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German Pages 418 Year 2007
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1075
Sonntagsschutz und Ladenschluß Der verfassungsrechtliche Rahmen für den Ladenschluß an Sonn- und Feiertagen und seine subjektiv-rechtliche Dimension
Von
Wolfgang Mosbacher
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
WOLFGANG MOSBACHER
Sonntagsschutz und Ladenschluß
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1075
Sonntagsschutz und Ladenschluß Der verfassungsrechtliche Rahmen für den Ladenschluß an Sonn- und Feiertagen und seine subjektiv-rechtliche Dimension
Von
Wolfgang Mosbacher
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2006 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-12409-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Arbeit hat die Humboldt-Universität zu Berlin im Sommersemester 2006 als Dissertation angenommen. Die mündliche Doktorprüfung erfolgte in Zeiten verlängerter Ladenöffnung während der Fußball-Weltmeisterschaft am 13. Juni 2006. Das Manuskript bedurfte anschließend aufgrund der umfangreichen Grundgesetzänderung im August 2006 der Aktualisierung und teilweisen Überarbeitung: Seit dem 1. September 2006 sind erstmals seit über 100 Jahren die Länder für das „Recht des Ladenschlusses“ zuständig. Fast alle Bundesländer haben in den Monaten danach Ladenöffnungsgesetze erlassen. Das vorliegende Buch berücksichtigt die 15 neuen Landesgesetze ebenso wie Literatur und Rechtsprechung bis 31. März 2007 sowie für den europarechtlichen Teil die Ergebnisse des Europäischen Rates vom 21./22. Juni 2007. Meinem Doktorvater, Prof. Dr. Gunnar Folke Schuppert, danke ich für seine geduldige Unterstützung und Betreuung, die selbst in Zeiten nicht abriß, als die ersten Berufsjahre nur ein langsames Vorankommen mit dem vorliegenden Werk zuließen. Dem Zweikorrektor, Herrn Privatdozent Dr. Matthias Rossi, bin ich für seine Anregungen verbunden, die ich bei der Überarbeitung berücksichtigen konnte. Weiterhin möchte ich Herrn Prof. Dr. Jaster, München, danken. Sein engagiertes Eintreten für den Schutz des Sonntages bei einer Diskussionsveranstaltung in Berlin hat mein Interesse an dem Thema geweckt. Der KonradAdenauer-Stiftung bleibe ich wegen ihrer ideellen und finanziellen Unterstützung während der Erstellung der Arbeit stets verbunden. Meinen Kollegen aus dem Referat V 1 a im Bundesministerium des Innern verdanke ich wertvolle Hinweise auf die verfassungsrechtlichen Fragen, welche die Grundgesetzreform zum 1. September 2006 für den Ladenschluß ausgelöst hat. Nicht zuletzt haben mir die schon ins Studium zurückreichenden Diskussionen mit meinen Freunden Christian Schreckenberger und Dr. Nils LangeBertalot geholfen, mit Abstand zum positiven Recht die Prinzipien der Jurisprudenz auf das vorliegende Thema anzuwenden. Schließlich gilt mein besonderer Dank meiner Partnerin Wibke: Ohne ihre Unterstützung, ihren Zuspruch und ihre Geduld hätte ich nicht den Freiraum gehabt, die Arbeit neben dem Beruf zu vollenden.
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Vorwort
Der Beitrag meiner Eltern verdient spezielle Würdigung: Meinem Vater danke ich für seine zahlreichen Anregungen sowie für seine intensive und unerschöpfliche Anteilnahme, meiner Mutter für ihre stete Ermunterung und ihr großes Zutrauen. Sie haben mir mitgegeben, was zur Vollendung der Arbeit notwendig war. Berlin, im April 2007 Wolfgang Mosbacher
Inhaltsübersicht Einleitung ...................................................................................................................... 23 1. Teil Geschichte und Grundlagen
28
1. Kapitel: Geschichte des Sonntags und des Handels an diesem Tag............................ 28 2. Kapitel: Entwicklung in DDR und Bundesrepublik seit 1945 .................................... 61 3. Kapitel: Neue Ladenöffnungsgesetze und sonstiges einfaches Recht......................... 70 2. Teil Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
86
1. Kapitel: Schutz des Sonntags durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV ................. 86 2. Kapitel: Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze......................... 108 3. Kapitel: Verstößt Abschaffung des Sonntagsladenschlusses gegen GG? ................. 163 3. Teil Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
207
1. Kapitel: Zuständigkeit des Bundes bis 2006............................................................. 208 2. Kapitel: Neuregelung der Gesetzgebungszuständigkeit 2006................................... 221 3. Kapitel: Umfang neuer Länder- und fortgeltender Bundeskompetenz ..................... 242 4. Kapitel: Problematischer Vollzug des Bundesladenschlußgesetzes.......................... 276 4. Teil Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
294
1. Kapitel: Aus Verfassungsrecht ................................................................................. 294 2. Kapitel: Aus einfach-gesetzlichen Vorschriften ....................................................... 344 5. Teil Europarecht
365
1. Kapitel: Vereinbarkeit des Sonntagsladenschlusses mit dem EG-Vertrag................ 365 2. Kapitel: Relevanz der Arbeitszeitrichtlinie............................................................... 381 3. Kapitel: Neuerungen durch Änderungsvertrag ab 2009? .......................................... 383 Zusammenfassung der Ergebnisse ..................................................................... 390 Literaturverzeichnis ................................................................................................... 399 Sachregister................................................................................................................. 415
Inhaltsverzeichnis Einleitung ...........................................................................................................23 1. Teil Geschichte und Grundlagen
28
1. Kapitel Geschichte des Sonntags und des Handels an diesem Tag
28
I. Vorchristliche Epoche ................................................................................................. 28 II. Frühchristliches Zeitalter ........................................................................................... 30 1. Entwicklung des christlichen Sonntags .................................................................. 30 2. Etymologie als Beleg der antiken Wurzeln ............................................................ 31 3. Erstes Sonntagsgesetz von Kaiser Konstantin........................................................ 32 III. Mittelalter ................................................................................................................. 34 1. Recht bis zur Jahrtausendwende............................................................................. 34 2. Wirtschaftliche Hintergründe ................................................................................. 35 3. Rechtliche Entwicklung seit der Salierzeit ............................................................. 37 4. Feiertage................................................................................................................. 37 IV. Frühe Neuzeit ........................................................................................................... 38 V. 19. Jahrhundert .......................................................................................................... 43 1. Grundlegender Wandel der Arbeit und des Handels .............................................. 43 2. Neuerungen im Recht............................................................................................. 45 a) Preußische Verfassung von 1850....................................................................... 45 b) Ansätze des Arbeits- und Sonntagsschutzes im einfachen Recht ...................... 46 3. Deutsches Reich 1871 ............................................................................................ 48 a) Erster Sonntagsladenschluß mit „Neuem Kurs“ ................................................ 50 b) Ladenschluß an Werktagen zur Jahrhundertwende............................................ 52 VI. Weimarer Republik .................................................................................................. 54 1. Sonntagsschutz in Art. 139 WRV .......................................................................... 54 2. Weitere Verkürzung der Öffnungszeiten................................................................ 57 VII. Drittes Reich ........................................................................................................... 58 VIII. Ergebnis................................................................................................................. 60
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Inhaltsverzeichnis 2. Kapitel Entwicklung in DDR und Bundesrepublik seit 1945
61
I. DDR ............................................................................................................................ 62 1. Ladenschluß ........................................................................................................... 63 a) Rechtliche Bestimmungen ................................................................................. 63 b) Tatsächliche Öffnungszeiten ............................................................................. 64 2. Möglichkeit der Sonntagsarbeit.............................................................................. 65 3. Sonntagsschutz in der Verfassung.......................................................................... 67 II. Bundesrepublik Deutschland ..................................................................................... 68 3. Kapitel Neue Ladenöffnungsgesetze und sonstiges einfaches Recht
70
I. Ladenöffnungsgesetze der Länder und Bundesladenschlußgesetz .............................. 71 1. Anwendungsbereich............................................................................................... 71 2. Ausnahmen vom allgemeinen Ladenschluß an Sonn- und Feiertagen ................... 74 a) Sonderregeln für bestimmte Verkaufsorte und Waren....................................... 74 b) Verkaufsoffene Sonn- und Feiertage sowie Adventssonntage........................... 76 3. Spezialregelung für Arbeitnehmer ......................................................................... 78 4. Durchführung des Gesetzes.................................................................................... 79 II. Arbeitszeitgesetz........................................................................................................ 79 III. Sonn- und Feiertagsgesetze der Länder .................................................................... 80 1. Gesetzliche Feiertage ............................................................................................. 81 2. Kirchliche Feiertage ............................................................................................... 82 3. Stille Feiertage ....................................................................................................... 83 4. Religiöse Feiertage ohne explizite gesetzliche Anerkennung................................. 84
2. Teil Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
86
1. Kapitel Schutz des Sonntags durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV
86
I. Besonderheiten als inkorporierter Artikel ................................................................... 87 1. Beratungen im Parlamentarischen Rat ................................................................... 87 2. Rang in der Normenhierarchie ............................................................................... 87 II. Rechtsnatur ................................................................................................................ 88 III. Schutzobjekte: Sonntage und staatlich anerkannte Feiertage.................................... 90
Inhaltsverzeichnis
13
1. Sonntag .................................................................................................................. 90 2. Staatlich anerkannte Feiertage................................................................................ 91 IV. Schutzumfang........................................................................................................... 92 1. Unterscheidung von Kern- und Randbereich ......................................................... 92 2. Darstellung des Kernbereichs................................................................................. 95 3. Eingriff in den Kernbereich.................................................................................... 97 4. Weite Ausgestaltungsfreiheit im Randbereich ..................................................... 100 a) Maßgaben für die Ausgestaltung ..................................................................... 101 aa) Berücksichtigung der Schutzzwecke ......................................................... 102 bb) Untermaßverbot ........................................................................................ 102 (1) Abstandsgebot ....................................................................................... 103 (2) Vermeidung von Ermessensfehlern ....................................................... 103 cc) Beachtung der Verhältnismäßigkeit........................................................... 104 b) Mittel der Ausgestaltung ................................................................................. 105 c) Tatsächlich erfolgte Ausgestaltung.................................................................. 107 2. Kapitel Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze
108
I. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Juni 2004 im Überblick..................... 109 1. Verfahrensgeschichte........................................................................................... 110 2. Kernelemente der Entscheidung .......................................................................... 111 II. Grundrechte der Ladeninhaber................................................................................. 112 1. Berufsfreiheit, Art. 12 Abs. 1 GG........................................................................ 112 a) Eingriff in den Schutzbereich.......................................................................... 112 b) Rechtfertigung und Verhältnismäßigkeit des Eingriffs ................................... 113 aa) Gemeinwohlbelange zugunsten des Sonntagsladenschlusses.................... 113 bb) Verhältnismäßigkeit im weiteren Sinne.................................................... 116 (1) Eignung des Ladenschlußgesetzes ........................................................ 116 (2) Erforderlichkeit..................................................................................... 120 (3) Angemessenheit .................................................................................... 120 (a) Schwere des Eingriffs ....................................................................... 121 (b) Hervorhebung des Sonntags durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV .................................................................................. 124 (c) Verfassungswandel ........................................................................... 126 (aa) Freizeitverhalten ......................................................................... 129 (bb) Veränderte Religiosität............................................................... 131 (cc) Seelische Erhebung als wandlungsoffener Begriff ..................... 135 (dd) Rolle des Gesetzgebers............................................................... 137
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Inhaltsverzeichnis (ee) Ergebnis...................................................................................... 138 (d) Sonntagsverkauf als „Arbeit für den Sonntag“? ............................... 139 (aa) „Arbeit für den Sonntag“ und „Arbeit trotz des Sonntages“....... 139 (bb) Beurteilung beider Kategorien im Lichte des Art. 139 WRV..... 140 (cc) Einordnung des Sonntagsverkaufs.............................................. 142 c) Ergebnis...................................................................................................... 146 2. Eigentumsgarantie, Art. 14 Abs. 1 GG ................................................................ 147 3. Allgemeiner Gleichheitssatz, Art. 3 Abs. 1 GG................................................... 148 a) Einzelhändler und andere Dienstleister, die keinen Handel treiben ................ 149 b) Inhaber von Verkaufsstellen und Händler mit anderen Vertriebsarten ........... 150 c) Normale und durch Ausnahmetatbestände privilegierte Einzelhändler........... 151 d) Gleichbehandlung von Einzelhändlern unterschiedlicher Waren.................... 155 4. Ergebnis............................................................................................................... 157
II. Grundrecht der Verbraucher, Art. 2 Abs. 1 GG ....................................................... 157 III. Grundrechte der Arbeitnehmer ............................................................................... 159 IV. Ergebnis ................................................................................................................. 161 3. Kapitel Verstößt Abschaffung des Sonntagsladenschlusses gegen GG?
