in sich strukturierten Gesellschaft kann leicht dazu verführen, von einer solchen Struktur auf einen einigermaßen stabilen staatlichen Rahmen zu schließen, der diese „Gesellschaft" und ihre „Stände", Schichten, Klassen oder Gruppen umschlossen hätte. Nichts wäre problematischer als eine solche Vorstellung, vor allem wenn man es mit den Herrschaftsgebieten der Habsburger zu tun hat. Denn diese wurden erst in einem langwierigen Integrationsprozess, der vom 16. bis zum 19. Jahrhundert dauerte, zu einem
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„Staat" mit einer eigenen staatsbürgerlichen Gesellschaft. Vielmehr ist die Integration lokaler und regionaler „Gesellschaften" selbst als Teil jener gesellschaftlichen Vorgänge zu analysieren, die in einer „Sozialgeschichte" darzustellen sind. Deshalb ist die Beschränkung auf das Gebiet der Republik Österreich, die in diesem Band vorgenommen wurde, in gewisser Weise ahistorisch, denn vor 1918 gab es niemals ein Herrschaftsgebilde, das mit der heutigen Republik räumlich identisch war. Am nächsten kommt dieser noch das Gebiet des „Hauses Österreich" Maximilians I., um 1500. Aber auch dieses Herrschaftsgebiet umfasste teils weitere Gebiete (vom Eisass über Südtirol und Slowenien bis Inneristrien), teils weniger Regionen als das heutige Österreich. Salzburg und das Burgenland gehörten nicht dazu. Außerdem war dieser Verband von Ländern unter einem Herrscher noch keineswegs ein „Staat" im modernen Sinn. — Dennoch ist die Begrenzung auf das heutige Österreich legitim. Denn eine Sozialgeschichte der vielfach wechselnden historisch-politischen Räume, an denen irgendwann der Name „Österreich" haftete, ist schon deswegen unmöglich, weil Sozialgeschichte als Geschichte historischer Gesellschaftsentwicklungen eine gewisse Konstanz des beobachteten Raumes erfordert. Außerdem entwickelte sich ein stärkerer gesellschaftlicher Zusammenhang zwischen den sehr verschiedenen „österreichischen" Gebieten — abgesehen von den politischen Eliten und der Kunst — nur sehr langsam. Wir versuchen also eine Darstellung der wichtigsten gesellschaftlichen Prozesse in einem bestimmten Raum, und dieser Raum ist jener der heutigen Republik Österreich. Das entspricht auch dem praktischen Bedürfnis, über die Geschichte eben dieses Raumes Bescheid zu wissen — einem Bedürfnis, das in erster Linie wohl die Bewohner Österreichs selbst entwickeln, aber auch jene Personen, die sich mit Österreich beschäftigen. Freilich werden wir vereinzelt über das heutige Staatsgebiet hinausgehen, schon deshalb, weil die österreichischen Länder, die dauerhaftesten herrschaftlich-politischen Raumeinheiten dieser Region, bis 1918/1919 teilweise andere Grenzen hatten und Gebietsteile umfassten, die heute in anderen Staaten liegen (Südtirol in Italien, die Untersteiermark in Slowenien). Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die unter eigenen Fürsten fast zu eigener Staatlichkeit gediehenen Verwaltungsgebiete „Oberösterreich" (Tirol und die Vorlande) und „Innerösterreich" (Steiermark, Kärnten, Krain, Görz, Triest und das habsburgische Istrien) zwar ihre jeweiligen Zentren (Innsbruck bzw. Graz) im heutigen Österreich hatten, räumlich aber in die rezenten Staatsgebiete von Frankreich, Deutschland und Italien („Oberösterreich") bzw. Italien, Slowenien und Kroatien („Innerösterreich" mit der Militärgrenze) reichten. Das vorliegende Buch soll eine Geschichte der Menschen in ihren sozialen Bindungen sein, in ihren sozialen Ungleichheiten, in ihren gesellschaftlich bedingten Konflikten. Die stets fortschreitende gesellschaftliche Arbeitsteilung gebiert immer neue gesellschaftliche Positionen, Berufe und Berufsbilder. Dem gilt ebenso unser Interesse wie dem Wandel von Kleingruppen, wie Familie
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oder Betrieb. Daneben ist die Entstehung und der Wandel von Großgruppen, von Ständen, Klassen, Parteien, nachzuzeichnen. Gesellschaftliche Konfliktlagen und Konfliktlinien erregen ebenso unsere Aufmerksamkeit wie die großen offenen Ausbrüche von Konflikten. Die Entwicklung des modernen, auf bürokratischer Basis funktionierenden Staates ist ebenso notwendig Gegenstand dieser Darstellung wie die Etablierung einer bürgerlichen Gesellschaft. Das Buch soll Grundzüge der gesellschaftlichen Entwicklung vermitteln. Dem Lehrer soll es ermöglichen, seine „sozialkundlichen Bildungsstoffe" in der Geschichte zu konkretisieren und damit allzu trockene Darstellungen sozialwissenschaftlicher Modellbildungen zu vermeiden. Und natürlich sind Studenten angesprochen — die ursprüngliche Konzeption lag einem Vorlesungszyklus zugrunde. In den Studiengesetzen von 1971 wurde bestimmt, dass angehende Historiker die verschiedenen Epochen und daneben die österreichische Geschichte „nach ihren wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Aspekten" kennen lernen und schließlich beherrschen sollten. Diese sozialen Aspekte herauszuarbeiten, war der Zweck des Buches. Es mag diese Zugangsweise thematisch und methodisch konservativ erscheinen. Die von der amerikanischen „new social history" angeregten Strömungen der neuen Familien-, Alltags-, Frauen-, Jugend- (usw.) Geschichte waren in diesem Konzept ebenso wenig unterzubringen wie die „historische Anthropologie". Diese Ansätze entstanden aus einem durchaus berechtigten Ungenügen mit den zuweilen etwas dürren Zahlengerüsten einer „Strukturgeschichte", die zunächst einmal alle quantifizierbaren Fakten und Faktoren erforschen wollte. Freilich — in Österreich hatte sich die Strukturgeschichte noch gar nicht durchgesetzt, als sich schon die neuen Betrachtungsweisen etablierten, die gegenüber der Forderung nach quantifizierbaren Aussagen den Vorteil der Anschaulichkeit und Individualität besitzen. So brachte es eine Reihe zur historischen Statistik Österreich-Ungarns nur auf zwei (freilich unverzichtbare) Bände. Es ist schade, dass diese Ansätze so früh, zu früh, abgebrochen wurden (dafür gibt es inzwischen eine Fülle strukturgeschichtlicher Arbeiten auf regionaler und lokaler Ebene). Die meisten der post-strukturgeschichtlichen Konzepte der Sozialgeschichte widersetzen sich — als Folge ihres methodischen Grundsatzes, den Blick auf einzelne Phänomene, oft auch auf kleine Gemeinschaften, ja Individuen zu lenken — einer verallgemeinernden Darstellungsweise, wie sie ein Studienbuch nun einmal erfordert. Es wäre auch angesichts der explosiv anschwellenden Neuerscheinungen und der rasch zunehmenden Zahl von Forschungen vermessen, da eine Summe ziehen zu wollen. Dies konnte, eher für jene Bereiche gelingen, denen das vordringliche Interesse der moderneren Strömungen weniger gilt. Freilich vertritt der Autor die Meinung, dass auch diese neuen sozialhistorischen Strömungen stets der Rückkoppelung an die in diesem Buch besprochenen großen strukturellen Entwicklungen bedürfen, um nicht allzu sehr im luftleeren Raum zu schweben. Dieses Buch möchte also jene Basisinformationen bereitstellen, die auch für die neueren Forschungsansätze die „Rahmenhandlung" liefern müssen.
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Noch einige Sätze zum verwendeten Vokabular. Eine einheitliche Sprachregelung schien schon deshalb schwierig, weil sich Vergesellschaftungsformen und soziale Beziehungen so enorm verändert haben, dass eine einheitliche Begrifflichkeit Gleichartigkeit oder Analogie signalisieren konnte, wo in Wirklichkeit große Verschiedenheit herrschte. Das soll am Begriff „Stand" erläutert werden: Die Mittel-„Stands"-Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts verwende(te)n „Stand" als Sammelbezeichnung für Menschen in gleichartigen Berufspositionen (ζ. B. „Bauernstand"), in deutlicher Distanzierung zum Begriff „Klasse". Damit sollten gesellschaftspolitische Vorstellungen signalisiert werden, wie „Stabilität", „Rückkehr zur vorindustriellen Ständegesellschaft" u.a.m. Untersucht man nun, ob die vorindustrielle Gesellschaft tatsächlich nach solchen Berufs-„Ständen" gegliedert war, so findet man den Ständebegriff für völlig unterschiedliche Sozialtypen verwendet (Witwen sind hier genauso ein „Stand" wie Bettler, Kinder oder Könige), also ohne analytische Unterscheidungskraft. Als man im 1 7. Jahrhundert daranging, in Kleiderordnungen Prestige-Unterschiede zwischen Menschen festzulegen, teilte man sie in „Classen"; der Ständebegriff blieb für die Mitglieder der drei oberen Stände in den Landständen reserviert. Wollte man also irreführende Assoziationen vermeiden, musste der Gebrauch des Begriffes „Stände" möglichst eingeschränkt werden, vor allem auf die Sphäre der Landstände. Die summarische Zusammenfassung von Trägern gewisser Berufsrollen erfolgte durch Verwendung des Suffixes ,,-schaft" oder „-tum" ("Bauernschaft", „Bürgertum"), was nur auf analoge beruflich-soziale Positionen und viel weniger auf ein kräftiges gemeinsames Bewusstsein oder eine gemeinsame Organisation der so zusammengefassten Menschen hinweist. Ähnlich problematisch, wenngleich aus anderen Gründen, ist die Verwendung von „Schicht" und „Klasse". Beide Begriffe sollen jeweils Teile einer Grundgesamtheit angeben (statistische „Klassen"). Vor der Ausbildung moderner Staatlichkeit sind solche Grundgesamtheiten nur relativ willkürlich zu identifizieren (am ehesten wären es noch, seit dem Hochmittelalter, die Länder — aber was geschieht dann mit länderübergreifenden Sozialgruppierungen, wie Klerus, Soldaten, Hochadel und Hof?). „Schicht" meint in der Regel eine gewisse Anzahl von Personen in gleichartigen Lebensumständen (ähnliches Einkommen, ähnlicher Bildungsgrad usw.). Dabei wird meist vorausgesetzt, dass die so geschichtete Gesellschaft aus lauter prinzipiell gleichberechtigten Staatsbürgern bestehe, deren Ungleichheit von Kriterien der ökonomischen Stärke abhängt. Eine solche Grundgesamtheit von gleichberechtigten, aber ungleichen Staatsbürgern besteht vor 1848 (in gewisser Beziehung vor 1918) kaum. Ältere Gesellschaften waren ja durch rechtliche Ungleichheiten gekennzeichnet. Man könnte beiden Schwierigkeiten entgehen, indem man den Schichtbegriff in vorindustriellen Gesellschaften nur auf Gemeinden anwendet, die sowohl (1.) klar abzugrenzen sind, als auch (2.) aus einigermaßen gleichberechtigten Hausherren, die ökonomisch stark unterschiedlich situiert sein können, bestehen. Breiter könnte der Schichtbegriff dann mit der Ausbildung moderner Staatlich-
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keit verwendet werden. Begriffe wie „Unter-" oder „Randschichten" im 18. Jahrhundert erscheinen insofern erlaubt, als sie den Prozess der Herausbildung einer einheitlichen Staatsuntertanenschaft zu verdeutlichen mögen. Dennoch sollte man nicht übersehen, dass auch Schichtungsmodelle des 20. Jahrhunderts im Wesentlichen statistische Abstraktionen bieten, die zwar wichtige Voraussetzungen für soziales Handeln und Gruppenbildung aufzeigen, aber noch nicht selbst dieses Handeln und diese Gruppenbildung sind. Schließlich „Klasse". Im Text wird auf eine frühe Verwendung des Klassenbegriffes verwiesen. Hier ist „Klasse" so verwendet wie in der neueren Soziologie häufig „Schicht" — als zusammenfassende Bezeichnung, ohne den Hintergrund gemeinsamer Vergesellschaftung der hier zusammengefassten Personen. In diesem Sinne blieb der Klassenbegriff bis ins 19. Jahrhundert in Verwendung. Zunehmend wurde er aber angereichert um Bedeutungsgehalte, die auf gemeinsames Bewusstsein der so zusammengefaßten Individuen schließen lassen. Marx hat schließlich zwischen der (rein statistischen) „Klasse an sich" und der (mit Bewusstsein versehenen) „Klasse für sich" unterschieden; so wurde „Klasse" denn auch besonders für jene Perioden verwendet, in denen die Ausbildung von Klassenbewusstsein zu beobachten ist. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts scheint dieses Klassenbewusstsein auf der Basis ökonomischer Gleichartigkeit zurückzutreten. Das dürfte mit dem starken Bedeutungsverlust landwirtschaftlicher und allgemein selbständiger Berufspositionen zusammenhängen, durch welche Lohn- oder Gehaltsabhängigkeit ihre sozial differenzierende Bedeutung eingebüßt haben. Vielleicht wird man in Zukunft die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als Periode analysieren, in der an die Stelle jenes Klassenbewusstseins eine neue Klassenbildung primär nach Alters-, Bildungsoder Geschlechtsklassen getreten ist. Dem Autor ist es durchaus bewusst, dass, mit Ausnahme gesellschaftlicher Kleingruppen, menschliche Vergesellschaftungen sich nicht nur selbst über gemeinsame Symbole, gemeinsame Sprachen, gemeinsame Bilder und gemeinsame Feinde „konstruieren", sondern dass auch und insbesondere die Arbeit des Sozialhistorikers, der mit Hilfe abstrakter Begriffen wie „Bauer", „Beamter" oder „Arbeiter" vergangene soziale Realitäten zu erfassen sucht, in hohem Maße (re-)konstruktiv vorgeht. Freilich muss auch die sozialhistorische Darstellung die Überprüfbarkeit ihrer Ergebnisse letztlich der Aussagekraft der je zeitgenössischen Quellen anvertrauen. Solche wurden daher, soweit dies im Rahmen eines Handbuches möglich ist, auch immer wieder zitiert.
II DIE GESELLSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG VON DER VORGESCHICHTE BIS ZUM FRÜHMITTELALTER
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Vom Beginn der menschlichen Siedlung bis zur Römerzeit
Die ältesten archäologischen Funde Österreichs stammen aus der Repolusthöhle bei Peggau in der Steiermark. Es sind Überreste von Altmenschen („Neandertalern"), die hier vor etwa 250.000 Jahren gewohnt und gejagt haben. Die Formen des Zusammenlebens dieser frühesten Menschen sind nicht zu rekonstruieren. Man kann sich jene altsteinzeitlichen Jäger, die vor etwa 90.000 Jahren die Gudenushöhle im Tal der Kleinen Krems (Waldviertel, NÖ.) oder vor 31.000 bis 60.000 Jahren die Ramesch-Knochenhöhle im Toten Gebirge (OÖ.) auf der Jagd nach dem Höhlenbären aufsuchten, als kleine Gruppen vorstellen, deren Größe einerseits durch den zur Verfügung stehenden Nahrungsspielraum, andererseits durch die Erfordernisse des gegenseitigen Schutzes bedingt war. Erst einige zehntausend Jahre später verdichtet sich das Fundmaterial etwas, typischerweise in den siedlungsgünstigeren Löss-Landschaften Niederösterreichs (Weinviertel, Wachau). Mit der berühmten „Venus" von Willendorf (in der Wachau, um 25.000 v. Chr.) und der eigentlich noch bedeutsameren, wenngleich zerbrochenen „Venus" vom Galgenberg bei Stratzing (im Kremstal, NÖ., um 30.000 v. Chr.), wohl der ältesten Steinplastik der Welt, haben diese Menschen zwar hervorragende Zeugnisse für ihre Fähigkeiten im Bereich der bildenden Kunst hinterlassen, für die Gestaltung und die Binnenbeziehungen der sozialen Gruppenbildungen blieben uns aber keine sicher interpretierbaren Zeugnisse erhalten. Mit dem Klimawechsel nach dem Ende der Würm-Eiszeit (um 8000 v. Chr.) änderten sich auch Besiedlung und Kultur. Die jagdbaren Groß-Säuger verschwinden. Entsprechend den veränderten Jagd-Gegebenheiten ändern sich nun auch die Geräte. Sie werden kleiner. Die Bearbeitung dieser verschiedenen Stein-Werkzeuge erreicht bereits einen sehr hohen Grad der Vervollkommnung (Mesolithikum, 8000 bis 5500/5000 v. Chr.). Die folgenden grundlegenden Wandlungen werden als„neolithische"oder „landwirtschaftliche Revolution" bezeichnet. In der Tat waren die Neuerungen, die sich jetzt (ab ca. 8000 v. Chr.) zuerst im Orient vollzogen, revolutionär. Es begann die Zähmung von Wildtieren (zuerst Schafe und Ziegen, später Schweine und Rinder), und es begann der erste systematische, wenngleich seinem Umfang nach noch bescheidene Getreidebau. Fast noch bedeutsamer
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erscheint die Entdeckung, dass man Gefäße nicht nur mühsam aus Knochen, Steinen und Holz herausarbeiten, sondern auch aus bestimmten Erden formen und durch Brennen haltbar gestalten konnte. Nach den bevorzugten Formen dieser Keramik ließen sich oft recht weit ausgedehnte Kulturkreise feststellen, als älteste gilt die Linearbandkeramik (6./5. Jahrtausend v. Chr.) Das Inventar der Haushalte wurde dadurch ungeheuer bereichert. Schafwolle wurde bereits versponnen und zu Stoffen gewebt. Durch erhöhte Sesshaftigkeit kam es nun auch zu einer Umgestaltung der Wohnweise. Die Jungsteinzeitler bauten richtige große Häuser. So wurde in Salzburg-Maxglan ein Haus der jüngeren Steinzeit mit 12 Meter Länge und 3,3 Meter Breite ausgegraben. In Brunn am Gebirge fand man 34 Langhäuser von 20-mal sieben bis acht Metern im Grundriß, die auf etwa 5600 bis 5100 v. Chr. datiert werden. Man kann die mit dieser Siedlungs- und Wirtschaftsweise verbundene Kultur bereits als „bäuerlich" ansprechen. Die Errichtung dieser Anlagen setzt eine gewisse Koordination innerhalb von größeren familialen oder dörflichen Verbänden voraus. Die neuen Techniken (Ackerbau, Viehzucht, Töpferei, Textilproduktion) haben Arbeitsteilung erfordert bzw. nach sich gezogen. Arbeitsteilung wiederum beschleunigt soziale Differenzierung und überlokalen sowie überregionalen Austausch. Sesshaftigkeit und Bevölkerungszunahme waren die gesellschaftlichen Folgen dieser Veränderungen. Im 5. Jahrtausend entstanden — primär in Niederösterreich — weitläufige, zuweilen sogar von zwei Gräben umschlossene Anlagen (Kreisgrabenanlagen), deren Funktion noch nicht ganz geklärt ist. Man denkt an Versammlungsorte für eventuell jahreszeitlich bedingte Kulthandlungen jener Gemeinschaften, die diese Anlagen errichteten und erhielten. Um 4000 v. Chr. wurde — so auf der Antonshöhe in Mauer bei Wien — auch schon Bergbau betrieben, um den begehrten Hornstein als Rohmaterial für Feuersteingeräte zu gewinnen. Im 4. Jahrtausend wurde das Kupfer bekannt. Nun hat man jene Feuchtbodensiedlungen an diversen Seen des Alpengebietes und Alpenrandes errichtet, die als „Pfahlbaudörfer" bekannt sind und sowohl am trockenen Ufer wie auch im Feuchtgebiet gebaut worden sein können. Hier wurden Gusslöffel und Gusskuchen als Überreste des Kupfergusses gefunden. Die Errichtung dieser Siedlungen könnte also auf die Suche nach Kupfer in den angrenzenden alpinen Regionen zurückgehen (Mondseekultur um 3600 bis 3500 v. Chr., Keutschacher See in Kärnten: 3850/3800 v. Chr.). Analoge Siedlungsformen begegnen in diesen Regionen bis in die Eisenzeit hinein. In der Kupferzeit („Jungsteinzeit") lebte auch der „Ötzi" (ca. 3000 v. Chr.), dessen im Eis erstaunlich gut konservierten Überreste im September 1991 auf dem Hauslabjoch in 3200 m Seehöhe gefunden wurden. Freilich geben wederWaffen noch Bekleidung über die sozialen Beziehungen, in denen er gelebt hatte, Auskunft. Die älteste neolithische Kultur in unserem Raum, die nach ihrem Verbreitungsgebiet so genannte „donauländische" Kultur, wird ab der Mitte des 3. vorchristlichen Jahrtausends durch eine neue Richtung abgelöst, in der Gruppen dominiert haben sollen, in denen sich der Wandel zum (sprachlich) „Indogermanischen" vollzog.
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Mit dem Beginn einer systematischen Metallverarbeitung am Beginn des 2. vorchristlichen Jahrtausends ( „Bronzezeit", von ca. 2300/2200 bis 800 v. Chr.) müssen sich die Gruppenbeziehungen neuerdings nachhaltig verändert haben. Sobald der Abbau von Kupfer größere Mengen betraf, konnte es sich nicht mehr um eine Art von Nebenerwerb zusätzlich zur bäuerlichen Hauswirtschaft handeln. Auf dem Mitterberg (bei Mühlbach am Hochkönig) und auf der Kelchalpe bei Kitzbühel begannen nun sehr beachtliche Bergbautätigkeiten. Am Mitterberg hat man von etwa 1800 bis um 700/600 v. Chr. Kupfer abgebaut. In dieser Zeit wurden etwa 20.000 Tonnen Kupfer erzeugt. Das erforderte die koordinierte Arbeitsleistung von bis zu tausend Menschen zur gleichen Zeit. Es muss sich also um spezialisierte Bergleute gehandelt haben, deren Ernährung zu einem nicht unerheblichen Teil durch Zufuhren aus Tallagen gesichert worden sein muss. Zum Teil könnten diese Leute während der günstigeren Jahreszeit auch eine Art Almwirtschaft zur Eigenversorgung getrieben haben, wie dies für die Kelchalpe vermutet wird. Inwieweit die genannten Spezialisierungsvorgänge neben dem Typus des „Bergmannes" auch schon jenen des „Händlers" oder „Verlegers" hervorgebracht haben, oder ob der Absatz durch gentile Häuptlinge der hier wohnenden Gruppen besorgt wurde, ist nicht mit Sicherheit festzustellen. Wohl aber haben fortschreitende Arbeitsteilung und ein dadurch bedingter Zwang zur Rollenfixierung zu erhöhter gesellschaftlicher Differenzierung geführt. Der „Berg" erwies sich schon in der Vorzeit als wichtiges Medium für die Entstehung neuer Formen sozialen Zusammenlebens. In der späten Bronzezeit (1300/1200 bis 750/700 v. Chr.) hat sich die vorherrschende Bestattungssitte der „Urnenfelder" relativ rasch über größere Gebiete Europas ausgebreitet, was als „Urnenfelderwanderung" auch in Zusammenhang mit dem Einfall der „Seevölker" im östlichen Mittelmeerraum und mit der Dorerwanderung in Griechenland (um 1100 v. Chr.) gebracht wurde. Große Befestigungsanlagen, Wallburgen, gelten als (Stammes-)Zentren, die durch mächtige Erdwälle gesichert waren und im Innern Wohnbauten, Speicher und Werkstätten enthielten, zum Teil aber auch unverbaut blieben (Stillfried an der March, Oberleiserberg). Neben den Streitwagenkriegern — Streitwagen dürften um 1500 aufgetaucht sein — gab es auch Reiterkrieger, die beide wohl einen hohen sozialen Status einnahmen. Im Zusammenhang mit dem Bergbau wurden erstmals größere materielle Reichtümer angesammelt, deren Verteilung ganz offenkundig recht ungleich erfolgte. Das tritt, noch deutlicher als beim Kupferbergbau, beim Salzbergbau zutage, dessen Blüteperiode fast zeitgleich mit dem Rückgang des Kupferbergbaues beginnt, zuerst in Hallstatt (danach benannt die „Hallstattkultur", ca. 800 bis ca. 500 v. Chr.), dann auf dem Dürrnberg bei Hallein (La-Tène-Zeit). Neben Bronze wurde übrigens schon Eisen (ab etwa 900 v. Chr.) zuerst in geringem, dann in steigendem Maße verwendet. Man bezeichnet daher die Hallstattkultur auch als „ältere Eisenzeit", die ab etwa 500 v. Chr. folgende La-Tène-Zeit als „jüngere Eisenzeit". — Die ausgedehnten Gräberfelder von Hallstatt und vom Dürrnberg haben verschiedene sozialhistorische Interpretationen herausgefor-
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dert, die freilich alle mit großen Schwierigkeiten kämpfen. Lage und Ausstattung der Gräber können nämlich die gesellschaftliche Wirklichkeit der Bestatteten noch einmal reflektieren, sie können sie aber auch verschleiern und eventuell auf eine (für den Bestatteten) erwünschte jenseitige Wirklichkeit hinweisen. Reich ausgestattete Gräber mögen wirklich „Fürstengräber" sein, diese Prunkgräber könnten aber auch reich gewordene Händler beherbergen, die ihren neu erworbenen gesellschaftlichen Status durch besonders reiche Grabbeigaben unterstreichen wollten. Waffenbeigaben kennzeichnen wohl Krieger. Daneben existieren aber (zeitlich und örtlich durchaus in größerer Anzahl) auch waffenlose Männergräber. „Berufe" (etwa jener des Bergmannes) werden nicht im Grabe dokumentiert; eine Ausnahme bildet der Schmied, dessen Beherrschung spezieller Kenntnisse weniger mit seiner besonderen beruflichen Situation, als vielmehr durch eine seinen Mitmenschen nicht ganz geheure Verbindung mit magischen Kräften erklärt wurde (vgl. Wieland-Sage!). Bestimmte Gräbergruppen, bei denen jeweils um ein besonders reich ausgestattetes Grab (oder um einige wenige) solche mit durchschnittlichen und geringen Beigaben liegen, könnten auch verschiedene Siedlungsgemeinschaften abbilden, die, im Tale wohnend, am Salzabbau beteiligt gewesen waren. Vielleicht bargen die reichen Gräber Oberhäupter von familialen Clans oder Mitgliedern einer Gruppe von regionalen Häuptlingen, die mit ihren Leuten (Verwandten, Abhängigen) auf den Berg zogen, den Bergbau schützten und den Abtransport organisierten? Am Dürrnberg kann man Altersverteilung und Lebenserwartung der Menschen untersuchen. Unter der Voraussetzung, dass die anthropologische Zuordnung von Männer- und Frauenskeletten zutreffend ist, würde die Altersverteilung nach dem Geschlecht etwa wie in Graphik 1 aussehen: Graphik
1 : Altersverteilung
von Bestatteten
auf dem Gräberfeld
Dürrnberg
Sterbealter
28%
l Frauen
20 %
\ λ 10%
0
Jahre 5
s 20
40
60
75
bei
Hallein
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Die durchschnittliche Lebenserwartung für Neugeborene dürfte bei 26 Jahren gelegen sein. Hatte ein Mensch das 20. Lebensjahr erreicht, dann konnte er immerhin ein Durchschnittsalter von 36,5 Jahren erreichen. Bei Frauen lag die Altersspanne mit der höchsten Sterblichkeit bei 20 bis 25 Jahren — offenbar eine Folge der großen Gefährdung im Zusammenhang mit Geburten. Die Gräber erlauben auch einige andere Hinweise, so auf religiöse Vorstellungen, die etwa in der Sitte, besonders vornehme Tote mit Wagen zu bestatten, sichtbar werden. Eine deutliche Differenzierung der hallstattzeitlichen Bevölkerung lassen auch die eindrucksvollen Überreste der Situlenkunst erkennen. Situlen sind Bronzeeimer, die sich als Grabbeigaben mehr oder weniger gut in einigen Gräbern in Norditalien, Tirol, Oberösterreich, Niederösterreich und Slowenien erhalten haben. Szenen von Gelagen — eventuell waren dies Kultgelage — sind etwa auf der Situla von Kuffern abgebildet, bei denen Männer mit ihren Rang unterstreichenden breitkrempigen Hüten dargestellt werden. Es finden sich aber auch Kriegerdarstellungen, berittene Krieger und solche zu Fuß (Vace). Auf einer Situla sind Streitwagen abgebildet (ebenfalls Vace). Jedenfalls existierte in dieser Gesellschaft (besonders im Westhallstattkreis, der in Österreich bis ins westliche Niederösterreich reicht) eine wohlhabende Herrenschicht, Fürsten oder (Klein-)Könige, an deren repräsentativen Sitzen eine stark mediterran beeinflusste luxuriöse Kultur gepflegt wurde, mit kultischen Prozessionen, Festen, Jagden und Wagenrennen. Im Begräbnisritual der vornehmen Herren wurde der Verstorbene auf einen vierrädrigen Wagen aufgebahrt und mit dem Wagen sowie mit reichen Beigaben von Waffen, Würdezeichen, Speisen und Trinkgarnituren in einem großen Hügel bestattet. Solche Hügelgräber (Ortsname „Großmugl" in Niederösterreich!) haben sich auf Grund ihrer bedeutenden Ausmaße nicht selten erhalten — der Leeberg bei Großmugl ist 16 m hoch und hat einen Durchmesser von 55 m. Besonders bedeutsam erscheinen die Herrensitze und Grabhügel um Keinklein (Sulmtal, Steiermark), wo eine einzigartige Goldmaske gefunden wurde. Ein Wagengrab bei Strettweg (bei Judenburg, ebenfalls Steiermark) enthielt das bekannte Modell eines Wagens mit der Darstellung einer wahrscheinlich kultischen Prozession („Strettweger Kultwagen"). Der westliche Teil der Hallstattkultur wurde von jenen Leute getragen, die wenig später als „Gallier" oder „Kelten" die Mittelmeerwelt in Angst und Schrekken versetzt haben (387 v. Chr. Zerstörung Roms). Diese keltischen Wanderungsbewegungen, als deren Folge die „Hallstattkultur" durch die ,,La-Tène-Kultur" (bis zur römischen Herrschaft im Ostalpenraum) ersetzt wurde, sind sicher nicht als völliger Bevölkerungswechsel misszuverstehen. Wenn es im Ostalpenraum jetzt „Kelten" gab, dann bedeutet dies häufig nur einen Wechsel der tonangebenden Führungsgruppen. Vielleicht waren für die Formierung gallischer Stämme auch einheimische vorkeltische Traditionen — etwa die Verehrung von Gottheiten, die sich später in den Bezeichnungen „Rätien" und „Noricum" niederschlug—von Bedeutung. Diese späteisenzeitliche Expansionsbewegung weist durchgängig immer mehr Zeugnisse für eine verdichtete Bevölkerung auf — doch geht zugleich der
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Bergbau in Hallstatt und jener auf dem Mitterberg stark zurück, gewisse Alpengebiete entleeren sich wieder. Dagegen wurde nun der Dürrnberg bei Hallein zum wichtigsten Zentrum der Salzgewinnung. Zum Unterschied zur Hallstattzeit wurden die Krieger jetzt mit Streitwagen bestattet. Vermutlich hat sich ein Wandel in den Oberschichten vollzogen, in denen jetzt nicht mehr Fürsten oder (Klein-)Könige dominieren, sondern eine breitere Schicht von Kriegern. Im Zuge der keltischen Expansion wird erstmals auch eine Stammesgliederung sichtbar. Um 186 - 183 v. Chr., als die Römer Versuchen alpenkeltischer Gruppen, sich in der Nähe des späteren Aquileja niederzulassen, entgegentraten, werden verschiedene Stämme (noch ohne Namen) angeführt, die wohl südlich des heutigen Österreich zu lokalisieren sind. Zugleich wird ein nicht näher bezeichneter größerer Stamm („gens"), bestehend aus „populi" (vielleicht Gaue?), genannt, dessen Sitze mit größter Wahrscheinlichkeit in Kärnten lagen. Die Verfassung dieser „gens" wirkt aristokratisch. Dabei werden starke innere Spannungen, eventuell Folge eines raschen Bevölkerungswachstums, spürbar. Diese haben möglicherweise dazu beigetragen, dass wenig später (171/ 170 v.Chr.) in diesem Raum ein Stammes-Königtum erscheint (das des Cincibilus), welches sich wohl auf den vorhin genannten Stamm bezog, unter dessen Führung aber auch noch andere Stämme („socii") standen. Man vermutet in diesen Vorgängen, zu denen es Parallelen in der gallischen Welt des 1. vorchristlichen Jahrhunderts gibt, jene Prozesse, die das später so genannte „norische Königreich" (regnum Noricum) geschaffen haben. Wäre dies so, dann könnten für die erste Hälfte des 2. vorchristlichen Jahrhunderts verschiedene sozialgeschichtlich höchst bedeutsame Vorgänge angenommen werden: 1. Das Zustandekommen eines aristokratischen Regimes in (zumindest) einem keltischen Großstamm — vermutlich in Ablöse eines älteren, mit der Zeit der Wanderschaft verbundenen Königtums (das muss sich vor 200 abgespielt haben). Solche Vorgänge sind später in ganz West- und Nordwesteuropa sowie im nördlichen Mitteleuropa beobachtbar und werden etwas großartig als „keltisch-germanische Revolution" bezeichnet — eine insoferne irreführende Bezeichnung, als sich diese inneren Umwälzungen, zu denen es Parallelen auch in Rom und in Griechenland gibt (Sturz des Königtums und Errichtung einer aristokratischen Senatsherrschaft in Rom um 510!), ja nicht auf den keltisch-germanischen Raum als Ganzen beziehen, sondern nur auf den jeweiligen Stamm. 2. Es gab soziale Spannungen, die zu Auswanderungsversuchen (186 - 183 und 179) nach Oberitalien führten. Möglicherweise hat sich hier die Stammesjugend hervorgetan. Vielleicht aus diesem Unruhepotential entstand 3. ein neues Königtum, das man sich durchaus expansiv vorstellen kann (Einbeziehung von „socii"), wohl auch zur Beruhigung des Unruhepotentials, das sich vielleicht als Gefolgschaft um den neuen König scharte. Dabei ist der norische Stammesname offenbar jener des führenden Stammes gewesen. Er hängt mit einer Göttin „Noreia" zusammen, die möglicherweise
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als Ahnmutter der Noriker galt. In das „regnum" waren auch zahlreiche andere Stämme eingegliedert, deren Namen uns freilich erst zur Zeit der anbrechenden Römerherrschaft überliefert sind, u. a. die Ambidravi an der Drau, die Ambilini im Gailtal, die Latobici in der Steiermark, die Taurisker in Slowenien, die Laianci in Osttirol, die Saevates im Pustertal, die Ambisontes wahrscheinlich im Pinzgau — obgleich hier analog zu Ambidravi und Ambilini auch eine Deutung als „die am Isonzo Wohnenden" versucht wurde. Dabei ist nicht so sehr an einen Bund gleichberechtigter Stämme zu denken, als vielmehr an eine Form, in der die diversen Stammes-Chefs in möglicherweise auch gestufter Abhängigkeit zum norischen „König" standen. Die Stammesbildung der norischen Kelten ist sicher durch die Lage am Rande des äußerst expansiven Imperium Romanum begünstigt worden. Der Druck, der von solchen Reichen ausgeht, ließ es im historischen Vergleich immer wieder geraten erscheinen, sich zusammenzuschließen. Andererseits hatte das Römerreich selbst Interesse an einer Art von Staatlichkeit, die den zunächst ja noch nicht in die Expansion einbezogenen östlichen Alpenraum befriedete und die Bezugsquellen des norischen Eisens sicherte. Die engen Beziehungen zwischen Aquileja (gegründet 18Ί v. Chr.) und dem Zentrum des norischen Reiches auf dem Magdalensberg reflektieren zweifellos dieses Interesse. Diese Bergsiedlung war nämlich in erster Linie eine Siedlung von Italikern auf norischem Boden. Bergsiedlungen wie jene auf dem Magdalensberg entstanden im 2. und 1. vorchristlichen Jahrhundert in größerer Zahl. Man kann sie als politische, religiöse und wirtschaftliche Zentren gentiler Einheiten („civitates") — „Stämme" — verstehen. Allerdings unterschieden sie sich durch ihre geringere Größe und die mangelnde Umwallung von den bekannten gallischen „oppida". Sicher war ihre Entwicklung von der städtischen Kultur des Mittelmeerraumes beeinflusst. Und ebenso sicher hat diese frühstädtische Gestaltung der norischen Gemeinwesen deren Eingliederung in das Imperium begünstigt. Besonders der Raum des späteren Binnennoricum war diesbezüglich schon gut vorbereitet.
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Gesellschaftliche Verhältnisse in der römischen Kaiserzeit
Mit der teils friedlichen, teils gewaltsamen Eingliederung der Ostalpengebiete und des nördlichen sowie östlichen Alpenvorlandes bis zur Donau in das Imperium Romanum (15 v. - 9 n. Chr.) veränderten sich die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht sogleich zur Gänze. Die Stammesgebiete blieben zunächst erhalten, sicher in Noricum und Rätien, die ja bis Claudius noch eine Art Sonderstatus behielten, wohl auch in dem rasch zur Provinz gewordenen Pannonien. Die Mittelpunktsiedlungen der gentilen „civitates" wurden aber früher oder später in die Ebene verlagert, womit man sich dem städtischen Ideal der Römer annäherte. Solche Siedlungsverlegungen begleiteten offenbar die Gründung von Virunum (auf dem Zollfeld), von Carnuntum im östlichsten Niederöster-
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reich, aber auch von Aguntum (Osttirol), Teurnia (auf dem Lurnfeld in Kärnten) und luvavum (Salzburg). Diese Mittelpunktorte — Virunum, Celeia, Teurnia, Aguntum und luvavum wurden von Plinius als Städtegründungen des Kaisers Claudius genannt — erhielten denn auch als Erste die Selbstverwaltungsrechte römischer „municipia". Wie das rechtlich möglich war, ist noch fraglich — vielleicht erhielt die ganze Provinz Noricum das „ius Latii" quasi als Vorstufe für das römische Bürgerrecht und war dadurch in der Lage, Städte mit (wenn auch nur „latinischen") Bürgern zu beherbergen. Immerhin durfte Noricum Soldaten für die Garde in Rom stellen — ein Privileg, das sonst nur Provinzen mit dem „ius Latii" zukam. Das verweist übrigens auf eine viel positivere Einstellung der Bewohner Noricums gegenüber der Eingliederung ins Imperium, als sie etwa die Räter entwickelten (und auf einen Grund, warum es dort so viel weniger römische Städte geben sollte). — Später konnte ein solcher munizipaler Rang auch den im Zusammenhang mit Legionslagern entstandenen Zivilsiedlungen zuerkannt werden. Das war der Fall bei Lauriacum (Lorch bei Enns) und wahrscheinlich bei Vindobona (Wien). Trotz dieser Städte an der Donau war doch die Landschaft südlich des Alpenhauptkammes wesentlich städtereicher, jenes Gebiet, das seit den diokletianischen Reformen, durch die kleinere Provinzen und Provinzenverbände („Diözesen") geschaffen wurden, „Noricum mediterraneum" (Binnennoricum) genannt wurde. Zuletzt bestanden auf heute österreichischem Boden und in seiner Nachbarschaft folgende städtische Siedlungen: In Ufernoricum (Noricum ripense) Cetium (St. Pölten), Lauriacum, Ovilava (Wels, im höheren Rang einer „colonia", neben Virunum Verwaltungszentrum) sowie luvavum (Salzburg); in Binnennoricum Virunum (auf dem Zollfeld), Aguntum, Teurnia, Flavia Solva (Wagna b. Leibnitz) sowie Celeia (Cilli/Celje in Slowenien), in der Pannonia prima neben (eventuell) Vindobona und Carnuntum (ebenfalls „colonia") die in Ungarn liegenden Savaria („colonia", Steinamanger/ Szombathely), Scarabantia (Ödenburg/Sopron), Brigetio (Alt-Szöny), Mogentiana (Nähe Plattensee), Mursella (Kisárpás) und Sala (Zalalövo), sowie Poetovio („colonia", Pettau/Ptuj, Slowenien), das freilich im Zug der diokletianischen Reform zu Binnennoricum kam. In der Raetia prima gab es wahrscheinlich keine „municipia" — das Stadtrecht von Brigantium (Bregenz) wurde bisher nicht nachgewiesen. Auch die Raetia secunda hatte mit Sicherheit nur ein „municipium", nämlich Augusta Vindelicum (Augsburg), welches Stadtgebiet auch den größten Teil Nordtirols mitumfasste. Vielleicht waren auch Castra Regina (Regensburg) sowie Quintana (Künzing, zw. Regensburg und Passau) Siedlungen dieses Ranges. Im Prinzip war die römische Welt eben eine Welt der „Städte". Rom, die „urbs" schlechthin, hatte das eigene Stadtgebiet weit ausgedehnt, darüber hinaus bestand ein Netz von Städten mit ihren je eigenen Stadtgebieten, die irgendwie zu Rom gehörten. Freilich war dieses Netz von Städten nicht lückenlos. Es gab auch Gebiete, die nicht zu einem Stadtgebiet gehörten, „civitates" oder „pagi" (Gaue), in denen „pagenses" wohnten — ein nicht sehr positiv besetzter Begriff, der später nicht zufällig die Bedeutung von „Heiden" annehmen konnte. Eine solche „civitas" bestand im Osten Österreichs als Gemein-
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schaft jener keltischen Boier, deren Mittelpunktsiedlung wahrscheinlich die Vorgängersiedlung von Carnuntum war (civitas Boiorum). Sie gehörte aber trotz einer gewissen Selbstverwaltung zum Stadtgebiet von Carnuntum. Alle Reichsuntertanen ohne römisches Bürgerrecht galten als „peregrini", gleich ob sie in Städten oder „pagi" wohnten. Die neuen „municipia" zogen verschiedene Leute an, Römer und Nichtrömer. Die Selbstverwaltung der Munizipien und der etwas höherrangigen „coloniae" war der römischen nachgebildet. Zwei- bzw. Viermännerkollegien standen an der Spitze (duoviri iure dicundo, duoviri aedilicia potestate). Die politisch entscheidungsberechtigte Gruppierung, aus dem die Inhaber der Ämter genommen wurden, der „ordo decurionum", entsprach dem römischen Senat. Position und Funktion der — meist 100 — städtischen Dekurionen, die man in der Spätphase auch nach der „curia", dem Rathaus, „curiales" nannte, war durch ihr Vermögen, d.h. in erster Linie durch ihren Grundbesitz, bestimmt. Denn die Gesellschaft Roms war zwar eine städtische, aber die Führung in diesen städtischen Gemeinwesen lag bei den großen Grundbesitzern. Ehre und Ansehen wurden gesteigert durch die Bekleidung der öffentlichen Ämter. Diese Ämter galten als eine Ehre, die ihre Träger etwas kostete. Denn es wurde erwartet, dass die Inhaber der städtischen Spitzenpositionen auch die Kosten für die öffentlichen Gebäude und andere Auslagen trugen (System der Leiturgie). So hat zum Beispiel ein gewisser C. Domitius Zmaragdus in Carnuntum den Bau des Amphitheaters aus der eigenen Tasche finanziert. Dieses System konnte solange funktionieren, als das Reich in Blüte stand und die Übernahme eines öffentlichen Amtes nicht bloß Ehre bedeutete, sondern seinem Träger auch noch weitere Aufstiegsmöglichkeiten eröffnete. Es drohte aber zusammenzubrechen, als die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Reiches nach Seuchen und Barbareneinfällen im 2. und 3. Jahrhundert immer mehr zurückging. Daher wurde in der letzten Phase der Kaiserzeit die Mitgliedschaft im „ordo decurionum", die früher erst die Folge von Reichtum und Ämterübernahme gewesen war, auch rechtlich als erblich erklärt, um auf diese Weise die leiturgischen Leistungen für die Allgemeinheit sicherzustellen. Den zweiten Rang hinter dem Ordo der Decurionen nahmen in der Hierarchie der Kaiserzeit jene reichen Freigelassenen ein (liberti), die zwar nicht Dekurionen, wohl aber Priester des kaiserlichen (Staats-)Kultes werden und daher verschiedentlich als eigener „ordo Augustalium" konstituiert werden konnten. Durch die wieder mit erheblichen materiellen Opfern verbundene Übernahme dieser Position konnte der ansonsten im sozialen Gefüge — trotz der Verfügung über verschiedene Reichtümer — sehr nieder rangierende „libertus" deutlich an Prestige gewinnen. Denn an sich stand der Freigelassene auch nach der Freilassung in der Klientel seines Herrn und war diesem bis zu dessen Tod in mancher Hinsicht verpflichtet. Freilich galten die nach der Freilassung geborenen Kinder des Freigelassenen bereits als Vollbürger. Unterhalb dieser beiden Schichten rangierten in den Städten die mehr oder weniger arbeitenden Menschen, Bürger und Nichtbürger, Freie und Skia-
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ven. Diese „plebs urbana" stand in vieler Hinsicht, vor allem durch verschiedene Aktionen der reichen Leute zur Ernährung und Erhöhung des Lebensstandards (Errichtung von Bädern), über den ländlichen Unterschichten, jenen Leuten, die vom Ackerbau und von der Viehzucht leben mussten. Soweit die städtische „plebs" bestimmten Berufen nachging, war sie in besonderen Vereinigungen, „collegia", zusammengefasst. Solche Handwerkervereinigungen sind auch in Munizipien auf österreichischem Boden nachgewiesen (Carnuntum, Flavia Solva). Neben diesen Vereinigungen für bestimmte Berufsgruppen gab es auch solche für bestimmte Altersschichten. So waren die jungen Leute in so genannten „collegia iuvenum" zusammengefasst, die neben religiösen auch Aufgaben der Wehrertüchtigung wahrzunehmen hatten und für die ideologische Indoktrinierung der Jugend (Kaiserkult) sorgen sollten. Rechtlich am schlechtesten standen die Sklaven. Freilich verbesserte sich der Status in der Spätantike, wohl auch deshalb, weil der Nachschub von Sklaven aus Eroberungskriegen immer mehr ausblieb und die Reproduktion im Reich selbst nicht ausreichte. Unter Hadrian wurde 121 n. Chr. das Tötungsrecht gegenüber den eigenen Sklaven abgeschafft. Zwischen Sklaven aus der „familia" (dem weiteren Haushalt) des Kaisers, die hohe und höchste Funktionen innehatten und enorme Vermögen erwirtschaften konnten, und Sklaven in städtischen oder gar ländlichen Arbeitspositionen bestanden ungeheure Unterschiede. Schlechter als den Letzteren ging es nur noch jenen, die in den Bergwerken arbeiten mussten. Sklaven und Freigelassene waren auch im kommerziellen Bereich tätig, häufig auf Rechnung ihrer Herren. So haben zahlreiche Sklaven und Freigelassene der Barbii aus Aquileja in den Städten Noricums und Pannoniens als geschäftliche Agenten ihrer Herren gewirkt — nebenbei auch ein schönes Beispiel für die beherrschende Rolle, die Aquileja in den ökonomischen Beziehungen zwischen Italien und den Donau- und Alpenprovinzen spielte. Die Zahl der Sklaven pro Herren war höchst unterschiedlich. Während die reichen Senatoren (und natürlich die Kaiser) ihre Sklaven oft nach Tausenden zählten, waren die Verhältnisse in den Provinzen diesbezüglich oft viel bescheidener. Der bisher bekannte Höchststand an Sklaven, die ein Herr in Noricum hielt, beträgt bloß sechs. Immer mehr wurde es überdies üblich, Sklaven mit dem 30. Lebensjahr freizulassen. Das bedeutete für den Herrn in der Regel keine Minderung seiner ökonomischen Möglichkeiten, da ihm ja der Freigelassene weiterhin zur Verfügung stand, bot jedoch für arme, aber freie Leute manchmal einen Anreiz, sich oder ihre Kinder in die Sklaverei zu verkaufen, weil durch die Freilassung das römische Bürgerrecht erlangt werden konnte. Zumindest in einigen Provinzen des Ostens soll diese Selbstversklavung einen nicht unbedeutenden Stellenwert bekommen haben. Am schlechtesten ging es in der Regel den ländlichen Sklaven (servi rustici) auf den großen oder kleineren Gütern. Bis in die Kaiserzeit hinein wird davon berichtet, dass sie gefesselt waren. Doch war die Gutswirtschaft in unseren Provinzen nicht sehr verbreitet. Hier dominierte der mittel- bis großbäuerliche
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Betrieb, der allerdings wohl mit Hilfe von Sklaven und Freigelassenen bewirtschaftet wurde. Fast noch übler als diese Sklaven waren jene kleinen Leute dran, die, nominell frei, aber als Nichtbürger (peregrini) in den Provinzen wohnten und besitzlos waren oder kleine Güter bewirtschafteten. Auf ihnen ruhten die Lasten, die der immer mehr militarisierte Staat erforderte, und häufig waren sie schutzlos nicht bloß gegen die ab dem 2. Jahrhundert zunehmenden Einfälle von außen, sondern auch gegen die Übergriffe des Militärs, gegen Steuereintreiber und Räuber. Mit der Constitutio Antoniniana von 212 n. Chr. wurde allen freien Bewohnern des Reiches das Bürgerrecht verliehen. Durch diesen Akt wurde die Entwicklung einer breiten Schicht von „humiliores" vorangetrieben, denen die vor allem strafrechtlich bevorrechteten wenigen „honestiores" umso deutlicher gegenübertraten. Die Sklaverei verlor in der späten Kaiserzeit zumindest in unseren Gebieten vollends an Bedeutung. Allgemein ist eine Verminderung der materiellen Kultur festzustellen. Die Bautätigkeit erlahmte, Münzfunde werden immer seltener. Auch die „collegia" änderten ihren Charakter. Von vorwiegend religiösen Vereinigungen wurden sie zu Zwangskörperschaften, in denen die Mitgliedschaft zuletzt erblich wurde. Septimius Severus (193 - 211) schrieb einem Collegium in Flavia Solva (bei Leibnitz), dass die armen Mitglieder gemeinnützige Tätigkeiten ausüben sollten, wer jedoch besser gestellt war, sollte ähnlich den Dekurionen zu den öffentlichen Leistungen („munera") herangezogen werden. Darin äußert sich nun schon auch eine Krise der Dekurionen. Es wurde immer schwieriger, in einer Stadt 100 vermögende Leute aufzutreiben. Die Belastungen führten häufig zum wirtschaftlichen Ruin dieser Schicht, die früher die eigentliche Trägergruppe der städtischen Kultur gewesen war. Die Blütezeit dieser städtischen Siedlungen fiel in das 1. und frühe 2. nachchristliche Jahrhundert. Nach den Markomannenkriegen (166 bis 180 n. Chr.) wurde das Grenzland zwar militärisch neu gesichert, konnte aber das frühere Niveau nur mehr unter den Severer-Kaisern erreichen. Durch die Reformen Diokletians wurde das Reich zwar nochmals gefestigt, aber seither immer stärker militarisiert. An die Stelle der Selbstverwaltung einer wohlhabenden Landbesitzergruppe trat immer mehr die Zwangsverpflichtung für den Staat. Hass und Ablehnung schlugen seit dem 3. Jahrhundert immer öfter diesem Staatswesen und seinen Hauptvertretern — Kaiser, Heer und Militärbürokratie — entgegen. Die Machtlosigkeit der Unterdrückten äußerte sich in verschiedenen Aufständen, so auch in Noricum 430 und 431 n. Chr., die aber von dem weströmischen Oberkommandierenden Aëtius niedergeschlagen werden konnten. Wichtiger als Rebellion war die Flucht als Mittel, sich gegen die drückenden Umstände zu wehren. Es flohen Kolonen von ihren Höfen, Grundbesitzer aus ihren Städten. Gab es in dieser doch sehr stark regionalisierten Gesellschaft überhaupt gesellschaftliche Gruppierungen, die überregionale Kontakte pflogen und ihr eigenes Schicksal mit dem des Reiches verbanden?
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Zweifellos waren dies einmal jene senatorischen Großgrundbesitzer, die über Güter in verschiedenen Teilen des Reiches verfügten. Ergänzt wurde diese Gruppierung durch Aufsteiger aus dem so genannten „Ritterstand" (ordo equester). Beide Gruppierungen waren ursprünglich nur aus der Stadt Rom rekrutiert worden, doch wurden seit dem 1. nachchristlichen Jahrhundert von den Kaisern auch zunehmend Provinzialen in die beiden „ordines" aufgenommen. Der „ordo equester" bildete auch für römische Bürger aus der Provinz eine begehrte Aufstiegsposition. Dabei standen Mitglieder der städtischen Führungsschichten im Vordergrund: Von 22 (bekannten) „equites" aus Noricum waren die meisten Dekurionen verschiedener Städte. Die Mitglieder dieser überregionaler Führungsschichten waren also nicht gerade zahlreich. Der normale römische Bürger blieb in seinen Bewusstseinszusammenhängen doch eher der eigenen Civitas und der eigenen Provinz verhaftet. Solche Bindungen haben ja auch die senatorischen Adeligen entwickelt, was etwa in Spanien und Gallien den Übergang zu nachrömischer Staatlichkeit sicher nicht unwesentlich erleichtert hat. In den letzten beiden Jahrhunderten des Reiches nahm die Integrationsfunktion des senatorischen und ritterlichen Adels immer weiter ab. Zwang hieß die Parole. Dafür entstand in dieser Zeit eine neue Kraft von außerordentlicher historischer Bedeutung—das Christentum. Bekanntlich wurde das Christentum seit 312 toleriert, seit 391 galt es als Staatsreligion. Der außergewöhnliche Aufschwung dieser neuen Erlösungsreligion beruht zunächst sicher auf der Faszination, die ihre Antworten auf die bangen Fragen der bedrückten Menschen ausübten. Seit Konstantin kam aber eine immer engere Verbindung mit dem Reich dazu. Die kirchlichen Verwaltungssprengel wurden an jene des Staates angeglichen (Begriff der Diözese, seit Diokletian eine Unterabteilung der großen Verwaltungseinheiten, der Prätorianerpräfekturen). Bischofssitze sollten prinzipiell nur in städtischen Siedlungen situiert werden. Beobachtet man die Lage der Bischofssitze innerhalb der Grenzen Österreichs, so bestätigt sich wieder die schon oben getroffene Feststellung, dass Binnennoricum wesentlich stärker „urbanisiert" war als die übrigen Gebiete. Hier sind Bischofssitze sicher in Virunum, Aguntum und Teurnia, in Slowenien daneben noch in Celeia und Poetovio nachgewiesen. Ufernoricum hatte aber nur einen sicheren Bischofssitz, nämlich Lauriacum (Lorch) — Ovilava (Wels) und Favianis (Mautern) sowie Asturis (Zeiselmauer oder Zwentendorf) sind unsicher. In der Raetia I war nur Chur und in der Raetia II nur Sabiona (Säben, oberhalb Klausen, Südtirol) mit Sicherheit Bischofssitz, in der Pannonia I Scarabantia (Ödenburg/Sopron). Verlor gerade durch seinen wachsenden Zwangscharakter der Staat immer mehr an Anziehungskraft, so traten dafür kluge und tatkräftige Männer in kirchliche Ämter, w o sie, vom Staate relativ unbehelligt, schöpferische Initiativen entfalten konnten. Das führte wiederum zu einer wachsenden Bedeutung dieser Menschen für ihre Gemeinwesen, umso mehr, als die staatliche Hierarchie in den Wirren des 4. und 5. Jahrhunderts an Wirkungskraft verlor und sich in den Randprovinzen des Reiches auch zurückbildete.
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Für den norischen Bereich des 5. Jahrhunderts besitzen wir ein Zeugnis ersten Ranges über das Wirken eines solchen Mannes — Severinus (gestorben 482 in Favianis). Selbst wahrscheinlich aus einer Familie der Oberschicht stammend, wurde Severin nach einem Bekehrungserlebnis die Zentralfigur für alle Lebensbereiche im noch römischen Noricum und in seinen rätischen Nachbargebieten. Die von dem Mönch Eugippius etwa dreißig Jahre nach Severins Tod verfasste Vita Severini enthält, obgleich das sicher nicht im Zentrum des Interesses des Biographen stand, doch einige Angaben über die gesellschaftlichen Verhältnisse der Zeit. Ein „städtisches" Leben im traditionellen Sinne existiert kaum mehr. Die Bevölkerung hat sich in Militärlager und sonstige, besonders im 4. Jahrhundert noch ausgebaute befestigte Stützpunkte zurückgezogen. Immerhin existiert eine ausgeprägte kirchliche Organisation — Bischöfe, Priester, Mönche. Eugippius bringt eine reiche Palette geistlicher Ränge, was auf eine gar nicht geringe Zahl geistlicher Personen verweist. Besonders das Mönchtum wurde von Severin gefördert und durch Klostergründungen unterstützt. Die Bevölkerung ist durchwegs christlich, das Glaubensleben hing mit dem täglichen Leben eng zusammen — Eugippius berichtet von Fasten und Gebeten zur Abwehr von feindlichen Einfällen, Heuschrecken usw. Heidnische Kulthandlungen werden nur mehr vereinzelt und im Geheimen ausgeübt (belegt für Cucullis/Kuchl). — Die Grenzorganisation hat bis 476 offenbar so einigermaßen funktioniert, danach scheint sie sich aufgelöst zu haben. Tatsächliche militärische Machthaber dürften freilich auch schon vorher jene barbarischen „foederati" gewesen sein, deren Bewachungsleistung der romanischen Bevölkerung offenbar genauso lästig fiel wie der „echte" Feind. Unter dem Druck besonders der Alemannen (und vielleicht der Thüringer) aus Nordwesten organisierte Severin selbst die Rücknahme der romanischen Bevölkerung donauabwärts: von Künzig über Passau bis Lorch. In diesem Restbestand Ufernoricums lebten die Römer dann unter dem Schutz der Rugier, bis nach dem Sieg Odoakers über diese Germanen Noricum offiziell aufgegeben und die romanische Bevölkerung nach Italien geführt wurde (488). Von diesen Absiedlungsaktionen waren aber nicht alle Schichten und nicht alle Regionen, vor allem nicht Binnennoricum betroffen. Zur Zeit Severins scheint die Bevölkerung überwiegend bäuerlich gelebt zu haben. Auch die „Bürger" von Passau oder Lauriacum waren ganz auf die Erträgnisse ihrer Felder angewiesen. Eine Frau aus luvavum (Salzburg) nahm nach ihrer auf ein Gebet Severins hin erfolgten Heilung von schwerer Krankheit ihre Arbeit (opus agrale) „mit eigenen Händen" wieder auf, was Eugippius seinen italienischen Lesern mit „iuxta morem provinciae" (wie es in der —oder in dieser? — Provinz üblich ist) erläutern musste. Denn immer noch galt Handarbeit als „opus servile", als sklavische Verrichtung, die man als freier Mensch eigentlich nicht macht. Als „frei" galten die Bewohner Noricums dennoch, Sklaven gab es kaum. Auch Mitglieder der besitzenden Oberschicht werden nur selten nachgewiesen — immerhin konnte eine noble Dame aus Favianis versuchen, mit Getreide Wucher zu treiben. Daneben müssen auch adelige Flücht-
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linge aus Italien zur Zeit Severins in Noricum geweilt haben. Fragt man nach den Gründen, die zu diesem deutlichen Überwiegen bäuerlicher Landwirtschaft geführt haben, dann ist zunächst auf die Limes-Organisation zu verweisen. Seit Septimius Severus war es ja den Grenzsoldaten gestattet, Familie zu haben, so dass eine Art Grenzer-Bauer entstand, sesshaft und militärisch sicher nur begrenzt verwendbar. Diese Tendenz war durch die Neugliederung der Armee unter Diokletian in „comitatenses" (die mobile Feldarmee) und „limitanei" (Grenztruppen) noch verstärkt worden. Daneben ist die stete Gefährdung der landwirtschaftlichen Produktion und die mangelnde Absatzmöglichkeit zu beachten, die ebenfalls einen Übergang zur Latifundienwirtschaft behinderte, die auch von den naturräumlichen Gegebenheiten her im größten Teil der Austria Romana wenig Entwicklungsmöglichkeiten hatte. Neben den Resten einer provinzialrömischen Oberschicht und den kleinbäuerlichen „cives" der verschiedenen Städte (überwiegend wird von „castella" gesprochen, also von befestigten Siedlungen) begegnen „pauperes", unter denen sowohl arme Bauern zu verstehen sind wie besitzlose Flüchtlinge. Zu deren Versorgung diente der Zehent, den die Kirche organisierte. 472 musste man allerdings mit den gesammelten Kleidern den Abzug der Goten von der damaligen Hauptstadt Binnennoricums, Teurnia (St. Peter in Holz) erkaufen. Und nach dem Tode Severins plünderte der Rugierkönig Ferderuch solche aufgestapelten Vorräte im Kloster des Heiligen zu Favianis. Überregionale Kontakte waren vorhanden, aber nicht sehr stark: Immerhin kam noch Olivenöl über die Alpen, also muss es noch Kaufleute gegeben haben. Bis 476 scheint hin und wieder auch noch Sold gekommen zu sein, da sich einmal Soldaten aus Passau aufmachten, solchen aus Italien zu besorgen (sie sind dabei umgekommen). Die Donau diente noch einem gewissen Handelsverkehr. So kamen Frachtschiffe mit Getreide, die auf dem Inn durch Eis festgehalten worden waren, bis nach Favianis. Jenseits der Donau, im Rugierland, gab es einen Markt (beim heutigen Krems?), wo sich die Barbaren mit Gütern aus dem Römischen eindeckten. Kaufleute aus Passau baten Severin, der mit den Rugiern ein recht einverständliches Verhältnis herstellen konnte, er möge ihnen bei diesen eine Handelslizenz erwirken. Severin war nicht als „Apostel" gekommen — das Land war bereits christianisiert und besaß eine ausgebildete kirchliche Binnenstruktur. Er galt als oberste Autorität nicht bloß in geistlichen, sondern in allen Belangen, so dass also bei ihm ähnlich wie bei anderen großen kirchlichen Gestalten der Spätantike geistliche und weltliche Autorität zusammenfiel. Fragt man sich zuletzt, was von den spätantiken Gegebenheiten eine Fortsetzung fand, inwieweit also gesellschaftliche Kontinuität von der Spätantike ins Frühmittelalter hinein existierte, so wird man verschiedene Räume unterscheiden müssen. In Pannonien gab es wahrscheinlich schon im frühen 5. Jahrhundert nur mehr Reste römischen Lebens. Hier herrschten verschiedene Barbaren (Goten, Alanen, dann Hunnen, dann wieder Goten, später Langobarden). An die Reste der römischen Städte scheinen sich freilich immer wieder
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Siedlungen ankristallisiert zu haben (Wien!). In jenem Teil Ufernoricums, der zuletzt unter rugischer Hoheit stand, also zwischen Traun (oder Enns) und Wienerwald, dürfte die Bevölkerung 488 sehr weitgehend abgezogen sein, jedenfalls gibt es eine im Vergleich zu den westlichen Gebieten sehr geringe Kontinuität der Siedlungsnamen (was aber auch auf die Awaren zurückgeführt werden kann). Westlich davon existiert nicht bloß eine stärkere Namenskontinuität (es sei hier nur auf Lorch, Linz, Wels, Passau, Regensburg verwiesen), sondern auch eine starke Siedlungskontinuität. Viele Romanen gab es ferner im Raum von Salzburg, besonders südlich der Stadt, aber auch in breiter Streuung im bayerischen, salzburgischen und oberösterreichischen Alpenvorland. Noch weiter westlich scheint eine romanisierte, in ihrem Selbstverständnis aber an vorrömischen Einheiten orientierte Bevölkerung existiert zu haben. Die Breonen (im heutigen Tirol) sollen im 6. Jahrhundert vorübergehend sogar einen eigenen „König" gehabt haben. In der Raetia I hat mit dem Zentrum Chur die spätantike Einheit von Kirchensprengel und Verwaltungsgebiet unter bischöflicher Führung eine Fortsetzung bis in die Karolingerzeit gefunden, zu welcher auch das südliche Vorarlberg gehörte. In Binnennoricum lebte die Spätantike länger fort. Aus dem Jahr 533 stammt die letzte erhaltene römerzeitliche Grabinschrift, jene des Diakons Nonnosus in der Kirche von Molzbichl bei Spittal an der Drau. Noch um 590 sind die binnennorischen Bistümer belegt. Kurz darauf waren sie verschwunden. Sie wurden offenkundig ein Opfer der Slaweneinfälle, denn ab 592 sind Kämpfe zwischen Baiern und Slawen bezeugt. Die romanische Bevölkerung scheint sich in diesen unruhigen Zeiten in Höhensiedlungen (etwa aus Aguntum in das höher gelegene Lavant in Osttirol) zurückgezogen zu haben. Ist Bevölkerungskontinuität mit Sicherheit also nur in den westlichen Bundesländern nachgewiesen, so scheint es Zeugnisse für eine gewisse Fortsetzung des christlichen Kultes über das Ende des Römischen Reiches hinaus doch auch an anderen Orten (etwa in Lavant bei Lienz in Osttirol) zu geben. Wie stark dieses Fortleben war, muss freilich offen bleiben. Deutlich ist jedenfalls, dass die Salzburger Mission des 8. und 9. Jahrhunderts im alten Binnennoricum immer wieder an die alten römischen Zentralorte (und zum Teil auch ehemaligen Bischofssitze) anknüpfte.
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Mit der Niederlage der Rugier gegen Odoaker und deren Abwandern aus dem niederösterreichischen Zentralraum war für die Langobarden die Möglichkeit geboten, hier neue Niederlassungen aufzusuchen. Das mittlere und, nach einer erfolgreichen Auseinandersetzung mit den Heruiern 508 (oder 509), auch das nordöstliche Niederösterreich wurde von ihnen besiedelt, ebenso wie die angrenzenden Gebiete Pannoniens. Sie blieben bis 568. Als sie in diesem Jahr nach Italien zogen, überließen sie Pannonien ihren Verbündeten gegen die
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Gepiden, den Awaren. Hier begannen nun ebendiese und die in ihrem Verband gekommenen Slawen zu siedeln. In Niederösterreich und Pannonien haben die Langobarden, offenbar infolge des Kontaktes mit der provinzialrömischen Kultur, jene unverwechselbaren Eigenheiten entwickelt, die wir noch heute an der bedeutenden kulturellen Hinterlassenschaft in Oberitalien bewundern können. Weniger sind wir über ihre Sozialstruktur unterrichtet. O b der Unterschied in Waffenbeigaben auch tatsächlich Unterschiede zwischen Freien und Halbfreien ausdrückt, muss wohl Vermutung bleiben. Ein Grab aus Poysdorf (Niederösterreich) birgt offenkundig einen Goldschmied. Im Übrigen ist eine kriegerbäuerliche Komponente anzunehmen, aus welcher sich über Gefolgschaftswesen und Eroberung jener Adel, den man in Italien seit 568 beobachten kann, zu entwickeln vermochte. Während dieser Zeit hat sich aber im Westen ein neuer, für die Zukunft Österreichs höchst bedeutsamer Stamm herausgebildet, die Baiern.
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Über die Herkunft der Baiern gibt es mehr als 30 Theorien. Fest steht nur, dass der Baiernname mit Boiohaemum (Böhmen) zu tun hat, dass sie im 6. Jahrhundert bei Jordanes erstmals genannt werden und dass sich im Gebiet des westlichen Ufemoricum und der Raetia II hier vor dem Auftreten der Baiern Alemannen, Thüringer, verschiedene germanische Stammessplitter und wohl auch angesiedelte Germanengruppen ohne feste ethnische Bindung (Laeten) sowie Romanen tummelten. Irgendwie dürften sich die ausschlaggebenden Leute in diesen Gruppen um einen traditionstragenden Kern, der aus Böhmen kam, angelagert haben. Inhaltlich identische Fundbereiche in Südböhmen und Niederbayern könnten auf diese Gruppe hinweisen. Schon ab dem 4. Jahrhundert treten in Bayern Reihengräber auf, ein Bestattungsbrauch der (späteren) Bajuwaren. Das Herzogshaus selbst könnte aus Burgund stammen und mit dem nach der fränkischen Eroberung Burgunds abgesetzten Königshaus in Verbindung stehen, doch bestanden auch verwandtschaftliche Beziehungen zur langobardischen Königsfamilie. Die Ethnogenese der Baiern wäre dann als Verselbständigungsprozess der im späten 5. Jahrhundert unter der Oberhoheit der Ostgoten zusammengefassten germanischen Gruppen dieses Raumes zu interpretieren, die dann als bereits „fertiger" Stamm im 6. Jahrhundert unter die Hoheit der fränkischen Könige gelangten. Namengebender Traditionskern waren Leute aus dem Bojerland (also aus Böhmen), deren frühere ethnische Zuordnung unsicher ist (vielleicht ein Teil der Langobarden). Die Baiern waren also ein neuer Stamm, und der Prozess der Stammesbildung verlief so erfolgreich, dass die Baiern bald höchst eigenständig und selbstbewusst auftraten. Für die Ethnogenese wichtig war ein traditionstragendes Geschlecht („stirps regia", die Agilulfinger) ebenso wie eine ethnische Ideologie, die Herkunftssage. Die Baiern, die freilich schon in einer weithin christianisierten Umwelt entstanden, konnten sich nicht von irgendwelchen heidnischen Göttern ablei-
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ten. Das dürfte der Grund für die Herleitung ihrer Abstammung von den römischen Norikern gewesen sein, da auf diese Weise die Dignität der christlichen Antike für die eigene Herkunft gewonnen werden konnte. Außerdem erfolgte die Ethnogenese auf römischem Reichsboden, wobei der Name Noricum offenbar eine gewisse Westwanderung erlebte. Das Siedlungsgebiet der Baiern lag zwischen Alemannen und Thüringern im Westen und Norden, Romanen im Süden und Slawen im Südosten und Osten, geographisch zwischen Donau und Alpen, Lech und Inn/Traun. Die Alpengebiete blieben zunächst ausgespart, wenn man von gewissen Zentren zur Sicherung wichtiger Verkehrsverbindungen absieht (bei Bruneck in Südtirol Häufung von Ortsnamen mit Hinweisen auf das agilulfingische Herzogshaus). Im 7. und vor allem im 8. Jahrhundert hat sich das Herrschaftsgebiet bis zur Enns ausgedehnt. Nördlich der Donau scheinen dagegen nur einige Stützpunkte in Oberösterreich einbezogen gewesen zu sein. Die Romanen der Alpenvorland- und Alpengebiete gehörten zum Herzogtum. Dabei scheinen sich die romanischen „nobiles", die gehobenen Grundbesitzerfamilien im salzburgischen Bereich, dem Baiernstamm zugehörig gefühlt zu haben („genealogia" de Albina bei Hallein und im Pongau), während die landbebauende Bevölkerung als „Romani tribútales" eher eine soziale Schicht als eine ethnische Einheit bildeten. Ihr „tributum" musste, in Nachfolge des römischen Staates, an den Herzog geleistet werden. Es scheint zugleich ein ethnisches und soziales Überlegenheitsgefühl gegeben zu haben, das sich im bekannten Ausspruch des Kasseler Glossars niederschlägt: „Stulti sunt Romani, sapienti sunt Paioari — tole sint Walha, spähe sint Paigira" (Dumm sind die Welschen, gescheit sind die Baiern). Das war zugleich Ausdruck eines sozialen Distanzgefühles zwischen den Angehörigen der herrschenden Gruppierungen und den Beherrschten. Dagegen gab es in den westlicheren Gebirgsgegenden noch lange Romanen, die ein vom bairischen (noch) abgehobenes ethnisches Bewusstsein oder aber auch ein mehrfaches hatten. Das bedeutendste Beispiel dafür bietet jener bekannte Quarti bzw. Quartinus, der sich noch 827/8 „nationis Noricorum et Pregnariorum" bezeichnete (wobei offen bleibt, ob sich die „natio Noricorum" auf die Baiern, auf die der Noriker-Name übergegangen war, oder auf die Bewohner der „Vallis Noricana", also des Wipptales bezieht). Gegen die Alpenslawen verlief die Grenze östlich von Innichen, dann über die Hohen und Niederen Tauern zu den nördlichen Kalkalpen. Die sozialräumliche Gliederung des bairischen Stammesgebietes weist „pagi", also Gaue, auf. Dabei scheint zunächst „Gau" = „pagus" nicht viel mehr als „bewohnter Ort" bedeutet zu haben (Regau, Attergau, Mattiggau, Lengau, Thalgau usw.); ob mit der „pagus"-Bezeichnung wirklich auch ein besonderer Charakter dieses Ortes (später treten manchmal Bedeutungen als Gerichtsort o. Ä. auf) schon in der Agilulfingerzeit verbunden war, muss offen bleiben. Die „pagus"-Bezeichnung tendierte aber dazu, sich auf größere Gebiete auszudehnen. Sehr schön lässt sich dies bei „Pongau" beobachten, welcher Name ur-
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sprünglich nur das spätere Bischofshofen bezeichnete, oder bei „Pinzgau" („in Bisonzio, quod nunc Pinzco dicitur", fast gleichzeitig aber auch schon „in pago Pinuzgaoe loca nuncupantes Bisonzio et Salafelda"), worin sich vielleicht der alte Stammesbezirk der Ambisonten verbirgt. Schon der „pagus inter valles" im Inntal dürfte sich auf etwas größere Gebiete erstreckt haben. Jedenfalls ist dort, wo die „Gau"-Bezeichnung mit einem Ortsnamen korrespondiert, an die alte Übereinstimmung von Stadtnamen und Namen des Stadtgebietes, wie das von den keltischen Oppida ebenso wie den römischen Munizipien überliefert ist, zu denken. Solche Orte waren wahrscheinlich Zentralorte für einen gewissen regionalen Einzugsbereich. Soferne solche „Gaue" auch Herrschaftsbereiche waren, bestand die Tendenz regionaler Adelskräfte, sich die Herrschaft über diese anzueignen. Solche „Adelsgaue" begegnen im Westen des bairischen Stammesgebietes häufiger, so auch in Tirol um Ziri. In das soziale Gefüge des Stammes gewährt das bairische Stammesrecht, die freilich erst im 8. Jahrhundert und unter fränkischem Einfluss entstandene „Lex Baiuvariorum", einige Einblicke — doch sind Rechtsquellen für soziale Verhältnisse immer nur mit großer Vorsicht zu interpretieren. Der erste Eindruck ist der einer eindeutigen Schichtung der ganzen Bevölkerung. An der Spitze steht der Herzog, dann folgen die „genealogiae", die Geschlechter, also der Adel. Unter ihm rangieren die „liberi", die Freien. Es folgen die „liberti", die Freigelassenen, und als Letzte werden die „servi", Sklaven, eingestuft. Kriterium dieser Schichtung ist das Strafausmaß bzw. das Wergeid (die Bußzahlung als Voraussetzung für den Verzicht auf Blutrache): Für die Tötung eines Mitgliedes des Adels gilt das vierfache Wergeid als für den Freien, für den Herzog das sechsfache, für den Freigelassenen ein Viertel. Für das Sklavenwergeld hat man offenbar einen Marktdurchschnittswert angenommen. Hier wurde also der Wert des Menschen geschätzt, die Wergeldstufung ist daher eine Skala der Wertschätzung, des Prestiges und des Status. Die Frage ist, ob diese Schichtung auch Auskünfte über die tatsächlichen Vergesellschaftungen gibt, ob also die hier auftretenden Wergeidschichten auch Handlungs- und Bewusstseinszusammenhänge aufweisen. Für die „servi" und „liberti" ist das leicht zu beantworten. Sie stehen unter der Herrschaft ihres Herren. Häufig sind hier auch grundherrliche Abhängigkeiten anzunehmen. „Servi" und „liberti" sind also keine sozialen Klassen mit Gruppenbewusstsein. Sie sind völlig eingebunden in Leib- und Grundherrschaft ihres Herren: Das Wergeid für die Tötung dieser Menschen steht ihrem Herrn zu. Bei den Freien fällt das Wergeid in erster Linie der Verwandtschaft zu (dem Vater, Bruder usw.). Falls keine Berechtigten auftreten, fällt das Wergeid an den Herzog oder „cui commendatus fuit", also an denjenigen, dem sich der Freie „commendiert", unterstellt, hatte. Der normale Freie hatte ein Bewusstsein verwandtschaftlicher Bindungen, galt gerade durch seine Beziehung zum Herzog als „frei" und lebte im 7. Jahrhundert oftmals in Bindungen anderer Art, die jedenfalls ein Unterordnungsverhältnis (Gefolgschaftsverhältnis) bedeuteten. Zugleich konstituieren die Freien als Heeresaufgebot und Heeresversammlung
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den Stamm. Gerade diese Wehrhaftigkeit unterschied das freie Stammesmitglied von anderen Menschen. Außerdem war dieser Freie ein bäuerlich lebender Hausherr, dessen Behausung in kleinen Siedlungsverbänden auch archäologisch nachgewiesen wurde. Für den Freien-Status war der Bezug zum Herzog wichtig. Mit der Ausbreitung der Freien über ein größeres Territorium konnte der Kriegerverband den Schutz des einzelnen Stammesmitgliedes nicht mehr gewährleisten. Es bilden sich also neue Beziehungen heraus: Die Freien wurden, wenn ihnen der Schutz des Herzogs oder Königs erhalten blieb, „freie Bauern"; wenn nicht, dann untertänige, unter Adelsschutz stehende. Sicher wurden die meisten Freigelassenen und Sklaven für landwirtschaftliche Arbeiten eingesetzt. Daneben gab es wohl auch spezialisierte Dienste, zumindest auf den größeren Höfen des Adels und der seit dem 8. Jahrhundert entstehenden kirchlichen Grundherrschaften. Bei den „servi" oder auch „mancipia" gab es neben solchen, die auf den Herrenhöfen zu ungemessener Arbeit verpflichtet waren, auch andere, die auf besonderen kleinen Gütern lebten und nur mehr drei Tage in der Woche auf dem Herrenhof arbeiten mussten. Überdies konnten solche Unfreie wieder „mancipia", vergleichbar wohl dem landwirtschaftlichen Gesinde späterer Zeit, unter sich haben. Die „Lex Baiuvariorum", um dies abzuschließen, beschreibt teilweise ältere Zustände, teilweise versucht sie, die bairischen Verhältnisse den fränkischen Rechtsbüchern anzugleichen. Die soziale Realität des 8. Jahrhunderts wird hier wohl nur teilweise eingefangen — vielleicht in einem gegenüber dem älteren fränkischen Recht (der Lex Salica) zu beobachtenden Wandel der Terminologie, der langsam gegenüber dem vordem herrschenden Wirtschaftsstil überwiegender Viehhaltung einen Bedeutungsgewinn des Ackerbaues anzeigt. Die gesellschaftliche Wirklichkeit des 8. Jahrhunderts wird demgegenüber vor allem in den Traditionsbüchem der Bischofskirchen und Klöster ein wenig sichtbar. Das 8. Jahrhundert brachte ja nicht nur die Organisation der bairischen Kirche in vier Bistümern (Freising, Regensburg, Passau und Salzburg, 739), sondern auch wichtige Klostergründungen, wie St. Peter in Salzburg (um 700), Innichen/Südtirol (769), Mondsee (748), Kremsmünster (nach 777), Scharnitz (763, 772 nach Schlehdorf verlegt). Von Salzburg aus wurden „Zellen" in Bischofshofen und Zell am See gegründet. Das geistliche Leben dieser Institutionen schien nur gewährleistet, wenn sie eine ausreichende grundherrschaftliche Fundierung, eine Ausstattung mit Land und (abhängigen) Leuten erhielten. Die Traditionsbücher überliefern uns die sehr reichen Schenkungen, die die agilulfingischen Herzöge, dann aber auch andere Adelige und Freie an Salzburg, Kremsmünster usw. gaben. Geschenkt wurde Ackerland, aber auch Wald, Almen (die offenkundig von der eingesessenen romanischen Bevölkerung betrieben wurden), Jagd- und Fischereirechte. Schon bei der Gründung erhielten St. Peter, Nonnberg und Bischofshofen auch Anteile an der Saline Reichenhall, die als Salzproduzent den Dürrnberg offenkundig abgelöst hatte. Die Schenkungen aus dem Herzogsgut konnten neben Ländereien auch „viri exercitales" (zum Wehrdienst verpflichtete Leute), so genannte „Barschalken" (das waren
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mit ihren Besitzungen verbundene, zu bestimmten Transport-, Boten- und Waffendiensten Verpflichtete), aber auch „servi et liberi" ganz allgemein umfassen. Auch die tributpflichtigen Romanen, die man u. a. mit den Barschalken identifiziert hat, wurden vom Herzog an seine Gründungen vergeben, in der Spätphase der Agilulfinger (Kremsmünster, auf 777 datierte Gründungsurkunde) auch abgabenpflichtige Slawen. Unfreie machten offenbar schon große Teile der Bevölkerung aus. Sie lebten, soweit sie noch nicht zu den rasch anwachsenden kirchlichen Grundherrschaften gehörten, entweder in eigenen Haushaltungen oder in solchen freier Leute. Das Haus des freien kriegerbäuerlichen Baiern war nach der „Lex Baiuvariorum" aus mehreren Baulichkeiten zusammengesetzt — Backofen, Stall, Scheune und ein oder mehrere Vorratsgebäude waren vom Wohnhaus getrennt. Die Leute im Haus unterstanden der Schutzherrschaft des Hausherren. Das Haus wurde durch Zäune als besonderer Friedensbereich hervorgehoben, dessen Verletzung streng geahndet wurde. Besonders wichtig für die sozialen Beziehungen dürfte die sich zur Lehensherrschaft wandelnde Gefolgschaft gewesen sein. Ursprünglich hat die Gefolgschaft im Hause des Herren gewohnt, was wohl nur ein vorübergehender Zustand gewesen sein kann. Mit der Landausstattung der Gefolgsleute verändern sich die Beziehungen, obgleich der Lehensherr durch eine besondere Betonung der „fides", der Treue der Gefolgsleute, deren Selbständigkeitsbestrebungen entgegentreten wollte. Teils aus der Hausherrschaft, teils aus der Gefolgschaftsherrschaft entwikkelte sich die Grundherrschaft — mit wenigen möglichen Ausnahmen, die durch die schon genannte Adelsfamilie „de Albina" oder den Herrn Quartinus angedeutet werden können, gibt es in Österreich keine Kontinuität zum antiken Großgrundbesitz wie in Gallien. Grundherrschaft ist mehr als bloße Herrschaft über Unfreie. Sie bedeutet immer Verfügung über den Boden. Dieser konnte auf verschiedene Weise genutzt werden. Einmal durch Unfreie auf dem Herrenhofe oder auf anderen Höfen desselben Herrn (servi indominicati oder cottidiani). Dann durch Unfreie, die auf eigenen Höfen wohnten und arbeiteten, aber zu bestimmten Arbeitsleistungen herangezogen werden (servi casati — „behauste" — oder manentes — beständig wohnende — Unfreie). Letztlich durch Freie, die sich unter den Schutz des Herren stellten, entweder mitsamt ihrem Boden, oder, wenn sie keinen hatten, mit vom Herrn verliehenen Land. Während die Entstehungszeit der geistlichen Grundherrschaften bekannt ist — sie fällt in die Phase nach der Gründung des jeweiligen Bistums oder Klosters —, wissen wir von der Entstehung der Adelsherrschaft wenig. Wie weit zurück die Kontinuität des Großbesitzes von Trägern romanischer Namen reicht, wissen wir nicht. Das Herzogsgut war wohl das vormals staatliche Land der Römer und darüber hinaus alles, was als herrenlos galt. Adelsbesitz ist meist erst nachweisbar, sobald er in kirchliche Hände gerät. Daraus lässt sich nichts über seine Entstehung aussagen. Auch über seine Organisation sind wir nur mangelhaft
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unterrichtet. Von Höfen verschiedener Größe, bewirtschaftet von Unfreien, aber auch von Hofstätten, die Unfreien zur Bewirtschaftung überlassen waren, haben wir schon gesprochen. Vermutlich aus solchen Wirtschaftseinheiten erwuchs später die Hube. Der Begriff „ H u b e " tritt im bairischen Gebiet nicht vor dem 9. Jahrhundert auf. Auch das später gleichbedeutende „mansus" ist erst im 8. Jahrhundert belegt, und zwar vorerst nur in Herzogs- oder Königsschenkungen. Man hat daher vermutet, dass der „mansus" oder (später, sobald nämlich Hofplatz, Haus und Grund zu einer untrennbaren Einheit geworden waren, also seit dem 9. oder 10. Jahrhundert) die „Hube" zunächst eine Wirtschaftsform des Herzogsoder Königsgutes war. Tatsächlich scheint ja auch die durchgehende Berechnung des ländlichen Besitzstandes nach Huben vor allem von Karl dem Großen gefördert worden zu sein. Für das 8. Jahrhundert kann man nur sagen, was „Hube" (mansus) nicht war: Sie war nicht der normale Besitz eines Freien. Eher im Gegenteil: Da die Wehrpflicht unter Karl dem Großen auf Leute bezogen wurde, die mehrere Huben besaßen, muss das ursprüngliche Landmaß für den Freien größer gewesen sein als eine Hube. Stellt man abschließend die Frage, ob es neben Stammesverband, Grundherrschaft, Haus und Hof, Gefolgschaft und Lehensbeziehungen auch soziale Beziehungen gab, die durch Gleichberechtigung gekennzeichnet waren, also eher dem Typus „Gemeinde" oder „Genossenschaft" entsprechen, dann erweisen sich unsere Quellen als wenig gesprächig. Zwar gibt es die Gerichtsgemeinde der „pagenses" (das sind jetzt die im Gau lebenden Freien), die mindestens einmal im Monat zusammentreten soll. Dahin hat der Graf, der königliche Amtsträger für einen größeren Bezirk (die „Grafschaft" ist noch kaum fassbar), einen „iudex" zu entsenden. Hier trafen sich im Wesentlichen jene Leute, die gemeinsam ins Feld zu ziehen hatten. Der Graf gilt auch als Anführer im Krieg: Als die Langobarden 680/88 bei Bozen kriegerisch mit den Baiern zusammenkrachten, sahen sie bei diesen einen Anführer, „quem illi gravionem dicunt" (den jene Graf nennen). Die Gerichtsgemeinde des „pagus" ist in dieser Hinsicht also eine Unterabteilung der kriegerischen Stammesgemeinde. Nicht direkt nachweisbar ist auch das „Dorf" als besondere Gemeinde — wenn man davon absieht, dass man jene Dinge, die einer Siedlungseinheit gemeinsam waren wie Mühle, Schmiede oder Brunnen, auch gemeinsam schützte, wartete und manchmal vielleicht auch betrieb. Die noch nicht dem Sondereigentum zugeschriebenen Fluren und Wälder standen gemeinsamer Nutzung offen, doch hat „marca" in den wenigen bairischen Nennungen weniger den Charakter von „gemeinsamem Eigentum" als vielmehr von Herrschaftsgebiet eines Grundherren. Auch die „städtischen" Siedlungen wie Regensburg (Herzogssitz) oder Salzburg hatten keine Gemeinde, sondern waren streng herrschaftlich organisiert. Überhaupt hat man den Eindruck, dass die gesellschaftlichen Beziehungen zunehmend nach herrschaftlichen Organisationsmustern ausgerichtet wurden. Die „familia", zunächst die Hausgemeinschaft ganz allgemein, wurde mit
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Die gesellschaftliche Entwicklung von der Vorgeschichte bis zum Frühmittelalter
der Entstehung geistlicher und weltlicher, grundherrschaftlich fundierter Großhaushalte begrifflich immer mehr damit gleichgesetzt. Damit begann sich ein grundlegendes Element der feudalen Gesellschaftsordnung herauszubilden. 3.2
Die Karantaner-Slawen
Die Alpenslawen kamen ohne Zweifel im Gefolge der awarischen Expansion in ihre neuen Heimstätten. Seit dem Abzug der Langobarden 568 aus Pannonien waren dort deren Verbündete, die Awaren, heimisch, die nun von dieser neuen Basis aus selbst oder durch ihre slawischen Klientelvölker die Reste der alpenrömischen Kultur gründlich zerstörten. „Die slawischen Ahnen der Slowenen waren zur Zeit ihrer Ansiedlung (...) kein in sich abgeschlossener slawischer Teilstamm. Es handelte sich eher um Splitter verschiedener slawischer Stämme, die nicht alle gleichzeitig und aus derselben Richtung kamen. Es werden zumindest zwei slawische Siedlungswellen unterschieden: erstens eine Siedlung westslawischer Herkunft nach 550 und zweitens die große südslawische Besiedlung im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte des 6. Jahrhunderts ..." (Vilfan, Rechtsgeschichte der Slowenen, 35). Das Herkunftsgebiet der Karantaner bleibt hypothetisch. Sie sollen nördlich oder nordöstlich der Karpaten beheimatet gewesen und durch die Awaren zum Aufbruch in ihre späteren Siedlungsgebiete veranlasst worden sein. Wie schon betont, ist kein einheitlicher „Urstamm" anzunehmen. Die Ethnogenese der Karantaner wurde wesentlich durch ihr Verhältnis zu den Awaren beeinflusst, unter deren Oberhoheit sie standen. Offenbar haben die Awaren auf ihre inneren Verhältnisse keinen erheblichen Einfluss genommen, sich aber immer wieder der Ressourcen der Slawen in verschiedenster Weise bedient. Dabei kam es zu Kontakten der verschiedenen slawischen Gruppen untereinander, so dass ein Aufstand des berühmten Samo 623 Erfolg hatte. In dieses nun entstandene Reich sind die Alpenslawen wohl einbezogen gewesen (vielleicht als „marca Vinedorum"). Mit der Niederlage der Awaren vor Konstantinopel 626 wurde deren Macht bis auf weiteres sehr geschwächt. Jedenfalls ist seit dem späten 7. Jahrhundert mit einem relativ eigenständigen karantanischen Stammesfürstentum zu rechnen — gegen die Awaren auch durch die Lage des Herrschaftszentrums in den Kärntner Beckenlandschaften etwas geschützt. Vor der awarischen Expansion nach 700 wollte man sich durch eine stärkere Bindung an die Baiern sichern. Dabei geriet man um 740 in bairische Abhängigkeit. Christianisierungsversuche provozierten verschiedene Aufstände, die von Tassilo III. um 772 niedergeschlagen wurden. Davon war aber die Binnenstruktur der Karantaner nicht betroffen. Immerhin begann jetzt eine etwas intensivere, primär von Salzburg getragene Christianisierung. Dem Aufstand der unterpannonischen Slawen unter Ljudewit (819 - 823) haben sich die Karantaner angeschlossen. Wahrscheinlich hängt auch die Attacke „gottloser heidnischer Sia-
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wen" auf die Maximilians-Zelle zu Bischofshofen (820) damit zusammen. Nach der Niederschlagung dieser Bestrebungen wurden die Karantaner nun ebenso wie schon vorher die Baiern stärker in das fränkische Herrschaftssystem eingegliedert und verloren ihre eigenen Herzöge. Die Binnenstruktur des ganzen Bereiches blieb durch Natur und Siedlungsvorgänge geprägt. Tallandschaften innerhalb der Alpen, getrennt durch relativ unzugängliche Höhenzüge, erlaubten Siedlungs- und Herrschaftsverdichtung offenbar nur ganz regional. Zentrum dieser Herrschaft war im 9. Jahrhundert das Zollfeld mit der Karnburg (civitas Carantanorum), doch kommt für die Zeit davor auch ein Herrschaftszentrum in der Nachfolge des alten Teurnia („Liburnia") bei Spittal an der Drau (eventuell Molzbichl in der Nähe des Millstätter Sees) in Frage. Südlich der Karawanken dürfte um 800 ein vom eigentlichen Karantanien unabhängiges Fürstentum (der „Krainer") existiert haben. Sicher karantanisch waren auch der Lungau und das Murtal. Inwieweit das Ennstal stärker in dieses Herrschaftsgebiet eingegliedert war, ist fraglich. Die in Oberösterreich nachweisbaren Slawen haben kaum Beziehungen zu Karantanien, höchstens jene um Ischl. Das scheint auch daraus hervorzugehen, dass die Slawen in der Kremsmünsterer Gründungs- bzw. Bestätigungsurkunde (791) nicht als „Karantaner" bezeichnet wurden. Vielleicht wurden als „Slawen" überhaupt alle jene Leute bezeichnet, die im awarischen Herrschaftsbereich keine Awaren waren, was mit der Vermutung, die Kremsmünsterer Slawen seien aus dem Awarengebiet zugewandert, gut übereinstimmen würde. Es ist daher auch problematisch, diese Urkunde mit ihrer für die slawische Verfassungsgeschichte ältesten Nennung eines „Zupans" für die Verhältnisse in Karantanien heranzuziehen. Dies um so mehr, als man es hier mit teils schon grundherrschaftlichen Verhältnissen, teils eben mit der Errichtung einer Grundherrschaft (nämlich der von Kremsmünster) zu tun hat. Die Begriffe, die hier begegnen und zu ganz unterschiedlichen Deutungen führten, heißen „actores", „decanía" und „iopan". Die „actores" wurden von manchen Forschern als Oberhäupter zweier „druzine", also Großfamilien, angesehen, von H. Wolfram als herzogliche Amtsträger Tassilos III.; die „decanía" entweder als Siedlungseinheit (Weiler) oder als grundherrschaftliche Verwaltungsabteilung des herzoglichen Besitzes. Dementsprechend wäre im ersten Modell der „iopan" der „decanía" und den „actores" übergeordnet, im zweiten Modell hätte er damit nichts zu tun, sondern wäre der (gentile) Chef einer weiteren Slawengruppe von 30 Leuten, die bei der Gründung von Kremsmünster jener „Dekanie" einverleibt werden sollte und deren Grenzen daher dieser Chef beschwor. Dass es sich um freie Leute handelt, deren „wilde" Siedlung freilich schon mit feudalen Herrschaftsansprüchen zusammenstieß, wird daraus ersichtlich, dass diese 30 (und dann noch eine dritte Gruppe) ohne Zustimmung des Herzogs in „seinen" Wäldern gerodet hätten. Der Forschungsgegensatz ist freilich in der Quellenlage begründet: Die angebliche, auf 777 datierte Urkunde Tassilos bezieht die Beschwörung der Grenzen durch den Zupan Physso eindeutig auf die Slawen der Dekanie mit ihren beiden „actores". Das echte Diplom Karls
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des Großen von 791 bringt die Grenzbestätigung des Physso ebenso eindeutig mit den anderen, dieser Dekanie (jetzt erst?) einverleibten 30 Slawen in Zusammenhang. Für die Deutung karantanischer Sozialverhältnisse scheidet die Gründung von Kremsmünster sowieso aus. Das heißt nicht, dass es bei den Karantanern keine Zupane gegeben hätte. Nach späteren Nennungen konnte man sogar die Grenzen des alten karantanisch besiedelten Raumes in der Steiermark rekonstruieren: östlich einer Linie, die im 12. Jahrhundert von Norden her — deutsch — besiedelt wurde, gibt es keine Zupan-Nennungen mehr; dort heißt der entsprechende Funktionär „Richter". Ihre Funktion in vorgrundherrschaftlichen Verhältnissen bleibt aber einigermaßen dunkel. Vermutlich war die Zupa eine Ansiedlergruppe, die ein bestimmtes Territorium besetzte. Im Zuge der überlokalen Herrschaftsbildung der Karantaner wären dann die Zupane zu Funktionären des Fürsten geworden. Später lebte der Begriff in der grundherrschaftlichen Ordnung des Hochmittelalters weiter und bedeutete etwa „Amtmann" oder eben auch „Richter". Wichtigster überregionaler Integrationsfaktor des Stammesfürstentums war sicher der Fürst (wahrscheinlich „knez", lat. „dux"). Herrschaftszentrum war, zumal im 9. Jahrhundert, die „civitas Carantanorum", die Karnburg. Zum Fürsten gehört eine Gefolgschaft. Als solche hat man (u. a.) die vieldiskutierten „Edlinger" (slow. Kosezi) interpretiert, die gerade im Bereich des Herrschaftszentrums gehäuft auftreten. Diese Gruppe der Ediinger konnte im Verlaufe der feudalen Umwandlung des Stammes zum Stamm selbst werden. Aus dieser Gruppe kommen daher auch jene Leute, die die Aufnahme des neuen Herzogs, der ja seit 976 zumeist von auswärts kam, in den Stammesverband vornahmen, bevor er sein Amt antreten konnte (Ritual der Herzogseinsetzung beim Fürstenstein, überliefert freilich erst aus späterer Zeit!). Aus der Gruppe der Edlinger dürfte ein — älterer oder durch Differenzierung innerhalb der Edlinger gebildeter? — höherer Adel hervorgeragt haben. Dieser Adel wurde vom bairischen als gleichrangig angesehen, was sich im 9. und 10. Jahrhundert in gemeinsamem Konnubium und gegenseitigen Namens-Übernahmen äußerte.
3.3
Die Awaren
Mit ziemlicher Sicherheit waren die in Europa auftauchenden Awaren identisch mit jenen Steppennomaden, die nördlich der Chinesischen Mauer zwischen 520 und 550 ein bedeutendes Reich aufgerichtet hatten. Diese Reichsbildung wurde durch einen geglückten Aufstand türkischer Stämme vernichtet. Die Awaren wandten sich daraufhin nach Westen, in die Gegend nördlich des Asowschen Meeres. 557 erscheinen awarische Gesandte am Kaiserhof in Byzanz. 562 kam es zu kriegerischen Zusammenstößen mit den Franken. 567 verbündeten sich die in Pannonien sitzenden Langobarden mit dem Awarenchef Bajan gegen die Gepiden. Nach deren Vernichtung zogen die Langobarden
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bekanntlich nach Italien ab. Damit beginnt die Zeit der awarischen Herrschaft über große Teile des östlichen Ostmitteleuropa. Vom Aufstand Samos und von der Katastrophe der Awaren vor Konstantinopel 626 war schon die Rede. Bis zum Ende des 7. Jahrhunderts war damit die Expansionskraft der Awaren gebrochen. Um 680 sollen jedoch neue Gruppen zugewandert sein, was nicht nur zu einer Renaissance des Reiches führte, sondern auch zu einer Revolution im Innern, wofür die Plünderung der Gräber der bisherigen Führungsschicht als Indiz dienen mag. Jedenfalls erfolgte jetzt eine Siedlungsverdichtung und gleichzeitig eine stärkere West-Ausbreitung bis hin zum Alpenostrand. Die slawische Bevölkerung wird stärker klientelmäßig organisiert und durch einzelne awarische Posten bis nach Südmähren hinein kontrolliert. Gleichzeitig werden die Awaren auch nach außen hin wieder lästig. Um 700 dürfte ein awarischer Vorstoß Lorch zerstört haben. Freilich war es damit bald wieder vorbei. Baiern und Awaren scheinen sich in der Folge in ihren Grenzen respektiert zu haben. Erst die Awarenfeldzüge Karls des Großen (791 - 803) brachten dann ein ziemlich rasches Ende der awarischen Herrlichkeit. Nach der endgültigen Niederlage empfingen die Unterworfenen die Taufe. Es wurde ein christlicher awarischer Klientelstaat des Frankenreiches gebildet. Diese Restawaren wurden von den umwohnenden Slawen aber schäbig behandelt, offenbar in Umkehrung der alten Verhältnisse, so dass man jenen zuletzt eine Art Reservat im heutigen Ost-Niederösterreich und Westungarn bzw. Burgenland zuwies. Nach etwa 820 hört man nichts mehr von ihnen. Das bedeutet nicht, dass sie physisch ausgerottet wurden oder ausstarben, sondern dass sie als Ethnos nicht mehr existierten, dass sich also niemand mehr als Aware selbst bezeichnete oder bezeichnen ließ. Anders als die bisher behandelten Stämme waren die Awaren Halb-Nomaden. Wirtschaftlich betrieben sie Viehzucht — das nötige Getreide holte man sich von der getreidebauenden Klientel. Anders als die sesshaften Stämme waren die Awaren auch gesellschaftlich gegliedert. Ohne Zweifel steht die Kriegerbevölkerung eines solchen Stammes in häufigem Handlungs- und Bewusstseinszusammenhang, so dass hier mit einer viel stärkeren Integration gerechnet werden muss. Dieser Stamm ist nun klar nach militärischen Prinzipien geschichtet. Es gibt eine eindeutige militärische Hierarchie, die sich offenbar auch im archäologischen Befund niederschlägt. Man gab nämlich diesen Reitern Pfeile und Gürtel mit ins Grab, die ihren Rang ausdrückten. Je nach Position in der militärischen Hierarchie trug der bestattete awarische Reiter 25 (regionaler Oberbefehlshaber, „Fürst") oder 11 (nächstniedrige Rangstufe, vielleicht Hundertschaftsführer) oder einige wenige Pfeile. Inwieweit diese militärische Rangordnung auch die Sozialordnung des täglichen Lebens bestimmte, muss offen bleiben. In der Umgebung besonders reicher Gräber wurden immer auch ganz arme Bestattungen festgestellt, die man Sklaven oder anderen Unfreien der ranghöheren Krieger zuschrieb. Unklar bleiben auch einige andere Fragen. So wurden in slawischen Gräberfeldern einzelne reiche Gräber mit awarischer Ausstattung gefunden. Man schloss daraus auf awarische Kontrollorgane in slawischen Siedlungen. Es kann
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Die gesellschaftliche Entwicklung von der Vorgeschichte bis zum Frühmittelalter
sich aber auch um Slawen handeln, die ihre gehobene Stellung dadurch ausdrücken, dass sie sich als „Awaren" geben (vgl. die baierische Selbstzuordnung grundherrlich lebender Romanen im gleichzeitigen Baiern-Reich!). Denn die ethnische Selbstzuordnung konnte wechseln: Als es, nach den Niederlagen gegen die Franken, nicht mehr sinnvoll schien, sich als „Aware" zu geben, haben offenbar jene im awarischen Herrschaftsbereich lebenden slawischen Bevölkerungsteile, die sich vorher zu den Awaren zählten, ihre ethnische Selbstzuordnung geändert. Das erklärt nicht nur das rasche Verschwinden der Awaren, sondern auch den raschen Aufschwung verschiedener slawischer Völkerschaften in eben diesem Raum.
3.4
Die Alpenromanen
Vor allem in den Alpengebieten haben große romanische (oder romanisierte) Populationen das Ende des Römerreiches überdauert. Obgleich diese Gruppen im bairischen Herzogtum und in der weiteren Folge im Zuge der tirolischen Landesbildung ihre eigene Identität aufgegeben haben, gab es doch Rückzugsgebiete, in denen sich bestimmte Einrichtungen der Spätantike besonders lange gehalten haben und noch lange über das Ende der besonderen Institutionen hinaus eine besondere Sprache, die im Montafon und Vintschgau noch bis ins 16. Jahrhundert gesprochen wurde, als „Rätoromanisch" in Graubünden und als „Ladinisch" in Südtirol bis heute weiterlebt. Zentrum dieser ziemlich selbständigen Alpenromanen war die „Raetia Curiensis", Churrätien. In geschützter Lage, defensiv gegen Alemannen und Franken, verblieb ein Rest des römischen Rätien in Form der Herrschaftsbildung der „praesides", der Bischöfe von Chur. Die Würde des Bischofs — zugleich Präses — blieb dabei offenbar durch längere Zeit in der Hand einer Familie. Erst Karl der Große hat mit dieser Sonderentwicklung gebrochen und Churrätien in die fränkische Reichsorganisation einbezogen. Churrätien umfasste ungefähr das heutige Graubünden. Auch war das südliche Vorarlberg mit dem Zentrum Rankweil Teil dieses Herrschaftsgebietes. Vom historischen Land Tirol gehörte der Vintschgau dazu, wo Chur ja bis in die Neuzeit geistliche und weltliche Herrschaftsrechte wahrgenommen hat. Dieses spätantike Restgebiet hat ein eigenes Recht überliefert, die auf die „Lex Romana Visigothorum" zurückgehende „Lex Romana Curiensis". In dieser Quelle erscheinen Curialen, die in der Tradition spätantiker Dekurionen für die öffentlichen Abgaben verantwortlich waren. Sie sollten nur aus den besitzenden Gruppen stammen (ob das nicht bloß eine Erinnerung mit geringem Realitätsgehalt war?). In den kleineren Siedlungen erscheinen „maiores" mit gewissen Aufgaben betraut, gleichwie Pfarrer. Hinsichtlich der Wirtschaftsweise darf nochmals auf die Almwirtschaft verwiesen werden, die von dieser romanischen Bevölkerung weiterbetrieben wurde. Unfreie sind ebenso bezeugt wie ausgedehnter Besitz des Bischofs, seiner Klöster und Kirchen. Dieser Besitz bot später die Grundlage für die Ausstattung des karolingischen Grafen. Es muss also als „öffentliches" Gut gegolten haben.
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Im Bereich der das Bischofsamt längere Zeit monopolisierenden Familie der „Viktoriden" haben sich Entwicklungen zu grundherrschaftlichen Formen abgespielt. Auch hier kommt es im 8. Jahrhundert zu Klostergründungen (Pfäfers, 735/40), deren Ausstattung zur Fortentwicklung grundherrschaftlicher Lebensweisen führte. Seit 536 stand Churrätien nicht mehr unter gotischer, sondern unter fränkischer Herrschaft. Die Bischöfe erscheinen nach 610 auf Synoden der fränkischen Reichskirche. Dennoch blieben die Eingriffe der fränkischen Könige geringfügig. Erst nach der endgültigen Unterwerfung der Alemannen in der 1. Hälfte des 8. Jahrhunderts (746) wurde der fränkische Einfluss stärker. Dies ist besonders auch im Zusammenhang mit den Italienzügen Pippins und Karls des Großen zu sehen, denn das Churer Gebiet beherrscht wichtige Alpenübergänge. Nach dem Tod des letzten Viktoriden setzte Karl der Große noch einige Rektoren und Bischöfe (in einer Person) ein. 806 wurde dem neuen Bischof die weltliche Funktion nicht mehr übertragen. Fränkische Grafen kamen ins Land und der reiche Landbesitz der Viktoriden diente als Ausstattung für die neuen Machthaber. Die Bischöfe von Chur konnten späterhin freilich ihre weltliche Macht ausbauen. Das war sicher der Grund, warum ihr Herrschaftsbereich dann auch als Sprachbereich des Rätoromanischen fortbestand, ebenso wie das Ladinische erhalten blieb, vorwiegend im Herrschaftsbereich des Brixener Bischofs, und das Furlanische im Herrschaftsbereich des Bischofs von Aquileja.
3.5
Die Alemannen
Etwa zur gleichen Zeit, als in Chur die Viktoriden herrschten, gehörte der nördliche Teil Vorarlbergs schon zum Siedlungsgebiet der Alemannen, ebenso das Lechtal. Bekanntlich haben diese schon im 3. Jahrhundert das Gebiet zwischen Rhein und Donau (Dekumatenland) vom Imperium abgezweigt. Später besiedelten sie dieses Gebiet, doch erst im 4. und 5. Jahrhundert schoben sich ihre Siedlungen auch in das Gebiet südlich von Rhein und Bodensee vor. Nach der Niederlage der Alemannen gegen Chlodwig (496) wurde ein Teil des Stammes von Theoderich unter seinen Schutz genommen und durfte auf dem von den Goten noch beherrschten Gebiete Rätiens siedeln — vielleicht auch im nördlichen Vorarlberg. Seit 536 war aber das ganze Stammesgebiet der Alemannen unter fränkischer Herrschaft; freilich kam es immer wieder zu Verselbständigungstendenzen der Herzöge, und noch im 8. Jahrhundert waren mehrere Feldzüge und brutale Maßnahmen (Blutbad von Cannstatt, 746) nötig, mit denen Karl Martell und Pippin die Alemannen endgültig unterwarfen. Entscheidend für die spätere Entwicklung im Bodenseegebiet war die Gründung von St. Gallen und die Ausstattung des Konstanzer Bistums durch König Dagobert (615 - 630). Bis ins 19. Jahrhundert sollte das nördliche Vorarlberg kirchlich zu Konstanz gehören. Und St. Gallener Besitz spielte für die weitere Entwicklung (Grundherrschaft, Aufbau von Adelsherrschaften auf der Basis des Kirchenbesitzes) eine große Rolle.
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Die gesellschaftliche Entwicklung von der Vorgeschichte bis zum Frühmittelalter
Zur Sozialstruktur der Alemannen, soweit uns die Rechtsaufzeichnungen des 8. Jahrhunderts informieren können, nur wenige Bemerkungen: Im Wesentlichen sind die Bestimmungen jenen der Lex Baiuvariorum parallel, nur kennt die Lex Alamannorum außer Freien und Adeligen noch eine Zwischenschicht — „mediani". Die räumliche Organisation war ähnlich wie bei den Baiern nach „Gauen" aufgebaut, in denen der Graf die Freien zu Gericht und Heerfolge aufzubieten hatte. Daneben gab es aber noch Sondereinheiten, die Baare, die sehr verschieden gedeutet werden. Man sah in ihnen Organisationen fiskalischen Grundbesitzes, auf dem die Herzöge spezielle Leute mit Militärpflicht (Bargilden?) angesetzt hätten. Von den Gauen reichen zwei auch auf Vorarlberger Gebiet: der Argengau eventuell mit dem Vorort Bregenz, und der Rheingau mit Lustenau, Dornbirn und Höchst. Auch hier hat sich mit dem Einsetzen grundherrlicher Organisationsformen die Bedeutung der Gaue für die realen gesellschaftlichen Verhältnisse immer mehr abgemindert.
III FEUDALISMUS — KOLONISATION — LANDESBILDUNG
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Die Feudalgesellschaft — Entstehung und Entwicklung bis ins 13. Jahrhundert
Als „Feudalismus" bezeichnet man in Europa ein gesamtgesellschaftliches Beziehungsgefüge, in welchem gesellschaftliche Funktionsträger zur Durchführung ihrer Aufgaben sowie als Entlohnung Anteile an den Erträgen von Grund und Boden derart zugesprochen erhalten, dass sie sich diese Anteile direkt bei den Produzenten aneignen können. Dieses Herrschaftsverhältnis über Produzenten bildet die Grundlage für die weitreichende Verselbständigung der feudalen Kräfte von den Zentralherren. Folgen dieser Verselbständigung waren lokale Herrschaftsverdichtung, Bevölkerungswachstum und Zerfall übergeordneter Einheiten, Entwicklung von Autonomievorstellungen und Widerstandsrechten sowie von genossenschaftlichen Sozialvorstellungen und Ideen politischer Repräsentation. Die Entwicklung des Feudalismus hing mit wirtschaftlichen Veränderungen zusammen, die als Intensivierung des Ackerbaues und als Vordringen des Getreidebaues und der Dreifelderwirtschaft zu identifizieren sind — in unserem Räume etwa ab dem 10. Jahrhundert. Zugleich wuchsen die militärischen Anforderungen, nicht nur durch die karolingischen Expansionskriege, sondern auch durch Änderungen in der Waffentechnik. Durch den Bedeutungsgewinn der Reiterei musste der Krieger von landwirtschaftlicher Arbeit entlastet werden. Spezialisierte Krieger („Ritter") wurden vom König oder anderen großen Herren (Grafen, Herzögen) an deren Höfen direkt erhalten. Solche Vasallen ohne eigene Lehen gab es in verschiedenen Gegenden Deutschlands noch bis ins 11. Jahrhundert. Oder sie bekamen eine grundherrliche Fundierung, ein Lehen. Man rechnete die Erträge von zehn Huben als Mindestmaß, von welchem ein Ritter erhalten werden konnte. Nun hat die feudale Landausstattung immer wieder zu einer starken Verselbständigung der einmal Belehnten geführt: Der mit Land ausgestattete Funktionsträger konnte seine herrschaftliche Stellung gegenüber den ihm untergebenen Bauern — und damit seinen sozialen Status — nur halten, wenn er ihnen gegenüber ein Gewaltmonopol herstellen konnte. Dazu bedurfte er zumeist wieder einiger untergeordneter Raufbolde, die tendenziell wieder nach Landausstattung drängten. Lehensherren aller Stufen waren daher ständig mit dem Problem eines Schwundes ihrer Landreserven konfrontiert. Herrenstellung
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Feudalismus — Kolonisation — Landesbildung
war aber nur möglich, wenn man in der Lage war, über vergebbare Böden zu verfügen. Man musste also Ersatz für das einmal vergebene Land schaffen: Wir halten dafür, dass aus diesen Eigentümlichkeiten des europäischen Feudalismus ein guter Teil nicht bloß seiner zu einem unübersehbaren Gewirr von gewalttätigen Auseinandersetzungen führenden Aggressivität nach innen und außen zu erklären ist, sondern auch das Streben nach mehr Böden durch Rodung und Kolonisation, aber auch das Streben nach Vermehrung der untertänigen Bauernstellen. Der Hunger nach Boden trieb zur Expansion nach Italien und in den Osten, er scheint aber auch ein nicht unwesentliches Element in der Motivation jener Ritter gebildet zu haben, die sich bei der Rückeroberung der Pyrenäenhalbinsel von den Muslimen engagierten und die ab 1097 auf die Kreuzzüge zogen.
2
Die karolingische Expansion und ihre sozialen Folgen
Unter Karl dem Großen wurden die frühmittelalterlichen „gentes" auf dem Boden der ehemaligen römischen Provinzen intensiver dem fränkischen Reich eingegliedert; die nördlich der Donau gelegenen Gebiete blieben überwiegend noch draußen. Seit der Absetzung Tassilos III. (788) gab es durch längere Zeit keine bairischen Herzöge mehr. Bis zum Ende des 9. Jahrhunderts werden nur mehr „Präfekten" genannt — der Titel drückt ohne Zweifel den stark betonten Amtscharakter aus. Die churrätischen Romanen verloren ebenfalls ihre eigentümliche Sonderstellung (806). Etwas länger dauerte die Weiterexistenz des karantanischen Stammesfürstentums. Auch dieses wurde ab 828 nicht mehr besetzt. Seither erscheinen auch hier Amtsträger des fränkischen Königs. Seit 826 ist ein awarisches Fürstentum ebenso wenig nachweisbar wie ein Volk der Awaren überhaupt. Die Alemannen waren schon 746 ziemlich brutal gedämpft worden. Räumlich griff die karolingische Herrschaft weit aus. Vermutlich auch im Sinne der Ideologie einer Wiederherstellung des (west-)römischen Reiches waren es im Südosten ziemlich genau die ehemaligen Provinzgebiete von Noricum und Pannonien, die man sich einverleibte. Karantanien hatte ja so ziemlich dem alten Binnennoricum entsprochen, das Awarenland Pannonien (mit einem sozusagen ufernorischen Glacis zwischen Wienerwald und Enns, wo Baiern begann), das restliche Baiern Noricum und zum Teil auch Rätien. Im Machtbereich der Franken bzw. an dessen Rand konnten sich ferner mehr oder weniger abhängige (slawische) Teilfürstentümer etablieren, so jenes des Ljudewit oder das am Plattensee zentrierte des Pribina und Kozel. Zur Überwachung der lokalen Herrschaftsträger (Grafen) ebenso wie der zugeordneten slawischen Fürsten entsandte Karl der Große „missi dominici", königliche bzw. kaiserliche Kommissare. Die „missi" sollten ausschließlich von der Zentralgewalt abhängen und in den von ihnen kontrollierten Gebieten keine Verbindung zur lokalen Aristokratie haben. Aber auch hier setzte sich die feudale Regelhaftigkeit durch. Da die „missi" des Ostlandes die neuen Präfek-
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ten Baiems waren, ergab sich bald ein enger Kontakt zur ansässigen Aristokratie. Zudem mussten „missi" mit Dauerauftrag doch wieder über Grund und Boden verfügen, um ihre Aufgaben wahrnehmen zu können. Nach 876 erscheint das ganze Grenzgebiet in zwei Blöcke geteilt. Im Süden beherrschte der Karolingerspross Arnulf („von Kärnten") als Herzog von Karantanien wohl auch die Enns- und Murtalgrafschaften sowie die unterpannonischen Grafschaften und Fürstentümer. Freilich stand man hier in Konkurrenz zum Großmährischen Reich des Svjatopluk, der zeitweilig Pannonien beherrschte. In den Donaugrafschaften (etwa von der Traun bis Oberpannonien) gehörte die Oberhoheit einem gewissen Arbo. Die Streitigkeiten zwischen diesem, dem Grafengeschlecht der Wilhelminer (Wilhelmsburg!) und den Karolingern haben die großmährische Expansion gefördert. Dabei ging es wie fast immer um Verselbständigungstendenzen und die Versuche zu deren Verhinderung— so wurde den beiden Grafen Wilhelm und Engelschalk 893 wegen Infidelität (Treulosigkeit, d. h. Verletzung der Vasallenpflichten) Eigengut abgenommen, das dann an Kremsmünster gelangte. Nachdem Arnulf König geworden war, wurde ein Graf Luitpold die dominierende Erscheinung in Baiern und im Ostland. Das eroberte Land galt zunächst als Besitz des Königs. Erhebliche Teile des Königsgutes gingen bereits in karolingischer Zeit an geistliche Institutionen über. Den Löwenanteil sicherte sich Salzburg, das auch in erster Linie für die Mission in den eroberten Gebieten verantwortlich war. Die Schenkungen schlossen häufig an spätantike Mittelpunktorte an. So erhielt Salzburg den Kärntner Zentralraum (Virunum!) mit Maria Saal übertragen, aber auch St. Peter in Holz (Teurnia — „Liburnia"), ferner Besitz bei Pettau/Ptuj (Poetovio), Steinamanger/ Szombathely (Savaria), auf dem Aichfeld im oberen Murtal, dann bei Leibnitz (Flavia Solva); aber auch der niederösterreichische Besitz mit dem späteren Zentrum Traismauer schloss an spätantike Siedlungen an. — Die drei anderen bairischen Bistümer gingen zwar nicht leer aus, wurden aber deutlich weniger stark berücksichtigt. Begehrt war offenbar auch Weingartenbesitz in der Wachau — solchen erhielten nicht bloß Salzburg, sondern auch die Klöster Niederalteich, Tegernsee, Kremsmünster usw. Die „Grundherrschaften" dieser geistlichen, aber auch der großen weltlichen Herren waren keine flächendeckende Einrichtung. Die Streuung des Besitzes oft über weite und entlegene Gebiete kann nur im Zusammenhang mit der Funktion des feudalen Besitzes verstanden werden. Es handelt sich hier sowohl um Ausstattungsmöglichkeiten für ein breit gestreutes Gefolge wie auch um militärische Stützpunkte und um naturale Existenzsicherung, denn diese großen Feudalherren mussten prinzipiell sehr mobil leben — und da war es günstig, in einem weiten Bereich immer wieder auf eigene Güter zurückgreifen zu können. Die nun einsetzende Siedlungsbewegung beschränkte sich im Wesentlichen auf die von Natur aus günstigeren Landschaften. Sie war wohl auch weniger dicht als die eigentliche hochmittelalterliche Siedlung des 11. bis 13. Jahrhunderts. Stabiler als die pannonische, durch den Ungarnsturm völlig vernichtete Siedlung war die Besiedlung westlich des Wienerwaldes. Hier gibt es zahl-
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reiche Ortsnamen, die auf karolingerzeitliche Siedlung hinweisen, Ortsnamen, in denen Amtsträger jener Zeit (Gerolding— Gerold war der 799 gegen die Awaren gefallene Präfekt Baierns oder dessen Sohn; ferner Wilhelmsburg) auftreten. In diesen älter besiedelten Gebieten verweisen zahlreichen Orts- und Weilernamen auf „Meier" und „Meierhof" und damit auf die typische Meierhofverfassung der älteren Grundherrschaft. Die sozialräumliche Gliederung wird von Grafschaften beherrscht, die freilich nur dort eingerichtet wurden, wo Königsgut und freie Leute in größerer Dichte vorhanden waren. Ob die ebenfalls nachgewiesenen Gaue („Grunzwitigau" in Niederösterreich, nordwestlich von St. Pölten) eine Organisationsform des Königsgutes darstellen, muss offen bleiben. Die Güter der Kirchen (zuerst) und schließlich auch das Gut weltlicher Großer erhielten oft Immunität. Diese umfasste das Verbot des „introitus", der „exactio" und der „districtio" (des Eindringens, der Besteuerung und sonstiger Belastungen) durch den Grafen. Sinnvoll erscheint diese Begrenzung ihrer Befugnisse nur vor dem Hintergrund wachsender feudaler Verselbständigung der Grafen. Daher wurde für die späten Karolinger, für Ottonen und Salier das Reichskirchengut zu einer wichtigen Herrschaftsstütze — und diese bewahrte man dadurch vor dem Zugriff adeliger Herren. Anfangs gab es bei den Immunitätsverleihungen noch Ausnahmen, die die Funktionsfähigkeit des gräflichen Amtes sicherstellen sollten: Als im Jahre 888 der königliche Hofamtsträger Heimo für seine Güter im Grunzwitigau Immunität erhielt, wurde die Leistung der Burgrobot von der Immunität ausdrücklich ausgenommen — wenn der Grenzgraf zum Burgenbau aufbot, hatten auch die Immunitätsleute zu erscheinen. Burg und Grafschaft waren ursprünglich aufeinander bezogen. Dabei darf man sich unter „Burg" noch nicht die adelige Höhenburg späterer Jahrhunderte vorstellen. Die „Burg" war ein zentraler, befestigter Platz. Solche Plätze waren an der Donau Linz, „Eparesburg" (vielleicht Ybbs) und Mautern. Ein solcher Burgplatz war nicht nur militärisches, sondern auch wirtschaftliches Zentrum. Nach der so genannten „Zollordnung von Raffelstetten" (904/906) befand sich hier der „mercatus legitimus", der rechtmäßige Platz des Warenaustausches. Gleichzeitig wurde hier der Zoll für das Grafschaftsgebiet (als theoretische Gegenleistung für den oft ebenso theoretischen Schutz, den der Graf dem Handel dafür zu bieten hatte) eingehoben. Die Aufrechterhaltung einer Befestigungsanlage war nur durch Leute in der näheren Umgebung zu gewährleisten. Diese zum Burgenbau verpflichteten Leute konnten sich von der Burg einen gewissen Schutz erwarten und genossen zumeist auch Befreiung von diversen Marktabgaben auf dem Markt des Burgortes. Eine solche „Burg" hat also nicht nur militärische, sondern auch frühstädtische Funktionen, was sich unschwer auch aus der althochdeutschen Übersetzung von „civitas" oder „urbs" mit „bürg" belegen lässt. Die ältesten zu Städten gewordenen „Burgen" tragen die Burgbezeichnung entweder heute noch (Salzburg, Judenburg, Herzogenburg) oder haben sie erst später abgelegt (so entstand beispielsweise Enns aus Enns-Burg, Steyr aus Styra-Burg).
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Dieser Typus der spätkarolingischen Raumordnung mit einem zentralen Burgplatz (also ein „Burgbezirk") scheint dann auch das Vorbild für ähnliche Einrichtungen im slawischen Bereich und bei den Ungarn („megye" oder „comitatus") geboten zu haben. In der Karolingerzeit wurde auch das kirchliche Verwaltungsnetz weiter ausgebaut. Salzburg gilt seit 798 als Erzbistum. Salzburg hatte auch im Bereich der Mission in Karantanien und Pannonien einen gewissen Vorsprung. Doch kam es dabei zu Streitigkeiten mit Aquileja, dessen Bischof ebenfalls Metropolitanrechte für den ehedem binnennorischen Bereich anmeldete. Schließlich wurde die Grenze zwischen beiden Bistümern an der Drau festgelegt (811 ). Nördlich davon — und bis zur Mündung der Drau in die Donau — war Salzburg zuständig, südlich Aquileja. Das betrifft aber nur die kirchlichen Kompetenzen, nicht den grundherrlichen Besitz, der in beiden Fällen die Drau verschiedentlich überschritt. Auch zwischen Passau und Salzburg ergaben sich Meinungsverschiedenheiten. Im Westen taucht im späteren 8. Jahrhundert wieder ein Bischof von Säben auf. Er übte offenbar bischöfliche Gewalt im oberen Inntal und im Wipptal aus. Das Lechtal und der nördliche Bregenzer Wald gehörten zum Bistum Augsburg, das übrige Vorarlberg war zwischen Chur und Konstanz geteilt. Im karantanisch-pannonischen Missionsgebiet gab es noch keine festen Bischofssitze. Der Bischof war hier ein „Chor"-Bischof (von griech. χωρά— Land, im Gegensatz zu Stadt), der eben definitionsgemäß keinen Bischofssitz hatte. Dennoch hat hier Maria Saal bald eine wichtige Rolle als geistliches Zentrum gespielt. In diesen Missionsgebieten wurde eine Sonderform des für den Unterhalt des Klerus gedachten Zehents eingeführt (der prinzipiell dem Bischof zustand), der sog. „Slawenzehent", der etwas geringer bemessen wurde, um den Widerstand dagegen zu mildern. Der Zehent wurde zwischen Bischof und Pfarrer meist im Verhältnis 1:2 geteilt. Man begann jetzt auch zahlreiche Kirchen zu bauen und mit Priestern zu besetzen. Dabei handelt es sich um Eigenkirchen, über die der Herr (König, Bischof oder Adeliger) verfügte wie über irgendeinen Meierhof, ebenso über den jeweiligen Geistlichen. Der galt ja ebenso als Mitglied der herrschaftlichen „familia" wie jeder andere Herrschaftsunterworfene. Am Anfang entstanden Kirchen mit ausgesprochen zentraler Funktion (Ortsname Taufkirchen), die sich häufig in Zentren entweder des kirchlichen oder des königlichen Besitzes befanden. So gelangte die ursprünglich auf Königsgut gelegene Kirche zu Traismauer später an Salzburg.
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Großmähren und Ungarn
Um die Mitte des 9. Jahrhunderts befand sich ein staatliches Gebilde in raschem Wachstum, das später von der byzantinischen Geschichtsschreibung μ ε γ α λ ή Μοραβία — Großmähren — genannt wurde. Der Herrschaftsbereich der großmährischen Fürsten erstreckte sich zur Zeit der größten Ausdehnung,
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ausgehend vom heutige Mähren und der Westslowakei sowie dem Weinviertel, über einige Gruppen der Elbslawen, Böhmen, Schlesien, das östliche Karpatengebiet und einige Teile Pannoniens. Eigentümlicherweise verschwand dieses Staatswesen, das den Ostfranken unter Ludwig dem Deutschen, Karlmann und Arnulf von Kärnten jahrzehntelang schwer zu schaffen machte, um 907 vollständig von der Bildfläche. Die spätere staatliche Organisation der westlichen Slawen ging von Böhmen (oder Polen) aus. Die Expansion der Mährer begann um 833/835, als Fürst Moimir den Fürsten Pribina aus seinem Herrschaftszentrum Neutra/Nitra vertrieb. Der Nachfolger Moimirs, Rastislav (846 - 870) wurde vor allem durch seine an Byzanz gerichtete Bitte um Missionare historisch bedeutsam. 864 dürften Konstantin und Methodios in sein Reich gekommen sein. 867 reisten sie nach Rom, um die slawische Liturgie genehmigen zu lassen. Das geschah auch 869. Konstantin (Kyrill) starb in Rom, Method kehrte zurück, wurde aber von den bairischen Bischöfen gefangen gesetzt: Es ging hier um politische Einflusssphären, die man durch die bei den betroffenen Neu-Christen eventuell sympathischere Liturgie in einer verständlichen Sprache massiv gestört sah. Rastislav wurde schließlich mit fränkischer Hilfe abgesetzt und sein Sohn Svjatopluk gelangte an die Herrschaft (871 - 894). Um 880 hatte Svjatopluk die größte Ausdehnung seiner Herrschaft erreicht. Method war Bischof von Pannonien und Mähren. Freilich erhielt er einen fränkischen Suffragan in Neutra/Nitra (heute Slowakei). Unmittelbar nach dem Tode Svjatopluks begannen sich die Ungarn in Pannonien und in der Donau-Theiß-Ebene festzusetzen (894 - 896). Als 907 die Baiern eine vernichtende Niederlage erlitten, dürfte damit auch das Schicksal des Mährerreiches besiegelt gewesen sein. Es gab ab diesem Zeitpunkt keine Erwähnung mehr. Methods Nachfolger und Schüler waren schon früher aus Mähren und Pannonien vertrieben worden. Sie wandten sich daher der Mission der Bulgaren zu — die Westslawen blieben also Rom erhalten, während das von Konstantin (Kyrill) und Method bei den Mährern entwickelte Instrumentarium mit größtem Erfolg bei der Christianisierung der Ostslawen sowie der Serben und Bulgaren angewandt wurde. Die Binnenstruktur des mährischen Reiches deutet darauf hin, dass man es mit einer Vereinigung mehrerer Kleinstämme durch kriegstüchtige und erfolgreiche Heerkönige zu tun hat. Die Einbeziehung des Herrschaftsbereiches Pribinas in den Moimirs dürfte nicht alleine dastehen. Die Zentren dieser Kleinstämme waren vermutlich die diversen Burgstädte, die dann im 9. Jahrhundert einen bedeutenden Aufschwung genommen haben (Neutra/Nitra, Staré Mesto, Mikulcice u. a.). Diese Burgstädte waren Herrschaftszentren. Sitz des Fürsten dürfte Mikulcice gewesen sein, wo sich auch eine Taufkirche fand. Neutra/ Nitra ist als Bischofssitz bezeugt. Diese Burgstädte waren Fürstensitz und geistliches Zentrum, gleichzeitig auch Sitz der kriegerischen Gefolgschaft des Fürsten. Die Großen dieses Gefolges siedelten sich im Anschluss an den Fürstenhof innerhalb dieser Burgwälle
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an. Zu ihren Höfen gehörten auch Eigenkirchen. Das fürstliche Gefolge war also in ziemlich altertümlicher Weise direkt an den Fürstensitz angegliedert. Es erfolgte zumindest im 9. Jahrhundert keine „feudale" Verselbständigung der Gefolgsleute. Dadurch wurde zwar die Umwandlung dieser Gruppen in einen landbesitzenden Adel verhindert, sie bleiben aber im Falle kriegerischer Erfolglosigkeit, wie nach dem Tode Svjatopluks, auch an der Erhaltung der fürstlichen Herrschaft uninteressiert. In den Burgstädten gab es ein relativ entwickeltes Handwerk. Auch Handel wurde hier getrieben. Die waffentragende freie Stammesbevölkerung war wohl in Burgbezirken organisiert. Im Gebiet von Thunau am Kamp (Niederösterreich) ist ein solches Burgzentrum nachweisbar, dessen Herr, ein um 900 bezeugter „vir venerabilis Joseph", ein christlicher slawischer Fürst war. O b freilich sein Herrschaftsbereich, dessen Zentrum höchstwahrscheinlich den Namen Gars trug, der im 11. Jahrhundert auf die neue babenbergische Burganlage übertragen wurde, in das Großmährische Reich integriert war oder ob es sich um ein zwischen Franken und Mähren lavierendes mehr oder weniger selbständiges Gebilde handelt, ist nicht zu klären. Im frühen 9. Jahrhundert waren die Magyaren ein Klientelvolk der Chasaren nördlich des Schwarzen Meeres. Von dort wichen sie vor der Bedrohung durch die Petschenegen nach Bessarabien und später in den Karpatenbogen aus. 881 wird ein Zusammenstoß mit ostfränkisch-bairischen Kräften „apud Weniam", also bei Wien (erste mittelalterliche Nennung!), gemeldet. Um 896 erfolgte die endgültige Landnahme der Ungarn in der Donau-Theiß-Ebene und in Pannonien. Von dort aus unternahmen sie Raub- und Plünderungszüge nach Italien, auf den Balkan und tief ins fränkische Gebiet hinein. Den Zeitgenossen galten die Ungarn als neue Hunnen — übrigens versuchte auch die ungarische Abstammungssage von Hun und Magor, die Magyaren in die engere Verwandtschaft der Hunnen zu bringen. Um 900 wurde die Ennsburg errichtet — ein Indiz dafür, dass man bei den Baiern die neue Bedrohung nun ernst zu nehmen begann, dass man aber auch die pannonischen und niederösterreichischen Gebiete bereits so ziemlich verloren gab. Nach der Katastrophe von Preßburg 907, als der Graf Luitpold, mehrere Bischöfe und der größte Teil des Adels gefallen waren, wurde die Enns faktisch zur Grenze. Allerdings siedelten die Magyaren nicht bis dorthin. Ähnlich wie die Awaren haben sie den Wienerwald mit Dauersiedlungen nicht überschritten, ebensowenig wie jene Höhenzüge, die die mittlere von der östlichen Steiermark trennen. Eine nicht sehr dichte Kette von ungarischen Wehrdörfern scheint östlich der Mur, aber auch im nördlichen Niederösterreich (Fallbach b. Staatz verweist auf fálva = Dorf, hier gibt es ebenso wie in der Steiermark auch den Ortsnamen Ungardorf) die westliche Siedlungsgrenze gebildet zu haben. Davor bestand (ähnlich wie bei den Awaren) ein Glacis, in welchem die Kontinuität zur karolingischen Besitzstruktur nicht vollends abriss. So verunglückte der Freisinger
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Feudalismus — Kolonisation — Landesbildung
Bischof 926 im Greiner Strudel auf der Reise zur Besichtigung freisingischer Güter in Niederösterreich. Über die sozialen Organisationsformen der Ungarn sei hier nur so viel angemerkt, dass bei der Ansiedlung offenbar Stammesgruppen oder Teilstämme um königliche Burgzentren gruppiert wurden. Daraus entstanden später die Komitate, die, natürlich inhaltlich stark verändert, bis zur Gegenwart erhalten blieben. In den Komitaten („megye") wurden königliche Amtsträger, deren lateinische Bezeichnung „comes" auf ursprüngliche Analogie zu den fränkischbairischen Grafen hinweist, eingesetzt. Auch hier bildete sich die Gleichung Wehrhaftigkeit = adeliger Status heraus. Da aber die Verengung der Wehrhaftigkeit nicht so radikal fortschritt wie im Westen, galten später viele kleine, noch wehrhafte Leute ebenfalls als adelig. Eine feudale Verselbständigung der Amtsträger bzw. der wehrhaften Leute hat beim Kleinadel überhaupt nicht stattgefunden. Es gab daher auch keine feudale Zersplitterung. Als sich im Spätmittelalter ein sehr mächtiger Hochadel herausbildete, konnte das nicht mehr zu feudaler Zersplitterung führen, wohl aber zu korporativer Verselbständigung gegenüber dem König, zu einer Art von Adelsrepublik. In diese blieb prinzipiell auch der (teils verbauerte) Kleinadel eingebunden. Ungarn (und damit auch das heute österreichische Burgenland) hat also eine schon seit der Landnahmezeit zu datierende, vom übrigen Österreich völlig abweichende Entwicklung der gesellschaftlichen Beziehungen genommen.
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Die ottonischen Marken und das Reichskirchensystem
Schon in der späteren Karolingerzeit kristallisierten sich wieder größere Herrschaftsblöcke heraus, „regna", die zum Teil auf Erbteilungen in der karolingischen Familie (und auf Ausstattungen diverser Söhne) zurückzuführen waren, zum Teil aber die Notwendigkeit widerspiegeln, in kleineren Räumen neue Herrschaftsbasen zu schaffen und auf diese Weise zugleich auch besseren Schutz gegen die zunehmenden Invasionen von außen zu gewährleisten: Denn das 9. und frühe 10. Jahrhundert besteht ja gesamteuropäisch gesehen aus einer Kette von Invasionen — von Norden kamen die Normannen, von Süden her die neuerdings erstarkten Araber und von Osten die Ungarn. Ein solches „regnum" beherrschten sowohl Ludwig der Deutsche wie sein Sohn Karlmann und dessen unehelicher Spross Arnulf („von Kärnten") mit Bayern und seinen Nebenländern. Der schon genannte Graf Luitpold (gefallen bei Preßburg 907) regierte den bayrisch-kärntnerischen Komplex ebenso unbehelligt wie sein Sohn und Nachfolger Arnulf („der Böse" — weil er wie sein großer Vorgänger Karl Martell Kirchengut zur Ausstattung seiner Vasallen verwendete!) und dessen Bruder Berthold. Beide beherrschten nach wie vor Personenverbände („dux Baiuvariorum" oder „dux Carantanorum") — das macht diesen Typ des an ältere Bewusstseinsinhalte anknüpfenden Herzogtums den älteren Stammesfürstentümern ähnlich. Arnulf beherrschte diesen Bereich durchaus königsgleich, worauf eine Nennung als Beherrscher des „regnum Teutonicorum" in einer
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Salzburger Quelle (auf etwa 919 bezüglich) abzielt. Dieses Regnum war freilich das bayerische, denn auf die Bayern beziehen sich zeitgenössische „Teutonen"-Bezeichnungen italienischer Provenienz ebenso wie die ersten „nemci"Bezeichnungen aus slawischem Munde. Nach dem Tod Arnulfs (937) konnte Otto I. (936 - 973) auch hier die Rechte des ostfränkischen Königs, vor allem die Herrschaft über die Kirche, wieder verstärkt zur Geltung bringen. 938 erhielt Ottos Bruder, Heinrich, Bayern mit Kärnten, 952 vermehrt um die oberitalienischen Gebiete von Verona, Friaul und Istrien. Dessen Sohn Heinrich, mit dem bezeichnenden Beinamen „der Zänker" (seit 955), benützte aber diese Basis zu Intrigen gegen Otto II., so dass man ihm 976 die beiden Herzogtümer abnahm und getrennt vergab. Zugleich hat man offenbar das nach dem Ungarnsieg auf dem Lechfeld (955) eingerichtete Markensystem neu organisiert und zum Teil mit neuen Leuten besetzt. Es entsprachen jetzt dem Herzogtum Bayern die Mark Ostarrîchi, dem Herzogtum Kärnten hingegen die Karantanische Mark (an der mittleren Mur), die Mark an der Drau, die Mark an der Sann (Savinja, daher „Saunien"), Krain, Istrien, Friaul und Verona. Diese „ottonischen Marken" waren viel kleiner als die karolingischen Grenzgrafschaftskomplexe — es wurde ja auch nur ein kleiner Teil des ehemals karolingischen Herrschaftsgebietes zurückerobert. Außerdem setzte man sie unter verschiedene Grafengeschlechter. O b in der neuen Mark Ostarrîchi möglicherweise die Kontinuität eines bayerischen Grenzgrafen unter ungarischer Oberhoheit (der Markgraf Rüdiger von Bechelaren des Nibelungenliedes!) fortgesetzt wurde, ist ungewiss. Immerhin soll Pöchlarn ja auch nach 955 das erste Zentrum eines Markgrafen Burkhard gewesen sein. Seit 976 erscheint, nach Ablösung Burkhards, ein Graf Luitpold, nach ihm ein Heinrich, dann ein Adalbert — die später so benannten „Babenberger". Dieser „Herrschaftsbereich im Osten" (ostar-rîchi) dehnte sich zwischen 980 und 1005 von dem Gebiet zwischen Enns und (etwa) Traisen, bis über den Wienerwald hin aus. Unter Kaiser Heinrich III. (1039 - 1056) wurde die March-Leitha-Grenze erreicht. Dieser Kaiser hat, offenbar um die Babenberger nicht allzu sehr an Macht gewinnen zu lassen, das neu gewonnene Land in zwei neue Marken gegliedert, die „Neumark" oder „Ungarnmark" im Osten und die „Böhmische Mark" im Norden. Die Neumark fiel bis um 1070 an die Babenberger, ein Rest der nördlichen Mark könnte in der späteren Grafschaft Retz-Hardegg erblickt werden. Die so genannte Karantanische Mark, die dem Kärntner Herzogtum im Osten vorgelagert war, umfasste im 10. Jahrhundert einen 40 bis 50 km breiten Gebietsstreifen zwischen Kor- und Gleinalpe einerseits und dem das Grazer Becken nach Osten abgrenzenden Höhenzug andererseits. Im Norden grenzte sie an die Grafschaft Leoben und im Süden (südlich von Leibnitz) an die Mark an der Drau. Um 1043 wurde die Grenze nach Osten vorgeschoben. Die Mark an der Drau hatte ihren Mittelpunkt wohl in Marburg/Maribor (die „Markburg"). Doch waren große Teile des Gebietes unter der Herrschaft
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des Bischofs von Salzburg (so das wirtschaftliche Zentrum Pettau/Ptuj). Marburg fiel 1147 an die steirischen Otakare. Die Mark Sauniert lag im Sanntal und im Flussgebiet der Krainer Gurk/ Krka. Dieser südliche Teil wurde aber 1036 der Mark Krain angegliedert. In dieser Mark war es eine andere kirchliche Institution, die großen Einfluss ausübte — Aquileja. Daneben waren hier auch noch Freising und Brixen begütert. Auch hier konnte sich keine starke markgräfliche Gewalt entwickeln, ja diese selbst ging schließlich an Aquileja über. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Markgrafen in diesen Gebieten keineswegs von vornherein zu den größten Herren zählten; wer sich in den zur Landesbildung führenden Prozessen erfolgreich durchsetzen würde, war noch keinesfalls klar. Unter den Ottonen und Saliern wurde der Reichskirche ein besonders hoher Stellenwert in der Reichsverwaltung eingeräumt. Auch wenn ein Begriff wie „Reichskirchensystem", der ein hohes Maß an abstrakter struktureller Planung impliziert, vielleicht nicht ganz angemessen ist, so erhielten Bischöfe und Äbte von Reichsklöstern jedenfalls ein hohes Maß an weltlicher Herrschaft übertragen. Diese Herren waren hervorragend ausgebildet und durch ihre Herkunft aus adeligen Familien und durch die Erziehung in der kaiserlichen Kapelle mit dem Hof und seinen Zielen eng verbunden; vor allem bestand keine Gefahr, dass sie die ihnen übertragenen Ämter und Besitzungen (legal) vererben konnten, wie dies bei den weltlichen Amtsträgern seit dem 9. Jahrhundert prinzipiell üblich wurde. Manche Regionen, wie etwa Kärnten, wird man geradezu als bevorzugte Ausstattungsreserve für kirchliche Institutionen bezeichnen können. So gab Heinrich II. nach der Gründung des Bistums Bamberg dem neuen Bischof Villach und das Kanaltal sowie reichen Besitz im Lavanttal (1007). Die Salier schenkten der Reichskirche aber nicht nur reichen Grundbesitz, dem sie meist Immunität einräumten, sondern sie übertrugen ihr nunmehr grundsätzlich öffentliche Funktionen, indem sie verschiedenen Bischöfen königliche Rechte, Regalien, übergaben. Chur erhielt von den Ottonen Forstbann, Zollund Fischereirechte, Salzburg im 10. Jahrhundert Forst, Jagd und Fischerei, unter Otto III. 996 schließlich Marktrechte und Münzregal. Brixen erhielt schon 893 Forstrechte, im 11. Jahrhundert schließlich Befestigungsrechte, Zoll und Wildbann. Freising hatte seit Otto II. und Otto III. Jagd-, Fischerei-, Markt- und Münzrechte bekommen, Passau seit 976 Zollrechte, 999 Markt- und Münzregal. Aquileja bekam im 11. Jahrhundert Befestigungsrechte, Münz- und Wildbannrechte, Augsburg unter Heinrich IV. Wildbann und Münze, Bamberg schließlich von Konrad IV. Markt und Zoll. Diese Übergabe von Königsrechten ist für die spätere Entwicklung äußerst wichtig, steckt doch in diesen Regalien zum einen die rechtliche Basis für die Stadthoheit dieser Kirchenfürsten, zum andern waren sie wichtig für die Erlangung territorialer Herrschaftsrechte, für die (spätere) Landesbildung. Durch diese Aktionen wurden kirchliche Amtsträger zu Trägern von Herrschaftsrechten. Diese Aktionen wurden durch die Übertragung von Grafschaf-
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ten im 11. Jahrhundert gekrönt. Die Freien, die vordem der Graf aufzubieten gehabt hatte, waren aber schon weitgehend verschwunden, zum Teil sogar im Gefolge von Königsschenkungen an Kirchen gelangt (Niederösterreich 985: Übergabe von Freien an den Bischof von Passau). Man kann daher bei den Grafschaften, die an Kirchen übergeben wurden, auch von „Restgrafschaften" sprechen, um die Tatsache einer nur mehr rudimentär bestehenden gräflichen Gewalt zu charakterisieren. Dennoch erscheint vor allem der Komplex militärischer Berechtigungen (Befestigungsrecht!), der mit der Grafschaft verbunden war, als wichtige Voraussetzung besonders von Städtegründungen. Diese Grafschaftsübertragungen betrafen primär das spätere Land Tirol: 1027 erhielt der Bischof von Trient durch Konrad II. die Grafschaften Trient, Vintschgau und Bozen, im selben Jahr bekam der Bischof von Brixen die Grafschaft im Eisacktal, die im Pustertal 1091. Die Immunitäten wurden jetzt immer mehr ausgeweitet — über die den Grundherren unterstehenden Freien hinaus schließlich auch auf andere Personen, die in dem der Immunität unterstellten Bereich lebten (gleich, wem sie grundherrlich unterstanden). Damit war die Immunität von einem auf Personen bezogenen zu einem flächenhaften Prinzip geworden. Es war nur folgerichtig, dass sich nun innerhalb der Immunitätsbezirke selbst eigene Gerichte entwickelten, die häufig dem Grafengericht nur mehr Reste seiner ehemaligen Funktion beließen — die Gerichte der Vögte. Der Vogt (von lat. advocatus) war zunächst Vertreter der kirchlichen Immunität vor dem König bzw. vor dem Grafengericht. Gleichzeitig vertrat er den Immunitätsherrn nach innen im Niedergericht (Geistliche sollten keine richterlichen Funktionen innehaben). Seit der inhaltlichen Anreicherung der Immunitäten wurde er vom Vertreter des Immunitätsherrn gegenüber dem Grafen zum Inhaber militärischer und gerichtlicher Gewalt im Immunitätsgebiet. Als solcher hatte er die Vasallen des Immunitätsherren aufzubieten und wurde Herr eines eigenen Gerichtes. Um 950 hörte man auf, die Übertragung von Besitz an kirchliche Institutionen vor dem gräflichen Gericht zu vollziehen. Man tat dies jetzt vor dem Taiding (der Gerichtsversammlung) des Vogtes. Die Vögte erhielten auch die Chance, eigene Herrschaftsbildung zu entwickeln. Erstens beanspruchten sie Teile des Kirchengutes als Entgelt für ihre Leistungen, zweitens konnten sie sich unbestimmte, oft aber recht beträchtliche Teile des Kirchengutes darüber hinaus aneignen, und drittens war es ihnen möglich, von ihrem bevogteten Gut aus durch Rodung eigene Herrschaften zu bilden. Das setzte voll ein, als die Vogteien im 11. Jahrhundert erblich wurden. Die kirchlichen Quellen des 11. bis 13. Jahrhunderts sind jedenfalls voller Klagen über die Entfremdung von Kirchengut, über Vexationen aller Art, vor allem auch über die Verleihung von Kirchengut, welches die Vögte an ihre eigenen Vasallen weiter gaben. Sieht man das Reichskirchensystem als groß angelegten Versuch des Königtums, seine Herrschaft mit Hilfe der Reichskirche und unter Zurückdrängung des weltlichen Adels zu organisieren, so kann man das Institut der Vogtei als die große Revanchemöglichkeit des Adels bezeichnen. Bischöfe und Äbte
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kamen in aller Regel aus dem hohen Adel. Diese setzten zumeist enge Verwandte als Vögte ihrer Kirche ein (ein Erzbischof von Salzburg, Odalbert, verwendete im 10. Jahrhundert seine eigenen Söhne Otachar, Bernhard und Dietmar als Vögte). Daraus dürfte sich für eine Reihe großer Geschlechter eine wichtige Möglichkeit für den Aufbau eigener Adelsherrschaften ergeben haben. Besonders die seit dem 12. Jahrhundert nachweisbare Neigung der Vögte, auf dem Boden der bevogteten Kirche Burgen zu bauen — und zwar nach dem neuen Modell der Höhenburg ohne Verbindung mit städtischen Funktionen —, hat den Mißmut der Bischöfe und Äbte hervorgerufen. Denn die Burg als Herrschaftszeichen und Herrschaftszentrum war ein deutlicher Ausdruck dafür, wer hier eigentlich der Herr war. Wir können solche Auseinandersetzungen mehrfach genauer verfolgen. So baute etwa Graf Albert von Tirol auf dem Boden des von ihm bevogteten Bistums Chur im Vintschgau die Burg Montani. Der Bischof Berthold protestierte zwar lebhaft dagegen, aber es blieb ihm zuletzt nichts anderes übrig, als 1228 dem Grafen die Burg zu Lehen zu geben, womit er sich eine wenngleich eher theoretische Oberhoheit bewahren konnte. — Ungefähr zur gleichen Zeit stritten die Bischöfe von Freising mit ihren niederösterreichischen Vögten, den Grafen von Peilstein, weil diese die nach einem der Grafen benannte Burg Konradsheim (unweit des späteren Waidhofen an der Ybbs) gebaut hatten. 1215 wurde eine Besitzteilung erreicht; freilich erleichterte das baldige Aussterben der Grafen die Situation. Nicht nur an der Institution der Vogtei scheiterte das Reichskirchensystem schließlich, sondern vor allem auch an der Entwicklung in der Kirche selbst. Die kirchlichen Reformbewegungen seit Cluny fanden es immer unerträglicher, dass weltliche Gewalten — nämlich die Kaiser — Bischöfe und Äbte nach eigener Wahl einsetzten und das Kirchengut vorwiegend oder ausschließlich für ihre Zwecke verwendeten. Daraus erwuchs schließlich jene gewaltige kirchliche Emanzipationsbewegung, die als „Investiturstreit" sicher nur unzulänglich charakterisiert wird — hier ging es ja nicht um Haarspaltereien, wer wem wann irgendein Herrschaftssymbol in die Hand drücken dürfe, sondern dahinter stand die Forderung nach grundsätzlicher Befreiung der Kirche aus der Vormundschaft des Kaisertums. Dieses Interesse (bzw. die Stoßrichtung dieses Interesses) konnte für die Zeit der intensivsten Auseinandersetzungen (ca. 1056 - 1122) auch Kirche und wichtige Teile des Adels zusammenführen. Am Ende steht tatsächlich die Anerkennung der weitgehenden Verselbständigung des weltlichen und geistlichen hohen Reichsadels durch die entsprechenden Gesetze Kaiser Friedrichs II. (1220 und 1231/32). Reichskirchensystem, Immunität und Vogtei haben die hochmittelalterliche Sozialverfassung grundlegend gewandelt. Die alten Raumstrukturen verschwinden fast völlig. Grafschaften und Burgbezirke werden durch Immunitätsbezirke zersetzt und ersetzt. Diese Bezirke erhalten häufig neue Mittelpunktorte (gerade die geistlichen Reichsfürsten erscheinen in Österreich häufig als Inhaber
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von Städten — darauf wird noch einzugehen sein). Es kommen schließlich noch die Herrschaftsbildungen der Vögte hinzu, deren Bau von Höhenburgen der Landschaft erst jene pittoreske „Mittelalterlichkeit" verlieh, die wir bis ins 12. Jahrhundert noch so schmerzlich vermissen. Die größeren unter den Vögten leisteten aber auch Ernsthafteres, sie gründeten ebenfalls, wie ihre Immunitätsherren, Städte oder zumindest Märkte („Voitsberg" verweist auf eine derartige Tätigkeit eines Vogtes). Auch die traditionelle Gerichtsverfassung erscheint gründlich gewandelt. Die Immunitätsbezirke werden zu eigenen Gerichtssprengeln. Die späteren, seit dem 13. Jahrhundert auftretenden Landgerichte dürften häufig auf solche Vogteigerichte zurückgehen. Die stete Konkurrenz zwischen Immunität und Vogtei, aber auch zwischen einzelnen Vögtegeschlechtern, beförderte bei dem zwangsläufigen Landhunger aller Beteiligten nicht nur Entfremdungen, Fehden und Überfälle aller Art, sondern auch Rodung und Kolonisation.
