Soziale Gedächtnisse: Selektivitäten in Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus [1. Aufl.] 9783839418796

Wie wird in differenzierten Gesellschaften erinnert? Dieser Band greift kulturwissenschaftliche Thesen zu sozialen Gedäc

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German Pages 258 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung: Zur Selektivität von sozialen Erinnerungen
Ethische Implikationen in familialen Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus – eine Fallrekonstruktion
»Jetzt bist de ein zweites Mal betrogen worden!« – Vergleichen - des Erinnern gesellschaftlicher Verhältnisse
Vom Mythos der Aufklärung. Die »68er«-Generation und familiale Erinnerung
Antisemitismus in familialen Erinnerungen an den Nationalsozialismus
Pluralisierte Erinnerungsmuster in der deutschen Einwanderungsgesellschaft
Soziale Gedächtnisse in einer interkulturellen Ehe
Gebrauchte Medien
Erinnerung, Erzählung und Authentizität
Feldzugang und Material
Methodische Erläuterungen
Literatur
AutorInnen
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Soziale Gedächtnisse: Selektivitäten in Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus [1. Aufl.]
 9783839418796

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Gerd Sebald, René Lehmann, Monika Malinowska, Florian Öchsner, Christian Brunnert, Johanna Frohnhöfer Soziale Gedächtnisse

Sozialtheorie

Gerd Sebald ist Soziologe in Erlangen. Seine Forschungsschwerpunkte sind soziologische Theorie, Phänomenologie, Mediensoziologie, Geschichte der Soziologie und Wissenssoziologie. René Lehmann ist Soziologe in Erlangen. Seine Forschungsschwerpunkte sind soziale Gedächtnisse, Transformationsforschung und qualitative Methoden. Monika Malinowska ist Soziologin in Erlangen. Ihre Forschungsgebiete sind Migration, binationale Ehe und Familiensoziologie. Florian Öchsner ist Soziologe und Literaturwissenschaftler in Erlangen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Antisemitismus, Subjektivierung der Arbeit und soziale Gedächtnisse. Christian Brunnert ist Soziologe am Fraunhofer Institut für integrierte Schaltungen in Erlangen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Antisemitismus, Medienbildung und Lernkulturen. Johanna Frohnhöfer lehrt Soziologie und Psychologie an der Fachakademie für Sozialpädagogik in Coburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Migration, multikulturelle Gesellschaft und Bildungssoziologie.

Gerd Sebald, René Lehmann, Monika Malinowska, Florian Öchsner, Christian Brunnert, Johanna Frohnhöfer

Soziale Gedächtnisse Selektivitäten in Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Florian Öchsner, René Lehmann, Gerd Sebald Satz: Gerd Sebald Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1879-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Einleitung: Zur Selektivität von sozialen Erinnerungen Gerd Sebald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ethische Implikationen in familialen Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus – eine Fallrekonstruktion Gerd Sebald/René Lehmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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»Jetzt bist de ein zweites Mal betrogen worden!« – Vergleichendes Erinnern gesellschaftlicher Verhältnisse René Lehmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vom Mythos der Aufklärung. Die »68er«-Generation und familiale Erinnerung Christian Brunnert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Antisemitismus in familialen Erinnerungen an den Nationalsozialismus Florian Öchsner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Pluralisierte Erinnerungsmuster in der deutschen Einwanderungsgesellschaft Johanna Frohnhöfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Soziale Gedächtnisse in einer interkulturellen Ehe Monika Malinowska . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

Gebrauchte Medien Gerd Sebald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Erinnerung, Erzählung und Authentizität Gerd Sebald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Feldzugang und Material René Lehmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Methodische Erläuterungen Gerd Sebald/Christian Brunnert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 AutorInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

Vorwort

Ein Forschungsprojekt, wie das in diesem Band dokumentierte, erfordert einen größeren sozialen und institutionellen Kontext, der unsichtbar hinter den hier publizierten Beiträgen steht. Wir möchten deswegen an dieser Stelle diesen Horizont und seine Wirkung auf das Projekt etwas deutlicher ins Blickfeld rücken. An erster Stelle sei Ilja Srubar genannt, der unser aller Lehrer im besten Sinne des Wortes war und ist. Mit der ersten Idee zu diesem Projekt hat er in seiner unnachahmlichen Art die Rolle des Förderers und Inspirators übernommen und uns mit laissezfaire und unerschöpflichem Wissen durch die Sümpfe, Wüsten und Untiefen des Forschungsprozesses begleitet. Nicht weniger verdankt das Projekt Jan Weyand, der bedächtig und begrifflich genau an der Entwicklung der Projektidee, der Formulierung des Antrags und den laufenden Problemlösungen beteiligt war. Auch die Arbeit im Projekt, von Transkriptionen angefangen, über die langwierigen Interpretationssitzungen, bis hin zu den mühsamen Codierungen wurde im Laufe der Jahre von deutlich mehr Personen bewältigt, als Autorinnen und Autoren in diesem Band versammelt sind. Wir danken hier insbesondere Thomas Höhne, Gabriele Daxenberger, Katja Hartosch und Ania Musioł, deren Ideenreichtum unsere Diskussionen und Interpretationen wohltuend bereicherte. Gedankt sei auch den Studierenden des Forschungsseminars »Familiale Erinnerungen an den Nationalsozialismus«, die uns mit großem Engagement über zwei Semester weitere Aspekte unseres Themas nahebrachten. Ebenso viel Dank gebührt den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Montagskolloquiums von Ilja Srubar, die bei trockenen Texten, langen Interviewpassagen und griechischen Mahlzeiten stets unsere kritischen Begleiter blieben. Aus diesem Kreis möchten wir besonders Joachim Renn und Ulrich Wenzel hervorheben. Endlich sei dem Institut für Soziologie der Universität ErlangenNürnberg gedankt, das dem Projekt eine räumliche, institutionelle und soziale Heimat war und ist, und hier insbesondere Hedwig Schwarzott,

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die alle Fährnisse der Projektbürokratie bewältigte. Schließlich bleibt noch übrig, der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu danken, deren finanzielle Grundlegung eine intensivere Arbeit an dem Projekt überhaupt erst ermöglichte und die nicht zuletzt die Publikation dieses Bandes ermöglichte. Für einen Zuschuss zu den Druckkosten danken wir dem Verein Gradnet e. V. Die hier publizierten Resultate von nunmehr fast fünf Jahren intensiver Zusammenarbeit sind trotz und aufgrund der aufgezählten hilfreichen Kontexte und Unterstützungsleistungen unsere Leistungen als Team. Wir haben gemeinsam das Material erhoben, es gemeinsam in langen Sitzungen ausgewertet, die Texte intensiv diskutiert und korrigiert, und gemeinsam stehen wir für etwaige Fehler ein. Zuletzt, aber dafür besonders herzlich, danken wir natürlich unseren Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern, die uns Einblick in ihre Diskussionen und Gedankenwelten gewährt haben. Wir haben uns bemüht, ihren Erinnerungen gerecht zu werden, wobei uns bewusst ist, dass diese Gerechtigkeit ein unerreichbares Ziel ist.

Christian Brunnert Johanna Frohnhöfer René Lehmann Monika Malinowska Florian Öchsner Gerd Sebald

Einleitung: Zur Selektivität von sozialen Erinnerungen G ERD S EBALD

Der vorliegende Band versammelt Forschungserträge aus dem Projekt »Soziale Erinnerung in differenzierten Gesellschaften. Relevanzstrukturen, mediale Konfigurationen und Authentizität in ihrer Bedeutung für soziale Gedächtnisse im generationellen Vergleich«, das von Oktober 2006 bis April 2009 am Institut für Soziologie der Universität Erlangen durchgeführt wurde. Auch wenn die Beiträge1 auf den ersten Blick disparat wirken, 1. liegen Ihnen doch gemeinsame Ausgangsüberlegungen zugrunde, die im Rahmen des Vorprojekts, der Antragsformulierung und im parallel zum Projekt laufenden Forschungsseminar entwickelt und diskutiert wurden. 2. rekurrieren sie auf eine gemeinsame Materialbasis (vgl. unten »Feldzugang und Material« S. 217 ff.) und eine gemeinsame Methodik (vgl. unten »Methodische Erläuterungen« S. 227 ff.). 3. fokussieren sie auf Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus, was im Land der Täter nach wie vor eigene Klippen und Fallstricke birgt (vgl. etwa die Beiträge S. 109 ff. oder S. 23 ff.). 4. sind sie Produkt intensiver gemeinsamer Diskussionen seit nahezu fünf Jahren, sei es in Bezug auf die Deutung von Interviewsequenzen, sei bezüglich der theoretischen Einordnung der Ergebnisse. 5. und schließlich konvergieren sie auf ein gemeinsames Desiderat: dem Problem der Selektivität von Erinnerungen.

1 | Vgl. zu weiteren Erträgen aus dem Projekt Lehmann 2009; Daxenberger 2009; Sebald 2010; Sebald und Weyand 2011.

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In dieser Einleitung werden deshalb in einem ersten Schritt die gemeinsamen Ausgangsüberlegungen entwickelt, die sich auf das Problem der gesellschaftlichen Differenzierung und deren Auswirkung auf soziale Gedächtnisse, das Problem der Medialität und die Frage nach der Dynamik von sozialen Gedächtnissen beziehen. Darauf aufbauend wird in einem zweiten Schritt das Problem der Selektivität von Erinnerungspraxen entwickelt und anhand der in den Beiträgen thematisierten Selektivitätsmuster diskutiert. Abschließend finden sich noch einige Bemerkungen und Lektürehinweise.

AUSGANGSPUNKTE Als das in diesem Band dokumentierte Forschungsprojekt im Jahre 2003 begann, Gestalt anzunehmen,2 wurden relativ schnell einige zentrale Gemeinsamkeiten in der Literatur deutlich, die gleichzeitig auf Desiderata in der Gedächtnisforschung verweisen.3 Das ist angesichts der deutlichen Zunahme von Veröffentlichungen zu diesem Thema in den letzten 30 Jahren nur um so erstaunlicher. 1. Durchgängig werden im wissenschaftlichen Diskurs zu sozialen Gedächtnissen zwei Formen von sozialen Gedächtnissen unterschieden: kommunikative, interaktionsbasierte Gedächtnisse (in der Regel als Familiengedächtnisse analysiert – vgl. exemplarisch Welzer 2008a; Welzer et al. 2002) auf der einen Seite und kulturelle, im weitesten Sinne symbolgestützte Gedächtnisse (vgl. Assmann 1997; Schwartz 1991; 1982; Schudson 1992; Sturken 2007) auf der anderen. Inwieweit diese Trennung jedoch für moderne differenzierte Gesellschaften und Medienkonfigurationen aufrecht zu erhalten ist, ist weder theoretisch hinterfragt noch empirisch untersucht. Auch die Verbindungen, Wechselwirkungen und Übergänge zwischen beiden Gedächtnisformen, oder besser: -konglomeraten, sind allenfalls ansatzweise für sehr spezifische Felder empirisch untersucht (vgl. etwa 2 | Jan Weyand und der Autor dieser Einleitung begannen, sich mit dem Thema »Soziale Erinnerung« intensiv zu beschäftigen: im Rahmen eines gemeinsamen Seminars, im Kolloquium von Ilja Srubar, im Rahmen eines Vorprojekts mit narrativen Interviews und schließlich in der Formulierung des Antrags an die Deutsche Forschungsgemeinschaft. 3 | Dass die im vorliegenden Band versammelten Beiträge diese Lücken schließen, kann nicht erwartet werden. Aber sie möchten zumindest diese Lücken deutlich machen und im besten Falle Wege zu ihrer Schließung eröffnen.

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Kohlstruck 1997; Jureit 1999; Georgi 2003). Migrationsbewegungen, Globalisierungs- und Lokalisierungstendenzen, immer feiner werdende funktionale Differenzierungen, all diese Prozesse führen zu einer immer weiter gehenden Pluralisierung, Differenzierung, ja Fragmentierung des gesellschaftlichen Ganzen. Wenn diese vielfältigen sozialen Kreise je eigene Gedächtnisse entwickeln und die Individuen sich auf Schnittpunkten vieler sozialer Kreise bewegen, so muss davon ausgegangen werden, dass individuelle Gedächtnisse multipel von sozialen Gedächtnissen überformt sind; von sozialen Gedächtnissen, die auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen operieren, die in unterschiedlichen Konstellationen zusammentreffen und die schließlich durchaus widersprüchlich zueinander sein können. Solche Widersprüche, Inkongruenzen und Inkompatibilitäten zeigen sich mehr oder weniger konflikthaft im je konkreten sozialen Gedächtnis und es steht zu vermuten, dass diese Konflikte wegweisende Funktionen in der Unterscheidung von Erinnern und Vergessen wahrnehmen. 2. Ein wichtiges Kriterium zur Differenzierung der unterschiedlichen Gedächtnisformen in den bisher gängigen theoretischen Ansätzen ist das mediale Setting der jeweiligen Form: Während das kommunikative Gedächtnis auf dem intergenerationellen familialen Gespräch und der intergenerationellen Tradierung von Erlebnissen durch Erzählungen beruht, also durch das Medium der Mündlichkeit vermittelt wird, werden andere Medien allgemein dem kulturellen Gedächtnis zugerechnet (vgl. Assmann und Assmann 1994; Welzer 2008a; Knoblauch 1999). Obwohl schriftliche Medien wie Briefe und Tagebücher, Bildmedien wie Photographien und Massenmedien wie Fernsehen und Radio zumindest seit dem zwanzigsten Jahrhundert gerade auch in der Familienerinnerung thematisiert werden, wird deren Rolle für das Familiengedächtnis meist ausgeblendet (eine Ausnahme findet sich bei Keppler 1994a). Dass Medien wichtig sind für die Konstitution und Dynamik von sozialen Gedächtnissen, ist dabei seit Halbwachs unumstritten. Entsprechend sind Medien zentrale Marksteine in den Theorien und theoretischen Überlegungen zu sozialen Gedächtnissen. Dabei zeigt sich jedoch, dass der Medienbegriff selbst oft sehr weit gefasst wird, und damit werden letztlich alle außerhalb des individuellen Gedächtnis-

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ses liegenden Dauerhaftigkeiten zu potentiellen Medien des Gedächtnisses (vgl. etwa Erll 2004). Diese Zuordnung ist jedoch rein funktional; sie beinhaltet keine Aussage über das »Wie?« der jeweiligen Bezugnahme. Auch konkrete inhaltliche Auswirkungen der extraindividuellen symbolischen Praxen auf soziale Gedächtnisse bleiben ausgeblendet. So häufen sich eine Vielzahl von Studien zu einzelnen externen Gedächtnisobjekten, insbesondere zu literarischen und philosophischen Texten, in denen übergreifende gesellschaftliche Zusammenhänge oder auch nur Auswirkungen auf andere soziale Gedächtnisse ausgeblendet bleiben. Diesen oft scharfsinnigen und luziden textimmanenten und intertextuellen Analysen (vgl. etwa Haverkamp und Lachmann 1993; Weinrich 1997) fehlt so die Verbindung zu anderen sozialen Praxen und damit die Analyse der Relevanz für soziale Gedächtnisse. Insgesamt bleibt somit Welzers Fazit für Zeitzeugengespräche nach wie vor auch für soziale Gedächtnisse gültig: »vorgefertigte Skripts, medial formatierte Drehbücher und sozial gestützte Narrative [spielen] wichtige Rollen, ohne dass dies bislang systematisch untersucht worden wäre.« (Welzer 2008b: 25) 3. Studien, auf die sich Aussagen zur Dynamik sozialer Gedächtnisse stützen könnten, liegen bisher nur in der eher sozialtherapeutisch ausgerichteten Biographieforschung (vgl. Rosenthal 1994; 1997a: 167 ff.) oder der experimentellen Sozialpsychologie (vgl. Bartlett 1995; Koch und Welzer 2005) vor. So bleiben dynamische Tradierungsprozesse in der sozialen Wirklichkeit in ihrer je konkreten Sequentialität meist außerhalb der empirischen Betrachtung. Zwar beziehen sich biographisch ausgerichtete empirische Studien und Arbeiten zum sozialen Gedächtnis aufeinander, die jeweiligen theoretischen Grundlagen (der Begriff der Generation als differenzierende Variable und der Begriff der Gruppe – vor allem: der Familie – als generationenübergreifende einheitsstiftende Größe eines kommunikativen Gedächtnisses) weisen aber auseinander. Die Fragestellungen richten sich in beiden Bereichen jedoch vor allem auf das Tradierte, das Überlieferte, das in der Erinnerung behaltene. Tradierungsabbrüche und Vergessen geraten so aus dem Blick.

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Auf der anderen Seite verblassen mit der Konzentration auf inhaltliche Aspekte oft die Fragen nach den formalen Bedingungen der Weitergabe oder aber des Vergessens einer Tradierung. Erinnerungen sind zwar Rekonstruktionen in der Gegenwart, aber sie greifen dabei nicht auf einen kontingenten und unbeschränkten Horizont von Möglichkeiten zu, sondern rekurrieren auf ein eingeschränktes Repertoire mit Vergangenheitsbezügen. Fragen nach der sozialen Rahmung und Formung sind hier ebenso zu stellen, wie Fragen nach der Geltung. Das gilt etwa für Authentifizierungsstrategien und die Konstruktion von Authentizität, die gerade in Fällen umstrittener Erinnerung an Bedeutung gewinnen. Es fehlen sowohl auf theoretischer wie auf empirischer Ebene Untersuchungen, die sich mit diesen Zusammenhängen auseinandersetzen. Insgesamt fehlt eine tiefgehende theoretische Durchdringung des Gegenstandes ›soziale Gedächtnisse‹, nicht zuletzt in der Disziplin, aus der heraus die Begrifflichkeit einst entwickelt wurde, der Soziologie (vgl. auch Assmann 2002b). Die oben angeführten Punkte verweisen jedoch auf ein gemeinsames Problem und lassen sich dahingehend bündeln. Im Zentrum steht jeweils die Selektivität von sozialen Gedächtnissen, also die Fragen, wie, was und nach welchen Kriterien erinnert oder vergessen wird.

T HEORETISCHE Ü BERLEGUNGEN

ZUR

S ELEKTIVITÄT

Mit dem Hinweis auf Selektivität als Destillat aus den aufgezählten Desiderata bietet sich eine mögliche Basis für eine Theoretisierung von sozialen Gedächtnissen. Das Problem der Selektivität verweist auf ein Grundproblem des menschlichen Weltzugangs, das schon Max Weber (1988: 213 f.) feststellt: »Das Leben in seiner irrationalen Wirklichkeit und sein Gehalt an möglichen Bedeutungen sind unausschöpfbar, die konkrete Gestaltung der Wertbeziehung bleibt daher fließend, dem Wandel unterworfen in die dunkle Zukunft der menschlichen Kultur hinein. Das Licht, welches jene höchsten Wertideen spenden, fällt jeweilig auf einen stets wechselnden endlichen Teil des ungeheuren Stromes von Geschehnissen, der sich durch die Zeit dahinwälzt,« Die Komplexität der Welt erfordert Selektivität, um inmitten der Mannigfaltigkeiten der Welt überhaupt erkennen und handeln zu können. Von

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hier aus stellt sich das Problem doppelt: einerseits als Frage nach den je konkreten Vollzügen der Selektivität und andererseits als die Frage nach den Konstitutionsmechanismen der Selektivität. Damit sind wir beim Sinnbegriff angekommen. Sinn ist die Form, in der alle Formen von Sozialität geschehen. Sinn ist eine zeitliche Form der Selektion, und das in mehrfacher Hinsicht: 1. Sinn wird immer in der Gegenwart konstituiert. Die gegenwärtige Situation, der gegenwärtige Kontext sind konstitutive Elemente für den aktuellen Sinn. 2. Sinn wird immer generiert vor einem Horizont von vergangenen Sinngenerierungen. Sinngenerierung schöpft aus einem Vorrat von generalisierten Resten vergangener Erfahrungen (Typen, Schemata etc.) 3. Sinn ist nachträglich oder retroaktiv in einem spezifischen Sinne: er ist gegenwärtig nie vollständig determiniert, sondern hängt von nachfolgenden Anschlüssen, möglichen zukünftigen Handlungen, Erwartungen, Operationen oder Ereignissen ab, die an die gegenwärtige Konstitution anschließen. Im Prozess der Sinngenese werden Geschehnisse selegiert, interpretiert und geordnet. Selektivität ist damit ein wichtiges, wenn nicht das wichtigste Merkmal dieses Prozesses. Deswegen wird der Sinnbegriff bei Weber als eine selektive Wertbeziehung gefasst, in seiner Nachfolge ebenso bei Alfred Schütz (dort allerdings auf Basis von Husserls Überlegungen zur Phänomenologie des Zeitbewusstseins und Bergsons Konzept der Dauer), Talcott Parsons und schließlich bei Niklas Luhmann, der Sinn gar rein auf Selektivität reduziert. Dabei darf Sinngenese jedoch nicht einseitig auf einen subjektiven oder sozialen Modus reduziert werden. Sinngenerierung geschieht in subjektiven, intersubjektiven und transsubjektiven Modi. Die jeweiligen Ergebnisse sind keineswegs einfach übertragbar, sondern wirken in komplexen Prozessen aufeinander ein. Selektivität ist dann der Mechanismus, mit dem jede Einheit der Sinngenese Komplexität reduziert. Selektivität wird damit selbst zu einer zeitlichen Form: Sie operiert in der Gegenwart, sie rekurriert dabei auf vergangene Selektionen und sie hängt von Erwartungen ab. Wir möchten vorschlagen, Schütz’ Konzept der Relevanz als Ausgangspunkt für die genauere Bestimmung von Selektivität zu nehmen

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(Schütz 2004d). Relevanzen bezeichnen für ihn dynamische Selektionsmuster, die das alltägliche Handeln strukturieren und sich dabei an neue Situationen anpassen. Relevanzen entwickeln und wandeln sich in der ständigen pragmatischen Auseinandersetzung mit der umgebenden Welt. Auch der Relevanzbegriff muss jedoch von seiner engen Bindung an Subjektivität entkoppelt werden. Schütz selbst überträgt den Begriff der Relevanzen auf Gruppen (Schütz 1972a;b;c). Aber auch in transsubjektiven Modi der Sinngenese – etwa einem Diskurs – finden sich Selektivitätsmuster, die rekonstruiert werden können. Vor diesem Hintergrund kann das oben entwickelte doppelte Problem empirisch angegangen werden.4 Das gilt einerseits für den je konkreten Vollzug der Selektivität, wie auch für die Frage nach der Konstitution der Relevanzstrukturen. Vollzug und Konstitution sind dabei eng verknüpft. Jede spezifische Selektion verändert die vorhandenen Selektionsmuster, die dann wieder Grundlage nachfolgender Selektionen werden. Das birgt das methodische Problem der Rekonstruktion der je aktuellen Selektionen. Während die je spezifischen, autobiographisch geprägten Selektionen etwa in narrativ-biographischen Interviews nachzuvollziehen sind, ist es deutlich schwieriger, in dem Material sozial geprägte bzw. soziale Selektivitätsmuster zu rekonstruieren. Diese funktionieren nicht als je konkrete Selektion (abgesehen von der gewalt- oder machtförmigen Durchsetzung), sondern als Einschränkung des verfügbaren Selektionshorizonts. Die Gedächtnisbildung geschieht vor einem Horizont von formierenden gesellschaftlichen Voraussetzungen, Rahmungen und Strukturen, deren je fallspezifische selektive Kombination dann empirisch rekonstruiert werden muss. Mit diesen Überlegungen zur Formierung sozialer Gedächtnisse kann unseres Erachtens die »heillose Spekulation« (Welzer 2008a: 162) vermieden werden, in die sich nach Welzer eine soziologische Theorie sozialer Gedächtnisse stürzt, wenn sie die Beziehung von individuellem Erinnern und sozialen Bedingungen dieses Erinnerns in den Blick nimmt. Von den formierenden Faktoren sind natürlich die je spezifischen inhaltlichen Elemente, Typisierungen, Deutungsmuster, Semantiken, Erzählungen, konkreten Äußerungsgehalte etc. zu unterscheiden, die in einer empirischen Untersuchung den Hauptteil des Materials ausmachen. 4 | Auch die theoretische Bearbeitung muss an diesem Punkt starten. Das kann jedoch nicht im Rahmen dieses Bandes geschehen, geschweige denn in dieser Einleitung.

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Der zentrale variierende Faktor, den eine Soziologie sozialer Gedächtnisse zu berücksichtigen hat, ist Differenzierung, insbesondere funktionale Differenzierung, kulturelle Pluralisierung und die Differenz der Generationen, dem für eine soziologische Theorie sozialer Gedächtnisse in der Moderne eine herausgehobene Bedeutung zukommt. Medialität, Authentizität und schließlich Diskursivität und Semantiken stellen wesentliche formierende Faktoren im eigentlichen Sinne dar. Diese Faktoren haben wir sowohl aus theoretischen Überlegungen heraus als auch auf der Basis von empirischen Ergebnissen generiert.5

KONSTITUIERENDE FAKTOREN

SOZIALER

G EDÄCHTNISSE

Differenzierung und Pluralisierung Moderne Gesellschaften zeichnen sich durch vielfältige Differenzierungsprozesse aus (vgl. dazu etwa Nassehi 1999; Schimank 1996). Das impliziert zum einen – im Gegensatz zu den kleinräumigen, dichten und im Sinne einer traditionalen Fundierung stabilen sozialen Beziehungen traditioneller Gesellschaften –, dass soziale Beziehungen distanzierter und komplexer werden, sowie weniger an Personen und gemeinsame Traditionen und mehr an Funktionen gebunden sind. Neben der funktionalen Differenzierung, die insbesondere aus der systemtheoretischen Richtung in ihrer Bedeutung für soziale Gedächtnisse betont wird (vgl. Esposito 2002), ist hier die Pluralisierung hervorzuheben, die sich insbesondere in den Migrationsprozessen und den daraus sich ergebenden interkulturellen Konstellationen zeigt. Johanna Frohnhöfer analysiert in ihrem Beitrag »Pluralisierte Erinnerungsmuster in der deutschen Einwanderungsgesellschaft« (254 ff.) in vier Einzelfallrekonstruktionen das Wissen von in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund von der nationalsozialistischen Vergangenheit. Dabei wird deutlich, dass dieses Wissen an ihre Orientierungsbedürfnisse der Gegenwart angepasst wird und ihre Erinnerungen durch Gegenwartsinteressen strukturiert werden. Nationalsozialismus und Holocaust werden entlang der Perspektive der eigenen kulturellen und/oder religiösen Bezugsgruppe erinnert und erzählt. Die Geschichtskonstruktionen der befragten Personen sind durchweg durch eine intensive Beschäftigung mit den Opfern des Nationalsozialismus 5 | Die jeweiligen Beiträge sind natürlich nicht ausschließlich auf die Rekonstruktion der formalen Konstitutionsbedingungen ausgerichtet, sondern versuchen, diese im Rahmen der inhaltlichen Analysen herauszuarbeiten oder zumindest zu berücksichtigen.

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charakterisiert, womit sich ein hohes Maß an Identifikation verbindet. Die vier Befragten bilden – auf individuelle Weise – Analogien zwischen der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung zur Zeit des Nationalsozialismus und ethnisch oder religiös begründeten Exklusionserfahrungen der Gegenwart, und so wird das eigene Leben als Angehöriger einer kulturellen und/oder religiösen Minderheit in der deutschen Gesellschaft mit der Situation der Opfer des nationalsozialistischen Terrorregimes verglichen, sowie Diskriminierungen der eigenen Bezugsgruppe in Verbindung gesetzt zu den historischen Ereignissen zwischen 1933 und 1945. Monika Malinowska untersucht in ihrem Beitrag »Soziale Gedächtnisse in einer interkulturellen Ehe« (161 ff.) die Differenzen in den Erinnerungen an die nationalsozialistische Vergangenheit in einer deutschpolnischen Ehe. Nach einer Analyse der Grundkonstellation der Ehe werden die Tradierungswege aufgezeigt, anhand derer die beiden Ehepartner ihr Wissen über die NS-Zeit erhalten haben, sowie die unterschiedlichen Selektivitätsmuster aus dem sozialen Gedächtnis der jeweiligen Nation präsentiert. Gemeinsam ist den beiden Ehepartnern dabei der folgende Aspekt: In ihrer intensiven Identifikation mit ihrer Nation sehen sie sich und ihre Nation als Opfer der nationalsozialistischen Vergangenheit und verlangen gegenseitige Anerkennung dieses Opferstatus. Abschließend zeigt die Autorin die Strategien, die die Ehepartner entwickeln, um mit den durch die unterschiedlichen sozialen Erinnerungen entstandenen Belastungen umzugehen. Generationengrenzen Eine besondere Form der Differenzierung hat sich empirisch sowohl auf familialer wie auf gesellschaftlicher Ebene als wichtig für die Formierung sozialer Gedächtnisse erwiesen: der Unterschied der Generationen. Die generationellen Erfahrungsräume in ihrer Differenz, und nicht Generationen als großgruppenartige Gebilde, bilden einen weiteren formierenden Faktor für soziale Gedächtnisse. Das gilt sowohl für die familiale Ebene, auf der dieser Zusammenhang so unbestritten wie vielfältig empirisch belegt ist, als auch für die gesellschaftliche Ebene, wie die Untersuchungen von Mannheim (1964), aber auch etwa von Bude (1995) zeigen. So ließe sich die Abfolge der bundesdeutschen Vergangenheitsdiskurse durchaus als Entwicklung generationeller Differenzen der Deutung dieser Vergangenheit interpretieren.

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Christian Brunnert setzt sich in seinem Beitrag »Vom Mythos der Aufklärung. Die »68er«-Generation und familiale Erinnerung« (67 ff.) mit der familialen Erinnerung an den Nationalsozialismus bei Angehörigen dieser Generation auseinander. Exemplarisch werden die Fallrekonstruktionen anhand von zwei Interviews dargestellt, um die familiale Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus vor dem Hintergrund des diskursiven Generationenkonstrukts zu kontrastieren. Der Fokus liegt dabei auf den Funktionen, die die Konstruktion eines generationellen »Wir« und damit die Übernahme eines gesellschaftlich geprägten Bildes der »68er« in die eigene Biographie, für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, sowie die eigene und die familiale Identität hat. Deutlich werden hierbei soziale Selektionsmuster, die sich u. a. in der Kopplung der generationellen und mit weiteren kollektiven Identitäten äußern (Nation, Antisemitismus), wobei die Zugehörigkeit zur »68er«-Generation als Ausweis der eigenen kritischen Position dient. Medialität Der menschliche Weltzugang ist immer auch medial – zuallererst: sprachlich – geprägt. »Wirklichkeit« und »Wahrheit« können aus dieser Perspektive zu medialen Artefakten werden, weil Medialität zu einem wichtigen Ingredienz des sozialen und subjektiven sinngenerativen Geschehens wird. Bezogen auf die Zugänglichkeit von Vergangenheiten bedeutet das, dass die Medialität den Inhalt bzw. das Archivierte verändert: »Die technische Struktur des archivierenden Archivs bestimmt auch die Struktur des archivierbaren Inhalts schon in seiner Entstehung und in seiner Beziehung zur Zukunft.« (Derrida 1997: 35) Die medialen Voraussetzungen von Sinn sind der technischen Struktur des Mediums geschuldet und Effekt einer (vor-)selektierenden Bearbeitung. Über die Formierung der erinnerten Vergangenheit durch das Medium und seine Perspektivierung durch soziale Differenzierung hinaus werden mit Erinnerungen typischerweise Geltungsansprüche verbunden. Gerd Sebald begibt sich in »Gebrauchte Medien« (183 ff.) in die Problematik des Zusammenhangs von Medialität und sozialen Erinnerungen. Seiner These zufolge ist die je spezifische Medienpraxis der entscheidende Faktor, um Medialität in ihrer selektiven Wirkung zu erfassen und zu typologisieren. In einem ersten Schritt erarbeitet er einen für die Analyse tauglichen Medienbegriff. Darauf aufbauend entwickelt er dann aus unserem Material eine vorläufige Typologie des Mediengebrauchs in familialen Gedächtnissen mit den Typen »Medien als Aktualisierungsanreize«, »Medien als Wissensquellen«, »Medien als Öffnung und Schließung

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von Leerstellen«, »Medien als Dokumentation« und »Mediale Artefakte als Versicherung«. Authentizität Authentizitätskonstrukte bieten eine Chance, eine bestimmte Deutung der Vergangenheit in der aktuellen Situation durchzusetzen. Sie verschaffen den präsentierten Rekonstruktionen eine spezifische Geltung, die von außerhalb der Kommunikationsbeziehung, aus der Vergangenheit selbst, zu kommen scheint. Sie sind keineswegs nur an die mündliche Erzählung gebunden, sondern finden sich in allen Rekonstruktionen von Vergangenem. Sie sind jedoch keineswegs nur als Ergänzung oder Zutat zu einer aktuellen Erinnerung zu sehen, sondern die Erinnerung wird auf diese Konstrukte hin verändert und formiert. Gerd Sebald erstellt in »Erinnerung, Erzählung und Authentizität« (207 ff.) eine theoretisch angeleitete Typologie von Authentizitätskonstruktionen. Dazu wird von der allgemein akzeptierten These der Rekonstruktivität von Erinnerungen ausgegangen. Von hier aus werden die formierenden Faktoren Narration und Medialität und die mit Erinnerungen verbundenen Geltungsansprüche analysiert, bevor die Typologie entwickelt wird: personale Authentizität, somatische Authentizität, materiale Authentizität, narrative Authentizität, mediale Authentizität und intermediale Authentizitätskonstrukte. Diskurse Diskurse, symbolische Ordnungen des Wissens, die sich in institutionalisierten, auf Dauer gestellten und überindividuellen Wissenssystemen niederschlagen, bilden die Grundlage einer diskursiven Praxis, in der Semantiken, Selbst- und Fremdbilder ebenso aktualisiert werden wie die Geltung von Werten und Normen. Diskurse, verstanden als »spezifische, thematisch-institutionelle Bündelungen der Wissensproduktion, Verknüpfungen von Deutungen und nicht nur kommunikativen Handlungen« (Keller 2001: 126), organisieren und strukturieren Erinnern in doppelter Weise: als kommunikative Zusammenhänge, in denen semantische Differenzierungen reproduziert, variiert und stabilisiert werden (wissenssoziologisches Diskursverständnis) und als autologischer sozialer Prozess, in dem sich strukturierende Regeln und Regelhaftigkeiten für Äußerungsgehalte bilden und reproduzieren (strukturalistisches Diskursverständnis). René Lehmann untersucht in seinem Beitrag »›Jetzt bist de ein zweites Mal betrogen worden!‹ – Vergleichende Perspektiven auf gesellschaftliche Verhältnisse« (43 ff.) die Relationen von privaten biographischen

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Erzählungen zu öffentlichen Diskursen hinsichtlich der Rezeption und Reproduktion oder auch dezidierten Abweisung von Diskursen. Für diese Analysen wird in einer Fallstudie den Spuren der Diskurselemente in den (sowie den entsprechenden Relevanzen für die) privaten biographischen Erinnerungserzählungen nachgegangen. Die auf Diskurse bezogenen Selektionskriterien und -muster werden als erzählgenerierende Faktoren ausgemacht, die neben dem Rekurs auf die eigenen Erfahrungen die zentrale konstituierende Funktion für die Erinnerungsnarrationen bilden. Nicht die Vergangenheit strukturiert das soziale Gedächtnis, sondern das Konglomerat aus gegenwärtig diskursiv vermittelten Deutungsmustern und deren Verarbeitung, Reproduktion und Re-Konstruktion. Ein zentraler Befund ist die deutliche Abweisung des die DDR-Vergangenheit delegitimierenden Erinnerungsdiskurses, der eine gravierende Entwertung der Biographieverläufe für die zwei in Ostdeutschland interviewten Frauen bedeutet. Die Interviewsituation kann hier als eine Reaktualisierung der aktuellen (seit der politischen Wende von 1989 bestehenden) Lebenssituation der beiden Interviewpartnerinnen verstanden werden, welche eine permanente Positionierung oder Rechtfertigung innerhalb der westdeutschen Gesellschaftsordnung verlangt. Gerd Sebald und René Lehmann analysieren in dem Beitrag »Ethische Implikationen in familialen Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus – eine Fallrekonstruktion« (23 ff.) die Entwicklung von Erinnerungen in Relation zu unterschiedlichen normativen Überlegungen und die Tradierung eines normativen Musters über drei Generationen für den Fall einer westdeutschen Familie. Dafür wird in einem ersten Schritt – unter Berücksichtigung der Wertethiken Max Schelers und Avishai Margalits – ein analytisches Raster für das Verhältnis von Erinnerung zu Ethik und Moralität entwickelt, das sich in der Unterscheidung von fungierender und reflektierter Moralität in Relation zur Reichweite der sozialen Beziehungen niederschlägt. In einem zweiten Schritt erfolgt die empirische Fallrekonstruktion für die drei Generationen einer Familie im Hinblick auf dieses Raster. Es zeigt sich ein beredtes Schweigen, gekennzeichnet durch die ethische Aufwertung der eigenen Familie im Verhältnis zum sozialen Umfeld. Dabei verschiebt sich der Kreis der dichten Beziehungen auf der einen, und somit der Kreis der ›Bösen‹ auf der anderen Seite, mit jeder Generation. Semantiken Spätestens seit den begriffsgeschichtlichen Arbeiten von Reinhard Koselleck (1989b) ist die Bedeutung von verfestigten Selbst-

Z UR S ELEKTIVITÄT VON SOZIALEN E RINNERUNGEN | 21

und Fremdbeschreibungen für gesellschaftliche Prozesse in den Blick geraten (vgl. auch Luhmann 1993). Zum Verständnis von Semantik und den Prozessen der Semantikgenese, -tradierung und -proliferation ist eine doppelte Perspektive nötig: einerseits die auf den jeweiligen subjektiven Gebrauch und den Kontext des Gebrauchs und andererseits die auf das eigenständige Prozessieren. Semantische Formen können zwar nicht als aus freier Subjektivität gestalteter Sinn betrachtet werden, aber sie sind genausowenig bloße objektiv(iert)e Sinnmuster. Erst im Zusammenhang von impliziter Typisierung und Semantik, sowohl auf subjektiver wie auf transsubjektiver Ebene, wird der Sinnformierungsprozess verständlich. Die Sprache spricht zwar, aber ohne sprechende und typisierende Subjekte bleibt sie stumm. Und sie spricht aus den stabilisierenden Rahmen der Semantik, die eine eigene Tradierungskraft entwickeln, wie Florian Öchsner in seinem Beitrag (109 ff.) »Antisemitismus in familialen Erinnerungen an den Nationalsozialismus« beschreibt. Er rekonstruiert antisemitische Semantiken in intergenerationellen Familiengedächtnissen auf der Grundlage der Analyse von Selbst- und Fremdbildern. Die Wir-Gruppen-Konstruktionen sind zentrales Selektionskritierium in den narrativen Interviews: So werden die antisemitischen Fremdbilder damit funktional in Verbindung gesetzt. Wichtige Bezugspunkte stellen familiale Selbstbilder, nationale Wir-Konstruktionen sowie Generationen- und Gender-Bezüge dar. Dabei nimmt der Artikel auch kommunikative Formen antisemitischer Semantiken und deren Anschlüsse in Familieninterviews in den Blick.

N OCH

EINIGE

A NMERKUNGEN

Um die Wechselbeziehungen zwischen Gedächtnissen und ihren Konstitutionsbedingungen in den empirischen Blick zu bekommen, muss das Referenzereignis bzw. der Referenzzeitraum mindestens vier Kriterien genügen, nämlich erstens für alle oder sehr viele Gesellschaftsmitglieder eine zentrale, virulente und in der Deutung umstrittene Erfahrung gewesen sein (bzw. eine in der Deutung umstrittene, herausgehobene Phase der Familien- und Gesellschaftsgeschichte), zweitens in höherstufige soziale Gedächtnisse eingegangen sein, drittens insbesondere durch massenmediale Bearbeitungen verbreitet worden sein und viertens unterhalb oder an der allgemein akzeptierten Epochenschwelle des familialen Gedächtnisses Gedächtnisses von drei Generationen lie-

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gen. Das trifft zweifellos auf die Zeit des Nationalsozialismus zu. Die Erinnerungen an diese Zeit sind in der Tätergesellschaft nach wie vor virulent und mit starken Emotionen belegt. Wir möchten deshalb ausdrücklich betonen, dass wir im Folgenden explizit nur um eine klare wissenschaftliche Analyse des Interviewmaterials bemüht sind und die normative Angemessenheit von Erinnerungen weder beurteilen können noch wollen. Die aus dem Projektmaterial entnommenen Zitate sind durchgängig anonymisiert in allen Belangen, die eine Identifizierung ermöglichen könnten. Sie verweisen mit der Buchstaben- und Zahlenkombination auf die projektinterne Kodierung: W verweist auf einen Fall in Westdeutschland, O auf einen solchen in Ostdeutschland, die erste Zahl verweist auf die Reihenfolge der jeweiligen Erstmeldung für Interviews (vgl. dazu »Feldzugang und Material«, 217 ff.), die zweite Zahl auf das jeweilige Interview im jeweiligen Fall. Die Zeilennummern beziehen sich auf die jeweilige Stelle im Originaltranskript. Die Transkriptionen wurden, soweit es nicht wichtig für die Interpretation war, im Sinne einer Herausnahme spezifisch mündlicher Elemente (etwa Wiederholungen, Stottern, Abbrüche etc.) geglättet. Die freistehenden Punkte stehen für eine Pause von etwa einer Sekunde. Eckige Klammern verweisen jeweils auf Einfügungen oder Auslassungen von Seiten der AutorInnen. Am Ende des Bandes findet sich ein die einzelnen Beiträge übergreifendes Literaturverzeichnis.

Ethische Implikationen in familialen Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus – eine Fallrekonstruktion1 G ERD S EBALD /R ENÉ L EHMANN

Dass Erinnerungen, wie alle personalen und sozialen Akte und Operationen, prinzipiell normativen Regelungen unterworfen werden können und in vielen Fällen auch werden, steht außer Zweifel. Dabei stellt sich aus wissenssoziologischer Sicht das Problem der Wahrheit einer Erinnerung vor allem als Frage der gegenwärtigen Geltung des Wissens von der Vergangenheit. Die Geltung dieses Wissens und die normativ geleitete Selegierung von gültigem Wissen, hängt in pluralisierten und multipel differenzierten Gesellschaften dann unter anderem ab von seiner Beziehung zu differenzierten normativen Regelsystemen, die mehr oder weniger kohärent sind. Erinnerungen müssen, um als gültige anerkannt und selegiert zu werden, unterschiedlichen und gelegentlich widersprüchlichen Bewertungen genügen. Im folgenden Beitrag wird die Relation von Erinnerungen zu unterschiedlichen normativen Überlegungen und deren Tradierung über drei Generationen für den Fall einer deutschen Familie rekonstruiert. Dafür werden wir in einem ersten Schritt – unter Berücksichtigung der Wertethiken Max Schelers und Avishai Margalits – ein analytisches Raster für das Verhältnis von Erinnerung zu Ethik und Moralität entwickeln, das sich vor allem in der Unterscheidung von fungierender und reflektierter Moralität in Relation zur Reichweite der sozialen Beziehungen niederschlägt. In einem zweiten Schritt erfolgt die empirische Fallrekonstruktion für die drei Generationen der Familie Abel/Altvater im Hinblick auf dieses Raster.

1 | Dieser Text hat durch intensives Korrekturlesen und viele Verbesserungsvorschläge von Alexandra Böhm und Mark Schönleben deutlich gewonnen, wofür wir uns herzlich bedanken.

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1. E THIK

UND

E RINNERUNG

Max Scheler geht von universalen apriorischen Werten aus, die je historisch spezifisch selegiert und aktualisiert werden (Scheler 1980: 270 ff.). Auch wenn diese phänomenologisch begründete, absolute materiale Wertethik an vielen Punkten heute nicht mehr haltbar erscheint, bieten die von Scheler entwickelten Relativitäts- und Variationsdimensionen der je konkreten Ausprägung der Ethik interessante Ansatzpunkte für eine mit der multiplen gesellschaftlichen Differenzierung einhergehenden Differenzierung moralischer Werte (vgl. im Folgenden Scheler 1980: 303 ff.). Für eine empirische Untersuchung von Erinnerung eröffnen sich hier insbesondere zwei der von Scheler aufgezeigten Ebenen: 1. Die Variationen der Ethik, also der Urteilsakte über Werte und Rangfolgen, und der Regeln, die diese Urteilsakte leiten. 2. Die Variationen der Moralität, also der Bewertung praktischen Verhaltens der Menschen, gegründet auf je akzeptierten und den subjektiven Vorzugsstrukturen entsprechenden Normen. In Anlehnung an die Überlegungen von Edmund Husserl (1962: 114) wird letztere als fungierende Moralität bezeichnet, als »überall unablösbar dabei, und doch nie ins Auge gefaßt, nie ergriffen und begriffen.«2 Dieser fungierenden, ›waltenden‹ Moralität steht eine Reflexion der moralischen Urteilsakte gegenüber, die reflektierte bzw. reflektierende Moralität. Aus den Überlegungen Schelers ergeben sich noch zwei weitere Ansatzpunkte. Zwar ist bei Scheler die Person der alleinige Träger ethischer Werte, jedoch lässt sich mit seinen Thesen zur Du-Einstellung (ergänzt um das Kommunikationskonzept von Alfred Schütz) die alltagsweltliche pragmatische Konstitution von Intersubjektivität gerade auch im Bereich der normativen Regelsysteme fassen, also die in der familialen Kommunikation sich stabilisierenden und tradierenden Ethiken. Des Weiteren können Schelers apriorische Werte in Anlehnung an Sohn-Rethel und Adorno als Reflexion gesellschaftlicher Gegebenheiten gefasst werden,3 2 | Vgl. dazu auch Merleau-Ponty 1966: 474 ff. 3 | »Jenseits des identitätsphilosophischen Zauberkreises läßt sich das transzendentale Subjekt als die ihrer selbst unbewußte Gesellschaft dechiffrieren.« (Adorno 1997a: 179) Vgl. zu einer Kritik dieser möglicherweise ursprungsphilosophischen Figur Weyand 2001: 47 f.

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womit die empirisch fassbare Ebene des gesellschaftlichen Erinnerungsdiskurses und der sich in ihm manifestierenden normativen Regelsysteme eröffnet wird. Die damit angesprochene Unterscheidung von Wertsystemen führt auch Avishai Margalit mit explizitem Bezug auf Erinnerung und Sozialität ein. Er verwendet den Begriff Ethik für normative Regelungen im sozialen Nahbereich, den er unter der Bezeichnung »thick relations« (dichte Beziehungen) (Margalit 2002: 7) fasst; Moralität hingegen für die normativen Regelungen im Bereich abstrakter großer Kollektive, bis hin zur Menschheit oder der Gesamtheit der Lebewesen. Wenn diese sozialen Bereiche jedoch nicht als absolut voneinander getrennt, sondern als aneinander gekoppelt, miteinander verflochten oder zumindest bezüglich ihrer Grenzen transgredierbar gedacht werden, ergibt sich die Frage nach dem Wie dieser Beziehung von Ethik und Moralität im Sinne Margalits. Dann ergibt sich, so die These, eine je eigene Ausprägung des Verhältnisses von gesellschaftlicher Moral und familialer Ethik, oder anders formuliert: von gesellschaftlichen Moraldiskursen und ihrer je spezifischen Integration in das familiale ethische Regelsystem, auf reflektierter wie auf fungierender Ebene. Die jeweilige Ausprägung von aktuellen Regelsystemen wird nach Margalit durch drei Unerscheidungen konstituiert: zum ersten die Differenz von ethischen (familialen) Regelsystemen und gesellschaftlichen Moraldiskursen wichtig. Zum zweiten kann hier die Unterscheidung von positiven Bewertungen innerhalb einer »dichten Beziehung« sowie die positive Bewertung dieser dichten Beziehung selbst: »We ethically ought to remember on two counts: for the sake of the goodness within the relation and for the sake of the goodness of the relation.« (Margalit 2002: 106) Zum dritten schließlich kann die an Scheler angelehnte Unterscheidung von reflektierter und fungierender Moralität bedeutsam werden: An den mit diesen Unterscheidungen gezogenen Grenzen kondensieren spezifische Modalitäten einer Ethik der Erinnerung. Wenn diese theoretischen Überlegungen nun zusammenfassend auf die empirische Frage nach der familialen Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus im Kontext des aktuellen deutschen Nationalstaates heruntergebrochen werden, ergibt sich folgendes analytisches Raster: 1. Die Erinnerung richtet sich aus an den positiven Bewertungen innerhalb der eigenen dichten sozialen Beziehungen einerseits und der

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grundsätzlichen Möglichkeit einer positiven dichten sozialen Beziehung andererseits.4 2. Der deutsche Erinnerungsdiskurs ist geprägt von der Frage nach dem Umgang mit der Schuld, die die Vorfahren auf sich geladen haben. Die »Aufarbeitung der Vergangenheit« richtet sich dann sowohl auf den Umgang mit Tätern im nationalen Wir-Kollektiv als auch mit möglichen Tätern in der eigenen Familie. 3. Gerade weil die positiven Bewertungen innerhalb der dichten sozialen Beziehungen den Bedingungen eines Schulddiskurses widersprechen können, ist die Differenzierung zwischen reflektierter und fungierender Moralität wichtig, weil sich entlang dieser Differenz vorhandene Widersprüche zeigen. Dieses Analyseraster soll nun anhand der Rekonstruktion eines familialen Erinnerungs- und Tradierungsmusters erprobt werden. Vor dem Hintergrund der Frage nach dem spezifischen Verhältnis von ethischen und moralischen Regelsystemen und der aktuellen Rekonstruktion der nationalsozialistischen Vergangenheit werden drei narrative Interviews aus drei Generationen einer deutschen Familie ausgewertet.

2. R EKONSTRUKTION

VON

FAMILIENERINNERUNGEN

Die Zeitzeugin der Familie Abel/Altvater, Frau Abel, ist 1922 geboren.5 Sie wuchs in einer stark katholisch geprägten Familie in einer süddeutschen Stadt auf. Der Vater, Architekt, arbeitete bis 1945 als Leiter der Logistikabteilung in einem örtlichen Rüstungsbetrieb. Während der Schulzeit auf einer katholischen Privatschule konnte Frau Abel nach eigener Aussage die Mitgliedschaft im nationalsozialistischen BDM umgehen; nach dem Arbeitsdienst wurde sie als Buchhalterin in einer größeren Firma angestellt. 1942 heiratete sie einen Bauingenieur, der zu der Zeit Wehrmachtssoldat war. Nach seiner Rückkehr aus der russischen Gefangenschaft wurden die Kinder Anna (1949) und Achim (1958) geboren. Frau Abels Tochter, Anna Altvater, ist verheiratet und hat drei Kinder. Ende der 60er Jahre hat sie Geschichte und Germanistik auf Lehramt 4 | Vgl. zur für menschliche Akteure notwendigen Orientierung am Guten Taylor (1996: 85 ff.) 5 | Alle Personennamen, -merkmale und Ortsnamen wurden anonymisiert.

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studiert und ist nach der Erziehung ihrer Kinder seit einigen Jahren wieder als Realschullehrerin unter anderem für das Fach Geschichte tätig. Im Interview betont sie, dass sie früher sehr links gewesen sei, später habe sie sich dann der Friedens- und Ökologiebewegung zugehörig gefühlt. Bezüglich ihrer gegenwärtigen politischen Orientierung stellt sie mit einem wehmütigen Anklang fest, dass sie sich mittlerweile eher einer konservativen Einstellung zuordne. Anton Altvater, der Enkel von Frau Abel, Mitte 20, studiert Architektur in Berlin und steht kurz vor dem Abschluss seines Studiums. Das Thema Architektur begleitet ihn bereits seit seiner Kindheit, wobei vor allem der Themenbereich Architektur und Nationalsozialismus nach seinen Aussagen schon sehr früh sein Interesse weckte. Er setzt sich mit architektonischen Konzepten für Gedenkstätten intensiv auseinander, unter anderem hat er auch selbst einen Entwurf für die Gestaltung der Gedenkstätte auf dem Gelände eines ehemaligen Konzentrationslagers angefertigt. 2.1 Die Zeitzeugin

Frau Abel lebt gegenwärtig allein in dem von ihrem Vater errichteten Haus. Die alte »Dame« (Dame durchaus im Sinne einer betont gehobenen Bürgerlichkeit) unterbricht gleich zu Beginn ungewöhnlich bestimmt die Erzählaufforderung des Interviewers: »Die [Erinnerungen] werden aber immer wieder weitergegeben. Ich weiß zum Beispiel wir waren jetzt drei Generationen unterwegs und die Jugend die, ja die können sich manches gar nicht mehr vorstellen. Und da lass ich schon immer mal wieder so, ach so eine alte Großmutter lässt da schon mal wieder was raus. War furchtbar. Was für die andern so un.. unfasslich ist.« (W17-1: Z. 12 ff.) In Frau Abels Konstruktion von drei Generationen fällt auf, dass nur zwei Generationen auftauchen: die Zeitzeugen und die Jugend. Die Zeitzeugen haben das Furchtbare erlebt, für die Jugend (bzw. für alle anderen) bleiben diese unbestimmten Erlebnisse »unfasslich«. Die aufgemachte Trennung wird in der ironischen Aufnahme der Fremdbeschreibung »eine alte Großmutter« nochmals verdeutlicht und vertieft. Auch die Verteilung des Wissens über die Vergangenheit ist klar: Die Zeitzeugengeneration weiß Bescheid, für die Anderen ist dieses Wissen »unfasslich«.

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Was Frau Abel dann »rauslässt« sind jedoch keine Erzählungen oder Erläuterungen, die Vergangenheit fassbar machen könnten. Es bleibt offen, was konkret so »unfasslich« gewesen sei. Sie erzählt im Interview nicht, sondern beschreibt nur kurz deklarierend eine Situation und ihre damit verbundenen Emotionen. Diese emotional gegründeten Erlebnisse begründen ihre überlegene Wissensposition und ihre Autorität als Zeitzeugin. Emotionalität wird damit zum authentischen Modus des Zugriffs auf Vergangenheit: »Und das Beeindruckendste [...] was wir Kinder gespürt haben unter dem Nationalsozialismus, wir waren in der Jugendgruppe. Das war von der Kirche aus eine Jugendgruppe. [...] Und wir waren in unserer Gemeinde die Jugendgruppe. ...Und das wurde dann verboten. Das war der erste...Einschnitt ...in dem kindlichen Leben. [...]. Das war das, was als Kind in uns weh getan hat,....dass das aufgelöst wurde.« (W17-1: Z. 28 ff.) Diese emotionalen Erlebnisse (mit Scheler und Schütz könnten sie als »wesentlich aktuelle Erlebnisse« gefasst werden) entziehen sich der Reflexion.6 Durch Berufung auf diesen innersten Kern des Ichs, der intimen Person, wird jegliche Kritik abgewiesen. Indem neben diesen Emotionen keinerlei Handlungen erzählt werden – und eventuelle Akteure im unbestimmten, unpersönlichen Passiv verbleiben – werden alle Taten ausgeblendet, auch die der eigenen Familie. Sie selbst wirkt immer als rein empfindsames Opfer der ›schicksalhaften‹ Ereignisse. Das zeigt sich auch in der folgenden Passage, in der die Ausgrenzungspraxen thematisiert werden: »Eine Freundin auch, [...] die war Halbjüdin [...] und eine Schwägerin, eine Freundin auch von meinem Bruder, die war auch Halbjüdin. Und die beiden Mädchen waren trotz ......... Ihre Mutter hatte den Stern, den Judenstern tragen müssen .... und wie wir geheiratet haben waren das trotzdem die Brautjungfern, obwohl mein Mann also im Feld war und es war doch schon die Judenfrage. Und die beiden Mädchen als Halbjüdinnen ........ waren mit in unserer Familie.« (W17-1: Z. 184 ff.) 6 | »Erlebnisse dieser Sphäre sind schlechthin nicht erinnerbar, was ihr Wie anbelangt: die Erinnerung erfaßt nur das ›Daß‹ dieser Erlebnisse.« (Schütz 2004c: 147), vgl. dazu auch Scheler (1973: 77 ff.)

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Auch in dieser Sequenz, die als Ausweis einer gewissen Widerständigkeit dient, bleiben die Handlungen und Entscheidungen der eigenen Familienmitglieder, wie die der Täter im unpersönlichen Passiv, während deren Kategorisierungen (»Halbjüdin«, »Judenstern«, »Judenfrage«) übernommen werden. Gleichzeitig erhalten die beiden als »halbjüdisch« bezeichneten Mädchen eine spezifische Funktion in der Beschreibung: Sie werden in die dichten Beziehungen der Familie aufgenommen, um sich vom anonymen System abzugrenzen.7 Als Abgrenzung zu einer von der »Judenfrage« strukturierten Gesellschaft weisen die beiden Mädchen die Integrität der Familie gegen eine amoralische Gesellschaft aus. Diese Grenze der Familie weist auf einen spezifischen Mechanismus der Deutung der Vergangenheit in der Familie Abel hin: die ethische Abgrenzung. Der Verweis auf die Einstellung (nicht die Taten) der Umwelt (Nachbarschaft, sonstiges Bürgertum in der Stadt, Gesellschaft), deren Moralität als Anhänger des Nationalsozialismus durchaus reflektiert wird, wertet die eigene Position zu einer neutralen Beobachterposition oder gar zu einer widerständigen auf. Sie wird damit implizit aus der Reflexion herausgenommen. Dabei umfasst das moralisch positiv konnotierte, »gute« Umfeld im Falle von Frau Abel die eigene Familie und den eigenen Freundes- und Bekanntenkreis (wobei darin auch ausgewiesene Antisemiten aufgenommen werden, wie etwa der ehemalige Redakteur eines Lokalblatts). Aus der Sicht der Gegenwart dient die dichte Beziehung zu zwei Verfolgten zur positiven Bewertung des damit abgegrenzten eigenen sozialen Nahbereichs. Diese Abgrenzung zeigt sich auch in der folgenden Passage: »Das hatten wir noch: Angst gehabt um unseren Vater, weil wir sind ja, [...] also mein Vater [... hat] gewusst, dass der Krieg zu Ende ist. Und [...] hier in dieser Straße [...] die waren alle überzeugt von dem Endsieg ......... und mein Vater hat den Mund nicht gehalten.« (W17-1, Z. 88 ff.) Diese Erklärung zur Lage im Frühling 1945 zeigt die Fallstruktur erneut: Der Verweis auf die eigenen Emotionen dient als Quelle von Authentizität und die eigene Familie wird durch die Abwertung des Umfelds aufge7 | Sehr häufig findet sich in Zeitzeugeninterviews der Verweis auf den guten Kontakt zu dem als »Juden« ausgegrenzten Teil der Bevölkerung, indem vor allem das Einkaufen in als jüdisch bezeichneten Geschäften erzählt wird (oder auch umgekehrt die »jüdische« Kundschaft noch bedient wurde).

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wertet. Die eigene überlegene Wissensposition und das mutigen Auftreten des Vaters wird den nationalsozialistisch geprägten Überzeugungen und dem angepassten Verhalten der Nachbarn gegenübergestellt. Dabei werden mögliche Beteiligungen der eigenen Familie konsequent ausgeblendet (etwa die leitenden Tätigkeiten des Vaters und einer Tante in einem benachbarten Rüstungsbetrieb). Im weiteren Verlauf des Interviews wird die hier angedeutete widerständige Haltung des Vaters gegenüber den Nationalsozialisten weiter untermauert. Er habe sich geweigert, nationalsozialistische Autoritäten mit dem obligatorischen Hitlergruß zu grüßen. Des weiteren habe die Familie, im Gegensatz zum nachbarlichen Umfeld, keine Hakenkreuzflagge im Garten gehisst. Die Tradierung innerhalb der Familie stellt sich für Frau Abel folgendermaßen dar: »Es ergäbe sich dann höchstens also [die Nachfrage zielte auf Tradierungssituationen in der Familie] ... nein, eigentlich nicht. Höchstens dass ich dann einfach einmal plötzlich etwas erzähle. Die Fragen kommen eigentlich nicht an mich, sondern urplötzlich ist eine Situation, wo ich dann sag, es, das und das hab ich da so und so erlebt. Aber als Gespräch ist es nicht ..... also dass man jetzt über diese Zeit jetzt da nochmal eine Diskussion oder sonst etwas hat. Es kommt höchstens von mir so raus.« (W17-1: Z. 303 ff.) Frau Abel lebt allein mit ihrer Vergangenheit, ihre Kinder und Enkel tragen keine Fragen bezüglich der Vergangenheit an sie heran. Die Erinnerung bricht gelegentlich aus ihr heraus. Doch selbst in solchen Momenten kommt kein Gespräch darüber zustande, wird nicht nachgefragt, entsteht keine Diskussion in der Familie. Das lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit auf die deklarierende Erzählstruktur und die stilisierte, überlegene, auf der emotionalen Zeitzeugenschaft gegründete Wissensposition zurückführen: Die Emotionen einer authentischen Zeitzeugin können nicht diskutiert werden, ebenso wenig wie die kurz angerissenen Situationserläuterungen. Die Zeitzeugin Frau Abel gibt ihr Wissen von der Vergangenheit nicht in Erzählungen preis. Sie deklariert nur und schildert ihre eigenen Emotionen. Diese dienen in der Gegenwart als Ausweis der Betroffenheit und Ablehnung des Nationalsozialismus, also dem Nachweis der eigenen

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moralischen Integrität. Damit übernimmt sie die gesellschaftliche Maßgabe der Abgrenzung vom NS-Regime und seiner Ideologie, fügt jedoch eine quer dazu liegende Grenze ein: die eigenen dichten Beziehungen. Familie und Freunde werden als moralisch integer beschrieben. In den Nationalsozialismus involviert sei nur das mehr oder weniger anonyme städtische Umfeld gewesen. Die Beschreibungen liegen ausschließlich auf der Ebene der fungierenden Moralität, reflektierte Moralität bezogen auf die eigene Familie findet sich nicht. 2.2 Die Tochter

Frau Altvater wohnt zum Zeitpunkt des Interviews mit ihrem Mann und ihrem jüngeren Sohn in einem kleinen Ort in Nordbayern. Gleich zu Beginn des Interviews erzählt Frau Altvater eine »Vorgeschichte«, die grundlegende Tradierungsmuster erkennen lässt: »Die kleine Vorgeschichte war, dass meine Mutter im Frühsommer mit einer ihrer Freundinnen zum Essen war und ihre Freundin hat dann wieder sehr über Ausländer hergezogen und es fielen wohl auch antisemitische Äußerungen [...]. Auf jeden Fall hat meine Mutter immer noch eine Zeitung von Stalingrad, eine Originalzeitung, die hat sie aus dieser Zeit. Da sind die ganzen Toten unserer Stadt drauf. Die hat sie aus ihrem [...] Wohnzimmerschrank, hat sie in ihre Handtasche, ist in ein benachbartes Dorf, mit ihrer Freundin in den ›Alten Aal‹ [...] und hat gesagt: ›Schau her Annagret! Do kannst des nachlesen! Und Du bist immer noch net gescheider worn!‹ Und dann hab ich gesacht: ›Naja, des erstaunt mich jetzt von der Annagret‹. Und dann hat meine Mutter ganz vom Leder gezogen, wer alles ein Nazi war, schon immer war [lacht], geblieben ist und auch heute noch sein wird.« (W17-2: Z. 11 ff.) Frau Altvaters Mutter wird in dieser Szene als couragierte Gegnerin des Nationalsozialismus in Vergangenheit und Gegenwart vorgestellt, die der Ausländerfeindlichkeit ihrer Freundin offensiv begegnen würde. Diese ›heroisierende‹ Darstellung der Mutter (Welzer et al. 2002: 61 ff.) bestätigt sich im weiteren Verlauf des Interviews und wird auf die gesamte Familie mütterlicherseits erweitert. Des Weiteren fällt auf, dass den ausländerfeindlichen Äußerungen mit der Zeitung allein die historischen Opfer im Kollektiv der Deutschen entgegengehalten werden. Das Argument gegen

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Ausländerfeindlichkeit ist das über das Medium der »Originalzeitung« authentisch belegte Leid des deutschen Volkes (hier in Gestalt der »ganzen Toten unserer Stadt« und der verlorenen Schlacht von Stalingrad) und gerade nicht die empathische Bezugnahme auf die tatsächlichen und potentiellen Opfer von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.8 Frau Altvater greift an dieser Stelle den verbreiteten nationalen Opferdiskurs auf, der von der eigenen Täterschaft abstrahiert und allein das Leid der eigenen Wir-Gruppe thematisiert. Dies ist eine typische Figur, um dem Schuldvorwürfen zu entgehen: zur Ausgrenzung der Täter aus dem Wir-Kollektiv kommt die eigene Verortung auf der Seite der Opfer (Bombenkrieg, Vertreibung etc.). Zum Ende dieser Szene zieht die Mutter laut Frau Altvater »ganz vom Leder«. Das äußert sich vor allem im Aufzählen der in der städtischen Nachbarschaft noch wohnenden Altnazis. Der als moralisch integer konstruierten mütterlichen Familie wird das nach wie vor als braun beschriebene bürgerliche Umfeld entgegengehalten. In dieses braune Umfeld werden im Verlaufe des Interviews auch die österreichische Familie ihres Vaters und die Familie ihres Ehemannes eingeordnet. Diese Abwertung aller Anderen als Nazis kann auch hier als ethische Abgrenzung bezeichnet werden, die der Aufwertung der eigenen Familienhälfte dient. In dem von ihrer Seite sehr emotional, sprunghaft und assoziativ geführten Interview zeigt sich eine intensive Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die emotional und vor allem auf einer moralischgesellschaftlichen Ebene geführt wird. Als Lehrerin engagiere sie sich sehr für die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus, etwa durch regelmäßige Besuche von KZ-Gedenkstätten und des Nürnberger Dokumentationszentrums, und arbeite dabei auch mit jüdischen Zeitzeugen zusammen: »Jedes Jahr ist auch der.. bei uns der Otto Schwerdt [...] das ist der 2. Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde in Bayern, ist ein Kaufmann aus Regensburg, ein wunderbarer Mann. [...] Wissen sie, der ist so positiv.... ich weiß es nicht... Dieser Gräuel, von dem, wenn ich des hör vom Otto Schwerdt..., bin ich irgendwie getröstet über die Menschen. Aber, wenn ich an meine Heimatstadt denke,.. und 8 | Wie sich in der späteren Recherche herausstellte, finden sich auf dem Titelblatt der erwähnten Ausgabe dieses Lokalblattes aus dem Jahr 1943 sowohl ein längerer Propagandaartikel zur Schlacht von Stalingrad als auch ein darauf bezogenes Gedicht mit Durchhalteparolen im Opferstil.

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meine Eltern und meine Mutter [unter Tränen?]....... wenn ich an meine Heimatstadt denk, bin ich überhaupt nicht getröstet!« (W17-2: Z. 197 ff.) Diese Sequenz ist in dreifacher Hinsicht bemerkenswert: Zum ersten wird die sehr emotionale Erzählweise von Frau Altvater deutlich. Zum zweiten wird der Auschwitz-Überlebende Otto Schwerdt nicht als solcher eingeführt, sondern mit seiner Funktion in der israelitischen Kultusgemeinde und als Kaufmann.9 Als solcher schafft der leibhaftige, der authentische Auschwitz-Überlebende Trost. Das macht die Konstruktion und Funktion von Authentizität in ihrer Erzählung deutlich: Authentisches, seien es Personen wie Schwerdt oder Gegenstände wie die oben erwähnte »Stalingradzeitung«, vermittelt Halt, gibt Gewissheit, stützt den Redestrom ab. Die auf gesellschaftlicher Ebene (vor allem im Diskurs der »68er«-Generation, vgl. dazu auch Brunnert in diesem Band S. 67 ff.) allgemeinhin akzeptierte und öffentlich thematisierte »Störung« der moralischen Integrität des nationalen Wir-Kollektivs im Sinne eines »zivilisatorischen Bruches« verlangt nach einem kollektiven Schuldeingeständnis (welches im konkreten Fall in eine Trauer über dieses Schuldiggewordensein nach sich zieht) und bedarf gleichzeitig einer Korrektur bzw. »Reparatur«. Dies geschieht hier durch die Vergebung seitens eines Vertreters des Kollektivs der Opfer, welcher durch seine versöhnliche Haltung gegenüber der Vertreterin des Kollektivs der Täter, den notwendigen »Trost spendet«. Zum dritten deutet der Schluss der Sequenz auf eine nicht offen eingestandene Unsicherheit bezüglich der Rolle der eigenen Eltern hin: Nicht nur das braune städtische Umfeld vermag keineswegs zu trösten, sondern auch die Position der eigenen Eltern wird unsicher. Im Interview tauchen mehrere Stellen auf, die in ähnlicher Weise auf eine über die reine Beobachtung hinausgehende Rolle der eigenen Familie verweisen, wobei wir nur den Verdacht von Frau Altvater wiedergeben, wie er sich etwa in der Sequenz zum Tod einer Tante im sogenannten Euthanasieprogramm zeigt: »Dann natürlich gibts ja noch eine Schwester [der Mutter], die ist 1913 oder 12 geboren.. Des war die Tante Anni.. Und die Tante Anni die war behindert... und war aber im Geschwisterkreis und war immer dabei und irgendwann, da war der Albert vielleicht 6 Jahre alt, also des war 9 | Das Wort »Auschwitz«, oder auch das, wofür es steht, »Shoah«, »Holocaust«, »Genozid« etc., tauchen im gesamten Interview von fast vier Stunden Länge nicht auf.

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in den 30er Jahren, da hat sie ihm irgendwie [...] mit ner Stricknadel irgendwie.. bedroht, oder vielleicht ist auch was passiert, des weiß ich nimma. Jedenfalls ist die Tante Anni ins Heim gekommen. Und des kam ins Euthanasieprogramm und die haben nieemals, niee ein einziges Wort(!)... also so richtig von A nach B gesagt, sondern irgendwie: ›Ach ja und dann war ja dann die Anni im Heim!‹ Aber beim Friedhof war ein eigenes Grab für die Anni!.. Und des wusst ich schon immer! Und ich hab mich bis heute nicht getraut zu fragen: ›Wie war des denn mit der Anni?‹. Bis heute!... Und ... ich frags auch nicht. [Pause von 10 Sek.] [...] und des Grab ist da [...]. Aber da ham, sind die immer so rumgeschlichen.. Ich weiß des von der Anni!« (W17-2: Z. 159 ff.) Des Weiteren bleibt für Frau Altvater die Rolle des Vaters in der Wehrmacht und eine daraus resultierende eventuelle Täterschaft fraglich.10 Schließlich wird im Familiengespräch die Rolle des Großvaters und einer Tante in der Führungsetage eines örtlichen Rüstungsbetriebes deutlich, in dem auch Zwangsarbeiter beschäftigt wurden. Trotz der Länge des Interviews (beinahe vier Stunden) tauchen bei ihr nur wenige, nur angedeutete, unklare und stereotype Geschichten mit Verweisen auf Taten oder Handlungen der Familie in der Zeit des Nationalsozialismus auf. Das permanente Reden bewegt sich um einen Kern von möglichen Taten und Handlungen der Familie in der Zeit des Nationalsozialismus, der nur an wenigen Stellen berührt wird. Das steht im Gegensatz zu der von ihr betonten Tradierungssituation in der Familie: »Die [ganze Familie, alle Onkel und Tanten] haben, wenn die geredet haben,.. [räuspert sich] haben se nicht von den großartigen Taten.. ihrer.. auf diesen Feldzügen da berichtet, sondern sie haben immerzu geredet.... Alles! [...] Ich bin ja ein Kind, des nur unter Erwachsenen aufgewachsen ist! [...] Ja, und wenn dann der Großvater nüber zum [Rüstungsbetrieb] gegangen ist, hat er gsagt: ›Grüß Gott, Herr Gauleiter!‹ Und das fand ich, als als Kind hab ich des natürlich alles kapiert..und ich saß halt mit bei den Erwachsenen und hab

10 | »Und als ich meinen Vater gfragt hab: Papa, sag mal, wie viel Menschen hast du erschossen? Das glaub ich hab ich nicht gfragt... [mhm] ... Des glaub ich nicht... Ich bin heute immer noch so jemand, der nicht fragt, eigentlich.... Ich hör zu......... Vielleicht auch net so gut.« (W17-2: Z. 1294 ff.)