163
I. Vereinbarkeit der Abschaffung mit Art. 139 WRV................................................... 164 1. Gemeinwohlbelange zugunsten der Öffnung an Sonn- und Feiertagen ............... 164 2. Eignung der Ladenöffnung an Sonn- und Feiertagen .......................................... 165 a) Schaffung von Arbeitsplätzen ......................................................................... 166 b) Steigerung des Umsatzes im Einzelhandel...................................................... 169 3. Erforderlichkeit.................................................................................................... 171 a) Teilweise Freigabe der Sonntagsöffnung bei Beibehaltung des Ladenschlusses an Werktagen.................................................................................. 172 b) Völlige Freigabe der Ladenöffnung an Sonntagen.......................................... 173 4. Angemessenheit................................................................................................... 173 a) Auswirkungen auf Art. 139 WRV................................................................... 173 aa) Arbeitsruhe................................................................................................ 174 (1) Individuelle Arbeitsruhe und Wirkung anderer Regelungen................. 174 (a) Arbeitszeitgesetz............................................................................... 174 (b) Sonn- und Feiertagsgesetze der Länder ............................................ 177 (c) Wirkung des Arbeitszeitgesetzes und der Sonn- und Feiertagsgesetze.............................................................................................. 178 (d) Tarif- oder Betriebsvereinbarungen.................................................. 179 (e) Betriebsverfassungsgesetz ................................................................ 180
Inhaltsverzeichnis
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(f) Selbstregulierung der Wirtschaft ohne Legislativakt......................... 181 (g) Zwischenergebnis ............................................................................. 182 (2) Kollektive Arbeitsruhe.......................................................................... 183 (a) Mehr Sonntagsarbeit durch Möglichkeit der Öffnung ...................... 183 (b) Verletzung des Kernbereichs............................................................ 185 (c) Soziales Zusammenleben und kollektive Arbeitsruhe ...................... 186 (d) Zwischenergebnis ............................................................................. 188 bb) Auswirkungen auf Möglichkeiten seelischer Erhebung............................ 188 (1) Mehr Lärm und Verkehr als Folge der Sonntagsöffnung...................... 189 (2) Einengung des Raums und der Zeit für seelische Erhebung ................. 190 (3) Seelische Erhebung als besondere Form der Freizeitgestaltung............ 190 (4) Aktuelle Tendenz eines abnehmenden Sonntagsschutzes ..................... 192 cc) Ladenöffnung als typisch werktägliches Phänomen?................................ 194 b) Ergebnis für Art. 139 WRV ............................................................................ 196 c) Stellungnahmen der Literatur.......................................................................... 197 II. Vereinbarkeit mit Gesundheitsschutz, Art. 2 Abs. 2 GG ......................................... 199 III. Teilweise Sonntagsöffnung bei völliger Freigabe an Werktagen............................ 200 IV. Höchstzahl der verkaufsoffenen Sonntage pro Jahr................................................ 201 V. Freigabe an Adventssonntagen verfassungsgemäß? ................................................ 202 VI. Ergebnis ................................................................................................................. 205
3. Teil Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
207
1. Kapitel Zuständigkeit des Bundes bis 2006
208
I. Einigkeit über konkurrierende Bundeskompetenz bis 2004 ...................................... 208 II. Wende mit BVerfG-Urteil von 2004 - Kritik........................................................... 209 1. Gleichwertige Lebensverhältnisse bei nationalem Ladenschluß ............................ 211 2. Wahrung der Wirtschaftseinheit............................................................................. 213 3. Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung ............................................. 214 4. Ergebnis ................................................................................................................. 217 III. Rechtsfolgen nach Art. 125 a Abs. 2 GG................................................................ 217 1. Keine Verpflichtung des Bundes zur Freigabe....................................................... 218 2. Abschaffung des Sonntagsladenschlusses als Neukonzeption ............................... 220 IV. Ergebnis ................................................................................................................. 220
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Inhaltsverzeichnis 2. Kapitel Neuregelung der Gesetzgebungszuständigkeit 2006
221
I. Entwicklung und Beratungen der Grundgesetzänderung .......................................... 222 1. Politische Beratungen zum Ladenschluß bis Ende 2004 ...................................... 223 2. Vom politischen Konsens bis zur Gesetzesverkündung ....................................... 228 II. Ladenschluß als neuer Verfassungsbegriff............................................................... 230 1. Bedeutung des Begriffs ........................................................................................ 232 2. Historisch-genetische Auslegung ......................................................................... 233 a) Entstehung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG neue Fassung ................................. 233 aa) Beratungen der Föderalismuskommission zum Ladenschluß 2004 ........... 234 bb) Beratungen in Bundesrat und Bundestag 2006.......................................... 236 b) Anknüpfung an den einfachgesetzlichen Normbestand ................................... 238 3. Abgrenzung zu Arbeitsrecht und Arbeitszeitrecht................................................ 239 4. Ergebnis ............................................................................................................... 241 3. Kapitel Umfang neuer Länder- und fortgeltender Bundeskompetenz
242
I. Ladenöffnung ............................................................................................................ 242 1. Kompetenz der Länder ......................................................................................... 242 2. Kompetenz des Bundes ........................................................................................ 242 II. Kernproblem: Arbeitszeitvorschriften...................................................................... 244 1. Tritt § 17 BLadSchlG gem. Art. 125 a Abs. 1 GG außer Kraft? .......................... 244 2. Verfassungsrechtliche Grundlage der Fortgeltung des § 17 BLadSchlG ............. 248 3. Sperrwirkung für die Länder durch § 17 BLadSchlG........................................... 250 a) Entstehungsgeschichte ..................................................................................... 251 b) Absätze ohne ausdrücklichen Verweis auf BLadSchlG................................... 252 c) Absätze mit ausdrücklichem Verweis auf BLadSchlG .................................... 252 4. Geltung des Arbeitszeitgesetzes für Verkaufspersonal ........................................ 255 a) BLadSchlG keine abschließende Regelung für Arbeitnehmer......................... 256 b) Ineinandergreifen von Ladenschluß- und Arbeitszeitgesetz seit 1994............. 257 aa) § 17 BLadSchlG als Ausschnitt des Arbeitsschutzes................................. 257 bb) Regelungszweck des Arbeitszeitgesetzes.................................................. 259 cc) Entstehung des Arbeitszeitgesetzes ........................................................... 259 c) Gesamtwürdigung und Ergebnis...................................................................... 261 d) Folgen der Anwendbarkeit des Arbeitszeitgesetzes für Arbeitnehmer ............ 263 aa) Beschäftigungsrecht an bis zu zehn Sonntagen nach ArbZG..................... 263 bb) Ergebnis und Auffangnormen im Arbeitszeitgesetz.................................. 266
Inhaltsverzeichnis
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e) Ergebnis........................................................................................................... 267 5. Keine Kompetenz als Annex oder aus Sachzusammenhang ................................ 267 6. Konsequenzen für den Bundesgesetzgeber .......................................................... 269 a) Arbeitszeitregelungen ...................................................................................... 270 b) Ergebnis........................................................................................................... 273 7. Maßgaben und Grenzen für Landesgesetzgeber................................................... 273 III. Kompetenz für Ordnungswidrigkeiten und Straftatbestände .................................. 274 IV. Gesamtbewertung der GG-Änderung ..................................................................... 275 4. Kapitel Problematischer Vollzug des Bundesladenschlußgesetzes
276
I. Rechtsverordnungen der Länder nach § 10 und § 14 BLadSchlG............................. 277 1. „Erfinden“ von Festen für verkaufsoffene Sonntage............................................ 278 2. Möglichkeiten der Abhilfe durch den Bund ......................................................... 280 II. Ausnahmen im Einzelfall nach § 23 BLadSchlG..................................................... 281 1. Bäder- und Fremdenverkehrsregelung in Mecklenburg-Vorpommern................. 281 2. Ladenöffnung nach Elbe-Hochwasser 2002......................................................... 284 3. Beurteilung der Verwaltungspraxis...................................................................... 286 4. Möglichkeiten des effektiveren Vollzuges ........................................................... 287 III. Tankstellen und Bahnhöfe als Einkaufsmärkte....................................................... 288 1. Praktische Anwendung......................................................................................... 288 2. Möglichkeiten des effektiveren Vollzuges ........................................................... 291 IV. Ergebnis ................................................................................................................. 292
4. Teil Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
294
1. Kapitel Aus Verfassungsrecht
294
I. Subjektives Recht aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV ..................................... 294 1. Kriterien zur Bestimmung eines subjektiven Verfassungsrechts.......................... 295 a) Verfassungsbeschwerde als Maßstab? ............................................................. 295 b) Eindimensionale Ansätze ................................................................................ 296 aa) Effektivitätskriterium................................................................................. 297 bb) Grundrechtsnähe ....................................................................................... 297 cc) Individualbezug ......................................................................................... 298 c) Schutznormtheorie........................................................................................... 299
18
Inhaltsverzeichnis d) Maßgebliche Kriterien..................................................................................... 300 2. Anwendung auf Art. 139 WRV............................................................................ 301 a) Schutzauftrag des Staates................................................................................. 301 b) Schutzzweck.................................................................................................... 302 aa) Wortlaut..................................................................................................... 302 bb) Historisch-genetische Auslegung .............................................................. 303 (1) Entstehungsgeschichte........................................................................... 303 (2) Historische Auslegung........................................................................... 305 cc) Teleologische Auslegung........................................................................... 307 (1) Arbeitsruhe ............................................................................................ 308 (a) Individuelle Arbeitsruhe.................................................................... 308 (b) Kollektive Arbeitsruhe ...................................................................... 309 (2) Seelische Erhebung ............................................................................... 310 (3) Verhältnis zwischen Arbeitsruhe und seelischer Erhebung ................... 312 (4) Ergebnis................................................................................................. 312 dd) Systematik................................................................................................. 313 (1) Stellung im Grundgesetz ....................................................................... 313 (2) Grundrechtsnähe.................................................................................... 314 (3) Einpassung in Gesamtkonzeption des Grundgesetzes ........................... 316 (4) Einfachgesetzliche Regelungen ............................................................. 318 ee) Bloße Reflexwirkung? ............................................................................... 319 c) Bestimmbarkeit des Rechtsträgers ................................................................... 320 3. Ergebnis ............................................................................................................... 322 4. Inhaber des Rechts ............................................................................................... 324 5. Inhalt des Rechts .................................................................................................. 327 a) Anspruch auf Abwehr staatlicher Eingriffe ..................................................... 327 aa) Randbereich............................................................................................... 329 bb) Kernbereich............................................................................................... 329 cc) Ergebnis..................................................................................................... 330 b) Anspruch auf staatliche Leistung..................................................................... 330 c) Organisations- und verfahrensrechtliche Sicherungen..................................... 332 d) Anspruch auf effektive Ausgestaltung und auf Schutz vor Eingriffen Dritter . 333 aa) Effektive Ausgestaltung............................................................................. 333 bb) Schutz vor Gefahren durch Dritte ............................................................. 334 cc) Drittwirkung des Art. 139 WRV zwischen Privaten.................................. 335 6. Auswirkung auf Ladenöffnung an Sonn- und Feiertagen..................................... 336 a) Berechtigung bei völliger Abschaffung des Sonntagsladenschlusses .............. 336 b) Klagemöglichkeit gegen gesetzeswidrige Ladenöffnung ................................ 337
Inhaltsverzeichnis
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aa) Verstoß durch die Exekutive...................................................................... 338 bb) Verstoß durch Ladeninhaber ..................................................................... 339 II. Sonstige Grundlagen subjektiver Rechte ................................................................. 339 1. Religionsfreiheit, Art. 4 GG ................................................................................. 340 2. Handlungsfreiheit und Recht auf körperliche Unversehrtheit, Art. 2 GG ............ 340 3. Verfassungen der Bundesländer ........................................................................... 342 2. Kapitel Aus einfach-gesetzlichen Vorschriften
344
I. Ladenschlußgesetz .................................................................................................... 344 1. Arbeitnehmer ....................................................................................................... 344 2. Gewerbetreibende und Konkurrentenschutz......................................................... 346 3. Nachbarn von Läden ............................................................................................ 350 4. Religionsgemeinschaften ..................................................................................... 350 5. Gewerkschaften.................................................................................................... 353 II. Arbeitszeitgesetz...................................................................................................... 353 III. Sonn- und Feiertagsgesetze der Länder .................................................................. 355 1. Arbeits- und Handlungsverbote zum Schutz der äußeren Ruhe ........................... 355 2. Schutz der Gottesdienste ...................................................................................... 357 IV. Staatskirchenverträge und Konkordate................................................................... 358 1. Unus pro multis: Mecklenburg-Vorpommern ...................................................... 359 2. Überblick über die sonstigen Staatskirchenverträge............................................. 362 IV. Ergebnis ................................................................................................................. 363
5. Teil Europarecht
365
1. Kapitel Vereinbarkeit des Sonntagsladenschlusses mit dem EG-Vertrag
365
I. Warenverkehrsfreiheit............................................................................................... 365 1. Anwendungsbereich - Beurteilung seit dem Keck-Urteil..................................... 366 a) Anforderungen des Keck-Urteils ..................................................................... 366 b) Entscheidungen zu Sonntagsverkauf und Ladenschluß ................................... 368 c) Vereinbarkeit der deutschen Ladenschlußgesetze mit Europarecht ................. 371 d) Stellungnahmen der Literatur und eigene Bewertung...................................... 371 2. Rechtfertigung und Verhältnismäßigkeit - Beurteilung vor Keck-Urteil.............. 374 3. Ergebnis ............................................................................................................... 379
20
Inhaltsverzeichnis
II. Andere europarechtliche Bestimmungen ................................................................. 379 1. Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit ........................................................ 380 2. Wettbewerbsrecht................................................................................................. 380 3. Ergebnis ............................................................................................................... 381 2. Kapitel Relevanz der Arbeitszeitrichtlinie
381
I. Arbeitszeitrichtlinie von 1993 ................................................................................... 381 II. Arbeitszeitrichtlinie von 2003 und ihre Reform....................................................... 383 3. Kapitel Neuerungen durch Änderungsvertrag ab 2009?