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Kolonisation und neue Sozialformen
Die Periode vom 11. bis zum 13. Jahrhundert war eine Zeit äußerst weitreichender Umwälzungen. Um 1000 waren weite Gebiete Österreichs noch unbewohnt oder allenfalls dünn besiedelt. Im heutigen Oberösterreich, im nördlichen Salzburg, in Teilen Tirols sprachen diese wenigen Menschen einen bairischen Dialekt, weiter östlich und südlich zumeist slawische Dialekte, im südlichen Tirol und Vorarlberg romanische Idiome. Bis um 1300 aber wurde eine Siedlungsdichte erreicht, die an manchen Stellen höher war als heute. Die Kulturlandschaft, wie sie uns (noch immer) geläufig und gegenwärtig ist, mit ihrer Verteilung von Wäldern, Ackerland und Weideflächen, ist in den Grundzügen damals entstanden. Bis um diese Zeit hat sich auch das bayerische Sprachgebiet weit ausgedehnt, wenn auch Kärnten, Steiermark, Tirol und Vorarlberg (hier Alemannisch und Rätoromanisch) noch zweisprachig waren. Aber auch die Städtelandschaft ist in ihren Grundzügen ein Produkt dieser Zeit. Um 1000 gab es gerade einige bescheidene Burgzentren (Salzburg, Enns, Krems). Um 1300 bestanden schon die meisten Städte, die wir heute kennen — wenn man von den Veränderungen durch die Industrielle Revolution absieht. Das weist aber auch auf eine enorme Verdichtung des Handels, des Handwerks und des Verkehrs hin, die inzwischen stattgefunden hatte. Parallel zum hohen Bevölkerungswachstum machte die Arbeitsteilung große Fortschritte. Und die schlug sich eben primär im Städtewesen nieder. Aber auch die sozialen Organisationsformen und Beziehungen des bäuerlichen Bereiches hatten sich gewandelt. Waren um 1000, mit dem Verschwinden der alten „Freien", die großen Massen der landbebauenden Bevölkerung in strengen Abhängigkeiten von ihren Herren gestanden, so ergaben sich im Laufe der Kolonisation vielfältige Möglichkeiten zur Verbesserung dieses Status. Es entstand der Typus des Bauern, der, zwar zu Abgaben verpflichtet, doch sein eigenes Hauswesen
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bestellen konnte. Ländliche Gemeindeformen begannen sich herauszubilden. Ein Pfarrnetz hatte sich entwickelt, welches für Gruppenbildung und gesellschaftliche Kontakte einen zentralen Stellenwert erlangte. Selbst die Zeitgenossen, denen ja ein ausgesprochenes Interesse für gesellschaftliche Beziehungen mangelte, begannen diesen Wandel zu bemerken. Waren bis ins 10. Jahrhundert die gesellschaftlichen Positionen mit einfachen Gegensatzpaaren wie „servus et dominus", „pauper et dives", „indoctus et eruditus", „infirmus et fortis" (Sklave und Herr, arm und reich, ungelehrt und gebildet, schwach und stark) ausgedrückt worden, die im Wesentlichen die alte Gegenüberstellung „frei" und „unfrei" reflektierten, so änderte sich dies seither. Man stellte sich nun die Christenheit in drei „ordines" geteilt vor, in jenen der „oratores" (Weltklerus und Mönche), den der „bellatores" (Krieger, also Ritter) und jenen der „laboratores", der arbeitenden Bevölkerung, die man sich freilich noch ausschließlich als agrarische dachte. Die drei „ordines" wurden in ihrer jeweiligen Leistung auf die beiden anderen bezogen — die Geistlichen hatten für die anderen zu beten, die Ritter die beiden anderen zu beschützen und die „laboratores" die beiden anderen zu ernähren. Daran stimmte so viel, dass geistliche und weltliche Feudalherren von den Überschüssen lebten, die ihnen die Bodenbebauer abzuliefern hatten. Aber auch in der Schutzfunktion der ritterlichen Kräfte ist nicht bloß krasse Ideologie und sinnlose Harmonisierung zu sehen: Denn der Feudalherr, der seine für seinen Unterhalt sorgenden Untertanen nicht zu schützen vermochte, verlor deren Erträge mit Sicherheit an seine feudalen Konkurrenten und büßte damit seine Herrenstellung ein. Und die gesamtgesellschaftliche Leistung der Geistlichkeit wird nur gering schätzen können, wer die sinnstiftende und weltinterpretierende Leistung für unerheblich hält und wer übersieht, dass in einer Gesellschaft voller Mühsal, Plage und Not das Interesse an den Dingen, die „nicht von dieser Welt" sind, wesentlich stärker war als heute. Die neue Nomenklatur zeigte aber keineswegs schon so etwas wie „Klassenbildung" oder eine ausgesprochene und durchgehende neue soziale Schichtung an. Das hieße, die im Allgemeinen noch kleinräumigen und nach dem Prinzip des Personenverbandes organisierten gesellschaftlichen Figurationen des Hochmittelalters viel zu sehr durch die Brille des modernen Flächenstaates zu sehen. Viel eher sind die hier vorgeführten „ordines" Sozialtypen und noch nicht Mitglieder einer neuen Schicht oder Klasse. Außerdem ist nicht zu übersehen, dass die Theorie von den drei „ordines" zwar den großen sozialen Wandel thematisiert, aber keineswegs zureichend auf den Begriff bringt oder bringen will. Die überaus großen Unterschiede zwischen den sehr verschiedenen materiellen und herrschaftlichen Positionen, die innerhalb dieser „ordines" möglich waren, erscheinen dadurch ebenso wenig angesprochen wie die fortschreitende Arbeitsteilung und Urbanisierung: „laboratores" waren primär noch die landwirtschaftlich arbeitenden Menschen, noch nicht die seit dem 12. Jahrhundert immer zahlreicheren Handwerker. Auch überregional tätige Händler, die ja weder „laboratores" noch Krieger waren, passen nicht in dieses Schema.
Kolonisation und neue Sozialformen
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Der große, jene Jahrhunderte kennzeichnende Wandlungsprozess ist nämlich gleichzeitig von einer erstaunlichen Stabilität gekennzeichnet. Der Feudalismus wurde nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Noch lange blieb die Grundherrschaft zentraler Baustein in diesem Gesellschaftsaufbau. Sie änderte sich zwar auch, blieb aber bestehen, ja nun erst (und zwar in einem Prozess, der bis ins 12. Jahrhundert dauerte) wurde sie zum allumspannenden Rahmen für die ländliche Gesellschaft. Wenn auch der „Bauer" als eigenständiges Wirtschaftssubjekt, aber in grundherrlicher Abhängigkeit, sich erst in dieser Zeit entwickelte, so konnte dieser Bauer doch die Abhängigkeit nicht abstreifen, auch wenn diese ihre drückendsten Formen verlor. Es scheint dies mit einer Wende des Bodenmarktes zusammenzuhängen. Während der großen Kolonisationsperiode suchten die Herren Bauern, um auf diese Weise ihre eigenen Ressourcen zu erweitern und ihre Position abzusichern. Als das Land im Wesentlichen besiedelt war, wuchs die Bevölkerung weiter. Nun konkurrierten aber nicht mehr die Grundherren um Bauern (denn es gab genug), sondern die Bauern um das Land. Das führte nach einer langen Periode langsamer, aber merklicher Besserstellung der bäuerlichen Position zu einer Verschlechterung. Im späten 13. und frühen 14. Jahrhundert scheint es daher auch zu einer Verschärfung der bäuerlichen Abhängigkeit gekommen zu sein. Im Laufe dieser drei Jahrhunderte änderten sich die Herrschaftsbeziehungen und das großräumige Gruppenbewusstsein. In der Phase des feudalen Aufbruches, vor allem während der Herrschaft des Reichskirchensystems, verloren die alten Herzogtümer ihre Bedeutung. Durch die Ersetzung des Stammesaufgebotes durch das Lehensaufgebot — und das hieß in erster Linie das Aufgebot der Reichskirche, besonders für die Italienzüge seit Otto I. — wurde dem Herzogtum die zentrale Funktion genommen. Die Landausstattung der diversen Bistümer und Klöster beraubte die Herzöge in Bayern und Kärnten großer Teile des königlichen Gutes als ihrer Herrschaftsbasis. An die Stelle der großräumigen, aber nur extensiv beherrschten Herzogtümer traten eher kleinteilige Herrschaftsbereiche der verschiedenen Herren (der Bischöfe, Markgrafen, Grafen, Vögte, sonstigen Adeligen). Aus der heftigen Konkurrenz dieser Herren untereinander gingen wieder neue, größere Gebilde hervor, die sich schließlich in den Ländern des späten 12. und 13. Jahrhunderts zu neuen Verbänden von großer Beständigkeit verfestigen sollten. Will man die quantitative Seite der Kolonisationsbewegung auf österreichischem Boden beurteilen, so ist man auf Schätzungen angewiesen. K. Klein vermutet, dass in der Kolonisationsperiode ungefähr 100.000 Siedlerstellen geschaffen wurden und somit im 13. Jahrhundert etwa 500.000 Menschen mehr hier leben konnten als am Beginn dieser Periode. Niederösterreich (mit Wien), im 13. Jahrhundert eines der am dichtesten besiedelten Länder und wohlhabendsten Gebiete des ganzen Hl. Römischen Reiches, hatte damals 70.000 Häuser — ungefähr 350.000 Einwohner. Der Alpenraum war damals noch relativ dünn besiedelt, so dass die Gesamteinwohnerzahl des heutigen Österreich
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wahrscheinlich 700.000 bis 900.000 nicht überschritt (im 16. Jahrhundert waren es ungefähr 1,5 Millionen). Um 1000 hatten im gesamten heutigen Österreich höchstens 200.000 bis 250.000 Menschen gelebt.
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Grundherrschaft und bäuerliche Abhängigkeit
Von der Karolingerzeit bis ins 11. Jahrhundert wurde die — überwiegend bajuwarische— Kolonisation im heutigen Österreich von Grundherrschaften organisiert. Grundherrschaften bestanden aus einigen größeren Höfen und vielen Meierhöfen, auf denen Unfreie (servi, mancipia) arbeiteten. Im 11. und 12. Jahrhundert trat die Eigenwirtschaft zurück. Erfolgte die Abschöpfung der agrarischen Erträge bislang in Form von Arbeitsrenten, so trat nun die Produktrente und bald auch die Geldrente in den Vordergrund. Man nennt die neue Form der Grundherrschaft daher auch Rentengrundherrschaft. Die Meierhöfe wurden an Bauern vergeben und dabei häufig aufgeteilt — aus einem Meierhof wurden zwei, zumeist drei oder mehr bäuerliche Huben oder Lehen. Orte mit dem Ortsnamen „Maierhöfen" (oder ähnlich) sind daher sehr oft kleine Weiler, welche die Zerschlagung der älteren Meierhöfe sehr schön dokumentieren. Diese Entwicklung setzte im Osten früher ein als im Westen. Wahrscheinlich hat der Weinbau im östlichen Österreich und das rasche Wachstum von Wien zu diesem eigenartigen Vorsprung des Kolonisationsgebietes vor dem Altsiedelland mit seinen konservativeren Strukturen beigetragen. Daher erschien es im 12. und frühen 13. Jahrhundert für die Grundherren günstiger, von Bauern Geldabgaben einzufordern, als selbst mühsam das in Eigenregie produzierte Getreide und Vieh zu vermarkten. Das musste nicht immer so sein — im 16. und 1 7. Jahrhundert haben die Grundherren in einer ähnlichen Konjunkturlage ganz anders reagiert. Aber die Grundherren des Hochmittelalters waren, obgleich ökonomisch sicher nicht dumm, doch nicht in erster Linie dazu erzogen, Gewinne zu erwirtschaften. Die mit wachsender Geldwirtschaft sich eröffnende Möglichkeit, Geldrenten einzuheben, die wesentlich einfacher zu handhaben waren, wurde von ihnen offenbar genützt, um sich weniger um ihre Wirtschaft kümmern zu müssen. Der Grundherr war, soweit nicht Geistlicher, eben primär ein ritterlicher Held — und offenbar besteht ein Zusammenhang zwischen dem glanzvollen Höhepunkt ritterlicher Kultur und der erweiterten Verfügbarkeit von Geld, welche diese Wirtschaftsform den Grundherren bot. Der Grundherr war Chef einer „familia". Im 11. und 12. Jahrhundert dürfte „familia" der zusammenfassende Begriff für alle Herrschaftsabhängigen eines gewissen Herrn gewesen sein. Z u diesen Abhängigen konnte ein sehr breiter Personenkreis gehören — Geistliche und Weltliche, Männer und Frauen („familiae utriusque sexus"), Kriegerische und Nichtkriegerische. Man muss bei „familia" jedenfalls auch die kriegerischen Gefolgsleute, die Lehensleute, später auch die Ministerialen, mitdenken. Zur „familia" zählen die für die täglichen Dienstleistungen verwendeten Knechte und Mägde im Hause genauso wie die Eigenleute auf besonderen landwirtschaftlichen Betrieben, zur „familia" zählen
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Kleriker und Laien. Dazu gehörten auch jene Leute, die den gehobenen Verwaltungsdienst besorgten und schließlich die Kriegsleute, die ihre Verpflichtung zu Pferde und also ritterlich erledigten. „Familia" erweist sich als vielfach abgestuft— es gab in der „familia" eine Prestigeskala, die von den zur täglichen Knechtsarbeit („werchart") Verpflichteten hinaufreichte bis zu jenen, die Ritterstatus innehatten oder anstrebten. Zur „familia" gehören auch Amtsträger, die durch einen gehobenen Dienst, ein „ministerium" besonderer Art, hervorgehoben erscheinen. Dem entspricht auch bald ein besonderes „ius ministerialium", ein besonderes Ministerialenrecht. Neben einer gehobenen Verwaltungstätigkeit — besonders in Städten konnten solche Ministerialen über die Verwaltung von Zöllen und sonstigen Einkünften Reichtümer sammeln und Verbindungen zur Gruppe der Händler und Großkaufleute anknüpfen — kam hier vor allem der ritterliche Dienst in Frage. Und der bedeutete in einer Gesellschaft, in der das traditionelle HeldenIdeal noch voll wirksam war, einen wichtigen Schritt zu einer adeligen Position. Die Ministerialen, der durch besondere Aufgaben und seit dem 11. Jahrhundert häufig auch besonderes Recht hervorgehobene Teil der „familia", beanspruchten zunehmend adelige Qualität. Erstmals im 12. Jahrhundert begegnen „nobiles ministeriales". Wie hoch der Ministeriale steigen konnte, hing mit der Position seines Herrn zusammen. Ein Ministeriale des Königs galt natürlich mehr als ein Ministeriale eines Grafen. Noch die ziemlich eingebildeten „Dienstherren" im Österreich des 13. Jahrhunderts konstruierten verschiedene Zusammenhänge mit dem Reich, um ihren besonderen Status zu unterstreichen. Jedenfalls ging aus der Ministerialität des Kaisers und aus der Ministerialität jener großen Feudalherren, die wir seit dem 13. Jahrhundert als „Landesfürsten" bezeichnen, der allergrößte Teil des höheren Adels des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit hervor. Woher aber kamen die Unfreien? Zum Teil sicher aus der Selbst-Reproduktion und der Erweiterung der unfreien Gefolgschaft infolge von standesungleichen Heiraten, denn bei solchen galt der Rechtssatz, dass die Stellung der Kinder der „ärgeren Hand" entsprach. Sehr lange hatte aber auch die nackte Gewalt eine große Bedeutung bei der Rekrutierung von Unfreien. In einer Lebensbeschreibung des Salzburger Erzbischofs Konrad (ca. 1170/77) heißt es nämlich: „... distractio et venditio hominum utriusque sexus quae antiquitus usitata exstitit, nunc rarissima et inaudita sit..." [Raub und Verkauf von Menschen beiderlei Geschlechtes waren von altersher durchaus üblich, erscheinen jetzt aber als überaus selten, ja unerhört]. Erst in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts erachtete man es also für seltsam, ja unerhört, dass man Menschen beiderlei Geschlechts einfach raube und verkaufe — bis dahin aber muss diese relativ altertümliche Form der Ergänzung der unfreien Mannschaft durchaus üblich gewesen sein! Nun erst trat die Unfreiheit in ihrer Bedeutung zurück (aber noch in der Mitte des 13. Jahrhunderts hatten bayerische Klöster bis zu einigen hundert solcher „servi" auf ihren Höfen!). Um 1200 teilte man die „familia" in folgende
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Gruppen ein: „... coloni in praediis, ... ministeriales, ... proprii, ... censuales ...", also in Bauleute auf den landwirtschaftlichen Betrieben, in Ministerialen, in Eigenleute und in Zensualen. Schon gingen die Ministerialen daran, ihr hohes soziales Selbstbewusstsein in wachsende Emanzipation von der „familia" umzusetzen. So waren die Ministerialen des steirischen Herzogs bereits 1186, als die Nachfolge der Babenberger nach dem letzten Otakar vereinbart wurde, sehr darauf bedacht, dass ihre Stellung dadurch nicht beeinträchtigt würde: In der sog. „Georgenberger Handfeste" ließen sie sich ihre Rechte ausdrücklich verbriefen. Was bleibt, ist die bäuerliche Untertanenschaft im engeren Sinne. Die zerfiel nach wie vor in die bekannten Kategorien der Eigenleute, Zensualen und Bauleute, aber diese Kategorien verloren mit der langsamen Reduktion der „familia" auf die bäuerliche Untertanenschaft (und auf das eigentliche Hausgesinde) an differenzierender Bedeutung. So konnte man um 1250 in Reichersberg am Inn feststellen, dass die Unterschiede zwischen den verschiedenen Rechtsstellungen den Leuten nicht mehr so recht bewusst seien, dass sie nicht mehr wüssten, ob sie „proprietario vel institutorio seu etiam censuali" (iure), ob sie also zu Eigenrecht, zu Stiftrecht oder zu Zensualenrecht dem Stift Untertan seien. Das „Stiftrecht" bedeutete eine Untertänigkeitsform, die primär die leihweise Überlassung von Boden zu dessen Bearbeitung bedeutete. Unter solchen Leiherechten waren die für die Bauern lästigsten die „freie Stift" oder auch „Freistift", die dem Grundherrn eigentlich jederzeit (und mindestens Jahr für Jahr) die „Abstiftung", also die Entfernung des Bauern von Haus und Grund, erlaubte. Tatsächlich war im Zuge der hochmittelalterlichen Kolonisation eine gesellschaftliche Innovation geschehen, nämlich die Entstehung der faktisch einheitlichen, herrschaftlich abhängigen, aber ökonomisch selbständigen Bauernschaft. Das Ergebnis dieser Angleichungsprozesse ist der Bauer, für dessen soziale Einschätzung es nicht mehr so sehr erheblich ist, welches Recht ihm zugeschrieben wird, sondern nur mehr, ob er eine große oder eine kleine Wirtschaft hat, ob er viele oder wenige Abgaben zu leisten hat und wie seine Position in Gemeinde, Dorf und Pfarre aussieht. Dieser grundherrlich abhängige Bauer hatte eine Hube (oder Hufe) inne, später auch eine halbe oder eine Viertelhube. Einer etwas jüngeren Schicht dürfte hingegen der Begriff„Z.ehen"für bäuerlichen Besitz angehören, der eher im Osten des Kolonisationsgebietes auftritt (auch existierten halbe oder Viertellehen). Das „Lehen" dürfte im Allgemeinen mit einer weniger drückenden Abhängigkeit des Bauern verbunden gewesen sein. Zwischen bäuerlichen und Ritterlehen waren im 13. Jahrhundert die Übergänge durchaus fließend. Schon früh lockerte sich die strenge Bindung Lehensherr — Gefolgsmann. Ritter konnten von verschiedenen Herren Lehen nehmen und gingen dementsprechend oft nur recht begrenzte Verpflichtungen ein. Allerdings hat die ritterlich-kriegerische Gesellschaft des Hochmittelalters ihr eigenes Prestigegefüge mit Hilfe lehensrechtlicher Vorstellungen zu ordnen gesucht. Eine solche Vor-
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Stellung war der „Heerschild", der vom Kaiser bis zum kleinsten Ritter alle ritterlichen Kämpfer umfasste. Dabei war der Kaiser der oberste Lehensherr, in den deutschen Landen des Hochmittelalters freilich eingeengt durch den Leihezwang, also durch die Verpflichtung, heimgefallene Lehen wieder auszugeben. Letzter in dieser Skala war der bloß „einschildige", weil nur mehr passiv lehensfähige Ritter (der „miles" des 13. Jahrhunderts), während die über ihm rangierenden Kategorien des entstehenden Herrenstandes eben deshalb so benannt wurden, weil sie Lehens-Herren sein konnten und häufig auch beachtliche Lehenhöfe ihr eigen nannten. Da die Begriffe „beneficium" und „feudum" beide „Lehen" bedeuten und sowohl ritterliche wie bäuerliche (Zins-)Lehen bezeichnen konnten, war der Status der Lehensinhaber oft nicht genau abgrenzbar. Größere Zinslehen, vielleicht aus Meierhöfen entstanden, konnten unter Umständen auch einer ritterlichen Existenz als Basis dienen. Auch in der satirischen Dichtung ist diese soziale Übergangszone verschiedentlich angesprochen worden, etwa im „Seifrid Helbling" oder im „Meier Helmbrecht". Die Hube (bzw. das Lehen) war nicht nur eine Einheit, von der Abgaben zu entrichten waren, sondern sie mußte auch eine bäuerliche Hausgemeinschaft erhalten. Da der Hubeninhaber dem Grundherren gegenüber zur Ablieferung von Renten bzw. zur Leistung von Diensten (Frondienst, in Österreich später meist „Robot" genannt) verantwortlich war, stärkte dies seine Position im Haus. Damit dürfte auch die sukzessive Auflösung der früher häufigen „Gemeinerschaften", der gemeinsamen Haushalte und des gemeinsamen Wirtschaftens mehrerer bäuerlicher Kernfamilien einhergehen. Sie bestanden relativ lange nur noch als Sonderformen, so vor allem in Osttirol. Durch die wachsende Einheit von abgabenverpflichteter Wirtschaft und bäuerlicher Kernfamilie trug die so genannte „Hufenverfassung" sehr stark zur Herausbildung jener europäischen Familienform bei, dem „european marriage pattern", in der Heirat, Hausstandsgründung und Hofübernahme zusammenfielen, oder umgekehrt Heirat und Hausstandsgründung zunehmend nur möglich waren, wenn eine Hofstelle (Hube oder Lehen bzw. jener Bruchteil, von dem eine Familie noch leben konnte) frei war. Da die entsprechende Abgabenleistung für die Grundherrschaft nur durch kräftige Bauersleute garantiert erschien, dürften die Herrschaften ältere Bauern zur Übergabe an die jungen gedrängt haben. Das war bei Leibeigenen und Freistiftern sowieso jederzeit und leicht möglich. So dürfte die Hufenverfassung nicht nur die bäuerlichen Familienformen, sondern auch die Entwicklung des Ausgedinges nicht unerheblich beeinflusst haben. Der Zusammenhang von Hubenverfassung und mittel- bzw. westeuropäischer Familienform reicht etwa soweit nach Osten wie die mittelalterliche Kolonisation. Mit dem Fortschreiten der Kolonisation änderte sich auch die ländliche Siedlungsweise. Es hat den Anschein, als seien die bäuerlichen Siedlungen immer größer und regelmäßiger geworden. An die Stelle von kleinen Weilern oder Haufendörfern traten Straßen- oder Angerdörfer. Freilich warnen die Ergebnisse der Mittelalterarchäologie davor, Dorfgrundrisse des 18. oder 19. Jahr-
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hunderts unbesehen ins Mittelalter zurückzuprojizieren. Im 13. Jahrhundert waren die bäuerlichen Behausungen zumeist bescheidene Hütten, die noch nicht einmal als Häuser („domus") galten, sondern zur Fahrhabe des Bauern gerechnet wurden. Es scheint auch so, als wären nicht wenige Straßendörfer zunächst nur Zeilendörfer (bestehend aus einer Häuserzeile) gewesen, die erst in späteren Jahrhunderten (vielleicht im 16. Jahrhundert) zu Straßendörfern ergänzt wurden. Man wird also die „Verdorfung" zwar als Tendenz festhalten können, aber nicht erwarten dürfen, dass das Hochmittelalter schon die großen und regelmäßigen Siedlungen späterer Jahrhunderte hervorbrachte. Jedenfalls vergrößerte sich das bebaute Land, unter den Produkten der Landwirtschaft wurde das Getreide immer bedeutsamer („Vergetreidung"). Die wachsende Bevölkerung konnte nur dann genügend Nahrung finden, wenn die Flächen intensiver ausgenützt wurden. Das war der Fall, wenn an die Stelle der Weidenutzung die Nutzung des Bodens für den Getreideanbau trat — man kann von derselben landwirtschaftlichen Bodenfläche über das gewonnene Getreide ein Mehrfaches an Bevölkerung gegenüber der bloßen Weidenutzung ernähren.
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Die Landesentstehung
Der Prozess der feudalen Konkurrenz erhielt im Zuge des hochmittelalterlichen Landesausbaues eine neue Dimension. Auf der Basis von Grundbesitz und Herrschaftsrechten (besonders über Reichskirchengut) entstanden seit dem 11. Jahrhundert neue Adelsherrschaften. Als Zentren dieser Adelsherrschaften erscheinen häufig Burgen, und zwar nicht mehr Burgen als Vorgängerformen der späteren Städte (oder doch nur mehr selten), sondern Höhenburgen, die anfangs freilich nur wenig über dem Talboden und der Siedellandschaft lagen (erst später kletterten die Adelssitze höher hinauf). Neu war ferner, dass sich die adeligen Besitzerfamilien jetzt stärker formierten, dass ein bestimmtes Familien- bzw. Geschlechtsbewusstsein entstand und dass dieses Familien- bzw. Geschlechtsbewusstsein häufig mit einer bestimmten Burg und (oder) mit einem bestimmten Kloster in Zusammenhang stand, das nicht selten als Grablege von diesem und für dieses Geschlecht gegründet worden war. Damit war zunächst auch die erbliche Vogtei verbunden, die die Herrschaft der Adelsfamilie über dieses Kloster sichern sollte. Freilich erwiesen sich die Adelsherrschaften des 11. und frühen 12. Jahrhunderts noch als relativ instabil. Große Herrschaftsbereiche wie die der Weifen im schwäbisch-bayerisch-tirolischen Raum oder die der Eppensteiner im kärntnerisch-steirischen Bereich sind wieder zerfallen. Viele große Geschlechter starben aus. Dieses große Geschlechtersterben des 12. und 13. Jahrhunderts musste jedoch den übrig bleibenden Herren zugute kommen. Gegenüber einer Vielzahl konkurrierender Mächte um 1100 zeigte eine Karte um 1200 schon eindeutige Verhältnisse vor allem auf dem Gebiet der Steiermark, wo die Landesbildung im 12. Jahrhundert erfolgreich ablief, und ziemlich eindeutige in Öster-
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Die Landesentstehung
reich (im Wesentlichen das heutige Niederösterreich). Um 1230 würde sie für Österreich sowie die Steiermark bereits einen weithin geschlossenen Herrschaftsblock der Babenberger zeigen, während in Kärnten der Spanheimer nur im Zentralraum durchdrang. Um 1300 gab es im Ostalpenraum schon nur mehr zwei Familien mit effektiven Machtchancen, die Habsburger mit Österreich und Steiermark und die Görzer als Herren von Tirol, Kärnten, Krain und Görz. Die geistlichen Fürsten und die überdauernden freien Herren (etwa die Herren von Sanneck, die späteren Grafen von Cilli, die Ortenburger, die Schaunberger, die Hardegger) waren demgegenüber schon deutlich Herren zweiter Kategorie.
Graphik 2: Beginn der Landesbildung — 12. lahrhundert
BÄUERLICHE
GEMEINDEN
Die Graphik soll die noch vorherrschende „feudale Zersplitterung" verdeutlichen. Der Integrationsvorgang hat zwar schon gewisse Erfolge und jedenfalls schon ein wirksames Instrumentarium aufzuweisen (Ministerialen, Vogtei über Klöster, Herrschaft über Städte), aber noch immer stehen ein älterer Hochadel sowie die Reichsbischöfe und klöster bzw. deren Besitz weitgehend außerhalb der Herrschaftssphäre des Markgrafen oder Herzogs. Es ist eine Zeit der Kolonisation — noch ist die Bevölkerung dünn, sie wächst aber rasch.
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Feudalismus — Kolonisation — Landesbildung
Zugleich veränderten sich die neuen, großen Gebietskomplexe in ihrer Binnenstruktur. Man hat für die älteren Herrschaftsverhältnisse von einem „Personenverbandsstaat" gesprochen, für die spätmittelalterlich-neuzeitlichen von einem „institutionellen Flächenstaat". Für die im Hochmittelalter neu entstandenen Einheiten wäre es vielleicht günstig, von einem „territorialisierten Personenverbandsstaat" zu sprechen. Denn einerseits sind diese neuen „Länder" viel stärker als ältere politische Einheiten auf eine bestimmte Fläche, auf ein bestimmtes Territorium bezogen. Andererseits entspricht den neuen Ländern jeweils ein Personenverband, der noch durchaus nicht mit der Einwohnerschaft identisch ist: Es sind in erster Linie die Ministerialen der Landesfürsten, dann aber auch die diesem unterstehenden niederen Ritter, ferner die ritterlich-bürgerliche Oberschicht der Städte, die gemeinsam den Personenverband des Landes (die Österreicher, die Steirer) ausmachten. Wachsende Arbeitsteilung, wachsender Austausch und ein wachsendes Bedürfnis nach überregionaler Kommunikation hängen eng zusammen. Der Warenaustausch auf den diversen Märkten, die Marktimmunität, aber auch der Warentransport selbst erheischten größeren Schutz. Es ist verständlich, wenn sich der Handel an jenen großen Burgflecken oder Städten orientierte, die großen und machtvollen Herren unterstanden, welche diesen Schutz tatsächlich zu gewähren imstande waren. Und es ist ebenso verständlich, dass auch der erweiterte Verkehr sich lieber jener Straßen bediente, von denen man wußte, dass sie von mächtigen Herren geschützt waren. Nicht zufällig gehörten die Erbauer von Hospitälern an den Passstraßen genau zu diesem Typus von Herren: Ausbau und Schutz von Straßen und Pässen, Städten und Märkten konnten nur die größten Herren leisten. Diese Leistung verlieh diesen großen Herren ein weiteres Übergewicht über ihre Konkurrenten. Denn die Städte und die Mautstationen an den diversen Pässen und Straßen brachten wiederum Einnahmen, noch dazu in Geld. Geldeinkünfte waren aber besonders wichtig, wenn es darum ging, die Landesbildung zu vollenden. Hatte man Geld, so konnte man statt feudaler Lehensleute Söldner bezahlen, deren großer Vorteil in ihrer beliebigen Verwendbarkeit bestand. Und mit Geld konnte man zur Abrundung der territorialen Basis wichtige Positionen käuflich erwerben — noch dazu, wo eben dieses Geld den ärmeren (und auf ihre agrarische Basis beschränkten) Konkurrenten nur begrenzt zur Verfügung stand. So haben die Markgrafen (bzw. seit 1156 Herzöge) von Österreich, die sog. „Babenberger", durch Kauf beispielsweise die Grafschaft Raabs in Niederösterreich, Wels, Linz und wichtige Herrschaften nördlich der Donau erworben. Ganz ähnlich ging Meinhard II. von Görz-Tirol in der Endphase der Landesbildung von Tirol vor. Auch er hat eine ganze Reihe von Adelsgeschlechtern einfach ausgekauft. Die Städte brachten aber nicht nur Geld, sondern auch militärische Potenzen. Umgekehrt muss gerade diese wachsende militärische Bedeutung mit ins Kalkül gezogen werden, will man erklären, warum im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts neben die „Landherren" (die Ministerialen des Landes, nur mehr wenige Grafen) nun auch die Ritter und Städte treten, wenn der Landesfürst mit
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„seinen" Leuten (dem Personenverband des Landes) wichtige Dinge des Landes (etwa einen Landfrieden) berät und verfügt. Militärisch-ritterliches Potential, das im Verlaufe der Landesbildung von Bedeutung war, konnte man zunächst in der Ministerialität finden. Die militärisch-verwaltungsmäßige Führungsgruppe der „familia" jener Herren, die im 12./13. Jahrhundert zu „Landesfürsten" wurden, spielte in diesem Prozess eine ganz enorme Rolle. Sie waren die wichtigsten Träger der Landesbildung. Mit ihrer Hilfe bestritt der werdende Landesfürst seine militärischen Konfrontationen. Sie verwendete er im Siedlungsausbau, ihnen übertrug er die Verwaltung wichtiger Positionen: die Position von Burggrafen der wichtigsten Burgen, Richterämter und die Untervogtei über bevogtete Kirchen und Klöster. Vor allem dadurch gelangten diese Ministerialen auch zum Recht des Burgenbaues und zu guter Letzt zu voller adeliger Herrenstellung. Aus den „ministeriales ducis", den Dienstleuten des Herzogs, wurden „ministeriales terrae", Dienstleute des Landes (in Österreich etwa vereinzelt schon vor, ständig aber seit 1246). Aus den „Dienstmannen" wurden im Deutschen „Dienstherren" und schließlich noch im 13. Jahrhundert „Landherren". Die Landesbildung war also ein Vorgang, in dem die Gruppe der Ministerialen des zum Landesfürsten gewordenen Herren Herrschaftsrechte erlangte und zur führenden Adelsschicht werden konnte. Die Ministerialen und „milites" (niedere Ritter) erfuhren — durchaus analog zu den älteren Schichten feudaler Funktionsträger im 9. bis 11. Jahrhundert — eine partielle Emanzipation, die sie letztlich in adelige Positionen brachte. Im „Herrenstand", der oberen Adelskurie der Landtage des Spätmittelalters, saßen nur mehr vereinzelt alte, freie Adelsgeschlechter, ihre große Masse bestand aus den Nachkommen ehemaliger Ministerialen. Diese Ministerialität wurde im Landesbildungsprozess dadurch erweitert, dass man vereinzelt freie Adelige in die Ministerialität lockte und dass der Landesfürst die Gefolgschaft der unterlegenen adeligen Konkurrenz an sich zog. Diese letzteren Gruppen verschmolzen schließlich mit den Rittern in und um die alten Burgstädte zum „Ritterstand" des Spätmittelalters. Solche landesfürstlichen „Ritter" wurden im späten 13. Jahrhundert vom Landesfürsten ebenfalls schon zu Beratungen mit herangezogen. Auch diesen kleinen, „einschildigen" (weil nur mehr passiv, nicht aktiv lehensfähigen) Rittern ist also im Prozess der Landesbildung sozialer Aufstieg gelungen — freilich nur, wenn sie landesfürstliche Ritter waren (oder wurden). Dieser Prozess des sozialen Aufstieges verweist aber auf den zentralen Aspekt aller dieser Vorgänge. Sozialer Aufstieg im Mittelalter ist ja in einen anderen Rahmen eingebettet als im 20. Jahrhundert. „Aufstieg" kann heißen, dass ein Mitglied einer „familia" aus einer Position mit täglicher, „serviler" Arbeitsverpflichtung in eine Position ohne diese, aber mit Zinszahlung gelangte oder schließlich sogar in eine Position, die mit der Verpflichtung zum prestigemäßig am höchsten rangierenden ritterlichen Dienst verbunden war. „Aufstieg" kann aber auch heißen, dass die „familia" eines freien Herrn oder Grafen nach dessen Tod an einen größeren Herren, etwa einen Babenberger, fiel und die „familia"
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nun als ganze Gruppe am höheren Sozialprestige dieses Geschlechts partizipieren konnte. Dieser Übergang an die (werdenden) Landesfürsten barg natürlich eine Reihe weiterer Chancen in sich: Man konnte am Hofe eines solchen großen Herren ja verschiedene höhere Positionen im Hofdienst erreichen. Vor allem dies, der Übergang zahlreicher Gruppen von Menschen aus der Herrschaft kleinerer oder mittlerer Adeliger in die Herrschaft der Landesfürsten, steht im Zentrum der Landesbildung. Dadurch entstehen neue, größere gesellschaftliche Gruppierungen. Es ist dies ein klassischer Fall von Integration, von Hereinnahme und Hineinwachsen von Menschen und Menschengruppen in neue, größere soziale Einheiten. Das Ergebnis ist das Land, als Territorium ebenso wie als Personenverband. Die zum Lande gehörigen Gruppen, die Ministerialen, Ritter und Städte des Landesfürsten, bilden dann seit dem Spätmittelalter die Landstände. Erste Spuren dieser neuen Organisationsform sind in der Frühzeit der Habsburger in Österreich erkennbar, als 1281 die „stete und ritter und chnappen von dem lande ze Oesterreich" dem zwischen König Rudolf von Habsburg und den Landherren (= Dienstherren, Ministerialen) in Österreich geschlossenen Landfrieden mit gesonderter Urkunde beitraten.
Welche „Länder" entstanden in diesem Prozess? Die Landesbildung der österreichischen Länder hat zu verschiedenen Zeiten ihren Höhepunkt erreicht, in Steiermark und (Nieder-)Österreich im 12. Jahrhundert, in Tirol und Salzburg im 13., in Kärnten sind Ansätze zur Zeit der Spanheimer freilich erst im 15. Jahrhundert vollendet worden. Dieser Vorsprung der östlichen Länder hängt wahrscheinlich sowohl mit dem ursprünglichen Markcharakter jener Gebiete zusammen als auch mit den Landreserven, die den Babenbergern (Markgrafen und Herzöge von Österreich 976 bis 1246, Herzöge der Steiermark von 1192 bis 1246) und Otakaren (den Markgrafen und — seit 1180 — Herzögen von Steier bis zu ihrem Aussterben 1192) zu einem bestimmten Zeitpunkt zufielen und ihnen eine nachhaltige Überlegenheit über ihre Konkurrenten ermöglichten. In Tirol und Salzburg hängt die Landesbildung offensichtlich weniger mit Landreserven zusammen als vielmehr mit der geschickten und konsequenten Ausnützung und Ausweitung von finanziellen Möglichkeiten (die freilich auch den Babenbergern um 1200 schon in reichem Maße zur Verfügung standen). Der partiell transfeudale Charakter der Tiroler und Salzburger Landesbildung beruht auf den Einkünften aus Städten, Verkehrswegen und Bergbau. Im Zuge der feudalen Entwicklung haben sich die alten Stammesgesellschaften der Baiern und der Karantaner völlig aufgelöst. Diesen gegenüber sind die Länder der hochmittelalterlichen Expansionsphase ethnische Neubildungen. Die Analogie zu den älteren Stämmen ist insoferne berechtigt, als im „Stamm" ebenso wie im „Land" zunächst nur die waffenberechtigten, militärisch tätigen Grup-
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pen etwas zu sagen hatten. Ebenso wie der Stamm hat auch das Land ein von dieser Gruppe getragenes Bewusstsein („Landesbewusstsein"). Man kann es auf Grund verschiedener Quellenaussagen als ethnisches Bewusstsein erkennen, da dem „Österreicher" oder dem „Steirer" des 13. Jahrhunderts Verhaltensnormen zugeschrieben werden, die als „ethnisch" gelten können (Haartracht, Kleidung, Sprache). Diese „Österreicher" und „Steirer" sind natürlich noch nicht alle Bewohner des entsprechenden Territoriums. Der Begriff deckt im Wesentlichen die Gruppe der Landeszugehörigen in dem Sinne, in dem man im Spätmittelalter von der „Landschaft" sprach — und das sind die Angehörigen der Landstände, wie sie sich im Prozess der Landesbildung herausgebildet hatten.
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Die Stadtgemeinde als genossenschaftliche Sozialform ist bis zum 13. Jahrhundert nicht zur vollen Ausbildung gelangt. Dennoch sind die unerlässlichen Voraussetzungen für die weitere Entwicklung der städtischen Gemeinwesen im Hochmittelalter geschaffen worden. Das „städtische" Leben der Spätantike war ja weitgehend erloschen, doch dürften bestimmte Plätze auf Grund ihrer Befestigungen in reduziertem Umfang weiter benützt worden sein (Vindobona, Lauriacum, Lentia, Brigantium, Umistae/Imst). Auch die Salzburger Mission des 8./9. Jahrhunderts knüpfte an antike Stadtplätze an wie Virunum und Teurnia (verballhornt zu „Liburnia", daraus „Lurnfeld"), Flavia Solva und Poetovio. In Salzburg selbst erhielt Hrodbert (der heilige Rupert) vom Herzog Theodo 696 die Reste der alten Römerstadt luvavum und das „Castrum superius" auf dem Nonnberg. Es bestand jedoch weiterhin eine herzogliche bzw. (später) königliche Pfalz (788 „curtis publica"). Spätestens im 10. Jahrhundert wurde im Anschluss an beide Bereiche eine Kaufmannssiedlung angelegt, für die 996 von Otto III. ein täglicher Markt verliehen wurde. Der Bedarf an unentbehrlichen Gütern (Salz, Vieh, in geringem Umfang Eisen) machte stets einen überregionalen Handel — wenn auch zuweilen in nur geringem Umfang — nötig. Dieser Handel brauchte Schutz. Den Schutz gewährte der König bzw. sein Amtsträger, der Graf, für einen bestimmten Sprengel. Ort des Warenaustausches waren befestigte Plätze, meist Zentren königlichen Besitzes und damit öffentlicher Herrschaftsausübung. Unter den Handelstreibenden treten Juden relativ stark hervor („iudaei vel ceteri mercatores" in der Raffelstettener Zollordnung von 904/906). Die befestigte Siedlung wurde im Althochdeutschen als „bürg" bezeichnet, woraus die Burgbezeichnung in vielen alten Stadtnamen abzuleiten ist (Salzburg, Judenburg, Klosterneuburg und Korneuburg, Ybbs — urspr. Ybbsburg, Steyr — urspr. Stiraburg, Enns — urspr. Ennsburg usw.). Dieses „bürg" wird lateinisch mit „civitas" oder „urbs" wiedergegeben. Im 11. Jahrhundert erschienen solche Mittelpunktorte teilweise in der Hand der öffentlichen Amtsträger (Babenberger, Otakare), teils gingen sie in kirchli-
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chen Besitz über. In größerer Zahl treten Burgstädte an der Donau bzw. in ihrem Einzugsbereich auf. Neben diesen „öffentlichen" Burgorten waren auch die Zentren geistlicher Immunitäten (Salzburg, Brixen, Laufen, Villach, Eferding, St. Pölten, Pöchlarn, Mautern) wirtschaftliche Umschlagplätze. In diesen Fällen dürfte für die Stadtentwicklung ein königliches Marktprivileg (wie das schon erwähnte für Salzburg) Bedeutung erlangt haben. St. Pölten hingegen erhielt im 12. Jahrhundert (1159) von seinem geistlichen Herrn (dem Bischof von Passau) ein Privileg, das analog zu bewerten ist. Der Markt schloss sich an die Burg an. Die dominierende Dreiecksform dieser älteren Marktplätze verweist auf die Situierung an Straßengabelungen. Über die Rechtsverhältnisse der Einwohner wissen wir für das 10. und frühe 11. Jahrhundert praktisch nichts. Dienten die Burgmärkte dem Nahmarkt und dem kontinuierlich abgewickelten Fernhandel, so folgte der periodische überregionale Handel auf gewissen Jahrmärkten teilweise noch lange älteren Mustern. Der erst 1142 genannte große Jahrmarkt von Petronell schloss räumlich an die Römerstadt Camuntum an. Die „Ennser" Jahrmärkte, 1190/91 reguliert, fanden bei der Laurentiuskirche von Lorch statt, die ihrerseits an frühchristliche Kultstätten bzw. an das spätantike Forum anschließt. Solche Jahrmärkte mit höchstwahrscheinlicher Kontinuität zur Antike konnten auch ohne frühstädtischen Bezugspunkt überdauern. Soweit sich diese Jahrmärkte nicht mit den neuen Städten verbinden konnten (wie bei Lorch-Enns), verloren sie langsam ihre Funktion für den überregionalen Handel. Dafür entstanden neue, so die später berühmten (erstmals 1202 genannten) Bozener und die zunächst bedeutenderen Meraner Jahrmärkte (erstmals 1236) — deutliche Indizien für den rasch anwachsenden Handel zwischen Italien und Oberdeutschland, der gewisser vermittelnder Einrichtungen bedurfte. Der Beginn der Städtegründungswelle des 13. Jahrhunderts trägt mit Wiener Neustadt (1194) und Freistadt (um 1200) auch terminologisch neue Züge. Die Burgbezeichnung tritt zurück und wird in der Folge für die von wirtschaftlichen Funktionen getrennte „reine" Burg reserviert. Die mit adeligen Höhenburgen korrespondierenden Marktflecken wurden seither in der Regel nur mit „Markt" bezeichnet. In der neuen „Stadt" spielt die Schutzfunktion (Stadtburg, Mauer) zwar weiterhin eine wichtige Rolle, allein ausschlaggebend war sie aber nicht mehr. Als Städtegründer und Stadtherr kam zunächst der König in Frage. Im Vordergrund standen im heutigen Österreich aber jene Gruppen, die man wenig später als „Reichsfürsten" bezeichnete, geistliche wie weltliche. Im ^.Jahrhundert war es jedoch noch nicht zur klaren Ausbildung des „Reichsfürstenstandes", dem die „Landesherrlichkeit" korrespondiert, gekommen. Das System war noch offen: Städtegründung verdeutlichte nicht bloß Ausfluss, sondern auch Anspruch auf fürstliche Stellung des Gründers. Dementsprechend erscheinen verschiedentlich auch hohe Adelige als Städtegründer, wenn sie über genügend Macht verfügten, um ihre Gründung auch gegen Konkurrenten abzusichern.
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Zeitlich ist diese Phase relativ kurz. Alle wichtigen Ausbauten älterer Plätze und Neugründungen erfolgten zwischen 1180 und etwa 1270. Das war nicht zufällig jene Periode, die sowohl für die babenbergischen Gebiete (Österreich und Steier) wie auch für Salzburg als Zeit wirtschaftlicher Blüte und erfolgreichster herrschaftlicher Konzentrationspolitik (Landesbildung) gelten kann. Die Neugründungen stechen durch ihre regelmäßigen Grundrisse und die großen, meist rechteckigen zentralen Platzanlagen ins Auge. Die Stadtburg rückt an den Rand (in eine Ecke der Befestigung), eine ähnliche Randstellung nehmen die gegen Ende der Periode rasch zunehmenden Bettelordensklöster ein. Stadtgründungen waren häufig von Siedlungs- bzw. Rechtsübertragungen begleitet. Nun setzte sich immer deutlicher auch die Vorstellung durch, dass zu einer Stadt auch ein spezielles Stadtrecht gehöre — darin wurden jene Normen niedergeschrieben, die bestimmte wirtschaftliche Rechte der Stadt als ganzes oder auch gewisser Gemeinschaften regelten, darüber hinaus aber auch Vorschriften, die das Zusammenleben in der Stadt betrafen. Solche „kompletten" Stadtrechtsurkunden sind zunächst für Enns (1212), später für Wien (1221) usw. erhalten. Sie bedeuten in diesen Fällen freilich keineswegs den Beginn der städtischen Siedlungs- und Sozialformen. Allmählich entwickelte sich die Vorstellung von der nichtagrarischen Existenzbasis der Städte. Um diese zu sichern, erhielt die Einwohnerschaft verschiedene Vorrechte. Solche Begünstigungen waren etwa die Niederlagsrechte für Wien (1221) und Innsbruck (1239), durch welche der Warenverkehr zugunsten eines bürgerlichen Abnahmemonopols unterbrochen wurde. Ähnlich zu werten ist die Bannmeile, also die Untersagung nichtstädtischer Handels- bzw. später auch Gewerbetätigkeit in einem bestimmten Umkreis um die Stadt (Aschbach vor 1238, Enns 1244). Vom Handwerk ist zunächst wenig die Rede. Bis zu Ende des 12. Jahrhunderts dominieren Handwerker-Nennungen aus Klostermärkten und Fronhofsverbänden. Wie stark bis dahin die Berufsdifferenzierung schon fortgeschritten war, zeigt die Nennung von 54 verschiedenen Berufen um 1200 in Klosterneuburger Quellen. Um 1280 werden allein für Wien aber bereits 103 verschiedene Berufssparten angenommen — ein deutlicher Hinweis auf die rasch fortschreitende Arbeitsteilung und ihre gesellschaftliche Organisation in neuen Berufen. Übrigens wissen wir nicht, wie weit in dieser frühen Zeit die Gewerbe bereits spezielle Berufsorganisationen gehabt haben können. Als „echte" Handwerksordnung kann die des Salzburger Erzbischofs Eberhard II. für die Friesacher Schuster- und Ledererbruderschaft (1220 oder 1235) gelten, in der religiöse Bestimmungen, aber auch schon Zunftzwang (Gewerbeausübung nur für Mitglieder der Bruderschaft) verordnet werden. Hier wie in den zeitlich nachfolgenden Ordnungen für die St. Pöltener Ledererzeche (1260) oder die Tullner Fleischer (1267) muss neben Ansätzen zu genossenschaftlichen Regelungen mit einer anhaltenden Markt- und Gewerbekontrolle des Stadtherren gerechnet werden. Der wichtige „neue" Sozialtypus, mit dem im Spätmittelalter auch städtische Autonomie überwiegend verbunden erscheint, ist aber der überregionale
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Kaufmann, der Handelstreibende. Die Vorherrschaft der Regensburger Händler wurde erstmals im Wiener Stadtrecht von 1221 durch das dort enthaltene und 1244 erweiterte Stapelrecht, welches den Nicht-Wienern den Handel über Wien hinaus nach Ungarn untersagte, eingeschränkt. Dass die Babenberger auch direkt den Handel zu beleben versuchten, lässt sich aus Geldvorschüssen, die Leopold VI. Wiener Kaufleuten gewährte, erkennen. Übrigens haben die gesteigerten Kommunikationsbedürfnisse auch die technische Leistungsfähigkeit der Transportsysteme gesteigert: So hat man die schnelle Überfahrt dieses Babenbergerherzogs nach Ägypten 1218 (in 16 Tagen) als Leistung verzeichnet und bewundert, „quae antea valde inauditum erat", die früher völlig unerhört gewesen war! Die frühe städtische Oberschicht war aber nicht unabhängig von den herrschenden feudalen Gewalten entstanden. Ein Großteil der Stadtbewohner gehörte der herrschaftlichen „familia" an. Vielfach sind deren militärische oder administrative Funktionsträger (das lässt sich nicht immer trennen), Ministerialen oder ritterliche Burgmannen, zur städtischen Oberschicht geworden, besonders über die Verwaltung finanzieller Einkünfte. Von daher gab es auch Querverbindungen zu den reichen Kaufleuten. Keineswegs aber hat die frühe Stadt schon völlige Freiheit von feudaler Abhängigkeit geboten. Gerade in den österreichischen Gebieten blieben die meisten Städte noch lange in stärkerer Abhängigkeit von ihren Herren, die das Zugeständnis diverser Freiheiten von ihren eigenen Interessen abhängig machten. Für Kärnten erscheinen ritterliche Eigenleute (homines proprii nobiles, 1267/1268) als ein Ausgangspunkt für Mitglieder der ritterbürgerlichen Oberschicht (St. Veit). Noch 1396 beschwerte sich die Bürgerschaft von Salzburg über Heiratsbeschränkungen und eingeschränkte Freizügigkeit. Sicher entwickelte sich jedoch in der Stadt ein günstigeres Bodenrecht, die Burgrechtsleihe (1136 „ius civile" in Krems). Im Burgrecht fielen Bodenleihe und persönliche Abhängigkeit auseinander, wer Haus oder Grund zu Burgrecht nahm, geriet dadurch nicht als Person in Untertänigkeit zum Verleiher. Gerade in den Gründungsstädten muss sich diese bessere Bodenleihe rasch verbreitet haben. Besonders für den Kaufmann wichtig waren darüber hinaus Sicherheitsgarantien für Person und Eigentum (St. Pölten 1159, Enns 1212, Wien 1221 ), die zweifellos auf die Rechtsstellung des Bürgers im Allgemeinen günstig gewirkt haben. Seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts bezeichnet der Begriff „burgensis" den aus der agrarischen Gesellschaft abgelösten Stadtbewohner (1158 Friesach, 1159 St. Pölten, 1167 Eferding, 1209 Pöchlarn, 1211 Villach, 1212 Enns, 1215 Grein, 1217 Völkermarkt). „Burgensis" löste ältere, ständisch unscharfe Bezeichnungen wie „civis" (Friesach 1123 - 1124, Völkermarkt 1147) „forensis" (Friesach mehrfach im 12. Jahrhundert) oder „urbanus" (1180 Ried, 1200 Zwettl) ab, wurde jedoch seit der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts durch das zeitweilig mit „burgensis" synonym verwendete (jüngere) „civis" (zu „civitas") bzw. durch das deutsche „purger" (wie „burgensis" zu „purg") ersetzt. In den Orten, die erst im 13. Jahrhundert Stadtcharakter erhielten, war sogleich von „cives" die Rede.
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Wie entstand die „Stadtgemeinde"? Sicher erzwang das enge nachbarliche Zusammenleben noch stärker als in den Dörfern die Notwendigkeit zu gemeinsamer Regelung (Feuerschutz, Erhaltung von Straßen und anderen Kommunikationswegen, Ver- und Entsorgung). Dazu kam die Immunität des Marktgebietes, die — zunächst zeitlich und räumlich begrenzt — die Ausbildung eines eigenen städtischen Rechtsbezirkes begünstigte. Das bedeutete im Mittelalter immer auch eine eigene Gerichtsgemeinde. Diese stand anfangs unter der ausschließlichen Kontrolle herrschaftlicher Organe („iudex"). Die Gerichtsversammlung konnte nun zur Regelung gemeindeeigener Angelegenheiten auch außerhalb der eigentlichen Gerichtstermine zusammentreten („burgtaiding" in Tulln 1270). Ansätze zu einer bürgerlichen Friedenseinung können in der „pax instituía" des Wiener Stadtrechtes von 1221 gesehen werden. Solche Verbände („universitas burgensium") konnten erhöhte Autonomie gewinnen, wenn es gelang, das Richteramt zu besetzen. So konnte das stark kaufmännisch gefärbte Wiener Erbbürger-Patriziat schon zu Beginn des 13. Jahrhunderts das „iudicium civitatis" quasi in Dauerpacht nehmen. Zur Führung der täglichen Geschäfte entstand eine gremiale Organisation, die vor, zumeist aber erst nach 1250 zum Rat („cónsules", „iurati") wurde. Deutlich ist die Verwaltung der frühen Autonomie auf die händlerischgrundbesitzenden Oberschichten (in Wien die „Erbbürger") beschränkt. Neben dieser Gruppierung hat sich die Dienstmannschaft des Stadtherrn verschiedentlich als rechtlich gesonderte Gruppe fortgesetzt (Judenburger Rittergemeinde 1260, „gemain der ritter ze Steyr" 1305, „universitas burgraviorum in Villaco et circa Villacum" 1258). In anderen Städten, besonders in Wien, aber auch in Krems, wo der bekannte Gozzo sein festes Haus hatte, haben Ritter und Bürger zusammen die städtische Oberschicht gestellt, deren Mitglieder als „miles et civis" (Ritter und Bürger) oder aber abwechselnd als „cives" und „milites" bezeichnet wurden. Solche „Ritterbürger" hatten Grundbesitz einschließlich fester Häuser auf dem Lande und betätigten sich häufig als fürstliche Beamte und Kreditgeber. Ihrer Herkunft nach waren diese Ritterbürger zum Teil Nachkommen einstiger stadtherrlicher Dienstleute, zum größeren Teil Nachkommen reich gewordener Kaufleute, die ihre ökonomische Kraft in ritterlichen Status umsetzen konnten. Eine Organisation dieser Oberschicht war etwa die Münzerhausgenossenschaft in Wien (schon vor 1200), die das Edelmetall und den Münzwechsel für die herzogliche Münze besorgte. Neben diese in den größeren Städten praktisch ausschließlich dominierenden Schichten traten die bürgerlichen Kaufleute und Händler mit zahlreichen Querverbindungen zu den Ritterbürgern. Neben Stadtadel, ritterlichem und bürgerlichem Patriziat (meliores, potiores, prudentes — die Besten, die Hervorragenden, die Weisesten) sowie Handwerkern gab es in den meisten Städten soziale Gruppen, die wohl zum Siedlungsverband der Stadt gehörten, nicht aber rechtlich zur Bürgergemeinde (gmain). Das war zunächst die Geistlichkeit, vor allem die Konvente der Bettelorden, deren Seelsorge und Fürsorgetätigkeit auf die wachsende Stadtbevölkerung
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ausgerichtet war (erste Dominikanerniederlassung: 1217 in Friesach), ferner stadtherrliche Funktionäre, das Gesinde der adeligen und geistlichen Feudalherren, ausnahmsweise auch der Landadel selbst. Im Anschluss an den Hof kam diesem in spätbabenbergischer Zeit vor allem in Wien eine besondere Rolle zu. Auch die luden wohnten zwar in der Stadt, gehörten aber nicht zur Stadtgemeinde. Vor dem 12. Jahrhundert zumeist in der Nähe der Burgstädte nachweisbar, siedelten sie seither innerhalb der Ummauerung, wenn auch als soziale Sondereinheit. Die Lage des Judenviertels signalisiert dabei häufig den besonderen Schutz, den sie von Seiten des Stadtherren genossen (etwa in Wien, wo der Judenplatz der herzoglichen Burg „am Hof" benachbart lag). Den Wiener Juden erteilte Kaiser Friedrich II. 1238 ein Privileg, doch erließ Herzog Friedrich II. 1244 eine neue, das kaiserliche Privileg ablösende Judenordnung, die neben Rechtssätzen über die persönliche Sicherheit und Gewährleistung der religiösen Einrichtungen vor allem die Regelung des Pfand- und Kreditwesens zum Inhalt hatte. Stellt man abschließend die Frage nach der Größe der Städte in den hochmittelalterlichen Ländern Österreichs, so ist man auf Rekonstruktionsversuche angewiesen. Der arabische Geograph Idrisi nannte 1153 Krems und Wien als wichtigste Donaustädte neben Ulm, Regensburg und Passau; Arnold von Lübeck 1189 Wien als „civitas que maior est in terra". Am Ende der Babenbergerzeit war Wien mit etwa tausend Häusern die bei weitem größte Stadt des heutigen Österreich — je nach angenommener Belagszahl der Häuser ergibt das Einwohnerzahlen zwischen 10.000 und 20.000. Aus der Masse der Kleinstädte ragten ferner Krems-Stein, St. Pölten, Linz und Salzburg mit 2.000 bis 5.000 Einwohnern heraus.
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Rufen wir nochmals die gewandelte Auffassung von Gesellschaft in der Lehre von den drei „ordines" in Erinnerung. Sie reflektiert zweifellos ein neues Selbstverständnis, vor allem der Geistlichkeit. Im frühen Hochmittelalter waren zahlreiche Kirchen Eigenkirchen des Adels, verschiedener Bischöfe und der älteren (im 8. Jahrhundert gegründeten) Klöster wie Tegernsee, Niederaltaich, Formbach, St. Peter in Salzburg, Kremsmünster. Es gelang der Kirche im so genannten „Investiturstreit", zunächst die königlichen Eigenkirchenrechte zurückzudrängen und in die Form von Vogtei und Patronat zu überführen. Auch die adelige Macht über Bistümer und Klöster wurde langsam geschwächt. Die oft sehr drückende Vogtei wurde bei den zur Landeshoheit aufsteigenden Fürsten konzentriert und damit den lokalen Gewalten zunehmend entwunden. Cluniazenser und Zisterzienser unterstellten sich dem Papst. Bei den Zisterziensern wurde die klassische Vogtei durch ein Defensorenamt ersetzt, das wieder primär die Landesfürsten ausübten und mit dem nur geringe Befugnisse, andererseits auch nur bescheidene Abgaben des so „beschützten" Klosters verbunden
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waren. Ansehen und Bedeutung des Regularklerus stiegen insbesondere seit den Reformbewegungen von Cluny, Hirsau und Gorze (hauptsächlich im 11. Jahrhundert). Neben der Bekämpfung des Eigenkirchenwesens stand die Durchsetzung des Zölibates im Vordergrund der Reformbestrebungen. Man wollte daher auch die Weltpriester in klosterähnlichen Verbänden (Kanonikerstifte) zusammenfassen. Die strengen Varianten des Klosterlebens müssen zunächst eine enorme Faszination ausgeübt haben, sie zogen insbesondere Angehörige der ritterlichen Gruppierungen in großer Zahl an — der Kampf gegen das Böse war durch Gebete und Entsagung genauso zu führen wie mit dem Schwert. Zudem mochte man für sich und die Angehörigen des eigenen Geschlechts auf diese Weise das ewige Leben erringen. Die gesellschaftliche Wertschätzung des geistlichen Lebens erreichte durch die Entstehung und überaus rasche Ausbreitung derZ/sterz/enserim 12. Jahrhundert einen neuen Höhepunkt. Gleichzeitig breiteten sich Reformbewegungen (in unseren Gebieten zumeist aus dem lothringischen Gorze beeinflusst) in den älteren benediktinischen Klöstern aus und initiierten zahlreiche Neugründungen bzw. Umwandlungen von Kanonikerstiften in Mönchsklöster (Lambach 1056, Admont 1074, St. Paul im Lavanttal 1091, Göttweig - gegründet als Kanonikerstift 1083 - 1094, Melk 1089, Altenburg 1144, Schottenstift in Wien 1155). Andere Kanonikerstifte wurden zu Augustiner-Chorherrenstiften (St. Florian 1071, St. Pölten 1081, Klosterneuburg 1133) umgewandelt oder solche neu gegründet (Reichersberg 1084,1112 St. Georgen, später nach Herzogenburg verlegt, Ranshofen 1125, Suben 1142, Vorau 1163, Stainz ca. 1229 usw.) — hier lebten Priester nach der Ordensregel des heiligen Augustinus. Sowohl Mönchsklöster wie Chorherrenstifte waren häufig Doppelklöster, d.h., es gab neben dem Herrenstift ein Frauenkloster. Im 12. und 13. Jahrhundert verbreiteten sich als neue Reformorden Zisterzienser und Prämonstratenser. Die Ersteren waren Reformbenediktiner. Anders als die älteren Klöster dieser Richtung entstanden sie niemals auf gut sichtbaren Höhen, sondern in entlegenen, nicht selten unwirtlichen Tallagen. Der Verzicht auf jeglichen Herrschaftsanspruch äußerte sich im Fehlen großer Kirchtürme. Sie waren zunächst auch nicht Grundherren, sondern bebauten durch Laienbrüder (Konversen) eigenes Land (Grangien). Die erste Zisterze entstand im steirischen Rein (1129), es folgten Heiligenkreuz (1133), Zwettl (1138), Baumgartenberg (1142), Viktring (1142), Wilhering (1146), Lilienfeld (1202). Prämonstratenser waren reformierte Chorherren, die in der Wahl der Örtlichkeiten ähnlich wie die Zisterzienser handelten (1128 Umwandlung von Wilten in ein Prämonstratenserstift, 1149/1159 Gründung von Geras und Pernegg als Herren- und Frauenstift, 1218 von Schlägl, 1236 von Griffen). Ähnlich den Zisterziensern hatten auch die neuen Bettelorden, die seit dem frühen 13. Jahrhundert rasche Verbreitung fanden, eine territoriale Organisationsform — nicht mehr das einzelne Haus allein trug das Ordensleben, sondern der gesamte Orden, gegliedert in Provinzen. Die von Franz von Assisi ausgehenden Minoriten und die vom heiligen Dominikus sich herleitenden Dominikaner lebten überhaupt nicht mehr von der Landwirtschaft, sondern
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nur v o m Bettel (Mendikanten). Sie waren daher ausschließlich städtische Bew e g u n g e n u n d w i d m e t e n sich der Pflege v o n Pest- u n d Seuchenkranken (Minoriten) bzw. der Seelsorge für die neuen städtischen Populationen (Domin i k a n e r — o r d o praedicatorum, Predigerorden). Die Dominikaner w u r d e n bald auch zu wichtigen Trägern der religiösen Gelehrsamkeit sowie der Inquisition, der Suche nach abweichenden Glaubensinhalten bzw. Irrlehren. Das erste Dominikanerkloster entstand schon 1217. Erste Franziskanerniederlassungen sind noch vor 1230 anzunehmen. In der Folge haben sich Dominikaner besonders in größeren Städten angesiedelt (Wien, Retz, Krems usw.), Franziskaner j e d o c h auch in kleineren Urbanen Siedlungen. Die Verbindung von monastischen Reformbewegungen und Papsttum stärkten dessen Position massiv. Dadurch erst entstand die römische, westliche Papstkirche in ihrer „klassischen" Gestalt. Die großen Äbte von Cluny ( O d o , Majolus, O d i l o , Hugo, Petrus Venerabiiis) oder der heilige Bernhard v o n Clairvaux, Papst Innozenz III. und Franz von Assisi gehörten zu den einflussreichsten Persönlichkeiten des ganzen Mittelalters. Dahinter stehen nicht nur die geistige Ausstrahlung bedeutender Einzelpersönlichkeiten, sondern auch neue kirchliche Organisationsmuster: Im Unterschied z u m älteren Klosterwesen hat schon Cluny viele seiner G r ü n d u n g e n stärker an sich gebunden. Im 12. und 13. Jahrhundert erhielten sowohl die Zisterzienser als auch die Bettelorden eine den einzelnen Häusern übergeordnete territoriale (Provinz-)Organisation. Schließlich w u r d e die römische Kirche durch den Ausbau der Kurie und die Ausgestaltung des kanonischen Rechtes seit d e m 12. Jahrhundert auch organisatorisch zu einer das ganze „lateinische" Europa umspannenden und von den weltlichen Herrschaftsträgern —für kurze Zeit — w e i t g e h e n d unabhängigen Großorganisation. Diese Bewegung ging parallel mit d e m Ausbau eines dichteren Pfarrnetzes. Die mittelalterlichen Diözesen waren ja — anders als die der Antike — sehr groß: Das Amtsgebiet des Passauer Bischofs reichte v o m östlichen Bayern bis zur M a r c h u n d zur Leitha, südlich davon schloss das Erzbistum Salzburg an, das v o m bayerischen Alpenvorland die Nord- und Zentralalpen entlang bis zur östlichen Reichsgrenze u n d nach Süden bis zur Drau reichte; das Diözesangebiet des Patriarchen v o n Aquileja umfasste neben Friaul auch Kärnten, die Steiermark u n d Krain südlich der Drau; die Diözese Brixen grenzte im Zillertal und in Osttirol an Salzburg u n d umfasste das Inntal sowie das Puster- u n d Eisacktal; ins heutige Nordtirol reichten auch Freising und Chiemsee. Südlich schloss daran (Bozen und M e r a n einschließend) der Sprengel von Trient an, westlich Chur, femer Augsburg und (im nördlichen Vorarlberg) Konstanz. Nur in der Erzdiözese Salzburg entstanden vier zusätzliche kleine Suffraganbistümer, Gurk (1072), Chiemsee (1216), Seckau (1218) und — mit d e m Sitz in St. Andrä im Lavanttal — Lavant (1228). Der Unterhalt des Diözesan- und Pfarrklerus („Säkularklerus" z u m Unterschied v o m „Regularklerus" der geistlichen Gemeinschaften) sollte vor allem durch den Zehent gesichert werden, der daher auch primär d e m Bischof zustand. Diese Abgabe v o m zehnten Teil der Feldfrucht w u r d e daher auch zwischen d e m Bischof, der sich in der Regel ein Drittel vorbehielt, und
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dem Pfarrer (und dessen Gehilfen) geteilt. Vom 11. bis ins 13. Jahrhundert entstand eine große Zahl von neuen Pfarren, vielfach als Eigenkirchen der Diözesanbischöfe, aber auch als fürstliche oder (nieder-)adelige Gründungen. Freilich gab es — abgesehen von klösterlichen Gemeinschaften, Bischofssitzen und der königlichen „Kapelle" — noch keine Institutionen für die Heranziehung eines gleichmäßig ausgebildeten Priesternachwuchses. Man hörte daher auch häufig Klagen über die überaus mangelhafte Ausbildung der Weltpriester. Seit dem 12. Jahrhundert sollte nur dann eine Priesterweihe erfolgen können, wenn der Kandidat in Fragen des Glaubens und Ritus einigermaßen Bescheid wusste. Der Übergang zwischen wenig gebildeten Dorfpriestern und nicht fest lozierten, halb oder kaum ausgebildeten „clerici vagantes" war wohl fließend. Immerhin bedeutete die Zurückdrängung des Eigenkirchenwesens auch das Ende jener Praxis, wonach einfach irgendein Unfreier zum Priester geweiht wurde (oder werden musste). Sicher war die noch immer oft nur recht rudimentäre Verkündigung des Evangeliums mitverantwortlich für die noch ganz unvollkommene Durchsetzung christlicher Glaubenssätze und Lebensregeln. Noch im 13. Jahrhundert sollen heidnische Rituale (ein Ritter betete einen Baum an) nicht selten gewesen sein. Und ob die von Herzog Leopold VI. in einem Brief an den Papst um 1200 genannten „Ketzer" in seinen Ländern nun tatsächlich nichtchristlichen Glaubens waren oder sich aus dem, was man so gehört hatte, einfach irgendeine ihnen adäquate Form von Religion zusammengezimmert hatten, muss offen bleiben. Ordensgemeinschaften (Ritter- und Spitalsorden, Hospitaliter) betreuten auch die städtischen Hospitäler. Während die älteren Klöster für ihre eigenen Pflegebedürftigen und Kranken, vereinzelt aber auch für durchziehende Fremde, Infirmarien und Spitäler eingerichtet hatten, wuchs seit dem 12. Jahrhundert der Bedarf an solchen Institutionen der Pflege, Heilung und Fürsorge vor allem mit dem Wachstum der Städte, aber auch mit der Zunahme von oft sehr weiten Pilgerfahrten. Spitäler waren Klöstern nachgebildet. Im Anschluss und oft in direktem räumlichen Zusammenhang mit einem großen Saal, in dem die Insassen untergebracht wurden, befand sich die Kapelle, so dass auch die Kranken am Gottesdienst teilnehmen konnten. Freilich wäre es unangemessen, Spitäler nur als Krankenanstalten zu sehen — noch lange beherbergte das Spital geistig und körperlich Behinderte, arbeitsunfähige Alte und Kranke gemeinsam. Eine stärkere Differenzierung nach Funktion und Publikum erfolgte erst später. Spitäler und Siechenhäuser der mittelalterlichen Städte waren zumeist vor der Stadtmauer angesiedelt. In Wien bestanden am Ende des Hochmittelalters zwei Spitäler, das 1211 gegründete Hl.-Geist-Spital und das Bürgerspital, beide außerhalb der Stadtmauern am Wienfluss gelegen. Bei spezialisierten Siechenhäusern für ansteckend Kranke ließen sich häufig die ersten Minoritengemeinschaften nieder. Den ritterlichen, kriegerisch-heldisch orientierten Gruppierungen (die „bellatores" der ,,tres-ordines"-Theorie) wurde ein gemeinsames Bewusstsein, der „Christenheit" anzugehören, durch die Kreuzzüge vermittelt, die auch intensi-
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vere Handlungszusammenhänge militärischer Art herstellten und die „christliche Ritterschaft" wenigstens theoretisch als Einheit konstituierten. Faktisch entwickelten sich innerhalb dieser Einheit jedoch auch heftige kollektive Abneigungen, zwischen „Engländern" und „Franzosen" usw. (die wir hier nicht weiter zu verfolgen haben). Herren aus verschiedensten Ländern haben aber nicht nur im Heiligen Land, sondern auch in Spanien und später in Südfrankreich zunächst Mohammedaner und dann Ketzer (Albigenser) bekämpft, wie Herzog Leopold VI. im Jahre 1212. Die totale Verwirklichung des christlichen Ritterideals strebten die Ritterorden (Johannniter bzw. Malteser, Deutscher Orden, Templer) an, in denen die Verbindung von Elementen des Ordenslebens mit solchen des ritterlichen Kämpfertums gesucht wurde. Sie entwickelten sich zumeist aus Spitalsorden, die sich in Palästina der Pflege erkrankter oder verwundeter Kreuzfahrer oder Pilger gewidmet hatten. Sowohl Deutscher Orden wie Malteser haben früh auch in Österreich Niederlassungen (Kommenden) erhalten, der Deutsche Orden unmittelbar bei St. Stephan in Wien. Wenn die Verchristlichung der Gesellschaft vielfach eher äußerlich blieb und auch der „miles christianus" häufig eher den Eindruck eines rauflustigen und brutalen „Helden" als den eines zurückhaltenden Beschützers der Kirche, der Armen, Witwen und Waisen erweckt, erscheint doch, neben der Kolonisation und Vermehrung der Bevölkerung, der Entstehung der abhängigen Bauernschaft und des neuen Sozialgebildes der Stadt, die in mehreren großen Reformschüben erfolgte rasche Ausbreitung und Vermehrung religiöser Sozialformen wie Pfarre, Kloster, Stift, Reformorden (Zisterzienser), Bettelorden und Spital als eine der großen gesellschaftlichen Neuerscheinungen des Hochmittelalters. Das Besondere und Neue dabei ist nicht so sehr die Sozialform selbst (mit Ausnahme der Bettel-, Ritter- und Spitalsorden existierten sie schon seit der Spätantike) als vielmehr ihre große Zahl, ihr bedeutender gesellschaftlicher Einfluss und die Einbettung in eine überregional wirksame und gesellschaftlich sehr selbständig gewordene Kirche mit dem Zentrum in Rom und einer anerkannten Spitze im Papsttum. Diese Entwicklung, die Emanzipation der christlichen Religion von weltlicher Herrschaft — mit der sogleich auftretenden Gefahr, dass diese emanzipierte Kirche selbst zu einem bedeutenden Herrschaftsträger wurde — war zweifellos eine der zentralen Innovationen des europäischen Mittelalters. Insofern ist es völlig berechtigt, dass man jetzt die Gesellschaft als Summe aus „bellatores", „laboratores" und „oratores" sah. Dabei lag die größte Würde sicher bei denen, die durch ihr Gebet den mühsam arbeitenden Bauern und den tapfer kämpfenden Rittern das jenseitige Leben sicherten, was die in ihre Sünden verstrickten Weltleute allein niemals zustande gebracht hätten. Nicht übersehen sollte man, dass alle führenden Positionen innerhalb der Kirche nur von Mitgliedern der adeligen (später auch der ministerialischen und ritterlichen) Gruppierungen eingenommen werden konnten. In Klöstern und Stiften stammten die Chormönche bzw. Chorherren (oder Chorfrauen) zunächst fast ausschließlich aus diesen Gruppen. Nur die Laienbrüder (Konversen) kamen auch aus anderen Schichten.
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Die Verchristlichung der Gesellschaft führte zu einer Ausbreitung religiöser Sozialformen auch in der Welt der Laien. Mitglieder des Adels wünschten in die seit den Reformzeiten sich rasch ausbreitenden Cebetsverbrüderungen zwischen den Klöstern aufgenommen zu werden. Wir nehmen an, dass solche geistliche Verbrüderungen auch hinter dem Begriff „zecha" stehen, der zuerst in Salzburg im 12. Jahrhundert auftritt — eine religiöse Einkleidung für die neue gesellschaftliche Gruppierung der Salzburger Bürger. Noch lange sollte die „Zeche" als Pfarr- oder Handwerkerzeche mit einem bestimmten Heiligen verbunden bleiben. Die religiösen Reformbewegungen führten aber allmählich auch zu einem Wertewandel. Arbeit, insbesondere die bäuerliche Handarbeit, hatte um 1000 in antiker Tradition noch als Sklavenarbeit gegolten und machte jeden, der sie betrieb, zum Unfreien. Als die Zisterzienser begannen, auf ihren „Grangien" diese landwirtschaftliche Arbeit durch Ordensmitglieder (Konversen, Laienbrüder) zu betreiben, haben sie damit entscheidend dazu beigetragen, der gesellschaftlichen Minderachtung von (Hand-)Arbeit entgegenzuwirken. Freilich dauerte der dadurch eingeleitete Wandel insgesamt mehrere Jahrhunderte.
IV „KRISE" DES SPÄTMITTELALTERS. STÄNDEKÄMPFE UND BAUERNKRIEGE
Schon im späten 13. Jahrhundert erschien die Zeit der letzten Babenberger als verlorenes goldenes Zeitalter. Gegenüber dem Hochmittelalter mit seinen in fast allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens deutlich zutage getretenen Tendenzen von Fortschritt und Wachstum erscheint das Spätmittelalter als krisenhafte, von zahlreichen Hungersnöten, Pestzügen (seit 1349), Wüstungen und einer anwachsenden Gefährdung der „Christenheit" durch die Osmanen gekennzeichnete Periode. Nach einer Phase der Expansion, ausgedrückt in Begriffen wie „Ostkolonisation" oder „Kreuzzüge", begann der geographische Geltungsbereich der „Christenheit" wieder zu schrumpfen. Auch die Bevölkerungsexpansion gehörte der Vergangenheit an. Bis um 1340 dürfte die Bevölkerung noch gewachsen sein. Dann trat ein Rückgang ein, der in Mitteleuropa erst im 16. Jahrhundert wieder ausgeglichen werden sollte. Auch im politischen Bereich wird eine Umorientierung sichtbar. Es scheint an faszinierenden Persönlichkeiten vom Schlage Ottos III., der staufischen Friedriche oder der Päpste Gregor VII. und Innozenz III. zu mangeln. Es hieße aber, die Dynamik des Spätmittelalters gerade auf dem Gebiete der gesellschaftlichen Entwicklung sehr zu unterschätzen, wollte man nur Stagnation, Schrumpfung und eine Anhäufung betrüblicher Katastrophenfälle registrieren. Denn überaus zahlreich sind die Hinweise auf quantitatives Wachstum in Verkehr, Montanwesen und Gewerbe, die Belege für neue soziale Organisationsformen genossenschaftlicher Art in allen Schichten der Bevölkerung (Gemeinde, Zeche, Bruderschaften), aber auch die Fortschritte in den Belangen des alltäglichen Lebensstandards ( Aufkommen der rauchlosen Stube, eines reichhaltigeren Interieurs, besserer Stoffe und raffinierterer Kleidung), als dass man sich die „Krise" bloß als Zeit von Verfall und Niedergang vorstellen dürfte. Auch die reiche Bautätigkeit der Zeit lässt erkennen, dass das Baugewerbe keine Depression erlebte. Neben dem Hinweis auf den Neubau zahlreicher gotischer Kirchen ist daran zu erinnern, dass viele mit Renaissance- oder Barockfassaden versehene Bürgerhäuser von Innsbruck, Salzburg, Steyr, Krems, Graz, Judenburg usw. einen gotischen Kern besitzen. Lebhaft und bemerkenswert war auch die künstlerische Tätigkeit. Die Ausschmückung der Kirchen, aber auch der Burgen und Bürgerhäuser mit Fresken erreichte einen zahlenmäßigen und beachtlichen qualitativen Höhepunkt. Daneben wird erstmals auch das Tafelbild (erinnert sei nur an die Denkmäler der sog. „Donauschule") in großem Umfang gepflegt. Freilich verweisen gerade diese Tafelbilder, etwa die schönen Zyklen von St. Florian oder Melk, nicht bloß auf die technische Meis-
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87
terschaft, sondern in ihrem krassen Individualismus und Realismus auf bestimmte Veränderungen im mentalen Bereich. Nicht nur, dass die irdische Wirklichkeit deutlich stärker hervortritt, es wird auch die Besonderheit und Einzigartigkeit des Individuums stärker betont. Das erste wirkliche „Porträt" auf dem Gebiet des heutigen Österreich ist das höchstwahrscheinlich zeitgenössische Bildnis Rudolfs des Stifters (1358 - 1365) im Wiener Dom- und Diözesanmuseum. Solange die überwiegende Mehrzahl der Menschen in hausrechtliche Abhängigkeitsverhältnisse eingespannt war, gab es keine Chance zur Äußerung ausgeprägt persönlicher Anschauungen. Die Ausgliederung aus übergeordneten Haushalten machte aber im Spätmittelalter große Fortschritte, was sich nicht nur in den Städten, sondern auch in der bäuerlichen Gesellschaft erkennen lässt. Sicher lebten die Menschen im 15. Jahrhundert in zahlreicheren beruflichen und sozialen Positionen als im 12. Jahrhundert: als Kaufleute, als Bauern, als Taglöhner, Inleute, Kleinhäusler, als Handwerker in etwa hundert verschiedenen Sparten, als Kleriker, als Studenten. Diese Vielzahl neuer sozialer Situationen in einer neuartigen und sicher nur relativen Selbständigkeit (sehr oft auch einer erhöhten Wahrscheinlichkeit, in Armut und Not zu gelangen) brachte neuartige mentale Bedürfnisse mit sich, die von den traditionellen kirchlichen Einrichtungen nur unzureichend befriedigt werden konnten. Wohl haben die zunächst ungeheuer populären Bettelorden diese Lücke wenigstens zum Teil geschlossen, was ihnen verschiedentlich auch die wütende Feindschaft besonders des um seine Rechte besorgten Pfarrklerus eintrug. Aber im Laufe der Zeit wurden auch diese Orden behäbiger. Ganz allgemein wurde über mangelnde Bildung, Lasterhaftigkeit und Habgier des Klerus geklagt. Dieses Ungenügen des Klerus wurde deshalb so stark empfunden, weil für die Menschen jener Zeit das Leben nach dem Tode in der Regel erheblich wichtiger war als jenes davor — eine Haltung, der man in einer Welt der Hungersnöte, Seuchenzüge, Überfälle, Übergriffe von Herren aller Art, öffentlichen Hinrichtungen und überhaupt der allgemeinen Erfahrung, wie nahe man dem Tode jederzeit stand, Berechtigung nicht wird absprechen können. Da half man sich in den Kreisen der religiös brennend interessierten Laien mit neuen Formen der Bruderschaften und Zechen, sowohl auf Pfarrebene als auch für einzelne Berufe. Gemeindebewegung und Bruderschaftsbewegung hängen dabei eng zusammen. Je weniger die traditionelle kirchliche Organisation den Bedürfnissen der Menschen entsprach, desto eher konnten sich solche Bruderschaften ins Kirchenfeindliche, Sektiererische hinüberbewegen. Deutlich lässt sich dies anhand der zahlreichen Geißlerbruderschaften zeigen, die besonders zur Pestzeit 1349 auftraten, jedoch schon 1348 in der Steiermark ihren Ausgang genommen haben sollen. Ob diese Geißler an die zahlreichen älteren Sekten anknüpfen, die in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts mehrfach bezeugt sind, muss offen bleiben. Schon 1315 bis 1318 war sehr energisch gegen Ketzer vorgegangen worden, zahlreiche ihrer Anhänger wurden verbrannt. Ein besonderes „Ketzernest" scheint in Steyr gewesen zu sein, wo Maßnahmen der Inquisition mehrmals wiederholt wurden.
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.Krise" des Spätmittelalters. Ständekämpfe und Bauernkriege
Das ohne Zweifel intensivere religiöse Bewusstsein des spätmittelalterlichen Menschen wurde also mit einer Kirche konfrontiert, die jenem nicht genügte. Hoffnungen setzte man zweifellos in die Konzilsbewegung — eine, wenn man so will, ständisch-kommunale Organisationsform der Gesamtkirche, entsprechend den ständischen, bruderschaftlichen und gemeindlichen Bestrebungen auch auf unterer Ebene. Das Bündnis zwischen Papsttum und den weltlichen Gewalten, ausgedrückt etwa im Wiener Konkordat von 1448, zwecks Unterdrückung der konziliaren Bewegung, enttäuschte diese Hoffnungen endgültig und ist ein wichtiger Markstein auf dem Weg zur Reformation. Es gab also sicherlich eine Krise der Kirche und des geistig-religiösen Lebens, in welcher nicht bloß bruderschaftliche Organisationen, massive Kirchenkritik und exaltierte Frömmigkeitsformen auftraten (Geißler, aber auch weite und häufige Wallfahrten nach Rom, Aachen, Santiago, Jerusalem usw.), sondern auch Forderungen nach stärkerer Mitwirkung der Gemeinde, zuletzt die nach der Wahl des Pfarrers, die dann in verschiedenen Bauernaufständen eine Rolle spielte. Doch nicht bloß die Kirche befand sich in einer Krise. Der gleiche Befund gilt für den weltlichen, insbesondere für den kleineren Adel. Diese Krise der feudalen Gewalten war — und das verschärfte die Situation — begleitet von einer Krise des Fürstenstaates. Bevor wir diese diskutieren, sollten wir uns der Bevölkerungsbewegung zuwenden.
1
Die Bevölkerungsentwicklung
Es kam im 15. und frühen 16. Jahrhundert in den östlichen Ländern (Niederösterreich, Steiermark) zu zahlreichen Wüstungen. Der Siedlungsrückgang betraf vor allem ungünstige, nährstoffarme Böden. Das waren in der Regel auch die am spätesten besiedelten. Getreidebaugebiete wiesen einen stärkeren Wüstungsgrad auf. Daneben finden wir Wüstungen im Nahbereich der größeren Städte (Wien, Wiener Neustadt) — hier wurden Dorffluren in die Stadt einbezogen, um sie entweder für städtische Viehzucht und städtischen Gemüseanbau oder für die Erweiterung von Befestigungsanlagen bzw. Vorstädten zu nützen. In anderen Gebieten kam es zu teils recht erheblichen Bevölkerungskonzentrationen, etwa in den Gegenden des im Spätmittelalter aufblühenden alpinen Edelmetallbergbaues (Inntal um Schwaz, Kitzbühel, Gasteiner Tal und Rauns, Schladming), den Zentren des Salzbergbaues (Hallein, Hall in Tirol, Hallstatt) und jenen von Eisengewinnung und Eisenverarbeitung (steirischer und Kärntner Erzberg, Steyr, Murtal, Eisenwurzen). Allfällige Bevölkerungsrückgänge im 14. und 15. Jahrhundert wurden bis ins frühe 16. Jahrhundert wieder aufgeholt; um 1527 dürften im heutigen Staatsgebiet in etwa 250.000 Häusern ca. 1,5 Millionen Menschen gewohnt haben. Doch hatte eine deutliche sektorale Verschiebung der Bevölkerung stattgefunden: Um 1300 lagen nicht einmal 7 % aller Häuser in Städten und Märkten, 1590 etwa 21 % (s. Tabelle 1). Die nichtagrarischen Siedlungen wuchsen also
Gesellschaftliche Veränderungen im ländlichen Raum
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wesentlich stärker als die rein ländlichen. Die landwirtschaftliche Bevölkerung ging zugunsten von Bergbau, Handwerk und Handel anteilsmäßig zurück und fiel im Schnitt auf etwas unter 80 % der Gesamtbevölkerung (1300: etwa 93 %). Die „Krise" erweist sich daher im ökonomischen Bereich vorwiegend als Getreidekrise, während die spezialisierten landwirtschaftlichen Zweige, besonders der Weinbau, sich ausweiteten und die gewerbliche Wirtschaft erstmals ganze Landstriche prägte.
2
Gesellschaftliche Veränderungen im ländlichen Raum
Die auslaufende Konjunkturperiode des Hochmittelalters hinterließ eine rechtlich immer mehr zu Einheitlichkeit tendierende Bauernschaft. Je stärker die Konkurrenz der Bauern um den Boden wurde, desto mehr konnten nicht nur die Grundherren wieder ihre Rechte betonen, desto stärker musste auch die soziale Differenzierung werden. Die beginnende Landverknappung führte zu Gemeinerschaften (nicht aufgeteilte Besitzanteile etwa mehrerer Brüder, die eine oder eine halbe Hube gemeinsam bewirtschafteten). W o es außerlandwirtschaftliche Erwerbsmöglichkeiten gab, entstanden Kleinhäuslerstellen. Auch die reale Teilung von Huben und Lehen ging weiter und führte im 14. Jahrhundert in einigen Regionen zu einer recht kleinteiligen Betriebsstruktur von großer ökonomischer Anfälligkeit. Die (für die Bauern sehr unangenehme) „Freistift", die Leihe des Hofes auf ein Jahr, war im frühen 14. Jahrhundert so verbreitet, dass sie oftmals das Baumannsrecht (Bauernrecht) schlechthin heißen konnte. Wohl als Folge der verstärkten Konkurrenz der Bauern um den Boden konnte vereinzelt sogar auf schlechtere Rechte zurückgegangen werden. Schon die ersten Pestzüge müssen dort, wo sie bemerkbar wurden, eine Umkehrung des Arbeits- und Bodenmarktes nach sich gezogen haben. Nicht mehr die Bauern suchten Boden, sondern die Grundherren suchten Arbeitskräfte, die ihre öd gewordenen Höfe bewirtschafteten. Nicht zufällig fallen in diese Zeit die ersten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen von Landesfürsten, wie die berühmte „Landesordnung" für Tirol von 1352 oder eine analog zu wertende Anordnung Albrechts II. für Österreich aus demselben Jahr: Steigende Dienstboten· und Arbeiterlöhne sollten gebremst, abziehende Bauern daran gehindert werden, sich bessere Böden und angenehmere Herren zu suchen (diese Gesetze sind übrigens fast zeitgleich mit analogen Versuchen in Ungarn und England, dem sog. „Statute of labour"). Grundherren mussten jetzt Konzessionen machen, um überhaupt noch Bauern für ihre leer gewordenen Höfe zu finden. 2.1
Verbesserung der bäuerlichen Situation
Nicht nur die Pest, auch die kriegerischen Ereignisse des 15. Jahrhunderts (Baumkircherfehde, Ungarnkrieg, Türkeneinfälle) führten zu einer Entlastung des Bodenmarktes. Gemeinerschaften wurden jetzt aufgelöst, Kleinstwirtschaften ver-
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Krise" des Spätmittelalters. Ständekämpfe und Bauernkriege
schwanden wieder. Insgesamt lässt sich eine Konsolidierung der bäuerlichen Situation erkennen. Die „Agrarkrise" des Spätmittelalters, genauer gesagt: Bevölkerungsschwund bzw. -Stagnation und der Rückgang der Getreidepreise, haben also dazu beigetragen, den Bauern zu einer besseren Situation zu verhelfen. Um 1370 erscheint erstmals auch der Begriff „domus" als Bezeichnung für das bäuerliche Haus (in Niederösterreich) — wohl ein Hinweis nicht nur auf stabilere bauliche Gestaltung, sondern auch stabilere soziale Situierung des damit zum „Hausherrn" gewordenen Bauern. Gestiegenes bäuerliches Selbstbewusstsein spricht aus zahlreichen Banntaidingstexten (sog. „Weistümern") des Spätmittelalters. Tatsächlich befand sich der Adel, besonders der kleine, in einer schweren Krise. Häufig auf Geldrenten verwiesen, litt er unter dem Kaufkraftschwund der Feudalrente, die durch den anhaltenden Fall der Getreidepreise noch verschärft wurde. Der kleine Adel, der eigentliche „Ritterstand", wurde reduziert. Einige verbauerten wohl. Eine größere Zahl suchte Unterschlupf in geistlichen Stiftungen. Wieder andere nützten die faktische Ebenbürtigkeit mit dem gehobenen Bürgertum zu vernünftigen Heiraten. Heimgefallene ritterliche Lehen wurden häufig nicht mehr an Ritter, sondern an Bauern vergeben („Beutellehen"). Es verwundert nicht, dass zahlreiche kleine Ritter versuchten, als Amtleute bei großen Herren unterzukommen. Die Erfolgreichsten waren jene, die sich in die landesfürstliche Finanzverwaltung einschalten konnten sowie jene, die den neuen Trend im Militärwesen erkannten und als Söldnerführer eine vom organisierten Raub zwar kaum unterscheidbare, so doch erfolgreiche Karriere einschlugen. Letzten Endes ging damit eine Konzentration des adeligen Besitzes einher, die einerseits zum Aufgehen zahlreicher Rittergüter in größeren Herrschaften führte, andererseits zur Ausbildung großer Grundherrschaften eines neuen Typs.
2.2
Ländliche Unterschichten
Neben den selbstbewusster gewordenen Bauern werden jetzt die unterbäuerlichen Gruppierungen deutlicher fassbar. Das kann zunächst mit der Ausbreitung des Weinbaues zusammenhängen, denn der ist stets arbeitsintensiv und führt zur Entwicklung einer Schicht von Klein- und Kleinstbesitzern, die im Taglohn für die Bürger der Weinbaustädte, für Grundherren und Bauern mit Weingartenbesitz arbeiteten. Vor allem in und um Wien scheint es auch ein besitzloses Weinhauerproletariat gegeben zu haben. Eine zweite Ursache für die Ausbreitung eines ländlichen Früh-Proletariats war der Aufschwung des Bergbaues. Überall, wo Bergbau und Verarbeitung der Bergprodukte (Eisenwesen) die ländliche Ökonomie entscheidend veränderten, konzentrierten sich große Scharen von besitzlosen oder besitzarmen Leuten, die für den Berg, für den Transport der Produkte, für die Erzeugung von Holzkohle oder in der Waldwirtschaft tätig waren.
Gesellschaftliche Veränderungen im ländlichen Raum
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Drittens hat sich auch das ländliche Handwerk ausgebreitet und differenziert. Das mag zum einen mit der Vergrößerung der Siedlungen zusammenhängen, die ja zum Teil als Kehrseite der Wüstungsbewegung zu interpretieren ist, zum andern vielleicht auch schon ansatzweise mit dem Eindringen von Verlagsformen in die gewerbliche Produktion. Zumindest im 15. Jahrhundert muss die wachsende ländliche Textilindustrie schon zunehmend von städtischen Händler-Verlegern abhängig gewesen sein. Auch das begünstigte die Entwicklung einer Schicht von Kleinhäuslern und Inleuten, deren ökonomische Basis zwar schmal, aber vielfältig war — vom Taglohn in der Landwirtschaft bis zu gelegentlicher oder regelmäßiger Handwerksausübung bzw. Tätigkeit in Handel und Verkehr reichte das Spektrum. Übrigens haben sich auch die Bauern selbst immer stärker in das Handels- und Verkehrsgeschehen eingeschaltet. Das Anwachsen dieser Schichten seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wurde von den Grundherren im Allgemeinen nicht ungern gesehen. Für die Bauernschaft war die Situation zwiespältiger. Einerseits schätzte man das Arbeitskräftereservoir, andererseits erkannte man die Bedrohung der eigenen Position, die aus dem Anspruch dieser ländlichen Unterschichten auf die MitNutzung von Gemeindeland entstand. Zahlreiche Bestimmungen der Taidinge beschäftigten sich daher mit der Regelung von Gesinde- und Inleutefragen, was im Wesentlichen auf eine Betonung der bäuerlichen Hausherrschaft diesen Gruppen gegenüber hinauslief.
2.3
Herren und gemeine Leut'
Alle die hier genannten Prozesse haben im Spätmittelalter nicht nur zur tatsächlichen Veränderung vieler sozialer Positionen geführt, sondern auch zu einer neuen Begrifflichkeit. Wurde im Hochmittelalter die Theorie der drei „ordines" entwickelt, so faßte man im Spätmittelalter die ländliche Gesellschaft etwas anders auf. Der „Bauer" war häufig noch der „arme Mann", eine Fortsetzung des hochmittelalterlichen „pauper", der nicht bloß (oder nicht einmal so sehr) materiell „arm" war, sondern vor allem schutzlos und schutzbedürftig. Der „arme" Mann ist nun aber immer häufiger auch der „gemeine" Mann. Diese Begriffsverschiebung reflektiert recht gut die spätmittelalterlichen Veränderungen. „Gemein" hat offenkundig mit „Gemeinde" zu tun. Es sind die Mitglieder der jetzt deutlich stärker gewordenen Gemeinden, die den „Herren" gegenübertreten. Denn auch auf der oberen Etage des Sozialgefüges treten Änderungen auf. Die Reduktion des ritterlichen Adels vermindert in erster Linie die kleinadeligen, halbbürgerlichen oder halbbäuerlichen Zwischenschichten. Die Trennung zwischen „adelig" und „nichtadelig" wird schärfer. Dieser Trend wird durch Mechanismen der Selbstabgrenzung, wie sie nicht selten in der Geschichte von statusverunsicherten Gruppen entwickelt werden, beschleunigt. Tumierfähigkeit und Ahnenproben wurden für das adelige Selbstbewusstsein immer wichtiger. Das konnte auf lange Sicht für jene kleinadeligen Leute, die sich den teuren Spaß der Turniere nicht leisten konnten, den Verlust der Adelsqualität
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.Krise" des Spätmittelalters. Ständekämpfe und Bauernkriege
bedeuten. Auch die Mitgliedschaft in ritterlichen Gesellschaften wie der niederösterreichischen Gesellschaft des Haftels mit dem Stern oder dem tirolischen Elefantenbund sollte die adelige Exklusivität betonen und der Vertretung der Adelsinteressen dienen. Gleichzeitig wird die Bezeichnung „Herr" auf alle Adeligen ausgedehnt. Hatte „Herr" ursprünglich „Lehensherr" gemeint (analog zum französischen „seigneur"), später dann das Mitglied des Herrenstandes (der adeligen Oberschicht überwiegend ministerialischer Herkunft), so werden im Spätmittelalter auch Ritter schon mit der Bezeichnung „Herr" geehrt. In Banntaidingstexten wird zwar verschiedentlich noch zwischen „Edelmann" und „sendmäßigem Mann" (= Ritter) unterschieden, doch diese Differenz verblasst zusehends — bald wird nur mehr zwischen dem „Edelmann" und dem „gemeinen Mann" die Grenze gezogen. „Herren" auf der einen, „gemeine Leute" auf der anderen Seite — das ist, kurz zusammengefasst, das Ergebnis des sozialen Wandels im Spätmittelalter. Dabei ist der „gemeine" Mann häufig jener, der sich durch eigene Arbeit ernährt (während die städtische Oberschicht und die Gebildeten zu den „Herren" gehören). Ab dem 16. Jahrhundert wird innerhalb der nichtadeligen Gruppen häufig stärker zwischen der (noch) besitzenden „Ehrbarkeit" in Stadt und Land und dem besitzlosen „gemeinen Pofel" geschieden (so in Tirol und den Vorlanden).
2.4
Gemeindebewegung
Die Gemeindebewegung, also die Tendenz zu Stärkung der Gemeinde, war umso kräftiger, je mehr verschiedene Gemeindefunktionen von einer regionalen Gemeinschaft ausgeübt wurden und je höher der Herr der Gemeinde im Herrschaftsgefüge stand. Das ist die Erklärung für die ziemlich hoch entwickelte Gemeindeautonomie, wie sie sich in Vorarlberg und Tirol, zum Teil auch in Salzburg ausbildete: Hier standen die meisten Gerichtsgemeinden direkt unter dem Landesfürsten, also dem höchsten Gerichtsherrn im Lande, und hier fielen häufig Siedlungsverband (Dorf, Talschaft), Pfarrgemeinde und Gerichtsgemeinde zusammen. Die bäuerliche Gesellschaft der „gemeinen Leute" erweist sich bei näherem Hinsehen im Spätmittelalter keineswegs als einheitlich. Starke regionale Unterschiede sind feststellbar, die mit ökonomischen Faktoren (Entwicklung von Bergbau, Heimarbeit im Verlag, Weinbau) und mit der Siedlungsweise ebenso zusammenhängen wie mit den vorherrschenden politischen Systemen, also der „Landesstruktur". Trotz persönlicher Freiheit konnten die unter adeliger Gerichtshoheit stehenden Bauern des östlichen Österreich nicht jene politischen Positionen erreichen, die ihre Tiroler und Vorarlberger Standesgenossen, trotz häufiger Herkunft aus unfreien Verhältnissen, im 15. Jahrhundert erlangen konnten. Dennoch lässt sich allgemein festhalten, dass die bäuerliche Bevölkerung im Spätmittelalter erweiterte Freiräume erwerben konnte und dass insgesamt das bäuerliche Selbstbewusstsein deutlich gestiegen ist. Die Gesellschaft der Grundherren hingegen konnte ihre bis etwa 1350 nachweisbare
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Die Entwicklung der Städte
günstige Situation nicht aufrechterhalten. Mit der Trendwende des Bodenmarktes und der Getreidepreise begann die Krise der Grundherrschaft und der Grundherren. Verschärft wurde diese durch die wachsenden Ansprüche der Landesfürsten auf Anteile an der Feudalrente, aber auch durch die gute Entwicklung der städtischen Wirtschaft. Auswege aus dieser Scherenentwicklung schienen sich im Söldnerwesen und in anderen Unternehmensformen zu bieten. Erst mit dem Bevölkerungsanstieg um 1500 konnte man auch die Bauern wieder verstärkt unter Druck setzen.
3
Die Entwicklung der Städte
Die nichtlandwirtschaftliche Bevölkerung war quantitativ der „Gewinner" der spätmittelalterlichen Entwicklung. Es wuchsen aber die „Märkte" (also Zentralorte mittlerer und unterer Kategorie) stärker als die Städte: Im 16. Jahrhundert befanden sich 21 % aller Häuser in Städten und Märkten, zwei Drittel von ihnen nur in den Märkten. Die Zahl der Städte auf dem heutigen Bundesgebiet betrug gegen Ende des Mittelalters 87, die der Märkte 344. Hinsichtlich der Städte ist dies der Zustand zu Ende des 13. Jahrhunderts, ergänzt nur um wenige jüngere Gründungen bzw. Stadtrechtsverleihungen. Tabelle I: Anzahl und Häuserbestand 1200 Zahl der Städte Häuserbestand der Städte Zahl der Märkte Häuserbestand der Märkte
23
der Städte und Märkte Österreichs 1300
1400
1500
1200 - 1600 1600
71
82
87
86
10.000
12.600
14.200
16.600
131
237
344
409
6.300
13.400
21.800
29.200
Die Zahlen beziehen sich auf das heutige Bundesgebiet. Die Städte waren nicht groß. Nur Wien war mit 20.000 bis 25.000 Einwohnern eine auch nach den spätmittelalterlichen Begriffen respektable Stadt. Zweitgrößte Siedlung wurde in dieser Zeit Schwaz in Tirol, wo im 16. Jahrhundert 15.000 bis 20.000 Menschen wohnten, was aus der einmaligen Blüte desSilberbergbaues im 15./16. Jahrhundert zu erklären ist. Eine der größten Städte auf dem Territorium des heutigen Österreich war Steyr, wo man 1543 über 6.000 Einwohner zählte. Die Residenzfunktion begann schon im 15. Jahrhundert und noch mehr in der frühen Neuzeit die Größe der Städte zu bestimmen. So lebten in Wiener Neustadt, wo Friedrich III. mit Vorliebe Hof hielt, im 15. Jahrhundert etwa 8.000 Menschen, im 16. Jahrhundert freilich schon erheblich weniger (Verlust der Residenzfunktion). Auch die fürstlichen Residenzen Innsbruck (im 16. Jahrhundert etwa 5.000 Einwohner), Graz ( 1528: 8.000 Einwohner) und Salzburg (1569: etwa 8.000) erlebten eine raschere Entwicklung als die große
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Krise" des Spätmittelalters. Ständekämpfe und Bauernkriege
Zahl der Mittel- und Kleinstädte. Linz etwa, eine nicht unbedeutende Handelsstadt, hatte im Jahre 1542 nur 210 Hausstellen, was kaum mehr als 3.000 Bewohner bedeuten kann.
3.1
Städtische Oberschichten
Alte Burgstädte wie Steyr oder Judenburg wiesen noch durch längere Zeit ritterbürgerliche Elemente auf. Eine Handelsstadt wie Linz wurde von händlerischen Elementen dominiert, hier blieb der Begriff „Bürger" lange Zeit auf die handeltreibenden Gruppierungen beschränkt. Auch in Friesach und Villach war der Bürger-Begriff im 14. Jahrhundert der ritterlich-kommerziellen Oberschicht vorbehalten. Noch 1392 sollte der Bischof (von Bamberg, als Stadtherrr von Villach) bei der Auswahl der „Dreier", eines dreiköpfigen Leitungsgremiums, je einen „Bürger", einen Handwerker und einen Mann seines besonderen Vertrauens ernennen. Die Oberschichten von Wien lassen sich nach Vermögenskriterien, nach dem Kriterium des ritterlichen Dienstes im Kriegsfalle und vor allem nach dem Kriterium der Zugangsmöglichkeit zu den politischen Entscheidungsgremien erkennen und gliedern. Der Rat bestand seit 1221 aus 24, seit 1278 aus 20 Mandataren. Je ein Mandat bekleideten der Stadtrichter und der seit 1282 nachweisbare Bürgermeister. Der Rat wurde jährlich durch die Gemeinde neu gewählt, doch ging dieses Wahlrecht wahrscheinlich im 14. Jahrhundert auf das Kollegium der „Genannten" über, einer Gruppe von 100 bzw. (seit 1340) 200 Bürgern, die auch für die Bezeugung wichtiger Rechtshandlungen herangezogen wurden. Diese Gruppe wurde wiederum fallweise durch den Rat (!) aus der Bürgerschaft ergänzt. Die Gruppe der „Ratsbürger" war ursprünglich stark ritterbürgerlich dominiert. Nach den mißglückten Erhebungen gegen die Habsburger von 1278, 1288 und 1309 verschwinden die älteren ritterbürgerlichen Familien. Dennoch blieb auch für die städtischen Führungsschichten des Spätmittelalters, besonders für die so genannten „Erbbürger", ritterlicher Dienst zu Pferd und der Besitz von festen Häusern und grundherrlichen Rechten auf dem Land kennzeichnend. Die gegenseitige Ergänzung von Rat und „Genannten" hat früh Missstimmung erregt. Die 1396 aus Anlass eines Herrscherwechsels ausgebrochenen Unruhen in Wien bewirkten schließlich eine Neuordnung der Ratswahl, nach welcher der Rat jährlich durch die Gemein, und zwar in paritätischer Vertretung von je ein Drittel Erbbürgern, Kaufleuten und Handwerkern, zu wählen sei. Doch fand tatsächlich eine Wahl des Rates durch die Gemeinde nur in diesem Jahre statt, im folgenden Jahr wurde sie schon wieder durch die Genannten vorgenommen. Die Anteile der insgesamt deutlich selbstbewusster gewordenen Handwerker reduzierten sich um 1412 auf etwa ein Viertel. Neben den (ritterlichen) Erbbürgern und den Händlern und Kaufleuten waren aber zumeist nur solche Handwerker im Rate, die auf Grund ihrer ökonomischen Position besonderen Reichtum erworben hatten (wie diverse Goldschmiede, Kürschner, Fleischhauer).
Die Entwicklung der Städte
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Noch im 15. Jahrhundert waren gewisse Kategorien von Bürgern zum Kriegsdienst zu Pferd verpflichtet. Dazu gehörten die (48) Münzer Hausgenossen, die (30) Gewandschneider oder Laubenherren, die Großhändler, die Apotheker und die Mitglieder der Schreiberzeche (Notare). Schon aus der Begrifflichkeit wird hier zum Teil auch die Organisationsform („Hausgenossenschaft", „Zeche") erkennbar. Die typische mittelalterliche Segmentierung der Gesellschaft, die starke vertikale Gliederung zeigt sich auch hier — es ist keine eher diffus erkennbare „Oberschicht" im Sinne des 20. Jahrhunderts, sondern eine Gruppierung, die durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Organisation klar definiert war. Allerdings waren diese Gruppen nicht starr abgeschlossen und erwiesen sich für Aufsteiger als durchlässig. Schon unter Friedrich III. (1440 - 1493) mehren sich unter den Ratsbürgern die landesfürstlichen Räte und Beamten — die höfische Gesellschaft der frühen Neuzeit bereitet sich vor. Mit der Niederlage der altstädtischen Oberschicht 1522 (Wiener Neustädter „Blutgericht") werden die Entscheidungsstrukturen und die Prestigeskalen total verändert. 1526 tritt in Wien eine neue Stadtverfassung in Kraft. Die Handwerker sind nun aus dem inneren Rat (12 Mitglieder) ausgeschlossen, weitere zwölf Bürger ernennt der Landesfürst zu Beisitzern im Stadtgericht. Innerer Rat und Beisitzer ergänzen Abgänge im 76 Mann starken äußeren Rat, der zusammen mit dem inneren Rat und den Beisitzern die „Stadtregierung", nunmehr unter starkem landesfürstlichen Einfluss, bildet. Damit treten andere Kriterien für die Einnahme führender gesellschaftlicher Positionen, vor allem die Nähe zum Hof, in den Vordergrund.
3.2
Handwerker, Zechen und Ausweitung der Bürgerschaft
Die „Zeche" (das ist der süddeutsch-österreichische Begriff für jenen Inhalt, der im übrigen deutschen Sprachraum meist mit „Zunft" umschrieben wird) tritt zuerst im 12. Jahrhundert als Vereinigung religiösen Gehalts hervor. Nach vereinzelten Zeugnissen des 13. Jahrhunderts tauchen die Zechen im M.Jahrhundert immer häufiger in den Quellen auf. Wenn die Organisationen der Handwerker im Spätmittelalter sich der Selbstbezeichnung „Zeche" bedienten, so hatten sie offenbar einen solchen religiösen Gehalt ihrer Vereinigung im Auge. Zumindest im 14. Jahrhundert erscheinen die Zechen in Wien nicht nur als ausgeprägte religiöse Bruderschaften, sondern auch schon als wirtschaftliche und Interessenorganisation. Rudolf IV. (1358 - 1365) verbot die Zechen, aber diese Verbote blieben letztlich erfolglos. Immerhin übte in der Folge (seit 1367) der Rat eine schärfere Aufsicht über die Zechen, etwa in der Weise, dass er Handwerksordnungen erließ, die Durchführung aber der Zeche selbst übertrug. Die Bildung der Zechen hinkte der Entwicklung der Gewerbe immer etwas nach. In einem Bürgeraufgebot von Wien 1454 erscheinen 68 Handwerke in 55 Handwerkerzechen. So waren in Wien alle mit Eisen arbeitenden Handwerke in der Lienharts-(Leonhards-)Zeche vereinigt. Die religiös-genossenschaft-
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Krise" des Spätmittelalters. Ständekämpfe und Bauernkriege
liehe Sonder-Organisation kam also zumeist später als die faktische Sonderung infolge der fortschreitenden Arbeitsteilung. Die Zechen selbst waren zunächst und primär Verbände der Meister, also der Oberhäupter der hausrechtlich verfassten Betriebe. Für diese Klassifizierung ist es unerheblich, ob auch tatsächlich jeder Meister ein Haus innehatte — auch wenn er nur ein Stockwerk gemietet hatte, änderte dies an seiner Stellung im Betrieb nichts; allerdings verlangten manche Städte als Voraussetzung für das Bürgerrecht Hausbesitz, während sich andere mit der Meisterwürde begnügten. Anders als im Bauernhaus wurden die (männlichen) Kinder häufig zur Lehre außer Haus gegeben. Die „Knechte", also die Hilfskräfte des Meisters, differenzierten sich, und im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts begannen sich die älteren und fachlich schon fortgeschritteneren unter ihnen als „Gesellen" zu bezeichnen. Während der Begriff „Knecht" hausrechtliche Abhängigkeit strengerer Art impliziert, hatte der „Geselle" eine andere Stellung inne — die eines im Fache schon mehr oder weniger voll ausgebildeten Handwerkers. Die Gesellen begannen sich bis zu einem gewissen Grad zu verselbständigen. Vom Können her schon eher dem Meister zugesellt, versuchen diese Arbeitskräfte nun auch, ihre Stellung in gesonderten Organisationen (Gesellenbruderschaften) auszudrücken. Für die Ausbildung des gesonderten Gesellenstatus war neben der Qualifikation und dem spätmittelalterlichen Trend zu besonderer bruderschaftlich-religiöser Organisation auch die Erschwerung der Zugangsmöglichkeiten zur Meisterwürde verantwortlich: Der qualifizierte Handwerker, dem es verwehrt blieb, Meister zu werden, wurde eben Geselle. 1411 wurde für Wien die erste Gesellenbruderschaft erwähnt. Zwischen 1418 und 1438 gab es heftige, zum Teil auch gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Gesellen und Meistern, fast zur gleichen Zeit auch in der Steiermark. Dabei wurden die Führer der Gesellenbruderschaften wiederholt verhaftet. 1439 erließ der Wiener Rat dann eine Ordnung für die Gesellen aller Handwerke. Die Gesellen behielten zwar eine gewisse Organisationsfreiheit, durften aber alle Versammlungen nur noch nach Vorwissen des Rates oder mindestens der Meister ihres Handwerks abhalten. Das Wandern der Gesellen dürfte ebenfalls mit der wachsenden Schwierigkeit, eine Meisterstelle zu erlangen, zusammenhängen. Um 1470 wird es für das Wiener Handwerk allgemein verpflichtend. Als weitere Stufe vor der Meisterschaft wurden in dieser Zeit schließlich noch ein bis zwei Meisterjahre des ausgelemten, gewanderten Gesellen verlangt. Dann musste er noch ein Meisterstück anfertigen, nach dessen positiver Begutachtung durch die das Handwerk leitenden Meister (Zechmeister) erst die Meisterwürde erlangt werden konnte. Die Beschränkungstendenzen im Handwerk äußern sich in zwei voneinander zu unterscheidenden Bestrebungen. Zunächst als „Zunftzwang", das ist die Koppelung der Berechtigung zur Gewerbeausübung mit der Mitgliedschaft in der entsprechenden Zeche. Durch diese Bestrebungen wurden die Zechen
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erst tatsächlich zu Nachfolgern der älteren, obrigkeitlichen Handwerker-„Ämter" oder „Konsortien". Schon im Privileg für die Wiener Schneider von 1340 wurde für Wien bestimmt, dass niemand das Handwerk gegen den Willen der Schneider ausüben dürfe. Ein weiterer Schritt zur Beschränkung der Handwerke im Sinne der Sicherung der „Nahrung" für die bereits bestehenden Betriebe war die Schließung, also die zahlenmäßige Begrenzung der Gewerbebetriebe. Bevorzugt erscheinen Witwen und Kinder von Meistern. Damit wird die Einheirat beinahe zur wichtigsten Möglichkeit für die Erlangung der Meisterwürde. Freilich hat diese frühe Abschließung noch nicht zur völligen Erstarrung des Gewerbslebens geführt, da bis ins späte 15. und 16. Jahrhundert die Differenzierung und Neubildung von Handwerken weiterging. Erst mit dem Nachlassen dieser Dynamik in der frühen Neuzeit wurde die Situation für den handwerklichen Nachwuchs vollends kritisch. Jetzt beginnt die von den Zechen heftig bekämpfte Tätigkeit von (verheirateten) Gesellen als „Störer", als Handwerker außerhalb der Zunft, größere Ausmaße anzunehmen, ohne dass sie trotz aller von den Zechen erhobenen Proteste jemals ganz unterdrückt werden konnte. Gegen Ende des Mittelalters sollen in Wien etwa 80 % der Bürger Handwerker gewesen sein, 20 % entfielen auf die ritterlichen und kommerziell tätigen Oberschichten. Die wachsende Integration der Handwerker in das Sozialgebilde „Stadt" hängt nicht nur mit ihrer wachsenden zahlenmäßigen und ökonomischen Bedeutung zusammen, sondern war auch die Folge ihrer verstärkten Heranziehung für militärische Zwecke. In Wien waren bis 1361 nur die Bogner und Pfeilschnitzer zum Waffendienstverpflichtet, seither alle Bürger. Möglicherweise antworteten die Handwerker auf diese stärkere Inanspruchnahme mit Forderungen nach besseren Mitwirkungsmöglichkeiten an der politischen Willensbildung, wie sie mit der neuen Ratswahlordnung von 1396 verfügt wurden. Für Kriegsdienste wurden die Gesellen mindestens im 15. Jahrhundert auch besoldet, auch für militärische Züge außerhalb der Stadt. In einer Stadt wie Wien waren die „Bürger" eine Minderheit. Für das 15. Jahrhundert wird ihr Bevölkerungsanteil bei einer angenommenen Gesamtbevölkerung von 20.000 auf 10 % geschätzt (mit ihren Angehörigen etwa 50 % der Bevölkerung) (s. Tabelle 2). Der Zusammenhang von Bürgerrecht und Hausbesitz wurde gelockert, als mit dem Erwerb der Meisterwürde oft auch das Bürgerrecht verliehen wurde, ohne dass Hausbesitz als notwendige Voraussetzung gefordert wurde. Auch in der Produktion wurde in der städtischen Wirtschaft die Identität von Haus (Wohnung) und Arbeitsstätte erstmals aufgehoben. Einen sehr großen Anteil nichthäuslicher Arbeit gab es im Weinbau. Die Taglöhner im Weinbau lebten prinzipiell in eigenen Haushalten, nicht in denen der Weingartenbesitzer. Mitglieder städtischer Unterschichten, zu denen neben den Taglöhnern Bettler, Prostituierte, andere „Inwohner" und Fürsorgefälle zu zählen sind, sollen in Wien im 15. Jahrhundert ebenfalls 1 0 % der städtischen Bevölkerung ausge-
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„Krise" des Spätmittelalters. Ständekämpfe und Bauernkriege
Tabelle 2: Bürgerliche
und nichtbürgerliche
1. Bürger
Gruppen
im Wien des 15. Jahrhunderts
Kaufleute Handwerker sonstige (Erbbürger, Hausgenossen, Apotheker, Schreiber u. a.) zusammen Frauen und Kinder der Bürger
300 1.600 100 2.000 6.000
bürgerlicher Bevölkerungsanteil 2. Inwohner (allenfalls mit Familien) 3. Privilegierte (inkl. Familien und Dienstpersonal)
10.000 öffentliche und private Angestellte sonstige („Pofel") zusammen
3.500 2.000
Landesfürst, Hof und Adel Geistlichkeit Universität Juden (bis 1421) Gäste und sonstige Fremde zusammen
500 1.500 1.500 700 300
5.500
4.500
Nichtbürgerliche Stadtbewohner
10.000
Gesamteinwohnerzahl (Mindestannahme)
20.000
macht haben (ungefähr 2000). Die Tendenz zur bruderschaftlichen Organisation tritt auch hier auf. Die genannten Bevölkerungsgruppen unterstanden der Obrigkeit des Rates. Sie standen also unter den Bürgern so wie deren Dienstboten und die gewerblichen Arbeitskräfte. Daneben existierten aber bedeutende Gruppen außerhalb der Bürgergemeinde, wie die Universität und die Häuser der geistlichen Orden, der fürstliche Hof oder die Judengemeinde.
3.3
Judengemeinden
Auf Grund ritueller Vorschriften war die mittelalterliche jüdische Diaspora immer Gemeindesiedlung, niemals Siedlung einzelner Personen oder Familien. Dazu kam die Bindung an den Handel: Sie führte zur Konzentration jüdischer Siedlungen an Handelswegen und schließlich in Städten. Ortsnamen wie „Judendorf" (nördlich von Graz) oder „forum ludaeorum" für Völkermarkt legen davon Zeugnis ab. Die Theorie der Schuldknechtschaft und das daraus erfließende landesfürstliche Judenregal (Folge des III. Laterankonzils) mussten notwendig die jüdischen Gemeinden mit den (Landes-)Fürsten und mit den sich entwikkelnden Residenzen verbinden. Die jüdische Gemeinde stand unter dem Schutz des Landesfürsten, der aus diesem Schutz bedeutende Gewinne zog. Die räumliche Lage der Judengemeinde in der Stadt war Ausdruck dieses Verhältnisses: Sie lag jeweils unweit der fürstlichen Burg — in Wien war der Judenplatz das ältere Judenviertel nahe dem Platz „Am Hof", wo die alte Burg lag; später entwickelte es sich im Anschluss an Kärntner Straße und Stubenbasteiviertel. Ein Judenrichter vermittelte den Kontakt zur christlichen Bürgerschaft. Diese Kon-
Die Entwicklung der Städte
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takte waren häufig kontroversieller Natur. Abgesehen von den ökonomischen Gegensätzen zwischen Gläubigem und Schuldnern scheinen Zeiten intensivierter (christlich-)religiöser Begeisterung der städtischen Massen jeweils Probleme für die Juden bedeutet zu haben. Die Kirche hätte den Kontakt zwischen Christen und Juden am liebsten unterbunden oder doch stärkstens eingeschränkt (Aussagen der Synode von Wien 1267). Nach einer Zeit relativer Ruhe im 13. Jahrhundert mehren sich seit dem 14. Jahrhundert wieder Unruhen und Verfolgungen. 1338 kam es, offenkundig im Zusammenhang mit einer Epidemie, zu Verdächtigungen wegen angeblicher Hostienschändung, zu Plünderungen und zur Ermordung von Juden. Auf die Pest von 1349 reagierte man in ähnlicherWeise. Als 1406 im Wiener Judenviertel ein Brand ausbrach, beeilten sich die christlichen Nachbarn, dieses Ereignis zu Plünderungen auszunützen. 1420/21 wurde die Wiener Gemeinde praktisch ausgerottet. Zunächst wurden die Juden verhaftet, 1421 schließlich 300 von ihnen in Erdberg verbrannt, ihre Kinder getauft. Ärmere Juden hatten nach Mähren und Ungarn (heutiges Burgenland!) ausweichen können. Im 15. Jahrhundert ging daher die Geschichte der jüdischen Gemeinde als organisierter Bestandteil der Stadt, wenn auch nicht als Teil der bürgerlichen Gemeinde, in Wien zu Ende. Maximilian I. folgte im frühen 16. Jahrhundert den Forderungen der Stände innerösterreichischen Länder und verfügte die Vertreibung der Juden aus Steiermark, Kärnten und Krain sowie ein Verbot ihrer neuerlichen Ansiedlung.
3.4
Die Stadt als komplexes System
Insgesamt erweist sich die spätmittelalterliche Stadt als hochdifferenziertes, kompliziertes Sozialgebilde. Bürgerliche und voneinander recht verschiedene nichtbürgerliche Gruppierungen lebten in ihr, teils voneinander stärker geschieden, teils doch in häufigem Kontakt. Aber auch innerhalb der verschiedenen Gruppierungen gab es erhebliche Status-Unterschiede (Lehrjunge, Geselle, Meister im Handwerkshaus beispielsweise), die es keineswegs erlauben, auch nur die „bürgerlichen" Schichten als stark egalitär darzustellen. Dennoch unterscheidet sich die Stadt von älteren, am Idealbild der „familia" orientierten Sozialformen durch die erhebliche Rolle genossenschaftlicher Gebilde. Die ganze „bürgerliche" Gemeinde war ein solches, trotz der Unterschiedlichkeit ihrer Mitglieder nach Beruf, Vermögen, Status im Hinblick auf das militärische Verhalten, Zugangsmöglichkeit zu den politischen Entscheidungszentren. Innerhalb der bürgerlichen Gemeinde gab es die zahlreichen Zechen und Bruderschaften sowohl der Oberschichten wie der Handwerker und Gewerbetreibenden. Selbst die Unterschichten waren wenigstens teilweise derart genossenschaftlich organisiert (Armenzechen). Wer als Teil der „politischen Öffentlichkeit" der Stadt galt, zeigt ein Ereignis aus dem bewegten Jahr 1408. Nach der Hinrichtung des Bürgermeisters Vorlauf und zweier Ratsherren durch Herzog Leopold IV. richtete sein Bruder — und Konkurrent um die Vormundschaft für den unmündigen Albrecht V. —, Herzog Ernst, Briefe an den Rat, an die Erbbürger,
TOO
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die Hausgenossen und Laubenherren sowie an 45 Handwerkerzechen, in denen er Aufklärung über die Schuld der Hingerichteten und die Korrektheit des Prozesses verlangte. Das bedeutet, dass alle diese genossenschaftlichen Verbände in irgendeiner Form als Teile der städtischen „Polis" gedacht wurden. Neben dem Rat als oberstem Organ der bürgerlichen Gemeinde treten die Organisationen der Führungsschichten (Erbbürger, Hausgenossen, Laubenherren) sowie die der Handwerker deutlich hervor.
3.5
„Bürgerkämpfe"
Dieses komplexe System „Stadt" entwickelte eigene Konfliktformen. Aufstandsversuche gegen die frühen Habsburger (1278, 1308) gingen von den „alten" ritterlichen Führungsgruppen aus, denen es um die Wiederherstellung bzw. Erhaltung der reichsunmittelbaren Stellung Wiens ging. Ihre Niederschlagung dürfte den Niedergang der älteren ritterbürgerlichen Schichten mitverursacht haben. Parallel dazu vollzog sich der Aufstieg kommerziell orientierter Gruppierungen. Nach fast hundert Jahren relativer Ruhe brachen 1395 Unruhen im Zusammenhang mit einer Vormundschaftskrise nach dem Tode Albrechts III. (1395) aus — ein Muster, das für die Folgezeit von Bedeutung blieb. Die gemeinsame Regentschaft von Albrecht IV. und seinem Cousin Wilhelm — über die Erbteilungen seit 1379 s. u. S. 108! — führte zum Ausbruch von Unruhen in Klosterneuburg, Wiener Neustadt und Wien. Dabei wurden die Interessen der „Gemein", primär also der Handwerker, gegen die traditionellen Oberschichten lautstark formuliert. Sowohl die Bestimmung Herzog Wilhelms von 1396 für Wiener Neustadt, dass die Steuerbücher künftig zur Einsicht offen stehen müssten, als vor allem auch die Wiener Ratswahlordnung vom selben Jahr (s. o. S. 94) zeigt die Stoßrichtung dieser Bewegung. Der Rat sollte künftig zu je einem Drittel aus Erbbürgern, Kaufleuten und Handwerkern zusammengesetzt sein, damit nicht lediglich Erbbürger oder aber Kaufleute bzw. Handwerker dort vertreten seien und „also daz fürbazzer icht mer in dem rat bey einander sitzen swehaer aydem gebrueder vettaern"— eine deutliche Anspielung auf die enge verwandtschaftliche Verflechtung der städtischen Führungsschichten. Der Tod Wilhelms 1 4 0 6 — Albrecht IV. war schon 1404 gestorben und hinterließ nur einen unmündigen Sohn Albrecht V. — eröffnete eine neue Phase der Vormundschaftskrisen. Die überlebenden Brüder aus der leopoldinischen Linie, Leopold IV. und Ernst, stritten um die Vormundschaft. Leopold blieb zunächst siegreich, machte sich aber bei den führenden Gruppen in Stadt und Land unbeliebt. Prälaten, Landherren und Städte — also vor allem die Ratsbürger — riefen Herzog Ernst ins Land (1407), die Wiener Gemein, größtenteils aus Handwerkern bestehend, hielt zu Leopold. Ernst ließ am 15. Jänner 1408 fünf Handwerker, die gegen ihn agitiert hatten, hinrichten. Im Gegenzug dazu ließ Leopold, der kurz darauf wieder Herr im Lande war, eine Empörung gegen eine neue Sondersteuer auf Wein in eine solche gegen den ihm missliebigen
Die Entwicklung der Städte
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Rat umlenken und nun seinerseits den Bürgermeister Konrad Vorlauf und zwei Ratsherren hinrichten (11.7.1408). Ihre nachträgliche Rehabilitierung erfolgte nach dem Ende der unglückseligen Vormundschaftsregierung, als Albrecht V. 1411 zur Herrschaft gelangt war. Neuerdings virulent wurden Vormundschaftskrise und Prätendentenkämpfe unter dem nachgeborenen Sohn Albrechts V., Ladislaus (1440 - 1457), und seinem Vormund aus der steirischen Linie, Kaiser Friedrich III. (1439 - 1493) bzw. in den Auseinandersetzungen zwischen dem Kaiser und dessen Bruder Albrecht VI. (1457 - 1463). Größeren Umfang nahmen diese Auseinandersetzungen nach dem Tode des angestammten Landesherren, des jungen Ladislaus, an. Wien verhielt sich zunächst zwischen den rivalisierenden Brüdern neutral. Erst nach einer Einigung, wonach Albrecht VI. das Land ob der Enns und Friedrich III. das unter der Enns erhielt, huldigte Wien dem Kaiser. Als 1461 die Zwistigkeiten erneut zum Ausbruch kamen, hielt der überwiegend aus Erbbürgern bestehende Rat zwar noch zum Kaiser, die Unzufriedenheit mit seinem Regiment wurde aber immer stärker, weil die Stadt ständig von verschiedenen Söldnerbanden umschwärmt und der Handel sowie zuletzt auch die Weinernte bedroht und behindert wurden. Schließlich wurde der kaiserliche Rat im August 1462 ausgeschaltet, eine provisorische Stadtregierung mit dem reichen und volkstümlichen Händler Wolfgang Holzer als „Vorgeher" konstituiert. Jetzt erschien Friedrich allerdings rasch (am 24. August) in Wien und ließ einen neuen Rat durch die Genannten wählen. Aber die Gemein versagte diesem Rat den Gehorsam und wählte nochmals Holzer und einen Rat, in dem neben einem ritterlichen Erbbürger vier Kaufleute, fünf Beamte, ein Arzt und sieben Handwerker vertreten waren. Der Kaiser musste diesen neuen Rat bestätigen. Auch dies führte nicht zur Beruhigung, denn um die rumorenden Söldner zu beruhigen, tat Friedrich weiterhin nichts, sondern forderte nur Geld von der Stadt für diese Zwecke. Allseits stieg der Grimm, und am 5. Oktober überzeugte Holzer in einer Bürgerversammlung die Wiener davon, dass man dem Kaiser den Gehorsam aufkündigen müsse. Das geschah, und in der Nacht vom 16. auf den 1 7. Oktober begann die regelrechte Belagerung der Hofburg durch die Wiener. Diese zog sich in die Länge, Herzog Albrecht kam nach Wien, um die Sache selbst zu betreiben, am 14. November kam aber auch König Georg von Podiebrad von Böhmen mit 4000 Mann nach Korneuburg, den der Kaiser durch seinen krainischen Gefolgsmann Andreas Baumkircher zu Hilfe gerufen hatte. Nach verschiedenen Kämpfen kam endlich am 2. Dezember ein Vertrag zustande. Albrecht wurde Landesherr von Österreich unter der Enns. Die Wiener, Hauptträger der antikaiserlichen Kämpfe, gingen leer aus: Schon verhandelte Holzer im Geheimen mit dem Kaiser und versuchte im April 1463 zu putschen. Albrecht, rechtzeitig gewarnt, mobilisierte die Handwerker, Holzer musste flüchten, wurde aber gefangen und am 15. April hingerichtet; nun wird der Rat stärker als früher von Handwerkern besetzt, die ja Albrechts Herrschaft gerettet hatten. Der Kaiser sekkierte die Stadt nach wie vor mit streunenden Söldnern. Der Tod Albrechts am 2. Dezember klärte die
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Krise" des Spätmittelalters. Ständekämpfe und Bauernkriege
Lage. Neuerdings wurde der Kaiser Stadtherr, dessen Abneigung gegen Wien nach jener Belagerung allerdings nie mehr ganz verschwand. Der Rat wurde 1464 umgebildet und sein Handwerkeranteil stark reduziert. Wenn sich in diesen verwirrenden Wechselspielen einigermaßen konstante Fronten abzeichneten, dann noch am ehesten zwischen der bürgerlichen Oberschicht und der „Gemein", überwiegend also den Handwerkern. Dennoch waren die hier beschriebenen Konflikte nicht in dem Sinne „Bürgerkämpfe", dass unterberechtigte Gruppen um erhöhte Anteile am Stadtregiment gekämpft hätten. Vielmehr wandten sich die Kontrahenten an je unterschiedliche Gruppierungen — der Kaiser eher an die Oberschichten, Albrecht VI. eher an die Handwerker. Die politisch Handelnden innerhalb der Bürgerschaft gehörten jedoch allesamt den ritterlichen und kommerziellen Oberschichten an, wobei allenfalls Holzer die Entwicklung eines weiterführenden Programmes zuzutrauen ist. Waren die hier kurz skizzierten Konflikte durch eine eigentümliche Gemengelage von innerstädtischen Auseinandersetzungen mit dem Konflikttypus Stadt — Stadtherr gekennzeichnet, so gehört der Auflehnungsversuch der Stadt Wien von 1519 (gemeinsam mit den übrigen Ständen) ausschließlich dem zweiten Typus an. Die Wiener Oberschichten schrieben es der seit 1506 bzw. 1516 rechtlich, faktisch schon früher vollzogenen Aufhebung des Niederlagsprivilegs zu, dass der Wiener Handel darniederlag. Tatsächlich war Kaiser Maximilians I. bekannte Abhängigkeit von den oberdeutschen Handelshäusern einer der Gründe für die Abschaffung jenes alten Rechtes. Aber die Hintergründe für die wirtschaftlichen Probleme der Stadt waren vielfältiger — erinnert sei nur an die endlosen Fehden und Kriege des 15. Jahrhunderts, an den Bedeutungsgewinn von Augsburg und Nürnberg als Zentralen von Kapitalbildung und Verlagswesen und an die mangelnde Entfaltung eines eigenen Fernhandels und eigener Exportgewerbe in Wien, wo man ja traditionellerweise mit Weinbau und Weinexport (neben den mühelosen Erlösen aus dem Niederlagsrecht) ganz gut über die Jahrhunderte gekommen war. Die Wiener fanden jedenfalls in den maximilianischen Maßnahmen und in dessen „Regiment" (einer frühen Zentralbürokratie) die Schuldtragenden an ihren Problemen. Hatten sie schon am Innsbrucker Generallandtag von 1518 bewegte, aber fruchtlose Klage gegen diese Einrichtung geführt, so benützte man im Jänner 1519 den Tod des Kaisers, um seinem Regiment die Legitimation für weiteres Regierungshandeln abzusprechen (s.u. S. 113). In der Stadt bildete sich neben dem Rat ein Bürgerausschuss von 53 Bürgern (davon die Hälfte Handwerker — offenbar der stärker mobilisierbare Teil der Bürgerschaft), im Land eine provisorische Regierung ständischer Provenienz. Doch bald wurde die städtische Widerstandspartei isoliert, ihre Häupter fielen am 9. August 1522 unter dem Schwert des Scharfrichters. Die städtisch-ständische Revolte bot dem neuen Landesfürsten einen willkommenen Anlass, das Stadtregiment grundsätzlich zu erneuern. Handwerker durften nicht mehr in den Rat, die Münzer-Hausgenossenschaft, die traditionellste unter den bruderschaftlichen Organisationen der städtischen Oberschicht, wurde aufgelöst.
Die Entwicklung der Städte
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Eine abschließende Beurteilung dieser verschiedenen Konflikte ist schwierig. Unbestritten bestand eine stete Differenz zwischen den Oberschichten (den „Reichen") und den Handwerkern (der „Gemein", den „gemeinen Leuten"). Aber den Forderungen der Handwerker nach politischer Mitbestimmung war 1396 wenigstens im Prinzip entsprochen worden. Wenigstens zeitweilig entsprach die Vertretung der Handwerker im Rat jener Ordnung, so dass es schwer fallen dürfte, die Auseinandersetzungen des 15. Jahrhunderts nach dem Muster vieler anderer Städte mit der Forderung von Handwerkergruppen nach erhöhter Kontrolle und Mitbestimmung zu interpretieren. Auch erwiesen sich im 15. Jahrhundert die Wiener Oberschichten als höchst flexible und mobile Gruppe, keineswegs durch starre Schranken patrizischer Selbstabgrenzung abgemauert. Sie erneuerten sich durch Zuwanderung, aber auch durch Aufstieg innerhalb der städtischen Gesellschaft, durch Vermögenserwerb, Besetzung wichtiger Stellungen in Stadt und Universität. Die Konflikte sind daher auch nur schwer als Erneuerungskonflikte städtischer Oberschichten zu interpretieren. Bezeichnend erscheint, dass in Krisenfällen die „Gemein" selbst aktiv politisch handelnd hervortritt oder angesprochen wird. Genau das ist nach den neuen Ordnungen von 1526/27 nicht mehr möglich. Die „Gemein" bestand offenbar überwiegend aus den Handwerkern in ihren Zünften. Wenn sich diese nicht stärker als Träger der Konflikte profilieren konnten, so hängt das wohl mit der schon erwähnten mangelnden Ausbildung von Exportgewerben einerseits, der großen Bedeutung des Weinbaues andererseits zusammen, der ja nun kein zünftiges Gewerbe, sondern primär eine Angelegenheit der grundbesitzenden Oberschicht einerseits, des Weinhauerproletariats andererseits war. Innerhalb der Handwerker waren es nicht die Ärmeren, sondern zumeist die Kürschner, Goldschmiede, Fleischhauer, nur selten auch andere Gewerbe, die sich politisch aktiv zeigten — also im Wesentlichen die Vertreter der einkommensstärksten Branchen. Wenn die Fraktionen in den Vormundschafts- und Prätendentenkämpfen des 15. Jahrhunderts verwirrend und wechselnd erscheinen, wenn weiters die ökonomische Entwicklung der Stadt das Hervortreten beherrschender bürgerlicher Gewerbe behinderte, so zeigen doch verschiedene Indizien (der albertinische Rat von 1463 etwa), dass das „gefährliche" Element wohl doch im Handwerk gesehen wurde. Denn dieses war ökonomisch eher gefährdet, durch die Zechen organisiert und daher mobilisierbar sowie durch die Einbindung in die Stadtverteidigung wehrhaft und selbstbewusster geworden. Nicht nur die neue Stadtverfassung von 1526 mit ihrer Ausschaltung der Handwerker, sondern noch deutlicher die Handwerksordnung von 1527 mit ihrer verschärften Unterordnung der Handwerker und ihrer Organisationen unter die landesfürstliche Bürokratie und den jetzt nur mehr von Beamten und Kaufleuten besetzten städtischen Rat zeigen doch zur Genüge, wen man ausschließen wollte, um eine Wiederkehr der „Gemein", wie sie sich im 15. Jahrhundert verschiedentlich als Kristallisationspunkt von Unruhe, Konflikt und städtischem Selbstbewusstsein gezeigt hatte, zu verhindern. Damit dürfte eine Interpretation, die die städtischen Konflikte des 15. Jahrhunderts primär als Ausdruck der Gemeindebewegung sieht, nicht allzu weit fehlgehen.
104
4
„Krise" des Spätmittelalters. Ständekämpfe und Bauernkriege
Ansätze einer frühkapitalistischen Entwicklung
Spätmittelalterliche Handelsgesellschaften dienten der Verminderung des Risikos durch Streuung bzw. Zusammenlegung des Risikokapitals für bestimmte Geschäfte. Sie wurden zunächst oft nur auf kurze Zeit abgeschlossen. Primär wurden solche Gesellschaften von Familienmitgliedern (Brüder, Schwäger) gebildet. Vorbildwirkung entfaltete sowohl Italien wie auch Oberdeutschland (die Regensburger Runtinger, die große Ravensburger Handelsgesellschaft u.a.m.). Als eine der ältesten „Aktiengesellschaften" im heutigen Österreich gilt die Vereinigung „Commune" der Leobener Eisenhändler von 1415, die später zweimal erneuert wurde. Solche Communen errichteten auch die St. Veiter und Althofener Eisenhändler für den Absatz des Kärntner Eisens (spätes 15. Jahrhundert). Wenn in solchen Verbindungen auch die Anfänge moderner Kapitalgesellschaften zu sehen sind, so mutet die Beschränkung der Einlagenhöhe (in Leoben auf 100 Pfund Pfennige) doch noch zünftisch an. Ähnliche Gesellschaften bildeten sich dann auch für den Nahrungsmittelhandel, wie eine Villacher Ochsenhandelsgesellschaft zur Versorgung der Oberkärntner Bergbaugebiete. Der Ochsenhandel zwischen Ungarn und Venedig, der teils über Kärnten, teils über Krain oder Kroatien lief, lag primär in venezianischer Hand, freilich profitierten auch Handelsleute in Ptuij/Pettau, Ljubljana/ Laibach oder Villach davon. In Wien machten sich nicht nur die Oberdeutschen bemerkbar, hier war auch der wohlhabende Kaufmann und Herrschaftsbesitzer von Ebreichsdorf, Simon Pötel, eine dominierende Erscheinung, dessen Handelsgesellschaft das Wirtschaftsleben im 15. Jahrhundert entscheidend mitgestaltete. Maximilian I. hat diesen Verbindungen ein Ende gesetzt. Der Handel mit den Montanprodukten wurde verstärkt landesfürstlicher Kontrolle unterstellt, wie das Bergwesen überhaupt. Der Wiener Handel wurde seit dem 16. Jahrhundert von privilegierten „Niederlegern" beherrscht, Großhändlern meist ausländischer Herkunft, deren Position erst durch Maria Theresia in Frage gestellt wurde. Es erscheint symptomatisch, dass die „camera" der Judenburger Kaufleute im „fondaco dei Tedeschi", Beleg für deren Bedeutung im Venediger Handel, 1484 den Augsburger Fuggern übergeben wurde. Die traditionell wenig entwickelte einheimische Händlergesellschaft, durch Stapelzwang und Niederlagsrechte verwöhnt, wurde nun von den „Oberdeutschen" überrundet. Über den Handel mit den Produkten des österreichischen Montanwesens, besonders des Eisens, drangen sie in jenes ein. Die große Zeit des oberdeutschen Engagements im Edelmetallbergbau Tirols, Kärntens und der Steiermark sowie im Quecksilberbergbau Krains (Idrija/ Idria) ist vor allem im Zusammenhang mit dem Geldbedürfnis Maximilians I. (1493 - 1519) und Ferdinands I. (1522 - 1564) zu sehen, die den oberdeutschen Kapitalisten zur Sicherstellung ihrer Kredite immer wieder Einkünfte aus oder geradezu die Ausbeutungsrechte an dem Berg überlassen mussten.
Ansätze einer frühkapitalistischen Entwicklung
4.1
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Modernisierung im Montanwesen
Die erhöhte Nachfrage nach den Produkten des Montanwesens bedeutete einen Anreiz für verschiedene technische Neuerungen. Im Eisenwesen wurden seit dem 14. Jahrhundert Abbau und Verhüttung getrennt, während bislang eher kleine „Rennfeuer" als bäuerlicher Nebenerwerb betrieben worden waren. Nun entstanden „Radwerke", Verhüttungsanlagen mit größeren Öfen, zu deren Belüftung wassergetriebene Gebläse dienten. Das Produkt dieser Verarbeitungsstufe wurde dann in Hammerwerken weiterverarbeitet und schließlich wurden die verschiedenen Eisensorten den spezialisierten Schmieden in der weiteren Umgebung der Erzlager bzw. der Eisenhandelsstädte (Steyr, Bruck an der Mur, Leoben, St. Veit) überlassen. Das Kapital für diese Umstellung kam aus dem Handel. Die Eisenhändler wurden die eigentlichen Beherrscher des Eisenwesens, die sowohl die Rad- und Hammermeister wie die Schmiede (Sensen-, Sichel-, Messer-, Nagelschmiede usw.) im Wege des „Verlages" beherrschten. Der „Verlag" bedeutete die Vorstreckung von Geld oder (und) Rohstoffen an die verschiedenen Meister, die dadurch in steter Abhängigkeit vom Händler verblieben. Wo der Reichtum sich ansammelte, zeigt auch das Bild der Siedlungen—den bäuerlich-industriellen Bergbaurevieren um den steirischen und Kärntner Erzberg stehen die reichen und schönen Händlerstädte Steyr, Leoben, Bruck an der Mur oder St. Veit gegenüber. Im Montansektor traten völlig neuartige Arbeits- und Lebensverhältnisse auf, die bis zu einem gewissen Grad Verhältnisse der industriellen Revolution vorwegnahmen. Neuartig waren zunächst die Menschenansammlungen in den Montangebieten, ferner die Formen des gemeinsamen Arbeitens und des Zusammenlebens. Prinzipiell wurden die am „Berg" Beteiligten und Beschäftigten als Gemeinde (Berggemeinde) aufgefasst — das hängt mit der Entwicklung einer speziellen Berggerichtsbarkeit zusammen, der alle jene, die mit dem „Berg" zu tun hatten, unterworfen wurden. Diese „Bergverwandten" erscheinen im 15. und 16. Jahrhundert in sich schon stark differenziert: Zur Berggemeinde gehörten Gewerken (also „Unternehmer"), Schmelzer, Berg- und Hüttenwerksverweser (Vorformen späterer Angestellter), Arbeiter, Erzkäufer, Diener, Schreiber, Einfahrer, Hutleute, Grubenmeister, Erzknappen, Holzknechte, Säumer, Zimmerleute usw. Unter diesen verschiedenen Gruppen sind die Knappen von besonderem Interesse.
4.2
Die Knappen
Der Begriff „Knappe" bedeutet ebenso wie „Knecht" einen herrschaftlich abhängigen, in der Regel jungen, in Ausbildung begriffenen Menschen. Während aber der ritterliche Knappe durch den Ritterschlag zum Ritter und der Geselle zum Meister werden konnte (und im Spätmittelalter in der Regel auch noch wurde), kam es im Bergbau frühzeitig zu einer Knappensituation auf Lebenszeit. Die lebenslängliche Abhängigkeit von Lohnarbeit ohne Hoffnung, selbst
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Krise" des Spätmittelalters. Ständekämpfe und Bauernkriege
zu Gewerken aufsteigen zu können, verlieh der Knappensituation ihr besonderes Gepräge. Da die Knappen auch nicht einmal mehr theoretisch einem übergeordneten Haushalt angehörten, eröffneten sich ihnen Heiratsmöglichkeiten und damit die Ausbildung eigener Haushalte. Entsprechend der hohen Zahl an Knappen, die es im Edelmetallbergbau (besonders beim Silber) gab, waren hier auch die Erscheinungsformen und Probleme der Knappenschaft besonders ausgeprägt. In Schwaz gab es um 1550 etwa 11.000 Bergleute. Früh und deutlich prägte sich die besondere gesellschaftliche Organisation der Knappen im Edelmetallbergbau im religiösen Bereich aus. Altar- und Messstiftungen der Knappen bildeten den Anfang. Die Zweischiffigkeit von Kirchen in Montangebieten war im 15. Jahrhundert mehrfach Ausdruck einer Teilung der Kultgemeinde in Bürger und Bergverwandte. Aus den Bruderschaften der Pfarrleute oder aber auch der Bergverwandten bildeten sich besondere Bruderschaften der Knappen (15. Jahrhundert). Angesichts der besonderen Probleme der Knappenschaft trat der Charakter der Knappen-Bruderschaft als Organisation zur gegenseitigen Hilfeleistung stärker in den Vordergrund. Historisch erstmalig wurde hier die Frage der Arbeitslosigkeit, bei „Unwürde" des Berges, also bei Absatzkrisen oder Unmöglichkeit des Abbaues infolge von Naturkatastrophen oder kriegerischen Ereignissen, aktuell. Besondere Bedeutung hatte die Frage der Invalidität sowie der Witwen- und Waisenversorgung. Die fehlende patriarchalische Schutzverpflichtung eines übergeordneten Hausherrn führte zu regelmäßigen Einzahlungen in Bruderladen bei den Bruderschaften, aus denen dann Unterstützungen bezahlt werden konnten. Nicht zufällig führte die enorme Konzentration von Knappen im Silberbergbau Nordtirols dazu, dass die Schwazer Knappenbruderschaft um 1510 das erste Berufskrankenhaus, das so genannte „Schwazer Bruderhaus", gründete. Über diese Fürsorgefunktion hinaus boten die Bruderschaften aber auch die Organisationsform für die Artikulation gemeinsamer Interessen der Knappen gegenüber den Arbeitgebern. Zwar waren „Einungen", also Absprachen der Knappen zwecks Lohnerhöhung, allgemein untersagt. Aber die Verfestigung der Knappenorganisation muss zumindest eine Verstärkung des Gruppenbewusstseins der Knappen bedeutet haben, so dass man die große Wende von 1525/26 rasch zum Anlass nahm, die Knappenbruderschaften aufzulösen. Dass das Selbstbewusstsein der Knappen in der Tat gestiegen war, beweisen nicht nur zahlreiche Sagen über Hochmut und Ausgelassenheit der Knappen, zu deren Strafe dann häufig der Bergsegen versiegte — offensichtlich sind diese Sagen Erklärungsversuche für den Zusammenbruch des Edelmetallbergbaues im späten 16. und 17. Jahrhundert. Streiks und Aufstandsversuche der Knappen waren nicht selten. Nicht bloß in der Organisation der Knappen, auch in der Betriebsorganisation weist der Bergbau viele „moderne" Züge auf. In der Unternehmensform kam es ebenso wie im Handel zu neuen genossenschaftlichen Zusammenschlüssen. Überall begünstigte, ja erforderte der wachsende Kapitalbedarf das
Herrschaft und Gesellschaft — neue Territorienkomplexe
107
Eindringen des kapitalkräftigen Geldgebers, vor allem aus den oberdeutschen Reichsstädten, der nur mehr bestimmte Unternehmerfunktionen (Kapitalbeschaffung, Organisation des Absatzes) wahrnahm und die Gewinne lukrierte, nicht aber den Betrieb selbst leitete. Diese Trennung von Betrieb und Unternehmen hat auch die Entstehung eines ebenfalls modern anmutenden Angestelltentyps, des schon genannten „Verwesers" stimuliert.
5 5.1
Herrschaft und Gesellschaft — neue Territorienkomplexe D e r A u f s t i e g des Hauses Österreich
Seit 1282 waren die Habsburger Herren von Österreich und Steier, also der heutigen Länder Oberösterreich, Niederösterreich und Steiermark. Schon um 1300 waren nur mehr Cörzer und Habsburger ernsthafte Konkurrenten im Ostalpenraum. Die zunächst mächtigeren Görzer schwächten ihre Position durch mehrere Teilungen, so dass ihre Besitzungen schließlich nach und nach an die Habsburger fielen: 1335 Kärnten und Krain, 1363 Tirol, 1374 Mitterburg/ Pazin in Istrien sowie einige Herrschaften in Unterkrain, 1460 die Besitzungen in Kärnten östlich der Lienzer Klause, 1500 schließlich Lienz mit dem Pustertal sowie die namengebende Stammherrschaft Görz mit dem friaulischen Streubesitz und dem Isonzotal. Im 14. und 15. Jahrhundert führte diese Tendenz zu weiterer Herrschaftsakkumulation und zu Auseinandersetzungen mit den benachbarten Wittelsbachern, Luxemburgern, Venezianern und Ungarn, ganz abgesehen von den Kämpfen mit den sich formierenden Eidgenossen im Westen. Sieht man vom endgültigen Verlust der Schweizer Position bis 1500 ab, gelang es den Habsburgern, ihre territoriale Basis sowohl im Osten wie im Westen zu erweitern, so durch Landerwerb im heutigen Vorarlberg und Tirol ebenso wie in Schwaben. Nach 1534 ließen die Habsburger von ihren Bemühungen um einen großen Territorialblock im Südwesten des Reiches ab. Wahrscheinlich hat die Trennung der burgundisch-spanischen und der österreichischen Besitzungen des Hauses (1522) sowie die mit 1526 (Ferdinand I. wird König von Böhmen und — nicht unangefochten — von Ungarn) einsetzende Ostorientierung und das Hauptaugenmerk, welches nun die Auseinandersetzung mit dem Osmanischen Reich beanspruchte, jene Vernachlässigung der vorländischen Politik mitbewirkt. Die östlichen Länder waren inzwischen ob der Enns sowie im innerösterreichischen Bereich (Eingliederung des Territoriums der Grafen von Schaunberg, 1382 Oberhoheit über Triest, 1456 Erwerbung der weitläufigen Besitzungen der Grafen von dilli in der Untersteiermark, in Unterkrain und in Oberkärnten) ebenfalls erweitert und abgerundet worden. Freilich trügt dieser Eindruck einer stetigen Ausweitung der habsburgischen Macht, weil seit dem Tod Herzog Rudolfs des Stifters (1365) dessen überlebende Brüder das traditionelle Prinzip der Herrschaft zu „gesamter Hand" (also
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,Krise" des Spätmittelalters. Ständekämpfe und Bauernkriege
aller Erbberechtigten gemeinsam) sukzessive gegen das Prinzip realer Teilung
des Besitzes tauschten. Das führte schließlich 1379 zum Vertrag v o n Neuberg,
in d e m Albrecht III. Ober- und Niederösterreich zugesprochen bekam, Leo-
pold III. hingegen die Vorlande, Tirol, Kärnten, Krain und Steiermark. D i e Alber-
tiner erloschen mit d e m T o d e Ladislaus' 1457. Die leopoldinischen Lande wurden 1411 w i e d e r u m in eine innerösterreichische Linie mit Steiermark, Kärnten
und Krain (Ernst der Eiserne) und eine tirolische ( H e r z o g Friedrich „mit der
leeren Tasche") geteilt. Emsts Sohn Friedrich V. (als Kaiser III.) übernahm nach
d e m T o d Ladislaus' und seines eigenen Bruders Albrecht VI. (1463) die Herrschaft in Ober- und Niederösterreich. Erst als Friedrichs Sohn Maximilian 1490
von Sigmund von Tirol auch die Herrschaft über Tirol übernehmen konnte,
w a r e n alle habsburgischen Länder wieder unter einer Linie vereint. D i e Vormundschahskrisen
und Prätendentenkämpfe dieser Periode haben die fürstli-
che Position jedenfalls deutlich geschwächt.
M i t der burgundischen Heirat Maximilians I. (1477) sind die Habsburger
über die Ebene regionaler Konkurrenzkämpfe hinaus auf die Ebene
weiter Auseinandersetzungen
europa-
getreten. Das gilt auch nach der Teilung des habs-
burgischen Hausbesitzes (1522) zwischen Karl V., der dabei Burgund, Spanien, Neapel-Sizilien, die überseeischen Besitzungen und das Kaisertum erhielt, und
Ferdinand I. selbst für dessen in verhältnismäßig bescheidenem Rahmen agierende „deutsche" oder „österreichische" Linie. Diese herrschte seit 1526 nicht bloß über die nicht unbeträchtliche österreichische Ländergruppe, sondern stellte
zugleich die Könige von B ö h m e n und (wenigstens in den westlichen G e b i e t e n )
auch v o n Ungarn. Seit 1556 verblieb auch das römisch-deutsche Kaisertum, das nach der Resignation und d e m T o d e Karls an Ferdinand I. gefallen war, in
dieser Linie. Beide Linien kooperierten politisch bis zur Mitte des 1 7. Jahrhun-
derts sehr eng, w o b e i die spanische Linie mit Hilfe des Silbers aus Lateinamerika der stärkere Partner war. Spanische Unterstützung w a r beispielsweise in
den Bedrängnissen von 1618/20 für Ferdinand II. überaus wichtig.
D a die beiden Linien der Habsburger den bedeutendsten M a c h t b l o c k
Europas bildeten, w a r e n sie an vielen Fronten in zahlreiche Konflikte
kelt. Im Mittelpunkt stand die Konfrontation
verwik-
mit Frankreich, dessen Herrscher-
haus ebenfalls das burgundische Erbe für sich beanspruchte — das Haus Bur-
gund w a r ja eine Seitenlinie der Valois. Die weitgehende Behauptung Maximi-
lians und Karls V. bedeutete für Frankreich, dass es fast zur G ä n z e von habsburgischem G e b i e t umschlossen w a r — v o n den burgundischen Niederlanden
(Nordfrankreich, Belgien, Holland, Luxemburg) im Norden, der Franche C o m t é (Freigrafschaft Burgund) und den elsässischen Besitzungen der Habsburger im
O s t e n und von Spanien im Süden; dazu kam das Herzogtum Mailand in Oberitalien, das Karl V. einbehalten hatte. Französische Politik musste daher seit
1477 stets auf eine S c h w ä c h u n g der Habsburger aus sein. Ein zweiter Problem-
bereich w a r das Heilige Römische
Reich, dessen selbstbewusste Fürsten eben-
falls die habsburgische Übermacht fürchteten und w o die Ü b e r n a h m e der Reformation
durch zahlreiche Reichsfürsten nicht nur zu einer konfessionellen
Herrschaft und Gesellschaft — neue Territorienkomplexe
109
Spaltung, sondern auch zu verschärften Konflikten mit dem katholisch gebliebenen Kaiserhaus führten. Und drittens erbten die Habsburger von den ungarischen Königen die direkte Konfrontation mit den Osmanen, die seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts übrigens auch schon in die südlichen (innerösterreichischen) Länder eingefallen waren. Darüber hinaus existierte seit Maximilians Venezianerkrieg (1508 - 1516) auch ein ständiger latenter Konflikt mit Venedig. Überaus kompliziert wurden diese Verhältnisse, als sich in wichtigen Teilen des habsburgischen Herrschaftsgebietes große Teile des Adels und der städtischen Führungsschichten den religiösen Neuerungen zuwandten. In den Niederlanden, in Ungarn und in Böhmen, aber auch in Oberösterreich und Niederösterreich verschärfte diese religiöse Komponente die Spannungen zwischen Herrscher und Ständen bis hin zur offenen militärischen Konfrontation, die freilich ganz verschiedene Ergebnisse brachte — den nördlichen Niederlanden die völlige Unabhängigkeit, Ungarn eine faktische Religionsfreiheit, den altösterreichischen Ländern und Böhmen aber die totale Unterwerfung. Wenn auch in allen diesen Konflikten zunächst Spanien einen großen Teil der Lasten zu tragen hatte, so stellte sich die Frage nach einem intensiveren Zugriff des Fürsten auf die Ressourcen der Länder auch in allen übrigen habsburgischen Ländern. Das lief auf eine Ausweitung des fürstlichen Handlungsspielraumes hinaus.