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solche Ohren gehabt. Auf jeden Fall, und des war für mich schon heldenhaft.« (W17-2: Z. 127 ff.) Für Frau Altvater ist die Tradierungssituation in der Familie vorbildlich: es werde über alles geredet. Dem stellt sie das Schweigen in anderen Familien (etwa in der ihres Ehemannes: »nie . niemals ein einziges Wort«) gegenüber. Dieser ständige Redefluss spart aber die »großartigen Taten« aus und konzentriert sich stattdessen auf die Einstellungen der Anderen. Sie selbst nimmt dabei die Position einer rein rezeptiven, kindlichen Zuhörerin ein, in der sie in Bezug auf die eigene Familie bis heute verharrt. Die Tochter übernimmt somit die ausgeprägte fungierende Moralität ihrer Mutter in Form einer Abgrenzung der eigenen Familie gegenüber einem aus ethisch-moralischen Gesichtspunkten abzuwertenden Umfeld. Diesem Umfeld wird auch die Familie ihres Ehemannes zugeordnet, in der nie über das Thema Nationalsozialismus geredet werde. Darüber hinaus intensiviert sie diese Aufwertungsstrategien zusätzlich, indem sie ihre Mutter als einer couragiert handelnde und denkende Frau beschreibt; Eigenschaften, die diese für sich selbst gar nicht beansprucht. Auf der anderen Seite vertritt sie in ihrer Position als Lehrerin durchaus ihren aufklärerischen Anspruch, indem sie mit ihren Schülern eine Auseinandersetzung mit dem Thema Nationalsozialismus und den damit verbundenen Schuldfragen in vielfältiger Weise umsetzt. Somit lässt sich in den Aussagen Frau Altvaters auf gesellschaftlicher Ebene reflektierte Moralität durchaus finden, nur wird diese nicht auf die eigene Familie angewendet (bzw. nur in Form von vagen Andeutungen). Was nicht zuletzt in einem gesellschaftspolitischen Diskurs der 68er Generation, der Frau Altvater qua Geburtsjahrgang und Selbstzuschreibung zugeordnet werden kann, eine Entsprechung findet. Dieser Diskurs geht davon aus, dass von den 68ern eine die Zeit des Nationalsozialismus betreffende Konfrontation mit deren Elterngeneration stattgefunden habe, nur lässt sich diese Konfrontation ebenfalls fast ausschließlich auf gesellschaftlicher Ebene, jedoch kaum innerhalb der Familien feststellen (vgl. dazu den Beitrag von Brunnert in diesem Band S. 67 ff.) 2.3 Der Enkel

Anton Altvater, der 1981 geborene Sohn von Frau Altvater, beginnt seine Erzählung mit einer vergleichenden Charakterisierung der verwandtschaftlichen Linien beider Elternteile:

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»Ok. Ja, also allgemein kann man vorher erst mal festhalten, dass meine Familie also aus meiner Sicht sich in die väterliche Linie gliedert und [in die] mütterliche Linie und aus meiner Sicht ist die väterliche Linie sehr deutschnational gesinnt... die auch heute noch teilweise negative Äußerungen zu Juden zum Beispiel gemacht haben. [...] Und die mütterliche Linie ist mir von Erzählungen bekannt, dass sie in den 20er Jahren alle SPD-Partei-Buch hatten ... und äh ja sehr linksliberal eingestellt sind und sehr tolerant« (W17-3: Z. 11 ff.) Die Charakterisierung seiner Familie hinsichtlich ihrer Einstellungen zum Nationalsozialismus weist bereits zu Beginn des Interviews eine auffällige, politische Dichotomisierung auf: Der eher konservativ (bzw. »deutschnational«) eingestellten und in ihren Äußerungen durch positive Bezugnahme auf den Nationalsozialismus gekennzeichneten väterlichen Verwandtschaftslinie wird der aus seiner Sicht durchweg »linksliberal« eingestellte und dem Nationalsozialismus kritisch eingestellte mütterliche Familienzweig gegenüber gestellt. Er gelingt ihm jedoch im Interview weder eine kritisch reflektierende Haltung gegenüber den Familienerzählungen über die Zeit des Nationalsozialismus einzunehmen, noch die Beginn hervorgehobenen NS-kritischen Haltungen innerhalb der mütterlichen Familie zu konkretisieren. Diese verliert sich in vagen, diffusen und auch widersprüchlichen Beschreibungen von Einstellungen: »Bei meinen Großeltern mütterlicherseits, glaube ich, ist es sehr stark über die Erzählungen meiner Mutter weiter vermittelt worden die Geschichte. [...] Und ich weiß auch noch von persönlichen Gesprächen.. von meinen Großeltern mütterlicherseits, dass die dem Nationalsozialismus nicht gleichgültig gegenüber.. waren, aber auch nicht sehr.. auch nicht unbedingt angepasst. Aber ich glaub’, die haben sich da einfach so ein bisschen durchgemogelt, also möglichst wenig ähm Angriffsfläche zu bieten, aber auch nicht Dinge zu machen, die dem System eben nutzen könnten [mhm]. Ich würde sie nicht als Mitläufer bezeichnen, ich glaube denen war es sehr bewusst, auch nicht als Desinteresse, aber ich glaube, die haben versucht eben da so heil wie möglich aus der Sache rauszukommen.« (W17-3: Z. 186 ff.) Diese Unsicherheit in der Einordnung der Großeltern mütterlicherseits ist angesichts der bisher entwickelten Tradierungsituation in der Familie

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verständlich. Konkrete Erzählungen, die sich auf die Handlungsebene beziehen, fallen auch bei ihm weg.11 Aus seiner Sicht erfolgt die Tradierung vor allem über seine Mutter, Frau Altvater. Der Kontakt zur Großmutter sei wegen der räumlichen Entfernung sehr spärlich. Anton übernimmt die moralische Abgrenzung der Familie. Während allerdings seine Mutter überwiegend die mütterliche Familie gegenüber den außen stehenden Nazis und Unverbesserlichen aufwertet, dient ihm nur seine väterliche Familie als moralischer Gegenpol, das restliche Umfeld wird auf eine spezifische Weise entschuldigt. Diese Entschuldigung (und eine weitere eigene Aufwertung) erfolgt durch die Auseinandersetzung mit dem Thema Nationalsozialismus auf dem Gebiet der Architektur, womit er seine Überlegungen reflexiv-wissenschaftliche fundiert. Die NS-Architektur ist für Anton eine authentisch in die Gegenwart hineinragende Fortsetzung der von der Großelterngeneration erlebten Zeit: »Ich persönlich habe als Kind äh das Dritte Reich... also in der Architektur... erfahren.« (W17-3: Z. 249 f.) Diese »persönliche Erfahrung« (Anton wurde, so sei betont, 1981 geboren) erfolgt anhand von Bildbänden aus der Bibliothek des Großvaters (unter anderem ein Band von Albert Speer zur Reichskanzlei) und von architektonischen »Überresten« in der Stadt, etwa Schulgebäuden. Die NS-Architektur wird damit für ihn zu einem noch gegenwärtigen Erlebniskern. Damit überschreitet er die von der Großmutter gezogene Generationengrenze: Für ihn ist diese Zeit fassbar, er könne sich aufgrund der authentischen Bauten in die damalige Generation einfühlen. Diese Architektur wird von ihm in der Folge beschrieben als überwältigende, übermächtige Struktur, der die Menschen unterworfen und ausgeliefert seien. Damit schließt Anton nicht zuletzt an den Diskurs zum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg an, der unter dem Motto »Faszination und Gewalt«12 stand und steht: »Zu[r] nationalsozialistischen Architektur, ich glaube, die... hat schon eine bestimmte Wirkung oder übt eine starke Wirkung, glaube ich auf jeden aus, und bei mir war es nicht unbedingt, ja war es wohl 11 | Gänzlich verschwiegen wird in allen drei Einzelinterviews die Tätigkeit des Großvaters als Leiter einer Logistikabteilung in einem örtlichen Rüstungsbetrieb, sowie die der Großtante als Chefsekretärin in jener Firma. Diese Tätigkeiten finden erst im Familiengespräch eine marginale Erwähnung, das zu einem späteren Zeitpunkt stattfindet. 12 | Vgl. dazu http://museen.nuernberg.de/dokuzentrum/ausstellungen.html.

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eine Faszination, als auch eine Ablehnung. Also es ist unglaublich, wie wie stark der Raum gefasst wird durch die Architektur und wie der Mensch zu einem ... wie die Architektur an sich im Mittelpunkt steht... aber auchwas für eine Gefahr eben davon ausgeht, das zu instrumentalisieren, das war mir als Kind schon stark, schon bewusst.« (W17-3: Z. 297 ff.) Die Themen der Faszination und Wirkung der Architektur erhalten in den Erzählungen von Anton, der als angehender Architekt sich wahrscheinlich weiter sehr engagiert mit dem Thema auseinandersetzen wird, eine erklärende und rechtfertigende Funktion für systemkonformes Verhalten der Deutschen während der Zeit des Nationalsozialismus. Die als authentisch beschriebene NS-Architektur bekommt bei Anton eine doppelte Funktion: Sie ermöglicht ihm einerseits die persönliche Erfahrung des Nationalsozialismus, und andererseits schafft diese persönliche Erfahrung die Voraussetzung zur Empathie mit den damals lebenden Menschen, wobei er seine Empathie nur für die Gruppe der in das System integrierten Mitläufer (und eventuellen Täter) und nicht für die der ausgeschlossenen Opfer ausdrückt. Ähnlich den Ausführungen seiner Großmutter lassen sich in Antons Aussagen ausschließlich die eigene Familie aufwertende, fungierende Moralisierungen feststellen. Anton betont seine faktisch-wissenschaftliche Herangehensweise an das Thema Nationalsozialismus, jedoch mündet seine Art der Auseinandersetzung in einer Entschuldungsargumentation der zur Zeit des NS lebenden und handelnden Mitglieder des nationalen Wir-Kollektivs. Durch den übermächtigen Einfluss der NSArchitektur wären sie den Verführungen und Manipulationen im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie erlegen. Diese Wirkmächtigkeit erhält dabei eine anthropologische Begründung, welche mit eigenen Erfahrungen seit seiner Kindheit belegt wird.

3. E RINNERUNG

UND ETHISCHE

A BGRENZUNGEN

In der Familie Abel/Altvater wird viel über die Zeit des Nationalsozialismus geredet, vor allem von der Tochter Anna Altvater, allerdings nicht miteinander, sondern aneinander vorbei. Ein Nebeneinander, das auffällig wenig Bezüge zueinander aufweist. Der Zeitzeugin werden keine Fragen gestellt, was sie durch ihren deklarativen Erzählstil auch nahelegt.

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Die Tochter, als Geschichtslehrerin in der Wissensvermittlung über diese Zeit sehr engagiert, konterkariert ihre intensive Auseinandersetzung auf der gesellschaftlichen Ebene, indem sie zwar viel über die Zeit des Nationalsozialismus redet, aber sich in Bezug auf die Familie mit wenigen Bruchstücken zufrieden gibt. Ständig werde über »Alles« geredet. Dies bezieht sich aber nur auf die Einstellungen im sozialen Umfeld. Der Enkel schließlich stellt fest, dass er eigentlich wenig von Leben und Taten seiner Großeltern in dieser Zeit weiß, und dass es schon aufgrund der räumlichen Entfernung zwischen den einzelnen Familienmitgliedern, kaum Tradierungssituationen in der Familie gibt. Dem weitgehenden Schweigen der Zeitzeugengeneration – es wird nur deklarierend, emotional Aufgeladenes »herausgelassen« – korrespondiert ein ähnlicher Umgang mit diesen Leerstellen in der zweiten und dritten Generation: In Bezug auf die Vergangenheit wird nicht nachgefragt, weil sonst das auf den Bruchstücken der Familiengeschichte aufgebaute ethische Selbst in Mitleidenschaft gezogen werden würde. Das permanente Reden »über Alles« kreist um einen sorgsam abgeschlossenen Hohlraum des Verdachts der zweiten und der dritten Generation bezüglich aktivem Mitläufertum (oder mehr) in der eigenen Familie und schließt diesen Hohlraum ab. Gemäß diesem Muster werden Erinnerungen selegiert und um diese Leerstelle herum angeordnet. Dieses beredte Schweigen ist gekennzeichnet durch die ethische Aufwertung der eigenen Familie im Verhältnis zum Umfeld. Dabei verschiebt sich der Kreis der dichten Beziehungen auf der einen, und somit der Kreis der ›Bösen‹ auf der anderen Seite mit jeder Generation: Bei der Mutter verläuft die Grenze identisch zu der des eigenen Freundes- und Bekanntenkreises (inklusive ausgewiesener Antisemiten auf der Seite der Guten). Für die Tochter Anna sind alle außerhalb der mütterlichen Familie Nazis gewesen und geblieben. Der Enkel Anton schränkt die Betrachtung auf den mütterlichen und väterlichen Teil der Familie ein: Die väterliche Familie wird dabei als negativer Gegenpol zur guten mütterlichen Familie konstruiert, der Rest der Gesellschaft wird architektonisch entschuldigt. Diese ethisch begründete Konstruktion rankt sich in allen drei Fällen empor an als authentisch wahrgenommenen Relikten aus der Vergangenheit: die Emotionen von Frau Abel, der Überlebende und die »Stalingradzeitung« (sowie diverse Einrichtungsgegenstände und topographische Gegebenheiten) bei Frau Altvater und schließlich die in die Gegenwart ragenden architektonischen Erblasten des Nationalsozialismus beim En-

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kel Anton. So gelingt es in der gesamten Familie Fragen nach möglichen eigenen Beteiligungen und eventuellen Täterschaften auszublenden (und somit den eigenen ethischen Ansprüchen zu genügen). Durch eine Selbstbeschreibung als passives Opfer bei der Zeitzeugin, durch konstruierte Gegnerschaft, die mit Verweis auf die Opfer in der nationalen Wir-Gruppe argumentiert und schließlich durch die Entschuldigung des Täterkollektivs durch Architektur. Dabei ergeben sich unterschiedliche Bezüge und Wechselwirkungen mit öffentlichen Diskursen: Frau Abel sieht sich und ihre Familie als Opfer und hebt widerständige Momente hervor. Frau Altvater als Geschichtslehrerin übernimmt diesen Opferund Widerstandsdiskurs, verbunden mit einer fungierenden Moralität bezogen auf die Familie, auf gesellschaftlicher Ebene zeigt sie sich jedoch (vermutlich im Einklang mit ihrer Generation) sehr engagiert und reflexiv moralisierend. Anton Altvater schließlich übernimmt den Diskurs von Faszination und Verführung zur Entschuldigung des Kollektivs. Interessanterweise reproduziert er die Form der familialen Tradierungssituation auch in einem seiner architektonischen Entwürfe: »Und unsere Idee war [...] Und mir war wichtig, oder die Idee war einen Park vorzuschalten vor das KZ-Gelände, in dem der Mensch quasi sich besinnen kann, sich einstimmen kann auf den Besuch und auch wieder, wenn er das KZ-Gelände begangen hat, dass er wieder den nochmal verarbeiten kann. Also dass der Sprung in die Alltagswelt nicht so groß ist, dass man nicht mit dem Auto hin fährt, ein Eis isst, mal schnell durchs KZ rennt, wieder rausgeht, sondern dass den Leuten bewusst ist, was für eine Größe da vorhanden ist und dass sie das auch körperlich erfahren, also das war dann der Weg von einem Kilometer zum KZ, einfach um auch körperlich zu erfahren [...] den muss man erlaufen [mhm]. Und das das war mir sehr wichtig. Da haben wir eigentlich einen Landschaftspark entworfen, so als Pufferzone zwischen dem KZ-Gelände.. ja zwischen zwischen KZ-Grenze und Beginn, wo die Rüstungsanlagen beginnen [...] zur baulichen Erschließung des Geländes.. Ja das wurde sehr gut bewertet.. Aber war halt eine sehr radikale Position [...] Aber unsere Position war eigentlich: Architekt raus aus dem KZ-Gelände.. Es muss für sich stehen, so wie es ist« (W17-3: Z. 844 ff.) Hier zeigt sich noch einmal die ethische Abgrenzung der Familie unter umgekehrten Vorzeichen: Der Nationalsozialismus wird mit Hilfe eines

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Parks von der Restgesellschaft abgetrennt, der Weg zur »Aufarbeitung« Adorno (1997c) ist dann auch körperlich erfahrbar. Das ethisch und moralisch als »gut« zu Bewertende kann damit problemlos und vollständig losgelöst werden vom »Anderen«, »Schlechten«. Diese normative Vorgabe wird zum Scheidewasser für die Erinnerungen. Somit wird Unsicherheit bezüglich der potentiellen Verquickung des eigenen (familialen) Kollektivs mit eventuellen Schuldfragen ausgeschaltet, es braucht die Integrität des eigenen Kreises der dichten Beziehungen nicht in Frage gestellt werden. Der Weg der Aufarbeitung ist dann der (körperlich und emotional erfahrbare) durch einen klar definierten Grenzbereich zum »Anderen«, »Bösen« und bleibt immer verbunden mit der Option des Weges zurück zum »Eigenen«, »Guten«.

»Jetzt bist de ein zweites Mal betrogen worden!« – Vergleichendes Erinnern gesellschaftlicher Verhältnisse R ENÉ L EHMANN

1. E INLEITUNG Dem politischen und ökonomischen Zusammenbruch der DDR folgte bald die Forderung nach Aufarbeitung der sozialistischen Vergangenheit. In diesem Zusammenhang wurde das Problem der Vergleichbarkeit der DDR mit dem nationalsozialistischen Gewaltherrschaft hinsichtlich ihrer totalitären Strukturen sowohl in wissenschaftlichen Diskursen als auch in öffentlichen politischen Diskussionen reaktualisiert (vgl. bspw. Rudnick 2007; Wippermann 2009).1 Kaum erwähnt zu werden braucht dabei, dass sich der Hauptkonfliktpunkt dieser Kontroversen auf die durch den Vergleich implizierte Gleichsetzung der Diktaturen bezieht. Kritiken an diesen Gleichsetzungsversuchen sehen dabei vor allem die Gefahr der Relativierung der Verbrechen des Nationalsozialismus, dies geschehe in einer zu großen Teilen ungerechtfertigter Weise der »Dämonisierung« (Wippermann 2009) des sozialistischen Gesellschaftssystems der DDR. Ein Beispiel für die Intensität der Auseinandersetzungen um die Thematik der DDR-Erinnerungen stellt die Debatte über die »Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes ›Aufarbeitung der SED-Diktatur‹« dar, welche im Jahr 2006 für rege öffentliche Diskussionen sorgte (vgl. Sabrow 2007). Vor dem Hintergrund dieser von den 1990er Jahren bis in die Gegenwart andauernden diskursiven Auseinandersetzungen um die unter1 | »Dennoch und obwohl die Charakterisierung der DDR als totalitär innerhalb der Forschung umstritten war und nach wie vor ist, hat sie sich in Politik und Öffentlichkeit weitgehend durchgesetzt. Davon zeugen sowohl Ausdrücke wie »zweite deutsche Diktatur«, »SED-Staat«, »totalitär« etc. wie auch dezidierte und gewissermaßen schleichende Vergleiche zwischen der nationalsozialistischen und der realsozialistischen Diktatur.« (Wippermann 2009: 59)

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schiedlichen Positionen einer allgemein verbindlichen oder ›richtigen‹ DDR-Vergangenheitsdeutung soll in diesem Beitrag der Frage nach den Einflüssen oder auch Zurückweisungen vergangenheitsbezogener, zum Teil widerstreitender Diskurse (oder auch einzelnen Elemente daraus) innerhalb lebensgeschichtlicher Erzählungen, wie sie in narrativen Interviews generiert wurden, nachgegangen werden. Auffälligerweise lässt sich in meinem untersuchten Interviewmaterial beobachten, dass zu den Vergleichen zweier vergangener Gesellschaftssysteme auf der Ebene der in privaten Räumen geführten Diskurse sich eine weitere, in der Öffentlichkeit bisher kaum wahrgenommene, potentielle Vergleichsdimension darzubieten scheint. Denn speziell für die von den gesellschaftlichen Umbrüchen persönlich Betroffenen gewann eine weitere Relationierungsvariante an Relevanz: die Gegenüberstellung der beiden vergangenen Gesellschaftsordnungen mit der gegenwärtigen. Auch hier liegt die Besonderheit in einer strukturellen Gleichsetzung der unterschiedlichen Gesellschaftssysteme. Dazu analysiere ich im Folgenden die Vergangenheitsdeutungen in einer ostdeutschen Familie vor dem Hintergrund von gesellschaftlichen Transformationserfahrungen unter folgender Fragestellung: Inwiefern werden die Erfahrungen innerhalb der unterschiedlichen Gesellschaftssysteme und die der gesellschaftlichen Umbrüche zur Gegenwart in Beziehung gesetzt? Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen ziehen die Betroffenen aus diesen Vergleichen der unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen für ihr Verhalten im und ihr Verhältnis zum gegenwärtigen Gesellschaftssystem? Um die Vergleiche durchführen und stützen zu können, stellen die Sprecherinnen Bezüge zu den auf der gesellschaftlichen Ebene generierten und zirkulierenden Erinnerungsdiskursen her. Daraus ergibt sich die auf diesen speziellen Kontext konkretisierte Frage nach den von den Sprecherinnen auf der individuellen Ebene reproduzierten Diskurselementen: Inwieweit werden von ihnen die Erinnerungsdiskurse bzw. deren Inhalte und Argumentationsstrukturen für die eigene Argumentation aufgenommen, angepasst, weitergeführt oder auch (vollständig oder zu bestimmten Teilen) abgelehnt? Oder anders formuliert: Welche Diskurse oder Diskurselemente werden von den Interviewpartnerinnen innerhalb ihrer Erzählungen reproduziert oder finden zumindest Er-

»J ETZT BIST DE EIN ZWEITES M AL BETROGEN WORDEN !« | 45

wähnung, und inwiefern werden sie in ihrer Verwendung beibehalten, modifiziert oder abgewiesen? Zur Beantwortung dieser Fragen ziehe ich exemplarisch erste Ergebnisse aus meinem Dissertationsprojekt heran, in dem narrative Einzelinterviews und Gruppendiskussionen inhaltsanalytisch und sequenzanalytisch hinsichtlich der Fragestellung nach generationendifferenzierten vergangenheitsbezogenen Deutungsmustern ausgewertet werden. Diese Untersuchung wird im Rahmen des in diesem Band (vgl. unten S. 217 ff.) dokumentierten Forschungsprojekts durchgeführt. Das Interviewmaterial wurde in ostdeutschen Familien zum Thema Erinnerungen an den Nationalsozialismus und die DDR-Vergangenheit erhoben. Der Fokus des Beitrags soll auf Anzeichen von Reproduktion oder Abweisung von Elementen aus öffentlich geführten Diskursen gerichtet werden, hierbei insbesondere auf den Aspekt des Vergleichs der jeweiligen Gesellschaftsformen, welcher von den Sprecherinnen vor allem durch persönliche Erfahrungen in diesen Gesellschaftssystemen begründet wird. Nicht in allen Interviews bzw. untersuchten Familien werden die erlebten unterschiedlichen Gesellschaftssysteme so deutlich miteinander in Beziehung gesetzt wie im vorzustellenden Fall. Jedoch wird eine derartige Gegenüberstellung in vielen der in Ostdeutschland geführten Interviews explizit mitgeführt.2 Für die Darstellung des Fallbeispiels werde ich zunächst einführend anhand der Aussagen von Vertreterinnen zweier Generationen,3 es handelt sich um Mutter und Tochter, die zentralen, auf die lebensweltlichen Kontexte ausgerichteten, vergangenheitsbezogenen Deutungsmuster rekonstruieren. Dazu werden die alltags- und lebensweltlichen Narrative, welche die Sprecherinnen in den Interviews reproduzieren, in ihren charakteristischen Aussagen zusammengefasst. Anschließend untersuche ich für beide Sprecherinnen die jeweils zentralen vergangenheits- und gegenwartsbezogenen Deutungsmuster hinsichtlich der enthaltenen Bezüge bzw. Relationen zu öffentlichen 2 | So wird beispielsweise in einem weiteren Fall ebenfalls das Gesellschaftssystem des NS mit dem der DDR und schließlich auch mit dem gegenwärtigen der Bundesrepublik dahingehend gleichgesetzt, dass in allen drei Systemen die Menschen durchweg den Manipulationen der Machthabenden ausgesetzt gewesen seien und heute noch sind. Diese so erfolgreich funktionierenden Manipulationsmechanismen werden in dieser Familie auf die hohe Wirksamkeit des Phänomens der Massensuggestion zurückgeführt. 3 | Zum Generationenbegriff vgl. den Beitrag von Brunnert im vorliegenden Band S. 68 ff.

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Diskursen oder Diskurselementen. Hierbei kommen Diskurse aus der Vergangenheit des NS und der DDR zum Tragen, aber auch vergangenheitsbezogene Diskurse aus der Gegenwart. Dass dabei nur die Spuren der Diskurse oder Diskurselemente in den Interviews verfolgt und analysiert, deren konkreten Wirkungsweisen und -wege jedoch nur sehr eingeschränkt nachgewiesen und verifiziert werden können, soll an dieser Stelle bereits festgehalten werden.

2. L EBENSWELTLICHE N ARRATIVE

UND

D EUTUNGSMUSTER

2.1 Mutter

Die zum Zeitpunkt des Interviews 78 Jahre alte Frau Ewald4 wurde 1929 in einer schlesischen Kleinstadt als erstes Kind einer in sehr einfachen Verhältnissen lebenden Arbeiterfamilie geboren. Ihr Vater war in dieser Zeit mehrere Jahre arbeitslos, ihre Mutter sicherte das Familieneinkommen durch Heimarbeit. 1944 begann sie eine kaufmännische Ausbildung, welche sie aufgrund der bald notwendig werdenden Flucht nicht abschließen konnte. Gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem sechs Jahre jüngeren Bruder kehrte sie nach Kriegsende nach Schlesien zurück, wo die Familie nach dreiwöchigem Aufenthalt wieder ausgewiesen wurde. Während einer durch die Nachkriegswirren bedingten Trennung von ihrer Familie, wurde Frau Ewald in der sowjetischen Besatzungszone ansässig und engagierte sich beim Aufbau der DDR. Sie trat in die FDJ ein und später in die SED. In dieser Zeit schloss Frau Ewald ihre Ausbildung ab, absolvierte mehrere Weiterbildungen und erlangte schließlich einen akademischen Abschluss in einem Ingenieursstudiengang. Bis zum Renteneintrittsalter arbeitete sie in gehobener Leitungsposition im ökonomischen Direktionsbereich eines volkseigenen Betriebes (VEB). Ihre Erzählung beginnt Frau Ewald mit einer Beschreibung der Lebenssituation ihrer Familie in Schlesien, die in von existentieller Armut geprägten Verhältnissen lebte. Trotz dieser Armut und der damit verbundenen Notwendigkeit, schon als Kind zum Lebensunterhalt der Familie beitragen zu müssen, sei diese Zeit aber auch sehr schön für sie gewesen. Im weiteren Verlauf des Interviews nehmen die Themen positive Kindheitserlebnisse im Nationalsozialismus, schreckliche Zeit der Flucht und Umsiedlung, sowie sozialer Aufstieg in der neu gegründeten DDR einen zentralen Stellenwert ein. 4 | Alle Namen sowie Ortsangaben wurden anonymisiert.

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Bezogen auf die Zeit des Nationalsozialismus finden sich in ihren Erzählungen vor allem die persönlich als sehr positiv erfahrenen Kindheitserlebnisse innerhalb der NS-Kinder- bzw. Jugendorganisationen. Frau Ewald: »Tja, also meine Erinnerungen an die Nazi-Zeit sind ja eigentlich gar nicht so böse wie die Zeit eigentlich war. Ich war ja Kind und da sieht man sowieso alles anders als . später dann als Erwachsener. Heute betrachte ich diese Zeit ohnehin anders, aber ich meine wir hamm uns als du noch Kind warst schon darüber unterhalten. Ich war . naja ich bin in dieser Zeit groß geworden und habe an den Staat geglaubt wie jedes Kind, was da nun in diese Richtung erzogen wird, . wie ich später auch an den Sozialismus geglaubt habe, weil er mir gefiel und dann wieder nichts draus geworden ist. Aber ich kann mich, wenn ich mich an diese Zeit erinnere .., hab ich nich viel Negatives. Wir ham’ herrliche Sportfeste gehabt, ich war so interessiert und auch fähig in der Leichtathletik, zu DDR-Zeiten wär ich sicher Leistungssportler geworden. Ich war im Hochsprung super, ich konnte ganz schnell laufen und ich seh mich heute noch in .., wir hatten schwarze Turnhosen und weiße Hemden und dann diese Nazi-Raute drauf mit nem Hakenkreuz. Aber da warn wir stolz drauf, das war ja nichts Böses. [...] Ja meine Tagesfahrt mit Übernachtung bei den Jungmädchen als wir in ner Scheune übernachtet haben und am Kreis Lagerfeuer, also Strohfeuer gemacht haben zum Suppe kochen, warn doch alles herrliche Dinge.« (O28-Familiengespräch: Z. 53 ff.) Von den negativen Seiten des NS-Systems mit seiner menschenverachtenden Ideologie sei aus dieser Perspektive nichts zu merken gewesen. Hiermit führt sie eine Differenz ein zwischen durchweg positiven Erfahrungen innerhalb der persönlichen Lebenswelt in Abgrenzung zu einem moralisch verwerflichen »bösen« System, welches sie erst aus der rückblickenden Perspektive einer Erwachsenen als ein solches habe identifizieren können. Ähnlich sei es ihr dann später noch einmal mit der DDR ergangen, in deren politisches System sie jedoch wesentlich stärker integriert gewesen war. Unter anderem in der folgenden Interviewsequenz wird von Frau Ewald eine starke Identifikation mit der DDR zum Ausdruck gebracht, wobei das von ihr investierte Vertrauen jedoch missbraucht worden sei. Frau Ewald: »Und ich muss ehrlich sagen, als ’45 der Krieg zu Ende war und äh.... war, also mir bewusst wurde, wie wir belogen [wurden]

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und .. äh was Hitler alles angerichtet hat, also echt, ich hab ja erst nach dem Krieg erfahren,.. was in den KZs echt passiert ist! ....... Da hab ich gedacht, die hatten die ganze, das ganze Volk belogen! ..... Und genauso gings mir.. als die DDR verschwand! .... Ich war 20, als ’49 die DDR gegründet wurde, und 60, als se... eingestampft wurde... Und da hab ich gesagt: Jetzt bist de ein zweites Mal betrogen worden! Denn das, was also die.. Staatssicherheit in vielen Fällen gemacht hat,... das haben wir auch nicht gewusst! .... Ich war ein überzeugter DDR-Bürger! .. Ich war Mitglied der Partei, ich fand das alles Klasse!« (O28-1: Z. 635 ff.) Mit der Aussage eines zweimaligen Betrugs bezieht sich Frau Ewald auf zwei Systemumbrüche (1945 und 1989), die jedes Mal eine radikale Umwälzung des eigenen Sinnsystems zur Folge hatten. Frau Ewald konkretisiert ihre Feststellung eines jeweils am Volk verübten Betrugs mit dem Verweis auf die Geschehnisse in den Konzentrationslagern während der Zeit des NS und auf die Machenschaften der Staatssicherheit in der DDR. In beiden Fällen sei das Volk (und sie selbst) von den Machthabenden belogen worden. Erst im Nachhinein habe man von diesen Dingen erfahren. Diese, von ihr beschriebene, zweifache massive Enttäuschung hat für sie ein generelles Misstrauen gegenüber politischen Systemen und den Rückzug in den Bereich des Privaten zur Folge. Das Gesellschaftssystem wird von nun an nur noch beobachtet. Sie habe heute zwar eine politische Meinung bzw. einen politischen Standpunkt, lasse sich jedoch nicht mehr von den Machthabenden beeinflussen. Denn ihrer Einschätzung nach seien die heutigen gesellschaftlichen Bedingungen als genauso negativ einzuschätzen, wie die unter den vorangegangenen Gesellschaftssystemen. Frau Ewald: »Aber dann, und als dann 1990 wieder so viel.... äh... Geheimes populär wurde, hab ich gesagt: Mensch, du bist des zweete Mal betrogen worden! ... Ja und nun halt ich mich raus. Ich habe zwar ne politische Meinung! .. Aber,.. ich lass mich nicht mehr (lacht) beeinflussen! ....... Denn heute ist s genauso ein Mist!« (O28-1: Z. 655 ff.) Der von ihr geschilderte »Betrug am Volk« im Sinne der Verheimlichung der Methoden der Staatssicherheit stellt in der Erzählung von Frau Ewald jedoch das einzige kritische Moment an der DDR dar. Alle weiteren

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Erzählungen beziehen sich auf ein durchweg positives persönliches Erleben der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR. Ihr persönlich sei es in der DDR immer gut gegangen. Auch habe sie immer Kritik äußern können, ohne Repressalien befürchten zu müssen. Ihre Verteidigungshaltung gegen DDR-diffamierende Anschuldigungen bezieht Frau Ewald auch auf die sie persönlich betreffende Thematik der Vertreibung bzw. Umsiedlung. Sie verwendet explizit weiterhin den in der DDR offiziell gebräuchlichen Begriff der Umsiedlung und lehnt die Bezeichnung als Vertriebene für sich vehement ab. Dieser Begriff werde in der Gegenwart als Negativfolie verwendet, zum einen, um die Legitimität der Umsiedlung infrage zu stellen. Zum anderen, um eine Opferperspektive der Betroffenen und die Schwierigkeiten einer Integration in die Nachkriegs-Gesellschaft der jungen DDR zu betonen. Dies geschehe aus ihrer Perspektive in vollkommen ungerechtfertigter Weise. Hierbei richtet sich ihre Kritik hauptsächlich auf die Darstellung dieser Thematik in den Medien. 2.2 Tochter

Im Folgenden wende ich mich den lebensweltlichen Deutungsmustern der Vertreterin der zweiten Generation in der Familie, Frau Eckert, der Tochter von Frau Ewald zu. Frau Eckert ist zum Zeitpunkt des Interviews 47 Jahre alt, sie wurde 1960 geboren. Als Schülerin wurde Frau Eckert Mitglied der Pionierorganisation und später der FDJ. Nach der Fachschulausbildung zur Unterstufenlehrerin arbeitete sie als Sonderschullehrerin und später hauptamtlich als Pionierleiterin. Nach der Wende wurde Frau Eckert, bedingt durch die Auflösung der Pionierorganisationen und der FDJ, sehr schnell arbeitslos, war dann zwei Jahre wieder als Sonderschullehrerin tätig, bevor sie, aufgrund ihrer früheren Funktion innerhalb der DDR-Organisationen auch diesen Beruf aufgeben musste und zu einer Reiseverkehrskauffrau umschulte. Hier fühle sie sich mittlerweile wohl, sie könne jetzt Hobby und Beruf verbinden, denn sie sei bereits zu DDR-Zeiten gelegentlich als Reiseleiterin tätig gewesen. Aus der heutigen Perspektive deutet sie ihre bisherige Lebensgeschichte, trotz des Bruchs durch den Wechsel des politischen Systems und den damit verbundenen beruflichen Schwierigkeiten als positiv, da sie sich mittlerweile mit den neuen Bedingungen arrangieren konnte.

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Nichtsdestotrotz wird in ihrer Erzählung die Erfahrung eines existentiellen Bruches deutlich. Frau Eckert: »Das ist ein anderes Leben gewesen. Das ist für mich abgehakt... Und ich bereue auch nichts, muss ich auch dazu sagen. Ich habe vieles in Frage gestellt und ich kenne Menschen, die heute noch mit sich hadern und, weil sie fühlen sich bestraft.. Das ist für mich Siegerjustiz, muss ich hinnehmen und ich mache was aus meinem Leben. Also, ich habe ein anderes schönes, neues Leben und ich hadere mit gar nichts, muss man auch dazu sagen.« (O28-2: Z. 782 ff.) Der Verlust ihres Arbeitsplatzes und das Verbot, ihren Beruf weiterhin ausüben zu können, stellt für Frau Eckert eine ungerechtfertigte und ungerechte Verurteilung durch die neuen politischen Machthaber dar. Der politische Umbruch von 1989 wird hier als Kapitulation eines sozialistischen Gesellschaftssystems gegenüber dem kapitalistischen System, welches aus dem vorher herrschenden Konkurrenzverhältnis als Sieger hervorgegangen ist, wahrgenommen. Die Verwendung des Begriffs der »Siegerjustiz« impliziert, dass westdeutsche Richter und Ankläger über die besiegten ostdeutschen Angeklagten zu Gericht sitzen und politisch motivierte, aus der Sicht der Unterlegenen meist ungerechte, Urteile fällen.5 Einer solchen Verurteilung hatte sie in ihrer damaligen Position nichts entgegenzusetzen, erst ca. zehn Jahre später seien diese Urteile wieder »alle aufgehoben« worden. Sie habe sich diesen Beschlüssen beugen müssen, habe es »hinnehmen« müssen, was für sie jedoch aufgrund der Ungerechtfertigkeit kein Schuldeingeständnis bedeutet. In diesem Zusammenhang betont sie an anderer Stelle auch, sie habe vieles in ihrem Leben hinterfragt, sei jedoch zu dem Ergebnis gekommen dass sie sich »für nichts schämen« müsse und auch »nichts bereue«. Hiermit hat sich Frau Eckert aus der Perspektive der Gegenwart mit den Geschehnissen und den ihr widerfahrenen Ungerechtigkeiten arrangiert und etwas Positives aus den ursprünglich widrigen Lebensereignissen gewonnen. Die kritische Distanz zum gegenwärtigen Gesellschaftssystem tritt bei ihr somit nicht so stark hervor, wie bei ihrer Mutter. Jedoch erfolgt ebenfalls eine deutliche Verteidigung der DDR gegen die 5 | Vgl. Siegerjustiz? Die politische Strafverfolgung infolge der Deutschen Einheit. Edition Zeitgeschichte. Hg. v. der Gesellschaft zur rechtlichen und humanitären Unterstützung e. V., Kai Homilius Verlag, Berlin 2003.

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geläufigen Diffamierungen. Die heutige Kritik der Ostdeutschen an der DDR habe ihres Erachtens meist eher mit dem Bedürfnis nach Selbstdarstellung und Anpassungsverhalten, als mit berechtigter Kritik am vergangenen DDR-System zu tun: Frau Eckert: »Es war in der DDR nicht alles super und es war nicht alles schlecht und heute ist es genauso. Aber wenn man sich heute hinstellt und sagt: ›Ich muss meine Zeit in der DDR negativ darstellen, damit ich hier groß rauskomme oder gut dastehe oder dass mich alle lieb haben.‹ Das finde ich am Schlimmsten an der Sache.« (O28Familiengespräch: Z. 1718 ff.) Ähnlich der Argumentation ihrer Mutter für ihre Erfahrungswelt im Nationalsozialismus führt auch Frau Eckert die Differenz zwischen persönlicher Lebenswelt und politischem System in Form von negativen »Auswüchsen«, die es aus ihrer Sicht in jedem Gesellschaftssystem gebe, für die Zeit der DDR weiter. So bewertet sie die Kinder- und Jugendorganisationen der DDR vor allem in Hinblick auf die entsprechenden Aktivitätsangebote und -verpflichtungen für Kinder und Jugendliche als sehr positiv, wobei sie besonders den Leistungsgedanken hervorhebt. Frau Eckert: »Ich war auch in der Pionierorganisation, ich war in der FDJ und ich fand das toll und ich find das heute noch toll. Wir mussten richtig was leisten, um ein blaues Halstuch zu kriegen und um ein rotes Halstuch zu kriegen. Da entsteht so ne gewisse Gruppendynamik auch, man macht zusammen was, man hat gewisse Pflichten, die man da innerhalb dieser Gruppe auch [...] erfüllen muss und da wurden auch Dinge ausgewertet.« (O28-Familiengespräch: Z. 126 ff.) Eine der zentralen Argumentationsstrukturen innerhalb der Interviews besteht somit darin, dass von den Sprecherinnen jeweils eine Differenz eingezogen wird, zwischen ihren lebensweltlichen positiven Erfahrungen und der negativen Charakterisierung bzw. Bewertung des jeweiligen Gesellschaftssystems aus der Retrospektive heraus. Diese Differenzierung besitzt unter anderem die Funktion der Absicherung bzw. Sicherstellung der Integrität der eigenen Person bzw. die der Familie. Für Frau Ewald bedeutet dies, die Nachvollziehbarkeit ihrer kindlichen Begeisterung im NS und in der DDR zu ermöglichen. Für Frau Eckert wiederum ermöglicht der Vergleich ihrer eigenen Erfahrungen

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mit jenen ihrer Mutter einen Zugewinn an Verständnis für die Erzählungen ihrer Mutter, welches früher so nicht vorhanden gewesen sei. So habe sie früher auch die Fragen gestellt, wie es denn möglich gewesen sein soll, dass niemand etwas von den Konzentrationslagern im Nationalsozialismus gewusst habe (vgl. dazu das Zitat unten S. 58). Des Weiteren ermöglicht die erzählungsstrukturierende Trennung zwischen lebensweltichen Erfahrungen und politischem System die Rechtfertigung der eigenen Begeisterung für die DDR. Nachdem die zentralen Aussagen der auf die lebensweltlichen Erzählungen bezogenen Interviewsequenzen von Mutter und Tochter zusammenfassend dargestellt wurden, wende ich mich im Folgenden den Analysen der in den Interviews auftauchenden (oder zu vermutenden) Bezüge zu öffentlichen Diskursen und deren Selektionen und Reproduktionen in den Interviews zu. Die Darstellung der herausgearbeiteten Verhältnisse von Diskursen und biographischer Erzählung erfolgt hierbei entlang von vier, für die Argumentationen der Sprecherinnen wesentlich relevanten Dimensionen: • Erstens die Dimension des Wissens oder Unwissens über die realen gesellschaftlichen Verhältnisse in den jeweiligen Gesellschaftssystemen (zum Beispiel über staatlich sanktioniertes Unrecht, die Einrichtung von Konzentrationslager im NS oder die Vorgehensweise der Staatssicherheit in der DDR) und die jeweils zugestandenen Handlungsalternativen; hier kommen die Auseinandersetzungen um den Totalitarismusdiskurs zum Ausdruck. • Zweitens die Dimension der Institutionen und Organisationen (wie zum Beispiel Schul-, Freizeit- und Sportorganisationen; oder auch soziale Errungenschaften). • Drittens die Dimension der Ideologie und Deutungsmacht; insbesondere die Reflexionen zur Geschichtsdarstellung (wie zum Beispiel die Hinterfragung von vermeintlich authentischen Vergangenheitspräsentationen in den Medien oder einer vermeintlich als »richtig« und mittlerweile abgeschlossen zu betrachtenden Aufarbeitung der Vergangenheit); hier kommt die Kritik an jeglicher massenmedialer Form von Geschichtsdarstellung zum Tragen.

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• Viertens die Dimension des Umgangs mit der Vergangenheit und deren Aufarbeitung, sowie den bis in die Gegenwart hineinreichenden Folgen der Zeit des Nationalsozialismus, sowie der Entstehung und des Umgangs mit dem Neo-Nazismus bzw. Rechtsextremismus; hier werden insbesondere die Bezüge zum DDR-Antifaschismus-Diskurs deutlich. Bezogen auf diese vier Dimensionen vergleichen die Sprecherinnen die vergangenen Gesellschaftssysteme untereinander und mit dem gegenwärtigen. Dabei greifen sie einerseits auf ihre persönlichen Erfahrungen innerhalb der jeweiligen Systeme und während der gesellschaftlichen Umbrüche zurück. Andererseits nehmen sie, um diese Vergleiche durchführen zu können, für ihre Argumentation auch immer Bezug auf die diskursiv verhandelten Vergangenheitsdeutungen. Diese Bezugnahmen erfolgen jedoch nicht nur im Sinne einer passiven Rezeption und Reproduktion von diskursiv prozessierten Vergangenheitsdeutungen, sondern als je selektiver Umgang, in dem diese Deutungsmuster einerseits stabilisiert andererseits jedoch auch modifiziert und variiert werden.

3. Z UM V ERHÄLTNIS

D ISKURSEN UND N ARRATION – E RZÄHLUNG UND D ISKURS VON

LEBENSGESCHICHTLICHER

B IOGRAPHISCHE

3.1 Totalitarismusdiskurs und Verteidigung der DDR

In den Interviews wird zwar auf den in der Bundesrepublik nach 1989 kontroversen Totalitarismus-Diskurs (vgl. Wippermann 2009: 45 ff.)6 Bezug genommen, aber mit dessen Einbindung in die Erzählung erfolgt gleichzeitig eine Brechung. Was die die Deutung der Vergangenheit und der gesellschaftlichen Verhältnisse betrifft, war in der Perspektive der Sprecherinnen sowohl das Gesellschaftssystem des NS, als auch das der DDR, im Sinne einer erfolgreichen Manipulation der »einfachen« Menschen, totalitär. In beiden Fällen sei das Volk »belogen und betrogen« worden und die Menschen (bzw. die Sprecherinnen) ausschließlich erst im Nachhinein zu einer Erkenntnis der realen Verhältnisse in der Lage gewesen. Andererseits wird jedoch eine Differenzierung bzw. ein Widerspruch zu dieser Totalitarismus-These dahingehend deutlich, dass 6 | Vgl. dazu Fußnote 1, S. 43.

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beide Sprecherinnen wiederholt darauf hinweisen, dass es zu DDR Zeiten durchaus möglich gewesen sei, sich kritisch zu äußern. Außerdem habe man sich auch in der persönlichen Freiheit nicht wesentlich eingeschränkt, bevormundet oder eingesperrt gefühlt. Dazu zum Beispiel Frau Ewald: »Mir ist es immer auch in der DDR gut gegangen. Ich hatte ne schöne Arbeit, ich durfte studieren, hätt ich [woanders] nie gekonnt. Ich hatte ne gute Arbeit, habe gut verdient, [...] Ja, also ich hatte keine Probleme ehrlich ... Und was mir nicht gepasst hat, hab ich immer gesagt. ... Auch wenn das heute keiner mehr wahrhaben will.« (O28Familiengespräch: Z. 707 ff.) An die Einsprüche oder Widersprüche gegen die totalitaristischen Erklärungsmodelle schließt bei beiden Sprecherinnen eine Reihe von Deutungsmustern an, welche die DDR-Vergangenheit verteidigen und relegitimieren. So betont Frau Ewald wiederholt, ihr persönlich sei es in der DDR immer gut gegangen. Auch habe sie immer sagen können, wenn sie etwas zu kritisieren gehabt habe, ohne Repressalien befürchten zu müssen. Frau Ewald: »[Ich] hab voll gearbeitet, ich hatte ne leitende Position, also [...] mit vielem waren wir nicht einverstanden, das haben wir aber gesagt! Heute traut sich ja keiner mehr was zu sagen!« (O28-1: Z. 648 ff.) Wiederum im Vergleich zur DDR-Gesellschaft sei es im heutigen Gesellschaftssystem für die Individuen bedingt durch die Angst vor einem jederzeit möglichen Arbeitsplatzverlust weitaus weniger möglich, Kritik an Missständen zu üben. Jedoch habe es für sie zur DDR-Zeit innerhalb dieses Gesellschaftssystems für eine grundlegende Systemkritik auch nie einen wirklichen Anlass gegeben. Frau Ewald: »Und kann auch heute sagen: Ich hätte sicher.. unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen.. mein Studium nicht machen können, ich hab das extern gemacht, mit Hilfe des Betriebes, also mit Freistellung.. Hatte ja schon Familie, meine Tochter war schon drei Jahre,.. [...] ich hatte keinen Grund da [...] mich negativ zu äußern, weil ich das alles in Ordnung fand.« (O28-1: Z. 644 ff.)

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Frau Ewald wendet sich damit gegen die Delegitimierung und Diskreditierung der DDR aus heutiger und speziell westdeutscher Perspektive. Unter den gesellschaftlichen Bedingungen der Bundesrepublik hätte sie als alleinerziehende Mutter keine derart erfolgreiche berufliche Karriere verwirklichen können. Die Ziele des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft bewertet Frau Ewald insgesamt als durchaus positiv, diese an sich gute Idee sei jedoch an den ausgeprägten egoistischen Eigenschaften des Menschen gescheitert. Frau Ewald: »Also, der Gedanke, den Sozialismus zu bauen, das der war gut und der ist auch noch gut! .. Das was wir jetzt haben, kann auch nicht bleiben. ... Aber das Wie, das ist schwierig! ... Weil die Menschen alle ein bisschen Egoisten sind! .. Und der sozialistische Staat braucht ...... das nicht. Der braucht Leute, die .. allgemeinnützig arbeiten und denken und nicht nur in die eigene Tasche wirtschaften. ... Also ich hab da viele Erfahrungen gesammelt.« (O28-1: Z. 712 ff.) Auch hier wird das Gesellschaftssystem der DDR mit dem gegenwärtigen verglichen, wobei die Sprecherin auf die wirtschaftlichen Mängel in der DDR-Gesellschaft Bezug nimmt und diese Defizite auf gesellschaftlicher Ebene durch individuelle oder anthropologische, die Realisierung einer sozialistischen Gesellschaftsform einschränkende oder zuwiderlaufende, Dispositionen des Menschen erklärt. In den Erzählungen der Tochter, Frau Eckert, lässt sich ebenfalls eine deutliche Verteidigung der DDR feststellen, gegen aus ihrer Sicht herkömmliche und ungerechtfertigte Diffamierungen. Gleich zu Beginn des Interviews bezeichnet Frau Eckert sich selbst als »typisches DDR-Kind« und betont keine psychischen Probleme zu haben, trotz des Besuchs der Kinderkrippe (sowohl der Tages- als auch der Wochenkrippe). Hier bezieht sie sich auf die ihrer Ansicht nach die realen Lebensverhältnisse in der DDR diskreditierende weit verbreitete heutige Auffassung, die damals übliche Möglichkeit der Kinderbetreuung in Krippe und Hort habe Kindern und Eltern psychischen Schaden zugefügt, oder zumindest zu großen Teilen Defizite hinsichtlich ihrer psychischen und sozialen Kompetenzen zur Folge gehabt. Weitere die DDR verteidigende Argumente finden sich bei Frau Eckert bezüglich der massenmedialen Darstellung der Vergangenheit im Allgemeinen und der DDR im Besonderen. Sie äußert sich ähnlich skeptisch und misstrauisch wie ihre Mutter.

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3.2 Ideologie und Deutungsmacht

Als Beispiel für eine aus ihrer Sicht unrealistische Darstellung der DDRVergangenheit erwähnt Frau Eckert den Kinofilm Das Leben der Anderen. Die Geschichtsdarstellung »im Großen« werde zum Beispiel in diesem Film den persönlichen Erlebnissen der Menschen, die unter diesen Umständen gelebt haben und über die nun im Nachhinein Geschichte geschrieben wird, nicht gerecht. Diese Kritik zielt vor allem auf eine einseitige bzw. selektive, vor allem negative Darstellung und Wahrnehmung der DDR und der Ostdeutschen aus der Perspektive der Westdeutschen. Frau Eckert: »Weil ich seit der Wende merke, wie Geschichte, wenn sie im Großen geschrieben wird, verändert wird ... Und ich heute an Geschichtsschreibung ... teilweise zweifle. Klar kann man keine Einzelfälle in großer Geschichtsschreibung darstellen, aber es ist auch ganz schnell ... was verfälscht, ... oder wird, wird eben so reduziert auf schwarz und weiß. [...] Ich hab mir Das Leben der Anderen angeguckt und ... kann auch das nicht ganz nachvollziehen. ... Also man kann das auch begründen mit Überhöhung innerhalb der Kunst, aber bestimmte Dinge sollte man auf dem Teppich lassen. Sicher ist vieles so gewesen, was im Film dargestellt wird, aber einiges muss ich eben stark anzweifeln, weil ich auch hier gelebt habe. Und das zeigt mir so ein bissel wieder, wie Geschichte sich verändert später.« (O28-2: Z. 822 ff.) Frau Eckert rekurriert in ihrer Kritik besonders auf die mediale Darstellung der DDR-Vergangenheit. Diese sei überwiegend durch westdeutsche Sichtweisen oder durch das an die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse angepasste Verhalten der ehemaligen DDR-Bürger7 geprägt und stelle vor allem die Lebensbedingungen in der DDR verfälscht und einseitig dar. Insbesondere ihre Infragestellung der filmischen Verarbeitung der Lebensverhältnisse in der DDR in Das Leben der Anderen verweist auf eine Abweisung eines medial vermittelten »Stasi-Opfer«Diskurses. Insbesondere bezieht Frau Eckert an dieser Stelle eine deutliche Gegenposition8 gegenüber einer auf nationaler und internationaler 7 | Viele der ehemaligen Staatsbürger der DDR müssten sich laut Aussage von Frau Eckert nun immer negativ über die DDR äußern, damit sie in der gegenwärtigen Gesellschaft Anerkennung erführen.(vgl. Zitat S. 51). 8 | Insofern stellt Frau Eckert dem »So war es!« von Joachim Gauck ein deutliches bzw. provokantes »So war es nicht!« entgegen.

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Ebene ausgesprochen positiven medialen Resonanz auf diesen Film als eine beeindruckend realistische Darstellung der DDR-Verhältnisse mit »authentische(n) Bilder(n), Figuren und Ereignisse(n)« (Gauck 2006)9 sowie als einen gelungenen Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung und Aufarbeitung des SED-Unrechtsstaates. (vgl. Seegers 2008)10 Als Begründung für ihr Misstrauen gegenüber nunmehr jeglicher Form von Vergangenheitsdarstellung führt Frau Eckert neben ihren persönlichen Erfahrungen auch ein gesellschaftstheoretisch abgeleitetes Argument an: Die Geschichtsbetrachtung sei immer klassengebunden und vom Standpunkt der jeweils herrschenden Klasse abhängig. Frau Eckert: »Da gab’s keine differenzierte Betrachtung. Das ist halt der Klassenstandpunkt ... der herrschenden Klasse, wie heute auch.« (O28-2: Z. 687 ff.) Damit kann einer Geschichtsschreibung generell nicht getraut werden. Unabhängig vom jeweiligen Gesellschaftssystem erfolge die Darstellung der Vergangenheit immer vom Standpunkt der jeweils herrschenden Klasse. Innerhalb des kapitalistischen Systems ist, vor dem Hintergrund einer durch die marxistische Theorie geprägten Gesellschaftsanalyse, die herrschende Klasse diejenige des Großbürgertums, da dieses sich im Besitz der Produktionsmittel befindet und somit entsprechende Einflüsse auf Politik und Medien besitzt. Die individuellen Interpretationen der Vergangenheit wird durch die Deutungsmacht der jeweils Herrschenden determiniert bzw. deren potentiellen Manipulationen ausgesetzt. Das Individuum kann sich diesen Mechanismen kaum entziehen und kann somit auch nur begrenzt verantwortlich gemacht werden für eventuelles Nichtwissen. Wie im Familiengespräch verdeutlich wird, stimmt Frau Eckert hinsichtlich dieser Diagnose der Klassengebundenheit der Geschichtsdeutung mit ihrer Mutter überein (vgl. unten S. 64). Diese potentiell manipulativ wirkenden Deutungsmechanismen beeinflussen innerhalb der jeweiligen Gesellschaftssysteme jedoch nicht nur die Vergangenheitsdeutung, sondern können ebenfalls die Wahrnehmung der jeweils gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse einschränken. Denn, was das Thema des Wissens und Nichtwissens über 9 | Zur Inszenierung von Authentizität in Das Leben der Anderen vgl. Seegers 2008: 25 ff. 10 | Dieser positiven Rezeption des Films Das Leben der Anderen steht eine Reihe kritischer Repliken gegenüber, die sich jedoch nicht gegen eine zu drastische Darstellung der DDR-Verhältnisse richtet, sondern im Gegenteil gegen die Verharmlosung im Film. (vgl. Seeger 2008: 36 ff.)

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staatlich ausgeübtes Unrecht betrifft, ist es für Frau Eckert durch ihr damaliges Wissen von der Staatssicherheit mittlerweile plausibel und nachvollziehbar geworden, dass man auch zu Zeiten des Nationalsozialismus von den dort begangenen Verbrechen nichts gewusst habe. Denn auch sie selbst habe von den Machenschaften der Staatssicherheit in der DDR erst im Nachhinein erfahren. Frau Eckert: »Mit diesen Konzentrationslagern kann ich mich erinnern, das war für mich immer spannend, warum das keiner gewusst hat [...] dann war ja immer so die Aussage: »Wir ham das nicht gewusst.« oder: »Das Ausmaß kannte man nicht.« Und das konnte ich mir immer nicht vorstellen. Und heut kann ich mir das gut vorstellen, weil ... wir auch die Stasi [hatten], [...] aber was da speziell passiert ist und in welchen, was da manche Leute mitgemacht haben und ... welches Ausmaß das auch hatte und welche Schizophrenie teilweise, ... das war uns nicht bewusst. Und da würde ich heute auch sagen: Das hab ich nicht gewusst, obwohl ich da gelebt hab. Deswegen kann ich mir heute das wiederum ganz gut vorstellen.« (O28-Familiengespräch: Z. 341 ff.) Somit manipulierten auch hier die Machthabenden nicht nur die Deutung der Vergangenheit, sondern auch die Wahrnehmung der zur DDRZeit herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse durchaus erfolgreich. In dieser Sichtweise auf die jeweils herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen erhält das Individuum relativ wenig Spielraum, eine eigene kritische Sichtweise auf diese Verhältnisse zu entwickeln. Die individuelle Verantwortlichkeit wird durch die Grenze des Wissbaren zum Nicht-Wissbaren eingeschränkt. Diese Problematik des Wissens und Nichtwissens nimmt sowohl bei Frau Eckert, als auch bei Frau Ewald einen zentralen Stellenwert ein. Frau Eckert wendet ein anfängliches Misstrauen im Sinne eines Schuldverdachts als Fazit ihrer eigenen Erfahrungen in eine entlastende Erklärung durch Einschränkung der Eigenverantwortlichkeit. Dagegen stellt sich für Frau Ewald die doppelte Enttäuschung über den potentiell manipulativen Charakter bei der Umsetzung politischer Ideale in gesellschaftliche Realität im Sinne des Deutungsmusters: »zweimal wurde ich betrogen, ein drittes Mal passiert mir das nicht« als Resümee ihrer Lebensgeschichte dar.

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Beide Sprecherinnen ziehen dann eine ähnliche Konsequenz aus ihren bisherigen Erfahrungen für ihre gegenwärtige Einstellung gegenüber der Gesellschaft. Sowohl Frau Ewald als auch ihre Tochter haben aus der Geschichte gelernt, sind vorsichtiger geworden und ziehen sich in eine distanzierte Beobachterposition zurück. Von dieser aus betrachten sie die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse und stellen aus kritischer Distanz strukturelle Ähnlichkeiten zwischen allen drei Gesellschaftssystemen fest. 3.3 Ursachen von NS und Rechtsextremismus

Weitere Bezugspunkte zu Diskursen, die die Erzählungen strukturieren, sind in den Erklärungsversuchen der beiden Sprecherinnen für rechtsextremistische Bewegungen in der heutigen Gesellschaft zu finden. Beide problematisieren für die Gegenwart neben dem Verlust von sozialen Errungenschaften auch ein Autoritätsverlust des Staates. Diesbezüglich fordern sie für das gegenwärtige Gesellschaftssystem eine klarere Positionierung seitens des Staates gegenüber der nationalsozialistischen Vergangenheit, sowie ein stärkeres staatliches Engagement gegen Neonazismus und Rechtsradikalismus. Ausgehend vom Beispiel der Gedenkstätte Buchenwald kritisiert beispielsweise Frau Eckert eine Art von Unverbindlichkeit in der Art und Weise, wie die nationalsozialistische Vergangenheit in der heutigen Gesellschaft dargestellt werde, wiederum im Vergleich zur DDR-Zeit. Frau Eckert: »Und was mir negativ aufgefallen ist, und das ist für mich aber so .. Staatspolitik oder das ist hier im Allgemeinen so üblich, dass kein Standpunkt bezogen wird. .. Es wird dort ein Fakt hingestellt und jeder denkt was er will, und das find ich nicht so toll. Also man sollte als demokratischer Staat einfach mal sagen: Das war ein Verbrechen an der Menschheit! Punkt! Das kann man tun, glaube ich, also ohne sich da jetzt über seine eigenen Grenzen hinwegzubewegen. Das ist das, was mir heutzutage so’n bisschen fehlt. Das [ist] alles so wie der süße Brei so’n bisschen: ›der Fakt wird dargestellt und dann ist Schluss, dann ziehen wir uns zurück‹.« (O28-Familiengespräch: Z. 42 ff.) Das Argument einer aus ihrer Sicht inkonsequenten Vergangenheitspolitik bringen beide Sprecherinnen ebenfalls in Anschlag, wenn sie auf

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die Ursachen für den Anstieg rechtsextremer Bewegungen zu sprechen kommen. Rechtsextreme Bewegungen hätten sich in der DDR nicht entwickeln und ausbreiten können, was nicht zuletzt dem konsequenten Durchgreifen des Staates zu verdanken gewesen sei. Heute stammten vor allem die führenden Persönlichkeiten der rechtsextremen Szene sämtlich aus den alten Bundesländern. So äußert sich auch Frau Ewald im Einzelgespräch: Frau Ewald: »Ja, aber wir... der ganze........ Inhalt des Lebens war antifaschistisch! Würd ich schon sagen, ... [...] [die Nazis,] die hatten keine Chance.... populär zu werden. ... Also.. das gab’s in der DDR nicht. ... Die wurden dann auch, auch wenn se sich also bekannt haben, oder auch.. bekannt wurden.. gab’s.. bestimmte Möglichkeiten die eben... wegzuschließen. .... Ja..... Unter unseren DDR-Bedingungen hätts das nicht gegeben, dass Nazis in.. den Landtag kommen. ... Ne! ...... Hätts nicht gegeben,... bin ich überzeugt. Und das sind ja auch alles Westdeutsche, die im Landtag sitzen, das sind nicht..... in der DDR großgeworden..... Alle namentlichen sind... Apfel und wie die alle heißen, die sind alle... aus den westdeutschen Ländern hierher................. Ja, naja, weil ich meine das, ich sag ihnen das, weil .. jetzt sieht es ja so aus, als wenn die DDR das gefördert hätte! ... Denn oder erlaubt hätte, oder das es das hier schon gegeben hätte.. Nazis. Die Menschen, die jetzt im Landtag .. die NPD vertreten, sind, [von denen] ist keiner aus der DDR.. Die sind alle.. aus den westdeutschen Städten hierher gezogen... leben jetzt hier, sonst hätten sie. Die müssen ja hier leben, damit sie hier gewählt werden können.« (O28-1: Z. 726 ff.) Sowie im Familiengespräch: Frau Ewald: »Und die NPD muss verboten werden, die entwickelt sich immer mehr und unter den gesellschaftlichen Bedingungen ham’ sie alle Möglichkeiten. .. Wirklich, und das ist auch so ein Problem, was mich beschäftigt, seit dem es die DDR nämlich nicht mehr gibt, kann die Bundesrepublik eine soziale Maßnahme nach der anderen kaltstellen, beseitigen. Als es noch die DDR gab, wir hatten ja wirklich gute soziale Bedingungen, ham’ sie sich das nicht getraut ja. Da gab’s ja, wir sagen Gegensätze oder da musste der eine immer besser sein als der andere, selbst auch wenn er’s nicht konnte. Aber nun gibt’s diesen Part nicht mehr und da können die nun hier Billiglohn und Rentenkürzung und alles Mögliche machen, stört keinen

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Menschen mehr. .. Es gibt keinen mehr der da sich darüber aufregen könnte. [...] Das ist auffällig, wenn man darüber nachdenkt. Seit 1990 geht das mit sozialen Bedingungen immer immer rück[wärts].« (O28-Familiengespräch: Z. 1291 ff.) Die Ursachen für das Anwachsen rechtsextremer Bewegungen in der gegenwärtigen Gesellschaft im Vergleich zur DDR-Vergangenheit schreiben die Befragten vor allem einem inkonsequenten Umgang mit diesen politischen Strömungen in der Bundesrepublik, sowie, wiederum im Vergleich mit der DDR-Gesellschaft, einem stetigen Rückbau sozialstaatlicher Errungenschaften zu. Weiterhin scheint in der Argumentation der Sprecherinnen auch die aus Dimitroff’scher Faschismustheorietradition stammende These auf, dass das kapitalistische System selbst die (neo-)faschistischen Tendenzen produziere und reproduziere. Deutlich wird in diesen Aussagen eine Ablehnung der diskursiv (vorwiegend in der westdeutschen) Öffentlichkeit verhandelten These, der gegenwärtige Rechtsextremismus und eine erhöhte Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern sei auf eine problematische DDR-Sozialisation mit einer damit verbundenen defizitären Toleranzfähigkeit gegenüber Fremden zurückzuführen.11 Im Gegensatz dazu schreiben hier die Sprecherinnen der DDR dezidiert eine gegenüber dem Neofaschismus kon11 | In dieser Hinsicht äußerte sich wiederholt öffentlichkeitswirksam unter anderem Christian Pfeiffer, Kriminologe vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen, welcher sich beispielsweise in einem Artikel im Spiegel äußert: »Wer in Kindheit und Jugend einer autoritären Gruppenerziehung ausgesetzt ist und zu wenig an individueller Zuwendung und Förderung erfährt, ist in der Entwicklung eines gelassenen Selbstvertrauens behindert. Im Vergleich zu einem jungen Menschen, dem in seiner Sozialisation bessere Chancen zur freien Entfaltung seiner Persönlichkeit geboten wurden, wird er Fremde viel eher als bedrohlich erleben und als Feinde definieren. Wenn er dann noch erlebt, dass die Schuld an Missständen der eigenen Welt ständig einem externen Sündenbock zugeschrieben wird, verstärkt dies die Neigung, später selbst nach diesem Muster zu verfahren: Wer die Schülerinnen und Schüler zum Hass auf den politischen Gegner aufruft, darf sich nicht wundern, wenn solche Feindbilder auf alles Fremde übertragen werden.« (Pfeiffer 1999a: 63) Dies unterstellt m. E. jedoch erst einmal, dass der Aufruf zum Hass gegenüber einem »Klassenfeind«, welcher versucht wurde in das (wirtschaftlich besser gestellte) kapitalistische Gesellschaftssystem zu projizieren, unter den Angesprochenen (Jugendliche, welche die westliche Welt zu DDR-Zeiten eher idealisierten als abwerteten) irgendeine Wirkung zeigte, in ähnlicher Weise, wie der Aufruf zum Hass gegenüber allen Fremden und vor allem gegenüber den »Juden« während der Zeit des Nationalsozialismus auf eine breite Zustimmung innerhalb der deutschen Bevölkerung fand. Die Ursachen für Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland sind wohl

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sequent und erfolgreich entgegentretende Umgangsweise zu, welche dem gegenwärtigen Gesellschaftssystem augenscheinlich fehle. Neben ihrer Bezugnahme auf und ihrem Widerspruch gegen einen die DDR betreffenden Totalitarismus-Diskurs greifen die Sprecherinnen auf ein weiteres allgemein geläufiges Deutungsangebot und Erklärungsmuster für das Entstehen und den Zuspruch sowohl für den Nationalsozialismus als auch für Neo-Nazismus zurück, auf eine »Verführungs«These in dem Sinne, dass materielle Notlagen (wie Arbeitslosigkeit) von den Machthabenden oder Meinungsführern auch dazu benutzt werden können, die notleidenden Menschen für ihre Ziele zu missbrauchen, weil diese, bedingt durch ihre prekäre Lebenslagen leichter zu manipulieren seien. Frau Ewald: »Und der Frey, der der... der Frey, der ist in Bayern, der hat die ..... DSU, ja, finanziert.. Ja, und das ist so, der hat das Geld, und die Menschen hier,.. wissen se, wenn man, mein Vater war 5 Jahre arbeitslos. Der hat sich nicht politisch einkassieren lassen,..... aber ich kann des nachvollziehen! Wenn Leute so lange arbeitslos sind, und dann wird denen so... was ins Ohr geflüstert: »Wir schaffen für euch Arbeit!« Und die erinnern sich ja noch an den Führer,.... da lassen die sich dann belämmern.« (O28-1: Z. 749 ff.) Frau Ewald vergleicht an dieser Stelle wiederum ihre Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus mit denen der Gegenwart. Gleichzeitig diagnostiziert sie durch diese Aussage aus einer beobachtenden Position heraus eine kollektive Erinnerung der Gruppe der heutigen Langzeitarbeitslosen an eine damalige vermeintlich erfolgreiche Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit durch die Nationalsozialisten. Die individuellen Vergangenheitsdeutungen der Arbeitslosen, die sie anfällig für rechtsradikale Denkweisen machten, werden in dieser Sichtweise durch einen Erinnerungsdiskurs gespeist: Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten durch »den Führer« Adolf Hitler seien Maßnahmen zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit initiiert worden, die existenzielle Notlagen beseitigt und eine begeisterte Zustimmung der Menschen zum Nationalsozialismus ausgelöst hätten.

eher in gesellschaftlich-strukturellen Bedingungen zu suchen, als in der Sozialisation im Sinne eines kommunistisch- bzw. sozialistischen Erziehungsstils.

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3.4 DDR-Diskurs

In den Erklärungsansätzen zu Nationalsozialismus und Neo-Faschismus sind bereits einige Elemente eines DDR-Antifaschismusdiskurses enthalten, zum Beispiel die Dimitroff’sche These, den Faschismus aus den Gesellschaftsstrukturen des Kapitalismus zu erklären.12 Weiterhin lassen sich in den Erzählungen Elemente des offiziell in der DDR-Öffentlichkeit herrschenden Diskurses finden, welcher größtenteils durch eine antifaschistische und marxistisch-leninistische Weltanschauung geprägt war.13 Diesen Diskurs ziehen die Sprecherinnen zur Deutung des gegenwärtigen Gesellschaftssystems heran: beispielsweise für die Erklärung der dem kapitalistischen System inhärenten neofaschistischen Tendenzen, die es in der DDR, als Gesellschaftssystem in antifaschistischer Tradition, so nicht gegeben habe bzw. die nicht geduldet worden wären.14 Ebenso erfolge die Geschichtsdarstellung auch in der Gegenwart nur einseitig vom Standpunkt der herrschenden Klasse, womit die Sprecherinnen auf die Thesen Marx’scher Gesellschaftsanalyse rekurrieren.15 Dieses Analysemodell wird von ihnen allerdings auch 12 | »Der Faschismus, so wurde die Dimitroff-Formel im Geschichtslehrbuch für die 9. Klasse variiert, ›wurde im Interesse der reaktionärsten Kreise des Finanzkapitals an die Macht gebracht, um die Arbeiterklasse und alle anderen Schichten des deutschen Volkes zu unterdrücken‹«. (Münkler 2002: 93) 13 | »Indem beide Thesen, die ursächliche Zurückführung des Nationalsozialismus auf den Kapitalismus und die angebliche Resistenz der Arbeiterklasse gegenüber den nationalsozialistischen Suggestionen, der Bevölkerung immer wieder [...] ins Bewusstsein gehämmert wurden, entstand ein kollektives Gedächtnis, worin die Realität des Aufstiegs der Nazipartei und die Art ihrer Machtausübung mehr und mehr verblasste. [...] In diesem Sinne war der antifaschistische Gründungsmythos konzipiert als Herrschaftsinstrument, das dazu diente, die Machtposition der Kommunisten nicht durch Erfolge bei freien Wahlen absichern zu müssen, sondern sie durch ein entsprechend geprägtes kollektives Gedächtnis zu legitimieren.« (Münkler 1996: 467 f.) 14 | Vgl. dazu die Ausführungen zur Erklärung des Rechtsextremismus beider Sprecherinnen S. 59 ff. 15 | »Was beweist die Geschichte der Ideen anders, als daß die geistige Produktion sich mit der materiellen umgestaltet? Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.« (Marx/Engels 1969b: 480); sowie: »Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind.« (Marx/Engels 1969a: 46)

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rückblickend angewandt und so die in der DDR praktizierte Geschichtsdeutung kritisch reflektiert. Denn damals in der DDR sei die Deutung der Vergangenheit, so Frau Ewald, nach ihrem Urteil zwar in passenderer Weise, jedoch ebenfalls nur einseitig, aus der Perspektive der herrschenden Klasse erfolgt. Frau Ewald: »Ja, also ich meine, Geschichte ist immer klassengebunden oder die Darstellung der Geschichte. Die DDR hat die Geschichte anders dargestellt als die Bundesrepublik, weil sie ’ne andere Gesellschaftsordnung war und wir das auch anders betrachtet haben. Ob nun zu Recht oder zu Unrecht darüber will ich gar nicht diskutieren, ich fand’s eigentlich besser wie, ... aber einseitig und das ist auch nicht gut.« (O28-Familiengespräch: Z. 139 ff.) 16 Somit gab und gibt es keinen neutralen Blick auf die Vergangenheit, sondern nur instrumentalisierte Darstellungen.17 Diese Mechanismen zu erkennen erfordert jedoch wiederum eine Beobachterposition, die unabhängig von den jeweiligen manipulativen Strukturen fungieren kann. In einer solchen Beobachterposition verorten sich nun die beiden Sprecherinnen, wobei insbesondere die Mutter Wert darauf legt, diese Position nicht mehr verlassen zu wollen und sich nicht mehr manipulieren zu lassen. Der Rückzug in den Raum des Privaten stellt vor diesem Hintergrund eine notwendige Konsequenz aus den biographisch und diskursiv gewonnenen Erkenntnissen dar.