383
I. Warenverkehrsfreiheit............................................................................................... 384 II. Keine EU-Kompetenz für Ladenschluß und Sonntagsschutz................................... 384 III. Einführung eines Europafeiertages? ....................................................................... 386 IV. Rechtsverbindlichkeit der EU-Grundrechtscharta .................................................. 387 Zusammenfassung der Ergebnisse ............................................................................ 390 Literaturverzeichnis ................................................................................................... 399 Sachregister................................................................................................................. 415
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Entwicklung der gesetzlich möglichen wöchentlichen Ladenöffnungszeit .................. 123
Tabelle 2: Konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung .................................................... 133
Tabelle 3: Sonntagsgestaltung der Bevölkerung in Deutschland................................................... 137
Tabelle 4: Anzahl der Beschäftigten im Einzelhandel................................................................... 167
Tabelle 5: Umsatz im Einzelhandel............................................................................................... 170
Tabelle 6: Sonntagsarbeit in Deutschland unter allen Erwerbstätigen........................................... 184
Abkürzungsverzeichnis AK-GG ArbZG Bay Bbg Berl BK-GG Brem BW CIC DIW EU-VV FTG GRUR Int. Hamb HdbStKirchR HdbStR Hess iur. can. LadÖffG LadÖffVschG LadSchlG MV Nds NRW RhPf Sa Saar SAnh SFG SH Thür VjSozWirtG ZEE ZevKR ZHR ZUG
Alternativkommentar zum Grundgesetz, Hrsg.: Denninger Arbeitszeitgesetz Bayern Brandenburg Berlin Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Hrsg.: Dolzer u.a. Bremen Baden-Württemberg Codex Iuris Canonici (Gesetzbuch röm.-katholische Kirche) Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung EU-Verfassungsvertrag Feiertagsgesetz Internationaler Teil der Zeitschrift der Deutschen Vereinigung für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht Hamburg Handbuch des Staatskirchenrechts, Hrsg.: Listl / Pirson Handbuch des Staatsrechts, Hrsg.: Isensee / Kirchhof Hessen iuris canonici (lat. für „des kanonischen Rechts“) Ladenöffnungsgesetz Ladenöffnungsvorschaltgesetz Ladenschlußgesetz Mecklenburg-Vorpommern Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz Sachsen Saarland Sachsen-Anhalt Sonn- und Feiertagsgesetz Schleswig-Holstein Thüringen Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Zeitschrift für Evangelische Ethik Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Unternehmensgeschichte
Einleitung Der Sonntag ist in unserem Kulturkreis seit etwa 1500 Jahren der besondere, aus dem Alltagsrhythmus hervorgehobene Wochentag. Seinen Ursprung findet er im Christentum. Er hat über die Theologie hinaus auch Dichter und Literaten wie Johann Wolfgang von Goethe, Joseph von Eichendorff, Theodor Fontane oder Erich Kästner inspiriert.1 Auf viele Lebensbereiche strahlt der Sonntag aus, das positive Recht zählt zu ihnen. Besondere Bestimmungen zu Sonntagen finden sich etwa in den gesetzlichen Regelungen zur Arbeitszeit und zum Straßenverkehr, in den Sonn- und Feiertagsgesetzen der Länder, im Ladenschlußgesetz des Bundes sowie seit Ende 2006 in den zahlreichen Ladenöffnungsgesetzen der Bundesländer. Im Zeitpunkt der Drucklegung hatten außer Bayern alle anderen 15 Länder von ihrer Gesetzgebungskompetenz für das „Recht des Ladenschlusses“ Gebrauch gemacht. Diese Zuständigkeit kommt ihnen seit dem Inkrafttreten der Grundgesetzänderung („Föderalismusreform I“) am 1. September 2006 zu.2 Damit hat sich eine neue Dynamik an Rechtssetzung entwickelt, die in den letzten 50 Jahren seit der Verabschiedung des Ladenschlußgesetzes auf Bundesebene im Jahr 1956 ihresgleichen sucht. Viele Länder haben den Ladenschluß an Werktagen völlig abgeschafft und - im Vergleich zu den bisherigen bundesgesetzlichen Regelungen - Änderungen beim Sonntagsladenschluß vorgenommen. Das Bundesladenschlußgesetz ist seit seinem Inkrafttreten regelmäßig Gegenstand intensiver politischer und rechtlicher Diskussionen gewesen. Kritiker meinten, es löse international „Kopfschütteln“ aus,3 während Befürworter hervorhoben, daß es durch den Ausgleich widerstreitender Interessen der sozialen Befriedung diene.4 Da der Gesetzgeber die Öffnungszeiten an Abenden und Samstagen 1996 und 2003 einheitlich bis 20 Uhr verlängerte und zahlreiche Länder den werk___________ 1
Vgl. zu einigen Gedichten, in denen die genannten Autoren den Sonntag in den Mittelpunkt stellen, Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 222, sowie Häberle, Sonntag, 1988, S. 59 in Fn. 160 ff. 2 G. zur Änderung des Grundgesetzes v. 28. August 2006, BGBl. I 2006, S. 2034. 3 Hufen, JuS 2000, S. 197. 4 Vgl. dazu Campenhausen, Gutachten für BVerfG-Verfahren, 2003, S. 7 (unveröff.); Zmarzlik / Roggendorf, Ladenschlußgesetz, 1997, Einf. Rnr. 16.
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Einleitung
täglichen Ladenschluß nunmehr ganz aufgehoben haben, wird sich die Diskussion - wie in den letzten Jahren schon absehbar - vor allem auf das Verkaufsverbot an Sonn- und Feiertagen konzentrieren. Die intensive Debatte findet ihren Grund einerseits in der Tatsache, daß fast alle Rechtsanwender den praktischen Auswirkungen des Ladenschlusses beinahe täglich begegnen. Ladenöffnungszeiten stellen einen Faktor persönlicher Zeiteinteilung dar, zumindest wenn es um die Versorgung mit Lebensmitteln geht. Die Bedeutung der Ladenschlußregelungen belegt andererseits aber auch die volkswirtschaftliche Relevanz des Einzelhandels: Er erwirtschaftete im Jahr 2003 einen Umsatz in Höhe von 321 Mrd. €; gegenwärtig sind etwa 2,5 Mio. Menschen in ihm beschäftigt, was 6,9 % aller Erwerbstätigen entspricht.5 Schließlich berührt der Ladenschluß an Sonn- und Feiertagen verschiedene Interessen der Unternehmer, der Verbraucher, der Arbeitnehmer und Gewerkschaften sowie der Kirchen und religiös orientierter Menschen. Die Diskussion um den Sonntagsladenschluß erreichte im Sommer 1999 einen Höhepunkt, als in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt zahlreiche Ladeninhaber teils mit fragwürdiger behördlicher Genehmigung, teils ohne eine solche sonntags öffneten. Das juristische Echo ließ nicht lange auf sich warten, wie Urteile der ordentlichen Gerichte und der Verwaltungsgerichte in erster und zweiter Instanz zeigten.6 Ein Fall der Sonntagsöffnung von 1999 lag auch dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Juni 2004 zugrunde, das über die verfassungsrechtliche Lage des Ladenschlusses im allgemeinen und des Sonntagsladenschlusses im besonderen entschied.7 Erste Auseinandersetzungen mit dem Urteil in Aufsätzen folgten.8 Schließlich hat die erwähnte Übertragung der Gesetzgebungskompetenz im Jahr 2006 einen ersten Widerhall in Zeitschriften gefunden.9 Erste Gerichtsverfahren, die sich
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Statistisches Bundesamt, Jahrbuch 2004, S. 431. OVG Magdeburg NJW 1999, S. 2982 sowie S. 2985; OVG Greifswald, DVBl. 2000, S. 1072; VG Berlin NJW 1999, S. 2988; VG Schwerin, NVwZ 2001, S. 708; KG Berlin GewArch 2002, S. 207. 7 BVerfGE 111, 10. 8 Rozek, AuR 2005, S. 169; Fuchs, NVwZ 2005, S. 1026; Poschmann, NVwZ 2004, S. 1318; Lindner, NJW 2005, S. 399; Ruess, WRP 2004, S. 1324; vgl. auch die Besprechung von Sachs, JuS 2004, S. 907; die Diskussion im Sommer 1999 behandeln Rozek, NJW 1999, S. 2921, und Heckmann, JZ 1999, S. 1143. 9 Försterling, ZG 2007, S. 36; Kämmerer / Thüsing, GewArch 2006, S. 266; Kingreen / Pieroth, NVwZ 2006, S. 1221; Kühling, AuR 2006, S. 386; Kühn, AuR 2006, S. 418; Tegebauer, GewArch 2007, S. 49; Unruh, ZevKR 2007, S. 1; auch Schönleiter, GewArch 2006, S. 371. 6
Einleitung
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gegen die neuen Länderregelungen richten, sind seit Januar 2007 in Berlin anhängig.10 Das vorliegende Thema bildet eine Schnittmenge zweier intensiv erforschter Rechtsgebiete, des Ladenschlußrechts und des Rechts der Sonn- und Feiertage. Wie sich schon an der Zahl der Dissertationen ablesen läßt, eröffnen Sonn- und Feiertage als zeitliche Kategorie des Lebens ein weiteres Feld an Rechtsgebieten11 als das Ladenschlußrecht.12 Hinzu kommt, daß die Nationalversammlung 1919 den Sonn- und Feiertagsschutz in Art. 139 der Weimarer Reichsverfassung verankerte. Diese Bestimmung gilt durch Art. 140 GG bis heute fort und bietet somit seit über 85 Jahren Stoff für juristische Exegese. Eine umfassende wissenschaftliche Bearbeitung des Spannungsverhältnisses zwischen Sonntagsschutz und Ladenschluß fehlt aber bislang. Diese Lücke soll durch die vorliegende Arbeit geschlossen werden. Da Sonntage und Feiertage im Ladenschlußgesetz gleich behandelt werden, bezieht die Arbeit beide Arten dieser hervorgehobenen Tage ein. Ladenschluß sowie Sonn- und Feiertage sind nicht nur Objekt der Rechtswissenschaft, sondern sie weisen auch unterschiedliche Bezüge zu anderen Wissenschaftsgebieten auf. Die Ladenöffnung im Einzelhandel beschäftigt die Wirtschaftswissenschaften,13 während Sonn- und Feiertage auch Gegenstand der Theologie, der Geschichte, der Kulturwissenschaft und der Soziologie sind. ___________ 10
Vgl. zu Klagen zweier Arbeitnehmer gegen die Berliner Ladenschlußregelung Der Tagesspiegel v. 24. Januar 2007, S.12. Zur geplanten gemeinsamen Klage der christlichen Kirchen gegen das Berliner Ladenöffnungsgesetz vgl. FAZ v. 13. Juni 2007, S. 4. 11 Vgl. zu den Dissertationen zum Sonn- und Feiertagsrecht seit 1919 zum Beispiel: Butenuth, Entwicklung und heutige Regelung des wöchentlichen Ruhetags, 1920; Rubin, Rechtsschutz der Sonntagsheiligung nach deutschem Reichsrecht, 1921; Steger, Rechtsschutz der Sonntagsheiligung nach preußischem und nach Reichsrecht 1922; Naß, Recht der Feiertagsheiligung, 1929; Plate, Sonntagsruhe im Handelsgewerbe, 1929; Burtscheidt, Sonn- und Feiertagsschutz, 1932; Feller, Kirchliches und staatliches Recht der Sonn- und Feiertage, 1952; Dirksen, Feiertagsrecht, 1961; Solveen, Rechtliche Grundlagen der Sonn- und Feiertagsarbeit in der Eisen- und Stahlindustrie, 1962; Mattner, Sonn- und Feiertagsrecht, 1991; Martens, Feiertagliches Arbeitsverbot und Wirtschaftsverwaltung, 1995; Schnieders, Sonntagsarbeit nach dem Arbeitszeitgesetz, 1996; Krämer, Industrialisierung und Feiertage, 1999; Grube, Sonntag und kirchliche Feiertage, 2003; Westphal, Garantie der Sonn- und Feiertage als Grundlage subjektiver Rechte, 2003; Stollmann, Sonn- und Feiertagschutz, 2004; Heinemann, Grundgesetzliche Vorgaben bei Anerkennung von Feiertagen, 2004. 12 Das Ladenschlußrecht ist z. B. Gegenstand folgender Dissertationen: Schunder, Ladenschlußgesetz, 1994; Schalle, Sonntagsverkaufsverbot in England und Wales, 1995; Schädler, Verfassungsrechtliche Beurteilung des Ladenschlußgesetzes, 1995; Rühling, Entstehung Ladenschlußgesetz, 2004. 13 Vgl. zu wirtschaftswissenschaftlichen Dissertationen etwa George, Ladenschlußgesetz auf dem Prüfstand, Beschäftigungseffekte einer Flexibilisierung der Ladenöffnungszeiten, 1996; Weil, Ökonomische Begründung und Auswirkung von Beschränkungen der Ladenöffnungszeiten, 2003.