5.2
Die Ausweitung von Regierungshandlungen — Mittel und Wege
Zunächst war die Reichweite von Regierungshandlungen eines spätmittelalterlichen Fürsten begrenzt. Arbeitsmarktpolitische Regelungen, wie sie 1352 für Tirol erlassen wurden, waren damals erstmalig im späteren österreichischen Raum. Hier war es durch die besondere Eigenart der Landesbildung zu einer frühen Form praktisch allgemeiner Landesuntertänigkeit gekommen. Ein Vergleich der so genannten „Landesordnung"von Tirol 1352 mit den fast gleichzeitigen Anordnungen Albrechts II. für Wien — beide versuchten, die Pestfolgen Arbeitskräfteknappheit, Lohnsteigerung und Abwanderung von ungünstigen Höfen usw. zu bekämpfen — zeigt: In Tirol wurde als Geltungsgebiet ausdrücklich das ganze Land, d. h. seine Gerichte, genannt, in der Ordnung Albrechts ist nur von Wien die Rede. In beiden Fällen ist das Geltungsgebiet der landesfürstlichen Satzung der engere Herrschaftsbereich des Landesfürsten, seine Gerichte und Städte — nur bedeutete dies in Tirol die große Mehrheit aller Gerichte, während in Österreich die Mehrheit der Gerichte unter adeliger Hoheit stand. Unterschiedliche Landesstrukturen bedingten also unterschiedliche Reichweiten fürstlicher Politik. Die Auswe/iungder Regierungstätigkeit konnte sich im Wesentlichen auf zwei Motiv-Gruppen stützen: auf die Friedenswahrung nach außen und innen und auf Regalrechte — in beiden Fällen mussten adelige und gemeindlich-autonome Eigen-
110
.Krise" des Spätmittelalters. Ständekämpfe und Bauernkriege
rechte weichen. Nicht zufällig setzen hier jene „Ordnungen" an, die nun seitens des Fürsten, aber mit Geltungsbereich über seinen engeren Herrschaftsbereich hinaus erlassen werden. Ein Beispiel dafür ist eine Proviantordnung Friedrichs III. von 1488/89, die die Versorgung der Montangebiete sichern sollte. Dieser wurden ganze Bezirke des Alpenvorlandes „gewidmet", die ihre Produkte ab jetzt nur in die Bergbaugebiete verkaufen durften. Das war ein Eingriff nicht nur in die Marktverhältnisse, sondern auch in die Rechte von Grundherrschaften und (vor allem) von Städten. Solche „Ordnungen" wurden dann im 16. Jahrhundert immer zahlreicher, als Kleider-, Gerichts- und Polizeiordnungen drückten sie den gesellschaftlichen Regelungsanspruch des Fürsten gegenüber den traditionell autonomen Sphären von Stadt, Grundherrschaft oder bäuerlicher Gemeinde recht deutlich aus. Zugleich bildete sich ein langsam wachsender Apparat am fürstlichen Hofe heraus, der immer stärker transfeudale Dimensionen gewann. Außerdem bedurfte der jetzt häufig abwesende Fürst einer ständigen Vertretung. Maximilian I. richtete daher 1490 und 1493 „Regimenter" ein, die solche bürokratische Vertretungskörper waren. Das bedeutete den Beginn grundlegender gesellschaftlicher Verschiebungen, die von dem biederen Amtmann des Klosters Neustift bei Brixen, Georg Kirchmair, für die Spätzeit Maximilians I. (1518) mit folgenden, fast klassischen Sätzen wahrgenommen und kommentiert wurden: „Man sol mir nit verweisen, das ich in meiner vermerckung die secretari und Schreiber vorsetz und erst hernach die edlen Rät. Dan es ist auch also im Wesen gewesen, dan hirschen und Schreiber, Jäger, Valckner und hunde haben diser zeit die pesten Vorstände und hilferzaigungen gehebt. In suma aller pracht und alle macht an guet und gelt hetten die secretary ..." Die „edlen Räte", also die adeligen Mitglieder der Landesgemeinde (wie wir ergänzen dürfen), stehen hinter den Schreibern und Sekretären. Dass dazu noch Jäger, Falkner, Hirschen und Hunde genannt werden, mag mit Maximilians persönlicher Jagdleidenschaft zusammenhängen. Die Kombination von demonstrativem jagdluxus und bürokratischer Regierungsform blieb aber für die gesamte Periode des höfischen Absolutismus bezeichnend. Noch hatte die „höfische Gesellschaft" jedoch nicht vollends gesiegt. Sie wurde im gesamten habsburgischen Herrschaftsbereich noch einmal gründlich in Frage gestellt. Doch war der Widerstand gegen die neue, höfisch-bürokratische Staatlichkeit in sich uneinig. Wesentlich blieb er konservativ; er erhob sich in seinen Vorstellungen nur selten über die Verteidigung des „alten Rechtes" hinaus zu neuen Dimensionen. Und die Träger dieses Widerstandes, die (adeligen) Landstände einerund die Bauern andererseits, fanden niemals zu einer gemeinsamen Aktion gegen das Vordringen der absolutistischen Tendenzen.
111
Länder, Stände, Ständekämpfe
Graphik 3: Landesbildung und Formierung der Stände — Österreich, 14. jahrhundert
alter Hochadel, Idf. Ministerialen, Reichsbischöfe
Klöster unter Idf. Vogtei
^ 88
Städte d. Herren
»milites« des 1 2 . / 1 3 . )h.
LANDGEMEINDEN d. Landesfürsten
\
Landgem. d. Ritter
Landgem. d. M M Prälaten L_J Landgem. d. Herren
Die Landesbildung ist abgeschlossen. Der Landesfürst (Herzog) hat keine Konkurrenten mehr im Lande selbst. Jetzt formieren sich die im Zuge der Landesbildung entstandenen Gruppierungen der Herren, Ritter, Prälaten und Städte als Landesgemeinde = Landstände gegenüber dem Landesherrn. Es ist dies ein Emanzipationsprozess für jene Gruppen, die im Zuge der Landesbildung in ein direktes Herrschaftsverhältnis zum Fürsten gelangt waren, gleichzeitig aber selbst Herrschafts- bzw. Autonomierechte (Stadtgericht!) erhalten hatten. Noch nicht zum Lande gehörten alle herrschaftsunterworfenen Gruppen, also die untertänigen Bauern usw. Landgemeinden des Landesfürsten gab es hier wenige, sie könnten im 15. Jahrhundert zur Kurie der Städte und Märkte gezählt worden sein.
6
Länder, Stände, Ständekämpfe
Innerhalb der einzelnen Länder der Habsburger verfestigten sich die Strukturen der Stände, der „Landstände". Spätmittelalterliche Landstände sind nicht mit „ordines" im Sinne von sozialen Typen, Berufsschichten oder ökonomischen Klassen zu verwechseln. D i e Kurien der Landstände entwickeln sich aus jenen G r u p p e n , die im Z u g e der Landesbildung den Integrationskern darstellten und dabei durch bestimmte Rechte und Verpflichtungen gegenüber dem Landesfürsten hervortraten.
6.1
Die Landstände
A u s der Unterschiedlichkeit der Landesbildung resultierte die Unterschiedlichkeit der Kuriengliederung der Stände: Dadurch entstanden im O s t e n (Öster-
112
„Krise" des Spätmittelalters. Ständekämpfe und Bauernkriege
reich und das Land ob der Enns, Steiermark, Kärnten) vier Kurien: Herren, Ritter, Städte und Prälaten, während Tirol nur eine ritterliche Adelskurie kennt (aber als vierte Kurie jene der ländlichen Gerichtsgemeinden) und Vorarlberg nur drei Städte und zwölf ländliche Gerichte (keinen Adel, keine Prälaten). Diese Gruppen, insbesondere der Adel, waren dem Landesfürsten zu „Rat" und (zunächst militärischer) „Hilfe" verpflichtet, hatten aber auch nur vor ihm ihren Gerichtsstand. Frühe Landtage waren daher entweder Gerichts- oder militärische Musterungsversammlungen. Aus Gerichts- und Musterungsversammlung entwickelte sich die Gewohnheit, bestimmte Dinge, die diese Gruppen, aber auch das Land insgesamt betrafen, gemeinsam zu „beraten". Der im Deutschen dafür übliche Begriff „gesprech" (Gespräch) entspricht übrigens genau dem aus dem Vulgärlateinischen übernommenen „parlamentum". Prinzipiell scheint es zunächst um Bereiche der äußeren oder inneren Friedenswahrung bzw. der militärischen Verpflichtung gegangen zu sein. In Ablösung dieser feudalen, persönlichen militärischen Hilfsverpflichtung wurden im Spätmittelalter zunehmend Geldmittel, Steuern, vom Fürsten verlangt und von den Ständen bewilligt — notwendiges Betriebsmittel für die wachsende Verwendung von Söldnern, übrigens durchaus auch adeligen, zumindest im Bereich der Reiterei. Von richtigen „Landtagen" spricht man seit dem Ende des M.Jahrhunderts, als es immer mehr Gewohnheit wurde, nicht mit den einzelnen Kurien getrennt zu verhandeln, sondern alle auf einmal einzuberufen. Den wachsenden Steuerforderungen der Fürsten gegenüber gewöhnten sich die Stände daran, deren Berechtigung zwar nicht zu bestreiten, wohl aber alle möglichen anderen Probleme als „Gravamina" vorzubringen. Es bildete sich ein gewisses Verhandlungsmuster heraus, nach welchem der Fürst die Erledigung einiger dieser Gravamina versprach und schließlich auch die Stände die verlangte Steuer (oder wenigstens einen Teil davon) bewilligten. Das bedeutet zuweilen Vorstufen einer Art von Mitwirkung an der Gesetzgebung, aber keineswegs ein Gesetzgebungsrecht selbst. Landtage sind also modernen Parlamenten keineswegs gleichzusetzen, obgleich sie in gewissem Sinne deren Vorläufer waren. Das politische Gewicht der Stände stieg im 15. Jahrhundert. Die große Bedeutung ständischer Politik war nicht bloß Folge erhöhten Geldbedarfes der Landesfürsten im Verein mit intensivierten Versuchen der Statussicherung gefährdeter ritterlicher Grundherren, sie stand auch im Zusammenhang mit den Herrschaftsteilungen im habsburgischen Haus, mit Vormundschaftsstreitigkeiten und Prätendentenkämpfen (s. o. S. 100 f. und 107 f.). Dabei konnten die Stände durch das Bestehen auf der Herrschaft des legitimen Nachfolgers das große Plus der Legitimität ihrer Forderungen mit der angenehmen Begleiterscheinung verbinden, dass ein derart zur Herrschaft gelangter Fürst ihnen doch verbunden bleiben und ihre Wünsche berücksichtigen müsste. Unter diesem Aspekt sind etwa die ständischen Positionen in der Auseinandersetzung mit Kaiser Friedrich III. (1493 - 1493) zu beurteilen, der in Ober- und Niederösterreich zunächst nur als Vormund für den kleinen Herzog bzw. (in Ungarn und Böhmen) König Ladislaus (1439 - 1457) fungierte. Um ihren angestammten Herr-
Länder, Stände, Ständekämpfe
113
scher aus dieser Vormundschaft zu befreien und unter den Einfluss der eigenen Führer zu bringen, verbündeten sich die Herren und Ritter des Herzogtums Österreich zu Mailberg im nördlichen Niederösterreich 1451 und brachten diesen Bund in einer siegelstarrenden Urkunde zum Ausdruck. 1452 setzten sie sich durch. Die kurze Herrschaft Ladislaus' war tatsächlich eine Zeit, in der die Chefs der Ständepartei die Politik bestimmten. Die Querelen des 15. Jahrhunderts erscheinen im Nachhinein eher als Vorgeplänkel einer größeren Auseinandersetzung. Sie musste ausbrechen, als die Frage der Finanzierung des seit Maximilian I. und seit 1526 groß und weitläufig gewordenen Herrschaftsbereiches dringend geworden war. Denn die Finanzierung musste die Stände beschäftigen. Gemeinsame Tagungen der diversen Ständevertreter schufen erstmals so etwas wie einen gemeinsamen institutionellen Rahmen für die meisten der habsburgischen Länder außerhalb des fürstlich-höfischen Bereiches. Am längsten gab es solche Länderkongresse im Bereiche der drei bzw. vier innerösterreichischen Länder, die sich vom 15. bis ins 17. Jahrhundert nachweisen lassen und hier tatsächlich einem wachsenden Gemeinschaftsbewusstsein des in der zweiten Teilungsperiode ( 1 5 6 4 1619) fast schon zu einer Art Staatlichkeit gediehenen Territorialkomplexes von Innerösterreich korrespondierten. Unter Maximilian I. kam es um 1500 zu gemeinsamen Tagen der niederösterreichischen Lande, also der innerösterreichischen gemeinsam mit den Ländern Österreich ob und unter der Enns. Vertreter aller althabsburgischen Länder trafen sich 1518 zu einem Generallandtag in Innsbruck. Ergebnis war eine gemeinsame Defensionsordnung — Ausdruck wachsender Gefährdung der Erblande durch die vordringenden Türken. Aber auch massive Unzufriedenheit mit der Regierung Maximilians kam zum Ausdruck. Nach seinem Tode wurde dieser ständische Unmut manifest.
6.2
Die Ständerevolte von 1519/20
Genau genommen war die „Ständerevolte" von 1519/20 eine relativ harmlose Auflehnung. Im Prinzip ging es darum, ob die Amtsgewalt des „Regimentes", also der von Maximilian I. eingesetzten höfischen Früh-Bürokratie, nach seinem Tode anerkannt werden sollte und konnte. Das Testament des Kaisers befahl diese Anerkennung. Älteren Rechtsanschauungen, nach welchen nur ein lebender König vertreten werden konnte, widersprach dies ebenso wie den Landesprivilegien. Es wurde daher von der ständischen Exekutive des Landes Österreich noch für Ende Januar 1519 ein Landtag nach Wien ausgeschrieben, der einen 16-köpfigen Ausschuss für die Führung der Regierungsgeschäfte wählte. Das maximilianische Regiment zog sich daraufhin nach Wiener Neustadt zurück. An der Spitze der die ständische Bewegung dominierenden Gruppe stand der langjährige Stadtrichter und mehrmalige Bürgermeister von Wien, Dr. Martin Siebenbürger, der schon früher mehrmals Konflikte mit dem Regiment ausgetragen hatte. Anschließend trafen sich Delegierte aller niederösterreichischen Länder (Österreich ob und unter der Enns, Steiermark, Kärnten, Krain, Görz und Triest)
114
„Krise" des Spätmittelalters. Ständekämpfe und Bauernkriege
auf einem Landtag in Bruck an der Mur (März 1519), wo man auch eine Botschaft an den Ältesten des Hauses, Erzherzog Karl, als Kaiser später Karl V., nach Spanien abzusenden beschloß. In Barcelona distanzierten sich die adeligen Gesandten der Steiermark von den bürgerlich dominierten Unterösterreichern. Die Steirer kehrten zur angestammten Obödienz zurück, doch die Wiener verharrten bei ihrer Opposition. In den ersten Monaten des Jahres 1520 wurde endlich Kommissaren der habsburgischen Brüder die Huldigung geleistet, im Juli schließlich auch in Wien. Damit war aber die Sache noch nicht zu Ende, man leistete weiterhin hinhaltenden Widerstand. Der letzte Akt erfolgte erst nach der Bereinigung der Probleme zwischen den Brüdern. Im Brüsseler Vertrag vom Februar 1522 erhielt Ferdinand I. den gesamten Komplex des „Hauses Österreich" (eine zeitgenössische Bezeichnung nicht nur für die Familie, sondern auch für deren Besitzungen), wie ihn sein Großvater Maximilian I. besessen hatte. Nun kam er als Landesherr in seine Erblande. Im Juni wurde zu Wiener Neustadt Gericht gehalten. Am 23. Juli erfolgte der Urteilsspruch und am 9. August wurden zwei adelige Führer der Opposition, am 11. dann Siebenbürger und fünf andere Wiener Bürger hingerichtet.
6.3
Ständischer Widerstand im 16. und frühen 17. Jahrhundert
Die adelig-ständische Bewegung im engeren Sinne war damit noch lange nicht tot. Sie erhielt Schützenhilfe durch zwei neue historische Erscheinungen: die Reformation und die Türken. Man hat nicht zu Unrecht die Reformation in den österreichischen Ländern als religiös ausgedrückte Widerstandsideologie des Adels gegen den absolutistischen Landesfürsten angesehen. Allerdings lähmte die lutherische Version der Reformation letztlich diesen Widerstand, da eine ihrer leitenden Denkfiguren jene des „leidenden Gehorsams" war. Aktiverer Widerstand war erst mit Namen wie Georg Erasmus von Tschernembl verbunden, der seinerseits der calvinischen Version der Reformation anhing. Neben dem Eindringen calvinischen Gedankengutes muss der lange erfolgreiche Widerstand des protestantischen Adels andererseits vor allem den Türken zugeschrieben werden. Die seit 1526 fast ununterbrochen anhaltende Gefahr eines weiteren türkischen Vordringens, die häufigen kriegerischen Auseinandersetzungen und der stete Zwang zu Rüstungen hinderte die Habsburger daran, gegen den Adel entschieden vorzugehen, brauchte man doch die Stände immer wieder zu Steuerbewilligungen für Rüstungen. Und drittens konnten die Stände vom berühmten Bruderzwist zwischen Rudolf II. (1578 - 1612) und Matthias (Kaiser von 1612 - 1619) profitieren. Ebenso wie schon im Spätmittelalter erwiesen sich die Herrschaftsteilungen (zweite Teilungsperiode von 1564 bis 1619) und der Ehrgeiz eines zu kurz gekommenen jüngeren Bruders als Gefahr für die Dynastie und als Chance für die oppositionellen Stände. Als sich Kaiser Rudolf einer Beendigung des langen Krieges gegen die Türken in Ungarn (1593 - 1606) massiv widersetzte, betrieb Matthias die Zurückdrängung des Kaisers zuerst innerhalb der Familie, dann
Länder, Stände, Ständekämpfe
115
auch mit Hilfe der Stände Österreichs und Ungarns. Schließlich kam es 1608 zwischen Matthias und den Ständen Ungarns, Mährens und des Erzherzogtums Österreich zu einer „Union" gegen Rudolf. Kaum hatte Matthias die beiden österreichischen Länder in der Hand, entstand ein neuer Konflikt zwischen ihm und den protestantischen Ständen, die sich in Horn 1608 zu einem eigenen Bund zusammenschlossen. Schon 1606 hatten sich die Stände Innerösterreichs mit den Niederösterreichern, Böhmen, Mährern, Schlesiern, Ungarn, Siebenbürgern und Kroaten zwecks Sicherung des (soeben abgeschlossenen) Friedens von Zsitva Török verbündet. 1609 tauchte der Plan eines ständischen Zentral-Ausschusses für alle Länder auf, der 1612 weiter ausgefeilt wurde. 1615 und 1620 trafen sich die Vertreter der böhmischen Länder und die „Nieder"-Österreicher ob und unter der Enns, nun schon eindeutig in revolutionärer Absicht. Unter der Führung von Männern wie Tschernembl entstanden weitreichende Konzepte, die letztlich auf eine Reduktion bzw. überhaupt Beseitigung der Position der Habsburger hinausgelaufen wären. An deren Stelle sollte eine mehr oder weniger lose Konföderation ständisch-adelig beherrschter Länder treten, deren Zentrum die Länder der böhmischen Krone gebildet hätten: 1619 berichtete der venezianische Gesandte, es sei das Ziel der Länder (also der revoltierenden Stände), eine Konföderation unter sich zu schließen und eine freie Regierung ähnlich jener der Schweiz oder der holländischen Ceneralstaaten zu errichten. Mit der Verschärfung der religiösen Gegensätze wurden die ständischen Vereinigungen mit ihren obligat protestantischen Mehrheiten den Habsburgern zunehmend verdächtig. Als Erster verbot Ferdinand II. (1590 - 1637, Kaiser seit 1619) für seinen innerösterreichischen Herrschaftsbereich gemeinsame Landtage. Matthias hingegen war kein grundsätzlicher Gegner solcher „Tage", da er sich davon eine allgemeine Zustimmung zu seinen Kriegsplänen gegen die Osmanen versprach. Die groß angelegte Linzer Tagung von 1614 (auch als „erster österreichischer Reichstag" bezeichnet) scheiterte jedoch, da die Stände allen Kriegsplänen erfolgreichen Widerstand leisteten. Seither gab es keine habsburgischen Generallandtage mehr. Mit der Schlacht am Weißen Berg am 8. November 1620, dem Sieg der Truppen des Kaisers und der katholischen Liga im Reich, wurde nicht nur die böhmische, sondern auch die ober- und niederösterreichische Adelsfronde entscheidend getroffen. Der Proponent der oberösterreichischen Stände in dieser Bewegung, Georg Erasmus von Tschernembl, musste ins Exil. Sein Biograph beurteilte ihn als konservativen Revolutionär, als „Propagator eines föderativen Österreich der Stände und der Länder", der „in seinem Ringen um diesen Ständestaat die andere Variante der möglichen Staatswerdung Österreichs" angedeutet habe (Sturmberger).
6.4
Scheitern der Stände: Ursachen und Folgen
Das Scheitern der Stände ist zum einen wohl aus der Schwäche der Städte erklärlich. Städte und adelige Grundherren trugen seit dem 15. Jahrhundert
116
Krise" des Spätmittelalters. Ständekämpfe und Bauernkriege
massive Streitigkeiten hinsichtlich der Reichweite ihrer ökonomischen Wirksamkeit aus. Im Wesentlichen befanden sich dabei die Städte in der Defensive. Als Folge der spätmittelalterlichen Agrardepression versuchten gerade die größeren und aktiveren Grundherren, Einnahmen aus nichtlandwirtschaftlichen Zweigen zu realisieren. Dies erschien den Städten, deren Politik stets auf Sicherung eines gewerblich-kommerziellen Monopols für einen bestimmten Landstrich („Bannmeile") hinausgelaufen war, als tödliche Bedrohung für die „bürgerliche Nahrung" ihrer Insassen. Im 16. Jahrhundert spitzte sich die Lage zu, da sich nun die Konjunktur langsam umdrehte, die Landwirtschaft wieder rentabler wurde und also die Grundherren wieder bessere Profite machten. Die Städte gerieten tatsächlich in eine ernsthafte Krise, deren Ausdruck die sinkende Teilnahme der Städte an den Landtagen, andauernde Klagen über ihre schrumpfende Einwohnerschaft und abnehmende Steuerkraft und fast ununterbrochene Bitten an den Landesfürsten waren, den Gäuhandel, also die gewerblich-kommerzielle Betätigung der Bauern — und letztlich auch der Grundherren — zu unterbinden. Vor diesem Hintergrund wird erst voll verständlich, dass die adeligen Stände die Städte, den „vierten Stand", schmählich im Stiche ließen, als die Habsburger mit der Gegenreformation ernst machten, und nur an die Sicherung ihrer eigenen Religionsfreiheit dachten. Auch diese war mit dem Jahre 1620 endgültig verspielt. Insgesamt gesehen waren die Habsburger, unbeschadet ihrer zeitweiligen Probleme, doch übermächtige Gegner. So hatte die Kaiserkrone auch einen durchaus materiellen Inhalt, etwa in der Türkenhilfe des Reiches (so ungenügend sie auch stets erschien). Und im Entscheidungskampf konnte der Kaiser eben dank seiner Stellung die katholische Liga für sich mobilisieren. Daneben dürfen die spanischen und, solange sie noch funktionierten, burgundisch-niederländischen Verbindungen, denen immerhin das Wiener Kunsthistorische Museum seine Bruegels, Rubens' und Rembrandts verdankt, nicht vergessen werden: Die Habsburger konnten also gegen ihre oppositionellen Stände wenigstens zum Teil auch die Macht der Kaiserkrone, die Macht Spaniens und die Reichtümer der Niederlande einsetzen.
7
Bauernkriege in Österreich
Die territoriale Machterweiterung der Habsburger im Spätmittelalter ging nur zum Teil mit einer inneren Machtkonsolidierung parallel. Gewalt- und Steuerm o n o p o l als Ausdruck moderner Staatlichkeit existierten noch keineswegs. Gewalt übte im 15. Jahrhundert jeder Waffenfähige in Form der Fehde, sei es aus wirklicher Überzeugung, sich auf diese Weise ganz legal Recht verschaffen zu können, sei es um einen Vorwand zu haben, jedermann behelligen und ausplündern zu können. Steuern wurden vom Landesfürsten zwar in wachsender Zahl gefordert, er bedurfte dazu aber, wenn es um die Untertanen des
Bauernkriege in Österreich
117
Adels ging, dessen Einwilligung. Einigermaßen geordnete Verhältnisse waren besonders im 15. Jahrhundert jahrzehntelang nicht herzustellen. Dazu trugen auch die Verwicklungen mit auswärtigen Mächten bei (Hussitenkriege, Ungarnkriege, Türkenkriege). Jahrelang streiften ungenügend oder gar nicht bezahlte Söldnerbanden im Lande umher, bis sie entweder befriedigt oder endlich auseinander getrieben werden konnten — deutlichster Ausdruck der Tatsache, dass weder die landesfürstliche Gewalt noch die Stände als eigentlich traditioneller Träger der bewaffneten Macht des Landes ihrem theoretischen Anspruch, „Schützer" des Landes zu sein, genügen konnten. Dass unter diesen Umständen die traditionelle Legitimation der Herren, von ihren Bauern Dienste und Abgaben zu verlangen, brüchig wurde, verwundert wenig. Im Schwabenspiegel hatte es geheißen: „Wir sullen den Herren darumbe dienen, daz si uns schermen." Von diesem „Schirm" war nicht alizuviel zu spüren. Ebensowenig konnte der Landesfürst den Schutz des Landes gewährleisten. Unrast, Unsicherheit und Erregbarkeit, erklärbar wahrscheinlich aus all den verschiedenen hier genannten Ursachen, kennzeichnen die Zeit zwischen der großen Pest und den großen Bauernaufständen des 15. bis 17. Jahrhunderts.
7.1
Die wichtigsten Aufstände
In Tirol kam es 1525 zum programmatisch bemerkenswertesten Bauernkrieg. Auf dem Lande ruhte ein großer Teil der finanziellen Last des Venezianerkrieges (1508 - 1516) Maximilians I. Schulden und Steuerrückstände sowie eine wachsende Verbitterung über die steigenden Jagdschäden waren die Haupthinterlassenschaft des Kaisers. Sofort nach seinem Tod 1519 brachen Jagdunruhen aus. Der große Ausbruch kam 1525. Schon im Februar und März protestierten die Schwazer Bergknappen gegen Teuerungen. Ferdinand konnte sie beruhigen, was um so wichtiger war, als dadurch den Bauern die Kampfkraft der Knappen in den kommenden Auseinandersetzungen fehlen sollte. Am 9. Mai schließlich bedeutet die Befreiung eines populären Gegners des Bischofs, des gefangenen „Absagers" Peter Paßler, das Signal zum Aufstand in Brixen. (Ein „Absager" ist ein Fehdeführer. Die Legitimität der „Absage", der Fehde-Ansage Paßlers, wurde freilich vom Bischof nicht anerkannt). Geistliche Landesherren standen in diesen frühreformatorischen Zeiten allgemein im Mittelpunkt der Kritik. Schon nach wenigen Tagen trat der bischöfliche Sekretär Michael Gaismair als führender Kopf des Aufstandes hervor. Ende Mai formulierten die Südtiroler in Meran ihre Forderungen. Diese „Meraner Artikel" sind neben den oberschwäbischen „Zwölf Artikeln" und den „24 Artikeln gemeiner Landschaft Salzburg" die bemerkenswertesten programmatischen Forderungen der Aufstandsbewegung (von Gaismairs später formulierter „Landesordnung" einmal abgesehen). Mitte Juni trat ein Landtag in Innsbruck zusammen, unter Ausschluss der Geistlichkeit und starkem Hervortreten von Landgemeinden und Städten.
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.Krise" des Spätmittelalters. Ständekämpfe und Bauernkriege
Erzherzog Ferdinand versuchte Zeit zu gewinnen, schlug alle grundsätzlichen Forderungen ab, konnte aber durch Eingehen auf regionale Wünsche eine Aufspaltung des Aufstandes und zuletzt eine Isolierung der Gaismair-Gruppe erreichen. Gaismair selbst wurde verhaftet, konnte aber entfliehen und verbrachte Herbst und Winter 1525/26 im Schweizer Exil, eifrig organisatorisch und programmatisch tätig. Nun dürfte er seine revolutionäre Landesordnung entwickelt haben. Ein neuer Aufstandsversuch scheiterte 1526. Gaismair zog mit seinem Anhang nach Salzburg und kämpfte hier im Sommer vor Radstadt. Nach der Niederlage entkam er über die Pässe ins Venezianische und trat in den Dienst der Republik Venedig. 1532 fiel er einem Mordanschlag, hinter dem die Innsbrucker Regierung stand, zum Opfer. In Tirol selbst war es seit 1525 relativ ruhig. Die Landesordnung von 1526 kam den bäuerlichen Wünschen weit entgegen und selbst die schärfere neue Landesordnung von 1532 unterdrückte die Bauern nicht völlig. Landesweite Unruhen gab es in Salzburg schon 1462, als Folge einer ungewöhnlich hohen Steuervorschreibung. In den Jahren 1525/26 schließlich wurde Salzburg Schauplatz nicht nur der längsten, sondern auch der militärisch auffälligsten Auseinandersetzungen dieser Jahre, war dies doch der einzige Aufstand im heutigen Österreich, in dem die Bauern nicht bloß einen Überrumpelungserfolg gegen ein relativ schwaches Landsknechtheer erzielten, sondern in welchem sie auch dem kriegsgeübten Heer des Schwäbischen Bundes bei Salzburg ziemlich erfolgreichen Widerstand leisten konnten — jenem Heer, das zuvor den Widerstand der aufständischen Bauern im schwäbischen Bereich in kurzer Zeit gebrochen hatte. Am 24. Mai versammelten sich nicht Bauern, sondern die „Gesellschaft des Bergwerks", also Gewerken und Knappen von Gastein, und sie beschlossen, den Kampf gegen den Erzbischof Kardinal Matthäus Lang zu eröffnen. Eher unter Druck schlossen sich dem die Bauern des Tales an. Organisatoren und Anführer waren meist Gewerken. Gründliche organisatorische Vorbereitung, genügend Geld und die Kampfkraft der Knappen sorgten für rasche Erfolge. Bald öffnete die „Gemein" (der Rat hielt noch zum Landesherrn) den Aufständischen die Tore von Salzburg. Matthäus Lang zog sich auf die Festung Hohensalzburg zurück, wo er sich auch halten konnte. Erst am 20. Juni erhielt der Erzbischof die Hilfszusage des Schwäbischen Bundes. Die Aufständischen beherrschten inzwischen das Land. Gute Ordnung und Disziplin verweisen auf die Führerschaft der Gewerken, die einen Teil der Knappen nach Hause geschickt hatten, um die Geldquelle nicht versiegen zu lassen — dafür hielt man sich andere Leute im Sold. Am 3. Juli besiegten die aufständischen Salzburger den steirischen Landeshauptmann Siegmund von Dietrichstein bei Schladming — dieser selbst wurde gefangen genommen. Am 16. August erschien das Heer des Schwäbischen Bundes unter Herzog Ludwig von Bayern und Georg von Frundsberg vor Salzburg. Zwei Wochen lang lag man sich gegenüber, dann
Bauernkriege in Österreich
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wurde ein Waffenstillstand vermittelt, der im Wesentlichen dem momentanen Kräfteverhältnis entsprach, das heißt, nichts wirklich entschied. 1526 gab es eine neuerliche Auseinandersetzung, doch hielten sich die Gewerken und Knappen jetzt zurück. Träger des Aufstandes waren die Flüchtlinge aus dem Ennstal, wo im Herbst Schladming zerstört worden war, ferner Flüchtlinge aus anderen Gebieten des Reiches und schließlich Tiroler. Der Salzburger Aufstand hängt eng mit den Plänen Gaismairs für seinen großen Tiroler Aufstand zusammen. Da der Letztere verraten wurde und Salzburg als Zufluchtsort geeignet erschien, ferner auch der dortige Landesfürst unvergleichlich schwächer war als der Habsburger Ferdinand, blieb schließlich nur dieser Kriegsschauplatz übrig. Gaismair erschien hier Ende Mai. Das Bauernheer begann am 15. April die Belagerung von Radstadt. Sie blieb erfolglos. Gaismair setzte sich mit ca. 2.000 Mann über Rauris und die Tauern (Hochtor) nach Heiligenblut ab. Nun gab es Hinrichtungen, Brandschatzungen, neue Steuern — kurz: das gewohnte Bild nach niedergeschlagenen Aufständen. Nicht mit Unrecht fühlten sich die Bauern betrogen, denn die Führer und ebenso die den Aufstand von 1525 tragenden Gewerken hatten sich dem Strafgericht, das über jene hereinbrach, entziehen können. In Oberösterreich fand der erste überregionale Bauernaufstand 1595/97 statt. Dabei gab es nur eine einzige militärische Auseinandersetzung (am 13. November 1595), bei der das adelig-ständische Aufgebot allerdings eine blutige Niederlage erlitt. Dann verlegte man sich aufs Verhandeln. Man merkt deutlich, dass den Obrigkeiten durch den „langen Türkenkrieg" in Ungarn (1593 1606) die Hände gebunden waren. Die Verhandlungen endeten insofern mit einem interessanten Ergebnis, als Kaiser Rudolf II. in seiner Interims-Resolution vom 6. Mai 1597 eine Begrenzung der Robot mit 14 Tagen pro Jahr zugestand. Dieses „Interimale" hatte das Schicksal so mancher österreichischer Provisorien — es galt bis zum Jahre 1848. Wieder brach nach abgeschlossenen Verhandlungen das übliche Strafgericht herein, Folterungen, Hinrichtungen und Plünderungen, die nur den Zweck hatten, die Untertanen für die Zukunft einzuschüchtern. Der in jeder Hinsicht größte Bauernkrieg auf dem Gebiete des heutigen Österreich fand schließlich 1626 in Oberösterreich statt. Das Land war bis zum Dreißigjährigen Krieg weithin protestantisch geblieben. Seine Stände zählten zu den widersetzlichsten, die dem neuen Herrscher Ferdinand II. 1619 gegenübertraten. Nach der Schlacht am Weißen Berg (1620) wurde das Land an den Bayernherzog Maximilian verpfändet, dem Führer der katholischen Liga im Reich, zur Deckung von dessen Kriegskosten im böhmischen Feldzug. Ein ganzes Land befand sich nun in der Situation einer Pfandherrschaft — mit sehr unangenehmen Folgen. Zu allem Überfluss befahl 1624 der „richtige" Landesherr, Ferdinand II., den Bayern, die Gegenreformation nun endlich durchzuziehen. Furchtbar schwoll der Grimm der untertänigen Massen, welche die Verantwortung für die materielle Ausplünderung ebenso wie für die geistige Vergewaltigung
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natürlich den Bayern zuschoben. Die Vertreibung eines katholischen Pfarrers nützte der Statthalter Graf Herberstorff zu einer exemplarischen Strafaktion, dem so genannten „Frankenburger Würfelspiel", einer Art von Russischem Roulette, bei dem nicht die Pistole, sondern das Würfelbrett über Leben und Tod bestimmte (15. Mai 1625). 16 Bauern aus dem Kreis der „Rädelsführer" (Richter, Räte, Pfarrausschüsse, Zechpröpste) wurden gehängt. Daraufhin wurde eine umfängliche Verschwörung ins Werk gesetzt. Der Aufstand brach am 13. Mai 1626 etwas verfrüht aus, als bei einer Wirtshausrauferei einige bayerische Söldner erschlagen worden waren. Sofort erging das Aufgebot der Bauern. Am 21. Mai stieß Herberstorff mit den Bauern bei Peuerbach zusammen und unterlag. Nun ergriff der Aufstand unter Stefan Fadinger und Christoph Zeller das ganze Land. Freistadt wurde belagert und am 1. Juli auch erobert. Erst gegen Ende Juni begannen die Bauern mit der Belagerung von Linz. Schon am 28. Juni wurde ihr begabter und populärer Führer Fadinger bei einer Rekognoszierung so schwer verwundet, dass er bald darauf starb. Sein Nachfolger wurde Achaz Wiellinger von der Au, ein Mitglied jener ritterlich-bäuerlichen Zwischenschicht, die damals nur mehr in wenigen Exemplaren existierte. Die Belagerung blieb erfolglos. Trotz dieser Missgeschicke gelang es den Bauern, zwei bayerische Heeresgruppen, die im September über Ried und entlang der Donau einrükken wollten, zu schlagen. Schließlich traf Anfang November Gottfried Freiherr von Pappenheim ein, dessen Kürassiere die Bauern endgültig besiegten. Leicht hatten sie es dabei nicht. Zum Unterschied von (fast) allen Bauernkriegen liefen die Oberösterreicher nicht einmal vor den gefürchteten Eisenreitern davon und lieferten ihnen noch drei Schlachten (im Emlinger Holz am 9. November, bei Pinsdorf am 15. und bei Vöcklabruck am 18. November). Mindestens 12.000 Bauern waren im Kampf gefallen, zahlreiche wurden auch hier die Opfer der nun einsetzenden Verfolgungen. Trotz dieser Katastrophe kam es in den 1630er Jahren noch einmal zu zwei kleineren Erhebungen eher radikal-religiösen Inhalts. In Niederösterreich brach der größte Bauernkrieg im Spätherbst 1596 aus. Teilweise war die Bewegung von Oberösterreich ausgegangen, wo auf die Hinrichtung von zwei Bauern am 13. November in Steyr eine neue Welle von Unruhen begonnen hatte. Die Ursachen dürften vielfältig gewesen sein. Neben zahlreichen Beschwerden gegen die Grundherrn steht der Krieg (der „lange Türkenkrieg", 1593 - 1606) im Vordergrund, der nicht bloß zahllose neue Steuern gebracht hatte. Führer waren fast ausschließlich nichtbäuerliche Leute, ein Binder, ein Schneider, ein Wirt oder ein Schulmeister. Es gab wenig zielgerichtetes Handeln seitens der Bauern, anfangs aber ebenso wenig zielgerichtete Gegenwirkungen. Eine Söldnertruppe unter Wenzel Morakshy von Noskau „befriedete" erst im Februar 1597 das Waldviertel, anschließend auch das Viertel ober dem Wienerwald, wo die Bauern Ybbs eingenommen und am 5. April sogar begonnen hatten, St. Pölten zu belagern. Sie wurden jedoch schon am 6. April zerstreut. Damit war der Aufstand zu Ende, das übliche Strafgericht folgte.
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In der Steiermark wuchs die Unruhe schon zu Lebzeiten Maximilians I. Tätlicher Widerstand mehrte sich, und im Frühjahr 1515 kam es, ausgehend von Krain, zu einem weitreichenden Aufstand, der von den Zeitgenossen als „windischer Bauernaufstand" bezeichnet wurde, über das slowenische Sprachgebiet aber schließlich bis in die Gegend von Gleisdorf hinausging. In der Untersteiermark eroberten die Bauern unter anderem die Stadt Rann/Brezice und schlugen bei Gonobitz/Slovenske Konjice ein großes Lager auf. Georg von Herberstein schlug die Bauern schließlich in drei Treffen bei Gleisdorf, Saldenhofen/ Vuzenice und Cilli/Celje. Danach folgten die üblichen Gräueltaten. Das große Bauernkriegsjahr 1525 betraf in der Steiermark nur das obere Mur- und Ennstal, wo, von Salzburg her, Propaganda für den Anschluss an den großen „Bund", der schon vom Inntal bis Hallein alles umfasse, gemacht wurde. Vom Lungau ausgehend, ergriff die Bewegung auch die angrenzenden steirischen Gebiete, wo sich ihnen die kleine Stadt Murau anschließen musste. Bei Neumarkt wurden die Bauern schließlich geschlagen. Im Ennstal reichte die Bewegung ungefähr so weit, als der Bergbau betrieben wurde — mit Zentren in Schladming, Aussee, Eisenerz. Steirisches Gebiet wurde auch von Aufständen erfasst, die im kroatischen Grenzgebiet 1573 ausbrachen. Auch 1635 war die slowenische Untersteiermark Schauplatz eines Aufstandes. Kärnten hat unter den frühen Aufständen den bemerkenswertesten aufzuweisen. Der Aufstand des Jahres 1478 steht für diese Zeit ziemlich einmalig da. Den Hintergrund boten die seit den späten sechziger Jahren fast alljährlichen Türkeneinfälle und die absolute Hilflosigkeit sowohl der ständischen Aufgebote wie auch des Kaisers Friedrich III. dagegen. Unmittelbarer Anlass war aber eine Steuerforderung in der erst 1460 endgültig an den Kaiser gefallenen Grafschaft Ortenburg in Oberkärnten. Die schlechte österreichische Münze galt wenig gegenüber dem „Agleier" (= Aquilejer) Pfennig. Der Kaiser wollte für jeden „Agleier" zwei gemeine Pfennige, die Bauern erhofften sich einen stärkeren Inflationsgewinn und wollten nur 1,5 Pfennig geben. Und dies, obgleich sie ihre Produkte um „zwei gelt" verkauften und nun „... tragen pesser klayder und trinkhen pessern wein, dan ire herrn ...", wie der Chronist und Pfarrer Jakob Unrest berichtete. Die Gefangennahme einiger Bauern durch den kaiserlichen Vizedom in Spittal an der Drau beantworteten sie mit einem „Bund", der sich rasch über Anlass und ursprüngliches Problemgebiet hinaus ausbreitete. Im Laufe des Frühjahres schlossen sich auch die Bauern in anderen Landesteilen an. Im Mai wählte man in einer Versammlung einige „Bundherren". Gerüchteweise verlautete sogar, die Bauern wollten sich „... nach der trewlosen Sweytzer gewonhayten halten ...". Derlei Umtriebe hätten sie aber mit der vorgeblichen Zielsetzung, den Bund allein gegen die Türken geschlossen zu haben, getarnt. Wenn Unrest die Zielsetzungen richtig wiedergibt, so hatten die Bauern schließlich nicht mehr und nicht weniger vor, als die überkommene Feudalordnung zu stürzen. Sie wollten die Bundherren zu obersten Richtern einsetzen, in jedem Gericht sollten vier Bauern als Richter walten. Auch die Einsetzung der
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Pfarrgeistlichkeit wollten sie übernehmen und so „... den adel untergedruckt haben und die pryesterschafft selbst geregieret haben ...". Gegenüber dem Adel, aber auch gegenüber Städten und Bauern gab man vor, Briefe des Kaisers zu haben, der den Bund unterstütze. Am 26. Juli kamen die Türken. Nun mussten die Bauern zeigen, ob sie den Landesschutz übernehmen konnten und „... das lanndt vor den Turckhen retten und nicht die herrn". Jetzt flohen vom 3000 Mann starken Bauernheer 2600. Z u den restlichen 400 stießen noch 70 Knappen und 130 Bauern. Am nächsten Tag wurden sie bei Arnoldstein von den Türken angegriffen und vernichtet. Größeren Anteil nahm Kärnten erst wieder am innerösterreichischen Bauernaufstand von 1515. Die Kärntner Unruhen hatten ihr Zentrum im Mieß- und Lavanttal. Unter den Führern sind wieder Leute aus dem Bereich der Bergwerke (so ein Christian Groß aus Hüttenberg) zu bemerken. Angeblich haben sich dem Kärntner Aufstand mit Ausnahme von Villach und Völkermarkt auch die Städte und Märkte angeschlossen. Die Aufständischen durchzogen große Teile des Landes, ihre Aufforderung an die Villacher Bürger, sich ihnen anzuschließen, blieb allerdings erfolglos. In mehreren Treffen, so bei Althofen, Rosegg, Völkermarkt und Maria Rojach, wurden sie von den ständischen Truppen geschlagen. 1525 blieb Kärnten im Allgemeinen ruhig. Für die besser untersuchten Gebiete des ganzen althabsburgischen Raumes (Oberösterreich und die slowenischen Länder) zeigt sich eine durchaus vergleichbare Struktur: eine ununterbrochene Kette von Widersetzlichkeiten aller Art gegen Abgaben- und Robotsteigerungen, gegen neue Steuern und neue Formen von Gerichtsverfahren, überlagert von einigen großen und auch konzeptuell bemerkenswerten Aufständen wie 1478 in Kärnten, 1515 in Innerösterreich, 1525/26 in Tirol und Salzburg, 1573 im kroatisch-slowenischen Bereich, 1595/97 in Oberösterreich und Niederösterreich, 1626 in Oberösterreich und 1635 in der Untersteiermark. Eine deutliche zeitliche Konzentration der großen Aufstände ist zwischen 1478 und 1626 bemerkbar. Im Folgenden sollen einige typologische Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet werden.
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Die Feinde der Bauern
Bevorzugte Feindfiguren der bäuerlichen Beschwerden waren im Spätmittelalter vorerst überwiegend die geistlichen Grundherren. Mit dem Anwachsen der kirchenkritischen Gesinnung konnte sich diese Ablehnung der Geistlichkeit als Herrschaftsträger bis zur Forderung nach dem Ende der geistlichen Fürstentümer (Brixen und Salzburg 1525) steigern. Im Zuge der Gegenreformation haben evangelisch gesonnene Bauern immer wieder neu eingesetzte katholische Pfarrer vertrieben. Die Vehemenz der antikirchlichen Gesinnung scheint in der vorreformatorischen Epoche (15. Jahrhundert) und dann um 1525 am stärksten gewesen zu sein, später erscheint sie abgeschwächt, ohne aber je ganz zu verschwinden.
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Neben den geistlichen werden zunehmend auch die weltlichen Grundherren, der Adel, kritisiert. Steht zunächst (in Kärnten 1478) seine Unfähigkeit zur Gewährleistung des Landesschutzes im Vordergrund, so treten mit dem 16. Jahrhundert immer öfter Beschwerden über steigende Robotanforderungen und Todfallabgaben in den Beschwerden auf: „... wan unser ainer stirbt und mit tod abget, so ist unser herschaft da und greift unss in unser heuser, nemen vich, trayd, fleysch und was sy finden ...", klagten die Krainer und Untersteirer zu Gonobitz/Slovenske Konjice 1515. Ein bestimmter Typ von Herren tritt besonders hervor: Pfandherren und Pfleger landesfürstlicher (und anderer) Herrschaften, die sich zunächst auf jede Weise zu bereichern bzw. ihre vorgestreckten Darlehen durch Ausbeutung der Untertanen zu sichern suchten, später auch oft selbst Herrschaftsbesitzer wurden. In den Beschwerden der niederösterreichischen Bauern aus dem jähre 1596 werden solche Pfleger und Verwalter besonders angesprochen: „... augenscheinlich ist, dass offt maniger pfleger der auf ain pfleg khumbt, so bait reich wiert, wen er khaumb 10 fl. werdt hinzubringt, über ain zwey jar hat er schon ain 2.000 fl. im außleichen (kann 1.000 bis 2.000 Gulden verleihen), und khauffen nur die scheinsten (schönsten) heusser, mülen, herrschafften und geschlösser, ist hiemit wol abzunemen, das solliches nuer von dem armen man herkhombt..." Neben diesen alt- oder neuadeligen Grundherren treten als Feinde der Bauern später, im 1 7. und 18. Jahrhundert, immer stärker die \andesfürstlichen Beamten, die Mautner, „Überreiter" (Kontrollore), die Tabak- und Salzgefällseinnehmer hervor. Das zeigt einen gewissen Strukturwandel der ländlichen Gesellschaft an, in der sich immer stärker der entstehende Staat mit seinen Einkunfts- und Gehorsamsforderungen bemerkbar machte, so dass die antifeudalen Bewegungen schließlich nur noch einen Teil der Unruhen ausmachten. Dennoch war praktisch niemals der Landesfürst selbst Gegenstand bäuerlicher Ablehnung, mit Ausnahme der geistlichen Landesfürsten von Brixen und Salzburg 1525. Sicher verstärkte der Glanz der Kaiserkrone im Hause Habsburg seit Friedrich III. die traditionelle Herrscherlegitimation, die sich bis ins 19. Jahrhundert in fast ununterbrochenen Versuchen, die ländlichen Beschwerden direkt an den kaiserlichen Thron gelangen zu lassen, ausdrückt. Die Hoffnungen und Erwartungen, die man in kaiserliche Audienzen setzte, waren auch dadurch nicht zu erschüttern, dass eine echte Unterstützung der bäuerlichen Anliegen kaum je erfolgte — der Kaiser blieb der „gute" Herr, allenfalls umgeben von „bösen" Räten, die ihn falsch informierten und hintergingen.
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Ablaufschema und Trägergruppen
Fast stets gingen den größeren Aufständen Zeiten gesteigerter Unruhe voraus. Vor dem Beginn des innerösterreichischen Bauernkrieges sah man an einem
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kalten Wintertag drei Sonnen zugleich am Himmel stehen. Astrologen, deren Einfluss auf die öffentliche Meinung ungeheuer stark war, sagten für dieses Jahr große Zwistigkeiten im Innerösterreichischen voraus. 1523 setzten heiße Diskussionen über die Bedeutung einer bestimmten seltenen Sternenkonstellation ein, die 1524 entweder eine große Sintflut oder sonst eine allgemeine Katastrophe erwarten ließ. Natürlich wirkten solche Ereignisse und ihre Interpretationen, durch das neue Medium der Flugschrift ungemein rasch und weit verbreitet, in die Richtung der „seif fulfilling prophecy": Ein Elsässer Bauernhaufen erklärte 1525 entschuldigend, was sie täten, sei vorherbestimmt und „des Himmelsgestirnes Schuld". In dieser Stimmung von Unsicherheit, Angst und gespannter Erwartung wirkten Einzelereignisse schließlich auslösend — ein Streit mit einem Pfleger oder Grundherren, eine Hinrichtung oder eine Gefangenenbefreiung (wie 1525 in Brixen). War es einmal so weit — meist im Spätwinter oder Frühjahr —, dann folgte der weitere Verlauf meist einem gewissen Schema. Die Bauern rotteten sich, durch Glockengeläute oder „Ansagen" (= Aufgebot durch Boten von Haus zu Haus) gerufen, zusammen. Häufig folgte man dabei vorgegebenen militärischen Organisationsmustern, mit denen die Landbevölkerung seit Hussiten- und Türkenkriegen verstärkt vertraut gemacht worden war. Nach Gerichten (wie in Tirol und Salzburg) oder nach Pfarren (wie in Oberösterreich und Steiermark) sollte das Aufgebot gegen den Landesfeind erfolgen — eine Einrichtung, die man nach den Erfahrungen geringen militärischen Wertes bzw. der Umfunktionierung in bäuerliche Erhebungen dennoch bis ins 1 7. Jahrhundert beibehielt. So wurde in Oberösterreich das Landvolk 1610 gegen das so genannte „Passauische Kriegsvolk" aufgeboten, wieder 1620 gegen die einrückenden Bayern und 1640 gegen die Schweden. Dabei treten regionale Führungskräfte wie Richter, Zechpröpste und Hauptleute hervor, wie etwa 1597 in Niederösterreich, wo den nach Pfarren organisierten Bauern Hauptleute vorstanden. O b diese Hauptleute eine ständige Einrichtung waren oder ad hoc bestimmt wurden, ist nicht bekannt. Im Dorfsiedlungsgebiet, wo das Haupt der Dorfgemeinde der Richter war, wurden Hauptleute offenbar erst im Falle des Aufgebotes gewählt. In zumeist erstaunlich kurzer Zeit treten neben diesen lokalen bäuerlichen Honoratioren überlokale Führer auf, die nun ihrerseits zumeist nichtbäuerlichen Standes waren: der bischöfliche Sekretär und Abkömmling einer Sterzinger Cewerkenfamilie Michael Gaismair in Tirol, die Cewerken Zott, Weitmoser, Gruber, Praßler in Gastein bzw. Salzburg, die Handwerker und Wirte Markgraber, Prunner und Haller in Niederösterreich. Einige ausgesprochen großbäuerliche Typen wie Marx Neufang in Salzburg oder Angehörige großbäuerlichhändlerischer Gruppierungen wie Stefan Fadinger und Christoph Zeller in Oberösterreich bilden in der ländlichen Sozialhierarchie auch nicht die Regel, sondern die überlokal informierte und interessierte Ausnahme. Dabei lässt sich nun die Regel aufstellen: Je „bürgerlicher" diese Führer waren (wie Gaismair oder die Salzburger Gewerken), desto wahrscheinlicher wurde mittel- oder langfristige Planung und Organisation; je näher diese Leute selbst den ländlichen
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Unterschichten standen, wie die niederösterreichischen Landhandwerker, desto weniger davon. In der Tat sind überdurchschnittliche Planungserfolge und programmatische Aussagen wie militärische Durchschlagskraft nur bei Gaismair, bei den Salzburgern 1525 und bei den Oberösterreichern 1626 feststellbar. Ansonsten bleibt das Vorgehen der Aufständischen, abgesehen vom raschen, plündernden oder rächenden Zugriff auf Klöster und Adelssitze, oft unentschlossen und in den Zielsetzungen unbestimmt. Die ersten Gegenwirkungen der Obrigkeit waren es ebenfalls. Noch fehlte ja der stets verfügbare, bewaffnete Arm; ein „Gewaltmonopol" des Fürsten wurde erst langsam ausgebildet. Beruhigende Abgesandte treten auf, wie der Reichsherold Rudolfs II. im Dezember 1596 in Niederösterreich. Kommissionen werden von Fürsten oder Ständen eingesetzt, die sich mit den Aufständischen treffen, Beschwerden sammeln und Abhilfe versprechen sollten. In Ländern mit Teilnahmeberechtigung für die ländlichen Gerichte an den Landtagen konnte es gelingen, die Verhandlungsphase gleich zu einer weitgehenden Beruhigung zu nützen, wie in Tirol 1525. In Oberösterreich bestand fast der gesamte Bauernkrieg 1595/97 aus solchen verschiedenen Verhandlungsphasen. Deren beruhigende Funktion war allerdings sofort in Frage gestellt, wenn die Söldner eintrafen (was ja eine Weile dauerte, denn stets mussten erst welche neu geworben werden). Nun rotteten sich die Bauern erneut zusammen — meist allerdings nur, um nun ihre endgültige Niederlage zu erleiden. Die letzte Phase bedeutete unweigerlich das nun einsetzende Strafgericht. Hinrichtungen, oft durch vorausgehende Verstümmelungen verschärft, Zerstörung der Häuser, Plünderung des bäuerlichen Besitzes, Übertragung einzelner Bauern und ihrer Familien in die Leibeigenschaft von Söldnerführern, als leichtere Strafe schließlich der Verlust von Ohren oder Nasen, die Verurteilung zur Zwangsarbeit bei den Stadtbefestigungen von Wien oder Raab/Györ bzw. Ofen/ Buda und schließlich schwere Geldstrafen waren die Folgen.
7.4
Organisationsformen
Die Bauern schlossen „Bünde". Der Eintritt geschah nicht immer ganz freiwillig. Die Aufgebote der Aufständischen waren häufig von wilden Drohungen begleitet, man werde jene, die nicht mitziehen wollten, umbringen und ihre Häuser anzünden. Der innere Zusammenhalt dieser Bünde wurde mittels dramatischer Schwüre und Rituale bekräftigt. So schworen die Kärntner Bauern 1478 auf ein bloßes Schwert, das sie an zwei Stangen gebunden hatten; dabei gingen sie unter dem Schwerte durch. Wer nicht in den Bund kommen wollte, dem sollte man „... verpieten die kirchen, freythoff, begrebnus, fewr, wasser und wayd und alle gemain; inn soldt auch nyemannt dyennen noch arbeyten ...". Ähnliche Ächtungsformeln begegnen vielfach. Sie sind den gängigen Rechtsvorstellungen entnommen, denen zufolge bestimmte schwere Rechtsverletzungen mit dem völligen Ausschluss aus der Gemeinschaft geahndet werden sollten. Man kann sich vorstellen, dass viele Leute förmlich zerrissen wurden vor
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Angst — denn natürlich bedrohte die Obrigkeit die Mittäterschaft in den Bünden mindestens genauso stark und letztlich erfolgreich. Das ist vermutlich auch einer der Gründe, warum zahlreiche Rädelsführer (in Niederösterreich 1597 alle) von den Bauern selbst ausgeliefert wurden. Viele haben wohl nicht zu Unrecht in den Verhören betont, sie wären nur mitgegangen, weil sie Angst vor den angedrohten Sanktionen gehabt hätten. Andere schickten ihren „Buben", einen Knecht oder Sohn, damit das Haus im Aufgebot vertreten wäre. Das führt nun zur Frage, wer denn eigentlich die Kämpfer, das „Fußvolk" in den Bauernkriegen waren. Trotz der relativ gleichbleibenden Aufgebotsmuster rekrutierten sich die Bauemhaufen aus recht unterschiedlichen Gruppierungen. So waren in Salzburg 1525 zunächst Gewerken und Knappen Träger des Aufstandes, die Bauern schlossen sich nur zögernd an. 1526 aber hatte der Aufstand einen völlig anderen Charakter. Im Vordergrund standen jetzt die Flüchtlinge aus dem oberen Ennstal und die exilierten Tiroler. Sowohl die Knappen wie die Bauern treten daneben zurück. Die Kämpfe haben daher vielfach eher den Charakter einer Aktion von Söldnern oder Landsknechten, wie der Z u g Gaismairs vor Radstadt und seine erfolgreiche Absatzbewegung über die Tauern. Mehrfach hat man ja Söldner aufgenommen, um Bauern und Knappen zur Arbeit heimzuschicken und die Versorgung zu sichern. Vergleichbar sind die Unterschiede in Oberösterreich zwischen dem Aufstand von 1626 und den kleineren und regional beschränkten Folgeaufständen von 1632 und 1635/36. 1626 scheinen tatsächlich „die" Bauern, bäuerliche Haushaltungsvorstände, ihre erwachsenen Söhne und Knechte, den Hauptbestandteil des Heeres gebildet zu haben. Aus den wenigen erhaltenen Nachlassinventaren von damals getöteten Bauern scheint überdies hervorzugehen, dass die ökonomische Lage vieler, die da mittaten, äußerst bedenklich war — sie standen infolge von Überschuldung praktisch vor dem Verlust von Haus und Hof. Die Anhängerschaft der Aufstände von 1632 und 1635/36 dürfte aber völlig anders zusammengesetzt gewesen sein — Kleinbauern, Inleute, Knechte und weibliche Dienstboten leisteten den Aufrufen religiöser Phantasten und ihren Prophezeiungen Folge. Jagdaufstände und Auflehnungen gegen die jetzt schon zwangsweisen Rekrutierungen zum Militär im 18. Jahrhundert dürften hingegen überwiegend von der rauflustigen ländlichen Jungmannschaft, dörflichen Burschenschaften, getragen worden sein.
7.5
Zielsetzungen der Aufständischen
Nicht nur in der räumlichen Erstreckung, auch von der Programmatik her waren die Erhebungen von 1478, 1515, 1525/26, 1573, 1595/97 und 1626 die bemerkenswertesten. Standen in allen anderen Aufständen mehr oder weniger massive ökonomische Bedrückungen im Vordergrund, so ging man in diesen Jahren deutlich über den Wunsch nach Milderung von Steuern, Zurückführungen von Abgaben auf den alten Stand und ähnliche Wünsche hinaus. Gleich der erste große Bauernkrieg, der Kärntner von 1478, war, wenn Unrest uns nicht völlig falsch informiert hat, von seiner Zielsetzung her fast so
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radikal wie Gaismairs Entwurf einer Bauernrepublik. Türkenbekämpfung, Übernahme der Gerichtsbarkeit, Herrschaft über die Geistlichkeit — das würde eine völlige Ersetzung der überkommenen feudalen Ordnung durch den Bauernbund bedeutet haben. Die Bauern wären damit, unter Ausschaltung von Adel und Geistlichkeit, direkt unter dem Kaiser selbst zum „Land", zum politisch berechtigten Landvolk, geworden. Dagegen mutet die militärisch weit auffälligere Auseinandersetzung von 1515 programmatisch wesentlich konservativer an. Die „stara pravda", das „alte Recht" also, stand im Vordergrund der Beschwerden in Krain und in der Untersteiermark. Freilich erscheinen diese Forderungen nicht auf das grundherrlichbäuerliche Verhältnis begrenzt. Auch bei kaiserlichen Einkünften, Mauten, Zöllen und vor allem Steuern, verlangten die Bauern Mitentscheidungsrechte. Damit ist aber, mindestens ansatzweise, doch der Anspruch ausgedrückt, politische Berechtigung analog den traditionellen Ständen ausüben zu wollen. Faktisch mussten solche Forderungen ebenfalls über das „alte Recht" hinausführen. Programmatisch am fruchtbarsten waren schließlich die Aufstände von 1525/ 26. Die berühmten „Zwölf Artikel", formuliert von dem Memminger Kürschnergesellen Sebastian Lotzer für die oberschwäbischen Bauern, waren rasch weit verbreitet worden. Bekannt waren sie wohl in Vorarlberg und Tirol. Sie forderten (etwas verkürzt) das Pfarrerwahlrecht, Besoldung des Pfarrers durch den Zehenten, Abschaffung der Leibeigenschaft, Jagdrecht, Rückgabe von Gemeindeweide und wald an die Gemeinden, Rückführung der Dienste und Abgaben auf alte Gewohnheiten, Reduktion der (Geld-)Strafen, Abschaffung der Todfallsabgaben. Basis für eine Neuordnung der Gesellschaft sollte die Heilige Schrift sein. Einen ganz anderen Charakter als die Zwölf Artikel haben die Meraner Artikel vom Mai 1525. Zwar nahmen auch hier religiöse Probleme breiten Raum ein, daneben befaßten sich aber auch zentrale Forderungen mit der Gestaltung der Staatlichkeit (Abschaffung der weltlichen Obrigkeit aller Geistlichen, Auslösung aller Pfandschaften und Verbot von Neuverpfändungen ohne Wissen der Stände, Besoldung der Richter und kurzer Instanzenzug, Abschaffung aller Freiungen und privilegierten Gerichtsstände). Erst an relativ unprominenter Stelle folgten die im engeren Sinne „bäuerlichen" Beschwerden gegen Robotforderungen, Zinserhöhungen und andere Versuche zur Erhöhung der Feudalrente. Nicht uninteressant ist die Forderung nach Abschaffung der Bettelmönche und nach Einrichtung von Spitälern in allen Pfarrgemeinden, die aus dem Überschusse des Zehents erhalten werden und den Pfarrarmen, Alten und anderen Erwerbsunfähigen zur Verfügung stehen sollten. Heftig wird auch über die großen oberdeutschen Handelshäuser geklagt, ferner über den „Fürkauf" (= Aufkauf landwirtschaftlicher Produkte beim Bauern, was die Marktbelieferung reduzierte und damit die Preise ansteigen ließ) und über die Machinationen ausländischer Hausierer (Savoyer). Diese Meraner und Innsbrucker Artikel dienten als Verhandlungsgrundlage beim Landtag im Juni 1525. Weit über alle anderen Forderungen ging schließlich Gaismairs „Tiroler Landesordnung", verfasst vermutlich im Exil, hinaus. Gaismairs Entwurf war der
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einzige republikanische — kein Landesfürst sollte an der Spitze Tirols stehen, sondern eine Regierung aus den Gesandten der Landesviertel, die ihrerseits wieder von den Gerichten gewählt werden sollten. Die Rechtgläubigkeit der Regierungshandlungen sollte von Gelehrten der einzigen Universität in Brixen überprüft werden (Gaismair stand vermutlich unter dem Einfluss radikal-reformatorischer Gruppen, etwa von Wiedertäufern). Tirol sollte ein Agrarland werden: Die Mauern der Städte sollten geschleift, das gesamte Handwerk in Trient konzentriert werden, die Bergwerke verstaatlicht. Eine Regulierung der Etsch sollte die Getreideproduktion steigern und das Land unabhängiger von Einfuhren machen. Ausführlich machte sich Gaismair auch Gedanken über die Armenpflege. Gaismairs Programm ist der konsequenteste Versuch im österreichischen Raum, evangelische Gleichheitsforderungen, wie sie im Zuge der radikalen Reformation oder „Volksreformation" (etwa auch bei Thomas Müntzer) auftauchten, in politische Praxis umzusetzen. Träger dieser „christlichen" GeseWschaftsordnung sollten Bauern und Bergknappen sein. Wesentlich zurückhaltender waren die „24 Artikel gemeiner Landschaft Salzburg", basierend auf Beschwerdeschriften aus dem Umkreis der Gasteiner Knappen und Gewerken und auf das ganze Land ausgeweitet. Sieben Artikel widmeten sich den Missständen in der Kirche, weitere wandten sich gegen die Leibeigenschaft, die Erhöhung und Neueinführung diverser Abgaben, Missstände im Gerichtswesen und die Herrschaftsgewalt von Klöstern und Domkapitel. Interessant ist die Selbstbezeichnung der Aufständischen als „Landschaft", was die Inanspruchnahme eines quasi-ständischen Charakters bedeutet. Infolge der Schwäche von Adel und Städten in Salzburg wurde von deren Seite dieses Programm akzeptiert und schließlich als Teil der ständischen Beschwerden dem Landtag im Oktober 1525 vorgelegt. Ähnliche Vorstellungen einer Übernahme der Rolle der Landstände durch den Bauernbund dürften auch im slowenisch-kroatischen Aufstand von 1573 existiert haben. Entsprechend der großen Rolle des bäuerlichen Handels in diesem Raum wurden auch Forderungen nach Herabsetzung neuer Zölle und Öffnung der Straßen vom Meer bis ins Binnenland für den bäuerlichen Handel laut. Dass in Niederösterreich und Oberösterreich bei den Aufstandsbewegungen knapp vor der Jahrhundertwende (1595 - 1597) ähnliche politische Forderungen eine größere Rolle spielten, ist wenig wahrscheinlich. Die Niederösterreicher erklärten zwar, dass ihnen der ganze Krieg, die Steuern und die Aushebung des 30. und zehnten Mannes auf die Nerven gehe, dass sie aber bereit seien, „... der Rom. khys. Maytt. unnsers allergenedigisten herrn und lantsfürsten zu ehrn unnd beschitzung des vatterlandts jeder persönlich fordtzueziechen, doch dass in albeg ire herren unnd obrigkhaitten auch derbey sein ...", was vor allem legitimatorischen Charakter gehabt haben könnte, daneben aber auch auf die Nichterfüllung der alten Schutzideologie seitens der Herren verweist. Ansonsten geben gerade diese Beschwerden einen sehr illustrativen Querschnitt durch die Versuche der Grundherrschaften, ihre Einkünfte zu erhöhen und er-
Das Scheitern von Bauernkriegen und Adelsaufständen
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höhte Gewinne zu erwirtschaften. So wird über die neue Gerichtspraxis geklagt— nicht mehr Richter und Rat setzen Strafen fest, sondern die Obrigkeit, der es dabei hauptsächlich um saftige Geldstrafen gehe. Verschiedene neuartige Zwänge werden sichtbar: Die Untertanen müssten ihre Hochzeiten in Klöstern und Schlössern (also in den Herrschaftstavernen) um teures Geld abhalten, ihr Vieh müssten sie der Herrschaft „anfeilen", und dieses Vorkaufsrecht bedeute einen Verlust von der Hälfte des Wertes; beim Tod eines Untertanen nimmt sich die Herrschaft 30 bis 40 Gulden — ist aber kein Geld vorhanden, so wenigstens ein Paar guter Ochsen. Bewegte und ausführliche Klagen betrafen die Behandlung der Waisen und ihres Vermögens bzw. über die Gesindezwangsdienste der Bauemkinder. Schließlich muss noch die gesteigerte Robot erwähnt werden, die an der Spitze der Beschwerden steht. Ganz anders der große oberösterreichische Bauernkrieg von 1626. Infolge seines „patriotischen" Charakters — die Bauern richteten ihren Grimm praktisch ausschließlich gegen die Bayern und sollen dem Kaiser sogar angeboten haben, das Land aus der bayerischen Pfandschaft auszulösen — steht er eher in einer Linie mit dem bayerischen Aufstand von 1704 gegen die damalige österreichische Besatzung oder mit dem Tiroler Aufstand von 1809. Zwar hatte die gewaltsame Durchführung der Gegenreformation den Aufstand ausgelöst, aber im Vordergrund stand der Ruf: „Von Bayerns Joch und Tyrannei mach uns, o lieber Herrgott, frei!" Man machte eben die fremde Besatzung für die Durchführung der verhassten gegenreformatorischen Maßnahmen verantwortlich. Um die Beibehaltung der evangelischen Religion scheint es den Bauern damals in erster Linie gegangen zu sein. Dann treten die bekannten Beschwerden gegen Steuern und andere Belastungen auf. Auch eine Vertretung im Landtag wurde gefordert — anstelle der Prälaten. Dagegen betonten die Bauern, dass sie niemals die völlige Abschaffung der Untertänigkeit gefordert hätten. Damit lässt aber auch der letzte landesweite Bauernkrieg gewisse Wünsche erkennen, die offenbar seit 1478 immer wieder geäußert wurden und die man als Forderung nach Anerkennung der Bauern als politischer Stand zusammenfassen kann.
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Gründe für das Scheitern der ständisch-kommunalen Bewegung
Bauernaufstände haben ja auch anderswo die großen „gelungenen" ständischparlamentarischen, bürgerlichen oder proletarischen Revolutionen vorbereitet, begleitet, vorangetrieben; sowohl in England als auch in Frankreich, ganz besonders 1917 in Russland. Warum kamen die unterschiedlichen revolutionären Strömungen in den österreichischen Ländern nicht zu einem Erfolg? Zunächst — die Kommunikation zwischen größeren Menschenmassen war im 15./16. Jahrhundert noch schwierig und problematisch. Tatsächlich konnten Bauernaufstände größerer Art überhaupt erst ausbrechen, als in den seit den Hussitenkriegen des 15. Jahrhunderts notwendig gewordenen bäuerlichen
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„Krise" des Spätmittelalters. Ständekämpfe und Bauernkriege
Massenaufgeboten und ihrer Aufgebotsordnung ein Instrumentarium zur raschen Mobilisierung des flachen Landes von mehr oder minder großer Wirksamkeit gefunden worden war. Ein zweites: die entscheidende gesellschaftliche Trennungslinie jener Jahrhunderte lief entlang der Scheidung von Grundherren und Untertanen. Von vornherein standen sich Bauern und Adel als Gegner gegenüber. Selbst in den heftigsten Auseinandersetzungen zwischen Reformation und Gegenreformation, als große Teile des Adels und der Bauernschaft auf der selben Seite standen, kam es zu keiner Koalition. Zwar konnte den Ständen, also den adeligen und geistlichen Grundherren, an einer Stärkung der landesfürstlichen Macht nicht allzuviel liegen. Andererseits konnten sie unmöglich den Forderungen der Bauern nach dem Abbau traditioneller Obrigkeiten und nach der Reduktion von Abgaben zustimmen, weil dies ihre eigene soziale Position in Frage gestellt hätte. Damit verzichtete der Adel auf die Bundesgenossenschaft der Bauern im Kampf mit dem anwachsenden Zentralismus und Absolutismus. Er war, im Gegenteil, zur selben Zeit darauf angewiesen, dass Steuern eingingen, dass damit Söldner bezahlt wurden und dass auf diese Weise die Herrschaftsstellung von Adel und Prälaten auf dem Lande gesichert werden konnte. Vor die Entscheidung gestellt, entweder gemeinsam mit Städten und Bauern ihre politische Entscheidungsfähigkeit gegenüber dem Landesfürsten (ausgedrückt etwa in der Freiheit des religiösen Bekenntnisses) zu sichern, oder aber, unter Verzicht auf diese Freiheit, wenigstens, gestützt auf kaiserliche Söldner, die privilegierte Herrenstellung gegenüber Bauern aufrechtzuerhalten, erhielt stets die zweite Möglichkeit den Zuschlag. Damit wurden die Grundherren freilich erst endgültig zu „privilegierten", durch die Gnade des Landesfürsten bevorzugten Gruppen, zu Feudalherren nicht mehr kraft eigenen Rechts, sondern durch die militärische Überlegenheit der Landsknechtsspieße. Nicht einmal bei der letzten großen Auseinandersetzung dieser Art, dem oberösterreichischen Bauernkrieg von 1626, ging der Adel, von einigen wenigen Randfiguren abgesehen, mit den Bauern. Und drittens: In den parallelen antifürstlichen Bewegungen Westeuropas spielten die Städte eine sehr wichtige Rolle. Aus verschiedenen Gründen konnte das in den österreichischen Ländern nicht der Fall sein. Zunächst muss man sich vergegenwärtigen, dass in den österreichischen Ländern ein reiches und selbstbewusstes Stadtbürgertum nur rudimentär existierte. Das 15. Jahrhundert sieht zwar die Entfaltung eines besonderen Frühkapitalismus in unseren Ländern. Aber die wichtigsten Anteile an den Gold- und Silbergruben Tirols, Salzburgs, Kärntens und der Steiermark gingen bald an die übermächtigen oberdeutschen Handelshäuser (Fugger, Hochstätter) über. Der Salzabbau wurde weitgehend verstaatlicht und die Handelskompagnien fielen teils der starken oberdeutschen Konkurrenz, teils fürstlicher antikartellistischer Ordnungspolitik zum Opfer. Die einzige wirklich bedeutende Stadt des ganzen Bereiches, nämlich Wien, war niemals primär eine Handelsstadt gewesen, obgleich ihre Oberschicht aus dem Stapelrecht gewiß gute Gewinne zog. Aber der Donauhandel
Das Scheitern von Bauernkriegen und Adelsaufständen
131
darf nicht überbewertet werden. Und mit dem Vordringen der Türken wurden donauabwärts zusätzliche neue Handelssperren errichtet. Wien lebte, etwas vergröbert ausgedrückt, stets vom Weinbau und Weinexport. Als dieser im 16. Jahrhundert in Schwierigkeiten kam, geriet die Ökonomie dieser Stadt insgesamt in eine Krise. Die traditionellen Wiener Oberschichten versuchten zwar, durch eine führende Beteiligung an der Ständerevolte gegen das „Regiment" Maximilians, nach dessen Tod ihre Position erneut zu befestigen. Das scheiterte gründlich. Seit 1522 regten sich die Wiener nicht mehr (bis 1848). Wachsendes Selbstbewusstsein der gemeindlich verfassten Bauern traf zunächst mit der Krise von Kirche, Feudalherren und Territorialstaat im 15. Jahrhundert zusammen. Die Konsolidierung der Crundherrschaft ebenso wie die Konsolidierung des Territorialstaates im 16. Jahrhundert oder der Kirche in der Gegenreformation musste notwendig ein Spannungsfeld zu jenem Selbstbewusstsein erzeugen, das bis zur endgültigen Festigung des Obrigkeitsstaates, ja bis 1848, vorhanden blieb, obgleich das bäuerliche Selbstbewusstsein in den zahlreichen Niederlagen der Aufstandsbewegungen erheblich reduziert wurde. Besonders stark war diese Spannung in den ersten drei Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts, als der spätfeudale Ständestaat des 15. Jahrhunderts nicht mehr und der absolutistische Staat noch nicht funktionierte, der Zwangsapparat des Fürsten noch unausgebildet war und die alte Kirche als loyalitätsbildende Kraft praktisch vollkommen ausfiel. Freilich hatte auch der „gemeine Mann" in dieser Situation nur sehr unklare Vorstellungen über einen alternativen „dritten Weg" zwischen feudaler Ständemacht und Absolutismus. Unscharf, im Zuge der Auseinandersetzungen aber immer deutlicher, werden Konturen sichtbar, die dieser dritte Weg hätte haben können: Vertretung des „gemeinen Mannes" in den Ständen, vereinzelt vollkommener Übergang der ständischen Agenden an die „Landschaft" der gemeinen Leute, Kontrolle des fürstlichen „Rates" (also der entstehenden Bürokratie) bzw. seine Rekrutierung aus der Landschaft. Soweit diese Vorstellungen über die üblichen und althergebrachten Denkfiguren des guten alten Rechtes hinausgingen, sind sie zweifellos der befreienden Wirkung der Reformation in ihrer Frühphase zu verdanken, die nun, unter Rekurs auf das Evangelium, auch einen völligen Neuaufbau der Gesellschaft zur Denkmöglichkeit werden ließ, wofür Gaismairs „Landesordnung" das hervorragendste Beispiel bleibt. Mit der Niederschlagung der Aufstände von 1525/26 begann sich die historische Lücke zwischen territorialisiertem Feudalismus („Ständestaat") und Absolutismus zu schließen. Die Chance auf einen „dritten", ständisch-kommunal geprägten Weg war vorbei. Auf den Vormarsch der „Gemeinde" folgte eine lange Phase der Dekommunalisierung.
V
HÖFISCHE GESELLSCHAFT, SOZIALDISZIPLINIERUNG UND MERKANTILISMUS
1
Wirtschaftliche und demographische Entwicklung
Mit dem Ende des 15. Jahrhunderts setzte wieder ein allgemeines Bevölkerungswachstum ein. Das 16. Jahrhundert brachte der Landwirtschaft eine gute Konjunktur, aber auch dem Bergbau auf Edelmetalle, Salz und Eisen, dem Textilgewerbe und den Eisen und Metall verarbeitenden Branchen. Neben dem Bergwesen war der im 15. und 16. Jahrhundert stark ansteigende Weinexport ein zentraler Konjunkturmotor, insbesondere für die städtische Wirtschaft. Der Export von Wein donauaufwärts betrug im 15. Jahrhundert ca. 100.000 hl pro Jahr, das war gegenüber dem 13. Jahrhundert (20.000 hl) eine Steigerung auf das Fünffache. Im 16. Jahrhundert dürften in Niederösterreich 41.000 ha als Weingärten bearbeitet worden sein, etwa 820.000 hl wurden produziert, davon 130.000 hl in Städten und Märkten (60.000 hl allein von Wiener Bürgern). Wien exportierte etwa zwei Drittel des von seinen Bürgern produzierten Weines. Der Geldwert des niederösterreichischen Weinexportes war um 1600 sechsmal so groß wie der Wert des Eisenexportes ins Reich. Mengenmäßig wurde etwa gleich viel oder sogar mehr Wein aus Österreich exportiert als über Köln oder Bordeaux umgeschlagen wurde. Der überregionale Warenaustausch mit seinen Zentren in Venedig und Nürnberg bezog aus den habsburgischen Gebieten Rohstoffe, Vieh (Ungarn), Eisen, Stahl (aus Kärnten und der Steiermark sowie der ober- und niederösterreichischen Eisenwurzen), Edel- und Buntmetalle (ausTirol, Kärnten und Oberungarn) und Wein (vor allem aus Niederösterreich) und lieferte dafür Fertigwaren, besonders Textilien, aber auch Luxusgüter. Dieses System begann seit dem späten 16. Jahrhundert zu zerfallen und löste sich mit dem Dreißigjährigen Krieg endgültig auf. Venedig und Nürnberg verloren langsam an Bedeutung, der Nordwesten Europas übernahm endgültig die ökonomische Vorherrschaft. Kriege und Klimaverschlechterung führten zu einer langfristigen und überregional bemerkbaren Reduktion der Kaufkraft. Dadurch waren nicht nur viele hochwertige Produkte aus Italien und Oberdeutschland immer schwerer absetzbar, sondern auch der österreichische Wein, dessen Export im 17. Jahrhundert deutlich zurückging. An die Stelle des teuren städtischen Weines trat der billigere und schlechtere bäuerliche, an die Stelle oberdeutscher Tuche böhmische und oberösterreichische Leinwand. Schließlich ging aus dem Zerfall der stadtzentrierten Ökonomie des Spätmittelalters und des 16. Jahrhunderts in einem langwierigen und krisenhaften Prozess die auf den entstehenden Absolutismus ausgerichtete Staatswirtschaft des Merkantilismus hervor.
Wirtschaftliche und demographische Entwicklung
133
Voll setzte die „Krise des 17. Jahrhunderts" um 1620 ein. Schon ab etwa 1550 hatte sich zuerst die Lage des Silberbergbaues verschlechtert, nach der Wende zum 1 7. Jahrhundert auch die der Eisen verarbeitenden Wirtschaft. Für den Bergbau bedeuteten die Konkurrenz des amerikanischen Silbers, aber auch der hastige Abbau gerade der besten und ertragsfähigsten Gruben, besonders in der Blütezeit des Fugger'schen Imperiums, entscheidende Faktoren für den Niedergang. Die Krise wurde zur Existenzkrise. Ganze Landschaften, die vom Gold- und Silberbergbau gelebt hatten, wie das Unterinntal, das Gasteiner Tal, das RauriserTal, das obere Lavant- und Mölltal, Zeiring und Schladming, erlebten eine langfristige Reagrarisierung. Der Salz- und Eisenerzbergbau überlebten, aber gerade diese Zweige waren infolge ihrer starken landesfürstlichen Beeinflussung bzw. noch wenig fortgeschrittenen kapitalistischen Gestaltung auch früher nicht unbedingt Träger oder „Leitsektoren" der Entwicklung gewesen. Die Krise ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen. Sicher bedeutete der Emigrationszwang für standhafte Protestanten regional einen gewissen Bevölkerungsverlust (um 1600 in Innerösterreich, nach 1620 in Ober- und Niederösterreich, 1731 in Salzburg). Das neuerliche Auftreten von Seuchenzügen 1633 bis 1636, 1645 bis 1647 und 1678/80 verweist wohl auch auf tendenzielle Unterernährung und dadurch erhöhte Anfälligkeit. Auch das Klima hatte sich eindeutig verschlechtert — seit etwa 1560 wuchsen die Gletscher. Der Dreißigjährige Krieg, der in weiten Gebieten Deutschlands und Böhmens gewaltige Opfer gefordert hatte, berührte Österreich nur im Norden (Niederösterreich nördlich der Donau) und im äußersten Westen (Vorarlberg) und jeweils nur für relativ kurze Zeit, hat aber die Wirtschaft zweifellos sehr negativ beeinflusst. Letzter Höhepunkt in der Bevölkerungskrise des 1 7. Jahrhunderts waren die Türkenbelagerung von 1683 und die Kuruzzenaufstände im frühen 18. Jahrhundert, die besonders das östliche Niederösterreich, Westungarn (das heutige Burgenland) und die Oststeiermark betrafen. Danach setzte ein breiter Bevölkerungsanstieg ein, der bis um 1750/60 ziemlich rasch, dann aber verlangsamt vor sich ging. Auf dem Gebiet des heutigen Österreich haben um 1527 etwa 1,5 Millionen Menschen (18 pro km2) gelebt, 1754, zum Zeitpunkt der ersten allgemeinen Volkszählung, etwa 2,7 Millionen (33 pro km2). Für das heutige Burgenland (damals das westlichste Ungarn) war das ganze 16. und 17. Jahrhundert eine Unruheperiode. Die durch Türkeneinfälle zum Teil gänzlich verödeten Dörfer wurden ab etwa 1540 in erster Linie durch Kroaten wiederbesiedelt, die aus ihrer Heimat vor den Türken geflüchtet waren; doch dauerten Verwüstungen durch Türkeneinfälle und die Kuruzzenaufstände (Erhebungen ungarischer Protestanten und Habsburg-Unzufriedener) noch bis 1711. Erst dann setzte ein rascher Bevölkerungsaufschwung ein. Die Bevölkerung Niederösterreichs (inklusive Wien) dürfte zwischen 1529 und 1618 um etwa 2 0 % zugenommen haben. Wachstum und Verluste aus
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Höfische Gesellschaft, Sozialdisziplinierung und Merkantilismus
Tabelle 3: Bevölkerungsbewegung in den österreichischen Ländern (heutige Grenzen), 16. -18. ¡ahrhundert um 1530
1600/1620
Österreich
1,500.000
Niederösterreich (inkl. Wien)
500.000 (1529)
600.000
300.000
380.000
279.000 (1528)
340.000 (1617)
Oberösterreich Burgenland Steiermark
1696/97
1714
600.000 (1685)
900.000 526.000
110.000
96.000
90.000
424.000 (um 1700)
Salzburg
65.000 (1456)
105.000 (1620)
Tirol
110.000
140.000 (1604)
Vorarlberg
30.000
40.000 45.000 (um 1600)
150.000 460.000
1 70.000 180.000
(um 1500)
1754 2,700.000
60.000
Kärnten
1683
253.000 135.000 (1730)
150.000 (um 1750) 218.000
58.500
Schweden- und Türkenkriegen hielten sich in etwa die Waage, so dass um 1685 die Bevölkerungszahl sicher nicht größer war als 1618. Bis 1754 vergrößerte sich dieser Wert aber um 50 %. Der entscheidende Wachstumsfaktor war die Bevölkerungszunahme in Wien, das mit etwa 175.000 Menschen schon 19 % der niederösterreichischen Bevölkerung beherbergte. In Oberösterreich wuchs die Bevölkerung im 16. Jahrhundert deutlich. Gegenreformation und Bauernkrieg brachten große Bevölkerungsverluste, so dass am Ende des Dreißigjährigen Krieges die Gesamtzahl gegenüber 1600 wahrscheinlich gleich geblieben war. Dann begann ein kontinuierliches Wachstum. Das Erzstift Salzburg (das Land des Erzbischofs, nicht die Erzdiözese!) blieb im 16. und 17. Jahrhundert von äußeren kriegerischen Einwirkungen verschont. Die Blüte des Bergbaues brachte den Alpengebieten (Hallein, Mühlbach, Gasteiner Tal, Rauris) hohe Bevölkerungszuwächse: Von 1456 bis um 1620 erhöhte sich die Bevölkerungszahl um etwa 80 %. Durch den Rückgang des Bergbaues verlangsamte sich auch die Bevölkerungsbewegung. Die Protestantenausweisungvon 1731/32 betraf 22.000 Personen, so dass danach kaum 115.000 Menschen in Salzburg lebten. Um die Mitte des Jahrhunderts war diese Zahl wieder gestiegen, fiel dann aber bis um 1800 auf 145.000. Nicht ganz unähnlich verlief die Entwicklung in Tirol, wo das Wachstum des Bergwesens ebenfalls zu starker Bevölkerungskonzentration, besonders im
135
Wirtschaftliche und demographische Entwicklung
Unterinntal, geführt hatte. Zugleich machte sich eine erhebliche Besitzzersplitterung bei den bäuerlichen Anwesen bemerkbar. Mit dem Rückgang des Edelmetallbergbaues verliert das Bevölkerungswachstum seine Dynamik; ab der Mitte des 18. Jahrhunderts breitet sich Stagnation aus. In Vorarlberg lebten um 1600 etwa 50 % mehr Menschen als um 1500. Kriegsereignisse (Bündner Krieg 1621 - 1623, Schwedeneinfall 1647) und Seuchen brachten Einbußen, so dass der Stand von 1600 lange nicht überschritten wurde. Erst im 18. Jahrhundert setzte ein kräftigeres Bevölkerungswachstum ein, dessen Basis die Ausbreitung der Textilwirtschaft in protoindustriellen Formen war. Wieder anders verlief die Entwicklung in Kärnten. War das 15. Jahrhundert (Türkeneinfälle, Bauernkrieg, Ungarnkrieg) eine sehr unruhige Periode gewesen, so blieb das Land von den großen Katastrophen des 16. und 17. Jahrhunderts im Wesentlichen verschont (nur die Pest forderte 1715/16 etwa 6000 Opfer). Auch hier brachte der Bergsegen viele Leute ins Land, so dass die Einwohnerzahl ziemlich kontinuierlich anstieg. Der scheinbar gleichmäßige Anstieg der Bevölkerung in der Steiermark verdeckt eine viel dramatischere Wirklichkeit, gekennzeichnet durch Protestantenemigration und die schweren Verwüstungen infolge der Kuruzzeneinfälle (1703 - 1711). Dennoch blieben die östlichen Gebiete Zentren des Bevölkerungswachstums, wo durch Teilungen sehr kleine Hausstellen entstanden, während die gebirgigen Landesteile bei Unteilbarkeit der Huben geringeres Wachstum aufwiesen. Tabelle 4: Häuserbestand nach Bundesländern Bundesland
um 1527
um 1600
um 1754
1869
1971
Burgenland
9.000
12.000
22.500
38.852
72.455
Kärnten
22.000
28.000
27.600
47.038
96.432
Niederösterreich und Wien
80.000
91.000
130.000
182.384
418.786
Oberösterreich
56.000
64.000
89.000
110.510
209.371
Salzburg
12.500
14.500
20.000
25.311
64.288
Steiermark
41.000
45.000
72.500
102.242
200.944
Tirol
18.000
23.000
29.000
36.216
85.227
Vorarlberg
7.000
Österreich
245.000
8.500
12.500
20.033
48.433
285.000
415.000
562.586
1,195.936
Bis 1754 bewohnte Häuser, 1869 alle Häuser, 1971 Häuser mit mindestens einer Wohnung (Schnellberichte der Gemeinden zur Volkszählung 1971). Bis 1 754 gerundete Zahlen.
Wesentlich dramatischer als in den altösterreichischen Gebieten verlief die Bevölkerungsentwicklung in den böhmischen und ungarischen Ländern. In Böhmen sollen nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges um 1650
136
Höfische Gesellschaft, Sozialdisziplinierung und Merkantilismus
nur mehr 800.000 Menschen gelebt haben. 1772 waren es schon wieder 2,3 Millionen. Starken Bevölkerungszuwachs gab es auch in den ungarischen Ländern. Im Temescher Banat stieg die Bevölkerung von (1711) 25.000 auf (1780) mehr als 300.000. Das war die Folge eines großangelegten Besiedlungswerkes, in welchem die 1699 bzw. 1718 erworbenen Gebiete, die durch die langen Kriege weitgehend menschenleer geworden waren, im Sinne merkantilistischer Populationspolitik bevölkert wurden. Um 1 785 kam die Gesamtmonarchie (ohne Belgien und die Lombardei) auf etwa 20 Millionen Einwohner, wovon etwa 9 Millionen auf Ungarn (1,4 Millionen Siebenbürgen, 0,65 Millionen Kroatien-Slawonien, Rest eigentliches Ungarn inkl. Banat), 4,3 Millionen auf Böhmen, Mähren und Schlesien, 3,2 Millionen auf Galizien und 3,5 Millionen auf die althabsburgischen Länder (zu einem guten Teil identisch mit dem heutigen Österreich) entfielen. Verallgemeinernd kann man feststellen, dass im 17. und 18. Jahrhundert eher die ländliche als die städtische Bevölkerung wuchs. Von den Städten konnten nur die Residenzen und Landeshauptstädte ihre Einwohnerschaft deutlich vermehren. Der Bergbau verlor seine bevölkerungsvermehrende und -konzentrierende Kraft.
2 2.1
Agrarkonjunktur und ländliche Bevölkerung Agrarkonjunktur
Im Spätmittelalter breitete sich der Weinbau weiter aus. Er war ursprünglich ein ganz überwiegend städtischer Erwerbszweig. Damit verbreiteten sich auch neue Formen der Lohnarbeit. Teilweise ist ein Übergang zu Teilpacht bzw. Bestandbau zu beobachten. Auch andere Spezialkuhuren gewannen an Bedeutung: Flachs, Hopfen, Safran und Mohn, Senf und Raps, Waid und Krapp, Teiche wurden angelegt. Ein Höhepunkt dieser agrarischen Modernisierung war die Zeit um 1550/1570. Im 1 7. Jahrhundert zeigen alle Indikatoren in die entgegengesetzte Richtung: Der Weinexport verlor seine Dynamik. An die Stelle des Qualitätsweinbaues auf den Besitzungen von Stadtbürgem, Klöstern und Adelsgütern trat langsam ein bäuerlicher Massenweinbau von geringerer Qualität — offenkundig wichen viele Bauern damit dem Getreidebau aus, der immer geringere Erlöse brachte. Jetzt erst, vorzüglich im 18. Jahrhundert, entstanden die dörflichen Kellergassen in den niederösterreichischen Weinbaugebieten. Die große Zeit des österreichischen Weinbaues und -exportes war vorüber. Da auch von den Städten keine wirtschaftliche Dynamik ausging, musste die Landbevölkerung eben andere Lösungen suchen. Neben dem Weinbau verlegte man sich auf verschiedene gewerbliche Tätigkeiten, vom Spinnen und Weben bis hin zum Fuhrwesen und zur Holzwirtschaft.
Agrarkonjunktur und ländliche Bevölkerung
2.2
137
Struktur der ländlichen Bevölkerung
Mit dem Bevölkerungswachstum kam es teilweise zu beträchtlichen Betriebsverkleinerungen. 1632 zählte man beispielsweise in der Steiermark 37.000 ganze Huben, 1754 aber nur mehr 12.600. 1632 wurden hier 23 % aller Anwesen als Viertelhuben, Hofstätten und Keuschen eingestuft, 1754 aber bereits 70 %. Diese Kleinstellen verbreiteten sich insbesondere in der Ost- und Südsteiermark im Zusammenhang mit Obst- und Weinbau, während sich in den gebirgigen Regionen nur eine geringe Zunahme an Kleinhäusern nachweisen lässt. Schon im späten Mittelalter hatte eine intensivere Durchdringung des flachen Landes mit gewerblichen Tätigkeiten begonnen. Bergbau, Handel und Verkehr, vor- und nachgelagerte Produktionen im Zusammenhang mit dem Bergbau (Holzwirtschaft, Holzkohlenerzeugung, Verarbeitung und Vermarktung der Bergbauprodukte) und eine Ausbreitung der Leinenproduktion auch für den Markt hatten zu einer Situation geführt, in der zum Berufsbild des „Bauern" fast durchwegs eine mehr oder weniger ausgeprägte Tätigkeit nichtlandwirtschaftlicher Art gehörte. Daran scheint auch die günstige Agrarkonjunktur im 16. Jahrhundert nicht allzu viel geändert zu haben. Diese Konjunktur selbst beförderte jedenfalls den Handel mit Agrarprodukten wie Getreide, Vieh, Schmalz oder Käse. Mit der Wende ins „krisenhafte" 17. Jahrhundert wurde nichtlandwirtschaftliche Tätigkeit eher noch dringender. An Hand von Verlassenschaftsinventaren aus verschiedenen Gebieten Oberösterreichs konnte für die Zeit von etwa 1580 bis 1630 nicht nur bei vielen Bauern eine Verbindung mit einer nichtlandwirtschaftlichen Tätigkeit festgestellt werden, sondern auch die klare ökonomische Überlegenheit dieser Bauern gegenüber solchen ohne gewerblichen Hintergrund. Lagen in einer ökonomischen Skala die „reinen" Bauern überwiegend in der unteren Hälfte, so die „diversifizierten" überwiegend in der oberen. Eindeutig an der Spitze standen Bauern, die als Fuhrleute und Wirte tätig waren. Im Jahre 1684 stellte Philipp Wilhelm von Hörnigk in seinem merkantilistischen Klassiker „Österreich über alles, wann es nur will" fest, „... dass auch bei uns die Bauern in rauen unfruchtbaren Gebürgen und auf ungeschlachtem Boden, die sich mit Spinnen, Holzhauen und hunderterlei andern Mühseligkeiten ernähren müssen, gemeiniglich mehr Geld haben, ihre Landsanlagen und Herrschaftsgaben besser entrichten, als die in denen besten Korn- und Weinländern ...". Die gesamte ländliche Bevölkerung machte vermutlich etwa 80 % der Gesamtbevölkerung aus. Sie zerfiel in die eigentlichen „Bauern", also die Inhaber untertäniger (Viertel-, Halb-, Ganz-)Huben bzw. -Lehen und in die unterhalb dieser bäuerlichen Bevölkerung rangierende Unterschichten von Inleuten, Kleinhäuslern und Gesinde. Die ländliche Bevölkerung bestand freilich zu etwa zwei Dritteln aus solchen „Unterschichten". Dabei unterschieden sich die Inleute von den Häuselleuten: Die Ersteren standen als Untermieter unter der Hausherrschaft eines Bauern, die Letzteren waren — kleine — eigene Hausherren. Schließ-
138
Höfische Gesellschaft, Sozialdisziplinierung und Merkantilismus
lieh ist noch das Gesinde (Dienstboten, Ehalten) zu erwähnen, welches freilich viel stärker als die Inleute in die bäuerliche Familie eingebunden war und zwar einen eigenen sozialen Typus, nicht aber eine eigene soziale Schicht ausbildete. Dienstboten waren, vereinfacht ausgedrückt, eine Altersklasse: unverheiratete junge Leute, die bei Bauern im Dienst standen, bis sich die Möglichkeit einer Hausstandsgründung ergab. Waren sie zukünftige Hoferben, dann wurden sie Bauern. Da bei zunehmend erschwerter Teilbarkeit der Bauerngüter diese Möglichkeit auch unter den eigentlichen Bauernkindern nur einer Minderheit offen stand, musste die ökonomische Fundierung einer Hausstandsgründung oft mit dem Inleute- oder Häusler-Status verbunden werden. Lebenslanger Dienstbotenstatus war auf dem Lande noch die Ausnahme. Als Inleute galten vielfach auch Verwandte des Hausherren oder der Hausfrau: oft die im Ausgedinge lebenden Eltern, häufig auch Geschwister, besonders solche, die eigene Kinder hatten. Überhaupt überwogen unter den Inleuten Frauen, manchmal allein stehende Witwen, manchmal Witwen oder ledige Frauen mit Kindern. Inleute hatten im Prinzip einen eigenen Haushalt, sie konnten auch verheiratet sein. Die Miete bestand in der Regel in Abarbeit — man stand für die Arbeitsspitzen oder aber auch für regelmäßige Arbeiten auf dem Hofe zur Verfügung. Daneben versuchten Inleute, den Lebensunterhalt durch Taglohn in der Land- und Forstwirtschaft sowie durch handwerkliche Tätigkeiten zu sichern. Kleinhäuser mit oder ohne kleine Grundstücke, die häufig als „Überländen" galten, also nicht untrennbar zu einem bestimmten Bauernhaus gehörten, entstanden vielfach im Zusammenhang mit der Waldwirtschaft, mit wilder — oder herrschaftlich geförderter — Rodung, mit Köhlerei und Glashütten. Inleute und Kleinhäusler waren als Hauer ferner besonders in Weinbaugebieten häufig. Daneben waren sie in den verschiedensten Handwerken tätig. Bauern und Obrigkeiten verhielten sich gegenüber den Kleinhäuslern ambivalent. Einerseits schätzten sie die Arbeitskraftreserve, andererseits fürchteten sie die Belastung der bäuerlichen und besonders der Gemeindegründe durch das Vieh der Häusler. So wurde der Stopp des Baues von Kleinhäusern immer wieder gefordert, ohne doch jemals realisiert zu werden. Eine starke Zunahme der ländlichen Unterschichten wurde im 18. Jahrhundert registriert. Diese mobilen und konjunkturabhängigen Gruppierungen bildeten eines der Reservoirs für die in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts anschwellenden Bettlerheere. So soll es allein in Oberösterreich etwa 18.000 Bettler gegeben haben. Um die Jahrhundertmitte des 18. Jahrhundert verlangsamte sich das Bevölkerungswachstum, während die Häuserzahlen weiterhin stark bzw. stärker als vorher zunahmen. Das war einerseits Folge gezielter merkantilistischer Ansiedlungspolitik, zum andern eine solche neuer Rekrutierungsformen für das Militär ab den 1770er Jahren: Nach den neuen Vorschriften waren prinzipiell alle männlichen Einwohner militärdienstpflichtig, aber alle Haussässigen mit einem zum Erben bestimmten Sohn vom Militärdienst befreit. Das bot ein wir-
Agrarkonjunktur und ländliche Bevölkerung
139
kungsvolles Motiv, nach einem eigenen Haus zu streben. Außerdem wurden nun erst alle jene seit etwa 1680 beobachtbaren Tendenzen merkantilistischer Gewerbeförderung voll wirksam, die eine enorm gesteigerte Nachfrage besonders an Spinnerinnen und Spinnern für die großen Textilmanufakturen bewirkte.
2.3
Ländliche Familienformen
Erstmals werden im 17. und 18. Jahrhundert verschiedene Formen von Familien von der Quellenlage her deutlicher erkennbar. Das hängt mit einer neuen Quelle, den Seelenbeschreibungen bzw. Kommunikantenlisten, zusammen, die als Begleiterscheinung intensivierter gegenreformatorischer Überwachung entstanden. Zunächst lassen sich Unterschiede nach Betriebsgrößen und nach Siedlungsformen erkennen. Je größer der Hof, desto größer musste auch die ihn bewirtschaftende Gruppe von Menschen sein, besonders wenn ein Hof dieser Art noch einschichtig lag, also etwa in schwer zugänglichen Gebirgslagen. Das hohe Maß an Autarkie eines solchen Betriebes erforderte eine relativ starke Besetzung von Arbeitspositionen (für den Ackerbau, für die Betreuung des Viehs, für handwerkliche Arbeiten usw.). Das konnte zu enorm großen Haushalten führen, wie sie beispielsweise aus dem späten 18. Jahrhundert im Salzburger Pinzgau überliefert sind, wo neben dem Bauern, seiner Frau und allfälligen arbeitsfähigen Kindern oft noch zehn bis 15 zusätzliche Dienstboten vorkamen. Sammelsiedlungen (Dörfer, Märkte) mit ihrer stärkeren beruflichen Arbeitsteilung und geringerem Autarkiebedarf bildeten kleinere Hausgemeinschaften aus. Die Familienkonstellation hing mit dem Arbeitskräftebedarf eng zusammen: Waren arbeitsfähige Kinder da, benötigte man weniger Gesinde (und umgekehrt). Der Hof war eben eine Produktions- und Abgabeneinheit, die funktionieren musste. Anders bei den Kleinhäuslern: Hier war man, stets am Rande der Not lebend, nicht an großen Gemeinschaften interessiert. Mann und Frau mussten auf jede denkbare Weise für das nackte Leben sorgen. Gesinde fehlte. Kinder kamen aus dem Haus, sobald sie alt genug waren, um auf einem Bauernhof das Vieh zu hüten, oft schon mit wenigen Lebensjahren. Hier entstanden kleine, wenig komplexe Familien. Dasselbe gilt auch für Inleute, sofern sie verheiratet waren. Die Beziehung zwischen dem Hausvater und den übrigen Hausbewohnern war primär eine soziale, die verwandtschaftliche Komponente tritt daneben stark zurück: Hausherr war der Inhaber des Hofes, Hausfrau seine Frau. Beiden sozialen Rollen waren bestimmte Bereiche zugewiesen: Dem Mann der außerhäusliche Bereich, die Felder, die Viehzucht, die Aufsicht über das männliche Gesinde, der Frau das Haus, das Kleinvieh, die Textilwirtschaft (Spinnen und Weben) die Aufzucht der Kinder und die Aufsicht über das weibliche Gesinde und dessen Obliegenheiten (Melken, Butter- bzw. Schmalzerzeugung, Besorgen der Wäsche usw.). Beide Rollen mussten stets besetzt sein. Im häufigen Falle einer Verwitwung bedeutete dies entweder Wiederverheiratung (wenn
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Höfische Gesellschaft, Sozialdiszlplinierung und Merkantilismus
die Kinder noch klein waren) oder Übergabe und Rückzug ins Ausgedinge. Mann und Frau waren gleicherweise (Unter-)Eigentümer am Haus (das theoretische Obereigentum lag bei der Grundherrschaft) und daher auch beide in den seit dem 16. Jahrhundert aufkommenden Grundbüchern angeschrieben. Im 16. und 1 7. Jahrhundert lässt sich die Tendenz beobachten, Heiraten von Dienstboten (die auf diese Weise zu „Inleuten" wurden) zu erschweren. Das verlängerte den Dienstbotenstatus, der zunächst ja eine Altersklasse war. Durch diese Heiratsbeschränkungen musste der Status des präsumptiven Hoferben als privilegiert erscheinen. Die wachsende Betonung der Rolle des Hoferben bzw. künftigen Hausvaters korrespondiert mit Veränderungen im gesamten gesellschaftlichen Gefüge. Auf die Betonung der Vaterrolle des Fürsten gegenüber seinen Untertanen, des Grundherrn gegenüber seinen Bauern werden wir noch hinweisen. Mit dieser Verlagerung der Gewichte innerhalb des gesamtgesellschaftlichen Kräftespiels wurde, im Sinne der Nachhaltigkeit von Abgabenforderung und Abgabenerwartung, die Rolle der einzelnen Bauernwirtschaft für die gesellschaftliche Gesamtkonstellation immer wichtiger: Denn auf ihr beruhte ja ökonomisch das ganze Gebäude, ihre Abgaben hatten nicht nur die Grundherrn zu erhalten, sondern in rasch wachsendem Maße auch die Forderungen des Landesfürsten zu befriedigen, also die Steuern zu bezahlen. Mit der Festschreibung der Steuerverpflichtung in Gültbüchern der Landstände (ab 1527) wurde die Aufmerksamkeit auf das steuerpflichtige Objekt, also den Bauernhof, gelenkt. Wie die Gesamtheit der Grundherrn, die (oberen drei) Stände der Prälaten, Herren und Ritter gegenüber dem Fürsten, und der einzelne Grundherr gegenüber den Ständen, so war der bäuerliche Hausherr dem Grundherrn dafür verantwortlich, dass „Herrengaben und Landesanlagen" (Feudalrente und Steuern) regelmäßig abgeliefert wurden. Das unterstrich die Rolle des Hausherrn gegenüber seiner Hausgemeinschaft, konnte aber auch zu verzweifelten Situationen führen: Durch den rasch und kräftig steigenden Steuerdruck des entstehenden Staates — der schneller wuchs als der Abgabendruck der Feudalherren — mussten die Einkünfte erhöht werden. Die findigeren unter den Bauern haben möglicherweise auch als Antwort auf diese Herausforderung zusätzliche Einkunftsmöglichkeiten im gewerblichen Bereich gesucht und gefunden. Die Heiratsbeschränkungen für Knechte und Mägde, primär gedacht als Verhinderung eines mobilen und gefährlichen Inleuteproletariats (Bauernkriege!), konnten dem bäuerlichen Hausherrn in seiner Zwangslage durchaus helfen. Denn damit blieben ihm Arbeitskräfte am Hof, ferner brauchte er Erbteile für weichende Familienmitglieder nicht auszubezahlen, sondern konnte sie am Hofe belassen. Man versteht daher die besondere Erbitterung der Bauern um 1595/97 über die Waisen- und Gesindedienste sowie über den Zugriff der Herrschaften auf Waisengüter. Denn das beraubte die Bauern eines wichtigen Betriebskapitals und zwang sie darüber hinaus, Knechte und Mägde oder andere Arbeitskräfte aufzunehmen. Mit der hier skizzierten und für die Bauernkriege des späten 16. und 17. Jahrhunderts
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wichtigen, höchst zwiespältigen Aufwertung der Hausvaterrolle des Bauern ging auch eine Veränderung in der Institution des Ausgedinges vor sich. Ausgedinge als Alterssicherung sind seit dem Mittelalter bekannt. In Gebieten mit Erb- und Kaufrechten dürften die Altbauern bis zum Lebensende die Chefrolle gespielt haben, daneben konnte der präsumptive Hoferbe aber schon verheiratet am Hof leben (so im salzburgischen Abtenau noch im 17. Jahrhundert). Das Ausgedinge verbreitete sich zuerst in Freistiftgebieten, also dort, wo die Grundherrschaft ein starkes Zugriffsrecht auf den Hof hatte und die Höfe (theoretisch) oft nur auf ein Jahr, faktisch in der Regel auf Lebenszeit des Bauern vergeben wurden. Das Altbauernpaar — oder, zumeist, der überlebende Elternteil, häufiger die Altbäuerin — zog sich auf das Altenteil zurück und überließ dem erst zu diesem Zeitpunkt heiratenden Hoferben das Haus. Verschiedentlich konnten auch noch unmündige Kinder des Altenteilers ins Ausgedinge mitgehen. Das Ausgedinge sollte der Herrschaft garantieren, dass der Wirtschaftsführer des Hofes stets einigermaßen bei körperlichen Kräften war. Um 1600 dürfte es einigen helleren Köpfen unter den Bauern gedämmert haben, dass unter den geänderten Umständen das Ausgedinge eigentlich der bequemere Platz war: Es begegnen relativ junge Ausnehmer, die offenbar über etwas Bargeld verfügten, daneben auch über gewerbliche Produktionsmittel (Webstuhl), und sich im Übrigen einen schönen Lebensabend verschafften, die ganzen Querelen mit den „Herrengaben und Landesforderungen" den Erben überlassend. Auch Wiederverheiratungen im Ausgedinge sind belegt. Die Belastungen, welche dem neuen „Stifter" (= Bauern) dabei auferlegt wurden, waren häufig sehr beachtlich. So musste der übernehmende Martin Perlinger in Ulrichsberg (Mühlviertel, Oberösterreich) 1 705 seinen in die Ausnahme ziehenden Eltern nicht bloß eine ganze Reihe peinlichst genau beschriebener Grundstücke und Getreidegaben, Brennholz, selbstverständlich eine gesonderte Wohnung im Haus usw. zusichern, sondern auch noch die „Notdurft" und Stroh für zwei Rinder sowie alle Fuhren, die damit zusammenhingen! Wenn ein Elternteil stürbe, sollte sich das Ausgedinge nur um ein Siebentel der Korngabe verringern — was den Verdacht vergrößert, die Ausgedinger wollten mit diesen Gütern über die Sicherung des eigenen Lebensunterhalts hinaus auch eigene Geschäfte treiben. Die Frau gilt in diesen Belangen als rechtlich selbständig, sie war als Miteigentümerin in den Grundbüchern vermerkt. Gemeinsam mit dem Mann übergab sie das Gut. Über ihr besonderes Vermögen bzw. über das gemeinsame Vermögen wurde so verfügt, wie das zumeist schon durch den Heiratskontrakt vorgegeben war. Verdeckt wird diese Position der bäuerlichen Hausfrau durch ihre soziale Beschränkung auf das Haus — nach außen, in der Gemeinde, tritt nur der Mann auf. Diese Vertretung nach außen verliert aber gerade in der frühen Neuzeit an Bedeutung, da die Gemeinde ganz allgemein zurückgedrängt wird. „Dekommunalisierung" ist ein kennzeichnender Zug der frühen Neuzeit. Sicher waren die Bauernkriege Protest dagegen, ebenso wie auch Protest gegen die Verschärfung nicht bloß der Lage der bäuerlichen Hausherren, sondern auch der — zunehmend am Heiraten gehinderten — Dienstboten und Bauernkinder.
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Höfische Gesellschaft, Sozialdisziplinierung und Merkantilismus
Unterhalb der Ebene der Hausinhaber lässt sich ein stärkerer Unterschied zwischen Männern und Frauen zumindest im wirtschaftlichen Bereich feststellen: Die Verlassenschaftsinventare von weiblichen Dienstboten und Inleuten zeigen deutlich niedrigere Vermögenswerte als von männlichen. Wenn „die Armut" in allegorischen Darstellungen als alte, allein stehende Frau gezeigt wird, hat das einen sehr realen Hintergrund.
2.4
Bauer, Grundherr, Landesfürst
In der frühen Neuzeit veränderte sich das traditionelle feudale Beziehungsgefüge. Immer höher wurden die Forderungen des Landesfürsten an die Erträge der Bauern. Diese Steuern bedeuteten eine Konkurrenz zu den feudalen Abgaben an Grund-, Gerichts- und Dorfherren. Als „Rüstgelder" — der Name verweist hier noch auf die Funktion der Steuern zur Finanzierung des Heerwesens — oder „Landsteuer" stiegen sie im 16. und 17. Jahrhundert rasch an, oft bis zum Achtfachen der ursprünglichen Summen. Im frühen 18. Jahrhundert machten diese Steuern, die von der Grundherrschaft eingehoben und an die ständischen Kassen weitergeleitet wurden, zuweilen mehr als 50 % der herrschaftlichen Bruttoeinkünfte aus (so im oberösterreichischen Ort am Traunsee). Ganz stark griff der Landesfürst den Untertanen auch durch seine Monopole in den Beutel. Besonders das Sa/z erwies sich als zentrale Einnahmequelle — übrigens ähnlich wie in Frankreich, wo die Steigerungen der „gabeile" im 16. und 17. Jahrhundert zahlreichen Aufstände auslösten. Nach Möglichkeit versuchten die Bauern auf billigeres Salz auszuweichen. Besonders in der slowenischen Untersteiermark, wohin Händler aus Krain oder vom Karst bis ins 17. Jahrhundert das billigere Meersalz brachten und dafür auf dem Rückweg Produkte der untersteirischen Bauern mitnahmen, führte die rigorose Handhabung des landesfürstlichen Salzmonopols zu Unruhen. Dabei stellten sich Herrschaftsinhaber und -Verwalter manchmal auf die Seite der Bauern. Der Verwalter der Gurker Herrschaft Weitenstein/Vitanje erklärte um 1 700, seine Bauern zahlten jährlich nur 8 bis 13 Gulden Steuer, müssten aber 20 Gulden für das teure Ausseer Salz aus der Obersteiermark bezahlen. Die Schutzfunktion der Herren wurde in den Türkenkriegen 1529, 1532, 1683 kaum mehr wahrgenommen. Nur selten fanden die Untertanen Zuflucht in den Burgen, die durch ihre Bau-Robot erbaut worden waren. Die häufige Abwesenheit gerade der größeren Herren am fürstlichen Hofe vergrößerte die Distanz zwischen Feudalherren und Untertanen und stärkte die Rolle von Pflegern und Verwaltern. Die Gemeinde wurde systematisch zurückgedrängt. Die Gerichtsbarkeit wurde nicht mehr in der Taidingsversammlung wahrgenommen und die Urteile wurden nicht mehr von Richter und Geschworenen (Bauern) gefällt, sondern von Herrschaftsbeamten. Die Taidingsversammlungen wurden von gemeindlich-obrigkeitlichen Veranstaltungen zu ausschließlich obrigkeitlichen Verlautbarungstreffen. W o alte Rechtsbücher vorhanden waren, erklärte man sie
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für der Vernunft widersprechend; manchmal wurde die Teilnahme einer Gemeinde an einem der Bauernkriege zum Vorwand für deren Kassierung. Die Fülle der unterschiedlichen lokalen Rechtsgewohnheiten wurde eingeebnet. Schließlich kam es zu ersten Kodifikationsversuchen der Untertänigkeitsverhältnisse (Tractatus de juribus incorporalibus in Niederösterreich, 1679). Verschärfte Kontrollmechanismen sollten neue Aufstände verhindern. In der asymmetrischen Dreiecksbeziehung: Untertan — Grundherrschaft — entstehender Staat waren die Lasten jedenfalls den Ersteren zugewiesen, gesamtgesellschaftliche Leistungen nicht mehr den Grundherren, und noch kaum dem erst entstehenden Staat. Wirtschaftlich hatten in der Getreidekrise des Spätmittelalters jene Grundherrschaften besser abgeschnitten, die weder auf Getreide- noch auf Geldabgaben in höherem Maße angewiesen waren. Z u m Teil erweiterte die Wüstungsbewegung die Bodenreserve der Grundherren, die auf diesem Lande nun Vieh — vorwiegend Schafe — weiden ließen. Manche Grundherren konnten an der Konjunktur des Weinbaues profitieren, vor allem über den Weinzehent. Vernünftig erschien es, sich an der Ausbreitung nichtlandwirtschaftlicher Wirtschaftsformen zu beteiligen, was zunächst besonders über die Weiterentwicklung von grundherrschaftlichen Zentralorten zu Märkten und damit verbundenen Verdienstmöglichkeiten lief. Als sich im 16. Jahrhundert die Getreidekonjunktur erneut belebte, konnten zum Teil die durch die Wüstungen erweiterten Bodenreserven genützt werden — mit Hilfe von billiger Robotarbeit gewonnenes Getreide war jetzt günstig zu vermarkten. Allerdings hatten im Gebiete des heutigen Österreich nur wenige Grundherren diese Möglichkeiten, am ehesten noch im nordöstlichen Niederösterreich sowie in der östlichen und südlichen Steiermark. Der Zwang zur Erhöhung der Einkünfte in der Preisrevolution des 16. Jahrhunderts führte auch zu anderen Lösungen. Dabei erwies sich in Ober- und Niederösterreich der Versuch, über die Steigerung der Marktproduktion zu besseren Renditen zu gelangen, als wenig wirkungsvoll. Man intensivierte daher die Schutz-, Polizei- und Verfügungsrechte über die eigenen Untertanen und entwickelte die Grundherrschaft in die Richtung eines abgegrenzten Wirtschaftsraumes, um auf diese Weise zu Monopolgewinnen zu kommen, etwa über den Mühlen-, Tavernen- und Anfeilzwang, der die eigenen Untertanen streng zur Benützung der Herrschaftsmühlen und -gasthäuser und zum Anbieten seiner Produkte an die Herrschaft verpflichtete, bevor er damit auf den Markt durfte. Auch die herrschaftseigenen Gewerbebetriebe (Ziegeleien, Sägemühlen, Brauereien, Glashütten) hielten sich im Wesentlichen im Rahmen der grundherrschaftlichen Bedarfsdeckung und der Untertanenausbeutung durch monopolistische Praktiken. Ihre Bedeutung war gering — nur während der Agrarkrise des 17. Jahrhunderts wandte man direkter gewerblicher Betätigung verschiedentlich größere Beachtung zu. Es blieb, trotz der Tendenzen zu einer Umwandlung der feudalen Grundherrschaft in ein gewinnorientiertes Unternehmen („Wirtschaftsherrschaft"), bei einer oft nur mäßigen Modernisierung. Die Bürokratisierungder Grundherrschaft
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Höfische Gesellschaft, Sozialdisziplinierung und Merkantilismus
äußerte sich in der heftigen Neigung zur Produktion von beschriebenem Papier, das wieder als Einkunftsquelle diente: Kauf-, Übergabs-, Ausgedingeverträge, aber auch zahlreiche andere Ausfertigungen (gerichtlicher Art) wurden mit saftigen Protokollgebühren belegt, die im 18. Jahrhundert vereinzelt bis zu 20 % der Herrschaftseinkünfte erreichen konnten. Wo die Eigenwirtschaften ausgedehnt und bedeutsam waren, wurde die Robot erhöht (nordöstliches Niederösterreich, südöstliche und südliche Steiermark), wo das nicht möglich war, löste man die Robot gegen eine Geldabgabe („Robotgeld") ab. Bemühungen um Ausdehnungen der Eigenwirtschaft und Bauernlegen sind zwar in der Steiermark und in Niederösterreich erkennbar (dort früher, hier später), führten aber nur in wenigen Fällen zur Entstehung von Gutsherrschaften des östlichen Typs wie in Böhmen oder Mähren. Die Eigenwirtschaft konnte viel eher durch die Einverleibung kleinerer rittermäßiger Güter, deren Sitze häufig als Meierhöfe der größeren Stammherrschaft dienten, ausgeweitet werden. Um 1 700 war diese Entwicklung zu Ende, die Eigenwirtschaften der Grundherren wurden häufig wieder verkleinert. So hatte die Herrschaft Weitra in Niederösterreich zwar von 1581 bis 1700 ihre Eigenwirtschaft von einem Meierhof mit 61 Joch Äckern und 122 Tagwerk Wiesen auf zehn Meier- und drei Schafflerhöfe mit etwa 750 Joch Äckern und weit über 400 Tagwerk Wiesen erweitert, löste dann aber die Eigenwirtschaft wieder auf. Offenbar war die Preis-Kosten-Relation unbefriedigend. In der Steiermark wirkte sich hingegen die stets gute Absatzmöglichkeit infolge der Versorgung der kroatischen und windischen Militärgrenze mit steirischem Getreide belebend auf die herrschaftliche Eigenwirtschaft aus. Die steirischen Landstände kauften mit dem Steuergeld ihrer Untertanen jenes Getreide von den Ständemitgliedern, also den adeligen und geistlichen Grundherren, das durch erhöhte Robotforderungen gegenüber den Bauern billig produziert worden war. Dabei war man großzügig: Manchmal wurde so viel Getreide eingekauft, dass nicht wenig davon verdarb. Gleichzeitig klagte man in der Militärgrenze ständig über Versorgungsmängel. Das ganze System weist also deutliche Zeichen hochentwickelter Korruption auf. In der Zusammensetzung der Crundherrenklasse lassen sich zwei Tendenzen beobachten. Gesellschaftlicher Aufstieg hieß selbstverständlich Aufstieg in den Adel. Das bedeutete notwendig den Erwerb von Grund und Boden und die Übernahme der adeligen Standards im Lebensstil. Reiche Handelsbürger wie die Prueschenk (später Grafen von Hardegg) oder die Kuefstein (im 15. Jahrhundert Bürger von Wien) wuchsen ebenso in diese Rolle wie Kameralunternehmer (Mautpächter o. Ä.) oder Juristen in den obersten Verwaltungsrängen wie die aus Schwaben stammenden Beck (später: von Leopoldsdorf). Erfolgreicher sozialer Aufstieg führte über den Ritterstand rasch in den Herrenstand. Auch der feudale Besitz konzentrierte sich bei den Herren, besonders deutlich im 17. Jahrhundert, als gerade der niedere Adel durch Konfiskationen und Protestantenausweisung stark betroffen wurde. Das Ausmaß dieser Konfiskationen ist relativ genau nachvollziehbar. Fast der ganze Ritterstand
Agrarkonjunktur und ländliche Bevölkerung
145
und nicht wenige Familien des Herrenstandes waren ja im 16. Jahrhundert evangelisch geworden. Jetzt bildeten sich große Besitzkomplexe, stärker als in Österreich allerdings in den böhmischen Ländern, wo auch der Austausch des Adels viel radikaler vor sich ging und wo für den neuen katholischen Hofadel erheblich günstigere materielle Möglichkeiten vorhanden waren. Auch der Verkauf landesfürstlicher Herrschaften an deren Pfandinhaber verlagerte große Vermögenswerte in den Herrenstand. Die adeligen Grundherren waren im 18. Jahrhundert ganz anders zusammengesetzt als im frühen 16. Jahrhundert. Die meisten alten Familien wie die Kuenringer waren ausgestorben, einige wenige von ihnen, wie die Liechtenstein oder Auersperg, waren zum Kern des neuen Hofadels der Habsburger geworden, der aber sein ökonomisches Schwergewicht nicht (mehr) im heutigen Österreich, sondern überwiegend in den böhmischen Ländern hatte. Die neuen Herrengeschlechter stammten nicht nur aus den schon genannten ursprünglich bürgerlichen Schichten, sondern auch aus den Kreisen der Heerführer des 16. und 17. Jahrhunderts — eine Gruppierung von ebenfalls ausgesprochen unternehmerischem Charakter (die Althann, Breuner, Hofkirchen, Kollonitsch, Mansfeld, Raitenau, Salm, Starhemberg usw.). Die meisten ökonomischen Aktivitäten dieser Zeit standen in irgendeiner Verbindung mit dem entstehenden höfisch-absolutistischen Staat. Das gilt für die Heeresunternehmer ebenso wie für die Kameralunternehmer (Mauteinnehmer, Salzamtleute usw.) und selbst für die Handelsunternehmer, die ihre Gewinne nun ebenfalls zum Teil im Bereich der fürstlichen Kammer machten (etwa im Salzhandel) oder in der Armeebelieferung. Wenn Wolf Helmhard von Hohberg in seinen „Geórgica curiosa" noch 1682 ein im Wesentlichen patriarchalisches Bild der adeligen Grundherrschaft malte, so war dies zum Teil vielleicht die unbewusst-wehmütige Rückprojektion des Emigranten (der Protestant hatte Österreich nach dem Dreißigjährigen Krieg verlassen müssen), zum Teil die tatsächliche Grundhaltung bei Herren von altadelig-konservativer Gesinnung. Eine solche begegnete etwa im niederösterreichischen Bauernkrieg 1597, als die Wachauer Bauern ihrem Herrn Reichard Streun von Schwarzenau ebendiese Gesinnung bescheinigten. Noblesse dieser Art muss allerdings selbst zum Untergang verurteilt gewesen sein — die Ideologie von „Schutz und Schirm", die der Herr über seine Bauern zu üben habe, um seinerseits „Rat und Hilfe" von ihnen verlangen zu können, hatte keinen realen Hintergrund mehr. In der Tat stand der Grundherr vor dem Dilemma, seinen eigenen Lebensstil den Zeitläufen anpassen zu müssen und daneben aus den Gewinnen seiner Untertanen immer größere Anteile als Steuern in die fürstliche Kasse fließen zu sehen. Vielleicht kann dieses Problem mit eine Erklärung für die konsequent protestantisch-oppositionelle Haltung gerade des traditionsbewussten kleineren Adels gegen den habsburgischen Absolutismus bieten?
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Höfische Gesellschaft, Sozialdisziplinierung und Merkantilismus
Der adelige Lebensstil selbst scheint sich schon im 16. Jahrhundert nicht unerheblich gewandelt zu haben, wie die prächtigen Neubauten der Schallaburg durch die Herren von Losenstein ( 1576 - 1600), der Rosenburg durch die Grabner (1593 - 1597) oder des Schlosses Ehrenhausen durch die Eggenberger (ab 1545) zeigen. Dieser Wunsch nach einem bequemeren Leben geht parallel mit dem Rückgang der militärischen Bedeutung des Adels. Zugleich wurde das auffällig wachsende Repräsentationsbedürfnis auch durch Konkurrenz- und Distanzvorstellungen, teils gegenüber anderen Adeligen, teils gegenüber aufsteigenden Bürgerlichen genährt. Mit dem Fortschreiten des höfischen Absolutismus sind diese Repräsentationsvorstellungen noch wirksamer geworden. Da auch die raffiniertesten Versuche zur Erhöhung der Feudalrente besonders im krisenhaften 17. Jahrhundert nur beschränkt wirksam waren, ist eine wachsende Verschuldung adeliger Besitzungen zu beobachten. Die Prälaten, der dritte (bzw., nach dem geistlichen Prestige, der erste) der drei oberen Stände, machten hingegen im 16. Jahrhundert eine schwere Krise durch. Das war zunächst eine Folge der Reformation, während der viele Klöster an krassem Nachwuchsmangel litten und auch in ihrer Funktion als Grundherren in Frage gestellt wurden. Dazu kamen erhebliche Leistungen für die Türkenkriege — 1529 mussten die Klöster eine Abgabe in der Höhe von 25 % des Wertes ihrer Güter leisten. Das ging natürlich an die Substanz. Erst im 17. Jahrhundert erholten sich die Klöster sowohl ökonomisch wie im Hinblick auf Nachwuchs und Disziplin. Manche — wie das Stift Melk — kauften jetzt systematisch Zehentrechte, Bezugsrechte sowohl von Getreide- wie von Weinzehent. Diese Naturairente wurde offenbar mit Gewinn vermarktet. Ohne diese ökonomische, aber auch eine parallel dazu beobachtbare spirituelle Erholung der österreichischen Klöster wäre die große hochbarocke Bauwelle ebenso wenig erklärbar wie die bedeutenden Leistungen, die etwa auf dem Gebiet der Historiographie erbracht wurden.
3 Die städtische Bevölkerung Das Bevölkerungswachstum der frühen Neuzeit ging vorwiegend auf das Konto der ländlichen Schichten. Der städtische Anteil stagnierte oder ging sogar zurück. Nur ein bestimmter Städtetypus wuchs — die Residenzen und Landeshauptstädte. Wien hatte um 1600 etwa 50.000 Einwohner, 1754 aber 175.000, Graz 8.000 und 20.000, Salzburg 8.000 und 15.000, Innsbruck 5.700 und 8.500. Dagegen zeigten die Hauptträger des städtischen Wachstums in der vorausgegangenen Epoche, jene Städte, die mit Produktion, Vertrieb und Weiterverarbeitung von Montanprodukten in Zusammenhang standen, ebenso wie die Handelsmittelpunkte und regionalen Zentren des Mittelalters (wie Krems) gleich bleibende oder schrumpfende Einwohnerzahlen.
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Die städtische Bevölkerung
Tabelle 5: Bevölkerung
der wichtigsten Städte (um 1600 und um 1754)
Stadt
Einwohner um 1600
Einwohner um 1 754
Wien
50.000
175.000
Steyr
9.000
7.000
Schwaz
9.000
6.300
Graz
8.000
20.000
Salzburg
8.000
15.000
Innsbruck
5.700
8.500
Wels
5.000
3.000"
Krems an der Donau
4.000
4.000
Klagenfurt
4.000
7.000
Wiener Neustadt
3.500
4.500
Linz
3.000
10.000
St. Pölten
3.000
3.000
Klosterneuburg
3.000
3.000
Hallein
3.000
4.000
Burgfrieden stark verkleinert
3.1
Die Krise der Handels- und Gewerbestädte
Schon seit der Mitte des 16. Jahrhunderts ging die Bedeutung des für die innerösterreichischen Länder so wichtigen Venedigerhandeis zurück, was zunächst noch nicht mit dem Niedergang Venedigs (der nicht vor das 17. Jahrhundert datiert werden kann), als vielmehr mit der kommerziellen Blockade durch die türkische Besetzung Zentralungarns und der Balkanländer zu erklären ist. Gleichzeitig hat die Krise der oberdeutschen Handelshäuser, die sich in den 1560er und 1570er Jahren in mehreren großen Konkursen äußerte, den österreichischen Handel und Bergbau seiner kapitalkräftigsten Handelspartner und Geldgeber beraubt. Die Geschäfte stockten. Daher forderten beispielsweise die Städte des Landes ob der Enns immer wieder eine Herabsetzung ihres Anteiles an der Gesamt-Steuerquote des Landes. 1526 hatte dieser Beitrag noch ein Viertel der Gesamterfordernis betragen, 1545 wurde er auf ein Fünftel reduziert. Nach dem Dreißigjährigen Krieg wurde der städtische Anteil an den Landessteuern weiter — auf ein Sechstel — herabgesetzt. Eine ganz ähnliche Entwicklung gab es auch in Niederösterreich, wo die landesfürstlichen Städte und Märkte (der „vierte Stand") ebenfalls für ein Viertel der Steuern aufzukommen hatten. Die Hälfte davon (also ein Achtel der Gesamtsumme) entfiel allein auf Wien. 1544 wurde der Anteil des vierten Standes auf 20 % herabgesetzt. Die schwindende
148
Höfische Gesellschaft, Sozialdisziplinierung und Merkantilismus
Steuerkraft der Städte wirkte sich auch auf ihre politische Stellung aus: Geringes Engagement in den ständischen Gremien stärkte den Rechtsstandpunkt des Landesfürsten, wonach die Städte ebenso wie die Prälaten zum fürstlichen Kammergut gehörten und, im Falle ständischer Steuerverweigerung, auch direkt, ohne Zustimmung der Landtage, zu einer Abgabenleistung gezwungen werden konnten. Der volle Niedergang der bürgerlichen Stadt setzte im 1 7. Jahrhundert ein. Das betraf besonders jene Städte, die stärker den überregionalen Konjunkturschwankungen ausgesetzt waren, wie etwa Krems oder Steyr. 1543 hatte Steyr6.416 Einwohner, 1567 8.647,1598 fast 9.000. Um 1600 setzte eine gewisse Stockung im Absatz von Eisenwaren ein, die um 1620 in eine schwere Depression überging. Verschärfend wirkte sich die Gegenreformation aus. Nach dem Scheitern der Ständerevolte kam es zu einer größeren Emigration von Protestanten, in deren Verlauf 1626 hauptsächlich reichere Handelsleute, 1627 aber weniger bemittelte Gruppierungen, besonders die Messerer und andere Eisen verarbeitende Handwerker, die Stadt verließen. Der Abzug des Kapitals der Eisenhändler ließ die Produktion, die von deren Verlag (Vorstreckung von Geld und Rohstoffen) abhängig war, weiter schrumpfen. In der Folge zeigen sich alle Anzeichen einer schweren Krise. Zahlreiche Häuser standen leer und fanden keine Käufer. Noch nach dem Dreißigjährigen Krieg waren fast 50 Prozent der insgesamt etwa 600 Häuser von der Steuer befreit — teils weil sie Freihäuser waren oder der Geistlichkeit unterstanden, teils weil sie unbewohnt, verfallen bzw. von Leuten bewohnt waren, die keiner Steuerleistung fähig waren. Erst gegen Ende des 1 7. Jahrhunderts belebte sich die Situation wieder etwas; es siedelten sich jetzt einige Rüstungsbetriebe an. Etwas weniger anfällig erwiesen sich die meisten anderen kleinen und mittleren Städte, da sie kaum so stark konjunkturabhängige Massengewerbe wie Steyr hatten. Die meisten Städte lebten von der Nahversorgung eines gewissen Einzugsgebietes, nur wenige, wie Villach, Salzburg, Hall in Tirol, Linz oder Krems, waren auch am überregionalen Handel beteiligt. Das zunächst bambergische Villach etwa, das im 16. Jahrhundert um 3.000 Einwohner hatte, litt in der Folge durch die Inflationswirren zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges, durch ein Erdbeben (1690) und seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts durch die systematischen Versuche der österreichischen Regierung, den für Villach wichtigen Handelsweg von Venedig nach Salzburg möglichst zu unterbrechen und dafür die Straßen von Triest nach Wien bzw. durch das Pustertal über den Brenner nach Oberdeutschland zu begünstigen. Krems wiederum lebte überwiegend von Weinbau und Eisen- bzw. Weinhandel, der im 16. Jahrhundert seine größten Exporterfolge aufwies. Freilich war der Kremser Weinhandel schon im späten 15. Jahrhundert infolge der Durchsetzung des Passauer Niederlagsrechtes donauaufwärts nicht mehr über diese Stadt hinausgekommen. Ersatzmärkte für Bayern fanden sich zunächst in Böhmen und Mähren. Auch hier setzte um 1600 eine Krise ein, die durch den Rückgang des Eisenhandels verstärkt wurde. Die Zahl der Kremser Eisenhändler, die 1568 in die erste Eisengesellschaft zum
Die städtische Bevölkerung
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Verlag der Rad- und Hammermeister 36.000 Gulden einlegten (35.000 kamen von Steyr, 18.000 von Freistadt, 12.000 von Wien, 100.000 von den „Oberdeutschen") und den Export ober- und niederösterreichischer Halbfabrikate und Fertigwaren (Sicheln, Sensen, Strohmesser, Hacken, Feilen) über Böhmen und Mähren bis Polen vermittelten, gingen von fünf oder sechs (um 1600) auf zwei (1631 ) zurück. Für das 1 7. Jahrhundert werden öde Häuser gemeldet, die Bevölkerungszahl sank und dürfte erst um 1700 wieder die Zahl 4000 erreicht haben. Etwas besser war die Situation in Hall in Tirol. Einmal basierte die Wirtschaft der Stadt auf der Saline, einem ziemlich Nachfrage-unelastischen Betrieb, der Konjunkturschwankungen wenig unterworfen war, zum anderen auf einer nicht zu umgehenden Situation im Verkehrswesen: Da durch den großen Holzrechen für die Saline die Schifffahrt innauf- und -abwärts hier blockiert war, zugleich auch die Nahrungsmittelzufuhr für Tirol innaufwärts durch Privileg bis Hall zu gelangen hatte und andererseits über den Brenner aus dem Süden gekommene Waren in Hall auf Schiffe umgeladen wurden, um den billigen Wasserweg innabwärts zu nehmen, mussten Schifffahrt, Flößerei, Fuhrwerker und Gasthöfe stets Beschäftigung finden. Diese Kombination erwies sich als krisenfeste Basis einer kleinen Einwohnerschaft (2500 bis 3000 Menschen), die in überdurchschnittlichem Maß durch ihre Verbindung mit dem Salz- und Verkehrswesen gekennzeichnet war. Innerhalb der bürgerlichen Stadt blieb die Trennung von handelstreibender Oberschicht und den Gewerbetreibenden erhalten. Wie stark nach wie vor die Händler die Stadt beherrschten, zeigt sich in Steyr, wo man im Zuge der gegenreformatorischen Maßnahmen einen neuen Rat zu bilden versuchte: Da von den wenigen katholischen Familien fast alle Handwerker waren, die nichts von der Verwaltung eines so großen Gemeinwesens verstanden, musste man doch wieder auf protestantische Ratsherren zurückgreifen, von denen übrigens wenig später (1626/27) einige als Folge ihrer Beteiligung an den Bauernkriegen hingerichtet, andere des Landes verwiesen wurden. Die Schrumpfung der bürgerlichen Stadt war aber nicht bloß eine Folge der lang dauernden Krise des 1 7. Jahrhunderts oder gegenreformatorischer Maßnahmen. Das städtische Bürgertum stand neuen Phänomenen, wie der kommerziellen Durchdringung des „flachen Landes", der gewerblichen und kommerziellen Tätigkeit der grundherrlichen Märkte, der Obrigkeiten selbst und der Bauern, defensiv gegenüber. Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts häufen sich die Klagen der Städter über alle diese Erscheinungen, die ihnen als Eingriffe in ihre ureigenste Sphäre erschienen. Es ist dies insofern verständlich, als die ökonomische Leistungskraft der spätmittelalterlichen Städte unvergleichlich größer gewesen war als die der Landbevölkerung: Auch als die landesfürstlichen Städte Oberösterreichs in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nur mehr 20 % aller Steuern bezahlten, standen in ihnen doch nur 4 bis 5 % aller Häuser des Landes. Auch die reichsten Bauern jener Zeit hatten bloß ein Viertel des Vermögens wohlhabender Bürger, manchmal waren Bür-
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Höfische Gesellschaft, Sozialdisziplinierung und Merkantilismus
ger bis zu zwanzigmal reicher als wohlhabende Bauern (so die reichsten Händler von Steyr oder Krems). Das eifersüchtige Hüten von Vorrechten, besonders im Bereich des Handels, wird so — als wichtigste Gegenstrategie des Bürgertums gegen seinen gesellschaftlichen Bedeutungsverlust —verständlich. Andererseits bot, bei immer noch adelig dominierten Prestigeanschauungen, für reiche Bürger der Erwerb von Adelstitel und Landsitz bzw. in Niederösterreich das gegenseitige Einstandsrecht von Adel und Bürgertum in Stadthäuser respektive Landgüter immer noch Aufstiegsmöglichkeiten. Das bedeutete aber stets ebenso wie die Darlehensgewährung an den Landesfürsten mit nachfolgendem Pfandbesitz landesfürstlicher Herrschaften und Einkünfte das Abwandern von Kapital von der Stadt aufs Land. Umgekehrt sahen die Städte das Eindringen des Adels in den städtischen Grundbesitz höchst ungern, waren solche „Freihäuser" doch vom „Mitleiden", also vom Mit-Steuern in der Stadt befreit. In Linz standen 42 Freihäusern nur 183 Bürgerhäuser gegenüber, in Wels stand es 28 zu 112. Im Zuge der Gegenreformation waren darüber hinaus zahlreiche Häuser und Grundstücke den alten und neuen Orden übergeben worden. So musste die besonders widerspenstige Stadt Steyr 1631 den Jesuiten elf und den Dominikanern zwei Häuser schenken. 1646 kamen auch die Cölestinerinnen, deren Klosterbau ebenfalls von der Stadt mitfinanziert werden musste. Alle diese Objekte blieben dann von sämtlichen Steuern befreit. Das stets schärfere Eingreifen der Obrigkeit in die städtischen Agenden ebenso wie der gesamtgesellschaftliche Bedeutungsrückgang des Bürgertums führte zum Verlust der Exklusivität des Bürgerbegriffs. Zwar blieb das Bürgerrecht in einzelnen Städten noch immer auf die handeltreibende Oberschicht beschränkt. In anderen Städten scheint sich die Grenze zwischen „Bürgern" und „Mitbürgern" zu verwischen. Vereinzelt hat man, offenbar um den baulichen Verfall aufzuhalten, Bürgerrechte auch an Nichtselbständige vergeben, freilich gegen höhere Taxen. „Mitbürger" hatten nach wie vor minderen Rang, waren aber wie die Bürger zu Wachdiensten und Katastrophenhilfe verpflichtet. Die Ratsmitgliedschaft wurde jedoch in der frühen Neuzeit strenger als im Mittelalter auf Handeltreibende beschränkt. Neben den Händlern und Kaufleuten treten vermehrt landesfürstliche Räte, also Juristen, auf, besonders in Landeshauptstädten und Residenzen.
3.2
Das Wachstum der „höfischen" Städte
Haben Freihäuser und geistliche Besitzungen auch in den kleineren und mittleren Städten das eigentlich bürgerliche Element zurückgedrängt, so trat diese Entwicklung in viel stärkerem Ausmaß in den Residenzstädten und Landeshauptstädten hervor. Im heutigen Bundesgebiet waren neben Wien (von etwa 1530 bis um 1578, dann wieder ab 1612 ) und der fürsterzbischöflichen Residenzstadt Salzburg auch Innsbruck (zentraler Ort des Wirkens Maximilians I., Residenz seit der Teilung von 1564 bis 1665) und Graz (1564 bis 1620) eigene höfische Zentren. Auch nach dem Ende gesonderter Linien des Hauses Habs-
Die städtische Bevölkerung
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burg in Innsbruck und Graz blieben beide Städte Verwaltungszentren für „Ober"(Tirol und die Vorlande) und „Innerösterreich" (Steiermark, Kärnten, Krain, Görz und Triest, samt Verwaltung der Militärgrenze in Kroatien). Die barocke Residenzstadt wurde nicht nur durch die Anwesenheit des Hofes sowie des höfischen Adels (und seiner Palais) geprägt, sondern auch durch eine große Anzahl neuer und erneuerter Ordensniederlassungen. So wurden von den besonders frommen innerösterreichischen Herrschern Karl und Ferdinand nach Graz gerufen: 1572 die Jesuiten, 1600 die Kapuziner, 1603 die Klarissinnen, 1607 die Minoriten, 1615 die Barmherzigen Brüder, 1629 die Karmeliter. 1644 folgten die Karmeliterinnen, 1673 die Augustiner-Barfüßer, 1687 die Ursulinen, 1690 die Elisabethinen. Ganz ähnlich vermehrte sich die Zahl der Orden in Innsbruck, Wien und Salzburg. Am raschesten wuchs Wien. Die Vorstädte eingeschlossen, hatte die Stadt vor 1529 etwa 35.000 bis 40.000 Einwohner gezählt, davon 27.000 bis 30.000 in der Stadt (der heutige 1. Bezirk). Diese Stadt innerhalb ihrer mittelalterlichen Ummauerung konnte sich in der Folge nicht in die Breite, wohl aber in die Höhe entwickeln: Je mehr Menschen im engeren oder weiteren Gefolge des Hofes in der Stadt untergebracht werden mussten, wozu die Bürger durch die Hofquartierspflicht genötigt werden konnten, desto mehr vergrößerte sich die Zahl der Geschoße, bis auf vier und mehr. Die geistvolle Lady Mary Montagu stellte im frühen 18. Jahrhundert fest, Wien sehe aus, als seien mehrere Städte übereinander gestülpt worden. 1644 waren bereits 672,1709 fast 1.200 Haushalte im W e g e des Hofquartiers in der Inneren Stadt untergebracht. Das Wachstum der höfischen Bevölkerung samt Anhang erzwang eine zunehmende Verdrängung der bürgerlichen Bevölkerung, vor allem der Handwerker, aus der eigentlichen Stadt. Sie zogen in die Vorstädte, die, seit dem 17. Jahrhundert durch das „Glacis" von der Stadt getrennt, bei beiden Türkenbelagerungen, •1529 wie 1683, ein Raub der Flammen und des systematischen Abbruchs geworden waren. Nach 1683 wuchsen sie allerdings wieder sehr schnell. 1765 zählten die Wiener Vorstädte schon etwa 3350 Häuser, 1754 dürften sie 125.000 Bewohner beherbergt haben. Stadt und Vorstädte zusammen ( = „Burgfried") sollen 1637 etwa 60.000 Einwohner gezählt haben, 1710 etwa 113.000, 1 720/30 etwa 13 7.000. Die erste Volkszählung von 1754 ergab 175.403 Einwohner. Dem Hofe selbst gehörten bereits um die Mitte des 16. Jahrhunderts fast 18 % aller Haushaltsvorstände in der Inneren Stadt an; übertroffen wurde diese Gruppe nur vom Gewerbebürgertum mit fast 34 % . Im 17. Jahrhundert wuchs der Hof weiter: 1674 gehörten 1966 Menschen (ohne militärische Körper) dem Hofe an, zur Zeit Karls VI. werden 2175 Menschen ausgewiesen. Wien war niemals eine Exportgewerbestadt. Die Handelsaktivitäten der eingesessenen Großhändler hatten sich auf die Ausnützung des Niederlagsrechtes bzw. auf den Weinexport beschränkt — auch eine Handelsstadt war W i e n nur zu gewissen Zeiten und mit gewissen Begrenzungen gewesen. Der Handel donauabwärts war seit der türkischen Besetzung ganz Mittelungarns
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Höfische Gesellschaft, Sozialdisziplinierung und Merkantilismus
räumlich stark begrenzt, während das Wiener und das Bürgertum von Buda/ Ofen im Spätmittelalter noch rege Kontakte unterhalten hatten. Nun spielte für Wirtschaft und Sozialstruktur Wiens der Konsumbedarf der wachsenden höfischen Bevölkerungsschichten eine bedeutende Rolle. Natürlich wurden feine Stoffe (französische Seide) und verschiedene hochwertige Einrichtungsgegenstände, wie venezianisches Glas, in großem Maße importiert. Darüber hinaus regte der Konsumbedarf der höfisch-adeligen Kreise auch das städtische Gewerbe an. Nach der Verdrängung aus der eigentlichen „Stadt" hatten sich diese nun überwiegend in den Vorstädten angesiedelt. Das Wachstum dieser Cewerbezweige sprengte den überkommenen zünftischen Rahmen: 1736 gab es in Wien fast 11.000 „Professionisten" (ein bis heute in Österreich üblicher Ausdruck für Handwerker und Gewerbetreibende), von denen aber nur 32 % zünftische Meister waren. Der Rest rekrutierte sich aus so genannten „Hofbefreiten", „Dekretisten" und Störern, also unbefugten Leuten, die durch ein Dekret oder durch eine Hofbefreiung aus den zünftischen Verpflichtungen und Zwängen herausgehoben worden waren. Innerhalb der Residenzstädte stagnierte das bürgerliche Element oder ging zurück. Der Anteil der „Bürger" an der Stadtbevölkerung betrug in Innsbruck ebenso wie in Wien im 17. Jahrhundert nur etwa 10 bis 20 % aller Haushaltungsvorstände, also etwa 2 bis 5 % aller Einwohner. Ähnlich in Graz, wo 13 bis 15 % der Haushaltungsvorstände und etwa 3 % der Einwohner noch „Bürger" waren. Den Organen der städtischen Selbstverwaltung bzw. Gerichtsbarkeit unterstand in Innsbruck 1647 nur etwa ein Drittel aller Haushalte. Hof, Adelspalais, Klöster und Universität und ihr jeweiliger Anhang waren ja davon befreit. Von jenem Drittel waren 40 % Bürger mit ihren Familien, der Rest Inwohner ohne Bürgerrechte. Diese Strukturveränderung der barocken Residenzstadt lässt sich auch an baulichen Veränderungen ablesen. Häufig entstanden an Stelle mehrerer älterer Bürgerhäuser wenige neue Ordenshäuser oder Adelspalais. Die höfischen Bezirke dehnten sich aus. Die neue Sozialtopographie überlagerte die spätmittelalterliche. Dazu kam die Abschnürung der Stadt von ihrem Umland durch neue Befestigungsanlagen, Basteien und Raveline, welche die alten Stadtmauern verstärkten und zumeist noch ein besonderes Schußfeld vorgelagert erhielten (das „Glacis"). Die barocke Residenzstadt zog sich von ihren gewerblichen Vorstädten wie vom gesamten Umland zurück — sinnfälliger Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandlungsprozesses, aus dem eine neue, von den „Untertanen" distanzierte Machtzentrale entstanden war — der Hof.
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Entstehungsbedingungen, Funktion und Entwicklung des Hofes im Absolutismus
Durch die vielfältigen territorialen Herrschaftsfelder der Habsburger, aber auch durch die zahlreichen Konflikte, in die sie verwickelt waren, vermehrten sich
Entstehungsbedingungen, Funktion und Entwicklung des Hofes im Absolutismus
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die bei Hofe zu erledigenden Geschäfte. Der Hof wurde zum Entscheidungszentrum für immer zahlreichere Angelegenheiten. Nun erst entwickelte sich auch die „Außenpolitik", als Summe aller jener Überlegungen und Entscheidungen, die in den steten Auseinandersetzungen mit Frankreich, Venedig, Ungarn, den Türken und den Ständen des Hl. Römischen Reiches zu treffen waren. Militärische Rüstungen erforderten Geld, ebenso der wachsende Repräsentationsaufwand, der auf Grund der immer häufiger werdenden Verhandlungen mit anderen Souveränen, der Fürstenheiraten, der zahlreichen Gesandtschaften und der damit verbundenen Festlichkeiten unvermeidlich anstieg. Das Geld wurde im Kleinen eingenommen, aber im Großen ausgegeben. Die Entscheidungen über die Richtung der Ausgaben fielen am Hof. Es war also günstig, diese Entscheidungsprozesse zu kennen oder — noch besser — an ihnen teilzunehmen. Das ist eine der wesentlichen Ursachen für den Drang zum Hof, den Großkapitalisten, Großhändler und Söldnerunternehmer seit dem 16. Jahrhundert entwickelten. Dazu kamen die Juristen, die der Herrscher seinem „Rat" schon seit dem 15. Jahrhundert immer häufiger beizog. Neben diesen „exogenen" sind die „endogenen" Wachstumsfaktoren des Hofes zu berücksichtigen — sie liegen vorwiegend im Repräsentationsbedürfnis.
4.1
Hofadel und Repräsentation
Über das Mittel der Repräsentation drückte der Herrscher nicht nur seinen Untertanen sinnfällig aus, wo das Zentrum der Macht lag, er schuf auch eine Zone der Distanz zwischen der Majestät und der Untertanenschaft. Maximilian I. war trotz seines kräftigen kaiserlichen Bewusstseins immer noch von ritterlich-adeligem Selbstverständnis geprägt, wofür seine zahlreichen militärischen Unternehmungen, aber auch die häufigen Turniere Zeugnis ablegen. Er gab sich auch gegenüber den Untertanen gerne leutselig und huldvoll. Seit dem 16. Jahrhundert wuchs die Distanz zwischen den Untertanen und dem Kaiser, ohne freilich jenes Ausmaß zu erreichen wie in Madrid oder auch in Paris. Der Hof ist das Haus des Herrschers. Dadurch kam ihm ein erheblicher Symbolwert zu. So wurde die Wiener Hofburg von Wolfgang Schmeltzl in seinem „Lobspruch der Stat Wienn" 1548 als „Hauß von Österreich" bezeichnet. „Haus Österreich" (Casa d'Austria, Maison d'Autriche) war auch der Name des Herrscherhauses. Familienbezeichnung und Name seiner zentralen Behausung waren identisch. Je größer dieses Haus, desto beachtlicher die Rolle des Hausherrn: Man könnte begrifflich die Entstehung des Absolutismus als Ausdehnung der Hausvaterschaft des Fürsten über seinen eigentlichen Hofstaat hinaus auf alle Bevölkerungsgruppen verstehen. Der fürstliche Hausvater wird zum Landesvater über seine Landeskinder. Mit der Ausweitung des fürstlichen (Hof-)„Staates" von Hof und Kameralgut aus über das ganze Herrschaftsgebiet wird dieses erst in den „Staat" integriert, der dabei in seiner modernen, umfassenden Form entsteht. Staatsbildung in einem fürstlichen Staatswesen bedeutet also Ausweitung von Herrschaftsrechten über immer breitere gesellschaftliche Gruppen
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Höfische Gesellschaft, Sozialdisziplinierung und Merkantilismus
und Inanspruchnahme von Ressourcen, die früher dem Herrscher nicht zur Verfügung gestanden waren. „Lo stato", der Staat, war ja ursprünglich nichts anderes gewesen, als der „Status" der dem Herrscher zur Verfügung stehenden Personen und materiellen Mittel. Staatsbildung war also ein Prozess der Herrschaftsintensivierung, ein Prozess der sozialen und rechtlichen Nivellierung der Einwohnerschaft eines Herrschaftsgebietes zu Staats-„Untertanen" und ein Prozess zunehmender Identifikation von fürstlicher Herrschaft, Herrschaftsapparat und beherrschtem „Staats"-Gebiet. Am Ende dieses Prozesses steht ein klar abgegrenztes Staatsgebiet und ein eindeutiges Rechtssetzungs-, Steuerund Cewaltmonopol des so entstandenen Staates. In Österreich dauerten diese Prozesse relativ lang. Unter Ferdinand II. wurden zunächst die protestantischen Stände der österreichischen und böhmischen Länder ausgeschaltet (1620). Erst unter Maria Theresia kam es zu entscheidenden Fortschritten in der flächenhaften Bürokratisierung des Herrschaftsgebietes. Der Fürst sah sich als Vater seiner Untertanen: Auf den Kniefall der oberösterreichischen Stände vor Ferdinand II. am 16. April 1625, mit dem sie Verzeihung für ihre Rebellion von 1619/20 erbaten, hieß jener sie sogleich aufstehen und meinte, wenn sie „treue Untertanen" seien, werde er sich als ihr „Vater" erweisen. In solchen Anschauungen wirkten sowohl die Konzeption Jean Bodins vom legitimen Herrscher wie jene Robert Bellarmins fort, der die „Charitas paterna", die väterliche Liebe, als zentrale Herrschertugend des katholischen Königs darstellt. Auch der „Princeps in compendio", eine Erziehungsanleitung für Fürsten und solche, die es noch werden wollten (wieder aus der Umgebung Ferdinands II.), sprach davon, der Fürst müsse sich die Liebe und Zuneigung der Untertanen angelegen sein lassen und sie so an sich binden, „ut eum tamquam patrem diligant atque venerentur" (dass sie ihn wie einen Vater lieben und verehren). Es gehört zu dieser neuen theoretischen Konzeption der fürstlichen Majestät, dass in wachsender Zahl die Söhne und Töchter des Adels als Edelknaben und -fräulein Dienst bei Hofe leisteten — dies war natürlich auch eine günstige Voraussetzung für eine weitere Karriere. Nun, so kräftig die Habsburger auch, vor allem seit Ferdinand II., ihre besondere Position zwischen Gott und den ihnen Untergebenen hervorhoben, so wenig gelang es ihnen, tatsächlich vom Adel völlig unabhängig zu werden. Ihr höfischer Absolutismus blieb in relativ hohem Maße stets nur Anspruch, der niemals ganz eingelöst werden konnte. Ludwig XIV. hatte da eine ganz andere Stellung: Die tatsächliche Verwaltungsarbeit leistete eine vom König abhängige, aus bürgerlichen Kreisen stammende „noblesse de robe", während das höfische Zeremoniell und die königliche Repräsentation dem Adel von Geburt vorbehalten war. Der Letztere hatte keinerlei politische Entscheidungsbefugnis und war auch wirtschaftlich weitgehend von königlichen Gnadenerweisen und Pensionen abhängig. In den weitläufigen Trakten von Versailles saß der König wie die Spinne im Netz und überwachte zugleich alle Vorgänge am Hofe durch das Mittel des Zeremoniells. Alle Fäden liefen bei ihm zusammen. Der höchste Adel des Landes war mehr oder weniger dauernd zum Aufenthalt am Hofe verpflichtet.