4. Z USAMMENFASSUNG Im vorgestellten Fall werden Ambivalenzen innerhalb der Erzählungen deutlich, zwischen einer auf die DDR-Vergangenheit bezogenen kritischen Distanzierung einerseits und einer ostentativen Verteidigung des sozialistischen Gesellschaftssystems andererseits. Die Narrationen verweisen zum einen auf die persönlichen Erfahrungen in vergangenen Gesellschaftssystemen, zum anderen jedoch immer auch auf die 16 | Vgl. zur Klassengebundenheit der Geschichtsdarstellung auch das entsprechende Zitat der Tochter auf S. 57 17 | Bemerkenswerterweise nehmen hier, anders als in den meisten anderen Interviews, die Sprecherinnen eine die öffentlichen Vergangenheitsdiskurse reflektierende Perspektive ein und hinterfragen kritisch die Möglichkeiten und Grenzen einer vermeintlich objektiven Geschichtsdarstellung und des damit verbundenen Proklamierens einer erfolgten erfolgreichen Aufarbeitung der Vergangenheit.

»J ETZT BIST DE EIN ZWEITES M AL BETROGEN WORDEN !« | 65

gesellschaftlichen Referenzrahmen in der Gegenwart, unter denen die Interviews geführt wurden. Die stark ausgeprägten Rechtfertigungs- und Verteidigungssemantiken in einigen der Interviewsequenzen lassen beispielsweise Rückschlüsse auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurse zu, welche als Konstitutionsbedingungen in die Deutungen der Vergangenheit eingehen, indem sie als strukturierende Selektionsbahnungen wirken. So richten sich die in den beiden vorgestellten Interviews aufscheinenden Rechtfertigungsstrategien gegen eine nach dem Ende der DDR von westdeutscher Seite erfolgte, einseitig negative Bewertung der DDR-Vergangenheit in Vergangenheitsdiskursen. Die lebensweltlichen Erfahrungen der ehemaligen DDR-Bürger hätten darin keinen Platz mehr gefunden, woraus eine teilweise oder vollständige Entwertung von ostdeutschen Biographieverläufen resultierte (vgl. Mühlberg 2002). Die Situation des Interviews spiegelt dabei die Position der ostdeutschen Interviewpartnerinnen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft wider: Die von einer westdeutschen Universität kommenden Interviewer repräsentieren implizit die die DDR delegitimierenden Diskurse, weshalb die Interviewees dann unter einen permanenten Rechtfertigungsdruck geraten. Eine im Wesentlichen recht undifferenzierte öffentliche Darstellung und Wahrnehmung der DDR als autoritärer und totalitärer Unrechtsstaat auf der einen Seite18 kollidiert hier mit der eigenen Deutung, die die DDR-Vergangenheit wesentlich differenzierter oder durchaus auch irritierter wahrnimmt, und die auf eine persönliche Erfahrungswelt und vergangene Diskurse rekurriert, auf der anderen Seite. Die Rechtfertigungshaltung resultiert unter anderem aber auch aus einer – zwar nunmehr massiv enttäuschten, jedoch auch nicht gänzlich verabschiedeten – Vorstellung der Möglichkeit der Realisation einer besseren Gesellschaftsordnung, welche maßgeblich durch einen antifaschistischen Gründungsmythos der DDR gestützt wurde. Eine an sich 18 | Dieses Bild, welches in der Wahrnehmung der Sprecherinnen innerhalb der westdeutschen Öffentlichkeit von der DDR gezeichnet wird, entspricht einer »offiziellen, primär westlich geprägten Großdeutung der DDR« (Seegers 2008: 39) als eine zweite deutsche Diktatur. Dieser einseitigen Darstellung steht eine nicht minder undifferenzierte »relegitimierende Gegenerzählung« (ebd.) gegenüber, welche vor allem in ostdeutschen Erinnerungsgemeinschaften im Umfeld einiger SED-Altkader und PDS-Mitglieder gepflegt wird. Beide Deutungsrichtungen finden jedoch unter der Mehrheit der ehemaligen DDR-Bürger wenig Rückhalt (vgl. Mühlberg 2002).

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gute Idee des Sozialismus (vgl. Interviewzitat von Frau Ewald oben S. 55) ist in der Diskurslandschaft der gegenwärtigen Gesellschaft nahezu vollständig delegitimiert. Im vorliegenden Beitrag konnten die auf Diskurse bezogenen Selektionskriterien und -muster als erzählgenerierende Faktoren ausgemacht werden, die neben dem Rekurs auf die eigenen Erfahrungen die zentrale konstituierende Funktion für die Erinnerungsnarrationen bilden. Nicht die Vergangenheit strukturiert das soziale Gedächtnis, sondern das Konglomerat aus gegenwärtig diskursiv vermittelten Deutungsmustern und deren Verarbeitung, Reproduktion, Re-Konstruktion (wobei die Konstitution dieser Diskurse im Spannungsverhältnis zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftserwartungen erfolgt). Offen bleiben muss innerhalb der Analysen der Nachweis über die Art und Weise, wie die Diskurselemente ihren Weg in die lebensgeschichtlichen Erzählungen der Interviewpartnerinnen finden. Es konnten jedoch die jeweils relevanten Elemente aufgefunden, sowie deren Spuren und Verweise thesenhaft verfolgt werden.

Vom Mythos der Aufklärung Die »68er«-Generation und familiale Erinnerung C HRISTIAN B RUNNERT

1. E INLEITUNG 1968. Ein Jahr, das als Synonym gilt für eine kurze, aber komplexe und intensive Phase der außerparlamentarischen politischen Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland. Auch wenn die politischen Ereignisse, die unter diesem Synonym zusammengefasst werden, ein globales Phänomen waren und sich über einen erheblich längeren Zeitraum erstreckten, steht diese Jahreszahl doch gerade für einen bedeutenden Abschnitt der Geschichte im Nachkriegsdeutschland und ist namengebend für eine ganze Generation: die »68er«. Die Vielschichtigkeit dieser Generation wird erkennbar an den zahlreichen Zuschreibungen und Debatten, sowohl zu den Studentenprotesten oder den »68ern« als kulturelle Avantgarde (vgl. Klimke/Scharloth 2007), als auch zur Protestbewegung und ihrer Verknüpfung mit der RAF, bis hin zur Fischer-Debatte und den Diskussionen zum »langen Marsch durch die Institutionen« (vgl. Wirth 2001). Einigkeit herrscht dagegen weitestgehend (sowohl im wissenschaftlichen als auch im öffentlichen Diskurs) bezüglich einer Aufarbeitung der deutschen Geschichte. Die »68er« werden in diesem Zusammenhang als »Retter von der nationalsozialistischen Vergangenheit« präsentiert (vgl. Bude 1995) und entsprechend sogar vom ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Johannes Rau gewürdigt: »Wir verdanken dieser Protestbewegung einen entscheidenden Anstoß dafür, dass wir uns in der Folge als Gesellschaft offener und ehrlicher mit dieser Vergangenheit auseinandergesetzt haben, als das bis dahin der Fall war.«1 Diese Auseinandersetzung vollzog sich nicht 1 | Rau, Johannes (2001): Rede zu Inge Deutschkron aus Anlass der Veranstaltung »Grenzdenker«. http://www.bundespraesident.de/Reden-und-Inter views/Reden-JohannesRau-,11070.33395/Rede-zu-Inge-Deutschkron-aus-A. htm?global.back=/Reden-undInterviews/-%2c11070%2c42/Reden-Johannes-Rau.htm%3flink%3dbpr_liste

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nur auf gesellschaftlicher Ebene, sondern auch oder gerade wegen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung im familialen Kontext. Die behauptete Konfrontation und der »Bruch« mit den Eltern (vgl. Aly 2008) im privaten Bereich sind die Ansatzpunkte für meine Untersuchungen. Anhand von zwei exemplarischen Interviews mit Angehörigen der »68er«-Generation soll der familiale Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit untersucht werden. Hintergrund für eine mögliche Kontrastierung liefert das gesellschaftlich-diskursiv geprägte Bild des Generationenkonflikts. Außerdem soll die Bedeutung von kollektiven Identitäten im Bezug auf die Generationenkonstruktion und im Zusammenhang mit der Aufarbeitung und Konfrontation herausgearbeitet werden. Zunächst werde ich mein Generationenkonzept in Bezug auf die theoretischen Überlegungen von Karl Mannheim und deren Weiterentwicklung durch Gabriele Rosenthal darstellen. Anschließend folgt ein kurzer Überblick (wie oben bereits angedeutet) über den Diskurs zu »68« und die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit. Mein Hauptaugenmerk liegt auf der Darstellung von zwei Interviews (von insgesamt vier unter dieser Fragestellung analysierten Interviews) in Form von Einzelfallrekonstruktionen2 . Was die methodischen Herangehensweise und den Feldzugang angeht verweise ich auf die Beiträge von Sebald/Brunnert (S. 227 ff.) und Lehmann (S. 217 ff.). Abschließend erfolgt eine Gegenüberstellung der Ergebnisse der Interviewanalyse – bei der das Hauptaugenmerk auf der familialen Auseinandersetzung der Interviewten mit dem Nationalsozialismus liegt – mit dem Diskurs über die »68er«-Generation.

2. T HEORETISCHE G RUNDLAGEN 2.1 Generation

Grundlage für meine Untersuchung ist der Generationsbegriff nach Karl Mannheim. In seinen bereits 1928 veröffentlichen Ausführungen entwickelte er »das Problem der Generationen« und seine Bedeutung für die Entwicklung von gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen: »Das Problem der Generationen ist ein ernst zu nehmendes und wichtiges Problem. Bei der Erkenntnis des Aufbaus der sozialen und 2 | Die zwei Interviewpartnerinnen gehören entweder der Alterskohorte der 1938 – 1950 geborenen an und/oder ordnen sich selbst, aufgrund einer deutlichen Selbstpositionierung, der »68er«-Generation zu.

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geistigen Bewegungen ist es einer der unerlässlichen Führer. Seine praktische Bedeutung wird unmittelbar ersichtlich, sobald es sich um das genauere Verständnis der beschleunigten Umwälzungserscheinungen der unmittelbaren Gegenwart handelt.« (Mannheim 1964: 522) In einer familialen Abstammungslinie ist die Bestimmung der Generation problemlos, im Gegensatz zur Verortung des Generationsbegriffs im gesellschaftlichen oder historischen Kontext. Mannheim führt hierzu den Begriff der Generationslagerung ein. Diese Generationslagerung beinhaltet aufgrund sozialhistorischer Konstellationen einen gemeinsamen Erfahrungsraum, der wiederum einen entsprechenden Generationszusammenhang bildet. Die Generationszugehörigkeit ergibt sich aus der jeweiligen Lebensphase in der eine spezifische Generationslagerung erlebt wird. Für Mannheim ist vor allem die Jugend bzw. das frühe Erwachsenenalter die entscheidende Prägungsphase. Gabriele Rosenthal geht auf einige Probleme, in der ansonsten auch für sie als programmatisch geltenden Begriffsentwicklung von Mannheim ein. Mit der von ihr entwickelten Konzeptualisierung einer differenzierten Beschreibung und Analyse von Generationen (vgl. Rosenthal 2000) kann für meine Untersuchungen zusammenfassend davon ausgegangen werden, dass für die Konstitution von Generationen und auch für die Konstitution generationsspezifischer Deutungsmuster von Vergangenheit: 1. nicht immer die Zugehörigkeit zu bestimmten Jahrgängen ausschlaggebend ist und ebenso die Lebensphase für generationsprägende Erfahrungen nicht auf das Jugendalter beschränkt sein muss; 2. eine zentrale Rolle das perspektivische Erleben (in welcher Phase der eigenen Biographie welche Ereignisse wie erlebt werden) bestimmter historischer Situationen einnimmt. Das heißt, dass die Signifikanz eines Ereignisses für Menschen in unterschiedlichem Lebensalter zwar gleich sein, die jeweilige Deutung jedoch unterschiedlich ausfallen kann; 3. nicht nur die Gemeinsamkeit von Erlebnissen oder Erfahrungen ausschlaggebend sind, sondern ebenfalls fortlaufende Prozesse von Reinterpretationen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Lebenslauf

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erfolgen und durch unterschiedliche Situationen ausgelöst werden können; sowie 4. diese Reinterpretationsprozesse auch in Form von intergenerationellen Dialogen und interaktiven Aushandlungsprozessen stattfinden; 5. »je nach Abfolge der historischen Generation in einer Familie, die Relevanz des familialen Dialogs für die Bildung eines historischen Generationszusammenhangs« (Rosenthal 2000: 166) jeweils unterschiedlich sein kann (so können die Einflüsse durch innerfamiliale Sozialisation im Verhältnis zur außerfamilialen unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Vgl. Lehmann 2009: 129; nach Rosenthal 2000: 164 ff.) Durch diese Modifikation von Mannheims Generationenbegriff wird deutlich, wie die Zuordnung zu einer Generation bestimmt werden kann. Ebenfalls an Mannheim anschließend, geht Heinz Bude im speziellen auf die Generation der »68er« ein und kommt dabei u. a. zu folgendem Ergebnis: »Das Erstaunliche [...] besteht indes darin, daß für das Gefühl, ein Achtundsechziger zu sein, die Tatsache der aktiven Teilnahme an der Studentenbewegung gar nicht wichtig ist. Bei der Rede von der Achtundsechziger-Generation haben wir es anscheinend mit einer offenen Zuschreibungsformel zu tun, die mit den verschiedensten biographischen Daten gefüllt werden kann.« (Bude 1995: 39) Als konstitutives Moment für diese Generation gibt allerdings auch Bude bestimmte biographische Nachkriegserlebnisse der Geburtsjahrgänge 1938 bis 1948 an. Ich würde, gerade auch im Bezug auf die von Bude erwähnten »offenen Zuschreibungsformeln«, die Einordnungskriterien um den Aspekt der Selbstpositionierung erweitern. Generationsprägend wäre in diesem Fall die Zuordnung zum »Wir« der »68er«, anhand einer (evtl. sogar imaginierten) Beteiligung an generationstypischen – im Fall der »68er«, z. B. politischen oder gesellschaftlichen – Konflikten und Auseinandersetzungen. Im Bezug auf die von mir untersuchten Interviews könnte der Nationalsozialismus als eine Art Negativfolie ausschlaggebend für die Selbstpositionierung sein. »Ein Generationszusammenhang konstituiert sich neben den in einer bestimmten Lebensphase gemeinsam erlebten sozialen und histo-

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rischen Ereignissen und der Teilhabe an bestimmten Werthaltungen (›synchron‹) in der Interaktion mit anderen Generationen (›diachron‹).« (Rosenthal 2000: 166) So entfällt bei der Selbstpositionierung späterer Jahrgänge einzig die geteilte »Lebensphase« (im Bezug auf die »68er«, die von Bude und Rosenthal erwähnten Nachkriegserfahrungen). Es bleibt jedoch bei einer klaren Übernahme der »Werthaltungen« und einer intergenerationellen Auseinandersetzung mit Bezug auf den Nationalsozialismus. 2.2 Der Diskurs über die »68er«

Unter Berücksichtigung meiner Fragestellung, werde ich mich bei der Darstellung der Diskurse über die westdeutsche »68er«-Generation, auf einen Überblick über die zugeschriebene »Aufarbeitung« des Nationalsozialismus beschränken. Die Darstellung einer kohärenten Theorie- und Bewegungsgeschichte stellt sich ohnehin – aufgrund der zahlreichen politischen Gruppen und ihrer unterschiedlichen Theoriebezüge und thematischen »Arbeitsbereiche«, die unter dem Synonym der »68er« zusammengefasst sind – als schwierig dar. Einig ist man sich jedoch weitgehend über die »Zäsur« (Bude 1995), die diese Generation für die Geschichte der BRD bedeutet. Eine wichtige Säule dieser »Zäsur« ist, wie bereits erwähnt, die »Aufarbeitung« der nationalsozialistischen Vergangenheit. Erste Anzeichen für diese Auseinandersetzung tauchen bereits Anfang der 60er Jahre auf: »Insbesondere als der SDS-Student Reinhard Strecker zur selben Zeit (1959/60) begann, in verschiedenen Städten mit der Ausstellung ›Ungesühnte Nazijustiz‹ gegen die Verjährung von NS-Verbrechen zu protestieren, gewann die Forderung nach einer gezielten Strafverfolgung von NS-Tätern langsam Fürsprecher.« Gegen Mitte/Ende der 60er Jahre findet die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit also nicht ihren Ursprung, wird allerdings durch die aufkommende Studenten- und Protestbewegung fokussiert und verschärft. Die Vergangenheit der Täter, die bis dato »unbehelligt ihren Platz in der Nachkriegsgesellschaft finden« konnten, wurde nun thematisiert (Kleinert 2008). Mit einem Blick für die spezifisch deutschen Begebenheiten beschreibt Kraushaar die gesellschaftliche Situation dieser Zeit:

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»Im Unterschied zu den meisten anderen vergleichbaren Ländern, in denen sich vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges ähnliche Protestbewegungen abspielten, existierte in der Bundesrepublik ein besonders tiefsitzendes Vertrauensdefizit. Mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und der Judenvernichtung als ihrem Tiefstpunkt gab es einen historischen Resonanzboden, der Staat und Politik einem grundsätzlichen Zweifel aussetzte – Institutionen ebenso wie Einzelpersonen: Politiker und Minister, Banker und Fabrikanten, Richter und Professoren, Mediziner und Kulturschaffende – sie alle standen unter Verdacht. Das Misstrauen der Jüngeren gegenüber den Älteren war so groß, dass kaum noch ein unbefangenes Verhältnis gegenüber Staat und Gesellschaft möglich zu sein schien.« (Kraushaar 2008: 72) Dieses Problem blieb allerdings kein rein gesellschaftliches. Da die »Minister«, »Banker«, »Richter«, etc. auch die Väter der »Jüngeren« waren, setzte sich das »Misstrauen« auch im privaten Bereich der Familie fort. Quadfasel und Dehnert beschreiben die Brisanz dieses innerfamilialen Verhältnisses: »Auf eine weit härtere Probe seiner Integrations- und Innovationskraft stellte den Postfaschismus die nachfolgende Jugendbewegung, die 68er-Revolte. [...] Erstmals Stand eine Generation, die nach dem Krieg geboren worden war, einer Altersgruppe gegenüber, für die Ensslin das Wort der ›Auschwitz-Generation‹ prägte; schon der Begriff zeigt an, dass es so nah wie nie zuvor ans obszöne Geheimnis der Eltern ging und für beide Seiten daher ums Ganze.« (Quadfasel und Dehnert 2002: 68) Norbert Frei zitiert zu diesem Generationenkonflikt Hannah Arendt, aus einem Briefwechsel mit ihrem Mann Heinrich Blücher von 1961: »Wir sprachen über Eichmann-Prozeß und davon ausgehend über Gott und die Welt, aber doch im wesentlichen über Politik. Adenauer sehr unbeliebt, obwohl die anwesenden Professoren versuchten ihn zu verteidigen. Sie wissen, sie leben in einem unbeschreiblichen Saftladen. Man könnte mit ihnen was machen, aber es ist niemand da, der mit ihnen spricht. Sie waren sehr begeistert von mir, aber eben auch darum, weil es wirklich niemanden gibt auf weiter Flur.

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Der Generationsbruch ist ungeheuer. Sie können mit ihren Vätern nicht reden, weil sie ja wissen, wie tief sie in die Nazi-Sache verstrickt waren.« (Frei 2008: 80) Die studentische Forderung »Bereiten wir den Aufstand gegen die NaziGeneration vor!«3 wird der »68er«-Generation als programmatisch zugeschrieben. Dazu heben u.a. Busche und Wirth noch mal die Bedeutung des Vater-Sohn- bzw. Generationenkonflikt als Ursprung der gesellschaftlichen Auseinandersetzung hervor. So erklärt Busche folgendes: »Die Generationen, mit denen die 68er in Konflikt gerieten, waren die der Väter und der großen Brüder. Dieser Konflikt ist deshalb bedeutsam und geht über das Übliche von Generationenkabbeleien weit hinaus, weil mit ihm ein Kulturbruch und Mentalitätswandel vollzogen wurde, wie er zuvor in der deutschen Geschichte zuletzt Anfang der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts stattgefunden hatte.« (Busche 2007: 35) Dazu ergänzend Wirth: »Die 68er-Generation hat in der Konfrontation mit der Elterngeneration, die die Bundesrepublik wirtschaftlich aufgebaut hat, diesen Staat genötigt, sich mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen.« (Wirth 2001: 15) Götz Aly spricht in diesem Zusammenhang von einer »Urszene«, die »sich in jenen Jahren in ungezählten deutschen Familien ereignet« haben soll: »Ihr habt das gewusst! Ihr müsst das gewusst haben!« Diese generationenbasierte Basiserzählung, die da lautet: Konflikt und familiale Konfrontation der Jungen gegen die Alten »beim Abendessen« (Aly 2008: 151), ist im Diskurs nach wie vor weit verbreitet. So war Jürgen Habermas zufolge »die 68er Generation in Deutschland wirklich die erste, die sich nicht gescheut hat, face-to-face Erklärungen zu fordern - von den Eltern, den Älteren überhaupt, in der Familie, vor dem Fernsehschirm usw.«. »Der Studentenprotest« - so Habermas weiter - »war auch die Inszenierung einer öffentlichen, jedoch ins Private hineinreichenden, manchmal etwas selbstgerechten Abrechnung mit dem kollektiven 3 | Auszug aus dem Flugblatt Organisieren wir den Ungehorsam gegen die Nazigeneration westberliner Studenten von 1966. Zitiert nach Kraushaar (2008).

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Ausweichen vor der deutschen Verantwortung, der historischen Haftung für den Nationalsozialismus und dessen Greuel.« Er schließt mit der Feststellung, dass »die Generationsuhren der Familiendynamik [..] so eingestellt gewesen [sind], daß die 68er gleichsam ohne Scheu auf einer spezifischen Vergangenheitsbewältigung bestehen konnten. Die hatte bis dahin etwas abstraktes behalten.« (Habermas 1990: 22 ff.) Er fügt dem aber auch einschränkend hinzu, dass er selbst »Auseinandersetzungen mit seinem Vater, der gewiss nur als Mitläufer eingestuft worden ist, aus dem Weg gegangen« sei (ebd.). Bis auf einige Ausnahmen (vgl. Bude 1995, Rosenthal 1997b) erweist sich die Annahme des gesellschaftlichen und vor allem auch familialen »Bruchs«, als Konstante im Diskurs über die »68er«. An dieser Stelle soll hervorgehoben werden, dass anhand der Begriffe »Bruch«, »Konflikt« oder »Auseinandersetzung« keine normative Kategorisierung der Einzelfälle vorgenommen wird, sondern eine Kontrastierung zwischen der Darstellung (Diskurs) und der Praxis (Fallrekonstruktionen).

3. FALLREKONSTRUKTIONEN4 3.1 Einzelfallrekonstruktion Frau Walter

Gabi Walter ist 1941 in Coesfeld (Nordrhein-Westfalen) geboren. Sie hat einen Sohn und lebt mit ihrem Mann in Stuttgart. Ab 1959 beginnt sie im Uniklinikum von Münster eine Ausbildung zur medizinisch-technischen Assistentin. In Münster hat sie außerdem eineinhalb Jahre als Krankenpflegerin für schwerstbehinderte Kinder gearbeitet. 1966 geht Frau Walter nach Stuttgart und arbeitet dort als medizinisch-technische Assistentin an der Universität. Trotz der Distanz hat sie noch immer eine starke Bindung zu ihrem Heimatort in Nordrhein-Westfalen. In Coesfeld erlebte sie die letzten Kriegsjahre, und ihre Mutter (2007 verstorben) und Schwester leben dort. Sie ist regelmäßig in Coesfeld zu Besuch und liest immer wieder Bücher zur Geschichte der Stadt – vor allem zur nationalsozialistischen Vergangenheit und zur jüdischen Geschichte Coesfelds. Ihre Politisierung und ihr Interesse für den Nationalsozialismus beginnen bereits Anfang der 60er Jahre. Während ihrer Ausbildung hört sie erstmals von konkreten NS-Verbrechen (in diesem Fall die Euthanasie4 | Die Fallrekonstruktionen wurden anhand der narrativen Interviews erstellt. Aus Gründen des Datenschutzes wurden sämtliche Namen, Berufe und Städte- und Ortsnamen anonymisiert.

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programme der Nazis). Ein weiterer Punkt sind die Auschwitzprozesse, in deren Rahmen auch der Onkel einer Freundin als Helfer von Eichmann verurteilt wird. Bevor sie Anfang der 70er Jahre schließlich einer Partei beitritt, ist sie für kurze Zeit in Berlin und nimmt an studentischen Demonstrationen teil. Die familiale Auseinandersetzung mit dem Thema beginnt erst Anfang der 90er Jahre, nach dem Tod des Vaters, und führt zu erheblichen Spannungen in der schon vorher ambivalenten Beziehung zur Mutter. Die Mutter von Frau Walter ist 1914 in Nordrhein-Westfalen geboren. Sie ist Köchin und war während des Krieges mit ihrer Tochter allein. 1950 wird ihre zweite Tochter geboren. Sie vertritt bis zu ihrem Tod 2007 positive Ansichten bezüglich des Nationalsozialismus und Adolf Hitler. Außerdem bewahrte sie diverse Nazi-Devotionalien auf, wie NaziPostkarten, Drucke von Gemälden von Hitler oder Mein Kampf, welches sie zuletzt offen im Bücherregal aufstellt. Frau Walters Vater war Berufsoldat und mit der Wehrmacht in Russland. Nachdem er verwundet wurde und 1942 zunächst nach Coesfeld zurückkehrte wurde er bereits im November 1942 wieder nach Afrika abkommandiert. Dort geriet er in französische Kriegsgefangenschaft aus der er 1947 endgültig nach Nordrhein-Westfalen heimkehrt. Nach der Rückkehr ist der Vater für Frau Walter ein Fremder, das Verhältnis verbessert sich aber in den folgenden Jahren. Frau Walters Bild des Vaters ist das eines nicht wirklich überzeugten Nazis, das durch seine Arbeit in einer englischen Kaserne und seinem offenen Umgang mit »Gastarbeitern« geprägt wurde. Zu Beginn des Interviews erzählt Frau Walter in einer Sequenz von einigen frühen Erinnerungen der Nachkriegszeit. Diese Erinnerungen verdeutlichen den Ausgangspunkt und die Grundlage der weiteren Auseinandersetzung von Frau Walter mit dem Thema Nationalsozialismus und der Verknüpfung des Themas mit ihrer Familie. »Und während dieser ganzen Schulzeit war, wie üblich,.. was auch heute ja überall bekannt ist, (lacht) vor allen Dingen, wenn ich mit meiner Generation spreche, das große Schweigen überall der Nachkriegszeit. Also, für uns war das auch so. Im Elternhaus, in der Schule und ich hab immer gesagt: In der gesamten Adenauerrepublik, in der Öffentlichkeit war das so ein Aufwachsen wirklich wie vor einer Nebelwand. Und das waren Momente in mir, ganz persönlich, dass ich immer als Kind und auch als Jugendliche gedacht hab, mhm...

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oder nicht gedacht hab, dass meine Mutter speziell jetzt auch meine Mutter, die mit mir ja in der ganzen Kriegszeit zusammen war, dass die irgend etwas mit diesen, ich sach immer Ungeheuer Wort ›Hitler‹ zu tun gehabt haben könnte.« (W21-1: Z. 114 ff.) Die »Nebelwand« ist für Frau Walter der Startpunkt einer langwierigen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und symbolisiert in erster Linie ein intergenerationelles Problem fehlender Kommunikation und Aufklärung. Es wird bereits angedeutet, dass das »große Schweigen« der Nachkriegszeit, durch erste Verdachtsmomente (»waren Momente in mir«) bezüglich einer möglichen Mittäterschaft der Eltern, durchbrochen wird. Der an diesem Punkt einsetzende Aufarbeitungsprozess führt Frau Walter über den Weg einer gesellschaftlich-historischen Auseinandersetzung wieder zurück zur Familiengeschichte. In dieser frühen Sequenz wird außerdem bereits die Selbstzuschreibung (»ich mit meiner Generation«) als zentraler Aspekt einer kollektive Identität der Generation erkennbar. Die von Frau Walter beschriebene Nebelwand baut sich auf durch die fehlende Aufklärung bezüglich des Nationalsozialismus und kontinuierlich auftauchende Verdachtsmomente gegenüber den Eltern. »irgendeine Aufklärung, oder irgendwas näheres hab ich auch nicht erfahren. Ich wusste nur, Kinder merken ja instinktiv, dass irgendwas nicht stimmt.« (W21-1: Z. 135 f.). Etwas konkreter äußert sich dann der Verdacht gegenüber ihrem Vater als Wehrmachtssoldat: »Und was ich aber immer bei meinem Vater unterbewusst gedacht hab, wenn er Soldat war, er muss ja auch Menschen tot gschossen haben. Als ich schon kleiner war, hab ich schon immer manchmal nen komisches Gefühl gehabt, und hab gedacht: ›Mein Vater muss ja in irgendeiner Form auch Menschen getötet haben.‹ Aber das war immer nur so ein Gefühl und das ist unterdrückt geblieben« (W21-1: Z. 145 ff.) Ein weitere Situation bzw. ein ähnlicher Verdacht betrifft ihren Onkel: »Und dann hab ich irgendwann mal nur Photos gesehn von meinem Onkel, also mit dem sie zusammengelebt hat, dass der in irgendeiner Naziuniform rumgelaufen ist. (lacht) In den Photos sichtbar war. Und das, da hab ich so’nen großen Schreck gekriecht, als Kind oder Jugendliche, vielleicht Zehnjährige, Zwölfjährige. Das weiß ich nicht mehr

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so genau, dass ich sofort das Album zugemacht hab und instinktiv gedacht hab, als ob da was ganz Böses ist. Obwohl ich nichts wusste. Das warn so Lichtblicke, mehr wusst ich nicht.« (W21-1: Z. 210 ff.) Auch wenn diese zwei Beispiele »Lichtblicke« in der »Nebelwand« für Frau Walter darstellen, wird doch klar, dass es darüber hinaus zu keiner weiteren Aufklärung kommt (»nur so ein Gefühl, und das ist unterdrückt geblieben«, »mehr wusst ich nicht«). Das liegt einerseits daran, »dass die ganzen Vorkommnisse des Dritten Reichs die mehr oder weniger tot geschwiegen wurden .. in der Familie, im Elternhaus, in der Schule« (W21-1: Z. 150), also die fehlende Aufklärung sowohl von Außen als auch durch die eigenen Eltern; andererseits fehlende Eigeninitiative, weil sie selbst nie bei einem Verdachtsmoment nachgehakt hat: »aber was unsere Eltern, auch mein Vater im Krieg, was die eigentlich getan haben, wie sie wie sie gedacht haben, äh wie sie aufge selber aufgewachsen sind. Über diese Frage mhm das hat man sich nie getraut zu stellen. Oder die Eltern mal richtig nachzufragen.« (W21-1: Z. 141 ff.). Durch diese frühen Spannungen zwischen Verdachtsmoment und fehlender Aufklärung, kommt es, nach ihrer eigenen Deutung, bei Frau Walter zu Identitäts- und Bindungsproblemen. »Meiner eigenen Identität, dass die irgendwie gestört war, bis ins hohe Erwachsenenalter. Weil, heute kann ich mich fragen: Warum hab ich mein Leben lang so ganz undefinierbare Schuldgefühle immer gegenüber meinen Eltern gehabt. Und hab auch, wenn ich ganz ehrlich bin, hab ich keine echte, tiefe emotionale Bindung an meine Eltern aufgebaut, auch keine Bindung, die aus Vertrautheit und Geborgenheit resultiert. Also, da ist bis heute auch, bis heute noch, mein Vater ist ja schon länger verstorben, ja was Fremdes auch, zu meinen eigenen Eltern. Zu den beiden.« (W21-1: Z. 152 ff.) Sie entwickelt ein »undefinierbares Schuldgefühl«5 wegen der Eltern, das sich, wie sie im Anschluss erklärt, zu einem konkreten Schuldgefühl entwickelt, das zu ihrer Nationalität als Deutsche in Verbindung steht.

5 | Frau Walter spricht in der Sequenz von »undefinierbaren Schuldgefühlen« die sie »gegenüber« den Eltern hat. Sie entwickelt außerdem Schuldgefühle »wegen« der Eltern, die in Verbindung stehen mit den Schuldgefühlen, die sie als Deutsche entwickelt. Im weitere Verlauf des Interviews taucht vor allem die zweite Lesart häufiger auf.

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»Und dann, hab ich mich heute auch erst gefragt, warum hab ich eigentlich immer Schuldgefühle, oder häufiger Schuldgefühle, als Deutsche entwickelt, ich sag mal, gegenüber Franzosen und Engländern, das heißt, ich bin mal, in jungen Jahren hatte ich mal in England einen Freund, in in London, in den sechziger Jahren. Und wenn man bei Engländern war, hatt’ ich aber immer irgendwie Schuldgefühle, als Deutsche.« (W21-1: Z. 159 ff.) Sie verknüpft an dieser Stelle eine mögliche Schuld der Eltern (frühe Verdachtsmomente) im Speziellen, mit einer nationalen kollektiven Identität. Diese Verknüpfung bestätigt Frau Walter mit der späteren Erkenntnis, dass ihre Familie genauso involviert gewesen sei, wie Millionen anderer deutscher Familien.6 Die nächste Stufe der Auseinandersetzung von Frau Walter mit dem Nationalsozialismus beginnt 1959 mit ihrem Umzug nach Münster. Mit geographischer Distanz zur Geburtsstadt und ihren Eltern hört sie erstmals von konkreten Naziverbrechen. In Münster erfährt sie von den Euthanasieprogrammen und nach ihrem Umzug nach Stuttgart 1966 sind es die Auschwitzprozesse, die sie beschäftigen – letztere vermittelt über eine Freundin, deren Onkel, als Stellvertreter Eichmanns in Budapest, in Frankfurt verurteilt wurde. Sie betont in dieser Sequenz auffällig oft, dass die Informationen zu beiden Themen »ganz vage« (vgl. Z. 272/276/283/287) waren. Auch in diesem Lebensabschnitt durchbricht Frau Walter noch nicht die »Nebelwand«: »[...] hab ich nie was Näheres damals erfahren. Das war auch wieder diese Nebelwand.« (W211: Z. 300) Nach einer kurzen Zeit in Berlin bleibt sie in Stuttgart. Dort tritt sie 1972 in eine große deutsche Partei ein, über die sie auch ihren Mann kennen lernt. In den Sequenzen zu diesem Zeitabschnitt erzählt Frau Walter in erster Linie von Erlebnissen, in denen es um Schuldgefühle geht. Während ihrer Arbeit als medizinisch-technische Assistentin an der Universität, hat sie eine Kollegin aus Frankreich, die in ihr besagte Gefühle auslöst: »Also wir hatten mal nen französischen Wissenschaftler, oder ne Chemikerin, die hat mit mir im Labor gearbeitet, ne Französin. Die 6 | Diese Erkenntnis gehört zu Frau Walters Auseinandersetzung mit der eigenen Familie in den 90er Jahren. Die Erkenntnis funktioniert sowohl als Entlarvung, als auch als Relativierung. Auf die konkrete familiale Auseinandersetzung von Frau Walter in den 90er Jahren werde ich im weiteren Verlauf der Einzelfallrekonstruktion näher eingehen.

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dann auch mal so zu verstehen gab, in der heutigen Zeit, ihre Eltern waren in Paris Trotzkisten, was die Deutschen gemacht haben und das Ganze die Nazis und. Aber immer so, dass ich Schuldgefühle entwickle.« (W21-1: Z. 166 ff.) In einer anderen Situation erfahren sie und ihr Mann, dass ein Stadtrat, mit dem sie zusammengearbeitet haben, Jude ist: »Wir warn hier beide in Stuttgart-Nord, das ist ja so ein lokales Stadtteilparlament in den 70er Jahren und in Stuttgart-Nord war dafür warn für Stuttgart-Nord zwei Stadträte zuständig, einmal der Stadtrat Peters und die Stadträtin Klemens und wir ham erst viel später mitgekriecht oder gehört, das der Stadtrat Peters Jude war und als wir das gehört haben, ham wir uns anders verhalten, also nicht nach außen, nach innen. Das heißt plötzlich. Das heißt, das war für uns n ganz, für beide aber, ich hab mit ihm auch noch mal geredet, kürzlich, dass mein Mann offen gesagt hat: Ja man krichte plötzlich so ein schlechtes Gefühl. Ich kann gar nicht sagen, ein schlechtes Gewissen. Eigentlich eher ein schlechtes Gefühl. Als wenn man als Deutscher, der ist ja auch Deutscher, plötzlich anders mit dem Menschen umgehen muss. Jahre ham wir mit dem zusammengearbeitet! (lacht auf) Wenn wir beide hier sitzen, wir ham jahrelang zusammen politisch gearbeitet und plötzlich erfahr ich, sie sind Jude. Und man kriegt, oder ich krich erst mal n Kloß. Ja, da muss ma ja irgendwo mal nachdenken, na? (lacht auf) Stimmt doch! Was ist da los? Gell? Aber ich muss ihnen was sagen, mit diesen Schuldgefühlen, was ich vorher gsagt hab, ich hab wirklich Jahre lang oder mein Leben lang so undefinier, das hab ich vorher schon am Anfang gsagt, Schuldgefühle gehabt.« (W21-1: Z. 1022 ff.) Frau Walter entwickelt in diesen Situationen starke Schuldgefühle, die teilweise sogar zu einer gewissen Hilflosigkeit führen. Diese Situationen erinnern an diffuse Reaktionen in ihrer Kindheit: Es reichte das abstrakte Auftauchen von Worten wie »Jude« oder »Hitler«, um in ihr ein Gefühl des Unwohlseins hervorzurufen. »Dann war das Wort ›Hitler‹ immer im Raum, als ich Kind war und Jugendliche und das Wort ›Jude‹, als Begriff ›Jude‹. Merkwürdigerweise war das Wort irgendwie da. ›Jude‹ nur. Ohne dass ich das richtig

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greifen konnte, vor allen Dingen, wenn man noch ein kleineres Kind ist.« (W21-1: Z. 172 ff.) In dieser Sequenz weist Frau Walter selbst auf die Generationsproblematik hin. Einerseits kann sie, als Kind, die Worte in ihrer begrifflichen Abstraktheit nicht verstehen, andererseits lösen sie in Verbindung mit ihren frühen Verdachtsmomenten bestimmte Gefühle und Reaktionen aus: »Das war damals für mich auch so, dass ich n Schreck gekriegt hab. Das ich gedacht hab ›Jude‹ war auch so was, wie ›Hitler‹ ... da das packt man nicht an. Nicht was Böses, aber was Unangenehmes. Ich würd eher sagen, das Wort ›Jude‹ und ›Hitler‹ war immer mit was Unangenehmem verbunden, was Undefinierbarem aber auch, aber da da lässt man lieber die Finger davon. Aber unheimlich.... [...] Ja aber ich war immer bei dem Wort auch geschockt.« (W21-1: Z. 1013 ff.) Ihr Umgang mit der französischen Kollegin und dem Stadtrat verdeutlichen die kontinuierliche Unsicherheit von Frau Walter mit dem Thema. Eine auffällige Wende vollzieht sich nach dem Tod des Vaters Anfang der 90er Jahre. Es zeichnet sich ein Übergang ab, von der gesellschaftlichen Ebene (politische Stadtteilarbeit, Demonstrationen, etc.) zur familialen Ebene und dem Bruch mit der Mutter. Zu diesem Zeitpunkt beginnt Frau Walter sich fast schon akribisch mit der Geschichte ihrer Geburtsstadt zu beschäftigen. Sie fängt an die Nebelwand ihrer Kindheit und der Umgebung, in der sie aufgewachsen ist, systematisch zu durchbrechen. Es gibt keine »vagen« Informationen mehr, die sie aus ihrem Umfeld erhält oder zufällig mitbekommt; sie bestellt sich Bücher zum Thema Nationalsozialismus, darunter mehrere Bände der Schriftenreihe einer Geschichtswerkstatt ihrer Heimatregion. Mithilfe dieser Bände erarbeitet sie sich detaillierte Kenntnis zur nationalsozialistischen Vergangenheit ihrer Stadt. Sie erzählt zum Beispiel ausführlich von einem KZ-Außenlager, in dem jüdische Frauen interniert waren, von Zwangsarbeitern und von Judendeportationen in ihrem Heimatort. Im Anschluss an diese Sequenz erzählt Frau Walter von einer Autorin, die wegen ihrer Recherchen bezüglich der nationalsozialistischen Vergangenheit des Vaters von ihrer Familie »geächtet« wurde: »Eine Dame, war auch mal da. Ich hab jetzt den Namen leider vergessen. Die hat eben ganz stark berichtet, dass sie auch erst in ihrer

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Erwachsenenzeit erfahren hat, dass ihr Vater eben als SSler [...] Als ihr Vater als SSler also an ganz schlimmen Massakern irgendwo in Russland, das ist auch belegt, das hat sie über die, in in Ludwigsburg ist doch die Stelle, wo man über Verbrechen der Nazizeit erfahren kann, hat sie das recherchiert. Und die hat auch mal aus ihrem Leben berichtet, wie sie das fertig gemacht hat. Wie sie völlig ja von der Rolle ist und sie selber erzählt hat, dass sie auch in ihrer eigenen Familie dadurch überhaupt jetzt geächtet wird. Dass sie das publik gemacht hat, über das Leben ihres Vaters. Das find ich ja heut noch erschütternd. Wenn ich erst mal selber mich damit konfrontieren muss und muss das verarbeiten und dann werd ich noch in der Familie praktisch ausgestossen.« (W21-1: Z. 879 ff.) Frau Walter schließt die, für sie erschütternde, Anekdote über die Erfahrungen der Autorin an die Erzählung über ihre eigenen Recherchen an. Diese Verknüpfung verdeutlicht den Zwiespalt in dem sie sich selbst befindet: Auf der einen Seite ergreift sie die Initiative und durchbricht die Nebelwand ihrer Kindheit – sie beschäftigt sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit des Umfelds, in dem sie 17 Jahre lang aufgewachsen ist. Auf der anderen Seite entwickelt sie Parallelen zwischen den Erlebnissen der »Dame« und ihrer eigenen Biographie und verdeutlicht so die Bedeutung ihrer möglicherweise folgenschweren eigenen Recherchearbeit. Trotz dieser Bedenken konfrontiert Frau Walter, aufgrund weiterer Recherchen, ihre Mutter mit dem Thema. Die Kombination aus Recherche und Konfrontation führt für sie zur lang erhofften Aufklärung. »Äh was ich eigentlich, ich erst heute, nach erst ein paar Jahre ist das, klarer gesehn hab, was in meiner Heimatstadt los war, und auch .. meine Eltern, dass die stärker in in ich sag mal, in das Nazitum ich will nicht sagen verstrickt waren, aber ähm nicht mitgelaufen sind, sondern auch pro .. äh äh äh im Nazisystem stärker angesiedelt waren, als ich das überhaupt gedacht hab immer, na?« (W21-1: Z. 193) Sie betont im Interview mehrmals, dass sie erst seit »ein paar Jahren« (gemeint ist die Zeit nach dem Tod des Vaters, in der auch die Recherche und die Auseinandersetzung mit der Mutter beginnen) »klarer gesehn« habe. Es wird deutlich, dass Frau Walter trotz des klarer Sehens unsicher ist, in der Beurteilung der potentiellen Täterschaft der Eltern (»verstrickt«, »mitgemacht«, »pro«, »stärker angesiedelt«).

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Durch die Konfrontation der Mutter erfährt Frau Walter einige Details zur Vergangenheit des Vaters.7 Da der Vater zum Zeitpunkt der Auseinandersetzung aber bereits Tod ist, konzentriert sie sich auf die Aussagen und die Einstellung der Mutter. So ist sie schockiert, als die Mutter während eines Besuchs von Frau Walter verschiedene Nazidevotionalien auf einem Tisch ausbreitet, von denen sie nichts wusste. »Den ganzen Tisch ausgebreitet mit irgendwelchen, ich weiß garnicht mehr was alles, Nazisachen. Also, da hat sie mir von Adolf Hitler son Postkartenset, was es damals gab, hier von dem Hoffmann photographiert, ich hab das nur kurz angeguckt hingelegt, dann hat sie mir plötzlich die die Zeitungsauschnitte, von dem Onkel meiner Freundin, von ’69, was bei ihr in Coesfeld in der Zeitung stand, von dem ganzen Prozess. Da ist noch jemand mit ihm verurteilt worden, damals.. hingelegt ich weiß nicht noch was. Ich war so erschlagen erstmal! Also, ich ich kann garnicht sagen, ich hab das weggeschoben und hab zu meiner Mutter gsagt, so nach dem da hab ich nichts mit zu tun, das ist dein Leben. Also so instinktiv. Ich hab erst mal sonen Kloß im Hals gehabt (lacht auf), ich hab gedacht: Das darf doch nicht wahr sein! Und war richtig schockiert und ja und dann war sie wieder auch stille und hat das eingepackt. Ja und jetzt kommt das dollste noch, doch! Und da war auf diesem Postkartenset vom Adolf Hitler, also da war der Hitler immer in verschiedenen Posen photographiert und oben drauf war son ne Postkarte, was er mal wo gemalt hatte in seiner großen künstlerischen Zeit, da sacht sie zu mir: ›Ja, das wird auch noch mal die Zeit kommen, wo Hitler als Künstler vielleicht mal anerkannt wird.‹ Da hauts mich schon mal völlig vom Tisch. Aber ich kann da heut ehrlich drüber reden. Des.. ich konnt mit meiner Mutter nicht mehr reden, des geb ich ehrlich zu.« (W21-1: Z. 427 ff.) Es kommt in den folgenden Jahren, durch ähnliche Aktionen und Aussagen, immer wieder zu Konflikten zwischen Frau Walter und ihrer Mutter: »In der Nazizeit gab es nicht so viel Kriminalität. Und das hat sie hier auch zu ihrem 85. Geburtstag mir erzählt, so im im ganzen Reden. 7 | Frau Walter findet z. B. Feldpostbriefe des Vaters, in denen er für den »Führer« und das deutsche »Volk« betet. Im Gegensatz zur Mutter, wird der Vater im Bezug auf den Nationalsozialismus allerdings als geläutert dargestellt. Laut Frau Walter kehrt ihr Vater als »Europäer« aus dem Krieg zurück, was sie vor allem in seiner freundlichen Art gegenüber Ausländern und »Gastarbeitern« bestätigt sieht.

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Da gabs nicht so viel Kriminalität. Und da konnten wir Nachts äh unsere Haustür offen stehen lassen. Des kenn ich aber von vielen, aus der Generation, das ist nicht O-Ton nur meiner Mutter. Und weil ich wusste, lange Diskussionen haben gar keinen Zweck, weil ich wollt mir auch nicht die Geburtstagsfeier hier verderben mit ihr, aber dann konnt ichs nicht lassen und hab zu ihr nur so gesagt: Aber dafür gab es Auschwitz. Da sagt meine Mutter doch kleinlaut: ..Das waren doch keine Deutschen. Also, ich glaub ich hätt hier schreiend fast den Raum verlassen müssen, also ich bin erst rausgegangen!« (W21-1: Z. 473 ff.) Sie deutet an dieser Stelle bereits an, dass ihre Mutter ihr durch solche Aussagen fremd erscheint und »richtig unheimlich« (W21-1: Z. 490). Das Schlüsselerlebnis für Frau Walter ist allerdings ein weiterer Besuch bei der Mutter, während dessen sie im Bücherregal Mein Kampf findet, von dem sie nichts wusste und das auch zuvor nicht aufgestellt wurde: »In inner Bücherwand, meine Mutter hat immer sehr viel gelesen, und hatte sehr viele Bücher... seh ich plötzlich steht da: Mein Kampf. Also, da wars ganz aus. Also ich war, da war ich völlig erschlagen. (lacht auf) Wissen sie, wie das Gefühl war? Das war, als wenn ne Bombe bei mir einschlägt! Der stand da früher nicht. Also, ich hätt schon mal garnicht geahnt, dass meine Mutter da Photos aus der glorreichen Zeit aufgehoben und andere Sachen und Ausschnitt und weiß der weiß nicht, was sie alles so, aber das sie plötzlich Mein Kampf ins Zimmer stellt! Das hat mich so erschlagen. Geistig ist meine Mutter bis heute voll da! Hundert Prozent! Die ist wahnsinnig geistig fitt! Die hat sich, die hat kaum abgebaut. Auch am Telefon, mein Mann sagte: Oma sagt er, ist ja Wahnsinn was die alles kann, weiß, hört. Also, die ist geistig voll fit, also die ist auch verantwortlich für das, was sie sagt. Also, ist nicht so, dass das entschuldbar ist. Ja, mit ›Mein Kampf‹.« Dieses Erlebnis führt bei Frau Walter zu einem emotionalen Bruch mit der Mutter, der sogar soweit geht, dass sie, wenn sie zu Besuch ist, nicht mehr im Elternhaus übernachten kann. Der Einschnitt bedingt erhebliche Änderungen im Beziehungsmuster zur Mutter, die eine inhaltliche Problematisierung behindert. Frau Walter legitimiert ihr Ausweichen vor der konkreten Auseinandersetzung mit der Gebrechlichkeit und Pflegebedürftigkeit der Mutter:

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»Ich hab mit, sie sehen ein Mensch, der ist gebrechlich, der kann alleine nicht mehr existieren. Sie sind in der Familie schon Jahre dran die Mutter irgendwo unterzubringen und dann gleichzeitig sie mit so was zu konfrontieren, das hab ich nicht fertig gebracht. Sondern ich hab mir ich hab selber für mich gehandelt und gesagt: ›Das leg ich jetzt ab.‹« (W21-1: Z. 774 ff.) In der letzten Aussage »Das leg ich jetzt ab«, wird deutlich, dass Frau Walter nicht auf die Mutter reagiert. Es kommt im Gegenteil sogar zu einer Abwehrreaktion gegenüber dem (für sie) problematischen Verhalten der Mutter. Bei den anderen Beispielen ist dieses Verhalten ebenfalls zu finden. In der Auschwitz-Sequenz ist sie »rausgegangen«, denn sie »wusste aus Diskussionen: Da kommst gar nicht weiter. Und irgendwie, innerlich wollt ich das auch gar nicht. Was was was soll ich da sagen und machen? Das ist meine Mutter!« (W21-1: Z. 481 f.). Und auch nachdem die Mutter sie mit den diversen Nazi-Utensilien provoziert geht Frau Walter klar in die Defensive: »Als sie mir das Nazimaterial vor vielleicht fünf, sechs Jahren auf den Tisch gelegt hat, hab ich das weggeschoben, und hab sofort gewusst, das hab ich ihr gesagt! ›Das ist dein Leben!‹ hab ich gesagt. Das sag ich auch heut« (W21-1, Z. 1087 ff.). Neben der Abwehr als direkte Reaktion auf das Verhalten der Mutter tauchen darüber hinaus an einigen Stellen im Interview Sequenzen auf, in denen die Ambivalenz von Frau Walter gegenüber dem Verhalten der Mutter zum Vorschein kommt. Für das jahrelange Schweigen macht die Mutter die Amerikaner verantwortlich (die sie wie die Engländer als »Besatzungsmacht« und »Fremdkörper« empfunden hat (vgl. Z. 604 f.): »Die ganze Tabuszene die vielleicht ihr aufgedrückt worden ist ein Spruch dazu, warum sie nie was erzählt hat, früher – das wiederholt sie jetzt öfters. Sagt sie immer zu mir: ›Ah die Amerikaner ham uns nach dem Krieg verboten über diese Zeit überhaupt zu reden.‹« (W211: Z. 462 ff.) Durch das »vielleicht« deutet Sie Zweifel an der Aussage bzw. der Entschuldigung der Mutter an. Andererseits wiederholt Frau Walter mehrmals, u.a. in Bezug auf die Auschwitz-Sequenz, dass bei vielen Deutschen (aus der Generation ihrer Eltern) noch immer die »Propaganda

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vom Goebbels« nachwirken würde (vgl. Z. 540 ff., Z. 1436 ff.). Mit dieser Theorie der ›nachhaltigen Verführung‹ der Deutschen relativiert sie die Eigenverantwortlichkeit der Eltern. Kurz zusammengefasst sieht die Entwicklung der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bei Frau Walter wie folgt aus: Durch die Verknüpfung von frühen Verdachtsmomenten in den 50er Jahren (im Bezug auf eine mögliche Mittäterschaft der Eltern/Familie) und »vagen« Information zu Nazi-Verbrechen8 auf gesellschaftlicher Ebene in den 60er Jahren, werden aus den zunächst »undefinierbaren Schuldgefühlen« wegen der Eltern, konkrete »Schuldgefühle, als Deutsche«. Diese Entwicklung findet in den späten 60er und den 70er Jahren statt. In diese Phase fallen auch ihr Engagement für die APO und ihr späterer Eintritt in eine politische Partei. Die »Schuldgefühle« dienen Frau Walter als Antrieb für die detaillierte Recherche zur Geschichte ihrer Geburtsstadt (z. B. über die Deportation der Juden aus ihrer Geburtsstadt, die NSDAP-Mitgliedschaften in der Nachbarschaft, die Verbrechen des »netten Metzgermeisters von gegenüber« in einem sog. »wilden KZ« zu Beginn der Naziherrschaft). Vor allem auch die Erkenntnis einer Beteiligung ihres kindlichen Umfelds an Nazi-Verbrechen bestätigt ihre frühen Verdachtsmomente und führt sie letztendlich zu einer direkten Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der eigenen Eltern bzw. mit der Familiengeschichte. Diese Aufarbeitung beginnt allerdings erst mit dem Tod des Vater in den 90er Jahren und wird von ihr selbst an dem Punkt beendet, an dem sie die Nebelwand der Kindheit durchbrochen hat und erkennt, dass die Mutter zum Teil ungebrochen bis in die Gegenwart mit der Nazi-Ideologie sympathisiert. An dieser Stelle folgt keine weitere Konfrontation der Mutter, sondern eine Art ›Schlussstrich‹ bezüglich der geschichtlichen Aufarbeitung. Eine Formulierung, die Frau Walter selbst als »Schlusswort« bezeichnet, erklärt diesen Mechanismus: »Hab ich so’n Art Schlusswort für mich mal geschrieben: [liest vor:] ›Erst seitdem ich klarer heute meine eigene Familiengeschichte sehen kann, fühle ich mich heute, nach 60 Jahren Kriegsende von den Nachwehen des Nationalsozialismus im Ansatz befreit.‹ Ganz geht das sicher nicht. Und was so positiv für mich ganz persönlich ist, 8 | Frau Walter beschreibt »vage« Informationen über konkrete Nazi-Verbrechen auf die sie in ihrem Umfeld stößt. Dazu gehören die Euthanasieprogramme (sie erfährt davon während ihrer Ausbildung im Krankenhaus) und die deutschen Auschwitzprozesse (bei denen auch der Onkel ihrer Freundin als Stellvertreter Eichmanns angeklagt ist).

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ist das die Verantwortung für ihr gelebtes Leben das müssen meine Eltern, meine beiden Eltern ganz alleine tragen« (W21-1: Z. 1079 ff.). Nachdem sie »klarer sehen kann«, also die Nebelwand endgültig durchbrochen hat, ist ihr Soll der Aufarbeitung erfüllt (»von den Nachwehen des Nationalsozialismus im Ansatz befreit«). Die Verantwortung für die Taten/Verbrechen der Eltern und deren Generation tragen diese selbst. Konsequent überträgt sie diese Vorgehensweise von der familialen auf die gesellschaftliche Ebene. Auch dort will sie einen ›Schlussstrich‹ ziehen. Sie empfindet den »Gang nach Canossa«, der ihr als Deutsche in der Nachkriegszeit vom Ausland (symbolisch durch die französische Vorgesetzte) immer noch aufgebürdet wird, als ungerechtfertigt, denn sie sieht sich selbst als nicht verantwortlich. »Warum hab ich, wenn meine französische Arbeitskollegin, die war kurzfristig mal meine Vorgesetzte, ne Chemikerin aus Paris, warum hab ich Schuldgefühle wenn die blöd über die Zeit redet, oder irgendwas, und ich hab Schuldgefühle! Und ich hab aber dann innerlich immer gedacht: Du blöde Kuh! Warum kommst dann nach Deutschland und redsd mir des immer vor.. Ich hab ihr das schon n paar Mal gesacht. Aber auch so, in sonem Tonfall, als wenn ich jetzt auch noch nach Canossa gehen muss, oder so. Aber, aber das warn immer noch so, wo man sich dann auch irgendwann auch ärgert, als Deutsche mal, letztlich. Also in ner ältere also in der jüngeren Generation, ich hab ich hab ideologisch nicht das Nazi Reich begründet und bin ideologisch nicht mitmarschiert und hab die Greuel und den Krieg und des eigentlich alles angezettelt, gell?« (W21-1: Z. 1052 ff.) Noch deutlicher wird dieser Wunsch nach einem Schlussstrich und positivem Bezug auf die eigene Nation im folgenden Beispiel: »Die Freundin von unserem Sohn, die Melanie, die ist mit die ist auch gekommen, und ihre Eltern auch und so. Und das was ich so schön fand, dass die Melanie, die ist 20 Jahre jetzt und die hatte son kleinen Rucksack auf.. und hatte hinten ne Deutschlandfahne ausm Rucksack rauskucken, und ganz normal, unverkrampft, ist die rumgerannt und hat ihr Fähnchen geschwungen und das war für mich ein tolles Erlebnis! Ich hätt bis dahin ne Deutschlandfahne, obwohl wir alle wissen, die kommt aus der Weimarer Zeit, oder noch früher, was weiß

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ich, von 1848 oder irgendwo also die eigentlich ja nichts mit den Nazis direkt zu tun hat, haben wir ja alle, mein Mann auch, immer bei Fahne und Hymne das sind auch mit Schuldgefühlen, warum, a komisches Gefühl, lange noch und das fand ich so schön, dass so ein junges Mädchen, einfach ja: ›Deutschland, Deutschland!‹ ruft, wie die Andern. Die Schweizer, die immer kommen, grad beim Skifahren im Wintersport, die Schweizer sieht man immer mit ihrer Schweizer Fahne, die marschieren dann immer auf, auch an der Abfahrtsstrecke. Aber die Deutschen fangen jetzt erst an, junge Leut mal ihre Fahne rauszuholen, und sich auch zu freuen sag ich mal, so wies viele das bei der Fußball-WM gemacht haben und das ist für mich schon ein gewisses befreiendes Gefühl, auf die jetzt junge Generation bezogen. Das die einfach sagen, das ist ja unsere Fahne und sie singen jetzt ihre Hymne und das ist ganz normal für die. Also, das find ich ja noch n schöner, für mich eigentlich ist das n schöner Schlusspunkt noch.« (W21-1: Z. 1156 ff.) Der fahnenschwenkende und unverkrampfte Nationalismus der jungen Generation wirkt auf Frau Walter befreiend. Ihr selbst wurde eine solche deutsche ›Normalität‹ durch ihre Schuldgefühle immer blockiert. Die Parallelen zwischen familialem und gesellschaftlichem Schlussstrich liegen bei Frau Walter in der Verortung von Verantwortung und Zuständigkeit, im Rahmen ihrer generationellen und nationalen Identität. Die Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus hat eindeutig die Elterngeneration, ihre eigene Zuständigkeit liegt in und endet mit der Aufarbeitung der Vergangenheit zur Wiederherstellung einer nationalen Normalität. Als »68erin« (sowohl durch die Zugehörigkeit zur Alterskohorte, als auch durch ihr politisches Handeln) weist Frau Walter ein erhebliches gesellschaftliches Engagement bezüglich der Aufarbeitung der NaziVergangenheit auf. Ihr ist ein Nicht-Vergessen, als abstraktes »Nie Wieder!«, sehr wichtig. Sie besucht Gedenkstätten, liest Bücher zum Thema oder geht zu Veranstaltungen von Zeitzeugen und Holocaustüberlebenden (die u. a. auch ihr Mann an Schulen organisiert). Auch nach ihrem Eintritt in eine Partei beteiligt sie sich kritisch an tagesaktuellen Debatten zum Thema Nationalsozialismus9 . Außerdem vertritt Frau Walter 9 | Sie erwähnt verschiedene Debatte zum Thema Gedenkstätten und Erinnerungspolitik, die sie angeregt verfolgt habe.

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zum Teil eine reflektierte Position. Sie betont sehr deutlich, dass es nicht nur eine kleine Herrscherclique war, die für die Naziverbrechen verantwortlich zu machen ist, sondern dass Millionen Deutsche an diesen Verbrechen beteiligt waren. An anderer Stelle spricht sie von einer Schizophrenie in der Nachkriegszeit und meint damit die Konservierung von nationalsozialistischen Werten in der BRD. Trotzdem vollzieht Frau Walter den Bruch mit den Eltern nicht vollständig. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Eltern beginnt überhaupt erst mit dem Tod des Vaters. Eine Konfrontation des Vaters kann dementsprechend nicht mehr stattfinden.10 Das Verhältnis zur Mutter erleidet tatsächlich einen Bruch, der sich vor allem als Kommunikations-Bruch äußert: Sie weicht der Mutter aus. Letztendlich schwenkt Frau Walter, nach all der gesellschaftlichen Kritik am und Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, von einer möglichen anschlussfähigen und linkspolitischen Skepsis am Konstrukt Nation zum Wunsch eines positiven und normalisierten Nationalgefühls. Berücksichtigt man die eingangs beschriebene Verbindung der generationellen und nationalen Identität bei Frau Walter, ist diese Entwicklung als logische Konsequenz ihres Verhaltens erkennbar. Für Frau Walter ist ein uneingeschränkt positiver Bezug auf ihre nationale Identität als Deutsche, wegen der nationalsozialistischen Vergangenheit, nicht möglich. Die Schuld am Nationalsozialismus schreibt sie der Elterngeneration zu. Die Verantwortung der eigenen Generation sieht sie in der Aufarbeitung dieser Schuld. Ihre Generation stellt damit den Übergang von der schuldigen Eltern- zur unbelasteten Kindergeneration dar. Mit dem Tod der Mutter (als Mitverantwortliche der Elterngeneration) endet für Frau Walter auch die Schuld und sie kann ihre eigenen »Schuldgefühle« als Deutsche und auch gegenüber den Eltern ablegen und selbst wieder unbeschwert »die Deutschlandfahne schwenken«. Die Selbstdarstellung bzw. die Selbstpositionierung bei Frau Walter findet in erster Linie über einen ausgeprägten Bezug auf kollektive Identitäten statt. Dies gilt für 1. den Generationenaspekt und 2. ihre nationale Identität. 10 | Da der Vater, von Frau Walter selbst, als geläutert dargestellt wird, wäre eine Konfrontation aus ihrer Sicht ohnehin obsolet.

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Sie trennt klar zwischen ihrer eigenen Generation, der Eltern- und der Kindergeneration. Jeder Generationsgruppe kommen dabei eigene Attribute und Eigenschaften zu. In Bezug auf den Nationalsozialismus hat sich, aus Sicht von Frau Walter, die Elterngeneration schuldig gemacht. Anhand der eigenen Eltern verdeutlicht Frau Walter zwei Verhaltensmuster dieser Generation. Zum einen der geläuterte Vater (kommt als »Europäer« aus dem Krieg zurück) und zum anderen die verbohrte Mutter, die für eine Kontinuität der Nazi-Ideologie steht. Frau Walters eigene Generation wäre on den Eltern bezüglich der Vergangenheit getäuscht bzw. hinter einer »Nebelwand« im Unklaren gelassen worden. Es sei die Aufgabe ihrer Generation, die Vergangenheit (die Verbrechen) der Eltern aufzuarbeiten. Erst wenn diese Aufgabe erfolgreich abgeschlossen, also die Schuld aufgearbeitet sei, kann ihre Generation ein normales Verhältnis zur Nation entwickeln, das vergleichbar wäre mit dem unbeschwerten Nationalgefühl, wie es sich die unschuldige Kindergeneration erlauben könne. In diesem Wunsch von Frau Walter steckt bereits ansatzweise die zweite kollektive, nämlich nationale Identität. Im Interview betont sie mehrmals ihre »Schuldgefühle als Deutsche«. Diese »Schuldgefühle« hat sie vor allem gegenüber Franzosen, Engländern und Juden. Die Einzelfallrekonstruktion verdeutlicht die enge Verbindung der beiden kollektiven Identitäten bei Frau Walter. 3.2 Einzelfallrekonstruktion Frau Vogel

Frau Margarete Vogel wird 1954 in Nordrhein-Westfalen geboren. Sie ist geschieden und lebt allein in einer bayerischen Großstadt. Ihre drei erwachsenen Kinder leben über ganz Deutschland verteilt. Sie geht Mitte der 70er Jahre an die Universität von Frankfurt am Main und studiert dort nach eigenen Angaben Soziologie, Philosophie, Sozialpsychologie, Theologie und Kommunikationswissenschaften. Inzwischen arbeitet sie als Selbstständige im Gesundheitswesen. Im Laufe ihres Studiums wird sie politisiert, sie beschreibt sich in diesem Zusammenhang als »sehr links«. Daraufhin kommt es immer wieder zu Streitigkeiten mit ihrem Vater, den sie selbst als »rechts« und »deutsch-national« bezeichnet. Mit zunehmendem Alter legen beide die Streitigkeiten bei und versöhnen sich. Frau Vogel rechnet ihrem Vater trotz seiner politischen Haltung hoch an, dass er immer über »alles geredet« hätte und die Zeit des Nationalsozialismus nie ein »Tabu-Thema« für ihn war. Die Mutter wird von ihr als moralisch integere Frau beschrieben, die sich nie etwas habe zu

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Schulden kommen lassen. Für Frau Vogel ist die Zeit des Nationalsozialismus eines der zentralen Diskussionsthemen innerhalb der Familie. Sie selbst interessiert sich in diesem Rahmen vor allem für psychologische Aspekte (z. B. Kriegstraumata oder psychologische Bewältigungsstrategien). Die Mutter wird 1923 in der Nähe des Ruhrgebiets geboren. Sie wächst auf dem Bauernhof der Eltern auf. Trotz Mitgliedschaft im BDM und einiger »verirrter« Bomben, die auch den Hof der Eltern treffen, hat sie, nach Angaben der Tochter, vom Krieg nicht viel mitbekommen. Der Familie geht es aufgrund der Eigenproduktion des landwirtschaftlichen Betriebs auch nach dem Krieg verhältnismäßig gut. Nachdem sie einige Zeit auf dem Hof der Eltern gearbeitet hat, bekommt sie eine Stelle als Bürokraft. Der Vater von Frau Vogel ist 1914 geboren und wächst in Thüringen auf. Er geht bereits in den frühen 30er Jahren freiwillig zur Wehrmacht. Er ist nach Kriegsbeginn sowohl beim Polen-, als auch beim Russlandfeldzug dabei. Außerdem ist er als Funker einer der ersten deutschen Soldaten im besetzten Paris. Er wird an der Ostfront verwundet und gerät letztendlich in russische Kriegsgefangenschaft. Er kehrt 1948 »ausgezehrt« und in schlechtem Zustand aus der Gefangenschaft zurück. Nachdem sich seine erste Frau (die er während des Krieges heiratet und mit ihr bereits ein Kind hat) getrennt hat, lernt er seine zweite Frau (die Mutter von Frau Vogel) kennen und wird von ihrer Familie auf dem Bauernhof gesund gepflegt. Er vertritt bis zu seinem Tod 1981 antisemitische und nationalistische Positionen. Frau Vogel beginnt sich während ihrer späten Schul- und ihrer Studienzeit für Politik zu interessieren. Vor allem durch ihr Studium und durch den Einfluss der politisierten Studentenschaft beginnt eine intergenerationelle Konfrontation des Vaters mit dem Thema Nationalsozialismus. »Es war, es fing nie an, höchstens meine kritische, die fing dann natürlich so mit in meiner Oberstufe, Gymnasium und Studium an. Eigentlich Studium richtig, denn als ich dann auch mit Politik und dann also wirklich, ja, mehr kritische Fragestellung stellte. Das war dann, ja, Mitte der Siebziger, ich hab ja in der heißen Zeit, in den Nach-68ern studiert.« (W35-1: Z. 1196 ff.)

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In der Auseinandersetzung mit den Eltern beschränkt sich Frau Vogel fast ausschließlich auf den Vater. Die Mutter wird nur einmal in Verbindung mit dem Nationalsozialismus erwähnt: »Naja meine Mutter, wie gesacht ja, Drittes Reich, dieses BDM gehörte dazu wie heute Pfadfinder, oder so was, so Engagement mit mit, aber sie wollte nicht also auch das Politische, das lag ihr net, so gesehen.« (W35-1: Z. 408 ff.) Frau Vogel verdeutlicht, dass die BDM-Mitgliedschaft der Mutter (»Sie war keine Führerin, irgendwie aber so ’ne Unterführerin« Z. 315) keinesfalls ideologische Gründe hatte. Auch sonst wird die Mutter durchgehend als moralisch integre Frau dargestellt, die »menschliche Qualitäten« schätzt und von den Schrecken des Krieges in ihrer ländlichen Heimat nichts mitbekommen hat. Ganz anders sieht es zunächst im Bezug auf den Vater aus. Dieser wird von Frau Vogel als eindeutig »rechts« und »deutsch-national« (W35-1, Z. 96) beschrieben. Als Kriegsmotivation des Vaters vermutet sie sogar den Wunsch nach einem eigenen Gutshof im Zuge der »Osterweiterung«: »›Wir führen den Krieg um unsern deutschen Volke Lebensräume im Osten zu schaffen, oder zu erweitern‹ oder wie auch immer, und da waren ja riesengroße, ja Gebiete mit vielen großen Gutshöfen und das war der Traum meines Vaters. So ein Teil zu haben, zu führen [...].« (W35-1: Z. 116 ff.) Der Vater ändert seine rechte Überzeugung auch nach dem Krieg nicht. Im Gegenteil beharrt er auf seinem Nationalismus: »Wie gesagt, war er total total rechts (lacht). Hat auch mal NPD gewählt« (Z. 850). Den Höhepunkt findet der Tochter-Vater-Konflikt in der Äußerung der »kritischen« und polarisierenden Fragen: »Wir waren sehr links und natürlich alles das was im Dritten Reich war ›Wie konntet Ihr?!‹ und ›idiotisch‹ und mein Vater so’ne Karriere da, in Anführungszeichen. Und war nach wie vor mit Bundeswehr und Uniform, all so was fand er toll und ich [ahmt Würgereiz nach]. Naja und ›Warum habt Ihr?‹, ›Warum konntet Ihr?‹ und überhaupt und auch Juden, weil er da auch immer teilweise solche Sprüche losließ und und und und ja.« (W35-1: Z. 556 ff.)