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Einleitung
Soweit Erkenntnisse aus diesen Disziplinen für die juristische Argumentation bedeutsam und dem Juristen erschließbar sind, werden sie herangezogen. In diesem Sinne versucht die Arbeit die verschiedenen Gesichtspunkte zusammenzutragen, die zur juristischen Entscheidungsfindung in Fragen des Sonntagsschutzes und der Ladenöffnung beitragen. Sie orientiert sich somit an der Topik von Theodor Viehweg.14 Die zu entwickelnden Aspekte (topoi) zu wägen, ist Aufgabe des unter Entscheidungsdrucks stehenden praktizierenden Juristen. Auch ein Rechtswissenschaftler kann sich dem nicht entziehen. Im folgenden sollen nicht die einzelnen Bestimmungen des Ladenschlußrechts, die Sonn- und Feiertage betreffen, detailliert untersucht werden. Dies haben die Kommentare zum Ladenschlußgesetz des Bundes in der Vergangenheit bereits geleistet,15 künftigen bleibt dies für die Landesladenschlußgesetze vorbehalten. Vielmehr geht es darum, den verfassungs- und europarechtlichen Rahmen abzustecken, in dem sich das geltende und das künftige Recht des Sonntagsladenschlusses zu halten hat. Diese Vorgaben sind nunmehr insbesondere für die Bundesländer von Bedeutung. Das bisherige und aktuelle BundLänder-Verhältnis und die Rechtsschutzmöglichkeiten finden ebenfalls Berücksichtigung. Die Untersuchung erfolgt in fünf Schritten: 1. Zunächst werden die historischen Grundlagen des Sonntagsschutzes und des Handels an diesen Tagen näher beleuchtet, damit sich das heutige Recht besser verstehen läßt. Daran schließt sich eine Zusammenfassung der Normen an, die in der DDR zum Ladenschluß und zu Sonntagen galten. Ein Überblick über das zur Zeit zumindest in einem Bundesland fortgeltende Bundesladenschlußgesetz, die Ladenöffnungsgesetze der Länder, das für Sonntagsarbeit relevante Arbeitszeitgesetz sowie die Sonn- und Feiertagsgesetze der Länder rundet den ersten Teil ab. 2. Anschließend steht das materielle Verfassungsrecht im Mittelpunkt. Die besondere Stellung des Sonntags im Verfassungsgefüge ist nur mit einer Einführung in Wirkung und Reichweite des Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV verständlich, der Sonn- und Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich schützt. Die Prüfung, ob der geltende Sonntagsladenschluß mit den Grundrechten der Ladeninhaber, der Verbraucher und der Arbeitnehmer vereinbar ist, wird Anlaß sein, die erwähnte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Ladenschluß zu untersuchen und sie kritisch zu würdigen.
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Vgl. Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 1974. Vgl. etwa Anzinger, Ladenschlußrecht, 1996; Stober, Ladenschlußgesetz, 2000; Theis, Ladenschlußgesetz, 1991; Zmarzlik / Roggendorf, Ladenschlußgesetz, 1997. 15
Einleitung
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Durch die Kompetenzübertragung auf die Länder besonders wichtig ist die Frage, ob eine völlige oder teilweise Abschaffung des Ladenschlusses an Sonnund Feiertagen gegen Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV verstoßen würde. 3. Das Bund-Länder-Verhältnis bietet zwei zentrale Dimensionen: Im Vordergrund steht die Reichweite der neuen Gesetzgebungskompetenz der Länder für das Recht des Ladenschlusses. Gerade die Abgrenzung zur konkurrierenden Kompetenz des Bundes für das Arbeits- und das Arbeitszeitrecht hat die Frage aufgeworfen, wer Normen über die Arbeitszeit von Verkaufspersonal schaffen darf. Anders ausgedrückt geht es in diesem Punkt um die Verfassungsmäßigkeit arbeitszeitrechtlicher Regelungen in den Ladenöffnungsgesetzen der Länder. Darüber hinaus wirft die Art und Weise, in der einige Länder die Ausnahmeregelungen des Ladenschlußgesetzes des Bundes vollzogen haben, Fragen auf: Großzügige Fremdenverkehrsregelungen, eigens geschaffene Einkaufsfeste, Tankstellen als kleine Supermärkte und Bahnhöfe als große Einkaufszentren lassen sich immer häufiger beobachten und bieten sonntags eine wachsende Zahl von Einkaufsmöglichkeiten. 4. Bei der gerichtlichen Auseinandersetzung um möglicherweise rechtswidrige Sonntagsöffnungen in Mecklenburg-Vorpommern ist die Frage virulent geworden, ob Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV ein subjektives Recht verleiht. Dieses Problem soll auch bei einfach-gesetzlichen Normen und Staatskirchenverträgen analysiert werden. 5. Den Abschluß bildet das Europarecht, an dem der deutsche Ladenschluß an Sonn- und Feiertagen zu messen ist. Die potentiellen Auswirkungen einer geänderten vertraglichen Grundlage der Europäischen Union ab dem Jahr 2009 werden ebenfalls dargestellt, auch wenn seit dem Europäischen Rat vom 21./22. Juni 2007 feststeht, daß es sich nicht um den ursprünglich unterzeichneten „Vertrag über eine Verfassung für Europa“, sondern um einen weniger ambitionierten Änderungsvertrag handeln wird.
1. Teil
Geschichte und Grundlagen 1. Kapitel
Geschichte des Sonntags und des Handels an diesem Tag Die aus dem Alltag hervorgehobene Stellung der Sonn- und Feiertage reicht weit in die Geschichte zurück. Vieles von dem, was auch heute diese Tage in unserem Rechts- und Kulturkreis prägt, hat tiefe Wurzeln. Im folgenden soll der Schwerpunkt auf der Geschichte eines periodisch wiederkehrenden Ruhetages liegen. Feiertage und Feste werden ebenfalls behandelt; allerdings sind ihre weltlichen und religiösen Hintergründe und die Art, wie sie begangen wurden, so vielfältig, daß der Charakter eines Überblicks vorherrscht. Schließlich sollen die Bedingungen erhellt werden, die für den Handel an Sonn- und Feiertagen galten.
I. Vorchristliche Epoche Die Geschichte eines regelmäßigen Ruhetages reicht bis in die vorchristliche Zeit zurück. Die alten Kulturvölker kannten bereits eine Rhythmisierung des Lebens. Sie teilten die Zeit in Kategorien ein, die sich teils an den astronomischen Perioden wie Tag, Mondphase, Monat und Jahr, teils an anderen Zeitrhythmen orientierten. Die Buddhisten in Indien begingen etwa den Neu- und Vollmondstag feierlich.1 Im alten Ägypten gab es die Tradition, an gewissen wiederkehrenden Tagen Kulthandlungen vorzunehmen. Besonders hervorgehoben waren der Neujahrstag und der erste Tag eines Monats, also der Beginn neuer, durch Mondund Sonnenlauf bedingter Zeitabschnitte. In Griechenland bestimmten die Feste zu Ehren der Götter den Rhythmus des Daseins in der Polis. Es oblag den einzelnen Städten, den eigenen Kultkalender festzulegen. In Athen etwa waren um das 5. Jahrhundert v. Chr. einzelne Festtage über das ganze Jahr verteilt. Zu diesen traten noch der erste, zweite, ___________ 1
Braun, VjSozWirtG 1922, S. 325 (327).