Entstehungsbedingungen, Funktion und Entwicklung des Hofes im Absolutismus
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In Wien dagegen war die Hofburg bis zum Ausbau des Leopoldinischen und Reichskanzleitraktes eine, international verglichen, sehr bescheidene Behausung. Noch im 18. Jahrhundert galt das Belvedere des Prinzen Eugen als wesentlich eleganter denn die Hofburg — das veranlasste Charles de Montesquieu zur Bemerkung, er sei nicht böse, ein Land zu sehen, dessen Untertanen besser wohnten als ihr Herr. Die Habsburger hatten schlicht und einfach zu wenig Geld. Sie konnten ihren Hofadel niemals von regelmäßigen Geldzahlungen abhängig machen. Sie mussten — und dies hat die völlige „Verhöflichung" des Adels nachhaltig behindert — ihren Feldherren, Ratgebern, aber auch Günstlingen und Hofschranzen letztlich immer wieder in gut feudaler Tradition Grund und Boden überlassen. Wallenstein ebenso wie der Prinz Eugen, die Kinsky, Lobkowitz, Schwarzenberg usw. sind alle in kurzer Zeit große Grundbesitzer geworden. Damit war es aber auch ausgeschlossen, einen vom „alten" Adel völlig getrennten Amtsadel, eine „noblesse de robe", zu begründen. Durch den ständigen gravierenden Geldmangel konnte man auch die finanziellen Forderungen der bürgerlichen Juristen und Händler, die man für die Zwecke des Hofes benötigte, immer wieder nur durch die pfandweise Übertragung oder den schließlichen Verkauf von Regalrechten (Mauten, Zölle), Monopolen (sog. „Appalte") und Grundherrschaften absichern, wodurch jene aber in relativ kurzer Zeit feudalisiert wurden und in die soziale Nähe des älteren Adels gelangten. Dagegen betonte dieser zwar mit großem Ernst seine hervorragende Ahnengalerie — nichtsdestoweniger erwiesen sich diese Schranken binnen zweier oder dreier Generationen als durchlässig. So brachten es die Eggenberger, im 15. Jahrhundert noch Kaufleute aus Radkersburg und Graz, zunächst zum steirischen Adel; 1622 gehörten sie zum Kreise jener, die aus dem Nachlass des stark dezimierten böhmischen Adels große Besitzungen erwerben konnten, 1623 wurden sie schließlich Reichsfürsten (mit Gradisca als Fürstentum) und starben 1710 bzw. 1717 aus. Es war eine wichtige Folge dieser Refeudalisierung des höfischen Adels, dass dadurch die Landstände als Korporationen des feudalen Adels bis zu Maria Theresia und sogar bis 1848 nicht nur weiterbestehen konnten, sondern auch personell immer wieder regeneriert wurden, während in Frankreich ihr Einfluss fast völlig vernichtet wurde. Das hatte schließlich auch zur Folge, dass sich nicht wenige Mitglieder des Hofadels als Vertreter „ihrer" Länder fühlten und in der Hofkanzlei oder in anderen Zentralstellen die Interessen Böhmens oder der Steiermark eher vertraten als das Interesse der Zentralstellen selbst. Insbesondere die Hofkanzleien, über welche die Hofkammer ihre Steuerforderungen den Ländern mitteilen musste, galten um 1 700 geradezu als Hemmschuh für die Durchsetzung zentralstaatlicher Interessen! Niemals konnte auch d'te Anwesenheitspflicht des Adels am Hofe voll durchgesetzt werden. So beklagte sich Maria Theresia darüber, dass der Adel zu wenig bei Hof zu sehen war. Die Huldigungen des oberösterreichischen und böhmischen Adels für ihren Konkurrenten, Karl Albrecht von Bayern, im Jahre 1741 bewiesen zur Genüge, dass der „Hofadel" des Habsburgerreiches kei-
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Höfische Gesellschaft, Sozialdisziplinierung und Merkantilismus
neswegs ohne Wenn und Aber zum angestammten Herrscherhaus stand. Eine gewisse „feudale Verselbständigung" kennzeichnet auch diesen neuen Adel und steht hinter dem Begriff der „aristokratischen Reaktion", der für die Entwicklung im 17. und 18. Jahrhundert gerne gebraucht wird. Obgleich der Adel seine ritterliche Verpflichtung seit dem 16. Jahrhundert nur mehr theoretisch betonte, keine Leistung im Sinne des oft zitierten „SchutCraphik
4: Auf dem Weg zum Absolutismus
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RITTER
dicke Verbindungsstriche und dicke Unterstreichungen bezeichnen den fürstlichen Herrschaftsbereich bzw. -anspruch Versuch fürstlicher Einflussnahme auf Untertanen der Herren und Ritter fürstliche Einflussnahme auf Untertanen der Prälaten ständischer Autonomie- zw. Herrschaftsbereich
Der Bereich der fürstlichen Herrschaft erstreckt sich unbestritten auf das landesfürstliche Kammergut, daneben aber auch auf die zugleich ständischen Städte und Prälaten (weiteres Kammergut). Neben der entstehenden bürokratischen Verwaltung am Hof und in den landesfürstlichen Statthaltereien bzw. Regimentern (in den Ländern) bildet und verfestigt sich ein eigener Verwaltungsapparat der nun ebenfalls abgeschlossenen ständischen Sphäre. Der Landesfürst beginnt die „Penetration" des zum Staatsgebiet werdenden Herrschaftsbereiches beim engeren und weiteren Kammergut, wofür etwa die von oben verordnete Vererbrechtung der Güter der Klosteruntertanen ebenso beispielhaft ist wie das Einsetzen der Gegenreformation in den Städten und bei den Klosterherrschaften. Daneben versucht man über diverse „Ordnungen" (Wald-, Kleider-, allg. Polizeiordnungen) auch schon auf die Untertanen der Herren und Ritter einzuwirken. Noch blieben diese aber primär unter ständischer Ingerenz.
Entstehungsbedingungen, Funktion und Entwicklung des Hofes im Absolutismus
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zes" erbrachte und damit die Legitimation für die Ausbeutung seiner Bauern verlor, blieb er doch bis zur Revolution von 1848 Grundherr. Adelig zu sein bedeutet seit der höfischen Gesellschaft nicht mehr Innehabung einer Position, die man sich selbst erworben und verteidigt hat, sondern Auskosten von Privilegien. Diese Privilegierung war ein Teil des Preises, den die Habsburger ihrem Adel zahlen mussten, um ihr Imperium zu erhalten (in den bis 1620 dauernden Auseinandersetzungen mit den protestantischen Ständen mehrerer Länder) und zu vermehren (in den Kriegen des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts). Außerdem passte die Grundherrschaft als Institution in das Konzept der „väterlichen" Gesellschaft und ihrer starken Betonung der „auctoritas", seiner (haus- und staats-) väterlichen Autorität. Durch diese Konzeption konnte der Adel für seinen gesamtgesellschaftlichen Machtverlust entschädigt werden, der durch das Wachsen der höfischen Entscheidungssphäre zweifellos eingetreten ist. Die Dekommunalisierung, also die Zurückdrängung von sozialen Organisationsformen nach dem Gemeinde-Modell, äußert sich in der höfischen Gesellschaft zunächst in der Zurückdrängung der Stände und ihrer Versammlungen — bezeichnenderweise nicht ihrer Bürokratie, die man zur Steuereinhebung noch brauchte. Die soziale Position wurde immer weniger nach Zugehörigkeit zu einer Korporation (Adel, Landesgemeinde, Zunft usw.) bewertet, sondern nach der Nähe zum jeweils höchsten Autoritätszentrum. Daher erhielten Fragen der Rangigkeit, und damit des Vorranges, eine sehr hohe Bedeutung. Das ist eine ebenso wichtige Triebfeder für Zeremoniell und Etikette wie das Distanz- und Repräsentationsbedürfnis des Herrschers. 1716 bescheinigte Lady Mary Montagu den Österreichern (also der Wiener höfischen Gesellschaft) im Allgemeinen Phlegma und erstaunliche Mäßigung, sie würden nur dann lebhaft, wenn es um das Zeremoniell und um Fragen des gesellschaftlichen Vorranges ginge. Lady Mary erzählt die hübsche Geschichte zweier adeliger Damen, deren Kutschen sich in einer engen Gasse Wiens begegneten und nicht passieren konnten. Uneinig darüber, welcher von beiden der Vorrang gebühre, „... saßen sie mit gleichem Heldenmute da, bis zwei Uhr morgens, fest entschlossen, eher auf der Stelle zu sterben, als in einer Sache von dieser Wichtigkeit nachzugeben." Man fand schließlich eine salomonische Lösung, als man sie genau zur gleichen Zeit (!) aus ihren Kutschen hob und in Sänften abtransportierte. Aber jetzt „... gab es neue Schwierigkeiten mit den Kutschern, die nun um den Vorrang stritten; denn sie wachen über ihren Rang ebenso hartnäckig wie ihre Herrschaft [...]". Es ist diese Identifikation auch des Gesindes mit dem jeweiligen Hause, die es gestattet, die ganze zum Hofe gehörige Gesellschaft als eine Einheit zu sehen — trotz der enormen rechtlichen und Prestigeunterschiede, die zwischen den adeligen Trägern der höchsten Hofämter und den zahllosen Bedienten der unteren Kategorien bestanden. Aber auch diese wurden vom Glanz des fürstli-
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Höfische Gesellschaft, Sozialdisziplinierung und Merkantilismus
chen oder adeligen Herren mild umstrahlt und hatten auf diese Weise Anteil an einer Ehre, die sie — wie wir gesehen haben — auch tapfer mitverteidigten. Das personelle Wachstum der höfischen Gesellschaft erforderte auch räumliche Erweiterungen des Hofes, die in Wien relativ unregelmäßig im Anschluss an die alte vierflügelige Burg um den Schweizerhof erfolgten (Stallburg, Amalientrakt, Leopoldinischer Trakt, schließlich unter Karl VI. Reichskanzleitrakt, Hofreitschule, Redoutensaal und Hofbibliothek). Erst mit der Aussonderung der Bürokratie aus dem Hofe bildeten sich eigene Gebäude für diese.
4.2
Die Entstehung der Bürokratie
Schon 1404 waren bei Hofe neben den adeligen Räten, die man, entsprechend der feudalen Grundstruktur dieses Rates, eben nur fallweise heranzog, „tägliche Räte" aufgetreten. Unter Friedrich III. wuchs unter diesen Räten der Anteil bürgerlicher Juristen. Dass man zu Maximilians I. Zeiten darüber klagte, „Hirschen und Schreiber" seien an seinem Hofe wichtiger gewesen als die adligen Räte, verweist auf den Bedeutungsgewinn nichtfeudaler Ratgeber und Geschäftsträger um und nach 1500. Dem Zuwachs an Anforderungen an den Regenten wollte man durch die Einrichtung stabiler Vertretungsformen für den abwesenden Herrscher, der so genannten „Regimenter", entsprechen. Maximilian richtete zwei davon ein, eines in Innsbruck für die oberösterreichischen Lande (Tirol, die Herrschaften vor dem Arlberg, die Besitzungen nördlich des Bodensees, im Schwarzwald, im Breisgau und im Eisass) und eines für die niederösterreichischen Lande (Ober- und Niederösterreich im heutigen Sinne sowie die innerösterreichischen Länder Steiermark, Kärnten und Krain), mit wechselnden Sitzen. Den Ständen der jeweiligen Ländergruppe blieb eine Einflussnahme auf Zusammensetzung und Handlungsweise verschlossen, was jene tief erbitterte. War der Herrscher selbst anwesend, regierte er im Prinzip selbst, wieder mit Hilfe des Hofes. Anknüpfend an Maximilian hat sein Enkel Ferdinand I. mit der Hofstaatsordnung von 1527 e ine Behördenorganisation eingerichtet, welche die Grundlage für die Entwicklung der staatlichen Zentralbehörden bis 1848 blieb. Wichtigster Grundsatz war die Kollegialität der Räte: Nicht ein Rat hatte zu entscheiden, sondern deren Gesamtheit. Die Räte beraten — dieser einfache Grundsatz bewirkte, mit dem Anwachsen der Ratskollegien, auch deren später häufig gescholtene Unbeweglichkeit und Entscheidungsscheu. König Ferdinand errichtete einen Geheimen Rat, einen Hofrat, eine Hofkanzlei und eine Hofkammer, um mit diesen Behörden als Stellvertreter seines Bruders Karl V. das Hl. Römische Reich sowie seine eigenen Königreiche Ungarn und Böhmen (samt Mähren und Schlesien) sowie die habsburgischen Stammlande zu regieren. Bei der großen Rolle von Vorrangproblemen in der höfischen Gesellschaft ist die Vorrangordnung innerhalb der Räte nicht unwesentlich. Sie folgte zwei Kriterien. Einmal dem der ständischen Dignität— daher sollten (in der Sitzordnung und bei der Abgabe des Votums) zuerst die Grafen kommen, dann die Freiherren,
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die Herren, Pröpste, Dechanten und anderen Prälaten, dann die Ritter und die „doctores", also die Rechtsgelehrten. Das zweite Kriterium war das Dienstalter. Ausdrücklich wird festgehalten, dass diese Räte nicht nach den Ländern ihrer Herkunft gereiht werden durften, denn sie seien nicht Gesandte ihrer Länder, sondern ausschließlich ihrer königlichen Majestät „rat und diener". In diesen Bestimmungen äußert sich die vereinheitlichende Funktion des Rates. Der Rat wie der ganze Hof sollte das wichtigste Integrationsinstrument für die zahlreichen höchst unterschiedlichen Herrschaftsgebiete der Habsburger werden. Das ursprüngliche Regierungsorgan, der Hofrat, verlor im 17. Jahrhundert jede Kompetenz für die Erbländer. Er wurde als „Reichshofrat" zum obersten kaiserlichen Gericht und eines der letzten und wichtigsten Bindeglieder zwischen den Untertanen der Reichsstände des Heiligen Römischen Reiches und dem Kaiser. In dieser Funktion blieb er bis zum Ende des alten Reiches bestehen. Ein ähnliches Schicksal erlitt auch der Geheime Rat, der zunächst den Hofrat als zentrales Beratungsorgan des Herrschers ersetzte. 1576 gab es zwei, um 1650 bereits 39 geheime Räte. Besonders hier spielen die gelehrten Räte, die Juristen, eine große Rolle. Im 16. Jahrhundert kamen sie noch vielfach aus dem Reich, seit Ferdinand II. wurden die geheimen Räte aber immer mehr dem österreichischen, böhmischen und italienischen Hofadel entnommen (Eggenberg, Slawata, Werdenberg, Trauttmansdorff, Liechtenstein, Piccolomini, Porcia, Auersperg, Lobkowitz, Montecuccoli). Infolge der Zunahme der Zahl der Geheimräte (um 1705 waren es schon mehr als 150) verlor der Geheime Rat seinen Charakter als zentrales Regierungsorgan immer mehr an einen kleinen Ausschuss aus dem Geheimrat — die „Geheime Konferenz". Besonders wichtig war die Hofkammer, hatte sie doch den „nervus rerum" nicht nur für den kaiserlichen Haushalt, sondern auch für die auswärtige Politik und für die Kriegsführung zu besorgen — das Geld. Im Allgemeinen sollten die Ausgaben für den Hof aus dem „Camerale" gedeckt werden, aus dem Kammergut, also aus den fürstlichen Grundbesitzungen, den Regaleinkünften (Zölle, Mauten, Bergwesen) und unter Umständen auch aus Abgaben der landesfürstlichen Städte und Märkte sowie Prälaten, die man ja ebenfalls als Teil des (weiteren) Kammergutes auffasste. Kriege sollten über das „Contributionale" finanziert werden, also durch die von den Ständen der verschiedenen Länder bewilligten und auch eingehobenen Steuern, die vom Fürsten alljährlich (oder auch öfter) auf Landtagen gefordert und von den Landständen der verschiedenen Ländern meist mit Abstrichen bewilligt wurden. Die Hofkanzlei war für die Entgegennahme von Eingaben und den Ausgang von Schriftstücken zuständig. Im 16. Jahrhundert gab es neben Sekretariaten für verschiedene Sprachen (Deutsch, Latein, Spanisch) und Ämter (Hofkammerkanzlei, Kriegskanzlei), neben der Reichs- und Hofkanzlei eigene Kanzleien für Böhmen und Ungarn. Als 1619 Ferdinand II. nach Wien kam, nahm er seine Kanzlei aus Graz mit und übertrug ihr die „Expedition" der ober-, vorder-
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Höfische Gesellschaft, Sozialdisziplinierung und Merkantilismus
und innerösterreichischen Lande. So entstand 1620 die österreichische Hofkanzlei als eigene Behörde. Dieser übertrug man bald auch die „Haussachen", also die Angelegenheiten der Herrscherfamilie, und das musste bedeuten: die Außenpolitik. Schon 1637 wurde die (österreichische) Hofkanzlei auch zum Revisionsgerichtshof für die ober- und niederösterreichischen Lande. 1 704 hieß es, die Hofkanzlei beschäftige sich mit „Publica, Landsachen und Justizangelegenheiten". Sie wurde schließlich — aus einem Schreibbüro und einer Registratur — zum Innen-, Außen- und Justizministerium, zum eigentlichen Entscheidungszentrum, das den alten Hofrat ersetzte. Im frühen 18. Jahrhundert wurden schließlich zwei Hofkanzler eingesetzt, von denen sich einer den inneren Angelegenheiten, einer den äußeren widmen sollte. Aus dem Amtsbereich des Letzteren entstand 1 742 die Staatskanzlei. Zuletzt entstand der Hofkriegsrat. War früher die Kriegsführung selbstverständlicher und ständiger, jedoch nicht sonderlich systematisierter Bestandteil fürstlicher Aufgaben, so erforderte die Situation seit Maximilian I. eine ständige Beobachtung und Betreuung der militärischen Fragen. Mit Ferdinands i. Hofkriegsrat wurde ein Organ für diese Aufgaben geschaffen. Er hatte besonders auf die Versorgung und den Ausbauzustand der Festungen (speziell in den nach 1547 habsburgisch gebliebenen Teilen Ungarns) zu achten und im Falle des Ausbruchs akuter Krisen die nötigen Vorkehrungen zu treffen. Mit der Teilung von 1564 entstanden nicht nur drei Höfe, sondern auch drei neue Zentralbehörden, deren Wirksamkeit die Höfe in Innsbruck und Graz bis ins 18. Jahrhundert überlebte (bis 1749). Das bedeutete eine erhebliche Vermehrung der höfischen und bürokratischen Einrichtungen und einen wichtigen Ansatzpunkt zur Entfaltung von bürokratischen Organen für die drei Ländergruppen. Unterhalb der Ebene der Ländergruppen wirkten in den einzelnen Ländern Vizedome für die Verwaltung des landesfürstlichen Kameralgutes. Alle drei Ebenen wurden schließlich wichtig für die Expansion der Bürokratie seit der Regierungszeit Maria Theresias. Rekrutiert wurde diese Bürokratie zum Teil aus gebildeten Bürgerlichen, zum Teil aus dem Hofadel. Auch der Letztere musste jetzt, wollte er bei den genannten Ämtern reüssieren, einige juristische Kenntnisse haben, was viele Adelige seit dem 16. Jahrhundert bewog, wenigstens ein Quäntchen Universitätsluft zu schnuppern — etwa in Bologna mit seinen berühmten Rechtsstudien. Im 1 7. und 18. Jahrhundert scheint das bürgerliche Element zurückzutreten (Ausnahmen waren die Kanzler Hocher und Strattmann), zumindest die Spitzenpositionen blieben fest in der Hand angesehener Hochadelsfamilien (Sinzendorff, Starhemberg, Schwarzenberg, Montecuccoli). Prinzipiell war die neue Bürokratie besoldet. Die Besoldung richtete sich zunächst nach Rang, Ansehen und Repräsentationsbedürfnis, was sich in der Zahl der Pferde ausdrückt, deren Haltung der Sold ermöglichen sollte. Obgleich die ausgewiesenen Summen nicht geringfügig waren, reichten sie doch niemals aus, den erforderlichen repräsentativen Aufwand zu decken. Das musste die Räte für verschiedene „Ehrungen" empfänglich machen, die man von den Par-
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teien, die irgend etwas betreiben oder durchsetzen wollten, auch ganz ungescheut verlangte. So schrieb ein Krainer Abgesandter 1635 von Wien nach Hause: „Ich trauet mir alles wol zu verrichten, wo ich nur güldene hent het, den auf die verhaißung schätzt man allhie zu Wien gar nichts, wo man nicht res ipsa in actu comprobetur [...]". Besonders im Bereich der Kameralverwaltung existierte immer noch der Typ des Kameralunternehmers, also eines Amtsinhabers, der sein Amt häufig auf Grund vorgestreckter Darlehenssummen als Pfand übernahm (oder auch in Pacht, was Appalt genannt wurde) und dann mit diesen fürstlichen Einkunftsquellen ganz selbständig wirtschaftete. Gerade hier gab es auch enorme Unterschleifs- und Bereicherungsmöglichkeiten. Berüchtigt war der Hofkammerpräsident Ludwig Graf Sinzendorff, der 1679 abgesetzt und 1680 zur Rückerstattung von fast 2 Millionen Gulden veruntreuter öffentlicher Gelder verurteilt wurde — das war so ziemlich der Jahresbetrag für den gesamten höfischen Aufwand, die Zentralbürokratie, die ungarischen Festungen und die Außenpolitik der Habsburger. Phantastische Verdienstmöglichkeiten eröffnete die Kombination von Produktions- und Absatzmonopol und deren Verpachtung als „Appalt" (ζ. B. Sensenmonopol des Grafen Albrecht von Sinzendorff) oder die Kombination von Positionen in der Hofkammer mit Handelsmonopolen. So resultiert der Aufstieg des Grafen Inzaghi vom kleinen Händler zum schwerreichen Adeligen aus solchen Funktionsverbindungen: Inzaghi wurde 1656 Rat der innerösterreichischen Hofkammer in Graz, setzte sich hier für die Verstaatlichung des Quecksilberhandels ein und übernahm diesen selbst in Pacht. Auch der Eisengroßhändler Hans Ludwig Mittermayr aus Steyr konnte durch monopolartige Positionen (Auslandshandel der Innerberger Hauptgewerkschaft) und Pacht (Kärntner Bleiproduktion 1675, Quecksilberverschleiß nördlich der Alpen) sowie durch Verwaltung des Kupferhandels und Armeelieferungen (besonders 1683 bei der Belagerung Wiens) riesige Vermögenswerte anhäufen; selbstverständlich wurde auch er geadelt. Diese vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten von höfisch-bürokratischer Entscheidungsebene und Wirtschaft verweisen auf wichtige gesellschaftliche Neuerscheinungen, die nun etwas näher zu beleuchten sind.
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Höfische Gesellschaft, Protoindustrialisierung und Merkantilismus
In seinem berühmten Buch „Österreich über alles, wann es nur will..." schrieb Philipp Wilhelm von Hörnigk 1684, dass man im Jahre vorher, 1683, nur einige Millionen Taler mehr gebraucht hätte — und die Belagerung Wiens durch die Türken wäre ausgeblieben: „Was sage ich aber von einer Million? Nur etlich wenig hunderttausend Taler an Zeit und Orten wohl verwendet, würden uns bald anfangs mit
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Weil und Ordnung den mehrern Teil derjenigen Hülf ganz gern zuwegen gebracht haben, die man hernach zu Rettung der kaiserl. Residenz über Hals und Kopf zu berufen gehabt [...]". Und er zog daraus den Schluss: „Litten gleich endlich die ausgeführten Kriegsverwirrungen noch nicht, neue Haupt-Commerzien und Manufacturen anzulegen, so leiden sie doch wenigst, die auswärtige, unnötige, unnütze Waren, wofür unser bestes Geblüt, das innerste Mark unserer Kräften, unser gutes Gold und Silber millionenweis unsern Erz- und Erbfeinden zurinnet, daraußen zu halten [...] Wie viel leichter sollte es uns sein, unter gegenwärtiger Strafruten [...] den Hoffart mit unsern guten schlesischen, mährischen und böhmischen Tüchern, mit unser schlesischen, ober-österreichischen und anderer inländischen Leinwand eine zeitlang büßen, hingegen die seidene und härme Zeug, die Engel- und Holländische Larven, das indianische Bombasin-Gewebe, die pestilentialische französische Mode-Waren dafür in ihrer Heimat zu lassen [...]". Diese Sätze zeigen drei wichtige Zusammenhänge auf. Erstens den zwischen dem Geldbedarf des Herrschers und den zahlreichen Kriegen der Epoche. Dieses Geld mangelte unter anderem deshalb, weil — zweitens — sehr viel davon für den Ankauf diverser Bedarfsartikel, besonders der gehobenen Nachfrage, ins Ausland abfloss. Dem ließe sich — drittens — durch die Förderung der inländischen Produktion infolge Hinlenkung der inländischen Konsumtion auf diese und durch Ausbau von „Commerzien und Manufacturen" begegnen. Noch etwas ist bemerkenswert: Als „Inland" galten Hörnigk alle habsburgischen Erbländer gemeinsam und ohne Unterschied. Er ging also vom Konzept eines auch wirtschaftlich einheitlich orientierten Staatsgebietes aus (und war damit seiner Zeit weit voraus). Ferner ist der „Staat" nicht mehr nur der Hofstaat des Kaisers, sondern die Summe seiner Untertanen und Gebiete — ebenfalls ein bemerkenswerter Vorgriff auf die Vollendung des Staatsbildungsprozesses, die ja selbst für die böhmisch-österreichischen Länder (von Ungarn ganz zu schweigen) noch mehr als zwei Menschenalter auf sich warten ließ. Hörnigks Buch kam eine besondere programmatische Bedeutung zu. Die Lektüre dieses Buches muss ganze Generationen von Staatsmännern und Beamten bei der Umgestaltung der Habsburgermonarchie in einen Einheitsstaat enorm beflügelt haben. Denn es erlebte bis 1784, also durch genau hundert Jahre, 16 Auflagen. Merkantilistische Programmatik war für die Habsburgermonarchie erstmals von Johann Joachim Becher (1635 - 1685), einem Schwager Hörnigks, formuliert worden. Der dritte Autor dieses bekannten merkantilistischen Dreigestirns war Wilhelm Schröder, dessen „Fürstliche Schatz- und Rentkammer" (1686) ebenfalls zu den grundlegenden programmatischen Werken einer neuartigen Wirtschaftspolitik zählt. Wie die Worte Hörnigks zeigen, wurden die Beispiele ganz überwiegend aus dem Bereich der Textilproduktion genommen. Hier gab es einen wichtigen
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Anknüpfungspunkt — die Leinenproduktion. Schon im 16. Jahrhundert hatte sich besonders im Mühlviertel eine zum Teil nichtzünftische Leinenweberei als exportorientierter Haupterwerb — neben dem Betrieb einer Landwirtschaft — stark ausgebreitet. Als Verleger fungierten Salzburger und oberdeutsche (vor allem Nürnberger), aber auch Linzer und Welser Kaufleute. An diese schon um und nach 1600 blühenden Beziehungen wurde nach dem Dreißigjährigen Krieg zum Teil wieder angeknüpft. Dabei stützten sich die ausländischen Kaufleute auf das Netz der Leinenweberzünfte, die durch eine Landeshandwerksordnung von 1578 für das Land ob der Enns auch stärker miteinander in Beziehung gebracht wurden. Verlagsverhältnisse zwischen Händlern und ganzen Zünften (Zunftkauf) vereinfachten die Beziehungen zwischen Produzenten und Händlern, zeigen aber auch, dass die Institution der Zunft auch für die frühkapitalistische Produktionsorganisation einen durchaus angemessenen Rahmen bereitstellen konnte. Auch die Grundherrschaften beteiligten sich am Leinenverlag. Schon 1709 wurden die Landweber den zünftigen Webern praktisch gleichgestellt. Erst durch die Gewerbereformen Maria Theresias wurde die Bedeutung der Zünfte für den Verlag stark zurückgedrängt. Ebenso wie das Mühlviertel war das von den klimatischen Bedingungen her ähnlich strukturierte niederösterreichische Waldviertel ein Zentralgebiet protoindustrieller Produktion. Auch hier entwickelte sich früh eine breite Leinwandproduktion. Im 18. Jahrhundert wurde diese ergänzt durch das Spinnen — und zum Teil auch das Weben — für die großen niederösterreichischen Baumwollmanufakturen. In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts ermöglichte die Arbeit in der Textilwirtschaft zahlreiche Hausstandsgründungen bei niederem Heiratsalter. Diese Bemerkungen sollten auf Entwicklungen verweisen, die schon vor dem Einsetzen einer „staatlichen" Wirtschaftspolitik als Tendenzen zur Marktproduktion auf der Basis des Verlagssystems in verschiedenen Regionen zu beobachten waren — spätestens seit dem 16. Jahrhundert. Nicht nur die Krise des 17. Jahrhunderts, sondern auch die wachsenden Anforderungen an die finanzielle Leistungsfähigkeit der habsburgischen Länder erzwangen eine systematischere Wirtschaftsförderung, die man unter den Schlagworten „Merkantilismus" und — im 18. Jahrhundert — „Kameralismus" zusammenfaßt. Die Ausweitung des (Hof-)Staates auf das ganze, 1718 auch räumlich seine weiteste Ausdehnung erreichende Herrschaftsgebiet führt zur notwendigen Konsequenz der Identität von Wirtschaftsraum und Staat. Die mittelalterliche Wirtschaftsordnung war demgegenüber noch kleinräumig gewesen, orientiert an Stadt und Grundherrschaft, allenfalls am Land. In der Auseinandersetzung mit den zum Absolutismus drängenden Herrschern haben die Stände der verschiedenen Länder ihre ökonomische Sonderrolle betont, langehin erfolgreich durch ihre finanzielle Stärke, die es ihnen gestattete, vom Landesfürsten diverse Maut- und Zolleinkünfte zu pachten bzw. deren Neueinrichtung bewilligt zu erhalten. Diese Landes-Wirtschaftspolitik äußerte sich unter anderem in einem Vorrang der Versorgung des je eigenen Landes. Solche den überregionalen Handel behindernden Zustände wurden erst im 18. Jahrhundert langsam über-
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wunden. Der„Universal-Kommerz"aller habsburgischen Länder wurde zur Leitlinie der Wirtschaftspolitik. Es begann damit, dass man die Straßen von und nach Triest zollmäßig begünstigte, und es endete — vorläufig — 1775 mit einem gemeinsamen Zollgebiet der böhmisch-mährisch-schlesischen und der österreichischen Länder (noch ohne Tirol). 5.1
Der Hof als Ausgangspunkt einer neuen Wirtschaftsgesellschaft
Es genügte nicht, einen geschlossenen Wirtschaftsraum auf dem Verordnungswege zu schaffen — selbst das dauerte bis 1 775 bzw. endgültig bis 1850! Man brauchte, um den Inlandsabsatz zu beleben, auch eine neue Schicht von Unternehmern. Die neuen „Commerzien und Manufacturen", von denen Hörnigk sprach, fielen ja nicht vom Himmel. Noch war nicht allzu viel Geld für ein neues Unternehmen nötig, war doch der Maschinenpark in der Regel noch äußerst bescheiden. Zudem fußten die merkantilistischen Unternehmungen zumeist noch auf dem Verlag, brauchten also keine großen Fabriksgebäude. Nur wenige Leute aus den traditionellen kommerziellen Kreisen zeigten aber Interesse, wie der Gründer der berühmten Linzer Wollenzeugfabrik, der Kaufmann Christian Sind. Viel lieber verharrte man in den gewohnten und gewinnträchtigen Bahnen des Importes, als dass man sich an neue Produktionen gewagt hätte. Ein wichtiger Vorläufer eines neuen Unternehmertums war der Hoffaktor. 5.1.1
Die Hoffaktoren
Die Ausgabenpolitik absolutistischer Herrscher der frühen Neuzeit wurde niemals von den zu erwartenden Einnahmen bestimmt, sondern von kriegerischen Notwendigkeiten und den Erfordernissen von „grandeur" und „générosité", von Prunkliebe und Großzügigkeit, als unverzichtbaren Bestandteilen des barocken Herrschaftsstiles. Die dafür nötigen Summen waren in der Regel nicht in bar vorhanden — man brauchte also Leute mit unbegrenztem Kredit, die das Unmögliche möglich machten, die Hoffaktoren. Im späten 15. und im 16. Jahrhundert waren oberdeutsche Kapitalisten (Fugger, Welser, Hochstätter) die bevorzugten Financiers der Habsburger gewesen. Mehrere schwere Bankrotte um 1560 beendeten diese Vorrangstellung. Nun traten, neben diversen einheimischen Geldgebern wie den Geizkofler, vor allem Oberitaliener {wir haben oben, S. 161 auf das Beispiel des Abbondio Inzaghi hingewiesen), aber auch Niederländer (wie Hans de Witte in Prag, der Bankier Wallensteins), als Großhändler und Bankiers hervor. Seit dem Dreißigjährigen Krieg scheinen daneben die Hofjuden langsam an Bedeutung gewonnen zu haben. Im späten 1 7. Jahrhundert standen sie in der Staatsfinanzierung im Vordergund. Ihre Rolle war universell. Samuel Oppenheimer (1630 - 1703) war in erster Linie Heereslieferant.
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Er „[...] bezog Pulver aus Holland, Russland und Polen, Salpeter aus Böhmen, Mähren, Schlesien und Ungarn, Waffen aus der Steiermark, Kärnten und Krain; Tuche aus Holland, Wolle aus Böhmen, Dragonerstiefel aus Kremsier, Pferde und Flöße aus Salzburg und Bayern; Getreide und Mehl aus Österreich, Bamberg und Würzburg, Mainz und Trier, Ochsen aus Siebenbürgen und Ungarn, Heu aus der Kurpfalz, Hafer aus Franken, Spezereien aus Hamburg, Wein vom Rhein, vom Neckar und von der Mosel, Branntwein aus Mähren. Das Netz seiner weitverzweigten Geschäftsbeziehungen erstreckte sich von London und Amsterdam bis Ofen und Venedig [...]." Die letzte Bemerkung eröffnet den Schlüssel für die Erklärung des Phänomens der Hoffaktoren. Dank ihrer überregionalen Handels- und Finanzverbindungen waren sie jederzeit in der Lage, die geforderten Dinge zu liefern und — vor allem — den nötigen Kredit zu gewähren. Oppenheimer selbst blieb nicht bloß Heereslieferant. Er wurde Hoflieferant und Hofbankier — kein höfisches Fest und keine habsburgische Hochzeit, die er nicht finanziert hätte. Bemerkenswert war nicht nur die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Hoffaktoren, sondern auch ihre rechtliche Stellung. Die jüdischen Gemeinden waren — soweit sie überhaupt die schlimmen Zeiten des Spätmittelalters und die Verbote zur Zeit Maximilians I. überstanden hatten — zahlreichen Restriktionen unterworfen. Häufig wurden Juden in Ghettos abgesondert, durften nicht Grund und Boden erwerben, mussten besondere Abzeichen tragen und Sonderabgaben leisten. 1670 wurden die Juden wieder einmal aus Wien vertrieben. Auf dem Areal der Synagoge in der Leopoldstadt entstand die Karmeliterkirche. Doch schon seit 1582 gab es in Wien die Institution des „hofbefreiten" Juden. Die Hofbefreiten genossen auf Grund besonderer Schutzbriefe Befreiung von allen Steuern, sie durften ihre Waren für den kaiserlichen Haushalt maut- und zollfrei einführen und hatten freien Aufenthalt in jeder Residenz des Hofes. Ab 1675 gab es wieder „tolerierte" Juden, denen man selbstverständlich ein hohes Toleranzgeld abknöpfte — eben die Hoffaktoren. Ihre Privilegien erstreckten sich nicht nur auf ihre Person, sondern auch auf ihre Angehörigen und Bedienten — folglich waren alle Juden in Wien Bedienstete bei den großen Hoffaktoren. 1699 waren nur die Hoffinanciers Oppenheimer und Wertheimer privilegiert, alle übrigen Familien galten als Angehörige und Bediente dieser beiden. In allen Rechtsfällen unterstanden die Hoffaktoren der Jurisdiktion des Hofmarschallamtes. Damit waren sie ein Teil des Hofes geworden. Die Hoffaktoren wurden daher — beim Mangel einer offiziellen jüdischen Gemeinde — zu Kristallisationspunkten der Wiener Judenschaft, die sogar eigene Gebetshäuser errichteten. Die berühmtesten Faktoren waren primär Händler und Geldleute, wie Oppenheimer und Samson Wertheimer (1658 - 1724). Die Regierung war aber sehr bemüht, diese Finanzkraft auch in den Dienst industrieller Gründertätigkeit zu stellen. So wurde etwa in der Judenordnung von 1 764 gefordert, dass ein
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um die Toleranz ansuchender Jude nicht bloß sein Vermögen angeben müsse, sondern auch, „[...] was er Nützliches für das gemeine Wesen besonder mittelst Anlegung einiger Fabriken (zu welchen jedoch jederzeit christliche Arbeitsleute zu gebrauchen) unternehmen [...]" wolle. Freilich zogen die jüdischen Händler in der Regel noch das sichere Geschäft mit dem geldhungrigen Staat der unsicheren Unternehmertätigkeit vor. Auch in späteren Generationen von Hoffaktoren, etwa bei Abraham Wetzlar (1715/16 - 1799), als Karl Abraham Wetzlar von Plankenstern schließlich konvertiert und nobilitiert, war industrielle Gründerfreude wenig entwickelt. Im Gegenteil: Wetzlar widmete sich nach seiner Nobilitierung rasch dem Erwerb von Grundherrschaft und Häusern, und seine Kinder heirateten zum Teil in Adelshäuser (Clary, Festetics, Triangi), zum Teil wandten sie sich Beamten- und Offizierslaufbahnen zu. Damit nahmen sie ein Verhaltensmuster wieder auf, das schon früher begegnet war. Als „Gründerväter" des österreichischen Kapitalismus können die Hoffaktoren daher nur bedingt gelten. 5.1.2
Hofbefreite und Dekretisten
Ähnlich wie bei den hofbefreiten Juden kam es auch gegenüber Handwerkern und Gewerbetreibenden zur „Hofbefreiung", wenn die von ihnen vertretene Produktionsrichtung gefragt und aussichtsreich war. Mit der Hofbefreiung wurde der Unternehmer von allen Zunftschranken befreit und häufig auch steuerlich begünstigt. In erster Linie betraf dies „Künstler", also besonders qualifizierte Handwerker, wie Uhrmacher. Der Anteil dieser Hofbefreiten an der Gesamtproduktion war allerdings nicht sehr groß. Eine starke Aufwertung erfuhr die nichtzünftische Handwerkerschaft, als im Jahre 1 725 unbefugte Handwerker (Störer), deren Anwachsen mit dem Abschließen der Zünfte und der Begrenzung der Meisterstellen zusammenhängt, durch die Zahlung eines Schutzgeldes und die damit verbundene nominelle Unterstellung unter den direkten Schutz des Landesfürsten zur Ausübung ihres Gewerbes berechtigt wurden. Gemeinsam mit den Soldatenhandwerkern und den Hofbefreiten erreichten diese „Dekretisten" in den Residenzstädten einen erheblichen Anteil an der gewerblichen Bevölkerung. 1736 zählte man in Wien etwa 11.000 Professionisten, davon 3345 bürgerliche Handwerker, 3126 Dekretisten und 2941 Störer, schließlich haupt- oder nebenberuflich gewerblich arbeitende kaiserliche Livreebedienstete, Universitätshandwerker, Stadtguardisten, Arsenalisten und Piquenierer — diese drei Gruppen sind sog. „Militärhandwerker", deren Sold allein für den Lebensunterhalt nicht ausreichte — und zuletzt 301 Hofbefreite. 5.1.3
Privilegierungen
Die Regelung von Wirtschaftsangelegenheiten durch Privilegien des Herrschers entwickelte sich im Zusammenhang mit der besonderen Stellung der Zünfte
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im Rahmen der Gegenreformation. Seit Maximilian II. benötigte jede Handwerksordnung die Bestätigung des Herrschers. Die katholische Religion war Grundvoraussetzung für die Ausübung eines Handwerks. Seit man unter Leopold I. (um 1660) entdeckte, dass die geforderte Steigerung der Produktion und Beschäftigung nur durch die Einführung neuer Produktionszweige, wie der Seiden- und Baumwollverarbeitung und, verbunden damit, durch die Beschäftigung ausländischer, oft nichtkatholischer Fachkräfte zu bewerkstelligen war, ging man dazu über, solches vermittels besonderer Privilegien zu ermöglichen und zu begünstigen. „Privilegia privativa" garantierten ein ausschließliches Erzeugungsrecht der in dem neuen Betrieb hergestellten Waren (Monopol), den Verkauf dieser Erzeugnisse im Groß- und Kleinhandel, Freiheit vom Zunftzwang, aber auch die Freiheit, Gesellen und Lehrlinge aufdingen zu können. Kleinere Privilegien beschränkten sich auf solche Begünstigungen, ohne ein Monopol zu begründen. Gemeinsam war aber allen Privilegien — und darin liegt der entscheidende Unterschied zu den zünftischen Handwerksordnungen — die Beseitigung der quantitativen Einschränkungen im Bezug von Rohstoffen, bei der Stückzahl der erzeugten Waren und bei der Anzahl der beschäftigten Arbeitskräfte. Für die Periode von 1669 bis 1780 sind für die althabsburgischen Länder (ohne Böhmen, Mähren-Schlesien, Ungarn, Mailand, Belgien, Galizien) 63 Privilegien bekannt geworden. Daneben müssen auch zahlreiche neue nichtzünftische Betriebe ohne förmliches Privileg entstanden sein, zumindest seit etwa 1740. Unter den Privilegierten befanden sich Adelige (Sinzendorff, Königsegg, Salburg, Mollard usw.), ursprünglich ausländische Großhändler, die so genannten „Niederleger", einheimische bürgerliche Unternehmer (wie der Gründer der Linzer Wollenzeugfabrik von 1672, Christian Sind) und natürlich die immer wieder benötigten ausländischen Fachkräfte (die Italiener Bornastini und Bozzini, der Niederländer du Paquier, der Franzose Tetier, die Engländer Kennedy, Hickman und Rosthorn u. a.), schließlich auch Kapitalgesellschaften (die erste und zweite „Orientalische Kompagnie"). Durch die „Privilegia privativa" mit ihren Monopolverleihungen wurden weitere Unternehmungsgründungen in der gleichen Branche allerdings nachhaltig behindert. Aber durch Beseitigung von quantitativen Produktions- und Beschäftigungsbegrenzungen und durch die Bescheinigung öffentlicher Wichtigkeit hatten die Privilegien jedenfalls große Bedeutung. Diese Wirkung wurde durch die Adelsverleihungen an Wirtschaftstreibende verstärkt. 5.1.4
Nobilitierungen
Im Montanwesen hatten die Gewerken nicht selten von alters her adelige Qualität, was auch mit dem quasi grundherrschaftlichen Charakter der Besitzformen am Berg zusammenhing. Die Nobilitierung tüchtiger Unternehmer wie der Prueschenk, Kuefstein, Eggenberger, Inzaghi und Mittermayr waren vom 15. bis zum 17. Jahrhundert immer wieder üblich gewesen. Große bürgerliche Vermögen, wie jene der Eggenberg, Stürgkh oder Attems, wurden durch Erhe-
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bung in den Adel den eigentlich bürgerlichen Aktivitäten entzogen, denn Aufstieg in den Adel bedeutete Abschied von den bürgerlichen Erwerbsformen. In der höfischen Gesellschaft wurden, mit einem deutlichen Höhepunkt zur Zeit Maria Theresias (1 740 - 1 780) und Josephs II. (1780 - 1 790), die Nobilitierungen von Unternehmern ein gezielt eingesetztes Instrument zur Schaffung einer angesehenen und selbstbewussten Unternehmerschicht. Die Adelsverleihung sollte das Sozialprestige des Unternehmers heben, nicht aber den Unternehmer zum adeligen Grundherrn machen. Ausdrücklich betonte Maria Theresia anlässlich der Nobilitierung des Seidenfabrikanten Baroni im Jahre 1 763, dass die Handelsschaft „all' in grosso" (also ohne Detailverkauf in einem Laden!) der Adelswürde „kein Abbruch mache". Von 1 701 bis 1739 waren erst 4,5 % aller Nobilitierungen auf Wirtschaftstreibende entfallen, zwischen 1 740 und 1 780 bereits 7 %, zwischen 1 781 und 1790 aber schon 18,2 %. Nimmt man dazu jene Beamten aus dem Kameraibereich (Salinenverwaltung, Münzwesen, Monopolpacht, Quecksilberhandel), die eigentlich als „Kameralunternehmer" gelten können, dann wird die Bedeutung der Nobilitierung für die Schaffung einer neuen Wirtschaftsgesellschaft noch größer: Zwischen 1 740 und 1 780 waren 38 % aller Nobilitierten Beamte, davon 10 % Wirtschaftsbeamte. Insgesamt wurden während der Regierungszeit Maria Theresias 126 Wirtschaftstreibende geadelt. Unter Joseph II. erlangten einzelne Großunternehmer sogar die Grafen würde, wie der Kärntner Gewerke Max Thaddäus Egger, der Bankier Johann Fries und der Großhändler Johann Josef Fuchs.
5.2
Unternehmens- und Betriebsformen, Arbeitsorganisation und Arbeiterschaft
Ausgangspunkt frühkapitalistischer Unternehmens- und Betriebsformen war das Bergwesen, in Verbindung mit dem Handelskapital. Zunächst spielte der Montanbereich auch in der höfisch-absolutistischen Epoche eine wichtige Rolle bei der Entwicklung neuer Unternehmens- bzw. Betriebsformen, aber auch bei der Entwicklung der Verbindung von Staat und Wirtschaft. 5.2.1
Der Bergbau und die mit ihm zusammenhängenden Wirtschaftszweige
Bergbau war stets ein Regalrecht des Fürsten gewesen. Im 15. und 16. Jahrhundert wurden diese Regalrechte energischer zur Geltung gebracht. Im Salzwesen kam es zu einer regelrechten „Verstaatlichung" nicht nur der Produktion, sondern auch des primär Gewinn bringenden Absatzes (1632). Anders beim Eisenwesen. Hier blieb es beim Privatbesitz der Gruben, allerdings bei erheblich verstärkter landesfürstlicher Kontrolle. Als eine 1581 gegründete Eisenhandelsgesellschaft zu Steyr, die schon unter erhöhtem landesfürstlichen Einfluss stand, im Zuge der Gegenreformation zerbrach und der Verlag des Eisenwesens nicht
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mehr gesichert erschien, wurde 1625 für den Bereich nördlich des steirischen Erzberges die „Innerberger Hauptgewerkschaft" unter starker Kontrolle des landesfürstlichen Kammergrafenamtes gegründet. In ihr wurden die drei „Hauptglieder" des Eisenwesens, nämlich die Innerberger (= Eisenerzer) Cewerken (Radmeister), die Hammermeister, welche das Roheisen zu Halbfabrikaten weiterverarbeiteten, und die Händler, die zugleich den Verlag für den Berg, die Hämmer und die endverarbeitenden Schmiede besorgten, zusammengefasst. Die Gewerken und Hammermeister wurden zu Teilhabern. Aus diesen Schichten kamen nun auch die „Offiziere", die leitenden Beamten der neuen Gesellschaft. Als sich herausstellte, dass auch in der neuen Konstruktion die Abhängigkeit von den (Steyrer) Eisenhändlern bestehen blieb, dass diese hohe Gewinne lukrierten, während die Gesamtgewerkschaft Verluste schrieb, wurde eine neuerliche Reorganisation fällig ( 1669), in deren Verlauf die Gewerkschaft dem Kammergrafenamt völlig unterstellt und damit zum quasi-öffentlichen, staatlich gelenkten und kontrollierten Betrieb wurde. Hintergrund der Gewerkschaftsgründung war ein eigentümliches Motivengemisch: Der Wunsch nach Nahrungssicherung für alle Beteiligten (Radmeister, Hammermeister, Händler) vermengte sich mit dem Versuch, der Absatzkrise zu begegnen (was freilich nicht gelang); dazu kamen Tendenzen frühmerkantilistischer Art, etwa die Förderung der Erzeugung von Finalprodukten gegenüber dem Export von Stahl oder Halbfabrikaten (was ebenfalls nicht gelang). Ein beträchtlicher Teil des Eisens wurde als Halbzeug nach Oberdeutschland (Nürnberg) exportiert und dort weiterverarbeitet. Nur bestimmte Produkte aus den habsburgischen Erblanden eroberten ihre eigenen Exportmärkte — etwa die berühmten „blauen Sensen" aus Kirchdorf an der Krems im südlichen Oberösterreich. Die Sensenhämmer haben sich überhaupt in diesem ganzen voralpinen Bereich des Landes ob der Enns ausgebreitet, so dass hier eine dichte Eisengewerbelandschaft entstand. Direkt in Staatshand befanden sich seit 1563 alle Salinen. Die Produktion erfolgte im Salzkammergut, in Hall in Tirol und in Aussee ausschließlich unter der Ägide des Salzamtes. Für die fürstlichen Finanzen hatte das Salzmonopol eine enorme Bedeutung. Noch 1 770 bedeckte es 14 % der gesamten ordentlichen und außerordentlichen Einnahmen des Staates. Vor der theresianischen Steuerreform muss dieser Anteil noch höher gewesen sein. Im „Salzkammergut" hat sich die besondere Organisationsform dieser Monopolwirtschaft als Name einer ganzen Region begrifflich bis heute erhalten. Produkt und Bezug zum Fürsten („Kammergut") bleiben darin ausgedrückt. Die weitgehende Eingliederung eines ganzen Landstriches in die Organisation dieses Betriebes mit stark bürokratisch-unternehmerischem Charakter ließ es fast als eigenen „Kammerstaat" erscheinen. Dieser wurde erst unter Maria Theresia und Joseph II. seiner Sonderstellung entkleidet. Die Holzversorgung für Salinen und Eisengewinnung erforderte ein kompliziertes System von Sicherungen („Widmungen") großer Wälder. In gleicher Weise sollte die Nahrungsmittelversorgung der Eisen- und Salzbezirke durch
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solche „Widmungen" sichergestellt werden: Aus Widmungsbezirken war die Nahrungsmittelausfuhr nur in die Montangebiete erlaubt. In der so genannten „Eisenwurzen" Ober- und Niederösterreichs wurden die Lebensmittel zum Teil mit Eisen bezahlt („Provianteisen"), was in den „Proviantmärkten" des südwestlichen Niederösterreich (Scheibbs, Gresten, Purgstall) die Grundlage für die dortige Kleineisenindustrie schuf. Ebenfalls staatlich in Abbau und (schließlich auch) Vertrieb wurde die Quecksilbergewinnungund -Vermarktung. Dieses flüssige Metall wurde in Idria/ Idrija (Slowenien) gewonnen, in einem Bergwerk, das erst seit 1493 ausgebeutet wurde und 1508/09 aus venezianischem in habsburgischen Besitz gelangte. 1575 erwarb der Landesfürst die Anteile der verschiedenen meist bürgerlichen Gewerken. Erst 1659 wurde der Handel verstaatlicht: Bis dahin bot der daraus erfließende Gewinn den Appaltoren, den Pächtern des Handelsmonopols, reiche Gewinnchancen. Der Bergbau von Idria wies zunächst keine kommunale Formen wie Berggemeinde oder Bruderschaften auf, sie haben sich auch später nur schwach entwickelt. Starke obrigkeitliche Einflussnahme, bürokratische Regelungsmechanismen und fehlende bruderschaftlich-kommunale Komponenten kennzeichnen überhaupt die großbetrieblichen Organisationsformen des Merkantilismus: Manufaktur und Fabrik. 5.2.2
Fabriken und Manufakturen
„Fabriken" und „Manufakturen" wurden auch von den Zeitgenossen begrifflich oft nur mangelhaft auseinander gehalten. Im Allgemeinen bezeichnete im 18. Jahrhundert der Begriff „Fabrik" ein privilegiertes Unternehmen. „Manufaktur" nannte man dagegen eher größere Betriebe, die durch eine Kombination von zentralisierter Produktion mit verlegter Arbeit außer Haus gekennzeichnet waren. Waren also „Manufakturen" in der Regel „Fabriken", so konnten „Fabriken" umgekehrt auch recht kleine und bescheidene Betriebe sein, sofern sie nur über ein Privileg verfügten. Allerdings versuchte man unter Maria Theresia, einen zusätzlichen Unterschied einzuführen, als man den häufig mit dem Verlagverbundenen „Manufakturen" eher die gröbere Massenproduktion zudachte, den kleineren und spezialisierteren „Fabriken" hingegen die Produktion besserer Qualitäten. Diese Scheidung sollte sich jedoch nicht durchsetzen. Der heute geläufige Begriffsinhalt „Betriebsstätte von bestimmter Größe mit Maschinenausstattung" wurde für die „Fabrik" allerdings erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts endgültig vorherrschend. Lange Zeit das größte Unternehmen dieser Art war die Linzer Wollenzeugfabrik. 1672 durch den Linzer Ratsbürger Christian Sind gegründet, vereinigte sie in der Gründungsmotivation wirtschafts- und sozialpolitische Tendenzen des Merkantilismus in Reinkultur. Einerseits ging es darum, die Erzeugung von Textilien (wollene „Zeuge", Decken und gröbere Stoffe auf der Basis des Rohstoffes Schafwolle) anzukurbeln, deren Einfuhr man eben dadurch verhindern konnte, andererseits um Arbeitsbeschaffung für die zahlreichen Bettler im
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Land ob der Erms. Dieses sozialpolitische Motiv wurde durch den Besitzwechsel von 1717 verstärkt, als die Fabrik in das Eigentum des Wiener Armenhauses überging. Später wurde sie von der (zweiten) Orientalischen Kompagnie übernommen (1724), von der sie dann 1754 in Staatsbesitz überging. Mit dem Privileg ν on 1672 wurden dem Unternehmen zahlreiche bedeutsame Vorrechte eingeräumt: ein dreißigjähriges Alleinerzeugungsrecht für eine Reihe von Wollstoffgattungen, eine den Hofbefreiten gleichartige Befreiung von den für die zünftigen Gewerbe geltenden Einschränkungen, die Bewilligung zur Errichtung von Verkaufslagern in Linz, in Wien und in ganz Österreich, eine Großund Kleinhandelsbefugnis, ein Absatzmonopol mit Zwang für den österreichischen Handelsstand, eine bestimmte Anzahl von Linzer Zeug abzunehmen, eine weitgehende Behinderung der Einfuhr entsprechender ausländischer Produkte, ferner Vorrechte im Einkauf des Rohstoffes. Die technische Fabriksleitung wurde eingewanderten ausländischen Fachleuten anvertraut, der Großteil der Arbeiter rekrutierte sich aus einheimischen Kräften. Das ganze Unternehmen erforderte eine komplizierte bürokratische Organisation, waren doch die verschiedenen Arbeitsgänge teils in der Fabrik angesiedelt, teils wurden sie an verlegte Arbeitskräfte außer Haus weitergegeben. Im Haus erfolgte die Vorbereitung der Wolle (Klauben, Waschen, Kämmen), außer Haus die Spinnerei, wofür man mehrere zehntausend Spinner und Spinnerinnen bäuerlicher oder unterbäuerlicher Herkunft benötigte. In der Fabrik selbst besorgte man dann das Zwirnen und Spulen, also die Endfertigung des Garnes. Das Weben wurde teils in der Fabrik (besonders seit Ende des 18. Jahrhunderts), teils außerhalb, durch zünftische oder auch unzünftische Stadt- und Landweber besorgt. Färben und Appretur sowie die Verpackung des Produktes geschahen schließlich wieder in der Fabrik. Damit waren auch in der Fabrik selbst, abgesehen von den verlegten Arbeitskräften, mindestens einige hundert Arbeitskräfte tätig. Den gleichen Typus repräsentierte die 1724 gegründete k. k. privilegierte Schwechater Zitz- und Kottonmanufaktur, die J. H. G. Justi 1761 folgendermaßen beschrieb: „Die Kattunfabrik auf der Schwechat bei Wien hat einen solchen Umfang, dass sie eine kleine Stadt vorstellen kann. Sie hat über 300 Drucker, einige hundert Weber und fast ebenso viele Bleicher und andere Fabrikenarbeiter, die auf der Schwechat wohnen; über 400 Weber aber, die vor die Fabrik arbeiten, wohnen auf dem Lande in dieser Gegend, so dass alle Dörfer davon voll stecken. Das Landvolk in einem Distrikt von sechs bis acht Meilen um die Schwechat herum spinnet vor die Fabrik, so dass sich die Anzahl ihrer Spinner auf neun- bis zehntausend erstrecken dürfte [...]". 1 752 waren im Werk selbst 494 Personen beschäftigt, davon die meisten (345) in der Stoffdruckerei. Verlegt waren neben 36 Webern in Wien und Umgebung direkt von der Fabrik aus noch fast 5.000 Spinner, daneben noch über ein eigenes Werkamt und 24 Faktoreien (Subunternehmen) 20.000 Spinner und Spinnerinnen im oberen Waldviertel.
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Die Baumwollwarenmanufakturen erwiesen sich nicht nur als Modernisierungsträger, sie beschäftigten auch relativ die meisten Leute. Nach dem Auslaufen der Privilegien für Schwechat und Sassin/Sastin (in der heutigen Slowakei) entstand eine ganze Reihe neuer Unternehmungen dieses Typs, die meisten davon in Niederösterreich. Um 1790 gab es in den „deutschen" Erblanden der Monarchie (also ohne Ungarn, Belgien, Mailand, Galizien) etwa 280 echte Manufakturen (mit Großbetriebscharakter), davon befanden sich rund die Hälfte in Niederösterreich (inkl. Wien), 30 % in Böhmen, der Rest verteilte sich auf die übrigen Länder. Wenn es auch misslich ist, für das 18. Jahrhundert mit den Zahlenangaben der zeitgenössischen Statistik allzu vertrauensvoll zu argumentieren, dürfte doch eine rasche Zunahme des Betriebstyps „Manufaktur" ab etwa 1770 zu vermuten sein. 1762 gab es in Niederösterreich 14 Fabriken und 44 Gewerbschaften der Kommerzialprofessionisten (s. u. S. 179), die über 1.400 Meister, fast 1.900 Gesellen und etwa 14.500 Spinnerinnen etc. beschäftigen. 1 785 existierten hier schon 261 „Fabriken", davon mehr als 90 echte Großbetriebe, mit mehr als 50.000 Arbeitskräften, 1 790 411 Fabriken, davon etwa 140 Großbetriebe, mit 182.500 Arbeitskräften, davon fast 120.000 Spinnerinnen etc. Nunmehr erfasste die neue Betriebsorganisation über den Bereich der Schafund Baumwollwarenerzeugung hinaus die Seidenfabrikation, aber auch die Erzeugung von Metallwaren, die Glasproduktion, die Ledererzeugung und die Anfänge der chemischen Industrie.
5.2.3
Arbeitsverhältnisse in der Protoindustrialisierung
Der überwiegende Teil der gewerblichen Arbeitskräfte lebte zunächst in den im Spätmittelalter entstandenen Sozialbezügen von Meisterbetrieb und Zeche. Diese standen seit 1527 (Handwerksordnung Ferdinands I. für die niederösterreichischen Lande) unter strenger landesfürstlicher Aufsicht. Innerhalb des Handwerks blieb die Hierarchie Meister — Geselle — Lehrjungen erhalten. Aufdingung und Freisprechung, Arbeitszeit und Lohnverhältnisse verblieben im Wesentlichen im traditionellen Rahmen. DieZechen selbst verloren aber ihre Stellung in den städtischen „Verfassungen", wurden doch seit 1527 Handwerker überall von der Mitbestimmung zurückgedrängt oder (wie in Wien) gänzlich ausgeschlossen. In der Gegenreformation belebten sich die Zechen wieder etwas, aber als fast ausschließlich religiöse Bruderschaften, die sich eifrig an der Renaissance von Prozessionen und Wallfahrten im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert beteiligten. Dass im Verlagswesen das Einschalten der Zünfte als Vermittler zwischen Verleger-Händlern und direkten Produzenten in Form des „Zunftkaufes" eine gewisse Anpassung der Zünfte an neuere Erfordernisse widerspiegelt, wurde schon erwähnt. Die Zünfte wurden zuweilen auch bei der Heereslieferung als Zwischenagenten eingeschaltet, so bei den ja massenhaft in Auftrag gegebenen Soldatenschuhen, Uniformstoffen und Uniformen.
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5.2.3.1 Gewerbliche Arbeitswelt Quantitative Beschränkungen und Ehrbegriffe des zünftischen Handwerks erwiesen sich als Hemmschuh für die merkantilistischen Bestrebungen: etwa die Betonung der ehelichen Geburt des Lehrbuben, die Ablehnung vieler Gesellen, neben Frauen zu arbeiten bzw. der damit verbundene „Ehrverlust". Mit der Reichshandwerksordnung von 1731, die auch für die habsburgischen Erblande in Kraft gesetzt wurde, sollte die Rolle der Zünfte weiter eingeschränkt werden. Seit 1 754 wurden die Gewerbe in solche für den lokalen Bedarf (Polizeigewerbe) und solche für den überlokalen Bedarf, insbesondere den Export (Kommerzialgewerbe), eingeteilt, für die Letzteren sollten überhaupt keine neuen Zünfte errichtet und ihre Zahl so lange erhöht werden, bis praktisch alle Textilgewerbe sowie die Metall verarbeitenden Gewerbe zu den Kommerzialgewerben zählten. Relativ demobilisierend wirkte dagegen die 1 757 verfügte Radizierung, d. h. die Verbindung einer Gewerbeberechtigung mit einem bestimmten Haus, in erster Linie für die Polizeigewerbe. Damit waren zünftische Arbeitsauffassungen und Arbeitsverhältnisse zwar nicht beseitigt, verloren aber an Bedeutung, wenngleich sich bestimmte Eigentümlichkeiten, wie die Arbeitsniederlegung am „guten" oder „blauen" Montag, bis tief ins 19. Jahrhundert hielten. 5.2.3.2 Bergbau Nichtzünftisch war stets die Arbeit im Bergbau gewesen. Quantitativ nahm sie zwar in der Neuzeit durch den Bedeutungsverlust des Silberbergbaues ab. Im Verhältnis zum Handwerksbetrieb handelte es sich aber immer noch um Großbetriebe. So beschäftigte die Innerberger Hauptgewerkschaftim Jahre 1678 2624 Personen. Davon waren nur 153 Bergknappen. Die Radwerks- und Rechenwirtschaft (Holzbesorgung) beschäftigte 824 Arbeiter, die Hammerwerkswirtschaft 973 und die Köhlerei 800. Erzabbau und -aufbereitung spielten also eine wesentlich geringere Rolle als Verhüttung, Weiterverarbeitung und die Beschaffung von Holz und Holzkohle. Der oben schon genannte Quecksilberbergbau von Idria beschäftigte um 1575 etwa 150, um 1600 etwa 200, 1629 274, um 1645 360 bis 400 Arbeitskräfte, die in der folgenden Flaute auf 280 bis 300 fielen. Auch hier bildeten die eigentlichen Knappen oder Häuer nur eine vergleichsweise kleine Minderheit, neben der vor allem die Fachleute für die Instandhaltung der komplizierten Entwässerungs- und Belüftungsanlagen („Kunststeiger"), die Arbeiter an den Wehr- und Rechenanlagen, die Holzknechte und die Arbeitskräfte für das Waschen und Sortieren des Erzes ins Gewicht fallen. Hier wie auch in Innerberg wurde die Spitze der Sozialpyramide von leitenden Beamten gestellt, die zwar einerseits Amtsträger des Landesfürsten waren, andererseits aber selbst Unternehmerfunktion wahrnahmen („Verweser"). Daneben standen ein Bergrichter und einige Schreiber; darunter und über den Arbeitern die Vorarbeiter (Hutleute).
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Nach der arbeitsrechtlichen Situation unterschied man im Bergbau (aber auch darüber hinaus) die „Herrenarbeit", also Lohnarbeit mit Zeitlohn, die Arbeit im Gedinge (Akkord) und die Lehenschaften. Bei den „Lehenschaften" drückt der Begriff selbst den wenig arbeitsteiligen, undifferenzierten Charakter dieses Arbeitsverhältnisses aus. Der Empfänger des Lehens arbeitete mit seiner Familie und darüber hinaus mit sekundär verpflichteten Arbeitskräften, einer ganzen Arbeitspartie, der gegenüber er selbst als Unternehmer auftrat. Die Vergabe von Lehenschaften konnte auch den Charakter von sozialen Sicherungseinrichtungen annehmen: Man vergab sie an alte, kranke und schwache Arbeiter, die auf diese Weise durch die Arbeit ihrer Familie zu einem kleinen Einkommen gelangen konnten. Gedingeverträge, also Akkordarbeit, waren vor allem bei der Waldarbeit üblich, wo Holzknechte unter eigenen Meistern bestimmte Waldflächen zur Abstockung übernahmen. Auch hier zeigte sich im 16. und 17. Jahrhundert die Tendenz zum Zeitlohn, während im 18. Jahrhundert wieder Akkordverträge stärker in den Vordergrund traten. 5.2.3.3 Lohnverhältnisse Die Abstufung der Löhne erfolgte nach Qualifikation. 1569 verdiente in St. Leonhard im Lavanttal ein Hutmann doppelt so viel wie ein Häuer, eine Wäscherin (beschäftigt bei der Reinigung des erzhaltigen Gesteins) etwas mehr als die Hälfte des Letzteren. Während im Bergbau die Löhne bis um die Mitte des 16. Jahrhunderts vergleichsweise günstig waren, lässt sich seither eine Tendenz zum Sinken der Reallöhne nachweisen. Zwischen 1460 und 1600 stiegen die Lebensmittelpreise in Graz auf das Vierfache, während sich der Taglohn nur auf das Dreifache erhöhte. Vergleichbare Verschiebungen lassen sich auch für Wien nachweisen. Um 1700 dürften die Löhne an einem säkularen Tiefpunkt angelangt sein. Wahrscheinlich wurde die große barocke Bautätigkeit dieser Jahrzehnte auch durch die äußerst geringen Löhne ermöglicht — durch den Beschäftigungseffekt für zahlreiche arme Leute war sie zweifellos hochwillkommen. Besonders im Bergbau wurde ein großer Teil des Lohnes in Naturalien ausbezahlt. Zwar garantierte die vom Landesfürsten 1568 für Innerberg erlassene Arbeitsordnung den Knappen monatlich ein fixes Quantum (Rinds-)Schmalz zu einem Preis von 1 Gulden. Diese Regelung wurde 1625 auch auf die Versorgung der Innerberger Knappen mit Korn und Weizen ausgedehnt. Entlegenere, dem Landesfürsten weniger wichtige Bergbaue erlebten aber häufig gegenteilige Entwicklungen. So lag um 1580 die Wochenlöhnung für Bergarbeiter in Idria im Durchschnitt bei 52 Kreuzern bis 1 Gulden (1 Gulden = 60 Kreuzer), jeder Knappe benötigte und erhielt aber pro Woche Getreide im Wert von 1 Gulden und 19 Kreuzern, ferner je ein Viertel Wein und vier Pfund Fleisch zu sieben Kreuzern, also Lebensmittel im Gesamtwert von einem Gulden und 33 Kreuzern! Damit wurde die Verschuldung der Arbeiter zum System erhoben.
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Graphik
5: Preise und Löhne,
75. und
76. jahrhunderl,
in
Wien
Taglohn Weinlese Hafer Weizen Korn
0 1720 - 45= 100
0
1430 1440 1450 1460 1470 -40 -50 -60 -70 -80
1560 1570 1580 1590 -70 -80 -90-1600
Die Löhne für die verlegten Spinnerinnen und Spinner ebenso wie für die Vorarlberger Sticker waren niedrig. Sie sollten es nach den Niedriglohntheorien der Merkantilisten auch sein: Nur wer unbedingt arbeiten müsste, um sein karges Brot zu verdienen, würde es tun. Erst im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts führten Engpässe in der Bereitstellung der Garne für die Weber zu steigenden Löhnen, zugleich ein Hinweis auf eine erste Verknappung des Arbeitskräfteangebotes. Diese Verbesserung der materiellen Situation der ländlichen Unterschichten führte aber keineswegs dazu, dass diese nun die Arbeit aufgaben, eher im Gegenteil: Auch Bauernburschen drängten jetzt zum Sticken, Spinnen und Stricken, was wiederum die Löhne für landwirtschaftliche Arbeitskräfte hinauftrieb. Erstmals zeigt sich um 1790 in der materiellen Kultur nicht nur der Bauern, sondern auch der ländlichen Unterschichten ein bescheidener Wohlstand — das erworbene Geld wurde also wieder ausgegeben, ganz überwiegend für gewerbliche Produkte. In den „goldenen jähren" der Vorarlberger Stickerei von 1780 bis 1794 konnte eine gute Stickerin ein Haus verdienen.
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Jetzt wuchs auch die Zahl der Häuser, wer konnte, baute sich wenigstens ein Kleinhaus, auch, um als Hausherr der Rekrutierung zu entgehen. 5.2.3.4 Arbeitszeit Während in Handwerk und Gewerbe bis zu 16 Stunden pro Tag gearbeitet wurde (freilich mit relativ geringer Intensität), gab es im Bergbau kürzere Arbeitszeiten. In Schwaz wurde bereits im 15. Jahrhundert die tägliche Arbeitsdauer oder Schicht mit 8 bis 9 Stunden und die wöchentliche Arbeitszeit mit 5,5 Tagen begrenzt. Um 1540 arbeiteten die Knappen am steirischen Erzberg 6 Schichten in der Woche, wobei jede Schicht 10 Stunden umfasste, wovon aber die Zeitspanne des Aus- und Einfahrens bei der Berechnung der tatsächlichen Arbeitszeit abzuziehen ist. Die Bergordnung für den bambergischen Besitz in Kärnten von 1550 ebenso wie die Bergordnung Ferdinands I. von 1553 legten die wöchentliche Arbeitszeit der Knappen mit 5,5 Schichten zu je 8 Stunden fest. Das betraf jedoch nur die am oder im Berg Beschäftigten, die übrigen Arbeiter hatten wesentlich länger zu arbeiten. Die Arbeiter in den Pochwerken (Erzaufbereitungsanlagen für Edelmetallbergbaue) mussten 14 Stunden täglich arbeiten. Die Rechenarbeiter in Innerberg kamen je nach Jahreszeit auf 11 bis 15 Stunden, die Arbeiter in den Hammerwerken nach der Hammerordnung Karls von Innerösterreich von 1575 auf 8 bis 14 Stunden. Im 17. und 18. Jahrhundert wurde die Arbeitszeit verlängert. Den Merkantilisten schien der Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Blüte und längerer Arbeitszeit klar. So schrieb etwa Hörnigk (1684): „Wie nun die Holländer wenig Feiertäg haben, so können geraumlich 300 Arbeitstag gerechnet werden, welches jährlich über 37.000 Stück Tuch macht [...]". Und Josef von Sonnenfels verwies 1 771 darauf, dass die Feiertage zahlenmäßig reduziert werden müssten, um den Lohn für den Arbeiter zu steigern, „[... ] unberechnet, dass an diesen Tagen geschwelgt, dasjenige, was zur Fortsetzung seines Gewerbes und den Unterhalt einer Familie verwendet werden könnte, durchgebracht, und der Körper auch meistens für den folgenden Tag unbrauchbar gemacht wird [...]". Nach den protestantischen begannen daher auch die katholischen Länder, die Zahl der Feiertage zu vermindern. Papst Urban VII. schränkte ihre Zahl 1 742 auf höchstens 35 ein. 1753 folgte auf Ersuchen Maria Theresias für Österreich eine Reduktion auf 15 Ganzfeiertage und 1772 auch noch die Aufhebung der verbliebenen 25 Halbfeiertage. Die „guten" oder „blauen" Montage wurden genauso — freilich ergebnislos — verfolgt. Es hat vielmehr den Anschein, als hätten sich die Arbeiter durch eine erweiterte Nutzung des „blauen Montags" für die Abschaffung von Feiertagen revanchiert (denn jener war ursprünglich nur in den — wenigen — feiertagslosen Wochen gehalten worden).
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Durch eine Verbesserung der Beleuchtungsverhältnisse wurde auch die tägliche Arbeitszeit bei nicht direkt saisonabhängigen Gewerben verlängert. Ein durchgehender Arbeitsbeginn um 5 Uhr früh war im 18. Jahrhundert haufig· Damit erweist sich die Fabriksarbeit des 18. Jahrhunderts, soweit sie im Fabriksgebäude selbst erfolgte, hinsichtlich der Arbeitszeit durchaus nicht als Ausnahmeerscheinung. Allerdings erscheint die bis zu 16-stündige Arbeitszeit durch die gegenüber der Heimarbeit, aber auch gegenüber dem Kleingewerbe wesentlich straffere Disziplin und schärfere Aufsicht erheblich intensiviert: Elemente von Nichtarbeit, wie sie die älteren Arbeitszeiten enthalten hatten, wurden immer mehr unterdrückt. Die Fabriksdisziplin, im 19. Jahrhundert schließlich noch durch das unerbittliche Diktat der Maschine verschärft, war der unerfreuliche Auftakt zu einer durch rationellere Zeitverwendung gekennzeichnete Arbeitswelt.
5.2.3.5 Arbeitsorganisation in der frühen Fabrik Schon im spätmittelalterlichen Montanbereich hatte sich der Kapitaleigner vom tatsächlichen Leiter der Arbeit getrennt. In den großen Manufakturen des 18. Jahrhunderts geht diese Trennung weiter. An die Spitze traten Fabriksdirektoren, zuweilen selbst Teilhaber an den Kapitalgesellschaften, etwa der Ersten oder Zweiten Orientalischen Kompagnie, denen das Unternehmen gehörte. Es bildete sich ein neuer Managertyp heraus, der verschiedentlich ähnliche logistische Probleme zu lösen hatte wie das Militär. Konsequenterweise kam einer der berühmtesten Herren dieses Typs, Johann Sörgel von Sorgenthall, aus dem Ceneralquartiermeisteramt der Armee — er leitete und reorganisierte dann die in Staatsbesitz befindlichen Betriebe der Linzer Wollenzeugfabrik, der Schwechater Kottonfabrik, der Neuhauser Spiegelfabrik und der Wiener Porzellanfabrik. Unter diesen Direktoren standen die Leiter der kaufmännischen und technischen Direktion, die Buchhalter, Kassiere, Akteure und Manipulanten, also die Werksbeamten. Im technischen Bereich standen Werkmeister oder „Fabrikanten" dem eigentlichen Produktionsprozess vor. Solche Fachkräfte haben später häufig selbst den Aufstieg zum Unternehmer geschafft. Sie leiteten zunächst eine handwerksmäßig ausgebildete, gelernte Arbeiterschaft. Die meisten Weber, Kottonmaler, Drahtzieher, Papierer, Walker, Bleicher, Tuchscherer, Färber, Dreher, Feilhauer (Erzeuger von Feilen), Knopfmacher usw. waren Meister oder Gesellen. Bei der geringen Ausstattung der Manufakturen mit Maschinen spielte die Geschicklichkeit der Arbeiter besonders in heiklen Produktionsbereichen noch eine sehr große Rolle. Erst mit dem Aufkommen der modernen Maschinen nach 1800 verlor dieser Personenkreis nach und nach seine Bedeutung. An diesen qualifizierten Personen bestand ein gravierender Mangel, während unqualifizierte im Überfluss vorhanden waren. Verschärft wurde die
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Situation durch die Abneigung des zünftischen Handwerks gegen die Manufakturarbeit. Gesellen, die länger als 14 Tage in einer Fabrik gearbeitet hatten, wurden von ihren Zünften bestraft, weil dadurch die „Handwerksehre" verletzt wurde — wahrscheinlich wegen der Zusammenarbeit mit Frauen, dem engen Zusammenhang von Manufaktur und Zwangsarbeit und dem niederen Sozialprestige solcher Arbeit, schließlich wegen der fortgeschrittenen Arbeitsteilung, welche die Bearbeitung eines Werkstückes bis zum Ende des Arbeitsprozesses durch ein und denselben Handwerker unmöglich machte. Um den zünftischen Regeln zu entgehen, wurde landesbefugten Fabriken das Recht zugestanden, selbst Lehrjungen aufzudingen und Gesellen freizusprechen. Es gab auch Regierungsverordnungen, denen zufolge „[...] die in den Manufakturen ausgelernten Gesellen den zünftigen gleich zu achten wären [...]". Häufig musste man Facharbeiter der mittleren Ebene aus dem Ausland oder aus entwickelteren Teilen der habsburgischen Monarchie (schwäbische Besitzungen, spanische bzw. seit 1713 österreichische Niederlande = Belgien, Mailand) anwerben. So beruhte schon eine 1665 in Wiener Neustadt begründete Armaturenmeisterschaft weitgehend auf der Tüchtigkeit niederländischer Fachleute, die Ferdinand III. geholt hatte. Graf Kurz siedelte Tuchmacher aus Mähren und Schlesien bzw. Färber aus dem Reich und aus Holland in Horn an, wo 1656 eine eigene Merkantilsiedlung aus 30 Häusern nach dem Beispiel der Augsburger Fuggerei entstand. Ähnlich die Bestrebungen des Grafen Ferdinand Mallenthein in Groß-Siegharts, der hier 1719 für den Absatz von Textilien in die Türkei in Zusammenarbeit mit der Orientalischen Kompagnie eine große Baumwollspinnerei und Weberei aufziehen wollte. Eine Fabrikssiedlung mit 1000 „Fabric-Häußln" war geplant, 160 Arbeiterhäuser für Handwerker aus Belgien und Schwaben wurden tatsächlich errichtet, doch musste 1727 die Kompagnie ihre Tätigkeit einstellen. Trotz dem Scheitern des Unternehmens wuchs doch aus diesem Ansatz eines der bedeutendsten Textilzentren des Waldviertels; ein Teil der Handwerker blieb und wandte sich der verlagsmäßigen Bandfabrikation zu; im 19. Jahrhundert wandelte sich diese Produktion zu einer fabriksmäßigen. Die Neuhauser Spiegelfabrik (1701 gegründet) bediente sich der Fachkenntnisse venezianischer Spezialisten; die Wiener Seidenindustrie, die seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen enormen Aufschwung nahm, benötigte italienische und französische Facharbeiter, die Porzellanmanufaktur im Wiener Augarten solche aus Meißen. Der Graf Waldstein holte für seine Fabrik in Oberleutensdorf/Horní Litvinov in Böhmen 1 715 Tuchmacher aus Leyden. Dagegen scheint der enorme Bedarf an wenig qualifizierten Arbeitskräften vorwiegend durch Frauen- und (in geringerem Ausmaß) Kinderarbeit gedeckt worden zu sein. 5.2.3.6 Frauen- und Kinderarbeit Zwar haben Frauen und Kinder sowohl in der traditionellen Landwirtschaft wie im Gewerbe stets mitgearbeitet, doch stand diese Arbeit zumeist in enger Ver-
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bindung mit dem Haushalt des Bauern oder Handwerkers. Auch die Frauenund Kinderarbeit im Montanbereich (nicht am oder im Berg, wohl aber beim Sortieren und Waschen des Erzes usw.) war in gewisser Hinsicht Ergänzungsarbeit zur Tätigkeit des Knappen und, im Falle der Lehensarbeit, auch rechtlich diesem zugeordnet. Daneben treten seit dem 15. Jahrhundert auch gewerbliche Arbeiten von Frauen in fremden Haushalten (etwa Nähen von Aussteuer, Bettwäsche) auf. Auch Taglohnarbeit bei der Getreideernte oder im Weinbau war eine „selbständige" Erwerbsmöglichkeit von Frauen. Tabelle 6: Frauen- und Kinderarbeit in Niederösterreicb im IB. lahrhundert (Die Beschäftigten in den Manufakturen und Kommerzialgewerben) 1782 Factoren und Beamte
121
1785
1790
273
447
Meister und W i t w e n
6.031
7.896
10.612
Gesellen, Modelstecher u. Ä.
7.244
10.743
14.928
Lehrjungen und Scholaren
2.409
3.283
5.727
Zurichter, Gehilfen, Knechte
2.117
3.288
4.211
Weibspersonen
3.130
7.365
19.158
Seidenwinderinnen, Lazzieherinnen
1.490
3.808
Lehrmädchen Wollspinner-, Schweifer- und Spulerinnen Krampler, Sortierer(innen) Zusammen
433
1.470
1.723
26.388
81.756
119.906
702
732
5.861
50.065
120.614
182.573
In den Manufakturen des 18. Jahrhunderts erhielt Frauenarbeit allerdings eine neue Qualität. 1 782 waren im niederösterreichischen Kommerzialgewerbe über 50.000 Menschen tätig, davon über 26.000 als Spinnerinnen, Schweiferinnen und Spulerinnen, dazu über 3.000 „Weibspersonen" in den zentralen Produktionsstätten und fast 1500 Seidenwinderinnen und andere Arbeiterinnen. Diese Zahlen erhöhen sich bis 1790 auf 182.000 Beschäftigte in den Kommerzialbranchen Niederösterreichs, davon fast 120.000 Spinnerinnen, Spulerinnen und Schweiferinnen (die die Vorbereitung des Kettenbaumes für das Weben durchzuführen hatten), 19.000 „Weibspersonen" in den Fabriken und fast 6000 andere weibliche Arbeitskräfte. Frauen scheinen also fast fünf Sechstel aller Arbeitskräfte im Kommerzialbereich gestellt zu haben — sicher deckten sie fast zur Gänze den Bedarf an ungelernten Arbeitskräften. Nicht nur die verlegte Spinnarbeit auf dem Lande, auch die in den Fabriken konzentrierte Arbeit der Frauen muss für die Masseneinkommen eine nicht unbedeutende Rolle gespielt haben. Anders als die Frauenarbeit ist die Kinderarbeit in den Manufakturen des 18. Jahrhunderts zwar in vielen Einzelfällen belegt, lässt sich aber weniger gut quantifi-
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Höfische Gesellschaft, Sozialdisziplinierung und Merkantilismus
zieren. Jedenfalls sollte die allgemeine Erziehung zur Arbeitsamkeit im Kindesalter beginnen: „[...] Man sollte überhaupt alle Kinder von ihrer Kindheit an immer mehr zur Arbeitsamkeit anhalten und ihnen die Arbeit gewohnt [...] machen. Gebe es doch hunderterley Arbeiten, wozu Kinder in ihrem 5. und 6. Jahr fähig sind; und wodurch man die Arbeit gleichsam zu ihrer Natur machen würde, indem sie den Müßiggang niemals kennen lernten [...]", stellte J. H. G. Justi in seiner „Grundfeste der Macht und der Glückseligkeit der Staaten" 1760 fest. In Umsetzung solcher Ansichten verordnete Maria Theresia daher 1765 im „Spinnschulen-Aufrichtungs-Patent", dass alle Kinder, die von ihren Eltern entbehrt werden konnten, zum Besuch von Spinnschulen verpflichtet seien. Und Sonnenfels forderte in seinen „Grundsätzen der Polizey, Handlung und Finanzwissenschaft" (1 770/76), dass die Waisen „[...] den Müßiggang als ein Laster von Jugend auf verabscheuen lernen und daher, sobald es ihre Kräfte zugeben, nach Unterschied des Geschlechtes und der Fähigkeit zu denjenigen Arbeiten angeführt werden, die für sie schicklich und nutzbar sind. Dieses Letztere zu erreichen, ist es rathsam, die Waisenhäuser mit Arbeit- und Manufacturhäusern in einigen Zusammenhang zu bringen, woraus auch noch der Vorteil gezogen werden kann, dass die Kinder in Stand gesetzt werden, in baldigem etwas zu ihren Erziehungskösten beizutragen." Infolgedessen bewarben sich auch die meisten Fabrikanten um Waisen- und Soldatenkinder, deren Unterhaltskosten man dadurch senken konnte. So hatte die Wiener Porzellanfabrik in der Rossau seit 1751 Lehrlinge aus dem Wiener Waisenhaus, in Oberleutensdorf wurde für die dortige große Waldstein'sche Fabrik 1755 ein eigenes Waisenhaus nur für die Manufakturarbeit gegründet, etwas später das Fabrikswaisenhaus des Klagenfurter Fabrikanten Johann Thys in Graz. Die Nadelburger Fabrik zu Lichtenwörth bei Wiener Neustadt übernahm vom Wiener Bürgerspital 26 Knaben, für welche vom Letzteren je vier Kreuzer pro Tag Kostgeld bezahlt wurde. Hier arbeiteten 1 763 394 Beschäftigte, davon 60 Meister, 1 70 Gesellen, 85 Jungen, 70 Arbeiter und 9 Tagwerker. Das würde einen Anteil der Kinderarbeit von etwa 20 % bedeuten, ohne dass man diese Anteile verallgemeinern darf. Freilich konnte das Erziehungsziel „Arbeitsamkeit" durch die frühe Fabriksarbeit mit dem Erziehungsziel „einfache Bildung" in Konflikt geraten, denn die Kinder sollten seit Maria Theresia eine Schule besuchen. Um nur ja keine Arbeitszeit zu verlieren, machten Fabrikanten den Vorschlag zur Einrichtung von Fabriksschulen, von denen dann in der Tat mehrere geschaffen wurden. Der Unterricht dauerte vom 15. August bis 15. Mai, zwei Stunden am Abend nach Arbeitsschluss. Im Sommer fand kein Unterricht statt, „[...] da es auch an den langen Sommertagen zu beschwerlich sein möchte, nach einer von früh morgens 5 Uhr bis abends 7 Uhr anhaltenden
Sozialdisziplinierung in der höfischen Gesellschaft
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Arbeit und oft, ohne was anders als ein trockenes Stück Brot genossen zu haben, die Abendschule zu besuchen [...]". Unterbringung und Versorgung der Kinder waren häufig katastrophal, so dass sich Joseph II. 1 786, nach einem Besuch in einer Seidenfabrik, zu folgenden Bemerkungen veranlasst sah: „Da ich im vorigen Jahre in der so genannten Grünmühle zu Traiskirchen und die dortige Fabrike in Augenschein genommen habe, so entdeckte ich daselbst unendliche Gebrechen in der Reinlichkeit der Kinder, welche voll Krätze waren, und welches auch auf ihren Gesundheitszustand die nachtheiligsten Folgen nach sich gezogen hat.[...]". Er bestimmte dann unter anderem, dass Mädchen und Knaben gesonderte Schlafzimmer erhalten müssten, dass jedes Kind ein Bett erhielte (und nicht bis zu vier und fünf zusammengelegt würden), dass die Kinder wenigstens einmal wöchentlich gewaschen, die Betten einmal monatlich frisch überzogen werden müssten. 1787 wurde überdies angeordnet, dass Kinder vor dem Beginn des 9. Lebensjahres nicht ohne Not zur Fabriksarbeit aufgenommen werden sollten. Praktisch änderte sich dadurch nicht viel. Die Kinderarbeit blieb einer der Skandale des vor- und frühindustriellen Zeitalters. Jedenfalls ist ein gewaltiger, umfassender Disziplinierungsprozess, hin zu mehr Arbeitsamkeit, in Gang gekommen. „Disziplinierung" ist überhaupt ein Kennzeichen der höfisch-absolutistischen Ordnung.
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Sozialdisziplinierung in der höfischen Gesellschaft
Erziehung zu erhöhter Arbeitsamkeit ist nur ein Aspekt jener umfassenden Anstrengungen, mit denen die höfisch-merkantilistische Periode auf allen Ebenen der Gesellschaft eine „rationalere" Gestaltung des Lebens durchsetzen wollte. Erhöhte Affektbeherrschung gehörte zu den Grundzügen der höfischen Disziplinierung, die durch die Mittel des Zeremoniells im engeren Kreis der Hofgesellschaft verbreitet wurden. Diese erhöhte und gesteigerte Anforderung zu Triebregulierung und Selbstkontrolle war eine Folge der Machtkonzentration an der Spitze der Gesellschaft: Der Adelige des 17. und 18. Jahrhunderts war zwar auch noch der wehrhafte „Beschützer" seiner Ehre, aber nicht mehr der seiner Untertanen, und eigentlich primär ein Rädchen im komplizierten Mechanismus barocker Herrschaftsdemonstration. Nicht mehr individueller Mut und Tapferkeit waren seine wichtigsten Tugenden, sondern Beherrschung der höfischen Umgangsformen, neben der freilich adelige Tätigkeiten wie Jagen und Kriegsdienst bei berühmten Feldherren standesgemäß blieben. Aber nicht nur die höfische Gesellschaft (im engeren Sinne) sollte zunehmend solchen Disziplinierungsmechanismen unterworfen werden, vielmehr wurden immer weitere Kreise der Bevölkerung davon erfasst.
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Höfische Gesellschaft, Sozialdisziplinierung und Merkantilismus
Man setzte vor allem bei der Beobachtung mangelnden Arbeitseifers der „unteren" Schichten an. Nun war das Arbeitsethos im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit zweifellos noch wenig ausgeprägt. „Arbeit" war nie zuvor in der menschlichen Geschichte ein zentraler Wert gewesen: Man musste zwar arbeiten, um leben zu können, aber das war die Strafe Gottes für den SündenfaH der Voreltern. Zweifellos gottgefälliger waren Gebete, Gottesdienste, Wallfahrten und Prozessionen, war das Leben der Mönche oder Einsiedler. Der arbeitende Mensch als eine positive gesellschaftliche Leitfigur ist hingegen erst eine Erscheinung der Neuzeit. Um Arbeitsamkeit zu erzwingen, erschien nicht nur eine systematische Erziehung der Jugend vonnöten, sondern auch eine Arbeitserziehung für jene Erwachsenen, von denen man annahm, sie würden bloß aus Faulheit lieber betteln gehen, als sich in Fabriken oder in der Heimarbeit ihr Geld zu verdienen. Es war daher zunächst einmal unumgänglich, die Figur des Bettlers, der in der Tradition aller alten Hochreligionen — als Werkzeug Gottes, welchem Wohltaten zu erweisen für die Erringung der ewigen Seligkeit unerlässlich war — eine gewisse Achtung genoss, abzuwerten. In den Polizeiordnungen der Neuzeit wird daher der Bettel immer stärker kriminalisiert und in die Nähe zum herumstreunenden Gesindel aller Art — entlassene Soldaten, Zigeuner, Taschendiebe, kleine Gauner und Gaukler, lockere Mädchen und Frauen — gestellt. Dies hat zur Folge, dass sich in der Tat unbefugte Bettler öfter den herumziehenden Banden jener Art anschlossen, die bis ins 19. Jahrhundert immer wieder auftreten (Grasel-Bande). Die Kriminalisierung des Bettels war eine wichtige Voraussetzung für eine neue Art von Fürsorge, bei der es nicht mehr um eine milde Gabe gehen sollte, sondern vor allem um eine Änderung der Lebensführung des Befürsorgten — er sollte eben lernen, seinen Unterhalt „ehrlich" zu erwerben. Als Mittel dazu dienten neue Anstalten, die freilich „zwischen Fürsorge und Strafvollzug" in einer wenig reizvollen Zwischenzone gewaltsamer Disziplinierung angesiedelt waren.
6.1
Waisen-, Zucht- und Arbeitshäuser
Die Zunahme der gesellschaftlichen „Randschichten", also von Menschen ohne festes Zuhause, ohne Unterhalt und ohne Erwerb, ist im Zusammenhang mit der Krise des 1 7. Jahrhunderts zu sehen: Die schlechte Agrarkonjunktur senkte die Nachfrage nach landwirtschaftlichen Arbeitskräften; in den montanistischen und gewerblichen Sektoren mangelte es ebenfalls an Arbeitsmöglichkeiten. Dazu kamen Wellen von entlassenen Soldaten nach den diversen Friedensschlüssen (so 1648), die in der Regel ebenfalls keinen Unterhalt hatten. Vielleicht aber bemerkte man die großen Scharen von Bettlern erst jetzt und begriff sie als gesellschaftliches Problem, während sie früher einfach dazugehört hatten. Z u m Mangel an Arbeit (und zum Mangel an materiellen Anreizen zur Arbeit!) kam die oft beklagte Arbeitsmoral bzw. ihre dürftige Ausprägung. Wir dürfen uns dabei freilich nicht von den Zeitgenossen in die Irre führen lassen, die jeden Nicht-Arbeitenden als „arbeitsscheu" qualifizierten. Immerhin hat man bei der
Sozialdisziplinierung in der höfischen Gesellschaft
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Untersuchung der jählings angeschwollenen Bettlerheere in Oberösterreich im Jahre 1727 — damals wurden fast 26.000 Versorgungsbedürftige gezählt — erstmals festgestellt, dass hier häufig Arbeitslosigkeit als Folge einer Krise im Leinwandabsatz vorlag. Die Leinwandproduktion war aber ein ganz zentraler Erwerbszweig für die ländliche Bevölkerung. Die Ausfuhr von Leinwand war im ganzen 18. und frühen 19. Jahrhundert der größte Exportposten der Habsburgermonarchie. Das zunächst so riesig scheinende Heer der unqualifizierten Arbeitskräfte reduzierte sich bei näherem Hinsehen. Zwar schätzte man die verarmten und erwerbslosen Randgruppen im 18. Jahrhundert auf bis zu 20 % der Gesamtbevölkerung. Es stellte sich allerdings heraus, dass ein nicht geringer Teil nur beschränkt arbeitsfähig war. Als um 1800 200 ungarische Bettler untersucht wurden, erwiesen sich 60 % älter als 60 Jahre. 65 % der Frauen waren Witwen. Etwa ein Drittel der erhobenen Fälle waren eigentlich medizinische Betreuungsfälle (Blinde, Taube, Gebrechliche) oder Fälle für die Sozialfürsorge. Nur 25 % der Männer und 6 % der Frauen schienen öffentlicher Unterstützung unwürdig (waren also arbeitsfähig). Obgleich man diese Stichprobe nicht so ohne weiteres verallgemeinern darf, scheint sie doch gute Hinweise auf das Zustandekommen von Randexistenzen zu geben. Wer bei Alter, Krankheit, physischer und psychischer Behinderung nicht im traditionellen Rahmen von Bauernhaus, Grundherrschaft oder Stadtgemeinde irgendeine Sicherung durch Ausgedinge, Einlege oder Spital fand, für den bedeutete Arbeitsunfähigkeit oder Nachlassen der Arbeitskraft im Alter unzweifelhaft die Notwendigkeit, zu betteln. Daher die enge Übereinstimmung von „Armut" und „Alter", wie sie auch hier zum Ausdruck kommt und durch die vielen neuen sozialen Situationen außerhalb jener traditionellen Verhältnisse verschärft wurde. Schon eine Polizeiordnung Ferdinands I. von 1552 übertrug die Fürsorge für die Armen den Gemeinden. Diese entledigten sich ihrer Verpflichtung durch Verteilung von Almosen oder von Abzeichen, mit welchen die Berechtigung zum Bettel verbunden war. Von finanzschwachen Gemeinden und Grundherrschaften wurden Bettelbriefe mit der Erlaubnis zum Bettel in anderen Orten ausgestellt. Naturgemäß sammelten sich die Bettler in den Zentren des Reichtums, in erster Linie in der Haupt- und Residenzstadt Wien. Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert wird über die steigende Massierung ν on Bettlern, Siechen und Vagabunden in Wien berichtet. Zur Bekämpfung des Bettels sollte eine Mehrfachstrategie dienen. „Würdige" Arme, Alte, Kranke und Vermögenslose sollten eine entsprechende Unterstützung erhalten, „unwürdige" wurden schärfstens diskriminiert und kriminalisiert. Bei der höchst unscharfen Grenze zwischen erwerbslos Vazierenden und „echten" Kriminellen dehnte man damit die Reihen der Letzteren aus, und die so gefürchteten Banden wuchsen eher, als dass sie reduziert wurden: 1735 wurde beispielsweise ein Patent gegen die Räuberbanden im Großraum Wien, im Leithagebirge, im Arbesthaler und Rauchenwarther Wald erlassen und nicht nur die lebendige Einbringung, sondern auch die Tötung von Räubern mit je 20 Gulden belohnt.
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Höfische Gesellschaft, Sozialdisziplinierung und Merkantilismus
Jene, deren man habhaft wurde, sollten nun, sofern sie nicht für nachgewiesenen Mord, Raub oder Diebstahl sowieso den scharfen Strafen der „Constitutio Criminalis Carolina" überantwortet wurden, in Zucht- und Arbeitshäusern zur Arbeitsamkeit erzogen werden. Das entsprach durchaus dem Konzept führender Kameralisten, wie schon ein Gutachten Johann Joachim Bechers von 1671 zeigt. Unter Karl VI. strebte man danach, durch Schaffung eines engmaschigen Netzes von Waisen-, Manufaktur- und Arbeitshäusern „[...] mit Beyhilfe so vieler bishero müßig gewesener Leuten [...] gegen Reichung eines wenigen, der Arbeit jedoch wohlfeilem Preis und zu gemeinsamem Nutzen und Erhaltung des Gelds in dem Land [...]" den Müßiggang auszurotten und zugleich den Prozess der Ausweitung von manufaktureller und Heimarbeit zu fördern. Die erste Anstalt dieser Art war das Zucht- und Arbeitshaus in der Wiener Leopoldstadt 1671. Dann folgten analoge Einrichtungen in Olmütz (1701 ), Innsbruck (1725), Graz (1735), Prag (1737), Troppau (1753), Klagenfurt und Laibach (1754), Triest (1762), Altbreisach (1 769), Ackerghem bei Gent und Vilvoorde in Belgien (1772), Linz (1 775) und Görz. Westeuropäische Vorbildinstitutionen lassen noch die Herkunft aus dem umfassenden Typus „Spital" erkennen: In England wurden in der Mitte des 16. Jahrhunderts ältere Spitäler in je ein Waisen- bzw. ein Krankenhaus umgewandelt. Ferner schuf man im ehemaligen königlichen Palast Bridewell ein Zuchtund Arbeitshaus für Vagabunden, Dirnen und Müßiggänger. In Frankreich hießen die entsprechenden Anstalten, die ebenfalls eine Synthese von Armen-, Arbeits-, Zucht-, Waisenhäusern und Altersheimen darstellten, „hôpitaux généraux" (seit 1613) bzw., in deutlicher Akzentuierung der merkantilistischen Intentionen, „hôpitaux généraux et manufactures". Noch Maria Theresia genehmigte 1770 einen Vorschlag der Hofkanzlei, das neu zu errichtende Brünner Zuchthaus für Zivildelinquenten, aufrührerische Untertanen, Bettler, Vagabunden, Dirnen, alle Übertreter der Polizei- und Dienstbotenordnung, aber auch zur Unterbringung von Irren und Debilen zu verwenden. Natürlich behinderte diese Multifunktionalität die Intention der Erziehung Armer, aber ansonsten Unbescholtener, zu erhöhter Arbeitsamkeit. Auf Grund der Rekrutierung der Insassen haftete den Zucht- und Arbeitshäusern sofort der Makel einer entehrenden Umgebung an, der durch bauliche Gestaltung, sanitäre Verhältnisse und Mitinsassen verstärkt wurde. Obgleich man im 18. Jahrhundert zunehmend die Unhaltbarkeit der mangelnden Trennung von Kindern, Alten, Geisteskranken, Kriminellen und sonstwie Verarmten erkannte, erwiesen sich die Zucht- und Arbeitshäuser als praktische Abschiebestationen, in die man Leute, die Eigentumsdelikte begangen hatten, ebenso einwies wie Schmuggler und Desertionshelfer. Überdurchschnittlich hoch war der Anteil Jugendlicher unter 20 Jahren (in Graz 1770 bis 1774 26 bis 39 %!). Das Leben in den Anstalten war unerfreulich. In Innsbruck erfolgte das Wecken um 4 Uhr (sonntags 5), ab 5 Uhr musste gearbeitet werden, um 7 ging
Sozialdisziplinierung in der höfischen Gesellschaft
185
man zur Messe, dann folgten Mahlzeiten und Arbeiten bis 21 Uhr. Das Essen hielt sich wohl im Rahmen der damaligen Ernährungssituation der (ländlichen) Unterschichten, freilich durch besondere Fettarmut verkargt. Von ihrem geringen Lohn konnten sich die Insassen aber gewisse Aufbesserungen leisten. Insgesamt ist der Stellenwert dieser Anstalten für die Verbreitung neuer Arbeitsverhältnisse und vor allem einer neuen Einstellung zur Arbeit schwer zu bestimmen. Zumindest für die Mobilisierung einer sehr erheblichen Zahl von weiblichen ungelernten Arbeitskräften wird man ihnen eine bestimmte Bedeutung nicht absprechen können (Wollbearbeitung und Spinnen waren die häufigsten Arbeiten in diesen Arbeitshäusern), ebenso für die Heranziehung von Kindern und Jugendlichen.
6.2
Das Heerwesen
Obgleich das ständische feudale Aufgebot als Anspruch bis ins 17. Jahrhundert bestehen blieb, spielte es schon längst keine wirkliche Rolle mehr in den Kriegen der Habsburger. Ebenso wenig Bedeutung hatte das Aufgebot von Bürgern und Bauern, wenngleich Letzteres bis ins 1 7. Jahrhundert hinein immer wieder mobilisiert wurde. Das Heer des höfischen Absolutismus Schloß an die Rekrutierungsform des geworbenen Söldnerheeres an. Auf den engen Zusammenhang von erfolgreichem Söldnerunternehmertum und sozialem Aufstieg wurde schon oben (S. 145) hingewiesen. Der einzelne Obrist erhielt vom Kaiser einen Auftrag, warb daraufhin Truppen, die er bezahlte, und führte mit ihnen dann die entsprechenden Kämpfe, in der Regel nur in der wärmeren Jahreszeit. Über den Winter wurden, mit Ausnahme weniger Festungsbesatzungen, die Soldaten meist wieder entlassen. Im „langen Türkenkrieg" von 1592 bis 1606 wurden einige Regimenter erstmals auch über den Winter behalten — meist wegen Geldmangels, denn man konnte ihre Löhne nicht bezahlen. Mit Wallenstein tritt an die Stelle zahlreicher Söldnerunternehmer der Monopolist — Wallenstein allein warb und unterhielt (durch Kontributionen, die er einhob) das Heer. Die Gefahr dieser monopolistischen Verfügung über die bewaffnete Macht ist der eigentliche Hintergrund seiner Ermordung (1634). Konsequenterweise behauptete nun, 1635, der Kaiser das ausschließliche „ius belli ac armorum" (Recht der Kriegführung und Heeresunterhaltung, wie man wohl übersetzen müsste). Das Wallenstein'sche Heer wurde zum kaiserlichen. Dieses Heer wurde nach dem Frieden von 1648, wenngleich in reduzierter Form (9 Regimenter zu Fuß, 10 Kavallerieregimenter, etwa 30.000 Mann), beibehalten. Der „miles perpetuus", also das ständig einsatzbereite Heer, wurde zum wichtigsten Faktor der Durchsetzung absolutistischer Herrschaftsansprüche: Den Ständen gegenüber konnte man mit dem Hinweis auf die Unerlässlichkeit eines stehenden Heeres auf die Regelmäßigkeit der Steuerbewilligung dringen (unter anderem auch mit dem Hinweis, dass man dadurch Bauernaufstände leichter niederschlagen könne), den Untertanen wurde das Herrschaftsmonopol
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Höfische Gesellschaft, Sozialdisziplinierung und Merkantilismus
des barocken Fürsten dadurch jederzeit deutlich vor Augen geführt. Die Beziehungen zwischen jenen und den Soldaten waren gespannt. Es gab noch keine Kasernen, so dass man die Soldaten in Städten, Dörfern und Bauernhäusern einquartierte, was häufig unliebsame Kontakte verschiedener Art nach sich zog. Schon 1648/49 war es in der Untersteiermark zwischen Bauern und einquartierten Soldaten zu Zusammenstößen gekommen. Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert änderte sich der Charakter der Söldnerscharen erheblich. Vor dem Dreißigjährigen Krieg war der Zulauf zu den Landsknechten groß. Ursprünglich scheinen, besonders im schweizerisch-südwestdeutschen Raum, jungmannschaftlich organisierte Gruppen mit einer gewissen Selbstverwaltung — man wählte die niederen Chargen selbst — in den Dienst der werbenden Obristen getreten zu sein. Diesen Landsknechten eignete ein starkes kommunales Selbstbewusstsein — ein solches Heer war praktisch ein kleines, auf sich selbst gestelltes kommunales Wesen. Mit der stärkeren Eingliederung in das höfisch-absolutistische Staatswesen musste auch hier eine stärkere Disziplinierung Platz greifen. Das war auch nötig, um den allerärgsten Ausschreitungen irgendwie Einhalt zu gebieten. Bis um 1660 waren freilich die Erfolge dieser Disziplinierungsaktion noch nicht sehr groß. So meuterten im Sommer 1656 einige Regimenter, die aus Innerösterreich nach Italien verlegt werden sollten — als kaiserliche Hilfstruppen für die dort gegen Frankreich kämpfenden Spanier — und ebendies ablehnten. Eine große Rolle spielten dabei die „Landsknechtshuren", die davor Angst hatten, die Männer, mit denen sie offenbar in stabilen Beziehungen lebten, zu verlieren. Die Soldatenfrauen attackierten Offiziere und erwiesen sich als treibendes Element des Widerstandes, der schließlich auch Erfolg hatte. Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts änderten sich die sozialen Beziehungen im Militär. Neue taktische Anschauungen bedurften einer streng disziplinierten Truppe. Die nachlassende Ergiebigkeit der Werbungen wurde durch Zwangsaushebungen ergänzt. Militärisch taugliche Vagabunden und Bettler wurden ebenso in Uniform gesteckt (die jetzt ebenfalls aufkam!) wie Verbrecher. Die Zwangsmittel sowohl bei der Werbung wie bei der Ausbildung wurden radikal verschärft. Soldat zu sein war im 18. Jahrhundert äußerst unerquicklich. Das Sozialprestige des Soldaten war entsprechend gering. Um die häufigen Desertionen zu vermindern, gestattete man Soldatenheiraten. Die Frauen und Kinder der Soldaten wurden zu Arbeiten in den neuen Manufakturen herangezogen, verschiedentlich auch die Soldaten selbst. Die Kaserne, ebenfalls eine neue Institution dieser Zeit, stand nicht nur vom Optischen her, sondern auch von der Funktion in enger Verbindung mit der Fabrik. Nicht selten wurden übrigens Fabriken in aufgelassene Kasernen verlegt — und umgekehrt—, ebenso verfuhr man mit unbenützten Schlössern und seit Joseph II. mit aufgehobenen Klöstern. Dass man Soldaten auch die Ausübung verschiedener Handwerke gestattete, wurde schon erwähnt. Soldatenkindern blühte häufig ein ähnlich trauriges Los wie Waisen (die sie ja noch dazu häufig wurden) — man steckte sie in verschiedene Fabriken, doch kam,
Sozialdisziplinierung in der höfischen Gesellschaft
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über Beschwerden der Eltern, einiges von den schauerlichen Zuständen heraus und man beschloss sinnigerweise, dass künftighin nur elternlose Kinder in jenen Fabriken eingesetzt werden sollten, fernerhin, dass Unterredungen unter vier Augen zwischen Eltern und (Fabriks-)Kindern nicht mehr stattfinden dürften. Hier wird die Fabrik zum Elternersatz, zur Sozialisationsinstanz schlechthin. Seit Maria Theresia wurde das Aushebungssystem neu geordnet. Auf 150 Häuser sollte ein Soldat entfallen. Adel, Bürger, Geistliche, Gebildete, aber auch Hausbesitzer und -erben waren befreit. Wen es erwischte, der hatte im Prinzip lebenslänglich beim Militär zu bleiben. Wenn diese Zwangsrekrutierung noch immer relativ milde blieb, so auch deshalb, weil die Habsburgermonarchie über ein unschätzbares Rekrutierungsgebiet am Rande ihres Staatswesens verfügte — die Militärgrenze in Kroatien und Slawonien. Von etwa 190.000 Mann kaiserlichem Militär um 1 755 entfielen 44.000 auf die Grenzer. Die Militärgrenze entstand im 16. Jahrhundert infolge der zunächst unsystematischen, später geregelten Ansiedlung von zumeist orthodoxen Flüchtlingen — meist „Wallachen" genannt — aus den türkisch gewordenen Gebieten des Balkan in den von den ständigen Kriegen stark entvölkerten Gebieten Kroatiens, Slawoniens, aber auch Krains. Nach und nach kam ein gewisses System in die Grenzverteidigung. Es entstanden zahlreiche Gruppen von Militärsiedlern, denen auch Boden zugewiesen wurde — das Bodenrecht von Karlstadt/Karlovac, das den Festungssoldaten ein Vorkaufsrecht verlieh, wurde hier beispielhaft. Die Grenzer lebten unter eigenen Führern, hatten die Grenzverteidigung zu besorgen und wurden, falls sie außerhalb der Grenzgebiete militärisch verwendet wurden, besoldet. Als typische Form des Zusammenlebens bildeten sich sog. „Hauskommunionen"heraus, Gemeinschaften unter einem Hausvater (ein nicht mehr aktiv Dienstpflichtiger) und einer Hausmutter, die die Frau des Vaters sein konnte, aber nicht musste. Ihnen stand die Autorität im Hause zu. Die Mitglieder der Hausgemeinschaft konnten aus dieser kein Sondereigentum beanspruchen. Diese Grenzer lieferten durch Jahrhunderte dem Kaiser treue Soldaten. Schon im 1 7. und 18. Jahrhundert waren diese „Kroaten" berühmt, wegen ihrer häufig minder feinen Umgangsformen aber auch berüchtigt und gefürchtet, beispielsweise als Besatzungstruppen in Bayern (1704 - 1714 und 1 744 - 1748). Sie blieben, etwa auch noch 1848, als sie tatkräftig dazu beitrugen, die Revolutionen in Wien und Ungarn niederzuschlagen, die selbst wenig disziplinierten Instrumente im Dienste obrigkeitlicher Disziplinierung.
6.3
Das Schulwesen
Zwar wurde ein einigermaßen allgemein wirksames Schulwesen erst unter Maria Theresia eingerichtet, schulische Disziplinierung nahm aber schon in früheren Phasen der höfischen Gesellschaft einen wachsenden Stellenwert ein. Schon im Spätmittelalter waren in wachsendem Umfang in Städten, Märkten und ländlichen Pfarrorten Pfarrschulen gegründet worden. Deren Hauptziel blieb aber
Höfische Gesellschaft, Sozialdisziplinierung und Merkantilismus
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die Heranziehung v o n geistlichem N a c h w u c h s bzw. die Ausbildung v o n Hilfskräften für den Gottesdienst. D a n e b e n dienten „deutsche Schulen", meist v o n privaten Schulhaltern, überwiegend den Bedürfnissen des Stadtbürgertums.
Eine bedeutsame Weiterentwicklung brachten zunächst die im protestan-
tischen Bereich einsetzenden Bemühungen, Schulen für die gute Beherrschung des Lateinischen einzurichten — im 16. Jahrhundert kam dafür der Begriff „Gym-
nasium" aui. Bildungsziel und Methodik w u r d e n deutlicher akzentuiert, die Einteilung der Schüler nach Wissensgruppen bereitete die Klassengliederung nach Jahrgängen und Altersstufen vor.
In Österreich w a r e n diese protestantischen Schulen Stadtschulen oder
„Landschaftsschulen", v o n der „Landschaft",
also den (überwiegend protestan-
tischen) Landständen, getragen und in ihren Bildungszielen auch stärker auf die Bedürfnisse der adeligen Jugend ausgerichtet. Z w a r w a r e n immer noch
viele Adelige der Meinung, man könne „[...] mit vil lattein oder griechisch den
groben pofel und paurn nit regieren, sondern gewalt und ernnst, stock und
eisen [...]" seien dafür nötig — w a s der Rektor der obderennsischen Landschaftsschule M i c h a e l Eckelhuber 1570 mit der Bemerkung zurückwies, die Adeligen könnten
„[...] allein durch diß miti der Studien und freien khünsten zu h o c h e n ansehnnlichen ambtern, ehrlichen digniteten und w ü r d e n e r w a c h s e n [...]". D i e gesellschaftliche Funktion verstärkter Disziplinierung wird in besonderen neuen Überwachungsinstanzen spürbar, etwa in der berühmten
Schulordnung
Loosdorfer
der niederösterreichischen Stände von 1574. Hier erhielt jede
Klasse einen Schüler als „ C e n s o r " oder „ D e c u r i o " mit der Aufgabe, seine Mit-
schüler zur Anzeige zu bringen, falls sie die Schule schwänzten, unaufmerksam
waren, schwätzten und die M a h n u n g e n ihrer Lehrer missachteten. D i e Landschaftsschulen
blieben infolge der Niederlage der protestantischen
Stände Episode. Erfolgreicher w a r e n ihre Konkurrenten, die zum Teil die Errich-
tung der Landschaftsschulen erst angespornt hatten: die Jesuiten (und später die Piaristen).
D i e jesuitengymnasien
hatten ebenso w i e ihre protestantischen Pendants
natürlich in erster Linie die Aufgabe, brave Christen und — außerdem — habsburg-
treue Katholiken (ebenso w i e jene fromme Protestanten) heranzubilden. Wichtig für eine fortschreitende Verinnerlichung des Leistungsstrebens w u r d e n sie durch das „Zertieren", durch die stete Konkurrenz und den Vergleich zwischen den Schülern. In den einzelnen Klassen w u r d e die Rangigkeit der Schüler nach
Lernerfolgen festgelegt, w o b e i man sich offenbar an humanistischen Vorbil-
dern orientierte. Leistungsdruck
und Konkurrenzverhalten
entsprechen — v o m
Anforderungsprofil her — dem Kapitalismus ebenso w i e der höfischen Gesellschaft. D i e Z u o r d n u n g von gesellschaftlichem Status nach Leistung und nicht
nach G e b u r t und Abkunft, w i e sie über die Laufbahn eines solchen Gymnasiums immerhin mit-ermöglicht wurde, war zweifellos ein egalisierendes M o m e n t ,
Sozialer Wandel in der höfischen Gesellschaft?
189
wenngleich die Betonung von Rangigkeitskriterien für das Selbstbewusstsein selbstverständlich in die allgemeine Tendenz der Dekommunalisierung passte. Die breiten Massen der Bevölkerung waren im Allgemeinen von höheren Schulen ausgeschlossen, Jesuiten- und Piaristenschulen waren allerdings offener. Für die bürgerlichen Bedürfnisse bestanden nach wie vor „deutsche", zumeist städtische Schulen, von ihrem Leiter zumeist neben anderen Gewerben betrieben, in Waidhofen an der Ybbs etwa von einem Krämer in dessen Hausflur, auf dem Lande die Pfarrschulen. Dabei waren und blieben die Lehrer in erster Linie Organisten, Mesner und Schreiber, ihren Lehrverpflichtungen nur nebenbei gewidmet. Als man um 1 770 an eine Reform dieses Schulwesens schritt, stellte man fest, dass an Pfarrorten in der Regel Schulen bestünden, dass aber zu einer Pfarre oft sechs, sieben und mehr Dörfer gehörten, von w o man dann nicht so leicht zur Schule gehen könne. Insgesamt seien damals mehr als vier Fünftel aller Kinder „weder in der Religion, noch in den ersten Anfangsgründen der menschlichen Känntniß" unterrichtet worden. Die Ursache dessen fand man in der Armut der Eltern, die das erforderliche Schulgeld nicht bezahlen konnten. Ferner wurde beobachtet, dass Waisen bei ihren Vormündern oder Kostgebern nur für die schlechtesten Arbeiten herangezogen würden und dass allgemein die Kinder, sobald sie nur gehen könnten, zur Versorgung der Wiegenkinder zu Hause behalten, zur Viehweide, zum Spinnen oder zu anderen Arbeiten herangezogen würden (1772). Für die Disziplinierung der Massen war die Schule daher noch erheblich zu vervollkommnen. Das dauerte noch geraume Zeit — genau genommen bis 1869.
7
Sozialer Wandel in der höfischen Gesellschaft?
Kennt die höfische Gesellschaft überhaupt die Kategorie des Wandels? Von ihrem Selbstverständnis her würde man es nicht vermuten. Dieses Selbstverständnis schwört auf Stabilität: Seuchen und die Bedrängnis durch den „Erbfeind christlichen Namens", die Türken, werden auf Verletzung der göttlichen Ordnung durch Gotteslästerung, Zutrinken, Völlerei, Spielen, Ehebruch und unmäßige Prachtentfaltung zurückgeführt. Keine geringe Rolle in diesem Sündenregister spielt die Selbstüberhebung jener, die mit ihrem von Gott zugewiesenen Status nicht zufrieden sind und ihr Streben nach höherer Geltung durch überaus aufwendige Kleidung, durch Schmuck und auffällige Kaleschen unterstreichen. So sagen es in beharrlicher Regelmäßigkeit die Polizei-, Luxus- und Kleiderordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts. Sie gehen inhaltlich auf eine Reichskleiderordnung von 1530 zurück, die am Augsburger Reichstag dieses Jahres verabschiedet worden war, und wurden für die fünf niederösterreichischen Länder von Ferdinand I. 1542 bzw. 1552 (und noch öfter) publiziert. Schon im Hochmittelalter war verschiedentlich darüber geklagt worden, dass die Bauern die ihnen eigentlich zustehenden gröberen Wollstoffe in verhaltenen Farben (Grau, mattes Blau) zugunsten feinerer Stoffe abgelegt hätten. Im Spätmittelalter erließen Städte Kleiderordnungen. So wurde etwa in Wien un-
190
Höfische Gesellschaft, Sozialdisziplinierung und Merkantilismus
terschieden, was Ratsmitglieder, Erbbürger, Kaufleute und Handwerker an Schmuck, Pelzwerk und teuren Textilien verwenden durften. Gegenüber diesen spätmittelalterlichen Ordnungen greift die neuzeitliche Ordnung weiter aus: räumlich und sozial — denn nicht mehr der kleine Raum und die relativ kleine Population einer Stadt wird zum Gegenstand der „Polizey" (von „polis" — staatlich-öffentliche Angelegenheiten im weitesten Sinne gegenüber den Herrschaftsunterworfenen), sondern alle Menschen z. B. in den fünf niederösterreichischen Ländern. Die Polizeiordnungen vermögen nicht nur über veränderte Motivationen für obrigkeitliche Regelungsmaßnahmen Auskünfte zu geben, sondern auch über Vorstellungen von gesellschaftlicher Gliederung, denn hier wurde abgestuft und eingeteilt —jedes Individuum musste in ein bestimmtes Fach passen, welches mit dem Begriff „Klasse" versehen wurde. Stellt man sich nun die Frage, wie die Klassen aussahen, die hier zusammengefasst wurden, so zeigt sich zum einen ein bemerkenswertes Durcheinander, zum andern aber auch (und weniger erwartet) Instabilität, besonders im Vergleich der Ordnungen von 1671, 1686 und 1687.
7.1
„Stände" und „Klassen" in der höfischen Gesellschaft
Die Ordnung Leopolds I. von 1671 spricht zunächst davon, dass insbesondere die „geringeren Stands-Personen" teure Kleider trügen, wodurch die höher Platzierten gezwungen würden, ihre voll anerkannten sozialen Distanzierungswünsche durch noch teurere Kleidung auszudrücken. Die drei „oberen Stände" (die an anderer Stelle als die „politischen Stände" bezeichneten Prälaten, Herren und Ritter — Mitglieder der Landstände, welche zugleich Grundherren waren) werden aus den Bestimmungen ausgenommen, gehören also (noch) nicht zu den den neuen Regelungen unterworfenen Untertanen. Die Ordnung erfasst nur die den „oberen Ständen" Nachgeordneten, also die Hofbediensteten, Universitätsangehörigen, Kaufleute, Bürger und Bauern. Diese nun im eigentlichen Sinne nichtständische Bevölkerung wird in fünf Klassen eingeteilt. In die erste Klasse fallen alle wirklichen kaiserlichen Räte (nicht die bloßen Titular-Räte), Beamte und Hofbediente, ferner Militär-Offiziere, Doktoren der Rechte und Medizin, die Nobilitierten, welche zugleich Landgüter besaßen, der Salz- und der Eisenamtmann, die Hof- und Niederösterreichischen Regierungsbuchhalter, fürstliche Kammerdiener, Burggrafen, daneben auch die Bürgermeister und Stadtrichter von Wien und Linz. Die zweite Klasse umfasst die Nobilitierten ohne Landgüter, BuchhaltereiRechnungsräte, Hofmusiker, überhaupt eine große Reihe von Hofbediensteten der mittleren Ebene, Mautner und andere Beamte, öffentliche Notare, Richter und Bürgermeister der anderen landesfürstlichen Städte und Märkte, die Niederlagsverwandten (1515 privilegierte Großhändler meist ausländischer Herkunft), die Hofbefreiten, Handelsleute, die oberen Beamten der grundbesitzenden Adeligen usw.
Sozialer Wandel in der höfischen Gesellschaft?
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Zur dritten Klasse wurden Buchhalterei-Bediente, Konzipisten, Kellermeister, Zimmerwarter, Tafeidecker, Gardesoldaten, Trompeter des Hofes etc., ferner die vornehmen bürgerlichen Handelsleute wie auch andere angesehene Bürger, die kein Handwerk trieben, die „Künstler" (Maler, Bildhauer, Buchdrukker, Kupferstecher, Goldarbeiter), Faktoren, Schreiber, Kaufleute und des Adels Beschließerinnen gezählt. In die vierte Klasse gehörten Falkner, Jäger, Heger, Kapell-Diener, Torsteher, Sesseltrager, Sänftenträger, gemeine Bürger und Handwerksleute, Schulmeister, Mesner, geringe Kanzleibediente wie Heizer und dergleichen, Köche und Köchinnen. Die fünfte Klasse endlich bildeten die Untertanen (also Bauern) und deren Inleute, Taglöhner und das übrige „gemeine Volk". Nimmt man an, dass durch das den jeweiligen „Klassen" zugebilligte Bekleidungs- und Schmuckwerk ein vergleichbares Sozialprestige ausgedrückt werden sollte (denn eine andere Grundlage für die eher wilde Zusammenwürfelung verschiedenster Sozialtypen in eine Klasse ist nicht sichtbar), dann fällt vor allem auf, dass enorme Prestigevorsprünge mit dem Hofdienst verbunden waren. Dass Konzipisten, Zimmerwärter, Tafeidecker, Kammerheizer und Hartschiere auf der gleichen Stufe wie vornehme bürgerliche Handelsleute (3. Klasse) stehen sollen, entspricht Statusvorstellungen des 20. Jahrhunderts ebenso wenig wie die Gleichstellung von Sänftenträgern und Torstehern mit Bürgern und Handwerkern. Offensichtlich war es keineswegs die Stellung im Produktionsprozess, die gesellschaftliche Würde verlieh, sondern viel eher ein Nahverhältnis zu den Zentren des (höfischen) Konsums. Ansehen verschaffte primär die höfische Sphäre, sogar noch der Dienst bei adeligen Grundherrn. Je höher der Herr, desto höher das Ansehen seiner Diener. Und natürlich war der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, wie groß oder wie gering seine tatsächliche Macht auch immer war, vom eifrig gepflegten Selbstgefühl her immer noch der bedeutendste Herr der Christenheit. Die Ordnung von 1671 konnte menschliche Eitelkeitsbestrebungen und Rangunsicherheiten ebenso wenig beseitigen wie alle vorhergehenden. 1686 wurde daher eine neue Ordnung erlassen. Nunmehr wurden die drei oberen Stände in dieselbe einbezogen: ein Vorgang, der exemplarisch die wachsende Eingliederung der alten Herrschaftsstände — mit ihren vormals selbständigen Herrschaftsrechten — in die allgemeine Staatsuntertänigkeit zu erhellen vermag. Immer mehr erscheinen diese „oberen Stände" nicht mehr als lokale Herrschaftsträger, sondern als — wenngleich hervorgehobener und „privilegierter" — Teil einer Gesellschaft, die nun alle Herrschaftsunterworfenen eines Herrschers umfasst. Die Ordnung war unpräzis. Die erste Klasse bestand jetzt aus den oberen Ständen, aus Herren und Rittern sowie den wirklichen „dienenden Räten" — zum Unterschied von den bloßen Titelinhabern, die tiefer rangierten. Die zweite Klasse waren Nobilitierte und gleichzuhaltende Positionsinhaber, die dritte Bürger und ähnliche Leute. Wahrscheinlich hat man die beiden unteren Klas-
Höfische Gesellschaft, Sozialdisziplinierung und Merkantilismus
192
sen der O r d n u n g v o n 1671 (niedere Bediente, H a n d w e r k e r , B a u e r n und
Taglöhner) hier gar nicht behandelt. Es w a r offensichtlich ein Versuch, Statusprobleme in den oberen Rängen zu ordnen.
1687 schon schritt man zu einer Novellierung.
Die Nobilitierten sollten
geteilt w e r d e n in solche, die als Edelleute lebten, und in jene anderen, die ein
A m t oder ein G e w e r b e innehatten und sozial diesem entsprechend eingeordnet w e r d e n sollten. Überhaupt wollte man die zweite Klasse stärker aufglie-
dern. Sie zerfiel nun in drei „ m e m b r a " (Abteilungen): Das erste „ m e m b r u m "
entsprach im W e s e n t l i c h e n der ersten Klasse der O r d n u n g v o n 1671 (plus den
adelsmäßigen Nobilitierten), das zweite der ehemaligen zweiten Klasse, das dritte der dritten. Damit war die Eingliederung der alten Herrschaftsstände in
die Klassenordnung der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft zumindest
vorbereitet.
Im 18. Jahrhundert begannen sich diese Unterschiede noch stärker abzu-
schleifen. Das oben (von Lady Montagu S. 157) gebotene Beispiel aufs Äußerste geschärften Positionsbewusstseins entspricht genau einer solchen Situation
verbreiteter Statusunsicherheit, der man durch verstärktes Beharren auf d e m
eigenen Standpunkt entgegnen wollte. N o c h 1 732 w u r d e ein Unterschied zwischen Herren und Rittern einerseits sowie allen anderen Untertanen dahingehend fixiert, dass nur noch die Ersteren ausländische Stoffe v e r w e n d e n durf-
ten, w a s sonst generell untersagt wurde. Ein Kleiderpatent
von 1749 stellte es
jedermann frei, Gold- und Silberborten zu tragen, was man 1754 jedoch zu weitgehend fand, so dass diese Erlaubnis wieder auf die drei „ o b e r e n Stände"
beschränkt wurde. Schließlich scheiterte, unter der massiven Beteiligung der
Kameralisten w i e Sonnenfels, ein letzter Versuch Maria Theresias, Statusunter-
schiede durch eine Kleiderordnung zu fixieren: Wichtiger als die Dokumentati-
on einer sozialen Position durch Kleidung erschien den Merkantilisten die Aus-
weitung des Marktes. U n d unter d e m Einfluss der Aufklärung erschien der innere W e r t des M e n s c h e n sowieso bereits wichtiger als die äußere Demonstration seiner gesellschaftlichen Position.
Vergleicht man die hier in Umrissen sichtbare gesellschaftliche Prestige-
skala mit der im Spätmittelalter entstandenen Unterscheidung in „ H e r r e n " einerseits und „ g e m e i n e Leut'" andererseits, so gibt es diese w o h l noch immer:
die „ H e r r e n " in der ersten, die „gemeinen Leute" in der letzten Klasse. Dazwischen hat sich aber einiges getan. D i e Distanz zwischen Herren und G e m e i n e n hatte sich ganz augenscheinlich vergrößert.
Ü b e r den „ G e m e i n e n " standen zahlreiche Menschen, die nicht durch ei-
gene Herrschaftsrechte von jenen abgehoben erscheinen, sondern durch Teilhabe am Prestige des Landesfürsten und Kaisers. In den zahlreichen Abstufun-
gen und Funktionsunterschieden der beratenden, bürokratischen, dienenden, repräsentativen Figuren bei H o f e liegt der eigentliche dynamische
Faktor der
höfischen Gesellschaft — Unsicherheiten der Z u o r d n u n g vermögen dies eben-
so deutlich auszusagen w i e der unverhältnismäßige Prestigewert, der jenen
zukam.
Sozialer Wandel in der höfischen Gesellschaft?
7.2
193
„Landesvater" und paternalistische Ordnung der Gesellschaft
Der „Landesvater" wird zur Zentralfigur, nicht nur der höfischen Barockkultur, sondern auch des sozialen Wandels. Ideell blieben diese Vorstellungen an Haus und hausväterlicher Herrschaft orientiert. Wodurch diese wachsende Betonung der väterlichen Attitüde im 16. bis 18. Jahrhundert zustande kam, wird freilich strittig bleiben: War es der Machtzuwachs der Herrschaftsspitze, den man nicht anders als in hausrechtlichen Kategorien auf den Begriff bringen konnte? Oder war es die zunehmende Bedeutung, die in Reformation und Gegenreformation dem Landesfürsten für das (Seelen-)Heil seiner Untertanen zugesprochen wurde? Oder war es der Frühkapitalismus mit seinen an Croßhaushalten orientierten neuen Organisationsformen von Produktion und Vertrieb? Allerdings entstanden die meisten der Letzteren, nämlich die Manufakturen und Fabriken der Merkantilisten, erst seit dem späten 17. Jahrhundert. Wie auch immer: Gedacht wurde die Gesellschaft seit dem 16. Jahrhundert stärker als früher in „Häuser" gegliedert, unter der Herrschaft von Hausvater und Hausmutter.
Das brachte auch langfristig eine stärkere Betonung der Ehe mit sich. Noch im 16. Jahrhundert waren Konkubinatsverhältnisse etwa im Klerus, selbst bei Mönchen und Äbten, nicht selten. Reformation und Gegenreformation scheinen den strengeren Ehrenkodizes besonders der städtischen Schichten („Ehrlichkeit", „Ehrbarkeit" der Bürger mit ihrer Ablehnung von unehrlicher Herkunft) zu allgemeinerer Geltung verholfen zu haben. Wenigstens für die verheirateten Frauen von Hausvätern brachte dies Statussicherung und -gewinn, während gleichzeitig die meisten Hausherren (bäuerliche und bürgerliche) durch die Zurückdrängung der Gemeinden einen Statusverlust erlitten — denn die Gemeinden waren, als von der Wurzel her Versammlungen der Wehrhaften, immer eine reine Männersache gewesen! Dagegen zeigt ein Sozialtyp im Barock ein erhebliches Wachstum, nämlich die religiösen Bruderschaften, als Basisorganisationen für Andachten, Prozessionen und Wallfahrten, aber auch für die Ausstattung und den Neubau von Kirchen, Kapellen und religiösen Denkmälern (Marien- und Dreifaltigkeitssäulen usw.) sowie für vielfältige Initiativen im Bereich der Sozialfürsorge. Die wachsende Regelmäßigkeit und Reglementierung der landesfürstlichen Steuerforderung und ihre Radizierung auf die Einheit des Bauernhauses als ein Motiv für die Betonung und Stärkung bäuerlicher Hauselternrollen wurde schon erwähnt. Die Betonung der grundherrlichen Hausvaterrolle entspringt wohl ähnlicher Motivlage (Verantwortlichkeit gegenüber Ständen und Fürst), zum andern gehört sie offenkundig gemeinsam mit verstärkter reformatorisch-gegenreformatorischer Seelen-Obsorge, zu den Ersatzbefriedigungen, welche der absolute Landesfürst dem Adel für seine realen Machtverluste anzubieten hatte. Ebendazu gehörten wohl auch jene kuriosen Erscheinungen, die uns (wieder einmal) Lady Mary Montagu aus Wien berichtet: „[...] es ist für jede Dame eine eingeführte Gewohnheit, zwei Männer zu haben, einen, der den Namen führt, und einen anderen, der dessen Pflich-
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Höfische Gesellschaft, Sozialdisziplinierung und Merkantilismus
ten verrichtet [...] Diese Verbindungen entstehen in der Tat ebenso selten aus wirklicher Neigung wie andere Heiraten, denn ein Mann macht eine schlechte Figur, wenn er keinen Umgang dieser Art hat. Und ein Frauenzimmer sieht sich, sobald sie verheiratet ist, nach einem Liebhaber um wie nach einem Teil ihrer Aussteuer [...] Der erste Artikel des Vertrags ist die Festsetzung eines jährlichen Gehaltes, das der Dame bleibt, im Falle der Buhler untreu wird. Dieser lästige Ehrenpunkt scheint der Grund von so vielen wunderbaren Beispielen von Beständigkeit zu sein." Was hier beschrieben wird, ist eine Mischung aus altadeliger Freizügigkeit in Ehesachen mit höfischen Statusanforderungen, wobei freilich die soziale Verpflichtung zu solchen Liaisons es nicht gestattet, den Reiz des Anrüchigen und Abenteuerlichen zu vermuten: Es handelte sich um eine anerkannte gesellschaftliche Institution zur Erhöhung des Ansehens beider (oder genau genommen: aller drei) Partner. Darum auch die Öffentlichkeit, denn ein geheimes Verhältnis hätte ja des Demonstrationscharakters in einer Atmosphäre „repräsentativer Öffentlichkeit" (Habermas) entbehrt. Natürlich bedurfte es zur bequemen Gestaltung derartiger Lebensführung nicht nur der materiellen Fundierung, sondern auch der entsprechenden baulichen Gestaltung der adeligen Schlösser. Tatsächlich war bei diesen der Trakt der Herrin zu jenem des Herrn spiegelbildlich und vollkommen gleichrangig angeordnet, worin sich die bevorzugte Position dieser adeligen Damen gegenüber den übrigen Frauen der Epoche allerdings aufs Beste dokumentiert. Hausherr und Hausfrau erscheinen als Zentralrollen in den häuslich verfassten Subsystemen der höfischen Gesellschaft. Die Realität entsprach dem freilich immer weniger. Nicht umsonst nahmen die Gauner- und Bettlerpatente im späten 17. und 18. Jahrhundert ebenso zu wie die Zahl der wirklich aus jeder häuslichen Bindung herausgefallenen Menschen. Diese Letzteren sollten aber wieder in Häuser eingegliedert werden, in Armen-, Waisen-, Zucht- und Arbeitshäuser, in Manufakturen und Fabriken, häufig mit Ersteren verbunden. Überall sind die Führungspositionen noch mit den Begriffen „Hausvater" und „Hausmutter" verbunden. Die traditionelle Begrifflichkeit verdeckt freilich, dass hier Neues entstand. Die Anstalten des höfischen Absolutismus, seine Großhaushalte neuen Typs, waren ja keine häuslichen Vereinigungen familialer Art, mit der Aufgabe, ein vielfältiges Funktionsbündel von Sozialisation, Lebensund Überlebenssicherung für ihre Mitglieder anzubieten, sondern vielmehr entweder nur auf Produktion oder auf Resozialisierung bzw. Verwahrung eingestellte soziale Institutionen. Ihre Funktion blieb freilich in Wirklichkeit meist noch breiter als von den Zielvorstellungen her angelegt. Natürlich bedeutet die Eingliederung von Soldaten, Waisen, Bettlern, Krüppeln, Geisteskranken und Kriminellen in die scheußlichen neuen Großhaushalte keine Revitalisierung familialer Gesellschaftsformen, sondern den Eintritt in eine neue, bürokratisierte, großflächig organisierte Gesellschaft, in der familiale Organisationsformen immer stärker zurücktraten.
Sozialer Wandel in der höfischen Gesellschaft?
195
Die Entstehung einer überregionalen „österreichischen Gesellschaft", durch bürokratische Penetration ebenso wie durch ökonomische Integration vorangetrieben, ging langsam vor sich. Ausgangspunkt war und blieb der habsburgische Hofmit seinem Adel und der ebendort entstehenden Bürokratie. Das ging zweifellos bis um 1750 noch nicht sehr weit und nicht sehr tief. Entscheidende Weiterungen, wie regelmäßige Rekrutierungen, bürokratische Organe auch auf unterer Ebene, endgültige wirtschaftliche Integration, passierten dann erst in der Phase des Reformabsolutismus. Sie waren freilich schon in der höfischen Gesellschaft grundgelegt. Verbal konservativ, trieb die höfische Gesellschaft durch Machtkonzentration, Bürokratisierung und langsame Durchdringung immer weiterer räumlicher und gesellschaftlicher Teilbereiche doch gesellschaftliche Neuerungen voran. Obgleich man theoretisch den durch Geburt erworbenen Status absichern wollte, gab es tatsächlich Möglichkeiten, diesen Status ziemlich rasch zu ändern. Dazu gehörte vor allem der Dienst am Hof, aber auch am Hof eines großen Adeligen. Dazu gehörte auch die Absolvierung neuer Bildungsinstitutionen, wie eines Jesuiten- oder Piaristengymnasiums, die wesentlich weniger exklusiv waren als die alten (protestantischen) adeligen Landschaftsschulen. Neben Aufstiegs- gibt es auch Abstiegsphänomene. Die großen und wachsenden ländlichen Unterschichten, bis zu drei Viertel der etwa 80 % der Gesamtpopulation ausmachenden ländlichen Bevölkerung und also etwa 60 % der Gesamteinwohnerschaft, rekrutierten sich nicht nur durch die Selbstergänzung von Inleuten und Kleinhäuslern, sondern auch aus den weichenden Erben von Bauern. Keineswegs war also der Status durch die Geburt fixiert. Auch der auf seine zahlreichen Ahnen stolze Adel war, mit wenigen Ausnahmen, nicht „uralt", sondern stammte meist aus Familien, die in zwei Generationen oftmals verblüffende Karrieren gemacht hatten. Das führte dazu, dass sich der ahnenstolze Altadel (etwa in Niederösterreich) als „alter Herrenstand" von den Aufsteigern distanzierte, dass aber besonders tüchtige Aufsteiger dann in eben diesen „alten" Herrenstand aufgenommen werden konnten. Die statische Auffassung, die jene Gesellschaft von sich hatte, entsprach keineswegs der dynamischen Realität.
VI VOM REFORMABSOLUTISMUS ZUR BÜRGERLICHEN GESELLSCHAFT In der großen Krise des habsburgischen Imperiums nach dem Tode Karls VI. (1740) erwiesen die Mahnungen der Merkantilisten neuerdings ihre Berechtigung. Trotz seiner Weitläufigkeit war dieses Herrschaftsgebiet militärisch und ökonomisch wenig leistungsfähig. Für die Ankurbelung der Wirtschaft wurde daher das merkantilistische Förderungsinstrumentarium variiert und erweitert. Um die militärische Schlagkraft zu erhöhen, musste das Heer reformiert werden. Als Grundlage der Heeresreform war eine Steuerreform notwendig. Schnelligkeit und Durchsetzbarkeit bürokratischer Entscheidungen erforderten eine Verwaltungsreform. Der neue Schub an Bürokratisierung zog mehr Schriftlichkeit nach sich. Immer dringender wurde daher das Verlangen nach einer wenigstens einfachen Alphabetisierung der Bevölkerung. Dabei und bei der Suche nach mobilisierbaren Vermögenswerten stieß man auf kirchliche Einrichtungen und ein entsprechendes geistliches Personal, das für die neuen Staatszwecke nutzbar gemacht werden sollte: Das ist der reale Hintergrund der kirchenpolitischen Maßregeln, die freilich erst unter Joseph II. voll einsetzten. 1749 erfolgte die große Staatsreform — nach Beendigung der ersten, kriegerischen Regierungsphase Maria Theresias. An der Spitze wurden die verschiedenen Hofämter zusammengefasst („Directorium in publicis et in cameralibus" bzw. — nach einer neuerlichen Reorganisation — „Böhmisch-österreichische Hofkanzlei"). In den Ländern wurden Landesstellen der Zentralregierung geschaffen („Repräsentation und Kammer" bzw. „Gubernium"), welche die älteren Bürokratien für ganze Ländergruppen ablösten. Auf unterer Ebene, den Landesvierteln entsprechend, ließen die neuen Kreisämter die „Untertanen" die verstärkte Staatlichkeit spüren. Die Landtage büßten ihr Steuerbewilligungsrecht durch die „Dezennalrezesse" (Bewilligung von Steuern auf zehn Jahre) ein. Die Steuerfreiheit des grundherrlichen („dominikalen") Eigenbesitzes wurde aufgehoben, und neue Besitzverzeichnisse, die maria-theresianischen Fassionen, getrennt nach Herren- und Bauernland, wurden angelegt. Alle diese Reformen bedeuteten in gesellschaftlicher Hinsicht einen Verlust an Privilegien für die bislang bevorzugten Gruppierungen von Grundherren, die nicht bloß Mitherrschaftskompetenz gegenüber dem Fürsten einbüßten (durch die Dezennalrezesse), sondern auch in ihren Herrschaftsrechten gegenüber ihren Untertanen Einschränkungen erlitten. So war es nach den theresianischen Fassionen nicht mehr möglich, Bauernland zum Herrenland einzuziehen. Demgegenüber erhöhte sich das gesellschaftliche Gewicht der Bürokratie. Zwar vom Hofe ausgehend (und stets von einer gewissen Aura dieser Herkunft
Vom Reformabsolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft
197
umgeben), wurden nun ihre Stützpunkte in den einzelnen Ländern ebenso vermehrt wie ihre Zahl und die Materien, die sie zu bearbeiten hatte. Nicht nur die Bürokratie wuchs. Vielfach ernteten Maria Theresia und Joseph II. die Früchte lang anhaltender Anstrengungen im Bereich der Industrieund Gewerbeförderung. Ab etwa 1770 stieg die Zahl der Fabriken und Unternehmungen ebenso wie die Zahl der dort Beschäftigten, besonders rasch und deutlich in den 1 780er und 1 790er Jahren. Nun entstand die bürgerliche Gesellschaft — in einem doppelten Sinne. Zum einen wurde aus der feudalen „Untertänigkeit" (der Bauern) immer mehr eine allgemeine „Staatsuntertänigkeit". Die Unterwerfung unter die Befehlsgewalt des Herrschers bedeutete real, den neuen bürokratischen Instanzen unterworfen zu sein. Dieser Apparat benötigte ein gleichförmiges Rechtssystem für sein möglichst reibungsloses Funktionieren. Nicht zufällig beginnt daher mit Maria Theresia die große Zeit der Rechtskodifikationen im Bereich des Strafund Zivilrechtes (Nemesis Theresiana 1768, 1787 abgelöst durch das josephinische Strafgesetzbuch; Arbeiten an einer Kodifikation der Privatrechte seit 1753, abgeschlossen 1 787, Revision des „Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches" bis 1811 ). Im 1811 verkündeten und 1812 in Kraft getretenen ABGB wird der Staatsuntertan endgültig zum „Staatsbürger": „Die bürgerlichen Gesetze verbinden alle Staatsbürger der Länder, für welche sie kundgemacht worden sind ..." (§ 4). Deutlich zeigt aber gerade diese Passage die Grenzen der habsburgischen Staatsbildung (und der Ausbildung einer bürgerlichen Gesellschaft dieses Staatswesens): Das neue Gesetzbuch galt nur für die „deutschen" Erblande, worunter damals (1811) allerdings nicht bloß die vormals zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gehörigen Gebiete zählten, sondern auch Galizien und die Militärgrenze — nicht jedoch Ungarn, das ebenso wenig zum 1775 errichteten gemeinsamen Zollgebiet der böhmischen und österreichischen Länder gehörte. Auch die theresianischen Zentralbehörden arbeiteten nur in den und für die böhmisch-österreichischen Länder. Die bürokratische Zentralisierung erfasste also nur einen Teil, eine Art „Kernstaat", der habsburgischen Länder; die Versuche Josephs II., diesem auch Ungarn und Belgien anzugleichen und einzuverleiben, riefen den erbittertsten Widerstand hervor. Obgleich es paradox klingt, hat in den Städten gerade die endgültige Beseitigung der älteren bürgerlichen Autonomie staatsbürgerliche Gleichheit erst ermöglicht. 1783 erfolgte die Neuordnung des Wiener Magistrates. Nach diesem Muster wurden in den folgenden Jahren auch die Stadtverwaltungen der anderen landesfürstlichen Städte umgestaltet. Dazu ist zu erinnern, dass die städtischen Selbstverwaltungsbehörden oft nur mehr Minderheiten der Stadtbevölkerung administrierten und dass die eigentliche „Bürgerschaft" nur einen Bruchteil der Stadtbevölkerung ausmachte. An die Stelle des inneren Rates traten 42 Magistratsräte, die vom äußeren Rat „gewählt" wurden (tatsächlich aber landesfürstliche Beamte waren) und in drei Senaten (für die Zivilgerichtsbarkeit, für die Kriminalgerichtsbarkeit und für die politischen und ökonomi-
198
Vom Reformabsolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft
sehen Geschäfte) ihres Amtes walten sollten. Im Vordergrund steht bei diesen Maßnahmen weniger der Autonomieverlust (sehr viel war hier nicht mehr zu verlieren) als der Neuaufbau eines Verwaltungs- und Rechtswesens unter Beseitigung der letzten Reste von Personenverbänden. Dieselben Maßnahmen führten übrigens bei jenen Städten, die unter adeliger oder kirchlicher Herrschaft standen, zur weitgehenden Zurückdrängung des herrschaftlichen Einflusses und daher, genau genommen, für die Bewohner dieser Städte auch erst zur Chance, zu „Bürgern" des Staates zu werden, nachdem sie bisher nur Bürger einer untertänigen Stadt waren. Die Begrenzung des eigentlichen „Staates" (und der Staatsbürgerschaft auf der gemeinsamen Grundlage des ABGB) auf einen bestimmten Teil des Habsburgerreiches hatte aber auch einen anderen gesellschaftlichen Hintergrund. Nur hier entstand eine „bürgerliche Gesellschaft" in einem anderen Sinne, nämlich als eine zahlenmäßig erhebliche Gruppe von Besitz- und Bildungsbürgern, von Unternehmern, aber auch von Beamten und Lehrern. Es sollte betont werden, dass der zahlenmäßig bedeutendere Anteil des neuen Bürgertums keine völlige ökonomische Unabhängigkeit vom Staat erreichen konnte: Die Unternehmer und Bankiers verdankten ihre Stellung obrigkeitlicher Förderung (und den Bedürfnissen des Staates), die Beamten, Lehrer und Professoren standen in eher wachsender Gehaltsabhängigkeit. Diese neue bürgerliche Gesellschaft tritt in der josephinischen Epoche als Publikum der infolge der Zensurlockerung ungeheuer anschwellenden Flut von Büchern und Broschüren hervor. Allerdings wurde das hier erstmals neu formulierte Interesse an kritischer und selbständiger bürgerlicher Mitwirkung an den öffentlichen Angelegenheiten bald wieder eingeschränkt. Dass dies ohne größere Schwierigkeiten — sieht man einmal von den so genannten „Jakobinerprozessen" ab — möglich war, macht allerdings die relative Schwäche dieser neuen bürgerlichen Gesellschaft deutlich, deren Entstehung mit der höfisch-bürokratischen Staatsbildung der Habsburger untrennbar verbunden blieb und die trotz einer erheblichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dynamik in ihrem Denken und Fühlen vom Kaiserhaus niemals loskam. Die wie auch immer fragmentarische Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaft war aber nicht nur Folge von Staatsbildung und Bürokratisierung, sondern stand auch im engsten Zusammenhang mit der Industriellen Revolution.
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Das Problem der Industriellen Revolution in Österreich
Der Start der Industriellen Revolution in der Habsburgermonarchie verlief deutlich anders als in Großbritannien oder auch in Deutschland. Die Eisenverarbeitung etwa hatte eine lange Tradition und hätte unter anderen Umständen eventuell als Ausgangspunkt für die industrielle Entwicklung dienen können. Das war aber eindeutig nicht der Fall. Alte Eisenverarbeitungsgebiete wie Kärnten oder die Obersteiermark zeigten im 19. Jahrhundert eher Zeichen von Stagna-
Das Problem der Industriellen Revolution in Österreich
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tion. Ausgangspunkt der Industrialisierung musste also die Textilindustrie werden — ebenso wie in England, in Belgien oder in der Schweiz. In gewissen protoindustriellen Verdichtungszonen, wie in Vorarlberg, im Waldviertel oder im Viertel unter dem Wienerwald („Industrieviertel") in Niederösterreich war am ehesten jene mit technischen Innovationen verbundene Wachstumsbeschleunigung zu erwarten, die mit dem Einsetzen der Industriellen Revolution allgemein verbunden wird. Tatsächlich war es in diesen Regionen, besonders in Vorarlberg und im später so genannten „Industrieviertel" schon im späten 18. Jahrhundert zu einer raschen Ausbreitung von Manufakturen und „Fabriken" gekommen, wobei die 1780er Jahre einen Höhepunkt darstellten. Während in Vorarlberg zunächst das Interesse von Schweizer Unternehmern das Spinnen und Sticken in der Landbevölkerung verbreitete, war es in Niederösterreich offenkundig die Nähe von Wien, die sich überaus günstig auf die Ausbreitung von neuartigen Unternehmungen auswirkte. Hier stand auch die Antriebskraft für die ersten mit Maschinen arbeitenden Fabriken, das Wasser, in ausreichender Menge zur Verfügung. Nicht zufällig entstand in Pottendorf 1801 die erste Spinn fabrik Österreichs, der schon 1802 vier weitere in Ebreichsdorf, Bruck an der Leitha, Schwadorf und Kettenhof (alle im Viertel unter dem Wienerwald) folgten. Freilich — so bedeutende Auswirkungen diese neue Betriebsform auf die Baumwollspinnerei auch hatte, als endgültigen Durchbruch zur Industrialisierung kann man sie noch nicht betrachten. Denn mit den finanziellen Schwierigkeiten von 1810 und mit dem Ausbruch der allgemeinen Krise 1814 stockte diese Entwicklung wieder. Viele Betriebe stellten ihre Produktion ein. Erst ab etwa 1825 begann ein neuer Konjunkturaufschwung. Nun wurde erstmals in etwas breiterem Maß das Wasser als Antriebskraft durch die Dampfmaschine abgelöst — mit der Dampfmaschine aber begann jener Nachfrageschub, der nun immer weitere Bereiche erfasste und neben der Textilindustrie auch die Eisen- und Stahlindustrie sowie den Maschinenbau revolutionierte. Seit 1825 wurden Dampfmaschinen auch im Inland erzeugt, 1826 wurde die erste Dampfmaschine in Niederösterreich in Betrieb genommen, 1828 waren 15 in Betrieb. Seit 1837 übertraf die Zahl der aus dem Inland stammenden Dampfmaschinen die Zahl der (überwiegend aus England, Belgien und Preußen) importierten. 1841 waren allein in Niederösterreich 56 installiert, von denen bereits 37 aus dem Inland stammten. Die Zahl der Mechaniker und Optiker in Wien wuchs von 38 im Jahre 1828 auf 135 im Jahre 1847 — ein Indiz für die rasch wachsende Bedeutung eines typischen Wirtschaftszweiges der industriellen Revolution. 1837 wurden erst 8900 Zentner gewalzter Eisenbahnschienen im Inland erzeugt, 1843 waren es 171.000 Zentner. Neue Produkte und Verfahrensweisen treten in Erscheinung: 183 7 wurde eine Stearinfabrik in Liesing bei Wien (heute Wien XXIII.) gegründet. Jetzt setzte auch die Donaudampfschifffahrtein, der Eisenbahnbau begann, 1837 fuhr die erste Dampfeisenbahn, die ersten Walzwerke entstanden, in der Textilindustrie setzte eine neue Gründungswelle ein. Die industrielle Stoffdruckerei mit Hilfe der Perotine breitete sich aus. Das erhöhte auch die Nach-
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Vom Reformabsolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft
frage nach Farben und gab damit der chemischen Industrie wichtige Impulse. Die Staatsdruckerei, Nachfolgeeinrichtung des Trattner'schen Druckerei- und Verlagsimperiums, wurde 1841 mit neuen Maschinen ausgestattet und beschäftigte um 1850 schon 1.000 Menschen. Die Wiener GeWerbeausstellungen von 1835, 1839 und 1845 waren Ausdruck des Bestrebens, eine überaus vielfältige neue Produktpalette bekannt zu machen, darüber hinaus sind sie Indiz für das Vorhandensein eines entsprechend kaufkräftigen Publikums: Die Alltagskultur des Biedermeier war die erste industrielle Kultur Österreichs. Schon nahm die Einfuhr von Lebensmitteln aus Ungarn zu — Ausdruck wachsender überregionaler Marktverflechtung innerhalb der Habsburgermonarchie. Man wird daher nicht sehr in die Irre gehen, wenn man annimmt, dass — nach den wichtigen Ansätzen des späten 18. und der ersten Jahre des 19. Jahrhunderts — zwischen 1825 und 1835 die Industrielle Revolution in Österreich einsetzte.