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Sie stellt in dieser Sequenz erneut die Einstellung des Vaters (Karriere während des Nationalsozialismus; findet Bundeswehr toll; lässt »Sprüche« gegen Juden los) und ihre eigene Position (»sehr links«) dar. Die plakativen Fragen und Kommentare verdeutlichen, dass Frau Vogel auf Provokation und nicht auf Antworten aus war. Diese Provokation ist am pubertären Charakter der Kommentare und Gesten erkennbar: »idiotisch« und »ahmt Würgereiz nach«. Die Brisanz, aber eben auch, dass es tatsächlich zu keiner gezielten Aussprache und Auseinandersetzung kam, verdeutlicht folgende Stelle: »Ich hab dann auf der politischen Ebene dann mit ihm auch mit der, damals Siebziger Jahre kam noch die ganze Antiterrorgeschichte mit dazu. Mehr auf der Ebene dann diskutiert und das und das Nationalsozialistische war dann eher ich sag mal eher ausgelassen, weil dann, dann wärs zur Explosion gekommen.« (W35-1: Z. 1481 ff.). Das Nationalsozialistische wurde »ausgelassen«. Zu diesem Zeitpunkt sieht sie sich in der politisch korrekten Position, aus der heraus sie den Vater, von einem moralisch überlegenen Standpunkt, mit ihren rhetorischen und provozierenden Fragen attackiert. Direkt im Anschluss an diese Sequenz markiert Frau Vogel den Wendpunkt im Verhältnis zum Vater: »Gut, wir ham also des geschafft manchmal vernünftig miteinander reden zu können (lacht). Vor allen Dingen weil er, wie er dann älter wurde, ich auch etwas älter wurde, dass wir dann wirklich doch auch vernünftig miteinander geredet haben, da hat er son paar Geschichten auch erzählt, denn er selber hat gelernt, das differenzierter zu sehen im Laufe der Zeit und dann sich auch zu, ja zu reflektieren, möcht ich gern mal sagen warum er persönlich solche Affinitäten, zum Beispiel jetz gegen Juden hatte.« (W35-1: Z. 562 ff.) Sie wird sozusagen erwachsen und provoziert ihren Vater nicht mehr – er wird älter und beginnt zu »reflektieren«. Die Reflektion des Vaters bedeutet allerdings keine Einsicht oder Abkehr von alten Weltbildern, sondern einzig die Suche nach dem Ursprung bestimmter Haltungen. Er bleibt also Antisemit und Nationalist und äußert sich dementsprechend weiterhin abwertend gegenüber Israel und Juden und leugnet sogar den Holocaust.

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»Die Konzentrationslager wurden ja entdeckt indem die Amerikaner und die Russen praktisch vorgerückt sind und hinterher so gesehen interpretiert ›was hat da stattgefunden‹. Dann müssen die Amerikaner das wohl filmisch aufbereitet haben. Das hat meinen Vater total gestört. Weil sein Bild noch mehr zerstört worden ist, also nicht nur sein eigenes, sondern es ist auch noch mehr. Und da hat er gesagt: ›Also das das kann so net stimmen, das interpretieren die rein! Das stimmt net. So und so viele Millionen gabs ja überhaupt net‹ und und und und und.« (W35-1: Z. 1428) Durch die »Reflektion« erklärt er der Tochter, warum er Antisemit ist. Das Verhalten von Frau Vogel ändert sich von konfrontativ zu verständnisvoll. »Sagt er ›ja‹, als deshalb warum er nicht mehr in Eisfeld lebte, sondern aufm Dorf leben musste, bei seiner Mutter und der Familie weil ein Jude, der war Hausbesitzer, wo seine Eltern lebten, also wo die Wohnung praktisch seiner Eltern war, und die ham die rausgeschmissen. Ne, der Vater war im Krieg, der Vater war im Ersten Weltkrieg und die Mutter mit den zwei kleinen Kindern, die hat der auf die Straße gesetzt, aus welchen Gründen, keine Ahnung, aber auf jeden Fall war das ein riesen, ja, man setzt eine Mutter mit zwei kleinen Kindern net auf die Straße. Nur weil ich weiß net was los war, keine Ahnung. Es muss nix schlimmes gewesen sein. Und das war, und der war Jude. Und deshalb sind Juden jetz alle schlecht. So gesehen, ja? Und das zog sich dann, dann kam dann so, sagen wir mal, die Hetze mit dazu, das zog sich dann so durch. Und solche, ja, persönlichen, eigentlich unerheblichen, hätte auch, was weiß ich, n Deutscher sein können, ja? Der sie rausschmiss, ja? Aber nein, es musste dann natürlich ein Hausbesitzer jüdischen Herkunfts gewesen sein, die dann also sowas machen und das war .. Aber er hats dann irgendwann reflektiert und hat wahrscheinlich ›Ah, daher kommt eigentlich mein persönlicher‹, er hat dann schon fast gesagt Judenhass. ›Dass der, er hat mich, er hat meine Mutter, unsere Mutter, hat er praktisch mit uns als kleine Kinder hat der auf die Straße gesetzt, macht ma net so, und der Vater war im Krieg und kämpfte für uns, für unser Vaterland‹ [lacht, ironischer Unterton] und da kam diese Geschichte natürlich dann wieder hoch.« (W35-1: Z. 568 ff.) Frau Vogel kann nach dieser Geschichte nachvollziehen warum der Vater Antisemit ist. Sie erklärt zwar, dass der Hausbesitzer auch ein Deutscher

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hätte sein können, was sie allerdings nicht dazu bringt, die Geschichte ihres Vaters ad absurdum zu führen. Vielmehr bestätigt sie zunächst das moralische Fehlverhalten des Hausbesitzers: »aber auf jeden Fall war das ein riesen, ja, man setzt eine Mutter mit zwei kleinen Kindern net auf die Straße«. Sie wiederholt außerdem mehrmals, dass »Mutter und Kinder« auf die Straße gesetzt wurden, also das Element der Erzählung, das sie dramatisch und verwerflich erscheinen lässt. Sie heißt zwar den Antisemitismus des Vaters nicht gut, erklärt die Episode aber zum nachvollziehbaren Startpunkt in der Entwicklung seines Antisemitismus. Auf das Fehlverhalten des jüdischen Hausbesitzers folgt die kuriose Schlussfolgerung »Und deshalb sind Juden jetz alle schlecht«, dann kam »die Hetze mit dazu, das zog sich dann so durch«, und so entstand in einer von Frau Vogel selbst wiedergegebenen Kausalkette, der Antisemitismus des Vaters: »er hat dann schon fast gesagt Judenhass«. Diese Erzählung erweckt also den Anschein, als könnte man Antisemitismus tatsächlich mit einer Ursprungshandlung eines Juden in Verbindung bringen und erklären.11 In zwei weiteren Szenen äußert Frau Vogel, trotz kontinuierlicher politischer Differenzen, Verständnis für die Sympathien des Vaters und Großvaters (mütterlicherseits) gegenüber dem Nationalsozialismus und führt diese auf ein Ordnungs- und Sicherheitsbedürfnis zurück: »Er war so gesehen, sacht er, letztendlich kein Nationalsozialist, aber er war deutsch-national, also Vaterland und ja Ordnung und die Frauen sollen in in Schutz sein und das war wohl im Dritten Reich gegeben, also das da wirklich, jeder hatte Arbeit, die Leute waren ja wieder voller, voller Lebensmut.« (W35-1: Z. 94 ff.) Die Unterscheidung des Vaters zwischen Nationalsozialismus und deutsch-national wird als gültige übernommen, trotz der positiven Bezugnahme auf die ›Errungenschaften‹ des »Dritten Reiches«. Ähnlich zeigt sich das Verständnis gegenüber dem Großvater: »Äh er war kein Nationalsozialist, war aber ähnlich struktu-, net ganz so schlimm wie mein Vater, aber ähnlich, dass es eben darum ging dass ’ne gewisse Ordnung da ist, dass man wieder, was weiß ich, hat 11 | Die Behauptung, dass die Juden selbst am Antisemitismus und ihrer Verfolgung Schuld seien oder eine Mitschuld tragen, ist Teil einer klassischen Täter-OpferUmkehr und somit antisemitisch (vgl. Rensmann 1998).

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ja drei Frauen, also vier Frauen für vier Frauen hat er gesorgt, seine Schwiegermutter, seine Frau (lacht) und seine drei! Töchter – fünf Frauen – drei Töchter, also nur mal so jetz von von Sicherheit und was jetz von den Erzählungen her haben die wirklich Angst gehabt was, ja wie soll ich sagen, vor irgendwelchen, ja, Überfällen, oder oder dass es eben die Frauen nicht sicher auf der Straße gehen konnten oder so, also das wurde mir immer wieder .. erzählt.« (W35-1: Z. 319 ff.) Zu Beginn beider Szenen steht eine Distanzierung: Weder Vater noch Großvater waren Nationalsozialisten. Selbst der Vater – von dem sie sagt er sei »deutsch-national«, »total rechts«, habe auch mal »NPD gewählt«, der für die »Gewinnung von Lebensraum im Osten« ist und sich deutlich antisemitisch äußert (und dabei ihr zufolge selbst von »Judenhass« spricht) – ist »kein Nationalsozialist«. Für die Motivation der Beiden seien, laut Frau Vogel, viel eher altruistische Absichten verantwortlich: »Schutz und Sicherheit« für die Frauen, Arbeit für alle und glückliche Menschen (»voller Lebensmut«). Auch dieses Argument wird von ihr verständnisvoll und unhinterfragt akzeptiert: »das war wohl im Dritten Reich gegeben«. Das die Realität des »Dritten Reichs« einem Großteil der Menschen gerade keine »Sicherheit«, »Ordnung«, »Schutz« und »Lebensmut« bot, scheint von ihr – auch rückblickend – ausgeklammert zu werden. In ihrem Erklärungsmodell kann sie allerdings beste Absichten unterstellen, da die Eltern nicht absehen hätten können, was passieren würde: »Und wie gesacht weil die, des waren keine, sind keine keine studierte Familie, oder keine studierten Familienmitglieder, die da von daher wurde es auch nicht jetzt also politisch, ja, oder oder kulturell oder literarisch oder sowas in Frage gestellt, davon hat se überhaupt nix mitgekriegt, auch net was weiß ich jetzt, irgendwelche Künstler die ja schon recht früh in ihren Werken teilweise, also die die Kehrseite des NS-Reiches dargestellt haben« (W35-1: Z. 884 ff.). Zusätzlich wurde man dann noch mit Propaganda »abgelenkt«12 und man habe nichts »in Frage stellen« können, von dem man nichts wusste. 12 | »Die Wochenschauen, die dann ja letztendlich gefärbt waren, das war ja eigentlich erst in den dreißiger, ja oder sagen wer mal Ende der Dreißiger Jahre, wo auch die deutsche Filmindustrie gefordert worden is, jetz von Hitler-Regime. Und dass die Leute auch wirklich, sagen wer mal, abgelenkt werden, und dann wurde vorher natürlich noch Wochenschau reingedröhnt. Dann, was weiß ich, in den Filmen was

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An anderer Stelle spricht Frau Vogel allerdings davon, dass die Eltern im alltäglichen Leben doch etwas mitbekommen hätten: »Und auch teilweise kritisch ist vielleicht zu übertrieben da wird dann meine Mutter noch mehr sagen können. Auch was dann wenn sie gemerkt haben, dass da, dass Nachbarn nicht mehr wiedergekommen sind, was allerdings wohl erst dann Ende der 30er Jahre der Fall war, dass dann also jüdischer Herkunft dann die Menschen weggingen, oder wenn dann irgendwelche Behinderten da waren, die dann auf Kur gekommen sind und dann nicht wiedergekommen sind oder so was.« (W35-1: Z. 383 ff.) Sie deutet eine mögliche kritische Haltung der Eltern an und geht sogar noch weiter: »Also politisch warn se beide Familien im Grunde genommen jetz nicht irgendwie, weder in die eine noch in die andere Richtung sehr aktiv. Man sagt jetzt vielleicht, was weiß ich, nich ›Mitläufer‹, aber ›Mitläufer‹ is auch zuviel eigentlich gesagt. Also schon ne Art, also ne kleine Distanz, sag ich mal so.« (W35-1: Z. 395 ff.) Auf der einen Seite stellt sie die Familie als Sympathisanten mit besten Absichten dar, die von »nichts« gewusst hätten; und auf der anderen Seite seien sie nicht einmal »Mitläufer«, sondern hätten eher »Distanz« zum Nationalsozialismus gehabt und hätten von »Behinderten« und Menschen »jüdischer Herkunft« gewusst, die verschwunden seien.13 Dieses diffuse und ambivalente Bild der Famile bestätigt sich in der Darstellung des Vaters. Auch hier gibt es zwei Seiten: zum einen die politischen Differenzen zwischen Frau Vogel und ihrem Vater, zum anderen anderes gezeigt worden is. Die Unterhaltungsbranche. Ja, und das is, ja, man selber überhaupt net auf die Idee kam, dass man überhaupt was in Frage stellt, das überhaupt was schlechtes sein könnte« (W35-1, Z. 719 ff.). Sie vergleicht diese Situation mit den schlechten und manipulierten Informationsmöglichkeiten in China. 13 | Noch konkreter wird es in folgender Erzählung: »Und eine Geschichte, mein Großvater mütterlicherseits ging angeln und wohl als in Wuppertal die Synagoge brannte .. hat er, is er an diesem Morgen dran vorbeigefahren. Sacht meine Mutter da würd sie sich noch heute dran erinnern, da kam er total verstört nach hause, hat gesagt: ›Also, wir machen jetz überhaupt nix, da is irgendwas ganz schlimmes, ganz schlimmes in Gang, die Synagoge brennt.‹« (W35-1: Z. 401 ff.). Der Großvater erlebt selbst ein Pogrom mit und versteht auch die Tragweite: »ganz schlimmes in Gange«. Trotzdem oder gerade deshalb fordert er die Familie auf, nichts zu tun.

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ihr Verständnis für sein Verhalten. So ist ihr Vater – der, laut Frau Vogel, selbst als Soldat ganz »korrekt« und »human« gewesen sei und »nie geschossen« hätte (Z. 1116 ff.) – auch eine tragische Figur, da er aufgrund verschiedener Kriegserlebnisse viel zu erleiden gehabt hätte. Zunächst sei ihr Vater während des Russlandfeldzugs angeschossen worden und fast an den Verletzungen gestorben. Er sei danach in russische Kriegsgefangenschaft geraten, aus der er erst 1948 ausgezehrt, »stinkend« und »verfloht« zurückgekehrt sei. Die Erfahrungen dieser Zeit habe er nicht verarbeiten können und leide seither an Schlafproblemen und Alpträumen. Frau Vogel selbst diagnostiziert bei ihm ein »posttraumatisches Belastungssyndrom« (Z. 148 ff.). Das Verständnis gegenüber dem Vater schlägt hier in starke Empathie um, da sie davon ausgeht, dass Traumata an die nächste Generation weitergegeben werden (»denn es gibt auch Untersuchungen dass diese Traumata weitergepflanzt werden«: Z. 1680). Sie bezieht dieses Phänomen nicht nur auf sich, sondern auf ihre gesamte Generation: »Meine Eltern jetzt, die letztendlich auch solche Traumata in sich tragen. Die das auch in gewisser Weise auch jetz auf mich und meine Generation auch, [...] ja, wir haben auch damit noch zu tun (lacht) von der psychischen Ebene her« (W35-1: Z. 726 ff.). Aus dieser empathischen Position hinsichtlich der Kriegstraumata, entwickelt sie ein generelle Kritik am Krieg: »Es war damals net viel anders wie heut’ auch. Letztendlich Krieg macht uns Menschen ja kaputt« (W351: Z. 151 f.). Die Konsequenz die Frau Vogel aus dieser Überlegung zieht ist ein Vergleich bzw. eine Relativierung deutscher Verbrechen. Es gibt keine spezifischen, sondern nur kategorische Kriegsverbrechen. Sie spart die Deutschen weder aus, noch hebt sie sie hervor, sondern stellt sie mit anderen gleich. »Vergewaltigungen passieren, gehören auch zum Krieg, gehören auch nach’m Krieg, und da werden auch damals die Amerikaner nicht anders gewesen sein, da waren auch die Deutschen in in in russischen Ländern ja net anders. Also das is des, ja, ich will das net net beschönigen, oder entschuldigen, aber des is einfach ’ne Tatsache.« (W35-1: Z. 337 ff.) Sie bezieht diese Gleichstellung nicht nur auf die Zeit des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg, sondern durchaus auch auf aktuelle

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Krisen. So vergleicht sie die Internetzensur und Informationspolitik in China mit der Propaganda der Nazis und die Praxis der USA nach 2001 implizit mit den Konzentrationslagern: »Was is denn in Guanta Gua .. wie heißt das Gefangenenlager der USA? Guantanamo passiert, was machen die denn da? Was passiert was weiß ich da und da und da und da und da und da. Auch heutzutage.« (Z. 1316 ff.). Sie spricht den Vergleich mit dem Nationalsozialismus nicht aus, deutet ihn aber an: »was machen die denn da«, »Auch heutzutage«. Außerdem ließe sich die Liste vergleichbarer Ereignisse anscheinend beliebig erweitern (»da und da und da und da und da und da«). Über ihre ›Empathie-Vergleichs-Ebene‹ setzt Frau Vogel letztendlich den Opferstatus von KZ-Überlebenden und deutschen Bombenopfern in Relation. »Ich will das nicht vergleichen, also Gefangenschaft und KZ, ist wirklich ganz hoch schlimm, ja, potenziert schlimm. Aber auch ne Bombennacht zu überstehen ist, denke ich, in Dresden oder sonst irgendwo, es kann für einen Menschen genauso schlimm sein. Denn wie gesagt, da sind diese diese Studien da, wie tief das bei nem Menschen, ja praktisch ne Verletzung oder ein Trauma verursacht, kann man is von Individuum zu Individuum ganz verschieden. Und was dieser Mensch eben, ja daraus auch dann macht, und das ist auch wichtig, denn letztendlich bei den normalen Zeitzeugen, wie er auch bei den Gefangenen und KZ-Überlebenden, was machen die da draus. Vielfach wenn man sie hört, sage ich mal, ist da wirklich ne, ja, dass diese Schuldzuweisung noch betonierter wird. Es gibt andere, wo ich sage ›Mensch, Hut ab!‹ Die erzählen das wie es war, ganz wichtig, auch zum Beispiel wie sie überlebt haben, was ich vorhin andeutete, wenn die nen Chor zusammen gemacht haben oder wenn die Gedichte geschrieben haben oder wenn sie irgendwas gemeinsam gemacht haben.« (Z. 1640 ff.) Sie behauptet zwar zunächst »KZ« und »Bombennacht« nicht vergleichen zu wollen, kommt dann aber doch zu dem Schluss, dass letzteres »genauso schlimm sein [kann]«. Frau Vogel konstruiert hier also für einen Deutschen, der die Bombennächte in Dresden miterlebt hat, denselben Opferstatus wie für einen Holocaust-Überlebenden. Als Beleg für die Authentizität dieser Behauptung bezieht sie sich erneut auf Traumastudien. Relevant scheint für sie vor allem zu sein, wie man mit dem Erlebten

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umgeht, »was man daraus macht«. Für Frau Vogel gibt es offensichtlich nur zwei Arten dieses Umgangs. Den einen Weg respektiert sie (»Hut ab!«): wenn die Opfer nicht über die Verbrechen reden, sondern über den ›positiven‹ Teil, nämlich ihr Überleben und wie sie dies angestellt haben. In diesem Zusammenhang nennt sie als Beispiele angenehme Tätigkeiten wie »Chor zusammen gemacht« oder »Gedichte geschrieben«. Die andere Art des Umgangs, die laut Frau Vogel häufiger auftaucht (»vielfach«), ist eine »Schuldzuweisung«. Eine bestimmte »Schuldzuweisung« scheint ohnehin vorhanden zu sein (»diese«), die durch das Verhalten der Überlebenden noch »betoniert« wird. Ihr Unverständnis über und ihre Kritik an den »Schuldzuweisungen« ist einer der zentralen Aspekte in Frau Vogels Interview. Die »Schuldzuweisungen« würden ihr auch in den Medien begegnen. Sie erklärt, dass sie Fernsehserien mit »ernsten Themen«14 meidet, da sie die »Schuldfrage wieder aufkocht«: »Nee, das hab ich mir ganz bewusst net angekuckt, weil mir das zu aufreibend, also zu kitschig.. mag das net. Auch teilweise überhaupt diese Serien kuck ich sehr sehr ungern und wenn es dann noch so ein ernstes Thema hat, da find ich, da wird die Schuldfrage wieder aufgekocht bis zum geht-nicht-mehr, dass es wirklich überläuft, dass die Emotionen angesprochen werden, dass die Menschen die zugucken überhaupt net mehr denken können, und überhaupt net einschätzen können. Und is auch es hilft net zur Differenzierung.« (W35-1: Z. 1573 ff.) In ihrer Interpretation manipuliert die Serie die Menschen durch zu viel »Emotion«. Sie fühlt sich, durch diese Serie und ähnliche Produktionen, bezüglich der »Schuldfrage«, um in ihrer Metaphorik zu bleiben, ›übersättigt‹ (»aufgekocht bis zum geht-nicht-mehr«). Die Emotionalität verhindert ihrer Ansicht nach eine differenzierte Beschäftigung mit dem Thema. Dementsprechend erklärt sie, warum die »Schuldzuweisungen« falsch sind: »Aber was, wie die Menschen tatsächlich damals lebten und was die, ja wie die lebten und wie wichtig oder unwichtig ein politisches Regime ist, oder sein kann, das das hat meine Sicht so gesehen geprägt. Mir war es nie fremd, mir war die Zeit nicht fremd, mir waren also die 14 | Sie bezieht sich auf die vierteilige TV Produktion »Holocaust – die Geschichte der Familie Weiß«, die Ende der 70er Jahre in Deutschland ausgestrahlt wurde.

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so wie die damals lebten net fremd und es hat mich hat mich eigentlich auch immer interessiert wie das war. Und auch und damit auch diese totale Ablehnung oder auch eine totale Schuldzuschreibung der Menschen: ›Du bist schuld und ihr müsst jetzt und und und‹. Also das was ja oftmals heute ja immer noch passiert, von welchen gegensätzlichen Gruppen auch immer, dass ich da sage: ›So kann das nicht sein. So könnt ihr das net machen.‹« (W35-1: Z. 907 ff.) »Schuldzuweisungen« aus heutiger Sicht würden sich also aus einer Unkenntnis bezüglich der historischen Situation bzw. Lebensumstände heraus erklären. Man müsse sich mit den historischen Bedingungen beschäftigen, um das Verhalten zu verstehen (siehe oben: die Eltern wollten »Sicherheit«, »Arbeit« etc.). Außerdem wären nicht alle Täter (Vater war »humaner Soldat«, der »nie geschossen« hat), deshalb könne es keine »totale Schuldzuschreibung« geben (siehe »Differenzierung«). Frau Vogel schreibt sich selbst dieses authentische historische Wissen zu: »Mir war es nie fremd, mir war die Zeit nicht fremd«. Sie beschreibt eine Kontinuität der »Schuldzuweisungen« bis in die Gegenwart, geäußert durch »gegensätzliche Gruppen«. Wer u. a. zu diesen »Gruppen« gehöre, erörtert sie etwas später: »[...] es is ja auch n heißes Thema, das im Grunde genommen jüdische Vereinigungen heutzutage immer noch darauf pochen [...]« (Z. 1006). Und etwas detaillierter: »Ja, es is ja letztendlich. Deutschland, ich sags jetz mal sehr plakativ. Teilweise weltweit, teilweise von den jüdischen Vereinigungen und teilweise macht das Deutschland selber, fühlt sich ja immer noch ich sach ma, ja, schuld, schuldig. Schuldig is für mich sowieso n moralischer Begriff, der net unbedingt da hin gehört. Denn er bringt auch nix weiter. Es bleibt praktisch alles beim Alten. Verantwortung zu übernehmen is eine andere Geschichte. Und wie kann ein Mensch und wie kann eine Nation Verantwortung übernehmen. Heiße, große Frage. Weiß ich auch net, letztendlich müsste das in der Gesellschaft diskutiert werden. Dass es zu nem auch, zu nem, wie soll ich sagen, zum vernünftigen Völkermiteinander wird. Denn es geht net, wenn sie sagen ›Also wir Juden sind im Dritten Reich verfolgt, vergast, versonstwas worden‹ – was sehr sehr sehr schlimm ist für die einzelnen Menschen – aber deshalb, ich sags jetz mal, können wir jetz den Palästinensern gegenüber was weiß ich die Mauer und ›ihr dürft uns nicht kritisieren‹. Denn was da passiert, auch mit der Wasserversorgung,

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des kann man sich hier gar net vorstellen, was in den Ländern da passiert.« (W35-1: Z. 1024 ff.) Die Schuldzuweisung erfolgt also durch »Deutschland selber«, »von den jüdischen Vereinigungen« und »weltweit«. Auffällig ist, dass trotz des Hinweises auf »weltweite« Vorwürfe, zwei »Gruppen« separat genannt werden. Besonders erwähnenswert und auch unverständlich scheint ihr, dass sich ›der‹ (aus ihrer Sicht zu unrecht) beschuldigte, zumindest teilweise selbst beschuldige. Bei der zweiten »Gruppe« fällt auf, dass sie nicht in das nationale Konstrukt (»Deutschland«, »weltweit«) der Ankläger passt. Die »jüdischen Vereinigungen« werden institutionell und nicht national oder homogen-global eingeführt. Sie spricht auch nicht von speziellen Organisationen, die sich in irgendeiner Hinsicht mit dem Nationalsozialismus oder dem Holocaust/der Shoa beschäftigen, sondern verallgemeinernd von »jüdischen Vereinigungen«. Im Weiteren disqualifiziert sie den Begriff »Schuld« mit der Begründung, er sei unpassend, weil »moralisch«. Moral verursache einen Stillstand (»bringt auch nix weiter«)15 in der Diskussion zur »Schuld«. Sie hat bereits zuvor (siehe oben) erklärt, dass eine pauschale »Schuldzuweisung« einer historisch korrekten Aufarbeitung im Weg stehe. Eine Diskussion zur ›richtigen‹ und nicht moralischen Übernahme von Verantwortung und einem daraus resultierenden »vernünftigen Völkermiteinander« werde allerdings von »den Juden« verhindert. »Die Juden« würden, laut Frau Vogel, den Holocaust (»sind im Dritten Reich verfolgt, vergast, versonstwas worden«) als ›Schutzschild‹ benutzen – in dem sie die den Rest der Welt, aus einer angeblich moralisch überlegenen Position heraus, erpressen würden: »ihr dürft uns nicht kritisieren« – um ihr Verhalten gegenüber den »Palästinensern« zu rechtfertigen. Zwar deutet sie nur an, was »die Juden« mit den »Palästinensern« machen (»Mauer«, »Wasserversorgung«), allerdings erweckt sie durch ihre Formulierung den Verdacht, dass dort Schlimmeres passieren würde, als das was »den Juden« angetan wurde. Was »den Juden« passiert ist, kann sie benennen (»verfolgt, vergast, versonstwas worden«), was dagegen »in den Ländern passiert« (es ist unklar was sie meint: bei »den Juden«, »Palästinensern«?), das übersteigt sogar die Vorstellungskraft: »des kann man sich hier gar net vorstellen«. 15 | Auch hier geht es wieder um fehlende »Differenzierung« (siehe »Holocaust-Serie« und die von ihr beklagte Emotionalität).

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Frau Vogel stellt sich bereits beim telefonischen Erstkontakt als »68erin« vor. Sie gibt, im Bezug auf »68«, während des Interviews keine politischen Aktivitäten an, oder Gruppen, in denen sie mitgewirkt hat. Allerdings entwickelt sie ihre Selbstcharakterisierung aus einem kollektiven »Wir« heraus (»wir waren sehr links«). In ihrer Generationenkonstruktion sieht sie ihre Studienzeit (»der heißen Zeit, in den Nach-68ern«) als Ausgangspunkt für »kritische« Fragen zum »Dritten Reich«, mit denen ihre Generation die Eltern konfrontierte: »Wie konntet ihr?« Diese Konfrontation wird allerdings zu keiner gezielten Nachforschung ausgebaut. Sie entwickelt im Gegenteil mit zunehmendem Alter eher Verständnis für den Vater. Frau Vogel übernimmt im Rahmen ihrer Selbstpositionierung als »68erin« in erster Linie die gängigen Muster eines kritischen und konfrontativen Habitus auf familialer Ebene. Dementsprechend kommt es zwischen Frau Vogel und ihrem Vater zu erheblichen politischen Auseinandersetzungen. Der Konflikt beschränkt sich weitestgehend auf Provokationen gegenüber dem Vater. Trotz andauernder politischer Differenzen, entwickelt sie ein empathisches Verständnis für den Vater. Dabei werden vor allem die Leiden des Vaters und seine ›guten Absichten‹ betont. Diese verständnisvolle Haltung weitet sie zu einer Empathie gegenüber »allen« Kriegsopfern aus, zu denen sie eben auch traumatisierte Deutsche zählt. Sie vertritt eine verallgemeinerte Kritik am Krieg und konzentriert sich vor allem auf individualpsychologische Folgen des Krieges. Vermittelt über die Egalisierung von Kriegsverbrechen relativiert sie eine deutsche Schuld und weist folglich jegliche Schuldzuweisungen (aus ihrer Sicht übermittelt durch »die Juden«) an Deutschland ab. In diesem Zusammenhang kommt es zu antisemitischen Äußerungen von Frau Vogel. Sie beschuldigt »die Juden«, den Holocaust im nachhinein als Druckmittel für ihre Zwecke zu nutzen (siehe ihre Ausführungen zur »Palästinenser-Politik« Israels), außerdem spricht sie im Bezug auf »Forderungen« und »Schuldzuweisungen« ausschließlich von »den« Juden und »jüdischen Vereinigungen« (vgl. zu diesen Elementen antisemitischer Semantik auch den Beitrag von Öchsner in diesem Band S. 109 ff.). Der zentrale Aspekt bei Frau Vogel ist ihre Konstruktion einer moralisch überlegenen Position aus ihrer kollektiven Identität als »68erin« heraus. Diese ist die Grundlage jeglicher Kritik und Empathie bei Frau Vogel (von der Provokation des Vaters, bis hin zur ihrer antisemitischen Kritik Israels).

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3.3 Zusammenfassung der Einzelfälle

In einer kurzen Zusammenfassung werde ich noch einmal einige signifikante Aspekte hervorheben, die in den zwei Einzelfallrekonstruktionen auftauchen und im Verhältnis zu Identitätskonstruktionen stehen. Für eine genauere Typisierung sind zwar nicht genug Fälle untersucht worden, allerdings lassen sich bereits bei den zwei vorliegenden Beispielen Muster erkennen, die durchaus anschlussfähig sind an die von Harald Welzer et al. (2002: 44 ff.) entwickelten Tradierungstypen (Heroisierung, Viktimisierung, etc.). Der Ausgangspunkt bei den zwei Interviewten ist eine Selbstpositionierung durch eine starke Orientierung an der kollektiven Identität der »68er«-Generation. Die Selbstzuschreibung und Identifikation verläuft sowohl über die Benennung einer konkreten Beteiligung an Demonstrationen und Gruppen, als auch über einen abstrakten und rein kommunikativen Kollektivbezug (»wir waren sehr links«). Gemeinsam ist den zwei Fällen außerdem, dass das Thema Nationalsozialismus bzw. eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus (egal wie diese letztendlich aussieht) einer der zentralen Bezugspunkte für ihre »68er«Kollektivkonstruktion ist. Beide entwickeln eine Art moralisch überlegene Position, dessen Fundament die Übernahme der als politisch korrekt und kritisch markierten Interpretation der »68er« bildet. Das gilt vor allem für die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auf gesellschaftlicher Ebene. Dementsprechend findet sich in beiden Fällen ein mehr oder weniger starkes Engagement bezüglich einer Aufarbeitungs- und Aufklärungsarbeit. Auf familialer Ebene tauchen erste Unterschiede in der Art der Auseinandersetzung auf. Um die Unterschiede und spezifischen Eigenheiten besser fokussieren zu können, werde ich die einzelnen Fälle kurz noch einmal skizzieren: 1. Frau Walter trägt starke Konflikte mit der Mutter aus. Sie verbindet ihre »68er«-Konstruktionen und ihren Nationalismus zu einer Identität als »Deutsche 68erin«. Als Deutsche hat sie »Schuldgefühle«, die ihr ein »unbeschwertes Fahneschwenken« und einen positiven Nationalbezug nicht ermöglichen; als 68erin beschuldigt sie die Eltern und es kommt zu einer Aufarbeitung der Vergangenheit und somit aus ihrer Sicht zu einer »Verarbeitung« der »Schuld« und der »Schuldgefühle«. 2. Frau Vogel empfindet nach Streitigkeiten und wechselseitigen Provokationen Verständnis für die Einstellungen des Vaters. Daraus ent-

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wickelt sie verschiedene Rechtfertigungsstrategien für das Verhalten des (als »total rechts« beschriebenen) Vaters, die wiederum zu einer Relativierung führen und sekundär antisemitische Tendenzen aufweisen. Es fällt auf, dass neben der generationellen Identität als »68er« vor allem eine nationale Kollektivkonstruktion als identitärer Bezugspunkt dient (Walter und in Ansätzen Vogel). Als Fremdreferenz taucht außerdem ein sekundärer Antisemitismus auf (Vogel). Im Bezug auf die Relativierung von Verbrechen ist bemerkenswert, dass sie zwar in unterschiedlicher Intensität, zumindest aber in all den Fällen auftauchen, wo ein Verdacht auf mögliche Mittäterschaft (in der eigenen Familie) nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden kann – darüber hinaus sind die Relativierungen mit einem starken Nationalismus verknüpft. Es kristallisiert sich vor allem auch die Rechtfertigung bei Frau Vogel als deutliches Muster heraus. Bei Frau Walter hingegen wird kein eindeutiges Muster erkennbar, da es bei ihr zu einer tiefergehenden Auseinandersetzung kommt – bis hin zu sehr persönlich-emotionalen Konflikten mit der Mutter. Mit Blick auf ihren signifikanten Generationenbezug kann man bei Frau Walter ein Schema erkennen, das man am ehesten als kontinuierliche Normalisierung bezeichnen könnte: Sie kennzeichnet die Elterngeneration als schuldig und sieht sich selbst und ihre Generation (mit dem Wunsch auf einen positiven Nationalbezug) in der Verantwortung (»Schuldgefühle«) Aufklärung zu leisten, um der »jungen« Generation ein unbeschwertes Nationalgefühl zu ermöglichen. Es wird außerdem bei Frau Vogel deutlich, dass die kollektive Identität der »68er« (und der Zuschreibungen von Aufklärung im familialen Rahmen: »wie konntet ihr?« etc.) letztendlich von der sozialen Identität der familialen »Wir-Gruppe« überlagert wird (Umdeutung, Verklärung der Familiengeschichte). Die Kohärenz einer persönlichen Gesamt-Identität bleibt trotzdem gegeben, da die eigene Auslegung der Geschichte nicht als Umdeutung oder Verklärung wahrgenommen wird (siehe Opferschaft oder Heldenstatus der Eltern), sondern gerade deshalb entlang der als kritisch markierten »68er«-Position verläuft. Die Vermutung liegt nahe, dass die Selbstbeschreibung als »68erin« und damit die Konstruktion und vor allem der Bezug auf die kollektive Identität dazu dienen, die eigene Version der Familiengeschichte zu authentifizieren und zu legitimieren. Schließlich bietet das gerade auch durch den öffentlichen Diskurs geprägte Bild der »68er«-Generation als kritische Aufklärer und

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Ankläger, Schutz vor Verdacht an einer nachlässigen oder zweifelhaften Auseinandersetzung.

4. R ESÜMEE : D ISKURS

VS .

E INZELFALL

Bei einer Gegenüberstellung des Diskurses zu »68« und den Ergebnissen der Einzelfallrekonstruktionen fällt zunächst die Übernahme der gesellschaftlichen Konstruktion der Generation und der damit verbundenen Zuschreibungen auf. Das Bild der kritischen oder sogar konfrontativen Generation dient in beiden Fällen als eine Art Schablone für die Erzählung der eigenen Biographie. Da diese Identitätskonstruktion unabhängig von aktiver Beteiligung oder rein semantischer Positionierung verläuft, kann man mit den Worten Budes davon sprechen, dass »das ›Wir‹ der Generation [...] zu einem gefühlsmäßigen Teil des Ichs geworden (ist)« (Bude 1995: 39). So übernommen und in der eigenen Biographie fixiert, erfüllt das diskursiv geprägte Bild der »68er« eine bestimmte Funktion: 1. Es dient der Vergewisserung und Absicherung einer kritischen Position. Man ist Teil der Generation des »gesellschaftlichen Aufbruchs, der befreiend wirkte« (vgl. Watzal 2008) und wähnt sich dadurch als »Agent des Neuen« (vgl. Bude 1995). Diese Funktion taucht in beiden Fällen auf. Außerdem ist zu erkennen, dass die ›Wir‹-Konstruktion weitere Anschlußmöglichkeiten bietet: 2. Gerade dadurch, dass im Diskurs der zugeschriebene »gesellschaftliche Aufbruch« immer wieder in seiner Relevanz für die ›deutsche‹ Geschichte genannt wird, liegt die Vermutung nahe, dass die kollektive Identität der Generation leicht zu koppeln ist mit einem positiven Bezug auf nationale Identität. Die Kopplung bestätigt sich bei den zwei dargestellten Fällen, insbesondere bei Frau Walter. 3. Darüber hinaus kommt es zu einer Verknüpfung mit einer weiteren kollektiven Identität (bzw. einer Fremdreferenz), dem Antisemitismus (Benz 2004). Dieser wird u. a. durch die in Punkt 1. beschriebene exponierte Stellung legitimiert.

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Die drei Funktionen und Anschlussmöglichkeiten bedingen und beeinflussen sich gegenseitig (wie bereits in Punkt 3 angedeutet), was vor allem auch an den häufigen Relativierungen zu erkennen ist. Die Relativierungen tauchen meist in einem nationalistischen oder antisemitischen Kontext auf und werden mit der kritisch-moralisch überlegenen Position legitimiert. Diese Aspekte bieten also Anknüpfungspunkte und damit Einblicke in bestimmte soziale Selektivitätsmuster. Die ›Wir‹Konstruktion sowohl im Bezug auf die Generation, als auch auf die Nation und die biographische Verankerung innerhalb dieser Konstruktion, bedingt weit mehr als eine rein individuelle Selektion von Erinnerung. Vielmehr bedeutet die generationelle bzw. gesellschaftliche Rahmung bereits eine »Einschränkung des verfügbaren Selektionshorizonts« (vgl. dazu die Einleitung S. 13 ff.). 1. Frau Walter trägt (als einzige der untersuchten Fälle) starke Konflikte mit der Mutter aus (die sogar zu einem Kontaktabbruch führen) und bestätigt damit zunächst den Diskurs in der Behauptung eines familialen Bruchs. Allerdings wird bei ihr auch sehr stark die Instrumentalisierung des Generationenkonstrukts deutlich. Für ihren Wunsch nach einem positiven Nationalbezug ist ihre Form des »negativen Erinnerns« (vgl. Knigge/Frei 2002) unabdingbar. Außerdem setzt die Auseinandersetzung und entsprechend der Konflikt erst nach dem Tod des Vaters (Anfang der 90er Jahre) ein und endet, ohne weitere Nachforschungen zur Familiengeschichte, mit dem Tod der Mutter. 2. Frau Vogel deutet einen politisch motivierten Konflikt mit dem Vater an, der seinen Ausgangspunkt in der durch die »68er« angestoßenen Politisierung findet. Der Konflikt bleibt jedoch oberflächlich und dient lediglich einer Art pubertären Provokation. In der weiteren Erzählung verwandelt sich die Auseinandersetzung vom Konflikt über Verständnis bis hin zu einer Rechtfertigung des Vaters. Darüber hinaus dient der Status der kritischen »68erin« als Legitimation für ihre Relativierung von deutschen Verbrechen. Die biographische Erzählung der Interviewpartnerinnen belegt eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Nationalsozialismus (siehe Gedenkstättenbesuche, Aufklärungsarbeit in der Schule, Beteiligung an Demonstrationen etc.). Allerdings kommt es zu keiner eingehenden Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit

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der Eltern (im Sinne einer im Diskurs beschriebenen inhaltlichen Aufklärung, z. B. im Bezug auf eine mögliche Täterschaft der Eltern). Bis auf einige angedeutete Zweifel findet kein »Bruch« mit der Familie statt (mit Ausnahme der anfänglichen emotionalen Reaktion von Frau Vogel, der zur persönlichen Entlastung und nicht zur Aufklärung dient). Im Gegenteil, die Geschichte der Familie wird mit den nach Welzer (2002) üblichen Wendungen erzählt (Heroisierung, Viktimisierung, Rechtfertigung). Selbst Frau Walter, die noch am ehesten einen starken Konflikt mit der Mutter beschreibt, beginnt mit der Aufarbeitung erst nach dem Tod des Vaters und die Auseinandersetzung dient hauptsächlich der »Normalisierung« ihrer eigenen nationalen Befindlichkeit. Die Kontrastierung der familialen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus vor dem Hintergrund des diskursiven Generationenkonstrukts lässt zwei unterschiedliche Bilder erkennen. Einerseits das vom Diskurs konservierte Bild der »68er« als Ankläger und Aufklärer gegenüber Gesellschaft und Familie. Andererseits ist dieses Bild, bei den von mir untersuchten Fällen, nicht aufrechtzuerhalten. Vielmehr wird das konstruierte Bild von den Interviewten in die eigene Biographie übernommen. Es hat sich deutlich gezeigt, dass die familiale Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus von Angehörigen der »68er«-Generation und das entsprechende Bild im Diskurs nicht deckungsgleich sind.

Antisemitismus in familialen Erinnerungen an den Nationalsozialismus Florian Öchsner

1. E INLEITUNG Die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus steht seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland in wechselseitigem Verhältnis mit Antisemitismus: Einerseits soll durch die Erinnerung der NS-Verbrechen das Wiederauftreten von Antisemitismus verhindert werden, andererseits bietet dieses Erinnern Gelegenheit zur Artikulation antisemitischer Einstellungen. Bereits Anfang der 1950er Jahre hat eine Studie des Frankfurter Instituts für Sozialforschung die Abwehr von Schuld als zentrales Motiv für Antisemitismus nachgewiesen (Adorno 1997b/1955). Diese als »sekundärer Antisemitismus« bezeichnete Form der Erinnerungs- bzw. Schuldabwehr umfasst Rensmann zufolge einen besonderen »Motivationskomplex neuerer Judenfeindlichkeit« (Rensmann 1998: 231), die als »scheinbar legitime Meinung ›in der Mitte der Gesellschaft‹ geäußert werden kann« (Holz 2005: 56). Thomas Haury führt das Auftreten von Antisemitismus nach 1945 darauf zurück, dass Auschwitz »der ersehnten ›nationalen Identität‹ im Weg [steht]« (Haury 2006: 24). Der Wunsch nach einem positiven nationalen Selbstbild gehe deshalb häufig mit der Relativierung der deutschen Verbrechen und mit einer Schlussstrichforderung einher und rufe erneut Aggression gegen Juden hervor. Die aktuelle Antisemitismusforschung legt deshalb ihr Augenmerk zunehmend auf den Zusammenhang von antisemitischem Fremdbild und (nationalem) Selbstbild (vgl. Holz 2005: 10). Dieser Zusammenhang ist allerdings in der empirischen Sozialforschung bisher nur selten zum Ausgangspunkt von Analysen gemacht worden. Nach Werner Bergmann (2004: 220) besteht die empirische Soziologie des Antisemitismus zum größten Teil aus Einstellungsforschung ohne breitere theoretische Basis. Studien zur Rechtsextremismusforschung wie die von Birgit Rommelspacher (2006) und Carsten Wipper-

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mann et al. (2002) nennen Antisemitismus im Zuge der Betrachtung von rechten und rassistischen Einstellungen – ohne das Phänomen Antisemitismus ins Zentrum zu stellen. Hervorzuheben sind die Studien von Gabriele Rosenthal (1997a), die in Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern einen Überblick zum Antisemitismus im intergenerationellen Dialog und Feinanalysen dazu liefert, und damit das Verhältnis von Erinnerung und Antisemitismus ausführlich untersucht. Auch Harald Welzer et al. (2002) nehmen in der viel beachteten qualitativen Studie »Opa war kein Nazi« Antisemitismus als Element der familialen Erinnerung an den Nationalsozialismus in den Blick. Sie beschränken sich jedoch vor allem auf die Nennung von Stereotypen (und deren Tradierung). Der vorliegende Beitrag setzt sich mit antisemitischen Semantiken in intergenerationellen Familiengedächtnissen auseinander. Grundlage ist eine Analyse von Selbst- und Fremdbildern im Interviewmaterial, das im Rahmen des in diesem Band vorgestellten Forschungsprojekts (vgl. dazu »Feldzugang und Material«, S. 217 ff., sowie »Methodische Erläuterungen«, S. 227 ff.) erhoben wurde. Dabei wird auf Fälle zurückgegriffen, in denen sowohl Zeitzeugen als auch Angehörige der Kinder- und Enkelgeneration interviewt wurden. Die leitende Fragestellung für den vorliegenden Artikel lässt sich wie folgt ausdrücken: Welche aufeinander bezogenen Selbst- und Fremdbilder lassen sich bezüglich der im Interview vorfindbaren antisemitischen Äußerungen rekonstruieren? Welcher Umgang mit den judenfeindlichen Einstellungen von Familienmitgliedern zeigt sich im Rahmen der Interviews, und in welchen Kontexten ist die (Re-)Produktion antisemitischer Äußerungen eingebettet? Es wird nach der spezifischen Sinnstruktur der antisemitischen Semantiken im Material gefragt. Der wissenssoziologische Ansatz von Klaus Holz (2001) und Jan Weyand (2006; 2010) erscheint für das Material (bestehend aus Transkripten narrativer Interviews) und für die Fragestellung als adäquater theoretischer und methodischer Hintergrund. Mit Weyand lässt sich unter einer Semantik ein »relativ stabiles Deutungsmuster von Welt« (Weyand 2010: 71) verstehen. Semantik als kommunikationstheoretischer Begriff (vgl. Luhmann 1993) wurde in den letzten Jahren als Paradigma im Rahmen der Antisemitismusforschung eingeführt (vgl. Holz 2001; 2005; Weyand 2006; 2010; Globisch 2011). Die Semantik des modernen Antisemitismus unterscheidet sich von der des vormodernen Judenhasses. So geht es im Antisemitismus nicht

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um einzelne Stereotype oder Vorurteile gegenüber Juden, sondern um »einen Totalausschluss der Juden aus der menschlichen Welt« (Weyand 2010: 70). Vereinfacht kann man mit Holz vier Merkmale des modernen (nationalen) Antisemitismus feststellen: Dichotomie von Gemeinschaft versus Gesellschaft, die Personifizierung von Juden mit moderner Macht wie Geld und Medien, die Figur des Dritten (d. h. die Juden verkörpern im antisemitischen Denken die Negation binärer Ordnungsmuster) und die Täter-Opfer-Umkehr (vgl. Holz 2005). In den Analysen der vorliegenden Interviews soll nicht festgelegt werden, was als (manifester) Antisemitismus bezeichnet werden kann und was nicht, sondern es sollen Strukturelemente des Antisemitismus rekonstruiert werden. Anders etwa als in den Analysen von Holz (2001) und Globisch (2011), die Antisemitismus spezifisch in politischen Texten behandeln, tauchen die Weltbilder in narrativen Interviews weniger explizit und strukturiert auf. Die Interviewsituation liegt näher an der alltagsweltlichen Kommunikation, deshalb eignet sich das vorliegende empirische Material, Äußerungsformen des alltäglichen Antisemitismus zu rekonstruieren. Wichtiger Bestandteil dieser Narrationen sind die Konstruktionen von Wir-Gruppen (in der Abgrenzung zu Fremdgruppen). Da die zugrunde liegenden Deutungsmuster allerdings meist weniger zu geschlossenen Weltbildern verdichtet sind, als in politischen Texten, sind sie in Verbindung mit kommunikativen Formen und Strategien zu rekonstruieren; es werden deshalb Themenfelder und kommunikative Anschlüsse von antisemitischen Strukturelementen mitberücksichtigt werden.

2. FALLBESCHREIBUNGEN 2.1 »Ich muss ja auch heute noch sagen, machen die dasselbe ...«

Frau Kanther ist Jahrgang 1934 und zum Zeitpunkt des Interviews 73 Jahre alt. Sie verfügt als Akademikerin über einen hohen Bildungsgrad. Auffällig im gesamten Interview ist die fehlende Tradierung von Erzählungen und Zuschreibungen bezüglich der Eltern- und Großelterngeneration. Im Vordergrund stehen vielmehr autobiographisch geprägte Narrationen. Ausgangspunkt für die antisemitischen Sinnstrukturen im Interview mit Frau Kanther, bildet eine längere narrative Passage, in der sie über ihre Ausbildung und ihr anschließendes Studium spricht, in dessen Rahmen sie auch eine Studienreise nach Israel unternommen

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habe. Zu Beginn dieser Sequenz thematisiert sie den gesellschaftlichen Wandel und die studentischen Proteste Ende der 1960er Jahre: »Aber ich hab so die Anfänge von dieser außerparlamentarischen Opposition [...] Wir habens mitbekommen, wir haben uns auch schon auf die Gleise gesetzt und so, aber wir hatten eine sehr gute Hochschulleitung. . . « (W37-1: Z. 1221 ff.) Hier wird von Frau Kanther eine Selbstzuschreibung als oppositioneller Teil der Studentenbewegung eröffnet, die jedoch mit Verweis auf die Hochschulleitung, die »einfach schon die Reformen gleich durchgeführt« (ebd., Z. 1225 f.) habe, stark eingeschränkt wird. »Das war dann wieder so ne ... Periode, wo man reflektiert hat, aber eigentlich nicht so die Nazizeit. [mhm] ... Na, das ..... ja .... und Juden, natürlich auch, das kann ich vielleicht noch so abschließend sagen.« (W37-1: Z. 1236 ff.) Diese Bemerkung, man habe zwar reflektiert aber weniger »die Nazizeit«, überrascht angesichts der gängigen Selbstcharakterisierung als »68er« (vgl. Brunnert in diesem Band S. 71 ff.). Mit dem Verweis »und Juden, natürlich auch« folgt eine lange Sequenz über eine Exkursion nach Israel im Jahr 1967. Im Rahmen der Beschreibung der Exkursion wird ein manichäisches Bild der israelischen Sieger im Sechstagekrieg gezeichnet. Als junge Studentin, so berichtet sie, habe sie das Siegesgebaren in den israelischen Gastfamilien kaum ertragen können. »Aber es war für uns ein Schock, eigentlich .. diese Reise. Nicht von der Arbeit her! .. Was wir gesehen haben und so. Und dann haben sie uns ihre Filme vorgeführt, wie sie den 6-Tage-Krieg geführt haben. [mhm] Und das fanden wir eigentlich so erschreckend und grausam. Und wie sie halt als Sieger sich da aufgeführt haben. [...] Und wie dann also die Panzer abgeschossen und wie die da den Berg runterkugelten [mhm] und was weiß ich, na?« (W37-1: Z. 1272 ff.) Im Anschluss an diese Sequenz, die mit der Verwendung des »wir« und »uns« offensichtlich die deutsche Studentengruppe in Israel bezeichnet, stellt Frau Kanther erneut den generationellen Bezug zu den »68ern« her. Vor dem Hintergrund dieser politisch-identitären Selbstbeschreibung gibt sie in der Erzählung ihre Wahrnehmung des Verhaltens der israelischen Sieger nach dem Sechstagekrieg wieder:

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»Und wie sie auch geredet haben, nicht? Über diesen Sieg .... und das hat uns sehr betroffen gemacht und Sie müssen denken, wir waren der Anfang von den 68ern, na! [mhm] .. Und so halt, äh ja diese Generation die sich nicht bereut hat, [mhm] und die jaa sich sofort nach dem Krieg wieder äh praktisch verkappte Nazis noch waren und [mhm] man hat dann angefangen den Eltern die Vorwürfe zu machen und so, na. [mhm] ... Und und das wir das hörten ... und praktisch .... Ich muss ja auch heute noch sagen ... machen die dasselbe ... [mhm] Na?« (W37-1: Z. 1305 ff.) Hier findet sich ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Wir-Beschreibung als »68er« – die der Elterngeneration »die Vorwürfe« gemacht habe – und den erinnerten Eindrücken an die Exkursion nach Israel. Der Selbstbeschreibung, am Anfang der »68er«-Generation gestanden zu haben, werden die Angehörigen der Generation gegenübergestellt, die »nicht bereut« hätten und die sich sofort nach dem Krieg wieder als »verkappte Nazis« erwiesen hätten. Vor diesem Hintergrund beschreibt Frau Kanther dann ihre Wahrnehmung der Israelis im Jahr 1967 aus heutiger Perspektive. Dies veranlasst sie wiederum zur Aussage, dass »sie« – die Israelis – dasselbe machten. »Dasselbe machen« beinhaltet zweierlei: Die Israelis würden dasselbe mit den Palästinensern machen, was die Nazis mit den Juden gemacht hätten. Darüber hinaus verhielten sich die Israelis entsprechend der deutschen Tätergeneration mit dem Unterschied, dass sie mit ihren ›Taten‹ nicht konfrontiert würden. Auch wenn im gesamten Interview mit der Dauer von etwa fünfeinhalb Stunden eine persönliche Konfrontation Frau Kanthers mit ihren Eltern nicht angedeutet wird, nutzt Frau Kanther den diskursiv vorhandenen Identitätsbezug der »konfrontativen ›68er‹«, um die Relation von Selbst- und Fremdbild zu konstruieren. »Ich mein halt ... viele denken ja, na? Ich mein ... sie halten das alles waren für uns ewige Zeiten und Generationen und hört man jeden Tach im Radio, [mhm]Freundschaft mit den Deutschen, die besondere, und es ist alles immer ja, weil ja auf Generationen eben uns da verschuldet haben, und die Schuld auf uns geladen und schuldig sind und so .... und da kommste in ein Land .... und dann siehst du, dass sie mit denen .... praktisch .. ähnliches will ich mal sagen [mhm] .. machen.« (W37-1: Z. 1319)

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Die angeblich in den Medien allgegenwärtige deutscher Schuld, die aus Sicht von Frau Kanther ewig andauere und auf alle Generationen übertragen werde, steht nun im Zentrum der Täter-Opfer-Umkehr. Im Anschluss an die beschriebene Sequenz kommt zu der Thematisierung israelischen Täterschaft nun noch die angebliche generationenübergreifende Schuldzuweisung an die Deutschen hinzu. Zusammenfassend betrachtet, beinhaltet das von Frau Kanther kommunizierte Israelfeindbild eine antisemitische Sinnstruktur. Aus der Perspektive eines Identitätsbezugs zur »68er«-Generation, die den Bruch mit der Täter-Generation vollzogen habe, erfolgt eine Zuschreibung der Täterschaft gegenüber den Israelis. Frau Kanther äußert im Interview, dass sie auch heute noch sagen muss, dass die Israelis dasselbe bzw. ähnliches machen. Doch diese ließen sich nicht mit ihrer Täterschaft konfrontieren, da sie den Deutschen ewige Schuld zuschreiben würden. Diese Ansicht dürfe Frau Kanther zufolge nicht öffentlich ausgesprochen werden. Die relationale Verbindung zwischen Selbst- und Fremdbild als Grundlage der Konstituierung einer antisemitischen Semantik konnte am Fallbeispiel von Frau Kanther in Verbindung mit der Variante der Täter-Opfer-Umkehr in Bezug auf Israel rekonstruiert werden. 2.2 »Auf der anderen Seite muss man sich die Frage stellen, warum will die Juden keiner haben?«

Herr Peters ist 1932 geboren und zum Zeitpunkt des Erstinterviews 75 Jahre alt. Auf den Interviewaufruf hatte sich seine Frau gemeldet. Er wurde in der zweiten Welle als Familienmitglied interviewt, ebenso wie die zwei Söhne und die Tochter (alle drei in den 60er Jahren geboren). Nach den Einzelinterviews mit allen hier aufgeführten Familienmitgliedern kam es zu einem Gruppeninterview mit den beiden Eltern, der Tochter und dem älteren der beiden Söhne. Vorerst sollen antisemitische Semantiken an einer Passage aus dem Einzelinterview mit Herrn Peters verdeutlicht werden, um anschließend zu zeigen, wie antisemitische Sinnstrukturen im Familieninterview eingebettet werden. Ausgangspunkt der antisemitischen Aussagen von Herrn Peters sind sowohl im Gruppen- als auch im Familieninterview vermeintliche »Machenschaften« die eine positive deutsche Identität verunmöglichen würden. Im empörten Gestus der Rebellion und des Tabubruchs nimmt Herr Peters anfänglich eine Verteidigungshaltung ein:

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»Ich muss auch ehrlich sagen diese diese ganzen Machenschaften, dat wir uns immer als Deutsche jeder immer wieder selber ins Kreuz treten, Mann das sind jetzt 60 Jahre her, ja. Da muss a mal irgendwann diese woll’ma mal sagen, die die die die.. ähm.. das was da passiert ist, dass da so und so viel Millionen Leute umgebracht aber, dat ist das das ist nicht Ordnung [mhm], das ist ganz klar. Aber irgendwann muss doch mal ein Strich drunter sein [mh], da kannst doch net, kannst ja nicht über über über mehrere Generationen jedes mal sagen [ahmt ermahnende Stimme nach] ›Ja ja die bösen Deutschen‹ und dann fällt alles um [mh], nicht? Wer red’ denn heute in USA von der Kalamität und entgegen den Menschenrechts... äh äh äh -geschichten, nicht wahr? Von Vietnam? Wat die da, die Amis da in Vietnam gemacht, wat wat machen die in Afghanistan? Wat machen sie denn im im Irak? [12 Sek. Pause]. Ja, oder was was passiert mit den mit den äh äh Israelis im Libanon. Ja [15 Sek. Pause] passiert genau dasselbe.« (W3-2: Z. 185 ff.) An eine Schlussstrichforderung schließt Herr Peters mit einer Relativierung des Holocausts an: Es würde nicht von diversen kriegerischen Auseinandersetzungen gesprochen (Vietnam, Afghanistan, Libanon), sondern »immer wieder nur« von deutschen Taten. Diese Auseinandersetzungen seien jedoch auch nichts anderes als das, was während des Nationalsozialismus geschehen sei. So behauptet Herr Peters im Libanon würde durch die Israelis »genau dasselbe« passieren. Deutlicher wird Herr Peters in der Folge, wer diejenigen seien, die diese Vorwürfe tätigen würden und für »diese Machenschaften« verantwortlich seien: »Aber Mensch, kannst ja nicht jedes Mal, wenn da wieder so in in einer von von der jüdischen Gemeinde ankommt: ›Ja ja und die, da ist schon wieder Ressentiments.‹ Dann würde ich sagen: ›So, dann geht dahin, wo ihr euch wohl fühlt, nämlich nach Israel. Da gehört ihr hin. Da könnt ihr hingehen. Dann könnt ihr die Klappe aufmachen.‹ [klopft mehrmals auf den Tisch] Aber nicht hier in Deutschland. Wer sich hier jetzt und unsere .. äh positiven Seiten und alle positiven Dinge, da einfach wie selbstverständlich unter den Nagel reißt, der muss auf dem Klavier mitspielen, wie das hier bei uns herrscht.« (W3-2: Z. 203 ff.) So knüpft er seine Vorwürfe nun konkret an Juden. Mitglieder der jüdischen Gemeinde wären es, die den Deutschen ihre Ressentiments

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vorhalten würden. Damit benennt er nicht nur, wer diesen Angriff ausführen würde, sondern relativiert gleichzeitig gegenwärtigen Antisemitismus. Hinzu kommt, dass für Herrn Peters Juden keine Deutschen sind: Er bezeichnet sie als Fremde, behauptet sie würden nach Israel gehören, verknüpft mit dem Vorwurf, sie würden sich in Deutschland Dinge aneignen (»unter den Nagel reißen«), die ihnen nicht zustehen würden. Auch im Familiengespräch werden antisemitische Semantiken an die Interviewfrage angeknüpft. Vorerst erklärt Herr Peters senior die Verbindung von Nationalismus und Weltpolitik hätte einen »bitteren Beigeschmack« (W3-6: Z. 1137): »Denn wenn irgendwas ist dann wird dann gleich, ja die ›bösen Deutschen‹ wird gleich wieder der Zeigefinger gehalten, wenn einer mal anderer Meinung ist ja in der Politik. [...] und ›denkt mal dran, was habt ihr alles gemacht – und die armen Juden!‹« (W3-6: Z. 1137 ff.) Selektiv wird darauf Bezug genommen, dass mit dem Verweis auf »die armen Juden« Schuldzuweisungen gemacht würden, ohne über die NSVerbrechen selbst zu sprechen. Der Ausdruck die »armen Juden« wird vom Sprecher in ironischer Weise für die eigene Argumentation genutzt und mit rebellischer Attitüde vorgebracht. Sie steht im Kontext der Empörung darüber, als Deutscher vor dem Hintergrund der NS-Verbrechen keine positive nationale Identität entwickeln zu können. In der Folge baut er die Täter-Opfer-Umkehr weiter aus: »aber auf der anderen Seite auf der anderen Seite muss man sich die Frage stellen, warum will die Juden keiner haben?« (Z. 1142 f.) In der Formulierung ist die Behauptung keiner wolle die Juden haben, als scheinbares Faktum gesetzt, das nicht hinterfragt oder diskutiert wird. Es wird dabei nahe gelegt, dass ›die Juden‹ etwas an sich hätten, das deren Ablehnung rechtfertigt und sie somit ihre Ablehnung selbst verursachen würden. »Man muss sich die Frage stellen« ist in der Verbindung mit der Frage im rhetorischen Gewand als Tabubruch konstruiert. Da die Aussage die Aufforderung enthält, sich selbst zu befragen, wird die Frage als nicht gängig (möglicherweise im öffentlichen Diskurs nicht zugelassen) dargestellt. Inhaltlich stecken zwei Prämissen in dieser Frage: Zum einen würden Staaten Juden nicht aufnehmen wollen, die noch keine Staatsangehörige sind, zum anderen enthält »nicht haben wollen« auch ein ›loswerden wollen‹ – wenn Juden eben schon im Land (oder Staatsangehörige) sind. Da es keinen gebe, der »die Juden« haben will, ist die

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Vernichtung implizit mitgedacht. Mit jeder Antwort auf diese Frage sind diese Prämissen akzeptiert. In der Folge wird ›den Juden‹ die (Mit-)Verantwortung am Zweiten Weltkrieg gegeben: »Die Amis wollen sie nicht haben, obwohl die ganze Hochfinanz ist die den Zweiten Weltkrieg haben ja die Juden finanziert von den Amerikanern.« (Z. 1145 f.) Gängige antisemitische Stereotype sind in dieser Aussage vorhanden: die Vorstellung die Hochfinanz sei jüdisch, die Verknüpfung des Jüdischen mit Geld und den USA. Kern des Arguments ist allerdings, dass die Juden den zweiten Weltkrieg finanziert, also mindestens aufrechterhalten, eventuell sogar angezettelt und somit Auschwitz verschuldet hätten. Versuche von Frau Peters in die Ausführungen ihres Mannes einzuhaken, werden wiederholt ignoriert.1 Herr Peters kann auch im Familiengespräch antisemitische Sinnstrukturen entfalten und schließlich wird daran durch die anderen Gesprächsteilnehmer angeschlossen: Der Sohn ergreift an dieser Stelle des Interviews das Wort, widerspricht dem Antisemitismus des Vaters allerdings nicht direkt. Er ergänzt die Nennung von Antisemitismus in den USA durch den Hinweis auf den gesamteuropäischen Faschismus, wobei er die Differenz zwischen Nationalsozialismus und den anderen Faschismen verwischt: »Ich würd das anders sagen, ich mein’ Nationalsozialismus ja äh . da waren schon etliche auch in Europa oder so, weil wir sind ja nicht die Einzigen, die Nationalsozialisten gehabt haben ne, der Mussolini, Franco, ne in Argentinien, das ist ja kein Einzelfall ne und deswegen ist es auch äh wichtig, dass da Leute halt äh . einfach ja diese Zeitzeugen das ist halt auch ein Problem, dass die Zeitzeugen langsam wegsterben und . äh . und dann gibt’s eigentlich keinen mehr, der so richtig authentisch davon berichten kann, ne. Und aber die diese Sensibilisierung mit dem Nationalsozialismus ist jetzt nicht nur bei uns so, sondern das ist auch woanders so.« (W3-6: Z. 1147 ff.) Obwohl Herr Peters junior Widerspruch ankündigt, vollzieht er diesen nicht, sondern hebt das Thema nur auf eine allgemeinere Ebene. Herr Peters junior spricht aus einer nationalen ›Wir‹-Position, identifiziert 1 | Ob es sich bei den Einwänden von Frau Peters tatsächlich um Widerspruch, um Anmerkungen oder Ergänzungen gehandelt hätte, muss Spekulation bleiben. Es wird daran allerdings die Diskursmacht des Vaters in dieser Phase des Familiengesprächs deutlich – sowie die Vehemenz mit der er seine Ansicht zu diesen Themen zu vertreten weiß.

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sich also mit einem Kollektiv mit einer Kontinuität bis in die Gegenwart. Wobei diese Kontinuität für Nationalsozialisten nicht gelten würde: Die Formulierung »wir haben Nationalsozialisten gehabt« weist ihnen keinen Ort innerhalb des Deutschen Kollektivs zu. Sie suggeriert vielmehr, Nationalsozialisten seien von außen gekommen und nun wieder weg. Mit dem inhaltlichen Themenwechsel, den er vollzieht, stützt er die Autorität seines Vaters als Zeitzeugen: Die positiv konnotierten »Zeitzeugen« werden von den negativ konnotierten »Nationalsozialisten« abgegrenzt und die Möglichkeit verschleiert, dass beides in eines fällt. So grenzt er auch seinen Vater von den Nationalsozialisten ab. Mit der Wahl des Wortes »berichten« zielt er im Gegensatz zum bloßen Erzählen auf Authentizität und Fakten ab. Der Zeitzeuge habe privilegierten Zugang zu objektivem Wissen über Vergangenheit, das Subjektive daran wird ausgeklammert. Diese angebliche Wahrheit wiege dann auch schwerer als das (faktische) Sekundärwissen. Im Verweis auf das Recht der Authentizität des Zeitzeugen steckt somit das Potenzial, den Antisemitismus des Vaters zu legitimieren. Seine verschlungene Argumentation und die Themenwechsel verschleiern die fehlende Positionierung. Der Antisemitismus des Vaters bleibt so integrierbar und integriert. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der offene Antisemitismus des Vaters im Familieninterview nicht benannt und als solcher zurückgewiesen wird. Heikle Aussagen werden umschifft oder sogar punktuell gestützt. Ein tendenziell positives Bild der Familie soll aufrechterhalten werden. Das Gespräch über deutsche Schuld bleibt abstrakt und vage und ist sowohl für die Zeitzeugen als auch für die Kindergeneration anschluss- und in seiner Allgemeinheit konsensfähig. Dabei wird eine nationale ›Wir‹-Perspektive eingenommen: Dieses nationale Selbstbild ist unhinterfragter Bezugspunkt. 2.3 »Weil die Frauen der Amerikaner und der anderen sogenannten Feinde ... die ham des gleiche getan«

Frau Müller ist Jahrgang 1950 und stammt aus einer bayerischen Kleinstadt. Im Zentrum ihrer Erzählung steht die Großmutter, die während der Zeit des Nationalsozialismus eine Führungsposition sowohl innerhalb der Familie als auch »nach außen« gehabt habe. Die Anfangssequenz verdeutlicht neben der zentralen Rolle der Großmutter, die Bedeutung der Identitätskategorie ›Frau‹ in der Charakterisierung der Familie und der eigenen Sozialisationsgeschichte:

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»Guut! .. Also ich bin in einer Familie groß geworden, in der die Frauen die stärksten waren. Das heißt, meine Großmutter.. habe ich als sehr, sehr starke Person empfunden.« (W34-1: Z. 14 ff.) Im Fortgang des Interviews schildert Frau Müller welche Tätigkeiten ihre Großmutter in ihrer Stellung als NS-Funktionärin ausgeübt, sowie, dass diese »vor dem Tribunal« gestanden habe, also »regelrecht angeklagt [war], für das was sie gemacht hat.« Während mit der Thematisierung der Anklage durch die Alliierten auch die potentielle Täterschaft der Großmutter im Raum steht, erfolgt in der daran direkt anschließenden Sequenz deren Relativierung, in dem die Interviewte die Rechtfertigungsstrategie der damals angeklagten Großmutter reproduziert. »Und ... sie hat mir aber immer erzählt, sie hat ... des nie so empfunden, was sie gemacht hat, und is .. is aber auch nicht zum Tode verurteilt worden .. deswegen, obwohl sie mit ... Göring, Goebbels und allen anderen auch ... [mhm] dagestanden war. [mhm] Sondern sie hat gsacht: ›Ich hab praktisch nichts anderes gemacht, [mhm] ... als ... die Frauen der Alliierten.‹ [mhm] ...... Die hat also versucht, ... den Männern den Rücken frei zu halten, sie hat also ...äh... organisiert, in der Heimat.« (W34-1: Z. 27 ff.) Im Anschluss erfolgt eine längere Erzählung der Internierung der Großmutter nach dem Krieg, in der diese ausschließlich als Opfer präsentiert wird. Im Rahmen dieser Passage betont Frau Müller einerseits das Nichtwissen ihrer Großmutter hinsichtlich des Ausmaßes der NS-Verbrechen, andererseits schildert sie deren ungebrochene Anhängerinnenschaft auch nach dem Zweiten Weltkrieg. »Sie hat also immer noch den Geburtstag vom Adolf gefeiert, [mhm] danach. Wie scho alles rum war, weil Sie war immer noch davon überzeugt, dass des richtig war. [mhm] Ned das alles richtig war ... aber des was sie gemacht hat, dass des richtig war. [mhm] ›Weil die Frauen der Amerikaner und der anderen sogenannten Feinde ... die ham des gleiche getan.‹« (W34-1: Z. 73 ff.) Die Interviewte versucht hier mit der Problematik umzugehen, dass ihre Großmutter auch nach 1945 eine überzeugte Anhängerin des Nationalsozialismus und Adolf Hitlers war, ohne dass ihre Integrität durch die

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ideologische Kontinuität Schaden nimmt. So verbessert sie im Nachsatz, dass die Großmutter zwar nicht alles im Nationalsozialismus richtig fand, aber bezogen auf deren Handeln, bestätigt sie dessen Richtigkeit, analogisiert und legitimiert dieses Handeln wiederum mit dem der Frauen der Amerikaner und »der anderen sogenannten Feinde«. Im Fortgang der Erzählung gerät Frau Müller immer wieder in Zugzwang, die Biographie und die erinnerten Erzählungen der Großmutter miteinander zu vereinbaren und zu rechtfertigen. »Sie hat sich also nicht schuldig gefühlt .. [mhm] ..... Und sie hat mir auch erzählt, dass sie dafür gesorgt, ... dass den Gefangenen die hier waren, ... weil es war, in Kunzheim war ja Gefangenenlager [mhm] ... da hat sie auch die Aufsicht mit gehabt. Sie hat ab und zu mal hinschauen müssen ... was da los ist ... und sie hat immer gesorgt, dass die .. zu essen hatten, [mhm] hat sie mir erzählt .... Na ... Was ma dabei glauben kann, ich weiß es nicht, [mhm] es war aus ihrer Sicht ... und was dann war, wenn sie nicht gerade zur Stelle war, ... des weiß ma ja auch nicht.« (W34-1: Z. 78 ff.) Sozusagen im Nebensatz erwähnt Frau Müller, dass ihre Großmutter in dem »Gefangenenlager Kunzheim2 « als Aufseherin tätig war. Während sie den Wahrheitsgehalt der Erzählung der Großmutter – diese habe sich um das Wohlergehen der Gefangenen gekümmert – anfänglich mit der Bemerkung »was ma da glauben kann« in Frage stellt, wird diese Sequenz mit einer doppelten Legitimationsstrategie beendet: Einerseits wird dem angesprochenen Wahrheitsgehalt der Erzählung der Großmutter durch den relativistischen Einwurf »es war aus ihrer Sicht« die Grundlage entzogen. Andererseits impliziert die spekulative Frage, was gewesen wäre, wenn die Großmutter gerade nicht zur Stelle war, dass diese so gehandelt habe, wie sie vorgegeben hat. Beide Strategien verweisen auf die bereits erwähnte Ambivalenz bezüglich des Umgangs mit der offensichtlichen Täterschaft in Verbindung mit der von Frau Müller erinnerten Erzählung und der starken identifikatorischen Nähe zur Großmutter. Danach gefragt, ob die Großmutter sich zu Juden oder Antisemitismus geäußert habe, (re-)produziert Frau Müller zentrale Motive des modernen Antisemitismus. Obwohl ein Bewusstsein darüber vorhanden 2 | Namen und Orte wurden wie anfangs erwähnt anonymisiert. Das Gefangenenlager »Kunzheim« war vermutlich eines der ca. einhundert Außenlager des Konzentrationslagers Flossenbürg.