1. Kapitel: Geschichte des Sonntags und des Handels an diesem Tag
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dritte, vierte, sechste und achte Tag eines Monats als wiederkehrende Feste hinzu. Die Gesamtzahl belief sich auf rund 120 Festtage pro Jahr.2 Das bedeutendste Fest feierte man am 28. Hekatombaion zu Ehren der Stadtherrin Athenae.3 In Babylon teilte man schon im 3. Jahrtausend v. Chr. den Monat unter Bezugnahme auf die Zahl Sieben ein. Der 7., 14., 19. - als der 49.Tag4 des vorhergehenden Monats -, der 21. und der 28. Tag eines Monats waren Ruhetage. Das Gebot galt in unterschiedlicher Weise: Hirten sollten kein Opfer erbringen, Ärzte keine Kranken behandeln, der König sollte nicht „Wagen fahren“ und kein Wort als Herrscher sprechen.5 Die Frage, für wen das Gebot der Arbeitsruhe in welchem Ausmaß und aus welchem Grund galt, beschäftigte die Wissenschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert.6 Bereits 1878 vertrat von Ihring die Auffassung, der Tag habe den Fronarbeitern zur Regeneration gedient. Er führt als Begründung den Ursprung des Wortes Sabbat an, das sich vom assyrischen Sabbatu (= Ruhe, Feier) herleitet.7 Schrenk sowie Lohse sind dagegen der Meinung, diese Tage hätten als Unglückstage gegolten, an denen man das Schicksal besser nicht herausfordere und gewisse Tätigkeiten unterlasse. Beide Autoren verweisen darauf, daß zusätzlich zu den Siebenertagen jeweils am 15. Tag eines Monats das Vollmondfest in Arbeitsruhe begangen wurde und dieses schappattu genannte wurde.8 Offen ist, ob diese Ruhetage den Juden - vermittelt durch die babylonische Gefangenschaft - als Vorbild für den Sabbat dienten.9 Zweifel an einem solchen Ursprung mögen in der andersartigen, religiösen Sinngebung im Judentum begründet sein. Die Bedeutung des Sabbats ist im Alten Testament an mehreren Stellen hervorgehoben. Nach christlichem und jüdischem Glauben ruhte Gott nach Vollendung seiner Schöpfungswerke am siebten Tag. Daneben erwähnt das Alte Testament als weiteren Grund für die Sabbatheiligung den Auszug der Israeliten aus dem ägyptischen Exil. Eine erste Verknüpfung zwischen Heiligung und Arbeitsruhe findet sich nach diesem Auszug, als die Israeliten am ___________ 2
Zaidmann / Pantel, Religion der Griechen, 1994, S. 102 f. Hekatombaion war für die Griechen die Zeit im Juni und Juli, vgl. Heutger, Recht auf Sonn- und Feiertage, 1999, S. 17 f, mit Einzelheiten zu ihren Festen. 4 Die besondere Bedeutung der Zahl 49 rührt aus der Tatsache, daß es sich um das Produkt aus Sieben mal Sieben handelt. 5 Lohse, Sabbat, 1964, S. 1 (2). 6 Braun, VjSozWirtG 1922, S. 325 (330). 7 Ihring, Vorgeschichte der Indoeuropäer, 1894, S. 145 bis 147 ff, insb. S. 150; zweifelnd am Motiv der Erholung Burtscheidt, Sonn- und Feiertagsschutz, 1932, S. 3. 8 Lohse, Sabbat, 1964, S. 1 (2); Schrenk, Judaica 2 (1946), S.169 (183). 9 Burtscheidt, Sonn- und Feiertagsschutz, 1932, S. 3; Lohse, Sabbat, 1964, S. 1 (2); Mattner, Sonn- und Feiertagsrecht, 1991, § 2 Rnr. 2; Suthaus, Sonntagsarbeit, 1997, S. 64. 3
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1. Teil: Geschichte und Grundlagen
siebten Tage kein Manna sammeln sollten.10 Unmittelbare Auswirkung auf das Alltagsleben hatte das dritte Gebot, das den Gläubigen aufgibt, den Tag des Herrn zu heiligen.11 Auffallend ist, daß das Sabbatgebot umfassend an die ganze Bevölkerung, Sklaven und Fremde eingeschlossen, gerichtet war.12 Hier offenbart sich ein erster Hinweis auf das Nebeneinander von innerer Einkehr, die dem einzelnen obliegt, und äußerer Ruhe, die im Bereich des öffentlich Wahrnehmbaren durch das Ruhen aller entsteht.13 Die kultisch-gesetzlichen Regelungen für das Verhalten am Sabbat zeichneten sich durch besondere Strenge aus.14 Grundlegend bis heute ist die regelmäßige Wiederkehr des Ruhetages und die Begründung eines Sieben-Tage-Rhythmus.
II. Frühchristliches Zeitalter 1. Entwicklung des christlichen Sonntags In den ersten Jahrhunderten nach Christus trat eine wichtige Veränderung ein: Der Sabbat als der aus der Bibel abgeleitete Ruhetag verlor an Bedeutung, die Christen heiligten mehr und mehr den Sonntag. Ein theologischer Grund dafür ist zum einen in dem Umstand zu sehen, daß Christus nach dem Evangelium am Sonntag, dem ersten Tag der Woche, auferstanden ist.15 Jesu Kritik an den strengen formalen Sabbatvorschriften begünstigte sicher die Verschiebung: „Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat.“16 Für die Betonung des Sonntags als Auferstehungstag spricht, daß die Judenchristen17 sowohl Sabbat als auch christlichen Sonntag feierten18 und kaum das Bedürfnis gehabt haben dürften, sich vom Sabbat abzugrenzen. Jedenfalls ist eine ___________ 10
2. Buch Mose, Exodus, 16, 25 bis 31. 2. Buch Mose, Exodus, 20, 8. 12 2. Buch Mose, Exodus, 20, 10. 13 Die Differenzierung zwischen innerer und äußerer Ruhe liegt heute noch den Sonn- und Feiertagsgesetzen der Länder zu Grunde, die nur die äußere Ruhe schützen. 14 Vgl. zu diesen Vorgaben Lohse, Sabbat, 1964, S. 1; Heubach, Sonn- und Feiertage, in: Ev. Staatslexikon II, 1987, Sp. 3147. 15 Vgl. Guardini, Sonntag, 2000, S. 29 f. 16 Markus 2, 28. 17 Die Judenchristen werden als ursprünglich jüdische Gläubige, die dann zum Christentum übertraten, den Heidenchristen als den Nichtjuden gegenübergestellt. 18 Splett, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 4 (22), spricht von einem „Nebeneinander ...[von] Synagoge und neuer Kirche“; Lohse, Sabbat, 1964, S. 1 (33) zeigt, daß sich die Judenchristen auf Jesus beriefen, um auch den Sabbat zu heiligen; Rordorf, Sabbat und Sonntag in der alten Kirche, 1972, S. XI, betont, daß die Judenchristen auch später an der Sabbatfeier festhielten, und relativiert damit die Bedeutung des Abgrenzungsbedürfnisses der Christen als Motiv. 11
1. Kapitel: Geschichte des Sonntags und des Handels an diesem Tag
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Einsetzung des Sonntags als Gottesdienst- und Ruhetag durch Jesus Christus aus dem Neuen Testament nicht zwingend herleitbar.19 Sabbat und Sonntag waren aber nur für einen Teil der Bewohner des Römischen Reiches von Bedeutung. Bei den Römern selbst existierte ein der Sonne geweihter Tag seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. Es ist aber nichts von einer bestimmten Feier am Sonntag in der nicht-christlichen Antike bekannt.20 Ebensowenig gab es einen periodisch wiederkehrenden Ruhetag.21 Die Vielzahl der Götter zog eine große Zahl an Feiertagen nach sich, an denen Arbeit untersagt war.22 Ein Bedürfnis, zusätzlich einen festen Ruhetag zu haben, entstand nicht.
2. Etymologie als Beleg der antiken Wurzeln In der Spätphase des Römischen Reiches galt die Planetenwoche. Sie umfaßte sieben Tage und verbreitete sich seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. in der hellenistisch-römischen Welt.23 Diese Orientierung an den Planeten ist der Ursprung für die Bezeichnung der Wochentage in vielen Sprachen, insbesondere des germanischen, romanischen und slawischen Kulturkreises.24 So verhält es sich auch mit den Wurzeln des Wortes „Sonntag“. Die Christen nannten den ersten Tag der Woche als Gottesdiensttag den Herrentag. Daher stammt das lateinische dies dominica, aus dem sich in der Folgezeit das italienische domenica, das französische dimanche und das spanische domingo entwickelten. Der Herrentag war mit dem zweiten Tag der spätantiken Planetenwoche identisch. Die Tage wurden orientalischem Vorbild folgend nach den Planeten benannt. Diese wiederum entsprachen den Namen der jeweils zugeordneten Götter wie etwa Mars, Merkur, Venus und Saturn. Der zweite Tag war dem Sonnenkult gewidmet.25 Die Römer nannten ihn daher dies soli (Tag der Sonne). Daher rühren das englische sunday und das deutsche Sonntag. Dies soli findet seinerseits seinen Ursprung im griechischen he-
___________ 19 Vgl. zu Einzelheiten des theologischen Streits um diese Frage am Anfang des 19. Jahrhunderts Heckmann, Arbeitszeit und Sonntagsruhe, 1986, S. 20 f. 20 Rordorf, Lex orandi, 1993, S. 7. 21 Braun, VjSozWirtG 1922, S. 325 (328). 22 Heutger, Recht auf Sonn- und Feiertage, 1999, S. 18 f. 23 Lohse, Sabbat, 1964, S. 1 (29). 24 Rordorf, Lex orandi, 1993, S. 12. 25 Heubach, Sonn- und Feiertage, in: Ev. Staatslexikon II, 1987, Sp. 3147; innerhalb der Planetenwoche ließ der Mitraskult den „Tag der Sonne“ zum ersten Tag der Woche werden, so daß seitdem ein Gleichlauf zwischen der römischen und der jüdischen Woche bestand. Dies änderte aber nichts daran, daß der „Tag der Sonne“ zunächst kein besonders hervorgehobener Ruhetag war.
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1. Teil: Geschichte und Grundlagen
méra helion, das sich auf den Sonnengott Helios bezog. Die Entlehnung des deutschen Wortes aus dem Lateinischen geht ins 4. Jahrhundert zurück.26 Im weiteren Verlauf der Geschichte bildeten die Germanen das althochdeutsche sunnuntag (9. Jahrhundert), mittelhochdeutsch hieß es sunne(n)tac. Im 15. Jahrhundert war Sonnentag geläufig und ein Jahrhundert später bildete sich das heutige Sonntag heraus.27 Die Germanen ahmten die Benennung der einzelnen Tage den Römern nach. Sie wählten ihrerseits eigene Götter, um die einzelnen Wochentage zu bezeichnen.28 Der Ursprung von Feiertag findet sich ebenfalls in der lateinischen Sprache. Feier ist eine Entlehnung aus dem Singular des spätlateinischen feriae (Feiertage, an denen keine Geschäfte getätigt werden, Ruhetage; Singular feria). Aus diesem Begriff leitet sich auch das heutige Ferien her. Althochdeutsch verstand man um 800 unter fira Fest oder Ruhe und unter fir(a)tag(o) einen Feiertag. Im Mittelhochdeutschen hieß Feier vire, viere oder vier und Feiertag vir(e)tac oder viertac.29 Bemerkenswert ist der Zusammenhang zwischen den Aspekten des Feierns und der Ferien.
3. Erstes Sonntagsgesetz von Kaiser Konstantin Die Christen hoben den Sonntag in den ersten beiden Jahrhunderten als Tag für den Gottesdienst aus der Woche besonders hervor. Die Arbeitsruhe als besonderes Charakteristikum des Sonntags ist jedoch für die frühen Christen nicht überliefert.30 Die Verfolgungen in der Frühzeit erklären auch, warum eine Arbeitspause nicht möglich war: Ein Fernbleiben von der Arbeit wäre zu auffällig gewesen. Der Sonntag galt den Christen als Tag der Feier und der Freude, ohne daß ein Zwangscharakter wie beim Sabbat betont wurde.31 Kurz gesagt war der jüdische Sabbat der Tag der Ruhe, der christliche Sonntag dagegen der Tag des Gottesdienstes. Erst die Verbreitung des Christentums und seine Anerkennung als gleichberechtigte Religion im römischen Reich durch Kaiser Konstantin 313 brachte von Staats wegen eine Zäsur: Die Christen versammelten sich zum Gottesdienst nicht mehr in Privathäusern, sondern öffentlich zum cultus publicus. ___________ 26
Kluge, Etymologisches Wörterbuch, 1995, Stichwort „Sonntag“. Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch III, 1989, Stichwort „Sonntag“. 28 Kluge, Etymologisches Wörterbuch, 1995, Stichwort „Dienstag“; vgl. dort bei den jeweiligen Stichwörtern zu den offensichtlich germanischen Wurzeln von Dienstag, Donnerstag und Freitag. 29 Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch I, 1989, Stichwort „Feier“. 30 Heckmann, Arbeitszeit und Sonntagsruhe, 1986, S. 21; Heutger, Recht auf Sonnund Feiertage, 1999, S. 20. 31 Boehmer, Christlicher Sonntag nach Ursprung und Geschichte, 1931, S. 15. 27
1. Kapitel: Geschichte des Sonntags und des Handels an diesem Tag
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Der staatliche Sonntagsschutz erlangte im Jahre 321 eine neue Qualität: Kaiser Konstantin bestimmte per Gesetz den Sonntag zum Tag der Arbeitsruhe. Diese Regelung behandelte Stadt- und Landbevölkerung unterschiedlich. Während Richter und die Stadtbevölkerung ruhen mußten und die Ausübung sämtlicher Gewerbe zu unterbleiben hatte, wurde der Armee zum Schutz des Gottesdienstes lediglich aufgegeben, diesen durch ihre Übungen nicht zu stören.32 Der Landbevölkerung war dagegen die Feldarbeit weiterhin erlaubt. Somit betraf das Gebot der Arbeitsruhe ebensowenig alle Arbeitsbereiche wie alle Einwohner des römischen Reiches. Seine besondere Bedeutung erhielt das Gesetz durch die Aufnahme in den Codex Iustinians. So wurde es zum allgemeinen Rechtsgrundsatz.33 Nach der Erklärung des Christentums zur Staatsreligion im Jahr 380 erließen die Nachfolger Konstantins Gesetze, die einen weitergehenden Schutz des Sonntags in persönlicher und sachlicher Hinsicht vorsahen. Mit Wettkämpfen und Theatervorstellungen wurden 398 und 399 erstmals Vergnügungsveranstaltungen an Sonntagen verboten. Dies diente der äußeren Ruhe, die auch heute durch die Sonn- und Feiertagsgesetze der Bundesländer gewährleistet werden soll. Am Ende des 4. Jahrhunderts wurden Nichtchristen in die Regelung einbezogen. Der Charakter des Sonntags als Tag der Freude und des Festes wird exemplarisch durch ein Gesetz des Kaisers Honorius von 409 unterstrichen: Es sah für Gefangene Erleichterungen wie etwa bessere Nahrung und ein Bad vor.34 Kaiser Leo (457 - 474) untersagte schließlich Knechten in der Landwirtschaft, sonntags zu arbeiten. Bemerkenswert ist, daß die katholische Kirche erst nach dem Sonntagsgesetz Konstantins auf dem Konzil von Laodicea 363 empfahl, sonntags nicht zu arbeiten. Fast 200 Jahre später verbot das Konzil von Orléans 538 die Feldarbeit.35 Die Existenz getrennter Regelungen zur Sonntagsheiligung ist ein Paradigma für das Verhältnis zwischen Staat und Religion zu dieser Zeit. Verstanden die vorchristlichen Kulturen Staat und Religion als unauflösbare Einheit, stellte das Christentum diesen Zusammenhang erstmals in Frage.36 Die Kirche verstand sich aufgrund der frühen Verfolgung und ihres nationenübergreifen-
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Vgl. Schrenk, Judaica (2) 1946, S. 169 (188); detailliert zum Gesetz v. 7. März 321 Richardi, Grenzen industrieller Sonntagsarbeit, 1988, S. 20. Den Wortlaut des Gesetzes zitiert Westphal, Garantie der Sonn- und Feiertage als Grundlage subjektiver Rechte, 2003, S. 36 f. 33 Feller, Sonn- und Feiertage, 1990, S. 13. 34 Boehmer, Christlicher Sonntag nach Ursprung und Geschichte, 1931, S. 17. 35 Vgl. Heckmann, Arbeitszeit und Sonntagsruhe, 1986, S. 23. 36 Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 2006, S. 4.