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Die Bevölkerungsbewegung
Um 1 790 lebten in den habsburgischen Ländern (ohne die Vorlande, Mailand und Belgien) etwa 22 Millionen Menschen. Um 1850 waren es (ohne Lombardei und Venetien) etwa 31 Millionen. Von dieser Bevölkerungsvermehrung entfiel nur ein geringer Teil auf Cebietserwerbungen (Salzburg, Dalmatien, Venetianisch-Istrien), denen ja auch dauernde Verluste (Vorderösterreich, Belgien und Luxemburg) gegenüberstanden. (Die häufigen Gebietsveränderungen in der Kriegszeit zwischen 1797 und 1815 können hier nicht im Detail berücksichtigt werden.) Die höchsten Zuwachsraten wiesen die böhmischen Länder mit etwa 50 % auf. Ihre Einwohnerzahl wuchs von etwa 4,5 auf 6,74 Millionen. Es folgten Galizien und die Bukowina mit 47 % (von etwa 3,4 auf 5 Millionen), Niederösterreich inklusive Wien mit 45 % (von rund 1,2 auf 1,58 Millionen) und Ungarn mit 41 % (von etwa 9,3 auf 13,2 Millionen). Innerhalb der Alpenländer wuchs die Einwohnerschaft Vorarlbergs am stärksten, nämlich von 75.000 auf 104.000 — also um 39 %. Die Steiermark kam auf 28 % (von rund 800.000 auf etwas mehr als eine Million), Oberösterreich auf 15 % (von etwa 630.000 auf 716.000); Tirol wuchs von etwa 605.000 auf 763.000, also um 26 % (allerdings fast ausschließlich in seinen südlichen Landesteilen, Nordtirol allein wuchs bloß um etwa 8 %), Kärnten um 12 % (von 288.000 auf 322.000), Salzburg stagnierte bei Einwohnerzahlen um und unter 140.000, 1850 waren es 146.000. Während der napoleonischen Kriege blieb das Wachstum der Bevölkerung insgesamt gering. Nach dem Ende der Kriegszeit traten hohe Geburtenüberschüsse auf. Bis um 1830 wuchs die Bevölkerung rasch. Beschleunigt erscheint die Bevölkerungszunahme in Wien, in Vorarlberg und den niederösterreichischen Industriegebieten. Die Choleraepidemie von 1831/32 brachte einen deutlichen demographischen Einschnitt. Anschließend wuchs die Bevölke-
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Die Bevölkerungsbewegung
Tabelle 7: Bevölkerung der Monarchie 1789 und 1850 (Angabe in 1000) Land Niederösterreich
1789
1850
1.268
1.581
Land C ö r z und Gradiska
Oberösterreich
630
716
Steiermark
800
1.025
Kärnten
288
322
Dalmatien
Tirol
630
867*
Galizien
Vorarlberg
75
Salzburg Vorlande
146
Böhmen
2.922
Mähren
1.262
Schlesien
270
Krain
440
6.741*
22
Istrien
30
1.449*
3.268
5.003*
120
Ungarn
6.974
Siebenbürgen
1.490
Kroatien-Slawonien (inkl. Militärgrenze)
1850
120
Triest
Bukowina
460
1789
13.192*
876
Venetien
2.280
Lombardei
2.744
Gesamt
21.764
36.069
* Tirol u. Vorarlberg; Böhmen, Mähren u. Schlesien; Krain, Cörz und Gradiska, Triest, Istrien u. Dalmatien; Calizien u. Bukowina; Ungarn, Siebenbürgen u. KroatienSlawonien. Die Zahlen für 1789 ohne Belgien und Luxemburg („Österreichische Niederlande") und Mailand; Salzburg fiel erst 1805 (bis 1809) bzw. 1816 an Österreich, dafür gingen die Vorlande 1805 verloren. Die erhöhten Zahlen für Tirol wohl auch wegen der erst 1803 erfolgten gänzlichen Einverleibung der bis dahin relativ selbständigen Fürstbistümer Trient und Brixen. Dalmatien und der venetianische Teil von Istrien fielen 1797 (bis 1805) bzw. 1815 an Österreich, zuletzt inkl. Dubrovnik/Ragusa. rung wieder. Diese Dynamik brach aber 1847 (Missernten, Revolution, Kriege) ab. Insgesamt fällt auf, dass mit Ausnahme Wiens und der ländlichen Industriegebiete die Bevölkerung der österreichischen Länder wesentlich weniger stark z u n a h m als jene der nördlichen und östlichen Länder des habsburgischen Herrschaftsgebietes. Das m o c h t e z u m Teil auf theresianisch-josephinische Kolonisation zurückgehen, z u m Teil auf die beschleunigte industrielle Entwicklung (wie in den böhmischen Ländern). Wahrscheinlich wirkte sich auch ein unterschiedliches Heiratsverhalten aus: In den Alpengegenden w a r e n ein spätes Heiratsalter und relativ niedrige Kinderzahlen üblich, in den östlichen Gebieten (Galizien, Bukowina, Teile Ungarns) dagegen niederes Heiratsalter und höhere Kinderzahlen. Dazu kam die Freiteilbarkeit der Güter im Osten, der gegenüber das Anerbenrecht im Westen (mit wenigen Ausnahmen, w i e in Vorarlberg oder im westlichen Tirol) die Entstehung neuer Haushalte behinderte. W i r müssen ferner annehmen, dass der Übergang v o n der „Proto"-lndustrie (also v o n der Manufakturperiode) zur Industrialisierung einen Rückgang v o n nichtlandwirtschaftlichen Erwerbsmöglichkeiten auf d e m Lande nach sich zog.
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Vom Reformabsolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft
Die ländliche Bevölkerung
Der Anteil der Agrarbevölkerung an der Gesamtpopulation betrug um 1850 im Gebiete des späteren „Zisleithanien" (also die böhmisch-österreichischen Länder samt Galizien/Bukowina und Dalmatien) etwa 72 %. In Ungarn lag dieser Anteil deutlich höher. Das „Kaisertum Österreich" war also noch immer ganz überwiegend ein Agrarstaat. Es wäre aber verfehlt, wollte man daraus den Schluss allgemein mangelnder gesellschaftlicher Dynamik und vorherrschender Statik ziehen. In Wirklichkeit veränderten sich vom 18. zum 19. )ahrhundert sowohl der Anteil der landwirtschaftlichen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung als auch ihre gesellschaftlichen Verhältnisse. Tabelle 8: Anteil der landwirtschaftlichen 1762 17661769
Bevölkerung
1762 bis 1850, Angabe in %
1850
1762 17661769 89,5
1850
Niederösterreich
69,5
74,0
53,0 Schlesien
Oberösterreich
85,4
80,6
60,9 Galizien
Steiermark
74,6
76,3
75,4 Krain
92,5
92,5
90,9
Kärnten
68,9
70,1
67,9 Küstenland
92,0
91,5
66,9
Salzburg
71,1
Tirol/Vorarlberg
90,3
90,8
Bukowina
78,4 Dalmatien
Böhmen
88,0
88,0
58,4
Mähren
86,6
85,3
56,5 Durchschnitt
56,7 88,8
85,3 71,7
So sank in Niederösterreich (mit Wien) der Anteil der landwirtschaftlichen Bevölkerung von 74 % (um 1770) auf 53 % (1850). In Oberösterreich verminderte sich dieser Anteil im selben Zeitraum von 81 % auf 61 %, in der Steiermark freilich nur von 76 % auf 75 % und in Kärnten bloß von 70 auf 68 %. Wählt man die Zahlen für Böhmen (88 % auf 58 %), Mähren (85 % auf 57 %) oder Österreichisch-Schlesien (90 % auf 57 % ) zum Vergleich, dann wiederholen sich hier zum Teil jene Unterschiede, die schon im Bereich des Bevölkerungswachstums festgestellt werden konnten. Dieses ging also zu sehr beträchtlichen Teilen auf das Konto der nichtlandwirtschaftlichen Bevölkerung. Daneben lassen sich Länder (wie Steiermark und Kärnten) herausheben, die, was den Anteil an nichtlandwirtschaftlicher Bevölkerung anlangt, im 18. Jahrhundert an der Spitze lagen, diese Vorrangstellung aber nicht halten konnten und in der Zeit zwischen 1 770 und 1850 offenbar nur geringe weitere Modernisierungsimpulse empfingen. Hier wird ein Prozess deutlicher sichtbar, der ab etwa 1800 einsetzte und die nichtlandwirtschaftlichen Erwerbsmöglichkeiten zu vermindern begann, ein Agrarisierungsprozess, als dessen Folge der auf landwirtschaftliche Tätigkeiten reduzierte „Landwirt" als eigentlich neuer Sozialtyp auftritt. Bevor wir uns diesen Veränderungen zuwenden, muss das Gebiet der
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Die ländliche Bevölkerung
Rechtsverhältnisse zwischen Bauern, Grundherren und Staat und deren Wandel kurz gestreift werden. Graphik 6: Rückgang der Agrarbevölkerung
1300
3.1
1400
1500
1600
1700
1800
1900
1960
Die Reformen und die Aushöhlung des Feudalsystems
Der gerade im Entstehen begriffene Staat musste um 1750 darauf bedacht sein, die Hilfsmittel der ländlichen Untertanenmassen für Staatskassen und Militär verstärkt heranziehen zu können. Die „Kontributionsfähigkeit" (also steuerliche Belastbarkeit) der Untertanen spielte daher bei den Überlegungen für die diversen Reformen immer eine zentrale Rolle. Notwendig musste man dabei mit den Interessen der adeligen und geistlichen Grundherren zusammenstoßen. Dass diese bei der Entstehung des höfischen Absolutismus wesentlich weniger an gesellschaftlichem Gewicht eingebüßt hatten als etwa in Frankreich, wurde schon erwähnt (s. o. S. 154). Man kann sogar sagen, dass durch Besitzkonzentrationen besonders im 1 7. Jahrhundert der habsburgische Reichsadel ökonomisch stärker war als der früher bloß im Rahmen der einzelnen Länder aktive Landesadel. Andererseits verminderte die Huldigung der oberösterreichischen und böhmischen Herren für Karl Albert von Bayern 1741 die möglichen Bedenken Maria Theresias gegen Eingriffe in die Adelsmacht (die sie gegen die loyalen Ungarn auch stets so weit als möglich vermied!). Durch solche Akte der Untreue war ja auch der Herrscher nicht mehr an ältere Privilegien gebunden. Darüber hinaus signalisierten Aufstände eine breite ländliche Unzufriedenheit. Bauern- und Grenzerunruhen in Kroatien 1755 und ein weitläufiger Robot-Aufstand in Böhmen 1775 wirkten als auslösende Elemente für die Einsetzung von Untersuchungskommissionen und anschließend auch für Verände-
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Vom Reformabsolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft
rungen. Doch waren diese großen Aufstandsbewegungen nur die auffälligsten Widerstandsformen. Größere oder kleinere Robotstreiks und Abgabenverweigerungen gab es praktisch in allen Ländern und mehr oder weniger durchgehend bis 1848. Nur in der josephinischen Zeit ging ihre Zahl zurück. Über die Nachhaltigkeit der Steuer- und Rekrutierungsfähigkeit hinaus begann man sich aber in der theresianischen Zeit auch für die produktive Tätigkeit der bäuerliche Bevölkerung zu interessieren. Eine Hungersnot von 1 770/ 72 zeigte, wie schwach die Versorgungsbasis war. Immer bedeutsamer wurde die ländliche Bevölkerung auch als Konsument. Die Waren der erheblich vermehrten Fabriken und Manufakturen mussten abgesetzt werden. Da bot sich die Landbevölkerung in erster Linie an. Eine solche Erweiterung des „inneren Marktes" bedeutete aber, dass die Bauern, um etwas kaufen zu können, auch verkaufen mussten. Ihre Markteinbindung konnte also nicht nur durch eine Verringerung der grundherrlichen Verpflichtungen, sondern auch durch eine Vermehrung der Anreize erfolgen, für die es sich allenfalls lohnte, mehr zu arbeiten, zu erzeugen und auf den Markt zu bringen. Den unterschiedlichen Zielen dieser Politik entsprachen verschiedene Wege, die manchmal auch gegensätzlich wirkten. So trat man einerseits gegen Grundzerstückelungen und Teilungen auf, um die Bauernwirtschaften in ihrer Existenz zu sichern, weshalb man 1 753 solche Vorgänge unter Aufsicht der Kreisämter stellte. Fast gleichzeitig sprach man sich aber für die Zuteilung von Gründen an Neuvermählte aus, was ganz der merkantilistischen Tradition der Populationistik und der Vermehrung von Arbeitskräften für die Manufakturen entsprach (1753). 1769 ergriffen die staatlichen Stellen die Initiative zur Zerstückelung großer Bauerngüter, doch bald (1771 ) stellte man fest, dass — durch die Vermehrung der kleinen Hausstellen — die Zahl der vom Kriegsdienst befreiten bäuerlichen Hausväter zu sehr gestiegen sei! Auch wenn man diese Schwankungen in Betracht zieht, bleibt doch eine durchgehende Linie der Maßnahmen festzustellen, die in erster Linie die Steuer- und Rekrutierungsfähigkeit der Bauerngüter sichern wollte, in zweiter an vermehrter Produktion und in dritter an erhöhter Konsumkraft der Bauern interessiert war. Ferner sollte ein höheres Maß an Mobilität ermöglicht werden, um den nichtlandwirtschaftlichen Arbeitsmarkt zu bereichern und innerhalb der Landwirtschaft ein bäuerliches Interesse an besseren und ertragreicheren Wirtschaften zu wecken. Zu den als Ersten genannten Zielvorstellungen gehört jenes ganz große Bündel von Gesetzen, das die Besteuerung, die persönliche Rechtsstellung und die Besitzrechte der Bauern regelte, ebenso aber auch die Belastungen — denn nur deren Begrenzung und Kontrolle vermochte die Nachhaltigkeit der Steuerkraft für den Staat zu sichern. Dabei zeigt es sich, dass die weitestreichende Auswirkung eigentlich schon die Anordnungen Maria Theresias ab 1 749 hatten, die auf die neuerliche Aufzeichnung der bäuerlichen Besitzungen und Abgaben, daneben aber auch der herrschaftlichen Besitzungen hinausliefen. Dieses maria-theresianische Urbar (wie man es in Ungarn nennt) bzw. die maria-
Die ländliche Bevölkerung
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theresianischen Fassionen legten nämlich überall, nicht bloß in den „deutschen" Erblanden, das Bauernland und Maximalabgaben fest und dienten so als wichtigste Quelle bei Auseinandersetzungen bis 1848 und nachher noch bei der Festsetzung der Ablösezahlungen. Dagegen mussten die mit ungeheurem Elan von Joseph II. begonnenen Anstrengungen einer großen Steuer- und Urbarialreform letztlich scheitern. Obzwar der Versuch, alle Grundstücke des ganzen Reiches (nach Gemeinden und nicht mehr nach Grundherrschaften) zu vermessen und die Steuer ausschließlich nach den berechneten Durchschnittserträgen anzuschlagen, in den „josephmischen Lagebüchern" oder „Fassionen" für weite Gebiete durchgeführt werden konnte, setzte bei der 1789 verordneten Durchführung der Reform ein massiver Widerstand der Grundherren ein, dem Joseph nicht mehr gewachsen war und dem Leopold II. (1790 - 1792) schließlich das ganze Werk der Steuer- und Urbarialreform opferte. Natürlich war jener Widerstand, vom Standpunkt der Grundherren aus betrachtet, berechtigt. Denn der Grundherr wäre, nach dem Gesetz von 1789, zum Bezieher einer fixen Rente geworden, ohne Möglichkeit einer Erhöhung seiner Rendite, die maximal etwa 17 % des bäuerlichen Bruttoertrages hätte ausmachen dürfen, während dem Staat maximal etwa 13 % zufallen sollten; etwa 70 % des Bruttoertrages sollten dem Bauern für Selbstversorgung, Aussaat und Investitionen verbleiben. Es blieb also bei den theresianischen Regelungen. Erst nach den napoleonischen Kriegen schritt man neuerdings an eine umfassende Vermessung, die zum „franziszeischen Kataster" führten. Sie wurden von Fachleuten vorgenommen und in umfänglichen Kartenwerken und Operaten festgehalten, um fortan als Grundlage der Besteuerung von Grund und Boden zu dienen. Doch verzögerte sich auf Grund der jetzt wesentlich professionelleren Durchführung durch Offiziere die Fertigstellung erheblich, so dass dieser Kataster erst sehr spät für steuerliche Zwecke herangezogen werden konnte. Ebenfalls zur Sicherung der bäuerlichen Position diente das vielberufene Leibeigenschaftsaufhebungspatent für Böhmen (1781), dem analoge Gesetze für die meisten anderen Länder folgten. Darin wurden sie für freizügig erklärt, ferner wurde ihnen freie Verehelichung gegen vorhergehende Anzeige und freie Berufswahl zugesichert. Allerdings existierten solche Formen persönlicher Abhängigkeit, wie sie Joseph II. in Böhmen festgestellt hatte, in den Alpenländern kaum (oder gar nicht), so dass diesen Gesetzen eher deklaratorischer Wert zukam. Man sollte sie also nicht überschätzen, sie setzten aber auf dem Weg zur staatsbürgerlichen Gesellschaft ein wichtiges Signal für die bäuerliche Bevölkerung. Der Sicherung der bäuerlichen Hauswirte vor ungerechtfertigter Abstiftung bzw. der Sicherung des bäuerlichen Besitzes für die Erben des Bauern dienten jene Gesetze, die eine Verbesserung der Besitzrechte zum Inhalt hatten. Als Zielvorstellung dienten die vorab in Ober- und Niederösterreich dominierenden Erb- und Kaufrechte. Die besonders in den innerösterreichischen Gebieten herrschenden Freistifte (Kärnten) bzw. Miethuben (Steiermark, Krain) sollten
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Vom Reformabsolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft
diesem Modell angeglichen werden. Bestrebungen in dieser Richtung setzten 1 769 für die böhmischen Länder und für Krain ein, dauerten aber mit mehr oder weniger Erfolg bis in die 1780er Jahre. Die Grundherren waren mit diesen Umwandlungen zufrieden, wenn sie ihnen einen zusätzlichen Kaufschilling einbrachten; die Bauern weniger, weil sie in der Regel auch bei formell schlechterem Besitzrecht über Haus und Grund hatten verfügen können. Vom Herrscher direkt vorgeschrieben wurde die Verkaufrechtung für die Kärntner Freistifte 1772. Schwierig war die Regelung der Erbfolge im bäuerlichen Bereich: Die Regulierung der Intestaterbfolge durch Joseph II. 1786 hätte eine völlige Gleichberechtigung der Erben gebracht, was fast notwendig zu Teilungen hätte führen müssen. Dies aber wollte man aus dem schon oft genannten Grund der Nachhaltigkeit der Steuerleistung und Rekrutenstellung nicht, so dass 1787 die bäuerliche Erbfolge mehr im Sinne des Anerbenrechtes neuerdings geregelt wurde. Im Mittelpunkt der Diskussion und wohl auch des Interesses stand aber die Robotfrage. Die Arbeitsrente des Bauern war zwar für den Staat weniger interessant als für den Grundherrn, wurde aber für militärische Zwecke (Vorspanndienste) und für öffentliche Arbeiten (Straßenbau) ebenfalls herangezogen. Die Verfügung des Bauern über seine eigene und die Arbeitskraft seiner Kinder und Dienstboten musste aber nicht nur für die Steuerfähigkeit, sondern auch für die Produzentenrolle des Bauern entscheidende Bedeutung erlangen. Nach Bauernaufständen im österreichisch verbliebenen Teile Schlesiens 1 766 bis 1767 schritt man hier erstmals an eine Regelung, ohne wirklich etwas zu verändern. Die erste genaue Robot-Maximierung erfolgte 1772 für Niederösterreich ( 104 Tage im Jahr). Daran orientierte man sich in den Alpenländern, wenngleich für Steiermark und Krain (156 bzw. 208 Tage) höhere Maximalroboten festgelegt wurden. Für Böhmen erschienen nach dem großen Bauernaufstand von 1775 neue Robotverordnungen, für Galizien 1782 bzw. 1786. Begrenzten die Robotverordnungen die Arbeitsrente, so gingen die Ansätze zur Robotabolition bzw. -reluition in die Richtung der gänzlichen Aufhebung der Arbeitsrente. „Abolition" hätte eigentlich das Ende der Robot durch Bezahlung des (theoretischen) Kapitals (also eines höheren Betrags), „Reluition" die Umwandlung in eine jährliche Geldrente bedeutet. In der Praxis erschienen diese begrifflichen Unterschiede aber häufig verwischt. Die Umwandlung der Robotleistung in eine Geldzahlung hängt engstens zusammen mit der Intention, Meierhöfe in mehrere Bauernhöfe zu zerlegen, die ihrerseits wieder bruchlos ins Konzept der Vermehrung der Bauernschaft passt. Man begann damit 1775 in Böhmen auf Staatsgütern (Raab'sches System, nach dem Hofrat Franz von Raab). Der Grundherr sollte entweder — durch die Auflösung der Meierhöfe— keiner Arbeitskräfte mehr bedürfen oder aber jedenfalls keine Robot-, also Zwangsarbeit, verwenden, sondern Lohnarbeit. Alle wichtigen Theoretiker und Volkserzieher der Zeit wetterten gegen die zur Faulheit erziehende Robot, die der Zielsetzung erhöhten Fleißes massiv entgegenstand. Unter Joseph II. wurden die Abolitions- bzw. Reluitionsverfahren erleichtert. Die Bestä-
Die ländliche Bevölkerung
207
tigung von Ablösen auf lange Sicht wurde jedoch den Landesstellen vorbehalten, um Benachteiligungen der Bauern zu verhindern. Zahlreiche Kontrakte für Staats- bzw. Fondsgüter unterzeichnete der Kaiser selbst. Durch die Steuerund Urbarialregulierung trat die Robot-Umwandlung in den Hintergrund, ohne aber gänzlich aufzuhören. Die Möglichkeit zur einverständlichen freiwilligen Robotablösung wurde etwa in dem so genannten „Robot-Provisorium" für Niederösterreich (1796) nochmals unmissverständlich festgehalten. Tatsächlich müssen diese Ablösen schon vor 1848 in einem ziemlich erheblichen Ausmaß durchgeführt worden sein. Zum Gesamtkomplex der Sicherung der bäuerlichen Stellung gegenüber dem Grundherren gehören auch jene Bestimmungen, welche die Beschwerdemöglichkeiten und Strafen der Untertanen regelten (1781), ferner jene Vorschriften, nach denen die Grundherren verhalten wurden, für den Bereich der Rechtsprechung einen staatlich geprüften Justizbeamten anzustellen. Darin drückt sich der Staatseingriff in die ursprünglich autonome Sphäre grundherrlicher Rechtsprechung deutlich aus, ebenso wie die Auffassung, nach der es sich bei den Gerichtsrechten um vom Staate übertragene handle. Tatsächlich gaben in der Folge zahlreiche Grundobrigkeiten ihre Gerichtsbarkeit, die infolge der Begrenzung der Möglichkeit, Geldstrafen einzuheben, zu einer Belastung geworden waren, ab. In den von 1809 bis 1814 französischen Gebieten der „Illyrischen Provinzen" (im heutigen Österreich Osttirol und Oberkärnten), wo die Patrimonialgerichtsbarkeit abgeschafft worden war, führte man sie nach ihrer Rückkehr unter Habsburg nicht mehr ein. Schon am Beginn des ganzen Reformwerkes wurde in Niederösterreich eine bemerkenswerte Aktion eingeleitet, die, mitten in der Hochblüte des Absolutismus, nicht nur einen Vorstoß in Richtung intensivierter Staatsuntertänigkeit, sondern auch schon in Richtung von Gemeindeautonomie bedeutete. Es wurde nämlich 1 749 bestimmt, dass sich einzelne Untertanen, aber auch ganze Herrschaften, Märkte und Dörfer von der Untertänigkeit freikaufen konnten. Sie kamen damit von der Stadt-, Markt- oder Dorfobrigkeit los und sollten nur mehr unter der Aufsicht der niederösterreichischen Kammer stehen. Von dieser Möglichkeit haben zahlreiche Märkte und Dörfer wie zum Beispiel Stockerau, Pulkau, Röschitz, Hohenruppersdorf, Gars, Aspang am Wechsel, Himberg, Dietmannsdorf, Stiefern usw. Gebrauch gemacht. Damit gab es in Niederösterreich jetzt „freie" Gemeinden neben den „mitleidenden" Städten und Märkten (dem „vierten Stand" der Landstände) und den nach wie vor untertänigen Gemeinden—ein bemerkenswerter Vorgriff auf spätere Entfeudalisierungsvorgänge und zugleich wohl auch ein Hinweis darauf, dass insbesondere die jurisdiktioneile Obrigkeit als finanziell unergiebig auch von den Grundherren immer weniger geschätzt wurde. Wenden wir uns nun der zweiten Zielsetzung zu, jener vermehrter Produktion und erhöhter Marktleistung, so wurden erste zaghafte Ansätze für eine Erleichterung der Zugangsmöglichkeit zum Markt für die Bauern um 1750 sichtbar. 1751 wurde der freie Verkauf eigener Produkte den Bauern garantiert,
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Vom Reformabsolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft
ohne dass damit grundherrliche Vorkaufsrechte (der „Anfeilzwang") abgeschafft worden wären. Das passierte dann ausdrücklich für Niederösterreich 1 768. 1 770 wurden diese Regelungen erweitert und verallgemeinert: Es wurde nun verboten, den Untertanen den freien Verkauf ihrer Produkte zu hemmen, ihnen ein Anfeilgeld abzufordern oder sie zum Ankauf herrschaftlicher Waren und zur Abhaltung ihrer Zehrungen in herrschaftlichen Schankhäusern („Tavernenzwang") zu zwingen. Auch andere Bannrechte, wie der Mühlenzwang, wurden abgeschafft. Diese Regelungen wurden unter Joseph II. mehrmals wiederholt. Damit allein war freilich eine höhere Marktleistung der Bauern noch nicht automatisch zu erwarten. Einführung des Kleebaues auf der Brache, Sommerstallfütterung, Kartoffelanbau — alle diese ertragssteigernden Neuerungen wurden seitens der Regierung wiederholt angepriesen. Seit 1 764 gründete man für die einzelnen habsburgischen Länder sogar je eigene Gesellschaften, so genannte „Agrikultursozietäten", welche diese neuen Methoden, Früchte und Techniken verbreiten sollten. Doch wie die Hungersnot von 1770/72 zeigte, waren die landwirtschaftlichen Fortschritte noch durchaus ungenügend. Da man der Meinung war, nur mittlere Bauerngüter würden den Anforderungen von Steuer- und Rekrutierungsfähigkeit ebenso wie jenen erhöhter Produktion entsprechen, kam es auf eine Vermehrung eben dieser Betriebstypen an. Man versprach sich von der Zerschlagung von Meierhöfen einiges. Tatsächlich wurden dadurch Bauernstellen geschaffen und Bauernbesitzungen vergrößert, doch nicht in entscheidendem Umfange — so wurden zum Beispiel aus vier Meierhöfen des Stiftes Geras 14 Bauernstellen gebildet, also im Schnitt 3,5 pro Meierhof. Man schritt auch an größere Meliorationsprojekte, wie die Regulierung und Urbarmachung des oberen Inn- und Etschtales, an die Entwässerung und Besiedelung des Laibacher Moores usw. Freilich zogen sich diese Projekte dann bis tief ins 19. Jahrhundert hin. 1768 nahm man systematisch die Aufteilung von Gemeindegründen in Angriff, die den Landwirtschaftsfachleuten ein besonderer Dorn im Auge waren — besonders die Gemeindeweiden, meist schlechte Böden mit geringem Ertrag, auf denen sich das Vieh mehr schlecht als recht durchbrachte und wo obendrein noch der wertvolle Dünger verloren ging. Wirksamer war die Zehentfreiheit für neue Produkte, die etwa für Klee oder Erdäpfel zumindest für eine Reihe von Jahren zugesichert wurde. Um die Bauern einesteils mobiler zu machen, sie andererseits auch als Konsumenten anzureizen, wurden sie, worauf schon hingewiesen wurde, mit dem Leibeigenschaftsaufhebungspatent von 1 781 und den analogen Regelungen für freizügig erklärt. Allerdings erklärten die Stände einiger Länder, etwa die der Steiermark und Krains, dass Beschränkungen der damit aufgehobenen Art in ihren Ländern auch früher nicht existiert hätten. Bei Kauf- und Erbrechten war ja schon früher Freizügigkeit rechtlich vorhanden gewesen. Heiratsmöglichkeiten wurden schon unter Maria Theresia erweitert: 1753 legte man den Grundherrschaften nahe, Ehekonsense großzügig auszustellen. 1765 wurde zumindest in der Steiermark und in Krain der Ehekonsens völlig aufgehoben.
Die ländliche Bevölkerung
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Eingeschränkt war die Freizügigkeit vor allem in Hinblick auf das Rekrutierungssystem; die Wehrpflichtigen durften ohne Pass ihrer Obrigkeit ihre engere Umgebung nicht verlassen: An die Stelle der Grundherrschaft trat eben immer mehr der Staat als freiheitsbegrenzende Instanz. Der Bauer sollte aber auch durch Konsumanreize zu mehr Gelderwerb, mehr Marktproduktion und Intensivierung seiner Wirtschaft angeregt werden. Tabak, Zucker, Kaffee, Kleidung, Seidentüchlein, Uhren, Hausrat verschiedener Art waren diese neuen Produkte, die den Konsumenten auf jede Weise bekannt gemacht werden sollten. Um sie auch in entlegeneren Gegenden an die Verbraucher heranzubringen, wurden ältere Hausierverbote fallen gelassen. Alle diese rechtlichen Änderungen trugen zweifellos dazu bei, das System der feudalen Grundherrschaft, wie es sich in der vorausgegangenen Periode noch einmal stabilisiert hatte, weitgehend auszuhöhlen. Gesellschaftlicher Wandel wurde aber in ebenso starkem Maße durch Veränderungen der Wirtschaftsweise bedingt.
3.2
Agrarrevolution, Industrielle Revolution und die Agrarisierung der „Industriebauern"
Bis weit ins 19. Jahrhundert basierten die Wandlungen der Anbaumethoden und die Erhöhung der landwirtschaftlichen Erträge vor allem auf einer Steigerung des Arbeitseinsatzes. Schon die Einbeziehung des Brachfeldes der traditionellen Dreifelderwirtschaft in die regelmäßige Bestellung erhöhte die Ernteund Drescharbeiten um ein Drittel. Der Kleebau war aufs Engste mit der Einführung der Sommerstallfütterung verbunden. Wenn man zusätzliche und arbeitsintensive Pflanzen wie Kartoffel oder Futterrüben einführte, stieg der Arbeitsaufwand pro Hektar um drei bis fünf Arbeitstage pro Jahr, und dies nur in Bezug auf die Pflanz- und Hackarbeit, die vorwiegend von Frauen geleistet wurde. Der landwirtschaftliche Arbeitskräftebedarf stieg daher im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert beträchtlich. Klagen über zunehmenden Mangel an Arbeitskräften waren praktisch in allen österreichischen Ländern zu hören. Spinnen und Stricken für diverse Manufakturen war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch für Bauernburschen und Knechte zu einer durchaus möglichen — und nicht ungern gewählten — Alternative zum Dienst beim Bauern geworden. Noch um 1825 wird berichtet, dass die Bauern sehr hohe Löhne zahlten und verstärkt dazu übergingen, an Stelle der schwer erhältlichen Taglöhner Dauerarbeitskräfte, also Dienstboten, einzustellen. Das hängt auch mit der neuartigen Sommerstallfütterung zusammen, durch welche die Stallarbeiten über das ganze Jahr verlängert wurden und nun regelmäßig anfielen. Auch der Hackfrucht- und Kleebau vermehrte die Zahl der notwendigen Arbeitstage. Dafür konnte man tatsächlich eher Dauerarbeitskräfte brauchen, während es bei vorwiegendem oder ausschließlichem Getreidebau sinnvoll erschien, Taglöhner bloß für die Arbeitsspitzen aufzunehmen.
210
Vom Reformabsolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft
Tatsächlich standen im Vormärz Gesindearbeitskräfte vermehrt zur Verfügung. Das war zum einen eine Folge der Industriellen Revolution. Im 18. Jahrhundert hatte sich die Zahl der für Manufakturen arbeitenden verlegten Angehörigen der ländlichen Unterschichten überaus stark erhöht. Mit der Jahrhundertwende begann die gegenläufige Tendenz: 1801 nahm die erste große Baumwollspinnerei mit Spinnmaschinen ihre Tätigkeit auf, innerhalb weniger Jahre folgten mehrere andere. Das war der Beginn einer wachsenden Zentralisierung der Produktion in neuartigen Fabriken mit vermehrtem Maschineneinsatz. Als Folge des Rückganges der verlegten Arbeit (insbesondere im Bereich des Spinnens) gingen die gewerblichen Arbeitsmöglichkeiten für die ländlichen Unterschichten zurück. Damit begann eine Tendenz, die durch das ganze 19. Jahrhundert anhalten sollte. Auch die Bevölkerungspolitik änderte sich: War man ab etwa 1 750 sehr großzügig mit Ehekonsensen umgegangen, so sollten sie ab etwa 1810 wieder nur erteilt werden, wenn der Lebensunterhalt der Heiratswilligen gesichert schien. Hausrechtlich abhängige Dienstboten konnten sich nicht mehr so leicht verselbständigen wie in der vorausgegangenen Periode intensiver Bevölkerungspolitik. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts erscheint im Rückblick als die große Zeit der bäuerlichen Dienstbotenhaltung. Insgesamt stieg die Zahl der erwachsenen Personen pro Haushalt gerade bei größeren Besitzungen. In der oberösterreichischen Pfarre Raab lebten in einem Bauernhaus mit mehr als 40 Joch (= 22,4 ha) im Jahre 1816 im Durchschnitt 8,45 Personen über 14 Jahre, 1834 waren es fast 9; ein Besitz von 30 bis 39 Joch erforderte 1816 einen durchschnittlichen Besatz von 6,7 Personen, 1834 waren es fast 7. Dagegen sanken die Zahlen der Erwachsenen pro Haushalt in Kleinhäuslerhaushalten, und zwar von durchschnittlich 3,5 auf 3. Das unterstreicht die Bedeutung der — nun langsam schrumpfenden — gewerblichen Zuerwerbsmöglichkeiten für die ländlichen Unterschichten: Trotz Kartoffelanbaus auch in entlegeneren Gegenden war es offenbar nicht möglich, eine ganze Familie ohne zusätzliche nichtlandwirtschaftliche Arbeit durchzubringen. Da nahm man denn lieber Dienstbotenstatus an.
Tabelle 9: Durchschnittliche und Besitzgröße
Zahl von Personen über in der Pfarre Raab
14 jähren
pro
Hausgemeinschaft
Bauern mit Grundbesitz von
1816
1834
1860
über 40 Joch
8,45
8,91
10,39
30 - 39 Joch
6,72
6,96
7,69
20 - 29 Joch
6,53
6,63
7,04
10 - 19 Joch
6,35
5,57
4,97
unter 10 Joch
4,29
3,95
4,14
Häusler
3,48
3,00
2,39
211
Die ländliche Bevölkerung
Nicht nur Unterschichtenmitglieder gingen als Knechte und Mägde in Bauernhäuser, auch die Bauern selbst behielten offenbar ihre Kinder länger im Haus. Das äußert sich in einem Ansteigen des Durchschnittsalters aller Beteiligten. W a r der durchschnittliche Hausherr in Andrichsfurt (Oberösterreich) 1813 etwa 44 Jahre alt, die Hausfrau 42, die Söhne ebenso wie die Töchter zehn, die Knechte etwas über 28 und die Mägde etwas über 29, so war der Hausherr von 1842 fast 51 Jahre alt, die Hausfrau 47, die Söhne fast 16, die Töchter 14, die Knechte fast 31 und die Mägde beinahe 30 Jahre alt. Tabelle
10: Anteil von Hausherren gemeinden
Maria
in
und Hausfrauen
Nieder- und
Gleink
in
Andrichsfurt
in
Langegg
%
1788
34,00
1798
35,00
1799
30,00
1808
34,00
1807
30,70
1818
33,00
1818
26,60
1813
30,30
1828
30,00
1828
25,70
1823
27,40
1840
30,00
1840
26,20
1833
26,40
1848
24,00
1842
23,10
1856
30,00
1856
28,20
1853
23,00
1863
22,70
1875
31,00
%
an der Bevölkerung
ländlicher
Pfarr-
Oberösterreichs
%
in
St. Margarethen
%
1810
35,60
a.d. Sierning
Burg-
in
schlei-
%
1802
40,90
1822
37,80
1839
34,30
nitz
1831
32,10
1851
29,50
Das längere Verweilen der Kinder und Dienstboten im Hause — als Ausdruck der stark verminderten Heiratschancen — veränderte die Situation im Bauernhaus. Jener bäuerliche Patriarchalismus, der uns in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im politischen Verhalten und in der Literatur (etwa bei Ludwig Anzengruber) begegnet, muss durch diese Veränderungen erheblich gekräftigt worden sein, um schließlich durch die Grundentlastung nach 1848 eine neuerliche Bestärkung zu erfahren. Der vielfältig tätige Bauer, Kleinhäusler und Inmann, tätig nicht bloß in der agrarischen Produktion, sondern auch im Verkehrswesen, in der Holzwirtschaft und Köhlerei, in der Textilproduktion (und das alles nicht nur für den Eigenbedarf!), wird also in einem lang andauernden Spezialisierungsprozess, dessen erster Schritt die Intensivierung der Landarbeit durch die Agrarrevolution war, zum spezialisierten Landwirt. Insgesamt aber bedeutete das eine erhebliche ökonomische (und gesellschaftliche) Ausdünnung, ja Verarmung des „Landes", das nun begann, seine Rolle gegenüber der „Stadt" und den neuen Industriezonen einzubüßen.
212
Vom Reformabsolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft
Dieser Agrarisierungsvorgang war ein Prozess von etwa 80 bis 100 Jahren Dauer. Sein Beginn ist genauer zu datieren als sein Ende: nämlich mit der Einführung von Spinnmaschinen, vorerst in der Baumwollindustrie, ab 1801. Allein für diese Industrie spannen um 1800 in Niederösterreich etwa 100.000 Menschen (meist Frauen und Kinder) in Heimarbeit. Bis um 1810 verloren die meisten von ihnen diese Erwerbsmöglichkeit, nur mehr 10.000 Menschen verspannen damals Baumwolle. Länger dauerte die Einführung des Maschinspinnens bei Schafwolle und Flachs. Aber auch hier drang bis zum Ende des Vormärz die Maschine vor. So berichtete der Pfarrer von Friedersbach im Waldviertel 1846 über seine Pfarre: „Der Flachs gedeiht gewöhnlich in der hiesigen Gegend ziemlich gut und öffnete eine lange Zeit hindurch den Wirtschaftsbesitzern eine ziemlich reiche Quelle ihrer Einkünfte, indem sie denselben in den Wintermonaten durch Spinnen und Weben in ihren Häusern verarbeiteten und die erübrigte Leinwand um annehmbare Preise verkauften, den Leinsamen aber zur Erzeugung des Öles und Leinkuchens, zur Fütterung des Viehes verwendeten und verkauften. Allein seit geraumer Zeit ist durch die eingeführten Spinnmaschinen auch diese Ertragsquelle mächtig gehemmt [...]". Das ist genau die Situation, von der nicht nur die durch Gerhart Hauptmanns Drama zur Berühmtheit gelangten schlesischen Weber getroffen wurden, sondern auch (zur selben Zeit) die Flachsspinner und Weber des Erzgebirges und anderer böhmischer und mährischer Grenzregionen, des Mühlviertels usw. In den Jahren um 1844 gab es daher zahlreiche Unruhen und Aufstände, getragen freilich nicht primär von den ländlichen Webern, sondern von Arbeitern (Gesellen), die durch neue Maschinen ihre Arbeit verloren. Viel länger als in der Textilproduktion blieb die ländliche Arbeitswelt in den Bereichen der Holzfällung und -bringung, der Flößerei und Köhlerei und des Verkehrswesens gewerblich durchdrungen. Die neuen Verkehrsverbindungen (Kommerzialstraßen) mussten nicht unbedingt eine Einbuße für die bäuerlichen Transportunternehmer bedeuten, die etwa den Verkehr von und nach Triest (über den Karst bis Ljubljana/Laibach, ja sogar bis Graz) noch im Vormärz bewältigten. Allerdings verloren dadurch ältere Saumrouten und zahlreiche Säumer ihr Brot, worüber man sich in Kärnten schon 1732 beklagt hatte. Als schließlich die Eisenbahnen gebaut wurden, bedeutete auch dies zunächst eine verstärkte Nachfrage nach Fuhrwerk, zuerst beim Bau und später für Zubringerdienste. Erst die Verdichtung des Lokalbahnnetzes ab etwa 1870 brachte weitere Einbußen für das ländliche Fuhrgewerbe. Verschiedene bäuerliche Nebengewerbe, wie die Kalkbrennerei im Bereich der niederösterreichischen Thermenlinie, haben durch die starke Nachfrage des Baugewerbes für den raschen Ausbau von W i e n im 19. Jahrhundert noch lange floriert. Im Prinzip aber hatte im Vormärz ein Prozess eingesetzt, der w o h l zutreffend als „Agrarisierung"zu bezeichnen ist und jenen Bauern und Kleinhäuslern, die in der alten vorindustriellen „Industrie" (oder, in moderner Terminologie, der Protoindustrie) tätig waren, zunehmend die Existenzmöglichkeiten beengte.
Die ländliche Bevölkerung
3.3
213
Der "Wandel der Grundherrenklasse
Der Aufstieg nichtadeliger Händler, Cewerken und Bankiers zu geadelten Grundherren war während der Jahrhunderte der Neuzeit stets im Gange. Dass sich diese Bewegung nach der Mitte des 18. Jahrhunderts beschleunigte, wurde schon oben (S. 168) vermerkt. Im Prinzip blieben aber die Grundbedingungen der feudalen Gesellschaft gewahrt: Grundherrschaft und adeliger Status hingen eng zusammen. Neugeadelte erwarben Grundherrschaften, die dann wieder die Grundlage für weitere Standeserhöhungen im landständischen Adel (vom „Ritter" zum „Freiherrn" oder gar zum „Grafen") boten. Landstandschaft und qualifizierter („landtäflicher") Grundbesitz waren nach wie vor Kennzeichen des „echten" Adels zum Unterschied vom bloßen Briefadel ohne feudalen Besitz. Die große Mobilisierung von Grundbesitz unter Joseph II. führte zu einer Änderung. Wenn man zahlreiche Staats- und ehemalige Kirchengüter verkaufen wollte, dann war es günstig, die Zahl der Konkurrenten um diese Besitzungen zu vergrößern: Die Grundherrschaft musste also aus ihrer engen Verbindung zur Adelsqualität des Besitzers gelöst werden. Joseph II. dispensierte daher 1782 für Böhmen unadelige Käufer von Staatsgütern von der Erfordernis der Adelserlangung. Auch nach dem Erwerb einer Grundherrschaft sollte der Käufer nicht gezwungen werden, sich um Adelstitel und Zugehörigkeit zu den Ständen zu bemühen. Diese grundstürzende Neuerung entfachte natürlich den lebhaftesten Widerstand des Adels, der um 1800 auch einige Erfolge erzielte. So wurde für Böhmen 1803 ein Gesetz erlassen, das den Erwerb von Herrschaften durch Untertanen und Landtafelunfähige (Bürger untertäniger Städte und Märkte beispielsweise, während Bürger landesfürstlicher Städte ja stets Adelsgüter hatten erwerben können) verbot. Es erwies sich allerdings als unwirksam. Prestigestreben der bürgerlichen Kaufleute und Fabrikanten, aber auch die Suche nach einer soliden Anlagemöglichkeit seitens der von der Bankozettelinflation und den hohen Preisen der Kriegsperiode (1792 - 1815) profitierenden Bauern steigerten die Nachfrage nach Landgütern. 1802 befanden sich in Böhmen sieben Herrschaften in bäuerlichem Besitz, 1805/1806 schon zwölf, wobei des Öfteren die Bauern die Form von Besitzer-Kompagnien, quasi Genossenschaften, wählten. In den österreichischen Donau- und Alpenländern fand der Erwerb von Landgütern durch Bauern nur selten statt, sehr häufig aber drang nun bürgerliches Kapital aufs Land. In Oberösterreich sind zwischen 1780 und 1848 mehr als vierzig bürgerliche Grundherrschaftserwerbungen nachweisbar. Daran beteiligten sich zunächst Leinwandhändler oder Großkaufleute, aber auch Pfarrer, Fabrikanten, Schiffmeister; ja sogar ein bürgerlicher Rauchfangkehrer trat nun als Grundherr auf. Im vormärzlichen Niederösterreich haben 65 Grundherrschaften bürgerliche Besitzer erhalten. Ähnliche Veränderungen sind auch in anderen Ländern nachweisbar. Besonders deutlich waren sie in jenen Län-
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Vom Reformabsolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft
dem, wo die Zugehörigkeit zum französischen Rechtsgebiet (Illyrische Provinzen, 1809 bis 1814: Oberkärnten mit Osttirol, Krain, Küstenland, Dalmatien, Kroatien südlich der Save) die feudalen Verhältnisse völlig beseitigt hatte. Freilich bestand ein großer Unterschied innerhalb der neuen Grundherrenklasse zwischen jenen Herren, denen ihre Grundherrschaft bloß zur Unterstreichung ihres neuen sozialen Status diente, und jenen, die ihre Grundherrschaft Gewinn bringend zu gestalten dachten. Prächtige Exemplare der ersten Gattung hat Johann Nestroy in der Gestalt des Herrn von Lips im „Zerrissenen" oder des ehemaligen Fleischselchers und nunmehrigen Rentiers Herr von Fett in „Liebesgeschichten und Heiratssachen" auf die Bühne gestellt. Lips etwa hatte das Pachtgut, auf welches er sich nach dem vermeintlichen Mord an seinem Rivalen Gluthammer flüchtete, noch niemals vorher gesehen. Hier ging es also ausschließlich darum, Vermögen in Ostentation des Erfolges umzuwandeln, weniger um neue Gewinne. Sehr wohl um solche bemühten sich aber jene Grundherren, die mit dem Erwerb einer (oder mehrerer) Herrschaft(en) durchaus eine Fortsetzung profitorientierten Wirtschaftens beabsichtigten. Eine Steigerung der Abgaben war aber seit den theresianisch-josephinischen Reformen kaum möglich. Immerhin wurden mehrfach Klagen über Herrschaftsbesitzer laut, die noch vorhandene obrigkeitliche Rechte missbräuchlich einsetzten. In Oberösterreich wurde einer dieser Herren aus einem solchen Grunde sogar gerichtlich verurteilt. Ein anderer Weg zur Steigerung der Rendite bestand in der Intensivierung der dominikalen Eigenwirtschaft. Zwar verlegten sich die großen Grundherren Niederösterreichs, Mährens und Böhmens in der Zeit der großen Krise nach 1815 zunächst auf die extensive Schafzucht. Mit dem Ansteigen der Getreidepreise ab Mitte der 1820er Jahre wurde die Wirtschaftsweise langsam geändert. Verschiedene Grundherren gingen nun zu Getreide- und Zuckerrübenanbau über. Die Brache verschwand. Das herrschaftliche Vieh wurde daher auf der häufig mit der bäuerlichen Untertanengemeinde gemeinsamen Weide aufgetrieben. Das empörte die Bauern, die sich beispielsweise 1834 in mehreren niederösterreichischen Gemeinden gegen das herrschaftliche „Weide- und Blumensuchrecht" wandten und dieses, etwa in Brunn am Walde, auch ganz formell aufkündigten. In Rastenberg (Waldviertel) vertrieben sie die herrschaftliche Herde von den Gemeindegründen. Diese Bewegung konnte schließlich nur durch Militäreinsatz eingedämmt werden. Überall wuchs im Vormärz der bäuerliche Widerstand gegen das Feudalsystem. Mähren sah 1821 einen veritablen Robotaufstand. Auch in den anderen Ländern lassen sich zahlreiche Widerstandshandlungen feststellen. Die unentschiedene Situation führte schließlich dazu, dass in verschiedenen Ländern in den Landständen eine Diskussion über die Beendigung des feudalen Systems in Gang kam. Träger dieser Diskussion waren zunächst die modernen, profitorientierten Grundherren, welche die Schranken, die vor allem der grundherrlichen Wirtschaft durch gemeinsames Weiderecht sowie durch grundherrliche Verpflichtungen (Kanzleiführung, Durchführung der Gerichtsbarkeit
Die städtische Bevölkerung
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auf eigene Kosten, aber unter strenger Staatsaufsicht) erwuchsen, durchbrechen wollten. Natürlich forderten sie eine volle Geldablösung für alle ihre Rechte. Konservativer verhielten sich die geistlichen Grundherren, die überwiegend von Zehenteinkünften lebten und sich zunächst schwer vorstellen konnten, wie sie ihre Klöster ohne diese Einkommensquelle erhalten könnten. Schon 1835 äußerte sich der niederösterreichische Landtag positiv zur Ablösung aller Urbarialrechte, 1843 wiederholte und verdeutlichte der Landtag diese Forderung (gegen den Widerstand der Prälaten). Ähnliche Wünsche äußerte man in Galizien und Böhmen 1844, in Ungarn 1832, 1836 und 1839. Etwas Bewegung brachte schließlich der große galizische Bauernaufstand von 1846. Als Reaktion daraufforderten die Stände anderer Länder wieder die Beschleunigung freiwilliger Ablösemöglichkeiten. Im Dezember 1846 erschien schließlich ein Dekret der Regierung, das analog zu einem früheren Gesetz noch auf die Möglichkeit freiwilliger Ablösung verwies. Da es von den Bauern häufig als „freie" Ablösung missverstanden wurde (wovon keine Rede war), leitete es eine erhebliche Mobilisierung der Landbevölkerung ein, die schon direkt zur Revolution von 1848 führte.
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Die städtische Bevölkerung
Überwiegend war die österreichische Gesellschaft noch eine ländliche: Bezogen auf das heutige Bundesgebiet lebten 1830 noch mehr als 84 % aller Menschen in Ortschaften unter 2000 Einwohnern, 1850 waren es 81 %. Die größeren Siedlungen zeigten aber schon eine deutliche Dynamik der Zuwächse. In Städten über 2000 Einwohner lebten um 1600 etwa 7 bis 8 %, 1754 rund 11 % der österreichischen Bevölkerung, bis 1850 stieg dieser Anteil auf 19 %. Die Siedlungen mit 2000 bis 5000 Einwohnern vergrößerten ihren Anteil kaum, er stieg von 1830 bis 1851 bloß von 4,2 auf 4,4 %. Die kleinen, traditionellen Zentren stagnierten nach wie vor. Deutlich stärker wuchsen die Städte mit 5000 bis 10.000 Einwohnern (von 1,1 auf 1,8 % ) und die („Groß"-)Städte mit mehr als 10.000 Einwohnern, nämlich von 10,2 auf fast 13 %. Hier schlug sich das Wachstum von Graz, Triest, Linz, vor allem aber die Expansion der kaiserlichen Haupt- und Residenzstadt Wien besonders deutlich nieder. Eine Stadt wie Linz zählte 1784 mehr als 16.000 Einwohner, 1830 etwa 24.000 und 1850 26.600. Offenkundig äußerte sich darin nicht bloß die Funktion als Verwaltungsmittelpunkt (wenngleich die Zunahme von Verwaltungsbeamten in Oberösterreich beträchtlich war). Höfische Residenz war Linz auch nicht, wohl aber Sitz eines der größten industriellen Betriebe der Monarchie, der Wollenzeugfabrik. Im Umkreis der Stadt entstanden im Vormärz noch eine ganze Reihe weiterer größerer Unternehmen, wie die drei Kleinmünchener (Baumwoll-)Spinnereien (1830,1838 und 1845 gegründet), bei denen um 1846 insgesamt zwischen 500 und 600 Arbeiter beschäftigt waren.
Vom Reformabsolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft
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A u c h im Falle v o n Graz muss die W a c h s t u m s d y n a m i k z u n e h m e n d o h n e d e n Faktor „höfisch-bürokratisches Z e n t r u m " interpretiert w e r d e n . 1749 verlor die Stadt ihren Charakter als V e r w a l t u n g s z e n t r u m Innerösterreichs. Sie profitierte aber v o n ihrer günstigen Verkehrslage an der i m m e r w i c h t i g e r w e r d e n den Straße v o n W i e n nach Triest. Graz w u r d e zu e i n e m zentralen Handelsumschlagplatz. 1784 w u r d e n — ein Zeichen der Expansion — die Stadtbefestigungen geschleift. N e u e Vorstädte entstanden, die Stadtbevölkerung w u c h s auf m e h r als 3 0 . 0 0 0 Einwohner. Bedeutete die Kriegszeit eine Phase der Stagnation, so begann danach eine neue W a c h s t u m s p e r i o d e , die sich nach 1832 beschleunigte. 1840 zählte man schon etwa 45.000 Einwohner. Industrieansiedlungen und Eisenbahnanschluss (1843) waren beachtenswerte Faktoren der Urbanisierung, zu denen sich schon im Vormärz, verstärkt aber in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, die Neigung zahlreicher älterer Herrschaften gesellte, die Pension in Graz zu verbringen. Dadurch erhielt die Stadt ein zwar nicht mehr jugendliches, aber relativ kaufkräftiges Publikum, das den weiteren Aufschwung durchaus mitprägte. Tabelle 11: Urbanisierung in Österreich 1830 - 1910: Einwohner nach Siedlungsgrößen unter 2000 in 1000
20005000 in %
über 10000
500010000
in 1000
in %
in 1000
in %
in 1000
in %
1830
3526,2
84,3
175,0
4,2
45,5
1,1
426,3
10,2
1843
3736,9
83,4
180,3
4,0
68,7
1,5
495,4
11,1
1851
3776,4
81,0
202,8
4,4
1869
85,5
1,8
595,5
12,8
193,4
3,7
1018,2
19,4
1880
3900,0
68,1
348,6
6,1
127,0
2,2
1352,0
23,6
1890
3863,3
62,8
352,7
5,7
148,3
2,4
1669,5
28,8
1900
3956,4
58,1
440,4
6,5
185,1
2,7
2227,4
32,7
1910
4058,8
54,0
516,4
6,9
233,8
3,1
2722,6
36,2
Unstreitig die größte u n d reichste Stadt w a r u n d blieb Wien. N a c h der raschen Expansion im 18. Jahrhundert (1 791 lebten hier e t w a 2 0 8 . 0 0 0 M e n s c h e n , o h n e Militär, 1 8 0 0 schon 232.000) k a m es in der folgenden Krisenperiode zu einer Stagnation ( 1 8 1 0 : 224.000), die ab 1818 w i e d e r in rascheres W a c h s t u m überging: 1 8 2 0 w u r d e n 2 6 0 . 0 0 0 Einwohner gezählt, 1831 3 2 0 . 0 0 0 , 1840 3 5 7 . 0 0 0 u n d 1 8 5 2 4 3 1 . 0 0 0 . N a c h diesen Zahlen w a r die stärkste D y n a m i k in der Z e i t v o n 1 8 2 0 bis 1830 zu verzeichnen, mit durchschnittlichen Jahreszuwächsen v o n 2,3 % . Das Jahrzehnt nach 1 8 4 0 zeigte 1 , 7 % , die Zeit v o n 1810 bis 1 8 2 0 1,6 % u n d 1790 bis 1800 ebenso w i e 1831 bis 1840 e t w a 1,2 % durchschnittliches W a c h s t u m p r o Jahr. W ä h r e n d die G e s a m t b e v ö l k e r u n g des h e u t i g e n Österreich u m e t w a 4 0 % z u n a h m (die W a c h s t u m s r a t e n der einzelnen Bundesländer lagen z u m Teil noch erheblich darunter!), hatte sich die Einwohnerschaft W i e n s mehr als verdoppelt ( 1 0 7 % Z u n a h m e ) .
Die städtische Bevölkerung
217
Die Frage nach den Ursachen dieses rapiden Wachstums erfordert mehrere Antworten. Natürlich hat der Ausbau der zentralen bürokratischen Einrichtungen für das ganze habsburgische Herrschaftsgebiet unter Maria Theresia und Joseph II. zu einer Vermehrung der Beamten geführt, neben denen die älteren höfischen Elemente zwar nicht absolut, wohl aber relativ ins Hintertreffen gerieten. In die Stadt zogen aber naturgemäß alle, deren Geschäfte eng mit den Zentralstellen der Regierung zusammenhingen, also die großen Bankiers und Händler, aber auch die Buchdrucker und Verleger. In die Stadt zogen Tausende meist junger Leute, um als Dienstboten unterzukommen. Die Stadt erforderte ob ihrer wachsenden Menschenmassen immer mehr Leute, die die Verteilung der Konsumgüter besorgten — nicht zufällig war die literarische und bildnerische Darstellung der „Kaufrufe" ein beliebtes künstlerisches Sujet schon des späten 18. Jahrhunderts. Der Verkehr in der Stadt und zwischen den Vororten, Vorstädten und der Innenstadt beschäftigte immer mehr Kutscher und Fiaker. Da Wien das größte Konsumzentrum Mitteleuropas war, musste es auch die Produktion anziehen, sowohl eine solche für den Massenkonsum wie auch besonders die Produktion von Gütern des gehobenen Bedarfes — Seidenstoffe oder Handschuhe, Hüte und feine Kleidung, Schmuck und Möbel. Für die Ernährung und Bekleidung der einfachen Bevölkerungsschichten waren zahlreiche Bäcker, Fleischhauer, Schuster und Schneider notwendig. Schon in der vorhergegangenen Periode hatte die Konzentration von Hof, Adel und Bürokratie in der inneren Stadt zur Verdrängung des Handwerks in die Vorstädte geführt. Im Zentrum hatten Hof und Hochadel, Hochbürokratie und Finanz, aber auch der Handel, insbesondere der Großhandel ihren Sitz. 1787 lebten in der Inneren Stadt 52.000 Bewohner. Die ungeheure Dichte der Bevölkerung schuf hier Einwohnerzahlen pro Haus, die in Paris oder gar in London unbekannt waren. Erhöhung der Geschoßzahl auf bis zu sechs und Erhöhung der Belagszahl im Inneren der Häuser — das war das Rezept. Kaum erleichtert wurde die Situation durch die Aufhebung der „Hofquartierspflicht" unter Joseph II. Das dadurch frei gewordene Kontingent an Wohnungen wurde teuer genug vermietet, und die von dieser Maßnahme vor allem getroffenen Beamten (denen vorher Deputatswohnungen aus jenem Titel zugestanden waren) erlitten nicht unerhebliche finanzielle Einbußen. Zur Bereitstellung von Mietwohnungen wurden jetzt aber zahlreiche neue Miethäuser errichtet (wie der Trattnerhof am Graben an der Stelle des alten Freisinger Hofes, von dem Großunternehmer Johann Thomas Trattner 1773 erworben) oder große Klosterhöfe zu Miethäusern umgebaut (ζ. B. Melkerhof, Heiligenkreuzerhof). Die Vorstädte (mit 157.000 Bewohnern im Jahr 1787) waren das Zentrum der gewerblichen Tätigkeit. Die Bewohner waren Manufakturunternehmer, Handwerksmeister und -gesellen, Manufaktur- und Heimarbeiter, aber auch kleine Beamte, Angestellte und Kaufleute. Die stärkste Verdichtung gewerblich-frühindustrieller Tätigkeit gab es im heutigen 6. und 7. Gemeindebezirk, in den Vorstädten Laimgrube und Windmühle sowie am Schottenfeld, dem „Brillantengrund" der Wiener Seidenindustrie.
218
Vom Reformabsolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft
Außerhalb der „Linie" (einer Stadt und Vorstädte seit 1 704 umschließenden Wallanlage, an der von allen in die Stadt kommenden Gütern die Verzehrungssteuer eingehoben wurde), und daher in billigeren Lagen, breiteten sich die Vororte aus. Diese ursprünglich stark agrarisch, besonders von Wein- und Gemüsebau, aber auch von der Milchwirtschaft geprägten Orte wurden im frühen 19. Jahrhundert ebenfalls zunehmend in die gewerblich-industrielle Produktion einbezogen, zumindest soweit sie im Wiental lagen. Sie hatten also ganz unterschiedliche Gesichter: teils Freizeitzentren der Wiener (wie Neulerchenfeld, des „Heiligen Römischen Reiches größtes Wirtshaus", wo 1 790 rund 30% der Hausbesitzer Gastwirte waren), teils Wohnorte der vermögenslosen Taglöhner und Arbeiter, teils landwirtschaftliche Produktionsgebiete wie Gaudenzdorf, wo die Milchmeier Wiens 1846 für ein Kleefeld 40 bis 70 Gulden Pachtzins boten, und schließlich gewerbliche Produktionszentren. Sucht man nach zeitgenössischen Zeugnissen über die Schichtung der städtischen Bevölkerung, so fällt besonders eine Verordnung von 1815 auf, die in einer bestimmten, nicht zufälligen Reihenfolge alle jene Gruppierungen nennt, die von der Einholung eines Ehekonsenses (beim Magistrate) in Wien befreit waren. Genannt wurden hier: 1. der Adel, 2. alle landesfürstlichen, ständischen, städtischen, herrschaftlichen Beamten, 3. Doktoren, Magister, Professoren und Lehrer der öffentlichen Schulen und Erziehungsanstalten, 4. Advokaten und Agenten, 5. alle Bürger, 6. alle Haus- und Güterbesitzer, 7. alle Personen, welche mit einem Meisterrechte, Landesfabriks-, Fabriks- oder einem so genannten Regierungsbefugnis (Schutzdekret) versehen sind. Die Abfolge dieser sieben Klassen reflektiert eine Prestigeskala von Berufen, die stark höfisch bestimmt ist und Beamte und Lehrer höher schätzt als Unternehmer, die erst in den letzten dieser sieben Gruppen vertreten waren. — Alle anderen, hier nicht näher bezeichneten Kategorien, die für eine Heirat einen obrigkeitlichen Ehekonsens benötigten, kann man wohl als „Unterschichten" bezeichnen: Da sie jedenfalls um Heiratserlaubnis ansuchen mussten, sah man ihre Existenz nicht von vornherein als gesichert an. Der Zwang zur Einholung eines Konsenses sollte ja wohl, in auffälligem Gegensatz zur theresianisch-josephinischen Lockerung der Heiratsnormen, auf den geänderten Arbeitsmarkt reagieren und eine Vermehrung der unerwünschten verarmten Massen hintanhalten. Freilich wäre es verfehlt, diese „Unterschichten" als einheitliche Klasse zu sehen. Die Dienstboten gehörten nach ihrem Selbstbewusstsein eher zur Klasse ihrer Herren als zu den „Unteren". Zumindest existierte eine starke mentale Kluft zwischen Dienstboten und Arbeitern. Auch das Heer der in eigenen Wohnungen vereinzelt arbeitenden verlegten Gesellen und Heimarbeiter war wohl noch kaum in der Lage, so etwas wie ein „Klassenbewusstsein" zu entwickeln. Am frühesten scheint dies dort der Fall gewesen zu sein, wo — in Anknüpfung an ältere handwerkliche Traditionen von Gesellenorganisationen — qualifizierte Arbeitskräfte in größerer Zahl gemeinsam arbeiteten, wie bei den Setzern und Druckern und (etwas später) bei den Arbeitern in der Maschinenindustrie.
Soziale Voraussetzungen, Begleiterscheinungen und Folgen der Industriellen Revolution
219
Versucht man, jene oben beschriebene Gliederung etwas mit Zahlen zu konkretisieren, so kann allenfalls auf vergleichbare Daten von 1840 zurückgegriffen werden. Gezählt wurden freilich nur die in Wien Heimatberechtigten, und von diesen wieder nur die Männer. Von diesen 96.347 Männern entfielen 704 auf die Kategorie Geistliche, 3340 auf den Adel, 5453 waren Beamte und „Honoratioren" (wohl Angehörige des Bildungsbürgertums), 10.596 waren Gewerbsinhaber, „Künstler", Kunstzöglinge und Akademiker, die restlichen 76.254 werden nicht weiter untergliedert, gehörten also wohl dem breiten Spektrum der unselbständig Erwerbstätigen oder gar Erwerbslosen an. Auch wenn die nur 10.000 Gewerbsinhaber zu tief gegriffen sein sollten, spricht doch nichts gegen die Annahme, dass wir uns die Wiener Unterschichten — bloß bezogen auf die männliche Bevölkerung — mit etwa 70.000 Mitgliedern als den ganz überwiegenden Teil der Bevölkerung einer Großstadt vorstellen müssen, grob geschätzt waren dies 70 %.
5 5.1
Soziale Voraussetzungen, Begleiterscheinungen und Folgen der Industriellen Revolution Die Befreiung der gewerblichen Produktion und des Handels
Schon der höfische Absolutismus hatte die Befugnisse der Zünfte zurückgedrängt und dafür gesorgt, dass über Hofbefreiungen, Schutzdekrete und Privilegien gewerbliche Produzenten ohne die beengenden Vorstellungen und Vorschriften der Zünfte arbeiten konnten. Neben den zünftischen gab es daher zahlreiche durch einen dieser Akte „befugte" Handwerker. Unter Maria Theresia wurden 1754 die gewerberechtlichen Verhältnisse neu geregelt. Polizeigewerbe sollten vorwiegend dem lokalen Bedarf dienen, Kommerzialgewerbe dem überlokalen. Die Ersteren unterstanden den Magistraten und Ortsobrigkeiten, diese den Landesstellen. Bei der Verleihung von Kommerzialbefugnissen sollte möglichst liberal vorgegangen werden. In der Ordnung wurden die Letzteren (überwiegend Gewerbe der Textilerzeugung, Metall- und Glasfabrikation o. Ä.) namentlich aufgezählt. Als Regel galten noch die Polizeigewerbe. In der Periode des wirtschaftlichen Aufschwunges während der napoleonischen Kriege konnte 1809 eine grundlegende Erweiterung der Industrialfreiheit seitens der an Produktionssteigerung interessierten Hofkammer durchgesetzt werden. Nunmehr wurden die (95) Polizeigewerbe, von den Anstreichern, Apothekern, Bäckern, Barbieren, Bierbrauern und -Verlegern bis zu den Wundärzten, Würstemachern, Ziegelbrennern und Dachdeckern, Zimmermeistern, Zuckerbäckern und Zwetschkenhändlern, namentlich genannt, während alle Übrigen als Kommerzialgewerbe galten, für die als Richtlinie bei der Erteilung von Befugnissen „[...] die gesetzmäßig vorgeschriebene Industrialfreiheit zur unabweichlichen Grundlage [...]" genommen werden sollte. Neben diesen Gewerbegattungen gab es noch „freie" Gewerbe, also solche, die kei-
220
Vom Reformabsolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft
ner Konzession bedurften, wie etwa Weißnähen, Spinnen, Spitzenklöppeln, das ländliche Leinenweben u. a. Die Unterschiede zwischen zünftigen Gewerben und unzünftigen Inhabern diverser Fabriksprivilegien bzw. Schutzdekrete sowie den nicht einmal durch solche Regelungen geschützten Störern existierten weiter, hatten aber immer weniger Bedeutung, besonders als man 1800 bestimmte, dass auch die Dekretisten nicht mehr auf eine bestimmte Zahl von Gesellen festgelegt werden könnten. Alle Gewerbeberechtigungen konnten seit 1791 von den Magistraten bzw. Ortsobrigkeiten verliehen werden, mit Ausnahme der „großen" Fabriksprivilegien, die neben der Führung des kaiserlichen Wappens noch eine Reihe weiterer Vorrechte mit sich brachten und nur von den Landesstellen (Statthaltereien bzw. Landesregierungen) vergeben werden konnten. Obzwar in den Krisenjahren nach 1814 mehrere Versuche gemacht wurden, die Gewerbefreiheit wieder einzuschränken, blieb es im Wesentlichen bei der Ordnung von 1809. Dadurch waren auch Versuche der Zünfte und konservativer Hofkreise, Gewerbeverleihungen und insbesondere Fabriksansiedlungen in Wien zu beschränken bzw. ganz zu unterbinden, die 1804 zu einem vorübergehenden Erfolg bei dem revolutionsfürchtigen Kaiser Franz (damals noch II.) geführt hatten, zum Scheitern verurteilt. Ein wichtiger Schritt auf dem Wege der Befreiung der Produktion von älteren Schranken war die Erlaubnis des Hausierhandels 1785 — wir haben darauf als wichtiges Mittel der Durchdringung des flachen Landes mit neuen Konsumgütern schon hingewiesen. Ebenso ist hier die mit der Produktion nun immer häufiger verbundene Erlaubnis des Verkaufes der eigenen Produkte im eigenen Gewölbe zu erwähnen. Als Vorreiter industrieller Expansion konnten aber die Kommerzialgewerbe viel weniger gelten als die mit kleinen oder großen (Landes-)Befugnissen ausgestatteten Fabriken, deren Zahl allein in Oberösterreich von 1830 bis 1846 von 104 auf 264 anwuchs. In Wien wuchs von 1837 bis 1841, also in der letzten Konjunkturperiode des Vormärz, die Zahl der (selbständigen) Zunfthandwerker um 7,8%, die Zahl der zunftfreien Fabrikanten aber um 164%! Im Allgemeinen verlor die rechtliche Differenzierung stark an Bedeutung. Das Verhältnis von Zunftmitgliedern und anderen Befugten drehte sich gegenüber den Verhältnissen im frühen 18. Jahrhundert um: 1816 wurden bei den Wiener Tischlern 297 bürgerliche Meister gezählt und 578 „Befugte". Eine Änderung der Gewerbepolitik wie im Jahre 1804 (oder dann wieder 1809) bedeutete keine Änderung der ökonomischen Situation: Eine Gruppe von Handwerkern hieß im einen Falle „Störer" (also ohne Befugnis arbeitende Handwerker), im anderen eben „Befugte". Im Handwerk dominierten nach wie vor — trotz seines besonders in Wien sehr starken quantitativen Wachstums — traditionelle Arbeitsverhältnisse: Die meisten Meister arbeiteten ohne oder mit bloß einem Gesellen. Selbst auf die gesamte gewerbliche Produktion bezogen entfielen in Wien 1837 auf einen Selbständigen nur 1,3 Unselbständige (1869 waren es schon 4,5). Allerdings
Soziale Voraussetzungen, Begleiterscheinungen und Folgen der Industriellen Revolution
221
dürfte man damals die Hausindustrie, also die verlegte Erzeugung durch so genannte „Alleinmeister" und „Sitzgesellen", in die Zählung nicht einbezogen haben.
5.2
Von der Manufakturperiode zur Industrialisierung
Die größten und wichtigsten Manufakturen des 18. Jahrhunderts befanden sich (mit Ausnahme der Linzer Wollenzeugfabrik) außerhalb der Städte. Wien, wovon zunächst die Rede sein soll, hatte zwar viele „Fabriken" in den Vorstädten, aber wenige ausgesprochene Großbetriebe. Solche fanden sich allenfalls in der Porzellanerzeugung, wo die Rossauer Manufaktur um 1800 etwa 500 Arbeiter beschäftigte, in der Buchdruckerei, wo Trattner um 1780 schon 200 Setzer und Drucker angestellt hatte (eine Zahl, die später wieder fiel), im späteren Vormärz schließlich in der Stoffdruckerei mit Betrieben zwischen 150 und 500 Arbeitern. Eher kleinbetrieblich arbeiteten die wichtigen Branchen der Uhrmacher, Sattler und Wagenfabrikanten, Maschinisten und Mechaniker. Der wichtigste Zweig der Manufakturperiode in Wien wurde aber die Seidenindustrie. Der „Hausherr und Seidenfabrikant" wurde nicht zufällig im Wienerlied zum Symbol des wohlhabenden Bürgers. Die Konzentration der Seidenverarbeitung in Wien war zum einen die Folge der hier ebenfalls versammelten Nachfrage. Zweitens: Die hohen Ansprüche dieser Käuferschicht an die Güte und Originalität der Produkte stellten hohe Anforderungen an die Qualität der Arbeitskräfte. Solche hochqualifizierten Arbeitskräfte ließen sich leichter nach Wien ziehen als in ein entlegenes Provinznest. Und drittens widerstand die Seidenverarbeitung wegen der Feinheit des Gewebes und der Vielfalt der verlangten Muster den Tendenzen in Richtung maschineller Massenfertigung. Man konnte daher erst viel später als etwa in der Baumwollspinnerei die Wasserkraft als Antriebsenergie nützen. Wurden schon ab 1 770 mehrere größere Betriebe in Wien genannt, so erfolgte in den 1 780er Jahren eine bedeutsame Ausdehnung der Seidenmanufaktur. Als die Französische Revolution die Lyoner Seidenerzeugung lahm legte, brach die große Zeit der Wiener Seidenfabrikation an. Nun entstanden Betriebe mit bis zu 200 Beschäftigten. Noch am Ausgang dieser Konjunkturperiode (1813) sollen sich in Wien bei 600 Seidenzeugfabrikanten befunden haben, die bei guter Auftragslage über 6000 Gesellen, 800 bis 900 Lehrlinge und 7000 bis 8000 Arbeiterinnen beschäftigten. Nach diesen Zahlen arbeitete etwa jeder fünfte Wiener Berufstätige in der Seidenindustrie. Überwiegend muss es sich dabei um Heimarbeit gehandelt haben. Der Vorteil für den Unternehmer bestand darin, dass er in Fabriksgebäude wenig oder nichts investieren musste: Man brauchte den Gesellen bloß einen Webstuhl hinzustellen. Der Nachteil lag in der geringeren Kontrollierbarkeit der Qualität. Daher versuchten größere Unternehmer wieder, die Produktion in einem oder in wenigen Häusern zu konzentrieren. Für die Arbeiterschaft hingegen war der hohe Anteil von (vorwiegend verlegter) Frauenarbeit günstig. Er
222
Vom Reformabsolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft
erleichterte Hausstandsgründungen, ebenso wie bei den ländlichen Unterschichten. Dies ist wohl der Hintergrund der Tatsache, dass in Wien während der Hochblüte des Manufakturwesens eine starke Ausbreitung von Arbeiterfamilien festgestellt werden kann. Das wurde auch staatlicherseits gefördert: „Jenen Gesellen, welche die Wanderjahre in einer wohleingerichteten Tuchfabrik in und außer Landes zugebracht haben, ist unweigerlich sich zu verheiraten zu gestatten." (Hofkammerdekret 1765) Die Zahl der Trauungen in Wien stieg von 7,3 auf 1000 Einwohner im Jahr für die Zeitspanne 1754 - 1760 auf 10,7 (1781 - 1791) und sogar 12,1 (1811 1820). Danach sank diese Trauungsziffer wieder. Der Anteil der Verheirateten an der Gesamtbevölkerung lag 1780 - 1798 bei 34 - 35 % . Bis 1856 sank er wieder auf knappe 27%. Graphik 7: Demographische
Tendenzen in Wien, 18. bis 20. lahrhundert
Zwischen 1780 und 1830 war nicht nur die große Zeit der Wiener (Seiden-)Manufaktur, es war auch die Zeit der Hochblüte des Volkstheaters und einer öffentlichen Geselligkeit, die keineswegs nur von den Oberschichten in Anspruch genommen werden konnte. Wenn auch das Bild von den österreichischen bzw. Wiener „Phäaken" oft unzulässig überstrapaziert wurde, muss doch der Lebensstandard auch der arbeitenden Bevölkerung zu jener Zeit deutlich besser gewesen sein als in vergleichbaren anderen Städten. Sicher aber ging es den Unterschichten damals besser als später. Die zweite Hälfte des Vormärz zeigt bereits einen Rückgang einiger Wohlstandsindikatoren wie Trauungsziffer und Verheiratetenindex. Auch die Löhne stagnierten.
Soziale Voraussetzungen, Begleiterscheinungen und Folgen der Industriellen Revolution Tabelle 12: Entwicklung
223
der Trauungsziffer in Wien 1754 - 1935
Jahresgruppen
Jährliche Trauungen pro 1000 Einwohner
Jahresgruppen
Jährliche Trauungen pro 1000 Einwohner
1754 - 1760
7,3
1851 - 1860
9,4
1761 - 1770
7,2
1861 - 1870
9,6
1771 - 1780
7,7
1871 - 1880
9,6
1781 - 1790
10,7
1881 - 1890
8,7
1791 - 1800
10,8
1891 - 1900
9,6
1801 - 1810
11,0
1901 - 1910
9,4
1811 - 1820
12,1
1911 - 1920
9,9
1821 - 1830
8,7
1921 - 1930
10,4
1831 - 1840
8,8
1931 - 1935
7,6
1841 - 1850
8,5
Wien trat nun, ab etwa 1830, in die Phase der Industriellen Revolution ein. Dahinter verbirgt sich jedoch zunächst einmal ein Verfall der manufaktureilen Produktion und eine langsame, krisenhafte Umstellung, in deren Verlauf die relativ günstige Situation der Unterschichten sich in ihr Gegenteil verkehrte. Solange die neue, mit Maschinen arbeitende Industrie mit der Antriebskraft Wasser arbeitete, lag Wien dafür ungünstig. Außerdem musste man für die Maschinen große Fabrikshallen bauen, was bei den hohen Grundstückspreisen in Wien ebenfalls auf Hindernisse stieß. Die großen Fabriken entstanden daher außerhalb der Stadt. Schon 1816 erfolgte auch ein erster Abwanderungsversuch der Seidenindustrie: Der Fabrikant Hornbostel errichtete nach der Erfindung von „selbstwebenden Maschinenstühlen" einen neuen Betrieb im „Industrieviertel", in Leobersdorf. Der Teppichproduzent Philipp Haas verlegte 1840 seine Produktion ebenfalls aufs Land, nach Ebergassing. Der Verfall der Seidenindustrie (der sich nach 1850 rasch vollendete) begann, und mit ihm der Verfall der traditionellen Manufakturproduktion in Wien. Dafür zeichnete sich gegen Ende des Vormärz eine neue Leitindustrie des städtischen Raumes ab — der Maschinenbau. Ausgehend von den hochqualifizierten Uhrmachern, Werkzeug- und Instrumentenbauern des Manufakturzeitalters entwickelte sich langsam ein neuer Industriezweig, der durch den Übergang zu mechanischen Webstühlen und ähnlichen Geräten wichtige Anregungen empfing und schließlich vor allem durch den Eisenbahnbau bedeutsam wurde. In den letzten Jahren des Vormärz wurde Wien — unter anderem — auch zum Zentrum des Eisenbahnnetzes. Werkstätten und Reparaturbetriebe der Eisenbahngesellschaften waren die ersten großen Maschinenbaufabriken in Wien. Das Gesamtbild bestimmte diese Produktion jedoch noch lange nicht. Eigentümlicherweise trat in Wien jetzt das Handwerk stark hervor, vor allem die
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Vom Reformabsolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft
Bekleidungsgewerbe sowie die Holz- und Metallverarbeitung. Viele dieser Handwerker wurden rasch von Verlegern abhängig. Die handwerkliche Organisation der Produktion begünstigte ältere, hausrechtliche Arbeitsverhältnisse: Das Wohnen beim Meister wurde für Gesellen wieder zu einer dominierenden Lebensform, was zugleich das Haupthindernis für eine eigene Hausstandsgründung bedeutete. Diese Veränderung traf genau zusammen mit immer neuen Wellen von Arbeitsuchenden, die durch die „Agrarisierung" des Landes in die Stadt gespült wurden und hier versuchten, als Dienstboten oder in der Handwerkslehre, als Taglöhner, Kleinverkäufer oder Arbeiter unterzukommen. Der krisenhafte Abstieg der älteren Manufakturproduktion zusammen mit dieser Ausweitung der Zahl der Beschäftigungssuchenden, ungenügender Wohnungsbau und steigende Mieten bei stagnierenden Löhnen — das ist der Hintergrund der Märztage des Jahres 1848, soweit es die Lage der Unterschichten betrifft.
5.3
Neue Fabriken und Industriesiedlungen
Das Handspinnen bedeutete eine stete Unsicherheit für die Textilproduzenten. Unsicherheit der Lieferung seitens der verlegten Heimspinner, Ungleichheit des Garnes, Überwindung großer Transportprobleme (für die Schwechater Fabrik wurde auch im Waldviertel gesponnen) — all dies führte zur Suche nach einer gleichmäßig und ohne menschliche Schwächen arbeitenden Maschine. Zuerst gelang das Maschinenspinnen bei der Baumwolle, dem willfährigsten Rohstoff — übrigens wurde die Entwicklung und Aufstellung von Flachsspinnmaschinen vom Hof behindert, um nicht die zahlreichen Flachsspinner um ihre Arbeit zu bringen! Die Maschinen für die Pottendorfer Spinnerei kamen 1801 aus England. Auch der Betriebsleiter des Unternehmens, John Thornton, kam aus England. Das Kapital streckte ein Konsortium vor, die „privilegierte Garnmanufaktur-Gesellschaft", das von der Wiener Commerzial-, Leih- und Wechselbank, der ersten als Kommerzbank zu bezeichnenden Bank, betreut wurde und neben Hochadeligen (Esterházy, Colloredo-Mansfeld) aus Großhändlern (Thaddäus Berger) und Manufaktur-Großunternehmern (Johann Julier von Badenthal) bestand. Die Pottendorfer Fabrik arbeitete für den Markt, nicht für die eigene Weiterverarbeitung des Garnes. 1811 beschäftigte die Pottendorfer Spinnerei bereits 1800 Menschen. „Aus einer Nebenbeschäftigung der Landbewohner entstand so durch die Maschinen eine moderne Fabriksindustrie mit einem zahlreichen Betriebspersonal in eigenen Fabriksgebäuden." Die neue Industrie trat auch architektonisch in anderem Gewand auf als ihre manufaktureilen Vorgänger. Hatte man da noch an der Schloss- und Klosterarchitektur angeknüpft (häufig auch, indem man Gebäude dieses Typs übernahm), so mussten die großen Maschinenhallen zu einer ganz anderen bauli-
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chen Gestaltung führen. Die Aneinanderreihung oder das Übereinanderlegen mehrerer solcher Hallen im Ablauf der Produktion bestimmte nun das Erscheinungsbild. Mächtig, funktionell und ohne Berücksichtigung älterer Bautraditionen — so präsentierte sich etwa das fünfstöckige Gebäude der Pottendorfer Spinnerei den Augen der bewundernden Zeitgenossen. Im niederösterreichischen Industrieviertel wurde die Baumwollspinnerei der größte Industriezweig. In 38 größeren Fabriken wurden im Vormärz fast 8.000 Arbeiter beschäftigt. Soweit diese Arbeiter nicht in der Nähe der Fabriken Wohnung finden konnten (was in den überwiegend ländlichen Umgebungen schwierig war), mussten sie bei den Fabriken angesiedelt werden. Eine neue Form des Arbeiterwohnen s entstand. Die Industriesiedlung des Manufakturzeitalters (Horn, Groß-Siegharts, Kettenhof) bestand aus Wohnkeuschen, die man funktionell und räumlich von den bürgerlichen oder bäuerlichen Siedlungen trennte. Eine der letzten großen Arbeitersiedlungen dieser Art war die um 1820 von den Brüdern Rosthorn für die Metallwarenfabrik Ö d bei Piesting errichtete Häuserzeile. Je größer die zentralisierte Produktion wurde, desto weniger entsprach die Raum verschwendende Keuschensiedlung den Interessen der Unternehmer. Auch Probleme der Kontrollierbarkeit mögen dazugekommen sein. Jedenfalls wurde jetzt die Arbeiterkaserne des Industriezeitalters entwickelt. Man konnte dabei an die Tradition großer Gewerbehöfe anschließen, wie sie etwa in den Wiener Vorstädten zu finden waren. Ähnlich zu bewerten ist die um die Mitte des 18. Jahrhunderts erbaute „Nadelburg" bei Wiener Neustadt. Um 1830 entstanden nun neue Bauten, die entweder die Wohnungen ebenerdig aneinander reihten oder aber mehrgeschoßig anordneten. In Trumau hatte die zu dieser Zeit für die Arbeiter der Spinnerei errichtete Kaserne 2400 m 2 Wohnfläche für 150 Parteien. Die durchschnittliche Wohnungsgröße betrug nur 16 m 2 (in der Nadelburg waren es noch 35 m 2 gewesen). Günstiger war die Größe der Wohnungen im fast gleichzeitig errichteten „langen Haus" in Pottendorf (einem zweigeschoßigen Bau), wo je Wohnung 35 m 2 zur Verfügung standen. Hohe Belagsdichte und äußerst mangelhafte Ausstattung mit sanitären Einrichtungen ließen das Wohnen in solchen Anlagen oft höchst unerfreulich erscheinen, ganz abgesehen davon, dass solche Fabrikswohnungen als Deputate und damit als Lohnbestandteile galten, was zu verstärkter Abhängigkeit vom Unternehmen führte. Häufig arbeitete die ganze Familie in der Fabrik: Der Vater als (manchmal) qualifizierter Arbeiter, Frauen und Kinder als Hilfskräfte. Frauen hatten in Spinnfabriken gerissene Fäden zu knüpfen, Kinder mussten unter den Maschinen herumkriechen, Abfälle beseitigen und Reinigungsarbeiten durchführen. Zuerst entstand die moderne Fabrikarbeiterschaft auf dem Land, nicht in der Stadt: Die Volkszählung von 1857 wies für Wien etwa 24.000 Fabrikanten und Gewerbsleute aus und knapp 28.000 Hilfsarbeiter beim Gewerbe, für das übrige Niederösterreich aber fast 34.000 Unternehmer, jedoch 73.000 Arbeiter. Das Verhältnis zeigt für Wien die Dominanz kleinbetrieblicher Arbeitsorganisa-
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tion, für das übrige Niederösterreich deutet es das Vorhandensein großbetrieblicher Formen zumindest an. Allerdings ist mit diesen Zahlen die in Gewerbe und Industrie arbeitende Bevölkerung sicher nur höchst unvollkommen erfasst. Besonders im städtischen Bereich kennzeichnet eine starke Fluktuation die Arbeitsverhältnisse. Bei Absatzstockungen, wie sie ab 1814, nach 1830 und seit 1844 verstärkt auftraten, wurden Arbeiter sofort entlassen und die nicht im Arbeitsort zuständigen in ihre — meist ländlichen und Not leidenden — Heimatorte abgeschoben. Bei verstärkter Nachfrage musste zusätzliche Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit geleistet werden. Diese fast ruckartigen Veränderungen der Beschäftigungsverhältnisse, wie sie aus Polizeiberichten des Vormärz bestätigt werden, erschweren die Berechnung des tatsächlichen Anteils an gewerblichen und industriellen Arbeitern aller Art. Um diese Schwierigkeiten zu illustrieren, sollen einige Schätzungen aus dem Wiener Vormärz angeführt werden. Hintergrund dieser Berechnungsversuche war die Beobachtung, dass Arbeit suchende, verarmte Leute in immer größerer Zahl nach Wien strömten und hier zur Verschärfung der Lage beitrugen. 1831 soll es in Wien etwa 40.000 Arbeiter gegeben haben, wovon aber nur 11.000 gemeldet waren und nur 7000 beschäftigt (meist bei öffentlichen Bauten). 1837 werden 27.000 Hilfsarbeiter bei 23.000 Gewerben und 160 Fabriken angegeben — eine Zahl, die jener von 1857 (s. o.) frappierend ähnelt. 1840 soll aber die Zahl der Arbeiter schon 58.600 betragen haben, bei 25.000 Gewerben und 200 Fabriken. Jährlich sollen in diesen besonders in den böhmischen Ländern überaus schlechten Jahren etwa 20.000 Menschen nach Wien zugezogen sein — in erster Linie in die billigeren Vororte, die nun immer häufiger Industriestandorte wurden. Für 1846 wurde die Zahl der Arbeiter auf 100.000 bis 130.000 geschätzt. Starke saisonale Schwankungen waren dabei ebenso bemerkbar wie konjunkturelle: „Das Zuströmen der Arbeiter beginnt mit dem Frühjahre, wo die Bauten und viele Sommerarbeiten in Angriff genommen werden. Die Zahl verringert sich gegen Anfang des Winters. Von März bis November beträgt die Zahl der Arbeiter regelmäßig um ein Viertheil der Winteranzahl mehr. Es gibt also kein Mittel, um die Zahl der Arbeiter genau kennen zu lernen. Eine Menge Arbeiten sind der Art, dass weder von der Behörde eine Bewilligung, noch von Arbeitgebern hierüber ein Ausweis gefordert werden kann. Viele Arbeiter, und besonders gilt dies von Arbeiterinnen, wohnen bei ihren Eltern, da sie unverheiratet sind; sie sind daher nirgends als solche eingetragen."
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5.4
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Hausrechtliche Abhängigkeit und freier Arbeitsvertrag — die Dienstboten
Man darf über der Entstehung einer neuen Arbeiterschaft — rekrutiert überwiegend aus den pauperisierten Massen der um ihre hausindustrielle Tätigkeit gekommenen Landbevölkerung — nicht übersehen, dass die relativ größte Gruppe von Lohnabhängigen noch immer in hausrechtlichen Abhängigkeitsverhältnissen lebte. Abgesehen von Lehrlingen und Gesellen, die ja ebenfalls noch in die Hausgemeinschaft des Dienstgebers eingebunden waren, galt dies auch für alle Dienstboten. Dass im Zuge der Agrarrevolution die Dienstbotenhaltung in der Landwirtschaft zunahm, wurde schon erwähnt. Besonders viele Dienstboten sammelten sich aber auch in den Städten, in erster Linie natürlich wieder in Wien. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts schätzte man die Zahl der Dienstboten in Wien und in den Vorstädten auf etwa 40.000, was etwa 15 % der zeitgenössischen Einwohnerschaft entsprach. Das Dienstpersonal war auf den Bereich der Inneren Stadt konzentriert, der Wohn- und Lebenssphäre von Hof, Adel, Hochbürokratie und Großbürgertum. In den 1820er Jahren machte der Gesindeanteil im späteren 1. Bezirk etwa 45 % der dort lebenden Bevölkerung aus. Dienstboten galten als Teil der Familie. Dienst in fremdem Haus war in der alteuropäischen Gesellschaft fixer Bestandteil des Lebenszyklus in allen hausbesitzenden und familial organisierten Schichten, beim Adel genauso wie bei Handwerkern und (zum Teil) auch bei Bauern, bei Kaufleuten und Händlern ebenso wie bei Gewerbetreibenden. Der Dienst galt als Übergangsform, als Teil der Erziehung und Berufsausbildung, was ja bis ins 18. Jahrhundert nicht geschieden wurde. Mit der zunehmenden Ausgliederung von Produktions- und Dienstleistungsfunktionen aus ländlichen und städtischen Haushalten wurde der verbleibende Rest an Arbeiten, die man im Hause verrichtete, zur „Hausarbeit", zu „häuslichen Diensten", die immer mehr von der gewerblichen Produktion getrennt wurden — obgleich im Kleingewerbe die Heranziehung von Lehrpersonal für Reinigungs- und andere häusliche Arbeiten oft noch bis tief ins 20. Jahrhundert bestehen blieb. Damit wurde die häusliche, von Dienstboten zu verrichtende Arbeit zwar im Prinzip zu einer Arbeit wie jede andere auch; sie behielt allerdings noch langehin ihre patriarchalische Einkleidung, auch wenn sie nicht mehr der Erziehung irgendwelcher junger Leute diente, sondern ihren altersspezifischen Charakter immer mehr verlor. Es griff nun der absolutistische Staat in dieses Dienstverhältnis mit seinen Dienstbotenordnungen ein. Eine erste, speziell auf städtische Verhältnisse bezogene wurde für Wien 1 782 erlassen. Dagegen wurden die Arbeitsverhältnisse im Gewerbe immer mehr als freie Vertragsverhältnisse angesehen. Allerdings betonte auch die josephinische Dienstbotenordnung den Vertragscharakter des Dienstbotenverhältnisses. Die neue Ordnung von 1810 brachte aber einen massiven Rückgriff auf patriarchalische Ordnungsvorstellungen. Die
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Dienstboten wurden einer verstärkten Aufsicht ihrer Dienstherren unterworfen, die damit, analog zur öffentlichen, eine „häusliche Polizey" ausüben sollten, um über „Ordnung und Sittlichkeit zu wachen". Argumentiert wurde dabei nicht nur mit der angeblich immer mehr um sich greifenden Faulheit, Liederlichkeit, Frechheit und Lasterhaftigkeit der Dienstboten, sondern auch mit der Erziehungsfunktion gegenüber den zumeist jungen Leuten. Diese Verstärkung der patriarchalischen Note ist wohl zum Teil aus der unter Franz II. (I.) neuerdings betonten patrimonialen Staatsauffassung heraus zu erklären — ein an sich anachronistisches Deutungsmuster, das aber Staatsprinzip der Habsburger eigentlich bis 1918 blieb. Funktional war sie vor allem im Sinne jener Dienstgebergruppen, deren sozialer Status sie zur Haltung von Dienstboten verpflichtete, ohne dass ihre wirtschaftliche Situation die Lohnhöhe eines freien Arbeitsmarktes ohne weiteres verkraftet hätte. Z u denken ist vor allem an mittlere Beamte, aber auch an ein gewisses Bildungsbürgertum, dessen Frauen sich im Verlauf des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts offenkundig verpflichtet fühlten, möglichst wenig an Hausarbeit selbst zu leisten. Damit fiel die gesamte Arbeitslast dem Dienstpersonal zu, welches „[... ] dem Diensthälter ohne Weigerung alles zu leisten schuldig (war), was nach der Eigenschaft seines Dienstes, im vernünftigen Sinne des Wortes, als eine ihm zukommende ... Verrichtung verstanden werden kann [.··]"· Diese Verfügungen sowie das Fehlen von Arbeitszeitbegrenzungen ermöglichten in Extremfällen eine nahezu schrankenlose Ausbeutung der Arbeitskraft des Dienstpersonals. Schutzbestimmungen waren äußerst vage und erschöpften sich eigentlich in Appellen an das Wohlwollen des Dienstgebers. Immer mehr wurde der häusliche Dienst Domäne von Frauen, zumeist jungen Mädchen aus ländlichen und kleinbürgerlichen Verhältnissen. Darin äußert sich die Erwartung ihrer Eltern, dass sie „in der Stadt" eine gewisse Ordnung, Haushaltsführung und Sparsamkeit lernen sollten, als Basis für eine spätere Hausstandsgründung. Noch dominierten die jüngeren Jahrgänge, doch gab es auch immer mehr alte Dienstboten, deren Versorgung ein ungelöstes Problem blieb. Nur 10% der weiblichen Dienstboten Wiens kamen 1857 aus Wien selbst, 24% aus Niederösterreich, 2 2 % aus Böhmen, 14% aus Mähren, 7% aus Oberösterreich, 6 % aus Ungarn. Die anderen Länder traten als Rekrutierungsgebiete weniger in Erscheinung. Dienstbotenverhältnisse weisen also auf eigentümliche Bruchlinien der Mentalität und der gesellschaftlichen Verhältnisse hin: Während einerseits die Tendenz zur Versachlichung und Individualisierung der sozialen Beziehungen im Bereich der feudalen ebenso wie der gewerblichen Verhältnisse zu beobachten ist, bedient man sich in Bezug auf den häuslichen Dienst noch einer Sprache, die der Hausväterliteratur eines Hohberg alle Ehre gemacht hätte. In der Tat war diese Sprachregelung eine Fassade, hinter der auch der häusliche Dienst zu einem Arbeitsverhältnis, freilich bis 1920 eines besonderer Art,
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wurde. Die patriarchalische Hoheit blieb, die damit verbundenen Fürsorgeverpflichtungen fielen. Nicht zufällig rekrutierte sich das Heer der Wiener Prostituierten immer wieder aus Dienstmädchen, die nach Entlassungen häufig keine Arbeitsmöglichkeiten mehr fanden.
5.5
Pauperismus und Widerstand
Während des 18. Jahrhunderts blieben die Löhne nominell lange Zeit hindurch gleich, was bei steigenden Lebenshaltungskosten an sich eine Senkung des Lebensstandards hätte bedeuten müssen. Andererseits war die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Periode gesteigerter Bautätigkeit, auch und gerade seitens der ländlichen Unterschichten, sowie offenbar gestiegener Möglichkeiten der Hausstandsgründung seitens der städtischen. Wenn die Taglöhne gleich blieben, müssen mehr Leute länger gearbeitet haben, was eine bescheidene Erhöhung des Lebensstandards nach sich gezogen haben dürfte. Besonders die Erweiterung der Arbeitsmöglichkeiten auf dem Lande muss hier berücksichtigt werden. So soll die Flachsspinnerei und die um 1760 einsetzende Baumwollspinnerei den Menschen im Bregenzerwald ein ziemlich erträgliches Auskommen gewährt haben. Freilich spürten sie Hungersnöte noch immer sehr krass, weil gegenläufig zum Anstieg der Lebensmittelpreise die Nachfrage nach gewerblichen Produkten sank: 1771/72, als die Getreidepreise sich mehr als verdoppelten, wurden die Spinnerlöhne halbiert. In den achtziger und neunziger Jahren verbreitete sich das Sticken in diesen Gegenden: „Die Stickerei wurde jeder anderen Arbeit vorgezogen, so dass der Ackerbau merklich zurückging, weil man in der Stickerei mehr verdiente und weil es leichter war, die Lebensmittel einzukaufen als sie selbst anzubauen." Im 19. Jahrhundert sanken aber die Erlöse aus der Stickerei rasch, um 1835 verdiente man damit nur noch ein Viertel bis ein Fünftel jener Summe, die man um 1800 realisieren konnte. Gerade die hohen Anteile der Lohnkosten an der Manufakturproduktion ließen die Unternehmer über deren Senkung nachsinnen: Die Lösung fand sich in Maschinen, die zunächst für einfache Prozesse, wie das Spinnen, schließlich aber auch für das Weben und, ab etwa 1840, auch schon für das Färben eingesetzt werden konnten. Mit der Mechanisierung ging die Konzentration der Erzeugung in einem Haus, in der „Fabrik", Hand in Hand. Mechanisierung und betriebliche Konzentration entzogen dem ländlichen Heimgewerbe in der Folgezeit, ab etwa 1800, immer mehr die Existenzbasis. Die Entindustrialisierung des flachen Landes im Lauf des frühen 19. Jahrhunderts führte gerade bei den Inhabern von Kleinstellen zu einem neuerlichen sozialen Abstieg: Dies waren die Hauptbetroffenen der Pauperisierung des Vormärz. Gerade aus diesen Schichten stammten die Zuwanderer in die großen Städte, vorab nach Wien. Hier drückte das neue Arbeitskräfteangebot (aber ganz überwiegend an ungelernten, unqualifizierten Arbeitskräften) die Löhne.
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Schon die große Krise nach Beendigung der Kontinentalsperre traf die Wiener Arbeiter schwer. Bei einem Lohn von ungefähr 100 Gulden im Jahr und bei Wohnungskosten von 50 bis 70 Gulden konnten die Arbeiter „[... ] wählen zwischen einem Dach über dem Kopfe und einer kärglichen Ernährung. Beides zugleich war ihnen nicht erreichbar [...]". Damals sind auch zahlreiche Arbeiter wieder aus Wien weggezogen. Besser sollten die 1820er Jahre gewesen sein, sie dürften eine Aufwärtsbewegung der Reallöhne gesehen haben. Um 1825 setzte jene deutliche Belebung der industriellen Tätigkeit ein, die auch die 1830er Jahre zumeist prägte. Spätestens seit den 1840er Jahren war es damit vorbei. Die letzte günstige Konjunkturperiode endete 1844, im Jahr der ersten Arbeiterunruhen. 1845 bis 1847 gab es Missernten. Besonders der Ausfall der Kartoffel führte zu einer Hungerkrise. Das Stocken des Absatzes gewerblicher Produkte war die notwendige Folge der starken Erhöhung der Lebensmittelpreise. Dabei hatte man schon vorher die Arbeitslöhne einer ganzen Familie, die Kinder eingeschlossen, gebraucht, um die Existenz zu sichern. Die weit verbreitete Kinderarbeit führte zu einer nur kurzen Lebenserwartung und zu zahlreichen Krankheiten: „[...] Die in den von mir gesehenen Fabriken beschäftigten Kinder unterscheiden sich auffallend durch einen schwächeren Knochen- und Muskelbau von den Lehrjungen der Handwerker [...] Knochenverkrümmungen infolge der so genannten englischen Krankheit, die man aber leider mit ebensolchem Rechte auch schon die Wiener Krankheit nennen könnte, Bauchscrofeln und scrofulose Brustleiden sind die häufigsten Erkrankungen dieser Kinder [...] Auffallender als inner den Linien zeigt sich die schwächliche Körperkonstitution der Fabrikkinder in den großen Baumwollspinnereien der Umgebungen [...] Bauchscrofeln und scrofulose Abzehrung sollen nicht selten [...] frühzeitiges Altern und Absterben das gewöhnliche Los derselben sein [...]" (Dr. Ludwig Mauthner, 1841). Die Verschlechterung des Lebensstandards zeigt sich in allen Indikatoren, beim Wohnen, bei der Ernährung, bei der Möglichkeit einer Hausstandsgründung (wo überall Einschränkungen feststellbar sind) und bei der Zahl der unehelichen Kinder (die anstieg). 1844 brachen Arbeiterunruhen in Prag aus. Die Hauptbeschwerden der Arbeiter richteten sich gegen die Perotine. Sie forderten ein Verbot dieser Maschine, die vielen (Stoff-)Druckern die Arbeit genommen hätte. Ferner wurden Lohnerhöhungen verlangt. Tatsächlich hatten die Fabrikanten nicht bloß neue Maschinen eingestellt, sie beschäftigten auch zahlreiche Kinder, wodurch der Lohn der qualifizierten Drucker gesenkt werden konnte. Die Arbeiter erhoben auch darüber Klage, dass ihnen nur ein Teil des Lohnes in Bargeld, der Rest aber in teuer verrechneten Waren verabreicht wurde (Truck-System). Der Statthalter, Erzherzog Stephan, lehnte zwar die Forderung nach Lohnerhöhungen
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als Eingriff in privatrechtliche Verhältnisse ab, machte aber den interessanten Vorschlag von „Eintrachtsgerichten" zur Regelung der zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern schwebenden Fragen, womit er Gedanken vorwegnahm, die erst bei Ende des Ersten Weltkrieges in den Einigungsämtern und (später) Arbeitsgerichten verwirklicht wurden. Ausgearbeitet wurde aber der Entwurf einer Hausordnung für Druckfabriken, mit genauer Abgrenzung der Rechte und Pflichten der Arbeiter, die von allen Druckereien schließlich auch übernommen wurde. Nicht nur wegen diesen Regelungen sind die Unruhen von 1844 von historischem Interesse. Wichtig ist auch der Hintergrund der augenscheinlichen und wirksamen Solidarität der Arbeiter innerhalb der Prager Druckfabriken (aber auch darüber hinaus): Die praktisch lückenlose Solidarität wurde nicht nur — wie dies ja in fast allen vorindustriellen Konflikten belegt ist — durch Androhung von Gewalt erzwungen, sondern auch durch die Drohung, man werde jene, die nicht mitgingen, aus der gemeinsamen Hilfskasse ausschließen. Diese Hilfskassen in der Tradition alter Gesellenladen waren freilich ein gewichtiges Druckmittel, da jeder Arbeiter wöchentlich 20 Kreuzer einzahlte und nun fürchten musste, seine Ansprüche zu verlieren. Der mögliche Verlust von Unterstützung aus der Kasse war es auch, der die Solidarität der Landdrucker mit den Druckern von Prag erzwang. Trotz dieser Ereignisse, trotz der Verschärfung der Lage der Unterschichten in den Jahren 1845 bis 1847, trotz der in Polizeiberichten immer häufiger geäußerten Befürchtungen, es könnte, angesichts der wachsenden Arbeitslosigkeit und Verelendung, zu gewaltsamem Vorgehen der Arbeiter kommen, geschah nichts, wenn man von einigen Erdarbeiten und dem beschleunigten Beginn von Eisenbahnbauten absieht. Im März 1848 erfolgte der eigentlich längst erwartete Ausbruch. Er richtete sich wieder in erster Linie gegen die zum Symbol der Arbeitslosigkeit gewordene Perotine.
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Die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft
Die zwischen 1 750 und 1850 abgelaufenen Prozesse der Veränderungen am Lande ebenso wie in der Stadt, der Übergang von der Manufakturproduktion zur Fabrik, die Entstehung neuer und verarmter Unterschichten, konnte von den Zeitgenossen zwar mit Mitleid, Furcht oder Abscheu beobachtet werden, ihre Interpretationen bereiteten aber einige Schwierigkeiten, wie der folgende Text zeigt: „Obgleich die arbeitende Classe, aus Tagelöhnern, Handlangern u. dgl. bestehend, dem Bürgerstande eigentlich nicht zugetheilt werden dürfte, sondern vielmehr unter dem bezeichnenderen Namen des Pöbels eine eigene Classe von Menschen bildet, so kann doch die Einreihung derselben im Staatsverbande füglicherweise nicht anders als unter den Reihen der Bürgerschaft stattfinden ..."
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Wenn diese eher holprige Argumentation, dass die „arbeitende Classe" zwar gesondert zu bezeichnen sei, aber eigentlich doch zu den „Bürgern" gezählt werden müsse, mehr widerspiegelt als ein jener „Classe" noch fehlendes Klassenbewusstsein, dann ist es wohl die Tatsache, dass die neue Arbeiterschaft sowohl aus der alten feudalständischen Sozialgliederung (Fürst — Grundherren — Bauern) als auch aus der letztlich höfisch konzipierten Sozialpyramide Fürst — Bürokratie — Untertanen herausfiel. Sie passte aber auch nicht recht zum „Bürgerstande", den selbständigen städtischen Berufstätigen in Handwerk und Gewerbe, mit denen sie andererseits ökonomisch noch am ehesten vergleichbar waren. Vielleicht steckt aber die Beobachtung dahinter, dass die nach kapitalistischen Prinzipien orientierte bürgerliche Gesellschaft zum Bürger den Arbeiter als unumgängliche Begleiterscheinung hervorbringen musste? Dies würde voraussetzen, dass in Österreich tatsächlich eine bürgerlich-kapitalistische Ordnungentstand, beherrscht von unternehmerischen Großhändlern, Bankiers, Gewerbetreibenden und Fabrikanten. Ansätze für eine solche Entwicklung waren zweifellos vorhanden. Sowohl der höfische wie der Reformabsolutismus haben sich redlich bemüht, sie zu verstärken — freilich stets als Mittel zum (Staats-)Zweck: Wirtschaftliche Stärkung der habsburgischen Herrschaft zur Stärkung im internationalen Konzert der Mächte.
6.1
Das neue Unternehmertum
Sicher sind im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert die „bourgeoisen" Gruppierungen stark angewachsen. Sie bestanden aus Großhändlern und Privatbankiers, aus privilegierten Fabriksinhabern und Manufakturisten, aus Spediteuren und Spezialhändlern, aus zünftigen oder unzünftigen Gewerbetreibenden, die sich gegenüber ihren konservativeren Kollegen zu größeren Unternehmern oder sogar Verlegern entwickeln konnten. Die Zahl solcher unternehmerischer Individuen war insgesamt nicht sehr groß, sie nahm aber besonders deutlich zu. Diese unternehmerischen Gruppen waren noch lange nicht einheitlich — weder in materieller noch in kultureller Hinsicht. Während die Spitzengruppe dieses Unternehmertums, meist in mehreren wirtschaftlichen Bereichen tätige Großhändler und Privatbankiers, die häufig auch an den neuen Industrien beteiligt waren, nicht nur große Reichtümer anhäufen konnten, zu den Mäzenen Mozarts und Beethovens gehörten und in ihren Salons Diplomaten, Dichter und Musiker sowie Mitglieder des Hochadels versammelten, hatten selbst mitarbeitende Manufakturinhaber oder (auch wohlhabende) Gewerbsinhaber und Handwerker viel bescheidenere materielle Möglichkeiten und auch andere kulturelle Ansprüche. Keiner von ihnen taucht im berühmten Salon der Fanny von Arnstein oder selbst im wesentlich bescheideneren der Karoline Pichler auf. Noch nach 1848 war von diesen Unterscheidungen einiges zu spüren,
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etwa wenn der Großvater des Schriftstellers Emil Erti, ein wohlhabender Seidenfabrikant vom Schottenfeld, es ablehnte die neue Hofoper zu besuchen — das gehörte sich (auch noch um 1870) nicht für dieses gewerbliche Vorstadtbürgertum. Um 1790 existierte noch kein gemeinsamer Begriff für die neuen unternehmerischen Gruppen. Jene nach heutigem Verständnis „bürgerlichen" Gruppen galten um 1800 und bis um 1840 eigentlich noch nicht als „Bürger", weil dieser Begriff bis 1848 noch eindeutig dem Begriffsinhalt „Stadtbewohner mit Bürgerrecht" verpflichtet war. Zwischen etwa 1790 und 1830/40 ergab sich eine gewisse Änderung insofern, als man im Vormärz die „neuen" gesellschaftlichen Gruppierungen als „Mittelstand" zusammenfasste. So bezeichnete Eduard von Bauernfeld 1841 „Professoren, Gelehrte, Künstler, Fabrikanten, Handelsleute, Ökonomen, Beamte und Geistliche" als Angehörige des „Mittelstandes", teilweise konnten hier auch Handwerker einbezogen werden — wohl nur die erfolgreichsten. Erst nach dem endgültigen Aus für die alte Sozialverfassung 1848 wurde der Bürgerbegriff umfassender verwendet, es scheint, als ob nun der Begriff des „Bürgers", „Besitz und Bildung" zusammenfassend, an die Stelle des „Mittelstandes" getreten wäre. Der Mittelstandsbegriff hingegen wurde dadurch offenbar in seiner sozialen Verortung beweglich: Seit den 1870er Jahren begegnet er als Kampfbegriff für die verunsicherten Kleingewerbe — also für jene Schichten, die im Vormärz nicht oder nur am Rande zu den (damals aufsteigenden) Mittelklassen gezählt wurden. Woher kamen die „neuen" Unternehmer in sozialer und geographischer Hinsicht? Unter 500 für die Zeit von etwa 1770 bis 1810 untersuchten Angehörigen dieser „Bourgeoisie" (davon 240 Manufakturisten und Verleger, 163 Großhändler und Bankiers sowie 97 „multipotente" Unternehmer) scheint die Herkunft aus dem Handel zu dominieren. Kaufleute und Großhändler waren größtenteils bereits in die Fußstapfen (meist) des Vaters getreten. Bei den „reinen" Manufakturunternehmern, von denen man viel weniger weiß, sind aber viele aus dem zünftigen oder freien Handwerk aufgestiegen, durch Fleiß und Sparsamkeit, vielleicht auch durch den „Verlag" von Berufsgenossen. Auf jeden Fall herrschte die Herkunft aus einem dem Wirtschaftsleben verbundenen Milieu bei weitem vor. Nur selten waren die Unternehmerväter Beamte oder auch Angestellte gewesen. Nach ihrer regionalen Herkunft stammten die meisten Wiener Unternehmer aus der Habsburgermonarchie (etwa 140 von 242 bekannten Fällen), die Mehrzahl davon aus Wien selbst. Die zweitgrößte Gruppe kam aus dem Reich (45), dann folgten Schweizer (21), Italiener (14, wobei einige von ihnen wohl aus habsburgischen Gebieten kamen), Franzosen und Engländer (je sechs). Die Schweizer stellten die wichtigsten Bankiers (Fries, Geymüller, Steiner), aber auch Textilunternehmer; Franzosen kamen als Seidenproduzenten und Großhändler, Engländer wie Rosthorn, Hickman und Thornton bereicherten die Textil- und Metall- bzw. Maschinenindustrie. Die meisten der aus Deutschland stammenden Unternehmer kamen aus Süd- und Südwestdeutschland, aus den mit Österreich und den Habsburgern seit Jahr-
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hunderten eng verbundenen Reichsstädten wie Augsburg, Nürnberg und Frankfurt; sie fungierten primär als „Niederleger" (privilegierte Großhändler alten Stils), Großhändler und Bankiers. Sehr viel weniger Unternehmer stammten aus dem Nordwesten, darunter immerhin fünf aus Hamburg, die sich um neue Produktionen (Samterzeugung) verdient machten. Jedenfalls kamen fast alle Zuwanderer aus Städten — das neue Wirtschaftsbürgertum steht vielfach in (auch genealogischer) Kontinuität zum „alten" Stadtbürgertum. Es entwickelt sich aus ihm heraus. Die Einheimischen scheinen das bereits dichte Mittelfeld der Betriebe besetzt zu haben, das hinter der Spitzengruppe der aus dem Ausland stammenden „Prominenz" offenbar in rascher Entwicklung stand. Dieses Zeugnis für das Wiener Unternehmertum wird bestätigt und unterstrichen, wenn man andere Regionen zum Vergleich heranzieht, etwa Vorarlberg oder Oberösterreich. Überall tritt zwischen etwa 1800 und 1840 ein neuer, einheimischer Unternehmertyp auf, oft angeregt durch das Vorbild von ausländischen Unternehmern, die eine Vorreiterrolle gespielt hatten. Das war insbesondere in Vorarlberg der Fall. In der stark ländlich geprägten Gesellschaft Vorarlbergs kamen die ersten Anstöße zur industriellen Entwicklung von Händlern und Fabrikanten aus der Schweiz bzw. Süddeutschland. Allmählich entstand eine eigene Unternehmerschaft aus relativ kapitalkräftigen halbbürgerlichen Gruppierungen, die Landwirtschaft mit Handel, Wirtsgewerben oder Verlag verbanden. Nach dem religiösen Bekenntnis waren von den genannten 500 Wiener Unternehmern 83 Evangelische und 40 Juden. Von den Letzteren konvertierten 16 zum Katholizismus. Allerdings war der Anteil von Protestanten und Juden gerade in der Spitzengruppe der Unternehmer unverhältnismäßig groß. Katholiken waren mehrheitlich kleine Manufakturisten. Im Hinblick auf Innovationen und Kapitalkraft war aber das nichtkatholische Unternehmertum von besonderer Bedeutung. Das war der Regierung auch bekannt. Unter den privilegierten Unternehmern hatten sich auch schon vor Joseph II. zahlreiche Protestanten befunden. Gerade das Verbot, einer Zunft anzugehören, zwang protestantische Unternehmer zu einer innovativen Wirtschaftsweise. Wir finden sie in der Baumwollwarenproduktion, in der Seidenzeug- und Bandproduktion, in der Fabrikation leonischer Waren, in der chemischen Industrie, im Verlagswesen .Juden waren bis 1 782 höchstens als Teilhaber bei industriellen Unternehmungen geduldet, sie waren eben Hoffaktoren und daher für die sonstige Wirtschaft nicht so wichtig. Kommerzielle Kenntnisse und Energien der nichtkatholischen Gruppen sollten nun in verstärktem Maße der inländischen Industrie dienstbar gemacht werden. Sowohl das Toleranzpatent Josephs II. für die akatholischen Christen 1 781 als auch jenes für die Juden (1 782) waren stark von wirtschaftlichen Erwägungen bestimmt. Allerdings wurden erhebliche Unterschiede zwischen Protestanten und Juden gemacht. Während die beiden evangelischen Konfessionen eigene Gemeinden gründen durften (in denen die ökonomisch führenden Persönlichkeiten sofort eine sehr bedeutende Rolle spielten), blieb
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dies den Juden in Wien verwehrt, sie mussten weiterhin als „Tolerierte" eine zwar gegenüber dem älteren Status etwas weniger prekäre, aber keineswegs auch nur annähernd gleichberechtigte Position einnehmen. Der Erwerb von Grund und Boden war ihnen nach wie vor verboten. Dennoch sind auch jüdische Unternehmer jetzt etwas vermehrt in die Produktion eingestiegen (etwa die Arnsteiner und Eskeles), jedoch ohne dass diese bereits gegenüber den Geldgeschäften überwogen hätte. Vergleicht man diese Situation mit jener des Vormärz, mit der Phase der eigentlichen Industriellen Revolution, so hat sich nicht allzu viel geändert. Nach wie vor war die Bedeutung von Zuwanderern für die Rekrutierung der Bourgeoisie groß, vor allem für die Spitzenpositionen. Neben den im Zusammenhang mit der Finanzierung der Kriege gegen Napoleon nach Wien gekommenen Rothschild ist etwa auf mehrere Angehörige der Familie Schoeller zu verweisen, die — aus Nordwestdeutschland stammend — ab 1819 wichtige Positionen im österreichischen Wirtschaftsleben einzunehmen begannen, nicht nur in Brünn/Brno, wo Philipp Schoeller ein großes Textilunternehmen leitete, sondern auch im heutigen Österreich, wo Alexander Schoeller gemeinsam mit Arthur Krupp die Metallwerke in Berndorf (Niederösterreich) ins Leben rief, oder gemeinsam mit dem deutschen Stahlfachmann Johann Heinrich Bleckmann ein Edelstahlwerk in Ternitz. Im Vormärz waren aber auch schon quasi „amerikanische" Aufstiege möglich. Aus der Position eines liechtensteinischen Herrschaftsgärtners stieg Albert Klein, später nobilitiert mit dem Adelsprädikat „von Wasenberg", zu einem der größten Bauunternehmer und -Industriellen auf; die Firma Brüder Klein baute in den 1840er Jahren die wichtigsten Eisenbahnlinien der Monarchie. Ihr Chef wurde zum Mitbegründer der größten Eisenwerke der Habsburgermonarchie in Kladno/Böhmen. Das Unternehmerbürgertum bildete nun auch eine stärkere genealogische Konstanz heraus. Familienkontinuität seit dem 18. Jahrhundert zeigen nur wenige österreichische Unternehmerfamilien (etwa die Leitenberger), obgleich die Tendenz zur famiiialen Vernetzung innerhalb der unternehmerischen Gruppen auch damals schon deutlich ausgeprägt war. Seit dem Vormärz bildeten sich aber große Unternehmerdynastien heraus (wie die Schoeller, die aus Schottland stammenden Skene, die Klein-Wisenberg, die Miller-Aichholz, die Cornides und die Pacher-Theinburg usw.). Die familiale Vernetzung erreichte nunmehr über die eigentlich unternehmerischen Gruppen hinaus andere, bildungsbürgerliche und in den Spitzengruppen auch adelige Familien. Das Bürgertum als neue Klasse von „Besitz und Bildung" entsteht. Ein Beispiel dafür bilden die Nachkommen von Heinrich von Pereira (1774 - 1835) und Henriette Freiin von Arnstein (1780 - 1859), die übrigens eine Tochter der berühmten aus Berlin stammenden Salonière Fanny von Arnstein war. Da die Amsteiner im Mannesstamm ausstarben, erbten die Kinder aus dieser Ehe Wappen, Namen und Vermögen beider Familien. Flora heiratete 1836 Moritz Graf Fries (aus der Schweizer Bankiersfamilie), August von Pereira-Arnstein (1811 - 1847) heiratete eine Gräfin Varkony, der ältere Sohn aus dieser Ehe eine Gräfin Széchenyi,
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der zweite, Viktor, Victoire Gräfin Fries, die ihrerseits aus der aus der Schweiz gekommenen Bankiersfamilie Fries stammte, in die schon Flora von PereiraArnstein eingeheiratet hatte. Werfen wir einen kurzen Blick voraus, bis ins 20. Jahrhundert: Ein Sohn aus dieser Ehe, Adolf von Pereira-Arnstein, hatte einen Sohn Ignatius, der Kitty von Böhler heiratete (die Böhler waren aus Deutschland zugewandert und Inhaber eines bedeutenden Edelstahlunternehmens in Kapfenberg). Eine Schwester des Ignatius, Maria, heiratete 1949 Gregor Zacherl aus einer Wiener Industriellenfamilie, die ihrerseits aus Bayern stammte und nicht nur durch das „Zacherlin", ein Insektenpulver aus Chrysanthemenblüten für die Industrie-, sondern auch durch das von dem damals noch jungen slowenischen Architekten Josef Plecnik 1905 erbaute „Zacherlhaus" in der Wiener Innenstadt auch für die Architekturgeschichte einige Bedeutung erlangte. Von den Töchtern des August von Pereira-Arnstein heiratete eine übrigens Peter Freiherrn von Pirquet, der später Reichsratsabgeordneter wurde — aus dieser Ehe stammte der bedeutende Kinderarzt Clemens Frh. v. Pirquet (1874 - 1929) sowie der Techniker und Raumfahrtexperte Guido Frh.v. Pirquet (1880 - 1966). Auch die Verbindungen zwischen Wirtschaft und Kunst wurden enger. Arrivierte Unternehmer ließen sich von den beliebten Malern des Biedermeier porträtieren, so der Großindustrielle Rudolf von Arthaber mit seinen Kindern von Friedrich Amerling (1837). Arthabers Villa in Döbling gelangte übrigens später in den Besitz der Familie Wertheimstein und beherbergte den wohl letzten bedeutenden literarischen Salon Wiens, jenen der Josephine von Wertheimstein (1820 - 1894) und ihrer Tochter Franziska (1844 - 1907). Hier war Eduard von Bauernfeld oft zu Gast, später Ferdinand von Saar und noch der junge Hugo von Hofmannsthal. Andere Unternehmersöhne wurden selber Maler. Josef Danhauser (1805 - 1845), der Sohn des Tischlermeisters Danhauser, der 1808 eine Landesbefugnis für sein bis 1814 zur größten Möbelfabrik Österreichs ausgebautes Unternehmen erhalten hatte, wurde selbst ein hervorragender Darsteller des Bürgertums seiner Zeit und mit Bildern wie „Der reiche Prasser" (1836) oder „Die Klostersuppe" (1838) sehr populär. 1830 übernahm er übrigens die Fabrik seines Vaters. Leopold Kupelwieser (1 796 - 1862) stammte vom Inhaber eines Hammerwerks in Niederösterreich ab und wurde der wichtigste Maler religiöser Motive im Wiener Vormärz; seine Söhne sollten übrigens wieder eine bedeutende Rolle in Wirtschaft und Wissenschaft sowie als Mäzene spielen.
6.2
Bürgerlichkeit und Bildung
Neben dem Wirtschaftsbürgertum umfasst der Begriff des Bürgers im 19. Jahrhundert auch eine zweite Komponente, die sich in Bedeutungsinhalten wie „Bildung", „Aufklärung" und „Vernunft" ausdrückte. Das waren, soweit es den Umgang mit Kapital, Zeit, eigener und fremder Arbeitskraft betraf, durchaus auch Inhalte, die mit einem neuen Unternehmerideal zu tun hatten. Darüber hinaus versah man aber in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gerade Worte
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wie „Aufklärung" mit einer alles überragenden Bedeutung, die sich nichts weniger zum Ziele setzte als die „Glückseligkeit" aller Menschen, inhaltlich gefasst als Möglichkeit zu erweiterter Erkenntnis der menschlichen Natur und ihrer Ziele, die man nur durch ein stark erhöhtes Maß an Bildung erwerben konnte. Bildung, Kenntnis von Rechten und Pflichten, Achtung für die Mitmenschen — dieser ganze Komplex von „Aufklärung" macht das Wesen der „bürgerlichen Gesellschaft" aus: „[...] Es gehört unter die unbezweifelten und vollkommen erwiesenen Sätze, dass sich eine bürgerliche Gesellschaft von einer Horde wilder Menschen nur durch die Grundsätze ihrer Verbindung, die aller anderen Ausbildung vorhergehen, unterscheidet: dass es kein Recht ohne Verbindlichkeit, und keine Verbindlichkeit ohne Recht gibt [...]" (Gottfried van Swieten, 1789). Die „bürgerliche Gesellschaft" van Swietens umfasst zwei Aspekte: zum einen die Unterscheidung vom „Wilden", zum anderen den Grundsatz der Rechtsförmlichkeit der gesellschaftlichen Verpflichtungen. „Bürgerlich" heißt daher in diesem Kontext sowohl „zivilisiert" (also aufgeklärt, gesittet, ordentlich usw.) wie auch „in rechtsstaatlichen Verhältnissen lebend". Sollte eine solche Gesellschaft entstehen, dann war es notwendig, „Bildung" und „Aufklärung" zu verbreiten. Nur der „aufgeklärte" Mensch würde ja dieser „zivilisierte", „bürgerliche" sein. Da die Aufklärung jedoch auch eine kritische Haltung gegenüber dem Staat auslösen könnte, war es notwendig, das zusätzliche Bildungsstreben noch besonders damit zu begründen, dass nur der aufgeklärte Bürger seine Pflichten gegenüber dem Staate und dem Fürsten mit Freuden und bereitwillig erfüllen würde, während der unaufgeklärte uninteressiert am „allgemeinen Besten" bleiben müsse. Eine allgemeine Hebung des Bildungsniveaus erforderte eine Auseinandersetzung mit der bislang im Bildungssystem fast unumschränkten Herrschaft der Kirche: Im Bereich der Universitätsbildung dominierten die Jesuiten, bei den „lateinischen" Schulen (Gymnasien) neben diesen die Piaristen; die „deutschen" Schulen waren fast zur Gänze Pfarrschulen. Kirchen- und Bildungsreform der theresianisch-josephinischen Epoche gehören also untrennbar zusammen. Wenn aber die entstehende, vom Staate begünstigte bürgerliche Gesellschaft als eine in ihrem möglichen kritischen Potential eingeschränkte konzipiert wurde (immer im Hinblick auf den angestrebten Endzweck der Stärkung des habsburgischen Staatswesens), dann konnten diese Reformen auch nicht bedeuten, dass die in der Periode des höfischen Absolutismus eingeleitete Bewegung erhöhter Disziplinierung nun abgebrochen oder vermindert worden wäre. Ganz im Gegenteil: Die „bürgerliche" Gesellschaft sollte aus lauter disziplinierten Individuen bestehen, die ihre „Glückseligkeit" in Pflichterfüllung gegen Gott und die Obrigkeit sowie im verstärkten Streben nach einem ordentlichen Lebensunterhalt (und durchaus auch in der Jagd nach verschiedenen neuen Konsumgütern) suchen und finden sollten. Nicht nur die reformierten Schulen sollten der Massendiszipli-
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nierung dienen, auch ein reformiertes Militär- und Überwachungssystem, kurz, eine durchgehende Bürokratisierung des Herrschaftsapparates. Quantitativ mussten also die Reformen des 18. Jahrhunderts bedeuten, dass die Geistlichkeit vermindert, Militär und Beamtenschaft jedoch stark vermehrt wurden. Die Geistlichkeit wurde in den Dienst des Staates genommen. Diese „josephinischen" Eigenheiten sollten die bürgerliche Gesellschaft Österreichs bis tief ins 19. Jahrhundert prägen.
6.3
Die theresianisch-josephinischen Reformen und ihre sozialen Auswirkungen
6.3.1
Die Reform des Schulwesens
6.3.1.1 Die Universitäten Die Universitäten wurden von Stiftungen in Staatsanstalten umgewandelt. Diese Stiftungen, korporativ organisiert, standen schon seit dem 16. Jahrhundert unter der strengen Auflage, nur katholische Wissenschaft zu vermitteln. Die 1365 bzw. 1384 (faktisch wieder) gegründete Wiener Universität wurde schon im 16. Jahrhundert unter Ferdinand I. starker iandesfürstlicher Kontrolle unterworfen, 1623 wurde sie mit dem Jesuitenkolleg vereinigt, der Orden übernahm die theologische Fakultät zur Gänze. Graz wurde 1568 als Jesuitenuniversität gegründet, Innsbruck 1669. In Salzburg bestand seit 1623 eine Universität, die von den Benediktinern getragen wurde. Im 18. Jahrhundert wurde die Vernachlässigung der juridischen und medizinischen Studien durch die Orden scharf kritisiert. Die Universitäten sollten stärker auf die Bedürfnisse des Staates hin orientiert werden. Sie sollten — nach einem viel zitierten W o r t Josephs II. — nicht „Gelehrte", sondern nur Staatsbeamte heranziehen. Nichts sollte hier gelehrt werden, was die Zuhörer nicht sofort zum Besten des Staates verwenden könnten. Von 1747 an beschäftigte sich Gerard van Swieten mit der Reform der Wiener medizinischen Fakultät, aus der — Schritt für Schritt — auch die Reform der anderen Fakultäten hervorging. Seit 1760 bestand eine Studien-Hofkommission, die sich ausschließlich mit Unterrichtsfragen beschäftigte. Die Jesuiten wurden zurückgedrängt, 1773 wurde der Orden aufgehoben. Die Wiener Universität war seither Staatsanstalt, mit der einzigen Bestimmung, gute Staatsdiener, Juristen, Priester und Lehrer hervorzubringen. Für bestimmte Beamtenlaufbahnen wurde die Absolvierung eines Universitätsstudiums vorgeschrieben. Die Universität wurde ein wichtiger Teil der als „Politikum" angesehenen „Nationalbildung", die nicht nur Kenntnisse und Wissen, sondern vor allem Haltungen zu vermitteln suchte: Loyalität und Staatstreue, Ergebenheit gegenüber dem Herrscher und ein Bewusstsein, das im Dienste an dessen Staat persönliche Erfüllung suchte. Trotz dieser Einschränkungen hat die medizinische und rechtswissenschaftliche Ausbildung von den Änderungen zweifellos profitiert. Radikaler ging man mit anderen Univer-
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sitäten des heutigen Österreich um: Graz wurde nach 1773 zu einem Lyzeum degradiert, aber 1827 als Universität wieder errichtet. Salzburg wurde 1810, unter bayerischer Herrschaft, aufgehoben (und erst 1962 erneuert), nur die Innsbrucker Universität blieb bestehen. Die Funktionszuschreibungen des Reformabsolutismus gegenüber den Universitäten blieben im Wesentlichen bis 1848 die gleichen, das wissenschaftliche Niveau der Universität blieb auch im Vormärz bescheiden. Wissenschaftliche Leistungen waren eher von den Betreuern der naturhistorischen, künstlerischen oder bibliothekarischen Hofsammlungen zu erwarten als von Universitätslehrern. Der Vortrag der Professoren hatte sich streng an den Rahmen der approbierten Lehrbücher zu halten. Die immer spürbarere Unterlegenheit gegenüber den deutschen, insbesondere den von Wilhelm von Humboldt reformierten preußischen Universitäten führte im Vormärz zu einer verbreiteten Unzufriedenheit unter Professoren und Studenten. Noch immer blieb die philosophische Propädeutik an den Artistenfakultäten, weshalb die jungen Leute auch ungefähr im Alter von 16 Jahren die Universität bezogen Es nimmt nicht Wunder, dass sich gerade in diesen Kreisen die wichtigsten Wortführer jener Wünsche fanden, die im Vorfeld der Revolution von 1848 geäußert wurden.
6.3.1.2 Das mittlere Schulwesen Die Lateinschulen hatten im Wesentlichen die Aufgabe, auf die Universität vorzubereiten. Auch sie wurden im 17. und 18. Jahrhundert ganz überwiegend von Orden geleitet, von Piaristen und Jesuiten, aber auch von Benediktinern. Diese mittleren Schulen den Orden ganz abzunehmen, fehlten dem Staate die Mittel. Auch auf diesem Feld brachten die 1770er Jahre eine entscheidende Wende. An die Stelle der Jesuiten traten meist Piaristen. Im Wesentlichen brachte die Gymnasialreform einen sechsklassigen Schultyp zustande, der eine reformierte Lateinschule war und im Prinzip noch immer die sieben freien Künste vermittelte. Noch immer herrschte das Klassen-, nicht das Fachlehrersystem, und die Klassen waren noch immer im Prinzip nach den „artes liberales" gegliedert. Joseph II. hob viele Gymnasien auf, da er kein halbgelehrtes Proletariat wollte. Auch die zur Heranziehung des eigenen Nachwuchses existierenden Ordens-Lateinschulen wurden vielfach aufgehoben. Sie konnten dort als öffentliche Anstalten weiterbestehen, wo sie direkt auf Universität oder Lyzeum vorbereiteten bzw. dort, wo ein wohlhabendes Kloster den Unterhalt der Professoren garantierte. So wurde 1778 dem Stift Melk gestattet, ein öffentliches Gymnasium einzurichten. 1 787 wurde diese Schule in die Kreishauptstadt St. Pölten verlegt, die Professoren mussten aber nach wie vor vom Stift bereitgestellt werden. 1804 wurde diese Maßnahme allerdings zurückgenommen, das Stiftsgymnasium nahm wieder in Melk seine Tätigkeit auf. Als die Benediktiner von St. Blasien im Schwarzwald nach ihrer Aufhebung nach Österreich kamen und hier eine neue Heimstätte suchten, wurde ihnen das aufgelassene Kloster St. Paul im Lavanttal 1809 zugewiesen, allerdings mit der Auflage, Gymnasium
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und Lyzeum in Klagenfurt zu betreuen sowie ein Gymnasium in St. Paul selbst zu errichten und zu unterhalten. Weitergehende Reformen (u.a. das Fachlehrersystem) wurden im Rahmen der Studien-Hofkommission zwar ausführlich diskutiert, scheiterten aber letztlich am Widerstand konservativerer Kreise und am ewigen Geldmangel. 6.3.1.3 Grundschulausbildung Während die höheren Bildungsinstitutionen in einer Weise umgestaltet wurden, dass sie primär zu Lehranstalten für tüchtige und staatstreue Beamte wurden, sollten die niederen Schulen ein gewisses Maß an Bildung und „Aufklärung", bessere Kenntnisse in der Religion und im landwirtschaftlichen Bereich, erhöhte Arbeitsamkeit und Disziplin vermitteln. Zugleich sollten diese Schulen Instrumente gesellschaftlicher Integration auf der Ebene des Staates werden. Die „deutschen" (im Gegensatz zu den „lateinischen") Schulen wurden reguliert, vereinheitlicht und verallgemeinert. An jedem Pfarrort sollte eine Schule bestehen, in der die drei wichtigsten Bildungsgüter Lesen, Schreiben und Rechnen (daher „Trivial"-Schulen) erworben werden konnten. In Kreisstädten oder anderen größeren Orten sollten Hauptschulen eingerichtet werden und in den Landeshauptstädten Normalschulen, die zugleich die Aufgabe hatten, die Lehrer heranzubilden. Auch angehende Geistliche sollten eine Normalschulprüfung absolviert haben. Wie schon oben (S. 189) beschrieben, ergaben Voruntersuchungen anfangs der 1770er Jahre, dass wenigstens in den zentralen Gebieten der Monarchie ungefähr so viele Schulen bestanden wie Pfarrorte, dass aber der Schulbesuch äußerst dürftig war. Nur 20% der schulfähigen Kinder dürften tatsächlich Unterricht erhalten haben — in Städten und Märkten mehr, in rein bäuerlichen Gegenden und in den Randzonen des Herrschaftsgebietes deutlich weniger. 1 774 erfolgte das thereslanische Einrichtungswerk für die „deutschen Schulen", ausgearbeitet vom Abt Felbiger von Sagan in Niederschlesien. Lehrmethode und Lehrbücher wurden vereinheitlicht. Die Eltern wurden dringend ermahnt, ihre Kinder in die Schulen zu schicken. Noch waren aber Kirche und Schule engstens verbunden: Der Lehrer blieb nach wie vor in der Regel Mesner und Organist, auch die Schulaufsicht blieb vorerst bei den kirchlichen Instanzen. Kurz nach dem Regierungsantritt Josephs II. ergab eine Untersuchung der Wirksamkeit der theresianischen Schulreform, dass nun im Staatsdurchschnitt ein knappes Drittel der schulfähigen Kinder tatsächlich die Schule besuchten. Die Unterschiede waren allerdings noch immer groß: In Vorderösterreich betrug dieser Prozentsatz fast 70%, in Krain dagegen nur 3%. Von Galizien fehlten überhaupt verwertbare Angaben. Aber auch innerhalb der Länder gab es große Unterschiede. Die deutsche Schule sollte als Werkzeug staatlicher Integration und Vereinheitlichung dienen. Man stellte nur Lehrer an, die neben ihrer Landessprache auch des Deutschen mächtig waren, und wollte so viel an Deutschkennt-
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nissen vermitteln, dass an den Haupt- und Normalschulen wenigstens im letzten halben Jahr die deutsche Sprache vorherrschen oder überhaupt die „einzige übliche" sein sollte. Joseph II. verschärfte diese Bestimmungen noch. So war in den überwiegend slowenisch-sprachigen Gebieten Kärntens nur der Religionsunterricht im Slowenischen erlaubt, im Übrigen war die Unterrichtssprache Deutsch. Sicher verminderte dies den Anreiz zum Schulbesuch. Noch 1825 stellte der Bischof Wolf von Laibach/Ljubljana fest, dass die Krainer Bauern die Schulen wegen der deutschen Unterrichtssprache ablehnten. Als man wenige Jahre später „krainische Trivialschulen", also Schulen mit slowenischer Unterrichtssprache, einrichtete, stieg, zur Befriedigung des Bischofs, der Schulbesuch sofort an, ebenso wie der Absatz von slowenischen Andachtsbüchern, da die Bevölkerung nun wirklich lesen lernte. Etwas anders verlief die Entwicklung in den böhmischen Ländern, in der Bukowina und bei den Rumänen, Kroaten und Serben. Hier erfolgte der Unterricht in der Landessprache (obwohl auch der Erwerb von Deutschkenntnissen beabsichtigt war). Die Übersetzung und Verbreitung von Schulbüchern hat zweifellos großen Einfluss auf die (Re-)Literarisierung der meisten ostmitteleuropäischen Sprachen ausgeübt. Diese Bemühungen um Wortschatz, Orthographie und Grammatik boten aber eine wichtige Voraussetzung für die HerderRezeption und damit für die Ausbildung (sprach-)nationaler Bewusstseinsinhalte, welche teils als Reaktion auf die scharfen Vereinheitlichungsbestrebungen Josephs II. seit den 1780er Jahren beobachtbar werden. Der Versuch, das Ansehen der Schule über eine angesehenere Stellung des Lehrers zu heben, scheiterte an den kargen materiellen Möglichkeiten, durch welche die Lehrer nach wie vor auf ihre Verdienste aus dem Mesner- und Organistenamte angewiesen waren. Daneben mussten sie ihre geringen Barbezüge durch Musizieren, vereinzelt sogar durch Arbeit im Taglohn, aufbessern. Auch die Freistellung der Lehrer vom Militärdienst änderte an der geringen Wertschätzung dieses Berufsstandes nichts. Darüber hinaus wollten die Bauern ihre kleineren schulpflichtigen Kinder für die Beaufsichtigung der Kleinsten und zum Viehhüten, die größeren für andere Arbeiten zu Hause behalten. Joseph II. versuchte zwar, nicht bloß durch verschärfte Strafbestimmungen, sondern auch durch Befreiung der Knaben vom Schulgeld — die Mädchenbildung schätzte man gering, wer sie haben wollte, musste eben zahlen! — zum Schulbesuch anzuregen, rief dadurch aber noch massivere Widerstände hervor, die fast bis zum offenen Aufruhr reichten. In Sulzberg (Vorarlberg) war es schon 1 774 zu einem Aufstand gegen die neue Schule gekommen, Bücher wurden verbrannt und die Regierung setzte Militär ein. Doch nicht nur dieser überwiegend ländliche Widerstand rückte die neue Schule in ein bedenkliches Licht. Gegen Ende der Regierungszeit Josephs II. mehrten sich die Stimmen, die vor einem Zuviel an Bildung warnten. Immerhin war es durch die josephinische Pfarrregulierung zu einer beträchtlichen Vermehrung der mit den Pfarren verbundenen Schulen gekommen. Die Besuchszahlen der Trivialschulen lagen um 1790 deutlich höher als 1780. In Böhmen,
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wo schon 1781 fast 42% der schulfähigen Kinder die Schule besuchten, wurde in dieser Zeit die Zahl der Landschulen von 1200 auf 2400 verdoppelt. Der Besuchsgrad der Schulen stieg auch in den schwierig zu erfassenden Gebirgsländern. So wuchs die Zahl der Schulkinder in der Steiermark auf das Fünffache. Besonders unter dem Eindruck der in Wien auftretenden Broschürenflut wurde die Schule zunehmend kritisiert. Jener Hofrat Birkenstock, der 1792 die Leitung des Unterrichtswesens übernahm, beschrieb, etwas übertreibend, die rasche Ausbreitung der Lesewut in Wien und meinte, dass mit den Schulen Kenntnisse bei den „[...] geringsten zu den beschwerlichsten Arbeiten bestimmten Klassen verbreitet [...]" würden, die „[...] den gewöhnlichen Wirkungskreis dieser Menschen und ihre Verhältnisse übersteigen [...]". Die unliebsame Folge: „[...] Ohne Zweifel lesen, schreiben, rechnen und raisonnieren über die Rechte und Pflichten der Menschen in den Erblanden viel mehr Einwohner als vormals [...]." Genau das hatte ja auch Joseph IL — zum Unterschied von manchen seiner Mitarbeiter, etwa Gottfried van Swieten — nicht gewollt und deshalb auch die höhere Bildung stark beschnitten. Man wünschte sich besser ausgebildete Untertanen, aber keine selbständig denkenden Menschen. Als 1792 das endgültige „Aus" für die josephinische Reformbewegung erfolgte, konnte die neue Richtung schon an Tendenzen der letzten Regierungsjahre Josephs anknüpfen. Schließlich wurde 1805 eine neue „Politische Verfassung der deutschen Schulen" erlassen, deren Hauptziel es war, „[...] die arbeitenden Volksklassen zu recht herzlich guten, lenksamen und geschäftstüchtigen Menschen [...]" zu formen. Die Schulerziehung hatte darauf zu achten, dass Wissensinhalte genau der Schicht entsprachen, der die Schüler entstammten. Jedes überflüssige Wissen war zu vermeiden. Auch dort, wo — wie in den höheren Hauptschulklassen — selbständiges Denken nicht ganz zu umgehen war, wurde vor Vielwisserei und „unnützen Spekulationen" gewarnt. Dabei blieb es bis zum Reichsvolksschulgesetz von 1869. 6.3.2
Die Reformen auf kirchlichem Gebiet
Am unmittelbarsten wurde in das Selbstverständnis breiter Gesellschaftsschichten durch die Reformen im kirchlich-religiösen Bereich eingegriffen. Da die katholische Kirche die größte gesellschaftliche Institution war, die sowohl über materielle Güter wie über die notwendigen immateriellen Voraussetzungen — einigermaßen gebildete Mitglieder — verfügte, erschien es sinnvoll, sie massiv in den Dienst des Staates zu nehmen und als Apparat zur Lenkung und Beeinflussung vorab des Landvolkes zwecks Verbreitung obrigkeitlicher Verordnungen zur Erhöhung der allgemeinen „Glückseligkeit" zu verwenden. Erleichtert wurde die Kirchenreform durch die innerkirchliche Bewegung des Jansenismus
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(nach dem Yperner Bischof Cornelius Jansen). Ein starker Wunsch nach Erneuerung und Besinnung auf das Wesentliche des christlichen Glaubens zeichnet diese Strömung ebenso aus wie eine damit verbundene spiritualistische Tendenz, also ein Bestreben nach einem Kirchenleben aus dem Geist heraus. Barocke Andachtsübungen, Wallfahrten, Prozessionen und Rosenkränze erschienen den Jansenisten als Hindernis für ein Leben im „wahren Christentum", das auch durch vermehrte Nächstenliebe ausgezeichnet sein sollte. Die Reformwünsche waren aber schwer durchzuführen, solange viele Bischöfe außerhalb der habsburgischen Territorien residierten, wie der Salzburger Erzbischof, der Patriarch von Aquileja, die Bischöfe von Augsburg und Passau, oder als Reichsfürsten auch dann nur locker mit den habsburgischen Ländern verbunden waren, wenn ihre Territorien inmitten habsburgischer Länder lagen (wie Trient oder Brixen). Die Macht auswärtiger Oberhirten sollte daher eingeschränkt, dieD/özesangebiete sollten räumlich geschlossen werden und auch auf Sprachgebiete Rücksicht nehmen. Schon 1751 wurde das Patriarchat Aquileja aufgehoben und in die Erzdiözesen Udine und Görz geteilt. 1783/84 entstanden die Bistümer Linz und — durch Verlegung von Wiener Neustadt — St. Pölten, die im Verein mit dem vergrößerten Erzbistum Wien nun die gleichnamige, Ober- und Niederösterreich umfassende Kirchenprovinz bildeten. 1786 wurden die kleinen Salzburger Suffraganbistümer Gurk, Seckau und Lavant neu organisiert, eines in Leoben kam hinzu. Die vier Bistümer waren nun für Steiermark und Kärnten zuständig. Salzburg blieb aber Erzbistum und die Kirchenprovinz, zu der die genannten Bistümer gehörten. Die Diözese Laibach/Ljubljana erstreckte sich jetzt auf das Herzogtum Krain und wurde 1787 anstelle von Görz zum Erzbistum erhoben. Für Südböhmen wurde das Bistum Budweis/Ceské Budëjovice gegründet. Analog zur Reorganisation der Bistümer lief die Neustrukturierung der Pfarren, die eng mit dem Prozess der Klosteraufhebungen und der Schaffung des Religionsfonds verbunden war. Schon vor 1780 wurden in der Lombardei sozusagen probehalber 80 Klöster säkularisiert. 1773 erfolgte die Aufhebung des Jesuitenordens. 1781/82 kam die erste Welle josephinischer Klosteraufhebungen, die die „Müßiggänger", also die in strenger Klausur nur dem Gebete lebenden Orden — Karmeliter, Kartäuser, Kamaldulenser usw. — ebenso betraf wie die Stifte der Domherren. Aus den dabei mobilisierten bzw. in Staatsbesitz übergegangenen Vermögenswerten wurde 1 782 der Religionsfonds gegründet, der primär der Ausstattung und finanziellen Versorgung der neuen Pfarren bzw. dem Unterhalt der Pfarrer und Lokalkapläne dienen sollte. 1783 1787 erfolgte dann der große Klostersturm. In der gesamten Monarchie (also inklusive Mailand, Belgien, Ungarn) wurden 700 bis 800 Klöster aufgehoben. Seit 1783 durften Ordensmitglieder nur mehr in staatlich kontrollierten Generalseminarien studieren, denen schließlich auch die Ausbildung der Weltpriester anvertraut wurde. Im Gegenzug wurden ungefähr 3.200 neue Pfarren und Seelsorgestationen gegründet. Entfernungen von mehr als einer (Geh-)Stunde zur Kirche, schlech-
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Vom Reformabsolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft
te Kommunikationsverhältnisse und Gemeindegrößen von mehr als 700 Einwohnern waren Voraussetzung für die Neugründung, das Vorhandensein einer (Filial-)Kirche oder Schlosskapelle begünstigte das Vorhaben. Die zahlreichen Priester, die man benötigte, gewann man teilweise durch die Klosteraufhebung, ebenso wie den materiellen Fundus. Nicht aufgehobene Klöster mussten zahlreiche neue Pfarren selbst errichten und erhalten. Das Stift Melk zum Beispiel hatte im frühen 19. Jahrhundert für 31 Seelsorgestationen und 32 Schulen aufzukommen. Der neu eingesetzte Pfarrklerus erhielt auch genaue Vorschriften hinsichtlich der Gebühren, die bei Taufen, Hochzeiten und Begräbnissen verlangt werden konnten. Das Betteln der Mendikanten und ähnliche Sammlungen wurden stark eingeschränkt. Klosteraufhebung, Betonung der staatlichen Kirchenaufsicht, Diözesan-und Pfarrregulierung führten nicht bloß zu grundlegenden Neugestaltungen innerhalb des Klerus, sondern auch in den Beziehungen zwischen Pfarrvolk und Geistlichkeit Damit verbunden waren sozialräumliche Veränderungen, denn die zahlreichen neuen Pfarrorte zogen gewisse zentralörtliche Funktionen, wie die Schule, an sich. Damit war sicher eine Ausrichtung verschiedener Bereiche auf diese neuen Pfarrorte verbunden. Besonders gravierend empfanden die Betroffenen freilich die Eingriffe in ihr gewohntes religiöses Leben, vor allem die Wallfahrts- und Prozessionsverbote, aber natürlich auch die Aufhebung der Bruderschaften und die Vorschriften über Gottesdienstgestaltung und Begräbnisse. Schon unter Maria Theresia wurden, um alle Hemmungen der angestrebten Arbeitsfreude zu beseitigen, Wallfahrten eingeschränkt und Feiertage abgeschafft. Seit 1 771 durften neue Bruderschaften — eine in der österreichischen Barockfrömmigkeit besonders beliebte religiöse Sozialform — nur noch mit landesfürstlicher Genehmigung errichtet werden. 1 783 wurden alle Bruderschaften aufgelöst, ihr Vermögen in die neuen Pfarrarmeninstitute eingebracht. Im selben Jahr wurden Prozessionen und Wallfahrten neuerdings reduziert. Nur noch zwei pro Jahr und Pfarre durften abgehalten werden, und diese nur an Feiertagen. Jeder als überflüssig angesehene Prunk sollte aus dem Gottesdienst verschwinden. Die Verstörung der Gläubigen erreichte schließlich einen Höhepunkt, als Joseph II. 1784 vorschrieb, man müsse die Toten ohne Kleider in Säcken begraben (was zum Teil aus wachsenden Versorgungsschwierigkeiten mit Holz begründet wurde). Ein breiter Widerstand führte allerdings zur Zurücknahme dieser Vorschriften. Offenen Aufstand erzeugten die josephinischen Maßnahmen nicht nur in den Österreichischen Niederlanden (Belgien und Luxemburg). Auch in Vorarlberg brach ein Aufruhr gegen die kirchenpolitischen Neuregelungen aus, Beamte, Lehrer und Pfarrer wurden angegriffen, die Feiertage demonstrativ eingehalten. Auch nach der Rücknahme der anstößigsten Neuerungen dauerte ein zäher Widerstand an. So wird 1804 aus Kärnten berichtet, dass weder hinsichtlich der abgeschafften Feiertage noch auch bei anderen „Religions-Handlungen" nach den Vorschriften verfahren werde. 1808 musste man im krainischen Kamnik/Stein (Slowenien) die Verehrung einer bekleideten Statue, obgleich
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gegen die Norm, doch gestatten, weil es massive Demonstrationen gegen das Verbot gab. Palmsonntagsumzüge mit dem (verbotenen) Palmesel werden aus Südtirol berichtet, ebenso so genannte „Gerichts-Umgänge" mit Segenerteilungen auf den Feldern. Unschwer ist ein Zusammenhang zwischen diesen Frömmigkeitsformen und Problemen der Naturbewältigung in vorindustriellen Gesellschaften zu erkennen. In den stärker von Säkularisierungsprozessen ergriffenen städtischen und stadtnahen (bzw. Wien-nahen) Gebieten sind erheblich weniger Beispiele dieser halblegalen oder illegalen Volksfrömmigkeit zu beobachten. Das neue Priesterbild war stark antimonastisch bestimmt. Die Nützlichkeit für Staat und Gesellschaft stand im Vordergrund. Der ideale Pfarrer sollte „tätiges Christentum" üben, tiefe Einsicht in die echte (neue) Theologie haben, reine Sitten pflegen, sich aller weltlichen Begierden enthalten, „[...] und (er) gebe das Beispiel eines warmen Schulfreundes und gewissenhaften Verehrers der Landesgesetze". Häufig scheinen die josephinisch ausgebildeten Pfarrer tatsächlich nicht bloß brave Staatsbeamte, sondern wirklich so etwas wie „Väter des Volkes" geworden zu sein, die sich in vielfacher Hinsicht um das Wohl ihrer Schäfchen bemühten. Man geht in der Annahme nicht fehl, dass erst die josephinische Pfarrregulierung jenen relativ engen Kontakt der Pfarrgemeinden mit ihren Geistlichen hervorgebracht hat, der sich im 19. Jahrhundert in der politischen Mobilisierung der Konservativen und später der Christlichsozialen auswirken sollte. Ferner wird man die enge Verbindung von Pfarre und Schule nicht bloß für die Ausbildung des katholischen politischen Konservatismus ab etwa 1870 berücksichtigen müssen, sondern auch für den Aufstieg des modernen, an Sprachgemeinschaften orientierten Nationalbewusstseins. Wo die Geistlichkeit für die Alphabetisierung des Landvolkes und zugleich für die Entwicklung neuer Schriftsprachigkeit entscheidende Leistungen vollbrachte, konnte sie bei der Entfaltung des Nationalbewusstseins eine zentrale Stellung einnehmen. Das war bei allen Völkerschaften der Monarchie der Fall, die weder über einen „eigenen" Adel, noch über ein entwickeltes Bürgertum verfügten, also etwa bei den Serben, Rumänen, Slowaken, Ruthenen und Slowenen. Vielleicht hängt die langehin sehr habsburgtreue Färbung dieses neuen Nationalbewusstseins (etwa bei den Slowenen) mit dieser Eigentümlichkeit einer nationalen Führungsgruppe zusammen, die zugleich treue Staatsdiener waren. Freilich trat der Pfarrer häufig als Obrigkeit auf: bei der Matrikenführung und bei der damit zusammenhängenden Konskription, bei der Volkszählung — beides primär für militärische Zwecke —, aber auch bei der Propagierung der Pockenimpfung, die viele Menschen als Kennzeichnung des Kindes für den Teufel ablehnten. Der Pfarrer war auch für die soziale Fürsorge im Rahmen des Armeninstituts primär zuständig. Dabei zeigte es sich, dass das Armeninstitut nur dort funktionierte, wo ein gewisser materieller Reichtum immer neue Stiftungen ermöglichte, während in minder wohlhabenden Gegenden verarmte Mitglieder höchstens durch Bettel oder wechselweise Einlege bei den behausten
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Mitbürgern erhalten werden konnten. Man kann sich auch des Eindrucks nicht erwehren, dass die Zwangsvereinigung aller Stiftungsvermögen im Pfarrarmeninstitut die Stiftungsfreude nicht gerade gefördert hat — gingen doch die verschiedenen Stiftungen und Bruderschaften auf Einzel- und Cruppeninteressen (etwa von gewissen Familien oder Zünften) zurück, die sich im Armeninstitut nicht berücksichtigt fanden. Dennoch bildete die durch die josephinischen Maßnahmen gestärkte Pfarre die räumliche Basis für die Ausbildung eines gesonderten regionalen Bewusstseins, hinter dem freilich reale Handlungszusammenhänge standen. So wurde, als 1849 die Frage, ob die neuen politischen Gemeinden nach den Steuer- oder nach den Pfarrgemeinden organisiert werden sollten, in Oberösterreich argumentiert: „[...] Soweit überhaupt unter der bisherigen Verwaltung von einem Gemeindeleben die Rede sein kann, bestand dieses nicht in den Katastralgemeinden, sondern nur in den Pfarrgemeinden. Diese bildeten ein zusammenhängendes Ganzes mit gemeinschaftlichen Rechten und Verpflichtungen, Einkünften und Auslagen. Auf ihnen beruhte bisher die politische Einteilung und Verwaltung. Kultus, Schule, Stiftungen, Armenversorgung, Straßen, Gewerbe und alle Gemeinde-Anstalten richten sich nach dem Pfarrbezirk [...]" Damit erweist sich die josephinische Pfarre insgesamt als gesellschaftlich ausgesprochen folgenreiche Institution. 6.3.3
Heeres- und Verwaltungsreform: Die Formierung von Offizierskorps und Bürokratie
Alle Anstrengungen zur Erhöhung der Bevölkerungszahl und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit hatten im Reformabsolutismus der Stärkung des militärischen Potentials zu dienen. Vor dem Siebenjährigen Krieg (1756 - 1763) umfasste das kaiserliche Heer etwa 108.000 Mann, ohne die in Mailand und Belgien stationierten (etwa 40.000) und ohne die etwa 44.000 Grenzer; 1 788 stellte Joseph II. gegen die Türken fast 282.000 Mann ins Feld. Das Heeresbudget betrug 1 777 fast 23 Millionen Gulden, also 20,5 % der Gesamtausgaben; 1 790 waren es 78,5 Millionen oder 33%. Da militärische Schlagkraft nicht bloß eine Folge der Mannschaftsstärke ist, musste auch auf das Dienst- und Exerzierreglement sowie auf die Organisation der Versorgung mit Nachschub und Ersatzmannschaften gesehen werden. Hierin nahm man sich ein Beispiel an den ansonsten wenig geliebten Preußen, aus deren Siegen über die kaiserliche Armee man zu lernen gedachte. 1 771 trat ein neues Reglement in Kraft, das Feldmarschall Franz Graf Lacy, der Nachfolger des im Kriege verdienten Grafen Leopold Daun, in Anlehnung an preußische Muster entworfen hatte. Auch der materielle und personelle Ersatz wurde
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neu organisiert. Lacy, den eine Reisebeschreibung von 1780 „eines der größten Genies unseres Jahrhunderts" nannte, verminderte die Einflussnahme der Oberst-Inhaber der Regimenter bei der Versorgung der Truppen, die sich bislang daran glänzend bereichert hatten. Ein staatliches Magazinsystem wurde eingerichtet. Für die Heeresergänzung wurden so genannte „Werbebezirke" geschaffen (1771 ), von denen — in den österreichischen und böhmischen Ländern — jeweils einer einem „deutschen" Infanterieregiment zugeteilt wurde, während die „ungarischen" Regimenter nach wie vor durch Werbung ergänzt wurden. In den Werbebezirken wurde nicht mehr geworben, sondern ausgehoben. Dazu bedurfte man zum einen der Konskriptionen, also der Volkszählungen, deren Träger die Pfarrer waren, und zum andern einer weltlichen Gewalt, welche die vorgenommenen Aushebungen durchsetzen konnte. Das waren „Konskriptions-Obrigkeiten"— Grundherrschaften, denen man die entsprechende Amtsgewalt in einem gewissen Sprengel, zumeist eine oder mehrere Pfarren, zuwies. Überwachend wirkten die Kreisämter, die überdies für Fragen der Versorgung und des Vorspannes (für die Artillerie und die Bagage) verantwortlich waren. Die völlige Verstaatlichung der Heeresversorgung war ein Teil jenes Vorganges, in welchem das Heerwesen überhaupt stärker in die staatliche Bürokratie eingebaut wurde. Die Rechte der Regimentsinhaber (deren Vorgänger noch unabhängige Heeresunternehmer gewesen waren!) wurden weiter beschnitten: Schon 1766 erschien auf den Säbeltaschen der Husaren der kaiserliche Namenszug an der Stelle des Wappens oder der Initialen des Inhabers. 1 769 wurde der Regimentskommandeur und nicht der Inhaber als „Haupttriebfeder, wodurch die anderen in Bewegung gebracht werden", bezeichnet, und im gleichen Jahre erhielten die Regimenter, die bisher nur mit dem Namen der jeweiligen Inhaber benannt worden waren, durchlaufende Nummern. Seit 1 766 behielt sich der Hofkriegsrat das Recht der Offiziersernennung vom Stabsoffizier aufwärts vor. Nur die niederen Ränge durften noch vom Inhaber ernannt werden. Um das Offizierskorps in seiner Ausbildung einheitlicher zu gestalten, gründete Maria Theresia 1752 die Militärakademie zu Wiener Neustadt. Da das Sozialprestige des nichtadeligen Offiziers gehoben werden sollte, wurde der „systemmäßige Adel" für Offiziere, die entweder einen Feldzug mitgemacht oder dreißig Jahre brav gedient hatten, eingeführt. In derselben Linie liegt zweifellos auch das Uniformtragen Josephs II. Auch dadurch wurde die Rolle des Militärs im Reformabsolutismus unterstrichen. Ob die häufige Teilnahme von Offizieren an Freimaurerlogen (etwa 30% der Mitglieder waren Offiziere) ein Indiz für die Verbürgerlichung des Offizierskorps oder ein Indiz für die aristokratische Dominanz in der Freimaurerei war, muss offen bleiben. Allerdings gestattet die enge Verflechtung von (niederem) Militär- und Beamtenadel die Vermutung, dass beide Gruppierungen gemeinsam neben höherem Adel und Geistlichkeit zu den wichtigsten und bevorzugten Integrationsinstrumenten im vielgestaltigen Habsburgerreich gezählt werden können.