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ist, dass hier Vorurteile der Zeitzeugengeneration weitergegeben werden, verschwimmen im Laufe der Erzählung die Ebenen der Wiedergabe der erinnerten Erzählung der Großmutter mit denen der historischen Fakten und der eigenen Meinung. »Sie war schon der Meinung, dass des mit den Juden ........ also nicht richtig war, die zu vergasen, aber ... de Juden hatten halt nun einmal des Kapital und die Juden ham .... bestimmte Dinge gemacht [mhm] ... und äh des hat sie für nicht richtig gehalten.. [mhm] .. Insofern wars ihr eigentlich dann scho recht. [lacht auf] Na ... Also, ganz konkret hat sie sich nicht dazu geäußert. [mh] Dass das, die ganz Geschichte dann .. äh .. so rausgangen is, dass die vergast worden sind, das hätt sie bestimmt nicht gwollt. [mhm] Da bin ich ganz sicher, des hätt sie nicht gwollt. ... Aber ... Juden vertreiben, ja .... [mhm] ... In ihren Augen war des halt.. äh für Deutschland eher negativ. [mhm] Dass Juden .... des Kapital in der Hand haben ... und im Prinzip des ganze politische Gebilde prägen. [mhm] Das war damals so! [mhm] Das war eben der Grund, weshalb man sich, man wollt sie einfach los werden!« (W34-1: Z. 440 ff.) Die Judenfeindlichkeit der Großmutter wird nicht nur bestätigt, sondern deren antisemitische Begründung im Laufe der Sequenz als Faktum ausgewiesen. Dass die Juden »bestimmte Dinge gemacht« hätten, erscheint für Frau Müller evident, denn damals sei es ja so gewesen, dass »Juden das Kapital in der Hand haben und im Prinzip des ganze politische Gebilde prägen.« Diese primäre Form des Antisemitismus, die Juden als Drahtzieher von Politik und Ökonomie ausweist und mit moderner Macht identifiziert, wird hier von Frau Müller zugleich als Einstellung ihrer Großmutter und als historische Tatsache wiedergegeben. Darüber hinaus handelt es sich um eine Täter-Opfer-Verkehrung, da das den Juden vorgeworfene Handeln als Begründung und Entschuldung der judenfeindlichen Einstellung der Großmutter dient. Gegen Ende des Interviews wurde Frau Müller gefragt, ob sie sich selbst mit dem Thema Nationalsozialismus auseinandersetzt und welche Medien dabei eine Rolle spielen. Dabei erwähnt sie, dass sie schon einige Filme angesehen und sich einmal ein Buch zum Thema gekauft habe: »Wie hieß des ...? Das schwarze Reich ist des ... [mhm]. Und das is einer der des von einer anderen Seite her aufrollt. [mhm] ...äh.. der hat sich

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die Mühe gemacht, sämtliche Daten einmal so zusammenzutragen. [mhm] ... um zu sehen, warum der Krieg überhaupt entstanden is ... Und wenn man dem glauben darf, dann is es eben so gewesen, ... dass es wieder mal um ... Geld und Materie gegangen ist .... weil angeblich die Rockefellers in ....ähm .... in der Sowjetunion.. und in der ehemaligen DDR Ölfelder hatten .. [mhm] .. und durch das, dass ja der Kommunismus kam, sind die sozusagen enteignet worden .. und um die wieder zurückzukriegen ... ham sie den Krieg angezettelt. [mhm] [...] Also mir schien das auch .. bisschen eher in die Ecke Esoterik....[mhm] .. dass des in die .. esoterische Ecke .. ging .... Wobei .. der natürlich nicht so unrecht hatte, weil damals gab’s sehr viele Zirkel und und ich weiß, das also ... auch meine Großmutter in so einem Zirkel war.« (W34-1: Z. 366 ff.) Hier wird die Frage nach der Ursache des Zweiten Weltkrieges anhand der Lektüre einer verschwörungstheoretisch argumentierenden Publikation erörtert. Es zeigt sich wiederum eine Unsicherheit bezüglich des Wahrheitsgehaltes der dort behaupteten Geschichtsdeutungen, in dem die Interviewte einerseits ein »angeblich« vor der personalisierenden Deutung der Kriegsursache stellt und schließlich das ganze Werk »in die Ecke Esoterik« einordnet. Gegen Ende der Sequenz wendet sie gegen ihre eigenen Bedenken ein, dass es damals tatsächlich »sehr viele Zirkel« gegeben habe. Dass es damals viele Zirkel gab, bedeutet nun für Frau Müller, dass der Autor doch nicht ganz unrecht haben könnte mit seiner Behauptung, die Rockefellers seien die Urheber des Zweiten Weltkriegs. Zusammenfassend kann zu den antisemitischen Semantiken im Interview mit Frau Müller gesagt werden, dass diese im Zusammenhang mit den erinnerten Erzählungen der Großmutter stehen. Einerseits ist Frau Müller aufgrund ihrer identifikatorischen Nähe zur Großmutter3 gezwungen, deren Lebenslauf und die von ihr erinnerten Erzählungen in Einklang zu bringen, ohne dabei die Integrität der Großmutter in Frage zu stellen. Zum anderen identifiziert sich Frau Müller mit dem Selbstbild der ›starken Frau‹, das sie von der Großmutter tradiert und das diese auch im Familiengedächtnis verkörpert. So ist das Selbstbild über die Erinnerung an und die Identifikation mit der Großmutter tradiert. Das von Frau Müller konstruierte Fremdbild der Juden wird über die Erinnerung 3 | Frau Müller äußert an mehreren Stellen im Interview, dass die Großmutter sie als Mensch wahrgenommen habe und ihr immer wieder mit den Worten »Wenn du was anpackst, dann wird das was« den Rücken gestärkt habe.

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an die Erzählungen der Großmutter gebildet und reproduziert so deren antisemitische Semantiken. 2.4 »Ich denke, es muss irgenwo so’n gesundes Maß da sein.«

Frau Dach wurde 1954 geboren und ist zum Zeitpunkt des Erstinterviews 52 Jahre alt. Sie ist Grundschullehrerin in einer sächsischen Kleinstadt. Ihr Vater ist 1918 geboren und war zur Zeit des Nationalsozialismus bei der Wehrmacht an der »Heimatfront« tätig. Heute sammelt Frau Dach Dokumente und Fotos über die Geschichte ihrer Familie. Sie arbeitet seit Jahren an einem ausführlichen Familienstammbaum und dokumentiert die Familiengeschichte für die einzelnen Familienmitglieder in selbstgefertigten Familienalben. Im Esszimmer – in dem das Einzelinterview und das Familiengespräch mit Ihrer ältesten Tochter Frau Dengler4 geführt wird – hat sie darüber hinaus eine Ahnengalerie mit »Nachweisen der Deutschblütigkeit« aus der NS-Zeit, an der Wand arrangiert. Frau Dach benennt zwei Funktionen dieser Nachweise: Erstens sollen sie als authentische Zeugnisse der Vergangenheit die Erinnerungen an diese Zeit an nachfolgende Generationen vermitteln, »um wenigstens ein Stück Geschichte da auch.. ja, meinen Kindern.... fortgeben zu können« (O2-1: Z. 125 f.). Sie betont wiederholt, wie wichtig es sei, alles aufzuschreiben, damit die Erinnerungen für die Nachkommen erhalten blieben. Zweitens bietet ihr der Familienstammbaum in Form eines visualisierten Netzwerkes, wie eine Landkarte, Orientierung und die Möglichkeit der Selbstverortung: »Also das hab ich ... das musste ja mein .. von meinem Opa machen, das Ahnenblatt .. in der Nazizeit .. Wo nachgewiesen werden musste, dass se arisch sind ... So, und das hier auch, die direkte Nachweisung über die Deutschblütigkeit dran .. Und das hab ich aber jetzt mehr hier mit aufgehängt .. um.. dann zu wissen .. wer wer ist. [...] Aber .. äh man muss halt auch wissen, warum der entstanden ist.« (O2-1: Z. 677 ff.) Das Dokument der rassistischen Exklusion wird als historisches Artefakt behandelt und dient zur Stütze der Familienidentität. (siehe dazu auch 4 | Frau Dengler ist 1976 geboren, in der DDR aufgewachsen. Sie ist zum Zeitpunkt des Interviews allein erziehende Mutter einer sechsjährigen Tochter und arbeitet als Krankenschwester. Sie hat zwei jüngere Schwestern.

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den Artikel von Gerd Sebald in diesem Band S. 201 ff.) Als Vermittlungsmedium zwischen den Generationen soll das Dokument nachfolgenden Generationen helfen, ihre Herkunft nicht zu vergessen. Auf die antisemitischen Entstehungszusammenhänge sowie den damit verbundenen Biologismus wird nicht näher eingegangen. Die Funktion eine angebliche »Deutschblütigkeit« zu belegen ist zwar bekannt, doch wird nicht reflektiert, dass dies den Ausschluss derer impliziert, die nicht als Arier eingeteilt werden. Im Familieninterview wird auf das Dokument wenig distanziert Bezug genommen. Ausgangspunkt dafür ist Frau Denglers Erwähnung ihrer Ängste in der Kindheit vor einer Deportation: »Da weiß ich noch, da hab ich einmal die Oma Dorothea gefragt, ob die wirklich Deutsche sind, weil ich da Angst hatte, da hab ich gedacht, was is’n wenn wenn du das nicht bist und dann passiert wieder so was, kommst du dann auch weg, das weiß ich noch.« (O2-2: Z. 453 ff.) Als Entgegnung auf die Äußerungen ihrer Tochter, deutet Frau Dach auf den ›Nachweis der Deutschblütigkeit‹ an der Zimmerwand, um die kindlichen Ängste mit der Autorität des Dokuments abzuschwächen, mit den Worten: »Aber da braucht ihr euch keine Sorgen zu machen.« (O2-2: Z. 459) Sie möchte zur Beruhigung ihrer Tochter klarstellen, dass die Familienmitglieder durch den Nachweis ihrer Herkunft vor Verfolgung geschützt seien. In der Geste steckt die Erklärung, weshalb diese Sorge unnötig sei: Der Familie sei die »Deutschblütigkeit« amtlich bestätigt. Die Autorität des nationalsozialistischen Dokuments wird somit anerkannt und dessen Gültigkeit auf die Gegenwart übertragen. Die Zuschreibung als ›deutschblütig‹ wird nicht zurückgewiesen, sondern mit der Geste bestätigt. Die mit dem Dokument gesetzte Scheidung von ›arisch‹ und ›nicht-arisch‹ wird dabei nicht reflektiert. Schon vorher nimmt Frau Dengler Bezug auf ihr Bild von Juden. Dies sei durch ihren Großvater in ihrer Kindheit entscheidend geprägt worden: Sie beschreibt die Tradierung einer Differenzkonstruktion, die unterscheidet zwischen ›normalen Menschen‹ und Juden, die irgendwie anders seien. Diese Differenz wurde laut Frau Dengler aus den Erzählungen ihres Großvaters in ihre kindliche Vorstellung übernommen. »Als da wenn der Opa das erzählt hat und hat von den Juden, ich hab das immer nie begriffen, was das für Leute waren und ich hab mir das

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immer als so ganz seltsame Menschen vorgestellt, die die entweder anders aussehen oder anders reden oder so Ich wusste konnte mir das nie so vorstellen, dass es halt so wie ... was weiß ich wie wir anderen einfach solche Menschen waren, ich hab immer gedacht, das ist was ganz Schlimmes, ganz schlimme Menschen irgendwie.« (O2-2: Z. 404 ff.) Diese Differenzvorstellung zeigt sich jedoch auch noch im Gespräch mit der Erwachsenen. Sie spricht darüber, dass sie zwar irgendwann »aufgeklärt« worden sei, sich das aber »schon so festgesetzt« habe: »Da .. ich denke mal, das war eben auch die kindliche Naivität damals oder so, dass ich halt schon da auch gedacht hab, die haben irgendwelche Krankheiten oder irgendwas gehabt, dass das halt so war und dass das so sein sollte oder musste oder wie auch immer ne. Bis halt jemand gesagt hat – oder bis das dann mal so aufgeklärt wurde, das waren ganz normale Menschen, denen ähm .. sieht man nichts an, dass die anders sind als andere irgendwie .. Aber das hat sich schon so festgesetzt.« (O2-2: Z. 431 ff.) Aufgeklärt wurde somit der Irrtum, diese Menschen seien sichtbar anders. Die Andersheit ist für Frau Dengler nicht benennbar, die Differenzvorstellung bleibt aber diffus erhalten. Im weiteren Verlauf des Interviews übernehmen antisemitische Sinnelemente dort Erklärungsfunktion, wo soziale und politische Zusammenhänge unklar bleiben. Wie diese Argumentationsmuster im dialogischen Wechselspiel des Familiengespräch ein- und aufgebaut werden, soll in der Folge gezeigt werden. Auf die Frage der Interviewer nach der Bedeutung des Themas Nationalsozialismus für die heutige Gesellschaft in der Region, in Deutschland bis hin zur Weltpolitik, wird vorerst die Position vertreten, es müsse ein »öffentliches Bewusstsein dafür gemacht werden« (O2-2: Z. 657), indem darüber gesprochen und es »in der Schule thematisiert werden sollte« (O2-2: Z. 652 f.). Die Tochter versichert die Bedeutung des Interviewthemas, der Erinnerung an den Nationalsozialismus und beklagt sich über die herrschende Unwissenheit: Es werde »aus welchen Gründen auch immer [...] ein bisschen weggeschoben« (O2-2: Z. 650). Wichtig sei es aber, das Thema präsent zu halten, unter anderem wegen des Aufschwungs der NPD. Diesen Appell verbindet die Tochter in der Folge mit der Forderung, man möge auch das Gute am Nationalsozialismus sehen:

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»Und ich denke, da sollte schon auch ne ’n öffentliches Bewusstsein dafür gemacht werden, dass man eben mal so guckt, was macht das ›Gute daran‹ in Anführungsstrichen und was macht ›das Schlechte daran‹ und ähm dass man so beide Seiten kennt und die Gefahren da auch mal aufzeigt, die dadurch entstehen können, ne.« (O2-2: Z. 656 ff.) Was mit diesem »Gute(n) daran« gemeint sein könnte, welche guten Seiten der Nationalsozialismus also habe, wird allerdings nicht thematisiert. Erst nach und nach wird im Dialog zwischen den Interviewten angedeutet, was der Hinweis bedeutet, beide Seiten des Themas solle man kennen. An dieser Stelle bietet die Ergänzung des Appells ihrer Mutter Frau Dach die Plattform, sich über die angebliche Überbewertung der Shoah zu beklagen: »Also ich denke schon auch es sollte Thema in der Schule sein. Es sollte aber jetzt auch nicht unbedingt alles nur an den Juden festgemacht werden, an der Judenverfolgung« (O2-2: Z. 667 ff.). Das Thema Nationalsozialismus sei also oft zu stark mit Juden verknüpft, werde zu stark in Verbindung mit der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden thematisiert. Dieser zentrale Aspekt des Nationalsozialismus, war bis dato noch kein Thema des Interviews. Schon die vorsichtige, relativierende Form der Aussage, mit dem Konjunktiv und der Verknüpfung von »jetzt«, »auch«, »unbedingt« und »nur« zeigt die Vorsicht bei der Thematisierung. Angeschlossen wird hier an den vagen Appell auch »das Gute« am NS zu sehen, da das komplexe oder breite Thema nicht auf die Verfolgung einer Personengruppe reduziert werde dürfe: Zum einen ist damit verbunden, dass das Thema in einem bestimmten Zusammenhang konkretisiert und festgehalten, das vielschichtiger, abstrakter oder schwerer zu fassen sei. Zum zweiten, setzt die Sprecherin voraus, dass von Manchen oder Vielen alles an den Juden und deren Verfolgung festgemacht würde. Dies dürfe aber nur bedingt, unter bestimmten Bedingungen also, der Fall sein. Sie führt dies dann näher aus: »Weil ich so aus vielen Gesprächen auch raushöre äh, ... der Krieg der ist jetzt 60 Jahre oder 50 Jahre vorbei und ich soll jetzt noch für die Judenverfolgung, ich soll für die jetzt noch Geld bezahlen« (O2-2: Z. 669 ff.).

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Die Sprecherin gibt sich lediglich als Beobachterin aus, die Bericht erstattet und das Gesagte erst »raushören« müsse. Sie sichert sich so durch die angebliche Meinung Vieler und ihrer zweiten Tochter ab: »Die Meinung hat auch unsere Diana...« (O2-2: Z. 672). Eine Passage, die mit dem Wachhalten von Erinnerung thematisch eingeleitet wurde, kann sich nun in eine Schlussstrichforderung kehren: »Naja gut, ich denke, es sollte nicht übertrieben werden und es muss auch nicht ausgeschlachtet werden. Also ich denke auch bestimmte Dinge sind einfach vorbei ne. Also man muss jetzt nicht nach 60 Jahren oder wie lange auch immer sagen, jetzt muss da noch Vergeltung geübt werden durch materielle Dinge oder was anderes, ich denk einfach, da muss man einfach auch mal sagen: Das ist jetzt vorbei. Ich glaub, das hab ich das letzte Mal auch schon irgendwie gesagt und und dann ist gut. Also nicht dass das verdrängt wird, aber auch nicht dass es immer wieder so hohe Wellen schlägt, also ich denke, es muss irgendwo so’n gesundes Maß da sein.« (O2-2: Z. 674 ff.) Entschädigungszahlungen werden aus ihrem rechtlichen Zusammenhang gelöst und mit dem Wort »Vergeltung« in die Nähe von Rachevorstellungen gerückt. Was Entschädigungszahlungen tatsächlich sind, davon wird nicht gesprochen, ebensowenig wie von Auschwitz oder von Zwangsarbeit. Die Opfer werden zu Tätern, Ursache und Wirkung verkehrt. Auch an dieser Stelle werden historische Zusammenhänge von diffusen Vorstellungen überlagert. Erneut ist es der Vorwurf zentral, die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden würde instrumentalisiert und würde heute höhere Wellen schlagen als angemessen sei. Die Relativierung wird anschließend mit der Beschwerde verbunden, es würden auch für den Golfkrieg »keine Mahnmale errichtet in Deutschland« (O2-2: Z. 690) Dieser Vergleich schließt an Gleichsetzungen und Relativierungen an, die das gesamte Interview durchziehen und die von den Differenzen zu und dem Ausmaß der Shoah absehen.5 5 | Beispiele finden sich etwa in Bezug auf die Sowjetunion oder die DDR: »Aber das sind eben dann die Parallelen, da gab’s die BDM und ich glaub Pimpfe nannten die sich und bei uns warn’s eben die Pioniere, so wer halt kirchlich war und die Eltern haben dann gesagt, die dürfen nich zu den Pionieren oder zu FDJ, die wurden dann total ausgegrenzt, die hatten dann später auch Probleme meinetwegen Abitur zu machen .. oder auch zu studieren. .. Und da waren’s halt die Juden die auserkoren wurden.« (O2-2: Z. 162 ff.)

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Was ein »gesundes Maß« sein soll, bleibt zwar unklar, doch ein Zuviel an Erinnerung an die Shoah habe ›ungesunde Folgen‹. So gebe es diejenigen, die das instrumentalisieren, um Vergeltung zu üben und Vorteile daraus zu ziehen. Diejenigen die dies tun, sind also ungesund für Deutschland und die Deutschen, würden krank machen. Die Forderung nach einem »gesunden Maß« liefert der Mutter den Anlass, die Täter-Opfer-Umkehr nun zu vollenden: »Dann bringt es wieder irgend’nen Hass auf die jüdische Bevölkerung. Wenn jetzt immer wieder noch Forderungen und das muss noch gemacht werden und das muss noch gemacht werden. Wie gesagt, ich hör’ das so rundrum, die sind dann eben alle stinksauer und die sagen dann: ›Naja und unsere Soldaten, die in die Kriegsgefangenschaft gekommen sind.‹« (O2-2: Z. 682 ff.) Die politischen Zusammenhänge werden selektiv wiedergegeben und an das eigene Bild von Realität angepasst. Antisemitismus würde durch die Forderungen ausgelöst, und die Opfer seien selbst für ihre Verfolgung verantwortlich. Diese Aussage wird erneut mit der Autorität der Vielen abgesichert: Auch an dieser Stelle wird die Aussage darin verpackt, sie würde wiedergeben, was sie rundherum hören würde. Nicht sie selbst, sondern die anderen »sind dann eben alle stinksauer«. Beide Interviewten sind sich einig, dass »es« nicht überbewertet werden dürfe: Mutter: »aber es sollte auch nicht irgendwie über-« Tochter: »überbewertet« Mutter: »überbewertet werden oder wie gesagt an einer Menschengruppe festgemacht werden, es hat ja viele Menschen betroffen.« (O2-2: Z. 697 ff.) Dieses »es«, das nicht überbewertet werden dürfe, ist also die Shoah. Nicht das Thema Nationalsozialismus werde also zu häufig thematisiert, sondern Juden als Opfer und die deutsche Täterschaft. So wird in der Familie Dach/Dengler der Holocaust allgemein auf das Motto gebracht: »Was haben Menschen mit Menschen gemacht.« (O2-2: Z. 705) Konkrete Zusammenhänge sind nun nicht mehr relevant oder zu thematisieren. Unterschiede werden sowohl über diverse schiefe Vergleiche (siehe z. B. Fußnote 5) eingeebnet und auf einer allgemeinen Ebene aufgelöst.

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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die diffuse Übernahme der antisemitischen Judenbilder des Großvaters in die kindliche Perspektive beschrieben wird. Diese Perspektive wird als naiv dargestellt, allerdings nicht vollends zurückgewiesen – der »Nachweis der Deutschblütigkeit« wird zur Festlegung dieser Unterscheidung herangezogen. Die Differenzkonstruktion einer ›anderen Sorte Menschen‹ bleibt in der Narrration in ihrer Diffusität erhalten und findet sich in den Andeutungen von politischen Zusammenhängen wieder. Sekundär antisemitische Argumentationen werden im Gespräch zwischen Mutter und Tochter entwickelt und in wechselseitiger Vergewisserung sowie mit dem Hinweis abgesichert, man würde wiedergeben, was andere denken.

3. FAZIT Die bei der hier vorgenommenen Sekundäranalyse forschungsleitende Hypothese, dass der Konstruktion einer Wir-Gruppe, eine besondere Bedeutung hinsichtlich der (Re-)Produktion antisemitischer Semantiken zukommt, kann mit Blick auf das untersuchte Interviewmaterial zu familialen Gedächtnissen als bestätigt gelten. Die jeweiligen WirGruppen-Konstruktionen, sind zentrales Selektionskritierium für die Formen antisemitischer Semantiken in den Narrationen. Ohne, dass ein geschlossenes antisemitisches Weltbild darin immer vorhanden oder ausgeführt sein muss, werden antisemitische Fremdbilder funktional mit den Wir-Konstruktionen in Verbindung gesetzt. Wegen des alltagsnäheren Settings narrativer Interviews können die antisemitischen Strukturelemente in Verbindung mit alltagsnahen kommunikativen Formen rekonstruiert werden. Den zentralen Bezugspunkt der antisemitischen Sinnelemente stellt die nationale Wir-Konstruktion dar, weshalb eine sekundär antisemitische Abwehrhaltung wiederholt vorzufinden ist, welche einen vermeintlichen Angriff auf deutsche Identität zu verteidigen sucht (Täter-OpferUmkehr, Schlussstrichforderung etc.). In unterschiedlichen Kombinationen stellte sich neben dem nationalen Wir-Bezug auch der Generationen- oder Gender-Bezug – sowie für das gewählte Setting besonders bedeutend – das familiale Selbstbild, als relevant heraus. Um ein positives Bild der Familie erhalten zu können, wird potenzielle Täterschaft und Involviertheit in den Nationalsozialismus von Familienmitgliedern nur am Rande erwähnt und mit Rechtfertigungsstrategien verbunden: Diese werden – wie etwa im Fall von Frau Müller – auch

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von den vorangegangnen Generationen übernommen. Im familialen Selbstbild erscheinen Eltern und Großeltern größtenteils als Opfer (Viktimisierung) und nicht als Täter. Steht (der Verdacht einer) Täterschaft im Raum, wird er mit Legitimierungsstrategien verbunden. Im Familieninterview wird häufig familiale Übereinkunft nach außen präsentiert oder versucht, eine familieninterne Harmonie zu wahren. Eine Strategie dafür ist, das Thema Nationalsozialismus sehr allgemein und damit für alle Familienmitglieder anschlussfähig zu halten. Der Nationalsozialismus wird in einen überhistorischen, globalen und anthropologischen Zusammenhang gesetzt und in allgemeinen Vergleichen relativiert. Schuld und Schuldabwehr sind wichtige Bezugspunkte in den Familienerzählungen in Bezug auf den Nationalsozialismus, doch wird der vorsichtige Umgang mit der Shoah und mit Juden wiederholt deutlich. »Die Ausblendung der Nazi-Verbrechen und damit die Dethematisierung der Opfer« (Rosenthal 1997a: 347) ist auch im zugrunde liegenden Material zentrales Ergebnis. So wird die Shoah mit der eigenen Familiengeschichte kaum in Beziehung gesetzt, und selbst bei offensichtlicher Involviertheit, wird dieser Zusammenhang häufig relativiert und versucht zu veruneindeutigen. Werden konkrete Juden allerdings in der Familiengeschichte erwähnt, wird die Erzählung häufig funktional in den Erzähstrang eingewoben, um mit dem Ausweis von Widerständigkeit6 ein positives Bild der familialen Wir-Gruppe zu stützen. Festzuhalten ist, dass die Interviewten sich (durchaus auch deutlich) vom Nationalsozialismus abgrenzen wollen und abgrenzen. Doch obwohl Selbstbilder als ›Nazigegner‹ vorherrschen, werden antisemitische Semantiken tradiert und reproduziert. Zentrale Erkenntnisse von Rosenthal (1997a) können auch mit dem hier zugrunde liegenden Material gestützt werden: Sowohl der »Mythos einer vom Nationalsozialismus unbelasteten Familienvergangenheit« (Rosenthal 1997a: 246) als auch die selektive Wahrnehmung beim Blick auf den NS nehmen großen Raum ein. Rosenthal spricht hier von einer »Ausblendung« um die Lebens- und Familiengeschichte zu reparieren, oder nicht befleckt zu sehen, könnte man ergänzend hinzufügen. Kommunikative Strategien im Umgang mit Antisemitismus und der Reproduktion von antisemitischen Semantikelementen, sind neben

6 | Vgl. dazu etwa die oben zitierte Sequenz von Frau Abel, S. 28. Aber auch in vielen weiteren Interviews findet sich ein derartiger Bezug.

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der »Kanalisierung des Antisemitismus auf den Antizionismus« (siehe auch Rosenthal 1997a: 351), die rhetorischen Fragen sowie die indirekte Sprechweisen: Es werden Bekannte und die Stimmen anonymer Vieler zitiert, um eine eigene, klare Aussage zu vermeiden und antisemitische Einstellungen dennoch zu erwähnen. Diese Aussagen verbleiben sowohl in der Latenz, werden aber auch manifest und deutlich geäußert. Auch auf ein (angebliches) Kommunikationstabu wird Bezug genommen und mit einer Beschwerde darüber verbunden, oder es ist allein im Gestus des ›Tabubrechens‹ implizit. Bei der Erstellung des hier als Grundlage verwendeten Forschungsmaterials, lag das Thema Antisemitismus nicht im Fokus des Forschungsinteresses, und wurde deshalb nicht explizit befragt. Allerdings wurde nach der Einschätzung des Nationalsozialismus für die aktuelle (Welt- ) Politik gefragt (vgl. dazu auch den Leitfaden S. 238 f.). Dieser Kontext stellte sich als zentraler Anlass heraus, sich über ein Zuviel von Nationalsozialismus (bzw. vielmehr über ein Zuviel von Shoah und Thematisierung deutscher Täterschaft) in der Gegenwart zu beklagen. Gerade wenn soziale und politische Zusammenhänge sehr unkonkret thematisiert wurden, kann Antisemitismus sich in diesen Lücken entfalten und Unklarheiten und Uneindeutigkeiten scheinbar auflösen. Die Täter-Opfer-Inversion ist dabei zentrales Element in der antisemitischen Semantik. Nicht direkt von Juden, sondern von Israel zu sprechen, mit der Behauptung »die würden doch das gleiche tun, wie die Nationalsozialisten« um im Umkehrschluss nationalsozialistische Verbrechen zu relativieren, ist ein thematischer Zusammenhang in dem die Täter-Opfer-Inversion geäußert wird; ein weiterer, die Behauptung, die Shoah würde funktionalisiert werden (etwa mit dem Verweis auf Entschädigungszahlungen): Die Opfer werden so als Täter in der Gegenwart dargestellt. Daneben gibt es die Variante, die Taten der NS-Täter in der Vergangenheit mit denen der Alliierten zu parallelisieren oder gar die Verantwortung für den Krieg und die NS-Verbrechen nicht bei den Deutschen zu sehen – oder zumindest die Möglichkeit undurchsichtiger verschwörerischer Zusammenhänge zu erwähnen. Gerade über den Komplex von Verschwörungstheorien, oder den nur selektiv benannten Zusammenhängen, kann ›den Juden‹ diffus Machtund Bedrohungspotenzial zugeschrieben werden. Mit der Spekulation über mögliche »Machenschaften« in der Gegenwart kann der Blick von den Opfern des Nationalsozialismus und den Verbrechen der Deutschen

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abgelenkt werden. Auch allgemein werden Juden in den Erzählungen weitestgehend ausgespart. Sie werden entweder funktional in die Erzählstrang eingebettet, um das positive Bild der Wir-Gruppe zu stützen – oder sie werden als ›andere Gruppe‹ – als different von Deutschen – konstruiert. So bleibt Unsicherheit oder Unklarheit beim Sprechen über Juden vorhanden. Juden werden so als das Dritte markiert: entweder in dem sie als weißer Fleck in den Narrationen nicht erwähnt werden, oder als das Fremde die eindeutigen Ordnungskategorien in den Familienerzählungen stören.

Pluralisierte Erinnerungsmuster in der deutschen Einwanderungsgesellschaft Johanna Frohnhöfer

1. E INLEITUNG Migrationsbewegungen in der Vergangenheit und Gegenwart haben zu einer Beschleunigung gesellschaftlicher Pluralisierungsprozesse beigetragen. Die Heterogenität in der deutschen Bevölkerung bringt eine Vielzahl an Weltanschauungen, Werten, Interessen und Lebensstilen, sowie unterschiedliche kollektive und individuelle Narrative mit sich. Mit dem soziodemographischen Wandel treffen unterschiedliche Erinnerungskulturen aufeinander: Verschiedene kollektive Erzählungen koexistieren, treten miteinander in Dialog, konkurrieren jedoch auch um Anerkennung: Kulturelle Ressourcen überschneiden sich, verschmelzen miteinander, bilden so genannte »Crossovers« (vgl. Georgi und Ohliger 2009: 7). Migrationsprozesse bewirken, dass unterschiedliche Geschichtsbilder ineinander greifen und sich die Familien- und Kollektivgeschichten eines beachtlichen Teils der heute in der Bundesrepublik lebenden Menschen stark von denen der Mehrheitsdeutschen unterscheiden. Zweifelsohne stellen der Nationalsozialismus und seine Nachwirkungen nach wie vor die bedeutendsten Geschichtsereignisse dar und sind »zentrale Themen in den Auseinandersetzungen um das nationale, kollektive und individuelle Selbstverständnis« (Georgi 2003: 10). Da die Vorfahren eines Großteils der in Deutschland lebenden Migranten aber weder Opfer, Zuschauer, Mitläufer noch Täter (vgl. Hilberg 1996) des nationalsozialistischen Regimes waren, kann ein direkter Bezug zur NS-Geschichte nicht vorausgesetzt werden. Jedoch leben diese Menschen in einer Gesellschaft, in der die Geschichte des Nationalsozialismus sowie die Erinnerung an den Mord an sechs Millionen europäischen Juden präsent sind. Von diesen grundsätzlichen Überlegungen ausgehend stellen sich folgende Fragen: Wie positionieren sich in der Bundesrepublik lebende Migranten zur deutschen Vergangenheit? Welche Signifikanz besitzen

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der Nationalsozialismus und der Holocaust für Menschen mit Migrationshintergrund? Wie sehen Berührungspunkte, Konfrontationen, Reaktionen aus, und auf welche Weise findet eine Auseinandersetzung statt? Die zentrale Frage meiner Untersuchung ist, wie Menschen mit unterschiedlichem historisch-politischem Hintergrund den Nationalsozialismus erinnern und welche Orientierungsmuster sie für sich hierbei generieren. Die diesem Aufsatz zugrunde liegenden Ergebnisse stützen sich auf eine empirische Untersuchung, in deren Rahmen in der Bundesrepublik lebende Personen mit türkischem Migrationshintergrund über ihre Berührungspunkte mit dem Thema Nationalsozialismus erzählten und über ihre Auseinandersetzung berichteten. In einem ersten Schritt wird der theoretische Bezugsrahmen erläutert, welcher das Beziehungsgeflecht zwischen Identität und Erinnerung umreißt, sowie Identität im Migrationskontext betrachtet. Der folgende methodische Teil legt die Vorgehensweise in der Datenerhebung und -aufbereitung offen und gibt einen kurzen Einblick in Erfahrungen und Schwierigkeiten, welche sich im Laufe des empirischen Prozesses ergaben. Mein Hauptaugenmerk liegt daraufhin auf der Präsentation der Ergebnisse meiner Untersuchung anhand vier exemplarischer Einzelfalldarstellungen, welche anschließend zusammenfassend gegenübergestellt werden.

2. Z UM Z USAMMENSPIEL

VON I DENTITÄT UND

E RINNERUNG

Wenn der Frage nachgegangen wird, wie sich Migranten in der Bundesrepublik die Geschichte des Nationalsozialismus aneignen und auf welche Weise sie die deutsche Vergangenheit für sich selbst deuten, sind zunächst die Begrifflichkeiten Erinnerung und Identität zu klären. Erinnerung ist ein zentrales Thema bei der Verhandlung von Identität und beide Begriffe stehen in einem »komplexen Beziehungsgeflecht« (Georgi 2003: 20). Es stellt sich auf der einen Seite die Frage, welche Bedeutung Erinnerung für das Herausbilden, Entwickeln und Verhandeln von Identitäten hat, auf der anderen Seite interessiert, wie Identitäten die Wahrnehmung und Tradierung von historischen Ereignissen beeinflussen und schließlich, wie sich Identität und Geschichtsbewusstsein im Migrationskontext gestalten. Stuart Hall zufolge stehen kulturelle Identitäten zunächst für die historischen Erfahrungen und Erinnerungen einer Gruppe und symbolisieren die »gemeinsam genutzten kulturellen Codes« (Hall 1994: 27) – wie beispielsweise Sitten, Gebräuche, Sprache, Wertvorstellungen – und bilden damit den »gleichbleibenden und dau-

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erhaften Referenz- und Bedeutungsrahmen« (Hall 1994: 27), in welchem ein kulturelles Kollektiv handelt. In diesem Sinne bedeuten kulturelle Identitäten Vorstellungen von Einheit, Zugehörigkeitsgefühl und Rückbindung an überindividuelle Erinnerungen und Traditionen. Doch haben kulturelle Identitäten im Zuge der Globalisierung und Pluralisierung eine Wandlung erfahren: Da sich vielfältige Kulturmuster überschneiden, unterschiedliche kulturelle Traditionen kollidieren und sich zu neuen Handlungs- und Denkmustern zusammensetzen, ist die Vorstellung von Kultur als festgefügte Ordnung immer weniger aufrechtzuerhalten. So sind Identitäten in der pluralistischen Gesellschaft vermehrt als soziale, von Diskontinuitäten und Brüchen gezeichnete Erfahrungsprozesse zu sehen, in welchen stets neue Bedeutungen konstruiert werden. Identität existiert nicht von vornherein, noch durchschreitet sie unverändert Ort, Zeit, Geschichte und Kultur. Vielmehr befindet sie sich in einem stetigen Prozess der Veränderung und Entwicklung und wird beeinflusst von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem. Hall versteht damit Identität als widersprüchlich und ihre Konstruktion als niemals abgeschlossen. Seiner Auffassung nach sind Identitäten nicht fixiert sondern schweben »im Übergang zwischen verschiedenen Positionen« (Hall 1994: 218). Kulturelle und historische Identitäten sind demnach »das Resultat komplizierter Kreuzungen und kultureller Verbindungen« (Hall 1994: 218). In Hinblick auf Menschen, welche Migration erfahren haben, führt Hall folgende identitätstheoretische Überlegungen an: »Solche Menschen erhalten starke Bindungen zu den Orten ihrer Herkunft und zu ihren Traditionen, jedoch ohne die Illusion, zur Vergangenheit zurückkehren zu können. Sie sind gezwungen, mit den Kulturen, in denen sie leben, zurechtzukommen, ohne sich einfach zu assimilieren und ihre eigenen Identitäten vollständig zu verlieren. Sie tragen die Spuren besonderer Kulturen, Traditionen, Sprachen und Geschichten, durch die sie geprägt wurden, mit sich. Der Unterschied ist, daß sie nicht einheitlich sind und sich auch nie im alten Sinne vereinheitlichen lassen wollen, weil sie unwiderruflich das Produkt mehrerer ineinandergreifender Geschichten und Kulturen sind und zu ein und derselben Zeit mehreren ›Heimaten‹ und nicht nur einer besonderen Heimat angehören. Menschen, die zu solch Kulturen der Hybridität gehören, mußten den Traum oder die Ambition aufgeben, irgendeine ›verlorene‹ kulturelle Reinheit, einen ethnischen Absolutismus, wiederentdecken zu können.« (Hall 1994: 218)

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Voranstehendes verdeutlicht, dass Geschichtskonstruktionen der Gegenwart von zwei widersprüchlichen, aber parallel stattfindenden Entwicklungen beeinflusst werden, denn sowohl Globalisierungs- als auch Lokalisierungsprozesse haben Auswirkung auf Erinnerungen und das Geschichtsbewusstsein in modernen Gesellschaften. Im Zuge der Globalisierung wird das Erinnerte und Erlebte aus dem nationalstaatlichen Rahmen herausgelöst und damit universalisiert. Die Entkontextualisierung der Erinnerung führt dazu, dass sich eine Art kosmopolitisches Gedächtnis herausbildet (vgl. Levy und Sznaider 2001: 33-49). Im Gegensatz dazu, entsteht durch die Pluralisierung eine »zunehmende Rückbindung individueller wie kollektiver Identitätsbehauptungen an Geschichte« (Angehrn 1985: 4). Es bilden sich regionale Identitätskonstruktionen und lokale Erfahrungsräume, welche sich gegen »die Verschleifung gewachsener Eigenarten in der funktionellen Anonymität der technischen Welt« (Angehrn 1985: 4) wehren. Universalistische und partikularistische Entwicklungen, globale und lokale Erfahrungsräume befinden sich fortan in einem reziproken Verhältnis. Das Herausbilden von Identitäten geschieht damit nicht mehr nur im Rahmen des Lokalen, sondern in »einer grenzüberschreitenden Kommunikations-, Informations- und Medienwelt, die Geschichte unabhängig von Akteuren und Ereignisorten in einem erweiterten Rezeptions- und Reproduktionszusammenhang stellt« (Georgi 2003: 23). Zusammenfassend bedeutet dies, dass gerade in einer Einwanderungsgesellschaft mannigfaltige kollektive Narrative bestehen und Menschen mit unterschiedlichen historisch-politischen Bezugsrahmen zusammenleben. Damit wachsen die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, wächst der Horizont für die je individuelle Selektivität. Einerseits vermehren sich so Deutungskämpfe um Geschichte und Erinnerungsformen, andererseits vermischen sich Geschichtskonstruktionen und es entstehen kosmopolitische Erinnerungen. Migranten befinden sich ohne Zweifel im Spannungsfeld von Zuschreibungsprozessen historischer Bezugsgruppen, im Spannungsverhältnis zwischen dem Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit und Vertrautheit einerseits und dem Öffnen gegenüber Fremdem andererseits. Insofern stehen sie in der deutschen Einwanderungsgesellschaft immer auch vor der Frage, welchen Teil der hiesigen Vergangenheitsbezüge sie wie in ihre je eigene biographische Konstruktion einbauen. Die jeweils praktizierte Selektivität erfolgt dabei immer vor dem Hintergrund eines hochkomplexen Migrations- und

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damit Identitätsprozesses, in den verschiedene Kategorien wie Religion, Geschlecht, ethnische Zuschreibungen etc. einfließen. Wenn jedoch auf Grund angenommener beziehungsweise unterstellter Zugehörigkeit zu bestimmten ethnischen Gruppen, Individuen bestimmte kulturelle Praktiken sowie historische Traditionen zugeschrieben und von ihnen erwartet werden, sei dies kritisch betrachtet, da sich das Individuum der vermuteten ethnischen Gruppe nicht notwendigerweise zugehörig fühlt und auch entsprechende kulturelle Praktiken nicht zwangsläufig ausübt. Historische und kulturelle Kommunikations- und Erinnerungsformen und die Verhandlungen zwischen Mehrheit und Minderheit, laufen nicht konfliktfrei ab, und so können in der Suche nach sozialer Verortung, Abgrenzungstendenzen und damit die Vorstellung und das Bedürfnis von so etwas wie einer »eingehenden kollektiven Identität« provoziert werden. In einer Einwanderungsgesellschaft stellt sich damit die Frage, wie stark Migranten an Erinnerungsmustern ihres Herkunftslandes festhalten oder mit denen des Aufnahmelandes vermischen, oder ob es zu Tendenzen eines »historisch-politischen Vakuums« (Georgi 2003: 35) kommt, wie es Georgi beschrieben hat. Wie setzen sich Menschen mit Migrationshintergrund gerade in Deutschland – wo der Nationalsozialismus mit den Verbrechen ein wichtiger Bestandteil kollektiver Erinnerungen ist – mit dieser Geschichte auseinander? Diese Frage soll mit dem hier skizzierten Hintergrund in der anschließenden Analyse der Interviews beachtet werden. Im folgenden Kapitel werde ich vorher das methodische Vorgehen erläutern und besonderen Fokus auf die Organisation des Feldzuganges legen, um dabei auf spezifische Schwierigkeiten einzugehen, die sich im Verlauf der Erhebungsphase ergeben haben.

3. M ETHODE Befragt wurden in meinem Teilprojekt insgesamt sieben in der Bundesrepublik lebende Personen mit Migrationshintergrund im Alter von 23 bis 58 Jahren, wovon sich eine Person der Kindergeneration zuordnen lässt und jeweils drei der Enkel- sowie Urenkelgeneration (vgl. den Beitrag von Lehmann in diesem Band S. 217 ff.). Die Kontaktaufnahme erfolgte in der Regel mit Hilfe von »Gatekeepern« (vgl. Fuhs 2007: 65f.) oder die Gesprächspartner konnten mittels des Schneeballverfahrens rekrutiert werden. Bekundeten Personen gegenüber den Gatekeepern Interesse an einer Interviewteilnahme, trat ich

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mit ihnen telefonisch in Kontakt, um mich vorzustellen, mein Anliegen zu skizzieren und Vorinformationen zum Interviewablauf zu vermitteln. Interessierte Personen erhielten zudem ein Informationsblatt, dem mein Vorhaben sowie eine Kurzcharakteristik der Interviewsituation entnommen werden konnten. Obwohl über das Schneeballsystem und mit Hilfe von Gatekeepern der Kontakt zu zahlreichen potentiellen Erzählpersonen möglich wurde und letztendlich auch erfolgreich Interviewpartner gewonnen werden konnten, sei darauf hingewiesen, dass die Organisation des Feldzuganges sich als problematischer und langwieriger erwies als erwartet und eine zuvor nicht einkalkulierte Herausforderung darstellte. Voraussetzung für die Teilnahme an einem Interview waren ausreichende Deutschkenntnisse. Die Sprachbarriere stellte sich beim Rekrutieren von potenziellen Interviewpartnern jedoch wiederholt als unüberbrückbar heraus. Als weitere Gründe nicht an einem Gespräch teilzunehmen wurde der zeitliche Aufwand genannt, welcher bei einem qualitativen Interview erheblich sein kann und je nach Erzählbedarf variiert. Darüber hinaus wurde das für das Interview zentrale Thema Nationalsozialismus erwähnt. Das Thema eines Interviews kann der Grund für Schwierigkeiten sein, bereitwillige Gesprächspartner zu finden, da »der Kontakt schwieriger [wird], wenn das Thema gesellschaftliche Konventionen und Tabus berührt« (König 1976: 149). Mehrere Kontaktpersonen waren generell an einer Gesprächsteilnahme interessiert, als sie jedoch erfuhren, dass sie sich zum Thema Holocaust äußern sollten, wurde häufig ein Treffen abgelehnt mit der Begründung, dass man die Thematik als zu heikel empfände und dazu keine Stellung beziehen wollen würde. Da die Vorfahren der in Deutschland lebenden Migranten großteils weder Opfer nationalsozialistischer Gewalt noch Mitläufer oder Täter waren, äußerten potenzielle Interviewpartner außerdem Bedenken, als Gesprächspartner nicht kompetent genug zu sein. Als Motivation für eine Gesprächsteilnahme gaben meine Interviewpartner die Notwendigkeit an, sich mit dem Thema Nationalsozialismus auseinanderzusetzen oder nannten Bedenken, die nationalsozialistische Vergangenheit könne sich im Gegenwartsdeutschland wiederholen. Darüber hinaus weckte allein die Tatsache, dass ich mich in meinem Teilprojekt mit Geschichtsbildern von Migranten auseinandersetzte bei einigen das Interesse und wirkte motivierend. Schließlich wurde der Wunsch genannt, sich über die Situation der in Bundesrepublik lebenden Personen mit Migrationshintergrund zu äußern.

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Im Gegensatz zu den narrativ-biographischen Interviews im Hauptprojekt, wurden in dem hier vorgestellten Teilprojekt leitfadengestützte Interviews praktiziert. Die Auswertung erfolgte jedoch ebenfalls mittels inhaltsanalytischer und sequenzanalytischer Methoden (vgl. Sebald/Brunnert in diesem Band S. 227 ff.) Prinzipiell ließ ich meine Gesprächspartner selbst wählen, wo das Interview durchgeführt werden sollte, was den Vorteil mit sich bringt, dass ein Ort gewählt wird, an dem sich die Befragten wohl und sicher fühlen, was sich wiederum positiv auf die Interviewatmosphäre auswirkt. Bedingungen waren, dass während der Befragung möglichst keine weiteren Personen störten und eine gute Akustik vorherrschte, die eine Tonbandaufzeichnung ermöglichte. Eine ungestörte Aufmerksamkeit war leider bei keinem der durchgeführten Interviews der Fall. Gespräche, unabhängig davon, ob diese in öffentlichen Kulturvereinen, in Moscheen oder bei den Interviewten Zuhause stattfanden, wurden durch interessierte Dritte unterbrochen. Vor dem Interview war stets Zeit für ein informelles, alltagskommunikatives Gespräch, welches darauf abzielte, eine entspannte, freundliche Atmosphäre zu schaffen. Die Gespräche dauerten zwischen 30 Minuten und drei Stunden.

4. E XEMPLARISCHE E INZELFALLDARSTELLUNGEN Im Folgenden werden die Ergebnisse meiner empirischen Untersuchung anhand von vier exemplarischen Einzelfalldarstellungen dargestellt, wobei ich zunächst einen kurzen Einblick in das biographische Portrait der Probanden und deren Migrationsgeschichte gebe, ehe ich für jeden Fall dessen individuelle Zugangsformen zur Thematik des Nationalsozialismus sowie die spezifischen Erinnerungsmuster betrachte. Mein Hauptaugenmerk liegt auf dem Einfluss von Identitätskonstruktionen auf den Umgang mit der NS-Geschichte und wie die Erinnerungen der Aufnahmegesellschaft biographisch anschlussfähig gemacht werden. 4.1 Einzelfalldarstellung Herr Turan1

Herr Turan wurde Anfang der 60er Jahre in Südostanatolien geboren. Nach seinem Abitur verließ er sein Geburtsland, um in einer deutschen 1 | Die Namen aller im weiteren vorgestellten Personen, sowie Orts- und Berufsangaben wurden aus datenschutzrechtlichen Gründen anonymisiert. Auf expliziten Wunsch aller befragten Personen wurden keine Interviewpassagen zitiert.

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Großstadt ein Universitätsstudium aufzunehmen. In der Bundesrepublik lernte er seine heutige Ehefrau kennen. Als diese jedoch damals noch minderjährig ein Kind von ihm erwartete, unterbrach Herr Turan sein Hochschulstudium, um finanziell für seine Frau und seinen Sohn aufkommen zu können. Herr Turan beschreibt diese Zeit als äußerst emotional belastend, was von seiner emotionalen Sprechweise im Interview untermauert wird. Heute ist Herr Turan Vater von sechs Kindern im Alter von fünf bis 26 Jahren. Er präsentiert sich als selbstbewusster Mann muslimischer Glaubenszugehörigkeit, für dessen Leben Religion einen hohen Stellenwert hat, wozu der regelmäßige Besuch der Moschee, die Orientierung an den fünf Säulen des Islam sowie der Kontakt und Zusammenhalt in seiner Glaubensgemeinschaft zählen. Herrn Ws spezifischer Zugang zur NS-Geschichte erschließt sich durch sein persönliches Anliegen, die seiner Ansicht nach gegenwärtige Bedrohung von in Deutschland lebenden Muslimen zu vergegenwärtigen. Seine Wahrnehmung von Geschichte ist durch seine religiöse Selbstverortung geprägt und so deutet er den Holocaust insbesondere als religiöse Verfolgung. Während des gesamten Interviews drängen sich Herrn Turan wiederholt Parallelen zwischen der nationalsozialistischen Vergangenheit und der Fremdenfeindlichkeit im Gegenwartsdeutschland auf. Er thematisiert die Zeit des Nationalsozialismus beinahe ausschließlich im Zusammenhang mit der von ihm als benachteiligt empfundenen Situation muslimischer Migranten in der Aufnahmegesellschaft und erinnert die Geschichte der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen von Diskriminierung, welche von rassistisch geprägten Beschimpfungen über Drohanrufe bis hin zu Übergriffen reichen. Ähnlich wie Juden damals als Ursache für gesellschaftliche Probleme gesehen wurden und Diffamierungen ausgesetzt waren, würden derzeit in der deutschen Öffentlichkeit Muslime für gesellschaftliche Missstände verantwortlich gemacht. Als Angehöriger einer in Deutschland lebenden muslimischen Minderheit sieht sich Herr Turan vor dem Hintergrund der Judenverfolgung im Nazi-Deutschland als potentiell bedrohte Gruppe im rassistischen Gegenwartsdeutschland und übernimmt damit eine Opferperspektive. Seiner Meinung nach bestehe in der deutschen Mehrheitsgesellschaft zwar Konsens darüber, die einstigen Verbrechen nicht an Juden zu wiederholen, jedoch gelte diese Zusicherung nicht gleichzeitig für Muslime. Indem er den fehlenden Schutz für die muslimische Minderheit thematisiert, klagt er die

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deutsche Gesellschaft an und fordert dieselben Sicherheitsgarantien für seine Glaubensgemeinschaft. Die ablehnende Haltung der deutschen Mehrheitsgesellschaft gegenüber Muslimen auf Grund ihres Glaubens und deren mangelnde Anerkennung als gleichwertige Bürger sieht Herr Turan als Indikator für eine mögliche Wiederholung des Holocaust mit anderen der Opfergruppen. Seine Furcht basiert vor allem auf dem Bewusstsein, inmitten von ehemaligen Nationalsozialisten sowie deren Nachkommen zu leben. In diesem Zusammenhang berichtet Herr Turan von einem Besuch der Gedenkstätte Dachau, wobei er sich insbesondere von der ehemaligen Gaskammer äußerst erschüttert zeigt. Das Aufhalten an einem authentischen Schauplatz nationalsozialistischer Verfolgungsund Vernichtungspolitik war begleitet von der Angst, Muslime könnte dasselbe Schicksal ereilen. Er überlegt, was im Falle einer konkreten Wiederholung des Holocaust mit ihm und seiner Familie geschehen würde und sieht insbesondere seine Ehefrau auf Grund des Tragens eines Kopftuches in akuter Gefahr. Das Kopftuch als sichtbares religiöses Merkmal, das in der deutschen Aufnahmegesellschaft als Stigma erfahren wird, wird hier zu einem Verfolgungsmotiv, welches genüge, um interniert zu werden. Mit dieser Analogiebildung rückt Herr Turan gegenwärtige Diskriminierungen von Muslimen in Deutschland vor die historische Kulisse des Nationalsozialismus und steigert das Ausmaß der von ihm empfundenen Ablehnung enorm. Die Ermordung der europäischen Juden dient ihm als mahnendes Beispiel für das mögliche Schicksal der muslimischen Minderheit und untermauert sein persönliches Anliegen, die gegenwärtige Bedrohung von in Deutschland lebenden Muslimen zu vergegenwärtigen. Herr Turan betrachtet die Geschichte aus der Gegenwartsperspektive mit der Absicht, an die deutsche Aufnahmegesellschaft zu appellieren. Sie sei in der Verantwortung, aus der Vergangenheit Handlungsmaximen für die Gegenwart abzuleiten. Er fordert eine geschichtsbewusste Gesellschaft, die aus damaligen Geschehnissen lernt und die Vergangenheit adäquat aufarbeitet, um gegenwärtige Fremdenfeindlichkeit abzuwehren sowie von Menschenrechtsverbrechen vorzubeugen. Der Holocaust dient ihm als Begründung für seine moralische Forderung an die deutsche Gesellschaft, eine Besserung der Situation der in der Bundesrepublik lebenden Muslime zu bewirken. Des Weiteren verweist Herr Turan über das konkrete historische Ereignis des Nationalsozialismus hinaus auf Menschenrechtsfragen und schlägt damit den Bogen vom Konkreten zum Universalistischen. Sein

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weltgesellschaftlicher Anspruch wird deutlich, wenn er wiederholt Menschenrechtsfragen thematisiert und die Argumentation auf die Menschheit bezieht. Jeder Mensch sei moralisch verpflichtet, aus der NS-Geschichte zu lernen, ungeachtet seiner Nationalität und Religion sowie unabhängig davon, ob er Opfer, Täter oder gänzlich Unbeteiligter und Unschuldiger war. Als Mensch stehe man in der Verantwortung, sich mit Menschenrechtsmissachtungen jeglicher Art auseinanderzusetzen, der Opfer zu gedenken und die Täterschaft kritisch zu bewerten. Er identifiziert die Notwendigkeit des Erinnerns als universalistisch-humanistische Verpflichtung, da nur auf diesem Wege ein friedvolles Zusammenleben möglich wäre, Partikularismen an Bedeutung verlören und ethnische Grenzen in der Handlungsdimension keine Rolle mehr spielten. In diesem Zusammenhang wird Herr Turan nicht müde, weitere menschenrechtsverachtende Vergehen als universelle Probleme zu thematisieren und zeigt damit ein Bedürfnis nach Kosmopolitisierung der historischen Erfahrung. Auf diese Weise wird der Holocaust aus dem historischen Kontext herausgelöst, auf andere gesellschaftliche Kontexte übertragen und universalisiert. Durch die Entkontextualisierung verliert der Nationalsozialismus als historisches Ereignis seine Singularität und wird zum Ausgangs- und Bezugspunkt, um andere Menschenrechtsverletzungen einzuordnen und zu verurteilen. Herrn Turans religiöse Argumentation sowie seine universalistische Perspektive lassen sich in seiner Identitätskonstruktion wieder erkennen. Sein Entschluss, im Jahre 2004 die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen, war nicht von pragmatischen Beweggründen geprägt, sondern stellte für ihn eine persönlich bedeutsame und emotionale Entscheidung dar. Argumentativ begibt sich Herr Turan auf die Ebene religiöser Identität: Als gläubiger Moslem stand für ihn fest, auch nach Annahme der hiesigen Staatsbürgerschaft seinen muslimischen Glauben zu praktizieren. Die Wahl der deutschen Staatangehörigkeit musste somit kompatibel sein mit seiner Religionszugehörigkeit und -ausübung. Wider Erwarten erlebte er in der Aufnahmegesellschaft auf Grund seiner muslimischen Religionszugehörigkeit wiederholt Ausgrenzung und Rassismus und seine Auffassung von Deutschsein erfuhr einen drastischen Bruch: Aufgrund der Erkenntnis, dass er in der Einwanderungsgesellschaft nicht angenommen wurde, lehnt Herr Turan heute jegliche nationale Selbstverortung ab. Eine nationalstaatliche Verbundenheit besitzt für ihn keine Relevanz mehr, und es scheint, als ob in seinem Welt-

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entwurf die nationale Identität der religiösen Identität gewichen sei, wodurch ethnische Zuschreibungen bedeutungslos werden, seien diese türkisch oder deutsch. 4.2 Einzelfalldarstellung Herr Ünal

Herr Ünal wurde im Jahr 1983 in einer deutschen Großstadt geboren. Sein Vater hat arabische, türkische und kurdische Wurzeln, seine Mutter ist Deutsch-Amerikanerin. Herrn Ünals Vater immigrierte in den 80er Jahren berufsbedingt nach Deutschland, wo er seine zukünftige Ehefrau kennenlernte, mit ihr eine Familie gründete und sich in Folge entschied, im Immigrationsland zu bleiben. Herr Ünal studiert derzeit an einer technischen Fachhochschule einer deutschen Mittelstadt. Im gesamten Interview ist augenscheinlich, dass sich Herr Ünal als Türke mit muslimischen Glauben definiert. So zeigt er sich sichtlich verwundert, als die Interviewerin nach seinem ethnischen Zugehörigkeitsgefühl sowie seiner religiösen Orientierung fragt. Eine nationalstaatliche Verbundenheit mit der Türkei ist für Herrn Ünal von großer Relevanz und auch die Tatsache, dass er über die deutsche Staatsangehörigkeit verfügt, ändert nichts an seinem türkischen Selbstverständnis. Eine Identifikation mit Deutschland lehnt er strikt ab, er verortet sich außerhalb des deutschen Kollektivs. Seine eindeutige Selbstverortung als Türke mag vor dem Hintergrund der Hybridität seiner Familie überraschen. Die Tatsache, dass seine Mutter Deutsch-Amerikanerin ist sowie dass sein Vater sich nicht eindeutig einer ethnischen Gruppe zuordnen lässt, ist für Herrn Ünals Identitätskonstruktion bedeutungslos. Das kulturelle Zugehörigkeitsgefühl von Herrn Ünal beeinflusst seinen individuellen Umgang mit der NS-Geschichte: Eine persönliche Verantwortung für die deutsche Vergangenheit weist er zurück und bezieht sich auf die Erinnerungskultur seines Herkunftslandes. Herr Ünal hat eine distanzierte bis ablehnende Haltung gegenüber Deutschland, die sich unter anderem darin zeigt, dass er die deutsche Gesellschaft der tendenziellen Holocaustleugnung anklagt. Herr Ünal sieht die deutsche Bevölkerung in der moralischen Verpflichtung, sich mit dem Holocaust auseinanderzusetzen sowie die NS-Verbrechen zuzugeben. Während er die Deutschen in der Pflicht sieht, sich mit dem Holocaust auseinanderzusetzen, stehe er als Türke hingegen in der Verantwortung, den Genozid an den Armeniern durch die Osmanen, anzuerkennen. Vor diesem Hintergrund stellt Herr Ünal einen Vergleich an zwischen der Vernichtung

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von Juden durch die Nationalsozialisten und der Verbrechen an den Armeniern durch die Osmanen. In diesem Zusammenhang fordert er einen sachlichen Umgang mit der Geschichte und einen objektiven Blick auf menschenrechtsverachtende Handlungen in den jeweiligen Nationen. Des Weiteren beanstandet Herr Ünal, dass geäußerte Kritik an Juden zugleich als Antisemitismus ausgelegt würde und es missfällt ihm, dass die jüdische Bevölkerung auf Grund der damals erlittenen Grausamkeiten gegenwärtig nicht kritisiert werden dürfe. Das jüdische Volk genösse auf Grund des erfahrenen Leids zur Zeit des Nationalsozialismus auch heute noch einen monopolisierten Opferstatus, welcher es vor xenophoben Anfeindungen bewahre und kritische Stimmen in die Schranken weise. In diesem Zusammenhang bezichtigt er Israel der Instrumentalisierung dieses Opferstatus, indem es ihn für gegenwärtige Zwecke – insbesondere bei der Kriegsführung im Nahen Osten – missbrauche.2 Herr Ünal sieht es als nicht gerechtfertigt, das Schicksal lediglich einer religiösen Gruppe in der Öffentlichkeit zu fokussieren. Anscheinend bestehe zwar Konsens darüber, die einstigen Verbrechen nicht an Juden zu wiederholen, jedoch beziehe sich diese Zusicherung ausschließlich auf die jüdische Bevölkerung und schließe damit andere ethnische und religiöse Gruppen aus. Er fordert, den Blick ebenso auf die Diskriminierungen anderer Religionen zu richten, denn: Während man sich, in der Absicht einer Wiederholung des Holocaust vorzubeugen, auf den Schutz der jüdischen Bevölkerung konzentriere, würde man Erniedrigungen und Diskreditierungen anderer Religionen übersehen. Voranstehenden Schilderungen entsprechend führt Herr Ünal als Beispiel seine eigene religiöse Bezugsgruppe, die Muslime, an, deren Diskriminierung er öffentlich gebilligt sieht. In Folge beruft er sich auf die Verabschiedung des umstrittenen Anti-Terror-Gesetzes des ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush Ende des Jahres 2006, welches den Umgang mit Terrorverdächtigen regelte. Die zweifelhaften Verhörmethoden, das Festhalten von mutmaßlichen Terroristen unter fragwürdigen Bedingungen in USGefängnissen sowie die Tatsache, dass unter Terrorverdacht stehende Muslime inhaftiert würden, ohne Anspruch auf Haftprüfung durch ein ziviles Gericht werde in der Öffentlichkeit billigend hingenommen. Vor 2 | Diese Ansicht entspricht dem Phänomen der »Täter-Opfer-Inversion« (Rosenthal 1997a: 34), welches sich in der Behauptung manifestiert, die ehemaligen Opfer des Nationalsozialismus würden im Nahen Osten selbst zu Tätern (Weiterführend in: Rothberg 2008: 177-194), vgl. dazu auch den Beitrag von Öchsner in diesem Band S. 109 ff.

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diesem Hintergrund drängten sich ihm Parallelen auf zwischen der Judenverfolgung zur Zeit des Nationalsozialismus und der Fahndung nach Muslimen seit den Terroranschlägen des 11. September 2001. Indem er die Ungerechtigkeit, welche terrorverdächtigen Muslimen widerfährt, mit der Diskriminierung der jüdischen Minderheit vergleicht, relativiert er den Holocaust und überträgt die Geschichte auf gegenwärtige gesellschaftliche Kontexte. Wie einst die Augen vor der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung verschlossen wurden, so nehme man gegenwärtig die Menschenrechtsverletzungen an terrorverdächtigen Muslimen hin. Eine Wiederholung der Geschichte mit Austausch der Opfergruppen hält er in diesem Kontext für durchaus denkbar. Seiner Ansicht nach würde die Menschheit nicht realisieren, wenn sich eine Wiederholung der Vergangenheit, in welcher Form auch immer, abzeichne. Die mangelnde Bereitschaft und der fehlende Mut xenophoben Tendenzen entgegenzutreten, stellten damals wie auch heute die Weichen für Menschenrechtsmissachtungen und seien der Nährboden für Rassismus. Eine Wiederholung der Geschichte müsse sich auch nicht zwangsläufig in Deutschland ereignen, sondern könne ebenso in einem anderen Land oder auf einem anderen Kontinent geschehen. In diesem Sinne berücksichtigt Herr Ünal weder die historische Dimension des Nationalsozialismus, noch lässt er sich auf einen spezifischen Kontext ein. Seine Schilderungen verharren auf einer abstrakten Ebene und deuten damit einen universalistisch orientierten Zugang zur NS-Geschichte an, wonach er, ausgehend von der nationalsozialistischen Vergangenheit, den Fokus auf gegenwärtige Diskriminierungen von Menschen – von Muslimen – legen möchte. 4.3 Einzelfalldarstellung Frau Yilmaz

Die Großeltern von Frau Yilmaz kamen Mitte der 60er Jahre als Gastarbeiter nach Deutschland und remigrierten mit Erreichen des Rentenalters Ende der 70er Jahre in die Türkei. Frau Yilmaz wurde 1984 in einer deutschen Großstadt geboren. Da ihre Eltern zu dieser Zeit beruflich stark belastet waren, gaben sie ihre Tochter im Alter von zwei Monaten zu den Großeltern in die Türkei, die in der Folge die Erziehung und Fürsorge bis zu deren elften Lebensjahr übernahmen. Ihre Eltern beabsichtigten zunächst durch Arbeit und Ersparnisse die Grundlage für eine bessere Zukunft zu sichern, ehe sie ihre Tochter wieder zu sich nehmen wollten. Frau Yilmaz beschreibt die in der Türkei verbrachte Zeit als unbe-

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schwert, welche sie außerordentlich genossen habe. Die Migration nach Deutschland schildert sie hingegen als tiefen Einschnitt und Bruch in ihrer Lebensgeschichte. Die ersten Jahre im Immigrationsland empfand sie als belastend und qualvoll. Aus ihrem vertrauten sozialen Umfeld herausgerissen, habe sie sich nur sehr schwer in einem fremden Land mit einer fremden Kultur zurecht gefunden. Frau Yilmaz hat die Realschule erfolgreich beendet und befindet sich derzeit in ihrer Berufsausbildung. Im Interview legt Frau Yilmaz den Fokus auf ihre eigene Herkunftsgeschichte, welche sie äußerst ausführlich darstellt. Ihre Migrationserfahrungen sind für die Konstruktion ihrer Identität maßgeblich. Sie möchte sich nicht eindeutig auf eine historische Bezugsgruppe festlegen, da sie sich sowohl in der deutschen Aufnahmegesellschaft als auch in der Migrationskultur sicher bewegen könne. Auf Grund dessen, dass sie elf Jahre lang in der Türkei lebte und dort zur Schule ging, besitze sie grundlegende Kenntnisse über türkische kulturgebundene Verhaltensweisen und Eigenschaften. Doch fühle Frau Yilmaz sich ebenfalls in Deutschland heimisch. So habe sie sich durch den Umgang mit deutschen Freunden die hiesigen kulturellen Praktiken und Handlungsweisen angeeignet und wisse, ihr Leben hier zu meistern. Wenn sie betont, in und mit zwei Kulturen leben zu können und zu wollen, lässt sie keinen Zweifel an ihrer kulturellen Doppelkompetenz. Voranstehendes verdeutlicht, dass sie nicht zwischen zwei Stühlen sitzend von kultureller Nichtzugehörigkeit bestimmt ist, sondern gewissermaßen auf beiden oder allen Stühlen sitzt (vgl. Beck-Gernsheim 2004: 90). Frau Yilmaz’ doppelte kulturelle Selbstverortung hat Einfluss auf ihren Umgang mit Geschichte. Sie beruft sich zum einen auf die Erinnerungskultur ihres Herkunftslandes und beschäftigt sich zum anderen mit historischen Narrativen der Einwanderungsgesellschaft. Eine Auseinandersetzung mit der NS-Thematik als verpflichtende Aufgabe lehnt sie jedoch strikt ab. Im Gegenteil sollte man ihres Erachtens, als in Deutschland lebender Migrant, die Möglichkeit erhalten, ein persönliches Interesse an der NS-Thematik zu entwickeln, eigeninitiativ Fragen zu stellen und selbst zu entscheiden, ob und auf welche Weise man sich mit der deutschen Vergangenheit befassen möchte. Wenn Frau Yilmaz ihr Wissen über den Nationalsozialismus erinnert, trennt sie zwischen der Informationsvermittlung im Schulunterricht auf der einen Seite und ihrem eigenen Interesse am Thema auf der anderen Seite. Die Informations- und Wissensvermittlung im Unterricht wird von

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ihr als funktional empfunden. Zwar betont sie die Aufgabe der öffentlichen Institution Schule, das grundlegende Wissen über die deutsche Geschichte zu vermitteln, jedoch liege es in der Entscheidung jedes einzelnen Migranten, inwiefern er sich tiefergehend mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands auseinandersetzen möchte. Die Differenzierung zwischen funktionaler Wissensvermittlung einerseits und eigeninitiativer Auseinandersetzung andererseits wird untermauert durch ihre unterschiedliche Erzählweisen während des Interviews: Während ihre Schilderungen über die schulischen Informationen über den Nationalsozialismus distanziert und emotionslos, ja scheinbar gleichgültig klingen, ändert sich ihre nüchterne Erzählweise schlagartig, wenn sie von ihrer eigeninitiativen Beschäftigung mit der Thematik, im deren Rahmen sie das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg besichtigte, erzählt. Von den Erlebnissen der selbst initiierten Besichtigung dieses Dokumentationszentrums ist Frau Yilmaz schockiert und beschreibt gefühlsbeladen ihre Impressionen. Die Auseinandersetzung mit den Fotowänden und Videos, auf welchen Adolf Hitler zu sehen ist, hinterließen einen tiefen Eindruck. Insbesondere die Tonbandaufzeichnungen von Hitlers Stimme erschüttern sie nachhaltig. Ihre Erfahrungen im Dokumentationszentrum scheinen geprägt von Fassungslosigkeit, Verständnislosigkeit und tiefer Traurigkeit, was sie während der Besichtigung zum Weinen brachte und auch noch Tage danach zu Albträumen führte. Frau Yilmaz kommuniziert, dass jegliche Erzählungen über die imposanten Monumentalbauten des Reichsparteitagsgeländes ihr Vorstellungsvermögen überstiegen hätten. Erst als sie sich selbst an dem authentischen Schauplatz der NS-Geschichte aufhielt, habe sie sich das architektonische Ausmaß verbildlichen können. Insbesondere vom Zeppelinfeld, welches während der Reichsparteitage unzählige Menschen aufnehmen konnte sowie von der Zeppelintribüne mit der Sprecherkanzel Hitlers, zeigt sie sich ergriffen. Von einer Wiederholung des Holocaust ist Frau Yilmaz überzeugt, da ihres Erachtens gegenwärtig Ähnliches wie zur NS-Zeit passiere. In diesem Zusammenhang erwähnt sie, dass das Führen früherer, gegenwärtiger als auch zukünftiger Kriege stets von religiösen Motivationslagen geprägt sei. Sie betont, dass Kriege wegen der Religion geführt würden und deutet auch den Holocaust als Verbrechen an der jüdischen Glaubensgemeinschaft und somit als religiöse Verfolgung. Frau Yilmaz drängten sich in Folge Parallelen auf zwischen der Zeit des National-

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sozialismus und dem seit 1991 tobenden Bürgerkrieg in Somalia. Sie verweist auf die blutigen Übergriffe von Muslimen auf Christen, welche auf Grund ihres christlichen Glaubens von Islamisten ermordet würden und stellt das Ermorden von Christen durch die Muslime in Somalia der Vernichtung von Juden durch die Nationalsozialisten gegenüber. An späterer Stelle des Interviews thematisiert Frau Yilmaz zudem die Invasion des Iraks durch die Streitkräfte der Vereinigten Staaten. Auch in diesem Fall sieht sie Religion als die Ursache und Motivation der Kriegsführung und zieht darüber hinaus einen Vergleich zwischen der Verfolgung von Muslimen durch die US-Amerikaner und der Ermordung von Juden durch die Nationalsozialisten. Frau Yilmaz’ Schilderungen, in welchen sie den Holocaust mit dem Bürgerkrieg in Somalia sowie mit dem Irakkrieg vergleicht, sind äußert emotionalisiert. In beiden Fällen versucht sie sich in die Rolle der jeweiligen Opfer einzufühlen und schildert diffus ein Szenario aus Panik und Angstgefühlen, welches sie während des Interviews beinahe zum Weinen bringt. Im Zusammenhang mit einer möglichen Wiederholung des Holocaust berichtet Frau Yilmaz von ihren persönlichen Erfahrungen mit Diskriminierung durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft, welche von verbalen Beleidigungen bis hin zu Handgreiflichkeiten reichen und sieht das gegenwärtige fremdenfeindliche Verhalten von Vertretern der Großelterngeneration in deren nationalsozialistischen Vergangenheit begründet. Das Wissen um die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands sowie das Erleben von Diskriminierung in der Gegenwart lassen Frau Yilmaz skeptisch und misstrauisch werden. Sie meint, sie lebe inmitten von ehemaligen Nationalsozialisten, was ihr immense Furcht bereitet und zweifelt daran, dass sich die Gesinnung der einstigen Tätergeneration grundlegend geändert habe. Auch gegenwärtig befürchtet sie in der deutschen Aufnahmegesellschaft nationalsozialistisch gefärbte Denk- und Handlungsmuster. 4.4 Einzelfalldarstellung Herr Zebari

Herr Zebari wurde im Jahr 1981 in einer deutschen Großstadt geboren. Er stammt aus einer kurdischen Familie. Sein Großvater kam Anfang der 60er Jahre als Gastarbeiter in die Bundesrepublik, in den 70er Jahren zog dessen Familie nach. Mit dem Eintritt in das Rentenalter remigrierten die Großeltern in die Türkei und kämen, so Herr Zebari, nicht einmal mehr zu Besuch nach Deutschland. Beide Elternteile sind Aleviten und im

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Cemevi3 sehr engagiert. Herr Zebari bezeichnet sich selbst zwar als nicht religiös, übernimmt jedoch regelmäßig ehrenamtlich Tätigkeiten im alevitischen Kulturzentrum. Er beendete erfolgreich die Fachoberschule und studiert heute an einer Fachhochschule einer deutschen Großstadt. Im gesamten Interview wählt Herr Zebari die Kurden als kulturelle Bezugsgruppe. Er besteht darauf, als Kurde anerkannt zu werden und legt großen Wert auf die Unterscheidung zwischen Kurden und Türken, welche, zu seinem Ärger, erfahrungsgemäß von der deutschen Mehrheitsgesellschaft als einheitliche Gruppe wahrgenommen würden. Eine Verortung innerhalb des türkischen Kollektivs sowie eine Identifikation mit Deutschland lehnt er strikt ab. Deutschland sei zwar das Land, in welchem er geboren wurde und aufwuchs, doch habe er sich hier nie heimisch gefühlt, was er darauf zurückführt, dass er sich von der deutschen Mehrheitsgesellschaft durch sein optisches Erschienungsbild, wie beispielsweise seine dunklen Haare oder seinem dunklen Teint unterscheide. Sein Aussehen klassifiziere ihn sowohl in der Wahrnehmung der Aufnahmegesellschaft als auch in seiner eigenen Wahrnehmung als anders und wird als Stigma erfahren. Ebenso die Tatsache, dass er zu Hause eine andere Sprache spreche als in öffentlichen Institutionen kennzeichne ihn als nicht-deutsch. Doch auch die Türkei empfinde er nicht als sein Zuhause, da er dort als Almanci, sprich Deutscher, ausgegrenzt und diskriminiert würde. Als ein in Deutschland lebender Migrant lebe er in einem Spannungsverhältnis zwischen den Forderungen, Wünschen und Erwartungen zweier Kulturen. Auf der einen Seite möchte er den Vorstellungen der eigenen Familie gerecht werden und diese nicht enttäuschen, auf der anderen Seite spüre er die Erwartungen der Aufnahmegesellschaft. Es wird deutlich, dass Herr Zebari die Unterschiede der Kulturkreise nicht als Bereicherung auffasst, sondern als Gegensatz empfindet und sich gewissermaßen als zwischen zwei Stühlen sitzend begreift. Das kulturelle Zugehörigkeitsgefühl von Herrn Zebari beeinflusst seine spezifischen Verarbeitungsmuster im Umgang mit der NS-Geschichte. Insbesondere der türkisch-kurdische Konflikt wird zum beherrschenden Thema und zum Ausgangspunkt beinahe aller seiner Geschichts3 | Bei einem Cemevi handelt es sich um ein alevitisches Gotteshaus und auch Kulturzentrum. Es ist der Ort, an welchem die Gemeinde zusammenkommt, um religiöse Rituale (Cem-Zeremonie) abzuhalten sowie um alevitische Lehren zu vermitteln und zu diskutieren.