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1. Teil: Geschichte und Grundlagen
den missionarischen Ansatzes als eigene Größe.37 Sie lehnte es ab, staatliche Gesetze ungeprüft zu übernehmen; statt dessen schuf sie eigenes Recht.38
III. Mittelalter 1. Recht bis zur Jahrtausendwende Mit dem Niedergang des weströmischen Reiches und der Völkerwanderung wuchs der Einfluß der Germanen und Alemannen in Mitteleuropa. Aus der Epoche vor ihrer Christianisierung ist kein Ruhetag überliefert, der in kurzen Abständen regelmäßig wiederkehrte.39 Erste Regelungen traf der germanische König Childbert I. um 554. Sie sahen harte Strafen für einen Verstoß gegen das Verbot der Sonntagsarbeit vor.40 Bei der Art der Strafe wurde nach der Stellung im Gemeinwesen unterschieden: Während ein Sklave sofort mit Prügeln zurechtgewiesen werden sollte, mahnte man den Freien zunächst; erst wenn dieses erfolglos blieb, entzog man ihm ein Drittel des Erbteils oder im schlimmsten Fall sogar seine Freiheit.41 König Gunthram erließ 585 ein Edikt, durch das er zur Sonntagsheiligung verpflichtete.42 In einem alemannischen Gesetz von 630 hält der Begriff der opera servilia, d. h. der knechtlichen Arbeiten, in die Regelungen zum Sonntagsschutz Einzug.43 Seine Bedeutung in der Sonntagsgesetzgebung des Mittelalters erschließt sich, wenn man bedenkt, daß ein großer Teil der Bevölkerung mit dem Beginn des Mittelalters leibeigen wurde und gerade für ihn das Ruhegebot gelten sollte.44 Hervorzuheben für den weiteren Verlauf des Mittelalters ist das Sonntagsgesetz Karls des Großen von 789. Es definierte die opera servilia und unterschied zwischen den Arbeiten, die einerseits Frauen, andererseits Männern untersagt ___________ 37
Vgl. Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 2006, S. 4 f. Vgl. Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 2006, S. 6. 39 Boehmer, Christlicher Sonntag nach Ursprung und Geschichte, 1931, S. 7. 40 Burtscheidt, Sonn- und Feiertagsschutz, 1932, S. 8. 41 Kötzschke, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters, 1924, S. 191, dort auch Fußnote 1. 42 Egler, in: Jürgensmeier, Mainzer Kirchengeschichte I/2, 2000, S. 889 (893). 43 Der Begriff entstammt alttestamentarischen Bestimmungen, vgl. 3. Buch Mose, Levitikus 23, 7, 8, 28, wo der Begriff nach heutiger Übersetzung eher mit „schwerer Arbeit“ wiedergegeben wird. Er ist bis heute in der Diskussion um die Stellung der Sonnund Feiertage gebräuchlich, vgl. Listl, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 44. 44 Richardi, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 117 (122); im katholischen Kirchenrecht waren die „opera servilia“ bis zum Codex Iuris Canonici 1917 (CIC) von Bedeutung, indem can. 1248 vorschrieb, man solle sich knechtlicher Arbeiten enthalten. Erst der neue CIC 1983 berücksichtigt sie nicht mehr. 38
1. Kapitel: Geschichte des Sonntags und des Handels an diesem Tag
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waren. Zudem normierten die Franken hier erstmals positive Verhaltensregeln, die für die Zeit außerhalb des Gottesdienstes galten: Man sollte an Gesprächen über das Seelenheil teilnehmen oder Priester und andere weise und gute Männer aufsuchen.45 Die seit Kaiser Konstantin einsetzende Tendenz, die äußere Ruhe des Sonntags stärker zu betonen und Verstöße gegen dieses Gebot immer strenger zu sanktionieren, belegt, daß sich die Regelungen für den christlichen Sonntag im ersten Jahrtausend denen für den Sabbat annäherten.46 Die Entwicklung, mehr und mehr Tätigkeiten am Sonntag zu verbieten, machte es etwa erforderlich, daß das Konzil von Rom 826 ausdrücklich erlaubte, auch sonntags Verbrecher einzufangen.47 Der Sonntag setzte sich als Hauptruhetag der Woche vereinzelt erst nach langem Kampf durch. Der heidnische Brauch, den Donnerstag besonders zu begehen und ihn mit Arbeitsverboten zu belegen, gründete auf der Verehrung des germanischen Wettergottes Donar. Er hielt sich in einigen Gegenden bis ins 10./11. Jahrhundert,48 im Volksglauben sogar bis ins 17. Jahrhundert hinein. Letzteres bewog etwa den Herzog von Mecklenburg 1684 zum Erlaß eines Dekrets an seine Beamten „zur Ausrottung des Aberglaubens, daß man Donnerstags nicht spinnen dürfe.“49
2. Wirtschaftliche Hintergründe Im Mittelalter versorgte sich der ganz überwiegende Teil der Bevölkerung selbst. Dagegen waren vor allem Kaufleute auf ein wirtschaftliches System angewiesen, das durch Handel ihren Bedarf an lebensnotwendigen Gütern deckte.50 Dazu diente ein wöchentlicher oder gar täglicher Markt. Die Tendenz zur Bedarfsdeckung durch Handel - ein Grundmuster, das heute unser Wirtschaftsleben voll durchdrungen hat - nahm in dem Maße zu, in dem Städte gegründet wurden.51 Sie entwickelten sich zu den Orten, an denen aufgrund herrschaftlicher Privilegien Märkte und Messen stattfanden. Zwischen der Verbreitung der Märkte und periodischer Messen einerseits und den Sonn- und Feiertagen andererseits herrschte ein enger Zusammenhang. Märkte und Messen hielt man vor allem zu den jeweiligen Kirchweihfesten und sonstigen Sonn- und Feiertagen ___________ 45
Heckmann, Arbeitszeit und Sonntagsruhe, 1986, S. 24. Rordorf, Lex orandi, 1993, S. 14. 47 Boehmer, Christlicher Sonntag nach Ursprung und Geschichte, 1931, S. 26. 48 Egler, in: Jürgensmeier, Mainzer Kirchengeschichte I/2, 2000, S. 889 (893). 49 Treutlein, Arbeitsverbot im deutschen Volksglauben, 1932, S. 29. 50 Aubin / Zorn, Wirtschafts- und Sozialgeschichte I, 1971 S. 116. 51 Kellenbenz, Krämer, in: Handwörterbuch Rechtsgeschichte II, 1978, Sp. 1171. 46
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1. Teil: Geschichte und Grundlagen
mit Festgottesdienst ab.52 Da viele Menschen aus dem Umland zum Gottesdienst in die Stadt kamen, erhielten die Anbieter auf der Messe regen Zulauf. Der zu Festgottesdiensten verkündete Gottesfriede bot einen weiteren Vorteil für den Handel: Marktteilnehmer mußten nicht befürchten, Opfer der ansonsten weit verbreiteten Raubüberfälle zu werden.53 Der Begriff der Messe mit seinem weltlichen Sinngehalt (Markt, Jahrmarkt) und seiner religiösen Bedeutung (Gottesdienst) verdeutlicht den engen Zusammenhang.54 Gleiches findet sich auch in anderen mitteleuropäischen Sprachen: Das ungarische Sonntag (vásárnap) enthält das Wort für Markt (vásár). Beispielhaft für die Bedeutung des Sonntags als Markttag ist die Regelung König Konrads III. von 1148: Er verlieh der Stadt Mainz das Privileg, vom neunten bis zum fünften Sonntag vor Ostern Markt abzuhalten.55 Ähnliche Hinweise, die einen Verkauf von Waren an Kirchweihfesten oder Markttagen als üblich und billigenswert erscheinen lassen, finden sich auch Jahrhunderte später.56 Die Sonderregelung in § 14 BLadSchlG, die den Sonntagseinkauf etwa aus Anlaß von Märkten und Messen bei Erlaß einer entsprechenden Rechtsverordnung erlaubt, dürfte hier ihre ältesten Wurzeln finden. Neben den Märkten und Messen entstanden der Wanderhandel und der örtlich fest gebundene Handel als weitere Vertriebswege für Versorgungsgüter. Die ansässigen Händler ließen sich in zwei Kategorien einteilen: Der Krämer verkaufte als eine Art Gemischtwarenhändler Spezereien, Schnitt- und Kurzwaren, während der Höker Lebensmittel vertrieb. Krämer schlossen sich teilweise den allgemeinen Kaufmannsgilden an; teilweise organisierten sie sich in eigenen Zünften, was auf ihrer geringeren Achtung im Vergleich zu anderen Kaufleuten, wie etwa den Fernhändlern, beruhte.57 Erwähnung verdient, daß die Handwerker ihre selbst produzierten Waren ebenfalls in erheblichem Umfang zum Verkauf anboten.58 Zunächst bestand in vielen Städten Marktzwang. Händler waren verpflichtet, ihre Waren ausschließlich auf dem Markt und nicht an anderer Stelle, etwa im Haus des Erzeugers oder des Händlers, anzubieten. Der Marktzwang lockerte ___________ 52
Kulischer, Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit I, 1958, S. 92; Rothmann, Frankfurter Messen im Mittelalter, 1998, S. 29; vgl. auch Kötzschke, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters, 1924, S. 289. 53 Kulischer, Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit I, 1958, S. 91. 54 Kulischer, Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit I, 1958, S. 91; Rothmann, Frankfurter Messen im Mittelalter, 1998, S. 29. 55 Rothmann, Frankfurter Messen im Mittelalter, 1998, S. 37. 56 Eisentraut, Sonn- und Festtage seit dem Mittelalter, 1914, S. 53. 57 Vgl. Loesch, Kölner Kaufmannsgilde im zwölften Jahrhundert, 1904, S. 4; vgl. auch Schricker / Lehmann, Selbstbedienungsgroßhandel, 1987, S. 12. 58 Kötzschke, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters, 1924, S. 590.