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Vom Reformabsolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft
Für die Armee in ihrer ganzen Breite wird man das nur bedingt feststellen können. Zwar wurde in der bereits zitierten Reisebeschreibung von Riesbeck aus dem Jahr 1780 ein nicht unbeträchtlicher Grad an Militarisierung festgehalten: „Vorstellungen sind hier übel angebracht. Überall steht der allmächtige Stock zur Antwort bereit, und überall fühlt man, dass man in einen militärischen Staat gekommen ist, der streng auf Subordination hält [...] hier, wo die ganze Luft vom Schwingen der Korporalsstöcke ertönt, muss man jeden Blick eines Unterbedienten als ein Gesetz annehmen [...]." Gerade durch diese starke Betonung des Militärischen wurde der Untertan zum Staatsuntertan. Er musste, falls er eine gewisse Körpergröße hatte und nicht einer der bevorzugten Gruppierungen (Adel, Beamte, hausbesitzende Bürger und Bauern, Unternehmer, Gelehrte) angehörte, jederzeit damit rechnen, eingezogen zu werden, zu lebenslänglicher Dienstzeit. Die Bewegungsfreiheit, die man gegenüber der Grundherrschaft gewann, verlor man gegenüber dem Staat — deshalb die Konskriptionen, und deshalb strenge Reise- und Meldevorschriften. Der Dienst selbst war verhasst. Die brutalen Disziplinierungsmethoden, die enge Verbindung zur Manufakturarbeit — das alles ließ die Soldatenexistenz wenig erstrebenswert erscheinen. Noch 1808, als die Dienstzeit schon (auf 14 Jahre) verkürzt worden war, wurde in einem Bericht des Laibacher Bischofs Kautschitsch die Abneigung der Krainer gegen den Militärdienst zur Sprache gebracht, die jener auf den tief eingewurzelten Abscheu vor einem Stande zurückführte, „[...] zu dessen Antretung man ehedem Neulinge, wie Verbrecher, mit Ketten beladen, herbeischleppte, und die man bei der Abrichtung weidlich zuprügelte, oft bloß aus Missverständnis, weil der Rekrut, als ein Stockkrainer (= Slowene, E.B.) seines Exercirmeisters Sprache nicht verstand [...]." Daneben erschienen den Bischöfen ganz allgemein Militärurlauber und soldatische Einquartierungen in erheblichem Maße mitverantwortlich für die Steigerung der Unehelichenquote, abgesehen davon, dass ein ausgedienter Soldat zu nichts Rechtem mehr zu gebrauchen wäre. Sie ergänzten dann meistens auch das große Heer der niederen Beamten (und Lehrer). Die Ausweitung der Tätigkeit der Zentralstellen, die Einrichtung der landesfürstlichen Behörden auf Landesebene (seit 1 763 „Cubernien"), die Errichtung der Kreisämter — das alles musste die Zahl der Beamten beträchtlich erweitern. Genaue Zahlen sind allerdings nur schwer zu gewinnen. 1 762 zählte man in den böhmisch-österreichischen Ländern (ohne Tirol, Mailand, Ungarn) 20.584 „Beamte" (wohl auch Herrschaftsbeamte), 1 784 nur 12.571 „Beamte und Honoratioren", worin wohl nur höhere Ränge, Professoren, Wissenschaftler usw. gemeint sein können. Sicher stieg die Zahl im Vormärz: 1827 zählte man mehr als 64.000 Beamte (außerhalb Ungarns), 1840 67.000. Dabei scheinen auch
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Die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft
hier die niederen Ränge wohl nicht Inbegriffen, denn eine andere Quelle nennt 1830 etwa 223.000 aktive und pensionierte öffentliche Bedienstete, Beamte und Arbeiter. „Mit Inbegriff der Armee aber und der Geistlichkeit [wurden] bei 687.000 Individuen auf Staatskosten unmittelbar erhalten." Nimmt man die Einwohnerzahl der nichtungarischen Gebiete ganz grob mit etwa 20 Millionen an, dann wären, rechnet man die Zahl der von den Beamten erhaltenen Frauen und Kinder vorsichtig mit dem Faktor 4, fast 5 % aller Einwohner dem Beamtensektor zuzuzählen. D i e Stellung der Beamten änderte sich in der theresianisch-josephinischen
Zeit sehr stark. Zwar blieb der Charakter der persönlichen Abhängigkeit vom Herrscher erhalten, als dessen Diener die Beamten weiterhin galten. Das ist auch der Grund für das Fehlen einer besonderen Dienstpragmatik. Allerdings änderten sich die besoldungsrechtlichen Verhältnisse. In gewissen Ämtern, vorab im Bereich der Regalverwaltung (Salzämter, Einnehmerämter bei großen Mautstellen), hatte sich bis ins 18. Jahrhundert immer noch etwas vom alten Kameralunternehmertum erhalten, weil die Beamten durch Taxen, Sportein, Zettelgelder und Tantiemen am Umsatz beteiligt waren. An die Stelle dieser ungewissen, aber in einigen Fällen doch ziemlich reichhaltigen Einkünfte traten ab 1773 fixe Gehälter, was bis 1 785 bereits zur herrschenden Entlohnungsform geworden war. Die neuen Gehälter waren allerdings bescheidener. In Olmütz/ Olomouc (Mähren) soll ein Obereinnehmerposten vor 1770 durchschnittlich 2.500 Gulden jährlich eingetragen haben, später aber nur mehr 640 Gulden. Graphik 8: Staatsbildung und Entstehung der bürgerlichen
Gesellschaft
Mit Einrichtung der Kreisämter und „Verstaatlichung" der ständischen Verwaltung wird die allgemeine Staatsuntertänigkeit durchgesetzt — daraus erwächst dann Staatsbürgerlichkeit.
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Vom Reformabsolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft
Joseph II., dem Heer gegenüber großzügig, war bei den Beamten knauserig. Da das neue Besoldungssystem für mittlere und niedere Ränge eine Eigenvorsorge für Krankheit und Arbeitsunfähigkeit nicht zuließ, wurde 1781 ein Pensionsnormale erlassen, das den kaiserlichen Beamten im Falle von Dienstunfähigkeit den Bezug einer Pension sicherte, wobei deren Höhe nach der zurückgelegten Dienstzeit bemessen wurde. Joseph II. trieb die Beamten unermüdlich an. Er bevorzugte Personen, die sich von untergeordneten Stellen hinaufgearbeitet hatten. Der Ausbildungsweg begann mit einer theoretischen Vorbildung auf der Universität im Rechts- und Kameralwesen. Die Beamten sollten zunächst bei den Kreisämtern, in verschiedenen Dienstzweigen und Instanzen, eingesetzt werden und bei Bewährung langsam aufrücken. Die Ernennung zum Kreishauptmann setzte beispielsweise um 1 790 die Bewährung bei der Steuerregulierung voraus. Das Ethos, das Joseph II. seiner Bürokratie vermitteln wollte und das für diese neue Sozialkategorie bewusstseinsprägend werden sollte, spiegelt sich im berühmten „Hirtenbrief" des Kaisers vom Jahre 1783. Der Kaiser beklagt sich hier ausführlich über die langsame, eigennützige und mechanische Dienstverrichtung seiner Beamten und fordert eine initiative, gleichzeitig aber doch wieder rasch und genau die Anleitungen von oben ausführende Beamtenschaft. Der Kaiser, oberster Diener des Staates, ist zugleich „Vater" dieser Beamten. Ausführlich wird die Besoldung der Bürokratie legitimiert: „Wenn aber [...] [alle Beamten] mit allen ihren kräften auf die befolgung aller befehle, auf die erklärung und einleitung aller aufträge wachen und das gute in allen theilen erhalten und bewerkstelliget wird, alsdann ist deren zahl und beköstigung eine väterliche Vorsorge, wovon jedes Individuum in der monarchie seinen nutzen und das gute zu ziehen hat [...]". Der Beamte muss sich in besonderer Weise dem Dienst am „Vaterland" verpflichtet fühlen, das nun nicht mehr ein Land, sondern die Cesamtmonarchie ist: „Da [...] alle provinzen der monarchie nur ein ganzes ausmachen und also nur ein absehen haben können, so muss nothwendig alle eifersucht, alles vorurtheil, so biss itzo öfters zwischen provinzen und nazionen, dann zwischen départements so viele unnütze schreybereien verursacht hat, aufhören [...]". Neben Hofadel und Offizierskorps wird also der Beamtenschaft eine besonders wichtige integrative Rolle für den neuen Staat zugewiesen. Die neue politische Führungsschicht der Habsburgermonarchie wird als ausschließlich vom Kaiser abhängige Gruppe von Beamten und Offizieren konzipiert, die ohne Rücksicht auf Herkunft, Sprache usw. nur diesem Staat dienen soll. Das „schwarzgelbe" „Nationalbewusstsein dieser Leute sollte ja dann bis zum Untergang der Monarchie bestehen bleiben. Freilich wurde die Beamtenschaft im Reformabsolutismus und im Vormärz selbst wesentlich kritischer gesehen als in der (manchmal verklärenden) Rück-
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schau. Die strenge, ebenfalls von Joseph II. angeordnete Überwachung der Beamten (wobei der Kaiser auch vor der Aufforderung zur Denunziation nicht zurückscheute), die Macht der 1783 eingeführten geheimen Führungs-(Conduite-)Listen und die damit verbundene Angst vor Auffälligkeit irgendwelcher Art führten zu Entscheidungsscheu und dem berühmten, besonders unter Franz II. (I.) höchstentwickelten Aktenschieben von einem Amt zum andern. Die materielle Bedürftigkeit soll der Korruption Tür und Tor geöffnet haben. So waren die Kreiskommissäre in Mähren angeblich so schlecht besoldet, dass ihre Vorgesetzten (Kreishauptleute) die regelmäßige Geschenkannahme seitens jener Beamten duldeten — die Geschenke kamen von den an sich den Kreisämtern untergeordneten Grundherrschaften. Auch unser mehrfach genannter Gewährsmann von 1780 beschrieb die Beamten als fachlich inkompetent, geistig träge und uninteressiert. Nur unter den Offizieren finde man zahlreiche gebildete, also „aufgeklärte" Herren. Kaum anders lautete das Urteil der sozialkritischen Schriften des Vormärz. Servilität, Standesdünkel und fachliche Untüchtigkeit sollen diese Bürokratie ausgezeichnet haben. Wenn diese Urteile nicht nur Böswilligkeit und Gehässigkeit der Kritik widerspiegeln, so mögen sie wohl einen Teil Wahrheit übermitteln. Aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Das josephinische (und auch das vormärzliche) Beamtentum war nicht bloß Träger des habsburgischen Staatswesens, es wurde auch zum hauptsächlichen Träger einer neuen, bürgerlichen Kultur. Mit wenigen Ausnahmen, die allerdings häufig zitiert werden (der vom Iglauer Schneidersohn zum Hofkammerpräsidenten aufgestiegene Karl Friedrich Freiherr von Kübeck und der Vater des späteren Bürgermeisters Cajetan Felder von Wien), kam die neue Bürokratie nicht „von unten", aus handwerklichen oder bäuerlichen Kreisen. In Beamtenlaufbahnen traten vorwiegend wieder Beamtensöhne ein. Der zusätzliche Bedarf wurde größtenteils aus dem übrigen gehobenen und gerade im Reformabsolutismus ja sehr geförderten Handels-, Finanz- und Gewerbebürgertum gedeckt. Von der engen Verbindung zu Offizierskreisen war schon die Rede. Die Erlangung eines Adelsranges durch viele dieser Familien führte zu einem gehobenen Selbstbewusstsein. Die Notwendigkeit eines langen Studiums und langjähriger Beschäftigung auf gering dotierten Posten erlaubten den Eintritt in die Beamtenlaufbahn nur für Nachkommen aus einigermaßen vermögenden Häusern. Im josephinischen Wien wurde dieses neue Bildungsbürgertum aber auch durch säkularisierte Ordensmitglieder verstärkt. Exjesuiten (oder zumindest: Jesuitenschüler) spielten eine nicht unerhebliche Rolle in der ungeheuer raschen Entwicklung eines bürgerlichen Publikums, wie sie ab 1 780 zutage trat.
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Vom Reformabsolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft
6.4
Bürgerliche Kultur und ihre Institutionen
6.4.1
Kaffeehäuser
Noch 1 780 soll man davon nicht viel bemerkt haben. Die Wiener Bürger schätzten die Freuden der Tafel, weniger die intellektuellen Genüsse heißer Diskussionen: „Gehst du den Tag über in ein Kaffeehaus, deren es hier gegen siebzig gibt, oder in ein Bierhaus, welche unter den öffentlichen Häusern die reinlichsten und prächtigsten sind [...], so siehst du halt das ewige Essen, Trinken und Spielen. Du bist sicher, dass dich kein Mensch ausforscht oder dir mit Fragen lästig ist. Kein Mensch redet da, als nur mit seinen Bekannten und gemeiniglich nur ins Ohr. Man sollte denken, es wäre hier wie zu Venedig, wo sich alle Leute in den öffentlichen Häusern für Spione halten [...]." Nur wenige Jahre später sah es völlig anders aus. Schon 1 782 schrieb der englische Gesandte, die Diskussionsfreude in den Wiener Kaffeehäusern sei fast so exzessiv wie in England. 1787 weist ein Polizeibericht darauf hin, dass in den Kaffeehäusern immer mehr Reden gehalten würden, „[...] welche nicht weniger den Souverain als die Religion und die Sitte" beleidigten. Neben den Kaffeehäusern entwickelten sich auch die Bier- und Weinhäuser zu „Tempel(n) der politischen Kannegießerei [...]". Diese neu erwachte Diskussionsfreude hängt eng mit den neuen Zensurbestimmungen Josephs II. zusammen, die eine ungeheuer rasche Zunahme von Büchern, Broschüren und Zeitschriften bewirkten. Der von uns schon zitierte Hofrat Birkenstock beschrieb die Folgen der josephinischen Lockerung folgendermaßen: „Die Zahl der Buchdrucker und Buchhändler, der Schreiber und Skribler, der Trödler, Hausierer und so genannter Ständl wuchs von Tag zu Tag an, die Gewinnsucht brachte theils die abgeschmacktesten, theils die bedenklichsten Schriften zum Vorschein und Verkauf [...] Jung und Alt, höhere Klassen, Bürger und Bauer lasen ohne Unterschied und verschlangen gleichsam Wiener-Broschüren. Kaum war das neue Gesetzbuch [gemeint ist das josephinische Strafgesetzbuch von 1 787, E.B.] erschienen, so kam auf dem Fusse der so betitelte Schlendrian [von Franz Xaver Huber, eine satirische Auseinandersetzung, Ε. B.] nach und durfte es lächerlich machen [...]." Was hier neu entstand, entspricht recht gut dem Habermas'schen Ideal eines bürgerlichen, literarischen Publikums, das öffentlich interessierende Probleme auch öffentlich diskutierte. Die dabei entstehende Literatur unterschied sich — nicht nur durch das schwächere künstlerische Niveau — erheblich von jener, die zur selben Zeit im „außerösterreichischen Deutschland" — so eine zeitgenössische Bezeichnung — erschien. Theoretische Auseinandersetzungen über
Die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft
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Kunst, die klassische Antike oder Bildungsfragen der Persönlichkeit spielten keine Rolle, dagegen in starkem Maße Fragen der Gesetzgebung, Verwaltung und Gesellschaft des josephinischen Österreich. Dementsprechend standen auch nicht „klassische" Dramenformen, Lyrik oder Bildungs- und Entwicklungsromane im Vordergrund, sondern Alltagsprosa kritisch-satirischen Inhalts oder allenfalls Romane mit leicht durchschaubarer Travestierung zeitgenössischer Verhältnisse. 6.4.2
Salons und musikalische Gesellschaften
Für die Entstehung dieser bürgerlich-literarischen Öffentlichkeit war aber nicht nur die josephinische Zensur bedeutsam, sondern auch die Entstehung von Salons im großbürgerlich-bürokratischen Bereich. Das bekannteste Beispiel ist wohl der Salon des Hofrates (in der Studien-Hofkommission) Greiner, des Vaters der Schriftstellerin Karoline Pichler. Hier trafen sich die wichtigsten Dichter (übrigens meist selbst Beamte), Naturwissenschaftler, Musiker und Maler mit führenden Bürokraten. Charakteristisch für alle Wiener Salons ist eine enge Verbindung von musikalischen und literarischen Interessen, wobei die Letzteren wieder zur bekannten Wiener Theaterleidenschaft eine Verbindung herstellen. Der später von Karoline Pichler weitergeführte Salon war ausgesprochen „bürgerlich", während sich in der noblen Atmosphäre des Salons der Fanny von Arnstein nicht nur Dichter und Komponisten, wohlhabende und geadelte Unternehmer und Bankiers, sondern auch Aristokraten und Diplomaten trafen. Der Salon Arnstein bildete einen der gesellschaftlichen Mittelpunkte zur Zeit des Wiener Kongresses 1814/15. Neben den im engeren Sinne literarischen Salons entwickelte sich im Vormärz eine breite bürgerliche Geselligkeit. Man hat sie verschiedentlich als Rückzug des Bürgertums ins Privatleben interpretiert. Das mag zum Teil durchaus zutreffen. Andererseits darf man nicht übersehen, dass erst jetzt, zwischen etwa 1780 und 1840, so etwas wie gehobene bürgerliche Häuslichkeit entstand. Der Hintergrund dieser Entwicklung ist die fortschreitende Trennung von Arbeitsbereich und Wohnbereich. Noch in Darstellungen des Vormärz sind Handwerkerhaushalte abgebildet, die gleichzeitig Werkstätten waren — die Betten des Ehepaares standen in Räumen, die auch Webstühle beherbergten. Aber auch beim Adel und in der Hochbürokratie waren Wohn- und Arbeitsbereich noch wenig voneinander getrennt. Franz Grillparzer berichtet in seiner Autobiographie, dass sein Chef im Amte, der Finanzminister Johann Philipp Graf Stadion, morgens lange schlief, aber dafür in der Nacht umso länger die Akten studierte, dabei mussten seine nächsten Untergebenen anwesend sein. Für Grillparzer besonders schwierig erwies sich diese Eigenheit im Sommer (1823), als er den Grafen auf seine Güter zu begleiten hatte; er bezeichnete sie als eine „[...] Last die durch die peinliche Mittel-Stellung zwischen angenehmen Gesellschafter und untergeordnetem Beamten bedeutend erschwert wurde." Der damals schon bekannte Dichter befand sich in der Tat in einer recht seltsamen
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Vom Reformabsolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft
und wohl auch etwas unangenehmen Position, zugleich Diener, Beamter und literarischer Vertrauter. In den oberen und bald auch in den mittleren Schichten des Bürgertums traten aber Arbeitswelt und Wohnbereich nunmehr auseinander. Adalbert Stifter hat diesen Prozess im klassischen Bildungsroman des österreichischen Bürgertums, im „Nachsommer" (1857) dargestellt. Der Vater des Romanhelden, ein Kaufmann, hatte in einem Stadthaus Wohnung und Verkaufsgewölbe samt Schreibstube gemietet. Die Handelsdiener speisten zu Mittag mit der Familie. Später erwarb er ein Haus mit Garten in der Vorstadt, das nur noch für die Familie bestimmt war. Das Gewölbe verblieb notwendigerweise in der Stadt. Auf diese Weise differenzierte sich erst die Privatheit des Wohnens von der Öffentlichkeit des Berufslebens. Nicht zufällig heißt das Kapitel, in welchem Stifter von diesen Veränderungen erzählt, „Die Häuslichkeit". Sowohl im 18. wie im frühen 19. Jahrhundert spielte die Musik eine überaus bedeutende Rolle in der bürgerlichen Geselligkeit Wiens, aber auch anderer Städte (etwa Graz). Musik ist eine emotionalere Kunst als die Literatur — und sie kann weniger zensuriert werden. Gerade die stark subjektive Empfindungskultur der Romantik und des Biedermeier schätzte daher die Musik als geeignetstes Ausdrucksmedium für ihre Gefühle. Nicht zufällig war daher Wien ein Mekka für Musikliebhaber, nicht zufällig lebte — zumeist — hier Joseph Haydn (1 729 - 1809), nicht zufällig zog es Wolfgang Amadeus Mozart (1756 - 1792) und Ludwig van Beethoven (1 770 - 1827) hierher, wo nicht nur der kaiserliche Hof als traditioneller Auftraggeber für verschiedene Sparten von Musik galt, wo immer noch der hohe Adel wenigstens während der Saison Hof hielt, und wo vor allem eine quantitativ bereits beachtenswerte bürgerliche Klasse existierte, die Kennerschaft und Freude an musikalischer Betätigung mit hoher Wertschätzung für Komponisten und Solisten verband. Beethoven hat seine aufklärerisch-frühliberale politische Grundhaltung niemals abgelegt, dennoch blieb er in Metternichs Wien. Franz Schubert (1797 - 1828), der in seinem erstaunlich umfangreichen Werk nicht wenige musikalische Konventionen brach, stand in gesellschaftlichen Kontakt nicht nur mit anderen Komponisten und ausführenden Musikern, sondern auch mit Malern wie Kupelwieser und Moritz von Schwind (1804 - 1871 ) und mit Dichtern wie Castelli, Bauernfeld und Grillparzer. Franz Grillparzer hielt übrigens die Leichenrede sowohl für Beethoven wie, ein Jahr darauf, auch für Schubert. 6.4.3
Die Logen
Die um 1 780 so erstaunlich rasch hervortretende kritische Öffentlichkeit wäre ohne die Freimaurerlogen undenkbar gewesen. Alle wichtigen Reformpolitiker, die meisten hohen Adeligen, Militärs und Beamten in zentralen Positionen gehörten einer Loge an. Obgleich die Anfänge schon in die 1 740er Jahre zurückreichen, fällt die Hochblüte der Maurerei in das Jahrzehnt Josephs II. Am berühmtesten wurde die 1 781 gegründete Loge „Zur wahren Eintracht". Z u ihrer
Die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft
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besonderen Anziehungskraft trug sicherlich die Person des Meisters vom Stuhl, des Naturforschers und Vorbilds des „Sarastro" in der „Zauberflöte", Ignaz von Born, erheblich bei. Unter ihren Mitgliedern befanden sich Aufklärer wie Joseph von Sonnenfels, Franz von Zeiller (der Vollender des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches), Georg Graf Festetics (der Gründer der ersten mitteleuropäischen Landwirtschaftsschule in Keszthély am Plattensee), die Dichter und Schriftsteller Aloys Blumauer, Johann Ratschky, Johann Baptist Alxinger, schließlich Joseph Haydn (Wolfgang Amadeus Mozart hingegen war Mitglied der Loge „Zur Wohltätigkeit"). Unter den Ritterbrüdern der Loge befanden sich 113 Bürgerliche und 96 Adelige, wobei zu den letzteren neben Hochadeligen wie Festetics und den Grafen Leopold Kolowrat und Franz Saurau eine große Zahl geadelter bürgerlicher Beamter, Unternehmer und Offiziere gehörte. Allerdings blieb die aufklärerische Energie der Freimaurerei fast ausschließlich auf die „Wahre Eintracht" beschränkt. Daneben breitete sich durch die Beschäftigung mit ägyptischen, antiken oder mittelalterlichen „Mysterien" in der Hochgradmaurerei der „Rosenkreuzer" oder der „Asiatischen Brüder" auch ein gehöriger Schuß an Romantizismus und Mystizismus aus. Sieht man von der „Wahren Eintracht" ab, die als eine Art wissenschaftlicher Akademie der Wiener Aufklärung fungieren sollte, so sind die übrigen Logen weniger elitär. Allerdings lassen sich deutliche Unterschiede hinsichtlich der Mitgliederstruktur feststellen. In manchen Logen dominierte der Adel, in anderen eher das neue Wirtschaftsbürgertum. Ein gewisses soziales Umfeld kennzeichnet die einzelnen Logen relativ deutlich. Insgesamt waren Beamte, Adelige, Offiziere, Gelehrte und Schriftsteller, Angehörige freier Berufe und Unternehmer unter den Mitgliedern. Handwerker wurden nirgends aufgenommen. Christliche Religion war selbstverständliche Voraussetzung. Ebenso wie sich im Bereich der Volksbildung Staatsinteresse und Aufklärung zwar ein Stück Weges begleiteten, dann aber notwendig trennen mussten, konnte die Entfaltung einer kritischen bürgerlichen Öffentlichkeit in den Logen den staatlichen Intentionen letztlich nicht mehr entsprechen. Joseph II. befahl daher in seinem Freimaurerpatentvor\ 1785 eine Zusammenlegung und zahlenmäßige Reduktion der Logen, genauso wie eine Öffnung für eine gewisse polizeiliche Kontrolle. Damit war die Hochblüte der Freimaurerei vorüber. Mit Jahresende 1 785 stellte die „Wahre Eintracht" ihre Tätigkeit ein. Die Nachfolgeloge „Zur Wahrheit" war in ihrem Wirkungskreis und in ihrer Ausstrahlung nicht mehr vergleichbar. 1795 wurden die letzten Logen geschlossen. Dies geschah als Folge der so genannten Jakobinerprozesse. Deren Vorgeschichte zeigt den Wandel in der Funktion der literarischen Öffentlichkeit wie den Wandel der Politik gegenüber der aufkommenden bürgerlichen Kritik am nach wie vor absolutistischen Staatswesen. Schon unter Leopold II. (1790 1792) konnte die literarische Öffentlichkeit nur mehr beschränkt als Begegnungsort einigermaßen frei artikulierter Meinungen gelten. Leopold II. nahm Aufklärungsliteraten wie Franz Xaver Huber, Leopold Alois Hoffmann oder Andreas Riedel in seinen Dienst. Sie hatten ein dosiertes kritisches Gegengewicht
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Vom Reformabsolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft
gegen die starke geistlich-adelige Opposition zu schaffen. Mit dem Regierungsantritt seines Sohnes Franz II. 1 792 war auch dieses im Dienste des aufgeklärten Monarchen funktionale Dasein einer aufklärerischen literarischen Öffentlichkeit zu Ende. Die frustrierten Mitarbeiter Leopolds II. wandten sich teilweise vollständig der Reaktion zu (wie Hoffmann), zum Teil pflegten sie eine gewisse Sympathie für die Französische Revolution, die aber nur bei Andreas Riedel und dem Wiener Platzoberleutnant Franz von Hebenstreit zu Überlegungen über eine grundlegende Umgestaltung der Gesellschaft führten. Die gründlichste Revolutions-Konzeption stammte bezeichnenderweise von dem Polizeispitzel Degen, der ebenso wie der eifrige niederösterreichische Regierungspräsident Graf Saurau, dessen „Aufdeckung" der „Jakobinerverschwörung" als Begründung für die nun einsetzende scharfe Repression diente, Freimaurer gewesen war (und dadurch Zugang zu den Kreisen der Unzufriedenen bekam). Die militärischen Mitglieder der „Verschwörung" wurden hingerichtet, die zivilen erhielten langjährige Haftstrafen in Festungen, mit geringen Überlebenschancen. Die Urteile erlangten große Publizität. Das war eine wirksame Warnung vor jeder weiteren öffentlichen Diskussion von Staatsangelegenheiten. In den Kaffeehäusern kehrte (wieder) Stille ein. Als Johann Gottfried Seume bei seinem „Spaziergang nach Syrakus" zur Jahreswende 1801/1802 in Wien eintraf, fiel ihm dies auf: „Du kannst vielleicht Monate lang auf öffentliche Häuser gehen, ehe Du ein einziges Wort hörst, das auf Politik Bezug hätte [...] Es ist überall eine so andächtige Stille in den Kaffeehäusern, als ob das Hochamt gehalten würde, wo jeder kaum zu atmen wagt." Die Reaktion darauf hat man oft im betonten Rückzug auf häusliche Geselligkeit und auf die Pflege der Musik gesehen. Musik konnte weniger zensuriert werden als das Wort. Wer jedoch literarisch unter den neuen Bedingungen tätig blieb (oder wurde, wie Franz Grillparzer), musste die Zensur als Voraussetzung für eine Publikationserlaubnis akzeptieren. Nicht zu Unrecht schrieb einer der heftigsten Kritiker des vormärzlichen Systems, Viktor Freiherr von Andrian-Werburg, im Hinblick auf die österreichischen Beamten, die ja Hauptträger der relativen Freiheit der josephinischen Zeit und Hauptleidtragende der franziszeischen Reaktion waren: „Deshalb dürfte nicht leicht eine Classe Menschen zu finden sein, in welcher man so vielen verfehlten zerrissenen Existenzen, so vielen von Unzufriedenheit gepeinigten Gemüthern begegnete, als im österreichischen Beamtenstande [...]." Und doch entfaltete sich zu eben dieser Zeit, trotz intensivster polizeilicher Aufsicht, neuerdings eine bürgerliche Öffentlichkeit, größtenteils zwar von ausgesuchter Bravheit und Staatstreue, aber dennoch genug an kritischem Potential erweckend und erhaltend, dass sie für die Vorbereitung der Revolution bedeutungsvoll wurde.
Die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft
6.4.4
257
Die Anfänge des freien Vereinswesens
Neben den Freimaurerlogen existierte schon zur Zeit des Reformabsolutismus ein Netz von Vereinigungen, die sich zunächst nach dem Vorbild italienischer und französischer Akademien formierten. Ansätze zu gelehrten Gesellschaften bestanden in der „Academia operosorum" in Laibach/ Ljubljana (1693) und in der kurzlebigen „Societas ignotorum" in Olmütz/Olomouc (1 746/47). Wichtiger wurden die ab 1 764 auf obrigkeitliche Anregung gegründeten „patriotischökonomischen Gesellschaften", die sich überwiegend der Verbesserung der Landwirtschaft widmen sollten. Die Sache funktionierte aber nicht so richtig, weil die Verbindung von obrigkeitlicher Förderungsintention und Vereinsform es nicht gestattete, dass sich ein selbsttragendes Interesse der Mitglieder, wie es nun einmal für das Bestehen von Vereinen unerlässlich ist, entwickelte. Der absolute Staat, der gerade Zünfte, Gemeinden und Stände erfolgreich zurückgedrängt hatte, konnte zudem nur wenig Interesse an einer neuen, obrigkeitsunabhängigen Sozialform entwickeln. Die meisten Gesellschaften überlebten daher die josephinische bzw. die ihr nachfolgende Periode der napoleonischen Kriege nicht. Ein ganz verändertes Bild zeigt der Vormärz. Schon 1807 wurde versucht, die niederösterreichische Landwirtschaftsgesellschaft neu zu gründen. Kräftige Lebenszeichen zeigten auch die mährische und böhmische Ackerbaugesellschaft. Besonders tätig wurde die von Erzherzog Johann in der Steiermark 1819 neu begründete Landwirtschaftsgesellschaft. Obgleich die Gesellschaften vorerst als Treffpunkte der landwirtschaftlich interessierten Grundherren konzipiert wurden, wandelten sie sich schon im Vormärz zu Vereinigungen eines fachlich interessierten Publikums von aufgeschlossenen Gutsbesitzern, bürgerlichen Herrschaftsbeamten und Landwirtschaftsfachleuten (in der Steiermark auch schon von Bauern!), die bereits einen stark bürgerlichen Anstrich aufwiesen. Bis 1848 war in allen Ländern mit einer entwickelten, marktorientierten Landwirtschaft nicht nur je eine blühende Landwirtschaftsgesellschaft entstanden, es hatten sich dort auch schon Ansätze für eine weitere fachliche Differenzierung des land- und forstwirtschaftlichen Vereinswesens ausgebildet. Die Landwirtschaft war organisatorisch im Vorteil, weil ihre Vereine an die Landstände des jeweiligen Landes (als Vereinigung der Grundherren!) anknüpfen konnten. Die gewerbliche Wirtschaft folgte. 1817 wählten die Baumwollfabrikanten Niederösterreichs Repräsentanten und Bevollmächtigte, die ihre Interessen vertreten sollten. Diese Vorgänge fanden parallel mit ersten Diskussionen um die Bildung von Handelskammern als formaler Interessenvertretung der neuen großbetrieblichen Produktion statt. Der erste „richtige" Gewerbeverein war der böhmische. 1829 genehmigt, aber erst 1833 konstituiert, trat er durch die Organisation von Gewerbeausstellungen 1833 und 1836 (in Prag) hervor. Ferner gab er technische Zeitschriften heraus, organisierte den Sonntagsunterricht für Gesellen und Lehrlinge und verlieh an Techniker Reisestipendien zum Besuch fremder Fabriksorte. Typisch für alle Vereine dieser Art war die Einrichtung einer Bibliothek mit Lesekabinett.
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V o m Reformabsolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft
Im heutigen Österreich entwickelten sich z w e i Vereinigungen v o n großer
Bedeutung, der Innerösterreichische
werbeverein
(1837) und der Niederösterreichische
Ge-
(1839). Der w i e die Grazer Landwirtschaftsgesellschaft v o m Erz-
herzog Johann gegründete Innerösterreichische Verein erstreckte seine Tätig-
keit zunächst auf Steiermark, Kärnten und Krain, im Anschluss an den Erzberg aber auch auf die Eisen verarbeitenden G e b i e t e Ober- und Niederösterreichs.
Bei jeder Zweigniederlassung w u r d e n eine Bibliothek technologischer W e r k e ,
Zeichenschulen für Gewerbetreibende, vielfach auch mechanische Werkstätten und Musterkabinette eingerichtet. 1846 zählte der innerösterreichische Verein über 2700 Mitglieder, davon 2184 allein in Oberösterreich. Seit 1839
w u r d e eine Zeitschrift herausgegeben. Der 1839 gegründete Niederösterrei-
chische G e w e r b e v e r e i n hatte ganz ähnliche Zielsetzungen. Infolge der Konzentration von wichtigen Persönlichkeiten ebenso w i e v o n Kapital in W i e n
konnte der Verein bald eine besondere Position erreichen. Ihm gehörten nicht nur Industrielle, Kaufleute und G e w e r b e t r e i b e n d e an, sondern auch Mitglieder
des Adels, der Armee, der Beamtenschaft und der gelehrten Berufe.
„ D i e große Bedeutung der gewerblichen Vereine liegt darin, dass sich in
ihnen die Interessen aller Industrie- und Gewerbekreise förmlich verkörperten, dass sie das Rückgrat für die Gesamtheit der verschiedenen Kreise
und Bedürfnisse der Industrie bildeten und der gewerblichen Tätigkeit all-
mählich das gaben, was ihr früher gefehlt hatte, nämlich das Selbstbewusst-
sein ihrer Bedeutung und förmlich ein selbständiges Leben. D i e Industrie
w a r mündig geworden, um sich in weitem M a ß e selbst zu leiten, sie bedurfte der staatlichen Vormundschaft nicht mehr [...]."
Damit zeigen die G e w e r b e v e r e i n e deutlich einen anderen Charakter als die
patriotisch-ökonomischen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts. Die obrigkeitli-
c h e Förderungsintention trat zurück. In ihnen fand ein selbsttragendes gesellschaftliches Interesse, nämlich das der industriellen
Unternehmer,
ein neues
und ganz eigenständiges Instrumentarium. D i e Industrie- und G e w e r b e v e r e i n e
w u r d e n der Ausdruck eines neuen Gruppenbewusstseins einer neuen Unternehmerschaft. W a r das 18. Jahrhundert durch Freisetzung des Einzelnen und ganzer G r u p p e n aus traditionellen regionalen, herrschaftlichen und beruflichen
Bindungen gekennzeichnet, so ergab sich rasch das Bedürfnis der so freige-
setzten Individuen, auf der völlig neuen Basis der Freiwilligkeit gemeinsame
Interessen auszudrücken, die Meinungen über gemeinsame Probleme auszu-
tauschen, über technische und kommerzielle Probleme und deren Bewältigung zu sprechen.
Der vormärzliche Absolutismus verschloss sich der Einsicht nicht, dass die
Vereinsform
als Ausdruck neuer gesellschaftlicher Bedürfnisse vielleicht sogar
geeignet war, Schwierigkeiten zu lösen, die der bürokratische Apparat nicht bewältigen konnte. Die Assoziation auf freiwilliger Basis w u r d e als wichtiger
A u s w e g angesehen, um private und öffentliche Vorsorge gegen Armut und
Verelendung zu organisieren. Das ist auch der Hintergrund für die Zulassung
Adel, Stände und Nationen
259
von Sparkassen, deren Regulativ (1844) als erstes eigentliches Vereinsgesetz gelten kann. Um 1840 verdichtet sich die Vereinslandschaft. Eduard von Bauernfeld sah 1842 einen engen Zusammenhang zwischen Industrialisierung, Vereinsgründungen und kulturellem Wandel — das phäakische Zeitalter ging (angeblich) zu Ende: „Die Industrie hat auch hier, wie allenthalben, ihren Thron aufgeschlagen; ein Volk, das Gewerb-Vereine bildet und Eisenbahnen baut, hat nicht mehr Zeit, sich vorzugsweise mit gebackenen Hühnern, dem Leopoldstädter Theater und mit Strauß und Lanner zu beschäftigen." Vereinsmitgliedschaften prägen das neue Selbstbewusstsein der vormärzlichen Bürger. 1837 wurde die Gesellschaft der Ärzte gegründet, 1840 die Künstlervereinigung Concordia. Ihr gehörten unter anderem Maler wie Amerling, Danhauser und Kriehuber, Dichter und Schriftsteller wie Castelli, Bauernfeld und Grillparzer an. Nicht ohne Stolz ließen sich ihre Mitglieder von einem ihrer Vereinsgenossen porträtieren. W i e weit das vormärzliche Regime bei Vereinszulassungen letztlich gehen konnte, zeigt die Gründung des luridisch-politischen Lesevereins zu Wien (1841). Gemeinsam mit den Gewerbevereinen zeigt diese Gründung, dass bürgerliche Verhaltensweisen und Organisationsmuster im Jahrzehnt vor der Revolution bereits eine erheblich größere Dichte aufzuweisen hatten als selbst im stürmischen josephinischen Jahrzehnt von 1 780 bis 1 790. Der Juridischpolitische Leseverein war zweifellos ein Zentrum bürgerlich-altliberaler Gesinnung. Seine Opposition blieb zwar im Wesentlichen zahm, er hat aber doch den institutionellen Rahmen für Informationen und Diskussionen über Grundprobleme der staatlichen Organisation Österreichs geboten. Obwohl er in den Märztagen 1848 weniger hervortrat als der Gewerbeverein, ist dieser Leseverein, zu dessen Mitgliedern eine ganze Reihe wichtiger „Achtundvierziger", wie Anton von Doblhoff-Dier, aber auch zukünftige Träger des Neoabsolutismus, wie Alexander Bach, gehörten, als Träger der großbürgerlichen Unzufriedenheit für die Vorbereitung der Revolution unerlässlich gewesen.
7 7.1
Adel, Stände und Nationen Der Hochadel
Der Hochadel der Habsburgermonarchie war, wie erinnerlich, Begleiterscheinung— oder Produkt — der absolutistischen Staatsbildung. Katholisch gebliebene (oder wieder gewordene) Familien aus Böhmen, Ungarn oder den österreichischen Ländern, daneben Zuzügler aus aller Herren Länder, die im Dienste des Kaisers emporkamen — dieses Muster war prägend, und nach diesem Muster konnten noch im späten 18. und 19. Jahrhundert vereinzelte Aufstiege stattfinden, wie der des Fürsten Clemens Lothar von Metternich-Winneburg, der aus dem Rheinland kam, oder des Fürsten Charles Joseph de Ligne aus Belgien.
260
Vom Reformabsolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft
Es wurde (oben S. 155) schon betont, dass auch bei diesem Hochadel, wenngleich in Grenzen, das soziale „Gesetz der feudalen Verselbständigung", d. h. einer gewissen Emanzipation solcher Familien vom Kaiser, zum Tragen gekommen war. Es äußerte sich zwar nicht mehr in offener Opposition, wohl aber in einem betonten Landesbewusstsein, das für die Entwicklung des neuen, sprachbezogenen Nationalbewusstseins nicht unwesentliche Voraussetzungen schuf. So haben Mitglieder des böhmischen Herrenstandes etwa die historischen Arbeiten Frantisek Palackys stark gefördert, weniger um einen neuen tschechischen Nationalismus zu kreieren, sondern vielmehr aus Opposition gegen einen Zentralismus, von dem dieser Adel nicht zu Unrecht annahm, dass er seine Position untergraben musste. Reichtum und Nähe zum Hof konnten Verluste an gesellschaftlicher Funktion wieder ausgleichen. Familiäre Verflechtungen unter den berühmten hundert Familien, die Einnahme von höfischen Vertrauenspositionen, aber auch infolge der weitgespannten Verbindungen alle Möglichkeiten, hohe Stellen in Bürokratie und Militär (soweit angestrebt) besetzen zu können, zeichneten diesen Hochadel bis zum Untergang der Monarchie aus. Wesentliche Teile des alten Adelsideals blieben dabei intakt. Noch im Vormärz war der hohe Adel bestrebt, seine Rangansprüche durch demonstrativen Luxuskonsum zu unterstreichen und möglichst repräsentativ aufzutreten. Die Bewunderung der guten Frances Trollope, die 1836 Wien besuchte, für den bei gewissen Anlässen entfalteten ungeheuren Glanz und Prunk sowie die Eleganz dieser Kreise unterscheidet sich in nichts von jener der Lady Montagu, die 120 Jahre früher hier gewesen war. In sich war dieser Hochadel, der sich selbst als „erste Gesellschaft" ansah, primär nach regionalen bzw. nationalen Gesichtspunkten untergliedert. Die polnische Aristokratie Galiziens blieb ebenso weitgehend unter sich wie die ungarische. Auch der böhmische Hochadel, dessen Verbindungen zu den österreichischen Ländern freilich stärker waren, zeigte Neigungen zur Absonderung. In Wien bildete der höfische Adel zahllose Cliquen, von denen jene, die sich selbst als absolute Spitze der Gesellschaft ansahen, sich als „crème" (oder gar „crème de la crème") von den übrigen abzuheben versuchten. Es ist dies das nicht ungewöhnliche Spiel von Gruppen, deren gesellschaftliche Funktion fragwürdig geworden ist und die ihre Bedeutung durch übertriebene Exklusivität zu unterstreichen trachteten. Besonders deutlich distanzierte man sich von der „zweiten Gesellschaft".
7.2
Die „zweite Gesellschaft"
Obwohl im Hinblick auf Reichtum und gesellschaftliche Bedeutung dem Hochadel mindestens gleichrangig, wurden die Chefs der großen Bankhäuser (Geymüller, Fries, Arnsteiner, Steiner, Rothschild) trotz aller Adelstitel von jenem keineswegs als gleichwertig anerkannt. Es konnte zwar vorkommen, dass Herren aus dem Hochadel (nicht Damen!) bei Diners, Bällen und Konzerten
Adel, Stände und Nationen
261
der „zweiten Gesellschaft" auftraten; dass dies aber umgekehrt der Fall war, blieb ausgeschlossen. Die strengen Grenzen zwischen dem Hochadel und dieser „bürgerlichen Aristokratie" blieben aufrecht. Zentrum der „zweiten Gesellschaft" waren die Bankiers. Die hohe gesellschaftliche Bedeutung der großen Bankhäuser hängt mit der finanziellen Schwäche der Monarchie sowie mit der üblen Währungs- und Budgetsituation seit den Kriegen gegen Frankreich zusammen. Anleihen bei den großen Bankhäusern waren der normale Weg, um die Löcher im Staatshaushalt zu stopfen, die auch nach 1815 nicht kleiner werden wollten. Diese Abhängigkeit des Staates von den Banken dürfte auch nachhaltig eine Besteuerungsreform zuungunsten der großen Einkommen verhindert haben. Einkommen aus Handel, Fabriken und Bankgeschäften waren lächerlich gering besteuert, während immer noch die Grundsteuern und — in wachsendem Maße — indirekte Steuern, die gerade die ärmeren Schichten belasteten, das Rückgrat der Staatseinkünfte bildeten. Neben den Bankiers gehörten zur „zweiten Gesellschaft" andere geadelte Bürgerliche mit einem gewissen Reichtum, Unternehmer und Beamte. Ferner gab es auch Verbindungen zu Kunst und Literatur, Musik und Theater. Auf diese Kreise ging auch die mäzenatische Funktion, die im 18. Jahrhundert noch Sache des Hofes und des hohen Adels gewesen war, über. Dabei änderte aber auch der Künstler seinen Status. War Joseph Haydn noch ein zwar hochangesehener, aber dennoch vom Fürsten Esterházy hausrechtlich abhängiger Hofkapellmeister gewesen, so konnte Mozart schon versuchen, als bürgerlicher Unternehmer, der vom Verkauf seiner Musik lebte, zu existieren. Die verbreitete Musikpflege in den bürgerlichen Kreisen war eine wichtige Voraussetzung für den von spezialisierten Verlegern vermittelten Absatz von Noten. Größere Orchester und größere Konzerte verlangten aber darüber hinaus wenigstens eine Organisation, die derlei bereitstellen konnte: So wurde beispielsweise 1812 die Gesellschaft der Musikfreunde — wieder ein Verein! — in Wien gegründet, die zum Zentrum des musikalischen Publikums werden sollte. Freilich standen hier zunächst Dilettantenaufführungen im Vordergrund. Der Musikverein ist aber, bei fortschreitender Professionalisierung des Musikbetriebes, schließlich auch der dafür passende Rahmen geworden. Zugleich trat schon im Vormärz das bürgerliche Element im Verein immer stärker hervor, die adeligen Mäzene traten dagegen zurück. Die „zweite Gesellschaft" Wiens trug alle wesentlichen Elemente jener Schicht bereits in sich, die später unter dem Schlagwort „Besitz und Bildung" gesellschaftlichen Vorrang und politische Mitbestimmung für sich reklamierte. Sie war, trotz ihrer Adelstitel, kein „niederer Adel", sondern die Elite des Bürgertums. Gleichzeitig brachte die Neigung zum demonstrativen Luxuskonsum (berühmt sind die Geymüller'schen Erdbeeren, die dort einmal mitten im Winter serviert wurden!), zum Erwerb von Schlössern und zum adeligen Landleben doch eine „feudale Sehnsucht" dieser Kreise zum Ausdruck, die vielleicht weniger stark ausgeprägt gewesen wäre, wenn der Hochadel nicht der letzten Erfüllung dieser Sehnsüchte so beharrlich im Wege gestanden wäre. Und zu-
262
Vom Reformabsolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft
dem: Eine Emanzipation gerade dieser Kreise vom Hof und von der Monarchie war umso weniger zu erwarten, als ja nicht nur ihre Adelstitel, sondern auch ein guter Teil ihres Reichtums gerade aus dem Geschäft mit den Mängeln dieses höfisch-absolutistisch-bürokratischen Staatswesens erwuchs.
7.3
Ständische Opposition und erwachender Nationalismus
In den Landständen Böhmens, Mährens und Niederösterreichs trafen sich die geadelten, gutsbesitzenden Mitglieder der „zweiten" mit den hochadeligen Herren der „ersten" Gesellschaft. Die Stände, politisch seit Maria Theresia entmachtet, wurden von Joseph II. überhaupt aufgehoben. Auch der ungarische Reichstag wurde nicht mehr einberufen. Der Unmut über die Einführung der neuen Militärverfassung in Tirol und Ungarn 1784 — wo bislang die ständische Aufgebotsordnung bestehen geblieben war—, der an offenen Aufruhr grenzende Widerstand der ungarischen Komitate gegen die josephinischen Steuerund Rekrutierungsverordnungen, schließlich eine breite Missstimmung in den Kreisen auch des österreichischen und böhmischen Adels bewogen Leopold II., die Stände wenigstens in ihrer theresianischen Gestalt wieder herzustellen. Leopold ging aber noch weiter. Er scheint daran gedacht zu haben, als Gegengewicht gegen Adel und Geistlichkeit die Vertretung der Bürgerschaft in den Ständen zu stärken. Zumindest in der Steiermark verstärkte er die Vertretung der Städte, als die Landstände wieder eingerichtet wurden. Das verweist auf eine Neuinterpretation der Stände im 18. Jahrhundert. Ursprünglich feudale Ratgeberkollegien, die durch Nähe zum Fürsten und gewisse Autonomierechte gekennzeichnet waren, wurden sie nun zunehmend als Repräsentationsorgane ganzer sozialer Klassen („Stände" im Sinne von Berufs- oder sozialen Klassen) angesehen. Hintergrund dieses Auffassungswandels war die wenigstens in Westeuropa sehr weit fortgeschrittene Einbeziehung breiter Bevölkerungsgruppen unter direkte königliche Herrschaft. Damit konnte aus der Vertretung der königlichen Städte eine Vertretung des städtischen Bürgertums schlechthin werden. Nach diesen neuen Auffassungen „vertrat" also die Adelskurie (bzw. die beiden Kurien der Herren und Ritter) den Großgrundbesitz bzw. die Landwirtschaft, die Prälatenkurie die Geistlichkeit und die Städtekurie das „Bürgertum". Leopold II. hat die Diskussion um die Repräsentativverfassung aufmerksam verfolgt. Für sein Großherzogtum Toscana, das er nach seinem Vater Franz Stephan von Lothringen beherrschte, arbeitete er ein Verfassungsprojekt aus und bereitete die Einführung einer ständischen Repräsentativverfassung vor. Möglicherweise stellte er sich auch in den österreichischen Ländern eine solche Umgestaltung des traditionellen Ständewesens vor. Neuere Untersuchungen legen es aber nahe, diesbezügliche Äußerungen Leopolds nicht allzu „fortschrittlich" zu interpretieren — in erster Linie dachte auch er an die Erhaltung der Monarchie. Mit dem Regierungsantritt Franz' II. (1792 bis 1806 letzter römisch-deutscher Kaiser, 1804 bis 1835 Kaiser Franz I. von Österreich) wurden alle diese
Adel, Stände und Nationen
263
Pläne ad acta gelegt. Eine Regierung, die auf möglichste Vermeidung von Veränderungen bedacht war, hatte kein Interesse an einer Erweiterung des Ständewesens in eine Richtung, die bedenklich in die Nähe französischer Verhältnisse führen konnte. Allerdings blieben die Landstände bestehen und durften zu Huldigungsund Postulatenlandtagen — bei denen sie die Steuerforderungen des Staates anzuhören und ohne Diskussion zu bewilligen hatten — zusammentreten. Seit Joseph II. vollzog sich ein wichtiger Wandel in der Zusammensetzung der Stände. In den grundbesitzenden Kurien traten geadelte Bürgerliche bzw. an kommerzieller Nutzung ihrer Güter interessierte Adelige stärker hervor. Die Stände konnten ferner in Niederösterreich an verdiente Männer des Verwaltungsund Geisteslebens die Ehrenmitgliedschaft verleihen. Und außerdem konnte man die Standschaft in einer der Adelskurien nun auch dann erwerben, wenn man bloß ein geadelter Bürgerlicher war und kein Landgut besaß. In diesem Falle genügte eine erhöhte Steuerleistung. Das heißt aber, dass „politische Berechtigung", welche eine Mitgliedschaft in den Ständen, wenngleich natürlich nur mehr in äußerst reduzierter Form, immer noch bedeutete, jetzt nicht mehr nur auf Grund traditioneller Kriterien wie adeliger Abstammung oder Besitz eines Landgutes, sondern auch infolge kommerzieller Tüchtigkeit oder hervorragender kultureller Leistungen erreicht werden konnte. Die Stände — wenigstens Niederösterreichs — vereinigten in sich bis zu einem hohen Grade bereits „Besitz und Bildung", insbesondere bedeutende Mitglieder der neuen bürgerlichen Elite Wiens, also genau jene Kreise, deren wirtschaftliche und kulturelle Überlegenheit einen Ausdruck in politischer Mitsprache suchte. Es war daher gar nicht so unberechtigt, dass konstitutionelle Bestrebungen des späteren Vormärz immer wieder eine Belebung und Erweiterung der ständischen Einrichtungen forderten. Traditionellerweise waren die Stände die politisch berechtigte „Nation". Diese Identität von Nation und Ständen war jedoch im frühen 19. Jahrhundert nur mehr bei den Polen und (teilweise) bei den Ungarn anzutreffen. Ansonsten erhielt der Nationsbegriff gerade zu dieser Zeit neben der politischen eine wachsende emotionale Färbung, die es ermöglichte, dass die Freisetzung aus sozialen und lokalen Bindungen, wie wir sie im Reformabsolutismus so vielfältig wirksam sahen und welche ein neues Bedürfnis nach überregionaler Integration schuf, zu einer neuen überregionalen Sozialform, eben der Nation auf der Basis sprachlicher Gemeinsamkeit, führte. An deren Ausbildung hatte der ständische Adel in Ungarn, aber auch in Böhmen, nicht unwesentlich teil. Besonders die bis in den Vormärz ungebrochene Tradition der Autonomie und Selbstverwaltung (des Adels) in den ungarischen Komitaten sowie die Reformbewegung, die sich schließlich in den Landtagsdebatten der 1830er und 1840er Jahre äußerte (und 1844 zur Einführung des Magyarischen anstelle des Lateinischen als Amtssprache führte), konnte eine gewisse Vorbildwirkung für andere Länder abgeben: „[...] Dem unbändigen, Alles Andere gering schätzenden Nationalstolze des Ungarn gegenüber, mussten sich schon als Reaktion, und der bloßen
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Vom Reformabsolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft
Selbstverteidigung willen, ähnliche Empfindungen in den Cemüthern ihrer Nachbarn regen, mit denen sie in tägliche Berührung kamen. Und diese Betrachtung dürfte die rasche Entwicklung jener Nationalitäten in der letzten Zeit vorzugsweise erklären. Täglich bilden sich dieselben, von den oberen Classen zu den niedrigeren herabsteigend, kräftiger aus — und allmälig zieht sich der größte Theil des Adels, dem Beispiele seiner ungarischen Standesgenossen folgend, aus Wien in seine Provinzen zurück, stellt sich dort an die Spitze, und in die Reihen der neu erwachten Nationalitäten — und die provinziellen Literaturen, die häusliche Erziehung, die allgemeine Geistesrichtung sämmtlicher Volksklassen befördern und beschleunigen diese Tendenz." Diesem ständisch-adeligen Engagement, das man in zahlreichen Landwirtschafts-, Gewerbe- und Musealvereinen, in ständischen Initiativen zur Förderung der nationalen Geschichtsschreibung und Literatur beobachten kann, wird ein förderlicher Einfluss auch auf die Entwicklung der materiellen Verhältnisse zugeschrieben. Erwachendes und wachsendes Selbstbewusstsein entwickelten schon im Vormärz eine über die adeligen Trägerschichten frühen Nationalstolzes hinausweisende Dynamik. In Lese- und Gewerbevereinen gewann das wachsende bürgerliche, zunächst das bildungs-, erst sekundär auch das wirtschaftsbürgerliche, Element zunehmend an Gewicht. Am weitesten fortgeschritten war dieses die väterliche kaiserlich-österreichische Milde ablehnende Nationalbewusstsein in Oberitalien. Die polnische und ungarische Adelsnation waren zwar auch oppositionell, jedoch mit weniger bürgerlichem Anhang ausgestattet. Aber auch von Böhmen konnte Andrian-Werburg schon 1843 behaupten: „Böhmen betrachtet sich täglich mehr als bestimmt und berufen, seine eigene abgesonderte Nationalität zu behaupten, und mit dem Gefühle seiner Kraft und Einheit nimmt auch sein Widerwille gegen die fremde Herrschaft zu [...]". Andrian, einer der wichtigsten Exponenten der ständischen Opposition, forderte als Mittel gegen die Sprengkraft der nationalen Idee eine Belebung der ständischen Institutionen und Selbstverwaltung auf Gemeindeebene. Der Adel sollte als Institution gestärkt und mit einer Führungsrolle im self-government ausgestattet werden — das englische Vorbild ist hier unverkennbar. Als „oberstes repräsentatives Organ der österreichischen Nation" sollten Reichsstände, zusammengesetzt aus Delegierten der verschiedenen Landstände, fungieren. „Eines aber ist gewiss", schrieb Andrian abschließend, „so wie es jetzt ist, kann es in Österreich nicht bleiben — kann es kein Menschenalter mehr bleiben — von dieser Überzeugung ist daselbst Alles, die Regierten sowohl als die Regierer, durchdrungen — und diese einzige Thatsache würde hinreichen, um die Umwälzung herbei zu führen, welche sicherlich, und zwar binnen kurzer Zeit erfolgen muss [...]".
Adel, Stände und Nationen
265
Knapp und prägnant beschrieb damit der Exponent eines eher konservativen Reformflügels zwei gesellschaftliche Hauptproblemfelder des alten Österreich — die bürgerliche Unzufriedenheit mit der Bevormundung selbst der bescheidensten kommunalen Tätigkeit, mit der Zensur, mit der höchst unerfreulichen Situation der Staatsfinanzen, und die ständisch-adelige Unzufriedenheit mit der bürokratischen Gleichschaltung der einzelnen selbstbewussten Regionen sowie mit der faktischen Gleichbehandlung des Adels mit den übrigen Schichten. Diese ständische Unzufriedenheit wird zu Recht als wichtige Triebfeder bei der Entfaltung des neuen Nationalbewusstseins bei Ungarn und Tschechen gesehen und — vielleicht etwas idealisierend — praktisch gleichgesetzt. Zu Recht kritische Urteile fand er über die Verteilung der Steuern, die Kapitalbesitz und ertrag enorm begünstigte, Grundbesitz und Massenkonsum aber stark belastete. Zuwenig ins Blickfeld kam dem selbst adeligen Kritiker die Not und die Verelendung der arbeitenden Schichten, die freilich erst ab 1845, seit dem Einsetzen von Missernten, einen Höhepunkt erreichte. Gar nicht sah Andrian die bäuerliche Unzufriedenheit — in seinem Reformplan kam die völlige Abschaffung des Untertänigkeitsverhältnisses nicht vor. Vielleicht hätte wirklich eine vorsichtige Reformpolitik den einen oder anderen Gesellschaftsteil zufrieden gestellt und auf diese Weise der steigenden Dynamik der Kritik Wind aus den Segeln genommen? So aber riefen die herrschenden Kreise durch ihre Revolutionsangst, die schließlich zur völligen Unbeweglichkeit führte, die Revolution geradezu notwendig hervor.
VII VON DER REVOLUTION ZUM ERSTEN WELTKRIEG 1
Die Revolution des Jahres 1848
Keine große Auseinandersetzung der österreichischen Geschichte wurde so lange erwartet, gefürchtet, herbeigesehnt, gegen keine wurden auch so lange alle nur denkmöglichen Hindernisse aufgebaut. Die Antwort der österreichischen Regierung auf die raschen Veränderungen lautete: Polizeiliche Überwachung, Militäreinsatz, Interventionen außerhalb der Monarchie. Die Furcht vor Veränderungen musste letztlich zu einem Problemstau führen. Dabei zeigte die Regierung immer deutlicher ihre Unentschlossenheit, was sich etwa bei der Gründung des juridisch-politischen Lesevereins zeigte. Selbst zaghafte partielle Änderungsansätze mussten in dieser Situation zu noch ärgerer Konfusion führen. Als Beispiel dafür können Vorgeschichte und Auswirkung des Grundablösegesetzes von 1846 dienen. Ein großer Bauernaufstand in Galizien in diesem Jahr hatte die Diskussion um die weitere Bestandsfähigkeit der feudalen Verhältnisse neuerdings angefacht. Endlich entschloss sich die Regierung zu einer Tat. Im Dezember wurde ein Ablösungsgesetz erlassen, in dem man (im Allgemeinen übereinstimmend mit einem Gesetz von 1 798) die freiwillige Ablösung der feudalen Lasten bei Übereinstimmung zwischen Grundherren und Bauern ermöglichte, was für die Bauern allerdings entweder die Bezahlung der vollen kapitalisierten Feudalrente oder aber eine dauernde Geldzahlung bedeutet hätte. Zusätzlich wurde die Möglichkeit eröffnet, diese Ablösung auch durch Abtretung von Grund und Boden an den Grundherrn durchzuführen. Das war natürlich für die Grundherren sehr günstig, die sich sofort bemühten, den Bauern dieses Gesetz schmackhaft zu machen. Die Folgen allerdings waren andere als erwartet. Gerade die wohlhabenderen Bauern (und es gab deren, als Folge der vorausgegangenen Preissteigerungen, nicht wenige!) wollten sich sofort ablösen. Viele verstanden dabei unter „freiwillig" das entschädigungslose Ende der Feudallasten, was selbstverständlich nicht gemeint war. Das Jahr 1847 brachte daher Robot- und Zehentverweigerungen, die eng mit dem Gesetz vom Dezember 1846 in Zusammenhang stehen — Unruhen, die schon direkt in jene des Jahres 1848 münden sollten. 1.1
Die Ereignisse
Z u Jahresbeginn 1848 wurden in Mailand die österreichischen Tabakwaren bestreikt, Radetzky verhängte dort am 22. Februar den Ausnahmezustand. In Pressburg/Bratislava tagte seit November 1847 der ungarische Landtag und
Die Revolution des Jahres 1848
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debattierte zentrale konstitutionelle und nationale Forderungen. Hier hielt am 3. März Lajos Kossuth seine berühmte Rede, in der er eine verantwortliche ungarische Regierung („Ministerium") und eine Verfassung auch für die nichtungarischen Gebiete der Monarchie forderte. Dieser „Taufschein der Revolution" wurde sogleich ins Deutsche übertragen und erlangte weite Verbreitung, war auch in Wien schon nach wenigen Tagen bekannt. In Prag trat am 11. März eine Versammlung im Wenzelsbad zusammen, die insofern bedeutsam ist, als sie nicht, wie die Wiener oder die ungarische Revolution, an ständische Einrichtungen anknüpfte bzw. mit ihnen zusammenarbeitete. Hier wurde übrigens, neben der Frage der Konstitution, der Frage der nationalen Gleichberechtigung und der bäuerlichen Unzufriedenheit auch die „sociale Frage", das Problem der Arbeiterschaft, aufs Tapet gebracht. In Wien gab es zunächst bloß Petitionen, die von den verschiedenen Vereinen (juridisch-politischer Leseverein, Gewerbeverein) sowie von Ausschüssen der Studenten und der Wiener Bürger formuliert worden waren und konstitutionelle Rechte forderten. Bei Hof kümmerte man sich darum nicht weiter. Deshalb wurde für den 13. März die Vorlage dieser Petitionen bei den niederösterreichischen Ständen geplant, die genau an diesem Tage zusammentreten sollten, um von dieser Plattform aus die Forderung nach Verfassung und Pressfreiheit mit stärkerem Gewicht zu versehen. Der 13. März war ein Montag— ein günstiger Tag, hielten doch die meisten Handwerker und Gesellen diesen Tag „blau", also arbeitsfrei. Die Stände selbst, letztes Forum feudaler politischer Berechtigung, hatten sich zum Teil schon im Vormärz nicht unerheblich in großbürgerliche Richtung gewandelt. Sie sollten außerdem durch „Männer des allgemeinen Vertrauens aus den übrigen Klassen" ergänzt werden. Die Organisation des 13. März übernahmen di e Studenten — über die Aula (im heutigen Gebäude der Österreichischen Akademie der Wissenschaften) liefen die Verbindungslinien in die Vorstädte, wo es galt, die Handwerker und Arbeiter zu mobilisieren, um Druck hinter diese Petition zu setzen. Obgleich aus den Reihen der Stände selbst die Anregung zu „sichtbaren und hörbaren Äußerungen des Volkswillens" gekommen war, dürfte dessen Stärke die Herren überrascht haben. Als sich die Verhandlungen zogen, drangen schließlich aus dem Hof, wo zunächst anfeuernde Reden gehalten wurden, Demonstranten ins Innere des Landhauses vor. Das brachte Bewegung in die ständische Versammlung, die nun beschloss, eine Deputation in die Hofburg zu entsenden. Nachdem die Stände bereits das Haus verlassen hatten, griff Militär ein, es gab 35 Tote und zahlreiche Verletzte (unter Letzteren befand sich auch Hans Kudlich). Eigentlich war der 13. März vor dem Landhaus gescheitert — weiterer Zuzug von Arbeitern aus den Vorstädten wurde durch die Schließung der Stadttore unterbunden. Den Erfolg des Tages (Entlassung Metternichs, Versprechen einer Verfassung und Ende der Zensur) sicherten wohl die Arbeiter, die nun in den Vorstädten die verhassten Maschinen demolierten und die ebenso verhassten Verzehrungssteuerämter an der „Linie" (am heutigen Gürtel) zerstörten. Wieder, wie schon 1844 in Prag, ging es gegen die
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Von der Revolution zum Ersten Weltkrieg
Perotine. Fabriken, die solche Druckmaschinen verwendeten, gingen in Flammen auf. Dieser Maschinensturm weitete sich am 14. und 15. März über die Vororte (Meidling, St. Veit, Hacking) bis nach Perchtoldsdorf, Mödling und Schwechat aus. Er bot den entscheidenden Anlass für die Aufstellung bewaffneter Korps, der Nationalgarden, die in erster Linie Ruhe und Ordnung garantieren sollten, bis zu einem gewissen Grad aber auch zum bewaffneten Arm der Revolution werden konnten. Ganz besonders gilt dies für die nun ebenfalls genehmigte Akademische Legion, also die bewaffnete Studentenschaft. Die Wiener Ereignisse sind nur ein, wenngleich wichtiger Punkt in der raschen Folge von Unruhen, die jetzt aufflammten: am 15. März in (Buda-)Pest, am 17. in Venedig, am 18. in Mailand. In Venedig rief man die Republik aus, Radetzky räumte nach mehrtägigen Kämpfen Mailand. Etwas weniger dramatisch ging es in den heutigen österreichischen Ländern zu. In Linz beispielsweise freute man sich über das Ende der Zensur, am 16. März ruhte die Arbeit, alles strömte zusammen, wobei es kaum Ausschreitungen gab; auch hier entstanden eine Nationalgarde und ein Studentencorps. Gegenstand der Volkswut war, wie in Wien, die Verzehrungssteuer bzw. das Zollgebäude an der Linzer Donaubrücke, wo jene eingehoben wurde. Auch die Jesuiten auf dem Freinberg (1814 war der Orden wiederhergestellt worden) wurden als Symbol des „alten" Systems angegriffen und mussten fluchtartig die Stadt verlassen. Ähnliche Garden bildeten sich jetzt in allen größeren Orten. Auf dem Lande hörten die Bauern auf, Abgaben zu leisten. Wie in den Tagen nach dem Tode Kaiser Maximilians I. und in den Jagdaufständen der Barockzeit griffen sie zur Selbsthilfe gegen das herrschaftliche Wild — mit der „Demokratisierung" des bislang nur den Herren vorbehaltenen /agdrechtes demonstrierten sie den Umsturz der Verhältnisse am augenfälligsten. Mehrfach gingen die Bauern über diesen Zustand revolutionärer Erregung hinaus. Angst vor einem großen Bauernaufstand hatte man überall — in Galizien selbstverständlich am stärksten, genauso aber in Böhmen, Mähren und in den südslawischen Ländern. In Böhmen wurden einige Schlösser gestürmt und in Krain darüber hinaus herrschaftlicheArch/Ve — das Gedächtnis der Herrschenden! — zerstört. Hier war übrigens das Schloss Thum am Hart, Besitz des liberalen Poeten Anton Graf Auersperg, besser bekannt unter dem Pseudonym Anastasius Grün, Ziel eines bäuerlichen Angriffs. Beschleunigt wurde die bäuerliche Bewegung durch die Entwicklung in Ungarn und Calizien. Die am 11. April vom Kaiser und ungarischen König genehmigte neue ungarische Regierung stand einer breiten bäuerlichen Unruhe gegenüber, die dazu führte, dass hier schon im April die sofortige Aufhebung der Robotverpflichtung (unter Ankündigung einer Entschädigung der Grundherren durch den Staat) verkündet wurde. Analog handelte der Statthalter von Galizien, Franz Graf Stadion, der in der Angst um den völligen Verlust Galiziens am 22. April ebenfalls das Ende der Robot proklamierte. Auf die Nachricht von diesen Ereignissen wuchs die Gärung unter den Bauern der Alpenländer, Böhmens und Mährens, so dass man im Juni schließlich für Mähren und für
Die Revolution des Jahres 1848
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Innerösterreich das sofortige Ende der Naturalrobot verkündete. Schon im April waren für Niederösterreich und Steiermark Patente erschienen, die das Ende aller Naturalleistungen mit Jahresende 1848 verhießen, anschließend sollten die Bauern Geldzahlungen leisten. Das Ende des Feudalismus war also im Frühjahr 1848 schon gewiss. Regional vorläufig recht unterschiedlich geregelt oder überhaupt noch offen war die Form, in der jener zu Grabe getragen werden sollte. Soferne einzelne Landtage diese Frage bearbeiteten (u. a. Steiermark, Oberösterreich, Mähren) geschah dies im Allgemeinen nicht zur Zufriedenheit der Bauern. Das ist der Hintergrund für die überragende Rolle der Bauernfrage im konstituierenden Reichstag. Damit kehren wir zur Frage der Verfassung zurück, die ja am Anfang der Bewegung im März gestanden war. Die neue (österreichische) Regierung ging, zur raschen Beruhigung der Lage, daran, selbst eine Verfassung auszuarbeiten. Sie wurde am 25. April aus kaiserlicher Machtvollkommenheit verkündet (also „oktroyiert"), nicht von einer eigenen konstituierenden parlamentarischen Versammlung erarbeitet. Diese„Pillersdorf'sche Verfassung"(nach dem Innenminister Franz Baron Pillersdorf), stark angelehnt an die belgische Verfassung von 1830, entsprach in der Kodifizierung der Grund- und Freiheitsrechte durchaus den Ansprüchen des liberalen Bürgertums, erfuhr aber heftige Kritik, weil sie (eben) einem Oktroi entsprang, weil sie zentralistisch war und weil dem Kaiser ein absolutes Veto zukam. Außerdem stieß man sich am Zweikammersystem und am stark eingeschränkten Wahlrecht für die Abgeordnetenkammer. Die Wahlordnung vom 9. Mai, welche zwar keinen Zensus (also eine bestimmte Steuerleistung) als Wahlrechtsvoraussetzung verlangte (wohl aber eine bestimmte Dauer der Ansässigkeit) und darüber hinaus alle Arbeiter im Tag- und Wochenlohn sowie Dienstboten ausschloss, löste den heftigsten Protest aus (Sturmpetition der Akademischen Legion, 15. Mai). Die Regierung nahm die Verfassung zurück — der zu wählende Reichstag wurde nun als verfassunggebender bezeichnet und sollte nur aus einer Kammer bestehen. Der Hof verließ, verschreckt, das unruhige Wien (17. Mai) und begab sich nach Innsbruck. Das führte zu ersten Spannungen zwischen dem mäßig liberalen, aber habsburgtreuen Bürgertum und den Studenten bzw. Arbeitern und Handwerkern der Vorstädte. Ein Versuch der Ausschaltung der Akademischen Legion seitens der Regierung am 26. Mai wurde mit Barrikaden und der massiven Unterstützung der Studenten durch die Arbeiter aus den Vorstädten beantwortet. Ein Sicherheitsausschuss, gebildet aus Bürgern, Nationalgarden und Studenten übernahm die faktische Herrschaft in Wien. Nun ging es um das Wahlrecht: Nach der neuen Wahlordnung vom 30. Mai waren Arbeiter weiterhin ausgeschlossen. Heftige Proteste führten dazu, dass am 10. Juni schließlich die „selbständigen" Arbeiter (also nicht Dienstboten!) das Wahlrecht erhielten. Im Juni und (in Böhmen) im Juli fanden die Wahlen statt. Sie waren indirekt: Zuerst wurden von den Urwählern Wahlmänner gewählt, die dann die Abgeordneten bestimmten. Trotz aller Unzulänglichkei-
270
Von der Revolution zum Ersten Weltkrieg
ten dieser Wahlen, trotz des Misstrauens, das besonders die Landbevölkerung dieser neuen Einrichtung entgegenbrachte, trotz Manipulation und versuchten Wahlschwindels muss man doch diese Wahlen nicht bloß als ersten reichsweiten Versuch in demokratischen Verfahrensweisen, sondern darüber hinaus doch ziemlich weitgehend als Ausdruck des Willens der Wähler ansehen, sich von Männern ihres Vertrauens vertreten zu lassen. Von den 383 Abgeordneten entfiel der größte Teil auf Vertreter des Besitz- und Bildungsbürgertums: 24 % waren (Staats-, Gemeinde- und Privat-)Beamte, 9 % Fabrikanten, Händler, Gewerbetreibende und „Privatiers", 16 % „Doktoren" (Ärzte und Juristen), zu welchen, als Freiberufler, auch Schriftsteller und Redakteure gezählt werden können (mit knapp 2 %). 11 % waren (bürgerliche und adelige) Gutsbesitzer, 5 % Geistliche, 4 % Professoren und Lehrer, fast 2 % Studenten und Doktoranden. Rechnet man die fünf Militärs mit den Staats- und Kommunalbeamten (sowie Professoren und Lehrern) zusammen, so entfallen auf den „öffentlichen Sektor" fast 27 % — ein enorm hoher Anteil des „öffentlichen" Interesses, welcher sich bei der nahe liegenden Affinität der meisten Geistlichen und diverser Gutsherren zum Staatsinteresse noch vermehren würde. Immerhin 92 (also 24 %) der Abgeordneten waren Bauern. Sie hatten das bäuerliche Interesse an einer sofortigen Aufhebung aller bäuerlichen Lasten ohne jede Entschädigung zu vertreten. Die meisten von ihnen (35) kamen aus Galizien, 13 aus Oberösterreich, zwölf aus Niederösterreich, 18 aus Böhmen und Mähren, sieben aus der Bukowina, sechs aus Kärnten und Krain, nur zwei aus der Steiermark (der Westen entsandte keinen bäuerlichen Abgeordneten). Es war daher folgerichtig, dass sich der Reichstag auch sogleich nach seiner Eröffnung (22. Juli) mit der Bauernfrage auseinander setzte. Schon am 24. Juli brachte Hans Kudlich seinen berühmten Antrag „Von nun an ist das Unterthänigkeits-Verhältnis sammt allen daraus entsprungenen Rechten und Pflichten aufgehoben [...]" ein, der dann am 26. Juli auf die Tagesordnung des Reichstages gesetzt wurde. Neben der Crundentlastung hatte sich der Reichstag mit der Frage einer Verfassung sowie mit der Gestaltung der Gemeinden zu beschäftigen, deren Organisationsform mit dem Ende des Feudalismus zu einer dringenden Frage geworden war. Doch nicht nur der Reichstag bereitete die konstitutionelle Neugestaltung Österreichs vor. Auch die Landtage, im März 1848 ja verschiedentlich Ausgangspunkte der Revolution, wurden tätig. Die ständischen Landtage wurden durch Wahlen um bürgerliche und bäuerliche Abgeordnete ergänzt. Einige Landtage, wie insbesondere der steirische und der mährische, arbeiteten recht ordentlich und konnten in der Frage der Grundentlastung, der Landesverfassung und der Gemeindeordnung wichtige Vorschläge erarbeiten, die freilich in Konkurrenz zur Regierung und zum Reichstag standen. In Böhmen und Niederösterreich wurde zwar gewählt, ein Landtag aber nicht einberufen. Im oberösterreichischen Landtag beschäftigte man sich ebenfalls mit der Landesverfassung, mit der zukünftigen Gestaltung des Gemeindelebens und mit der Grund-
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entlastung. Die Bauern, hier in der Minderheit, waren mit der grundherrenfreundlichen Haltung der Landtagsmehrheit gar nicht einverstanden und erhofften eine für sie günstigere Lösung durch den Reichstag. Dessen Zusammentreten ließ dann auch allgemein die Aufmerksamkeit für die Landtage erlahmen. Untrennbar mit der Verfassungsfrage hing die nationale Frage zusammen. Das schon im Vormärz deutlich anwachsende nationale Selbstbewusstsein, orientiert nicht mehr (oder nicht mehr ausschließlich bzw. überwiegend) an der älteren Einheit des „Landes", sondern an der Sprachgemeinschaft, erfuhr im Zuge der Ereignisse von 1848 eine ungeheure Verstärkung. Die staatliche Umsetzung der neu empfundenen nationalen Einheit wurde ein zentrales Ziel — gleich, ob damit die Forderung nach dem völlig unabhängigen Nationalstaat (wie bei Italienern, Deutschen und Polen), nach einer neuen autonomen Konstellation im Rahmen des Habsburgerreiches (wie bei den Slowenen) oder nach verstärkter Autonomie im eher traditionellen Rahmen ehrwürdiger Königreiche (wie bei den Tschechen Böhmens) bzw. weitgehender Selbständigkeit unter Anerkennung der habsburgischen Königsherrschaft (wie bei den Ungarn) verbunden wurde. Die Regierung wich zunächst zurück. Es scheint, als ob man am Hofe eine Umgestaltung der Monarchie in föderalistischer Weise ins Kalkül gezogen hätte. Ungarn erhielt —wie bereits erwähnt —eine eigene Regierung. Am 8. April versprach der Kaiser auch „verantwortliche Zentralbehörden für das Königreich Böhmen" in Prag („böhmische Charte"), erfüllte damit aber die Forderungen der Tschechen nach einem autonomen Königreich, das alle Länder der Wenzelskrone (also auch Mähren und Österreichisch-Schlesien) umfaßte, nur zum Teil. Auch dem Wunsch nach deutscher Einigung, als dessen symbolischer Ausdruck seit dem 1. April die schwarz-rot-goldene Fahne vom Stephansturm wehte, kam man entgegen — mit den Wahlen zum Frankfurter Parlament, die Ende April, Anfang Mai in den meisten zum Deutschen Bund gehörigen Gebieten Österreichs abgehalten wurden. Die Uminterpretation des Deutschen Bundes zum deutschen Nationalstaat führte sogleich zu Spannungen: So erklärte Frantisek Palacky in seinem berühmten Absagebrief an den Frankfurter Ausschuss vom 11. April 1848 nicht nur die sozusagen europäische Berechtigung des die kleinen Nationen Mitteleuropas bergenden übernationalen Österreich, sondern vor allem auch die nationale Eigenständigkeit der Tschechen, die sich an einem deutschen Nationalstaat keineswegs beteiligen könnten und wollten. Ein Wahlboykott folgte: Von 68 Wahlbezirken Böhmens wurden nur in 19 Bezirken der vorwiegend oder ganz deutsch besiedelten Randgebiete Abgeordnete für Frankfurt gewählt, in Mähren in 23 von 28, teils mit recht geringer Wahlbeteiligung. Auch in den slowenischen Gebieten war die Wahlbeteiligung gering, die Trentiner Italiener wählten, aber nur, um in Frankfurt die Entlassung des Trentino aus dem Deutschen Bund zu fordern. Insgesamt wurden 114 Abgeordnete aus dem Habsburgerreich nach Frankfurt gewählt, meist Angehörige der Intelligenzberufe, nur ein Bauer: Die deut-
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sehe Einheit war die Sehnsucht jener, die sich tatsächlich durch das Medium der Literatur auf der Ebene der deutschen Nation der Gebildeten, der „Dichter und Denker" bewegten. Dort, wo die wirklichen Probleme entschieden wurden, also primär im Wiener Reichstag, sollten dagegen viel mehr bäuerliche Vertreter aufscheinen. Deutsche Einheit und Verfassung für den neuen deutschen Nationalstaat mussten aber zu einer entscheidenden „Frage an Österreich" werden, wie sie im Herbst 1848 von Frankfurt aus dann tatsächlich gestellt wurde: War Österreich bereit, seine im künftigen deutschen Staate gelegenen Gebiete von den nichtdeutschen zu trennen und seine Gesamtstaatlichkeit zugunsten einer reiner Personalunion aufzugeben? Die abschlägige Antwort der Regierung (27. November 1848) drückte sicher nicht bloß die Meinung des Hofes aus. Die Konzessionen der Regierung im national-konstitutionellen Bereich während des März und April 1848 erweckten sofort national-konstitutionelle Gegenbewegungen. Die Deutschen Böhmens protestierten heftig gegen die „böhmische Charte", traten aus dem Prager Nationalkomitee (das aus der Wenzelsbadversammlung hervorgegangen war) aus und gründeten einen rein deutschen Verein. Die Kroaten stellten für das Königreich Kroatien analoge Forderungen, wie sie für Ungarn bewilligt worden waren, während man in Pest Kroatien als integrierenden Bestandteil des ungarischen Königreiches ansah. Der kroatische Landtag war nicht bereit, irgendeine Unterordnung unter die ungarische Regierung anzuerkennen. Solange die Wiener Regierung mit Ungarn kooperierte, dachte man sogar daran, sich vom Hause Habsburg loszulösen. Erst als man am Hofe immer mehr zu einer militärischen Lösung gegenüber Ungarn umschwenkte, konnte die kroatische Opposition gegen die ungarische Regierung nun in habsburgischem Sinne mobilisiert werden. Militärische Lösungen schienen zunächst unmöglich. Die Hauptarmee stand in Italien. Erst ein Erfolg Radetzkys bei Santa Lucia (6. Mai) gegen die Piemontesen (denen sich die Lombardei und Venetien angeschlossen hatten), die Niederschlagung des Aufstandes in Krakau (25./26. April) und schließlich das Scheitern des Pfingstaufstandes in Prag ( 1 1 . - 17. Juni) ließ jene Kräfte bei Hofe Hoffnung schöpfen, die eine militärische Niederwerfung befürworteten. Endgültig scheinen sie sich mit Radetzkys Siegen in Italien (Rückeroberung Mailands am 6. August) durchgesetzt zu haben. Auch bürgerliche Kreise, denen das alte absolutistische System keineswegs sympathisch gewesen sein konnte, begannen nun immer mehr, in der Armee den Garanten der Macht und Einheit Österreichs zu sehen; so Franz Grillparzer, in seinem bekannten Gedicht an Radetzky mit dem berühmten Zweizeiler „Glück auf, mein Feldherr, führe den Streich, nicht um des Ruhmes Schimmer. In Deinem Lager ist Östereich! Wir anderen sind einzelne Trümmer." Österreich wurde mit der Armee Radetzkys in eins gesetzt. Einheit und Macht des Staatswesens als Werte an sich, die auch eine durchaus gewaltsame, militärische Integration legitimieren, gewannen gegenüber den Ideen der Revolution an Boden.
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Nun, im Sommer 1848, drängte auch die „sociale Frage" zu einer Lösung. Von Maschinenstürmen, Stürmen auf Mauthäuser und Linienämter (an denen die Verzehrungssteuer, wie erinnerlich, eingehoben wurde), auch auf Fleischerund Bäckerläden wird im Frühjahr 1848 wiederholt berichtet. Die Lage der Arbeiter verbesserte sich dadurch kaum — im Gegenteil, durch die Zerstörung von Maschinen und Fabriken waren Arbeitsmöglichkeiten reduziert worden, zudem führte die allgemeine Unsicherheit zu einem Rückgang der Nachfrage nach den Artikeln der Industrie. Um die unruhigen Massen der Arbeitslosen, die sich noch stärker als bisher in Wien konzentrierten, einigermaßen zufrieden zu stellen, wurden sie bei Erdarbeiten im Prater und an der Cumpendorfer Linie beschäftigt. Auch der beschleunigte Baubeginn der Semmeringbahn ist im Zusammenhang mit der Beschäftigungsmöglichkeit für zahlreiche Menschen — erfreulicherweise weit außerhalb von Wien — zu sehen. Übrigens wurde damals erstmals (und zwar zunächst bei der Maschinenfabrik der WienGloggnitzer Eisenbahn) die Arbeitszeit auf zehn Stunden pro Tag herabgesetzt. Da relativ gute Löhne bezahlt wurden, meldeten sich immer mehr Arbeiter zu den Erdarbeiten. In anderen Branchen wurden Arbeiterforderungen mit Vehemenz vertreten; die als einzige schon in Vereinsform (Unterstützungsverein seit 1842) organisierten Drucker, Setzer und Schriftgießer forderten Lohnerhöhung, Beschränkung der Lehrlings- und Abschaffung der Frauenarbeit, zehnstündige Arbeitszeit und Sonntagsruhe. Im April erkämpften die Arbeiter der Nord- und Staatsbahn eine Verminderung der Arbeitszeit. Auch die kleingewerblichen Arbeiter, die Schuster, Schneider usw., bemühten sich um eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen, was angesichts der Verarmung der kleinen Meister freilich kaum möglich war. Mit der Mairevolution und der Behauptung der studentischen Bewaffnung (26. Mai) war nicht nur der Höhepunkt der Bewegung in Wien erreicht, es begann jetzt auch die intensivste Phase der Organisation der Arbeiterschaft und einer — wenn man so sagen darf — „Sozialpolitik", geleitet vom neuen Sicherheitsausschuss. Ein Ministerium für öffentliche Arbeiten wurde gebildet, das aber zunächst neben dem aus dem Sicherheits- und dem Wiener Gemeindeausschuss gebildeten Arbeitercomité wenig Rolle spielte. Der „Erste allgemeine Arbeiterverein" konstituierte sich am 24. Juni, dessen Gründer und Präsident, Friedrich Sander, ein Schustergeselle, wieder hauptsächlich Gesellen aus dem Kleingewerbe um sich versammelte. Der Verein soll bald 2000 Mitglieder gezählt haben. Programmatisch setzte er sich die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Arbeiterschaft zum Ziele: Trotz der immer wieder auseinander tretenden Interessen von Arbeiterschaft und Bürgertum blieben die Arbeiter politisch im Rahmen der Zielsetzungen der bürgerlichen Demokratie. Immerhin zeigt diese Vereinsgründung, ebenso wie die des bald darauf entstandenen „Radicalen liberalen Vereins", doch Ansätze einer Ausbildung proletarischen Klassenbewusstseins, mochte es sich auch noch stark in den tradierten Bahnen zünftischer Gesellenorganisation bewegen. Das Fehlen eines von der bürgerlichen Demokratie (die insbesondere von Journalisten und Studenten getragen
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wurde) gesonderten politischen Bewusstseins hat ja Karl Marx, als er sich Ende August in Wien aufhielt, bedauernd konstatiert und die politische Unreife des Wiener Proletariats nicht ohne Häme kommentiert. Die öffentlichen Arbeiten führten schließlich zum Bruch zwischen Regierung (bzw. der „bürgerlichen Revolution") und Arbeiterschaft. Angesichts gähnender Leere in den Staatskassen verordnete der neue Arbeitsminister Ernst von Schwarzer am 18. August Lohnkürzungen für die Erdarbeiter. Die Arbeiter demonstrierten dagegen am 23. August im Prater; schließlich zogen sie gegen die Stadt. In der Jägerzeile (heute Praterstraße) stießen sie auf die bürgerlichen Garden. Diese stellten die „Ordnung" gewaltsam her. Es gab Tote und Verwundete („Praterschlacht"). Das schon seit den Märztagen der Arbeiterschaft misstrauende Bürgertum hatte seine Macht gezeigt. Und dieser Bruch sollte sich im Herbst noch nachhaltig auswirken. Langsam neigte sich die Waage den Kräften der „Ordnung" zu. Zwar verabschiedete der Reichstag nach heißen Debatten Ende August das Gesetz über die Grundentlastung. Aber schon dabei hatten sich die Verfechter der Grundherrenrechte und liberale „Eigentumsfreunde" dahingehend gefunden, dass die feudalen Rechte als Eigentumsrechte interpretiert wurden, die nur gegen Entschädigung abgelöst werden konnten. Kudlichs Gegenantrag auf entschädigungslose Grundentlastung bzw. Entschädigung der Grundherren durch den Staat blieb in der Minderheit. Auch formal setzte sich die Regierung durch: Als kaiserliches Patent, bloß „in Übereinstimmung mit dem constituierenden Reichstage", wurde die Grundentlastung am 7. September kundgemacht. Am 11. September marschierte der kroatische Banus Jelacic mit Billigung des Hofes in Ungarn ein. Als sich eine Delegation des ungarischen Reichstages am 19. September in Wien an den österreichischen Reichstag wandte, damit dieser zwischen den Ungarn und der Krone allenfalls vermittle, lehnten dies die Regierung und die konservative und slawische Mehrheit des Reichstages ab. Die mit den Ungarn sympathisierende „Linke" drang mit ihrem Wunsch nicht durch. Nach der Ermordung des vom Hof ernannten neuen Oberkommandierenden für Ungarn, Graf Lamberg, auf der Pester Brücke, wurde Jelacic zum königlichen Kommissär für Ungarn ernannt und der Ausnahmezustand ausgerufen. Der Krieg zwischen Ungarn und Kroaten war offiziell zum Krieg zwischen der (ursprünglich vom Kaiser bestätigten) ungarischen Regierung und dem Kaiser geworden. Als man dafür Truppen aus Wien abziehen wollte, kam es am 6. Oktober zu Unruhen: Ausrückende Truppen wurden am Abmarsch gehindert, verbündeten sich zum Teil mit der Nationalgarde, das Zeughaus wurde belagert, der Kriegsminister Latour gelyncht. Wieder floh der Hof, diesmal nach Olmütz/ Olomouc in Mähren. Nun war die militärische Auseinandersetzung um Wien unausweichlich geworden. Die Spaltung zwischen (groß-)bürgerlichen Innenstadt- und kleinbürgerlich-proletarischen Vorstadtgarden lahmte freilich die Verteidigungsbereitschaft. Die Mobilisierung des Landvolkes misslang. Am 31. Oktober eroberte die Armee des Fürsten Alfred Windisch-Graetz gemein-
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sam mit den Kroaten Jelacic' die Stadt. Die Revolution in Wien war zu Ende. Symbolträchtig trampelte das Pferd des Feldmarschalls auf der schwarz-rot-goldenen Fahne der Freiheit ebenso wie der deutschen Einheit herum, als eine Bürgerdeputation devot ihre Unterwerfung bekundete. Die höfische Partei zeigte nun Entschlossenheit: Windisch-Graetz' Schwager Felix Fürst Schwarzenberg wurde neuer Premierminister, Franz Joseph neuer Kaiser (2. Dezember 1848). Der Reichstag wurde nochmals, und zwar nach Kremsier/Kromëriz unweit von Olmütz, einberufen, arbeitete auch — unter dem Druck der Verhältnisse — rasch und gut am Entwurf einer Verfassung, aber schon am 20. Jänner beschloss der Ministerrat seine Auflösung, die schließlich am 7. März erfolgte. Mit dem 4. März datierte die Regierung eine (oktroyierte) Verfassung, ein Durchführungsgesetz zur Grundentlastung und ein provisorisches Gemeindegesetz. Neue kriegerische Verwicklungen in Italien wurden im März von Radetzky rasch beendet, Unruhen im Prager Mai unterdrückt. Länger dauerte der Kampf in Ungarn. Seit dem Mai von russischen Truppen unterstützt, gelang es den Kaiserlichen erst im August, die ungarische Revolution niederzuwerfen. Am 22. August 1849 kapitulierte auch Venedig.
1.2
Interpretationsversuche
Die Revolution von 1848 gilt als die (freilich nicht vollendete) „bürgerliche Revolution" in Österreich. Das stimmt insofern, als das Streben nach einer Verfassung („Konstitution"), nach Kontrolle der Staatsfinanzen, nach Grundrechten und politischer Mitbestimmung zutiefst politischen Vorstellungen und Wünschen des Besitz- und Bildungsbürgertums verbunden ist. Schutz von Person und Eigentum, Kontrollierbarkeit und Berechenbarkeit der Staatseingriffe — das sind Werte, an denen dem Unternehmer genauso gelegen sein musste wie dem Freiberufler, dem Künstler, Schriftsteller, Gelehrten. Es sind aber, darüber hinaus, Werte, deren Gehalt auch für alle übrigen gesellschaftlichen Gruppierungen die Ausgangsbasis jeder politischen Artikulation bieten musste. Die Revolution von 1848 ist aber doch wesentlich komplizierter zu beurteilen. Hier bündelten sich fast zeitgleich ganz verschiedene soziale und nationale Strömungen, vereinigt nur durch die überall gleichgeartete Unfähigkeit des vormärzlichen Regimes zu einigermaßen zeitgemäßen Reaktionen auf die Nöte der Zeit, vereinigt ferner durch die manchmal willkürliche gemeinsame politische Decke, unter die man 1815 große Gebiete Mitteleuropas gesteckt hatte: Die Mailänder und die venezianische Revolution hatte mit der Wiener nichts gemeinsam, ebenso wenig die Krakauer, Prager oder Budapester. Die Erfüllung der nationalen Wünsche der Italiener, Polen, Tschechen und Ungarn musste den Bestand der Monarchie gefährden, ebenso die Erfüllung des Wunsches nach der „deutschen Einheit". Da die Erhaltung dieser Monarchie nicht bloß dem Hof am Herzen lag, sondern auch dem (besonders Wiener) Großbürgertum, den Beamten, Schriftstellern usw., mussten sie sich fast mit Notwendigkeit gegen diese Wünsche wenden. Schon die so oft beschworene „deut-
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sehe Einheit" war eine Sache, an der große Teile des Bürgertums nur mit halbem Herzen hingen: „Die Wiener, d. h. eigentlich die Wiener Doctrinärs, Beamten und Greisler wollen sich Deutschland nicht unbedingt, sondern nur unter Vorbehalt einer ganz unbedeutenden Kleinigkeit, der Souverainetät, anschließen, nur mit diesem Vorbehalt nach Frankfurt wählen [...]", bemerkte schon am 24. April Hans Kudlich in einem Brief. Und Grillparzers bereits erwähntes Gedicht an Radetzky zeigt den unbedingten Wunsch, Österreich einheitlich und mächtig zu erhalten, auch durch das Medium der Armee. Die Revolution des Wiener Bürgertums war also eine konstitutionelle, aber nur bedingt eine nationale und ganz sicher keine soziale. Selbst der an sich so selbstverständliche Wunsch nach dem Ende der feudalen Verhältnisse löste komplizierte Spekulationen über den Eigentumscharakter dieser Rechte aus. Die Heiligkeit des Eigentums stand überhaupt im Mittelpunkt des Interesses — die seit dem März gebildeten Nationalgarden sollten primär dieses schützen und erst sekundär die Errungenschaften der Revolution verteidigen. Fragt man sich, was die Wiener bürgerliche Revolution wollte, so kann man, vereinfachend, sagen: einen funktionierenden zentralistischen österreichischen Staat auf konstitutioneller Basis, mit dominierendem deutschem Bürgertum, unter Abwehr nationaler Wünsche der diversen slawischen Völker, aber möglicherweise unter Berücksichtigung der ungarischen Wünsche — also ungefähr das, was schließlich 1867 herauskam. Dass diejenigen, die die Last der blutigen Auseinandersetzungen getragen hatten, Studenten, Handwerker, Arbeiter, andere Wünsche hatten, wie die Befreiung von Not und Elend oder aber die demokratische deutsche Republik, steht auf einem anderen Blatt. Es ist ja häufig so, dass in Revolutionen jene, die die Last der Kämpfe tragen, anderes intendieren als jene, die von diesen Kämpfen letztlich profitieren. „Die Gemäßigten mochten nicht selbst auf die Barrikaden steigen, aber sie würden nichts erreichen, wenn nicht jemand anderer die Barrikaden stürmte [...]" (Eric J. Hobsbawm). Doch nicht nur die Gegensätze zwischen den nationalen Ansprüchen verschiedener Herkunft prallten heftig aufeinander, auch jene zwischen Stadt und Land. „Linke" satirische Zeitungen wurden nicht müde, die Bauerndeputierten im Reichstag als indolentes Stimmvieh der Reaktion verächtlich zu machen. Kam dazu noch eine mangelnde Beherrschung der deutschen Sprache, ungewohnte Kleidung und ungewohntes Aussehen wie bei den ruthenischen (ukrainischen) Abgeordneten aus Galizien, wurden Spott und Hohn gleich kübelweise vergossen. Zeichnungen, in denen Bauernabgeordnete dumpf vor dem Bierglase dösend dargestellt wurden, waren nicht selten. Umgekehrt misstraute die Bauernschaft den Sendboten der Revolution und ließ sich auch nicht von Kudlichs schwungvollen Aufrufen im Oktober zum Landsturm bewegen. Damit ist ein zentrales Problem der Revolution angesprochen. „Der Sturm geht los, und der Bauer schläft!" klagte ein revolutionäres Flugblatt im Herbst
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1848. Warum waren die Bauern nicht bereit, für die Revolution zu kämpfen, wenn doch das ganze Frühjahr hindurch in zahlreichen offiziellen Kundmachungen und Schriftstücken die Angst vor großen Bauernaufständen ganz unverhohlen grassierte? Die These vom „Verrat" der Bauern an der Revolution, wie sie sofort im Herbst 1848 und mit bis heute anhaltendem Erfolg formuliert wurde, stellt den Sachverhalt, etwas vereinfacht ausgedrückt, so dar: Die Bauern hatten mit der vom Reichstag verabschiedeten Grundentlastung bekommen, was sie wollten, und das Fernere interessierte sie nicht mehr. Daran dürfte so viel stimmen, dass in der Tat die Bauern primär am Ende von Zehent und Robot interessiert waren (und wie auch nicht!), nur deshalb sich versammelten, demonstrierten, rumorten, wählten. Die Ablösungsfrage hat der Reichstag nicht im bäuerlichen Sinne gelöst — warum sollten sich also die Bauern für eine Versammlung schlagen, die ihre Wünsche nur zum Teil erfüllt hatte? Die Modalitäten der Ablösung blieben zudem offen; sie wurden erst mit dem Gesetz vom März 1849 geregelt (übrigens in relativ bauernfreundlichem Sinne). Dazu kommt, dass das Grundentlastungspatent als kaiserliches Gesetz erlassen wurde. Das stand für das bäuerliche Bewusstsein durchaus in einer zumindest bis Joseph II. und Maria Theresia zurückreichenden Tradition, derzufolge der Kaiser die Bauern vor allzu weitgehender Ausbeutung durch die Grundherren schützte. Die Regierung tat auch nichts, um die eigentlich gesetzgeberische Arbeit des Reichstages in dieser Frage besonders herauszustreichen. Bauernschutz durch kaiserliches Gesetz — das hatte Tradition und ergab für die Bauern auch einen Sinn. Sie glaubten daher auch keinen Augenblick, dass eine gewaltsame Niederwerfung der Revolution die Wiederkehr der Robot bedeuten würde — wie das die Emissäre der Revolution im Oktober verkündeten. Andererseits machte die liberale „Linke" auch niemals das vielleicht einzige Angebot, das die Bauern für die Revolution zu aktivieren vermocht hätte: nämlich das der entschädigungslosen Grundentlastung. Der große Bauernaufstand, getragen von den überwiegend slawischen Bauernmassen des Habsburgerstaates, war den überwiegend recht deutschnationalen „Linken" keineswegs geheuer. Die Loyalität der Bauern für den Kaiser geriet daher niemals ins Wanken. Das war ein wichtiger Pluspunkt für die Restaurierung der konservativen Habsburgermacht — und wurde von ihr auch konsequent ausgenützt. Neben die Gegensätze zwischen den einzelnen nationalen Revolutionen, neben den Gegensatz zwischen Stadt und Land trat schließlich der Gegensatz z w i s c h e n d e n besitzenden
Bürgern u n d d e n H a b e n i c h t s e n , d e n
Maschinenstürmern
vom März und den Erdarbeitern vom August. Sicher waren die „bürgerlichen" Freiheiten des März zu einem guten Teil Frucht des Aufstandes der Wiener Vorstädte und Vororte. Die brennenden Fabriken zeigten aber Grenzen der Kooperationsmöglichkeiten zwischen dem Besitzbürgertum und der Arbeiterschaft, die sich bis zum August noch weitaus deutlicher und schärfer herausbildeten. Zieht man alle diese Spannungen in Betracht, so ist es weniger ein Wunder, dass die Revolution niedergeschlagen wurde, als dass sie überhaupt so erfolgreich war. Obgleich sich die einzelnen verschiedenen Strömungen der
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Revolution nicht gegenseitig verstärkten, sondern eher schwächten, vermochten Hof und Regierungbis zum Sommer daraus wenig Gewinn zu ziehen. Langsam konnten sie sich zum Anwalt einiger Gruppen gegen die Wünsche anderer machen. Sie versuchten, als Beschützer des Eigentums gegen die Forderungen der Proletarier aufzutreten, als Förderer nationaler Minderheiten gegen die Aspirationen der Mehrheiten (so in Ungarn, wo der Hof mit Serben und Kroaten gegen die nationale Revolution der Ungarn koalierte), als Verbündete der Bauern, schließlich auch als Hüter der gemeinsamen Wirtschaftsinteressen gegen separatistische Bewegungen. Und vor allem hat die Regierung zu keinem Zeitpunkt die Verwaltung aus der Hand gegeben. Landesregierungen und Kreisämter blieben funktionierende Arme der Zentralverwaltung (außerhalb Ungarns!), und es mutet fast komisch an, aus amtlicher Hand höchst offizielle Kommentare der Beamten über die unter Assistenz der Behörden vorgenommenen Wahlen zu lesen, wo man auch mit Beurteilungen der gewählten Abgeordneten nicht sparte. Ein abschließendes Urteil könnte folgendermaßen lauten: 1. Die Ursachen der Revolution liegen in der Unfähigkeit des vormärzlichen Regimes, auf die drängenden Fragen der Beendigung des Feudalismus, der beginnenden Konstituierung der Nationen auf der Basis der Sprachgemeinschaft, der allgemeinen Unzufriedenheit mit dem Polizeistaat und der Zensur auch nur den Ansatz einer Antwort zu finden. Verschärft wurde die Problemlage schließlich durch den wirtschaftlichen Wandel (Industrielle Revolution), durch die Konjunkturentwicklung und die Kartoffelfäule, was alles ab Mitte der vierziger Jahre zu einem rapiden Anschwellen des „Pauperismus", der Verarmung und Verelendung von Arbeitslosen und Arbeitsuchenden, führte. Der galizische Aufstand von 1846 und seine Folgen heizte die Stimmung weiter an. Unmittelbare Anlässe der Revolution sind schließlich in den italienischen, französischen und ungarischen Ereignissen des Jänners und Februars 1848 zu finden. 2. Im Ablauf der Revolution zeigt sich zunächst eine erste erfolgreiche Welle von Demonstrationen (Wien, Prag, Pest), aber auch von gewaltsamen Aufständen (Mailand, Venedig), die zu weitgehenden Zugeständnissen der Regierung und zur Gewährung wichtiger Rechte (Pressfreiheit, Verfassung, Regierung für Ungarn, „böhmische Charte") führte. Eine breite Welle bäuerlicher Widerstandshandlungen stützte die Märzrevolution und zwang die Regierung zu raschen Zugeständnissen (Robot-Patente). Die Ereignisse im Mai und im Juni (Wien, Prag) sind teils Folge von Regierungsaktionen (oktroyierte Verfassung, Wahlrecht), teils Ergebnis einer weiteren Radikalisierung der Revolution. Jetzt schon, aber noch deutlicher im Sommer, zeigt sich ein immer schärferer Bruch zwischen bürgerlicher Revolution und Arbeiterschaft, der ebenso wie die teilweise Befriedigung der Bauernschaft von der Regierung ausgenützt werden konnte, um die radikaldemokratischen Kräfte der Revolution immer stärker zu isolieren. Diese „Linke" isolierte sich
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auch dadurch, als sie, selbst deutschnational, den nationalen Wünschen der slawischen Völker der Monarchie keineswegs zugeneigt war. Nach der militärischen Niederschlagung der italienischen, polnischen und tschechischen Revolution (vom Wiener Bürgertum häufig mit Befriedigung quittiert) konnte daher die Regierung zuletzt an die Liquidierung der Wiener Revolution und an den Kampf mit dem revolutionären Ungarn gehen. Dieser war unter anderem deshalb so schwierig, weil hier die Revolution selbst die Bauern einigermaßen zufrieden stellte, weshalb, abgesehen von den nichtmagyarischen Nationen in den Randgebieten Ungarns, für die Wiener Regierung auch keine Verbündeten im Kampf gegen die Revolution zu rekrutieren waren. 3. Die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Kräfte, die sich 1848/ 49 gegenüberstanden, können nur schwer auf überschaubare und einfache, griffige Formeln gebracht werden. „Bürgerlich" waren die großbürgerlichen Altliberalen aus den niederösterreichischen Ständen, dem Gewerbeverein und dem juridisch-politischen Leseverein — Ärzte, Advokaten, Beamte, Gutsbesitzer, Fabrikanten, Professoren, Schriftsteller. „Bürgerlich" waren sicher auch die im Wenzelsbad in Prag Versammelten, und doch waren die Vorstellungen dieser und jener nicht zur Deckung zu bringen. „Bürgerlich", wenngleich mit stärkeren demokratischen Neigungen, waren wohl auch die Wiener Studenten. Daher sollte sich diese „bürgerliche" Studentenschaft im Verlauf des Revolutionsjahres immer stärker von den altliberalen großbürgerlichen Schichten trennen. Vielleicht ermöglicht ein anderer Gedankengang eine zusätzliche Erklärung. Revolutionen wie die in Wien, Prag oder Budapest sind Revolutionen eines Zentrums, durchaus auch stellvertretend für einen bestimmten weiteren Raum. In diesem Sinne war die Prager Revolution stellvertretend für ganz Böhmen bzw. (ansatzweise) für die entstehende tschechische Nation. Die Wiener Revolution erfolgte, insofern sie für das ganze nichtungarische Habsburgergebiet bürgerliche Freiheiten und die Wahl eines konstituierenden Reichstages errang, stellvertretend für ebendiesen Teil der Habsburgermonarchie (das spätere „Zisleithanien"). Diese stellvertretende Revolution konnte nur abgesichert werden, wenn es gelang, ihr eine breite Zustimmung zu verschaffen. Das versuchte man konsequent mit der Grundentlastung — warum dieser Versuch misslang, wurde schon erörtert. Mindestens ebenso wichtig für die Revolution musste die Erarbeitung einer Verfassung für den Gesamtstaat werden. Dafür lagen die Hindernisse klar zu Tage: Die Erfüllung nationaler Aspirationen der Nichtdeutschen stand dem liberalen Wunsch nach zentralistischer Staatsgestaltung entgegen; der Wunsch der liberalen Zentralisten nach einer „deutschen" Habsburgermonarchie wiederum konnte niemals die Zustimmung der nationalen Führungsschichten der Ungarn, Polen, Tschechen, Slowenen, Kroaten usw. finden. Erst die Drohung der Bajonette Windisch-Graetz' führte in Kremsier zu Kompromissen. Offenbar erschien es allen Beteiligten sinnvoller, selbst ein Modell für das weitere Zusammenleben in diesem Staat zu entwickeln, als sich
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jenes von oben herab diktieren zu lassen. Die Mischung des Kremsierer Entwurfes aus Zentralismus und Föderalismus, aus nationaler und regionaler Autonomie, macht den Verfassern alle Ehre. Ebenso ihre Weigerung, ein anderes als das Prinzip der Volkssouveränität als Basis der Verfassung anzuerkennen — weshalb ja dieser Reichstag schließlich von Soldaten auseinander gejagt wurde. Letztlich scheiterten die überwiegend städtischen Revolutionen von 1848 daran, dass sie in einem Staat stattfanden, der noch überwiegend ländlich war und wo die städtischen Zentren Inseln in einer bäuerlichen Bevölkerung darstellten. Diese Inseln konnten miteinander nicht in Verbindung treten — dazu waren die jeweiligen Ziele zu unterschiedlich; und die Verbindung über ein Meer von kaisertreuen Bauern, deren primär adelsfeindliche Revolutionsbereitschaft niemals gegen die kaiserliche Regierung mobilisiert werden konnte, erwies sich als unmöglich.
1.3
Die Folgen
Der mit dem März 1849 einsetzende Neoabsolutismus — die am 7. März verkündete Verfassung wurde im so genannten „Silvesterpatent" 1851 auch offiziell wieder demontiert — ist mehr als eine entfeudalisierte Fortsetzung des alten Absolutismus. Einzigartig in der Geschichte der Habsburgermonarchie war der jetzt auch Ungarn voll einbeziehende Einheitsstaat — wenn auch nur von kurzer Dauer. Nur von 1850 bis 1860 wurde auch über Ungarn das Netz der zentralstaatlichen Verwaltung gelegt. 1850 fielen auch die Zollschranken zwischen Ungarn und den übrigen habsburgischen Ländern. Doch kam man dem Unternehmertum nicht nur dadurch entgegen, dass man den wirtschaftlichen Großraum nun endgültig herstellte, sondern auch durch den Fortbestand der 1848 als Interessenvertretung des Großunternehmertums entstandenen Handelskammern. Auch bestanden die Landwirtschaftsgesellschaften als Interessenvertretungen der Landwirtschaft fort. Dieser Charakter als politische Interessenvertretung trat nach Statutenänderungen 1849/50 vereinzelt sogar noch stärker hervor. Der Neoabsolutismus führte die Grundentlastung durch — trotz wütender Proteste des siegreichen Feldherrn Alfred Fürst Windisch-Graetz, der in einem Schreiben an den jungen Kaiser Franz Joseph betonte, „[...] der hervorragendste Kommunist hat noch nicht zu begehren gewagt, was Ε. M. Regierung praktisch durchführt [...]". Die bäuerlichen Lasten wurden berechnet, mit dem Faktor 20 kapitalisiert, von dieser Gesamtsumme ein Drittel abgezogen, ein Drittel musste vom Bauern bezahlt werden und ein Drittel vom jeweiligen Land bzw. vom Staat; Leistungen an Kirchen und Schulen mussten ohne Abzug abgelöst werden. Die Entschädigungen für die Besitzveränderungsgebühren — besonders in Ober- und Niederösterreich von Bedeutung — übernahm der Staat, ebenso die Entschädigung des Adels in Galizien. Durch diese Modalitäten wurde die Bauernschaft zweifellos nicht übermäßig belastet und offensichtlich zufrieden gestellt.
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Das Ende des Feudalismus bedeutete aber auch den Anlass zur endgültigen Ausgestaltung bürokratischer Einrichtungen der untersten Ebene. Bezirkshauptmannschaften und Bezirksgerichte, von 1850 bis 1867 als „gemischte Bezirksämter" vereinigt, lösten die alten patrimonialen Ämter ab. Dazu kam nun auch ein ständiger bewaffneter Arm auf dem Lande — die Gendarmerie. Daneben begann, vorerst zaghaft, eine gewisse Gemeindeselbstverwaltung. Der Neoabsolutismus bedeutet also die Vollendung der (staats-)bürgerlichen Gesellschaft durch die endgültige rechtliche Gleichstellung der bäuerlichen Bevölkerung. Neben der Rücksichtnahme auf Bauerntum und Wirtschaftsbürgertum wurden auch bildungsbürgerliche Bestrebungen gefördert, durch die Gymnasialund Hochschulreform des Grafen Leo Thun, die durch die Verlagerung der philosophischen Propädeutik an die Mittelschule zur achtklassigen Gymnasialform (mit Fachlehrersystem) führte, die philosophisch-historisch-linguistischen Studien und die philosophische Fakultät aufwertete sowie die Lehrfreiheit verankerte. Doch ging all dies parallel mit der rigorosen Unterdrückung nationaler und sozialer Bestrebungen. Die schon um 1848 höchst unbefriedigenden Lebensverhältnisse der Arbeiter dürften sich im Jahrzehnt des Neoabsolutismus kaum gebessert haben. Das hängt zweifellos damit zusammen, dass insbesondere in Oberitalien und Ungarn die österreichische Herrschaft nur durch Militär- und Polizeigewalt aufrechtzuerhalten war. Das kostete (im Inland) Geld und (im Ausland) Sympathien. Um sich die Letzteren, was nämlich das westliche, „liberale" Ausland angeht, zu sichern, bezog Österreich im Krimkrieg eine gegenüber Russland unfreundliche Neutralität, indem es Truppen an der Grenze aufmarschieren ließ und die beiden rumänischen Fürstentümer besetzte (1854 - 1856). Diese militärische Aktion brachte das Finanzsystem noch weiter in Unordnung, verärgerte den treuen Verbündeten von 1849 gegen Ungarn, den Zaren, aufs Äußerste und brachte im Westen gar nichts ein: Napoleon III. unterstützte SardinienPiemont gegen Österreich 1859 in jenem Krieg, der nicht nur durch Henri Dunants Initiative zur Gründung des Roten Kreuzes infolge seiner Erlebnisse auf den Schlachtfeldern von Solferino bemerkenswert ist, sondern auch der Anfang vom Ende des Neoabsolutismus wurde. Aus Geldmangel schnell erklärt, musste der Krieg aus Geldmangel ebenso schnell abgebrochen werden. Noch in den Neoabsolutismus fallen zwei nicht unwichtige Schritte, die sozialen Wandel demonstrieren: Das Handschreiben des Kaisers von 1857 über die Schleifung der Wiener Stadtbefestigung und di e Anlage der Ringstraße, wodurch die Baukonjunktur wenigstens in Wien eine gewisse Belebung erfuhr, und (zweitens) das Gewerberecht von 1859, das eine weitgehende Gewerbefreiheit statuierte. Beide Maßnahmen gehören in den Kontext obrigkeitlicher Modernisierung. In gewisser Weise demonstrieren sie aber schon den heraufziehenden kurzzeitigen Triumph der bürgerlichen Kräfte. 1860 musste Franz Joseph auf Grund der katastrophalen Finanzlage des Staates im so genannten „Oktoberdiplom" zunächst noch bescheidene Konzessionen in Richtung ver-
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Von der Revolution zum Ersten Weltkrieg
fassungsmäßiger Regierungsformen machen. Das war den Ungarn, aber auch dem bürgerlichen deutschösterreichischen Liberalismus zu wenig. Nach einem neuerlichen Kurswechsel wurde im Dezember 1860 Anton von Schmerling zum leitenden Minister ernannt, dessen „Februarpatent" (1861) erstmals seit 1848 wieder gewählte Landtage und ein Reichsparlament („Reichsrat") brachte. Die kurze Herrschaft des bürgerlichen „deutschen" Liberalismus kündigte sich an.
2 Die Modernisierung der Habsburgermonarchie in der zweiten Hälfte des 19· Jahrhunderts Die Entwicklung von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur der Habsburgermonarchie in jenen knappen sieben Jahrzehnten zwischen 1849 und 1918 ist in den letzten Jahrzehnten zu einem bevorzugten Forschungsgegenstand zahlreicher Historiker geworden. Dennoch gibt es keine präzisere Schilderung des typischen Entwicklungsmusters von verlangsamtem sozialen Wandel, als sie Robert Musil im 8. Kapitel seines Romans „Der Mann ohne Eigenschaften" entworfen hat: „Dort, in Kakanien, [...] gab es auch Tempo, aber nicht zu viel Tempo. So oft man in der Fremde an dieses Land dachte, schwebte vor den Augen die Erinnerung an die weißen, breiten, wohlhabenden Straßen aus der Zeit der Fußmärsche und Extraposten, die es nach allen Richtungen wie Flüsse der Ordnung, wie Bänder aus hellem Soldatenzwillich durchzogen und die Länder mit dem papierweißen Arm der Verwaltung umschlangen [...] Natürlich rollten auf diesen Straßen auch Automobile; aber nicht zu viele Automobile! Man bereitete die Eroberung der Luft vor, auch hier; aber nicht zu intensiv. Man ließ hie und da ein Schiff nach Südamerika oder Ostasien fahren; aber nicht zu oft [...] Man gab Unsummen für das Heer aus; aber doch nur gerade so viel, dass man sicher die zweitschwächste der Großmächte blieb. Auch die Hauptstadt war um einiges kleiner als alle anderen größten Städte der Welt, aber doch um ein Erkleckliches größer, als es bloß Großstädte sind. Und verwaltet wurde dieses Land in einer aufgeklärten, wenig fühlbaren, alle Spitzen vorsichtig beschneidenden Weise von der besten Bürokratie Europas, der man nur einen Fehler nachsagen konnte: sie empfand Genie und geniale Unternehmungssucht an Privatpersonen, die nicht durch hohe Geburt oder einen Staatsauftrag dazu privilegiert waren, als vorlautes Benehmen und Anmaßung. Aber wer ließe sich gerne von Unbefugten dreinreden! [...] Es war nach seiner Verfassung liberal, aber es wurde klerikal regiert. Es wurde klerikal regiert, aber man lebte freisinnig. Vor dem Gesetz waren alle Bürger gleich, aber nicht alle waren eben Bürger. Man hatte ein Parlament, welches so gewaltigen Gebrauch von seiner Freiheit machte, dass
Die Modernisierung der Habsburgermonarchie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
283
man es gewöhnlich geschlossen hielt; aber man hatte auch einen Notstandsparagraphen, mit dessen Hilfe man ohne das Parlament auskam, und jedesmal, wenn alles sich schon über den Absolutismus freute, ordnete die Krone an, dass nun doch wieder parlamentarisch regiert werden müsse. Solcher Geschehnisse gab es viele in diesem Staat, und zu ihnen gehörten auch jene nationalen Kämpfe, die mit Recht die Neugierde Europas auf sich zogen und heute ganz falsch dargestellt werden. Sie waren so heftig, dass ihretwegen die Staatsmaschine mehrmals im Jahr stockte und stillstand, aber in den Zwischenzeiten und Staatspausen kam man ausgezeichnet miteinander aus und tat, als ob nichts gewesen wäre [...] nicht nur die Abneigung gegen den Mitbürger war dort bis zum Gemeinschaftsgefühl gesteigert, sondern es nahm auch das Misstrauen gegen die eigene Person und deren Schicksal den Charakter tiefer Selbstgewissheit an. Man handelte in diesem Land [...] immer anders, als man dachte, oder dachte anders, als man handelte. Unkundige Beobachter haben das für Liebenswürdigkeit oder gar für Schwäche des ihrer Meinung nach österreichischen Charakters gehalten. Aber das war falsch (...) Denn ein Landesbewohner hat mindestens neun Charaktere, einen Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geographischen, einen Geschlechts-, einen bewussten, einen unbewussten und vielleicht auch einen privaten Charakter (...) es war der Staat, der sich selbst irgendwie nur noch mitmachte, man war negativ frei darin, ständig im Gefühl der unzureichenden Gründe der eigenen Existenz [...]". In der Tat bietet Musil einen wunderbaren Einstieg in eine Sozialgeschichte der späten Donaumonarchie, deren wichtigste integrative Faktoren hier angesprochen wurden: die Bürokratie, die Armee, in den schönen Bildern vom „papierweißen Arm der Verwaltung" oder von den Straßen, die wie Flüsse der Ordnung, wie „Bänder aus hellem Soldatenzwillich" das Reich durchzogen. Auch einige zentrale Paradoxien dieses Staatswesens werden angedeutet: liberale Verfassung, klerikale Regierungsweise, aber doch freisinniges Leben der Bürger. Gleichheit der Staatsbürger, aber Beschränkung des Bürgerstatus — dies trifft insbesondere auf die Gemeinden zu, deren Mitgliedschaft man praktisch nur durch Geburt erwerben konnte und daher außerhalb dieser Geburtsgemeinde stets ein Fremder blieb und bei Arbeitslosigkeit etwa stets in jene abgeschoben werden konnte! Die Nationalitätenkämpfe. Und mit der Beschreibung der neun verschiedenen Charaktere eines jeden Menschen hat Musil so nebenbei die Rollentheorie der Soziologie literarisch entfaltet. Alle hier genannten „Charaktere" (oder Rollen) sind wichtig für soziale Gruppenbildung: der Beruf, die nationale ebenso wie die Staatszugehörigkeit (welche eine so unentrinnbare Gruppenzugehörigkeit wie zum Militär, seit der allgemeinen Wehrpflicht von 1868, statuiert), die Klassenzugehörigkeit, regionale Bindungen, Geschlecht. Musil entwarf darüber hinaus in Ansätzen eine Theorie der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen. Am Anfang des zitierten Kapitels skizziert er, als von
284
Von der Revolution zum Ersten Weltkrieg
ihm selbst so genannte „soziale Zwangsvorstellung", das Bild einer Art „überamerikanischer Stadt", wo „[...] alles mit der Stoppuhr in der Hand eilt oder stillsteht. Luft und Erde bilden einen Ameisenbau, von den Stockwerken der Verkehrsstraßen durchzogen. Luftzüge, Erdzüge, Untererdzüge, Rohrpostmenschensendungen, Kraftwagenketten rasen horizontal, Schnellaufzüge pumpen vertikal Menschenmassen von einer Verkehrsebene in die andere [...]" Diese für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts recht vertraut klingende Schilderung kann in dem darein verwickelten Zeitgenossen plötzlich das Bedürfnis erwecken: „Aussteigen! Abspringen! Ein Heimweh nach Aufgehaltenwerden, Nichtsichentwickeln, Steckenbleiben, Zurückkehren zu einem Punkt, der vor der falschen Abzweigung liegt! Und in der guten alten Zeit, als es das Kaisertum Österreich noch gab, konnte man in einem solchen Falle den Zug der Zeit verlassen, sich in einen gewöhnlichen Zug einer gewöhnlichen Eisenbahn setzen und in die Heimat zurückfahren [...]". Das heißt nun auch: Entwicklung, Modernisierung, verstärkte Massenmobilität ist eine Sache der großen Städte, während das Land als eine Zone langsamen Wandels, ja Stillstandes gesehen wird. Insgesamt langsame, zögernde Modernisierung charakterisiert die Habsburgermonarchie, daneben starke regionale Ungleichheit. Während die Sudetenländer, Niederösterreich mit Wien und Vorarlberg eine rasche und mit westeuropäischen Mustern durchaus vergleichbare industrielle Entwicklung erlebten, blieben die Südländer (Krain, Istrien, Dalmatien, Kroatien) ebenso wie die Nordostländer (Galizien und Bukowina) stark dahinter zurück. Lange Stockungsphasen wechselten mit Perioden raschen Wachstums. Die Gründe dafür sind vielfältig. Auf die ungünstigen naturräumlichen Voraussetzungen haben wir schon verwiesen. Das größte Flussgebiet, jenes der Donau, ist weder mit jenem der höchstentwickelten böhmischen Industriegebiete, dem der Elbe, verbunden, noch auch mit den wichtigsten Hafenstädten Triest und Fiume/Rijeka. Kanalverbindungen wurden zwar häufig besprochen, aber nur zwischen Donau und Theiß realisiert. Ebenso ungünstig war die Verteilung der Rohstoffe. Die erzreichen Alpenländer waren arm an verwertbaren Kohlevorkommen— einer der Gründe für den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wachsenden Vorsprung der Eisen verarbeitenden Industrie im mährischschlesischen Grenzgebiet und im westlichen Zentralböhmen, während die traditionsreiche Eisenverarbeitung der ober- und niederösterreichischen Eisenwurzen, der Steiermark und Kärntens in eine langwierige Krise geriet. Wichtig für die Erklärung der Phasenabfolge der wirtschaftlichen Entwicklung sind auch di e politischen Rahmenbedingungen. Der Neoabsolutismus wirkte zwar modernisierungsfördernd, zog aber durch den überaus hohen Geldbedarf des Staates für militärische Zwecke immer wieder Mittel aus dem Kapitalmarkt für sich ab. Als ab 1861 eine verfassungsmäßige, von liberalen Grundsät-
Die Modernisierung der Habsburgermonarchie in der zweiten Hälfte des 19. )ahrhunderts
285
zen geprägte Finanzpolitik betrieben wurde, hatte der Finanzminister Ignaz von Plener primär den Abbau der enormen Staatsverschuldung im Auge. Es wurde eisern gespart. Gerade in diesen mit dem amerikanischen Bürgerkrieg im Zusammenhang stehenden Krisenjahren ging daher vom Staatsbudget nicht der geringste investitionsfördernde Anreiz aus. Daneben hat die Unklarheit über die zukünftige Gestaltung des Verhältnisses zu den deutschen Staaten, aber auch zu Ungarn langfristige Unternehmerdispositionen wohl nicht eben gefördert. Paradoxerweise wirkte sich der Krieg von 1866 und die Niederlage von Königgrätz wirtschaftlich positiv aus. Die Kriegskredite belebten die Wirtschaft. Durch das Ausscheiden der Monarchie aus dem Deutschen Bund sowie aus Italien und den 1867 geschlossenen Ausgleich mit Ungarn (der die für das Unternehmertum überaus wichtige Aufrechterhaltung der Zollunion bekräftigte, gekleidet in die Form eines jeweils auf zehn Jahre geschlossenen Zoll- und Handelsbündnisses) wurden klare Verhältnisse geschaffen. Zwei „Wunderernten" bescherten der österreichischen und (vor allem) der ungarischen Landwirtschaft bei günstigen Exportmöglichkeiten hohe Erlöse. Nun setzte ein neuerlicher Boom im Eisenbahnbau ein, der die Eisen- und Stahlproduktion, den Kohlenbergbau, den Maschinenbau (für Lokomotiven) und die Holzwirtschaft (Waggons, Schwellen) ankurbelte und schließlich die übrigen Wirtschaftszweige mitriss. Die Cründerjahre begannen. Sie dauerten bis 1873, bis zur großen Wiener Weltausstellung, die — bei aller Großartigkeit des Gebotenen — wirtschaftlich kein Erfolg war. Nun begannen die Börsenkurse abzubröckeln, schließlich kam es zum großen Krach, gefolgt von einer lang anhaltenden Krise. In der Konjunkturperiode der Gründerzeit konnte sich jedoch die industrielle Produktionsweise weitgehend durchsetzen. Dieser Prozess ging auch nach 1873 verlangsamt weiter. Seit den 1880er Jahren eröffneten neue Industrien — wie die Elektroindustrie — neue Felder wirtschaftlicher Innovation. Nach 1900 boomten die Fahrzeug- und Rüstungsindustrie. Österreich wurde langsam zum Industriestaat. Die Textilindustrie blieb die wichtigste Branche des sekundären Sektors. Eine überaus wichtige Folge des Ausgleiches war die Weiterentwicklung der Verfassung des österreichischen Reichsteiles durch die Staatsgrundgesetze vom Dezember 1867 („Dezember-Verfassung"), die unter anderem erstmals die bürgerlichen Grundrechte garantierten. Seither kann auch die österreichische Reichshälfte als Verfassungsstaat gelten, obgleich der Kaiser sehr erhebliche Prärogativen behielt. Die Interessen der in den beiden Reichshälften dominierenden gesellschaftlichen Gruppierungen, des ungarischen Großgrundbesitzes einerseits und der deutsch-böhmisch-wienerischen Industrie und Finanzwirtschaft andererseits, erscheinen im Ausgleich berücksichtigt: Für die Industrie der „im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder" (kurz „Zisleithanien", erst seit 1915 „Österreich" genannt) blieb der ungarische Markt offen, für die ungarischen Agrarier der Markt der österreichischen Industriegebiete, insbesondere der Wiens. Innerhalb der beiden Reichshälften stimmten die nationalen und sozialen Interessen nicht unbedingt mit denen der jeweils führenden Kräfte überein.
286
V o n der Revolution z u m Ersten Weltkrieg
Überregional interessiert blieben langehin überhaupt nur die deutsch-böhmischen und die Unternehmer des Wiener Raumes, im Grunde auch der hohe Adel. Ansonsten herrschten regionale Interessen vor. Die starke großgrundbesitzende Aristokratie betrieb im heutigen österreichischen Raum zwar fast nur Waldwirtschaft, im böhmisch-mährischen und galizischen Raum aber auch weitläufige agrarische Großgüter, zum Teil im Zusammenhang mit diversen landwirtschaftlichen und forstlichen Industrien (Zuckerfabriken, Sägewerke usw.). Das mochte — im einen Falle mehr, im anderen weniger — auch ein ökonomisches Interesse an einem großen gemeinsamen Markt erwecken. Das wachsende nationale Selbstbewusstsein der sprachlich orientierten Nationen förderte dagegen die wirtschaftliche Integration kaum. Vor allem behinderte es die Ausbildung eines in seinen Identifikationsvorstellungen am Gesamtstaat ausgerichteten einheitlichen Bürgertums. Die Wirtschaftsbourgeoisie Zisleithaniens „fühlte" zunächst ganz überwiegend deutsch, war in ihren Spitzenvertretern häufig zugewandert und oft protestantischer oder jüdischer Herkunft. Dieses Bürgertum konnte sich daher nicht zu einer „nationalen" österreichischen (oder eigentlich: übernationalen) Führungsgruppe entwickeln. Denn es erweckte das Missfallen und die Gegnerschaft nicht nur der neuen nationalen bürgerlichen Klassen der zu Selbstbewusstsein kommenden nichtdeutschen Nationen, der Tschechen, Polen, Slowenen usw., sondern auch der traditionalistischen katholischen Klassen des Kleinbürger- und Bauerntums. Gerade diese Letzteren blieben, neben Hof, Adel, Armee, Bürokratie und Klerus, die stummen Stützen der alten Monarchie. Im Modernisierungsprozess müssen bäuerliche Massen aber stets ihre lokale, bäuerliche Lebensweise aufgeben und ihre alte Identität verlieren, so dass genau diese Massenbasis einer breiten Loyalität für die Habsburger bei beschleunigter Modernisierung jedenfalls schrumpfen musste. Es hat den Anschein, als ob moderner Nationalismus und rasche Wirtschaftsentwicklung einander begünstigten. Offenbar ist ein Teil jenes Pathos, das im Zuge nationaler Einigungsbestrebungen frei wurde, auch im wirtschaftlichen Bereich wirksam geworden. Nationale und wirtschaftliche Integration hängen eng zusammen. Nun musste aber unter den besonderen Bedingungen der Habsburgermonarchie eine nationale Integration im Rahmen der gerade ihrer selbst bewusst gewordenen Nationen den alten Staat gefährden. Und jene Kräfte, die wirtschaftliche Expansion im Großraum der Monarchie anstrebten, mussten deshalb eine ganze Reihe von Institutionen dulden oder unterstützen, die ihrerseits den wirtschaftlichen Fortschritt nur begrenzt förderten: „[...] Insbesondere stellt sich heraus, dass gerade die sozialen Klassen, von denen man erwarten würde, dass sie eine vollständige Umgestaltung des institutionellen Rahmens anstrebten [...], dies im Österreich des 19. Jahrhunderts nicht tun wollten und konnten. Wenn die Erhaltung der Monarchie [...] ein fundamentales Ziel der gehobenen Mittelklasse war, so verlangte dies die Beibehaltung einer erheblichen Anzahl vorkapitalistischer Einrichtungen. Die übernationalen Kräfte, die die Monarchie zusammenhielten — die Dynastie, die Beamtenschaft, das Heer ebenso wie die privi-
Die Bevölkerungsentwicklung
287
legierten Stände des Adels und der katholischen Kirche -, waren hauptsächlich jene Gruppen, deren Interessen durch den Kapitalismus im Allgemeinen und durch schnelle Industrialisierung im Besonderen gefährdet wurden. Das heißt, man musste sich um Kompromisse bemühen, und diese sind ihrer Natur nach immer von begrenzter Lebensdauer. Das österreichische Bürgertum, angeführt vom Wiener Bürgertum, hielt deshalb an quasifeudalen gesellschaftlichen Werten und Konsumgewohnheiten nicht nur aus Schwachheit und Kriecherei fest, sondern auch wegen der grundlegenden Unvereinbarkeit seiner verschiedenartigen politischen und wirtschaftlichen Ziele [...]" (Nachum Th. Gross).
3 3.1
Die Bevölkerungsentwicklung Globalzahlen, demographische Indikatoren
Im internationalen Vergleich erlebte die Habsburgermonarchie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht jenen rasanten Bevölkerungsanstieg, wie er etwa das neue Deutsche Reich kennzeichnete. Eher erscheint das Wachstumsmuster der Habsburgermonarchie im Bevölkerungsbereich ebenso wie in der Wirtschaft mit der langsameren Entwicklung Frankreichs vergleichbar. Innerhalb der Monarchie waren aber beachtliche Entwicklungsunterschiede zu verzeichnen. So betrug der Geburtenüberschuss in ganz Zisleithanien zwischen 1833 und 1873 8 bis 10 %o, in Ungarn 5 bis 8 %o, im heutigen Österreich hingegen nur 3 bis 5 %o (zum Vergleich Deutschland: vor 1873 10 %o, danach Anstieg auf 15 %o!). Tabelle 13: Bevölkerungsentwicklung
1857-
1910 (in Millionen
Menschen)
1857
1869
1880
1890
1900
1910
Österreichisch-ungarische Monarchie
37,8
35,9
39,0
42,87
45,4
49,6
„Zisleithanien"
18,6
20,4
22,1
23,9
26,2
28,6
Ungarn
13,8
15,5
15,7
17,5
16,8
18,3
Gebiet der Republik Österreich
4,1
4,5
5,0
5,4
6,0
6,6
Die Differenz zwischen der Summe aus Zisleithanien und Ungarn und der Monarchie ist 1857 in der Bevölkerungszahl Lombardo-Venetiens, seit 1880 in jener von BosnienHerzegowina zu suchen.
Die Bevölkerung Zisleithaniens wuchs also durchschnittlich um 0,96 % pro Jahr, die ungarische um 1,4%. Im heutigen Bundesgebiet stieg die Bevölkerung in diesem Zeitraum von 4,1 auf 6,6 Millionen, also um 1,2 % pro Jahr. Das stärkere Wachstum war, bei geringem Geburtenüberschuss, fast ausschließlich auf Wanderungsgewinne zurückzuführen. Diese kamen fast zur Gänze der rasch weiter wachsenden Hauptstadt Wien zugute. Dagegen waren die Zuwachsraten in den Alpenländern bescheiden.
288
Von der Revolution zum Ersten Weltkrieg
Ab 1875 setzte der so genannte demographische Übergang ein. Bis dahin gab es hohe Geburten- und hohe Sterbeziffern bei relativ geringen Zuwachsraten, unterbrochen immer wieder von demographischen Katastrophen, Hungersnöten und Seuchenzügen. Im Jahre 1848 starben in der Habsburgermonarchie 145.000 Menschen an der Cholera, 1866 220.000 und 1873 436.000. Diese letzte große Seuche betraf insbesondere Ungarn, aber auch Galizien. In Zisleithanien war letztmals 1866 die Zahl der Todesfälle über jener der Geburten gelegen. Nun begannen die Sterbeziffern zu sinken, während die Geburtenziffer vorerst unverändert blieb. Schließlich folgte auf den Rückgang der Sterberaten auch jener der Geburtenraten, freilich mit starken regionalen Unterschieden: In den „Karstländern" (Krain, Küstenland, Dalmatien) blieben die Geburtenraten bei sinkender Sterblichkeit hoch, ähnlich auch in Galizien und in der Bukowina, während in den Sudeten- und Alpenländern ebenso wie in Ungarn zwischen 1890 und 1905 Geburten- und Sterbeziffern einigermaßen parallele Bewegungen erreichten. Die regional unterschiedliche Bewegung der Bevölkerung hängt nicht bloß mit Verstädterung und Industrialisierung zusammen. Auch überwiegend agrarische Gebiete wiesen erhebliche Unterschiede auf. Im allgemeinen sind auf dem Gebiet der Habsburgermonarchie drei typische Modelle des Zusammenhanges von Bevölkerungsentwicklung, Geburtenhäufigkeit und Heiratsmöglichkeit zu unterscheiden: 1. Der klassische (west-)europäische Typ: Späte Heirat und hohe Ledigenanteile führen zu niederer allgemeiner Fruchtbarkeit. Dieser Typus überwiegt in den westlichen Ländern der Monarchie. Hier dominiert in der Landwirtschaft die mittlere Bauernwirtschaft. Die Angst vor einer Zersplitterung des Besitzes steht im Hintergrund der stark eingeschränkten Heiratsmöglichkeiten. Bevölkerungswachstum setzt hier eine Vermehrung der Hausstandsgründungsmöglichkeiten oder eine Steigerung der Illegitimitätsquote sowie ein Sinken der Sterblichkeit voraus. 2. Der „osteuropäische Typus": Allgemeine und frühe Eheschließung hat ein hohes Niveau der allgemeinen Fruchtbarkeit zur Folge. Im Verlauf des demographischen Überganges steigt die Geburtenzahl nicht (weil ohnedies hoch), die Sterblichkeit sinkt aber und das Wachstum ist beträchtlich. Das Heiratsalter zeigt die Unterschiede: Im Königreich Ungarn waren 1852 bis 1859 fast 49 % aller Bräute unter 20 Jahre alt, in Zisleithanien nur 18 %. Abweichend davon kann für einige Kerngebiete Ungarns noch ein Sondertypus festgestellt werden: 3. Der ungarische Typus: Frühe und allgemeine Eheschließung, aber gezielte Einschränkung der ehelichen Fruchtbarkeit, um die Zahl der Kinder einzugrenzen. Das Bevölkerungswachstum ist hier weniger stark als in den Verbreitungsgebieten des Typus 2. Schon im Vormärz waren die Unehelichenquoten stark angestiegen. Den Höhepunkt dieser Entwicklung zeigt das neoabsolutistische Jahrzehnt. Zwischen
Die Bevölkerungsentwicklung
289
1846 und 1858 lag der Anteil der unehelichen an allen Geburten Wiens bei 50 %, um anschließend wieder langsam zu sinken. Im Jahrfünft 1906 bis 1910 lag dieser Prozentsatz nur mehr knapp unter 30 %. Erheblich höher als in Wien lag die Illegitimitätsrate in zahlreichen ländlichen Gebieten. So in Kärnten, wo im Bezirk St. Veit um 1870 über 60 % aller Geburten unehelich waren. Um dieses Zentrum herum befindet sich auch in den angrenzenden Gebieten Kärntens, Salzburgs und der Obersteiermark eine Zone hoher Illegitimitätsraten (30 bis 50 %). Fast keine unehelichen Kinder gab es hingegen in den südlichen Ländern der Monarchie: Schon in Krain war die Unehelichkeit im Unterschied zu Kärnten marginal. Die Verbreitungsgebiete des „östlichen" Eheschließungstypus kennen ebenfalls nur sehr geringe Illegitimitätsraten. Diese Schwerpunkte der Illegitimität und die hier sehr knapp skizzierten Verschiebungen sind nicht leicht erklärbar. Die in der Manufakturperiode gestiegenen Hausstandsgründungsmöglichkeiten verschwanden in der frühen Industrialisierung, so dass vorübergehend wieder die Eingliederung von Arbeitern in den Haushalt des Arbeitgebers an Bedeutung gewann. Entindustrialisierung und Agrarisierung des flachen Landes haben die Verheiratungsmöglichkeiten stark eingeschränkt und den prinzipiell zölibatären Dienstbotenstatus vermehrt. Das kann die Erhöhung der Illegitimitätsrate miterklären. Große Höfe mit dominanter Viehwirtschaft und Unteilbarkeit dieser Höfe im Erbgang (Anerbenrecht) führten ebenfalls zu reduzierten Hausstandsgründungsmöglichkeiten. Die ungewöhnlich hohen Zahlen unehelicher Kinder in Kärnten werden sowohl damit wie mit der Verminderung der nichtagrarischen Erwerbsmöglichkeiten im Industrialisierungsprozess, aber auch mit zusätzlichen Faktoren — wie etwa der weitgehenden Erfolglosigkeit des Klerus in der Durchsetzung der kirchlichen Sexualnormen — erklärt werden müssen.
3.2
Stadt und Land
Der Grad der Urbanisierung wuchs nun rasch. Im heutigen Österreich lebten 1830 über 84 % der Bevölkerung in Orten mit weniger als 2.000 Einwohnern. 1910 waren es nur mehr 54 %. In Orten mit mehr als 10.000 Einwohnern wohnten 1830 1 0 % , 1910 mehr als 36 % (vgl. Tab. 11, S. 216). Das Bevölkerungswachstum ging also ganz überwiegend auf das Konto der größeren Orte, der Mittel- und Großstädte sowie neuer industrieller Ballungszentren. So zählte Wien um 1850 etwas mehr als 430.000 Einwohner, 1869 632.000, 1880 726.000, 1890 1,36 Millionen, 1900 1,67 und 1910 2,03 Millionen. 1890 und 1904 erfolgten Eingemeindungen. Mit Graz war eine zweite Großstadt im heutigen österreichischen Bundesgebiet entstanden — diese Stadt, in der 1840 schon etwa 45.000 Menschen gelebt hatten, wuchs bis 1910 auf fast 152.000. Daneben erreichten aber auch zahlreiche Industrieorte jetzt eine beachtliche Größe. Die Dynamik des Industrialisierungsprozesses, die im Vormärz eingesetzt hatte, führte über die Hochkonjunkturjahre 1867 - 1873 zwischen etwa 1880 und 1910 zur Hochindustrialisierung.
290
3.3
Vori der Revolution zum Ersten Weltkrieg
Die Verteilung der Bevölkerung nach Wirtschaftssektoren
Für die Struktur moderner Gesellschaften bedeutet die Zugehörigkeit zu den großen Wirtschaftssektoren (Landwirtschaft, produzierendes Gewerbe und Industrie, Dienstleistungssektor) einen wichtigen ersten Indikator. Da seit 1857 (dann 1869, 1880, 1890, 1900, 1910) regelmäßig Volkszählungen veranstaltet wurden, sollten die Strukturverschiebungen auch leichter zu verfolgen sein. Da aber bis 1890 die Zählungskriterien immer wieder wechselten, stehen gut aufbereitete und vergleichbare Zahlen erst zwischen 1890 und 1910 zur Verfügung. Tabelle
14: Verteilung
der Bevölkerung
auf Landwirtschaft
bzw.
Gewerbe/Industrie
a) Anteil der Land- und Forstwirtschaft an der Bevölkerung ÖsterreichUngarn
Ungarn
Zisleithanien
darin: österr. Alpenländer
darin: Böhmen Mähren, Schlesien
1890
63%
71 %
56 %
45%
43 %
1900
60%
66%
52 %
39%
38 %
1910
55%
62%
48%
35 %
34%
b) Anteil von Industrie und Gewerbe an der Bevölkerung ÖsterreichUngarn
Ungarn
Zisleithanien
darin: österr. Alpenländer
darin: Böhmen Mähren, Schlesien
1890
20%
13 %
25%
30%
38%
1900
21 %
15%
26 %
31,5%
39,5 %
1910
23 %
18 %
28%
33 %
41 %
Sektorale Verteilung und regionale Ungleichgewichte hingen also deutlich zusammen. Den stark agrarisch geprägten östlichen und südlichen Gebieten der Monarchie standen die stärker gewerblich-industriell orientierten Alpen- und Sudetenländer gegenüber. Die unterschiedliche sektorale Verteilung kehrt übrigens auch in den einzelnen Sprachgruppen wieder (davon später).
3.4
Die Verteilung der Berufstätigen
Die österreichische Statistik zählte die mithelfenden Familienangehörigen (Frauen, Kinder) in der Landwirtschaft zu den Berufstätigen. Fortschreitende Trennung von Haushalt und Arbeitsplatz ließ im sekundären und tertiären Sektor solche Mithilfe immer seltener werden. Unter den Berufstätigen ist die Landwirtschaft daher relativ stärker vertreten als in der Gesamtbevölkerung. Mit dem Vordringen nichtagrarischer Erwerbstätigkeit begann deshalb auch die
291
Die Bevölkerungsentwicklung
Erwerbsquote insgesamt zu sinken: Waren 1869 in Zisleithanien 56,7 % der Gesamtbevölkerung erwerbstätig, so 1910 nur mehr 52,3 %. Gewerbe, Industrie, Handel, Verkehr und Dienstleistungsbereich weisen aus diesem Grund höhere Anteile von Nichterwerbstätigen, also von erhaltenen Personen, aus als die Landwirtschaft. Besonders hohe Anteile an Erwerbstätigen wiesen andererseits gerade die industriellen Zuwanderungsgebiete auf, da hier ja zunächst primär Menschen im arbeitsfähigen Alter — und besonders viele junge Menschen — zuzogen. Graphik
9: Regionale
Streuung
der Berufstätigen
in Prozent
öffentlicher Dienst Renliers, freie Berufe
Gewerbe/Industrie
HKIIÛËIS
Handel u. Verkehr
1 1
6
1 9
1 0
1 1
1 5
1 1
1 0
1 7
8 9
Dalmatien
84
Galizien
8 3
Bukowina
7 5
Krain
7 0
Tirol
68
Kärnten
68
Steiermark
5 9
Oberösterreich
5 6
Mähren
5 3
Salzburg
5 5
Küstenland
4
1
34
8
7
Landwirtschaft
Schlesien
6
1 2
(1890)
I
j
I
1 5
-37
8
Böhmen
4 7
Vorarlberg
4 6
;
3 0
Niederösterreich (inkl. Wien)
292
Von der Revolution zum Ersten Weltkrieg
Insgesamt lässt sich folgende regionale Verteilung der Berufstätigen skizzieren: Ungarn und die schon genannten nordöstlichen und südlichen Länder der zisleithanischen Reichshälfte blieben agrarisch dominiert, stärkere industrielle Wachstumsimpulse ließen sich vor allem im ungarischen Zentralraum, in und um Budapest, feststellen. Industriegebiete waren die böhmischen Länder, aber auch Vorarlberg. In Niederösterreich (mit Wien) spielte neben der industriellen schon die Beschäftigung im tertiären Sektor, der hier 1910 mit mehr als 40 % der Berufstätigen bereits der am stärksten besetzte war, eine zentrale Rolle, ebenso im Küstenland (Hafenstadt Triesti). In den österreichischen Alpenländern blieben, trotz einiger beträchtlicher neuer industrieller Zentren, die gewerblich-industriellen Tätigkeiten im Staatsdurchschnitt oder darunter; mit Ausnahme von Vorarlberg arbeiteten hier noch mehr als die Hälfte der Berufstätigen in der Landwirtschaft.