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konstruktionen. Die deutsche Vergangenheit versteht Herr Zebari nicht als die seinige und lehnt in Folge die Erinnerungskultur sowie die Geschichtsbilder und kollektiven Narrative Deutschlands als Bezugspunkt ab. Er verweist zwar auf das schreckliche Schicksal der jüdischen Bevölkerung sowie auf grausame Verbrechen an Juden zur Zeit des Nationalsozialismus, jedoch sei dies nicht Bestandteil seiner eigenen Vergangenheit. Wenn Herr Zebari darauf hinweist, man habe gegenwärtig mit anderen Problemen zu kämpfen, zeigt sich sein Bedürfnis, sich nicht mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen, sondern mit aktuellen Diskriminierungen. Wiederholt betont er, als Kurde keine Notwendigkeit zu sehen, sich mit einer fremden Vergangenheit zu befassen, da für ihn die Beschäftigung mit der Verfolgung und Unterdrückung seiner Landesleute durch die Türken wichtiger sei. Die Vehemenz, mit welcher Herr Zebari die Aktualität der Kurdenfrage und sein politisches Engagement für die Rechte der Kurden betont, ist bemerkenswert. Dies stoße innerhalb des alevitischen Kulturzentrums wiederholt auf Widerstand der türkischen Mitglieder und entfache hitzige Diskussionen. Er thematisiert die Verfolgung und das Leiden seines Volkes und beklagt die Ungerechtigkeiten, welche diesem in der Türkei widerfahren würden. Er kritisiert, dass die Kurden als eigenständige Bevölkerungsgruppe bisher nicht anerkannt seien und ihnen das Recht auf Existenz als Nation abgesprochen würde. Kurden seien in der Bewahrung und Entfaltung ihrer kulturellen Identität stark eingeschränkt und so sei ihnen der Gebrauch der kurdischen Sprache gesetzlich verboten sowie die Nutzung kurdischer Rundfunk- und Fernsehsender untersagt, kurdische Literatur würde darüber hinaus konfisziert. Herr Zebari rückt die Repressionen gegen Kurden in den Fokus des Gespräches. Der Nationalsozialismus dient ihm lediglich als historische Kulisse, um auf gegenwärtige Probleme der Kurden zu verweisen. So setzt er die Verfolgungsgeschichte der jüdischen Minderheit durch die Nationalsozialisten in Beziehung zu der Verfolgungsgeschichte der kurdischen Minderheit in der Türkei und überträgt damit die Geschichte auf gegenwärtige gesellschaftliche Kontexte: An die Stelle der einst bedrohten Juden sei eine andere potentiell gefährdete Gruppe – das kurdische Volk – gerückt. Unterdrückung und Verfolgung ethnischer Minderheiten, sei dies zur Zeit des Nationalsozialismus oder in der heutigen Türkei, hätten seines Erachtens ihren Ursprung stets im Nationalismus: Während damals in Deutschland der nationale Gedanke im Nationalsozialismus kumulierte, bewirke gegenwärtig der türkische

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Nationalstolz, sich über andere Bevölkerungsgruppen zu erheben und sich gegen Minderheiten im eigenen Land – die Kurden – zu stellen. Eine Wiederholung der Geschichte hält Herr Zebari jedoch für undenkbar. Er nimmt eine universalistische Perspektive ein, wenn er argumentiert, dass die Welt Verbrechen dieses Ausmaßes nicht erneut zulassen würde und sieht die Menschheit in der Verantwortung, menschenrechtsverachtende Verbrechen zu verhindern. Zeichne sich eine Wiederholung des Holocaust ab, würde es weder an Mut noch an Bereitschaft fehlen, einer wiederaufkeimenden faschistischen Diktatur in Deutschland Einhalt zu gebieten. Bezeichnenderweise hält Herr Zebari eine Wiederholung insbesondere deswegen für unmöglich, da sich im Ernstfall die unzähligen in Deutschland lebenden Migrantengruppen zusammenschließen würden, um gemeinsam mit den oppositionellen Deutschen Widerstand zu leisten. Er imaginiert, dass selbst Kurden und Türken ungeachtet ihrer Konflikte gemeinsam erneuten nationalsozialistischen Tendenzen entgegentreten würden. Sogar die unüberwindbar scheinenden ethnischen Differenzen zwischen Kurden und Türken würden angesichts des Kampfes gegen ein neues deutsches Terrorregime in den Hintergrund rücken und verlören vor dem Hintergrund eines gemeinsamen, übergeordneten Ziels an Bedeutung. Den Deutschen gesteht Herr Zebari einen Lernprozess zu und setzt auf ein verändertes Bewusstsein insbesondere der jungen Generation. Die meisten Deutschen hätten die Notwendigkeit des Lernens aus der Vergangenheit erkannt und sich entsprechend mit den damaligen Verfehlungen und Versäumnissen auseinandergesetzt. Ihm scheint es ein persönliches Anliegen zu sein, die Vertreter der deutschen Nachfolgegenerationen von einem möglichen Schuldzusammenhang zu distanzieren. Die individuelle Schuld, welche einst deren Vorfahren auf sich geladen hatten, könne nicht an nachfolgende Generationen weitergegeben werden, sondern sei generationsabhängig. Die Tatsache, dass die Nachgeborenen der Tätergeneration zur Zeit des Nationalsozialismus nicht gelebt hätten, versteht er als eindeutiges Entlastungsmoment. Auch bezüglich der damaligen Tätergeneration ist Herr Zebari auf der Suche nach Entlastungszeugen, welche die nationalsozialistische Diktatur nicht unterstützten, sondern in den Widerstand gingen und zivilen Ungehorsam zeigten. Er versucht die Deutschen allgemein zu verteidigen, indem er darauf hinweist, dass viele von ihnen nur auf Druck und unter Zwang staatskonform gehandelt hätten und erklärt damit einen Teil der Deutschen gewissermaßen selbst zu Opfern des Nationalsozialismus.

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Bezüglich des Nahostkonfliktes sind die Aussagen von Herrn Zebari gezeichnet von Vorwürfen gegenüber Israel sowie antizionistischen Bemerkungen. Er erzürnt sich über Israels Luftangriffe, welche Verwüstung und Zerstörung im Gazastreifen anrichten und thematisiert das Leid und Elend der Palästinenser sowie die unzähligen Verletzten und Toten nach israelischen Bombardements. Er erklärt die Palästinenser zu Opfern und die Israelis zu Tätern im Nahen Osten und zeigt sich in diesem Zusammenhang solidarisch mit der palästinensischen Bevölkerung. Vehement kritisiert er die deutsche Nahostpolitik, welche, auf Schuldgefühlen basierend, die besondere Verpflichtung gegenüber Israel betont. Deutschland fühle sich auf Grund der nationalsozialistischen Vergangenheit fälschlicherweise auch heute noch schuldig und gegenüber der jüdischen Bevölkerung verpflichtet. Die besondere Verantwortung für Israel sowie das Eintreten für dessen Interessen würden lediglich den unmöglichen Versuch darstellen, Geschehenes wieder gutmachen zu wollen. Herr Zebari akzentuiert im Gegensatz dazu die unbedingte Verpflichtung Deutschlands, für die Interessen der palästinensischen Bevölkerung einzutreten, was er mit der Tatsache begründet, dass der größte Anteil der in der Bundesrepublik lebenden Migranten arabischer Herkunft sei.

5. Z USAMMENFASSUNG DER E INZELFÄLLE IN B EZUG G EMEINSAMKEITEN UND U NTERSCHIEDE

AUF

Mit den obigen Fallrekonstruktionen wurde exemplarisch gezeigt, wie sich Migranten in Deutschland gegenüber der NS-Geschichte positionieren und auf welche Weise sie die deutsche Vergangenheit bearbeiten. Die Ergebnisse deuten auf eine Vielfalt individueller Zugänge und Aneignungsformen der Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus hin. Im Folgenden werde ich die vier vorgestellten Einzelfälle kurz zusammenfassen, indem ich deren individuelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeite. In allen vier Fällen erweist sich das individuelle kulturelle Zugehörigkeitsgefühl als Schlüsselkomponente der jeweiligen Geschichtsbezüge, anhand derer die Befragten ihre Verarbeitungsstrategien im Umgang mit der NS-Geschichte entwickeln, um die Vergangenheit der Einwanderungsgesellschaft biographisch anschlussfähig zu machen:

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• Herr Turan begibt sich argumentativ auf die Ebene religiöser Identität. Es lassen sich bei ihm weder »ethnischer Absolutismus« (Hall 1994: 218) noch »kulturelle Reinheit« (Hall 1994: 218) erkennen, sondern er trägt vielmehr Spuren mehrerer, nicht-einheitlicher und inneinandergreifender Kulturen in sich, was mit Hall als hybride Identität bezeichnet werden kann (vgl. Hall 1990: 225). Eine nationalstaatliche Verbundenheit sowie ethnische und kulturelle Zuschreibungen besitzen in Herrn Turans Weltenentwurf keine Bedeutung mehr und so wählte er die Religion als zentrales identitäres Moment. Seine Wahrnehmung von Geschichte ist durch die religiöse Selbstverortung geprägt und so deutet Herr Turan den Holocaust als religiöse Verfolgung: Wurde damals die jüdische Glaubensgemeinschaft diffamiert, sieht er gegenwärtig Muslime auf Grund ihres Glaubens in Gefahr. Herr Turan nimmt eine universalistische Position ein und überträgt das historische Unrecht auf andere gesellschaftliche Kontexte. Der Nationalsozialismus dient ihm als Ausgangs- und Bezugspunkt, um weitere Menschenrechtsverletzungen einzuordnen und zu verurteilen. • Herr Ünal definiert sich trotz der ethnischen Hybridität seiner Eltern eindeutig als Türke mit muslimischen Glauben und so lässt sich bei ihm eine durch die Pluralisierung entstandene »zunehmende Rückbindung individueller wie kollektiver Identitätsbehauptungen an Geschichte« (Angehrn 1985: 4) erkennen. Eine nationalstaatliche Verbundenheit mit der Türkei scheint für ihn von großer Bedeutung zu sein und auch die Tatsache, dass er über die deutsche Staatsangehörigkeit verfügt, ändert nichts an seinem türkischen Selbstverständnis. Eine Identifikation mit Deutschland lehnt er strikt ab und verortet sich außerhalb eines »deutschen Kollektivs«. Das kulturelle Zugehörigkeitsgefühl von Herrn Ünal prägt seinen spezifischen Zugang zur NS-Geschichte. Er weist persönliche Verantwortung für die deutsche Vergangenheit sowie eine Übernahme des historischen Erbes entsprechend seiner Identitätskonstruktion für sich selbst zurück und wählt die Erinnerungskultur seines Herkunftslandes als Bezugspunkt: Herr Ünal thematisiert einerseits den Genozid an den Armeniern durch die Osmanen, andererseits zeigt er sich bezüglich des Nahostkonfliktes solidarisch mit der palästinensischen Bevölkerung und bezichtigt die jüdische Bevölkerung der Instrumentalisierung ihres durch Erfahrung

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nationalsozialistischer Gewalt entstandenen Opferstatus für gegenwärtige politische Zwecke. • Frau Yilmaz möchte sich nicht eindeutig auf eine historische Bezugsgruppe festlegen. Vielmehr erweist sich bei ihr eine kulturelle Doppelkompetenz. Sie kann sich sowohl in der deutschen Einwanderungsgesellschaft als auch in der Migrationskultur sicher bewegen, als zentrales Moment, was wiederum ihren Umgang mit Geschichte beeinflusst. Im Zuge ihrer Migrationserfahrung haben sich vielfältige Kulturmuster überschnitten und setzten sich zu neuen Handlungs- und Denkmustern zusammen. Mit der Migration nach Deutschland im Alter von elf Jahren wird ein von Diskontinuitäten und Brüchen gezeichneter Erfahrungsprozess beschrieben, in welchem neue Bedeutungen konstruiert wurden. Frau Yilmaz beruft sich sowohl auf die historischen Narrative ihres Herkunftslandes als auch der Einwanderungsgesellschaft. Eine Auseinandersetzung mit der NS-Thematik als verpflichtende Aufgabe lehnt sie jedoch strikt ab. Im Gegenteil sollten ihres Erachtens Migranten die Möglichkeit erhalten, selbst zu entscheiden, ob und auf welche Weise sie sich mit der deutschen Vergangenheit befassen möchten. • Herrn Zebaris kulturelle Selbstverortung als Kurde erweist sich als Schlüsselkomponente, seine Verarbeitungsstrategien im Umgang mit der NS-Geschichte zu entwickeln. Die Unterschiede der Kulturkreise fasst er hierbei – im Gegensatz zu Frau Yilmaz – nicht als Bereicherung auf, sondern erfährt als ein in Deutschland lebender Kurde die Forderungen, Wünsche und Erwartungen zweier Kulturen als unüberwindbares Spannungsverhältnis. Herr Zebari fühlt sich dem kurdischen Volk zugehörig und der Geschichte und Traditionen der Kurden verbunden. Diese kulturelle Selbstverortung als Kurde beeinflusst seinen Umgang mit der NS-Geschichte, indem er den türkischkurdischen Konflikt als zentrales Thema und Vergleichspunkt für seine Geschichtsbezüge wählt. Herr Zebari lehnt die Erinnerungskultur sowie die Geschichtsbilder und kollektiven Narrative Deutschlands als Bezugspunkt ab. Der Nationalsozialismus dient ihm als Kulisse, um die Repressionsgeschichte der Kurden in den Fokus zu rücken. Die Geschichtskonstruktionen der befragten Personen sind durchweg durch eine intensive Beschäftigung mit den Opfern des Nationalsozialismus charakterisiert, womit sich ein hohes Maß an Identifikation mit den

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Opfern verbindet. Die vier Befragten bilden – jeder auf seine individuelle Weise – Analogien zwischen der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung zur Zeit des Nationalsozialismus und rassistischen Erscheinungsformen der Gegenwart und so wird das eigene Leben als Angehöriger einer kulturellen und/oder religiösen Minderheit in der deutschen Aufnahmegesellschaft mit der Situation der Opfer des nationalsozialistischen Terrorregimes verglichen sowie Diskriminierungen der eigenen Bezugsgruppe in Verbindung gesetzt zu den historischen Ereignissen zwischen 1933 und 1945. Gegenwärtige rechtsextremistische Gewalt sowie die Tatsache, dass man sich selbst als Angehöriger einer potentiell bedrohten Gruppe sieht und/oder dass man selbst bereits Opfer von Diskriminierungen wurde, werden als Anzeichen gedeutet, der Holocaust könne sich mit Austausch der Opfergruppen wiederholen. Die deutsche Gesellschaft mit den ehemaligen Zuschauern, Mitläufern und Tätern und ihren Nachkommen rückt in den Blick, der mit Misstrauen und Skepsis verbunden ist: • Herr Turan thematisiert die Zeit des Nationalsozialismus in Zusammenhang mit der Benachteiligung muslimischer Migranten in der Aufnahmegesellschaft und erinnert die Geschichte der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten in Verbindung mit seinen eigenen Erfahrungen von Diskriminierung. Analog zu der Verfolgung der jüdischen Minderheit durch die Nationalsozialisten äußert Herr Turan Furcht vor einem Leben als Muslim in der deutschen Aufnahmegesellschaft. Er sieht sich als Angehöriger einer in Deutschland lebenden muslimischen Minderheit als potentiell bedrohte Gruppe im rassistischen Gegenwartsdeutschland. In der deutschen Mehrheitsgesellschaft bestehe zwar Konsens darüber, die einstigen Verbrechen nicht an Juden zu wiederholen, jedoch gelte diese Zusicherung nicht gleichzeitig für Muslime. Im Visier von xenophoben Tendenzen sieht er vor allem die Glaubensgemeinschaft der Muslime und zeigt sich in diesem Sinne von einer in Deutschland vorherrschenden Islamophobie überzeugt, welche seit den Anschlägen des 11. September 2001 drastisch zugenommen habe. Die von ihm wahrgenommene Ablehnung von Muslimen auf Grund ihres Glaubens sowie die verweigerte Anerkennung als gleichwertiger Bürger von Seiten der deutschen Mehrheitsgesellschaft sieht er als Indikator für eine Wiederholung des Holocaust mit Austausch der Opfergruppen. Seine Angst vor einer Wiederholung basiert insbesondere auf dem Bewusstsein, inmitten von ehemaligen

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Nationalsozialisten sowie Nachkommen der Generation von Tätern, Mitläufern und Zuschauern zu leben. • Herr Ünal parallelisiert – ähnlich wie Herr Turan – die Judenverfolgung zur Zeit des Nationalsozialismus und die Fahndung nach Muslimen seit den Terroranschlägen des 11. September 2001. Er vergleicht die Ungerechtigkeiten, welche terrorverdächtigen Muslimen widerfährt mit der Diskriminierung der jüdischen Minderheit. Zweifelhafte Verhörmethoden, das Festhalten von mutmaßlichen Terroristen unter fragwürdigen Bedingungen in US-Gefängnissen, sowie die Tatsache, dass unter Terrorverdacht stehende Muslime inhaftiert würden, ohne Anspruch auf Haftprüfung durch ein ziviles Gericht. Das würde von der Weltöffentlichkeit ebenso billigend hingenommen, wie einst die Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung. Eine Wiederholung der Geschichte mit Austausch der Opfergruppen hält er in diesem Kontext für durchaus denkbar. Seiner Ansicht nach würde die Menschheit nicht realisieren, wenn sich eine Wiederholung der Vergangenheit, in welcher Form auch immer, abzeichne. Die mangelnde Bereitschaft und der fehlende Mut xenophoben Tendenzen entgegenzutreten, stellten damals wie auch heute die Weichen für Menschenrechtsmissachtungen und seien der Nährboden für Rassismus. • Frau Yilmaz zeigt sich von einer Wiederholung des Holocaust überzeugt, da ihres Erachtens gegenwärtig Ähnliches geschehe wie einst zur Zeit des nationalsozialistischen Terrorregimes. In diesem Zusammenhang berichtet sie von ihren persönlichen Erfahrungen mit Diskriminierung durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft, welche von verbalen Beleidigungen bis hin zu Handgreiflichkeiten reichen und sieht das gegenwärtige fremdenfeindliche Verhalten von Vertretern der Großelterngeneration in deren nationalsozialistischen Vergangenheit begründet. Laut Frau Yilmaz sei man der spürbaren Ablehnung wehrlos ausgeliefert, da allein anhand des optischen Erscheinungsbildes deutlich werde, dass man einen türkischen Migrationshintergrund aufweise. Das Wissen um die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands sowie das Erleben von Diskriminierung in der Gegenwart lassen Frau Yilmaz misstrauisch werden. Sie meint, inmitten von ehemaligen Tätern, Mitläufern und Zuschauern zu leben, was ihr immense Furcht bereitet. Frau Yilmaz vermutet auch gegenwärtig nationalsozialistisch gefärbte Denk- und Handlungsmuster.

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• Herr Zebari rückt die Repressions- und Leidensgeschichte der Kurden in den Fokus des Gespräches und setzt die Verfolgungsgeschichte der jüdischen Minderheit durch die Nationalsozialisten in Beziehung zu der Verfolgungsgeschichte der kurdischen Minderheit in der Türkei. Das Leben von Kurden in der Türkei wird vor der historischen Kulisse nationalsozialistischer Gewaltherrschaft entfaltet und auf diese Weise dramatisiert. Eine Wiederholung der Geschichte hält Herr Zebari – im Gegensatz zu den drei anderen Befragten – jedoch für undenkbar, schon aufgrund des inzwischen hohen Migrantenanteils in der Bevölkerung. Auch hätten die meisten Deutschen die Notwendigkeit erkannt, aus der Vergangenheit zu lernen. Seiner Meinung nach sei man heute aufgeklärter und demzufolge in der Lage, fremdenfeindliche Tendenzen abzuwehren. Bei allen vier Einzelfalldarstellungen wird deutlich, dass die Interviewten ihr Wissen von Vergangenem gemäß ihren Orientierungsbedürfnisse der Gegenwart selegieren und ihre Erinnerungen entsprechend der gegenwärtigen Relevanzen strukturieren. So werden vor dem weiten Horizont von Selektivitäten Nationalsozialismus und Holocaust entlang der Perspektive der gewählten eigenen kulturellen und/oder religiösen Bezugsgruppe erinnert und erzählt. Auf das Schicksal dieser Gruppe wird wiederholt Bezug genommen: Herr Turan rekurriert auf die muslimische Glaubensgemeinschaft, Herr Ünal und Frau Yilmaz verweisen sowohl auf die religiöse Gruppe der Muslime als auch auf die nationale und kulturelle Gruppe der Türken und Herr Zebari schließlich bezieht sich auf die Kurden. Es scheint, als ob eine Bezugnahme auf die Opfer des Nationalsozialismus dazu dient, die Situation der eigenen kulturellen und/oder religiösen Bezugsgruppe zu dramatisieren und dass deren Situation vor der historischen Kulisse des Nationalsozialismus entfaltet wird, um die Interessen und Bedürfnisse der eigenen Gruppe zu vermitteln: »So nutzen [...] Migranten, die ihre eigene Verfolgungsgeschichte, die Leidensgeschichte ihrer Familie oder auch ihrer ethnischen Gruppe in der Aufnahmegesellschaft nicht repräsentiert oder anerkannt sehen, die Erfahrungen der historischen Bezugsgruppe der Opfer des Nationalsozialismus als Projektionsfläche für die Abbildung ihrer eigenen Geschichte. Der Versuch, die eigenen Verfolgungserfahrungen auf diese Weise in deutsche Vergangenheitsdiskurse um den Natio-

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nalsozialismus und den Holocaust einzuschreiben, dient dazu, diese für die deutsche Gesellschaft sichtbar zu machen.« (Georgi 2003: 305) Des Weiteren ist bei allen vier Befragten ein Interesse an universalistischen Fragestellungen sichtbar und die Erinnerungsformen von der Kosmopolitisierung der Holocausterinnerung geprägt. Die befragten Personen bildeten – jede auf ihre individuelle Weise – Analogien zwischen der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung zur Zeit des Nationalsozialismus und anderen rassistischen Erscheinungsformen der Vergangenheit und Gegenwart, was Relativierungen und Bagatellisierungen des Holocaust zur Folge hat:4 • Wie in den Einzelfalldarstellungen bereits ausführlich geschildert, vergleicht Herr Turan die einstigen Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung mit der gegenwärtigen Diskriminierung der Muslime. Darüber hinaus überträgt er den Antisemitismus auf andere Erfahrungen von Menschenrechtsverbrechen, wie den Genozid an den Tutsi in Ruanda, die Greueltaten der Franzosen im Algerienkrieg, die Verbrechen Italiens an Libyen oder die Massaker und grausame Unterwerfung der Indianer durch weiße Siedler. • Herr Ünal parallelisiert – ähnlich wie Herr Turan – die Judenverfolgung zur Zeit des Nationalsozialismus und die Fahndung von Muslimen seit den Terroranschlägen des 11. September 2001, und vergleicht die Ungerechtigkeiten, welche terrorverdächtigen Muslimen widerführen mit der Diskriminierung der jüdischen Minderheit. • Frau Yilmaz sieht in der nationalsozialistischen Vergangenheit der Deutschen gegenwärtiges fremdenfeindliches Verhalten gegenüber Türken begründet. Darüber hinaus drängen sich ihr Parallelen auf zwischen der NS-Zeit und dem seit 1991 tobenden Bürgerkrieg in Somalia sowie zwischen der Verfolgung von Muslimen durch die USAmerikaner und der Ermordung von Juden durch die Nationalsozialisten. • Herrn Zebari schließlich dient der Nationalsozialismus dazu, die Repressionsgeschichte des kurdischen Volkes in den Fokus des Gesprä4 | Analoge Ergebnisse konnten ebenfalls in der Studie Entliehene Erinnerung – Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland von Viola B. Georgi gefunden werden (vgl. Georgi 2003).

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ches zu rücken. Er setzt die Verfolgungsgeschichte der jüdischen Minderheit durch die Nationalsozialisten in Beziehung zu der Verfolgungsgeschichte der kurdischen Minderheit in der Türkei. In allen vier Fällen wird die Geschichte des Nationalsozialismus aus ihrem historischen Kontext herausgelöst und auf andere vergangene und gegenwärtige gesellschaftliche Kontexte übertragen. Dies entspricht der Auffassung von Levy und Sznaider (2009), dass kollektive Erinnerungen im Zeitalter der Globalisierung einer Veränderung unterliegen, und zwar in dem Sinne, dass das Erinnerte aus dem nationalstaatlichen Rahmen heraustritt und damit das Gedächtnis entortet und gleichzeitig die Erinnerung universalisiert beziehungsweise kosmopolitisiert wird. Die Holocausterinnerung dringt in andere Erinnerungen vor und der lokale Erfahrungsraum befindet sich fortan mit dem globalen Erfahrungsraum in einem Wechselverhältnis (vgl. Levy und Sznaider 2001: 33-50, 56, 58, 147-152): »Der ›Holocaust‹ [ist] im Gedenken und in der politischen Rezeption längst nicht mehr nur eine deutsche und eine jüdische Frage [...], sondern durch den internationalen Kontext und die politischen und sozialen Umwälzungen globalen Ausmaßes zu einem universalen Orientierungspunkt [...] geworden.« (Levy und Sznaider 2001: 13) Der Holocaust als historisches Ereignis verliert seine Singularität, wird zum Ausgangs- und Bezugspunkt, um andere Menschenrechtsverletzungen einzuordnen und zu verurteilen sowie zum universalen Raum für das jeweilige persönliche Anliegen: im Fall von Herrn Turan und Herrn Ünal, eine Optimierung der Lebenssituation von Muslimen und im Fall von Frau Yilmaz von Türken zu bewirken sowie im Fall von Herrn Zebari, die Lage der Kurden in der Türkei zu verbessern. Schließlich ist festzuhalten, dass in den vier vorgestellten Einzelfällen deutlich wurde, dass die Befragten – und hier insbesondere Herr Turan – Menschenrechtsfragen thematisieren und ihre Argumentation unter anderem auf die Menschheit ausrichten. Die Geschichte wird aus der Gegenwartsperspektive betrachtet mit der Absicht, an die Menschheit zu appellieren, welche in der moralischen Verantwortung steht, aus damaligen Geschehnissen zu lernen, sich mit Menschenrechtsverletzungen jeglicher Art auseinanderzusetzen, der Opfer zu gedenken und die Täterschaft kritisch zu bewerten. Die Notwendigkeit des Erinnerns wird damit zur humanistischen

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Verpflichtung, mit dem Ziel aus der Vergangenheit Handlungsmaximen für die Gegenwart abzuleiten, um gegenwärtige Fremdenfeindlichkeit abzuwehren sowie einem Wiedererscheinen von Menschenrechtsverbrechen wie einst zur Zeit des Nationalsozialismus vorzubeugen.

Soziale Gedächtnisse in einer interkulturellen Ehe Monika Malinowska

E INLEITUNG Die Erinnerung an die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges und an den Nationalsozialismus ist nicht nur in Deutschland noch immer aktuell, sondern auch in den europäischen Ländern, die unter deutscher Besatzung standen. Unterschiedliche Erfahrungen führen zu starken Diskrepanzen in den sozialen Gedächtnissen unterschiedlicher Länder. Das zeigt sich nicht nur auf Ebene der nationalen Gedächtnisse, sondern nach wie vor auch in lokalen und familialen Gedächtnissen. Wie wirken sich diese Differenzen in der alltäglichen Kommunikation aus, in interkulturellen Interaktionen? Als Gegenstand zur Beantwortung dieser Frage bietet sich die Untersuchung einer solchen auf Dauer gestellten sozialen Beziehung an, wie sie sich paradigmatisch in einer interkulturellen Ehe findet. Die Fragestellung lässt sich also präzisieren: Wie gestaltet sich die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Repräsentationen der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs in einer interkulturellen Ehe? Oder anders formuliert: Welche Selektivitätsmuster aus den zur Verfügung stehenden Gedächtnishorizonten zeigen sich? Aus einem Nebenprojekt des DFG-Projektes »Soziale Erinnerung in differenzierten Gesellschaften« (vgl. die Beiträge von Lehmann S. 217 ff. und Sebald/Brunnert, S. 227 ff.) wurde für diesen Beitrag ein Beispiel ausgewählt, anhand dessen exemplarisch rekonstruiert werden soll, wie ein deutsch-polnisches Ehepaar sich mit Differenzen in unterschiedlichen sozialen Gedächtnissen auseinander setzt. Die sozialen Gedächtnisse, so die Ausgangsthese, sind über vorhandene Wissensbestände, erworben über verschiedene Sozialisationsprozesse und biographische Erfahrungen, individuell verfügbar und können entsprechend in alltägliche Interaktionen und Kommunikationen eingebaut oder darin aufgerufen werden. Im Folgenden wird anhand von Einzelinterviews mit der polnischen Ehefrau und dem deutschen Ehemann rekonstruiert, inwieweit Wissen und darauf gegründete Meinungen der beiden Partner vonein-

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ander abweichen und welche Rolle diese Differenzen in der Beziehung spielen. Zu Beginn werden die beiden Ehepartner jeweils durch einen kurzen biographischen Überblick vorgestellt und die damit gegebene Grundkonstellation analysiert. In weiteren Schritten erfolgt die Darstellung der Erinnerungen, die beide zum Thema Nationalsozialismus und zum Zweiten Weltkrieg haben. Deshalb werden die jeweils relevanten Ebenen der sozialen Gedächtnisse analysiert, soweit sie im Interview aufscheinen. Letztendlich wird gezeigt, wie sich der Umgang mit diesem Thema in der Ehe gestaltet.

Z UR KONSTELLATION

IN DER

E HE

Die Ehefrau Ania kommt aus der polnischen Region Zamo´sc´ 1 , aus einem der vielen Dörfer, die in der Zeit des Zweiten Weltkrieges besonders unter den nationalsozialistischen Verbrechen leiden mussten. Sie ist Anfang 30 und lebt seit acht Jahren in Deutschland. Sie ist mit Bernd aus Dresden verheiratet, zusammen haben sie zwei Kinder im Alter von einem und fünf Jahren. Ania arbeitet zur Zeit des Interviews in Teilzeit als Büroangestellte. In Polen studierte sie Deutsch und kam dann als AuPair nach Deutschland, wo sie ihren jetzigen Ehemann kennen gelernt hat. Bernd ist Mitte 30. Er ist ein promovierter Ingenieur und zur Zeit des Gesprächs sehr zufrieden mit seiner beruflichen Karriere. Ursprünglich kommt er aus Dresden, wo er aufgewachsen und in die Schule gegangen ist. Im Alter zwischen 14 und 16 Jahren war er kurzzeitig in die neonazistische Szene involviert gewesen. Nachdem er erfolgreich sein Abitur bestanden hat, zog er in eine andere Stadt, um zu studieren. Schließlich lernte er seine zukünftige Ehefrau kennen. Das Interesse am Nationalso1 | Die Region Zamo´sc´ (Distrikt Lublin, südöstlich von Warschau, nahe der heutigen Grenze zur Ukraine) gehört zu einer den polnischen Regionen, die während des Zweiten Weltkrieges von den rassistischen Eroberungsplänen der deutschen Besatzer stark betroffen waren. Im Rahmen des Generalplan Ost wurden in dieser Region Germanisierungsaktionen durchgeführt (vgl. Wasser 1996: 122). Die Folge war die Vertreibung von rund 30.000 Kindern und die gewaltsame Trennung von ihren Eltern (vgl. Ruchniewicz 2007: 87), die Verschleppung von 112 000 Menschen aus dem Distrikt Lublin zur Zwangsarbeit nach Deutschland, die Vertreibung von 108 000 Menschen im Rahmen der Aussiedlungsaktionen und die Ermordung von ungefähr 1,5 Mio. Menschen in Vernichtungs-, Konzentrations- und Arbeitslagern (vgl. Wasser 1996: 121 f.).

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zialismus sei seit der Schulzeit sehr stark vorhanden, was dazu geführt habe, dass er sich intensiv mit dieser Zeit auseinander gesetzt habe. Auch in seiner Familie ist das Thema nach wie vor aktuell. Diese Konstellation ist von einer grundlegenden Asymmetrie geprägt: Ania kommt aus einem ländlichen Milieu, hat studiert, kommt in ein fremdes, reicheres Land, aber arbeitet in Deutschland weit unter ihrer Qualifikation. In der Zeit der Ehe hat Bernd sein Studium abgeschlossen und die Promotion fertiggestellt. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass er der klassischen Rollenteilung gemäß Karriere macht und Geld verdient. Damit verstärkt sich die vorhandene Ungleichverteilung weiter und es ergibt sich wohl auch eine gewisse materielle Abhängigkeit. Strukturell ist die Beziehung demnach von einer ungleichen Verteilung von Chancen und Risiken geprägt, von der anzunehmen ist, dass sie sich auch auf die Verhandlung von Vergangenheiten auswirkt. Um diese Auseinandersetzungen in der Ehe sichtbar zu machen, werden im Folgenden die leitfadenzentrierten Interviews mit beiden Ehepartnern inhaltsanalytisch ausgewertet. Die Fragen zielen vor allem auf die Erinnerungen an den Zweitem Weltkrieg und die NS- Zeit ab sowie auf die Selektionsprozesse, die die Entwicklung solcher Wissensbestände begünstigt haben.

A NIA

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S ICHT

DER

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Ania beschreibt Polen als Land, in dem diese Vergangenheit nach wie vor sehr lebendig ist und erwähnt die vielen Denkmäler, die an die Zeit des Zweiten Weltkriegs erinnern. Sie verwendet im Interview nicht einmal das Wort »Nationalsozialismus«, obwohl mit der Eingangsfrage direkt danach gefragt wurde. Stattdessen spricht sie vom Zweiten Weltkrieg. In der deutschen Gesellschaft wird häufiger von Nationalsozialismus gesprochen als in Polen, was auch den Erzählungen ihres Ehemanns zu entnehmen ist.2 Ania fasst unter die Zeit des Zweiten Weltkriegs nicht nur den Zeitabschnitt von 1939 bis 1945, sondern insbesondere auch das Leben nach dieser Zeit. Es ist ihr wichtig zu erwähnen, dass ökonomische Schwierigkeiten und viele materielle Verluste als Folgen des Zweiten Weltkriegs noch bis in die fünfziger Jahren spürbar waren (vgl. Interviewausschnitt S. 166). Durch diese Hervorhebung lässt sich die Zeit des Zweiten Weltkrieges nicht so einfach von dem Leben nach 1945 abgrenzen. 2 | Beispiele dafür finden sich in den Interviewausschnitten S. 169 ff.

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Die damals sozialistisch ausgerichtete Schule liefert Ania viele Wissenselemente und das national gültige Bild dieser Zeit. Dieses nationale Gedächtnis wurde mit offiziellen Feiern wie beispielsweise den Erste MaiMärschen oder den Feiern zum Unabhängigkeitstag am 11. November gestärkt. Außerdem wurden in der Schule Ausflüge in Konzentrationsund Vernichtungslager organisiert. So hat Ania das Konzentrationslager Majdanek besucht: »Und wir haben von der Schule so Ausflüge, Exkursionen z. B. nach Lublin gemacht und dort gibt es Majdanek, auch so wie Konzentrationslager und dort waren auch so viel Kinder oder viele Juden und wir haben uns das damals auch dann angeschaut und ich war damals in der Grundschule und damals habe ich schon viel erfahren und war das so sehr, sehr drastisch als man, ich weiß nicht, als er an die Kinder erzählt hat, dass man aus den Kinder Seife gemacht hat, und so was ist auch im Kopf geblieben« (Interview A: Z. 168 ff.). Sie thematisiert den eindrucksvollen Ausflug nach Majdanek, aber auch dass die Kinder in der Schule ihre familiären Geschichten aus dieser Zeit erzählt haben. Die Inhalte der Erzählungen der Schulkameraden wurden allerdings nicht angesprochen. Ihren Aussagen zufolge sind öffentliche Ereignisse in Polen von enormer Bedeutung, wenn sie das Täter-OpferVerhältnis betreffen, also insbesondere das Verhältnis von Polen und Deutschland. Mit Bezug auf den Kniefall von Willy Brandt (deutscher Bundeskanzler von 1969 bis 1974) am 7. Dezember 1970 am Mahnmal des Ghetto-Aufstandes von Warschau 1943 betont sie die Wichtigkeit solcher Ereignisse für das polnisch-deutsche Verhältnis. Für die polnische Gesellschaft handelt es sich ihrer Meinung nach um ein öffentliches Zeichen der Entschuldigung, ein Zeichen der Reue und der Anerkennung des polnischen Opferstatus. Ania meint, dass solche Ereignisse zur Versöhnung der beiden Länder und zu vielen Veränderungen in der polnischen Gesellschaft beitragen (wohl im Hinblick auf das Fremdbild der Deutschen). »Ich finde, es hat sich auch viel geändert, nachdem so zu sagen sich Polen mit Deutschland versöhnt hat. Das hat sich auch geändert in Polen [mhm]. Und als der deutsche.., ich weiß nicht wie er heißt, Kanzler nach Polen gekommen ist [mhm] und hat gekniet (...) und es war so ein großes Zeichen für Polen.« (Interview A: Z. 139 ff.)

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Die offiziellen Feiern an Nationalfeiertagen gaben in Anias Familie immer den Anstoß zu Gesprächen über die Vergangenheit. An solchen Tagen wurde in der Familie und im dörflichen Kontext besonders viel über die Erfahrungen während des Krieges und nach dem Krieg erzählt. Von daher ist für sie die Bedeutung der polnischen Nationalfeiertage enorm. Dass diese Feiertage für Ania wichtig sind, kann man daran ablesen, dass sie den Tag des 1. Septembers in Deutschland nicht mehr so intensiv erlebt, wie es das im dörflichen Kontext in der Zamo´sc´ -Region in Polen geschah. »Jetzt ist natürlich für mich schwierig, weil ich schon seit acht Jahren in Deutschland bin und ich empfinde z. B. den ersten September, heutzutage empfinde ich diesen Tag nicht so wie damals als ich in Polen war, oder als wenn ich jetzt in Polen wäre.« (Interview A: Z. 31 ff.) So gewinnt Ania ihr Wissen über den Zweiten Weltkrieg einerseits aus der offiziellen, national polnischen und sozialistisch ausgerichteten Perspektive, andererseits aber auch aus der Perspektive der Betroffenen (der Familie und des Dorfes), aus den lokalen familialen und dörflichen Gedächtnissen. Durch diese Erzählungen erfährt sie ihre familiäre Geschichte in dieser Zeit. Anias Urgroßvater starb im Arbeitslager in Deutschland und ihre Urgroßmutter erlag daraufhin den Folgen eines Herzinfarkts. Deshalb wuchs ihr Großvater als Waisenkind auf. Auch ihre Großmutter lebte zu dieser Zeit in großer Angst und Ania schildert, dass sie nur durch Glück dem Tod entronnen sei. Durch den Krieg haben viele Menschen aus der Region Zamo´sc´ ihr Leben verloren. Nahezu alle Familien aus der Region betrauern deshalb verstorbene Angehörige und haben durch den Krieg oft auch große ökonomische Schäden erlitten. Anias Eltern bekamen ebenfalls die Folgen des Krieges zu spüren: »Ich habe mich eher darüber mit Großeltern unterhalten, weil meine Eltern sind dann in den 50er Jahren geboren und sie waren dann davon nicht so direkt betroffen. Also ich finde, sie waren so indirekt betroffen, weil sie sozusagen, weil Polen im Krieg so viele Schäden erlitten hatte, denn es war z. B. für die Leute dann schwieriger mit Wiederaufbau und mein Vater hat mir erzählt, damals in den 50er Jahren war nur ein Radio im Dorf, also es war sehr, sehr viel Armut im Dorf und viele alte Leute sagten, es war so schwierig, weil wir einfach

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im Krieg sehr, sehr viele Verluste hatten, also sowohl menschlich als auch materiell.« (Interview A: Z. 104 ff.) Im weiteren Verlauf des Interviews schildert Ania, dass es in Polen noch viele Menschen gibt, die den Krieg erlebt haben und in Erinnerung haben, und deswegen oft negativ von Deutschland sprechen. So wechselt sie des öfteren von der familialen auf die nationale Ebene der Vergangenheitsbearbeitung. Auch das Thema Entschädigung ist in ihrer Familie bis heute ein wichtiges Thema. Die Betroffenen haben ihrer Meinung nach Anspruch auf dieses Geld. Sie beschwert sich, dass ihre Familie selber nie Geld von Deutschland bekommen hat, obwohl ihr Großvater infolge des Krieges zum Waisenkind wurde: »Und ich kann mich dran erinnern, dass mein Opa damals irgendwie von Deutschland Geld beantragen wollte, weil er sozusagen unter dem Verlust sehr gelitten hat, aber es hat nie geklappt, er hat aus Deutschland kein Geld gekriegt«. (Interview A: Z. 76 ff.) Ania spricht in dem Interview nicht nur vom nationalen Gedächtnis Polens, sondern sie geht auch auf die lokalen Erinnerungen aus dem Dorf ein, in dem sie aufgewachsen ist. Die Dorfbewohner erzählten ihr vom schweren Leben nach dem Krieg. Auch in ihrer Familie werden nicht nur die Erlebnisse der Familienmitglieder tradiert, sondern auch Erzählungen von Erlebnissen anderer Dorfbewohner. Auch in Bezug auf den Tod ihres Urgroßvaters gilt das Wissen anderer, ebenfalls deportierter Dorfbewohner als maßgeblich: »Dann hat mir noch mein Opa erzählt, dass sein Vater bei Hamburg hier in Deutschland war und am Anfang sind die hier noch gekommen, und sagten er ist an Sonnenstich gestorben. Aber, und mein Großvater dachte damals, dass es stimmt. Das ist nicht wahr. Aber aus diesem Dorf wurden andere Männer nach Deutschland deportiert und einem Nachbarn von meinem Opa ist es gelungen zurückzukommen und er hat erzählt, dass mein Urgroßvater nicht an Sonnenstich gestorben ist, sondern er wurde mit einem Schuss von hinten in Kopf erschossen, weil er gerade eine Zigarette angezündet hat und er durfte, sie haben verboten zu rauchen und sie hatten ihn so erschossen und das war einfach so traurig und drastisch« (Interview A: Z. 68 ff.). Obwohl Ania schon zur dritten Generation nach dem Krieg gehört, erzählt sie die Geschichte ihres Urgroßvaters äußerst emotional und zeigt

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damit ihre tiefe Betroffenheit und Ratlosigkeit. Die Interviewte betont, dass in ihrem Elternhaus besonders viel über den Zweiten Weltkrieg gesprochen wurde. Einerseits wegen der familiären Geschichte in dieser Zeit, andererseits wegen des besonderen Interesses ihres Bruders an der Geschichte. Welches Bild der Deutschen zeigt sich in diesen Gesprächen? In Bezug auf die Schule wurde schon erwähnt, dass Ania dort ein negatives Bild von Deutschen, ähnlich wie in der Familie, erfahren hat. In der Familie wurden Deutsche vor allem als Täter dargestellt.3 »Die Familie von meiner Mutter, die war sehr schlimm vom Krieg betroffen, weil mein Großvater, als er klein war, als er neun Jahre alt war, hat er seinen Vater verloren. Mein Urgroßvater wurde sozusagen nach Deutschland deportiert und zur Zwangsarbeit in ein Konzentrationslager verbracht. Mein Großvater war damals neun und die, also seine Mutter war dann von der Aufregung, von der Krieg ist darauf an Herzinfarkt gestorben und er war schon mit neun Jahren ein Waisenkind und das war natürlich sehr schlimm für ihn und er wurde so vom Krieg betroffen, weil er z. B. deswegen nur vier Jahre in die Grundschule ging und gerade so lesen und schreiben lernen konnte und also, er hat mir das erzählt als noch sein Vater, also sie sind durchs Dorf gelaufen und dann waren, und dann waren, dann standen sie da vorm Fenster Remisa (Feuerwehrgebäude), ›Schulten Haus‹ Remisa Strazacka und die Deutschen haben damals seinen Vater mitgenommen und er ist abgehauen, sonst hätten sie ihn auch mitgenommen, hat er mir erzählt« (Interview A: Z. 46 ff.). Ania erzählt die Geschichte des Großvaters, der infolge des Krieges Waise wurde und nur vier Schulklassen besuchen konnte: Ihm wurde nur Lesen und Schreiben beigebracht. Als neunjähriges Kind musste er die Verhaftung seines Vaters mit ansehen. Auffallend ist, dass diese Geschichte sehr detailliert geschildert wird, ähnlich wie die Erzählungen ihrer Großmutter vom Krieg. Die Deutschen sind diejenigen, die dem neunjährigen Kind den Vater wegnehmen und damit für den Tod der Mutter dieses Kindes verantwortlich waren. 3 | Es gab jedoch auch Ausnahmen: Ania erinnert sich auch daran, dass ihre Großmutter ihr nicht nur dieses negative Bild der Deutschen vermittelt hat. In Verbindung mit den Russen, der zweiten Besatzungsmacht, beschreibt sie die deutschen Soldaten als gepflegter und schöner angezogen. Sie erzählte ihrer Enkelin, dass diese schönere Uniformen hatten. Die Oma erzählt ihr auch eine Geschichte von einem guten deutschen Soldaten, die ihr vermutlich das Leben gerettet hat.

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Trotzdem verurteilt Ania nicht pauschal alle Deutschen und macht sie nicht alle für die Verbrechen verantwortlich. Obwohl ihr in den Familiengesprächen ein Opferbild von ihrer Familie und ihrem Dorf vermittelt wurde und die Deutschen als Täter präsentiert wurden, distanziert sie sich davon und fasst nicht alle Deutschen unter diesem Bild zusammen, sonder nur die »Nazis«: »Sie hat mir auch eine solche Situation erzählt, dass sie Glück hatte, als die Deutsche zu ihnen gekommen sind . Sie war am Fenster gesessen zu Hause, dann hat sie sich in der Hundehütte versteckt und die Nachbarinnen, zwei junge Frauen sind schnell abgehauen, und haben sich in der Scheune versteckt. Aber die, die Deutschen haben sie gefunden und das war ziemlich drastisch, wie sie mir das erzählt hat, weil sie sagte, die Deutschen haben Stöcke genommen und ich weiß nicht ob ich die Deutschen sagen kann oder Soldaten [mhm] damals die Nazis. Sie haben die Stöcke genommen und haben die Frauen so lange gehauen bis sie gestorben sind, und das war ziemlich drastisch« (Interview A: Z. 59 ff.). Zusammenfassung

Es wurde deutlich, dass Ania Erinnerungen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges auf verschiedenen Wegen tradiert wurden. Nicht nur die Familie, sondern auch die dörflichen Nachbarn und die Schule liefern ihr Wissen von Vergangenem. Inhaltlich wurde ihr hauptsächlich ein Opferbild der polnischen Bevölkerung und ein Täterbild der Deutschen präsentiert. Anias Umgang mit der Vergangenheit ist hauptsächlich durch zwei Selektionsmuster gekennzeichnet. Das erste beinhaltet die polnischnationale Ebene: Einerseits zeigt sich das, wenn Ania nicht von Nationalsozialismus, sondern vom Zweiten Weltkrieg spricht. Anderseits beschreibt sie auch detailliert, durch welche Merkmale das nationale Gedächtnis Polens charakterisiert ist und an welche Ereignisse sich die polnische Bevölkerung erinnert. Auf dieser Ebene ist eine Differenz zur deutschen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu beobachten und somit ein gravierender Unterschied im nationalen Gedächtnis beider Länder: Besonders der Opferstatus Polens während und nach dem Zweiten Weltkrieg wird hervorgehoben. Auf nationaler Ebene erinnert sich Ania nur sehr diffus an wichtige Ereignisse, im Gegensatz zu den

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detaillierten Beschreibungen aus dem lokalen und familiären Bereich. Hier zeigt sie auch eine besonders starke Empathie in Bezug auf das Leiden ihrer Familienangehörigen und der Dorfbewohner im und nach dem Krieg. Hinsichtlich solcher Erfahrungen, definiert sich Ania auch als eine Polin, die ihre »polnischen Seiten« beibehalten möchte, besonders, wenn es um diese Vergangenheit geht. Dies wird auch in Bezug auf die Erziehung der Kinder und die Weitergabe der Informationen über den Nationalsozialismus deutlich (vgl. Interviewausschnitt unten, S. 181).

B ERND

UND SEINE

S ICHT

DER

V ERGANGENHEIT

Für Bernd als geborenem Dresdner ist die Geschichte des Nationalsozialismus ebenfalls sehr präsent. Aber selbstverständlich anders als bei Ania, schon deswegen, weil er im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg historisch gesehen zur Täternation gehört. Bernd ist sowohl zur Zeit der DDR in die Schule gegangen, als auch nach 1990 in der BRD. Im Interview spricht Bernd über diese »Wendezeit«: »Ok, während der Wendezeit bin ich dann kurzzeitig in so’nen, naja nationalistischen Strudl geraten, dass heißt zur Zeit der Wiedervereinigung hat man ja Deutschland an sich sehr glorifiziert, und da gabs ’ne Menge von, ja sag ma mal, so Seelenverkäufer, die versucht ham Mitglieder für rechte Parteien zu gewinnen und da bin ich auch angesprochen wordn. Aber irgendwie hat mich des nich wirklich interessiert und ich hab dann auch relativ schnell Abstand genommen, davon. Also ich hab selber nie mit solchen Leutn im positiven Sinne Kontakt gehabt, sondern, eher mit Neonazis, dann äh, sehr schmerzhaften Kontakt hinterher. In dem dass ich oft Ziel ihrer Aggressionen war, aber ich mich dem nicht gebeugt hab« (Interview B: Z. 78 ff.). Die beschriebene Glorifizierung wurde insbesondere in der rechten Szene und deren Sympathisanten betrieben (vgl. dazu auch Engelbrecht 2008). Bernds Darstellung nach war das mit Manipulation und Werbung für rechte Parteien verbunden. Diejenigen, die dafür geworben haben, nennt er »Seelenverkäufer«, um die Skrupellosigkeit, Verlogenheit und Rücksichtslosigkeit der Werber zu markieren. Durch diese Beschreibung versucht Bernd, diesen unangenehmen Teil seiner Vergangenheit zu relativieren. Er rückt sich danach selbst in die Position eines Opfers der Rechten. Zudem verweist er darauf, dass es fast unmöglich war, in

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der damaligen Zeit nicht in einen »nationalistischen Strudel« zu geraten. In diesem Abschnitt kann man auch an Bernds Ausdrucksweise sehr deutlich sehen, wie vorsichtig er die Wörter sucht, um diese für ihn so unangenehme Lebensetappe zu beschreiben und zu erklären. Er bekennt sich jedoch zu einem anderen Teil seiner Vergangenheit, in welchem er Ziel rechter Aggressionen war. Er ist stolz, sich nicht gebeugt zu haben, präsentiert sich als jemand, der Widerstand leistete und nicht die Ziele der Gruppe teilen wollte. Die Wendezeit hat Bernd seiner Aussage nach auch den kritischen Blick bezüglich des Umgangs mit dem Thema Nationalsozialismus erlaubt, wie er dies im Interview selber sagt. Während des Gesprächs betont er auch wiederholt sein Interesse am Thema Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg. »Das erste mal intensiv, hab ich mich mit dem Nationalsozialismus beschäftigt, während meines Abiturs. Ich hab mir zwei Themen damals genommen, des eine war, also des war in Sozialkundeunterricht und Deutschunterricht. Des eine ist die Frau im Nationalsozialismus, die Rolle der Frau im Nationalsozialismus, und das andre war Vergleich der Jugendorganisation Hitlerjugend und Pioniere in der DDR. Also so ne paramilitärische Vorausrichtung der Jugend. Ja. Dann habe ich noch’n Referat gehalten zur Sprache des dritten Reiches. Ich habe mich dann, der kommt aus Dresden, Viktor Klemperer, is Schriftsteller, der in Dresden gelebt hat, äh, um die Zeit dort ja protokolliert hat in’ner Art Tagebuch des unter dem Namen ›Lingua Tertii Imperii‹ also die Sprache des dritten Reiches veröffentlicht wurde und hab mich dann dort mit diesen Sachen auch mit diesen Sprach..gebräuchen aus’nandergesetzt. Ich hab dann viele Reden von Goebbels gelesen, also die verfügbar sind, natürlich immer kommentiert, äh auch Auszüge aus ›Mein Kampf‹ äh, einfach um ein umfassendes Bild zu bekommen, was, wie die Leute argumentiert haben und wie’s überhaupt geschafft haben die Massen so zu begeistern. Und auch hinter sich zu bringen.« (Interview B: Z. 87 ff.) Die Schule ist in Bernds Erzählungen die primäre Instanz, die ihm die nationalsozialistische deutsche Vergangenheit näher bringt. Er beschreibt sehr detailliert die Themen, mit denen er sich beschäftigt hat, nicht zuletzt, um damit auch auf das eigene Wissensniveau hinzuweisen. Er betont dabei die propagandistische Kraft des NS-Systems. Wenn er von

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seiner Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus erzählt, lässt sich der Eindruck nicht vermeiden, dass damit auch eine gewisse Faszination verbunden ist. Die Lektüre von Goebbels Reden und Hitlers »Mein Kampf« erscheint ihm – gerade angesichts seiner eigenen Vergangenheit – die Zusätze »immer kommentiert« und »in Auszügen« zu erfordern. Auch zur Schule in der DDR äußert sich Bernd ausführlich beschreibt, welche Informationen er dort über den Nationalsozialismus bekommen hat: Die Kinder wären schon sehr früh mit dem Wort »Antifaschismus« konfrontiert worden, ohne zu wissen, was das Wort wirklich bedeute. Das ständige »Gerede« – wie sich Bernd ausdrückt – über Antifaschismus und somit über Nationalsozialismus hätte ihm nur einseitige und verfälschte Informationen gebracht, die man einfach kritiklos hätte hinnehmen müssen. Er hat somit zwar Zugang zu Informationen gehabt, aber nur zu solchen, die in das realsozialistische Geschichtsbild der DDR passten. Aus der heutigen Perspektive beurteilt er alles, was damals in der DDR war, als schlecht: »Das war insofern, des war auch nie ne offene Diskussion über die Sache, sondern einfach nur die schlechte Darstellung.« (Interview B: Z. 67 f.) Letztendlich vergleicht Bernd das DDR-System mit dem NS-System. Er ist der Meinung, dass man hier viele Parallelen finden kann: »Hab also viel Parallelen zu dem gesehen, was in der DDR gemacht wurde, halt unter dem Mantel des Antifaschismus und ähnlicherweise genauso ’ne Kontrolle und Doktrin des Staates, dass du quasi niemand vertrauen konntest. Im Nationalsozialismus wurden ja die Kinder sogar angehalten ihre Eltern anzuzeigen, also solche Dinge hab ich dann erfahren und mich dann eben auch dafür interessiert.« (Interview B: Z. 104 ff.) Bernds Charakterisierung der Zustände, die in der DDR geherrscht haben, dient einerseits der Relativierung seiner Denk- und Verhaltensweisen in Bezug auf das Thema des Nationalsozialismus. Ähnlich wie im Nationalsozialismus wären auch in der DDR die Menschen manipuliert worden. Er betont seinen kritische Blick auf die schulisch vermittelte Sichtweise des Nationalsozialismus. Durch den Vergleich von DDR und NS, könne er sich in die im Nationalsozialismus lebenden Menschen versetzen und dadurch auch aus heutiger Sicht deren Handlungen erklären. Wie er betont, weiss er selbst nicht, wie er sich damals verhalten hätte:

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»Ich meine, des is jetzt 60 Jahre her und im Endeffekt, ich meine, ich konnt des damals nicht verhindern, ich hab ja nicht gelebt, aber ich wüsst nich mal ob ich damals hätte, wie ich mich damals verhalten hätte, weil es war ja nich nur, nicht nur die Nazis sozusagen, die das gemacht ham, oder die in der NSDAP organisiert warn, sondern das hat ja die ganze Bevölkerung mitgemacht, bis auf n bestimmter Teil, der im Widerstand war oder sich einfach nur abgeduckt hat: Aber es gab viele die davon profitiert ham, und deswegen, weiß ich nich, also ich kann nich sagen wie ich mich damals verhalten hätte. Unter meinem heutigen Gesichtspunkt würde ich mich wehren, aber ob ich damals, wenn ich damals gelebt hätte den Mut gehabt hätte, weiß ich nich« (Interview B: Z. 197 ff.). Bernd charakterisiert sich im Interview oft als Experte in Bezug auf das Thema Nationalsozialismus. Diese Konstruktion einer überlegenen Wissensposition ist auch in anderen Interviewpassagen zu beobachten, wie z. B. in seiner Erzählung zu einem Besuch in der Gedenkstätte Auschwitz: »Dann als ich Ania kennen gelernt habe, war ich dann auch in Auschwitz, ham wa das angeschaut. Ah des schreckt mich ab was die Menschen damals gemacht ham. Mit was für ner Präzision sie da Menschen ins Jenseits befördert ham, und darüber dann noch wissenschaftliche Dokumente verfasst ham, über die Wirksamkeit von .. Zyklon-B oder sonst irgendwelchen andern Giften. Oder welche Versuche sie an Menschen gemacht ham, was sie ihn injizieren können bis se endlich umfallen, also des is grausamst was die gemacht ham« (Interview B: Z. 188 ff.). »Ich mein wir waren zum Beispiel zusammen in Auschwitz, ich meine damit ist das n Thema. Ich meine sie [seine Ehefrau] kann die Dokumente auf Deutsch lesen, wie ich auch dort, ich mein ich glaub nich mal dass die Polen das voll verstehen was da da liegt, weil wer nich die deutsche Sprache beherrscht und lesen kann wie perfide die da vorgegangen sind, der kann das nicht voll erfassen, der kann zwar die beklemmende Situation dort erfassen und die allgemeinen Tafeln aber als Deutscher bist du dort in der Lage, oder Deutschsprechender, bist du in der Lage die Einzeldokumente zu lesen, das heißt die Bücher, die aufgeschlagen sind, wo welche wirklich mit Handschrift geschrieben haben, wie sie systematisch Menschentötung und so Mord begangen ham.« (Interview B: Z. 419 ff.)

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Er nimmt die Position des beobachtenden, distanzierten Forschers ein und beansprucht eine auf Wissen gegründete Überlegenheit, indem er sagt, dass diese Dokumente nur Deutschsprechende verstehen können. Er unterstellt »den Polen« eine unzureichende Auseinandersetzung mit der Geschichte, da sie die Sprache der Täter nicht verstehen und damit die Systematik des Verbrechens nicht erfassen könnten. Dadurch wird das Wissen, das Menschen in Polen über die Täterschaft der Deutschen verfügen, abgewertet. Weil er sich als Deutscher mit solchen Dokumenten auseinandersetzen kann, könne er die Täterschaft in ihrer ganzen Tragweite erfassen. Trotz der eindeutigen Wertung (»perfide«, »grausamst«), schwingt in seinen Beschreibungen Faszination mit (»Präzision«, »systematisch«). Es fällt zudem auf, dass sowohl Täter als auch Opfer als »Menschen« bezeichnet werden, und die näheren Bestimmungen ethnischer Art, die damals diese Unterscheidung markierten, nicht erwähnt werden. Empathie mit den Opfern des Nationalsozialismus ist in seinen Aussagen nicht zu spüren. Dennoch betont Bernd im Interview oft, dass er nicht gut heißt, was »die Menschen« damals getan haben und distanziert sich explizit von den Tätern. Bernd spricht in dem Interview oft über die Traumatisierung der Großeltern infolge des Zweiten Weltkrieges, die auch für die Tradierungssituation in der Familie wichtig ist. Die Großeltern haben bis kurz vor ihrem Tod über diese Zeit nicht gesprochen. Bei der Erzählung der Familienerinnerungen benutzt Bernd selten eine direkte oder indirekte Rede, mit deren Hilfe man die Aussagen der Anderen möglichst real wiedergeben kann (vgl. Burger 2005: 97). In seiner Schilderung werden vor allem seine eigenen Interpretationen und Auslegungen der Erlebnisse der Großeltern, vor allem der Großmutter, geschildert: »Fang ich mütterlicherseits an: meine Oma war damals mit meinem Opa noch nicht zusammen, die hat den Angriff auf Dresden als junge Frau erlebt und überlebt. Sie hat sich während dieser furchtbaren Bombennacht an äh, des Elbufer gerettet. Det war ja Wasser und keine Gebäude die gebrannt hatten, das war für sie so’n schreckliches Erlebnis, dass sie eigentlich nie darüber berichten konnte, nur sehr, sehr spät dann hab ich dann erfahrn, was ... also kurz eigentlich kurz vor ihrem Tod, dass sie darüber gesprochen hat. Aber die Erinnerungen, die sind so überschattet mit diesem traumatischem Erlebnis würd ich sagn, dass eigentlich immer nur diese Sache eine Rolle gespielt hat« (Interview B: Z. 110 ff.).

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In diesem Interviewausschnitt werden außer der Bombardierung der Stadt auch die damit verbundenen Empfindungen seiner Großmutter dargestellt. Bei dieser Erzählung wird er emotional, und zeigt nicht nur Empathie für das Leiden der eigenen Großmutter, sondern macht damit auch den Opferstatus seiner Familie deutlich. Zu den Opfern des Zweiten Weltkrieges gehört nicht nur seine Familie, sondern auch seine Heimatstadt und somit auch er als dort Geborener: »Also für meine Heimatstadt is das natürlich echt, es is der Wahnsinn. Ich hab ja viele Ruinen noch gesehen, die sind ja jetzt erst, Frauenkirche is ja jetzt erst wiedereröffnet. Das war, während meiner ganzen Zeit, Kindheit, einfach ’n Schutthaufen, schwarzer Schutthaufen. Also des hat man überall noch gesehen in da Stadt. Also diese Narben« (Interview B: Z. 124 ff.). Die Bombardierung Dresdens ist in dem ganzen Interview ein sehr wichtiger Punkt. Hier findet sich ein Verweis auf eine Art lokales Gedächtnis, dass sich in den materiellen Zerstörungen und architektonischen »Narben« manifestiert. Ansonsten liefert die Anonymität der städtischen Lebensverhältnisse zumindest für Bernd keinen lokalen Rahmen (Kiez, Viertel o. ä.). Er findet die Bombardierung nicht gerecht und erhebt den Vorwurf, dass die Bomben auf die zivile Bevölkerung abgeworfen wurden und nicht auf Militärindustrieobjekte. Nach seinen Worten sei dies als Verbrechen an unschuldigen Menschen zu werten, da man sich andere Ziele im Krieg aussuchen könne als Zivilisten. Seiner Meinung nach hätten die Alliierten bewusst dorthin gezielt, wo sich die größte Zahl von Menschen befand. Die mit der Bombardierung begründete Opfergeschichte der Familie setzt sich mit dem Großvater mütterlicherseits fort: »Mein Großvater mütterlicherseits, der war in Polen. Und zwar war der mit so’ner Art Ostverlagerung von Deutschen, ja also Raumgewinnung in irgendeinem kleinen polnischen Städchen, nordöstlich von Warschau, und hat ’nen Eisenwarenladen geführt. Ich denk mal bis dato nicht irgendwie konfrontiert mit den Nationalsozialismus, ob er in der NSDAP war, so was weiß ich nich. Keine Ahnung. Aber er ist dann eingezogen worden an die russische Front ’44 und is eigentlich gleich bei der ersten Schlacht gefangen genommen worden und is dann in’n Gulag gekommen. Ein Gefangenenlager in Sibirien. Und ist

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dann irgendwann, weiß nicht 47 oder 48 zurück gekommen. Aus dem Zug, wo er nach Deutschland gekommen is, muss er wohl einer der ganz ganz wenigen gewesen sein, die lebend raus gekommen sin. Die meisten sind im Zug verreckt. Auf dem Heimzug von .. Russland. Is dann irgendwo Frankfurt/Oder angekommen und nach Dresden gelaufen. Hat dann dort festgestellt, dass seine Frau im Bombenangriff umgekommen is« (Interview B: Z. 128 ff.). Bernd gibt zwar zu, dass seine Familie in den Krieg involviert war, jedoch zeigt er in diesem Zusammenhang keine Emotionen oder nimmt persönlich Stellung. Bernd sieht keinerlei Schuld bei seinem Großvater, wenn er sagt, dass der Großvater nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun hatte, obwohl er an der rassistischen Kolonialisierung, der sog. »Ostverlagerung von Deutschen«4 nach Polen beteiligt war und im besetzten polnischen Gebiet einen Eisenwarenladen geführt hat. Interessant scheint hier auch die Relativierung der Beteiligung seines Großvaters am Krieg: Er sei bei der ersten Schlacht gefangen genommen und nach Sibirien ins Gulag gebracht worden. Auf die Tatsache, dass seine eigene Ehefrau aus der Region Zamo´sc´ stammt, in der die Ostverlagerung ebenfalls durchgeführt wurde (vgl. Wasser 1996), geht Bernd im gesamten Interview nicht ein. Auch in diesem Zitat wird der Opferstatus seiner Familie während des Krieges betont. In der Beschreibung der Rückkehr seines Großvaters aus dem Gulag nach Dresden wird implizit ein Vergleich mit der Deportation von KZ-Häftlingen gezogen. Er wurde genauso wie die Gefangenen damals in einem überfülltem Zug transportiert. Die meisten Menschen sind dann auch schon in dem Zug gestorben. Damit wird die sowjetische Behandlung von Kriegsgefangenen mit dem systematischen nationalsozialistischen Massenmorden gleichgesetzt (vgl. zu dieser in deutschen Erinnerungen gebräuchlichen Form der Wechselrahmung Welzer et al. 2002: 81 ff.). Sein Großvater hätte das nur durch Glück überstanden. Diese Odyssee endet jedoch noch nicht mit der Zugfahrt. Er muss noch einen anstrengenden Weg nach Dresden zu Fuß bewältigen. Nachdem er nach Dresden angekommen ist, erfährt er, dass seine Heimatstadt bombardiert wurde und dass seine Ehefrau während dieser Bombardierung ums Leben gekommen war. Den bisherigen Erzählungen ist ein Grundzug gemeinsam: der Opferstatus. Das gilt für Deutschland insgesamt, das ungerechten Bomben4 | Diese »Ostverlagerung von Deutschen« wurde auch in der Region Zamo´sc´ im Rahmen des sog. »Generalplans Ost« durchgeführt (vgl. oben Fußnote 1, S. 162).