1. Kapitel: Geschichte des Sonntags und des Handels an diesem Tag
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sich erst im 13. und 14. Jahrhundert.59 In der Folgezeit verlagerte sich der Schwerpunkt des Handels vom Markt zu den Ladengeschäften.60
3. Rechtliche Entwicklung seit der Salierzeit Die Erforschung des mittelalterlichen Rechts begegnet der Schwierigkeit, daß nur ein Teil des geltenden Rechts schriftlich fixiert wurde. Das „gute alte Recht“ als eine wesentliche Rechtsquelle war Gewohnheitsrecht und zum größten Teil nur mündlich überliefert. Dennoch lassen sich geschriebene Normen zum Sonn- und Feiertagsrecht und zu den Verkaufsmodalitäten finden. Dies ist dem aufgezeichneten Recht in den mittelalterlichen Städten und den drei großen Rechtsbüchern des Hochmittelalters, Sachsen-, Schwaben- und Frankenspiegel, zu verdanken. Der Schwabenspiegel sah in Kap. CCCI bzw. Art. 363 a eine Strafgebühr vor, falls jemand Waren am Sonntag, an den christlichen Hochfesten Ostern, Pfingsten und Weihnachten oder an einem mit Bann versehenen Feiertag anbot.61 Der Warenverkauf der Krämer wurde in bedeutendem Umfang von öffentlich-rechtlichen und genossenschaftlichen Regelungen bestimmt. Dazu gehörte das Verbot, an Sonn- und Feiertagen zu verkaufen.62 Köhler zeigt in seiner Aufzählung von Krämerordnungen, Zunftbriefen und sonstigen Vorschriften die Vielfalt städtischer Regelungen zu Verkaufszeiten: Die Goslarer Krämerordnung von 1281 sah etwa vor, daß Waren an Sonntagen nur aus der „hintersten Tür“ veräußert werden durften, während in Brieg laut der dortigen Krämerordnung von 1318 sonntags ein Verkauf vollständig verboten war.63
4. Feiertage Im Verlauf des Mittelalters erkannte die Kirche immer mehr Feiertage an. Sie wurden als Tage zu Ehren Marias und anderer Heiliger sowie als sogenannte Ideenfeste (etwa Dreifaltigkeits-, Fronleichnams- und Christkönigsfest) begangen. Charakteristisch war die Herausbildung einer regional sehr unter___________ 59
Köhler, Einzelhandel Mittelalter, 1938, S. 103 und 106. Köhler, Einzelhandel Mittelalter, 1938, S. 106. 61 Vgl. zu den Regelungen des Schwabenspiegels Burtscheidt, Sonn- und Feiertagsschutz, 1932, S. 8. 62 Kellenbenz, Krämer, in: Handwörterbuch Rechtsgeschichte II, 1978, Sp. 1171 (1173). 63 Köhler, Einzelhandel Mittelalter, 1938, S. 107 f; Kötzschke, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters, 1924, S. 587, weist ebenfalls auf die Regelung der Sonn- und Feiertagsruhe in den Zunftordnungen des Mittelalters hin. 60
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1. Teil: Geschichte und Grundlagen
schiedlichen Feiertagslandschaft. Die Anzahl der Feiertage mit obligatorischer Arbeitsruhe variierte von Diözese zu Diözese. In einzelnen gab es vom 13. bis zum 16. Jahrhundert mehr als 100 Feiertage.64 Dieser Entwicklung zuträglich war ein Grundsatz, den Papst Gregor IX. 1234 aufstellte. Sein liber extra enthielt zwar ein Verzeichnis von 46 allgemeinen Feiertagen, an denen Gerichtsferien galten.65 Daneben könne es aber „auch noch andere Feste geben, welche nämlich jeder Bischof in seiner Diözese mit der Geistlichkeit und dem Volke feierlich begehen wolle“. Die Feiertage fanden auch wegen ihrer Vielzahl gerade im 14. Jahrhundert in vielen europäischen Staaten immer weniger Beachtung. Der Erzbischof Simon von Canterburry klagte 1332, daß die Wirtshäuser an Feiertagen besser besucht seien als die Kirchen.66 Als ein Element der Entheiligung wurde auch das öffentliche Feilbieten von Waren angesehen.67 Schon im Mittelalter unterschied man zwischen kirchlichen Feiertagen (feriae sacrae) und weltlichen Feiertagen (feriae profanae) wie etwa Erntefeste, Jahrmärkte und Messen. Gemeinsam war ihnen jedoch die aus dem Alltag hervorgehobene Stellung: Öffentliche Arbeiten ruhten, Gerichte nahmen keine „actes iudicales“ vor.68 Es gab im Mittelalter keine staatliche Anerkennung kirchlicher Feiertage, wie sie heute die Feiertagsgesetze der Bundesländer enthalten. Nach dem mittelalterlichen Verständnis intensiver Verschränkung von Reich und Kirche oblag letzterer die Festlegung der Feiertage und besonderer Verhaltensweisen in Form von Ge- und Verboten. Allerdings mußten weltliche Herrscher bei der Durchsetzung der kirchlichen Feiertagsgebote helfen.69
IV. Frühe Neuzeit Da die Heiligung der Sonn- und Feiertage auf dem christlichen Glauben beruht, verwundert es nicht, daß die Reformatoren dem Sonntag einen anderen theologischen Deutungsgehalt gaben. Für Luther stand das Lernen des Wortes Gottes im Vordergrund, das an keinen bestimmten Wochentag gebunden sei. Die besondere Ruhehaltung am Sonntag hielt er für einen formalen Akt, dem ___________ 64 65
Reulecke, Archiv für Sozialgeschichte 16 (1976), S. 205 (209). Zu Einzelheiten vgl. Schiepek, Sonntag und kirchlich gebotene Feiertage, 2003, S.
254. 66
Beide zitiert nach Eisentraut, Sonn- und Festtage seit dem Mittelalter, 1914, S. 16; vgl. dort auf S. 26 ff ausführlich zur Entheiligung der Sonn- und Feiertage in mehreren europäischen Ländern. 67 Eisentraut, Sonn- und Festtage seit dem Mittelalter, 1914, S. 50 ff. 68 Reulecke, Archiv für Sozialgeschichte 16 (1976), S. 205 (209). 69 Neusser, Feiertage, in: Handwörterbuch Rechtsgeschichte I, 1971, S. 1094 (1095).
1. Kapitel: Geschichte des Sonntags und des Handels an diesem Tag
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keine besondere religiöse Bedeutung zukomme. Pragmatische Gründe waren es, die Luther für die Beibehaltung des Sonntags plädieren ließen.70 Die Menschen hätten sich an den Sonntag als Tag der Arbeitsruhe gewöhnt. Zudem sei der Sonntag, befreit von den Überlagerungen der zahlreichen Heiligenfeste, der angemessene Tag, um der Gemeinde die Zusammenkunft zu ermöglichen und Gottesdienst zu feiern.71 Vor diesem theologischen Hintergrund reduzierte die Kirche in den evangelisch gewordenen Gebieten Deutschlands die Zahl der Feiertage deutlich. Dies geschah teils per Kirchenordnung, teils ohne geschriebene Regelung. In katholischen Gegenden behielt man die Anzahl der Feiertage bei, ließ aber an Sonnund Feiertagen deutlich mehr Ausnahmen vom Arbeitsverbot aus wirtschaftlichen Gründen zu.72 Papst Urban VIII. reduzierte 1624 in einer Bulle die Anzahl der gebotenen Feiertage auf lediglich 34. Die Bedeutung dieses Aktes ist mit der erwähnten Zurückhaltung des Staates auf dem Gebiet der Feiertagsgesetzgebung zu erklären. Bemerkenswert in dieser Epoche ist die Einführung von „Halbfeiertagen“. Bis zum Ende des Gottesdienstes herrschte Feiertagsruhe, nach seinem Ende sollten die üblichen Verhältnisse eines Werktages einkehren.73 Im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation zeigte sich im 16. und 17. Jahrhundert insgesamt ein mäßiger Sonn- und Feiertagsschutz, der den Vorstellungen in England an Konsequenz und Prinzipienfestigkeit deutlich nachstand. Dort prägte der strenge Puritanismus das Sonntagsverständnis, das den jüdischen Vorstellungen über den Sabbat ähnelte.74 Jegliche Arbeit war verboten, es sei denn sie geschehe aus Barmherzigkeit oder aufgrund unbedingter Notwendigkeit.75 Aus diesem strengen Verständnis ist die Redewendung vom „englischen Sonntag“ zur Bezeichnung eines Sonntags absoluter öffentlicher Ruhe entstanden.76 ___________ 70 Heckmann, Arbeitszeit und Sonntagsruhe, 1986, S. 27; dort Hinweise zu Calvin auf S. 28 ff. 71 Schnitker, in: Altermatt / ders., Sonntag, 1986, S. 187; vgl. auch Meyer-Blanck, Sonn- und Feiertage, in: Ev. Staatslexikon, 2006, Sp. 2171 f. 72 Suthaus, Sonntagsarbeit, 1997, S. 71; Wischermann, VjSozWirtG 1991, S.6 (10). 73 Feller, Sonn- und Feiertage, 1990, S. 20. 74 Vgl. zur Geschichte des Sonntags in England und den zugrundeliegenden theologischen Vorstellungen Boehmer, Christlicher Sonntag nach Ursprung und Geschichte, 1931, S. 44 ff. 75 Heckmann, Arbeitszeit und Sonntagsruhe, 1986, S. 30. Neben Vergnügungen waren selbst Reisen und Transporte zu unterlassen, vgl. Meyer-Blanck, Sonn- und Feiertage, in: Ev. Staatslexikon, 2006, Sp. 2171. 76 Den Begriff verwendet etwa Ehlers, in: Sachs, GG, 2003, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 1.