4 4.1
Beruf, Familie und Klassenbildung Berufspositionen
Gesellschaftliche Positionen waren in der vorindustriellen Gesellschaft stark lokal bestimmt. Der Rahmen, in den sich der Einzelne eingeordnet sah, war das Bauern- oder Handwerkerhaus, das Dorf, die Herrschaft, die Zeche des Handwerks, die Stadt. Die im 19. Jahrhundert rasch fortschreitende Mobilisierung der Arbeitskräfte, die Trennung von Haushalt und Familie sowie der Aufstieg großbetrieblicher Produktionsformen verminderten die Bedeutung der alten Positionsrahmen. Obzwar Bauern- und Handwerkerhaus, ländliche Gemeinde und zünftische Formen nach wie vor existierten und für das gesellschaftliche Bewusstsein auch weiterhin von Belang blieben, wurde die zunehmende Tendenz zu gemeinschaftlicher Organisation von Menschen in einer ähnlichen beruflichen und betrieblichen Position, die Tendenz zur Organisation „der" Bauern, Handwerker, Arbeiter, Angestellten oder Beamten zu einer der zentralen gesellschaftlichen Neuerungen des 19. Jahrhunderts. Der betriebliche Status als Selbständiger, als Arbeiter, als Angestellter wird zur ersten groben Grundlage der gesellschaftlichen Einschätzung auch im außerökonomischen Bereich. Fasst man die Ergebnisse der Statistik knapp zusammen, so lässt sich bis zum Ersten Weltkrieg ein langsamer Rückgang der „altertümlichen" Berufspositionen wie „Taglöhner" oder „mithelfende Familienmitglieder" beobachten. Gerade die Letzteren blieben aber, mit mehr als einem Viertel der Beschäftigten (bezogen auf ganz Zisleithanien) quantitativ immerhin noch bedeutsam. Zahlreicher als die Mithelfenden waren Arbeiter und Selbständige, die, bei leichtem Überwiegen der Selbständigen, ungefähr je ein Drittel der Berufstätigen ausmachten. Angestellte waren nur in kleinen Anteilen vorhanden. Im Vergleich mit dem Staatsdurchschnitt mutet 1910 die Verteilung der Berufspositionen im Kronland Niederösterreich (noch immer inklusive Wien) modern an. Mehr als die Hälfte der Berufstätigen waren hier Arbeiter, nur noch
293
Beruf, Familie und Klassenbildung
ein Zehntel mithelfende Familienangehörige. Die Angestellten- und Beamtenanteile machten bereits ein Zehntel aus. Nur noch ein Fünftel der Berufstätigen in Wien waren Selbständige. Von den Arbeitern waren fast zwei Drittel in Gewerbe und Industrie beschäftigt, während dieser Anteil in den Alpenländern (mit Ausnahme von Vorarlberg) unter 40 % lag. Tabelle 15: Soziale Positionen der Berufstätigen
1910
Selbständige
Mithelfende
Arbeiter
Angestellte
Taglöhner
Zahl d. Berufstätigen in 10.000
Zisleithanien
34%
26%
31 %
4%
5%
1.602
Österr. Alpenländer
24%
18%
46%
7%
5%
382
Niederösterreich (inkl. Wien)
22 %
10%
53%
10%
5%
167
Österr. Alpenländer = Kronländer Ober- und Niederösterreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg, Tirol und Vorarlberg in den Grenzen bis 1918 Tabelle 16: Berufspositionen nach Sektoren 1910 Kronländer Ober-, Niederösterreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg, Tirol und Vorarlberg in Grenzen bis 1918 Sektor Land- und Forstwirtschaft
Selbständige
Mithelfende
Angest./ Beamte
Arbeiter
Taglöhner
Summe
4.543
477.656
130.619
1,739.448
27%
8%
100%
499.091
627.539
Verteilung im Sektor
29%
36%
Anteil an der Berufsposition
54%
91 %
2%
28%
69%
45 %*
207.370
18.141
48.536
888.365
39.905
1,199.317
17%
2 %
4%
74%
3%
100%
Bergbau, Industrie und Gewerbe Verteilung im Sektor Anteil an der Berufsposition Dienstleistungen Verteilung im Sektor Anteil an der Berufsposition Summe Anteil an den Berufstätigen
22 %
3 %
19%
50%
20%
31 %*
221.805
38.260
200.628
402.953
20.447
884.093
25%
4%
23 %
46%
2%
100%
24%
6%
79%
22%
11 %
23 %*
928.266
683.940
253.707
1,768.974
187.971
3,822.858
24%
18%
7%
46%
5%
100%
* Anteil an den Berufstätigen
294
Von der Revolution zum Ersten Weltkrieg
Betriebliche Position und wirtschaftlicher Sektor weisen typische Übereinstimmungen auf: Fast die Hälfte aller Selbständigen und fast die Gesamtheit aller mithelfenden Familienangehörigen arbeiteten in der Landwirtschaft („Bauern"). M e h r als die Hälfte aller Arbeiter gehörten in den gewerblich-industriellen Bereich. Fast zwei Drittel aller Angestellten und Beamten verdienten ihr Brot in Handel, Verkehr, Dienstleistungen sowie im öffentlichen Dienst. Typische Unterschiede ergibt auch die Frage nach d e m Geschlecht der Berufstätigen. Ungefähr drei Fünftel aller Berufstätigen waren Männer, z w e i Fünftel Frauen. V o n diesen Frauen arbeiteten fast z w e i Drittel in der Land- und Forstwirtschaft, fast ein Viertel im tertiären Sektor, nur 13 % in G e w e r b e und Industrie. Damit hängt auch die Verteilung der sozialen Positionen zusammen: Relativ die meisten Frauen waren mithelfende Familienangehörige (43 %), mehr als ein Viertel (28 %) hingegen Selbständige, nur jede Fünfte war Arbeiterin, nur jede Fünfzigste Angestellte und nur jede Hundertste stand in Lehrlingsausbildung. Dagegen waren berufstätige Männer zumeist Selbständige (37 %) oder Arbeiter (36 %), nur 13 % w a r e n mithelfende Familienangehörige. Jeder zwanzigste berufstätige M a n n war Angestellter oder Beamter, ebenfalls 5 % waren Taglöh ner, 3 % Lehrlinge. Berufstätigkeit von Frauen sollte nach Möglichkeit mit häuslichen Tätigkeiten, vor allem mit der Kindererziehung, vereinbar sein. Die altertümliche Verb i n d u n g v o n Betrieb und Haushalt tritt daher in der Berufstätigkeit von Frauen besonders hervor. Eine V e r b i n d u n g beider Bereiche war sicher bei der großen M e h r z a h l der Mithelfenden sowie der Selbständigen unter den berufstätigen Frauen möglich. W o h l kaum möglich war diese V e r b i n d u n g bei den Arbeiterinnen in Industrie und G e w e r b e (45 % aller Arbeiterinnen), die deshalb sehr häufig auch unverheiratet waren, oder aber Verheiratete, deren Kinder nicht mehr im Kleinkindalter waren, denn in der Phase der Kleinkindererziehung w u r d e häufig Heimarbeit oder Ähnliches angenommen. Da mithelfende Familienangehörige als besonders wichtiger Teil weiblicher Berufstätigkeit quantitativ zurückgingen, da auch in G e w e r b e und Industrie die Tendenz zu beobachten ist, dass Frauen aus d e m Beruf ausschieden, w e n n Kinder kamen oder w e n n der M a n n mehr verdiente, nahm die Frauenerwerbstätigkeit nicht zu. Der langsam e Rückgang v o n land- und forstwirtschaftlicher Berufstätigkeit z o g sogar einen Rückgang an Frauenarbeit nach sich. Der Anteil der berufstätigen Frauen sank, zwar langsam, aber deutlich. Natürlich deckt die verhältnismäßig grobe Begrifflichkeit der Statistik zahlreiche gesellschaftlich relevante Unterschiede zu. Sie unterscheidet — begrifflich — nicht zwischen Großgrundbesitzern, Groß-, Mittel- und Kleinbauern, nicht z w i s c h e n Fabrikanten u n d kleinen H a n d w e r k e r n , nicht z w i s c h e n Gutsangestellten, Fabriksbeamten und öffentlich Bediensteten. A u c h der Begriff des Arbeiters ist vieldeutig: Darunter fallen Forstarbeiter in m o d e r n e n Lohnarbeitsverhältnissen genauso wie Dienstboten in altertümlichen hausväterlichen Unterordnungsverhältnissen, Gutsarbeiter und Gesellen in einem Friseurbetrieb. Sicher bestand zwischen einem noch stark in einen Meisterbetrieb eingebunde-
Beruf, Familie und Klassenbildung
295
nen Lehrling oder Gesellen und einem gelernten und qualifizierten Maschinenschlosser in einer Lokomotivfabrik ein ebenso großer Unterschied wie zwischen diesem und einer schlecht bezahlten Textilarbeiterin in einer Baumwollspinnerei, und diese wiederum befand sich in einer anderen Position als verlegte, handwerklich arbeitende Meerschaumpfeifendrechsler oder Zuschneider für einen Großkonfektionär. Alle diese höchst unterschiedlichen Lebenssituationen deckt der Begriff „Arbeiter" ab. Andererseits konnte verschiedene Begrifflichkeit recht ähnliche Lebensbedingungen zum Inhalt haben. Es ist daher notwendig, den Möglichkeiten für Gruppenbildungen auf der Basis des wirtschaftlichen Tätigkeitsprofiles etwas genauer nachzugehen. Dabei kann man zwischen Gruppenbildungen im Bereich der Betriebe und überbetrieblichen Gruppenbildungen unterscheiden.
4.2 4.2.1
Land- und Forstwirtschaft Bauern, Dienstboten, Landarbeiter
Die absoluten Zahlen der Beschäftigten in der Land- und Forstwirtschaft sanken nur unwesentlich. In den österreichischen Alpenländern (Grenzen vor 1918) waren es 1890 1,9 Millionen, 1910 1,74 Millionen. Hinter diesen globalen Entwicklungszahlen stehen aber ganz unterschiedliche regionale Trends. Auch Selbständige und Unselbständige wiesen eine unterschiedliche Entwicklung auf. So wuchs die Zahl der Selbständigen in der Land- und Forstwirtschaft von 1891 bis 1910 um fast 30 % —eine Zunahme, die allerdings ganz überwiegend auf das Konto der Realteilungsgebiete im Nordosten und im Süden der Monarchie geht und nichts anderes zeigt als die Entstehung immer zahlreicherer Kleinstund Zwergwirtschaften mit sinkender Lebensfähigkeit. Nicht zufällig waren dies auch die bevorzugten Auswanderungsgebiete der Monarchie (Galizien, Krain, Kroatien, Istrien, Dalmatien, Teile Ungarns). Aber auch in den Alpenländern stieg die absolute Zahl der Selbständigen von 1890 bis 1910: so von etwa 160.000 auf 200.000 in Nieder- und Oberösterreich. Bis 1868 existierten im Landwirtschaftsbereich die aus dem Absolutismus stammenden Einschränkungen des freien Grundverkehrs. Das änderte sich mit dem Durchbruch des Liberalismus: Bäuerliches Land wurde frei teilbar. Auch die hypothekarische Beiast- und damit Verschuldbarkeit des Bauernlandes wurde freigegeben (1868). Nun trat eine wachsende Verschuldung ein, besonders nach dem Ausbruch der säkularen Agrarkrise in den späten siebziger Jahren. Das führte auf dem Gebiet des heutigen Österreich zwischen 1868 und 1892 zu 70.000 bis 80.000 Zwangsversteigerungen. Ein großer Teil der versteigerten Bauerngüter wurde wieder von Bauern gekauft. Im südlichen Nieder- und Oberösterreich, in der Obersteiermark, in einigen Gebiete Ober- und Mittelkärntens erwarb der Großgrundbesitz zahlreiche Bauerngüter. Hier, in den mit der Eisengewinnung und -Verarbeitung sowie mit anderen Zweigen des Montanbereiches eng
296
Tabelle
Von der Revolution zum Ersten Weltkrieg
17: Landwirtschaftliche tion 1902 in %
Betriebsstrukturen
nach dominierender
Arbeitsorganisa-
Familienbetriebe
Betriebe nur mit Saisonarbeitern
Betrieb nur mit ständigen Arbeitern
Niederösterreich
64
9
27
Oberösterreich
58
2
40
Salzburg
53
3
44
Steiermark
62
6
32
Kärnten
49
7
44
Tirol
73
9
18
Vorarlberg
69
17
14
Österreich*
64
7
29
NW-Länder (Böhmen, Mähren, Schlesien)
77
5
18
NO-Länder (Calizien, Bukowina)
86
4
10
Südländer (Krain, Küstenland Dalmatien)
76
16
8
Zisleithanien
78
6
16
zum Vergleich:
* „Österreich" = Summe der oben genannten Länder in den Grenzen bis 1918 verbundenen gemischten Agrar- und Gewerbelandschaften, wirkte sich die „Agrarisierung der Industriebauern" besonders stark aus. Diese „Waldbauern" konnten ihre Viehwirtschaft häufig nur auf Grund von Weide- und Streubezugsrechten in den Wäldern der Herrschaft, der ehemaligen Grundherren, führen. Die Forstwirtschaft lehnte diese bäuerlichen Servitutsrechte am Herrschaftswald als kulturschädlich ab (womit sie aus einem rein forstwirtschaftlichen Gesichtswinkel Recht hatte). Die gesetzliche Regelung der Servituten 1853 war daher nicht (wie die Grundentlastung von 1848/49) bauern-, sondern herrenfreundlich — denn die belastete Wirtschaftsform, hier also der Wald, sollte entlastet werden. Die berechtigten Bauern sollten mit Geld oder Waldanteilen abgelöst oder ihre Bezugsrechte „reguliert" werden. Regulierungen stellten oft den Vorrang des Waldes vor den Ansprüchen der Bezugsberechtigungen fest. Am Ende stand häufig das Verschwinden der Waldbauern und die Einverleibung ihrer Gründe in die nun entstehenden großen Jagdherrschaften von Finanz· und Industriegrößen wie Rothschild oder Wittgenstein. In einigen Gebieten des südlichen Niederösterreich (Gerichtsbezirke Gaming und Gutenstein) gingen (von 1883 bis 1905) 10 bis 23 % des bäuerlichen Grundbesitzes verloren, in der Obersteiermark von 1903 bis 1912 7 % . Peter Rosegger hat in seinem Roman „Jakob der Letzte" diesen Prozess historisch genau und eindringlich beschrieben.
Beruf, Familie und Klassenbildung
297
In den besseren Lagen wuchs hingegen die Zahl der bäuerlichen Betriebe. Die Zahl der familienfremden Arbeitskräfte jedoch ging zurück, wenngleich nur langsam. Noch 1890 machte das Gesinde über 20 % der ortsanwesenden Bevölkerung in den eigentlichen Alpenländern aus, während dieser Anteil z.B. in Krain nur 3,5 % betrug. In der von uns schon (S. 211) zitierten Gemeinde Andrichsfurt betrug der Gesindeanteil (Höhepunkt 1823: 3 0 % ) 1873 noch fast 29 %, 1896 immer noch fast 30 % und sank erst bis 1909 auf etwas unter 23 %. Vermehrt wurden eigene Kinder für die Arbeit herangezogen. Allerdings blieben — innerhalb der Monarchie — die Alpenländer jene, die im bäuerlichen Bereich noch immer relativ die meisten Fremdarbeitskräfte verwendeten. Der Bauernhof wird aber immer stärker zum Familienbetrieb — eine Entwicklung, die sich im 20. Jahrhundert voll durchsetzen sollte. Eigene Hausstandsgründung blieb Knechten und Mägden verwehrt. Wo es nur wenige Ausweichmöglichkeiten in Industrie und Gewerbe gab, kam es immer häufiger zu lebenslänglichem Gesindestatus. Daher wurde in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die Frage der Alterssicherung solcher ledig gebliebener Dienstboten virulent. Zunächst dominierten naturalwirtschaftliche Sicherungsformen, wie die „Einlege", also die periodisch wechselnde Unterbringung bei den Bauern einer bestimmten (Heimat-)Gemeinde. Nach einer steirischen Erhebung waren 50 bis 60 % der Einleger alte landwirtschaftliche Dienstboten. Etwa 95 % der Einleger aus diesem Bereich (Angehörige von Bauern und Keuschlern, Knechte und Mägde) waren ledig. In der Agrarkrise, ab etwa 1880, wurden auch die Heiratsmöglichkeiten für die Familienmitglieder eingeschränkt, so ersparte man sich die Auszahlung von Erbteilen — eine der Strategien, um Verschuldung zu vermeiden. 4.2.2
Uberbetriebliche Organisationsformen — Landwirtschaftsvereine, Genossenschaften, Bauernvereine
Das 1868 neu eingerichteten Ackerbauministerium anerkannte die bestehenden landesweiten Landwirtschaftsgesellschaften als Interessenvertretungen der Landwirtschaft. Das stieß aber bereits auf Kritik: Die bäuerliche Landwirtschaft, an einer kommerziellen Umgestaltung ihrer Betriebe wenig interessiert, stimmte mit der eher liberalen Orientierung der meisten Landwirtschaftsgesellschaften nicht überein. Man forderte für die Zwecke der Interessenvertretung Ackerbaukammern mit obligatorischer Vertretung aller Grundbesitzer. Als eine Vorform von Kammern können die zuerst in Tirol (1881 ), Istrien (1884), Oberösterreich und Dalmatien (1886), später auch in der Bukowina (1900), in Kärnten (1910) und Vorarlberg (1911) eingerichteten „Bezirksgenossenschaften der Landwirte" gelten, die auf Landesebene als Landeskulturräte zusammengefasst wurden; sie vertraten insofern ein neues Strukturprinzip, als sie nur mehr selbst ausübende Landwirte als Mitglieder aufnahmen. Ein zweiter Typ von Landeskulturräten (Böhmen 1880/91, Mähren 1897 und Niederösterreich 1905) war jedoch anders aufgebaut — er bildete im Wesentlichen eine Dachorganisation
Von der Revolution zum Ersten Weltkrieg
298
über einem reich differenzierten und verzweigten landwirtschaftlichen Vereinsund Cenossenschaftswesen. In zwei- oder mehrsprachigen Ländern brachten (faktisch selbständige) nationale Räte bzw. Sektionen der Landeskulturräte oder national zunehmend getrennte Vereine die Fortschritte der nationalen Integration auch der ländlichen Bevölkerung zum Ausdruck. Gerade die böhmischen Länder und Niederösterreich weisen schon ab etwa 1860 eine vorerst langsame, dann immer raschere Ausbreitung und Differenzierung der landwirtschaftlichen Vereinstypen aus. Vorerst wurden Regionalvereine (meist auf Bezirksebene) gegründet, später auch landwirtschaftliche Ortsvereine (Kasinos). Häufig aus Spezialsektionen der landesweiten Gesellschaften entsprossen Obst-, Weinbau- und Viehzuchtvereine, getragen von den Interessen aufgeschlossener und neuerungswilliger Betriebsleiter. Graphik
10: Die Entwicklung
landwirtschaftlicher
— —
•
Organisationen
in
Niederösterreich
Nö. Bauernbund Mitglieder Zahl der \ .J·, ι u J>landw. Kasinos -Mitglieder bei Raiffeisenvereinen, Zahl • Zahl der \ ... • • J > l a n d w . Bezirksvi • Mitglieder bei ^ ^
Mitglieder 50.000- - 8 0 0 Zahl der Vereine
43.750- - 7 0 0
37.5004-600
31.250
25.000
18.750
12.500+200
625C
ι
1880
1
1890
1
1900
1—
1910
Beruf, Familie und Klassenbildung
299
Dass die Initiatoren nur selten aus der eigentlichen Bauernschaft kamen, wurde schon betont. Die Bauern hielten von der individuellen Stärkung des einzelnen durch Fortbildung und Spezialisierung des Betriebes wenig: Intensiver erfuhren sie die Ohnmacht des individualisierten Anbieters auf einem Markt, der durch zunehmend konzentrierte Nachfrage des überregional operierenden Handels gekennzeichnet war. Dagegen sollte die Ausbreitung von Genossenschaften helfen. Deren Gründung wurde durch das Gesetz über Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften (1873) erleichtert. Um die Kreditnot der Bauern zu mildern, wurden Kreditgenossenschaften eingerichtet, in den österreichischen Alpenländern überwiegend nach dem System Raiffeisen. Die erste dieser Art entstand im heutigen Österreich in Mühldorf bei Spitz 1886.1890 existierten bereits 140,1909 schon 1.953. Zur gemeinsamen Vermarktung gewisser Produkte wurden Wein-, Milchund Molkereigenossenschaften gegründet, schließlich Lagerhausgenossenschaften, die erste 1899. Ein dritter neuer Organisationstypus der Landwirtschaft war der „Bauernverein". Bauernvereine sollten das neu erwachende Gruppenbewusstsein der Bauern formulieren und vertreten. Das lief seit der 1861 bzw. 1867 eingetretenen wenigstens teilweisen Parlamentarisierung des politischen Geschehens auf die politische Vertretung in parlamentarischen Körperschaften hinaus. Da die Massen der katholischen Bauernschaft langehin in den Organisationen der Katholisch-Konservativen (Volksvereine und Kasinos, seit 1869/1870) ihre Vertretung sahen, gelangen Versuche einer unabhängigen Bauernorganisation zunächst nicht so recht. Nur am Rande oder außerhalb des Integrationsgefüges der katholischen Kirche konnten solche, dann meist (deutsch-)nationale und/ oder liberale Bauernvereine, entstehen und gedeihen — so der Kärntner Bauernbund von 1884, der oberösterreichische Bauernverein von 1882 (in ihm waren protestantische Bauern des Hausruckviertels und des Salzkammergutes stark vertreten) oder der „Christliche Bauernverein" des steirischen Barons Rokitansky, der in den Jahren 1897/98 entstand. Erst als diese „unabhängigen" Bauernvereine für die Konservativen gefährlich wurden, hat man auch katholische (politische) Bauernvereine gegründet. Zum Teil blieben diese, wie der katholisch-konservative Bauernverein für die Steiermark (1899), im Rahmen der Katholisch-Konservativen, zum Teil drückten sie durch ihre Anlehnung an die jüngere christlichsoziale Bewegung ihre Unzufriedenheit mit der unzureichenden Vertretung bäuerlicher Interessen durch die Altkonservativen aus (Tiroler Bauernbund 1904, Niederösterreichischer Bauernbund 1906). Zu diesen „rein" bäuerlichen Organisationsformen kamen auf dem Lande, teils schon seit dem Vormärz, wechselseitige Versicherungen und, besonders seit den 1870er Jahren, Feuerwehrvereine. Die Letzteren, teilweise Folge neuer technischer Einrichtungen und Entwicklungen und der Notwendigkeit einer wenigstens rudimentären speziellen Ausbildung an den neuen Geräten, übernahmen, getragen von der Dorfjugend, zu einem guten Teil auch die Funktion
300
Von der Revolution zum Ersten Weltkrieg
der Organisation der Burschen, der ländlichen Burschenschaften. Dadurch wurden Vereine dieses Typs lokal integrativ wirksam und erlangten nicht nur für die Freizeitsphäre, sondern für das dörfliche Lokalbewusstsein ganz allgemein eine besondere Bedeutung. Alle diese Organisationen waren primär oder ausschließlich Vereinigungen von Grundbesitzern. Unterbäuerliche Schichten waren von Organisationsbildung noch weitgehend ausgeschlossen: Dienstboten erscheinen auch nach den Dienstbotenordnungen der liberalen Ära der hausväterlichen Zucht streng untergeordnet, entstammten zudem häufig (oder meist) selbst bäuerlichen Familien und standen daher auch kulturell auf ähnlichem Niveau wie die Bauern selbst. Anders bei den Forstarbeitern: Dieser Typus des ländlichen Arbeiters hatte eigenen Haushalt, lebte vom Haus des Forstbesitzers — meist der Staat, ein Fonds, ein geistlicher oder ungeistlicher Großgrundbesitzer — getrennt und war jedenfalls lebenslänglich an den Arbeiterstatus gebunden. Daher konnten im Bereich der Forstarbeiter im Verlaufe des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts erste Gewerkschaften entstehen — im Salzkammergut (Aussee) und im Wienerwald (1906 - 1908). Wo auch die Landarbeit von ständigen freien Lohnarbeitern geleistet wurde, entstanden schließlich auch Landarbeitergewerkschaften, so in Böhmen, Mähren und Ungarn. In diesen Ländern und in Galizien kam es auch erstmals zu Streiks. In Ungarn existierte schon vor der Jahrhundertwende eine ziemlich breite „agrarsozialistische" Bewegung, die freilich gewaltsam unterdrückt wurde. 4.2.3
„Klassenbildung" in der Landwirtschaft?
Die neuen bäuerlichen Organisationen überwanden die traditionelle Beschränkung der Bauern auf ihr Haus, ihr Dorf oder ihre Pfarre. Sie waren Ausdruck der Reaktion auf wachsende Marktverflechtung, auf die Agrarkrise und auf die Anforderungen politischer Mobilisierung seit der Verleihung von Wahlrechten (1861). Vielfach waren sie von Gutsbesitzern oder sogar von Nichtlandwirten gegründet oder angeregt worden, von Lehrern, Geistlichen, Beamten oder agrarpolitisch interessierten Abgeordneten. Wer sich in der ersten Welle der Vereins- und Genossenschaftsgründungen engagierte (meist großbäuerliche Mitglieder der ländlichen Eliten, nicht selten Leute, die Landwirtschaft mit Handel, einem Sägewerk oder einem Gasthaus verbanden), lernte dabei, wie man Vereine und Versammlungen führte. Das war eine wichtige Voraussetzung für die Politisierung der Bauernschaft. Für diese blieb noch länger der traditionelle Rahmen der einzelnen Länder zentral — erst 1919 gründeten die katholischen Bauernbünde den „Reichsbauernbund", auch der liberal-deutschnationale „Landbund" entstand als österreichweite Organisation erst in den 1920er Jahren. Abgesehen vom „Landwirtschaftsrat", einem Beratungsorgan der Regierung (s. u. S. 342), wurde als erste überregionale Interessenvertretung die „Zentralstelle zur Wahrung der land- und forstwirtschaftlichen Interessen beim Abschluss von Handelsverträgen" (1898) gegründet, die — unter starker Dominanz des Groß-
Beruf, Familie und Klassenbildung
301
grundbesitzes — auch die bäuerlichen Organisationen für höhere Agrarzölle interessieren konnte. Es erscheint zulässig, diese Entwicklung als „Klassenbildung", als Prozess der Herausbildung eines überlokalen und überregionalen bäuerlichen Gemeinschaftsempfindens, zu interpretieren. Freilich entstand hier kein „Klassenbewusstsein", sondern ein „Standesbewusstsein" — die Bauern sahen sich als „Stand", noch dazu als ein besonders wichtiger, für die Stabilität der gesellschaftlichen Verhältnisse unerläßlicher Stand. So wurden sie auch von konservativen sozialpolitischen Strömungen gerne interpretiert. Dagegen blieb die Klassenbildung der Landarbeiterschaft noch stark unterentwickelt.
4.3
Sozialtypen, Arbeitsverhältnisse und Klassenbildung in Gewerbe und Industrie
Nach der ersten Betriebszählung von 1902 gab es in den österreichischen Alpenländern etwa 280.000 gewerbliche Betriebe, in denen 1,08 Millionen Menschen arbeiteten. Mehr als die Hälfte davon entfiel auf Niederösterreich mit Wien (610.000), gefolgt von Steiermark (164.000) und Oberösterreich ( 107.000). Von 225 Betrieben mit mehr als 300 Beschäftigten lagen 132 in Niederösterreich und Wien (44 in der Steiermark, 12 in Oberösterreich), und von 831 Betrieben mit 101 bis 300 Beschäftigten befanden sich sogar 507 in Niederösterreich (117 in der Steiermark, 83 in Oberösterreich). Auf Branchen aufgeschlüsselt arbeiteten um 1900 die meisten Menschen im Bekleidungsgewerbe, gefolgt vom Baugewerbe, Gast- und Schankgewerbe, der Metallverarbeitung, der Nahrungs- und Genussmittelherstellung, der Holzverarbeitung und Textilindustrie. Etwa gleichauf rangierten anschließend die Sparte „Steine und Erden" und die Maschinenindustrie. Deutlich weniger Beschäftigte hatte die Urproduktion (ein Konglomerat aus Bergbau, Baumschulen und Gemüsegärtnereien!), die Papierindustrie, die chemische Industrie usw. Die größten Betriebe gab es im Hüttenwesen (fast 50 Beschäftigte pro Betrieb), dann in der Kautschukerzeugung (45), im Bergbau (20), in der Papiererzeugung (17). Etwa 10 bis 12 Beschäftigte pro Betrieb hatten die Licht- und Krafterzeugung, Steine und Erden (mit Glasproduktion), das Baugewerbe und die graphischen Gewerbe. Relativ niedrig lagen die Durchschnittszahlen für die Textilindustrie (8,5), die Maschinenindustrie (6,2 — in Niederösterreich stieg dieser Wert allerdings auf etwa 10!) und die Metallverarbeitung. Überwiegend oder ausschließlich kleinbetrieblich waren alle übrigen Sparten organisiert, so vor allem die sehr großen Branchen der Bekleidungsgewerbe. 4.3.1
Berufspositionen und Arbeitsverhältnisse im Kleingewerbe
Die Gewerbeordnung von 1859 und die damit verbundene Gewerbefreiheit veränderten die Arbeitsverhältnisse im Kleingewerbe ebenso wenig wie die
302
Von der Revolution zum Ersten Weltkrieg
sozialen Hauptpositionen, die nach wie vor in die traditionelle Begriffs-Trias „Lehrling — Geselle — Meister" gefasst blieben. Die Gewerbefreiheit brachte aber die endgültige Cleichstellungvon zünftischen Meistern und Befugten: Diese Unterscheidung verschwand jetzt vollkommen. In Wien wurde der Rückgang der Manufakturproduktion im Vormärz und im Neoabsolutismus nicht nur vom Vordringen neuer, industrieller Großbetriebe begleitet, sondern auch von einer Ausbreitung des Handwerks und handwerklicher Arbeitsverhältnisse. Die Bekleidungsgewerbe, vor allem die Schneider, lösten die traditionelle Vorrangstellung der Textilindustrie in Wien ab: Im Jahre 1837 hatten fast 1 9 % aller Beschäftigten in der Bekleidungsbranche gearbeitet, 1869 waren es 28 %. Mit der Einbeziehung in die Marktproduktion änderte sich die Position des Meisters: Er wurde häufig von einem Verleger, der entweder derselben Branche angehörte oder aber Händler war, in Abhängigkeit gebracht. Welche Ausmaße die Verlagsarbeitim Industrialisierungsprozess gerade in der größten Stadt der Monarchie annehmen konnte, illustriert die Gewerbezählung von 1902. Danach arbeiteten im Staatsdurchschnitt (Zisleithanien) 71 % aller gewerblichen Betriebe für Konsumenten, etwa 1 0 % für Konsumenten und Wiederverkäufer und knapp 5 % nur für Wiederverkäufer (zumeist also Verleger). In Wien lagen diese Verhältniszahlen bei 61 %, 1 8 % und 2 6 % — ein Viertel des Wiener Gewerbes arbeitete also nur für Verleger, fast ein weiteres Fünftel zum Teil. Das Verlagswesen basierte auf einer immer weitergehenden Arbeitsteilung zwischen den Verlegten. Jeder einzelne Handwerker führte nur mehr wenige Arbeitsschritte durch. Daher wurde eine Verschlechterung der handwerklichen Ausbildung befürchtet, die auf wenige Handgriffe reduziert erschien. Die von den Zeitgenossen häufig kritisierte „Lehrlingszüchterei", also die unverhältnismäßig starke Orientierung der Produktion auf Lehrlingsarbeit, blieb aber im Wesentlichen auf die Bekleidungsgewerbe beschränkt. Nur hier (und im Gastgewerbe) stiegen auch die Frauenanteile überdurchschnittlich stark an, während sonst die gewerbliche Arbeit überwiegend männlich dominiert blieb. Das hängt mit der Möglichkeit zusammen, als Schneiderin im eigenen Haushalt zu arbeiten, die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts von immer mehr Frauen ergriffen wurde. Entscheidend dafür war die Nähmaschine, die schon Ende der 1850er Jahre eine gewisse Ausbreitung fand und sich in den 1860er Jahren voll durchsetzte. Solche Frauen fungierten häufig als Arbeitgeberinnen von Lehrmädchen. Im frühen 20. Jahrhundert waren in Wien von allen Kleidermachern 39 % Frauen, von den Beschäftigten insgesamt waren 40 % Lehrlinge, davon zwei Drittel Mädchen. Günstig für die kleinbetriebliche Produktion waren Neuerungen im Bereich der Antriebsenergie. Seit man anstelle der großen und teuren Dampfmaschinen die kleineren und billigeren Explosions- (zuerst Gas-, später Benzinund Diesel-)Motoren und schließlich (nach 1900) den Elektromotor einsetzen konnte, standen Antriebsenergien auch für Kleinbetriebe günstig, aber auch in besserer Dosierbarkeit zur Verfügung.
Beruf, Familie und Klassenbildung
303
Insgesamt zeigt das Kleingewerbe bis um 1870/80 Schrumpfungstendenzen. Gewisse Metall verarbeitende Handwerkszweige, wie Büchsenmacher oder Feilenhauer, fielen der industriellen Konkurrenz zum Opfer. Andere Zweige, wie die Drechsler, wuchsen (primär unter dem Vorzeichen des Verlages) stark an, wurden aber ab etwa 1890 durch großindustrielle Produktionsformen zurückgedrängt. Relativen Rückgang — im Verhältnis zur wachsenden Bevölkerung — gab es bei Bäckern, Tischlern, Schlossern und Schuhmachern. Die Ersteren erhöhten freilich die Beschäftigtenzahl pro Betrieb — was sicher kein Krisenzeichen ist. Nach der Jahrhundertwende kam es jedenfalls zu einer Konsolidierung des Kleingewerbes: Waren 1847 68 Kleingewerbetreibende auf 1.000 Wiener entfallen, so im Jahre 1900 nur noch 50, 1910 jedoch 59. Überdurchschnittliches Wachstum zeigten die Nahrungsmittelbranchen, wie Zuckerbäkker oder Fleischhauer, die Baunebengewerbe (Tapezierer), die Luxusgewerbe und neu qualifizierte Tätigkeiten, wie Mechaniker und Elektriker, ferner Dienstleistungsberufe (wie Friseure). Diese Konsolidierung zeigt sich auch in den Beschäftigtenzahlen. Waren 1857 zahlreiche Meister allein in ihren Werkstätten (bzw. Wohnungen, was noch nicht auseinander fiel) gestanden, so waren 1902 in Wien nur 20 % aller Selbständigen solche Alleinmeister. Sie konnten wieder mehr Arbeit anbieten. In der Phase der Hochindustrialisierung änderte also das Gewerbe sein Profil — es produzierte weniger und suchte seine Chance in Montage, Reparatur, Dienstleistung und Nahrungsmittelversorgung, aber auch in der Zulieferung für die Industrie. Der technische Fortschritt schuf neue Branchen — beispielsweise Installateure und Elektriker. 4.3.2
Wohnen, Rekrutierung, Familienverhältnisse
Gerade im verlegten Handwerk, in traditionellen, aber kapitalistisch umgeformten Arbeitsverhältnissen, herrschten oft überaus beengte Wohn- und Arbeitsverhältnisse. Lehrlinge und Gesellen wohnten häufig noch beim Meister, der selbst kaum über ausreichenden Wohnraum verfügte. Friedrich Funder berichtet von seinem Schuster, der mit seiner vierköpfigen Familie und zwei Untermietern in einer Zimmer-Küche-Wohnung wohnte und natürlich auch arbeitete. Und in Karl Renners Erinnerungen wird das Leben verlegter Heimarbeiter beschrieben, die als „Sitzgesellen" in den „[...] elendesten Hof-, Dach- und Kellerwohnungen oder, wenn sie ledig waren, als Aftermieter allein oder zu zweit in billigen Kabinetten [...]" hausten. Entsprechend waren die Gesundheitsverhältnisse. Unter den bei der Allgemeinen Arbeiterkrankenkasse in Wien versicherten — meist — industriellen Arbeitern entfielen von 100 Sterbefällen etwa 29 auf die Kategorie bis 30 Jahre, bei den (kleingewerblichen) Versicherten des Verbandes der Wiener Genossenschaftskrankenkassen betrug dieser Anteil fast 42 (1894). Darin äußert sich vor allem die starke Verbreitung der Tuberkulose in Wien und insbesondere im Wiener Handwerk. Insgesamt starben in Wien damals etwa 35 % der Toten über 15 Jahre an dieser Krankheit. Diese Sätze stiegen in einzelnen
304
Von der Revolution zum Ersten Weltkrieg
Gewerben, wie bei Buchbindern, Hutmachern und Zuckerbäckern auf 8 0 % und darüber an. Erst mit der Konsolidierung des Kleingewerbes änderten sich einige dieser Indikatoren. Im Zuge der Hochindustrialisierung fiel der Anteil der beim Arbeitgeber wohnhaften Personen an der Gesamtbevölkerung, zwischen 1880 und 1910 von 17,4 auf 9,2 %. Auch kleingewerbliche Arbeiter gründeten jetzt häufiger Familien. Damit gewinnt die Arbeiterschaft im Kleingewerbe Züge der großbetrieblichen Arbeiterschaft: Ablösung vom Haushalt des Meisters, damit — wenigstens tendenziell — eigene Hausstandsgründungsmöglichkeit, Rekrutierung aus den nördlichen Nachbargebieten und zunehmend auch aus Wien und dem engeren Umland. Noch im Vormärz war ein großer Teil der Arbeitskräfte im Zuge der traditionellen Gesellenwanderung nach Wien gekommen. 1820 stammten 43 % der Wiener Tischlergesellen aus „Deutschland", 1 0 % aus Wien und Niederösterreich, 17 % aus den böhmischen Ländern. Im Zuge der Industriellen Revolution änderte sich dieses Bild völlig. Schon in den 1850er Jahren dominierten die Zuwanderer aus den Sudetenländern (55 %), woran sich bis nach der Jahrhundertwende nichts mehr änderte (1901/1906: fast 61 %). Aus Deutschland hörte die Zuwanderung schließlich ganz auf (1873/1879 noch 11 %, 1901/1906 praktisch null). Dagegen stieg zuletzt der Anteil von Wienern und Niederösterreichern auf mehr als 22 %. Außerdem scheinen die Arbeitsverhältnisse, die im Zuge der Industriellen Revolution äußerst kurzfristig gewesen waren, an Dauer gewonnen zu haben. Diese Stabilisierungder handwerklich-kleingewerblichen Wirtschaft schlägt sich auch in einer Verbreitung des Familienbetriebes nieder. Die Übergabe des Betriebes an einen Sohn war im vorindustriellen Gewerbe, mit Ausnahme einiger Branchen, wie Gastwirte und frühkapitalistische Sensenschmiede, eher die Ausnahme gewesen. Nun wurde sie häufiger. Das neue Familien- und Traditionsbewusstsein äußert sich in neuen Firmennamen („N. N. und Söhne") ebenso wie in neuen Vereinen, vorab den Meistersöhne-Vereinen (Bäcker 1888 usw.), in der Pflege von Innungsarchiven und im Erstellen von Festschriften. Diese Stärkung des Traditionsbewusstseins erhielt 1879 aus Anlass der silbernen Hochzeit des Kaiserpaares, als am berühmten Makart-Festzug die Wiener Gewerbe historisch kostümiert teilnahmen, einen nicht unwichtigen äußeren Verstärker. 4.3.3
Organisationsbildung im Kleingewerbe
Die alten Zechen oder „Innungen" (von „Einung") wurden mit der Gewerbeordnung von 1859 durch gewerbliche„Genossenschaften"auf freiwilliger Basis ersetzt. Wo die zünftischen Traditionen noch weiterlebten, gingen die Innungen bruchlos in die neuen „Genossenschaften" über. Als Reaktion auf den großen Krach von 1873 und die anschließende Krise entstand eine breite Handwerkerbewegung („Gewerbetagsbewegung"). Diese
Beruf, Familie und Klassenbildung
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Bewegung forderte die Wiederbelebung der zünftischen Traditionen und ihre inhaltliche Anreicherung. Die 1. Gewerbeordnungsnovelle von 1883 beschränkte— als Reaktion auf diese Forderungen — die Genossenschaften aufs Kleingewerbe, mit verpflichtender Mitgliedschaft. Innerhalb der Genossenschaften sollten auch die Arbeiter eigene Gehilfenverbände gründen können. Daraufhin wurden bis 1894 in ganz Zisleithanien 5.317 gewerbliche Genossenschaften gegründet, davon im heutigen Österreich fast 2.100. Auch die vorgesehenen Gehilfenorganisationen entstanden: 1894 hatten immerhin 6 0 % der Genossenschaften solche Gehilfenorganisationen eingerichtet, in Niederösterreich sogar 7 4 % . Liberale und sozialdemokratische Kritiker der konservativständischen Idee der Zusammenfassung von Meistern und Arbeitern in einer gemeinsamen Organisation ließen an den Gehilfenorganisationen kein gutes Haar. Diese Kritik übersah, dass in vielen kleingewerblichen Branchen noch sehr enge Kontakte zwischen Meistern und Gesellen bestanden und dass — auch nach heftigen Auseinandersetzungen — ein gemeinsamer Umtrunk von Meister und Gesellen in einem der zahlreichen Biergärten der Wiener Vorstädte ein gewisses Ausmaß an Gemeinsamkeit zum Ausdruck brachte. Ferner konnten die offiziellen Gehilfenorganisationen der gewerblichen Genossenschaften gerade in den 1880er Jahren, als die Organisationen der (sozialdemokratischen) Arbeiterbewegung unter starkem Druck standen, eine organisatorische Hülle für die ansonsten ihrer Vereine beraubte Arbeiterschaft (wenigstens im Kleingewerbe — aber das waren ja noch mehr als 50 % der Arbeiter!) bereitstellen. Zunehmend emanzipierten sich auch die Gehilfenausschüsse von den Meisterorganisationen. 1907 waren Gehilfenausschüsse insgesamt 126-mal an Abschlüssen von Kollektivverträgen beteiligt; ziemlich oft kam es vor, dass solche Tarifverträge gemeinsam von Gewerkschaft und Gehilfenorganisation unterzeichnet wurden. Andererseits fanden die Meister in den Genossenschaften soziale Organisationsformen, die Ansatzpunkte für ihr eigenes Gruppenbewusstsein (und dessen Verfestigung) bildeten und durch die ihnen von der Gewerbeordnungsnovelle zugeschriebenen Kompetenzen dieses Gruppenbewusstsein wieder vorantrieben. In diesem Zusammenhang sind auch andere Genossenschaften zu sehen. Ihre Errichtung wurde seit 1873 (Gesetz über Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften) erleichtert. Sie sollten einen „dritten Weg" zwischen Kapitalismus und Sozialismus suchen und finden. Das Auseinanderfallen von Arbeit und Kapital sollte rückgängig gemacht werden. Der Zusammenschluss kleiner Handwerksmeister sollte diesen die Kraft geben, gegenüber dem Kapital des Verlegers oder Industriellen ihre Selbständigkeit zu bewahren. Durch die Beteiligung von Arbeitern sollte die Proletarisierung dieser Gruppe rückgängig gemacht werden. Schließlich wollte man über die Kooperation von Produktions-, Vermarktungs- und Konsumgenossenschaften den Zwischenhandel ausschalten. Die am besten funktionierenden Genossenschaften dieser Art, die „Werksgenossenschaft der Stubaier Kleineisenindustrie in Fulpmes" (1898) und die
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Büchsenmachergenossenschaft in Ferlach florierten primär dank kräftiger staatlicher Förderung und einer Verbindung mit entsprechenden fachlichen, vom Staate eingerichteten Ausbildungsstätten. Wichtiger wurden allgemeine gewerbliche Hilfskassen, von denen die erste schon 1851 in Klagenfurt gegründet wurde. 1873 zählte man 142 Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften, 1890 gab es bereits fast 1.500 Kreditgenossenschaften, 1908 schon etwa 3.000 (Zisleithanien). Vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges sollen diese Genossenschaften (später „Volksbanken") etwa 9 % des gesamten Bankenumsatzes getragen haben. Im heutigen Österreich gab es nach 1900 etwa 900 Vereine dieses Typs, mit weit mehr als 500.000 Mitgliedern. Handwerker hatten daran allerdings einen sinkenden Anteil: 1875 machten sie noch genau ein Drittel aller Mitglieder aus, bis 1909 war ihr Anteil auf 23 % gesunken. Da über Kreditgenossenschaften Kapital für Investitionen bereitgestellt sowie die kreditheischenden Mitglieder zu Sparsamkeit und wachsender Finanzplanung in ihrer Lebensgestaltung aufgefordert wurden, hatten die Kreditgenossenschaften zweifellos einen gewissen Anteil an der Anpassung vorkapitalistischer Kleinunternehmer an die Erfordernisse moderner Wirtschaftsweise. Zusammenfassend scheint es wenig zielführend, die Entwicklung des Kleingewerbes im Industrialisierungsprozess ausschließlich aus der Perspektive des Zerfalles zu interpretieren, sondern vielmehr, ganz ähnlich wie im Bereich der Bauernschaft und der Arbeiterschaft, als Prozess einer Konstituierung der Gewerbetreibenden als sozial selbstbewusste Großgruppe, als Prozess der Klassenbildung. Auch die Kleingewerbetreibenden lehnten für sich den Klassenbegriff ab und sahen sich eher als „Stand", in der Mitte zwischen denen da oben und jenen dort unten — als „Mittelstand". „Mittelstand" wurde zum Kampfbegriff der Handwerkerbewegung der 1880er Jahre und zum sozialpolitischen Zielbegriff aller Bestrebungen, gewisse nicht gerade wohlhabende Bevölkerungsschichten diesseits des Proletariats mental und materiell zu stabilisieren.
4.4
Arbeit, Alltag und Klassenbildung in der Großindustrie
Gewerbliche und industrielle Beschäftigung wurden entweder nach der Betriebsgröße, nach der maschinellen Ausstattung oder nach der Steuerleistung unterschieden. Betriebe mit mehr als 20 Beschäftigten, mit mehr als 42 Gulden Gewerbesteuerleistung oder mit Dampfmaschinen bzw. später Benzin- oder Elektromotoren als Antriebsquelle galten nun als „Fabriken" (die ältere Wortbedeutung „privilegierter Betrieb" verlor sich mit der Gewerbefreiheit 1859 gänzlich). Maschinenausstattung zog (seit 1887) Unfallversicherungspflicht nach sich, so dass auch die Statistik der unfallversicherten Arbeiter als Indiz für Industriebeschäftigung herangezogen wurde. Neue Antriebsquellen wie der praktische und verhältnismäßig kleine Elektromotor drängten freilich auch Gewerbebetriebe in die Unfallversicherungspflicht, reiche Handwerker gerieten in höhere Steuerklassen und erfolgreiche Handwerks- und Gewerbebetriebe nichtindustriellen Zuschnittes konnten ebenfalls mehr als 20 Arbeiter beschäftigen.
Beruf, Familie und Klassenbildung
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Solche Beobachtungen lassen alle schematischen Trennungen problematisch erscheinen. Gerade die Zeit der langen Depression (1873 bis 1896) scheint strukturbereinigend gewirkt zu haben. Von 1880 auf 1890 stieg die Zahl der Betriebe mit einer Steuerleistung von mehr als 42 Gulden in Niederösterreich (inkl. Wien) von 1.990 auf 2.756, die Zahl der in diesen Betrieben Beschäftigten von 101.000 auf 155.000. Die Zahl der Betriebe mit einer geringeren Steuerleistung stieg aber nur von 50.000 auf 55.000. Im (zwar mehrfach unterbrochenen) Konjunkturaufschwung zwischen 1890 und 1910 machte die Ausbreitung der Industriebeschäftigung neuerlich bedeutende Fortschritte. So stieg in Wien und Niederösterreich die Zahl der Maschinenbau-Betriebe in dieser Zeit von etwa 270 auf knapp 800 und die Zahl der dort Beschäftigten von etwa 19.000 auf mehr als 52.000. 4.4.1
Großindustrielle Branchen und Regionen
Nach der gewerblichen Betriebszählung von 1902 waren in ganz Zisleithanien 41 % der Arbeiter in Betrieben mit mehr als 20 Beschäftigten tätig, in den österreichischen Alpenländern sogar 44 %. Nach Branchen traten dabei insbesondere die Hüttenindustrie (98 %), die chemische Industrie (67 %), die Erzeugung von Licht- und Kraftstrom (67 %), das Baugewerbe (66 %), das graphische Gewerbe (63 %) und die Maschinenindustrie (60 %) als deutlich großbetrieblich geprägt hervor. Regional konzentrierte sich im Gebiete des heutigen Österreich die großbetriebliche Arbeiterschaft auf den Osten: 60 % der ungefähr 440.000 Arbeiter in Betrieben mit mehr als 20 Beschäftigten arbeiteten in Niederösterreich (inkl. Wien), weitere 1 7 % in der Steiermark. Bei Betrieben mit mehr als 300 Beschäftigten verschiebt sich das Bild etwas: 56 % dieser Arbeiter lebten in Niederösterreich, sogar 25 % in der Steiermark. Das Hervortreten der Steiermark bei den größten Betrieben war eine Folge der Entwicklung im Bergbau, in der Verhüttung und in der Stahlindustrie, wo mit der Gründung der ÖsterreichischAlpinen Montan-Gesellschaft 1881 ein Signal zu einer enormen, besonders um 1900 vorangetriebenen Betriebs- und Unternehmenskonzentration in der MurMürztalfurche gesetzt wurde. Daneben entstand hier (in Kapfenberg) der erste Großbetrieb zur Erzeugung von Edelstahl (Böhler), wo 1914 bereits 3000 Arbeiter beschäftigt waren. Großbetriebe im Metall verarbeitenden Bereich entwickelten sich in der Waffenproduktion (Werndl beschäftigte in Steyr 1873 bereits 5000 Menschen), im Lokomotiven- und Waggonbau (Wiener Neustadt, Wien, Linz), schließlich in der Elektroindustrie. Bei Siemens-Schuckert in Wien arbeiteten um 1900 bereits mehr als 2000 Leute. Insgesamt gab es in Wien 1902 acht Betriebe mit mehr als 1000 Beschäftigten — neben den privatwirtschaftlichen Unternehmungen des Maschinenbaues und der Elektroindustrie auch staatliche Betriebe (Rüstung im Arsenal, Tabakfabrik in Ottakring und die Staatsdruckerei). Im Industriegebiet von Wiener Neustadt entwickelte nach der
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Von der Revolution zum Ersten Weltkrieg
Jahrhundertwende die Automobilindustrie eine besondere Dynamik: 1900 wurde die erste Serie von Daimler-Automobilen produziert, 1908 waren hier schon 1200 Arbeiter tätig. 4.2.2
Die Industriearbeiter — Qualifikation und soziales Bewusstsein
Art der Arbeit und Qualifikation prägten das gesellschaftliche Bewusstsein der Arbeiter zentral. W o die Handarbeit nicht durch Maschinen ersetzbar war, trat ein kräftiges Selbstgefühl in Erscheinung. Gießer in der Wiener Neustädter Lokomotivfabrik etwa distanzierten sich durch das Festhalten am „Blauen Montag" noch in den 1880er Jahren von jenen Gruppen, die bereits dem strengen Zeitdiktat der Maschine unterworfen waren. Sie erschienen zur Arbeit erst am Dienstag und im Zylinder, um ihre Sonderstellung zu unterstreichen. Stieg der Mechanisierungsgrad an und sank dementsprechend die Anforderung an Kraft und Geschicklichkeit des einzelnen Arbeiters, so führte das zu Dequalifizierungserscheinungen: Un- und angelernte Arbeiter ersetzten die gelernten, Frauen übernahmen Männerarbeit, jedoch nicht in der Schwerindustrie. Mit dem vermehrten Einsatz immer präziserer Maschinen gerieten die traditionellen Arbeitsvorstellungen immer stärker unter Druck. Die mit der zweiten Gewerbeordnungsnovelle von 1885 als verpflichtend erklärten Arbeitsordnungen (Fabriksordnungen) zeigen sehr genau den wachsenden Anspruch der Betriebsleitungen auf Pünktlichkeit und immer vollkommenere Identität von Arbeitszeit und tatsächlicher Arbeitsleistung. Der „blaue Montag", um 1885 noch häufig verboten, taucht zehn Jahre später in den Ordnungen als Problem gar nicht mehr auf. Der technische Fortschritt führte aber auch zu Höherqualifikationsprozessen (etwa bei den Drehern in den Automobilfabriken, von denen erheblich genauere Präzisionsleistungen als früher erwartet wurden) und letztlich zur Entstehung einer technisch ausgebildeten Angestelltenschaft. Bei Daimler in Wiener Neustadt soll 1907, in einem schlechten Jahr allerdings, als die Arbeiterzahl niedrig war, auf jeden dritten Arbeiter schon ein Werkmeister oder technischer Angestellter entfallen sein. Der Kampf der Arbeiter gegen die Maschine war nicht nur ein Kampf um bessere Löhne (bzw. gegen Lohnverluste) und Arbeitsbedingungen, sondern auch um die Erhaltung der „Berufsehre", um die Qualifikation, den Stolz auf die geleistete qualitätvolle Arbeit — Werte, die im Zuge der Hochindustrialisierung für die unter kapitalistischen Bedingungen rechnenden Unternehmensleitungen freilich immer rascher an Bedeutung verloren. Man muss solche Erfahrungen in der Zahl jener Lernprozesse mitberücksichtigen, in denen die Arbeiter zur selbstbewussten Klasse wurden. Z u diesen Erfahrungen gehört ganz zentral die Unausweichlichkeit und Dauerhaftigkeit lebenslänglich unselbständiger Arbeit, gehört die Erfahrung stets präziserer Zeiteinteilung und Überwachung der Arbeit.
Beruf, Familie und Klassenbildung
4.4.3
309
Gesellenvereine, Arbeitervereine und Gewerkschaften
Gesellenorganisationen des alten Handwerks wurden schon im 18. Jahrhundert verboten. Als Folge bildete sich ein Geheimbundsystem aus, das im Vormärz für die ersten frühsozialistischen Organisationsversuche wichtige Anhaltspunkte bot. Daneben entstanden in dieser Zeit nur sporadisch Unterstützungsvereine halb zünftlerischer Art, wie der Unterstützungsverein der Wiener Buchdrucker 1842. Auch dieser wurde, wie alle Organisationen der Arbeiterschaft (und insbesondere die 1848 gegründeten Arbeitervereine), ob allfälliger Staatsgefährdung nach 1848 aufgelöst. Als einzige Form der Arbeitervereinigungen gestattete man katholische Gesellenvereine nach dem Muster Adolf Kolpings. Mit dem Sieg des Liberalismus entstanden ab 1861 neuerdings freie Vereinigungen der Arbeiter. Sie waren in ihrem Wirkungskreis lokal und fachlich (meist auf ein Gewerbe) begrenzt. Ganz überwiegend organisierten sich handwerkliche Arbeiter, die zumeist in Kleinbetrieben tätig waren — sieht man von den Eisenbahnarbeitem ab. Sie knüpften dabei oft an die älteren Gesellen-Bruderladen an; die Mitglieder waren fast ausschließlich jüngere, qualifizierte Gesellen. Verschiedentlich ging die Arbeitsvermittlung noch über die „Herberge". Dagegen war das Verhalten gegenüber den Unternehmern ambivalent: Konnte es im Konfliktfall zu schweren Zusammenstößen und direkten Schädigungen kommen (so leimten in den frühen 1880er Jahren streikende Tischler die Hobelbänke ihrer Meister zusammen, so dass jene vollkommen unbrauchbar wurden), bestand andererseits das Idealbild der Zusammenarbeit von Geselle und Meister wenigstens als Anspruch fort. Der erste branchenübergreifende Arbeiterverein war der Wiener Arbeiterbildungsverein, der im Dezember 1867 gegründet wurde. 3000 Arbeiter traten sogleich bei. Im Juni 1868 hatte der Verein schon 5500 Mitglieder. 1869 bestanden Arbeiterbildungsvereine nicht nur in Wien, sondern auch in allen größeren und kleineren Industriestädten wie Wiener Neustadt, Korneuburg, Neunkirchen, St. Pölten usw. Nach massiven Demonstrationen, die (besonders 1869) vom Wiener Arbeiterbildungsverein organisiert wurden, erlangten die Arbeiter 1870 das Koalitionsrecht — eine wichtige Voraussetzung für die Durchführung von Arbeitskämpfen. Tragende Gruppen in diesem Verein waren jetzt die Arbeiter von Großbetrieben, vorab der Eisenbahnwerkstätten, Lokomotiv- und Maschinenfabriken. Zahlreiche Filialen des Arbeiterbildungsvereines entstanden ab 1868 zuerst in den Werkstätten- und Maschinenfabrik-Quartieren Wiens. Erst später folgten die kleingewerblich strukturierten inneren Bezirke nach. Etwas von der Arbeitserfahrung im Großbetrieb floss in das öffentliche Auftreten: Disziplinierte Massendemonstrationen von mehreren tausend Arbeitern waren keine Seltenheit, wobei die Arbeiter der Eisenbahnwerkstätten und Maschinenfabriken sowohl den Kern der Demonstranten als auch deren Ordnungskräfte stellten. Diese Verhaltensformen wurden auch für die Freizeit bestimmend: Man veranstaltete Ausflüge in die Wiener Vororte, ebenfalls in Form von Massenaufmärschen, unter präziser Zeitangabe und Militärmusikbegleitung.
310
Von der Revolution zum Ersten Weltkrieg
Die politischen Freiheitsrechte des Jahres 1867 und die wirtschaftliche Konjunktur von 1867 bis 1873 begünstigten die Organisation der Arbeiterschaft. 1870 zählte der Arbeiterbildungsverein in Wien schon 35.000 Mitglieder. Ideologisch orientierte er sich an der deutschen Sozialdemokratie, beteiligte sich an der Ersten Arbeiter-Internationale und 1869 an der Eisenacher Tagung der deutschen Sozialdemokratie. Das bot der Regierung den nicht unwillkommenen Anlass, den Verein zu verbieten und gegen mehrere seiner Führer Anklage wegen Hochverrates zu erheben (1870). Doch musste eine Neukonstituierung als Folge heftiger Proteste gestattet werden. Was die behördliche Repression nicht zustande brachte, ermöglichte die ökonomische Depression. Vor Ausbruch der Krise 1873 hatte es in ganz Zisleithanien bereits 102 Fachvereine (Gewerkschaften) mit fast 33.000 Mitgliedern gegeben. Durch die Krise verloren viele Mitglieder ihre Arbeit, die wirtschaftliche Kraft und Durchsetzungsfähigkeit der Vereine schwand. 1879 gab es (im heutigen Österreich) nur mehr 43 Gewerkschaftsvereine. Der Arbeiterbildungsverein zählte 1877 gerade noch 177 Mitglieder. Das war eine Folge des Rückganges an Beschäftigten in der Krise: So waren 1872 in den fünf großen Wiener Lokomotiv- und Maschinenfabriken 5400 Arbeiter beschäftigt, 1876 nur mehr 1800. Bestehen blieben die meisten kleingewerblichen Vereinigungen, bei denen sich eine eigentümliche Schwankung zwischen zünftlerischem Arrangement mit den Unternehmern und anarchistischen Tendenzen zeigte. Die Letzteren äußerten sich in den 1880er Jahren in individuellen Terroraktionen, die 1884 zur Verhängung des Ausnahmezustandes in mehreren Gebieten Österreichs führten. Dieser bot dann die Handhabe zu verschärfter Verfolgung und zur Auflösung weiterer Arbeitervereine. Nur die inzwischen geschaffenen Gehilfenorganisationen der kleingewerblichen Berufsgenossenschaften boten verschiedentlich noch ein organisatorisches Auffangnetz. Gegen Ende der achtziger Jahre konnte sich mit der Erholung der Konjunktur auch die gewerkschaftliche Organisation neu ausbilden und festigen. Unmittelbar vor und um den sozialdemokratischen Einigungsparteitag von Hainfeld 1888/89 schössen neue gewerkschaftliche Organisationen wie Pilze aus dem Boden. 1893 wurde ein erster gesamtösterreichischer Gewerkschaftstag abgehalten, der unter anderem die Errichtung einer zentralen Reichsgewerkschaftskommission beschloss. In den 1890er Jahren entstanden neben den sozialdemokratischen auch christliche Arbeitervereine, die freilich stets nur einen relativ kleinen Teil der Arbeiterschaft erfassen konnten und wohl hauptsächlich im kleingewerblichen Bereich erfolgreich blieben. Auf den 1892 gegründeten christlichsozialen Arbeiterverein folgten weitere, die sich 1902 zu einem „Reichsverband der nichtpolitischen christlichen Arbeitervereine Österreichs" zusammenschlossen. Gesellschaftliches Gewicht kam diese Vereinen in Tirol und Vorarlberg zu, ferner in den Sudetenländern, während sie in Wien und Niederösterreich auf kleingewerbliche Branchen beschränkt blieben.
Beruf, Familie und Klassenbildung
311
1908 gab es etwa 447.000 sozialdemokratisch und etwa 84.000 christlich organisierte Arbeiter (in ganz Zisleithanien). Insgesamt blieben die Mitgliederzahlen instabil und schwankten mit der Konjunktur: Infolge der Krise von 1913/ 14 sanken sie auf etwa 240.000 sozialdemokratisch und 73.000 christlich organisierte Arbeiter knapp vor Kriegsausbruch. Trotz dieser Schwankungen war aber der Bestand der Organisationen nun nicht mehr, wie in den 1870er und 1880er Jahren gefährdet — dazu waren die Vereinigungen schon zu stabil geworden. Der Organisationsgrad, also der Anteil der organisierten an allen Arbeitern war sowohl regional wie auch branchenmäßig verschieden. In Wien wurde mit 40 % Organisationsgrad 1906 bereits ein sehr hoher Wert erreicht, auch Niederösterreich wies schon 1907 2 7 % auf (nur sozialdemokratische Organisationen!). Nach Branchen wurde für 1907 folgende Rangordnung errechnet: Bei den graphischen Gewerben, den traditionell hochorganisierten Buchdrukkern und Schriftsetzern waren 94 % der Arbeiter organisiert, in der Papierbranche und der Lederindustrie 3 7 % , in der chemischen Industrie 3 6 % , im Baugewerbe 29 %, in der Metallverarbeitung und Maschinenindustrie 28 %, in der Textilindustrie nur 14 %. In der Bekleidungsbranche lag der entsprechende Anteil sogar nur bei 8 %. Um die Arbeiterschaft aus dem häufig geübten Truck-System der Fabriken (Unternehmer überließen ihren Arbeitern Lebens- und andere Konsummittel zu einseitig festgelegten Preisen, das wurde 1885 verboten) bzw. von der Überlegenheit der Kaufleute besonders in den rasch wachsenden ländlichen Industrieorten zu befreien, wurden Konsumgenossenschaften gegründet. Der erste Konsumverein entstand 1864 im niederösterreichischen Teesdorf. 1873 gab es bereits 540 Konsumvereine, bis 1879 fiel ihre Zahl auf 376. Parallel mit der Reorganisierung der Arbeiterbewegung stieg dann auch die Zahl der Konsumgenossenschaften wieder an: 1900 gab es davon in Zisleithanien 742 und 1913 schon 1.469. Als überregionaler Dachverband konstituierte sich 1901, in engem Zusammenhang mit der Sozialdemokratischen Partei, der Zentralverband österreichischer Konsumvereine, 1905 wurde die „Großeinkaufsgesellschaft österreichischer Consumvereine" (GÖC) gegründet. 4.4.4
Arbeiterfamilie, Wohnverhältnisse und Klassenbewusstsein
Die Entstehung einer selbstbewussten Arbeiterklasse war aber nicht nur die Folge von Veränderungen in der Arbeitswelt, sondern hing auch mit Veränderungen in der Familiensituation und in den Wohnverhältnissen zusammen. Erst alle diese Faktoren zusammen führten zur Entwicklung eines neuartigen, proletarisches Milieus. Gewisse Arbeitergruppen, wie die Sensenschmiede im südlichen Niederösterreich, verhielten sich im 19. Jahrhundert noch lange ausgesprochen vorindustriell: Sie blieben zumeist unverheiratet, auch wenn ihre Arbeit in Großwerkstätten vor sich ging. Auch die Feilenhauer waren im Vormärz noch jung
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Von der Revolution zum Ersten Weltkrieg
und unverheiratet, sie arbeiteten damals bis zum Alter von etwa 35 Jahren (später konnten sie diese Arbeit nicht mehr ausüben) und versuchten dann durch eine Heirat eine landwirtschaftliche Basis fürs Alter zu finden. Ab 1850 sank hier das Heiratsalter, spezielle Fabrikssiedlungen entstanden. Die Arbeiterfamilie konstituierte sich, wobei Sozialkontakte (etwa über Patenschaften) besonders zu den Gewerbetreibenden und „Bürgern" der kleinen Marktorte gesucht wurden. Anderswo entstanden Arbeiterfamilien, in denen beide Ehepartner industriell tätig waren (die Männer in der Metallverarbeitung, die Frauen in der Textilindustrie) und wo auch die Sozialkontakte häufig im Bereich der Metallindustrie verblieben. Idealtypisch entsteht hier der „geborene Proletarier", häufig durch mindestens zwei Generationen dem Berufsmilieu verhaftet, in gleichartigen Sozialkontakten aufgewachsen. Zur Jahrhundertwende war „der Industriearbeiter" zumeist nicht mehr jung und ledig, sondern wurde im Schnitt älter und immer öfter auch Familienvorstand. Doch erschwerten die — insbesondere bei der großstädtischen Arbeiterschaft— äußerst beengten Wohnverhältnisse und die Notwendigkeit, Untermieter und Bettgeher aufzunehmen, um die Mieten bezahlen zu können, die Entwicklung eines stabilen Netzes verwandtschaftlicher Beziehungen im städtischen Arbeitermilieu, anders als in ländlichen Industrierevieren. Es scheint, dass auch aus diesem Grunde außerhäusliche Kontaktformen, Vereine, Genossenschaften, den Prozess der Klassenkonstituierung in Wien besonders geprägt haben. Nur selten reichte der Lohn des Haushaltungsvorstandes für die Ernährung einer Familie. Die Funktion des Frauenlohnes als Zusatzeinkommen bei vielen Arbeiterfrauen drückte diese Art von Löhnen, so dass alleinstehende Frauen (oder solche mit Kindern) oft (1891 in 51 % der Fälle) nicht einmal das physische Existenzminimum verdienten. Die niederen Löhne stärkten noch den Wunsch nach rascher Verehelichung. Nach dem ersten oder zweiten Kind schieden die jungen Frauen meist aus den Fabriken aus und übernahmen Heimarbeit. Auch die Kinder mussten früh bei der Aufbesserung des Haushaltsbudgets mithelfen. Vorzeitiges Ausscheiden aus der Schule (mit 10 bis 12 Jahren) war eher die Regel als die Ausnahme. Zwar verbot die 2. Gewerbeordnungsnovelle von 1885 die Arbeit von Kindern in Fabriken generell, doch wurde dieses Verbot nicht ebenso generell befolgt. Kinderarbeit um 1900 war überwiegend Heimarbeit, Mithilfe im elterlichen landwirtschaftlichen oder gewerblichen Betrieb. Klassenkonstituierung und Wohnerfahrung hängen zweifellos zusammen: Bis um 1870 unterschied sich nur der 1. Bezirk Wiens durch seine deutlich höhere Wohnqualität von den übrigen. Um 1900 war jedoch schon eine deutliche Hierarchie der Wohngegenden zu erkennen: Aristokratische und großbürgerliche Bezirke (1. und 4.) trennten sich von mittelbürgerlichen (6. bis 9.), diese wieder sonderten sich stärker von den kleinbürgerlichen und proletarischen Wohnvierteln.
313
Beruf, Familie und Klassenbildung
Tabelle 18: Wohnungsbestandteile pro Wohnung in Wien vor 1869 1901-1910
vor 1869 1901-1910 1. Bezirk
5,4
7,1
11. Bezirk
2,3
2,6
2. + 20. Bezirk
3,5
3,3
12. Bezirk
2,5
2,6
3. Bezirk
3,2
3,2
13. Bezirk
3,0
3,5
4. Bezirk
3,6
5,2
14. Bezirk
2,6
2,3
5. Bezirk
2,7
2,9
15. Bezirk
2,8
3,0
6. Bezirk
3,3
4,7
16. Bezirk
2,4
2,2
7. Bezirk
3,3
4,5
17. Bezirk
2,6
2,4
8. Bezirk
3,9
4,4
18. Bezirk
2,7
3,2
9. Bezirk
3,1
4,1
19. Bezirk
2,6
3,3
10. Bezirk
2,6
2,2
Auf Grund der schlechten Verkehrserschließung Wiens waren die Arbeiterwohnviertel an der Lage der Fabriken orientiert. Da die Industriezonen zunächst an den Bahnen entstanden, wuchsen auch die Arbeiterviertel im Bereich der Südbahn und des Süd- (und Ost-)Bahnhofes, an der Verbindungsbahn, an der Nordbahn usw. Hohe Mietkosten, die 15 bis 30 % des Haushaltsbudgets verschlangen, bedingten häufige Kündigungen und Delogierungen. Je kleiner (und verhältnismäßig teurer) die Wohnung, desto kürzer die Belagszeit. Der damit verbundene „Nomadismus" der Unterschichten führte jedoch nicht zu einer regellosen Wanderung quer durch die Großstadt, sondern folgte gewissen Mustern. Man blieb, soweit möglich, in einem bekannten Umkreis, einem Grätzel, einer Gasse. Das war der Lebensraum insbesondere der Kinder, deren Integration in die entstehende Arbeiterklasse und ihre Organisationen ebenso oft hier wie im Elternhaus erfolgte. So entwickelte sich ein Netz dichter sozialer Beziehungen, ein proletarisches Milieu. Auf Grund der äußerst mangelhaften Wohnverhältnisse spielte — wie bereits betont wurde — für die proletarische Klassenkonstituierung die außerhäusliche Sphäre — Wirtshaus, Verein, Gasse — eine entscheidende Rolle. Dagegen paßt die Konsolidierung der Wohnungsgrößen in den ehemaligen Vorstädten (6. bis 9. Bezirk) durchaus ins Bild der Konsolidierung von Handwerk und Gewerbe im Industrialisierungsprozess. Handwerker und Gewerbetreibende, aber auch mittlere Beamte und Angestellte konnten ihre Wohnverhältnisse offensichtlich verbessern.
314
4.5
4.5.1
Von der Revolution zum Ersten Weltkrieg
Der tertiäre Sektor — Handel und Verkehr, öffentlicher Dienst und freie Berufe — die Angestellten und Beamten Berufspositionen im tertiären Sektor
Der tertiäre Sektor wies in der Spätzeit der Monarchie eine erheblich größere Wachstumsdynamik auf als der sekundäre. 1890 waren in den österreichischen Alpenländern etwa 345.000 Menschen im tertiären Sektor beschäftigt, im Jahre 1910 schon 658.000. Das war eine Folge nicht nur des auffallenden Wachstums der Verkehrsbranche (die Länge des Eisenbahnnetzes wuchs nochmals beträchtlich), sondern auch einer starken Ausweitung des Handels, der privaten Dienstleistungen, der Bildungseinrichtungen und der Bürokratie. Für das Wachstum des Dienstleistungsbereiches war das Wachstum der großen Städte von großer Bedeutung. Hier musste ein dichtes Netz an Versorgungseinrichtungen verschiedenster Art, von Handelsbetrieben (Kaufhäusern, Greißlereien), aber auch von Verkehrs- und Kommunikationseinrichtungen (Post, Straßenbahn und Telefon) entstehen. Insbesondere in Wien konzentrierten sich Dienstleistungen für ganz Zisleithanien, ja für die ganze Monarchie — etwa im Bereich der Banken, der Verwaltungszentren großer Aktiengesellschaften des Produktionsbereiches, schließlich der finanziellen, medizinischen und juristischen Dienstleistungen, der Zeitungen, des Bildungs- und Wissenschaftsbereiches und der allgemeinen Verwaltung. Die Selbständigen des tertiären Sektors bieten ein buntes Bild — alle Händler und Kaufleute gehören dazu, alle Greißler und Marktfieranten, Hausierer und Vertreter, Fuhrleute und Spediteure, Fiaker und Taxifahrer, Bankiers und Versicherungsunternehmer, aber auch die Vertreter der freien Berufe, Advokaten, Notare, Ärzte, Journalisten. Nach Berufen und sozialen Positionen erscheinen diese Gruppen wesentlich weniger zusammengehörig als die gewerblichen und industriellen Unternehmer. Stärkere soziale Verbindungen in Konnubium und Vereinswesen gab es daher in Teilgruppen, etwa bei den Kaufleuten oder den Inhabern freier Berufe. Die Vertreter der freien Berufe, von Bildung und Wissenschaft, aber auch die höheren Beamten waren die bildungsbürgerliche Gruppen schlechthin. Alle verdankten ihre gesellschaftliche Position einem Bildungsdiplom (Maturazeugnis, Doktorat), doch darüberhinaus stattete der bildungs- und wissenschaftsoptimistische Liberalismus die „gebildeten" Schichten mit besonderem Sozialprestige aus. Es war für das Selbstverständnis dieser Herren wichtig, über einen klassischen Bildungskanon zu verfügen, als dem gemeinsamen Boden für Verständigung und Konversation. Dabei wurde unter anderem auch auf ein gut geschultes Gedächtnis größter Wert gelegt. Neben diesen bildungsbürgerlichen und wirtschaftsbürgerlichen, groß- und kleinbürgerlichen Existenten gehörten auch solche Selbständige dem tertiären Sektor an, die, wie Marktfrauen und Kutscher, kaum dem Bürgertum zuzuzählen sind.
Beruf, Familie und Klassenbildung
4.5.2
315
Angestellte
Vor allem im tertiären Sektor entwickelte sich der neue Arbeitnehmertypus des Angestellten. Machten im gewerblich-industriellen Bereich 1910 die Angestellten nur knapp 4 % der Berufstätigen aus, so waren es im tertiären Bereich fast 13 %. Der neue Sozialtypus des Angestellten erwuchs aus zwei verschiedenen Wurzeln: Einerseits aus den Betriebsbeamten, andererseits aus den Handlungsgehilfen, den im Verkauf tätigen Unselbständigen im Klein- und Großhandel. Dazu kam noch der Verkehrs- (etwa: Eisenbahn-)Beamte. Im Beamtenbegriff äußert sich nicht nur ein von der übrigen Lohnarbeiterschaft abgehobenes Selbstbewusstsein, sondern auch eine soziale Nähe zu den öffentlichen (Staats-, Landes-, Gemeinde-)Beamten. Häufig wurden die nicht-öffentlichen Beamten auch als „Privat-Beamte" bezeichnet. Eine erste Kodifizierung des Angestelltenrechtes erfolgte 1910 im „Handlungsgehilfengesetz". In der von einer neuen Mittelstandsideologie beherrschten sozialpolitischen Diskussion des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts wurde die Festlegung spezieller Angestelltenrechte zur Verhinderung einer möglichen Proletarisierung der Angestellten und damit zur Stärkung eines fiktiven Mittelstandes immer wieder gefordert. In diesem Sinne wurde schon 1906 die Pensionsversicherungspflicht für Angestellte gesetzlich fixiert. Das Handlungsgehilfengesetz schrieb schließlich Urlaubsanspruch, Kündigungsschutz und Abfertigungsanspruch fest. War das Idealbild des fest „Angestellten" eigentlich am patriarchalisch beherrschten „ganzen Haus" orientiert, so gilt dies in noch höherem Maße für den öffentlich Bediensteten, den Staats-, Landes- und Gemeindebeamten. 4.5.3
Beamte
Die Zahl der öffentlichen Beamten nahm nach 1848 zu. Bezirkshauptmannschaften, Bezirksgerichte und Gendarmerie erforderten einen zusätzlichen Personalaufwand, der zum Teil aus dem Militär (dem die Gendarmerie ja zunächst noch zugehörte), zum Teil aber auch aus der Privatbeamtenschaft der Grundherrschaften abgedeckt wurde, insoferne deren Justizbeamte nun häufig in den Staatsdienst wechselten. Eine Schätzung der quantitativen Verhältnisse ist nur annähernd möglich. Unter Berücksichtigung der Diener und Diurnisten waren im Jahre 1841 rund 130.000 Personen im Staatsdienst beschäftigt. Im Jahre 1900 betrug die Anzahl aller öffentlich Bediensteten (unter Einschluss der Eisenbahnbediensteten, Kanzleihilfskräfte usw.) etwa 336.000. Doch sind — so seltsam das auch im Hinblick auf die staatliche Bürokratie klingen mag — genaue Zahlen nicht zu gewinnen. Der Beamte war zunächst Diener des Kaisers und damit Teil des Hofes. Diese Fiktion verblasste umso mehr, je weniger die direkte Verbindung zum Hofe aufrecht blieb und je größer jene Gruppen wurden, die nicht so sehr die
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Ausführung des Herrscherwillens zu besorgen hatten als vielmehr Dienstleistungen (etwa im Bereich der Post). Für die höheren Beamtenkategorien blieb aber die enge mentale Verbindung zum Hof bestehen. Dennoch emanzipierten sich die Staatsbediensteten langsam vom direkten Hofdiener-Charakter. Die Organisationen der Beamten (besonders der 1872 gegründete Beamtentagsclub, infolge seiner Rekrutierung „Subalternenverein" genannt, und der 1885 gegründete „Verein der Staatsbeamten") wurden für die Formulierung und Durchsetzung von Beamteninteressen immer wichtiger. Die weitere soziale und nationale Differenzierung der Bürokratie und schließlich auch ihre wachsende Identifikation mit verschiedenen neueren politischen Strömungen schlug sich um 1895/1900 in zahlreichen weiteren Vereins- und Zirkelbildungen nieder. Nationale Homogenität der einzelnen Vereine (die also nur mehr Deutsche bzw. nur mehr Tschechen usw. umfaßten) und der Einsatz gewerkschaftlicher Kampfmittel gegenüber der Regierung gestatten die Feststellung, dass sich die Beamtenschaft spätestens bis zu diesem Zeitpunkt als eigene, von Regierung und Hof unabhängige Sozialgruppierung konstituiert hat. 1901 entstand ein Zentralverband der österreichischen Staatsbeamtenvereine, dem 1909 86 Vereine mit etwa 47.000 Mitgliedern angehörten. Eine große Bedeutung hatte eine Neuregelung des Beamtendienstrechtes von 1873, durch welche sich die Rang- und Gehaltsschemata, die schon in der vorausgegangenen Periode entstanden waren, verfestigten. Immer deutlicher bestimmten Bildungsvoraussetzungen (Matura, Doktorat der Rechtswissenschaften) die Erreichung gewisser Amtspositionen. Den Abschluss dieser Entwicklung bildete schließlich die Dienstpragmatik von 1914, in der nicht nur die Art und Zahl der Verwendungsgruppen (nach Vorbildung), sondern auch das biennale Zeitavancement festgelegt wurde, welches das traditionelle Rangklassensystem aufweichte und dem einzelnen Staatsdiener langsame, aber stetige Gehaltsvorrückungen zusicherte — ein System, das sich im Wesentlichen bis in die Gegenwart erhalten hat. Die Aufnahme des Sozialdemokraten Dr. Karl Renner in die Parlamentsbibliothek (1895) verweist auf das Eindringen der modernen sozialen Massenbewegungen in die prinzipiell noch als Dienst beim Herrscher gedachte Bürokratie. Für die mittleren und höheren Ränge der Beamtenschaft wird freilich weiterhin und bis zum Ende der Monarchie der Bezirkshauptmann Trotta aus Joseph Roths „Radetzkymarsch", dem „nationale Minderheiten" und „revolutionäre Individuen" zuwider waren, typischer geblieben sein. Angestellt bzw. ebenfalls beamtet waren auch die Lehrer und Professoren an den Pflicht- und Mittelschulen sowie die Universitätsprofessoren, die Archivare und Bediensteten der Hofsammlungen bzw. -museen. Das ganze Bildungsund Wissenschaftssystem wurde also von „Beamten" getragen. In die höheren Ränge dieses Systems kam man als „self-made-man" aber nur sehr schwer, da etwa eine Assistentenstelle an der Universität praktisch unbezahlt war. Da bedurfte es des materiellen Hintergrundes einer wohlhabenden Familie. Man wird auch in der Annahme nicht sehr fehlgehen, wenn man das gesellschaftliche
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Selbstbewusstsein dieser Gruppierungen weniger von der Tatsache ihrer Anstellung geprägt sieht, sondern vielmehr vom Pathos bürgerlicher Bildungs- und Wissenschaftsgläubigkeit. 4.5.4
Vereine f ü r Angestellte u n d Beamte
Früher als die Arbeiter hatten die Angestellten begonnen, eigene Vereine zu gründen: 1863 entstand der Verein der Beamten und Diener der österreichischen Staatsbahn-Gesellschaft, zur gegenseitigen Kranken- und Lebensversicherung. Im selben Jahr gründeten die Beamten und Diener der Südbahngesellschaft einen Vorschussverein. In eine ähnliche Richtung entwickelte sich der 1864 konstituierte erste allgemeine Beamten-Verein der Monarchie, in dem öffentliche und Privat-ßeamte noch in gleicher Weise erfaßt wurden. Bei Beamten und Angesteliten überwog zunächst noch nicht das Gefühl einer klaren Interessentrennung zwischen ihnen und ihren Arbeitgebern. Im Katholischen Handels-Casino (1860) und in den 1870 zum Wiener kaufmännischen Verein zusammengeschlossenen eher liberalen Vereinen saßen selbständige Kaufleute und Kommis noch mehr oder weniger einträchtig beisammen. Eine entschiedenere Verselhständigung fand in den 1880er Jahren statt. 1885 gründeten verschiedene Herren aus dem Kreise der Privatbeamtenschaft die „Privatbeamten-Localgruppe des Ersten allgemeinen Beamten-Vereines". Zur gleichen Zeit entstanden stärker politisch orientierte Angestelltenvereine, besonders im Bereich der Handlungskommis (1886). Das war auch eine Folge der 1. Gewerbeordnungsnovelle von 1883, die auch für die „Gremien" des Handels, analog zu den „Genossenschaften" des Handwerks, Gehilfenausschüsse ermöglichte und Krankenkassen einrichtete — Selbstverwaltungsgremien, welche die eigenständige Organisation der Angestelltenschaft förderten. Als Folge des stabilisierten Selbstbewusstseins dieser Schichten änderte sich die Selbstbezeichnung: 1889 benannte sich der Verein österreichischer Handlungsgehilfen in einen „Verein österreichischer HandelsAngestellter" um. Unter diesem Angestelltenbegriffwuiden schließlich auch die Beamten und Werkmeister in der Industrie subsumiert, die sich ab etwa 1895 eigene Werkmeister- und Industriebeamtenverbände geschaffen hatten. Waren die meisten dieser Vereinigungen von der Angst vor Proletarisierung geprägt (und damit Teil der entstehenden ,,Mittelstands"-Bewegung), so gab es auch sozialdemokratische Angestelltenorganisationen, die „klassenbewusst", das heißt unter Ablehnung enger Kooperation mit den Unternehmern, agierten. Der 1892 gegründete Verein der kaufmännischen Angestellten konnte nach der Jahrhundertwende im Gehilfenausschuss der Wiener Kaufmannschaft sogar bereits die Mehrheit erringen. Insgesamt wiesen die Angestellten vor dem Ersten Weltkrieg etwas höhere Organisationsgrade auf als die Arbeiter. Dieser hohe Organisalionsgradkam allerdings nicht so sehr den weltanschaulich fixierten, sondern den „neutralen" Gewerkschaften zugute, die eher Anschauungen von Volksgemeinschaft und
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nationaler Vorrangstellung huldigten: 1907 hatten die sozialdemokratischen Gewerkschaften bei den Angestellten einen Organisationsgrad von 4,5 %, die christlichen gar nur von 0,3 %, die „neutralen" dagegen von 20,5 %. 1913 waren insgesamt 36 % der Angestellten und 1 7 % der öffentlich Bediensteten organisiert.
4.6 4.6.1
Klassenbildung der Unternehmer — das „Wirtschaftsbürgertum" Großunternehmer in Industrie, Handel und Finanzwelt
Hatte schon im Vormärz die industrielle Unternehmerschaft deutliche Konturen bekommen, so nahm sie in der zweiten Jahrhunderthälfte nicht nur quantitativ zu, sondern veränderte auch ihr Profil. An die Stelle der „Gründer", der self-made-men, treten, noch häufiger als zwischen 1800 und 1848, die Erben: Die meisten Väter geadelter Unternehmer waren selbst schon Unternehmer gewesen, Industrielle oder aber (Groß-)Händler. Und die Söhne der Unternehmer neigten zunehmend zu neuartigen akademischen Bildungslaufbahnen — Stefan Zweigs Hinweis auf das Bestreben, unter den Nachkommen mindestens einen Akademiker zu haben, lässt sich an zahlreichen Fällen belegen. Von 566 größeren Wiener Unternehmern, die um 1900 hier wirkten, stammte bereits die Hälfte aus Wien, der Rest verteilte sich nach der Herkunft auf Böhmen und Mähren, Norddeutschland, Ungarn und Niederösterreich. Die Zuwanderung aus dem Ausland spielte nur mehr eine geringe Rolle. Nur mehr wenige ungewöhnliche Unternehmergestalten ragen aus dieser insgesamt konsolidierten Schicht heraus. Sicher die ungewöhnlichste Erscheinung war Karl Wittgenstein (1847 - 1913), Vater des Philosophen Ludwig und des Pianisten Paul Wittgenstein. Aus einer wohlhabenden Tuchhändlerfamilie stammend, ging er nach einem Studium an der Technischen Hochschule in Wien als Angestellter in die Eisenindustrie. 1877 wurde er Generaldirektor der Teplitzer Eisenwerke. In kürzester Zeit erwarb er bedeutende Aktienanteile an den wichtigsten Eisen- und Stahlwerken Böhmens, Niederösterreichs und der Steiermark. Wittgenstein — er war übrigens sehr musikalisch — verband einen ausgeprägten Geschäftssinn mit guten technischen Kenntnissen. Mit seinem Namen ist die grundlegende Reorganisation der Österreichisch-Alpinen Montan-Gesellschaft verbunden, die ebenfalls zu seinem Imperium gehörte. 1899 zog er sich ins Privatleben zurück. Geschäftlich und familiär war Wittgenstein eng mit den Brüdern Karl (der eine Schwester Wittgensteins geheiratet hatte) und Paul Kupelwieser (Generaldirektorder Witkowitzer Werke), den Söhnen des bekannten Biedermeiermalers, verbunden. Analoge Blitzkarrieren waren ansonsten nicht mehr allzu häufig. Das österreichische Unternehmertum vermittelt in seiner Spitzengruppe um 1900 bereits einen eher behäbigen Eindruck. Die führenden Familien standen über Heirats- (und Kapitalverflechtungen vielfach in enger Verbindung: Der jüngste
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der Kupelwieser-Brüder, Max, heiratete eine Schwester Wilhelm Kestraneks, der ebenfalls zum Wittgenstein-Kreis gehörte; eine andere dieser Schwestern heiratete Eugen Herz, später leitender Direktor der Österreichisch-Alpinen Montangesellschaft. Solche Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Nach wie vor dominierte unter den führenden Namen die Textilindustrie (Theodor Hämmerle, Friedrich Leitenberger, Chiari usw.), die auch in der letzten Aufschwungphase vor dem Ersten Weltkrieg ihre beherrschende Rolle nicht abgab. Neben dem Textilbereich haben Eisen und Stahl und vor allem auch di e Lebensmittelindustrie (Zucker, Brauereien) eine wichtigere Rolle gespielt. Für kommerzielle und technische Innovationen war im Allgemeinen die einzelne Unternehmerpersönlichkeit nicht mehr so wichtig wie um 1800 oder 1835. Technische Angestellte und leitende (angestellte) Direktoren übernahmen solche Funktionen. Auch als Kapitalinhaber trat immer häufiger eine Aktiengesellschaft an die Stelle des Einzelunternehmers. Gerade durch die Institution der Aktiengesellschaft wuchs die Bedeutung der Banken, die häufig auch die Umwandlung von Familienbesitz in Aktiengesellschaften durchführten. Durch ihre Aktienportefeuilles hatten die großen Wiener Aktienbanken (Bodencreditanstalt, Creditanstalt, Union-Bank, Länderbank, Wiener Bankverein) entscheidenden Einfluss auf die Großindustrie, sie standen auch hinter den Bemühungen um Kartellierungen, um ruinöse Preiskämpfe unter ihrer Klientel zu vermeiden. Noch immer — wie schon zur Zeit Maria Theresias — bemühten sich erfolgreiche Unternehmer um einen Adelstitel. Nur wenigen wird jener selbstbewusste Bürgerstolz bescheinigt, der auf solche Titel verzichten konnte — Karl Wittgenstein etwa, dem Klavierbauer Ludwig Bösendorfer oder dem Glasindustriellen Josef Lobmayer. Noch unter den nach 1900 nobilitierten Unternehmern traten Textilindustrielle besonders hervor, aber auch Bankiers und Großhändler. Auch die für die österreichisch-ungarische Wirtschaft so bedeutende Lebensmittelindustrie (Brauereien, Zuckerfabriken, Schokolade und Süßigkeiten) wurde mit Adelstiteln für ihre Tätigkeit belohnt. Die übrigen Sparten — Eisen und Stahl, Metallverarbeitung, Chemie, Papier, Baugewerbe usw. — blieben dagegen zurück. Nach dem religiösen Bekenntnis dominierten Mitglieder der mosaischen Religionsgemeinschaft leicht vor Katholiken und (den etwas weniger stark vertretenen) Protestanten. Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung waren aber die religiösen Minoritäten, Juden, Protestanten und selbst Orthodoxe (wie die bekannten „Griechen" Karajan und Sina), deutlich überrepräsentiert. Der Druck zur Konversion zum Katholizismus war bei Unternehmern viel schwächer als in der ersten Jahrhunderthälfte, als insbesondere zahlreiche Juden zum katholischen Glauben übergetreten waren. In den großen Unternehmerfamilien sammelte sich beachtlicher Reichtum. Die Wohlhabenden wohnten überwiegend in der „Residenz", in Wien — mehr als die Hälfte der größten Steuerzahler Zisleithaniens lebte hier, häufig im noblen Ringstraßenbereich, wo sich die Textilindustrie ein eigenes „Textilviertel" schuf, oder aber im 3. bzw. 4. Bezirk. Die einträglichsten Berufe — abgesehen
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vom Großgrundbesitz — waren im Durchschnitt Unternehmen im Bergbau, Bankierspositionen und eine Funktion als Textilindustrieller. Für das Jahr 1906 lässt sich eine etwas genauere Aussage treffen: Von 139 damals verstorbenen Wiener Unternehmern sind genauere Vermögensaufstellungen erhalten. 75 von ihnen waren katholisch, 54 mosaisch, elf evangelisch und drei gehörten einem orientalischen christlichen Ritus an. Interessanterweise hinterließen die Evangelischen am wenigsten Schulden, Millionäre hingegen gab es nur unter Katholiken und Juden. Die wohlhabendsten gehörten dem Banksektor und (wieder) der Textilindustrie an, aber auch mit der Produktion von Zucker, Glas, Papier und Maschinen konnte man offenbar ausgezeichnet verdienen. Zahlreiche mittlere und kleinere Unternehmer zeigen aber ein weniger glänzendes Bild. Viele haben offenbar relativ bescheiden gelebt, auch die für die höheren bürgerlichen Kreise immer wieder kolportierten kulturellen Neigungen lassen sich im breiten Mittelfeld des Unternehmertums nur selten belegen. Die (groß-)bürgerliche Gesellschaft, in der „Sicherheit" ein zentraler Begriff war (Stefan Zweig), legte ihr Geld vorsichtig an — in Realitäten, Staatspapieren, nur sehr zurückhaltend in Industriebeteiligungen: Der große Börsenkrach von 1873 war eine Warnung vor einseitigen Anlagegewohnheiten. 4.6.2
Freie Vereine der Unternehmer in Handel, Gewerbe und Industrie
Seit der Vereinsfreiheit wuchs auch die Zahl der gewerblichen Vereine. 1867 gab es einen gewerblichen Fachverein in Zisleithanien, 1880 deren 170. 1867 wies die Statistik 28 Vereine zur Beförderung von Gewerbe und Handel aus, 1880 waren es 135. Darunter sind fast ausschließlich Vereinigungen von Selbständigen zu sehen, zur Erweiterung ihrer fachlichen Bildung, zur gegenseitigen Information, zur Interessenvertretung. Auch im Handel entstanden zahlreiche freie Vereinigungen, wie der Verein für kaufmännische Interessen (1868), der Wiener kaufmännische Verein (1870) usw. Alle diese Organisationen haben sich 1908 im „Zentralverband der österreichischen Kaufmannschaft" einen Dachverband geschaffen. In der Industrie kam es, da die Gewerbevereine und die 1848 gegründeten Handelskammern als Interessenvertretungen fungieren konnten, zunächst zur Gründung von auf die Fortschritte der Ingenieurswissenschaften orientierten Vereinigungen (Österreichischer Ingenieursverein). Erst 1875 wurde der „Industrielle Club" gegründet, später ein Exklusivverein von finanzstarken und einflussreichen Großindustriellen mit (1909) ca. 220 Mitgliedern. Er repräsentierte insbesondere die einflussreiche Textilindustrie (1883 war der Tuchfabrikant Alfred v. Skene Präsident, der Inhaber von Baumwollspinnereien Friedrich Frh. v. Leitenberger Vizepräsident) sowie die Hütten- und Eisenindustrie. Als Interessenvertretung gegenüber dem Staat wenig geeignet, wurde dieser „Club" 1893 durch den „Zentralverband der Industriellen Österreichs" ergänzt, in dem anfangs ebenfalls die Textilindustrie dominierte. Doch waren hier später alle
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wichtigen Branchenverbände vertreten. 1896 wurde diese Vereinsstruktur durch den „Bund österreichischer Industrieller" ergänzt, der sich insbesondere als Arbeitgebervertretung verstand. 1906 wurde ein besonderer „Wiener Industriellenverband" gegründet. Solche lokale und kleinregionale Vertretungen verweisen auf die wachsende Zahl mittlerer und kleinerer Industrieller, die für ihre speziellen Interessen eben eigene, lokalbezogene, kleinere Vereine benötigten. 4.6.3
Das Bürgertum — führende Klasse im „bürgerlichen" Zeitalter?
In der Ringstraßenzone Wiens, den seit der 1857 angeordneten Schleifung der Stadtbefestigung samt Verbauung des Ciacis entstandenen neuen repräsentativen Wohn- und Regierungsvierteln, ferner in ähnlichen Vierteln von Prag, Triest, Brünn, Graz, Krakau, wohnte die politisch immer weniger, kulturell, ökonomisch und meinungsbildend aber bis zum Ende der Monarchie herrschende Schicht. Dieses liberale Großbürgertum konnte im Prozess der Klassenbildung seinen gesellschaftlichen Anhang nicht vergrößern — eher im Gegenteil. Anstatt zur unbestrittenen politischen und kulturellen Führungsschicht aufzusteigen, deren Attraktion auf andere gesellschaftliche Schichten ihre Position zu festigen vermocht hätte, wurde sie gerade in politischer (aber nur zum Teil auch in kultureller Hinsicht) immer stärker isoliert, trotz anhaltender ökonomischer Macht. Die mangelnde Integrationskraft des liberalen, in seinen politischen Vorstellungen patriotisch-österreichischen, in den administrativen Wünschen zentralistischen, in nationaler Hinsicht deutschen, in religiösen Belangen aufgeklärt-skeptischen (bei häufigerer jüdischer oder protestantischer als katholischer Herkunft), reichen und gebildeten Bürgertums ist zweifellos ein ganz zentrales gesellschaftliches Problem. Es konnte sich nicht zu einem auch politisch-ideologisch führenden, national-österreichischen Bürgertum entwickeln, trotz seines häufig sehr ausgeprägten Patriotismus. Die Frage nach den Ursachen für diese mangelhafte Integrationsfähigkeit wird verschieden beantwortet. Zeitgenossen betonten, dass die bürgerlichen Gruppierungen insgesamt klein gewesen seien. Einer der prominentesten Liberalen, Ernst von Plener, wies in den Debatten um die Ausweitung des Wahlrechtes darauf hin, dass das parlamentarische Verfahren Menschen von bürgerlichem Habitus benötige, um sachbezogen und emotionsarm das allgemeine Wohl diskutieren zu können. Es gäbe aber viel zu wenige Selbständige in Österreich, die einen solchen bürgerlichen Habitus aufwiesen, ganz anders als in England, in Preußen oder gar in Sachsen. Ein anderes Problem war die hohe Konzentration des Großbürgertums in der Haupt- und Residenzstadt Wien. Die Statistik der 1896 reformierten Einkommensteuer zeigt, dass etwa die Hälfte der hohen und höchsten Einkommen des gesamten „diesseitigen" (zisleithanischen) Reichsteiles eben hier erzielt (und ausgegeben) wurden. Ferner wird auf die herkunftsmäßige, ökonomische, nationale und religiöse Inhomogenität dieser Schichten hingewiesen. Sowohl an den konfessionellen wie an den —
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V o n der Revolution zum Ersten Weltkrieg
weiter unten noch zu diskutierenden — nationalen Integrationsvorgängen konnte diese ökonomisch unbestrittene Führungsschicht daher kaum teilnehmen, im Gegenteil: Antisemitismus und Nationalismus bedeuteten tendenziell die Ausschließung der jüdischen Mitglieder dieser Schichten aus der Gesellschaft (was ab 1938 dann tatsächlich verwirklicht wurde). Gerade die antisemitische Färbung der deutschnationalen und christlichsozialen Massenbewegungen hat daher die Ringstraßengesellschaft noch stärker mit der Monarchie verbunden. Denn die altertümliche Monarchie der Habsburger war durch ihre vorbürgerliche und vornationalistische Gestaltung der Garant für die Aufrechterhaltung der sozialen Stellung dieser großbürgerlichen Schichten, die in religiöser bzw. nationaler Hinsicht immer mehr zur Minderheit wurden. Andererseits mussten die demokratischen, nationalen und sozialen Massenbewegungen, die sich gegen die Herrschaft jener Liberalen (als politische Herrschaft der Verfassungspartei, als „nationale" Herrschaft „der" Deutschen, als soziale Herrschaft des Kapitals und des Unternehmertums ) wandten, notwendig antiliberale Züge annehmen. Die Liberalen waren nicht demokratisch und die Demokraten waren nicht liberal: Damit ist das Dilemma des späten 19. Jahrhunderts, das als schweres Erbe ins 20. Jahrhundert lange nachwirkte, kurz und zutreffend umschrieben. Die demokratischen Neigungen dieser „Liberalen" hatten daher ziemlich enge Grenzen: Aus einleuchtenden Gründen war man für Rechtssicherheit und für die weitestgehende Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung, der Person, des Eigentums, der Religion, war man auch für Rede-, Vereins- und Versammlungsfreiheit. Dagegen musste eine Ausweitung der Demokratie und also der politischen Berechtigung auf Klassen, die aus sozialen und politischen Gründen Gegner der Bourgeoisie waren, deren Stellung aufs Äußerste gefährden. Obzwar in ihren materiellen Grundlagen „modern", war die Ringstraßen-Gesellschaft daher in ihrer Funktion und in ihrem Selbstbewusstsein doch ganz stark an die halbabsolutistische und höfisch-aristokratische Monarchie gebunden. Das mag einiges an Zwiespalt in dieser Gesellschaft erklären, deren reiches kulturelles Erbe nicht nur in den Ringstraßenpalais, in der Literatur Arthur Schnitzlers, Hugo von Hofmannsthals, Stefan Zweigs (und noch Heimito von Doderers), in der Musik Alexander Zemlinskys, Gustav Mahlers, Erich Wolfgang Korngolds und Karl Goldmarks, sondern auch in der Psychoanalyse Sigmund Freuds, in der Malerei Gustav Klimts und in der Architektur Otto Wagners auf uns gekommen ist — und noch die Ablehnung eben dieser Welt in den Werken von Karl Kraus, Oskar Kokoschka, Adolf Loos, Arnold Schönberg und Alban Berg zeigt, dass die hier angegriffene Kultur von ganz besonderer Faszination gewesen sein muss. Viele der genannten Namen deuten übrigens auf die ganz besonders enge Verbindung von „Besitz und Bildung" \r\ dieser Schicht hin — das Großbürgertum vereinigte beide Komponenten in sich. Das zeigen angesehene Familien wie die Gomperz, von denen zwei Brüder (der Unternehmer und Gutsbesitzer Julius und der Bankier Max) nobilitiert wurden, während der dritte Bruder, der bedeutende Altphilologe Theodor Gomperz zwar nicht
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den Adel erhielt, wohl aber wie Julius ins Herrenhaus des Reichsrates berufen wurde (1901). Selten trat diese enge Verbindung von „Besitz und Bildung" in derselben Generation auf. Öfter wandten sich die Söhne der Wissenschaft oder der Literatur zu, während die Väter Unternehmer waren und blieben. Hugo von Hofmannsthal stammte aus einer überaus angesehenen Familie von Großhändlern und Bankiers, Stefan Zweigs Vater war Fabrikant, genauso wie der Vater des Historikers Friedrich Engel-Janosi. Der Vater Heimito von Doderers war Bauunternehmer, Erbauer von Eisenbahnen und Großaktionär der Creditanstalt. Doch nicht nur die Zuwendung der jüngeren Generation zu Literatur, Theater, Wissenschaft und Kunst behinderte die Behauptung des Großbürgertums als führende gesellschaftliche Klasse. Man hat auch von einem Rückzug des Bürgertums aus dem Raum der Politik gesprochen, in die eigenen Palais, Villen, Sommerhäuser am Semmering oder im Salzkammergut und in die eigenen Gärten (so der amerikanische Historiker Carl E. Schorske). Das gilt vielleicht einigermaßen für den Bereich von Parteien und Parlament — obgleich besonders in den deutschliberalen und -nationalen Gruppierungen bedeutende Unternehmer und Wissenschaftler wie Pacher-Theinburg, Chiari usw. durchaus tätig blieben. Keineswegs gilt diese Aussage für den Bereich der Wirtschaft und der Wirtschaftspolitik. In diesen Bereichen behielt das Wirtschaftsbürgertum über direkte Kontakte zu Ministern und Ministerien, die zum Teil über Beiräte, wie den 1896 gegründeten Industrie- und Landwirtschaftsrat, institutionalisiert waren, sehr großen Einfluss. Das liberal-aufgeklärte, etwas überhebliche Selbstbewusstsein des Bürgertums wurde schließlich von mehreren Seiten in Frage gestellt. Auf Antisemitismus und Nationalismus wurde schon verwiesen. Der junge Hermann Bahr erklärte als Student in den 1870er Jahren seinem staunenden Vater in Linz, man sei jetzt nicht mehr liberal, sondern (deutsch-)national. Dahinter steht auch ein Mentalitätswandel. War der klassische Liberalismus mit seinem rationalistischen Fortschrittsglauben und Wissenschaftsoptimismus eine direkte Fortsetzung der Aufklärung gewesen, so führte das offensichtliche Ungenügen dieser Anschauungsweisen in der Erklärung zahlreicher gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Entwicklungen einerseits zur Lebensreformbewegung, zur damit zusammenhängenden Entwicklung neuer künstlerischer Ausdrucksweisen (Jugendstil, klassische Moderne), andererseits zur Renaissance von kollektiven Heilserwartungen, die sich in nationalistischen und sozialistischen Gesellschaftsutopien ebenso äußerten wie in ganz irrationalen militaristischen Visionen. Nicht zuletzt überwanden sowohl die Naturwissenschaften wie die Medizin und die Geistes- bzw. Sozialwissenschaften traditionelle Parameter und entthronten mit der Erforschung des Unbewussten in der Psychologie und des Unsichtbaren in der modernen Physik den etwas simplen Glauben an das Sicht- und Machbare, als der sich die bürgerliche Fortschrittsideologie im Allgemeinen präsentiert hatte.
324
Von der Revolution zum Ersten Weltkrieg
4.7
Faktoren der Entstehung und Differenzierung sozialer Klassen
Bis um 1900 trennte sich in Gewerbe und Industrie das Arbeitsverhältnis vom Familienverhältnis. Der Arbeiter schied nun endgültig aus der patriarchalischen Herrschaft des Meisters aus. Damit erhielt er die Chance, eine eigene Familie zu gründen. Schutz gegen Krankheit, Invalidität, Arbeitsunfähigkeit boten nicht (mehr) fürsorgliche Meister, sondern freie Vereinigungen und (Kranken-)Kassen. Überbetriebliche,
freie Vereinigung
ist die dem nunmehr hervortretenden
Großbetrieb korrespondierende Vergesellschaftungsform — bei den Arbeitern ebenso wie bei den Unternehmern. Dieser Satz gilt freilich bei der bäuerlichen Landwirtschaft nur für die Hausherren, und er scheint in verschiedenen, meist ländlichen Gewerben (besonders auf dem Nahrungsmittelsektor) ebenfalls nur bedingt gegolten zu haben — denn hier hielten sich noch weithin und lange ausgesprochen patrimoniale Betriebsformen (Wohnen beim Prinzipal, geringe Trennung von gewerblicher und landwirtschaftlicher Arbeit usw.). Großbetriebliche Organisation und wachsende staatliche Penetration begünstigten auch die Ausbreitung bürokratischer Organisationsformen. Deren sozialtypischer Ausdruck sind die rasch wachsenden Scharen von Angestellten und Beamten, die sich nun auch zunehmend nicht mehr nur als verlängerte Arme ihrer Vorgesetzten (des Chefs, des Kaisers, ...) empfanden, sondern als eigenständige Gruppierung. Ihr Bewusstsein blieb freilich, trotz (oder neben) zunehmender Akzeptanz für die Dauerhaftigkeit des Lohnverhältnisses, in dem sie standen, nach wie vor durch die anordnende Funktion und durch die Teilhabe an einem wie immer gearteten „Imperium" gekennzeichnet. Auch Angestellte und Beamte zeigen deutliche Ansätze zur Klassenkonstituierung, ohne dass sich eine einheitliche Klasse von Angestellten und Beamten ausgebildet hätte. Die überbetrieblichen Organisationen wollten auch auf die staatliche Entscheidungsebene Einfluss nehmen, was ja durch die Parlamentarisierung des politischen Lebens seit 1861/1867 möglich geworden war. Genauso wichtig für die Entstehung eines zunächst im Betrieb und in der eigenen Berufsgruppe wachsenden — und vielfach an ältere Gesellentraditionen anknüpfenden — Bewusstseins der eigenen Lage war die zunehmende Einsicht in die Aussichtslosigkeit persönlicher und vereinzelter Konfliktaustragung. Überhaupt kam Konflikten eine zentrale Rolle in diesen gesellschaftlichen Lernprozessen zu. 4.7.1
Soziale Konflikte — Streiks und Aussperrungen
Die häufigste Konfliktform in der Arbeitswelt war der Streik. Die Möglichkeit der Verabredung zur Arbeitsniederlegung hatte die Arbeiterschaft mit der Koalitionsfreiheit 1870 erreicht. In der Konjunkturphase bis 1873 gab es eine Reihe von (häufig erfolgreichen) Arbeitsniederlegungen. Mit dem Ausbruch der Krise war es damit vorbei. In der folgenden langen Depression hatten die Organisationen der Arbeiter kaum noch die finanzielle Kraft, um längere Arbeits-
Beruf, Familie und Klassenbildung
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kämpfe durchzustehen. Das verminderte die Erbitterung nicht, die dennoch in solchen Kämpfen zum Ausdruck kam. Berühmt wurde etwa der Streik der Wiener Tramwaybediensteten 1889, in dem es zu ausgedehnten Unruhen kam und Militär und Polizei gegen Demonstranten einschritt. Seit der Errichtung der Zentralkommission der freien Gewerkschaften 1893 gab es eine koordinierende Zentrale, die den Streiks den nötigen Rückhalt verlieh, allerdings auch mitunter bremste, um den Streikfonds nicht zu gefährden. Die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage tat ein Übriges. Am Ende der Hochkonjunktur stieg 1899/1900 die Zahl der versäumten Arbeitstage über die Millionengrenze. 1899 legten mehr als 30.000 Textilarbeiter die Arbeit nieder, 1900 die Bergarbeiter im Ostrau-Karwiner Revier in Österreichisch-Schlesien — der größte Ausstand in der Geschichte der Monarchie (3,5 Millionen Arbeitstage gingen dadurch verloren). Mit der Rezession ab 1900 sank die Zahl der Streiks. Erst der neue Konjunkturzyklus ließ die Streikhäufigkeit wieder ansteigen. Etwa 112.000 Arbeiter erhielten 1906/07 nach Arbeitsniederlegungen Lohnerhöhungen. Obwohl die Streikbewegung also den Wellenbewegungen der Konjunktur folgt, lassen sich doch langfristig Veränderungen feststellen: Hatten in der Frühphase der Arbeiterbewegung erfolglose Streiks einen fast vollständigen Zusammenbruch der streiktragenden Organisation (meist ein lokaler Fachverein) zur Folge, so blieben jene Begleiterscheinungen im frühen 20. Jahrhundert zwar nicht aus, hatten aber keinen grundsätzlich gefährdenden Charakter mehr. Bei den Arbeitern hatte sich die Überzeugung sowohl aus gelungenen wie misslungenen Streiks gefestigt, dass ohne eine starke, betriebs- und branchenübergreifende Organisation nichts zu gewinnen sei. Ähnliche bewusstseinsbildende Wirkungen mochten auch Gegenaktionen der Unternehmerseite haben. So schloss die Betriebsleitung einer Wiener Neustädter Fabrik 1908 bei einem Streik der Gießer die gesamte Belegschaft von der Arbeit aus (Aussperrung), traf also damit die gesamte Arbeiterschaft des Unternehmens. Dennoch dürfen Streikbewegungen nur mit Vorbehalt als Bewegungen der Stärkung von proletarischem Klassenbewusstsein interpretiert werden. Lohnforderungen zielten fast stets darauf ab, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Berufs- und Qualifikationsstufen aufrechtzuerhalten. Größere Egalität innerhalb der Arbeiterklasse war kein Ziel solcher Bewegungen. Wesentlich anders verhält es sich mit gemeinsamen Großkundgebungen der Arbeiterschaft wie dem Maiaufmarsch (ab 1891), den Wahlrechtsdemonstrationen 1893, schließlich mit den großen Kundgebungen im Herbst 1905, als sich die Begeisterung über die Erfolge der russischen Revolution in der vehementen Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht niederschlug. Hierin äußerte sich jedenfalls eine berufs- und branchenübergreifende Solidarisierung der Arbeiterschaft, die nicht bloß einen bestimmten Organisations- und Bewusstseinsstand ausdrückte, sondern selbst wieder vorantrieb. Alle diese Bewegungen waren Lernprozesse. Otto Bauer hat diesen Begriff für die Teuerungsrevolte von 1911, als es in Wien äußerst heftige Zusammen-
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stoße zwischen demonstrierenden Arbeitern (bzw. ihren Frauen), der Polizei und dem Militär gab, zwar noch nicht verwendet, aber nahe gelegt: „Massen lernen nur aus eigener Erfahrung [...]" und: „das historische Ereignis wird der ganzen Klasse zur Lehre [...]." Dabei wird wohl die „Klasse" zu sehr als etwas Fertiges, Ganzes gesehen, aber im Prinzip dürfte die Beobachtung zutreffen: Gerade im Erlebnis der gemeinsamen Demonstration, aber auch des gemeinsamen Feindes (der Polizei, der Gegendemonstranten) erzeugt und verstärkt sich ein spezifisches Gruppenbewusstsein.
4.7.2
Konnubium und Klassenbildung
Eine zeitgenössische Studie über das Heiratsverhalten in Österreichs Städten betonte im Jahre 1897, dass ein „soziales Connubium" im strengen Sinne, als Berufsidentität, bei einer Beobachtung durch zehn Jahre sehr deutlich hervortrete. Die relativ größten Berufsgruppen von Eheschließenden waren dabei Unselbständige in Gewerbe, Handel und Industrie (61 % aller Bräutigame, fast 33 % aller Bräute), die danach folgenden Berufsgruppen waren aber bei Männern und Frauen sehr verschieden: Bei den Herren waren es Selbständige (16 %), Lehrer, Beamte und Angehörige freier Berufe (11 %), Taglöhner (4 %), Dienstboten und Angehörige der Landwirtschaft (je 2,9 %). Von den ehewilligen Damen kam die zweitgrößte Gruppe aus der großen Schar der Dienstboten (23,7 %), die drittgrößte hatte ein unbekanntes Berufsprofil (14,5 %), die viertgrößte kam direkt aus elterlicher Obhut (14 %); 8,1 % der Bräute lebten von Haus- oder Rentenbesitz, 2,7 % waren Selbständige, 2,4 % Taglöhnerinnen. Dabei waren erhebliche Unterschiede zwischen Großstädten wie Wien und Graz und der Masse der Mittel- und Kleinstädte festzustellen: In den Großstädten trat der Anteil der Unselbständigen stärker hervor (bei beiden Geschlechtern), in den kleineren Städten jener der Selbständigen, aber auch der „behüteten", elternabhängigen Bräute (hier mit 28 % größte Einzelgruppe!), ferner jener der Taglöhner ohne stabiles Arbeitsverhältnis. Die stärkste Berufsidentität der Brautleute wurde in der Gruppe der Unselbständigen gefunden: 80 % der Bräute heirateten einen Mann in derselben Situation, genauso wie 43 % der Bräutigame; 25 % der unselbständigen Männer nahmen eine Frau aus dem Dienstbotenstatus. Auch in den meisten dieser Fälle wird letztlich ein sehr ähnliches Herkunftsmilieu anzunehmen sein. Das ganze Ausmaß des sozialen Konnubiums erschließt sich erst im Vergleich mit dem sozialen Status der Brauteltern. Eine Übereinstimmung des Status mit jenem der Brauteltern war bei 85 % aller land- und forstwirtschaftlich berufstätigen Brautleute nachzuweisen, bei mehr als 80 % aller Ehen von Unselbständigen im gewerblichen und kommerziellen Bereich; aber auch 78 % der Töchter von Rentiers und Pensionsbeziehern erhielten Gatten aus einer analogen gesellschaftlichen Situation. Ältere Heiratsmuster schimmern noch in Resten durch: So heirateten weibliche gewerblich Selbständige — das waren
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2 , 3 % aller Bräute — zu 5 0 % unselbständige Männer, was als Zeichen des „Einheiratens", wie es im älteren Handwerk fast die gängige Art der Betriebsübernahme war, gelten kann. In den meisten Fällen ist unselbständige Erwerbstätigkeit aber auch nach der Partnerwahl eindeutig zum Lebensschicksal geworden. Zugleich bringen die hier gebotenen Zahlen die um 1890/1900 deutlich gewachsene Chance für eine Hausstandsgründung von Unselbständigen zum Ausdruck. Jedenfalls aber ist die über Familien vermittelte Reproduktion sozialer Klassen an diesen Daten ganz deutlich feststellbar.
4.7.3
Die Blütezeit der Vereine
Der Verein als Produkt von und Gegengewicht zu sozialer Differenzierung hatte schon im Vormärz erhöhte Bedeutung erlangt: Dieses Grundbedürfnis der „bürgerlichen" Gesellschaft war mit dem A B G B schon erstmals anerkannt worden. Freilich bedurfte jede Vereinsgründung einer Erlaubnis durch die staatliche Verwaltung. Das Vereinspatent von 1852 bekräftigte dies (Konzessionssystem). Erst mit der Durchsetzung der Grundrechte 1867 wurde auch die Vereins- und Versammlungsfreiheit Teil dieser staatsbürgerlichen Rechte. Dennoch blieb auch im relativ liberalen Vereinsgesetz von 1867 die „Durchlässigkeit" der Vereine für die Aufsicht durch die staatlichen Behörden zentraler Grundsatz der Vereinsgesetzgebung. Während aber den nichtpolitischen Vereinen ein relativ großer Spielraum gelassen wurde, waren die politischen Vereine ziemlich rigorosen Begrenzungen unterworfen (ausschließlich großjährige und männliche Mitglieder, Verbot von Filialen bzw. überregionalen Zusammenschlüssen). Die Auflösung der patriarchalischen Einheit von Wohnung und Betrieb im gewerblichen und kommerziellen Bereich, die wachsende Rollendifferenzierung im Berufsleben, aber auch die langsam wachsende Ausdifferenzierung der „Freizeit" aus der Arbeitswelt bzw. den traditionellen Feierzeiten trieb das Interesse an Vereinsbildungen aller Art voran. Ganz vorne in der Zahl der Vereine standen Sicherungseinrichtungen verschiedenster Art, Krankenunterstützungs- und Leichenbestattungsvereine: Ihre Zahl stieg (in ganz Zisleithanien) von 1867 bis 1880 von 918 auf 2.800. Insgesamt wurden 1867 im gesamten westlichen Reichsteil der Monarchie 4.331 Vereine gezählt, 1880 aber schon mehr als 15.800. Obwohl der Verein als „bürgerliche" Sozialform in den Städten am meisten Verbreitung fand, wurde schließlich auch der landwirtschaftliche Bereich von der neuen Form des „freien Vereins" geprägt. Das 19. Jahrhundert war die Blütezeit der Vereine. Auch wenn sich seither die Menge der Vereine noch erhöht hat, so ist doch ihre große Bedeutung für die gesellschaftliche Positionierung im 20. Jahrhundert stark zurückgegangen (sieht man von wenigen sehr exklusiven Vereinen ab). Die Bürger des 19. Jahrhunderts nannten die Vereine, deren Mitglieder sie waren, stolz in ihren Lebensläufen, aber auch auf ihren Todesanzeigen. Vereinsbildungen wurden wichtigste Ausdrucksformen, Träger und Verstärker von kollektivem gesellschaftlichem Bewusstsein auf lokaler, regionaler, nationaler und wirtschaftlicher sowie
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Von der Revolution zum Ersten Weltkrieg
klassenmäßiger Basis. Sie halfen — über ihre demokratische Subkultur und ihre Geschäftsordnungen — demokratische Entscheidungsformen und rechtlich normierte Verfahrensweisen zu veralltäglichen. Sie bildeten selbst kleine Foren von Öffentlichkeit u n d konstituierten insgesamt ein Klima, in d e m sich moderne Formen von Öffentlichkeit entwickeln konnten. Die Funktionsvielfalt der Vereine zeigt die Vielfalt jener gesellschaftlichen Bedürfnisse an, die durch freie Assoziationen der Staatsbürger bewältigt w e r d e n sollten — von der Sozialhilfe und -fürsorge bis zur wirtschaftlichen Interessenvertretung, v o m Kegelklub bis z u m Sparverein, von Wander- und Bergsteigervereinen bis zu Gebetsvereinen innerhalb der katholischen Kirche, von hochspezialisierten wissenschaftlichen Vereinigungen bis zu nationalistischen „Schutz"-Vereinen der entstehenden selbstbewussten Nationen. Die anbrechende „Moderne" setzte die M e n s c h e n aus vielen ü b e r k o m m e n e n Bindungen frei — und ebendies begünstigte, ja erforderte die Entstehung und enorme Ausbreitung der Vereinsform.
5 5.1
Soziale Gruppenbildungen im Bereich des politischen Systems Die „alten" Kräfte: Hof, Adel, Bürokratie und Armee
W i e im alten Absolutismus war der Hof auch im Neoabsolutismus wichtigstes gesamtstaatliches Entscheidungszentrum. Auch nach dem Wiederbeginn konstitutioneller Zustände 1860/67 (Oktoberdiplom 1860, Februarpatent 1861, Dezemberverfassung 1867) blieb der Hof unverhältnismäßig bedeutend. Denn bis z u m Ende der Monarchie behielt der Monarch eine Reihe wichtiger Entscheidungsmöglichkeiten: das Recht der Kriegserklärung und die Kommandogewalt über die gemeinsame Armee auf der Ebene der Gesamtmonarchie, in beiden Teilstaaten die Ernennung der Regierungen und damit letztlich auch die Hoheit über die Verwaltung, in „Österreich" (Zisleithanien) das Mitwirkungsrecht bei der Gesetzgebung in Form der rechtsnotwendigen Sanktion aller vom Reichsrat und den Landtagen verabschiedeten Gesetze, ein provisorisches Gesetzgebungsrecht im Rahmen des § 14 des Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretung von 1867, die Einberufung und Auflösung der parlamentarischen Körperschaften, das Recht der Adelserhebung und der Ernennung zum Mitglied des Herrenhauses des Reichsrates. Berücksichtigt man diese große Machtfülle, dann blieb die Position des M o n a r c h e n im politischen System zentral. Die große gesellschaftliche Bedeutung der Hofkreise konnte schon aus diesem G r u n d bis z u m Ende der Monarchie fortbestehen. Die Zusammensetzung der Hofgesellschaft blieb traditionell. N e b e n der kaiserlichen Familie bestand sie aus den hoffähigen Geschlechtern, den „ h u n d e r t Familien" fürstlichen und allenfalls gräflichen Ranges, die schon seit Generationen den Habsburgern treu gedient hatten. „Diese ganze, auch an Zahl sehr bedeutende Adelskette, deren Häupter bei allen politischen und zeremoniellen wichtigen Anlässen u n d Festen
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den Glanz des Hofes und den innersten, die Kaiserfamilie umgebenden Ring darstellten, schloss den Herrscher und seine Familie vollständig von allen anderen Gesellschaftskreisen und Gruppen Wiens und des Reiches überhaupt ab [...]" (Joseph Redlich). Dadurch erhielten sich nicht bloß überkommene Strukturen, sondern auch eine etwas veraltete Geistigkeit, eine prinzipielle Fremdheit gegenüber allen neueren geistigen Strömungen wie Liberalismus oder gar Demokratie. Die am Hofe nach wie vor besonders betonte patriarchalische Stellung des Monarchen gegenüber der habsburgischen Familie konnte zu schweren Konflikten führen, wenn einzelne Mitglieder des Hauses entgegen den höfischen Gepflogenheiten sich allzu intensiv mit der modernen Geisteswelt einließen, wie das bei Erzherzog Johann Salvator („Johann Orth") und beim Kronprinzen Rudolf in tragischer Weise zum Ausdruck kam. Die politisch-sozialen Einflussmöglichkeiten des Adels, aber auch ein zum Teil sehr erhebliches ökonomisches Gewicht bestanden nach 1848 bzw. 1861 (bzw. 1867) weiter. In den Kurien des Großgrundbesitzes in den Landtagen und im Reichsrat sowie durch die Position der Häupter einer ganzen Reihe der großen alten Familien im Herrenhaus (dem Oberhaus des Parlamentes) hatte der „landtäfliche" (früher: landständische) Besitz eine starke politische Vertretung, gemeinsam mit geadelten bürgerlichen Unternehmern und Gutsbesitzern. Die „zweite" Gesellschaft, im Vormärz entstanden und meist mit Adelstiteln ausgestattet, galt dem „echten" Adel nur im Falle äußerster finanzieller Not als ebenbürtig. Als integrierender Faktor für die Monarchie müssen aber diese neu geadelten Beamten, Offiziere, Bankiers und Industriellen sicher besonders hervorgehoben werden. Zwischen 1849 und 1914 erfolgten in Zisleithanien mehr als 5700 Erhebungen in den einfachen Adel, Ritter- oder Freiherrenstand. Noch größer waren die Zahlen der Erhebungen in den ungarischen Adel. Auch wenn dieser neue Adel vom alten nur mit Naserümpfen kommentiert wurde, weist allein das Streben nach Adelsverleihung bei vielen bürgerlichen Menschen doch auf die enge mentale Verbindung mit der Monarchie hin. Zahlreiche neue Adelige kamen aus der Bürokratie (zwischen 1868 und 1884 waren es allein 587, häufig nach der Verleihung gewisser Orden). Hinsichtlich der integrativen Funktion der (niederen) Beamtenschaft wurden seitens der Hochbürokratie verschiedentlich Zweifel geäußert. Vereinsverbote, Strafversetzungen und Zwangspensionierungen wegen abweichender Meinungen von subalternen Beamten kamen vor. Der niederösterreichische Statthalter Graf Kielmansegg gab sogar einen „Maulkorberlass" heraus, der öffentliche Diskussionen der Beamten einschränken sollte. Höhere Beamte (Statthalterpositionen blieben im Allgemeinen dem Hochadel vorbehalten!) verharrten hingegen zweifellos in den überkommenen Haltungen. Schwierig ist auch die integrative Funktion der Armee einzuschätzen. Ihr Auftreten als Assistenztruppe in polizeilicher Funktion bei Arbeiterprotesten oder nationalen Demonstrationen konnte durchaus desintegrative Folgen zeitigen. Andererseits wird die Verallgemeinerung der Wehrpflicht seit 1868 — wo-
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durch nun tatsächlich der allergrößte Teil der jungen Männer im weiten Bereich der Monarchie für drei bis vier Jahre des „Kaisers Rock" anziehen musste — durchaus integrativ gewirkt haben. Gerade in den hoch agrarischen, industriell kaum entwickelten Gebieten Galiziens und vielleicht auch Bosniens war diese Funktion stärker wirksam als in den industrialisierten Gebieten. Diese integrative Funktion der Armee konnte allerdings seit 1867 einen Patriotismus allein auf die Person des Kaisers hin entwickeln helfen — denn das einheitliche Reich existierte seit diesem Zeitpunkt ja nicht mehr, wenngleich es weiterhin noch eine einheitliche Armee gab. Freilich existierten neben der k. u. k. gemeinsamen Armee noch die ungarischen Honvéd und, analog dazu gebildet, die k. k. Landwehr für den zisleithanischen Bereich. Offizierskorps und diplomatischer Dienst (denn auch die Außenpolitik blieb nach 1867 gemeinsam), zu einem guten Teil aus der Hofaristokratie rekrutiert, blieben Träger eines habsburgisch-österreichischen Reichsgedankens, dessen soziale Basis ansonsten zunehmend schmäler wurde.
5.2 5.2.1
Die „neuen" Kräfte: Parlamentarische Körperschaften und Parteien Die Mitgliedschaft in den Landtagen und im Reichsrat
Die Mitgliedschaft in, aber auch die Wahlmöglichkeiten für die Landtage und den Reichsrat (wie das Parlament Zisleithaniens bis 1918 hieß) spiegelt feudale und absolutistische Strukturelemente der altösterreichischen Gesellschaft wider, ebenso wie das Vordringen und die vorübergehende Machtstellung des Großbürgertums („Besitz und Bildung") und zuletzt die Vorherrschaft der neuen gesellschaftlichen Mächte, der Nationen und klassenmäßig bzw. weltanschaulich orientierten Massenparteien. Der Reichsrat bestand aus zwei gleichberechtigten Häusern, dem Herrenund dem Abgeordnetenhaus. Nur durch übereinstimmende Beschlüsse beider Häuser konnten Gesetze zustande kommen — die dann noch der kaiserlichen Sanktion bedurften, um in Kraft treten zu können. Das Herrenhaus ist Ausdruck der monarchisch-absolutistischen ebenso wie der feudalen Komponente der Gesellschaft. Mitglieder waren die großjährigen Prinzen des kaiserlichen Hauses, die Chefs der hochadeligen Häuser mit erblicher Mitgliedschaft (im Wesentlichen die Häupter der schon genannten „hundert Familien"), die Erzbischöfe und Bischöfe mit fürstlichem Rang (von Wien, Seckau, Gurk, Trient, Brixen u. a.), ferner die vom Kaiser auf Lebenszeit (über Vorschlag der Regierung) ernannten Mitglieder — österreichische Staatsbürger, die sich um Staat und Kirche, Wissenschaft und Kunst verdient gemacht hatten. Dazu gehörten hohe Beamte und Wissenschaftler (wie Theodor von Karajan, Theodor von Sickel oder Theodor Gomperz), Literaten (wie Franz Grillparzer oder Anastasius Grün), Bankiers und Industrielle wie Rudolf Sieghart, Emil Skoda oder Max Mauthner. Das Herrenhaus repräsentierte also die Spitzen der Gesellschaft, primär die höfisch-aristokratischen, aber auch die bürgerlichen.
Soziale Gruppenbildungen im Bereich des politischen Systems
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Das Abgeordnetenhaus wurde hingegen über Wahlvorgänge zusammengesetzt. Bis 1873 war es im Wesentlichen eine von den Landtagen beschickte Delegiertenversammlung. Seit der Direktwahl in den Reichsrat (1873) entwikkelte sich das Reichsratswahlrecht aber getrennt von dem der Landtage — im Allgemeinen übernahm es jetzt eine gewisse Vorreiterfunktion im Hinblick auf die Ausweitung des Wahlrechtes. Als Kurienparlament war das Abgeordnetenhaus zunächst ein Kompromiss zwischen ständischen Traditionen und den Forderungen des Bürgertums. Die alte Adelskurie wurde zur Kurie des Großgrundbesitzes, die Vertretung der Städte und Märkte zur Städtekurie, die Landgemeinden erhielten jetzt ebenfalls eine allgemeine Vertretung, sofern ihre Bewohner nur einen gewissen Steuerzensus erreichten. Die ehemalige Prälatenkurie erschien auf wenige Virilstimmen (meist der jeweilige Landesbischof) geschrumpft. 1873 wurde das Abgeordnetenhaus auf 353 Abgeordnete erweitert und seither direkt gewählt (also nicht mehr von den Landtagen delegiert). 85 Abgeordnete vertraten den Großgrundbesitz, 21 kamen aus der 1868 neu installierten Kurie der Handelskammern, 118 von den Städten und Industrialorten, 129 aus den Landgemeinden. Städtische und Handelskammerkurie im Bündnis mit einem bürgerlich-liberalen („verfassungstreuen") Teil des Großgrundbesitzes waren Domänen des bis 1879 herrschenden deutschen Liberalismus. Der Zensus in den Kurien der Stadt- und Landgemeinden war im Allgemeinen relativ — wählen durften die oberen zwei Drittel der Gemeinde-Wahlberechtigten, also der zu einer direkten Steuer (z.B. Grundsteuer, Einkommensteuer) Verpflichteten. Doch waren Alle, die 10 Gulden oder mehr and Steuern zahlten, jedenfalls wahlberechtigt. In einigen Städten (wie Wien) herrschte freilich ein absoluter Zensus. 1882 wurde der Zensus in den Stadt- und Landgemeinden gesenkt (auf 5 Gulden jährliche Steuerleistung, daher „Fünf-Gulden-Männer"), 1896 eine fünfte, allgemeine Wählerklasse geschaffen, in der alle männlichen großjährigen, wirtschaftlich Selbständigen (also hausrechtlich nicht abhängigen) Personen wahlberechtigt waren. 1906 folgte schließlich das allgemeine Männerwahlrecht. Konnte das Abgeordnetenhaus von 1873, abgesehen von einigen bäuerlichen Abgeordneten, als eine Versammlung von Großgrundbesitzern, Juristen, einigen Geistlichen sowie den wichtigsten Aufsichtsräten und Aktionären der österreichischen Großindustrie und Hochfinanz gelten, so sah das Abgeordnetenhaus von 1907— mit 514 Abgeordneten — völlig anders aus: Die größte Berufsgruppe war jetzt die der Landwirte (129), nunmehr ganz überwiegend Bauern (und nur mehr wenige Gutsbesitzer). Immer noch war die zweitstärkste Berufsgruppe jene der Freiberufler (Rechtsanwälte, Notare, Ärzte, Redakteure, Ingenieure) mit 127 Vertretern. Zählt man zu dieser Gruppe, was nach dem damaligen Selbstverständnis wohl zulässig wäre, noch die 22 Hochschulprofessoren und Dozenten, wäre diese die bürgerliche „Bildung" repräsentierende Gruppe mit 149 Abgeordneten überhaupt die stärkste gewesen. Zukunftsträchtig erscheint die große Bedeutung von öffentlichen Beamten (57) und von Angestellten (55). Die starke Präsenz von Geistlichen (38) verweist nicht nur auf die
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politische Mobilisierung des Katholizismus seit den 1870er Jahren, sondern auch auf die Bedeutung von Geistlichen für die nationale Bewusstseinsbildung, vor allem bei einigen nichtdeutschen Nationalitäten. Bildete man aus Industriellen, größeren Handels- und Gewerbetreibenden, Realitätenbesitzern und „Privatiers" (alles Leute, die irgendwie von Kapitalerträgen bzw. von Unternehmertätigkeit lebten) eine Gruppe von „Kapitalisten", dann hätte sie bloß 44 Mitglieder — gegenüber der eindeutigen Dominanz des Besitzbürgertums im alten Kurienparlament ein klarer Abstieg. Nach wie vor erheblich unterrepräsentiert waren kleine Gewerbetreibende, Handwerker und Arbeiter: Acht Kleingew e r b e und drei Arbeiter verwiesen darauf, dass die diese Klassen vertretenden Parteien der Christlichsozialen bzw. Sozialdemokraten ihre Abgeordneten aus etwas anderen Gruppen rekrutierten als ihre Wähler. Traditionell war politische Berechtigung mit hausväterlicher Position gekoppelt gewesen. Der Beginn „moderner" politischer Berechtigung zeigt in Österreich noch sehr viele Reste solcher altständischer Kriterien für politische Berechtigung: Menschen in Abhängigkeit von einem „Hausvater" waren vom Wahlrecht ausgeschlossen. Das galt für Dienstboten ebenso wie für Frauen, die ja noch unter patriarchalischer Kuratel stehend gedacht wurden. Andererseits durften Frauen, die entsprechenden Besitz und Steuerleistung aufwiesen, ebenfalls wählen, konnten ihr Wahlrecht aber nicht selbst ausüben, sondern nur durch einen männlichen Vertreter. Erhöhte Freisetzung aus hausväterlicher Abhängigkeit in Zusammenhang mit nationaler und Klassenkonstituierung, aber auch politische Verschiebungen — so verloren 1878 die Liberalen auch wegen ihrer Gegnerschaft gegen die Okkupation Bosniens und der Herzegowina die kaiserliche Gunst — führten zu langsamer Ausweitung des Wahlrechtes. Noch 1906 wurde daran festgehalten, dass Leistung für den Staat und politische Berechtigung miteinander zu tun habe: Da Deutsche und Italiener überdurchschnittlich hohe Steuerleistungen aufwiesen, erhielten sie überproportional viele Mandate zugestanden, die Ukrainer verhältnismäßig am wenigsten. Je weiter das Wahlrecht wurde, desto weniger war die enge, allenfalls über lockere Wahlkomitees vermittelte Bindung von Wählern und Abgeordneten aufrechtzuerhalten. Massenhafte politische Beteiligung erforderte neue Organisationsformen — die Parteien. 5.2.2
Die politischen Parteien
5.2.2.1 Die Honoratiorenparteien Die älteren Honoratiorenparteien traten zunächst einmal als „Club" — einer sehr losen Organisationsform — im Reichsrat bzw. Landtag in Erscheinung, zu Wahlzeiten als Wahlkomitees, hinter denen öfter bestimmte Vereine standen. Einen stabilen, festgefügten Parteiapparat gab es nicht. Das war auch deshalb nicht nötig, weil die Honoratiorenparteien keine Integrations-, sondern Interessenvertretungsparteien waren: Die verschiedenen Spielarten der Liberalen ver-
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traten das finanziell und industriell engagierte Bürgertum, die freien Berufe und die Wissenschaft sowie den kapitalistisch orientierten Teil des Großgrundbesitzes. Die Konservativen vertraten den übrigen Großgrundbesitz und allenfalls gewisse (größere) Bauern, daneben die Interessen der katholischen Kirche. Die Liberalen Die diversen Gruppierungen des deutschen Liberalismus waren bis 1896 die relativ stärkste parlamentarische Macht. Bis 1879 stellten sie die Mehrheit. Sie traten im Zeitverlauf, aber auch auf Grund ihrer Neigung zu inneren Zwistigkeiten, in unterschiedlichen Formen auf, die von dem Sozialwissenschaftler und Staatstheoretiker Ludwig Gumplowicz boshaft, aber nicht unzutreffend, folgendermaßen charakterisiert wurden: „[...] Es ist diejenige (Partei), die zur Zeit, als sie Schmerlings Rechte war, sich die Linke nannte (in den sechziger Jahren) und die dann, als sie der selbstgeschaffenen 1867er Verfassung untreu wurde, indem sie dieselbe durch die Aprilverfassung 1873 umgestaltete, sich die,Verfassungstreue' nannte (in den siebziger Jahren), die sodann, als sie in eine Anzahl einander bekämpfender Fraktionen zerfiel, sich die,Vereinigte Linke' nannte (in den achtziger Jahren), und als sie schließlich als eine rückschrittliche Kapitalisten-Garde entlarvt wurde, sich als die ,deutsch-fortschrittliche' bezeichnete [...]" Ihre relativ lange Vorherrschaft (1861 - 1879) war mehr dem Wahlrecht zuzuschreiben als numerischer Stärke. Tatsächlich waren die liberalen Bürger in jeder Hinsicht eine Minderheit: Das musste zu einer Machtverlagerung auf Bauern, Kleinbürger und Arbeiter führen, falls der Prozess der Parlamentarisierung und Demofcrat/s/erungweiterging. Die bürgerlichen Liberalen hatten aber nicht bloß beschränkte Interessen an Fortschritten in Richtung Demokratie. Sie blieben auch immer streng zentralistisch und auf die Vorherrschaft der und des Deutschen fixiert und waren daher in keiner Weise imstande, die nationalen Probleme zu lösen. Dazu trug wahrscheinlich bei, dass ihre wichtigsten Vertreter immer aus Deutschböhmen und Mähren kamen: Für die Deutschen der Sudetenländer war der Zentralismus das wichtigste Gegengewicht gegen die Autonomieforderungen der Tschechen, deren Erfüllung für die Deutschböhmen und Deutschmährer automatisch eine Minderheitenposition mit sich gebracht hätte — eine Vorstellung, die für diese recht selbstbewussten Gruppierungen unerträglich war. Der politische Liberalismus war ferner die politische Heimstätte des wirtschaftlich aufstrebenden, emanzipierten und assimilationsbereiten Judentums. Das führte, als Folge der immer engeren Verbindung von Antisemitismus und Nationalismus (fast jeder Spielart!), dazu, dass die deutschen Liberalen entweder als „Judenliberale" verhöhnt wurden oder als zunehmend selbst nationalistische Gruppierung sich sukzessive von ihren jüdischen Mitstreitern trennten. Als die beiden jüdischen Wiener Abgeordneten Hock und Kuranda 1907 bei der Konstituierung des Deutschen Fortschrittsklubs nicht mehr als Mitglieder
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aufgenommen wurden, bedeutete dies die Preisgabe zentraler liberaler Standpunkte. Bald darauf ging dieser Liberalismus, der sich noch in der Konkurrenz der Massenparteien zu behaupten suchte, völlig im Deutschnationalismus auf. Dass der Liberalismus in den letzten Jahrzehnten der Monarchie politische Grundhaltung fast aller Wissenschaftler, Unternehmer, Industriellen, Journalisten, Künstler, Rechtsanwälte (und übrigens, in josephinischer Einfärbung, auch der Hochbürokratie) war, sollte darüber freilich nicht vergessen werden; ebenso wenig, dass die kurze liberale Ära durch die in den Staatsgrundgesetzen von 1867 festgelegte Kodifizierung der bürgerlichen Grundrechte einen großen Teil jener staatsbürgerlichen Freiheiten schuf, die bis heute zentraler Bestandteil der österreichischen Rechtsordnung geblieben sind. Die Konservativen Die älteren Konservativen rekrutierten sich überwiegend aus der Aristokratie, zum Teil aus dem Klerus und aus der Bauernschaft. Sie vertraten zunächst die Meinung, dass ein Zentralparlament unnütz sei — soweit nicht sowieso der Herrscher zu entscheiden habe, seien die Landtage zur Beratung des Herrschers berufen. Die ersten Perioden parlamentarischer Arbeit scheinen sie ziemlich verschlafen zu haben. Munter wurden sie erst durch das Reichsvolksschulgesetz von 1869, das der Kirche die Schulaufsicht entwand, und durch die Kirchengesetzgebung (Kündigung des Konkordates). Nun wurden Volksund Pressvereine gegründet (ab 1869), die auf der Ebene der Länder bzw. Diözesen unter weidlicher Ausnützung des katholischen Pfarrnetzes eine breite antiliberale Mobilisierung einleiteten. Damit schuf man eine außerhalb Wiens recht wirkungsvolle regionale Presse in Form von Tages- und Wochenzeitungen, die sich in der Meinungsbildung für das „flache Land" gegenüber den liberalen Blättern gut behaupten, teilweise auch voll durchsetzen konnte. Wenigstens teilweise aus dieser Organisationswelle, aber zum Teil in Opposition gegen den aristokratischen Konservativismus, bildete sich seit den 1880er Jahren der jüngere Konservativismus der Alpenländer heraus, dessen Führer die Brüder Georg und Matthias Lienbacher in Salzburg, Alfred Ebenhoch in Oberösterreich und Amilian Schöpfer in Tirol wurden. Hier zeichnet sich schon der Übergang zur Massenorganisation ab: In Oberösterreich und Salzburg gelang dieser Übergang, auch in der Steiermark wurde 1899 der katholisch-konservative Bauernbund Hagenhofers noch unter diesen Vorzeichen gegründet. Dagegen wurden die Konservativen in Niederösterreich (und Vorarlberg) in aller Stille, in Tirol, wo sich Schöpfer schließlich in Opposition zur bischöflich dominierten Gruppe der Altkonservativen befand, in heftigen Kämpfen von den Christlichsozialen verdrängt. Erst danach und nach der Stabilisierung des Besitzstandes der beiden katholischen Parteien haben sich Katholisch-Konservative und Christlichsoziale 1907 zu einem gemeinsamen Parlamentsklub vereinigt. Damit sind wir aber schon bei dem Phänomen der Massenparteien.
Soziale Cruppenbildungen im Bereich des politischen Systems
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5.2.2.2 D i e Massenparteien Klassenbildung und Formierung politischer Parteien Die oben (S. 324 ff.) diskutierten Prozesse der Klassenbildung hatten zweifellos Auswirkungen auf das politische Verhalten und auf die politische Organisationsweise. Aber die neuen Klassen und die neue Parteienlandschaft stimmen nur zum Teil überein. Zwar lässt sich wenigstens die Arbeiterschaft überwiegend als „sozialdemokratisches Lager" zusammenfassen. Aber auch das stimmt nicht ganz. So waren die Arbeiter des hochindustrialisierten Vorarlberg überwiegend nichtsozialdemokratisch organisiert. Noch schwieriger wird es bei den verschiedenen „bürgerlichen" Schichten, die sich teils liberal, teils (deutsch)national, teils auch christlichsozial orientierten. Klassenbildung erfolgt unter umfassender Mobilisierung von Wünschen, Ängsten, Sehnsüchten. Dabei macht sich die Auflösung älterer, stärker verbindlicher Denk- und Verhaltensmuster bemerkbar. Schon im 18. Jahrhundert war ein erster, im 19. Jahrhundert noch verstärkter Schub an Säkularisierung festzustellen. Seit dem Josephinismus erscheint die österreichische Form des Katholizismus auf ein dürres und selbst wesentlich diesseitiges Pflichtethos reduziert. Damit leistete die größte und wichtigste Kirche Österreichs zur Erklärung und Bewältigung der veränderten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation für die davon Betroffenen nichts oder wenig. Weder der unternehmerische Bürger noch der Arbeiter konnte sich in den hier angebotenen Erklärungsmustern wiederfinden. Die Reaktion der katholischen Kirche auf die geänderte, bis um 1880 kapitalistisch gewordene Welt erschöpfte sich darin, für die Bürger Kirchenmusik- und Leichenbestattungsvereine, für die bürgerlichen und adeligen Damen Vereine für karitative Tätigkeiten und für die Arbeiter Kolping-Vereine anzubieten, die aber ganz dem älteren Modell des Gesellenvereins verhaftet blieben. Die angebotenen Rezepte einer Wiederherstellung der patriarchalischen Welt hatten für die industrielle Welt daher wenig Werbewirksamkeit. Anders für die Bauern. Die josephinische Pfarrvermehrung und die häufige weitgehende Identität von Pfarrsprengel und — neuer — politischer Gemeinde (seit 1862) begünstigten eine politische Mobilisierung unter katholischen Vorzeichen. Bei vorherrschendem Familienbetrieb (der in der Krise durch die Reduktion der Dienstbotenzahl noch stärker hervortrat) hatte die paternalistische Weltinterpretation ihren guten Sinn. Der Kampf des Klerus gegen die Schulgesetze von 1869 konnte die Bauern mobilisieren, denen die achtjährige Schulpflicht die Arbeitskraft ihrer größeren Kinder wegnahm. Aber auch Wucher, Verschuldung, Zwangsversteigerungen, Grundzerstückelungen schienen aus den ungläubigen Städten und von dem dort herrschenden Kapitalismus zu kommen. Personifiziert wurde diese Bedrohung in der Figur des wucherischen Juden. Antikapitalismus konnte daher, falls man die Frage nach den Ursachen für die starke Präsenz von Juden im Handels- und Finanzleben mit dem Hinweis auf den angeborenen jüdischen Charakter beantwortete (der nun seinerseits den
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Kapitalismus hervorgebracht hätte), in der Verkleidung des Antisemitismus erscheinen—was zugleich dem stark spürbaren Wunsch nach Erklärung vermittels Personifizierung entsprach, ebenso wie dem Wunsch nach klarer Identifizierung von „Schuldigen". Ähnlich wird man die Situation der Kleingewerbetreibenden beurteilen können. Die rasche Auflösung einer Welt, in welcher der Handwerker seine „Nahrung" suchte und irgendwie auch fand, irritierte. Das liberale Denkmodell, wonach die Gesellschaftsentwicklung eben ein Ausleseprozess sei, vermittelt durch Konkurrenzverhältnisse, konnte gerade in diesen Kreisen auf wenig Gegenliebe stoßen, denn dies zu akzeptieren hieß ja, das Verschwinden zahlreicher kleiner Selbständiger als „natürliche" Notwendigkeit anzunehmen. Die Empfindung einer allgemeinen Bedrohung des Kleingewerbes durch den Kapitalismus war besonders seit der Krise von 1873 weit verbreitet. Dagegen bildete sich eine handwerkliche Bewegung (Gewerbetagsbewegung), die schließlich überwiegend in der Christlichsozialen Partei münden sollte. Im Verein mit der konservativen Regierung Taaffe gelang es der kleingewerblichen Bewegung, 1883 eine Revision der Gewerbeordnung (Einführung des Befähigungsnachweises, Stärkung der als Nachfolgeeinrichtung der alten „Innungen" seit 1859 nur auf Freiwilligkeit basierenden „Genossenschaften") durchzusetzen. Auch d\e Sozialgesetzgebungen 1887/1888 (Krankenversicherung 1888 und Unfallversicherung für bestimmte Arbeiterkategorien 1887) sollte durch ihre Begrenzung auf die Industrie die Konkurrenzfähigkeit des Kleingewerbes erhöhen. Der Einbruch des Fremden in die gewohnte Welt, verbunden mit zahlreichen verwirrenden Neuerungen, verlieh daher der Klassenbildung bei Bauern und Kleingewerben defensive Züge — defensiv gegen die expansiven Kräfte des Kapitalismus und des Sozialismus, dessen schließlicher Sieg aus dem Wachstum des ersteren logisch hervorzugehen schien. Der zentrale gesellschaftliche Begriff, der dabei verwendet wurde, war der „Stand". Die Vorstellung einer Gliederung der Gesellschaft nach Ständen signalisierte Beharrung und Stabilität. Selbstverständlich war eine solche Gesellschaft nach der Verteilung von Chancen und Reichtümern ungleich, aber sie sicherte — so die etwas romantisierende Vorstellung — allen Mitgliedern Erwerb und Nahrung. Besonders bevorzugt war der Begriff des „Mittelstandes", der die Vorstellung einer Positionierung in der „Mitte" der Gesellschaft implizierte, gleich weit von den „oberen" wie den „unteren" Ständen entfernt. Nur ein starker Mittelstand würde auch die Stabilität der Gesellschaft garantieren und die gefährliche Zuspitzung auf eine Zweiklassengesellschaft von besitzenden Kapitalisten und eigentumslosen Proletariern verhindern. Die defensive Klassenbildung konnte sich aber mit unterschiedlichen Ideologien verbinden. Ging das Wiener Kleingewerbe zum ganz überwiegenden Teil in den Christlichsozialen auf, deren phänomenaler Aufstieg an die kleingewerbliche Agitation der frühen 1880er Jahre anschloss, so wurden die Kleingewerbler in der „Provinz" ebenso wie die meisten Lehrer, Journalisten, Akademiker und Freiberufler später deutschnational (wir sprechen jetzt nur von den Gebieten des heutigen Österreich). Es trug zu diesem Unterschied
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bei, dass in Wien zahlreiche Handwerker tschechischer Herkunft waren, so dass sie, trotz rascher Assimilation (besonders in den Zeiten vor 1890), kaum an einer deutschnationalen Integrationsideologie teilhaben konnten. Außerdem begann sich insbesondere in Wien (und Niederösterreich) eine neue Generation von jüngeren Geistlichen nun wesentlich intensiver mit sozialen Problemen auseinander zu setzen. Untersuchungen über die Lage von Kleingewerben und Arbeitern, wie sie von dem konservativen Gesellschaftstheoretiker Carl von Vogelsang (1819 - 1890) ausgingen, führten zur Ausarbeitung diverser Rezepturen, die Emanzipation und Demokratie (durch Genossenschaftsorganisation und Wahlrechtserweiterung) mit dem Wunsch nach mehr Staat (durch Zoll- und Gewerbeschutz, Bauernschutz), nach mehr Polizeimaßnahmen (gegen renitente Dienstboten und Arbeiter) und mehr Patriarchalismus (durch die Forderung nach schärferen Dienstbotenordnungen und nach verminderter Mobilität von Grund und Boden) vereinten. Diese höchst interessante ideologische Mischung wurde zusammengehalten durch die ebenso simple wie erfolgsträchtige Konstruktion von Feindbildern, von denen der J u d e " das bedeutsamste war. Alles dies scheint für die Mehrzahl der Bauern ebenso überzeugend gewesen zu sein wie für den Großteil des Wiener Kleinbürgertums. Damit ging hier eine gewisse„Rekatholisierung"einher, die Antiliberalismus, Antisemitismus und Antimarxismus ebenso in sich vereinigte wie Forderungen nach Wiedererweckung (berufs-)ständischer Einrichtungen. Die enge Bindung zwischen katholischer Kirche (insbesondere deren niederer Klerus) und Christlichsozialer Partei (s. S. 339) ersparte der Letzteren den Aufbau einer eigenen Basisorganisation, behinderte dabei aber auf lange Sicht die Entwicklung einer von der Kirche unabhängigen politischen Identität. Die defensive Klassenbildung des überwiegenden Teiles des „Provinz-"(Klein-)Bürgertumsmuss anders abgelaufen sein. Einesteils blieb sicher in vielen Landstädten das Leben gemächlicher und langsamer: Damit wurde wohl auch der behäbige und etwas triviale bürgerliche Liberalismus dieser Städte, gemischt aus Aufklärung, Erinnerung an Joseph II. und 1848, mäßigem Fortschrittsglauben, deutschem Kulturbewusstsein, Staatstreue und Antiklerikalismus, weniger irritiert als der kleinbürgerliche Liberalismus Wiens. Als diese liberale Selbstsicherheit schließlich doch stärker erschüttert wurde, beeindruckte offensichtlich der Aufstieg und das Emanzipationsstreben der nichtdeutschen Nationen der Habsburgermonarchie das kleine Bürgertum in Salzburg, Kärnten, Steiermark und Oberösterreich mehr als die Ausbreitung des Kapitalismus und der sozialdemokratischen Arbeiterschaft. Da diese wachsende Emanzipation der slawischen Völker als „Verdienst" der katholischen Kirche und des katholischen Klerus interpretiert wurde, erhielt der traditionelle liberale Antiklerikalismus gerade im Zuge der Formierung nationalistischer Strömungen kräftige neue Nahrung. Defensive (klein-)bürgerliche Klassenbildung erscheint in Städten wie Graz daher eng verbunden mit der Herausbildung eines gegenüber den aufstrebenden slawischen Nationen ebenfalls defensiven, antikatholischen deutschen Nationalismus. Das mittlere und kleinere Bürgertum außerhalb von Wien gehörte
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seit den späten 1880er Jahren überwiegend zu den Anhängern der verschiedenen deutschnational-liberalen Parteien. Die Klassenbildung der Arbeiterschaft konnte mental stärker auf den Liberalismus zurückgreifen, nur zum kleinsten Teil auf traditionale, kirchlich-religiös geprägte Verhaltensformen (vielleicht auf religiöse Bräuche im Rahmen der Zünfte oder im Bergbau). Wissenschaftsgläubigkeit und aufklärerisches Fortschrittspathos hatten die frühen Arbeiterbildungsvereine mit den bürgerlichliberalen Organisationen gemein. Mit jenem Pathos konnte sich sehr leicht ein Zukunftsglaube verbinden, der aus der raschen Zunahme proletarischer Existenzen den gar nicht so fernen Sieg der Arbeiterschaft über den Kapitalismus deduzieren konnte. Besonders aufgeladen wurde dieser Zukunftsglaube durch quasi-messianische Hoffnungen, die seit dem Mittelalter immer wieder bemerkbar sind und die Rettung der Welt durch die besonders Unterdrückten erwarten. Bestärkt wurde diese Weltsicht durch trivialisierte marxistische Positionen, in denen das Proletariat ebenfalls nicht bloß als logischer, sondern auch als moralisch besonders qualifizierter Sieger im Kampf der Klassen dargestellt wurde. Derartige Hoffnungen (oder, von außen gesehen, Befürchtungen) waren damals inner- und außerhalb der Arbeiterbewegung nicht selten. Auch der liberale Wiener Publizist Ferdinand Kürnberger äußerte sich in dieser Richtung, beeindruckt durch die gewaltigen Massenaufmärsche von Arbeitern um 1870; er vernahm hier „[...] jenen strammen, feinen, sicheren Schritt, welcher für jeden Geschichtskenner das Kennzeichen ist: Mit diesem Schritt tritt ein Herrscher auf die Weltbühne." Stellt man diese „offensive" Klassenbildung der „defensiven" im bäuerlich-kleingewerblichen Bereich gegenüber, so vermag dies vermutlich einige Eigenheiten der österreichischen Lagerbildung zu erklären. Damit könnte auch erklärt werden, dass insbesondere das „dritte" Lager so lange nicht voll konstituiert war, als die Balance zwischen Liberalismus und Nationalismus nicht zugunsten des Letzteren entschieden war. Die Massenparteien, die je nach primärer Zielsetzung als Klassen- oder auch als Integrationsparteien auftreten, entstammen in Österreich eigentlich allesamt einer demokratisch-liberalen Opposition gegen den herrschenden elitären Liberalismus, ausgedrückt im sog. „Linzer Programm" (1882), an dessen Ausarbeitung u. a. der deutschnationale Georg von Schönerer, der (spätere) Christlichsoziale Robert Pattai, die (späteren) Sozialdemokraten Viktor Adler und Engelbert Pernerstorfer und der dem jüngeren, deutschnational orientierten Liberalismus nahe stehende Historiker Heinrich Friedjung beteiligt waren. Demokratische und soziale Züge (Forderung nach Wahlrechtserweiterung und Sozialgesetzgebung) treten hier neben nationalistischen (Forderung nach Zollunion mit Deutschland) auf.
Soziale Gruppenbildungen im Bereich des politischen Systems
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Die Deutschnationalen Die Deutschnationalen lösten seit den 1880er Jahren sukzessive den Liberalismus als herrschende politische Orientierung des deutschösterreichischen Bürgertums ab. Mit diesem hatten sie nicht nur das soziale Rekrutierungsfeld, sondern auch bestimmte ideologische Haltungen, zumal Antiklerikalismus, gemeinsam, ferner die Neigung zu stärkerer parteimäßiger Aufspaltung. Der in Studenten- und Akademikerkreisen äußerst populäre Georg von Schönerer verstand es auf Grund seiner doktrinären Hohenzollernverehrung und Habsburg-Ablehnung nicht, die Mehrheit der dem Habsburgerstaat im Allgemeinen ja doch loyal gegenüberstehenden Deutschnationalen für sich zu gewinnen. 1911 verbanden sich mehrere deutschnationale Gruppierungen zu einem „Deutschen Nationalverband", der die größte Fraktion im Abgeordnetenhaus bildete. Damals gab es sechs deutschnationale Parteien: die kleine, aber extreme Deutsche Arbeiterpartei (eine Vorläuferpartei der späteren NSDAP), Schönerers Alldeutsche (ebenfalls klein und extrem), die Deutsche Volkspartei als größte und — nach der sozialen Rekrutierung — kleinbürgerliche Fraktion, die Deutsche Agrarpartei, die im Wesentlichen die Agrarier in den Sudetenländern und in Kärnten ansprach, und die Deutsche Fortschrittspartei, eher liberal und großbürgerlich orientiert, während die Deutschradikalen eine nicht ganz so radikale Gruppierung wie die Alldeutschen Schönerers darstellten. Erfolgreich waren alle diese Gruppen in den Sudetenländern, daneben in der Steiermark und Kärnten, aber auch in Wien. Antisemitismus und das Beharren auf der Vorrangstellung der (und des) Deutschen in der österreichischen Reichshälfte kennzeichnete alle deutschnationalen Parteien. Ihr Wahlerfolg von 1911 zeigt, dass knapp vor dem Ersten Weltkrieg das Argument der nationalen Identifikation für das Wahlverhalten noch an Gewicht gewonnen hat.