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angriffen ausgesetzt gewesen sei, für Bernds Großeltern während der Zeit des Nationalsozialismus und schließlich für Bernd selbst als Opfer von Neonazis. Diese Selbststilisierungen als Opfer wird auch in den Interviewpassagen sichtbar, in denen Bernd das Verhältnis von anderen Nationen zu Deutschen beschreibt. Er meint, dass die Deutschen alles unter dem Eindruck der Vergangenheit tun müssten und sich deshalb nach außen schuldig zeigten. Seiner Meinung nach seien die Deutschen gezwungen, sich so zu verhalten und somit »devot« ihre Schuld zu zeigen: »Und da hab ich eigentlich festgestellt, dass wir Deutschen ein absolut, ja wie soll ich sagen, eine sehr komische Einstellung haben, also wir fühlen uns wirklich absolut als Opfer, wir tun auch alles um möglichst, naja devot dazustehen und Schuld auf uns zu nehmen und alles was uns jetzt oder was wir jetzt tun unter dem Prämisse zu betrachten dass wir ja mal einen Krieg verloren ham, den wa selber angezettelt ham und andre Länder gehen damit anders um« (Interview B: Z. 212 ff.). Die deutsche Schuld wird hier auf das ›Anzetteln‹ und ›Verlieren‹ eines Krieges beschränkt, wie das ebenso für den Ersten Weltkrieg gelten könnte. Die deutschen Verbrechen werden hier nicht erwähnt. Das bedeutet, dass die heutige Generation der Deutschen nicht schuldig ist, aber nach außen das Image der sich schuldig fühlenden Nation aufrecht hält. Das würde den Deutschen durch die Menschen der anderen Länder auferlegt, indem diese ihrer Widerstandshelden gedenken, wie es z. B. in Polen der Fall ist. »Manchmal komm ich nicht ganz damit klar wenn also diese Glorifizierung dieser Zeit, weil ja Polen quasi, zwar nicht wirklich sich selbst befreit hat, aber doch wieder Widerstand geleistet hat und sich somit eigentlich zumindest nicht von der Seele her ergeben hatte. Das ist eine Einstellung zu dieser Zeit, die ich nie ganz nachvollziehen kann, immer auch mit diesen ganzen Denkmälern, die überall rumstehn, um daran zu erinnern« (Interview B: Z. 377 ff.). Die seiner Ansicht nach übertriebene und ungerechtfertigte Glorifizierung der eigenen Vergangenheit in Polen und das allgegenwärtige Gedenken an die Toten kann er nicht verstehen. Diese Erinnerungspolitik

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weckt in ihm als Angehöriger der Täternation Schuldgefühle. Er ist der Ansicht, dass die heutige Generation unter der Last, deutsch zu sein, leiden muss, obwohl sie eigentlich überhaupt nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun hat und zu tun hatte. Wenn man als Deutscher in andere Länder komme, werde man immer mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht und abwertend behandelt. Um das zu belegen, gibt er der Interviewerin ein Beispiel aus seinem Leben: »Aber wenn man jetzt in so’n Pub geht oder so: ich hab’s in Schottland eben auch erlebt, dass dann: ›Äh seid ihr hier die Deutsche‹ quasi, ne. Und das ist schon abwertend. Des ist absolut abwertend« (Interview B: Z. 325 ff.). Das Bild von den Deutschen beinhalte noch bis heute die Zeit des Nationalsozialismus und dementsprechend führe dies dazu, dass die Deutschen noch immer nur unter diesem Aspekt betrachtet und verurteilt würden. Zusammenfassung

Bernd stellt sich und seine Familie als Opfer dar. Die Folgen des Nationalsozialismus würden er und die Nation, mit der er sich identifiziert, bis heute spüren. Er sieht sich, seine durch Traumata betroffene Familie und die deutsche Nation als Opfer des Nationalsozialismus, obwohl sich im Gespräch kurze Verweise auf mögliche Täterschaft seiner Familienangehörigen während des Zweiten Weltkrieges finden. Diese werden jedoch nie als mögliche Täterschaft interpretiert. Er grenzt sich auch vom heutigen Rechtsextremisten ab. In diesem Zusammenhang beschreibt er Ostdeutschland zur Wendezeit als besonders rechtsextremistisch. Er selbst charakterisiert sich als Opfer dieser »Seelenverkäufer«, weil er zum Ziel der Aggressionen einer solchen Gruppe wurde, und betont seine erfolgreiche Distanzierung. Der Interviewte stellt sich als Experte für die Geschichte des Nationalsozialismus dar und konstruiert eine überlegene Wissensposition, die andere nicht erreichen könnten, wenn sie nicht der deutschen Sprache mächtig sind. Auch bei Bernd lassen sich zwei spezifische selektive Muster in der Erinnerung erkennen: nationale und familiale Erinnerung. Die lokale Ebene, in den Erzählungen seiner Ehefrau sehr ausgeprägt, ist bei ihm kaum zu finden, wohl weil aufgrund des städtischen Umfelds diese Tra-

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dierungsebene weniger markant bleibt. Auf beiden Ebenen werden Deutsche als Opfer des Nationalsozialismus dargestellt. Einerseits müsste Deutschland bis heute unter dem Stigma des Zweiten Weltkriegs leiden, obwohl schon so viele Jahre vergangen sind. Andererseits zeigt er, dass auch seine Familie stark durch den Krieg betroffen war, was sich in der Traumatisierung der Großeltern durch Bombenangriffe und Gulag erkennen ließe. Mögliche Täterschaft bleibt ausgeblendet.

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Unter Berücksichtigung der bis jetzt entwickelten nicht kompatiblen Erinnerungsselektivitäten der beiden Ehepartner zu den Themen Zweiter Weltkrieg und Nationalsozialismus stellt sich die Frage, wie die beiden Partner damit umgehen, insbesondere wenn die strukturelle Lage in der Beziehung berücksichtigt wird. Diese Problematik wird jedoch nur von Ania angesprochen, nicht von Bernd. Ania befindet sich in einer ambivalenten Gefühlslage: Auf der einen Seite ist sie gern mit ihrem Mann verheiratet, auf der anderen Seite ist sie sich bewusst, dass diese Ehe durch die deutsch-polnische Vergangenheit belastet ist. Sie kommt aus einer Familie, die im Zweiten Weltkrieg besonders betroffen war und ihr war klar, dass die Vergangenheit in der Ehe thematisiert werden muss. Als erstes Problem benennt sie diesbezüglich die Sprachbarriere: »Ja, also für mich war schon ein bisschen ... traurig für mich, weil ich dachte immer, als am Anfang Bernd noch nicht so viel polnisch konnte, ich dachte meine Eltern können sich mit ihm nicht unterhalten und wenn sie irgendwie Fragen hatten, oder über die Vergangenheit, wird es für sie immer schwierig sein, oder für ihn auch sich auszutauschen, als wenn ich irgendwie einen Mann aus Polen hätte. Also am Anfang habe ich nur an diese Sprachbarriere gedacht, nix anderes. Aber Bernd wollte sozusagen auch mein Land kennen lernen, meine Familie, er hat angefangen polnisch zu lernen und jetzt können sie sich unterhalten, aber natürlich auch nicht über die Feinheiten, über Kleinigkeiten, aber so grob können sie sich verstehen, da kann ich auch immer helfen. Und er hat sich auch viel mit meinem Bruder unterhalten über die Vergangenheit, über den Zweiten Weltkrieg und es gab sozusagen immer Brennpunkte, weil wir kommen aus anderen Länder und die Geschichte wurde in Polen anders erzählt und

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in Deutschland auch, und das ist auch schwierig auf ein Punkt zu kommen, weil wir andere Ansichtsweisen haben und wir können uns auch nicht in allen Punkten einigen und das muss man so lassen wahrscheinlich. Es liegt an der Geschichte und sie wurde hier in der Schule anders vermitteln als in Polen« (Interview A: Z. 193 ff.). Bernd und Anias Eltern können sich inzwischen grob verstehen, aber die Feinheiten und Details bleiben trotzdem unausgesprochen. Durch den konkreten Verweis auf »diese Sprachbarriere« wird deutlich, dass auch andere Barrieren existieren, obwohl sie diese nicht explizit benennt. Ihr Ehemann wollte ihr Land und ihre Familie kennen lernen, deshalb hat er begonnen, Polnisch zu lernen. Er hat sich auch mit ihrem Bruder unterhalten und es kam (und kommt) in Bezug auf die Vergangenheit zu grundlegenden Meinungsverschiedenheiten, zu »Brennpunkten«. Die Ursache sieht sie in der unterschiedlichen Geschichtsvermittlung in beiden Ländern. Der Konflikt wird von ihr damit auf die Ebene der nationalen Geschichtsbilder verschoben. In diesem Kontext spricht Ania oft von »lassen« oder »ruhen lassen«; sie sagt, dass das »Feuer« leicht außer Kontrolle geraten könne und man deshalb sehr aufpassen müss. Damit dieses Thema keine negative Auswirkungen auf ihre Beziehung habe, müsse man es möglichst ruhen lassen. »Ruhen lassen« ist eine Strategie, die Ania entwickelt hat, um ihre Ehe nicht in Gefahr zu bringen. Sie benutzt hier ein kollektives »Wir«, womit sie ihre Familie und andere Menschen aus Polen meint. Die Ansichten dieser Wir-Gruppe sind anders als Bernds Ansichten als Deutscher. Auf dieser Ebene findet keine Einigung statt. Bernd ist sich seiner Ansichten aufgrund seiner als überlegen konstruierten Wissensposition sicher und will seine Meinung dazu nicht ändern. Bei Ania und ihrer Familie ist dies ebenfalls der Fall und demzufolge kommt es dazu, dass beide Seiten auf ihren Positionen verharren. Ania erwartet kein Verständnis bei ihrem Mann bezüglich ihrer Ansichten für das Thema des Nationalsozialismus erwarten. Sie macht ihm jedoch deswegen keine Vorwürfe, da sie der Meinung ist, dass er nicht in der Lage ist, ihre Ansichten zu verstehen. Sie hat schon mehrmals versucht, ihm diese verständlich zu machen, jedoch ohne Erfolg. »Ja, z. B. dass Polen so schlecht über die Deutsche reden, also die Alten [I: die Betroffenen?], ja die Betroffenen, die damals sehr ausgenutzt wurden, oder die vom Krieg betroffen waren, oder deportiert

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wurden.: Z. B. versteht er auch nicht, dass wir von Deutschland Geld möchten, das ist für ihn unverständlich. [I: Wieso?] Weil er z. B. sagt, dass die Deutsche aus Schlesien vertrieben wurden und das sind einfach so solche Probleme, die wir anders verstehen und dann ist das unser Streitpunkt« (Interview A: Z. 228 ff.). Ihr Mann kann nicht verstehen, dass der Krieg für die polnische Bevölkerung so schlimm war. Anfänglich wurden diese gegensätzlichen Bezüge auf die nationalen Gedächtnisse zum Streitthema in der Ehe. Unterdessen habe sie gelernt mit diesen unterschiedlichen Erinnungen umzugehen, so dass es nicht mehr zum Streit kommt. Im Gegensatz zur sonstigen strukturellen Asymmetrie in der Beziehung beharrt sie jedoch an dieser Stelle auf ihrer Position, auch wenn sie um der Harmonie willen diese nicht offensiv vertritt. Der Konflikt bleibt ungelöst, weil keiner den Standpunkt des Anderen akzeptieren will. Damit sie in einer harmonischen Beziehung leben kann, hat Ania sich entschieden, die Diskussionen zu beenden und dieses Thema »ruhen zu lassen«. Ania betont in diesem Zusammenhang die Andersartigkeit der Geschichtsvermittlung beider Länder und macht die diese für die Differenzen der Sichtweise ihres Mannes, ihrer Familie und ihrer eigenen Sichtweise verantwortlich. Die Ursachen für die Differenzen sieht sie auch in ihrem »Aufwachsen«, in der Sozialisation. In den ersten Jahren ihres Aufenthalts hat Ania Deutschland als ein fremdes Land empfunden. Inzwischen hat sie sich in diesem Land integriert, insofern als sie hier Familie, Arbeit und auch deutsche Freunde gefunden hat. Die Fremdheit gegenüber der deutschen Kultur zeigt sich nur im Vergleich mit Polen. Sie denkt immer noch an Polen und dadurch setzt sie Polen als Maßstab an. Sie vermisst ihr Land und ihre Kultur und würde gerne wieder nach Polen zurückkehren. Trotz ihrer Integration in die deutsche Gesellschaft schließt sie die vollständige Übernahme der deutschen Kultur aus. Sie möchte auch in Deutschland eine Polin bleiben und zumindest teilweise die polnische Kultur beibehalten, etwa indem sie polnisch mit ihren Kindern spricht. Ihr Denken bleibt demnach kulturell-nationalen Kategorien verhaftet. »Also ich werde meine eigene Kultur vermitteln oder anerziehen wollen und er wird auch seine eigene, weil, weil ich glaube es wäre schwierig für mich als Polin die deutsche Kultur anzuerziehen [mhm]. Ich glaube das wäre für mich schwierig und so ein bisschen unecht

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und künstlich. Aus diesem Grund wird das Bernd machen und ich mache das schon von meiner Seite [mhm], auf Polnisch [lacht], versuche ich soweit es geht. So fange ich, so z. B. habe ich mit Sprache angefangen, dass die Kinder polnisch können [mhm]. Aber ich glaube, das wird schwierig für mich, weil wenn es irgendwelche Filme über den Krieg gibt, wenn die Kinder das gucken, dürfen wir ihnen so etwas nicht verbieten, solche Filme zu schauen und es wird ihnen anders, also glaube nicht so drastisch erzählt, wie es in Polen erzählt wird, wie die Deutschen waren. Ich glaube es ist anders in dieser Hinsicht« (Interview A: Z. 251 ff.). Ania spricht hier über ihre Vorsätze im Bezug auf die Erziehung ihrer Kinder im bikulturellen Kontext. Bernd, ihr Ehemann, vermittelt seine Sichtweise und erzieht den Kinder die deutsche Kultur an. Ania will ihren Kindern ihre Sichtweise und ihre Kultur vermitteln. Sie ist mit dieser Lösung nicht unbedingt zufrieden aber sie akzeptiert das. Diese Vermittlung an die Kinder findet nebeneinander statt, da die Kommunikation zwischen Ania und Bernd in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg insgesamt schwierig erscheint .

Z USAMMENFASSUNG Beide Ehepartner, Ania und Bernd, stellen sich, ihre Familie und ihr Geburtsland als Opfer der nationalsozialistischen Vergangenheit dar. Keiner der beiden erkennt diesen Opferstatus in dem Maße an, wie es von dem jeweiligen Ehepartner gewünscht wird. Beide bleiben in ihren Äußerungen den jeweiligen nationalen Kategorien verhaftet. Ania thematisiert im Gegensatz zu Bernd in dem Interview offen, dass durch dieses Unverständnis in der Ehe Diskussionen und Problemen vorhanden waren bzw. noch vorhanden sind. Dadurch, dass sie die angesprochenen »Brennpunkte« ruhen lässt, gibt es keine Diskussionen und keine Unterhaltung mehr in der Familie über diese Thematik. So wird ein Konflikt und die damit verbundene, schlechte Stimmung in der Familie vermieden, jedoch nicht das eigentliche Problem der Nichtanerkennung des Opferstatus des Anderen im jeweiligen nationalen Kontext beseitigt. Für Ania als Mutter und Ehefrau ist es wichtiger eine harmonische Familie zu haben, statt mit der Thematisierung der Vergangenheit möglicherweise die Mitglieder der Familie zu verletzen. Die in der Familie angesprochenen Aspekte der nationalsozialistischen Vergangenheit werden verdrängt. Sie ordnet sich jedoch im Gegensatz zur sonstigen Asymmetrie in der Be-

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ziehung in Bezug auf die sozialen Erinnerungen nicht ihrem Mann und seiner als überlegen stilisierten Wissensposition unter, sondern beharrt auf der Gültigkeit ihrer Erinnerungen, auch wenn sie diese nicht offensiv vertritt. Für Ania hat diese familiäre Uneinigkeit eine wichtige Bedeutung. Sie thematisiert im Interview oft, bei welchen Aspekten sie Unverständnis und die Fremdheit bei ihrem Ehemann vorfindet und sie wünschte sich, dass dies nicht so wäre. Bernd sieht dagegen kein Problem in der Familie bezüglich des Zweiten Weltkrieges. Er erkennt zwar die Täterschaft der Deutschen an, aber er sieht keine Hinweise auf eine Tätervergangenheit in seiner Familie. Er zieht auch keine Verbindung zwischen der Tätigkeit seines Großvaters, der an der rassistischen Kolonialisierung teilgenommen hat, und der familiären Geschichte seiner Ehefrau. Er geht im ganzen Interview nicht auf das Leiden in Anias Familie während des Zweiten Weltkrieges ein. Bernd thematisiert auch nicht die familiäre Kriegs- und Nachkriegsgeschichte seiner polnischen Ehefrau. Im Gegenteil, er legt den Schwerpunkt auf die Präsentation des Opferstatus der Deutschen. Angefangen mit der Darstellung der Bombardierung Dresdens, den deutschen Kriegsgefangenen sowie dem Leiden und der Traumatisierung seiner Familie bis hin zu den späteren Generationen, die von einer Stigmatisierung durch die nationalistischer Vergangenheit betroffen seien. Dass in der deutschen Bevölkerung oft diese Betonung des Opferseins während des Nationalsozialismus und die Ausblendung der eigenen Täterrolle zu finden ist, zeigen auch Rosenthal (vgl. Rosenthal 2002: 216 f.) und Welzer (2002: 82 ff.). Zusammenfassend kann man sagen, dass die unterschiedlichen Selektivitätsmuster aus den zur Verfügung stehenden sozialen Erinnerungen eine Belastung in dieser interkulturellen Beziehung darstellen. Der deutsche Ehemann erkennt in seiner intensiven nationalen Identifikation die polnischen Opfergeschichten nicht an, auch wenn er deutsche Verbrechen verurteilt. Er operiert hier von einer konstruierten überlegenen Wissensposition aus und in Reproduktion der strukturellen Asymmetrie der Beziehung. Seine Ehefrau, die sich mit der polnischen Nation identifiziert, sieht die Ursache in den unterschiedlichen nationalen Erinnerungen und den Differenzen in Sozialisation und Kultur. Auch wenn sie, im Gegensatz zu Ausbildung und Karriere, die sie der Beziehung opfert, auf ihrer Version des Geschichtsbildes beharrt, versucht sie doch, das konfliktträchtige Thema zu meiden, und reproduziert damit die strukturelle Asymmetrie der Beziehung.

Gebrauchte Medien Gerd Sebald

Ausgehend von der allgemein akzeptierten These, dass Erinnerung notwendig eine gegenwärtige Rekonstruktion ist und ein direkter Zugang zu Vergangenem nicht möglich ist, scheinen Medien die prädestinierten Vermittler von Vergangenheiten: »Was bleibt aber, wenn kollektive Erinnerungsakte keinen Zugang zu einer ›objektiv gegebenen‹ Vergangenheit gewähren? Vielleicht die Medien, die uns als einziges materiales Zeichen, als Anhaltspunkt dafür dienen, dass eine vergangene Wirklichkeit existiert hat und die uns – in zeitlich umgegekehrter Richtung prospektiv – erlauben, unser Wissen auszulagern.« (Erll 2004: 4) Wenn Medien jedoch nur noch aus dieser Vermittlungsfunktion bestimmt werden, aus der »erinnerungskulturellen Funktionalisierung« (Erll 2004: 17), wird potentiell jeder zu- oder vorhandene Überrest zum (Gedächtnis-)Medium, so er denn in Gedächtnisprozesse eingebunden wird. Welzer (2008b: 16) spricht deshalb in Anlehnung an Donald (2008) von »Exogrammen«, »jegliche Inhalte [...], die entweder selbst als menschliches Orientierungsmittel entwickelt worden sind [...] oder als solches verwendet werden können«. Der Vorteil dieses Konzepts liegt in der Aufhebung der Koppelung spezifischer Medien an spezifische Gedächtnisformen, wie sie etwa in systemtheoretisch orientierten Konzeptualisierungen sozialer Gedächtnisse gängig ist (vgl. Esposito 2002; Luhmann 1997: 576 ff.). Daran soll im folgenden Beitrag angeschlossen werden. Die Spezifika von Medien aber, seien es die semiotischen Mechanismen oder das technikgerahmte mediale soziale Setting, verschwinden in dieser Gleichsetzung mit »Steine[n], Flüsse[n], Berge[n]« (Erll 2004: 10 f.). Damit rückt auch die Funktion der Vermittlung von ›Ausgelagertem‹ in den Mittelpunkt. Medien werden vor allem auf diese Mittlerrolle

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reduziert. In dieser funktionalen Verbindung von Medien und sozialen Gedächtnissen bleibt das Grundproblem dieser Beziehung verdeckt: der Gebrauch von Medien und deren Eigenlogik darin in sozialen Bezugnahmen auf Vergangenes, also die Konstitution von gültigem Wissen von der Vergangenheit in der medienbezogenen Praxis der Erinnerung. Medien im unten zu entwickelnden Sinne können in der (Re-)Konstruktion von Vergangenem eine tragende Rolle einnehmen. Aber die kann auch von anderen Faktoren eingenommen werden, wie etwa von Authentizitätskonstruktionen (vgl. unten 207 ff.), Diskursen (vgl. Lehmann in diesem Band S. 43 ff.) oder Generationsgrenzen (vgl. Brunnert in diesem Band S. 67 ff.). Es gilt also im Folgenden den Gebrauch von Medien in den jeweils gültigen sozialen Vergegenwärtigungen von Vergangenem herauszuarbeiten. Gerade im Hinblick auf dieses Grundproblem muss von medientheoretischen und mediensoziologischen Überlegungen ausgegangen werden, um einen Medienbegriff zu bestimmen, der Medialität analytisch hinreichend festlegt. Mit Hilfe dieses Medienbegriffs kann dann am empirischen Material der je spezifische Gebrauch von Medien in sozial gültigen Rekonstruktionen der Vergangenheit bestimmt werden. Gebraucht werden Medien also in einem mehrfachen Sinn: Sie werden benutzt, sind zuhandene Mittel für vergangenheitsbezogen Praxen, ihre Medialität schwindet in diesem selbstverständlichen Gebrauch (vgl. neben Schütz insbes. Jäger 2003) und sie werden in vielen Fällen benötigt, um gültig auf Vergangenes zugreifen zu können. Das schließt nicht aus, dass vergangenheitsbezogene Praxen auch andere, nichtmediale Artefakte einschließen können.1 Im Folgenden steht jedoch die Medialität selbst in den praktischen Vollzügen und in ihrer Wirkung auf die je konkreten Selektivitäten sozialer Gedächtnisse in Frage. Dazu wird in einem ersten Schritt ein Medienbegriff entwickelt, der auf technische Kommunikationsinstrumente fokussiert und deren Eigenlogik in Bezug auf Verzeitlichung, soziale Reichweite und mögliche Anschlusspraxen betont. Der Mediengebrauch wird dabei als entscheidender Faktor entwickelt. In einem zweiten Schritt werden dann Gebrauchsformen aus dem diesem Band zugrundeliegenden empirischen 1 | Was auch in unseren Interviews vielfach geschieht, wenn die vom Bombenangriff auf Dresden 1945 angesengte Vitrine immer noch im Wohnzimmer steht oder der Familientisch mit seinen vielfältigen Gebrauchsspuren, der Erinnerungen weckt und als Beleg für Erzählungen genutzt wird.

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Material rekonstruiert und schließlich in einer offenen Typologie zusammengefasst.

D ER M EDIENBEGRIFF Der Medienbegriff, so wie er im Folgenden Verwendung findet, bezeichnet neben der gesprochenen Sprache technische ›Instrumente‹ der Kommunikation. Um diese erst einmal nur extensionale Bestimmung zu spezifizieren, können mit Krämer (2000b: 10 ff.) drei »Knotenpunkte des Mediendiskurses« in den Blick genommen werden: das Verhältnis von gesprochener zu geschriebener Sprache (a), technische Medien (b) und Massenmedien (c). a) Grundlegend für soziale Gedächtnisse oder für eine »gesellschaftliche Erfahrungsablagerung« sind Zeichensysteme (Berger und Luckmann 1998: 72), zuallererst die Sprache. Sie wird zum Medium und zum konstitutiven Moment von Wissen und von Gedächtnis (vgl. Berger und Luckmann 1998: 72 f.). Auch für Halbwachs ist Sprache das zentrale Medium des kollektiven Gedächtnisses (vgl. Halbwachs 1985a: 124). Gesprochene Sprache ermöglicht ein soziales Gedächtnis, weil sie die »Gleichzeitigkeitsprämisse [der Beobachtung durchbricht] und eine vorbereitende Synchronisation von zeitdistanten Ereignissen« (Luhmann 1997: 215) ermöglicht. In der Iteration von Worten und Sätzen werden Bedeutungen stabilisiert und durch die Iteration in verschiedenen Kontexten Bedeutungen zu typisierten und typisierenden Semantiken verallgemeinert. Neben die »reale Realität« tritt eine »semiotische Realität« (Luhmann 1997: 218). Mit der Einführung der Schrift verändern sich die Möglichkeiten der Iteration. Während orale Kulturen nur über die Kombination von Versmaß mit feststehenden Formeln, Plots und Themen memorieren und reproduzieren (vgl. Ong 1982: 58 f.), kann in literaten Kulturen wörtlich zitiert und wiedergegeben werden. D. h. die Einführung der Schrift führt zu neuen Praxen und einer andersartigen Dauer des Verschrifteten2 , und damit zu erweiterten Möglichkeiten für soziale Gedächtnisse. Dabei wird nicht von einer Ablösung der oralen Tradierungsformen ausgegangen, sondern von einer Ausdifferenzierung der Medien, in der auch 2 | Es geht dabei nicht um eine Entgegensetzung von Monument und Wiederholung, wie es Jan Assmann in »Stein und Zeit« versucht (Assmann 1988). Im Gegenteil, sowohl das Monument, der schriftliche Text, wirkt nur über den Einsatz in konkreten Praxen in Form einer Wiederholung (in stabilerer Form), ebenso wie auch die Wiederholung, die mündliche Erzählung, eine stabile »monumentale« Struktur erfordert, die wiederholt werden kann. Vgl. dazu Winkler 2004: 110 ff.

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mündliche neben schriftlichen und anderweitigen medialen »Überlieferungs«-formen weiterbestehen, allerdings in veränderter Form und veränderten Praxen. b) Technische ›Instrumente‹ der Kommunikation wie Schrift, Buchdruck, Photographie, Television oder Kinematographie lösen das Sprechen, Sehen und Hören von der leiblichen Anwesenheit am Ort des Ereignisses sowie des Erzählaktes und ermöglichen so Kommunikation von räumlich und zeitlich Distantem. Gleichzeitig wird mittels der diesen Techniken inhärenten Dauerhaftigkeit die jeweilige Information je spezifisch verzeitlicht. Die Technik selbst setzt in gewisser Weise einen Rahmen für räumliche, zeitliche und soziale Praxen der Aneignung, und insofern ist die Medientechnik für eine Theorie des sozialen Gedächtnisses relevant. Zudem weisen spezifische Formen der Verzeitlichung und die damit angelegten Möglichkeiten der Archivbildung (und Reproduktion) den technischen Medien eine spezifische Funktion in der Konstruktion von Authentizität zu (vgl. den Beitrag zu Authentizität in diesem Band S. 207 ff.). c) Neben dem sprachlichen und dem technischen Aspekt sind Medien für eine Theorie des sozialen Gedächtnisses unter dem Aspekt ihrer sozialen Reichweite relevant. »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. Das gilt nicht nur für unsere Kenntnis der Gesellschaft und der Geschichte, sondern auch für unsere Kenntnis der Natur.« (Luhmann 1996: 9) Neue Massenmedien sehen wir dabei im Anschluss an Luhmann und Wehner nicht als das Erreichen einer nächsten Stufe oder einfach als Ersatz für ältere, sondern als fortschreitende Medienevolution und als Prozess der Mediendifferenzierung (vgl. Luhmann 1996; Wehner 1997). Prozesse der Massenkommunikation haben eine je spezifische soziale Reichweite. Die Differenzierung der Gesellschaft und der Medienkonfigurationen sorgen, neben der Differenzierung privat/öffentlich, auch für eine Differenzierung und Pluralisierung von Öffentlichkeiten (vgl. etwa Dewey 1926: 112 ff.). Die quer dazu liegende Mediendifferenzierung führt dazu, dass das gleiche Medium je nach dem Teilbereich der gesellschaftlichen Kommunikation, in dem es fungiert, einen verschieden großen Wirkungsraum haben kann und dass jedem Teilbereich eine Vielzahl von medialen Angeboten zur Verfügung steht. Massenmedien als technische und soziale Großinstitutionen selegieren und formieren Inhalte nicht nur per se durch die mediale Apparatur, sondern auch

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immer auf ein anonymes Publikum hin. Die hinter den massenmedialen Angeboten stehende Produktionsorganisation steht gerade in Bezug auf Vergangenheitsrepräsentationen nicht nur für den Geltungsanspruch auf Wahrheit, sondern auch für die wahrheitsanalogen Geltungsansprüche Wahrhaftigkeit und Richtigkeit (vgl. dazu Habermas 1984). Der oben extensional spezifizierte Medienbegriff lässt sich aufgrund dieser Überlegungen auch intensional füllen. Die als Medien bezeichneten Instrumente der Kommunikation (Sprache und technische Kommunikationsinstrumente) prozessieren Kommunikation und formieren die Inhalte auf je spezifische Weise in Bezug auf Verzeitlichung, soziale Reichweite und mögliche Anschlusspraxen. Diese Definition weist auf verschiedene Felder hin, die bei einer mediensoziologisch ausgerichteten empirischen Untersuchung beachtet werden müssen: die Eigenlogik der Medien, der Gebrauch der präsentierten Medienkonfigurationen und -inhalten, also der Einbau in den eigenen Erfahrungszusammenhang und die Anschlußkommunikation, die soziale Aushandlung der Bedeutung von Medienangeboten. Die Medientheorie hat, im Anschluss an McLuhan (McLuhan 1995: 21 ff.) und poststrukturalistische Theorieentwürfe (vgl. exemplarisch: Kittler 1995; 1986; 1993; Baudrillard 1991), vor allem die Eigenlogik der Medien betont, die sowohl Produktion als auch Rezeption determinieren würden. Auch wenn man diese starke These der Unterwerfung des Subjekts unter das eigenständige mediale Prozessieren nicht teilt (vgl. Keppler 1994b), bleibt doch festzuhalten, dass die Eigenlogik der medialen Präsentation und die je spezifische Verzeitlichung des präsentierten Inhaltes in der Forschung berücksichtigt werden muss. Eigenlogik meint in unserem Zusammenhang, dass Medien ihrem Gebrauch Rahmen setzen, dass sie Selektivitäten präformieren, bahnen und informieren (nicht: determinieren), dass sie Deutungsmuster nahelegen und dass die jeweils wirksamen semiotischen Mechanismen einer eigenen Logik folgen. Damit wird auch die Fundierung von Medientheorie auf dem Aspekt der Vermittlung fragwürdig (wie er implizit in den oben angeführten Theorien der Gedächtnismedien angelegt ist). Statt dessen muss grundlegend von einer In-Formierung, einer spezifischen Formung der prozessierten Kommunikation in den und durch die jeweiligen Medien ausgegangen werden. Damit wird keineswegs auf die Funktion der Vermittlung verzichtet, aber diese wird nicht mehr als zentraler Erklärungsansatz benutzt.

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Diese In-Formierung geschieht, und das ist die fundamentale These im Verhältnis von Medien und sozialen Gedächtnissen, in einem sozialen Setting. Bei deren Analyse kann auf Überlegungen zur Rezeptionsforschung zurückgegriffen werden (vgl. exemplarisch Sutter und Charlton 2001; Charlton und Schneider 1997; Sutter 1999). Vor allem für die Untersuchung des Verhältnisses von (Massen-)Medien und Gedächtnis ist die prinzipielle »Textoffenheit in der Beziehung zwischen Medienangeboten und Rezipienten« (Sutter 1999: 291) zentral. Erst diese Textoffenheit ermöglicht die Untersuchung differenter Formen des Gebrauchs, der Aneignung und des Einbaues der medial informierten Inhalte in den je eigenen Erfahrungszusammenhang. Das bedeutet nun keineswegs, dass die mediale Eigenlogik und der Formierungsaspekt bedeutungslos werden, sondern wendet sich gegen die These der eindeutigen Determination. Eigenlogik und In-Formierung fungieren dann als Selektionseinschränkungen, die den Gebrauch in gewissen, jedoch nicht fest bestimmten Rahmen festlegen. Sie erhöhen damit Chancen für gewisse Rezeptionspraktiken, für gewisse Anschlußmöglichkeiten, für gewisse Interpretationsrichtungen, aber determinieren diese nicht. Es bleibt immer auch der ganz andere Gebrauch möglich (vgl. unten ). Daran knüpft der letzte Punkt an, die an die Medienpräsentation anschließende Kommunikation, in der die Bedeutung der präsentierten Medieninhalte im sozialen Umfeld verhandelt und mit dem bestehenden sozialen Gedächtnis der Gruppe konfrontiert wird. Für diese Anschlußkommunikation ist das Problem der Geltung des medial vergegenwärtigten Wissens wichtig. Dafür stehen im Falle der Massenmedien die oben erwähnten Produktionsapparate und -institutionen. Dafür stehen aufgrund der je spezifischen medialen Temporalisierung die medialen Bedingungen selbst und der darauf fußende Authentizitätsanspruch. Dafür steht aber auch das »sozial abgeleitete Wissen« (Schütz 1964: 98 ff.), das von Schütz in den Dimensionen Erlebnisnähe und Konformität der Relevanzsysteme typisiert wurde. Dementsprechend kommt den medialen Dispositiven aufgrund ihrer Aufzeichnungsqualitäten und der damit gegebenen Ereignisnähe eine ähnliche Rolle wie dem »Augenzeugen« oder dem »Insider« zu (vgl. ebd.). Das führt gelegentlich dazu, dass mediales Wissen als fraglos gültig angenommen wird. Erst in der sozialen Aushandlung und Einordnung der (massen-)medial präsentierten Vergangenheit in die vorhandene Erinnerung wird das jeweilige soziale Gedächtnis formiert. Und diese Prozesse der selektiven

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Vergegenwärtigung sollen in den folgenden empirischen Sondierungen fokussiert werden. Denn in dieser Anschlußkommunikation formieren sich die aktuell sozial gültigen Vergangenheiten.

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EMPIRISCH

Im nächsten Schritt erfolgen Rekonstruktionen von typischen Mediengebrauchsformen, wie sie in unserem Sample auftauchen. Damit wird keineswegs ein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Es handelt sich eher um ein tastendes Betreten des Feldes des erinnerungsbezogenen Mediengebrauchs. Die Rekonstruktion erfolgt jeweils anhand eines Falles. Bis auf den Typ 5, dem wir nur einen Fall zuordnen können, sind jedoch alle Typen mehrfach in unserem Sample vertreten. Typ 1: Medien als Aktualisierungsanreiz

In der Familie W6 leben zum Zeitpunkt des Familieninterviews noch drei Zeitzeugen (zwei Großmütter und ein Großvater). Kurz nach Beginn der Gruppendiskussion berührt das Gespräch die Anlässe, die zu einem familialen Gespräch über die Vergangenheit führen: Vater: »Und mit jedem Fernsehfilm, kann ich mich sogar selber auch dran erinnern . mit jedem Fernsehfilm, der über das Thema kam, hamm wir immer mit dir [Großmutter1] drüber diskutiert.« (W6Familieninterview: Z. 134 ff.) Nach einem längeren Exkurs zur Realitätshaltigkeit von Spielfilmen und der Rolle von Gedenkstättenbesuchen für die Familienerinnerung wird das Thema wieder aufgegriffen: Vater: »Ja, ja also unsere Erfahrung ist an der Stelle ne andere als die wie du [Großmutter1] das gesagt hast, dass da gar nichts von da rüberkäm, das stimmt nicht, sondern dass tatsächlich ’ne ganze Menge wir fragen konnten, das trifft es auf meine Eltern [Großmutter2 und Großvater2] genauso zu, ’ne ganze Menge fragen konnten und dann wir auch ne Menge darüber erfahren haben. Vor allen Dingen eine Menge eben aus eurer Sichtweise weil in irgendwelchen Filmen . in irgendwelchen Unterrichtsbeiträgen kommt es ja sehr wohl auf uns zu und deswegen war es immer das natürlich sehr interessant für uns da nachzufragen und da war meine Erfahrung schon genauso

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auch bei dir [Großmutter1], dass bei all den Nachfragen dann doch sehr viele interessante Informationen für uns dazukamen. .. Immer wieder zu den verschiedensten Anlässen, sei es jetzt der ›Krebsgang‹, der als Buch rauskam, sei es jetzt, ich weiß jetzt gar nicht wie der erste Holocaustfilm eigentlich hieß, [...] der Dreiteiler oder Vierteiler im Fernsehen.« (W6-Familieninterview: Z. 200 ff.) Mediale Bearbeitungen der nationalsozialistischen Vergangenheit, sei es in Form von Dokumentar- oder Spielfilmen (deren Geltung von Großmutter1 ob der Fiktionalität vehement abgestritten wird), von Gedenkstättenbesuchen oder auch von Inhalten des Schulunterrichts der eigenen Kinder, bieten Anlässe, diesen Stoff in der familialen Kommunikation zu vergegenwärtigen. Zu den medial erhaltenen Informationen werden jedoch immer die »Sichtweisen« der familialen Zeitzeugen eingeholt. In der vergegenwärtigenden Kommunikation entsteht eine spezifische Mischung aus medialen Informationen und den Erzählungen der Zeitzeuginnen. Das soll kurz am Beispiel einer Sequenz zur Gustloff verdeutlicht werden. Aufgrund der Erwähnung der Novelle Im Krebsgang von Günter Grass kommt die Enkelin auf das Thema »Flucht und Vertreibung« zu sprechen: Enkelin: »Da haben wir gelernt, dass die Gustloff nur angegriffen worden ist, weil sie nicht als mit irgendso’ner Flagge gekennzeichnet war, so Rote Kreuz Flagge, . deshalb wurde die Gustloff angegriffen.« Großmutter2: »So. Sie war nicht gekennzeichnet?« Enkelin: »Ja. . Und das versteh ich nicht. Wieso hamm sie nicht einfach, also meine Geschichtslehrerin hat dann nur gesagt, ja wahrscheinlich wollten sie nicht auffallen wegen den andern Schiffen und so, aber ich versteh’s trotzdem nicht. .« Großmutter2: »Ja irgendwie hatten sie auch äh zu viel Licht oder . was war da, ich weiß net genau.« (W6-Familieninterview: Z. 298 ff.) Die aufgerufene literarische Bearbeitung des Themas wird als thematische Aktualisierung aufgenommen, die 16jährige Enkelin bringt ein Wissensfragment aus dem Schulunterricht ins Gespräch ein, das auch der Großmutter2 aktuell nicht bekannt ist. Auf das geäußerte Unverständnis der Enkelin hin wird dann nur ein weiteres, ebenfalls ungenaues Wissenselement im Gespräch reproduziert. Die Erwähnung der überflüssigen

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Beleuchtung des Schiffes geht, so steht zu vermuten, nachdem keine Überlebenden als Zeitzeugen benannt werden, auf massenmediale Quellen zurück. Im Gespräch von Großmutter2 und Enkelin wird versucht, die damaligen Ereignisse mithilfe der zuhandenen Wissensbruchstücke aus Schule und Medien zu rekonstruieren. Diese Bruchstücke bleiben aber im Modus der Unsicherheit. Vater: »Ja, es kann aber eigentlich auch nicht ganz stimmen, weil an und für sich war die Gustloff als solches ein Passagierschiff, das hatte mit Militär nichts zu tun, nur war es so, dass in allen diesen Passagierund Sanitärfahrzeugen eben auch Soldaten waren und deswegen die Russen auch bei der Gustloff davon ausgegangen sind, da sind auch Soldaten drin. Also es war bekannt, dass es ein Passagierschiff ist.« Großmutter2: »Waren da überhaupt Soldaten drin? Ich glaub net. .« Vater: »Wohl eher nicht.« Großmutter1: »Also die Kriegshilfsdienstler waren schon drin, weil das hat die Lämmermannsche mir erklärt, die war da oben als Kriegshilfsdienstlerin und die hätten auf die Gustloff gehen müssen, um wegzukommen und die hat aber glücklicherweise ihren Eltern in Danzig nichts gesagt . hat mit ihrer Schwester den Weg zum Hafen gemacht und da war ein anderer Kapitän, der hat gesagt: ›Liebe Mädels, ich fahr jetzt sofort weg und nicht erst heut’ Nacht, kommt mit auf’s Schiff‹.« (W6-Familieninterview: Z. 318 ff.) Der Vater mischt sich in die Diskussion ein und bringt Wissen allgemeinerer Natur (ebenfalls höchstwahrscheinlich massenmedialer Herkunft) in die Diskussion ein, wobei Großmutter2 bezweifelt, dass Soldaten an Bord des Schiffes gewesen seien. Daraufhin muss auch der Vater eingestehen, dass sein Wissen in diesem Punkt nicht gesichert ist. Großmutter1 bringt daraufhin eine ihr persönlich bekannte Zeitzeugin ins Gespräch, die bestätigen kann, dass zumindest »Kriegshilfsdienstler« an Bord der Gustloff waren. Dieses Wissen unterliegt keiner Unsicherheit und wird zur zumindest partiellen Korrektur gebraucht. Großmutter2: »War bei mir auch so.« [...] Vater: »Wir brauchen nicht die Lämmermannsche, sondern wir können die Großmutter2 nehmen.« (W6-Familieninterview: Z. 331 ff.)

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Mit der Feststellung einer vorhandenen Zeitzeugenschaft und mit dem Verweis auf die damit verbundenen, in der Familie bereits bekannten Erzählungen wird das Thema dann abgeschlossen. Die offenen Fragen, die fehlende Beflaggung, die überflüssige Beleuchtung und die Anwesenheit von Soldaten auf der Gustloff, wurden nicht geklärt. Was bleibt, ist das durch die familialen Zeitzeugen abgesicherte Wissen und der Verweis auf das Vorhandensein von Zeitzeugenwissen in der Familie, an das angeschlossen werden kann und soll. In dieser Sequenz zeigt sich, dass massenmediale Bearbeitungen von vergangenheitsbezogenem Wissen in der Familiendiskussion aufgegriffen (Grass’ Im Krebsgang) und zum Anlass für eine gemeinsame Rekonstruktion genommen werden. Dabei wird weiteres, aller Wahrscheinlichkeit nach medial bearbeitetes Wissen jeweils in die Kommunikation eingespeist. Mit diesen Inhalten werden zusätzliche Möglichkeiten in die Rekonstruktion eingebracht und weitere Horizonte eröffnet. Das erfolgt jedoch immer unter dem Vorbehalt der problematischen Geltung. Die entscheidenden Wendepunkte in der Konstruktion und die Aufhebung der Unsicherheit des Wissens erfolgen jedoch durch Verweis auf lebende Zeitzeugen. Mediales Wissen erhält nicht immer erst durch diese subjektiven Erinnerungen seine Gültigkeit, aber eine so gesicherte Gültigkeit ist in der Familie W6 der Kern der Rekonstruktion von Vergangenheit. Medien werden hier als Aktualisierungsreiz in der jeweiligen Situation gebraucht, insofern als die inhaltlichen Aspekte keine weitere Berücksichtigung finden. In diesem Typ spielt die mediale Eigenlogik entsprechend nur eine eingeschränkte Rolle. Aber bereits hier scheint ein anderer Gebrauch auf: Medien als (unsichere) Wissensquellen. Typ 2: Medien als Wissensquellen

Dieser Gebrauch von Medien als Wissensquellen ist sicher der häufigste Nutzungstyp. Massenmediale Inhalte sind in der Produktion auf die problemlose Akzeptanz ausgerichtet. Die Geltungsansprüche der Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Richtigkeit werden erhoben und im Fall von medialen Artefakten durch die spezifische Temporalität und Materialität untermauert. Massenmedial präsentiertes Wissen scheint deshalb eher im Modus der fraglosen Gültigkeit akzeptiert zu werden. Gerade deshalb ist der Fall dieser Familie interessant. Hier wird mediales Wissen nie als fraglos gültig akzeptiert. Ein besonders prägnanter Fall zeigt sich im Falle des Urgroßvaters väterlicherseits:

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Vater: »Was ich dann im Internet selbst noch herausbekommen habe, wo ich genauso nicht weiß, ob es tatsächlich fundiert stimmt, also . Wikipedia . hat mir dann erzählt, dass es wohl so gewesen sein muss, dass Urgroßvater2 auch Verhandlungen mit der NSDAP sogar geführt hat, nämlich über einen Zusammenschluss oder ein gemeinsames Auftreten innerhalb des Wahlkampfes.« (W6-Vater: Z. 43 ff.) Die spärlichen und offensichtlich lückenhaften Erzählungen seines eigenen Vaters in Bezug auf Urgroßvater2 ergänzt er durch eine Internetrecherche: Vater: »Ja, ich kenne die Position, die er [in der Politik] hatte, nicht richtig. Mein Vater spricht eher von einer unbedeutenden Position, das Internet spricht eher von einer bedeutenden Position. . Wo hier die Wahrheit liegt, weiß ich nicht wirklich. .« Interviewer: »Und wie sind Sie da eigentlich auf’s Internet gekommen?« Vater: »Einfach nur mal auf die Google-Recherche . ›Urgroßvater2‹, was steht denn dort drin? Es gibt tatsächlich zwei Quellen, die beide davon sprechen: Es gibt ein amerikanisches . Werk, ich kann Ihnen das leider momentan nicht sagen wie’s wirklich heißt, aber auf jeden Fall ist in diesem Werk ebenfalls beschrieben, dass er Verhandlungen mit der NSDAP geführt haben soll. . Das findet man, das hab ich in einem antiquarischen Fundus gefunden, wo eben darüber geschrieben worden ist, dass diese Verhandlungen grundsätzlich stattgefunden haben sollen.« (W6-Vater: Z. 214 ff.) Weil Großvater2 wenig über seinen eigenen Vater (Urgroßvater2) erzählt und insbesondere dessen politische Aktivitäten nicht an seinen Sohn (Vater) weitergibt, ist letzterer genau daran sehr interessiert. Die medialen Möglichkeiten des Internets, aber auch des Buchmarktes dienen ihm als Wissensquelle, um der Familiengeschichte auf die Spur zu kommen. Das mediale Angebot dient hier als Ersatz für die fehlende Information durch den eigenen Vater. Nicht der, sondern Wikipedia erzählt dann. Gleichzeitig bleibt ein grundsätzlicher Zweifel an den Wissensquellen bestehen: Es fehlt die Fundierung in und der Abgleich mit den Berichten der Zeitzeugen. Dazu gibt insbesondere auch die unterschiedliche Bewertung der Position von Urgroßvater2 Anlass. Gegenüber medialer

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Bearbeitungen wird immer ein grundsätzlicher Zweifel formuliert, der erst mit der Bestätigung durch die Zeitzeugen ausgeräumt wird: Großmutter1: »Ja, auf jeden Fall diese .. wenn irgendwas über dieses Thema ist, dann sind’s zusammengeschnittene Dokumentationen ., wo ma also .. mehr wüsste als die Dokumentation bringt.« Vater: »Genau, aber das ist auch der Punkt.« Großmutter1: »Ganz gerichtet auf’s Publikum.« Vater: »Ja, ja aber das ist es ja genau, weil das ist ja das was wir erfahren aus der Zeit, genau das ist es was wir erfahren und für uns ist es dieselbe Erfahrung, dass es eben Dokumentationen sind, die irgend- jemand subjektiv zusammengschnitten hat, klar . nichts ist subjektiver als irgendein Subjekt, das ist klar, aber deswegen ist ja genau das für uns wahnsinnig wichtige, dass wir dann auch die Zeitzeugen an der Hand haben und hatten und dort nachfragen konnten, ja wie schaut’s jetzt aus, wie war das nach deiner Erfahrung.« (W6Familieninterview: Z. 237 ff.) Der Grund für den Zweifel an medialen Bearbeitungen wird paradoxerweise in ihrer, auf »subjektive« Personen zurückgerechneten Selektivität verortet, die nur durch die authentische Erfahrung der Zeitzeugen korrigiert oder gültig werden kann. In diesen Reflexionen wird der massenmediale Produktionskontext, zurückgerechnet auf die produzierenden Subjekte, durchaus kritisch in Rechnung gestellt. Medieninhalte tragen für diese Familie gleichsam permanent den Index des Zweifelhaften. Ihr Gebrauch für Vergangenheitsrekonstruktionen bleibt damit immer auf die subjektive Bestätigung durch Zeitzeugen angewiesen. Diese Praxis verweist gerade in ihrer Paradoxalität auf die ansonsten unproblematische Geltung von vielen (massen)medial präsentierten Informationen. Das gilt zumindest für Gattungen oder Programmbereiche wie Nachrichten, Berichte oder Dokumentationen (Luhmann 1996; Ziemann 2006: 65 ff.). Massenmedial verbreitetes Wissen gilt mit dieser Einschränkung als gültiges Wissen, für dessen Geltung der Produktionsapparat einsteht. Massenmedien sind demzufolge gemäß der Typologie von Schütz (1964) Augenzeugen, Insider, Analytiker und Kommentatoren in einem.3 3 | Angemerkt sei zu diesem Typ, dass wir keinen Fall der Übernahme von medialen Erzählmustern haben, wie sie Welzer et al. (2002: 105 ff.) gefunden haben. Im Vorprojekt

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Typ 3: Medien als Öffnung und Abschließung von Leerstellen

Besonders wenn in den Familienerinnerungen Hinweise auf Täterschaft auftauchen, scheinen Leerstellen eine wichtige Rolle zu spielen.4 Dabei geht es gerade nicht um das von Alfred Schütz so treffend analysierte Ausfüllen von Leerstellen (Schütz 2004a: S. 202 ff.), sondern um den Erhalt dieser Leerstellen, durch einen Prozeß der Abschließung mittels medialer Darstellungen, der aufgrund der medialen Eigenlogik paradoxerweise mit einem ständigen Offenhalten dieser Leerstellen verbunden ist. Die schwarze Uniform

In der Familie W32 gibt es keine lebenden Zeitzeugen des Nationalsozialismus mehr. Der 1966 verstorbene Vater von Frau Kauber war Mitglied in der SS: Fr. Kauber: »Ja also mein . ja also vielleicht fang ich da an. Mein Vater war in der SS, mein Vater war soweit ich weiß in der Leibstandarte. Ich weiß es nicht genau, was er ähm was er genau gemacht hat, ich weiß, dass er mein Vater hat ja äh Maschinenbau studiert und hat auch ähm äh er war zuständig auch für so Panzerinstandhaltung und solche Sachen .. er war ... Leutnant irgendwas, also er war jetzt kein hoher Rang« (W32-Mutter: Z. 52 ff.). Das Wissen darum wird durch mehrere Photographien, die den Vater in schwarzer Uniform mit Totenkopfsymbol auf der Soldatenschirmmütze zeigen, auf Dauer gestellt. Die Photos zeigen jeweils denselben jungen (vgl. S. 217) haben wir jedoch einen ähnlich gelagerten Fall gefunden: In mindestens zwei Fällen erzählt die Vertriebene Frau Gress (Jg. 1926) Geschichten, die in ähnlicher Form auch in der Vertriebenenliteratur des Ortes auftauchen, an dem sie geboren wurde und aufgewachsen ist. Ohne dass in diesem Fall eindeutig zu entscheiden wäre, ob eine über Massenmedien verbreitete Erinnerung das Modell der biographischen Erinnerung liefert oder ob sich beide Erzählungen auf ein Ereignis beziehen, ist doch an den Erzählungen auffällig, dass im strukturellen Aufbau der Geschichten weitgehende Übereinstimmungen bestehen. Hier könnte mit den Fällen von Welzer et al. ein Typ 2b: Medien als Lieferanten von Erzählelementen gebildet werden. 4 | Dafür muss nicht unbedingt ein NS-Täter in der Familie bekannt sein, sondern es genügt bereits ein Verdacht auf eine mögliche Täterschaft. Wir haben dieses Muster mehrfach im Sample gefunden, obwohl wir explizite Täterschaft als Ausschlusskriterium festgelegt hatten. Vgl. dazu auch den Beitrag »Ethische Implikationen in familialen Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus – eine Fallrekonstruktion« in diesem Band S. 23 ff.

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Mann in Uniform, als Ganzfigur oder als Bruststück, posierend für eine Kamera. Was er beim Tragen dieser Uniform jedoch getan hat, bleibt im Unklaren: Fr. Kauber: »Ja oder er [bricht ab] ... ja ich weiß es nicht, ich weiß nur, das hat man eben immer gesagt, er hat dann da die Panzer da repariert und solche Sachen und äh ja es war dann immer so ›er hat ja eh, also er war harmlos, er hat nichts getan‹ er hat nur, puh er war nur, ja, handwerklich tätig. Und das mag sogar stimmen, ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, ich hab keine Ahnung.« (W32-Mutter: Z. 329 ff.) Dieser von den Photographien eröffnete Horizont möglicher Täterschaft wird aber keineswegs näher erkundet. Statt dessen wird ein unbestimmtes »man hat eben immer gesagt« als Quelle für ein unsicheres Wissen um seine mögliche (Nicht-)Täterschaft angeführt. Ein unsicheres Wissen, das als solches zur Schließung dieses Horizontes führen soll. Ein weiteres Photo unterstützt diese Schließung. Es zeigt einen etwa 12-14 Jahre alten Jungen, der mit der zum Hitlergruß erhobenen rechten Hand stramm vor einem geschlossenen Garagentor steht. Vom Dach der Garage hängt eine Hakenkreuzfahne herab. Fr. Kauber: »Ja, weil ich hatte als Kind, man stellt sich dann so Sachen vor, so ja mei er war halt in der SS aber wahrscheinlich hat er das eh nicht gemocht und er war ja nur eh nur für so seine mechanischen Dinge da zuständig. Und dann kam so diese Sache und sein Vater hat eben immer finanziert und so diese Gruppe da, in der er war und hat die Uniform immer für die und dies und das bezahlt. Und dann Jahre später hab ich dann dieses Photo gesehen und dann hab ich gedacht so naja, ich mein das schließt das Bild irgendwo ab, weil da hat ja irgendjemand von der Familie wohl, ganz stolz photographiert den Jungen vor der Garage unterm Hakenkreuz und mit dem Hitlergruß.« (W32-Mutter: Z. 254 ff.) Die mögliche Schuld wird mit diesem Photo in die Familie des Vaters verschoben. Obwohl der Junge auf dem Bild vor der Flagge posiert, wird der Großvater als Finanzier der NSDAP und der Rest der Familie als »ganz stolze« NS-Anhänger beschrieben. Mit diesem Photo wird die Herkunft aus einem braunen Umfeld dokumentiert und die Schuld des Vaters verringert. Das »Bild wird abgeschlossen«. Diese Schließung funktioniert nur, wenn der Vater eigentlich gar nicht Nationalsozialist und SS-

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Mitglied sein wollte und diesen Unwillen auch durch bloßes Panzerreparieren ausgedrückt hat. Die Photographien werden quasi um diese Leerstelle gruppiert, um die Interpretation der Nicht-Täterschaft aufrechterhalten zu können. Aber die Kontextlosigkeit der Photographien, die eindeutige Dokumentation der Totenkopfembleme und die damit durchschlagende Eigenlogik des Mediums ruft immer auch die Deutung der Täterschaft mit auf. Der Bericht eines Überlebenden

Während die Beschäftigung mit der möglichen Tätervergangenheit des eigenen Vaters bzw. Großvaters eher vermieden wird, könnte ein anderer Pol der Familie, ein Auschwitzüberlebender durchaus als positive Identifikationsfigur dienen. Auch er ist bereits tot, hat aber einen 102-seitigen Bericht zu seinen Lageraufenthalten hinterlassen. Dieser abgetippte Bericht steht der Familie zur Verfügung. Fr. Kehl, die Tochter von Fr. Kauber, berichtet davon: Fr. Kehl: »Also.. mein Großvater väterlicherseits ist erst vor ein paar Jahren gestorben.. [mhm] .. Und es gibt nur noch eine Abschrift.. und die handelt eben davon.. wie er überhaupt die Auschwitzzeit erlebt hat.. [mhm] .. Aber.. wie er hingekommen ist... wiss’ ma nicht genau..« (W32-Tochter: Z. 31 ff.) Als Inhalt des Berichtes wird erinnert, wie der Großvater in Auschwitz »erlebt« hat, nicht: wie er es geschafft hat, das Lager zu überleben. Der Großvater wird daraufhin nicht näher charakterisiert, etwa in Hinblick auf seinen körperlichen und seelischen Gesundheitszustand, sondern offen bleibt die Frage, »wie er denn hingekommen ist«. Diese Leerstelle, der Grund der Verhaftung, der im Bericht nicht erwähnt wird5 , beschäftigt die Familie am meisten: Fr. Kehl: »Man weiß garnichts! Man weiß aber von den Rumänen dann in Berlin, was hat [er] denn [in] Rumänien gemacht? Man findet immer wieder Hinweise, aber .. wirklich konkret, nein! [mhm] Keine Ahnung! Also .... und genau eben die Geschichte ..... ähm verhaftet, [Mutter: ja, ja] dann, weiß nicht? 30 Tage, anderthalb oder zwei Monate später wieder entlassen, [Mutter: ja, ja.. und dann wieder 5 | Eine Kopie dieses Berichtes wurde uns zur Verfügung gestellt.

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verhaftet] und wieder verhaftet! Und dann eben diese ganzen Touren! Er hat ja in Buchenwald, Auschwitz, wo auch immer, zuletzt war er in Dachau,.. wo er dann befreit wurde...« (W32-Familieninterview: Z. 253 ff.) Die nüchternen Schilderungen des Überlebens im Lager werden nicht als ausreichendes Wissen angenommen, der Leidensweg durch die Lager wird unter dem Stichwort »Touren« zusammengefasst. Die Frage richtet sich ganz auf den Grund der Verhaftung, der nicht genannt wird. Nicht sein Leiden ist interessant, sondern der Grund seines Leidens. Auch hier eröffnet sich eine Leerstelle, die allerdings, im Gegensatz zur Täterschaft oben, in ihrer möglichen Füllung unklar bleibt. Sei es, dass der Verdacht besteht, dass die Verhaftung gerechtfertigt war, sei es, dass der Großvater zu den rassistisch Verfolgten gehört. Ansonsten werden vom Großvater noch seine ›Verhaltensauffälligkeiten‹ erinnert: Fr. Kauber: »Bei mir ist eins hängengeblieben, eben was ich noch weiß von [...] Dass der .. das weiß ich vom Konrad eigentlich, ...... wenn er irgendwo war, dass er immer mit dem Rücken zur Wand saß. [Fr. Kehl: ja] ....... Dass er es einfach nicht ertragen konnte ’n freien Rücken zu haben.« Fr. Kehl: »Das weiß ich auch noch! [Fr. Kauber: ja] Das ... dieses Gefühl, das von hinten jemand kommt!« (W32-Familieninterview: Z. 280 ff.) Die Begründungen für diese Verhaltensweise, die im Bericht als fundamentale Überlebensregel in den Lagern erläutert wird, werden jedoch nicht erinnert, sondern auch dieses Verhalten wird auf die Leerstelle bezogen: Fr. Kehl: »Und später wurde mir erklärt, warum das eigentlich so war. .. Weil er wurde anscheinend eben bei seiner Festnahme üb, saß er irgendwo, in nem Restaurant.. und wurde da überrascht«. (W32-Tochter: Z. 135 ff.) Nicht die im Bericht des Überlebenden handfest gelieferten Begründungen werden zur Erklärung des Verhaltens herangezogen, sondern Erklärungen, die sich auf die Leerstelle beziehen. In beiden Fällen werden die medialen Bearbeitungen, photographisch und typographisch, der Vergangenheit nicht als solche wahrgenommen und gebraucht, sondern als Lieferanten und Garanten von Leerstellen (die mögliche Täterschaft, der Verhaftungsgrund), um die herum

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dann ein Netz von ungesicherten Deutungen gesponnen und tradiert wird. Die Medien dienen in beiden Fällen dem Erhalt und der Schließung dieser Leerstelle und werden entsprechend selektiv gebraucht. Insofern dienen hier gerade die Speichermedien und die in ihnen aufbewahrte Vergangenheit dem Vergessen. Deutlich wird jedoch insbesondere anhand der Photographien, dass sich die mediale Eigenlogik gegen diese Schließungsversuche sträubt (die Interpretation als des Schwarzuniformierten als Mörder bleibt immer möglich), und dass die Leerstelle damit auch immer offen gehalten wird. Gerade in den Familien ohne Zeitzeugengeneration spielen private Erinnerungsmedien (Photographien, Feldpostbriefe, Tagebücher, Erlebnisberichte etc.) eine wichtige Rolle zur Vergewisserung der familialen (Nicht-)Involviertheit im Nationalsozialismus. Sie werden gleichsam zu Marksteinen für die Leerstellen, an denen sich unterschiedliche Geschichten und Deutungsmuster emporranken. Typ 4: Medien als Dokumentation

Eine weitere Gebrauchsweise von Medien rekurriert ebenfalls auf die medialen Geltungsansprüche, nimmt sie jedoch als fraglos gegeben an. Das wird in den Interviews mit der Familie W30 deutlich: Fr. Lohmann: »War auch so, dass der Urgroßvater, der war Dolmetscher, weil der sehr gut Englisch konnte, und . der hat im, ich glaub, im Westen der Stadt, die Stadt an die einmarschierenden Amerikaner nach der Kapitulation übergeben. Und dieser Name des Urgroßvaters [...] is auch in einem Buch genannt, als derjenige, der dann die Stadt mit den Amerikanern übergeben hat .. und ... dadurch Menschenleben gerettet hat, allein dadurch, durch seine Sprachkenntnisse, durch sein Auftreten ...... Und dieses Buch, ich glaub wir haben das in doppelter oder dreifacher Ausfertigung hier, is so, für uns ein historisches Dokument.« (W30-FrL-Interview: Z. 127 ff.) Die Heldentat des Vorfahren ist medial dokumentiert und wird als solche aufgerufen. Und so wird sie auch in die angeheirateten Teile der Familie weitergegeben (und dort beinahe ehrfürchtig aufgenommen): Schwiegermutter: »Ich finde das so hoch spannend, wie sehr sich durch die Familie so diese geschichtliche, also das ist so geschichtsträchtig alles.«

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Herr Lohmann: »Weißt du noch net, gell?« Schwiegermutter: »Ja, doch das weiß ich und wir hamm ja auch dieses Buch da, wo ihr drinsteht.« Herr Lohmann: »Ach so ja.« Schwiegermutter: »Ähm angeleuchtet6 , dass dein Vater zumindest an diesem Teil dann den Alliierten Nürnberg übergeben hat.« (W30Familieninterview: Z. 386 ff.) Das entsprechende Geschichtswerk steht in mehrfacher Ausführung im Regal der Familie. Es wird benutzt zur Dokumentation der Heldentat. Dieser Gebrauch liegt natürlich vor allem nahe, wenn es gilt, auch in der Gegenwart noch positiv konnotierte Erinnerungen zu belegen,7 das macht auch ein weiterer Fall deutlich: Der Zeitzeuge Herr Breitner (geb. 1926) ist Sohn eines engagierten Sozialdemokraten, der auch in der Zeit des Nationalsozialismus im Widerstand tätig war. Herr Breitner: »Meine Mutter .. hat, zwei Leute saßen, zwe Leute nahmen die Bücher auseinander und hoben alles hoch und Betten hoch und alles durcheinander. Sacht meine Mutter: ›Darf ich wenigstens, weil der Junge zu Besuch ist, von der von der Front (war gar nicht Front, war in der Ausbildung) den Kuchen rausholen, und ins ins Kalte stellen?‹.. ›Ja.‹. So, die Mutter nimmt den Kuchen, geht ins Schlafzimmer, bleibt ein paar Minuten dort und kam wieder und setzte sich zum Tisch. Und hinterher sacht de Mutter: ›Weeste, was ich gemacht habe? Ich hab die Flugblätter rausgenommen, die der Vater hatte.‹.. Ich sag: ›Bist du verrückt?‹ Wir hatten im Schlafzimmer son Sanitätsschränkchen, [mhm] Baldrian, Jod, Pflaster, papperlapapp... Und drunter war so’n Wachstuch. Und unter dem Wachstuch, das haben die nicht bemerkt, warn Flugblätter vom Vater drinne. Die hat die Mutter genommen, reingesteckt in die Schürze, und ist rausgekommen und hat geguckt, als wenn nichts wär. ... Die Rettung dieser Flugblätter war vielleicht das Wichtigste, was es überhaupt 6 | Gemeint ist hier die Markierung mit einem farbigen Textmarker. 7 | Denkbar, wenn auch selten, ist aber auch eine familiale Tribunalsituation, in der mediale Artefakte zur Anklage benutzt werden. In die Richtung geht die Verwendung von Feldpostbriefen zum Beleg der nationalsozialistischen Gesinnung der Eltern durch Frau Walter, vgl. den Beitrag von Brunnert in diesem Band S. 75 ff.

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gab, denn die konntem dem Vater nicht in einem einzigen Falle irgendetwas Schriftliches oder irgend eine Verbreitung von Nachrichten nachweisen. [mhm] Nicht in einem einzigen Falle! Und das hat dazu geführt, dass’n eben nicht lange behalten haben, sondern .. da wurd er verurteilt dann, ’n halbes Jahr später, zu acht Jahren Zuchthaus und als Leiter ’ner Widerstandsgruppe, das waren 16 Mann, die dort verhaftet worden sind. Und hier ist... die Broschüre, über ihn... [Papier raschelt] Das hab ich alles da, noch einmal... Bernhard Breitner und so weiter, mit einem Bild«. (O23-HerrB: Z. 407 ff.) Die Originalflugblätter sind in der Familie nicht erhalten, sie wurden wahrscheinlich vernichtet. Stattdessen dienen Faksimiles dieser Flugblätter und die erwähnte Broschüre über den Familienhelden als Belege.8 Dieser Typ des dokumentarischen Gebrauchs von Medien beruht einerseits auf der spezifischen Temporalisierung, die technischen Medien qua Materialität inhärent ist und andererseits im Falle von Massenmedien auf dem dahinter stehenden Produktionsapparat, der für die Relevanz und die Bedeutung des Präsentierten einsteht. Die medialen Geltungsansprüche werden in diesem Typ problemlos anerkannt und nicht zuletzt für die Selbstdarstellung der Familie genutzt. 5. Mediale Artefakte als Versicherung

Eine besondere und in unserem Sample einmalige Gebrauchsweise von medialen Darstellungen haben wir in einer Familie in Sachsen gefunden. In dieser Familie lebten zum Zeitpunkt der Interviews keine Zeitzeugen des Nationalsozialismus mehr. Eine Wand des Wohnzimmers war hier mit Photographien von Familienmitgliedern unterschiedlicher Generationen geschmückt, beginnend mit den Bildern von Personen, die Mitte des 19. Jahrhunderts geboren wurden. Die Bilder waren in Form eines Stammbaums angeordnet, wobei an der Wurzel des Baumes, jeweils sauber gerahmt, der in der Zeit des Nationalsozialismus erstellte »Nachweis über die Deutschblütigkeit« (Aufstellung über drei Generationen) sowie das »Ahnenblatt« (Aufstellung über fünf Generationen), die sogenannten kleinen und großen

8 | Trotz ihrer Beherztheit und Geistesgegenwart, spielt die Mutter in der familialen Überlieferung keine große Rolle.

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»Ariernachweise«, erstellt für den Vater der Interviewten (Jg. 1954), platziert waren. Diese Dokumente strukturierten die darüberliegende aus Photographien erstellte Ahnentafel. Neben der offensichtlichen genealogischen Nutzung dieser medialen Artefakte haben diese Originale aus der NS-Zeit noch eine weitere Funktion, die im Familieninterview mit Mutter und einer ihren beiden in den 80er Jahren geborenen Töchter deutlich wird: Frau Dengler: »Das ist ja wahrscheinlich auch dieses falsche Bild, was da geprägt wurde, wenn [die Juden] sind die Menschen, die verfolgt worden und die sie mitgenommen haben, die vergast worden und so weiter, . dass ich wirklich auch so gedacht hab, was haben die gemacht, was ist an denen schlimm oder was haben die, dass mit denen sowas gemacht wird, ne. . Da .. ich denke mal, das war eben auch die kindliche Naivität damals oder so, dass ich halt schon da auch gedacht hab, die haben irgendwelche Krankheiten oder irgendwas gehabt, dass das halt so war und dass das so sein sollte oder musste oder wie auch immer ne. Bis halt jemand gesagt hat oder bis das dann halt mal so aufgeklärt wurde, das waren ganz normale Menschen, denen ähm .. sieht man nichts an, dass die anders sind als andere irgendwie. .. Aber das hat sich schon so festgesetzt. [...] Da weiß ich noch, da hab ich einmal die Oma gefragt, . ob die wirklich Deutsche sind, weil ich da Angst hatte, da hab ich gedacht, was is’n wenn wenn du das nicht bist und dann passiert wieder sowas, kommst du dann auch weg, das weiß ich noch.« Fr. Dach: »Ja, stimmt ja da habt ihr euch mal arg mit beschäftigt. [...] Aber da braucht ihr euch keine Sorgen zu machen.« [Sie deutet bei diesen Worten auf den »Ariernachweis« an der Wand] Fr. Dengler: »Ja, ich könnt heulen ehrlich. ...« (O2-Familieninterview: Z. 427 ff.) Ein Kennzeichen dieses Falles ist eine ausgeprägte Tendenz zur Viktimisierung bzw. zu »Opferschaftskonstruktionen« (vgl. Welzer et al. 2002, S. 82 ff.). Die Tochter, Frau Dengler, spricht in dieser Sequenz über ihre kindlichen Vorstellungen von den verfolgten jüdischen Menschen und ihre naiven Vermutungen hinsichtlich der Gründe für deren Ermordung. Mit der Klarstellung, dass man »denen nichts ansieht«, dass das »ganz normale Menschen« waren, entwickelt sie Angstvorstellungen, die sich damit beschäftigten, dass eine Gefahr der Deportation für sie selbst bestehen könnte, wenn es sich herausstellen sollte, dass ihre Großeltern

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keine »wirklichen Deutschen« seien. Als Begründung für den Opferstatus von als jüdisch deklarierten Menschen wird, nachdem Schuld, äußere Merkmale etc. ausgeschlossen wurden, die Abstammung erkannt. Dieses Kriterium wird dann auf die eigene Person übertragen, womit die eigene ethnische Herkunft zum Problem wird. An dieser Stelle zeigt sich die erzählende Tochter sehr stark emotional ergriffen davon, dass sie sich als Kind solche existentiellen Gedanken gemacht hat. Die tröstenden mütterlichen Bemühungen für die durch ihre Kindheitserinnerungen emotional aufgewühlte erwachsene Tochter verweisen nun gerade nicht auf die Unbegründetheit solcher kindlicher Angstvorstellungen oder etwa auf eine gefestigte gesellschaftliche Ordnung, die eine Wiederholung der damaligen Ereignisse unmöglich mache. Sie ruft sich die Problematik nochmal in Erinnerung: »Ja, stimmt, ja, da habt ihr euch mal arg mit beschäftigt.« und fährt dann fort nicht mit der Erzählung der damaligen Trostbemühungen oder der rationalen Aufklärung der kindlichen Naivität. Sie nimmt die Sorgen ihrer Töchter als aktuell vorhandene auf und erkennt damit die naiv ethnisch begründete Opferphantasie, die den kindlichen Angstvorstellungen zugrunde lag, als nach wie vor gültig an und damit auch die ethnischen Kategorien, die Grundlage für die nationalsozialistischen Massenmorde waren. Dann erfolgt die demonstrativen Geste auf den an der Zimmerwand hängenden »Ariernachweis«. Mit diesem medialen Artefakt stellt die Mutter fest, dass alle Familienmitglieder aktuell und auch zukünftig durch den Nachweis ihrer Herkunft geschützt seien. Das abgestempelte Papier dient mit der Bescheinigung der Abstammung nach wie vor als Versicherung bzw. Versicherungspolice gegen ethnisch begründete Verfolgung. Auch hier ist die dokumentarische Kraft der medialen Form zentral, allerdings wird die Geltung nicht als Beleg für vergangene Taten gebraucht.9

Z USAMMENFASSUNG Medien spielen, so viel bleibt festzuhalten, eine wichtige Rolle in familialen Erinnerungen. Jedoch sind die Mechanismen der Selektion und 9 | Insofern könnte dieser Typ auch als Typ 4b mit einer spezifischen Ausrichtung auf zukünftige Ereignisse und auf die Funktion der Versicherung eingeordnet werden. Wir haben das im Team kontrovers diskutiert, sind aber zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen.

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des selektiven Einbaus medialer Inhalte in die jeweiligen familialen Deutungsmuster stark fallspezifisch, so dass eine typologische Bestimmung nur in der entwickelten eingeschränkten Form möglich war. Darüberhinaus lassen sich aufgrund unseres Materials in Bezug auf mediale Interventionen im familialen Gedächtnis folgende allgemeine Feststellungen treffen: 1. Mediale Zeugnisse, etwa Photographien, Autobiographien und Tagebücher, werden dabei erstaunlich oft gar nicht dem Inhalt nach wahrgenommen, sondern dienen einerseits als Grundlage für durchaus auch intergenerationell differente Sinnzuschreibungen, haben andererseits aber auch einen hohen symbolischen Wert in ihrer Verweiskraft auf die Vergangenheit. 2. Generationell zeigt sich ein wichtiger Unterschied in der Mediennutzung, insofern als die Zeitzeugengeneration eher Abstand von dezidiert fiktionalen Darstellungen der Vergangenheit (Kinofilmen, Fernsehserien) hält bzw. diese sehr kritisch hinsichtlich möglicher historischer Genauigkeit betrachtet, während für die nachfolgenden Generationen diese Unterscheidung keine derart wichtige Rolle spielt. 3. Öffentliche, massenmedial verbreitete Erinnerungsdiskurse, etwa die Walser-Bubis-Debatte, finden wenig direkten Widerhall in unseren Interviews und werden auch in Familien, in denen die Erinnerung an die NS-Zeit eine hohe Relevanz besitzt, wenn überhaupt, nur am Rand wahrgenommen, obwohl wir im Leitfadenteil der Interviews teilweise explizit danach gefragt haben (vgl. Interviewleitfaden S. 238 f.). 4. Stärkere Eindrücke bleiben von den Medienkonfigurationen, wie sie bei Besuchen von Gedenkstätten an als authentisch markierten Orten oder von Ausstellungen zu finden sind. So ist die Wehrmachtsausstellung nach wie vor im westdeutschen familialen Gedächtnis präsent. Die Nähe zu bzw. Anschließbarkeit an vorhandene familiale vergangenheitsbezogene Sinnstrukturen scheint hier ein wichtiger Selektionsfaktor zu sein. Es werden, vor allem in den Nachkriegsgenerationen, eine Vielzahl von Medien erwähnt und diesen oft eine hohe Bedeutung für die Erinnerung zugemessen. Zentral bleibt jeweils der Gebrauch, der von Medialem

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gemacht wird und die Art und Weise, wie Selektivitäten im Einzelfall gebahnt und dann aktualisiert werden. Dabei gerät die Medialität gerade in ihrem wiederholten Gebrauch aus dem Blick, die Geltungsbedingungen des medial verbreiteten Vergangenheitswissens bleiben meist unhinterfragt, »taken for granted«. Was jedoch in den Typen 1, 3 und 5 deutlich wird ist, dass der Gebrauch keineswegs determiniert wird, sondern immer im jeweiligen Eigensinn des Falles erfolgt, der die medialen Eigenlogiken durchaus konterkarieren kann. Insgesamt zeigt sich in Bezug auf Mediengebrauch eine je einzelfallspezifische Selektivität, die auf Anschlußmöglichkeiten in den je eigenen familialen Deutungsmustern verweist und eine typologische Erfassung schwierig macht. Das macht andererseits wiederum deutlich, dass gerade für die Konstitution von interaktionsbasierten sozialen Gedächtnissen Medien eine konstitutive Rolle spielen können und damit auch die analytische Trennung von kommunikativen und kulturellen Gedächtnissen in differenzierten Gesellschaften durchaus an ihre Grenzen stößt.

Erinnerung, Erzählung und Authentizität1 Gerd Sebald

R EKONSTRUKTION

IN DER

G EGENWART

»Wir nehmen [die Überlieferungen] als geformte Erinnerungen, untersuchen sie von der Zeit an, in der sie zuerst auftauchen und durch den Lauf der Jahrhunderte, die darauf folgen. Wenn, wie wir glauben, das kollektive Gedächtnis wesentlich eine Rekonstruktion der Vergangenheit bedeutet, wenn es dementsprechend sein Bild früherer Tatsachen den religiösen Überzeugungen und spirituellen Bedürfnissen der Gegenwart anpaßt, wird das Wissen darum, was ursprünglich war, mindestens zweitrangig, wenn nicht ganz und gar überflüssig: die Wirklichkeit der Vergangenheit, eine unveränderliche Vorlage, der man zu entsprechen hätte, gibt es nicht mehr.« (Halbwachs 2003: 20 f.) So beschreibt Maurice Halbwachs den Untersuchungsgang seiner Studie zum Heiligen Land der Christen. Im konstruktivistischen Ansatz von Niklas Luhmann ist dieser Punkt noch radikaler formuliert: »Von Gedächtnis soll hier nicht im Sinne einer möglichen Rückkehr in die Vergangenheit, aber auch nicht im Sinne eines Speichers von Daten oder Informationen die Rede sein, auf die man bei Bedarf zurückgreifen kann. Vielmehr geht es um eine stets, aber immer nur gegenwärtig benutzte Funktion, die alle anlaufenden Operationen testet im Hinblick auf Konsistenz mit dem, was das System als Realität konstruiert.« (Luhmann 1997: 578 f.) Gedächtnis ist nur noch der Test für die Realitätskonstruktion, entsprechend ist für Luhmann die Hauptfunktion des Gedächtnisses das Vergessen. 1 | Der Text wird hier mit freundlicher Genehmigung des VS Verlags leicht verändert abgedruckt. Er geht zurück auf einen Vortrag am Soziologentag in Jena 2008 in der Ad-hoc-Gruppe »Erinnern und Vergessen« und wurde zuerst in Soeffner (2010) auf der beiliegenden CD - ROM veröffentlicht.

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Trotz (oder gerade wegen) dieser weithin geteilten konstruktiv(istisch)en Thesen2 sind wir (Menschen und Systeme) aber ständig mit rekonstruierten Vergangenheiten konfrontiert. Vergangenheit, die oft in narrativer Form dargelegt werden, sei es in einer mündlichen Erzählung oder medialisiert, als Text, Photographie oder Film. Damit ergeben sich zusätzlich zum Akt der Rekonstruktion selbst zwei weitere mögliche Quellen der Veränderung des Vergangenen in der aktuellen Präsentation: die Narration und die Medialität. Deren formierende Potentiale will ich kurz entwickeln, bevor ich auf die Frage eingehe, was denn eine so formierte Vergangenheit zu einer gültigen, oder stärker formuliert, zu einer wahren macht. Was gibt den Rekonstruktionen von Gedächtnissen Sicherheit? Dazu werden in einem weiteren Schritt die Geltungsbedingungen von Aussagen analysiert und schließlich eine vorläufige Typologie von Authentizitätskonstrukten entworfen.

D IE F ORMIERUNG

DURCH

N ARRATION

Erzählungen sind ein grundsätzlicher Modus der Erfahrungsverarbeitung und vor allem der Erfahrungstradierung. Auch wenn mit den neuen Medien angeblich deren Relevanz abnimmt, konnten wir in dem in diesem Band dokumentierten DFG-Projekt »Soziale Erinnerung in differenzierten Gesellschaften« (vgl. für Material und Methode Lehmann 217 ff. u. Sebald/Brunnert 227 ff.) feststellen, dass die Praxis des Erzählens in und zwischen allen Generationen nach wie vor gängig ist. Schütze legt in seiner Narrationstheorie nahe, dass die erzählten Begebenheiten als »tatsächliche« oder »hervorgerufene« Ereignisse oder Erfahrungen mit einer gewissen Realitätshaltigkeit bzw. einer spezifischen Referentialität auf Wirklichkeit in die Erzählung eingebaut werden (Homologiethese). Erzählungen haben – besonders im Falle der Stegreiferzählung eigener Erlebnisse – einen »besonderen Anspruch auf Realitätsakzent« bzw. »einen besonders soliden Rechtstitel, über das [vom Erzähler] miterlebte Geschehen zu erzählen.« (Schütze 1987: 71) Autobiographischen Erzählungen wird aus dieser Sicht von vorneherein Geltung zugestanden. Erzählungen, wie sie etwa als sozialwissenschaftliche Daten in narrativen Interviews und Gruppendiskussionen aufscheinen, weisen jedoch 2 | Eine Abweichung davon muss inzwischen ausführlich belegt werden, siehe Rosenthal (1995), die auf Husserls Konzept der Noemata als Erlebniskerne rekurriert.

E RINNERUNG , E RZÄHLUNG UND AUTHENTIZITÄT | 209

einige spezifische Merkmale auf, die den Vergangenheitsbezug als zumindest selektiv erscheinen lassen. 1. Erzählungen finden in einem sozialen Setting statt (nicht unbedingt eine Interaktion, wie das Beispiel von schriftlichen Erzählungen/Lesern zeigt), d. h. der Geltungsstatus von Erzählungen ist offen. 2. Die Erzählhandlung setzt die Erzählenden unter spezifische Zwänge: Gestaltschließung bzw. Fabelbildung, Detaillierung und Kondensierung, die formend auf den erzählten Stoff wirken. 3. Der Prozess des Erzählens ist, wenn von explizit fiktiven Erzählungen abgesehen wird, eng mit dem Prozess des Erinnerns verwoben. 4. Außerdem lässt sich festhalten: Eine Erzählung fordert die Auflösung von Vagheiten, Widersprüchen (Rosenthal 1995: 87) oder, mit Ricœur formuliert, sie unterliegt der »Konkurrenz von Konkordanzforderungen und dem Eingeständnis von Diskordanzen« (Ricœur 1996: 174). Die Geltung von Erzählungen, wie sie von Schütze behauptet wird, ist damit vor allem abhängig erstens vom Status der Erzählzwänge als nur formende und zweitens vom Verhältnis von Erzählung und Erinnerung. Beide Geltungsbedingungen werden jedoch brüchig, wenn wie oben kurz ausgeführt mit Halbwachs (1985a;b) davon ausgegangen wird, dass Gedächtnis nicht ein Wiederauffinden von abgelagerten Fragmenten sei, sondern eine Rekonstruktion aus der Perspektive der Gegenwart (vgl. etwa Halbwachs 1985a: 22; Halbwachs 1985b: 55 f.). Aus dieser Perspektive werden die Erzählzwänge zu spezifischen Konstitutionsbedingungen der (Re-)Konstruktion, und die Erzählung selbst wird zu einem spezifischen Modus der Erinnerung. Neben der Unsicherheit des Gelingens der Rekonstruktion tritt eine narrative Formierung, die einen möglichen Wahrheitsanspruch zumindest zweifelhaft werden lässt. Dazu kommt ein weiterer Faktor, der bei jeglicher Rekonstruktion von Vergangenheit wirksam wird: die Formierung durch Medien.

D IE

MEDIALE

F ORMIERUNG

Der Begriff ›Medien‹ bezeichnet im weiteren Instrumente der Kommunikation (Sprache und technische Kommunikationsinstrumente), die Kommunikation prozessieren und deren Inhalte auf je spezifische Weise

210 | G ERD S EBALD

in Bezug auf Verzeitlichung, soziale Reichweite und mögliche Anschlusspraxen formieren 3 Im Sinne dieser Definition ist der menschliche Weltzugang schon immer auch medial, sprachlich geprägt. »Wirklichkeit« und »Wahrheit« können aus dieser Perspektive zu medialen Artefakten werden, weil Medialität in diesem Sinne zu einem wichtigen Ingredienz des sozialen und subjektiven sinngenerativen Geschehens wird. Über den Konstruktivismus hinausgehend wäre von hier aus nach der Konstitution und Geltung von »intersubjektiven« »Wahrheiten« zu fragen. Bezogen auf die Zugänglichkeit von Vergangenheiten bedeutet das, dass die Medialität bzw. die technische Struktur der Medien den Inhalt bzw. das Archivierte verändert: »Die technische Struktur des archivierenden Archivs bestimmt auch die Struktur des archivierbaren Inhalts schon in seiner Entstehung und in seiner Beziehung zur Zukunft.« (Derrida 1997: 35) Die medialen Voraussetzungen von Sinn sind der technischen Struktur des Mediums geschuldet und Effekt einer (vor-)selektierenden Bearbeitung. »Im Filmatelier ist die Apparatur derart tief in die Wirklichkeit eingedrungen, daß deren reiner, vom Fremdkörper der Apparatur freier Aspekt das Ergebnis einer besonderen Prozedur, nämlich der Aufnahme durch den eigens eingestellten photographischen [Apparat] und ihrer Montierung mit anderen Aufnahmen von der gleichen Art ist. Der apparatfreie Aspekt der Realität ist hier zu ihrem künstlichsten geworden und der Anblick der unmittelbaren Wirklichkeit zur blauen Blume im Land der Technik.« (Benjamin 1955a: 157) Trotzdem wird gerade bei der Verwendung von Bildmedien und in vielen Fällen medialen Bezugs auf die Vergangenheit ein privilegiertes Verhältnis zum Ereignis behauptet, unterstellt und akzeptiert. Derrida erläutert das anhand der Photographie (und Barthes’ Text »Die helle Kammer«): »Im Unterschied zu Malerei und Literatur habe die Photographie etwas außerhalb ihrer selbst, außerhalb des Apparats, in sich selbst, in den Apparat aufgenommen. Jedenfalls nimmt man an, jedenfalls wird aus strukturellen Gründen unterstellt, sie habe diese unersetzbare Gegenwart eingefangen: Das da ist ein einziges Mal dagewesen, und 3 | Vgl. für eine ausführliche Entwicklung des Medienbegriffs Sebald, in diesem Band S. 185 ff.

E RINNERUNG , E RZÄHLUNG UND AUTHENTIZITÄT | 211

die Singularität dieses ›einzigen Mals‹ sei unwiderlegbar.« (Derrida und Stiegler 2006: 114) Die Materialität des Mediums, in diesem Fall der Photographie, und die damit gegebene je spezifische Dauer verzeitlichen die in der Vergangenheit »eingefangene Gegenwart« und lassen sie, scheinbar unberührt von der Medialität, in die aktuelle Gegenwart hineinragen. Aber die eingefangene Vergangenheit verliert dabei ihren damals aktuellen Kontext und muss neu kontextualisiert werden, d. h. einer aktuellen Interpretation unterworfen werden (und das gilt auch, wenn medial eine vorgefertigte Interpretation mitgeliefert wird). Was medial präsentiert wird, spricht eben nicht für sich selbst, sondern bedarf immer noch einer kulturellen Praxis der Rezeption. Diese kulturelle Praxis wird präformiert und gerahmt durch die Medialität, aber Medien bleiben immer angewiesen auf Interpretationen. Medialität als eine Fundierung des menschlichen Weltzugangs begreife ich also nicht als neutrale Vermittlung, die keinen Einfluß auf den Inhalt des »Übertragenen« hat, aber ebensowenig als feststehende determinierende Struktur. Medien greifen qua ihrer spezifischen Medialität in die Rekonstruktion von Vergangenheit ein und formieren so das Vergegenwärtigte.

KONSTRUKTIONEN

VON

AUTHENTIZITÄT

Es sind also in jeglicher Präsentation von Vergangenem spezifische Mechanismen am Werke, die Verganges in der Vergegenwärtigung formieren, konstruieren, neu zusammensetzen. Diese Präsentationen sind gerade deswegen mit Geltungsansprüchen verbunden bzw. diesen ausgesetzt. Mit Habermas (1984: 137) lassen sich vier Klassen von Geltungsansprüchen nennen: Verständlichkeit, Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit.4 Wenn wir davon ausgehen, daß die Verständlichkeit gegeben ist und die Richtigkeit des performativen Bestandteils des narrativen Sprechaktes für die folgenden Überlegungen keine Rolle spielt,5 bleiben für Erinnerungen relevant die Geltungsansprüche der Wahrheit des 4 | Wobei im weiteren die »Vernünftigkeit« als Zusammenhang dieser Geltungsansprüche außerhalb des Sprachspielfeldes bleiben wird. 5 | Erinnerung bleibt natürlich an normative Muster gebunden, wie etwa das Verbot der Holocaustleugnung zeigt, aber diese Muster haben keinen direkten Einfluß auf die Konstruktionen von Authentizität. Das zeigt etwa der Umgang mit NS-Ruinen in Nürnberg oder am Obersalzberg.

212 | G ERD S EBALD

propositionalen Gehaltes und der Wahrhaftigkeit des Rekonstruierenden. Habermas zufolge kann die Wahrhaftigkeit, als Entsprechung von ausgedrückten/zugerechneten Intentionen einerseits und statthabenden Intentionen andererseits, nicht in der sprachlichen Interaktion, also etwa auf der Ebene der Erzählung eingelöst werden, sondern nur aus den vergangenen oder weiteren Interaktionserfahrungen mit dem Rekonstrukteur: Entspricht jemand der Person, die er für sich und andere aus den bisherigen Handlungszusammenhängen heraus darstellt? Oder pointierter mit Luhmann (2005: 143) formuliert: Wenn die Vergangenheit rekonstruiert wird, entsteht die »Notwendigkeit, der zu bleiben, der zu sein man vorgetäuscht hatte«. Die Einlösung des zweiten Geltungsanspruches »Wahrheit«, der sachlichen Angemessenheit des Erzählten, erfolgt vor allem, so die Antwort auf die eingangs formulierte Frage, über Konstrukte von Authentizität innerhalb der Vergangenheitspräsentationen, die damit intersubjektiv konstitutiert und in Geltung gesetzt werden. Bezogen auf eine Rekonstruktion von Vergangenheit meint die Zuschreibung von Authentizität die intersubjektiv konstituierte und geteilte Annahme, das Erinnerte sei sachlich angemessen und stelle eine korrekte Rekonstruktion des Vergangenen dar. Ich hoffe mit den drei entwickelten formierenden Aspekten gezeigt zu haben, dass dieser Anspruch, an Erinnerungen gestellt, gar nicht zu erfüllen ist: Jede Erinnerung vollzieht sich in einem Medium, das die Darstellungslogik bestimmt (die Erinnerung gleichsam in-formiert). Und jede Erinnerung ist eine (Re-)Konstruktion aus der Perspektive der Gegenwart. Ein direkter Durchgriff auf Vergangenheit ist nicht möglich, da Erinnerung immer aus der Perspektive der Gegenwart geschieht. Wenn sie narrativ erfolgt, verdichtet sie Zeit, Raum und sozialen Kontext des Erlebten und fügt es in eine Fabel ein, womit der Zweifel in die Sachhaltigkeit der Darstellung gesetzt ist. Auf den Anspruch der Erinnerung »So war es!« folgt der Zweifel »War es so?«. Um eine auf dieser Basis drohende Metakommunikation oder gar die Ablehnung der aktuellen Vergangenheitsrekonstruktion zu verhindern, ist es funktional, auf Authentizitätskonstrukte zu rekurrieren. Das heißt, dass in die Erinnerung Elemente eingebaut werden, die gleichsam im Sinne einer Zeugenschaft oder eines Beweises den propositionalen Gehalt des Erinnerten belegen sollen. Auch diese Elemente jedoch erlauben keinesfalls einen direkten Zugang zu Vergangenheit, sondern nur einen jeweils in der Gegenwart geschaffenen sinnhaft reflexiven und – wenn

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sie erfolgreich sind – geteilten Bezug auf die Geltung der aktuellen Vergangenheitskonstruktion; sie haben also Konstruktcharakter. Aufgrund des spezifischen temporalen Charakters dieser Gegebenheiten, ihrer spezifischen je eigenen Dauer, können sie jedoch als Beweislastträger benutzt werden. Die Erinnerung wird mit diesen Authentizitätskonstrukten gleichsam an die »echte« Vergangenheit geheftet. Der Rückgriff auf diese konstruierte Form der Geltungsbestätigung ermöglicht es etwa, eine Erzählung fortzusetzen und an sie anzuschließen, ohne ihre Geltungsbedingungen und ihren Anspruch zu problematisieren. Authentizitätskonstrukte bieten eine solche Chance, die eigene, in der Erzählung inhärente Deutung der Vergangenheit in der erzählerischen Interaktionssituation durchzusetzen. Sie verschaffen den erzählten Ereignissen eine spezifische Geltung, die von außerhalb der Kommunikationsbeziehung zu kommen scheint, wie von einem direkten Kontakt mit der Vergangenheit. Zum Abschluß will ich nun kurz versuchen, eine offene Typologie von Authentizitätskonstrukten zu entwerfen. Offen in dem Sinne, daß sie work in progress darstellt, und entsprechend durchaus Ergänzungen erlaubt bzw. sogar fordert. 1. Personale Authentizität: Dieser Typus darf nicht mit dem oben genannten Geltungsanspruch der Wahrhaftigkeit verwechselt werden, der nicht auf der Ebene der Erinnerung eingelöst werden kann. Hier geht es um den Einbau spezifischer Personen oder personaler Elemente in die Erinnerung: Dazu zählt etwa der Rekurs auf Erlebnisse mit historischen Persönlichkeiten (mit Hitlers Assistent Fegelein in der Oper gewesen), auf Zeitzeugen, die das Geschilderte noch bestätigen können oder auf Experten, etwa Historiker, die qua ihres Wissens Geltung bescheinigen können. 2. Somatische Authentizität: Der Verweis auf leibliche und/oder traumatische Gegebenheiten der eigenen Person oder von anderen. Opas Narben, seine fehlenden Fingerkuppen und Zehen sind dafür wohl das Paradebeispiel in deutschen Familienerzählungen. Um Missverständnisse gerade an diesem Punkt auszuschließen: Es geht hier lediglich um die Authentizitätsfunktion von in die Erinnerungen einge-

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bauten Verweisen auf solche leiblichen oder traumatischen Gegebenheiten.6 3. Materiale Authentizität: Diese Konstrtukte beziehen sich auf materielle Gegenständlichkeiten, die aufgrund ihres Überrestcharakters zum Beleg des Erinnerten geeignet scheinen. Die bloße Dauer von materiellen Artefakten oder anderen Überresten der Vergangenheit ermöglicht es, eine besondere Temporalität von der Gegenwart aus zu konstruieren, eine Temporalität, die aufgrund ihres Hineinragens in die gegenwärtige Kommunikation eine spezifische Form von Autorität verleiht. Dazu zählen etwa der vom Bombenangriff auf Dresden angebrannte Schrank, der nach wie vor im Wohnzimmer steht oder der Ariernachweis an der Wohnzimmerwand. Die von Benjamin für Originale konstatierte Aura scheint mit dieser spezifischen materiellen Dauer auch auf Gegenstände der Massenproduktion übertragbar. 4. Narrative Authentizität: Mit spezifisch narrativen Elementen, wie etwa detaillierten Schilderungen, der Wiedergabe von wörtlichen Zitaten (oft mit veränderter Stimme) oder szenischen Erinnerungen wird der Eindruck einer originalgetreuen Reproduktion der Vergangenheit in der Erzählung erweckt. 5. Mediale Authentizität: Dabei wird zur Absicherung der Erzählung auf mediale Formen und Inhalte verwiesen. Eine besondere Rolle kommt dabei Medien zu, denen per se eine besondere Wahrhaftigkeit (im Vergleich zu anderen Medien) unterstellt wird, gewissermaßen eine genuine Authentizität. Dazu zählen etwa analoge Bildmedien wie Photographie (vgl. das Derridazitat oben), Film oder für neue Medien etwa Weblogs.7 6. Intermediale Authentizitätskonstrukte: Querverweise, Zitate und Wiederholungen in und zwischen verschiedenen Medien schaffen ein Gewebe von gegenseitigen Geltungsbestätigungen und entwickeln so gültige Repräsentationen der Vergangenheit. Zu denken ist hier etwa an das Bild vom Lagertor in Auschwitz, das inzwischen aufgrund seiner bildhaften Präsenz Allgemeingut ist (Wiedenmann 2004): das 6 | Wobei auch in wissenschaftlichen Abhandlungen gerade Traumata als ein privilegierter asemiotischer und ›authentischer(er)‹ Zugang zur Vergangenheit erscheinen, vgl. etwa Felman und Laub 1992. 7 | Vgl. dazu Sebald 2007.

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langgestreckte Gebäude mit der Tordurchfahrt, auf die Eisenbahngleise zu laufen. In diese Kategorie fallen auch Paratexte, also etwa Hinweise im Vor- oder Abspann, Klappentexte, Vorworte etc., die über ihre Verweisungsstruktur Geltung verschaffen. Heinze (2008) hat das beispielhaft für gedruckte Autobiographien analysiert. Die sechs entwickelten Typen von Authentizitätskonstrukten finden sich meist in Kombination und besonders mediale Vergegenwärtigungen von Vergangenheit sind auf eine Kombination mehrerer Typen angewiesen. Ein Paradebeispiel dafür sind Guido Knopps Geschichtssendungen: der Modus des Dokumentarfilms sichert eine erste Bestätigung, Ausschnitte aus Zeitzeugeninterviews, Expertenstatements und schließlich das originale historische (Farb-)Filmmaterial garantieren gemeinsam für Authentizität, verschaffen dem Gedächtnis Sicherheiten. Aber auch diese Absicherungen verhindern nicht zuverlässig, dass Zweifel an der Deutung möglich sind und bleiben.

Feldzugang und Material René Lehmann

E INLEITUNG Von Oktober 2006 bis April 2009 wurde am Institut für Soziologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg in Erlangen das von der DFG finanzierte Forschungsprojekt »Soziale Erinnerung in differenzierten Gesellschaften: Relevanzstrukturen, mediale Konfigurationen und Authentizität in ihrer Bedeutung für soziale Gedächtnisse im generationellen Vergleich« durchgeführt. Im Vorfeld dieser Untersuchung fand vom August 2004 bis Juni 2005 das Pilotprojekt für den Forschungsantrag »Soziale Erinnerung an den Nationalsozialismus«statt, das aus Mitteln des Institut für Soziologie der Universität Erlangen vom Antragsteller Ilja Srubar zusammen mit den Mitarbeitern Gerd Sebald und Jan Weyand realisiert wurde. Es umfasste neben Literatur- und Dokumentenstudien eine Exploration des Forschungsfeldes mit Hilfe von vier narrativen Interviews aus unterschiedlichen Generationen und Familien sowie eine Gruppendiskussion von Studierenden. Daneben wurde die Gedenkstätte »Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände« nach mehreren Besuchen einer vorläufigen Analyse unterzogen. Die interviewten Personen wurden durch einen Aushang in der Universität gefunden.1 Im Hauptprojekt ab 2006 führten wir insgesamt 93 narrativ-biographische Einzelinterviews und Gruppendiskussionen in Ost- und Westdeutschland durch. Zeitgleich zu dieser Erhebung entstand auf einem zweiten Weg zusätzliches Interviewmaterial in einem Forschungsseminar, das wir im Rahmen des Forschungsprojekts über den Zeitraum von zwei Hochschulsemestern durchführten. Aus diesem Seminar heraus entstanden weitere drei Zeitzeugeninterviews, drei Interviews in einer deutschen Familie mit Angehörigen von drei unterschiedlichen Generationen, drei Interviews aus einer polnisch-deutschen Familie, sowie 1 | Ein Resultat dieses Vorprojekts ist der Aufsatz von Jan Weyand (2005) »›So war es!‹ Zur Konstruktion eines nationalen Opfermythos im Spielfilm ›Der Untergang‹.«

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zwei Interviews in einer türkischen Familie. Drittens wurden im Rahmen zweier Abschlussarbeiten acht weitere Interviews mit vier polnischdeutschen Ehepaaren geführt, sowie fünf Interviews mit türkischen MigrantInnen. Insgesamt standen somit für eine Auswertung zusätzlich zu den im DFG-Forschungsprojekt erhobenen Interviews weitere 24 Interviews zur Verfügung. Diese wurden zum Teil mit vom Hauptprojekt abweichenden Fragestellungen bearbeitet. Der thematische Untersuchungs- bzw. Erinnerungszeitraum bezog sich in allen Interviews und Gruppengesprächen weitestgehend auf die Zeit des Nationalsozialismus, in ostdeutschen Familien aber zusätzlich auch auf Erinnerungen an das Leben in der DDR. Des Weiteren betrifft die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit und mit den Erinnerungen an diese nicht allein deutsche Familien. Alle in Deutschland über einen längeren Zeitraum lebenden Menschen haben mehr oder weniger teil an den in der Öffentlichkeit oder im privaten Raum auf die deutsche Vergangenheit bezogenen Diskursen, weswegen auch Familien von Menschen mit Migrationshintergrund in das Forschungsprojekt einbezogen wurden.

F ELDZUGANG UND E RSTMELDUNGEN Der Feldzugang für das KernForschungsprojekt organisierten wir mittels Presseartikeln zu dem Forschungsvorhaben in verschiedenen regionalen und überregionalen Tageszeitungen Abbildung 1: Leipziger Volkszeitung vom 16. Oktober 2006. in Bayern, Thüringen und Sachsen (wie zum Beispiel in der Süddeutschen Zeitung, der Mittelbayerischen Zeitung, der Sächsischen Zeitung, den Erlanger Nachrichten oder der Leipziger Volkszeitung und in der Thüringer Tageszeitung Freies Wort). Meist handelte es sich hierbei um einen kurzen Bericht über das

F ELDZUGANG UND M ATERIAL | 219

Forschungsprojekt mit angefügten Kontaktdaten. Auf diese Zeitungsmeldungen hin meldeten sich je ca. 40 Interessenten und Interessentinnen aus Ost- und Westdeutschland, insgesamt 81 Personen. Dabei ergab sich eine auffällige Verteilung, welche auf genderbezogene Differenzen hinsichtlich der Meldungen aus den neuen und den alten Bundesländern und westdeutschen Meldungen hinweist: Im Westen haben sich 31 weibliche und nur 10 männliche Personen gemeldet, im Osten dagegen waren es nur 15 weibliche und dafür 25 männlichen Personen. Insgesamt meldeten sich mehr Frauen (46) als Männer (35).

Abbildung 2: Die Verteilung der Erstmeldungen

Diese hohe Zahl an Erstmeldungen sowie die für uns überraschend große Bereitschaft, völlig fremden ForscherInnen über das eigene Leben und die private Familiengeschichte zu erzählen, allein auf diese Zeitungsberichte hin, übertraf bei Weitem unsere Erwartungen. Es lässt auf ein großes Interesse an dieser Thematik schließen, sowohl innerhalb der Angehörigen der Zeitzeugengeneration, als auch innerhalb der nachfolgenden Generation. Dieses Interesse deutet einerseits, gerade bei den Angehörigen der Zeitzeugengeneration, auf ein hohes Maß an Mitteilungsbedürfnis hin, andererseits auf ein Bedürfnis, sich mit der eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Es konnten Erwartungen dahingehend beobachtet werden, dass 1) eine wissenschaftlich begleitete Gesprächssituation gewissermaßen einen neutralisierenden Rahmen für eine solche Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit bie-

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tet (nicht selten kamen während der Interviewphase dahingehende die Verwandtschaftskonstellationen durchziehende Konfliktlinien zum Ausdruck); 2) die Hoffnung auf Aufhellung ungewisser oder ungeklärter Bereiche der Familiengeschichte, nicht zuletzt aufgrund einer in der Interviewsituation initiierten Auseinandersetzung mit dieser Thematik 3) die Erwartung gesicherten wissenschaftlichen Wissens zu unklaren Punkten in der Familiengeschichte. Die meisten Anfragen kamen mit 48 Meldungen aus der Zeitzeugengeneration (bis einschl. Jg. 1934). Aus der zweiten Generation (ab Jg. 1936 – 1960) meldeten sich 30 Personen bei uns und drei Personen aus der dritten Generation (ab Jg. 1970). Eine weitere im Vorfeld geplante Akquirierungsphase mittels gedruckter Folder erwies sich daraufhin als nicht mehr notwendig, somit konnte recht zügig mit der ersten Erhebungsphase begonnen werden. Die inhaltlichen Auswahlkriterien für diese ersten Einzelinterviews bezogen sich unter anderen auf die in einem telefonisch geführten Vorgespräch signalisierte Interviewbereitschaft weiterer Familienangehöriger, auf die Gegenwart von noch lebenden Zeitzeugen in den Familien,2 sowie auf eine möglichst breite Kontrastierung gemäß der Fragestellung und sozialstruktureller Merkmale. Außerdem war es nötig, dass die potentiellen InterviewpartnerInnen unser Forschungsvorhaben grob verstehen bzw. inhaltlich nachvollziehen konnten, dadurch sollten falsche Erwartungen hinsichtlich der Forschungsziele der Untersuchung und der Verwertung der Ergebnisse vermieden werden. Ein Ausschlusskriterium bildete außerdem eine bereits im Vorgespräch explizite Benennung von Täterschaft oder Opferschaft: Im Mittelpunkt des Interesses der Untersuchung standen nicht die Tradierungen von Erinnerungen auf der Seite der Täter bzw. Opfer, sondern die Tradierungen in der Gruppe der »Zuschauer« bzw. der »Mitläufer«.3 Dass im weiteren Verlauf des Forschungsprozesses diese Thematik der eigenen Betroffenheit oder der von Familienmitgliedern dann in unterschiedlichsten Ausprägungen oftmals doch zum Ausdruck kamen, ließ sich jedoch bereits im Voraus erwarten. Diese Thematisierungen bildeten für uns in der späteren For2 | Urspünglich strebten wir eine Gleichverteilung von Familien mit lebenden Zeitzeugen und Familien ohne lebende Zeitzeugen des Nationalsozialismus im Sample an, was aber aufgrund der fehlenden Meldungen bzw. der fehlenden Interviewbereitschaft nicht möglich war, so dass wir letztendlich nur drei Familien ohne lebende Zeitzeugen aufnehmen konnten. 3 | Zu dieser Klassifizierung vgl. Hilberg 1997.

F ELDZUGANG UND M ATERIAL | 221

schungsphase keinen zwingenden Ausschlussgrund, jedoch bestand der Anspruch unseres Forschungsprojekts nicht darin, in der Verbindung zu einem empirischen Untersuchung auch sozialtherapeutische Interventionen zu leisten, wie dies beispielsweise in einem Forschungsprojekt zur transgenerationalen Weitergabe von psychischen Belastungen in Familien von Überlebenden der Shoah und in Familien von Nazitätern, von Rosenthal und MitarbeiterInnen (vgl. Rosenthal 1997a) konzipiert war. Für einen solchen Zweck, bzw. auch für eine in eventuellen Fällen einer Retraumatisierung durch Thematisierung notwendige Krisenintervention, waren in unserem Forschungsteam die dafür notwendigen therapeutischen Kompetenzen nicht vorhanden.

E RSTE I NTERVIEWPHASE

UND WEITERE

AUSWAHL

In der nun folgenden ersten Interviewphase wurden aus den 81 Meldungen 35 Personen für Erstinterviews ausgewählt. Daraufhin führten wir in den neuen Bundesländern 16 und in den alten Bundesländern 19 Einzelinterviews. Das leichte Ungleichgewicht zwischen der Anzahl von ostdeutschen und westdeutschen InterviewpartInnen war dabei in erster Line der aufgrund des Standortes des Forschungsprojektes an einer westdeutschen Universität sich im Vergleich wesentlich einfacher gestaltbaren zeitlichen und örtlichen Organisation der Durchführung der Interviews geschuldet. Die Wahl des Ortes, an dem das Interview stattfand, wurde jeweils den InterviewpartnerInnen überlassen. Die meisten Interviews wurden in deren Wohnräumen durchgeführt, einzelne in den Räumen der Universität. Für die Bereitschaft zu den Interviews konnte keine materielle Entschädigung angeboten werden, sondern einzig die Überlassung der Interviewtranskripte, was von der Mehrheit der interviewten Personen auch gern in Anspruch genommen wurde. Auf der Basis dieser Erstinterviews, die zeitnah transkribiert und einer ersten inhaltsanalytischen Auswertung anhand einer Kriterientabelle (vgl. unten S. 235 f.) unterzogen wurden, erfolgte für die zweite Interviewphase eine Auswahl von 14 Familien. Dazu wurden aus den Erstinterviews inhaltsanalytisch Kriterien gewonnen und daraus ein Merkmalsraster entwickelt, aufgrund dessen wir die für die zweite Interviewphase infrage kommenden Familien auswählten. Diese Auswahlkriterien bezogen sich unter anderem auf folgende Bereiche: Geburtsjahrgang, soziales Milieu damals und heute, Bildungsniveau damals und heute, politische Selbstcharakterisierung für die Vergangenheit und für die Gegenwart, religiöse Bezüge, Vertriebenen- bzw. Flüchtlingshintergrund, Medienbe-

222 | R ENÉ L EHMANN

züge und weitere. Auch hier war es für das weitere Forschungsvorhaben wichtig, vorab die Interviewbereitschaft weiterer Familienmitglieder abzuklären. Wobei es in einigen Fällen deutlich wurde, dass diese Bereitschaft zum Teil auch den Überredungskünsten der zuerst interviewten Familienmitglieder zu verdanken war.

Z WEITE I NTERVIEWPHASE

Abbildung 3: Interviews in der zweiten Erhebungsphase

Von diesen ausgewählten 14 Familien stammten jeweils sieben aus Ostund sieben aus Westdeutschland. Innerhalb dieser Familien finden sich komplexe Mischungsverhältnisse etwa von Täterschaft und Opferschaft, von christlichem Widerstand und nationalem Antisemitismus, von der Selbstbeschreibung als »Halbjüdin«, katholischem Konservativismus und orthodox-jüdischer Religiosität, von kritischer Distanz und empathischem Verständnis oder relativierender Rechtfertigung, sowie von Transnationalität und sozialistisch geprägter Erinnerungskultur. Beispielsweise handelt es sich hierbei um eine Familie mit binationaler Herkunft, das heißt ein Teil der Familie stammt aus Deutschland und lebt(e) im Gebiet der ehemaligen DDR, ein anderer Teil der Familie stammt aus Tschechien und lebt(e) im ehemaligen so genannten Sudetengebiet. Beide Familienzweige hatten sich zu Interviews bereit erklärt. Somit konnte ein Gruppeninterview in Tschechien durchgeführt werden. An diesem Fall sind vor allem die differenten Perspektiven auf die Vergangenheit, d. h. auf die Zeit des Nationalsozialismus, die Nachkriegszeit und die DDR-Vergangenheit interessant. Weiterhin sieht sich eine in

F ELDZUGANG UND M ATERIAL | 223

Westdeutschland lebende Familie mit einer bis in die Enkelgeneration hinein wirkende, aus der Zeit des Nationalsozialismus stammende Zuschreibung einer von der nationalsozialistischen Semantik geprägten »teiljüdischen« Identitätszuschreibung konfrontiert. Eine weitere, aus einem südamerikanischen Land nach Westdeutschland eingewanderte Familie verweist wiederum auf der einen Seite auf ein Familienmitglied, welches zur Zeit des Nationalsozialismus in einem Konzentrationslager interniert war, auf der anderen Seite der Familienkonstellation auf einen damaligen Angehörigen der SS. In diesen 14 Familien führten wir insgesamt 46 Einzelinterviews (davon 20 in Ost- und 26 in Westdeutschland) sowie 16 Gruppendiskussionen. Dabei legten wir darauf Wert, möglichst viele Familienmitglieder für eine Mitarbeit zu gewinnen, wobei wir in fünf Familien nur zwei Generationen interviewen konnten (darunter die drei Familien ohne lebende Zeitzeugen des Nationalsozialismus), in den weiteren neun Familien alle drei Generationen erreichten. In drei Familien konnten sechs Familienmitglieder interviewt werden, in jeweils einer Familie fünf bzw. vier Mitglieder, in sieben Familien drei Personen und in zwei Familien jeweils zwei Personen.

Abbildung 4: Anzahl der Interviewten pro Familie

Die Durchführung zweier zusätzlicher Gruppendiskussionen in zwei Familien erwies sich aus organisatorischen Gründen als notwendig. Da bei diesen Familiengesprächen teilweise Familienmitglieder teilnahmen, mit denen keine Einzelinterviews geführt wurden, ergibt sich eine Diffe-

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renz von 11 interviewten Personen, mit denen zwar kein Einzelinterviews geführt wurde, die jedoch beim Familiengespräch als InterviewpartnerIn zur Verfügung standen.

Abbildung 5: Generationeneinteilung nach Geburtsjahrgängen

Die Generationeneinteilung für das Sample geschah (für alle Interviews) nach folgender Zuordnung: Der Zeitzeugengeneration wurden die in den Jahren 1910 – 1934 Geborenen zugerechnet, die Jahrgänge 1935 – 1960 bildeten die Kindergeneration, die von 1961 – 1980 sowie von 1981 – 1994 Geborenen die Enkel- bzw. Urenkelgeneration. Dabei kann jedoch die familiale Generationenfolge (Eltern, Kinder, Enkel, Urenkel) von dieser Generationenzuordnung durchaus abweichen. Aus der Zeitzeugengeneration wurden 37 Personen interviewt, aus der Kindergeneration 17 Personen und aus der Enkel- sowie Urenkelgeneration 19 bzw. fünf Personen. Ursprünglich war es geplant, in das Sample in etwa die gleiche Anzahl von Familien mit noch lebender Zeitzeugengeneration aufzunehmen, wie Familien, in denen die Zeitzeugen nicht mehr lebten, um einen Vergleich zwischen diesen Familienkonstellationen hinsichtlich der Tradierungsvollzüge zu ermöglichen. Dies erwies sich jedoch angesichts der wenigen Meldungen aus Familien ohne Zeitzeugen nicht als realistisch, so dass von den untersuchten 14 Familien insgesamt nur drei (eine in Ostund zwei in Westdeutschland) ohne Vertreter der Zeitzeugengeneration waren. Einerseits mussten viele derjenigen potentiellen InterviewpartnerInnen, in deren Familien keine Zeitzeugen mehr am Leben waren

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aus verschiedenen Gründen aus der Auswahl herausgenommen werden, so aufgrund der inzwischen zurückgezogenen eigenen Bereitschaft oder der der weiteren Familienangehörigen zum Interview, oder auch aufgrund von den Intentionen des Forschungsprojekts widersprechenden Interessen seitens einiger Interviewpartner. Andererseits erwiesen sich aber auch die Familien mit noch lebenden Zeitzeugen angesichts ihrer unterschiedlichsten Konstellationen hinsichtlich der biographischen Erfahrungen und tradierten Erinnerungen für die Fragestellungen des Forschungsprojekts als ausgesprochen interessant und aufschlussreich. Da die Gesamtanzahl der zu untersuchenden Fälle im Sample nicht beliebig erweitert werden konnte, trafen wir die Entscheidung, den Anspruch eines Vergleichs zwischen Familien mit und ohne noch lebende Zeitzeugen zugunsten einer erweiterten Analyse von Familien mit spannenden Sprecher- bzw. Erinnerungskonstellationen aufzugeben. Während bzw. nach den Familieninterviews konnten wir in den meisten Fällen mit Einverständnis der Interviewten einige der für das familiale Erinnern relevanten Erinnerungsgegenstände visuell dokumentieren. Oft bereiteten sich die Familienmitglieder bereits auf das Interview vor, indem sie Erinnerungsmaterial bereitlegten, auf das sie dann in ihren Erzählungen Bezug nahmen. Dabei kamen unterschiedlichste Erinnerungsobjekte zum Einsatz, wie historische Gegenstände, Tagebücher, Geburtsurkunden, Wehrdienstausweise, »Nachweise über die Deutschblütigkeit«, des Weiteren private Fotos, Postkarten, Zeitungen und Zeitungsartikel oder Bücher und Bildbände. Ebenfalls überließen uns einige der InterviewpartnerInnen für die weitere wissenschaftliche Analyse diverses Text- und Bildmaterial, wie Kopien von lebensgeschichtlichen Erzählungen, Audiodateien oder bereits in Buchform publiziertes biographisches Material. Die Interviews und Gruppengespräche dauerten im Durchschnitt zwischen zwei und vier Stunden und wurden digital aufgezeichnet. Zusätzlich wurden die Eindrücke der Interviewenden, sowie Besonderheiten während der Interviews in Memos schriftlich festgehalten. Die Transkription des Materials erfolgte möglichst zeitnah. Die Transkriptionen wurden an allen für die Interpretation wesentlichen Stellen mit den Audiofiles noch einmal abgeglichen. Zum Abschluss der Erhebungsphase standen dem Forschungsprojekt in transkribierter Form ca. 3.500 Seiten Interviewmaterial zur Auswertung zur Verfügung.

Methodische Erläuterungen Gerd Sebald/Christian Brunnert

1. VORÜBERLEGUNGEN UND VORAUSSETZUNGEN DER M ETHODENWAHL Das Forschungsprojekt schließt mit seinen empirischen Untersuchungen an andere Studien der intergenerationellen Tradierungsforschung an (vgl. Welzer 2002; Welzer et al. 2002; Kohlstruck 1997; Bar-On 1993; Rosenthal 1997a). Um bestimmte Aspekte des Feldzugangs und der methodischen Herangehensweise zu verdeutlichen sollen zunächst wesentliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu den vorangegangenen empirischen Studien erläutert und die daraus resultierende Fragestellung des Projekts dargestellt werden: 1. Wie bei Welzer et al. (2002) und Kohlstruck (1997) stehen im Mittelpunkt des Interesses nicht die Tradierung von Erinnerungen auf der Seite der Täter bzw. Opfer (Bar-On 1993, Rosenthal 1997a), sondern die Tradierungen in der Gruppe der »Zuschauer« (Hilberg 1997) bzw. »Mitläufer«. Uns ging und geht es dabei auch immer darum, intrafamiliale Widersprüche mitaufzunehmen, sei es durch unterschiedliche Familienkonstellationen, die durch eine Ehe aufeinandertreffen oder durch generationelle Konflikte. 2. Das beantragte Forschungsprojekt überprüft nicht nur die familiären Tradierungsweisen, sondern auch die Unterschiede in den Tradierungsweisen des NS, die Familien mit lebender und ohne lebende Zeitzeugengeneration aufweisen. 3. Im Unterschied zur sozialpsychologisch orientierten Biographieforschung (vor allem Rosenthal 1997a) verfolgen wir keine psychologisch oder therapeutisch ausgerichtete Fragestellung, sondern eine soziologische, die sich vor allem auf die Selektivität von sozialen Gedächtnissen richtet, jedoch auch Konstitutionsfaktoren wie Generation(engrenzen), Medien, Authentizität und Diskurse in die Betrachtung aufnimmt.

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4. Für die soziologische Biographieforschung gilt: »Subjektive Erfahrung und subjektives Handeln rückt [...] ins Zentrum der Aufmerksamkeit. [...] Biographieforschung [ist] die umfassendste Thematisierung von Subjektivität« (Kohli und Robert 1984b: 4). Insofern liegen auch andere Arbeiten aus diesem Kontext (Engelhardt 2001; Schütze 1989; Kohli und Robert 1984a; Weber et al. 2002) durchaus methodologisch nahe am Projekt, aber unsere Fragestellung weist einen differenten Fokus auf, indem sie sich auf die überindividuellen Strukturen von sozialen Gedächtnissen richtet. Die gegenwärtige Diskussion zum sozialen Gedächtnis ist durch kulturwissenschaftlich geprägte Theorien dominiert. Diese Theorien bauen auf der Unterscheidung zwischen zwei getrennten Formen des Gedächtnisses auf, dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis. Unsere Prämisse war und ist, dass sich in differenzierten Gesellschaften mit hohem Anteil an (massen-)medialer Kommunikation diese Trennung ebenso wenig aufrecht erhalten lässt wie die damit verbundene eindeutige Zuordnung von Medien zu Gedächtnisformen. Vor diesem Hintergrund verfolgen wir in dem Projekt »Soziale Erinnerung in differenzierten Gesellschaften« folgende Fragestellungen:1 1. Wie verändert sich die Erinnerung an den Nationalsozialismus zwischen den Generationen? In welcher Beziehung stehen die Veränderungen zu generationellen Relevanzsystemen und in welcher zu unterschiedlichen Erfahrungsräumen? 2. Wie greifen Prozesse der Differenzierung und Pluralisierung (generationell, migrationsbedingt) in die Bildung von Vergangenheitsbezügen ein? 3. Welche Formen des Mediengebrauchs finden sich in den familialen Erinnerungen, welche Rolle spielen sie in Bezug auf die Konstruktionen von Authentizität? Welche Formen der Konstruktion von Authentizität lassen sich im Material finden? 4. Wie unterscheidet sich der Bezug auf Vergangenes in den verschiedenen Generationen? Welche Unterschiede des Bezugs auf mediale 1 | Für unsere Ausgangsfragestellung vgl. den gekürzten Projektantrag, der unter http://www.soziologie.phil.uni-erlangen.de/project/soziale-erinnerung zum Download bereit steht.

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Kommunikationen finden sich in den verschiedenen Settings (Familien mit Zeitzeugen und Familien ohne Zeitzeugen)? 5. Auf welche Diskurse und Diskursstränge betreffend die Zeit des Nationalsozialismus und die DDR wird Bezug genommen, welche Selbstund Fremdreferenzen lassen sich im Material finden? Das Forschungsinteresse, der Anschluss und die Unterschiede zu früheren Studien und unsere daraus resultierenden Fragestellungen bestimmen im wesentlichen den Feldzugang (vgl. den Beitrag von Lehmann oben S. 217 ff.), die Begründung der Auswahl der Interviewpartner/Fälle und vor allem auch die Methodik. Diese soll im folgenden in ihren einzelnen Aspekten eingehender begründet werden.

2. M ETHODIK 2.1 Fallauswahl

Antworten zu der Frage der Kriterienbildung zum Zweck einer sinnvollen Kontrastierung der Fälle lassen sich aus den bisher zum Thema durchgeführten Untersuchungen entweder nicht entnehmen, oder, wegen des differenten Untersuchungszuschnitts, kaum übertragen. Sie mussten daher im Verlauf der Untersuchung erst gebildet werden. Dies geschah entlang der Forschungsfragen, d. h. bezogen auf maximale Kontrastierung in den Medienbezügen bzw. dem Mediengebrauch und in den Authentifizierungsstrategien. Um in einem überschaubaren Zeitrahmen die endgültige Fallauswahl treffen zu können, wurde dieses eher weitmaschige inhaltsanalytischen Vorgehen auf alle Erstinterviews angewandt (Familien ohne lebende/mit lebender Zeitzeugengeneration). Voraussetzung war natürlich die in den anderen Generationen der betreffenden Familien vorher artikulierte Bereitschaft, an der Studie teilzunehmen. Diese Interviews wurden zeitnah transkribiert. Für die Kontrastierung mit Bezug auf Generationenbezüge, Medien und Authentifizierung war eine inhaltsanalytische Auswertung der entsprechenden Passagen in Verbindung mit einer ersten sequenzanalytischen Interpretation einzelner Stellen ausreichend. Aus diesem ersten Sample wurden dann 12 Familien, davon sechs im Westen (zwei mit drei, zwei mit zwei Generationen) und sechs im Osten (zwei mit drei, zwei mit zwei Generationen) ausgewählt und in das endgültige Sample aufgenommen (vgl. dazu die Kriterientabelle S. 235 f.).

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2.1.2 Narrative Interviews

Unsere Forschungsinteressen legen ein qualitativ-interpretatives Vorgehen nahe. Geführt wurden narrative, thematisch fokussierte Interviews mit einem narrativen Teil und einem leitfadengestützten Teil. Diese Interviews unterscheiden sich von biographischen Interviews dadurch, dass sie zum einen im narrativen Teil auf die Lebens- bzw. Familiengeschichte bzw. das Wissen über die Geschichte der Eltern oder Großeltern zur Zeit des Nationalsozialismus beschränkt sind und zum anderen um einen leitfadengestützten Teil ergänzt werden. Die Erzählaufforderung wurde, wie bei narrativ-biographischen Interviews üblich, allgemein gehalten, die Interviewten wurden in dem ersten Teil des Interviews nicht zur Detaillierung aufgefordert. Die Eingangsfragen lauteten (a) im Falle von Zeitzeugen, b) im Falle der nachfolgenden Generationen):2 a) »Ich möchte Sie bitten, mir Ihr Leben und das Ihrer Familie in der Zeit des Nationalsozialismus zu erzählen, all die Erlebnisse, die für Sie und Ihre Familie persönlich wichtig waren und vielleicht auch noch sind. Sie können sich soviel Zeit nehmen, wie Sie möchten. Ich werde Sie erstmal auch nicht unterbrechen, mir nur einige Notizen zu Fragen machen, auf die ich dann später noch eingehen werde. Und am Ende des Interviews kommen dann noch ein paar Fragen, die wir allen Personen stellen, die wir interviewen.« b) »Ich möchte Sie bitten, mir das Leben Ihrer Familie, ihrer Eltern oder Großeltern in der Zeit des Nationalsozialismus zu erzählen, soweit es Ihnen bekannt ist. All die Erlebnisse, die für Ihre Familie wichtig waren und die in der Familie erzählt wurden und werden. Sie können sich soviel Zeit nehmen, wie Sie möchten. Ich werde Sie erstmal auch nicht unterbrechen, mir nur einige Notizen zu Fragen machen, auf die ich dann später noch eingehen werde. Und am Ende des Interviews kommen dann noch ein paar Fragen, die wir allen Personen stellen, die wir interviewen.« In dieser Phase sollten von Seiten der Interviewenden aufmerksames Zuhören und aufmunternde parasprachliche Signale möglichst die einzigen Aktivitäten sein, d. h. die Gestaltung der Erzählung dem Biographen überlassen bleiben (vgl. Rosenthal 1995: 186 ff.; Rosenthal 2005: 137 ff.). 2 | Vgl. auch den gesamten Leitfaden für die Interviews S. 238 f.

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Diese erste Phase des Interviews war bei der Zeitzeugengeneration erheblich länger als bei den anderen Generationen. In beiden Gruppen (2Generationen- und 3-Generationen-Familien) wurden die Interviews in der absteigenden Generationenfolge geführt. Die unbedingte Einhaltung dieser Reihenfolge ist aus unserer Sicht methodisch zwingend, da bei Nichteinhaltung die Rekonstruktion von Tradierungslinien dem Zufall überlassen bleibt. Sie ist darüber hinaus methodisch geboten, da das erste Interview Material für den Nachfrageteil der folgenden Interviews geliefert hat. Im Anschluss an den narrativen Teil wurden in einer teils leitfadengestützten, teils auf Notizen zur Erzählung gestützten zweiten Phase des Interviews Erzählungen aus der ersten Phase konkretisiert (zur Entwicklung dieses Aufbaus vgl. Schütze 1977; 1987; zur Weiterentwicklung Rosenthal 2005: 139 ff.). Der leitfadengestützte Teil dient erstens dazu, ein vorher erarbeitetes »Gerüst« von Familienbeziehungen und -verhältnissen möglichst vollständig für die Zeit des NS in Erfahrung zu bringen und damit eine Vergleichbarkeit auf der Ebene des Datenmaterials zu ermöglichen. Einen zweiten Schwerpunkt des Leitfadens bilden die Bezüge auf mediale Quellen der Erinnerung, der dritte Schwerpunkt fokussiert auf normativen und emotionalen Einschätzungen der Familiengeschichte. Dies sollte die Deutung thematischer und interpretatorischer Relevanzen mit Bezug auf den narrativen Teil erhärten und den Bezug auf motivationale Relevanzen ermöglichen. Ein unseres Erachtens zentraler – und für das Zusammenspiel mit dem in der Gruppendiskussion erhobenen Material wesentlicher – Vorzug der artifiziellen Kommunikationssituation Interview liegt in der Unvertrautheit der Interviewenden mit der jeweiligen Familiengeschichte. Wegen die ses »Wissensdefizits« (vgl. Brüsemeister 2000: 135) sind die Erzählenden genötigt, Erlebnisse möglichst detailliert zu präsentieren und Zusammenhänge zwischen Ereignissen und Deutungen herzustellen, die in der alltäglichen Familienkommunikation zumindest bei »Standarderzählungen«, d. h. oft präsentierten Geschichten, typischerweise auf der Ebene von Andeutungen oder kurzen Verweisen auf allseits bekannte Topoi, d. h. einen gemeinsamen Wissensvorrat, verbleiben. Wir gehen davon aus, dass sich gerade aus diesen Erzählzwängen (Detaillierung, Gestaltschließung, Relevanzfestlegung und Kondensierung, vgl. Schütze 1987; Rosenthal 1995) Hinweise auf auch von den Erzählenden für problematisch gehaltene Aspekte der Familiengeschichte ergeben, also auf die Aspekte, die typischerweise Außenstehenden gegenüber nicht

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artikuliert werden (vgl. das schöne Beispiel in Keppler 1994a: 175 ff.). Zudem müssen, wenn die eigene Lebensgeschichte Fremden (den Interviewenden) erzählt wird, spezifische Authentifizierungsstrategien in dieser Kommunikationssituation auftreten. Schließlich werden sich in einer erzählenden Rekonstruktion von der Gegenwart aus, angesichts einer vielfältigen medialen Verarbeitung des Themas Nationalsozialismus, unweigerlich Bezüge auf Medien in den Erzählungen finden, sei es der Verweis auf Photographien oder Dokumente aus der Zeit, sei es die Übernahme von medialen Erzählmustern, Bildern und medialen Sequenzen (vgl. Welzer et al. 2002: 88 ff.). 2.1.3 Gruppendiskussionen

Nach der Transkription der Interviews und einer ersten Kurzauswertung wurden die interviewten Familienmitglieder zu einem Familiengepräch gebeten (vgl. zu technischen Fragen der Gruppendiskussion exemplarisch Lamnek 1993: 125 ff.; Loos/Schäffer 2001: 48 ff.; Bohnsack 2003). Hieran konnten auch nicht interviewte Familienmitglieder teilnehmen. Nach den in der Literatur dokumentierten Erfahrungen mit Familiendiskussionen kann es im je spezifischen Fall unmöglich sein, die drei Generationen an einem Tisch zu versammeln (vgl. exemplarisch Hildenbrand 1999) oder aus forschungsethischen Gründen geboten sein, dies gerade nicht zu tun (vgl. exemplarisch Rosenthal 1997a). Wo dies der Fall war, haben wir versucht, zwei Diskussionen in unterschiedlichen Zusammensetzungen zu initiieren. Für Gruppendiskussion wie für Interviews gilt, dass es sich um artifizielle Kommunikationssituationen handelt. Aus theoretischen und methodischen Gründen schien uns die Vorstellung unangemessen, durch eine möglichst starke Reduktion von Eingriffen in die Interviews oder die Gruppendiskussion diesen artifiziellen Charakter einer »natürlichen« Gesprächsituation »anzunähern«. Vielmehr sind wir der Auffassung, dass Narrationen in Interviews eine Eigenlogik haben, die umso deutlicher zum Vorschein tritt, um so länger die Erzählsequenzen dauern. Das gilt cum grano salis auch für Gruppendiskussionen: Je weniger Einfluss die Interviewenden auf die im Familiengespräch entwickelte Familiengeschichte nehmen, desto eher kann man davon ausgehen, dass sich in dieser artifiziellen Situation die je familienspezifische Dynamik der Verfertigung der Familiengeschichte rekonstruieren lässt. Deshalb ist für den ersten Teil der Gruppendiskussion entscheidend, dass die gesam-

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te, anwesende Familie adressiert, d.h. die Verteilung der Redebeiträge nicht beeinflusst wird. Gelingt die durch einen Grundreiz ausgelöste gemeinsame Verfertigung einer Familienbiographie für die Zeit des Nationalsozialismus, so kann man davon ausgehen, dass die resultierende Deutung der Vergangenheit »keine ›Summe‹ von Einzelmeinungen, sondern das Produkt kollektiver Interaktionen« (Mangold 1960: 49) ist, in denen vorgängig ausgebildete Muster der Familieninterkation aktualisiert werden (vgl. auch Mangold 1973: 240). In diesem Sinne ist die Gruppendiskussion zwar artifiziell, aber das produzierte Material kein Artefakt, sondern vielmehr Material, das Einblick in die Prozesse der Verfertigung des sozialen Gedächtnisses der Familie ermöglicht. Der Grundreiz für den ersten Teil des Familiengesprächs, d. h. für den Teil, in dem die Familie durch diesen Grundreiz aufgefordert ist, eine Familienbiographie mit Blick auf die Familiengeschichte im Nationalsozialismus zu verfertigen, wurde für die jeweilige Familie je spezifisch auf der Basis einer Erstauswertung der Interviews erstellt. Damit wurde das Thema vorgeschlagen, aber nicht die Art und Weise der Behandlung dieses Themas. Wie für die Interviews, hielten wir auch für die Gruppendiskussionen ein zweistufiges Vorgehen für sinnvoll: Im zweiten Teil der Gruppendiskussion wurde die gemeinsame Konstruktion von Bedeutung von in den Interviews erwähnten (massen-)medialen Angeboten erhoben. Dazu wurde in den Interviews erwähntes (mediales) Material – ggf. in Ausschnitten – präsentiert. Auch in diesem zweiten Teil sollten die Interviewenden zurückhaltend agieren und sich möglichst auf die Artikulation der entsprechenden Erzählaufforderungen beschränken. Diese sollten sich nicht nur auf Material aus den Interviews beziehen, sondern ebenso auf generationenspezifisch differenzierte Bezugnahmen auf zeitgeschichtliche Formen der Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus. Die Auswahl dieser Erzählanregungen erfolgte auf der Grundlage der Interviews. Von den Gruppendiskussionen erwarteten wir Material, das deutlicher tiefer reicht als das Material, das durch Interviews erhoben werden konnte: Zum einen erlaubten die Familiengespräche Einblicke in die intergenerationelle Verfertigung der Familiengeschichte, zum zweiten wurde die Interaktionssituation Erzählende/Interviewer aufgehoben und damit ein Blick auf die familiale Verfertigung der Vergangenheit möglich. Zum dritten ermöglichten sie – auf andere Weise als die Interviews – die Rekonstruktion von Authentifizierungsstrategien. Zum vierten wurde der Bezug des familialen Gedächtnisses auf Medien deut-

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licher herausgearbeitet und fünftens erwarteten wir uns eine bessere Einsicht in generationenspezifische Selektivitäten. Insgesamt dient die Gruppendiskussion einer Ergänzung der aus den narrativen Interviews gewonnenen Perspektiven im Sinne einer Triangulation (vgl. Flick 2003). Den narrativen Elementen und individuellen Selektivitäten wird eine kollektive Sinnebene gegenübergestellt. Erst die Kombination beider Ebenen ermöglichte eine für die Fragestellung notwendige Tiefe und Breite der Analyse. 2.2 Auswertung

Zur Auswertung der Daten wurden zwei Verfahren angewandt: die themenorientierte Inhaltsanalyse und die Sequenzanalyse. Die themenorientierte Inhaltsanalyse dient zum einen einer deskriptiven Typologie und Ordnung des Materials entsprechend der Forschungsfragen, zum anderen der Identifizierung sequenzanalytisch auszuwertender Passagen. Die sequentielle Auswertung nur einzelner Passagen entspricht nicht den methodischen Überlegungen zur Fallrekonstruktion aus der Perspektive der strukturalen Hermeneutik. Wir wählten dieses Vorgehen vor allem aus forschungspragmatischen Gründen. Um die damit verbundenen methodischen Probleme in den Griff zu bekommen, wurde ein Fall sequenzanalytisch rekonstruiert. Auf dieser Grundlage wurde das folgende Auswertungsverfahren durchgeführt. 2.2.1 Auswertung zur Auswahl

Um tatsächlich maximal kontrastierende Fälle zu erhalten, wurden die Erstinterviews, die der endgültigen Fallauswahl dienten, sehr rasch transkribiert und einer themenorientierten Inhaltsanalyse (vgl. Züll und Mohler (2001); Froschauer und Lueger (2003: 158ff.); Mayring (2003)) unterzogen (vgl. Kriterientabelle S. 235 f.). Für einzelne Passagen konnte bereits in dieser Phase eine Feinanalyse geboten sein. Die endgültige Auswahl der zu untersuchenden Familien erfolgte aus diesem Sample. 2.2.2 Endauswertung

Nach der Erhebung der Daten (und zeitnaher Transkribtion) wurden diese ebenfalls einer themenorientierten Inhaltsanalyse unterzogen. Damit

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wurde möglichst parallel zur Datenerhebung begonnen. Die computerunterstützte themenorientierte Inhaltsanalyse mittels der Software MaxQDA diente der Ordnung und Reduktion des Materials und der Bestimmung von Passagen, die einer sequenzanalytischen Feinanalyse unterzogen werden sollten. Ausgenommen hiervon waren die Anfänge der Interviews bzw. Gruppendiskussionen sowie erkennbare Brüche (z. B. Themenwechsel): Beide wurden in allen Fällen sequenzanalytisch analysiert. Sequenzanalysen wurden grundsätzlich im Team vorgenommen. Auch zur Selbstverständigung über den vorliegenden Fall wurden die Anfänge grundsätzlich zuerst analysiert. Im Anschluss daran folgte die themenorientierte Inhaltsanalyse, dann eine sequenzanalytische Interpretation dabei ausgewählter Passagen. Die themenorientierte Inhaltsanalyse diente einer deskriptiven Typologisierung des Materials entlang der Linien generationeller Differenzierung, Medienbezug und Authentifizierungsstrategien. In einem zweiten Schritt wurden einige dieser Passagen einer sequenzanalytischen Feinanalyse unterzogen (vgl. dazu Wernet 2000; Oevermann et al. 1979; Oevermann 1981; Oevermann 1983; kritisch dazu Reichertz 1986; Soeffner 1989; Hildenbrand 2003; für eine Anwendung im Kontext von Biographieforschung vgl. Wohlrab-Sahr 1993: 98 ff. und 1999; Hildenbrand 1999). Im Rahmen der sequenzanalytischen Feinanalyse fanden zwei jeweils dreitägige Workshops mit dem Projektteam und Mitarbeitern des Instituts für Soziologie in Erlangen statt.3 Diese Workshops dienten auch einer rekursiven Überprüfung der Materialeinordnung der Projektmitarbeiter. Die sequenzanalytische Feinanalyse bildete das »Herzstück« der Auswertung. Unsere Erfahrungen mit empirischen Projekten zeigten, dass die Konzeption nur einer Auswertungsphase nicht ausreichend ist. Zur erneuten und vertieften Interpretation relevanter Passagen (und ggf. des nacherhobenen Materials) wurde deshalb eine zweite Auswertungsphase durchgeführt. Ziel der Auswertung waren den Aspekten der Fragestellung entsprechend vergleichend angelegte Typologien.

3 | Ein Workshop fand in Zusammenarbeit mit Sonja Grabowsky und Ruth Seifert statt. Zusätzlich wurden Teile unseres Materials einerseits im Oberseminar von Ilja Srubar in Erlangen oder in der Methodenwerkstatt in Göttingen am Lehrstuhl von Gabriele Rosenthal interpretiert.

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AutorInnen

Christian Brunnert ist Soziologe am Fraunhofer Institut für integrierte Schaltungen in Erlangen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Antisemitismus, Medienbildung und Lernkulturen. Johanna Frohnhöfer lehrt Soziologie und Psychologie an der Fachakademie für Sozialpädagogik in Coburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Migration, multikulturelle Gesellschaft und Bildungssoziologie. René Lehmann ist Soziologe in Erlangen. Seine Forschungsschwerpunkte sind soziale Gedächtnisse, Transformationsforschung und qualitative Methoden. Monika Malinowska ist Soziologin in Erlangen. Ihre Forschungsgebiete sind Migration, binationale Ehe und Familiensoziologie. Florian Öchsner ist Soziologe und Literaturwissenschaftler in Erlangen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Antisemitismus, Subjektivierung der Arbeit und soziale Gedächtnisse. Gerd Sebald ist Soziologe in Erlangen. Seine Forschungsschwerpunkte sind soziologische Theorie, Phänomenologie, Mediensoziologie, Geschichte der Soziologie und Wissenssoziologie.

Sozialtheorie Ullrich Bauer, Uwe H. Bittlingmayer, Carsten Keller, Franz Schultheis (Hg.) Bourdieu und die Frankfurter Schule Kritische Gesellschaftstheorie im Zeitalter des Neoliberalismus März 2012, ca. 350 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1717-7

Wolfgang Bonss, Ludwig Nieder, Helga Pelizäus-Hoffmeister Handlungstheorie Eine Einführung Oktober 2011, ca. 250 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1708-5

Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.) Human-Animal Studies Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen Oktober 2011, ca. 260 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1824-2

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Sozialtheorie Max Miller Sozialtheorie Eine Kritik aktueller Theorieparadigmen. Gesammelte Aufsätze März 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-89942-703-5

Stephan Moebius, Sophia Prinz (Hg.) Das Design der Gesellschaft Zur Kultursoziologie des Designs Oktober 2011, ca. 420 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1483-1

Hartmann Tyrell, Ingo Meyer, Otthein Rammstedt (Hg.) Georg Simmels große »Soziologie« Eine kritische Sichtung nach hundert Jahren September 2011, ca. 430 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1877-8

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Sozialtheorie Fritz Böhle, Sigrid Busch (Hg.) Management von Ungewissheit Neue Ansätze jenseits von Kontrolle und Ohnmacht September 2011, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1723-8

Pradeep Chakkarath, Doris Weidemann (Hg.) Kulturpsychologische Gegenwartsdiagnosen Bestandsaufnahmen zu Wissenschaft und Gesellschaft Oktober 2011, ca. 226 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1500-5

Bernd Dollinger, Fabian Kessl, Sascha Neumann, Philipp Sandermann (Hg.) Gesellschaftsbilder Sozialer Arbeit Eine Bestandsaufnahme September 2011, ca. 230 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1693-4

Leon Hempel, Marie Bartels (Hg.) Aufbruch ins Unversicherbare Zum Katastrophendiskurs der Gegenwart August 2011, ca. 350 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1772-6

Barbara Henry, Alberto Pirni (Hg.) Der asymmetrische Westen Zur Pragmatik der Koexistenz pluralistischer Gesellschaften August 2011, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1705-4

Carolin Kollewe, Elmar Schenkel (Hg.) Alter: unbekannt Über die Vielfalt des Älterwerdens. Internationale Perspektiven Februar 2011, 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1506-7

Volkhard Krech Wo bleibt die Religion? Zur Ambivalenz des Religiösen in der modernen Gesellschaft Juli 2011, 296 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1850-1

Sophie-Thérèse Krempl Paradoxien der Arbeit oder: Sinn und Zweck des Subjekts im Kapitalismus Januar 2011, 342 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1492-3

Susanne Lettow (Hg.) Bioökonomie Die Lebenswissenschaften und die Bewirtschaftung der Körper März 2012, ca. 220 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1640-8

Mathias Lindenau, Marcel Meier Kressig (Hg.) Zwischen Sicherheitserwartung und Risikoerfahrung Vom Umgang mit einem gesellschaftlichen Paradoxon in der Sozialen Arbeit November 2011, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1762-7

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