Die Christlichsozialen Die Christlichsozialen entstanden als Massenbewegung aus der Wiener Handwerkerbewegung der 1880er Jahre (Christlichsozialer Verein 1887). Ihre hauptsächliche ideologische Kennzeichnung war ein durchwegs rüder Antisemitismus. Es gab in diesem Spektrum zunächst auch ein Nebeneinander von eher katholischen und eher deutschnationalen Antisemiten („Vereinigte Christen"). Der Prozess der Vereinigung von Sozialkatholizismus und kleingewerblich-städtischem Antisemitismus erfolgt zuerst über persönliche Kontakte von Leuten aus dem Vogelsang-Kreis (Ernest Schneider) mit führenden Persönlichkeiten der Kleingewerbebewegung (Pattai), der sich Karl Lueger, selbst aus dem österreichisch-patriotischen und demokratischen Flügel des Liberalismus kommend, mit feinem Gespür für Erfolg verheißende politische Kombinationen angeschlossen hat (seit 1887). Der adelig-klerikale Sozialkatholizismus Vogelsangs erhielt damit ei ne Massenbasis, die antisemitische Handwerkerbewegung so etwas wie ein Programm. Und Lueger erhielt endlich jene Gefolgschaft, die ihm bisher versagt geblieben war und der zuliebe auch er den Antisemitismus als
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Von der Revolution zum Ersten Weltkrieg
politisches Programm akzeptierte (obwohl er vorher jahrelang gemeinsam mit dem aus dem Judentum stammenden Gemeinderat Mandl zusammengearbeitet hatte). Mit dem Wahlsieg der „Vereinigten Christen" 1895 in Wien war der Durchbruch zur Massenpartei erzielt. Im selben Jahr formulierte Prälat Franz Schindler als Antwort auf konservative Vorwürfe ein Programm, in dem soziale Reformen einen zentralen, der Antisemitismus einen eher marginalen Stellenwert erhielten. Ungefähr gleichzeitig eroberten die Christlichsozialen auch das flache Land, zuerst in Niederösterreich. Die Wahlen von 1907 brachten den Christlichsozialen in Wien und Niederösterreich, Tirol, Vorarlberg und der Obersteiermark große Erfolge, während Oberösterreich, Salzburg, Mittelsteiermark von konservativen Parteien beherrscht wurden. Beide Gruppen schlossen sich zu einer Fraktion zusammen, die mit 96 (von 514) Abgeordneten die größte im Reichsrat war (bis 1911). 1911 verloren die Christlichsozialen 20 Mandate, vor allem die starke Wiener Position ging fast zur Gänze an die Sozialdemokratie und teilweise auch an deutschnationale Kandidaten verloren. Sie büßten damit ihre mittragende Rolle bei der Gestaltung einer zunehmend protektionistischen Agrarpolitik, die an den starken Lebensmittelteuerungen von 1910/1911 wenigstens teilweise schuld gewesen sein soll. Gleichzeitig waren die Wiener Christlichsozialen zu einer „bürgerlichen" (genauer: klein- und mittelbürgerlichen) Partei geworden, die zunehmend die Interessen von Hausbesitzern und Unternehmern zu berücksichtigen hatte. Die Wiener Katastrophe hatte zwei Folgen: Einerseits wurden die Christlichsozialen jetzt noch deutlicher eine Partei mit ländlicher Basis. Und zweitens trennten sich in Wien jetzt die antiklerikalen, deutschnationalen Bestandteile der alten Lueger-Koalition von den Christlichsozialen, die in Wien erst jetzt zu einer stark konfessionell gebundenen Partei wurden und freilich auch nie mehr die alte Stärke erreichen konnten. Die Sozialdemokratie Der „politische" Organisationszweig der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung lag zunächst vorzüglich in den Arbeiterbildungsvereinen, weniger in den Fach- und Unterstützungsvereinen für einzelne Branchen (obgleich es zahlreiche Querverbindungen gab). Schon 1868 hatte sich der Wiener Arbeiterbildungsverein der Ersten Internationalen angeschlossen. Auseinandersetzungen zwischen jenen Gruppen, die die Arbeiterbewegung als Teil der liberalen Partei organisieren wollten, und jenen, die für ihre Selbständigkeit, primär auf marxistischer Grundlage, eintraten, wurden auf einem ersten Parteitag zu Neudörfl im Burgenland (damals also in Ungarn und daher außer Reichweite der österreichischen Behörden!) 1874 nur notdürftig überbrückt. Zur gleichen Zeit fiel, als Folge der Krise, der Organisationsgrad und die Organisationsdichte in der Arbeiterschaft erheblich ab. Radikalisierung und die Ausbreitung anarchistischer Tendenzen (Attentat auf den Schuhfabrikanten Merstallinger 1882) führten gleichzeitig zu einer Intensivierung der polizeilichen Verfolgung.
Soziale Gruppenbildungen im Bereich des politischen Systems
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Erst ab etwa 1885 wendete sich langsam das Blatt — mit der Festigung der Konjunktur und der vollen Durchsetzung der industriellen Produktionsweise stieg auch die Organisationsbereitschaft unter den Arbeitern wieder an. Mit der Zuwendung Viktor Adlers zur Sozialdemokratie dürfte die Partei nicht nur einen organisatorisch begabten, sondern infolge seiner großen Bekanntheit zu stärkerer integrativer Tätigkeit geeigneten Mann gewonnen haben. Nach längeren Vorarbeiten kamen Delegierte aus allen österreichischen Ländern zur Jahreswende 1888/89 in Hainfeld zusammen, um die Sozialdemokratie neuerdings als einheitliche politische Bewegung zu begründen. Dabei wurde ein Kompromiss zwischen Gemäßigten und Radikalen gefunden, der ungefähr darauf hinauslief, dass die Sozialdemokratie in Hinkunft sich einer ziemlich radikalen Sprache bedienen, aber daneben eine eher pragmatische, berechenbare, auf die Durchsetzung konkreter Forderungen (Wahlrecht, Arbeitszeitverkürzung) bezogene Politik machen würde. Unmittelbarer Ausdruck der neu gewonnenen Parteieinheit war die seither großartig begangene Feier des 1. Mai — ein Tag, der für die Bürger zunächst mit Umsturzängsten verbunden war, aber auf lange Sicht auch die wachsende Integration der Sozialdemokratie in die Gesellschaft anzeigen sollte. Schon kurz darauf begann die Sozialdemokratie mit einer groß angelegten Agitation für das allgemeine Wahlrecht, die freilich noch nicht zum Erfolg führte. Erstmals 1897 zog die Partei mit 15 Abgeordneten in den Reichsrat ein, 1901 waren es nur 10, 1907 aber, bei der ersten Wahl nach dem allgemeinen (Männer-)Wahlrecht bereits 86, 1911 fiel sie auf 81 zurück. 41 ihrer Abgeordneten waren im Jahre 1907 Privatbeamte — größtenteils Angestellte von Krankenkassen oder von Partei- bzw. Gewerkschaftsorganisationen, 30 waren Redakteure (primär von Partei- oder Gewerkschaftszeitungen). 5.2.3
Die organisierte Interessenvertretung — Kammern und Beiräte
Schon im Vormärz hatten Wirtschaftskreise die Einrichtung von Handelskammern als öffentlich-rechtliche Interessenvertretungen der Wirtschaft gefordert, wobei französische Institutionen als Vorbilder galten. Im Oktober 1848 erließ die Regierung provisorische Bestimmungen über die Errichtung von Handelskammern. Die Handelskammerorganisation ist also ein deutlicher und unmittelbarer Erfolg der großbürgerlichen Kräfte im Revolutionsjahr. Die Kammern waren offizielle Interessenvertretungen, deren 21 Mitglieder aus dem Kreise der größeren Industriellen und Handelstreibenden gewählt wurden. 1850 wurde eine das ganze Staatswesen überziehende Kammerorganisation geschaffen, im heutigen Österreich wurden acht Handelskammern (eine pro Land, in der Steiermark zwei) eingerichtet. 1868 erhielten die Handelskammern als eigene Kurie im Abgeordnetenhaus des Reichsrates besonderes politisches Gewicht — diese Maßnahme war zweifellos von dem Wunsche diktiert, dem schwachen Wirtschaftsbürgertum eine etwas stärkere Vertretung im parlamentarischen Geschehen zu besonders günstigen Konditionen zu eröffnen.
342
Von der Revolution zum Ersten Weltkrieg
Das Instrumentarium der Handelskammern ist Ausdruck der um 1848 bereits fortgeschrittenen Klassenbildung des unternehmerischen Bürgertums und seiner gesellschaftlichen und politischen Durchsetzungsfähigkeit. Es war fortan begehrtes Vorbild für andere Berufsgruppen. Analog wurden daher im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert folgende berufliche Interessenvertretungen mit Selbstverwaltungscharakter eingerichtet: Notariatskammern, Rechtsanwaltskammern, Ärztekammern, Apothekerkammern und Ingenieurkammern. Mit der 1. Gewerbeordnungsnovelle von 1883 erhielten auch die Gewerbegenossenschaften der Kleinunternehmer durch die Pflichtmitgliedschaft kammerartigen Charakter. Bestrebungen im landwirtschaftlichen Bereich führten schließlich im Jahre 1902 zu einem Reichsrahmengesetz über Berufsgenossenschaften der Landwirte, dem aber keine relevanten gesetzgeberischen Taten der Landtage folgten. Auch die Forderung nach Arbeiterkammern blieb unerfüllt. Mit der Wahlrechtserweiterung 1897 und schließlich mit dem allgemeinen Wahlrecht 1906 entstand ein Parlament, das nichtagrarische wirtschaftliche Interessen nur mehr begrenzt zu vertreten schien. Nun existierten ja für die Vertretung von Unternehmerinteressen die Handelskammern, ferner die verschiedenen Industriellen-Vereine. Für Unternehmer und Regierung erschien aber diese alte Vertretungsform unzureichend. Auch die von der Regierung geforderte Steuerungskapazität war größer geworden: Mit dem Abschied vom klassischen Liberalismus eigentlich schon 1879 entwickelte sich eine Regierungsphilosophie, die gewisse Staatseingriffe durchaus für möglich und nötig hielt. Die ersten erfolgten mit den Gewerbeordnungsnovellen 1883 und 1885, schließlich mit der Sozialgesetzgebung (1887, 1888), die freilich nur Teile der Arbeiterschaft einschloss. Ähnlich regulative Intentionen in einem sozial-konservativen Sinne hatte ein Reichsrahmengesetz zur (Wieder-)Einführung des Anerbenrechtes und eine Vorlage von 1893 über die Einführung von Berufsgenossenschaften der Landwirte. Rechnet man dazu die Zollfragen, die Handelsvertragsprobleme usw., dann wird klar, dass von einer Regierung um 1900 wesentlich mehr wirtschaftspolitische Sachkompetenz erwartet wurde als dreißig Jahre zuvor. Diese Sachkompetenz wollte sich die Regierung durch ein neues Gremium, den Industrie- und Landwirtschaftsrat (1898), sichern. Nicht zufällig geschah dies zu einem Zeitpunkt, in welchem Unternehmerinteressen im Parlament nicht mehr so selbstverständlich vertreten sein würden wie bisher. Ein zweites (bzw. drittes) Gremium dieser Art war der Arbeitsbeirat, primär ein Gremium zur Beratung sozialpolitischer Fragen (1898). Dieses wurde dem damals neu geschaffenen Arbeitsstatistischen Amt im Handelsministerium zugeordnet. Bemerkenswert wurde dieser Beirat, weil hier erstmals auch Interessen der Arbeiterschaft in einem offiziellen, nebenparlamentarischen Kreis artikuliert werden konnten. Damit erweist sich gerade dieses Gremium als frühe Vorläuferorganisation späterer sozialpartnerschaftlicher Einrichtungen.
Der Sieg der „Nation"
6
343
Der Sieg der „Nation"
Überlokale und überregionale Gruppenbildung kennzeichnet die gesellschaftlichen Prozesse des 19. Jahrhunderts. Damit wurde auch die je größte „WirGruppe", der sich ein Mensch zugehörig fühlt, neu definiert: Neben traditionale ältere Loyalitätsbeziehungen — zu einer Lokalgemeinde, zu einem Tal, einem Landesviertel, einem Land, schließlich zum Kaiser —traten neue, die sich nun primär auf die soziale Tatsache gemeinsamer Sprache stützen. Wirkungsvoll unterstützt wurde dieser Prozess der Neukonstituierung nationaler Identität durch mehrere Faktoren. 6.1
Faktoren der Nationsbildung
Unter den wichtigen Faktoren der Nationsbildung können wir die ersten drei sehr knapp behandeln, da sie schon weiter oben (S. 262 f.) kurz besprochen wurden: 1. Der gesellschaftliche Bedarf des Vielvölkerstaates nach Alphabetisierung der Bevölkerung im Zuge verstärkter Bürokratisierung. In hervorragender Form hat diesen Zusammenhang Hans Raupach ausgedrückt: „Das Wachstum der Städte, die Auflösung der Gutsherrschaften und der Reste der ständischen und zünftigen Selbstverwaltung, die wachsende Kompliziertheit des öffentlichen Lebens mit seinen neuen Verkehrseinrichtungen, Post und Eisenbahn, vermehren die Tätigkeit des Staates und vervielfachen den Parteienverkehr. Wird so der vereinzelte Staatsbürger häufiger und unmittelbarer mit der Staatsmaschine in Zusammenhang gebracht, so wächst auch in einem mehrsprachigen Staate, zumindest in den unteren Stellen, der Bedarf an Beamten, die mehrere Sprachen beherrschen. Hier liegt eine der Hauptursachen dafür, dass der zentralistische Germanisierungsversuch Josephs II. sich selbst aufheben musste [...] So wie aber der Staat seine unmittelbare Wirksamkeit ausdehnt, die Schulbildung verallgemeinert und durch die größere Verwickeltheit und Anzahl der Verwaltungsakte die Schriftlichkeit sich verbreitet, macht sich das Schwergewicht der anderssprachigen Bevölkerung mit neuer Wucht geltend, und diese Masse muss zwangsläufig die dünne Decke der einheitssprachigen Verwaltung sprengen [...]" Da es in einem Staatswesen, in dem mehr als drei Viertel der Bevölkerung eine andere als die Sprache der zentralen Verwaltungsinstanzen benützten, vermutlich schwierig geworden wäre, dieser Mehrheit das Deutsche aufzuzwingen, musste der Staat mit den Menschen in ihren jeweiligen Sprachen reden: Das bedeutete notwendig eine Intensivierung der Sprachpflege, des Unterrichts, der Grammatisierung und Lexikalisierung des Tschechischen, Polnischen, Ukrainischen, Rumänischen, Serbokroatischen, Slowenischen und Ungarischen. Diese schon im 18. Jahrhundert einsetzenden Bestrebungen wurden nun auch von ganz anderer Seite unterstützt.
344
Von der Revolution zum Ersten Weltkrieg
2. Ständisch-regionaler Widerstand gegen den Zentralismus. Das Betonen der landesüblichen Sprachen erwies sich als vorzügliches Mittel der ständischadeligen Opposition gegen den Wiener Zentralismus. Schon 1790 hatten die böhmischen Stände ihre Huldigungsadresse für Leopold II. in tschechischer Sprache vortragen lassen. Überhaupt zeigten sich die Stände in mehreren Ländern als rege Förderer von wissenschaftlichen und kulturellen Unternehmungen, die zwar primär die Eigenständigkeit der jeweiligen Länder gegenüber Wien herausstreichen sollten, sich dabei aber zunehmend einer nationalistischen Argumentationsweise bedienten. Bei Frantisek Palacky und Anton Linhart, den Historikern der böhmischen bzw. krainischen Stände, wird aus der böhmischen bzw. krainischen Landesgeschichte die Geschichte der Tschechen bzw. der Slowenen. 3. Starke emotionale Aufwertung von Nationalsprache, Dichtung, Volkskultur im Gefolge der Romantik. Seit Herder erhielten die Sprachen der slawischen Völker Mittel- und Osteuropas (und damit zugleich ihre sprachliche Überlieferung, Dichtungen, Mythen, Märchen) eine besondere Dignität als Sprache von Völkern, die von den negativen Folgen der westlichen Zivilisation noch wenig oder nicht belastet wären. Durch diese Interpretation bekam die Arbeit der Ethnographen, Sprach- und Kulturforscher einen besonderen Stellenwert, ebenso diese Völker selbst, denen nun im gesamteuropäischen Kulturgefüge eine wichtige Stellung zugemessen wurde. Diese Interpretationsmuster erhielten durch die betonte Erinnerung an ältere, national selbstbestimmte Staatlichkeit zusätzliches Gewicht, verstärkt durch die ersten nationalen Aufstände des 19. Jahrhunderts im Vormärz (Serben, Polen, Griechen). Die beiden folgenden Faktoren sind jedoch noch gesondert hervorzuheben: 4. Die unterschiedliche gesellschaftliche Entwicklung der verschiedenen Sprachgruppen. Im allgemeinen wird dabei zwischen „historischen" und „nichthistorischen" Nationen unterschieden. Der von Otto Bauer im Anschluss an Marx und Engels entwickelte Unterschied wurde zunächst einmal in der Existenz oder Nichtexistenz eines nationalen Adels gesehen — ein solcher Adel existierte bei Polen, Ungarn, Kroaten, Italienern und natürlich bei den Deutschen der Monarchie. In zweiter Linie spricht man den „historischen" Nationen eine stärkere gesellschaftliche Differenzierung zu als den „nichthistorischen". Das würde die in der zweiten Jahrhunderthälfte schon mit starkem eigenen Bürgertum und eigener Arbeiterschaft ausgestatteten Tschechen zur „historischen" Nation stempeln, außerdem hat der böhmische, obgleich deutschsprachige Adel, vom Landesbewusstsein ausgehend, viel für die Entwicklung eines kulturellen tschechischen Nationalbewusstseins getan. Stärke und gesellschaftliche Entwicklung der „Nationen" wurde an Volkszählungsergebnissen gemessen. Bei Volkszählungen wurde im alten Österreich die Umgangssprache erhoben, so dass die Ergebnisse weder mit „objektiven" (Herkunft) noch mit „subjektiven" (Bewusstsein) Kriterien nationaler
345
Der Sieg der „Nation"
Zugehörigkeit und Nationalbewusstseins zusammenhängen müssen. Im deutschsprachigen Wien oder im überwiegend italienischsprachigen Triest haben Zuwanderer aus slawischen Gebieten wenigstens teilweise die Umgangssprache ihrer neuen Heimat angegeben. Dadurch wurden die Sprachgebiete der „entwickelten" Nationen statistisch etwas vergrößert und die der „unterentwickelten" etwas verkleinert. Tabelle
19: Bevölkerung der Monarchie (Verhältniszahlen )
nach Sprachgruppen
und
1910
1900 Gesamtbevölkerung
Wirtschaftssektoren
Land- Gewerbe, nur Gesamtwirte Handel Gewerbe bevölkerung und Verkehr
Landwirte
Gewerbe, nur Handel Gewerbe und Verkehr
deutsch
24,90
15,49
40,62
41,38
24,24
14,59
37,33
ungarisch
19,28
19,68
16,39
15,42
20,34
20,21
19,19
18,10
tschechisch
13,08
9,49
20,29
22,17
13,01
9,05
19,42
21,31
slowakisch
4,45
5,45
2,68
3,08
3,98
5,09
2,50
2,90
serbischkroatisch
7,57
10,84
2,42
2,33
7,53
11,11
2,73
2,71
slowenisch
2,62
3,33
1,51
1,64
2,54
3,10
1,70
1,73
polnisch
9,31
10,30
8,12
6,34
10,04
10,90
9,17
7,21
ukrainisch
8,39
13,16
1,18
1,00
8,07
13,30
1,15
1,02
rumänisch
6,67
9,90
1,29
1,45
6,52
10,17
1,56
1,73
italienisch
1,59
1,35
1,95
1,74
1,55
1,34
1,83
1,68
sonstige
2,14
1,01
3,55
3,45
2,18
1,14
3,42
3,46
ÖsterreichUngarn
100,00
100,00
100,00
100,00
100,00
100,00
100,00
38,15
100,00
deutsch in Österreich
20,2
11,37
35,20
35,68
20,12
10,90
32,59
33,07
deutsch in Ungarn
4,70
4,12
5,42
5,70
4,12
3,69
4,74
5,08
serb.-kroat. in Österreich
1,56
2,29
0,44
0,33
1,58
2,42
0,47
0,40
serbisch in Ungarn
2,31
3,39
0,54
0,52
2,24
3,39
0,67
0,66
kroatisch in Ungarn
3,70
5,16
1,44
1,48
3,71
5,30
1,59
1,65
ukrainisch in Österreich
7,44
11,73
1,04
0,85
7,11
11,76
1,00
0,85
ukrainisch in Ungarn
0,95
1,43
0,14
0,15
0,96
1,54
0,15
0,17
rumänisch in Österreich
0,50
0,77
0,08
0,06
0,56
0,88
0,10
0,09
rumänisch in Ungarn
6,17
9,13
1,21
1,39
5,96
9,29
1,46
1,64
346
Von der Revolution zum Ersten Weltkrieg
Menschen mit deutscher Umgangssprache stellten 1900 fast 25 % der Gesamtbevölkerung der Monarchie, aber nur 15,5 % der landwirtschaftlichen, jedoch mehr als 41 % der gewerblichen Bevölkerung. Tschechisch gaben 13 % aller Bewohner der Monarchie an; aber nur 9,5 % der landwirtschaftlichen Bevölkerung, demgegenüber gehörten 20,3 % der gewerblichen Bevölkerung dieser Sprachgruppe an. Deutsch-Österreicher und Tschechen hatten zusammen einen Anteil von etwa 62 % an der gewerblich-industriellen Bevölkerung der Monarchie! Stark überdurchschnittlicheAgraranfe/'/ezeigten sich dagegen bei den Sprachgruppen Serbokroatisch, Slowenisch, Ukrainisch und Rumänisch, leicht überdurchschnittliche bei Slowakisch und Polnisch, fast gleich mit dem Gesamtbevölkerungsanteil lag der Agraranteil an der Gesamtbevölkerung bei Ungarisch (19,3 und 19,7%). Offensichtlich hat die Abwanderung aus der Landwirtschaft, die Bedeutungszunahme des sekundären und tertiären Sektors, aber auch die Verschiebung hin zu unselbständiger Tätigkeit, bei gleichzeitiger Trennung der Arbeiter von den Unternehmern im Hinblick auf die Wohnung, die Entstehung und Verfestigung sprachnationaler Identitäten begünstigt. Volksschule und Militärpflicht, wachsende überregionale Marktkommunikation taten ein übriges, um in ständiger Konfrontation mit anderen, bevorzugten (oder minder privilegierten) Sprachen und ihren Trägern je eigene Sprache und kulturelle Besonderheit hervorzuheben. Darin sah Otto Bauer entscheidende Faktoren der Nationsbildung: „[...] Und doch ist es gewiss, dass auch die Ruthenen auf dem W e g e sind, den die Tschechen zurückgelegt, die Slowenen längst angetreten haben. Die Volksschule, die allgemeine Wehrpflicht, das allgemeine Wahlrecht, Zeitungen und Volksversammlungen unterwerfen auch die Massen des ruthenischen Volkes gleichem Kultureinfluss [...]" Dazu kommt die hemmende oder fördernde Kraft der sozialen Konflikte. Die effektive Erweiterung der polnischen Nation von der adeligen Grundherrenklasse auf die Bauern scheiterte bis 1848 daran, dass die Bauern (auch die mit polnischer Muttersprache!) unter der „polnischen Nat/on"ausschließlich die „szlachta", den Adel, verstanden, der ihnen ausbeuterisch und feindlich gegenübertrat, und dass jene daher keine Lust hatten, sich ebenfalls als Teil dieser Nation zu begreifen. Andererseits wurde die Nationsbildung der Tschechen dadurch begünstigt, dass hier ein Adel, der Deutsch sprach, Bauern beherrschte, die in den größten Teilen der Sudetenländer Tschechisch redeten. Der soziale Antagonismus wirkte hier auf die Einbeziehung der Bauern in die stark bürgerlich bestimmte tschechische Nation anregend und vorantreibend. Ähnliches gilt für die Slowenen, wo ebenfalls die Grundherren ganz überwiegend als „Deutsche" galten und sich eine slowenische Identität der „Unterworfenen" ausbilden konnte. Überall, wo soziale Großgruppen und Sprachgruppen identisch waren, konnten gesellschaftliche Konflikte daher die nationale Integration und Identitätsbildung befördern.
Der Sieg der „Nation"
347
5. Die politische Entwicklung. Eine Erklärung der Nationsbildung des 19. Jahrhunderts, für welche eine offene oder versteckte Tendenz zu staatlicher Verwirklichung der neuen nationalen Identität (sei es in Form von autonomen Gebieten oder unabhängigen Nationalstaaten) konstitutiv ist, muss den Faktor „politische Verhältnisse und Ereignisse" voll berücksichtigen. Paradigmatisch sei hier auf die Rolle des Jahres 1848 verwiesen werden, als sich in den Auseinandersetzungen um die „böhmische Charte" vom 8. April sofort die Nationalgarden in Böhmen nach nationalen Kriterien trennten, die Deutschen Böhmens Vereine zum Schutz ihrer Nationalität gründeten usw.; oder auf die 1860er Jahre: Mit dem Sieg des — seinerseits deutsch-zentralistischen — Liberalismus wurde den Nationalbewegungen mit der Vereinsund Versammlungsfreiheit wichtige neue Bewegungsräume eröffnet, die sie auch sogleich in umfänglichen Massenversammlungen („labore"bei Tschechen und Slowenen) und zahlreichen Vereinsgründungen zu nützen verstanden.
6.2
Wege der Nationsbildung
Die Nationsbildung des 19. Jahrhunderts in der Habsburgermonarchie war ein Vorgang, in welchem die Menschen einer Sprachgruppe immer stärker von dem Gefühl durchdrungen wurden, einer und derselben Nation auf der Basis sprachlicher Gemeinsamkeit, Abstammung, Geschichte und Kultur anzugehören, wobei dieser Zugehörigkeit für die persönliche Identität eine immer größere Bedeutung zugemessen wurde. Offenkundig wurde ein wesentlicher Teil des emotionalen Defizits, das durch den Rationalismus der josephinischen Reformen, durch die Rationalisierung der christlichen Kirchen, durch die sekkanttrockene Art der bürokratischen Regierung des Vormärz, durch die Auflösung des „ganzen Hauses" und ähnlicher vormoderner Institutionen sowie durch die Wanderungen in die neuen Ballungszentren entstanden war, mit Hilfe des nunmehr anwachsenden Nationalgefühls mehr oder minder ausgeglichen. Vom quasireligiösen Charakter des Nationalismus zeugen ja nicht nur zahlreiche Denkmäler, sondern auch die Verwendung von Wörtern aus der Sakralsphäre, wenn es um die Nation geht —jetzt sind die Nationen häufiger „heiliger" als Gott oder die alten Heiligen. Die langsamere oder raschere Ausbreitung des Nationalbewusstseins auf ein ganzes Sprachgebiet kann im Spiegel literarischer Zeugnisse, der Ausbreitung gewisser Organisationen (Sprachvereine, Lesevereine etwa) und deren Mitgliederstruktur verfolgt und schließlich in der politischen Organisation und im Wahlverhalten erkannt werden. Ähnlich wie in den Stämmen der Völkerwanderungszeit oder den Neustämmen („Ländern") des Hochmittelalters lässt sich dabei ein Traditionskern ausmachen: Gesellschaftlich sind dies ein Adel (Polen, Ungarn, Kroaten), bürgerliche Intellektuelle, Dichter, Professoren, Lehrer und Beamte oder aber auch, mangels einer adeligen oder bildungsbürgerlichen Schicht, Priester (bei Serben, Ruthenen, Slowenen, Rumänen). Ideell kann
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Von der Revolution zum Ersten Weltkrieg
der Traditionskern vielgestaltig sein: Die glorifizierende Erinnerung an eine historische Eigenstaatlichkeit, ein Heldenzeitalter (etwa die Hussitenkriege bei den Tschechen, die Schlacht auf dem Amselfeld bei den Serben), die Betonung des autochthonen Charakters der Nation und damit ihr Alter, ihre besonderen kulturellen Leistungen. Verschiedene für ein Nationalbewusstsein konstitutive Elemente können sich an einem ganz bestimmten Ort verdichten und mit diesem zu besonders gesteigerter nationaler Zentralität verbinden. So dürfte die große Bedeutung von Prag (als sakrales Zentrum des Königreichs Böhmen mit der Begräbnisstätte der Könige im St.Veits-Dom, als alte Krönungsstadt, aber auch als Stadt symbolträchtiger Widerstandshandlungen gegen den Absolutismus wie des Fenstersturzes von 1618) wahrscheinlich die frühere und stärkere Ausbildung des tschechischen Nationalbewusstseins bei den böhmischen gegenüber den mährischen Tschechen erklären. Exemplarisch sollen im Folgenden einige wichtige Stationen auf dem Wege der Nationsbildung bei Tschechen, Slowenen und Deutschen (Deutsch-Österreichern) beschrieben werden. Aufklärerische Tendenzen zur Verbesserung der ökonomischen Lage und der Bildungssituation der böhmischen Bauern führten seit 1786 zu zweisprachigen, später immer öfter auch zu Publikationen in tschechischer Sprache. Leopold II. bewilligte 1791 eine Lehrkanzel der tschechischen Sprache an der Prager Universität. 1805 erschien ein erstes vollständiges Wörterbuch. — Eine stärkere Verbreitung erhielten die hier entwickelten kulturell-nationalen Gedanken durch die Gründung eines Landesmuseums (1818) durch die böhmischen Stände und einer Museumszeitschrift (1827). 1831 wurde die „matice ceská" gegründet, ein Verein zur Förderung tschechischer Literatur und Wissenschaft, funktional eine Art Buchgemeinschaft und Vorbild für die später sehr zahlreichen Lesevereine, Büchereien und Laientheater. 1848 hatte die „matice" schon 3500 — überwiegend bürgerliche — Mitglieder. 1833 war der „Verein für die Ermunterung des Gewerbsgeistes in Böhmen" gegründet worden (ebenfalls noch von den Ständen her!), der rasch zu einer tschechischen Institution wurde. 1848 schließlich war das politische Leben schon stark von nationalen Gedankengängen erfüllt, die bei den Tschechen in die Forderung nach dem „böhmischen Staatsrecht" (eigene Staatlichkeit im Rahmen des Habsburgerreiches für Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien mit dem Zentrum Prag) gekleidet erschienen. Die Verdichtung des politischen Lebens bedeutete zugleich den Beginn bzw. die Vertiefung einer klaren nationalen Trennung. Das Programm des „böhmischen Staatsrechtes" wurde von den Deutschen Böhmens vehement abgelehnt, diese gründeten 1848 sogleich eigene nationale Schutzvereine. Durch den Ausgleich mit Ungarn (1867) wurde die Staatsrechts-Agitation nochmals massiv angeheizt. Sie bediente sich des Instrumentariums großer Volksversammlungen unter freiem Himmel („Tabore"), als deren Organisatoren zahlreiche Vereine gegründet wurden, die auch nach dem Ende dieser Agitation weiter wirkten. Neben diese national „lauten" Turn-, Schul- und Schutzvereine traten die „leiseren" wirtschaftlichen Vereine. Zahlreiche Genossenschaften,
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Bildungs- und Unterstützungsvereine entstanden auf dem Lande, denen zum Teil die Funktion zufiel, ein eigenestschechisches Kapital zu entwickeln. Überaus schnell entstand nun eine von der „Nationalität" des Kapitals her tschechische Industrie, ergänzend zur älteren deutschen der böhmischen Randgebiete. 1910 hatten die Tschechen den höchsten Anteil an gewerblich-industrieller Bevölkerung innerhalb der Monarchie (37,1 % gegenüber 36,4 % bei den Deutschen). In diesem dichten Wirtschafts- und Organisationsnetz entwickelte sich eine komplette tschechische soziale Infrastruktur, die zudem über die Gemeindeverwaltung, die Landesautonomie und die Zugeständnisse des Staates, dass in rein tschechischen Gebieten ab etwa 1900 nur mehr Staatsbeamte mit tschechischer (Mutter-)Sprache amtierten, reiche Erfahrungen in der politischen Selbstverwaltung erwerben konnte. Von daher erwies es sich als leicht, 1918 die Macht völlig zu übernehmen. Auch bei den Slowenen waren aufklärerisch-historische Tendenzen, gefördert durch die Krainer Stände und hervorragende Unternehmer wie Sigismund Zois, am Anfang der nationalen Entwicklung gestanden. Sie wurden durch den Zusammenschluss der meisten slowenischen Gebiete in den „illyrischen Provinzen" Frankreichs (1809 - 1814) kräftig gefördert. 1812 wurde übrigens auch in Graz eine Lehrkanzel für Slowenisch gegründet. In den 1840er Jahren war d\e SprachrenaissancevoWendei. 1848 wurde erstmals ein vereinigtes Slowenien innerhalb der Monarchie gefordert — ein revolutionäreres Programm als das „böhmische Staatsrecht", da man dabei an keinerlei ältere politische Einheit anknüpfen konnte (allenfalls an das frühmittelalterliche Karantanien). Allerdings wurden diese Forderungen primär von slowenischen Studenten in Wien und Graz erhoben. Die Landtage in Graz und Klagenfurt verhielten sich ablehnend, auch die Krainer investierten nicht allzu viel Energie in dieses Programm. — Im Neoabsolutismus wurde die weitere Entwicklung des slowenischen Nationalbewusstseins natürlich nicht gefördert, es konnte aber im Bereich des katholischen Klerus eine gewisse Infrastruktur für die Verbreitung kulturellen Nationalbewusstseins geschaffen werden (Hermagoras-Bruderschaft), außerdem wurde der Sitz des Bistums Lavant, das seit Joseph II. die slowenische Untersteiermark mitumfaßte, von St.Andrä im Lavanttal nach Maribor/ Marburg verlegt, womit die slowenische Untersteiermark endgültig zu einer eigenen Diözese wurde. Das Nationalbewusstsein muss auch in dieser Zeit gewachsen sein, denn 1868 gab es auch bei den Slowenen zahlreiche„Tabore". Ein eigenes, nationales Bürgertum entwickelte sich aber nur zäh — sozialer Aufstieg war in den slowenischen Gebieten noch länger als in den tschechischen mit Übergang zur deutschen Sprachgruppe (und Nation) verbunden, im Küstenland und in Triest auch zur italienischen. Daher hatte die nationale Einbeziehung der Bauern große Bedeutung, die überwiegend über eine katholische Massenpartei sowie entsprechende Vereine und Genossenschaften erfolgte. In den letzten Jahrzehnten des Bestandes der Monarchie entfaltete sich aber auch ein nationalbewusstes slowenisches Bürgertum meist liberalen Zuschnittes und eine überwiegend sozialdemokratische Arbeiterschaft.
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Tschechen und Slowenen hatten einen eindeutigen Adressaten ihrer Forderungen: die Monarchie der Habsburger und damit auch alle jene Gruppen, die aus der Existenz dieser Monarchie gewisse Vorteile zogen. Dazu gehörten insoferne alle Einwohner dieses Staatswesens mit deutscher Mutter- bzw.Umgangssprache, als Deutsch die Sprache von Armee und Bürokratie und die wichtigste Verbindungssprache im wirtschaftlichen Bereich war. Tatsächlich zeigt sich ein deutliches Übergewicht der Deutschen in den Zentralstellen: 1914 waren 76 % der Ministerialbeamten Deutsche und um 1900 war dies bei zwei Dritteln der Offiziere der Fall. Wien, Niederösterreich und die deutschen Industriegebiete gehörten zweifellos zu den großen Nutznießern der Monarchie: Wien und Umgebung als Regierungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftszentrum, die Sudetengebiete als Produktionszentren, denen ein großes Absatzgebiet gesichert war. Der Aufstieg der übrigen Nationen musste diese Vorrangstellung gefährden: Die Ausbildung des deutschen Nationalbewusstseins im Habsburgerstaat war daher von einer stark defensiven Grundhaltung durchdrungen, von dem Wunsch, als „beati possidentes" den Wünschen der anderen Nationen möglichst wenig nachzugeben. Während Tschechen, Slowenen, Ungarn usw. irgendeine staatliche Neuordnung (mehr Autonomie für ihre Länder oder überhaupt die Konstituierung neuer politischer Einheiten) forderten, wehrten die Deutschen ab: Alle diese Forderungen schienen ja irgendwie auf ihre Kosten zu gehen. Das zeigt sich schon beim ersten „nationalen" Schutzverein, bei dem 1848 gegründeten Verein der Deutschen in Böhmen. Damit wird eine Kontinuitätslinie begründet, die über den „Deutschen Volksverein" in Wien (1867), den Verein der Deutschnationalen in Graz (1869) usw. bis zu den Schulvereinen der 1880er und 1890er Jahre (1889 Schulverein „Südmark"), und zu nationalen Bauern-, Bürger- und Studentenvereinen geht. Solche Vereinigungen entwickelten gegen die Emanzipationsbestrebunge der Nichtdeutschen zum Teil recht aggressive Gegenstrategien, wie die Gründung von deutschen Schulen oder aber den Aufkauf von Bauernhäusern in umstrittenen Gebieten. Besonders studentische Organisationen zeigen den Wandel der vorherrschenden Identitätsobjekte: Seit Beginn der 1880er Jahre verloren die nichtnationalen, betont österreichischen und liberalen „Corps" gegenüber den betont deutschnationalen Burschenschaften und Verbindungen rasch an Boden. Mit deren Bedeutungszuwachs geht auch eine zunehmende — zunächst verbale — Brutalisierung im Umgang mit anderen Sprachgruppen (aber auch mit politischen Konkurrenten) einher. Allerdings brachte es die insgesamt bevorzugte Stellung der (des) Deutschen in der Monarchie mit sich, dass nur eine kleine radikale Minderheit um Georg v. Schönerer die Zerschlagung der Monarchie und den Anschluss der deutschsprachigen Gebiete an das Deutsche Reich von 1871 forderte: Die Nationsbildung der Deutschen in der Monarchie bezog sich im Hinblick auf den staatlichen Rahmen zumeist auf den Habsburgerstaat. Übrigens zeigt die Entwicklung in Deutschland zur selben Zeit analoge Züge. Auch hier vollendete sich die Nationsbildung auf dieses (das Bismarck'sche) Reich hin. Als kleines
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Beispiel dafür diene jene Episode aus dem Bereich des studentischen Organisationslebens, als Mitte der 1880er Jahre deutschnationale Wiener Burschenschaften von ihren (reichs-)deutschen Gesinnungsgenossen mit dem Ansinnen, eine gemeinsame („großdeutsche") Dachorganisation zu gründen, relativ kühl abgewiesen wurden. Es entstanden daher zwei „deutsche" Nationen: eine der „Reichsdeutschen" und eine der Deutsch-Österreicher. Das „nationale" Argument gewann aber bis 1914 noch weiter an Durchschlagskraft. So wurden auch die zunächst national wenig definierten katholischen Studentenverbindungen zunehmend „deutsch" — zwischen 1890 und 1900 kam man auch hier überein, keine nichtdeutschen Studenten mehr aufzunehmen, und ab 1900 waren die Beziehungen zwischen den katholischen Verbindungen und den slowenischen und italienischen katholischen Studentenvereinen gänzlich abgerissen. Schulvereine, Turnvereine, Wirtschaftsvereine bildeten darüber hinaus ein immer dichter werdendes Netz, in dem sich binnennationale Kommunikation — und damit auch Vorurteile gegenüber den national Außenstehenden — verstärkten. Diese Vereine wurden Träger jener nationalen Auseinandersetzungen, die besonders heftig in den ökonomisch und gesellschaftlich am höchsten entwickelten Ländern (vorab in Böhmen) tobten, mit einem absoluten Höhepunkt nach den so genannten Badenischen Sprachenverordnungen von 1897, die durch den Auftrag an alle staatlichen Beamten in Böhmen, binnen weniger Jahre die zweite Landessprache zu erlernen, nach Meinung der deutschen Politiker eine deutliche Bevorzugung der tschechischen Beamten bedeutete. Das heizte die Slawisierungsängste bei den Deutschböhmen enorm an, ihre politischen Vertreter, die deutschliberalen und danach die deutschnationalen Parteien, begannen durch gezielte Obstruktion den Reichsrat lahm zu legen — eine Gewohnheit, die später von den Tschechen und, bei Bedarf, auch von allen anderen Gruppen übernommen wurde und den schlechten Ruf des altösterreichischen Parlamentes begründete. Die Monarchie erwies sich letztlich nicht als geeigneter Rahmen, um die streitenden Parteien zu befrieden. Der lange Widerstand der Habsburger gegen jede Regung von Selbst- und Mitbestimmung und ihre Neigung für autoritär-bürokratische Regierungsformen führte schließlich zu einem Zusammenfallen von regional-autonomistisch-nationalen Bestrebungen mit Tendenzen politischer Emanzipation. Die Nationsbildung der nichtdeutschen Sprachnationen bekam daher fast notwendig eine gegen den Staat und das bestehende Herrschaftssystem gerichtete Note. Immerhin ist bemerkenswert, dass sich diese gegen den Habsburgerstaat so kritischen Tendenzen bis zum Ersten Weltkrieg — mit Ausnahme einiger italienischer Gruppen sowie der Serben in Bosnien und in Kroatien — kaum ernsthaft zu irredentistischen Strömungen verdichteten. Das mag zum Teil mit Nützlichkeitserwägungen erklärt werden, denn gegenüber den bedrohlichen und mit ihren eigenen nationalen Minderheiten keineswegs zart verfahrenden Großmächten Deutschland und Russland war die Habsburgermonarchie viel-
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leicht wirklich das kleinere Übel —wobei man den großen Unterschied in der nationalen Entfaltungsmöglichkeit zwischen Zisleithanien und Ungarn nicht übersehen darf. Zu einem schwer abschätzbaren Teil mag aber auch die altertümliche Loyalität gegenüber dem Kaiser verbindend gewirkt haben — sicher bei bäuerlichen Populationen stärker als bei gewerblich-industriell arbeitenden Menschen oder bei den Priestern des modernen Nationalismus, den Lehrern, Professoren, Dichtern und Advokaten. Noch schwerer einzuschätzen ist die Rolle des immer noch Ehrfurcht gebietenden Cewaltapparates der Monarchie, vom Hofe abwärts, Bürokratie und Armee umfassend. Obzwar dieser Apparat den Zusammenhalt des Reiches bis in die letzten Oktobertage 1918 garantieren konnte, muss man sich doch die Frage stellen, ob nicht das Auftreten dieses Apparates immer häufiger auch als Ausdruck von Fremdherrschaft empfunden wurde. Solche Gefühle gab es nicht nur in den slawischen Ländern. Als es in Graz zu leidenschaftlichen Protesten gegen die Badenischen Sprachenverordnungen kam, wurde das hier stationierte bosnische Regiment als Organ der Regierung gegen die deutschnationalen Demonstranten eingesetzt. Das führte 1897/98 zu schweren Verstimmungen, besonders als der Gemeinderat die Verlegung der Bosnier aus Graz forderte. In der Folge gab es starke Spannungen zwischen Grazer Studenten und deutschnationalen Bürgern einerseits, Offizieren andererseits. Sogar die Konzerte der Militärkapelle des bosnischen Regiments wurden massiv gestört. Offizieren und Soldaten wurde zeitweilig in Restaurants und Geschäften die Bedienung verweigert. Ähnliche Demonstrationen gab es in fast allen deutschsprachigen Städten der Monarchie. Sogar in Tirol, einem Land, in dem bislang nationale Probleme wenig Rolle gespielt hatten, erwachten die nationalen Leidenschaften. Soziologisch ausgedrückt: Die Badeni-Krise trieb die Integration der deutschsprachigen Tiroler in die sich konstituierende Nation der Deutschen in Österreich voran. Nicht nur regionale, auch politische Gruppierungen wurden dadurch zur Präzisierung von Standpunkten gezwungen, die sie lieber offen gelassen hätten: so etwa die Christlichsozialen, die sich im Trubel der Leidenschaften nun ebenfalls als „deutsche" Partei zu deklarieren hatten, wollten sie nicht des „nationalen Verrates" geziehen werden. Auch die Sozialdemokratie dürfte einiges abbekommen haben: Ihr internationalistischer Anspruch erwies sich auf die Dauer als unhaltbar, die Arbeiterschaft konstituierte sich jeweils als Klasse innerhalb der deutschen, tschechischen usw. Nation. Ereignisse wie diese haben den „nationalen" Geist, die Solidarität auf der Basis des Nationalbewusstseins, enorm gefördert. Und solche Ereignisse gab es viele im weiten Bereich der Monarchie. Massendemonstrationen, Militäreinsatz, Ausnahmezustand, Auflösung von autonomen Körperschaften gehörten zum Standardrepertoire in Zeiten nationaler Hochspannung. Solche Konfliktzeiten müssen die Identifizierung der Betroffenen mit der Monarchie geschwächt, die mit der je eigenen nationalen Gruppierung verstärkt haben. Ein ausgeprägt konfliktträchtiger Boden waren auch die Universitäten. Die „modernen" Strömungen des Nationalismus und Antisemitismus äußerten sich
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hier in häufig gewaltsamen Auseinandersetzungen. Hervorgehoben sei hier nur die Reaktion auf die Einrichtung einer italienischen Rechtsfakultät in Innsbruck 1904, die mit der Plünderung des dafür vorgesehenen Hauses und entsprechenden Straßenschlachten endete. Oder 1908: Damals wurden in Graz Bauern aufgeboten, um die Promotion eines Mitgliedes der katholischen Verbindung „Carolina", die hier gegen die deutschnationalen Korporationen nicht so recht aufkam, zu sichern, was wieder heftigste Krawalle auslöste. Im selben Jahr erfolgten die „Wahrmund-Krawalle", als in Reaktion auf die versuchte Kaltstellung eines der Kirche unliebsamen Innsbrucker Kirchenrechtlers (Ludwig Wahrmund) heftige Proteste, Studentenstreiks und Universitätsschließungen stattfanden. Wahrmund wurde übrigens bald darauf Professor in Prag. Diese Konflikte dürfen aber nicht übersehen lassen, dass angesichts der Komplexität der verschiedenen Fragen und ihrer regional oft höchst unterschiedlichen Bedeutung und Ausformung dennoch die Konfliktregulierungsfähigkeit der altösterreichischen Politik nicht ganz gering gewesen sein kann. Bis 1914 waren immerhin wichtige nationalpolitische Teillösungen wie die Ausgleichsbestimmungen in Mähren 1905 und in der Bukowina 1911 gefunden worden. 1914 war ein nationaler Ausgleich in Galizien (zwischen Polen und Ukrainern) paktiert, man stand auch in Böhmen angeblich knapp vor einer Einigung. Auch ein großes Sozialversicherungsgesetz schien Gestalt anzunehmen. Der Zustand des politischen und sozialen System wenigstens in Zisleithanien war zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich weniger kritisch, als dies die Zeitgenossen annahmen, denen die ewigen Streitigkeiten und das ständige Obstruktionsgetöse im Parlament auf die Nerven gingen. Offen muss aber bleiben, ob das auch für Ungarn, wo der Magyarisierungsdruck auf die nichtmagyarischen Nationen um 1900 stark erhöht wurde, oder das Verhältnis zwischen Österreich und Ungarn gilt. Immerhin hat sich auch dieses Verhältnis nach einer langwierigen Krise (Ausgleichserneuerung 1897 und in den Folgejahren wegen der Badeni-Krise parlamentarisch unmöglich, Sieg der ungarischen Unabhängigkeitspartei bei den Wahlen 1904) ab 1907 wieder etwas entspannt. Die in sich stark integrierten Großgruppen, Klassen und Nationen, hatten über Organisationen und Interessenvertretungen offenkundig bestimmte, oft über staatliche Institutionen vermittelte Umgangsformen miteinander gefunden. Hier wäre möglicherweise auch ein weiterer Entwicklungsweg für den habsburgischen Staat zu suchen gewesen. Dass er freilich von den militärischen und diplomatischen Führungskreisen, die in altertümlichen Großmachtvorstellungen schwelgten — die für die Habsburgermonarchie ja stets unangemessen gewesen waren — , im Sommer 1914 für immer verschüttet wurde, ist diesen anzulasten und nicht den übrigen „Mitspielern" im ganzen politischen System.
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7 7.1
Von der Revolution zum Ersten Weltkrieg
Der Erste Weltkrieg Die Militarisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse
Im Zusammenhang mit dem Ausgleich von 1867 war 1868 eine neue Regelung des Wehrwesens erfolgt. Das Wehrgesetz bestimmte nun allgemeine Wehrpflicht auf zwölf Jahre, von denen drei (in der Marine vier) Jahre aktiv abgedient werden mussten, die übrigen Jahre gehörte man der Reserve an. Die dadurch ermöglichte Einberufung großer Mengen von Reservisten erforderte die Institution des Reserveoffiziers. Maturanten oder Absolventen anderer mittlerer Schulen konnten nach einem Freiwilligenjahr (als „Einjährig-Freiwillige") durch die Reserveoffiziersprüfung Reserveoffiziere werden. Viele künftige Lehrer, Ärzte, Ingenieure usw. wurden so Reserveoffiziere. Das entsprach sicher so manchen Wünschen nach Teilnahme am gehobenen Sozialprestige der Armee. Über die „zweite Gesellschaft" des hohen Bürgertums hinaus konnten auf diese Weise etwas breitere Schichten mit günstigeren Bildungschancen nun auch im militärischen Bereich ihre soziale Position demonstrieren. Eine nicht unwichtige Folge des Reserveoffiziersstatus dürfte die deutliche Erweiterung der Geltung des Offiziers-Ehrenkodex gewesen sein, die nun ihrerseits zu einer Ausweitung der Duellsitten führte: In die 1870er Jahre fällt die Verbreitung von „konservativen", auf unbedingte Satisfaktion pochenden Verbindungen und Burschenschaften an den Hochschulen. Wie stark die damit verbundenen Zwänge waren, wird in zahlreichen Dramen und Erzählungen Arthur Schnitzlers deutlich, dem ja für seine Ablehnung des Duells — die der Agnostiker Schnitzler mit streng katholischen Kreisen teilte — von einem Offiziersehrenrat auch die Reserveoffizierswürde aberkannt wurde. Neben dem für die ganze Monarchie gemeinsamen Heer, neben der ungarischen Honvéd und der österreichischen Landwehr, wurde 1886 noch der Landsturm geschaffen — ein drittes Aufgebot, teils in Anlehnung an Versuche der Napoleonischen Zeit, teils in Fortbildung tirolischer Einrichtungen (seit 1511 Standschützen als neuzeitliche Fortbildung der Wehrpflicht der landesfürstlichen Gemeinden!). Der Landsturm wurde im Krieg vor allem deshalb wichtig, weil er die Möglichkeit bot, Arbeiter durch Eingliederung in den Landsturm voller militärischer Disziplinargewalt zu unterwerfen. Mit dem Wehrgesetz von 1912 und dem Kriegsleistungsgesetz desselben Jahres erweiterte der Staat das gesetzliche Instrumentarium für die gesellschaftliche Mobilisierung im drohenden Krieg, der nach der Annexionskrise (1908 staatsrechtliche Eingliederung des seit 1878 okkupierten Gebietes von Bosnien und Herzegowina) und den Balkankriegen (1912/13) immer mehr als unausweichlich betrachtet wurde. Das Kriegsleistungsgesetz ermöglichte die Inanspruchnahme persönlicher Dienstleistungen männlicher Zivilpersonen für militärische Zwecke, die Verpflichtung zur Weiterführung von Betrieben im Kriege und schließlich die Verpflichtung des Personals solcher Fabriken zum Verbleiben im Dienst- oder
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Arbeitsverhältnis. Unter dieses Gesetz gestellte Arbeitskräfte unterlagen der militärischen Disziplin, freilich nur für die Arbeitszeit. Noch stärker dieser Disziplin unterworfen wurden jene Arbeiter, die als wehr- bzw. landsturmpflichtig erklärt wurden und daher als Soldaten galten.
7.2 7.2.1
Gesellschaft im Krieg Arbeitsverhältnisse in der Kriegsindustrie
Die dringendste Aufgabe für die zentralen Führungsinstitutionen des kriegführenden Staates war die Sicherstellung der Versorgung der Armeen mit Kriegsmaterial. Insgesamt arbeiteten 1917 mehr als 980.000 Menschen in dieser Industrie. In diesem Jahr waren mehr als 520.000 Männer für Zwecke der Kriegsindustrie vom aktiven Militärdienst enthoben, bis Oktober 1918 sank diese Zahl auf etwa 440.000. Da man zu Kriegsausbruch nur mit einem kurzen Feldzug gerechnet hatte, war zunächst auf die Sicherstellung von Arbeitskräften für diese Industrie wenig Rücksicht genommen worden. Als mit der Beschleunigung der Rüstungsproduktion seit 1915 der Mangel an Facharbeitern rasch zunahm, sollten solche wieder aus dem aktiven Dienst an ihre Arbeitsplätze zurückgeführt werden. Arbeitersammeikader sollten den Mangel an geschultem Personal im Hinterland beheben helfen. Schließlich wurden auf diesem Wege etwa 230.000 Männer wieder in den industriellen Arbeitsprozess eingegliedert. Freilich blieb ein ständiger Austauschprozess im Gang: Immer wieder wurden volltaugliche Arbeiter ausgemustert, Untaugliche, Verletzte, Invalide und Kranke der Industrie zugewiesen. Im Sommer 1918 wurde schließlich festgestellt, dass nunmehr gerade acht bis zehn Arbeiter jene Tätigkeiten vollbrachten, die früher von zwei gesunden Männern geleistet werden konnten. Die Rüstungsindustrie konzentrierte große Menschenmassen. Besonders in und um Wiener Neustadt wuchs die Rüstungsindustrie enorm an. Hier wurden etwa 100.000 Menschen zusammengezogen. In Wiener Neustadt selbst lebten 1913 etwa 37.000 Zivilisten, 1918 64.000 Zivilisten und acht- bis neuntausend Militärpersonen. Der größte Betrieb war die (staatliche) Munitionsfabrik Wollersdorf, westlich von Wiener Neustadt, wo Ende Juni 1914 knapp 3500 Menschen beschäftigt waren, 1917 jedoch mehr als 30.000. Noch vor Kriegsausbruch wurden die Artikulationsmöglichkeiten der Arbeiterschaft stark eingeschränkt: Am 25. Juli 1914 wurde eine Kategorie „staatlich geschützter" Unternehmungen geschaffen, für welche das Koalitionsrecht praktisch aufgehoben war. Die militärische Leitung von Betrieben nach dem Kriegsleistungsgesetz tat ein Übriges, um, wie dies mehrfach kritisch vermerkt wurde, die Fabriken in Kasernen umzuwandeln. Die Offiziere in den Fabriken scheinen häufig ihre Position dazu verwendet zu haben, um die Arbeiter ihre Missachtung spüren zu lassen. So hieß es in einem Beschwerdebrief vom Dezember 1914 aus Wollersdorf, die Arbeiter hätten genug von
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„[... ] die Chikanen und robusten ordinären Ausdrücke wie Hunde, Gauner, Kanaillen, Tagdiebe, Fußtritte und Ohrfeigen und dgl. welche vom Herrn Hauptmann in der Tagesordnung stehen [...]" Die Arbeitszeiten wurden verlängert. In Wollersdorf arbeitete man bis zum Sommer 1914 neun Stunden pro Tag (54-Stunden-Woche). Bei Kriegsausbruch wurde diese Arbeitszeit auf zehn Stunden an allen Tagen der Woche ausgedehnt. Bei der Produktion der Artilleriemunition wurde ein Zwei-Schichtbetrieb von je zwölf Stunden eingeführt. Die Schutzbestimmungen für Frauen und Jugendliche wurden im September 1915 aufgehoben. Freilich musste man die Sonntagsarbeit 1915 wieder aufgeben — sie war in mehrfacher Hinsicht zu teuer und zu unproduktiv. Durch die rasche Verschlechterung der Ernährungssituation waren die langen Arbeitszeiten bald nur noch mit äußerstem Druck durchzuhalten. Schließlich verfügte das Kriegsministerium im Mai 1917 die probeweise Einführung des Achtstundentages bei militärischen Betrieben, was aber infolge heftiger Proteste der Privatindustrie rückgängig gemacht werden musste. Im Juli 191 7 war man in Wollersdorf wieder ungefähr bei der Friedensarbeitszeit angelangt, seit August 1918 bei der 52-Stunden-Woche. Verschoben hat sich dieA/terssch/chtunginnerhalb der Arbeiterschaft. Zum Ausgleich für die ins Feld einberufenen Jahrgänge zwischen 20 und 32 Jahren traten nunmehr ältere und jüngere stärker hervor. Bei der Wiener allgemeinen Krankenkasse waren 1913 etwa 8 % aller Versicherten bis 18 Jahre alt, 1914 schon 1 0 % , 1915 fast 1 4 % . Der Anteil der über 50-jährigen stieg im selben Zeitraum von knapp 1 8 % über 2 0 % auf fast 2 4 % . Eine ähnliche Verschiebung, freilich unter stärkerer Beschäftigung älterer Jahrgänge, lässt sich auch in der Munitionsfabrik Wollersdorf beobachten. Sinkende Arbeitskraft und Verlust an qualifizierten Fachleuten erhöhte auch das Unfallrisiko. In Wollersdorf gab es 1914 bei zwei Unfällen vier Verletzte und zwei Tote. 1916 registrierte man 17 Unfälle mit 23 Verletzten und 13 Toten, 1918 schließlich nur drei Unfälle, aber 54 Verletzte und 281 Tote, die meisten bei einer großen Brandkatastrophe am 18. September. Enorme Probleme gab es auch hinsichtlich der Unterbringung der so vergrößerten Belegschaften. Man behalf sich mit Barackenlagern, in denen häufig äußerst unzureichende Wohn- und sanitäre Verhältnisse herrschten. So entfielen in Wollersdorf 191 7 auf fünf Landsturmarbeiter zwei Strohsäcke. Besonders hervorgehoben wurde immer wieder die steigende Bedeutung der Frauenarbeit. 7.2.2
Frauenarbeit
Als die Männer „einrückend gemacht" wurden, mussten in der Berufs- und Arbeitswelt vielfach Frauen ihre Plätze einnehmen. Nicht, dass Frauen vorher nicht gearbeitet hätten: Aber Frauenarbeit war bisher zu einem großen Teil
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Arbeit in der Landwirtschaft gewesen. Erst an zweiter und dritter Stelle folgten der tertiäre und sekundäre Sektor. Das änderte sich mit dem Krieg. Der Frauenanteil in der Industrie stieg von 3 0 % (1914) auf 3 4 % (1916), in der Kriegsindustrie allein lag er 1917 bei 25 %, ebenso hoch wie in der Metall verarbeitenden Industrie (dem Kern der Kriegsindustrie), wo 1914 erst knappe 1 5 % der Beschäftigten Frauen waren. Noch viel höher stieg der Frauenanteil in einzelnen Munitionsfabriken, wo er sich zumeist um 50 % bewegte und erst 1918 absank. Am auffälligsten erschien den Zeitgenossen der Ersatz der männlichen durch weibliche Arbeitskräfte in Bereichen mit großer Öffentlichkeitswirkung, so bei der Straßenbahn. Bei den Wiener Straßenbahnen waren 1914 nur 287 Frauen tätig, 1918 etwa 7500 (oder 54 % der Gesamtbelegschaft). Zuerst aber intensivierte sich die Frauenarbeit als Heimarbeit, vor allem als Arbeit für den Uniformbedarf des Heeres. Mit dem Schwinden der Rohstoffreserven sank aber die Zahl der so beschäftigten Frauen, die nun in die Verkehrsbetriebe, Metall- und Maschinenindustrie abwanderten. Zugleich veränderte sich die Position innerhalb der Berufstätigkeit häufig dadurch, dass Frauen, die bislang im Geschäft oder auf dem Bauernhof mitgearbeitet hatten, nun die Betriebsleitung übernahmen und als Selbständige handeln mussten. Häufig ergab sich ein Wechsel des Wirtschaftssektors: Viele Frauen gingen aus der Landwirtschaft in die Industrie. Besonders häufig lässt sich dies bei Arbeiterinnen in der Rüstungsindustrie in und um Wiener Neustadt nachweisen, die aus den Agrargebieten Westungarns stammten. Diese „Ungarinnen" (die zu einem großen Teil aus dem heutigen Burgenland kamen) galten als fleißige und genügsame Arbeiterinnen. Wesentlich schlechtere Erfahrungen machte man hingegen mit Frauen aus Böhmen. Infolge der erzwungenen Arbeitslosigkeit in den traditionellen Textilgebieten Nordböhmens wurde hier heftig für die Arbeit im niederösterreichischen Industrieviertel geworben. 1916 waren 6000 Arbeiterinnen aus Nordböhmen in Wollersdorf, zu Jahresende mindestens 8400. Allerdings mangelte diesen aus industrialisierten Gebieten kommenden Arbeiterinnen die Genügsamkeit ihrer ungarischen Kolleginnen. Insbesondere den Damen aus Dux sagte man in Wollersdorf nach, sie übten einen „schlechten, zerstörenden Einfluss auf die hier ständigen Leute [...]" aus. Da es sich hier (zum Unterschied von den weniger zahlreichen tschechischen Pragerinnen) um Deutsche handelte, konnte dies nicht die Folge nationalistischer Agitation sein, sondern viel eher die Folge eines bereits in der heimischen Industrie entwickelten Klassenbewusstseins. Protestaktionen mit tschechisch-nationaler Färbung gingen in Wollersdorf hingegen von den Pragerinnen aus. Frauen waren in der Kriegsindustrie nicht gerne gesehen. Wenig geschätzt war vor allem die große Flexibilität der Frauen, die häufig zur Erntezeit, zu den Weihnachts- und Osterfeiertagen oder aus familiären Anlässen kündigten. Das konnten sie leichter als die Männer, da für sie nicht die einschränkenden Vorschriften des Kriegsleistungsgesetzes oder gar des Landsturmgesetzes galten.
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Erst im Frühjahr 1917 wurden auch Frauen stärker an ihre Arbeitsplätze gebunden. Ein zweiter Grund für die wachsende Ablehnung von Frauenarbeit war die Tatsache, dass bei den immer zahlreicheren Demonstrationen und Streiks gegen die unhaltbaren Verpflegungsverhältnisse im Sommer 191 7 Frauen und Jugendliche am radikalsten auftraten — vermutlich im Bewusstsein ihrer geringeren Unterworfenheit unter das militärische System, aber auch deshalb, weil sie, gezwungen zu stundenlangem Anstellen um kaum erhältliche, teure und schlechte Lebensmittel, am meisten unter den Mängeln des Systems litten. So drang man im Kriegsministerium darauf, Frauen nur noch im Falle absoluter Unentbehrlichkeit einzusetzen, da sie „[...] stets dasjenige Element darstellen, welche die Ruhe und Ordnung der Betriebe durch ihre zumeist angeborene schürende Tätigkeit stört(en) und wiederholt die Ursache von Streiks bildet(en) [...]." Allerdings hielten die anhaltenden Musterungen allenfalls tauglicher Arbeiter den Bedarf an Frauenarbeit wach. Wenn der Frauenanteil (wie etwa in Wollersdorf 1918) schließlich absank, so wohl nicht nur wegen der oben genannten Gründe, sondern vor allem auch wegen der rascher sinkenden Produktivität der Männerarbeit der an die Stelle der Tauglichen gesetzten Haibund Untauglichen: Dadurch blieb die Produktivität der Frauenarbeit relativ höher, ihr Anteil an der geleisteten Arbeit ging auch trotz sinkender Personenzahl wohl kaum zurück. Bemerkenswert bleibt jedenfalls der Hinweis auf die wachsende Politisierung der Arbeiterinnen in der Rüstungsindustrie. Davon wurden nun zweifellos nicht mehr nur jene Arbeiterinnen erfaßt, die schon in zweiter (oder dritter) Generation aus Arbeiterfamilien stammten, sondern auch jene agrarischer Herkunft. 7.2.3
Soziale Konflikte
Trotz der strengen Bestimmungen des Kriegsrechtes hörten Streiks auch während des Krieges nicht ganz auf. Aber ihre Zahl und Intensität verringerte sich, ebenso wie der gewerkschaftliche Organisationsgrad. Hatte man 1914 noch 165 Einzel- und 35 Gruppenstreiks gezählt, so 1915 nur noch 18 Einzelstreiks und einen Gruppenstreik, 1916 bloß 15 Einzelstreiks. Die Mitgliederzahl bei den Freien Gewerkschaften ging im heutigen Bundesgebiet von 253.000 1913 auf 109.000 im Jahre 1916 zurück. Das war, neben dem militärischen Regime, vor allem auch eine Folge der Mobilisierung der jungen, aktiven Kräfte der Arbeiterbewegung für das Heer. Die Haltung der jetzt führenden militärischen Kreise gegenüber der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung war ambivalent: Einerseits versuchte man, jede Organisationsarbeit möglichst zu unterbinden. Andererseits war eine gewisse Zusammenarbeit mit der Organisation der Arbeiterschaft nicht zu vermeiden, sowohl aus Gründen der Taktik und möglicher Integration der Arbeiterschaft in den Staat (und für die Zwecke des Staa-
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tes, jetzt also die Kriegführung) als auch wegen der immer nötiger werdenden Mitarbeit der Arbeitervertreter bei der Ernährungssicherung. Ausdruck dieser Ambivalenz ist etwa das Verbot, am 1. Mai 1915 Arbeitsruhe zu halten — und die gleichzeitige Erlaubnis, gewerkschaftliche Vereinsversammlungen zu besuchen, „in Anbetracht des korrekten Verhaltens der Sozialdemokratie gegenüber den Kriegsereignissen." Das zentrale und für die Habsburgermonarchie letztlich unlösbare Problem wurde jenes der Ernährung. Bereits zu Anfang 1915 kam es zu Engpässen in der Mehlversorgung. Im März dieses Jahres wurden Mehl und Getreide rationiert. Ab Mai 1915 wurden zwei fleischlose Tage pro Woche vorgesehen. Das war nur der Anfang — sieht man von den der Ernte jeweils folgenden Wochen ab, verschlechterte sich die Situation bis Kriegsende kontinuierlich (ohne sich danach zu verbessern). Im Jahre 1918 bestand die Menage in der Munitionsfabrik Wollersdorf aus einem kleinen Stück Brot, aus Kraut und einer Art von schwarzem Kaffee — und dies war die Ernährung in der kriegswichtigsten Industrie. Kaum vorstellbar war die Not bei den minder wichtig eingestuften Bevölkerungsklassen, besonders in den Städten. Von der Ernährungsfrage nahmen auch die ab 1916 einsetzenden Streiks und Demonstrationen ihren Ausgang. Im Oktober 1916 protestierten 200 Halleiner Arbeiterfrauen vor der Bezirkshauptmannschaft gegen die unzureichende Versorgung mit Zucker. Ende März 1917 traten die Arbeiter in Donawitz in den Ausstand, im April als Folge der Mehlknappheit die Salzburger StaatsbahnArbeiter. Im Mai 1917 streikten 42.000 Industriearbeiter in Wien. Im Juni und Juli 1917 gab es Ausstände in St. Pölten, Fohnsdorf, Knittelfeld und im Salzburgischen. Im August 1917 traten Arbeiter in Wollersdorf in den Streik, als sie kein Brot oder Mehl bekommen hatten. Über die politisierende Wirkung der Versorgungskrise auf die arbeitenden Frauen wurde schon berichtet. Im Zuge der Streiks änderte sich das Bewusstsein der Arbeiter. Ihre Forderungen nach Verbesserung der Versorgungslage und nach Lohnerhöhungen erweiterten sich zur Forderung nach Friedensverhandlungen und schließlich nach Veränderung des gesamten gesellschaftlichen Systems. Seit dem Frühjahr 1917 wurden die sozialen Konflikte daher mit steigender Härte und Erbitterung ausgetragen. Andererseits entwickelten sich aus der Unzufriedenheit der Arbeiter mit den Emährungsverhältnissen vorerst ansatzweise Institutionen der Mitbestimmung. Auf die Klagen über die schlechte Ernährungslage, immer gepaart mit Hinweisen auf Unterschlagungen und Betrügereien seitens der verantwortlichen Personen, antwortete man in Wollersdorf im Juni 1916 mit der Erlaubnis, zur Kontrolle der Landsturmarbeitermenage Vertrauensmänner zu wählen. Seit dem Oktober 1916 gab es auch Frauenvertrauensleute für die Mitwirkung und Kontrolle bei der Verteilung der Lebensmittel. Erheblich erweitert wurde das Vertrauensmännersystem seit dem Frühjahr 1917. Wie es ausgehend von Wollersdorf dazu kam, entbehrt nicht einer hu-
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moristischen Note: Angeregt wurde die allgemeine Wahl von Vertrauensleuten in einem an die zu Schwarzau auf dem Steinfeld lebende — und allgemein beliebte — Kaiserinmutter gerichteten anonymen Brief. Dieser erreichte offenbar das angestrebte Ziel, denn kurz darauf inspizierte der Chef der kaiserlichen Militärkanzlei das Werk und ordnete mit 8. April 1917 die Wahl von Vertrauensleuten an, welche die Beschwerden sammeln und weiterleiten sollten. Schon Ende April stellten sich die neu gewählten Vertrauensleute der Fabrik, von denen 15 % Frauen waren, dem Direktor vor. Die allgemeine Not, die Nachrichten von der erfolgreichen russischen Februarrevolution, aber auch ein gewisser Stilwechsel, der mit der Person des jungen Kaisers Karl verbunden war, bewirkten ein geändertes Verhalten der militärischen Obrigkeit — deren Macht übrigens etwas zugunsten ziviler Instanzen reduziert wurde — gegenüber der Arbeiterschaft. Neben einem bestimmten Entgegenkommen vollendete sich freilich zugleich auch die Militarisierung der Arbeitsprozesse: Mit einem Erlass vom 18. März 1917 wurden auch die weiblichen Arbeitskräfte in ihrer Mobilität stark eingeschränkt. Zum Teil als Antwort auf die große Streikbewegung des Sommers 1917 wurden Betriebe militarisiert, also alle männlichen Arbeiter nun völlig unter militärische Disziplinargewalt gestellt, gewählte Vertrauensleute von den militärischen Leitern diszipliniert und „einrückend gemacht". In Wollersdorf war die Militarisierung schon im Jänner 1917 vorgenommen worden. Allerdings wird nun auch die andere Linie zur Behandlung der Arbeiter deutlich: Mit einem Erlass vom 18. März 1917 wurden Beschwerde!commissioner! neu eingerichtet (teilweise in Ablösung von Beschwerdestellen, von denen die erste im Oktober 1915 für Niederösterreich installiert worden war), vor denen Arbeiter nicht nur selbst, sondern auch durch gewerkschaftlich Beauftragte Streitfälle aus dem Lohn- und Arbeitsverhältnis anhängig machen konnten. Schon im Jänner 1917 war durch die Mieterschutzverordnung versucht worden, die steigenden Lebenshaltungskosten aufzufangen und insbesondere die Frauen von Soldaten vor Delogierungen infolge von Mietenrückständen zu schützen. Bestimmungen über Lohnfortzahlungen bei Betriebseinschränkungen traten in Kraft. Mit 1. Juni 1917 wurde ein Ministerium für soziale Fürsorge geschaffen. Die Maßregelung von Vertrauensleuten im Sommer 1917 erfuhr von Seiten des Kriegsministeriums schärfste Missbilligung. Dasselbe Ministerium anerkannte im November 1917 Fabriksausschüsse der Arbeiterschaft in militärischen oder in Betrieben, die dem Kriegsleistungsgesetz unterworfen waren. Der große Jänner-Streik 1918 zeigt eine neue Dimension des Klassenbewusstseins der Arbeiterschaft. Er brach infolge der neuerlichen Kürzung der Mehlquote am 14. Jänner in Wiener Neustadt aus und erfaßte in kürzester Zeit alle wichtigen Industriegebiete der Monarchie. Fast eine Million Arbeiter und Angestellte befanden sich im Ausstand. Allein in Wien streikten am 19. Jänner 1918 mehr als 112.000 Arbeitnehmer. Der Streik erfaßte auch jene Betriebe, die eine weitere Verschlechterung der Versorgungslage irgendwie hatten ver-
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hindern können, so auch Wollersdorf. Völlig zu Recht wurde von Seiten der Direktion festgestellt, die Arbeiter streikten „nicht aus einem bestimmten — sie betreffenden — Grund, sondern aus allgemeinem Solidaritätsgefühl [...]" Der Jänner-Streik ist somit ein wichtiger Ausdruck des gewachsenen Klassenbewusstseins der Arbeiter. Dieses begnügt sich nun kaum mehr damit, Forderungen nach Verbesserung der Situation Nachdruck zu verleihen, sondern nimmt system-transzendierende Züge an. Kann man die Forderung nach sofortigem Abschluss der Friedensverhandlungen mit Russland und, allgemeiner, die Friedensforderungen als Ausdruck eines erweiterten politischen Mitbestimmungswillens interpretieren, so kommt in Ausdrücken der Sympathie mit dem Russland der Oktoberrevolution eine neue Tendenz zum Tragen, eine Tendenz zur völligen, radikalen und raschen Veränderung der Gesellschaft. Diese Tendenz wurde kaum von den aus der Sozialdemokratie kommenden Vertrauensleuten getragen. Im Gegenteil — die Vertrauensleute waren bei Teilen der Belegschaften geradezu in den Geruch der allzu intensiven Zusammenarbeit mit Unternehmern und Behörden gelangt. Im Jänner-Streik bildeten sich daher, zusätzlich zu den Vertrauensleuten, neue Organe heraus, Arbeiterräte. Zwar ist seit dem Herbst 1917 auch die Sozialdemokratie insgesamt stärker auf Linkskurs gegangen. Das konnte die Entstehung der Räte nicht verhindern, erlaubte aber ihre relativ rasche Einbindung in die sozialdemokratische Bewegung. Nach dem Jänner-Streik wurden die neuen, radikalen, von außen (außerhalb der Sozialdemokratie) kommenden Kräfte stärker isoliert, einrükkend gemacht, diszipliniert. Ende April wurde eine Abnahme des Einflusses dieser linksradikalen Gruppen konstatiert, deren Rekrutierung wohl am besten durch die Feststellung eines häufig überdurchschnittlichen Bildungsniveaus zu erklären ist. Die Wiener Neustädter Polizei warnte in diesem Zusammenhang vor Maßnahmen in den Betrieben, „welche die Position der so genannten Regierungssozialisten schwächen [...]" könnten. Regierungssozialisten: So systemerhaltend sah selbst die Polizei die Sozialdemokratie. Deren Stärke wuchs nun rasch. 1917 und 1918 stiegen die Mitgliederzahlen bei den Freien Gewerkschaften. Gab es 1916 nur 112.000 Freigewerkschaftler (im heutigen Österreich), so waren es 1917 schon 213.000, 1918 fast 300.000. Besonders die Frauenanteile stiegen überdurchschnittlich. Im Industriegebiet von Wiener Neustadt, wo sehr viele Frauen arbeiteten, hatte der Metallarbeiterverband Ende 1916 etwa 3000 Mitglieder, Ende 1917 aber schon 21.000. Das Jahr 1917 erweist sich damit als entscheidendes Jahr der Politisierung der Arbeiterschaft im Kriege. Schon am 1. Mai 1917 war, erstmals seit 1914, arbeitsfrei. Neuerdings brachen im Juni 1918 Streiks und Hungerdemonstrationen aus. Neben der Ernährungskrise war der Achtstundentag Gegenstand der Streikforderungen. Immer mehr Befugnisse erlangten die Arbeitervertreter in den Fabriken, da ohne sie die Produktion überhaupt nicht mehr aufrechtzuerhalten war. Von Mitte September an tagte der Fabriksausschuss der Munitionsfabrik Wollersdorf bis zum Kriegsende in Permanenz. Mit dem Zerbrechen der alten
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Macht Ende Oktober fiel häufig den Vertretern der Arbeiterschaft die Verantwortung für die Betriebe zu: Für kurze Zeit schien in der Tat die ganze alte Ordnung, Monarchie und Kapitalismus, beseitigt.
7.3
Zusammenbruch oder „österreichische Revolution"?
Es wird immer wieder darüber diskutiert, ob die Monarchie an ihren inneren, insbesondere nationalen Gegensätzen, an der mangelnden Leistungskraft ihrer Wirtschaft oder am Unvermögen ihrer Heerführer gescheitert sei, oder aber, ob sie von außen her zerstört worden sei. Man wird diese Frage nicht monokausal beantworten können. Sicher spitzten sich durch den Krieg die nationalen Gegensätze zu. Da propagandistisch der Krieg von gewissen Seiten (u. a. dem deutschen Reichskanzler Bethmann-Hollweg) als Krieg der „Germanen" gegen die „Slawen" interpretiert wurde, nimmt es nicht wunder, dass die Letzteren in ihrem Patriotismus für die immer ausschließlicher „deutsch" interpretierte Habsburgermonarchie erkalteten. Völlig irrationale Maßnahmen, wie die Beseitigung slowenischer topographischer Aufschriften oder die Verhaftung und Verurteilung slowenischer Geistlicher in Kärnten nach der Kriegserklärung Italiens 1915 (dabei hatten die Slowenen von einem italienischen Sieg für ihre nationalen Anliegen nicht das Geringste zu erwarten!), und die anschließenden Frustrationen auf slowenischer Seite vermögen dies zu illustrieren. Je stärker die militärische Abhängigkeit der Monarchie von den deutschen Bundesgenossen wurde, desto geringer die Bereitschaft von Tschechen, Rumänen, Kroaten, Slowenen, Ruthenen, Serben und Polen, für die Monarchie zu kämpfen und zu sterben. Wichtig ist auch die Frage nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Monarchie. Sie wurde und wird allgemein gering eingeschätzt. Nicht zu Unrecht wurde darauf verwiesen, dass die Wirtschaft der Monarchie bis zum Sommer 1918 eine gerade deshalb erstaunliche Leistungsfähigkeit bewiesen habe. Trotz äußerster Not habe bis zu diesem Zeitpunkt die Versorgung der Armee aufrechterhalten werden können. Erst die militärische Niederlage bei der JuniOffensive 1918 gegen Italien habe das Schicksal der Monarchie besiegelt (eine ähnlich entscheidende negative Weichenstellung sei die unglückliche AugustOffensive 1914 an der russischen Front gewesen, nach deren katastrophalem Ausgang die Abhängigkeit von Deutschland im Militärischen begonnen habe). Im Sommer 1914 gab es nirgends starke nationale oder soziale Strömungen gegen den Krieg. Militärische Niederlagen, Kriegsdauer und immer schlechtere Lebensmittelversorgung reduzierten diese Zustimmung. Das äußerte sich nicht nur in den schon genannten großen Streikbewegungen, die in den böhmischen Ländern zugleich den Charakter des Kampfes um die tschechische Unabhängigkeit annahmen. Als im Sommer 1916 während der russischen Brussilow-Offensive tschechische und ruthenische (ukrainische) Truppenteile kampflos überliefen, war damit ein Signal von kaum zu überschätzender Wirkung gesetzt worden. Überläufe, Desertionen und Meutereien kennzeichnen insbe-
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sondere die Entwicklung des Jahres 1918. Damals kämpften bereits 100.000 Mitglieder der Tschechoslowakischen Legionen auf der Seite der Alliierten. Im Rahmen der serbischen Armee existierte ein aus kriegsgefangenen Slowenen, Kroaten und Serben aus Österreich-Ungarn rekrutierter Truppenkörper von 22.000 Mann. Freilich war der militärische Apparat der Monarchie immer noch imposant: Anfang Jänner 1918 dienten 4,4 Millionen Mann in der k. u. k. Armee, davon 2,85 Millionen im Feld. Vom 1. bis 3. Februar 1918 revoltierten die Matrosen in Cattaro/Kotor, zwischen 9. und 20. Februar gab es Gehorsamsverweigerungen in verschiedenen Garnisonen auf dem Balkan, zwischen April und Juli kam es zu Heimkehrermeutereien — von aus der russischen Gefangenschaft entlassenen und nun wieder aktivierten Soldaten — in verschiedenen Städten. Größere Ausmaße nahmen Meutereien slowenischer Heimkehrer in Judenburg und Murau an. Von Juni bis September lässt sich schließlich eine relativ kontinuierliche Kette von Meutereien, Streiks und Plünderungen feststellen, die der Gewaltapparat zwar noch drakonisch unterdrücken konnte — aber nicht mehr auf die Dauer. Desertionen nahmen immer mehr zu: Ende des Sommers 1918 waren 230.000 Mann desertiert („grüne Kader"). Parallel zum Verfall der militärischen Kraft der Monarchie ging die Konsolidierung eigener Verwaltungsorgane der Nationen (Nationalräte — meist im Sommer 1918 gebildet), die schließlich in den letzten Oktobertagen die Macht übernahmen. Die Monarchie hörte zwischen 28. Oktober und 1. November 1918 schlicht und einfach auf zu bestehen. Verschärfung der nationalen und sozialen Gegensätze und Verfall der militärischen und wirtschaftlichen Kraft standen also in einem Wechselspiel: Je geringer die Fähigkeit des alten Staates wurde, seine Bewohner ausreichend zu ernähren, desto stärker wurde der Wunsch nach einer grundlegenden Veränderung der Verhältnisse. Diese Wünsche konnten sowohl an die älteren nationalen Bestrebungen als auch an die Zukunftsvorstellungen der Arbeiterbewegung von der klassenlosen Gesellschaft anknüpfen. Dabei wurde es immer gleichgültiger, ob der Einsatz staatlicher Machtmittel gegen die zentrifugalen Strömungen erfolgreich war oder nicht: War er erfolgreich (etwa in der Vollstreckung von Todesurteilen gegen Meuterer und Deserteure), dann war dieser „Erfolg" gleichbedeutend mit neuer Erbitterung, verstärktem Haß und intensivierter Ablehnung. War er nicht erfolgreich und versuchte die Führung, insbesondere der Kaiser und sein Beraterstab, die Habsburgerherrschaft durch Nachgiebigkeit (Amnestie) oder Reparlamentarisierung des politischen Lebens (Mai 191 7) zu stabilisieren, wurde dies als Schwäche ausgelegt. Dabei sollte man allerdings nicht übersehen, dass durch die de-facto-Anerkennung der diversen neuen Kräfte (Arbeitervertrauensleute, Nationalräte usw.) immerhin noch in der Monarchie ein neues Institutionengeflecht entstand, das im Oktober und November 1918 schließlich einen relativ reibungslosen Machtwechsel gestattete.
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7.3.1
Gesellschaftliche Verschiebungen durch den Krieg
Der Prozess der Geldentwertung, der zwar Kriege unweigerlich begleitet, durch die Finanzierung über Anleihen — und nicht, oder nur zum kleineren Teil, über Steuererhöhungen — aber beträchtliche Ausmaße annahm, traf die meisten Bevölkerungsschichten. Allerdings in unterschiedlichem Ausmaß: Industrielle und kommerzielle Unternehmer konnten im Kriege profitieren, soferne sie an Kriegslieferungen beteiligt waren. Die größten Gewinne wurden dabei in der ersten Kriegshälfte erzielt, während in den letzten beiden Kriegsjahren die Gewinnchancen sanken. Auch die Landwirtschaft hatte, besonders in der ersten Kriegshälfte, günstige Gewinnchancen. Amtliche Höchstpreise für Getreide beschränkten diese allerdings für die Getreidebauern, während die Viehzuchtbetriebe besser abschnitten. In der zweiten Kriegshälfte sanken die Erträge, und der Viehstand (und seine Qualität) verringerte sich so stark, dass die Gewinne insgesamt erheblich reduziert wurden. Jedenfalls gelang der Landwirtschaft durch die Kriegsinflation eine praktisch völlige Entschuldung. Etwas schlechter, aber nicht ungünstig, entwickelten sich die Einkommen der Militärpersonen, Offiziere und Mannschaften, besonders der ledigen, die durch Teuerungsabgeltungen für die Inflation entschädigt wurden. „[...] eine ungünstige Einkommensentwicklung finden wir bei dem Großteile der industriellen und händlerischen Angestellten und Arbeiter, [...] bei der Arbeiterschaft mit einer Neigung zur Besserung gegen Kriegsende, bei den Staatsbeamten, deren Realgehälter besonders stark sanken, bei den Ärzten, [...] beim häuslichen Personal, bei den Hausbesitzern und bei den Besitzern von Sparkapital und Renten. Z u den Verlustträgern im höchsten Ausmaße gehören besonders auch die Kriegsanleihezeichner [...]" (W. Winkler). Zu den materiellen kamen die Verluste an Menschenleben. Von insgesamt mehr als acht Millionen k. u. k. Soldaten starben mehr als eine Million, fast zwei Millionen wurden verwundet; 1,7 Millionen waren in Kriegsgefangenschaft geraten (von ihnen starben nochmals 480.000). Der Kriegstod war regional und sozial ungleich verteilt: Die meisten Toten gab es unter den Berufsoffizieren (120 von 1000), gefolgt von Fleischern und Selchern (61 von 1000). Die geringsten Verluste verzeichneten Druckereibesitzer (weniger als 1 von 1.000), Eisenbahnbeamte (2,6 Promille), Schriftsteller und Journalisten (4 Promille), Berufsmilitärbeamte (5), Post- und Telephonbeamte (6). Das hängt zweifellos mit der Vorliebe des Militärs für kräftige, an Metzeleien gewöhnte Männer zusammen und mit den mit bestimmten Berufen verbundenen Möglichkeiten, sich als im Zivilleben unentbehrlich entheben zu lassen: Hierher gehört der gesamte Kommunikationsapparat ebenso wie alles, was mit Propaganda zusammenhängt. Auch regional entstanden typische Unterschiede. Im Schnitt kamen in Zisleithanien auf 1000 Einwohner 23 Kriegstote, in Ungarn fast 26. Die gegenüber dem Durchschnitt überhöhten Anteile an Toten aus Gebieten
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mit überwiegend deutscher und magyarischer Sprache reflektieren ein letztes Mal die Konzeption der alten Monarchie — ein Vielvölkerstaat mit zwei herrschenden Nationen, die das Gefühl der Herrschaft mit einer bevorzugten Heranziehung bei verlustreichen Offensiven und Abwehrschlachten bezahlen mussten. Gebiete mit entwickelter Schwerindustrie kamen dabei, infolge der Enthebung für die Kriegswirtschaft, etwas besser davon als agrarische Gegenden oder Gebiete mit vorherrschender Leichtindustrie: So entfielen in Wien und Niederösterreich auf 1000 Einwohner 22,5 Kriegstote, in Kärnten hingegen 37 und in Vorarlberg 34. Durch Hunger, Unterernährung und Krankheiten stieg auch die Zivilsterblichkeit stark an. 1913 verstarben im Raum der späteren Republik etwa 118.000 Menschen, 1918 waren es 155.000. In Wien war die Zivilsterblichkeit 1918 um 57 % größer als 1913. Die Tuberkulose forderte um 78 % mehr Opfer als 1913. Nicht einmal 8 % d e r Kinder konnten im Sommer 1918 als gesund bezeichnet werden. Eine schwere Grippewelle („Spanische Grippe") forderte im Spätherbst 1918 und im folgenden Winter zahlreiche Opfer, darunter auch Egon Schiele und seine Frau. Der Zusammenbruch des Reiches im Herbst 1918 raubte dem Hof, dem Adel, der alten Hochbürokratie, dem Offizierskorps Stellung, Ansehen und gesellschaftliche Macht. Die patriotischen Bürger, welche ihr Vermögen in Kriegsanleihen angelegt hatten, verloren es. Der Wechsel im politischen System, der Aufstieg neuer Gesellschaftsschichten, die Abdankung der alten Führungsgruppen, dazu Hunger, Kälte, Krankheiten — es verwundert nicht, dass die überkommenen Wertesysteme schwankten und einzustürzen drohten und dass eine revolutionäre Grundstimmung weite Kreise erfassen konnte. Nur so ist es etwa erklärlich, dass Kaffeehausliteraten wie Franz Blei, Franz Werfel und Albert Paris Gütersloh plötzlich — und vorübergehend — Revolutionäre wurden. Z u mehr als einer Besetzung der Redaktion der „Neuen Freien Presse" durch Egon Erwin Kisch — der wirklich ein „Linker" war — und seine „Rote Garde" am 12. November reichte es freilich nicht. 7.3.2
Rätebewegung und revolutionäre Welle
Seit dem Spätsommer 1918 wuchs die Bedeutung der Räte stark an. Neben den Arbeiterräten entstanden Soldatenräte. Das Vorbild der Russischen Revolution spielte dabei eine große Rolle, waren doch nicht wenige Soldaten eben jetzt aus russischer Gefangenschaft zurückgekehrt, wo sie entscheidende Phasen der Revolution miterlebt hatten. Der Bedeutungsgewinn der Räte im Herbst 1918 zeigt aber noch etwas anderes: Mit dem Zusammenbruch der Versorgungs-, Kommunikations- und Herrschaftsverhältnisse in diesem Herbst war ein Vakuum entstanden, in dem man bestimmte Institutionen brauchte, die sich um die Ernährung einer Fabrik, einer Gemeinde, einer Kaserne kümmerten. Arbeiterräte wirkten bei der Lebensmittelaufbringung, bei der Wohnungsbewirtschaftung, bei der Arbeits-
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losenunterstützung mit. In den plötzlich überflüssig gewordenen Betrieben der Kriegswirtschaft übernahmen sie vollständig die Kontrolle (wie in Wollersdorf). Entsprechend den kleinräumigen Bedürfnissen, zu deren Befriedigung sie sich gezwungen sahen, entstanden freilich nicht nur weitreichende revolutionäre Entwürfe, sondern auch Züge von Lokalborniertheit. So haben die Arbeiterräte in Oberösterreich darauf gedrungen, mit den im Lande produzierten Lebensmitteln zunächst einmal die Ernährung des eigenen Landes sicherzustellen, bevor man etwas nach Wien liefern durfte. Die Arbeiterräte blieben bis zum März 1919 ausschließlich unter sozialdemokratischer Kontrolle (wählbar waren nur Parteimitglieder der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei), aber auch nach der Öffnung für andere Gruppen erreichten insbesondere die mit dem Leninschen Slogan „Alle Macht den Räten!" operierenden Kommunisten niemals mehr als 5 bis 8 % der Stimmen bei Wahlen für den Reichsarbeiterrat (die Zentrale der Arbeiterräte). Damit stand der Sozialdemokratie, die in der am 21. Oktober zusammengetretenen provisorischen Nationalversammlung für Deutsch-Österreich die kleinste Fraktion war (da hier Abgeordnete nach dem Wahlergebnis von 1911 versammelt waren!), eine enorme außerparlamentarische Macht zur Verfügung. Freilich nicht uneingeschränkt: Die Räte entwickelten eine erhebliche eigene Dynamik, die sich auch auf die eigene Partei auswirkte und deren Politik kräftiger sozialer Reformen nicht unerheblich mitbestimmte. Mit der Wahl zur konstituierenden Nationalversammlung im Februar 1919, aus der die Sozialdemokratie als relativ stärkste Partei hervorging, wurde deren Übergewicht noch stärker. Den Schritt zur sozialen Revolution, den die Kommunisten (Anfang November 1918 gegründet) und Béla Kun wünschten, verweigerte sie aber. Über die Gründe dafür wurde viel diskutiert. In Kürze zusammengefasst, lauteten die Argumente gegen die sozialistische Revolution im Frühjahr 1919 folgendermaßen: Infolge der Abhängigkeit insbesondere der industrialisierten östlichen Gebiete Österreichs (Wien, Industrieviertel, Mur- und Mürztal) von Lebensmittellieferungen aus den kapitalistischen Entente-Mächten und der Tschechoslowakei, aber auch aus den agrarischen Gebieten Österreichs würde durch die Ausrufung der Räterepublik die Gefahr der Spaltung Österreichs und der völligen Isolierung und Aushungerung der Arbeiterschaft heraufbeschworen. Darüber hinaus vertrat Otto Bauer die Ansicht, dass die Sozialisierung der Wirtschaft ohne eine vorherige Schulung der Arbeiterschaft auf dem Gebiet der Selbstverwaltung mit nichts anderem enden müsste als mit einem bürokratischen Staatssozialismus; die Unfähigkeit einer bürokratischen Organisation zur Leitung der Wirtschaft schien aber nach den Erfahrungen der bürokratisch gelenkten und dennoch chaotischen Kriegswirtschaft evident. So beschränkte man sich bei den immerhin gesetzlich ermöglichten Sozialisierungsmaßnahmen auf einige wenige gemeinwirtschaftliche Betriebe, die aus der Erbmasse der engeren staatlichen („ärarischen") Kriegsindustrie übrig geblieben waren (etwa die Munitionsfabrik Wollersdorf). Ferner kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Sozialisierungsdrohungen von 1918/19 sehr stark mit der man-
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gelnden Bereitschaft der Unternehmer zu Investitionen und zur Reaktivierung ihrer Industrien zusammenhing. Sie waren also auch ein Druckmittel, mit dem man gleichzeitig die eindrucksvolle Reihe wichtiger Sozialgesetze leichter durchzubringen hoffte. Als mit der Inflationskonjunktur ab Sommer 1919 die unternehmerische Investitionsbereitschaft wieder anstieg, verflachte auch sehr deutlich das Sozialisierungsinteresse. Dies hängt freilich auch mit dem Scheitern der ungarischen Räterepublik im Sommer 1919 und der kommunistischen Putschversuche in Wien im Frühjahr und im Juni 1919 zusammen. Seither ging auch die Bedeutung der Räte zurück. Versorgungs- und Unternehmerfunktion gingen langsam wieder auf andere Instanzen (und auf den Markt) über. Die Interessenvertretung der Arbeiter in den Betrieben übernahmen die Betriebsräte (Betriebsrätegesetz Mai 1919). Dieses gehört aber zum Gesamtkomplex der Sozialgesetze der jungen Republik. 7.3.3
Sozialgesetzgebung 1918 - 1920
Schon in den letzten Kriegsjahren war es notwendig geworden, zur Aufrechterhaltung der Kriegswirtschaft den Arbeitern gewisse Zugeständnisse zu machen. Dazu gehören der Mieterschutz (Jänner 1917) und die Beschwerdekommissionen (März 1917). Gleich nach der faktischen Machtübernahme durch die provisorische Regierung Renner (30. Oktober 1918) begann Ferdinand Hanusch seine Arbeit als Staatssekretär für soziale Verwaltung. Auch wenn im Bereich der Politik persönliche Vaterschaften für gewisse Neuerungen eher skeptisch beurteilt werden sollten, gilt doch allgemein, dass die kluge Taktik Hanuschs viele Dinge möglich machte, die vorher äußerst strittig waren. Den Unternehmern wurden jedenfalls zahlreiche materielle und institutionelle Besserstellungen der Arbeiterschaft abgerungen — immer mit dem nicht misszuverstehenden Hinweis auf die Räterepublik in Ungarn und die allfälligen Weiterungen, die sich ergeben könnten, würde man die äußerst bewegte Arbeiterschaft reizen. Zukunftsweisend war die Arbeitslosenunterstützung, die im Dezember 1918 als Übergangslösung für die Demobilisierungsphase erlassen wurde, später jedoch eine Umgestaltung zur eigentlichen Arbeitslosenversicherung erfuhr (1920). Im Dezember 1918 wurde neben einer Neuregelung der Heim- und Kinderarbeit auch allgemein der Achtstundentag als Normalarbeitstag eingeführt: Vorerst nur provisorisch, aber ziemlich genau ein Jahr später als Definitivum. Nach der Wahl der konstituierenden Nationalversammlung verstärkte sich die gesellschaftsverändernde Komponente der Gesetzgebung auf Grund des nunmehr deutlichen Übergewichtes der Sozialdemokratie mit teilweise scharfen Eingriffen in die überkommenen Eigentums- und Entscheidungsrechte. So gab es zur Beseitigung der Heimkehrerarbeitslosigkeit für Betriebe ab einer gewissen Größe einen Einstellungszwang. Ein Sozialisierungsgesetz wurde verabschiedet, auch einige Gesetze gegen den Großgrundbesitz (Schlössergesetz, Luftkeuschengesetz, Wiederbesiedlungsgesetz). Diese Komponente verflachte aber seit dem Sommer 1919 wieder. Für die Zukunft wichtiger wurde der
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Urlaubsanspruch auch für Arbeiter. Mit der Einrichtung der Einigungsämter, die aus den Beschwerdekommissionen hervorgingen (Dezember 1918), und der gleichzeitigen Verknüpfung dieser Ämter mit den Kollektivvertragsbestimmungen konnte eine breitere Geltung der Kollektivverträge erreicht werden. In das Jahr 1920 fällt eine Reihe von Berufsgesetzen, die die arbeitsrechtliche Situation bestimmter Gruppen, etwa der Hausgehilfen, verbessern sollten — damit wurden endlich die total veralteten, auf Regelungen von 1810 zurückgehenden Dienstbotenordnungen ersetzt. Nun wurde auch das Gesetz über die Errichtung von Arbeiterkammern verabschiedet. Alle Arbeitnehmer in Gewerbe und Industrie erhielten damit eine öffentlich-rechtliche Interessenvertretung mit Befugnissen, die weitgehend analog zu jenen der Handelskammern gestaltet wurden. Innerhalb des Bereiches der Sozialversicherung kam es neben einer sukzessiven Ausdehnung des Bereiches der Versicherten vor allem zu einer Neuregelung der Krankenversicherung der Staatsbediensteten. Zusätzlich in die Krankenversicherung ebenso wie in die Unfallversicherung einbezogen wurd e n d i e Landarbeiter
( 1 9 2 1 ).
Damit war aber der sozialreformerische Schwung erlahmt. W a r die Sozialgesetzgebung von 1918/20 nur vor dem Hintergrund einer weitgehenden Veränderung der gesellschaftlichen Gewichte — Machtverlust der Bürokratie und der Unternehmer, Machtgewinn der Arbeiterschaft als Partei und als Rätebewegung— mit der steten Drohung einer Fortführung der Revolution zu verstehen, so konnten solche Karten mit dem Wahlsieg der Christlichsozialen 1920, dem Bruch der Koalition und der Etablierung bürgerlicher Regierungen nicht mehr mit Aussicht auf Erfolg ausgespielt werden.
7.3.4
War es eine Revolution?
Die Frage nach dem revolutionären Charakter der Jahre 1918/19 ist nur schwer zu beantworten. Sicher gab es weitreichende Veränderungen im Bereich des politischen Systems. Diese waren aber kaum als Ergebnis des gezielten Vorgehens revolutionärer Kräfte zu interpretieren, sondern resultierten vielmehr aus der im September und Oktober 1918 erfolgten raschen und vollständigen Erosion der Habsburgermonarchie. Der militärische und wirtschaftliche Zusammenbruch dieser Wochen ermöglichte es den verschiedenen nationalen Strömungen, die zuletzt fast von allen Seiten unterstützten Forderungen nach völliger nationalstaatlicher Unabhängigkeit ohne große Schwierigkeiten umzusetzen. Auch im deutsch-österreichischen Kerngebiet der Monarchie hatte der alte Staat und die Staatsform soviel an selbstverständlicher Zustimmung eingebüßt, dass am 12. November auch die Deutschnationalen und Christlichsozialen, die sich bei der Konstituierung der provisorischen Nationalversammlung am 21. Oktober noch für die Monarchie ausgesprochen hatten, die Republik bejahten. Der Übergang der Staatsmacht — soweit von einer solchen noch die Rede sein konnte — von den Institutionen der Monarchie auf jene der Republik
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ging im Allgemeinen reibungslos vor sich: Die für Österreich und Ungarn, also beide Reichsteile gemeinsamen k. u. k. Ministerien führten ihre Geschäfte zu Liquidationszwecken noch unterschiedlich lange fort (so das Außenministerium bis November 1920). Die k. k. Ministerien für die westliche Reichshälfte (seit 1915 offiziell „Österreich") übergaben in den ersten Novembertagen ihre Agenden den Staatssekretären, die vom „Staatsrat", einem Vollzugsausschuss der provisorischen Nationalversammlung, bestellt worden waren. An die Stelle der k. u. k. Armee trat eine neugebildete „Volkswehr", in der den Soldatenräten eine bedeutende Stellung zufiel. In den Ländern übernahmen provisorische Landesausschüsse, bestehend aus vor dem Krieg gewählten Abgeordneten und zusätzlich ernannten Sozialdemokraten, die Macht. In den Wahlrechten für die Landtage war ja das Kurienwahlrecht bis 1918 erhalten geblieben. An die neuen Landeregierungen gingen auch die Kompetenzen der kaiserlichen Statthalter über. Die Länder gaben über Anregung Renners Beitrittserklärungen zur Republik ab, die vor allem im Sinne des Selbstbestimmungsrechtes der Völker den räumlichen Geltungsbereich der neuen Republik Deutsch-Österreich abgrenzen sollten — solche Beitrittserklärungen kamen am 29. Oktober von einer provisorischen Landesversammlung Deutschböhmens, am 30. aus Nordmähren-Schlesien, dann bis 18. November von den heutigen Bundesländern mit Ausnahme des noch nicht existenten Burgenlandes. Eine politische Revolution lag insoferne vor, als im neuen politischen System den Parteien eine zentrale Stellung zukam. Da die drei großen Parteigruppierungen der Sozialdemokraten, Christlichsozialen und Deutschnationalen auf allen Ebenen der staatlichen Tätigkeit präsent waren, bildeten jetzt sie das eigentlich integrative Element, nicht mehr die Person des Kaisers und Landesfürsten, die zentralistisch geführte Bürokratie oder Heer bzw. Adel. Nur, wie schon betont, war diese Revolution weniger das Ergebnis geplanten und gezielten Handelns, sondern des Zerfalles der Monarchie — wenn man davon absieht, dass sich die Sozialdemokratie 1918 zum Selbstbestimmungsrecht der Völker und daher in weiterer Konsequenz zur Errichtung einer deutschösterreichischen Republik mit Anschluss an Deutschland, wie dieser ja auch am 12. November 1918 beschlossen wurde, bekannte. Nicht nur politische, auch gesellschaftliche Veränderungen von nicht unbeträchtlicher Tragweite passierten. Die Erschütterung der wirtschaftlichen Basis breiter bürgerlicher Kreise, die schon der Krieg begonnen hatte, setzte sich bis zur Währungsstabilisierung 1922 fort: „Die Zinsen, welche der Staat den Rentiers zahlte (für die Kriegsanleihen, E. B.), stellten 1920 nur noch ein Hundertstel, 1922 nur noch ein Zehntausendstel des versprochenen Wertes dar. Der Millionär, der sein Vermögen in Kriegsanleihe angelegt hatte, war zum Bettler geworden. Mit den Rentiers wurden auch die Hausbesitzer expropriiert. Die während des Kriegs erlassene Mieterschutzverordnung wurde aufrechterhalten [...] Der Wohnungsaufwand verschlang bald nur noch einen sehr geringen Teil des Lohneinkommens [...] Aus den Wohnungen der Arbeiter verschwan-
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den die Bettgeher und Untermieter [...] Aber diese Hebung der Wohnkultur, eines der erfreulichsten Ergebnisse der sozialen Umwälzung, erfolgte auf Kosten der Hauseigentümer [...] Damit wurde eine der zahlreichsten Schichten des Bürgertums wirtschaftlich expropriiert. Auch die höhere Beamtenschaft wurde von der Geldentwertung niedergedrückt [...] Ihre Bezüge stiegen viel langsamer, als der Geldwert sank [...] Ein Hofrat hatte im Jahre 1915 noch 8,6-mal, im Jahre 1920 nur noch 3,3-mal höhere Bezüge als ein Beamter der untersten Rangklasse. Es war das Altwiener Patriziat, es waren die führenden Schichten der österreichischen Intelligenz, es waren große Teile des mittleren und kleineren Bürgertums, die durch die Geldentwertung verelendet wurden [...] Sie waren die Träger des österreichischen Patriotismus, der altösterreichischen Tradition gewesen [...] Sie waren die eigentlich Besiegten des Krieges. Es war ihr Reich, das im Oktober 1918 zusammengebrochen war. Und mit ihrem Reich hatten sie auch ihren Reichtum verloren." (1923). Nutznießer dieser Veränderungen waren Kriegslieferanten und, nach Kriegsende, Devisenschieber, die sich die strengen Bewirtschaftungsvorschriften dieses raren Gutes zunutze machten. Die Arbeiterschaft gewann, obgleich nicht materiell reicher geworden, an gesellschaftlichem Gewicht. Arbeiter- und später Betriebsräte sollten verhindern, dass sich die Unternehmer so wie bis 1918 als unbeschränkte Herren ihrer Betriebe fühlen durften. Ferner wirkte ab 1919/20 die Inflation in starkem Maße als Exportprämie, was dazu führte, dass sich die industrielle Wirtschaft rasch belebte und dass sie relativ höhere Löhne zahlen konnte als Staat, Länder und Gemeinden. Dadurch erschien vorübergehend die Arbeiterschaft auch materiell relativ besser gestellt als bürgerliche, besonders als die beamteten und angestellten bildungsbürgerlichen Gruppierungen (Professoren, Lehrer, Beamte, Spitalsärzte usw.) Auch die Sozialgesetzgebung unterstrich diese Verschiebung im gesellschaftlichen Gefüge. Es war also eine Revolution — und zugleich auch nicht. Es gab große Veränderungen im politischen System — aber die Grundlagen des Rechtssystems, von Justiz und Verwaltung blieben bestehen und damit auch der allergrößte Teil der Bürokratie. Es gab wenige oder eigentlich fast keine rechtlichen Veränderungen der Eigentumsverhältnisse — aber die geschilderte Verarmung breiter bürgerlicher Kreise führte zu einer tatsächlichen Neukonstellation der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Es gab, als Ergebnis, eine demokratische Republik als Parteienstaat — aber keine breite Übereinstimmung über die Gestaltung des Staates und der Gesellschaft im Innern. Allenfalls über seine Außenbeziehungen: Gewünscht wurde der Anschluss an Deutschland (bei vielen Christlichsozialen wohl nur als Ersatz für die Monarchie) — aber gerade dieser Wunsch konnte durch das Anschlussverbot des Friedensvertrages von Saint Germain (September 1919) nicht verwirklicht werden. Auch die Einbeziehung aller deutsch besiedelten Gebiete der Monarchie blieb ein unerfüllter Traum: Man bekam nicht nur die deutsch-böhmischen und deutsch-mährischen Gebiete nicht, sondern musste auch noch das deutschsprachige Südtirol (und ei-
Der Erste Weltkrieg
371
nige überwiegend deutschsprachige Orte im Kanaltal und im niederösterreichischen und steirischen Grenzgebiet) abtreten. Andererseits entschieden sich die mehrheitlich slowenisch sprechenden Unterkärntner in einer Volksabstimmung im Oktober 1920 für Österreich. Und als erfreulicher Ersatz für manche Verluste kam das Burgenland von Ungarn hinzu (1921). Es war sicher für die zukünftige Geschichte der Ersten Republik eine schwere Bürde, dass diese Revolution von ihren hauptsächlichen Trägern, den Sozialdemokraten, als „bürgerliche" bezeichnet wurde, als Fortsetzung von 1848, die nun endlich die Monarchie beseitigte. Diese Interpretation erleichterte es den Sozialdemokraten, sich 1920 aus der Regierung zurückzuziehen und den „bürgerlichen" Staat den bürgerlichen Kräften zu überlassen. Nun war aber die junge „bürgerliche" Republik keineswegs ein Anliegen des Bürgertums. Für die expropriierten und verarmten Offiziere, Beamten, Pensionisten, Rentiers und Hausbesitzer war die Republik das Symbol ihres gesellschaftlichen Positionsverlustes. Für die Unternehmer bedeutete „Republik" eine vorher nie gekannte Stärke der Arbeitermacht inner- und außerhalb des Betriebes, bedeutete zahlreiche „soziale Lasten" (wie immer berechtigt diese, schon allein zur Wiederherstellung der Arbeitskraft, auch waren!) und Einschränkungen ihrer unternehmerischen Verfügungsfreiheit. Für die Bauern war die Republik jenes System, das die Landarbeiter aus dem Dienstbotenstatus und damit aus dem bäuerlichen Haus entband und damit Gewerkschaften und Klassenkampfparolen nun auch auf dem Lande die Ausbreitung gestattete — wenngleich ansonsten die Bauern als faktische Nutznießer der Not und der politischen Gewichts-Verstärkung der Länder sich ganz gut mit den neuen Gegebenheiten abfanden. Dies alles macht es verständlich, warum gerade die bürgerlichen Schichten sich nicht mit der „bürgerlichen" Republik, die sie ja nicht geschaffen hatten, identifizieren konnten und, einmal an die Macht gelangt, sofort daran gingen, die „linken" Zutaten zu dieser Republik, den „revolutionären Schutt", zu reduzieren oder weitgehend zu entfernen. Mentale und materielle Sicherungen für die neue Republik (etwa durch Verstaatlichungen) wurden in der revolutionären Phase nicht geschaffen. Es war die Arbeiterschaft bzw. die Sozialdemokratie der eigentliche Träger der Revolution gewesen. Der neue Staat war dadurch stark geprägt. Ihn als bürgerlichen Staat bis zum erwarteten Zusammenbruch des Kapitalismus den bürgerlichen Kräften zu überlassen (in denen demokratisches und republikanisches Gedankengut keineswegs sehr verwurzelt war) hieß, seine weitere Entwicklung zu erschweren.
VIII VON DER ERSTEN ZUR ZWEITEN REPUBLIK Ohne dass sich die zahlenmäßigen Relationen zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Großgruppen mit dem Ende der Monarchie grundsätzlich verändert hätten, ist es doch berechtigt, die Zäsur von 1918 auch als entscheidenden Einschnitt für die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse anzusehen. Obgleich es keine Revolution im Sinne einer grundlegenden Veränderung der Eigentumsverhältnisse gab, war doch die politische Umwälzung von einschneidenden materiellen Verlusten und Statusminderungen für traditionell dominierende Gruppierungen (Adel, Besitzbürgertum, Bürokratie) begleitet. Zugleich wuchs das gesellschaftliche und politische Gewicht der Arbeiterschaft, aber auch jenes der Bauern. Das bedeutet: Der Zusammenbruch der Monarchie hinterließ der klein gewordenen Republik ein nicht unbedeutendes Potential von tendenziell enttäuschten, unzufriedenen, in der Verwirklichung ihrer Lebensentwürfe frustrierten Menschen, besonders aus den mittleren Schichten. Die — nur von kurzen Aufschwüngen unterbrochenen — ökonomischen Krisen, welche die kurze Geschichte der Ersten Republik begleiteten, haben dieses Potential jeweils noch vermehrt. Das wog auch deshalb so schwer, weil der Ersten Republik ein nationaler Grundkonsens über die Existenznotwendigkeit des österreichischen Staates ebenso fehlte wie ein demokratischer Grundkonsens, denn alle wichtigen politischen Strömungen wollten — früher oder später — das republikanisch-demokratische System in etwas anderes umwandeln: die Sozialdemokraten in die klassenlose sozialistische Gesellschaft, die Christlichsozialen in eine ständische Gesellschaft auf der Basis christlicher Ordnungsvorstellungen und die Deutschnationalen in einen ständisch organisierten Volksstaat der gesamten deutschen Nation. Vor einer genaueren Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Ersten und Zweiten Republik ist es jedoch unerlässlich, einen Blick auf die wirtschaftliche und demographische Entwicklung zu werfen.
1
Stagnation und Wachstum
Es war eigentlich das wirtschaftliche Erbe der Monarchie für die Erste Republik nicht so katastrophal, wie dies die meisten Zeitgenossen empfanden: Österreich erbte vom alten „Zisleithanien" nur 22 % der Bevölkerung, aber 30 % des Volkseinkommens und etwa 32 % der Fabriken. Das Gebiet der Republik Österreich hatte das höchste Pro-Kopf-Einkommen der Monarchie. Aber dieser relativ günstigen Ausgangslage standen zahlreiche Schwierigkeiten gegenüber. So war, beispielsweise, nach 1918 die traditionelle überregionale Arbeitstei-
Stagnation und Wachstum
373
zwischen Böhmen, Vorarlberg und Wien/Niederösterreich im Textilsektor zerstört, was die Exportchancen der Textilindustrie nachhaltig behinderte. Der Warenaustausch hatte in der Habsburgermonarchie weitestgehend den Charakter des Binnenhandels, nun war der Austausch derselben Waren — etwa die Ausfuhr von Industrieprodukten nach Ungarn, oder die Einfuhr von Mehl oder Weizen von dort — zum Außenhandel geworden, mit deutlichem strukturellem Einfuhrüberschuss. Die Inflation ab 1919 verschärfte die Probleme. Zwar wurde durch den Verfall der Krone der Export angeheizt, aber diese Begünstigung traf alle Industrien, besonders die strukturschwachen, so dass die Inflationskonjunktur notwendige Anpassungsprozesse unterband. Solche Anpassungen wären dringend notwendig gewesen, da durch die Kriegswirtschaft eine enorme Kapazitätsausweitung besonders in den Bereichen Eisen und Stahl stattgefunden hatte, die sich für die Zukunft als schwere Hypothek für das niederösterreichische Industrieviertel und die Obersteiermark erweisen sollte. Daneben bestand in Wien ein Überangebot an Dienstleistungen (Zentralverwaltung, Bankwesen, Unternehmensleitungen von Industrie- und Handelsunternehmungen, Zeitungswesen, Kultur, Unterricht, Wissenschaft), das bis 1918 auf ganz Zisleithanien und zum Teil sogar auf die gesamte Monarchie ausgerichtet war. Diesem Angebot stand nun nur mehr die stark reduzierte Nachfrage der kleinen Republik gegenüber. Die Reaktion der Bankmanager verschlimmerte die Sache nur: Anstatt realistisch die Dinge zu nehmen, wie sie nun einmal waren, versuchte man dennoch, weiterhin Metropole zu spielen und die alte ökonomische Herrschaft über weite Gebiete Mitteleuropas aufrechtzuerhalten. Das ging freilich nur mit Hilfe von (westlichem) Auslandskapital, was mittelfristig sehr problematische Folgen zeitigen sollte. Auch im Bankenbereich hatte die Inflation ungünstige Auswirkungen: Spekulationsgeschäfte erlaubten während der Inflation eine weitere Aufblähung des Bankenapparates, der für die Republik sowieso schon zu groß war: In Wien verdoppelte sich die Zahl der Aktienbanken von 1913 bis 1924 auf 61, die Zahl der Privatbanken war sogar von 15 auf 260 emporgeschnellt. Umso schlimmer mussten sich die unausbleiblichen Zusammenbrüche auswirken (die übrigens, da sie tendenziell „bürgerliche" Bankangestellte, Aktionäre usw. betrafen, neuerdings das Unzufriedenheitspotential dieser Herkunft vergrößern mussten). lung
Durch die mit dem Genfer Abkommen von 1922 abgesicherte Währungsstabilisierung — mit massiven Auflagen für die Budgetgestaltung — wurden die Valuta-Verhältnisse geklärt, doch die Wirtschaftssituation wurde schwieriger. Voll brach die Stabilisierungskrise aber erst 1925 aus: Arbeitslosenzahlen stiegen an, notwendige Investitionen waren auf Grund der jetzt sehr restriktiven Geldpolitik von Völkerbundrat, Regierung und Notenbank fast unmöglich geworden. Auch die Konjunkturperiode 1927 bis 1929 führte nicht zu einer entscheidenden Belebung der Wirtschaft. Immerhin erreichte die österreichische Wirtschaft in diesen Jahren in etwa den Stand von 1913, wobei sich innerhalb des Bruttonationalproduktes eine Verschiebung von der Industrie und der Bauwirtschaft hin zur Land- und Forstwirtschaft ergab.
374
V o n der Ersten zur Zweiten Republik
Die Weltwirtschaftskrise wirkte sich unter diesen Umständen ganz besonders schwer aus. Infolge der starken Exportabhängigkeit wurden die restriktiven Maßnahmen der diversen Handelspartner besonders massiv spürbar. Bis 1932 sank die Industrieproduktion um etwa zwei Fünftel des Wertes von 1929, die Arbeitslosenrate stieg auf weit mehr als 20 %, unter Einbeziehung der versteckten Arbeitslosen sogar auf weit über 30 %! Verschlimmert wurde die Krise durch die Bankenkrise (1929 Zusammenbruch der Bodenkreditanstalt, 1931 der Creditanstalt für Handel und Gewerbe). Die Sanierung der Creditanstalt, der letzten großen Bank Österreichs, erforderte neuerlich einen großen internationalen Kredit (Lausanner Anleihe 1932), mit neuerlicher internationaler Kontrolle und — in ihrem Gefolge — einer stark verminderten wirtschaftspolitischen Manövrierfähigkeit von Regierung und Parlament. Im Übrigen stärkten die bitteren parlamentarischen Auseinandersetzungen um die Anleihe in Bundeskanzler Engelbert Dollfuß die Überzeugung, man müsse über den Parlamentarismus hinwegkommen. Abgesehen davon verwendete die Regierung während der CA-Krise das Kriegswirtschaftliche Ernächtigungsgesetz von 1917, um Direktoren der Bank zur Haftung heranzuziehen, was als eine Art Testfall für die ab März 1933 installierte „autoritäre Regierung" gelten kann. Die Krise bedeutete einen retrogressiven Anpassungsprozess: Es wurden wenige neue, zukunftsträchtige Produktionen aufgebaut, sondern veraltete und leistungsschwache starben ab. Zugleich wandelten sich die Außenhandelsbeziehungen. Österreichs Exporte veränderten langsam ihre Richtung (von den Nachfolgestaaten Ungarn, Jugoslawien, Rumänien weg nach Italien, Deutschland und Westeuropa) und ihren Inhalt: Rohstoffe und Halbfabrikate traten an die Stelle von Fertigwaren. Seit 1930 wurden die Importe — besonders, aber nicht nur, auf dem Agrarsektor — stark gedrosselt, so dass bis 1937 auf einem enorm reduzierten Niveau der Außenhandel fast ausgeglichen wurde. Durch die Reduktion der Löhne und Sozialleistungen seit 1933 bot auch die innere Kaufkraft keinen Ersatz für verloren gegangene Exportmärkte. Bis 1937 wurde schließlich in der Industrieproduktion — als Folge der anlaufenden internationalen Rüstungskonjunktur —das Niveau von 1929 wieder erreicht, nicht aber bei Massenbeschäftigung und Massenkonsum. Durch diese Umstände ist die vermutlich ziemlich hohe Zustimmungsrate zum Anschluss an Hitlers Deutsches Reich 1938 ebenso (mit) zu erklären wie der rasche wirtschaftliche Aufschwung, der 1938 einsetzte: Die zahlreichen Arbeitslosen — meist ja qualifizierte Kräfte! — wurden in der Kriegswirtschaft des „Dritten Reiches" dringend benötigt, ebenso wie die brach liegenden industriellen Kapazitäten. Neue Industrien wurden geschaffen. Dieser Industrialisierungsschub betraf primär den Westen, in erster Linie Oberösterreich (Linz, Ranshofen, Lenzing). Obgleich diese neuen Industrien 1945 zumeist in Trümmern lagen (oder noch gar nicht fertig gestellt waren), dürften sie doch einen wichtigen Anstoß für die ökonomische Modernisierung nach 1945 geboten haben. Von größter Bedeutung für die rasche Ankurbelung der österreichischen Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg war zweifellos der Marshall-Plan, das
Stagnation und Wachstum
375
European Recovery Program (ERP). Österreich war — nach Norwegen — das Land mit dem zweithöchsten Pro-Kopf-Anteil an ERP-Hilfe in Europa. Das waren allein für 1949 — je nach Berechnungsmodus — zwischen 7 und 18 % des Bruttoinlandsproduktes. Österreich wurde die Hilfe außerdem zur Gänze geschenkt. Da die End-Empfänger die erhaltenen Investitionsgüter aber bezahlen mussten, entstand so ein eigener Fonds zur weiteren Verwendung, daraus wurden weitere Investitionsmittel billig zur Verfügung gestellt (Counterpart-Mittel). Diese Mittel spielten beim raschen Anstieg der Investitionen eine überragende Rolle. Die Hilfe wurde allerdings regional sehr ungleich verteilt. Zwar erhielt auch die sowjetische Besatzungszone (Niederösterreich, Burgenland, Mühlviertel, große Teile Wiens) gewisse Anteile, aber der Löwenanteil ging doch in die westlichen Bundesländer, vor allem nach Oberösterreich und Salzburg, also in die amerikanische Besatzungszone. Nach Überwindung der unmittelbaren Kriegszerstörungen erreichte die industrielle Produktion schon 1950 wieder das Niveau von 1937, während die Industrie in der Ersten Republik niemals das Niveau von 1913 erlangt hatte. Nach der Stabilisierungskrise 1952/53 begann ein in der Wirtschaftsgeschichte Österreichs einmaliger industrieller Boom: Zwischen 1954 und 1993 stieg das Bruttoinlandsprodukt um durchschnittlich 3,8 % pro Jahr; die höchsten Wachstumsraten brachten die fünfziger Jahre mit 6,5 % p. a., gefolgt von den sechziger Jahren mit 4,7 % und den Siebzigern mit 3,7 %. Von 1983 bis 1993 sank die jährliche Wachstumsrate auf 2,3 %. Es hat den Anschein, als ob zwischen 1950 und 1973 der große Rückstau der Zeit zwischen 1914 und 1937 (bzw. 1945) in einem raschen Wachstumsprozess aufgeholt worden wäre und dass sich seither wieder — analog zum übrigen westlichen Europa — ein langsameres Entwicklungsmuster durchsetzte, hervorgerufen durch Marktsättigung und Probleme der internationalen Konkurrenzfähigkeit. Zwischen etwa 1840 und 1980 lässt sich insgesamt eine relativ kontinuierliche Kurve des Wirtschaftswachstums ziehen. Zwischen 1914 und 1945 zeigt diese Kurve einen scharfen Einschnitt an, der eine Stagnation von mehr als drei Jahrzehnten bedeutete. Danach wurde in erstaunlich kurzer Zeit jene Entwicklungsstufe gewonnen, die bei kontinuierlicher Fortsetzung des Trends der Zeit vor 1913 ungefähr zur selben Zeit ebenfalls erreicht worden wäre. Seit 1.1.1995 ist Österreich Vollmitglied der Europäischen Union. Diese Mitgliedschaft wurde bereits 1972, durch den Vertrag über die Beseitigung der Zölle zwischen der EWG und Österreich im nichtlandwirtschaftlichen Bereich vorbereitet. Damit ging die kurze Phase des „Sonderweges" der EFTA-Integration (seit 1960) zu Ende und die Wirtschaft Österreichs richtete sich noch stärker auf Westeuropa aus. 1993 kamen mehr als zwei Drittel aller Importe aus der EU, nur wenig geringer war der Exportanteil (bei insgesamt hohem Außenhandelsdefizit). Die rasche ökonomische Modernisierung führte zu ebenso raschem gesellschaftlichem Wandel. Trug die Struktur der österreichischen Gesellschaft um 1950 noch zahlreiche Kennzeichen älterer Verhältnisse, so änderte sich das seither rasant.
376
2 2.1
Von der Ersten zur Zweiten Republik
Strukturwandel der Bevölkerung Quantitative Entwicklung
Von 1923 bis 1995 wuchs die Bevölkerung Österreichs insgesamt um eineinhalb Millionen Menschen (von 6,5 auf 8 Millionen). Dieses durchaus langsame Wachstum (etwa 0,3 % pro Jahr) ist nur zu einem geringeren Teil den Geburtenüberschüssen zuzuschreiben, sondern ganz überwiegend den sinkenden Sterberaten sowie der Zuwanderung. Zeigten die Jahre des Ersten Weltkrieges einen deutlichen Sterbeüberschuss, so wurde danach wieder ein Geburtenüberschuss erreicht, bei freilich weiterhin sinkender Ceburtenrate (im Durchschnitt der Jahre 1910 - 1923 gab es 137.000 Geburten jährlich, im Durchschnitt der Jahre 1934 - 1939: 93.000). Komplizierter sind die Wanderungsbewegungen zu interpretieren. Während nach 1918 zahlreiche Tschechen Wien und die umliegenden Industriegebiete verlassen haben (woraus ein negativer Wanderungssaldo resultierte), kamen in der gleichen Zeit zahlreiche ehemalige kaiserliche Beamte und Offiziere aus allen Teilen der Monarchie in das neue, kleine Österreich (nicht einmal: „zurück", denn viele von ihnen stammten gar nicht aus diesen Gebieten). Auch zahlreiche Juden, besonders aus Galizien, zogen, den Flüchtlingsstrom von 1914/15 fortsetzend, nach Wien (von den in den Jahren 1920 - 1925 Eingebürgerten waren 21.000 mosaischen Glaubens). Dagegen wanderten viele Menschen (besonders aus dem Burgenland) nach Amerika aus. 1938 änderte sich die gesamte Szenerie: Jetzt begannen, als Folge intensivierter Familienförderungspolitik und der insgesamt gebesserten Wirtschaftsaussichten, die Kinderzahlen wieder zu steigen, bis auf die Höchstzahl 146.000 im Jahre 1940. Ab diesem Jahr stieg auch die Zahl der Kriegstoten, die allerdings erst 1945 ihren Höhepunkt erreichte (vor dem Krieg pendelten die Sterbefälle um 90.000 bis 95.000 pro Jahr, 1945 waren es 224.000). Auch die Wanderungsbilanz änderte sich: Die österreichischen Juden wurden ihres Heimatrechtes beraubt und, soweit sie nicht auswandern konnten (etwa 125.000 Menschen), in Konzentrationslager deportiert und schließlich im Zuge der so genannten „Endlösung der judenfrage"dort ermordet (ca. 65.000 Menschen). 1938 verließen darüber hinaus viele Arbeiter Österreich, um in der unter Arbeitskräftemangel leidenden deutschen Industrie eingesetzt zu werden. Insgesamt sind zwischen 1934 und 1951 etwa 236.000 Menschen aus Österreich ausgewandert. Bei und nach Kriegsende kamen aber fast 400.000 (vielfach vertriebene „Volksdeutsche" aus der Tschechoslowakei, Jugoslawien und anderen Regionen) neu hinzu, so dass Österreich am Ende dieser turbulenten Entwicklungsphase einen deutlichen Wanderungsgewinn aufzuweisen hatte. Trotz der vielen Todesfälle hatte Österreich nach 1945 mehr Einwohner als vor 1938. Nun konsolidierte sich auch wieder das generative Verhalten. Nachdem 1945 ein deutlicher Rückgang der Geburten zu verzeichnen gewesen war,
377
Strukturwandel der Bevölkerung
setzte ab Mitte der 1950er Jahre eine Zunahme der Geburten ein, die 1964 einen Höhepunkt („Baby-Boom") erreichte: 134.000 Geburten standen in diesem Jahr 89.000 Sterbefällen gegenüber. Seither gingen die Geburtenziffern zurück und lagen in den 1990er Jahren zwischen 90.000 und 95.000 pro Jahr. Insgesamt scheint sich die Geburtenrate bei 11 bis 12 Geburten auf 1000 Einwohner einzupendeln. Die Sterbefälle auf 1.000 Einwohner sanken von fast 13 um 1970 auf 10 im Jahre 1995. Niedrige Geburtenraten korrespondieren mit sinkenden Sterberaten. Das Wachstum der Bevölkerung ist primär auf die Zuwanderung von Gastarbeitern und politisch Asylsuchenden — besonders während der Jahre 1989 bis 1993, mit Höchstzahlen von 80.000 im Jahre 1990, fast 91.000 im Jahre 1991 und 86.000 1 9 9 2 - zurückzuführen. 1996 hatte Österreich eine halbe Million mehr Einwohner als Mitte der achtziger Jahre. 2.1.1
Regionale Verteilung
Tabelle 20: Verteilung der Bevölkerung auf die einzelnen Bundesländer Österreich = 100 Burgenland Kärnten
1923 4,4
1951
1981
1991
4
3,6
3,5
5,7
6,8
7,1
7,0
Niederösterreich
21,8
20,2
18,9
18,9
Oberösterreich
13,4
16
16,8
17,1
3,4
4,7
5,8
6,2
15,0
16,0
15,7
15,2
4,8
6,2
7,8
8,1
Salzburg Steiermark Tirol Vorarlberg Wien
2,1
2,8
4,0
4,3
29,4
23,3
20,3
19,8
Die wichtigste Veränderung gegenüber der Ersten Republik ist die regionale Verlagerung der Bevölkerung. 1923 lebten fast 30 % der Bevölkerung in Wien. Wien und Niederösterreich gemeinsam beherbergten mehr als die Hälfte aller Österreicher. 1997 war nur mehr knapp jeder fünfte Bewohner Österreichs in Wien ansässig, in Wien und Niederösterreich zusammen wohnen weniger als 37 %. Wien musste gegenüber der Ersten Republik — ebenso wie das Burgenland— auch in absoluten Zahlen Verluste hinnehmen: Wien verlor von 1934 bis 1991 sogar ein Fünftel, das Burgenland knapp ein Zehntel seiner Einwohner. Am stärksten wuchs die Einwohnerschaft in diesem Zeitraum in Vorarlberg (+ 110 %), gefolgt von Salzburg (+ 89 %), Tirol (+ 80 %) und Oberösterreich (+ 41 %), das damit der Einwohnerzahl nach zum drittgrößten Bundesland (unter Verdrängung der Steiermark) avancierte. In den Bundesländern Oberösterreich, Salzburg, Tirol und Vorarlberg lebten 1934 knapp ein Viertel aller Einwohner Österreichs, 1991 waren es mehr als ein Drittel.
378
Von der Ersten zur Zweiten Republik
Die Bevölkerungsverteilung der Ersten Republik reflektiert noch den Zustand der späten Monarchie, als Wien mit Niederösterreich die Zentralregion für die gesamte Monarchie bildete. In diesem Kontext waren die westlichen Länder Peripherie, ohne besondere Wachstumsimpulse. Das änderte sich 1938 nach dem Anschluss: Wien verlor seine beherrschende Stellung jetzt nicht nur gegenüber den Ländern der Monarchie, sondern auch gegenüber jenen der Republik. Die neu eingerichteten „Reichsgaue" wurden direkt Berlin unterstellt und von Wien bis 1941 weitgehend abgekoppelt. Zur gleichen Zeit verlor Wien seine Juden (etwa 1 0 % der Einwohnerschaft). Die „Entprovinzialisierung der Provinz" als Ziel und zugleich als Methode nationalsozialistischer Herrschaft wurde unterstrichen durch große Industrialisierungs- und Bauaufträge für die westlichen Länder. Dadurch begann sich die Bevölkerungsstruktur in Ost und West langsam anzugleichen — die übergroßen Agraranteile im Westen wurden ebenso abgebaut wie der Vorsprung der östlichen Länder an Industriearbeitern. Diese Westbewegung verstärkte sich nach 1945 noch: Mit der Errichtung des „Eisernen Vorhanges" zwischen Österreich und den ehemaligen Nachfolgestaaten ÖSSR und Ungarn (zeitweilig auch Jugoslawien) verlor Wien auch jenen Rest von Bezügen dorthin, die bisher noch bestanden hatten und etwa in der Besucherstruktur des Semmeringgebietes bis in den Zweiten Weltkrieg hinein nachklangen. Die beginnende ökonomische Integration Westeuropas ließ die westlichen, 1945 - 1955 von den westlichen Mächten (USA, Großbritannien, Frankreich) besetzten Länder rascher und stärker Anschluss an die westeuropäische Entwicklung finden als die östlichen: Jene lagen den europäischen Metropolen näher als Wien, das nun an den äußersten Rand der westeuropäischen Wirtschaftszone gerückt war, an die Peripherie — eigentlich zur „Provinz" geworden, trotz der Wiederherstellung des Hauptstadtstatus (und die architektonische Qualität der Wiener Gemeindebauten der Jahre zwischen 1950 und etwa 1980 belegt diese Behauptung spielend). Auch die Flüchtlinge aus den sowjetisch besetzten bzw. kommunistischen Ländern (zuerst die „Volksdeutschen", dann, 1956, Ungarn, später Tschechen und Polen) bevorzugten, soweit sie nicht wieder weiter wanderten, die westlichen Bundesländer. Eine wichtige Folge dieser Verlagerungen ist eine Angleichung der Bevölkerungsstruktur in ökonomischer und sozialer Hinsicht. Konnte 1920 noch der Osten als industrialisiert gelten und der Westen (und Süden) als agrarisch (neben einigen Industrie-Inseln im Westen um Steyr, Linz, im Unterinntal und in Vorarlberg), so ist seither neben Wien, Niederösterreich, die Obersteiermark und Vorarlberg vor allem Oberösterreich als Industrieland getreten. Dieses Land hatte 1991 die höchste Zahl an Industriebeschäftigten (182.000), vor Niederösterreich (142.000), das noch vor Wien mit 131.000 Industriebeschäftigten lag, und der Steiermark (112.000). Zählt man alle nichtlandwirtschaftlichen Arbeitsplätze zusammen, so führte 1991 Wien vor Oberösterreich, Niederösterreich und Steiermark. Das eindrucksvollste relative Wachstum an nichtlandwirtschaftlichen Arbeitsplätzen wiesen aber Vorarlberg, Salzburg und Tirol
Strukturwandel der Bevölkerung
379
auf. Seit 1989 waren auch im Osten, vor allem in Wien, wieder Wachstumsphänomene zu beobachten. Die Zuwanderung seit 1989 konzentrierte sich sehr stark auf Wien, das auch als Fremdenverkehrsort an Attraktivität gewonnen hat. Wien hat heute wieder 1,600.000 Einwohner und wird wahrscheinlich (langsam) weiter wachsen. Wachstumsgewinner sind (und werden wohl auch zukünftig sein) die suburbanen Räume, also das nähere und weitere Umland von Wien, Graz, Linz, Wels, Salzburg, Innsbruck, St. Pölten und Wiener Neustadt. Niederösterreich und Wien werden — ebenso wie der Westen — insgesamt eher Wachstumsregionen bleiben, mit keineswegs hohen Wachstumsraten. Das Burgenland, Steiermark und Kärnten (der Süden und der äußerste Osten) verlieren weiter an Bevölkerungsanteilen. Hier gibt es sowohl eine ungünstige Geburten- wie auch eine negative Wanderungsbilanz. 2.1.2
Die Bevölkerung nach Wirtschaftssektoren
Die Erwerbsquote, also der Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung, stagnierte in der Ersten Republik, oder ging sogar zurück. Seit den späten 1970er Jahren steigt sie deutlich an: 1975 betrug sie noch unter 4 0 % (Männer: 52,4 %, Frauen 28,8 %), 1985 lag sie bei 45 % (Männer 56,7 %, Frauen 33,6 %), 1995 waren fast 49 % der Bevölkerung erwerbstätig, mehr als 57 % der Männer und 40 % der Frauen. In diesen Zahlen äußert sich nicht nur ein Rückgang der Kinderzahlen, sondern vor allem ein deutliches und kontinuierliches Wachstum der Erwerbstätigkeit von Frauen. Der Anteil der selbständig Berufslosen, also der Rentner und Pensionisten und der von ihnen Erhaltenen, ist stark angewachsen. Er betrug 1934 15 %, 1991 aber schon mehr als 2 6 % — mehr als ein Viertel der österreichischen Bevölkerung gehört dem Sektor der nicht-berufstätigen Bevölkerung an. Erwartungsgemäß geschrumpft ist der primäre Sektor: 1934 gehörten 27 % der österreichischen Bevölkerung zur Land- und Forstwirtschaft, 1971 waren es nur mehr 10%, 1991 4 % . Der industriell-gewerbliche Bevölkerungsanteil, 1934 schon mit 31 % der relativ größte, wuchs bis 1951 nochmals an (auf 35 %), um dann bis 1971 auf diesem Stand zu verharren. Bis 1981 sank dieser Anteil auf 31 %, bis 1993 auf knappe 27 %. Dagegen sank der Anteil des iert/'ären Sektors (oder besser: der verschiedenen und verschiedenartigen Bereiche des tertiären Sektors) von 2 7 % (1934) bis 1951 auf weniger als 2 5 % , um seither auf etwa 3 6 % (1981) bzw. fast 43 % (1993) der Bevölkerung anzusteigen. 2.1.3
Berufliche und soziale Positionen
In der Ersten Republik bestand die Hälfte aller „Berufsträger" (= Berufstätige und Arbeitslose zusammen!) aus Arbeitern und Lehrlingen. Fast jeder fünfte
380
Von der Ersten zur Zweiten Republik
Berufstätige war Selbständiger, nur etwas weniger waren noch immer mithelfende Familienangehörige; zusammen machten Selbständige und die vom gesellschaftlichen Bewusstsein her diesen nahe stehenden „Mithelfenden" noch 3 7 % aller Berufstätigen aus. 1995 waren mehr als 3,6 Millionen Menschen erwerbstätig, davon ca. 490.000 als Selbständige und Mithelfende, von diesen wieder etwa 240.000 in der Land- und Forstwirtschaft, 250.000 in Handel, Gewerbe, Dienstleistungen, Industrie. Der starke Rückgang an diesen Berufspositionen ist allerdings überwiegend der Land- und Forstwirtschaft zuzuschreiben, während die gewerblichen Selbständigen sich schon seit den 1970er Jahren bei etwa 240.000 stabilisiert haben. Zieht man die Selbständigen in der Land- und Forstwirtschaft sowie in Industrie, Handel und Gewerbe mit den Freiberuflern zusammen, so ergibt dies etwa 10 % der berufstätigen Bevölkerung, mit den mithelfenden Familienangehörigen fast 14 % . Graphik
Ì1 : Berufspositionen
1800 000
nach Stellung
1934
13 Dienstleistungen/tnayesamt [HjOewerbe/lndnatrleiiiisgesaTU
1400000
im Erwerbsleben
t~ " . .
Hl : .intì-.'Forsiwiftschaft-'zueAmman
1000000
600000
Seioetandige
Lehrlinge
Die Zahl der Unselbständigen stieg stark an und überschritt um 1992 die Drei-Millionen-Grenze. 1960 waren noch 64 % aller Unselbständigen Arbeiter, 1995 nur mehr 43 % . Der Anteil der Angestellten erhöhte sich von 24 % (1960) auf 45 % (1995), die Beamtenquote blieb mit 12 % aller Unselbständigen in den 1990er Jahren etwa gleich hoch wie in den 1960er Jahren. Mehr als zwei Drittel der Angestellten und Beamten arbeiten im tertiären Sektor, als Beamte der Zentralverwaltung, der Länder, der Gemeinden, der Sozialversicherungen, als Angestellte in Groß- und Kleinhandelsunternehmungen, Verkehrs- und Kommunikationsunternehmungen, als Lehrer, Krankenschwestern, Bürokräfte, Polizisten, Gendarmen usw. Innerhalb der Arbeiterschaft trat, als Folge der starken Reduktion der Landund Forstarbeiter (1934 noch 21 % aller Arbeiter, 1995 nur mehr 26.000), der sekundäre Sektor noch stärker hervor: 70 % aller und sogar 80 % männlichen Arbeiter gehören diesem Bereich an.
381
Strukturwandel der Bevölkerung
Graphik 12: Berufspositionen nach Stellung im Erwerbsleben 1981
1000000
j
} 1>"H i l ρ stijrgef
Eine summarische Zusammenfassung der wichtigsten Veränderungen ergibt Folgendes: 1. Im Agrarsektor waren Mitte der 1990er Jahre nur mehr etwa 6 % aller Arbeitskräfte tätig (1934: 36 %). Innerhalb des Sektors blieb die Verteilung auf Frauen und Männer gleich. Von den Männern sind fast drei Viertel (1934: knapp ein Drittel) Selbständige — der vorherrschende Sozialtypus in der ländlichen Arbeit ist also in der Gegenwart der „Landwirt", während es historisch etwa gleichrangig neben dem Bauern der „Knecht" bzw. Cuts- oder Forstarbeiter war. Bei den berufstätigen Frauen innerhalb der Landwirtschaft treten ebenfalls die Selbständigen stärker hervor — das ist auch eine Folge geänderter Rollenzuschreibung wegen der Sozialversicherung, insbesondere der Bauernpension. 70 % der Frauen in der Landwirtschaft waren 1934 mithelfende Familienangehörige, 1981 waren es immerhin noch 5 7 % — hier haben sich am stärksten Relikte der älteren Arbeitsverfassung erhalten (1994: fast 55.000 Frauen). Arbeiter- und Angestelltenpositionen spielen bei Frauen in der Landwirtschaft praktisch keine Rolle mehr, während 1934 fast ein Viertel aller landwirtschaftlich tätigen Frauen Landarbeiterinnen waren. 2. Der sekundäre Sektor, Industrie und warenproduzierendes Gewerbe, umfasste (inkl. Bauwesen) 1995 mit etwas mehr als 1,080.000 Beschäftigten nur mehr ein Drittel aller Arbeitskräfte (1934: 35 %). Dieser Vergleich verbirgt freilich die Tatsache, dass dieser Sektor zwischen 1938 und etwa 1970 der dynamischste war und am stärksten von personeller Expansion geprägt wurde. Seit den 1970er Jahren gehen die Beschäftigtenzahlen in diesem Sektor leicht, seit 1980 deutlich zurück: 1973 waren dort knapp 1,3 Millionen Menschen beschäftigt, 1991 nur mehr etwas weniger als eine Million; die Zahl der Betriebsstätten sank von 72.000 über 68.000 (1980) auf 62.000. Im sekundären Sektor treten starke Unterschiede nach dem Geschlecht der
382
Von der Ersten zur Zweiten Republik
Tabelle 21: Berufspositionen Sektor Land- und Forstwirtschaft
1934
Selbständige
Mithelfende
Angestellte/ Arbeiter Beamte
Lehrlinge
Summe
952
1,223.561
290.727
573.350
11.484
347.048
Verteilung im Sektor
24%
47%
1 %
28%
Anteil an der Berufsposition
45 %
96%
2 %
21 %
2 %
36%
Bergbau, Gewerbe und Industrie
165.907
7.945
104.241
778.746
43.602
1,100.441
15%
1 %
9%
71 %
4%
100%
Verteilung im Sektor Anteil an der Berufsposition Dienstleistungen Verteilung im Sektor Anteil an der Berufsposition Summe Anteil an den Berufsträgern
100%
25%
1 %
23 %
48%
70%
32 %
193.031
17.593
344.514
493.181
17.551
1,065.870
18%
2 %
32 %
46%
2 %
100%
30%
3%
75 %
31 %
28%
32 %
649.665
598.888
460.239
1,618.975
62.105
3,389.872
100%
100%
100%
100%
100%
100%
19%
18%
14%
47%
2 %
100%
Beschäftigten auf: Mehr als drei Viertel aller Beschäftigten waren und sind Männer (1934: 76 %, 1981: 77 %). Zugleich sind die hier berufstätigen Männer etwas mehr als die Hälfte aller Männer im Erwerbsleben (1934 nur 40 %). Vier Fünftel aller männlichen Arbeiter sind gegenwärtig in Industrie und produzierendem Gewerbe tätig (1934 nur 55%). Ein Viertel aller Männer in Gewerbe und Industrie sind Angestellte (1934: nur 9 %), nur mehr 6 % (1934: 1 7 % ) Selbständige. Bei den Frauen, deren Anteil an den Sektorbeschäftigten gleich geblieben ist, kam es ebenfalls zu einem starken Rückgang der Selbständigen (1934 12 % aller Frauen im Sektor, 1981 nur mehr 2 %), aber auch der Arbeiterinnen (1934: fast drei Viertel aller Frauen im sekundären Sektor, 1981: 57%). Gewachsen ist die Zahl der weiblichen Angestellten. Insgesamt ist der sekundäre Sektor in Österreich im internationalen Vergleich noch immer relativ stark besetzt: Österreich hatte 1992 mit fast 37 % deutlich mehr Industriebeschäftigte als die USA (26 %), Großbritannien (29 %), Frankreich (30 %), Belgien (28 %) oder die Niederlande (26 %). Nur in Deutschland (fast 40 %) war der industrielle Bevölkerungsanteil noch größer als in Österreich. Österreich wurde vielleicht etwas spät, aber dafür recht nachhaltig zu einem Industriestaat. 3. Am eindrucksvollsten gewachsen sind die tertiären Sektoren (öffentlicher Dienst, Handel, Verkehr, Fremdenverkehr, Dienstleistungen, Kommunikationswesen). 1973 waren hier 1,4 Millionen Menschen beschäftigt, 1991 fast 1,9 Millionen. Insgesamt waren in den 1990er Jahren mehr als die Hälfte
Strukturwandel der Bevölkerung
Tabelle
22: Berufspositionen
Sektor Land- und Forstwirtschaft
383
198 7
Angestellte/ Arbeiter Beamte
Lehrlinge*
Summe
Selbständige
Mithelfende
1 73.000
104.600
9.200
31.700
318.500
Verteilung im Sektor
54%
33 %
3%
10%
100%
Anteil an der Berufsposition
46 %
75%
1 %
2 %
10%
64.400
9.300
346.400
854.200
1,274.300
5%
1 %
27%
67%
100%
Bergbau, Gewerbe und Industrie Verteilung im Sektor Anteil an der Berufsposition Dienstleistungen Verteilung im Sektor Anteil an der Berufsposition Summe Anteil an den Berufsträgern
17%
7%
24%
70%
40%
141.900
25.900
1,066.000
340.500
1,574.300
9%
2 %
68%
21 %
100%
37%
18%
75 %
28%
50%
379.300
139.800
1,421.600
1,226.400
3,167.100
12 %
4%
45 %
39%
100%
* nicht eigens ausgewiesen aller Arbeitskräfte in diesem Sektor tätig (1995: 1,93 von 3,7 Millionen Personen). Zugleich nahmen die Angestelltenpositionen enorm zu. 1934 war ein Drittel aller Beschäftigten in diesem Sektor Angestellte, 1981 waren es zwei Drittel. Verloren haben die Selbständigen: 1934 waren 30 % aller Beschäftigten in diesem Sektor Selbständige (sehr viele Kleinhändler, Greißler usw.), 1981 nur mehr 9 % . Damit zeigt sich nun auch im tertiären Sektor der Trend zum Großbetrieb, der in der Industrie schon im 19. Jahrhundert aufgetreten war. Sehr dynamische Branchen des tertiären Sektors befinden sich im Bereich der Aufbereitung von Informationen. In diesem ganzen Bereich waren 1951 18 % der österreichischen Arbeitskräfte beschäftigt, 1976 jedoch schon ein Drittel. Allein in den Bereichen „Bildung, Kunst, Unterhaltung, Erziehung, Wissenschaft" hat sich die Zahl der Berufstätigen seit der Ersten Republik verdoppelt: 77.000 Beschäftigte 1934, 151.000 im Jahre 1981. Auch Servicedienste wie Wirtschafts- und Steuerberatung, überhaupt rechtliche und ökonomische Informationen aller Art, werden offenkundig stark vermehrt nachgefragt: 1934 beschäftigten diese Branchen etwas mehr als 20.000 Personen, 1981 78.000. Diese Branchen waren auch in den frühen 1990er Jahren jene mit der dynamischsten Entwicklung. Gemeinsam mit dem Geld- und Versicherungswesen wuchs die Beschäftigtenzahl dieser Bereiche von 1961 bis 1993 um 255 % ! Allein von 1981 bis 1993 wuchs die Zahl der hier Berufstätigen um 42 % (zum Vergleich: Landwirtschaft - 14 % , Energie- und Wasserversorgung -11 % , Bergbau -58 % , Industrie und ver-
384
Von der Ersten zur Zweiten Republik
arbeitendes Gewerbe - 8 %, Bauwesen +11 %, Handel +14 %, Fremdenverkehr +11 %, Verkehr +9 %, persönliche, soziale und öffentliche Dienste +31 %). 4. Fasst man die Veränderungen nach dem Geschlecht zusammen, so zeigt sich Folgendes: a) Ältere Muster reflektiert die Positionsverteilung bei Selbständigen und Mithelfenden: Von allen berufstätigen Männern waren 1994 12 % Selbständige oder Freiberufler, von allen berufstätigen Frauen aber nur knapp 9 %. Dagegen war nur jeder 50. berufstätige Mann ein mithelfender Familienangehöriger, aber immer noch fast jede 20. berufstätige Frau. Noch stärker „männlich" wurde der Arbeiterstatus: Waren 1934 bei Männern und Frauen mehr als die Hälfte der Berufstätigen Arbeiter, so waren es 1994 45 % der Männer, aber nur 2 7 % der Frauen. „Weiblich" sind hingegen Angestelltenpositionen: Weit mehr als die Hälfte der berufstätigen Frauen (58 %) stehen in einem Angestelltenverhältnis, dagegen nur 41 % der Männer. b) Im späten 20. Jahrhundert war Frauenarbeit ganz überwiegend Arbeit im tertiären Sektor—fast drei Viertel aller Frauen arbeiteten 1995 dort. In der Ersten Republik waren 44 % der berufstätigen Frauen noch in der Landwirtschaft beschäftigt, nur jede dritte Frau (36 %) arbeitete im tertiären Sektor, nur jede fünfte im gewerblich-industriellen Bereich. Männerarbeit war in der Ersten Republik überwiegend Arbeit in Industrie und Gewerbe (zu 40 %) — dieser Vorrang hat sich noch deutlicher ausgeprägt. Fast ein Drittel aller Männer (31 %) arbeitete 1934 in der Land- und Forstwirtschaft, heute nur mehr 6 %. Im tertiären Sektor arbeiteten 1934 fast 30 %, heute hingegen fast die Hälfte aller männlichen Arbeitskräfte. 5. Versucht man eine quantitative Reihung der Sozialtypen nach den Wirtschaftssektoren, so ergibt ein Vergleich von 1934 und 1981: 1934 1. Arbeiter im sekundären Sektor 2. Mithelfende Familienangehörige — Land- und Forstwirtschaft 3. Arbeiter im tertiären Sektor 4. Land- und Forstarbeiter 5. Angestellte im tertiären Sektor 6. Selbständige in der Land und Forstwirtschaft 7. Selbständige im tertiären Sektor 8. Selbständige— sekundärer Sektor 9. Angestellte — sekundärer Sektor
1981 1. Angestellte im tertiären Sektor (+) 2. Arbeiter im sekundären Sektor (+) 3. Angestellte im sekundären Sektor (+) 4. Arbeiter im tertiären Sektor ( - ) 5. Selbständige in der Land und ForstWirtschaft ( - ) 6. Selbständige im tertiären Sektor (-) 7. Mithelfende Familienangehörige— LFW ( - ) 8. Selbständige —sekundärer Sektor (-) 9. Land-und Forstarbeiter ( - )
Während die drei größten Gruppierungen bei der Volkszählung 1934 gemeinsam nur 54 % aller Beschäftigten ausmachten, waren es 1981 bereits 72 % — diese drei Gruppen waren auch die einzigen, die zugenommen hatten, alle anderen zeigten Reduktionstendenzen. Das würde den Befund von der „Angestelltengesellschaft" nahe legen. Allerdings verdeckt die hier angezeigte Konzentration von
Qj -Q
Qj 00
1N
leistungen
Dienst-
Industrie
Gewerbe/
ζ
w
m
ζ
w
m
ζ
w
m
74 % 9 % 26 %
60 % 1 % 3 %
104.241 100 % 9 % 23 %
7.945 100% 1 % 1 %
165.907
Ε
< T «Qj ΛJ (J
Β
100%
â
N
100% 19%
10%
649.665
22 % 11 % 100 %
144.577
78% 24%
505.088
100%
100% 18%
100%
589.888
68% 32%
409.591
32 % 9 % 100 %
189.297
3%
17.593
193.031 100% 2%
39 % 29 % 83 %
64 % 2 % 3 %
38 % 16 % 50 %
30%
133.189
11.242
72.692
100% 18%
61 % 35 % 71 %
36 % 1 % 3 %
62 % 20 % 23 %
100% 100%
100% 14%
100%
460.239
35% 13%
161.269
65% 14%
298.970
100% 32% 75 %
344.514
211.325
6.352
120.339
25%
26 % 10 % 1 7 %
40 % 1 % 1 %
19 % 12 % 22 %
100% 15%
27.291
3.146
31.354
27%
76.950
4.799
134.553
81 % 16%
100% 1 % 2 %
100% 47% 96 %
100 % 24 % 45 %
7% — 11.484
573.350
69 % 69 % 96 %
789
93 % 2 - % 3 %
10.695
Angestellte/ Beamte
290.727
28%
395.204
40.532
14% 7%
178.146 31 % 27 % 94 %
250.195
Mithelfende
86 % 38 % 50 %
-c υ -S -c υ VÌ Ol
Forstwirtschaft
o Q.
Land- und
υ
Selbständige
m· σι
Sektor
48%
100%
100% 4 7 %
100%
1,618.975
35 % 43 % 100 %
559.123
65% 51 %
1,059.852
100% 46% 31 %
493.181
47% 51 % 41 %
232.187
53 % 43 % 25 %
260.994
100% 71 %
778.746
25 % 74 % 35 %
194.187
75 % 70 % 55 %
584.559
100% 28% 21 %
347.048
38 % 23 % 24 %
132.749
62 % 33 % 20 %
214.299
Arbeiter
Γ
56%
100% 100% 100% 2 %
100%
62.105
24% 1 %
14.672
76% 2%
47.433
100% 2 % 28 %
17.551
37 % 2 % 44 %
6.447
63 % 2 % 23 %
11.104
100 % 4 % 70 %
43.602
19% 3%
8.158
81 % 4 % 75 %
35.444
100 % — 2 %
952
7% —
67
93 % - 2 %
855
Lehrlinge
100% 100% 100% 100% 100% 100% 100% 100% 100% 100% 100%
100% 100%
100%
3,338.872
38% 100%
1,289.233
62% 100%
2,100.639
100% 32%
1,065.870
43% 35%
455.756
57% 29%
610.114
100% 32%
1,100.441
24% 21 %
264.136
76% 40%
836.305
100% 36%
1,223.561
47% 44%
569.341
53% 31 %
654.220
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