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1. Teil: Geschichte und Grundlagen
In Mitteleuropa nahm der bereits erwähnte Wanderhandel als besondere Form des Einzelhandels zu Beginn der Neuzeit einen bedeutenden Aufschwung. Wandernde Händler versorgten die Landbevölkerung mit Textilien, Metallwaren und Genußmitteln wie Tabak und Branntwein.77 Diese Form des Verkaufs ersparte den Bauern den beschwerlichen Gang in die nächstgelegene Ortschaft. Ab dem 16. Jahrhundert erließen staatliche und kirchliche Stellen nachweislich eine Vielzahl von Verordnungen, die den Sonntag betrafen. Sie enthielten zumeist eine Aufzählung der verbotenen „knechtlichen Arbeiten“ und der erlaubten weltlichen Tätigkeiten.78 Die Festlegungen erfolgten in Policeyverordnungen des Reiches oder der einzelnen Länder. Das aktuelle, inzwischen 6 Bände umfassende Repertorium von Härtner / Stolleis enthält eine dreistellige Anzahl von Verweisen auf solche Verordnungen, die sich vor allem mit der Sonntagsarbeit und der Sonn- und Feiertagsheiligung befaßten.79 Die Auswahl von weltlichen und kirchlichen Verordnungen im Werk von Irmischer aus dem Jahr 1840 vermittelt ebenfalls einen guten Eindruck der Fülle an Regelungen, die in dieser Zeit bestand.80 Exemplarisch seien zwei Anordnungen aufgeführt, die bereits auf den hier besonders interessierenden Konflikt zwischen Sonntagseinkauf und -schutz hindeuten. Der Rat der Stadt Nürnberg erließ 1628 ein Dekret, nach dem „unter den Betstunden alle Handthierungen, auch Kaufen und Verkaufen, so wohl am Markt allhie, als anderswo, in- und ausserhalb der Stadt, so viel immer möglich, eingestellt werden sollen.“81 Die Begründung für eine bayerische Verordnung von 1776 beschrieb: „Nachdeme vorkommt, daß an den Sonn- und gebotenen Feiertägen in der Stadt allhier an verschiedenen Orten sogar unter dem Gottesdienst gearbeitet, auch allerhand Gewerb und Handel getrieben werde; so hat der Pol. Rath diese Ungebühr abzustellen...“.82
Beide Auszüge sind symptomatisch für den Einfluß des 30jährigen Krieges. Durch die massive Zerstörung der Städte und die Dezimierung ihrer Bevölkerung waren sie der Grundlage ihrer hervorgehobenen Stellung beraubt. Die Regelung aus Nürnberg illustriert am Ende einer Epoche die bedeutsame Entwick___________ 77
Pfister, VjSozWirtG 2000, S. 38 (41). Wischermann, VjSozWirtG 1991, S. 6 (8). 79 Härtner / Stolleis, Repertorium der Policeyverordnungen der frühen Neuzeit I - VI, 1996 - 2001. 80 Irmischer, Staats- und Kirchenverordnungen über die christliche Sonntagsfeier, zwei Bände, 1839/40. 81 Irmischer, Staats- und Kirchenverordnungen über die christliche Sonntagsfeier II, 1840, S. 86 (88). 82 Irmischer, Staats- und Kirchenverordnungen über die christliche Sonntagsfeier II, 1840, S. 9. 78
1. Kapitel: Geschichte des Sonntags und des Handels an diesem Tag
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lung der Stadtrechte besonders im ausgehenden Mittelalter bis 1648.83 Nach dem Ende des Krieges verloren viele Städte ihre Unabhängigkeit, während die Fürstentümer und sonstigen Territorialstaaten an Einfluß für die Rechtsentwicklung gewannen. Dafür steht die zitierte bayerische Verordnung. Ähnliches läßt sich in Preußen beobachten: War es um 1540 noch der Markgraf Johann von Küstrin, der die Schließung der Stadttore und der Schenken verordnete, erließen später der Große Kurfürst (1640 - 1688) und seine Nachfolger die Verordnungen und Edikte zur Sonntagsruhe. Burtscheidt zeigt mit seiner Aufzählung die kurzen Abstände, die zwischen den Regelungen lagen.84 Dies deutet darauf hin, daß die Sonntagsregelungen nur mangelhaft befolgt wurden, was ständige Neuverordnungen erforderlich machte. Ausgehend von den Lehren der Souveränität des Staates und der Aufklärung begann der Prozeß, in dem die weltliche Macht den Geltungsgrund aller Dominierungsversuche Dritter, also auch kirchliche Herrschaftsausübung, in Frage stellte. In Deutschland hielt der Souveränitätsgedanke seit dem 17. Jahrhundert Einzug, indem das Werk Bodins umfassend Aufnahme fand.85 Einer seiner Kernbestandteile war das Postulat nach einem staatlichen Rechtsetzungsmonopol.86 Dieses stellt ein zentrales Element des nach innen gerichteten Herrschaftsanspruchs des Staates, also der Innenansicht der Souveränität dar.87 Der Staat forderte auch die ausschließliche Kompetenz zur Reglementierung der Sonn- und Feiertage für sich ein, wie das Beispiel des bayerischen Staates belegt, der eine stattliche Zahl arbeitsfreier, kirchlicher Feiertage verbot.88 In den evangelischen Flächenstaaten fielen den Landesherren solche Maßnahmen leichter aufgrund des protestantischen Summepiskopats, also der Stellung des Landesherren als kirchlicher und weltlicher Herrscher in Personalunion.89 Mit kirchlichem Widerstand war also nicht zu rechnen. In Preußen reduzierten die ___________ 83
Vgl. Coing, Rechtsgeschichte, 1967, S. 68. Burtscheidt, Sonn- und Feiertagsschutz, 1932, S. 9: Er führt dort die Jahre 1649, 1676, 1683, 1689, 1690, 1693, 1703, 1705, 1711 und 1718 auf. 85 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts I, 1988, S. 174 ff. 86 Pirson, in: HdbStKirchR I, 1994, S. 3 (4); Jeand’Heur / Korioth, Staatskirchenrecht, 2000, Rnr. 20. 87 Die Innen- ist von der Außenansicht der Souveränität zu unterscheiden, die den Herrschaftsanspruch nach außen gegenüber anderen Territorialstaaten meint. Beide hängen der Sache nach untrennbar zusammen, vgl. Schuppert, Staatswissenschaft, 2003, S. 158. 88 Aubin / Zorn, Wirtschafts- und Sozialgeschichte II, 1976, S. 482. 89 Ein Beispiel für diese Zugleichfunktion des weltlichen Herrschers als „Träger des landesherrlichen Kirchregiments“ bis 1918 etwa in Preußen ist der Erlaß einer evangelischen Gemeinde- und Synodalverwaltung durch Wilhelm I. am 10. September 1873. Der Erlaß wurde bezeichnender Weise in der preußischen Gesetzessammlung veröffentlicht, vgl. PrGS 1873, S. 417. 84
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1. Teil: Geschichte und Grundlagen
Landesherren etwa durch zwei Edikte 1754 und 1773 die Anzahl der Feiertage.90 Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR) beinhaltete mehrere Vorschriften, die sich mit dem Schutz der Sonn- und Feiertage befaßten.91 Es stellte fest, daß es allein dem Staat obliege zu regeln, ob „Handarbeiten und alle bürgerlichen Gewerbe“ an bereits existierenden kirchlichen Festtagen vorgenommen werden dürfen oder nicht.92 Die Notwendigkeit, die Kompetenzen zwischen Staat und Kirche durch diese Normen abzugrenzen, kann als Indiz dafür gewertet werden, welche große Bedeutung kirchliche Vorschriften für die Bevölkerung und deren Rechtsbewußtsein hatten. Genaue Regelungen, welche öffentlich wahrnehmbaren Handlungen verboten waren, enthielt das ALR dagegen nicht. Eine vornehmlich arbeitsrechtliche Vorschrift findet sich in § 358 ALR: „Nur an Sonn- und solchen Festtagen, deren Feyer nach den Gesetzen des Staats verordnet ist, mag er [der Geselle] die Arbeit unterlassen.“
Beschränkungen über den Handel oder die Ausübung eines Gewerbes an Sonntagen enthalten Jahre später vereinzelte preußische Dekrete oder Verfügungen. Insbesondere Wochenmärkte durften nur in bestimmten Gegenden stattfinden. Auch außerhalb Preußens waren Handel und Märkte an Sonn- und Feiertagen Faktoren, die potentiell die Gottesdienste störten. Händler öffneten sonntags ihre Ladengeschäfte oder boten auf Märkten ihre Waren an.93 Die einzelnen Regelungen in den deutschen Kleinstaaten zu Beginn des 19. Jahrhunderts unterschieden sich nachhaltig. Der angemessene Schutz des Sonntags war aber weiterhin Thema, wie etwa die stetig wiederkehrende Befassung der „Kammer der Abgeordneten des Königreichs Bayern“ belegt.94 In Deutschland hatte der Reichsdeputationshauptschluß von 1803 weitreichende Konsequenzen für den Einfluß der Kirchen und geistlichen Fürstentümer. Sie wurden enteignet und ihnen damit die Grundlage ihrer weltlichen Herrschaft entzogen. So war eine weitere Entstehungsvoraussetzung moderner Staatlichkeit geschaffen. Die weltliche Staatsgewalt beansprucht seitdem, prinzipiell allzuständig zu sein und im Rahmen ihrer Verfaßtheit das unbegrenzte Gewaltmonopol zu haben.95
___________ 90
Naß, Recht der Feiertagsheiligung, 1929, S. 12. Etwa im Teil I, Tit. 3 § 48; Teil II Tit. 8 § 870; Teil II Tit. 11 § 34 und § 35 ALR; § 34 ALR sah vor, daß allein der Staat die Kompetenz hat, Festtage festzulegen. 92 § 35 Teil II Tit. 11 ALR. 93 Heckmann, Arbeitszeit und Sonntagsruhe, 1986, S. 38 und 46. 94 Zu weiteren Nachweisen Heckmann, Arbeitszeit und Sonntagsruhe, 1986, S. 37. 95 Heckel, in: Gesammelte Schriften III, 1997, S. 441 (446). 91
1. Kapitel: Geschichte des Sonntags und des Handels an diesem Tag
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V. 19. Jahrhundert Mit der Vor-Industrialisierung ab 1820 und der folgenden Hauptphase der Industrialisierung setzte in Deutschland eine radikale Veränderung der Arbeitsverhältnisse ein, die zur intensivsten und längsten Auseinandersetzung um Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen führte. Während zuvor alle kirchlichen und staatlichen Regelungen aus dem Zweck der religiösen Heiligung der Sonn- und Feiertage erfolgten, gewann nunmehr der soziale Aspekt eines wöchentlichen Ruhetages an Bedeutung.96
1. Grundlegender Wandel der Arbeit und des Handels Die Abschaffung der Leibeigenschaft am Anfang des 19. Jahrhunderts bildete eine wichtige Grundlage für neuartige Beschäftigungsformen.97 Durch die Industrialisierung veränderten sich die Arbeitsbedingungen massiv. Die Arbeitszeit an Werk- wie an Sonntagen nahm stark zu. Dies war zum einen im Übergang zur maschinellen Produktion und zum anderen in der Möglichkeit begründet, durch künstliche Beleuchtung die Tagesarbeitszeit zu verlängern. Viele Fabrikinhaber ließen auch sonntags arbeiten, um möglichst lange Maschinenlaufzeiten zu erzielen.98 Diese Tendenz wurde durch den schnellen technischen Fortschritt und die Herstellung moderner Maschinen verstärkt, da Produktionsmittel rasch veralteten und der Zeitraum für ihre Amortisierung verhältnismäßig kurz war.99 Um konkurrenzfähig zu bleiben, übernahmen Handwerker und Betreiber der Heimindustrie nach und nach die langen Arbeitszeiten und entsprechend die Sonntagsarbeit.100 Wenn auch keine Statistiken über die Anzahl der sonntags Arbeitenden und über den zeitlichen Umfang ihrer Tätigkeit vorliegen, sind sich Wirtschaftshistoriker über die Existenz der weitreichenden Sonntagsarbeit einig.101 Hervorzuheben aus dem Frühstadium der Industrialisierung ist die weit verbreitete Arbeit von Kindern und Jugendlichen. Eine Umkehrung der Entwicklung konnte man flächendeckend erst ab etwa 1850 beobachten, als die Arbeitszeiten und die Kinderarbeit nicht mehr ___________ 96
Naß, Recht der Feiertagsheiligung, 1929, S. 2. In Preußen wurde sie am 9. Oktober 1807 abgeschafft, vgl. Heckmann, Arbeitszeit und Sonntagsruhe, 1986, S. 63. 98 Stemler / Wiegand, in: Wiegand / Zapf, Wandel der Lebensbedingungen, 1982, S. 17 (22). 99 Heckmann, Arbeitszeit und Sonntagsruhe, 1986, S. 46. 100 Heckmann, Arbeitszeit und Sonntagsruhe, 1986, S. 47. 101 Stemler / Wiegand, in: Wiegand / Zapf, Wandel der Lebensbedingungen, 1982, S. 17 (46); Schmoller, Die soziale Frage, 1918, S. 227. 97
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1. Teil: Geschichte und Grundlagen
zunahmen und sich die tägliche Arbeitszeit bis 1870 auf etwa zwölf Stunden reduzierte. Wenn auch das Problem der Sonntagsarbeit vor allem in der Industrie bestand, war auch die sonntägliche Tätigkeit der Händler und Gewerbetreibenden öffentlich wahrnehmbar. Sie verkauften in Läden und auf Märkten außerhalb der Gottesdienstzeiten ihre Waren und Produkte.102 Einzelhändler konnten sich dabei auf eine Reihe von Ausnahmevorschriften stützen.103 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Sonntagsarbeit in den genannten Branchen allgemein üblich. Die zeitgenössischen Beschreibungen der landwirtschaftlichen und industriellen Arbeit liefern regelmäßig Hinweise darauf, daß der Sonntag ein Hauptverkaufstag war.104 Noch bestehende, alte Verbote der Sonntagsarbeit aus religiösen Gründen fanden keine Beachtung mehr.105 Selbst Strafvorschriften konnten massenhafte Beschäftigung nicht verhindern.106 Im 19. Jahrhundert bildete sich die heute übliche Trennung zwischen Einzelund Großhändler heraus. Die Differenzierung entspringt wirtschaftlicher Betrachtung des Vertriebes von Waren in seinen einzelnen Etappen: Produktion Großhandel - Einzelhandel - Konsument.107 Die seit dieser Epoche angewandte Unterscheidung knüpfte an ältere Kategorien an: Ein Kaufmann war in den Jahrhunderten zuvor allein ein Großhändler und hob sich von den bereits erwähnten Krämern und Hökern, die im Kleinen Waren vertrieben, ab.108 Das ALR unterschied ebenfalls zwischen Kaufmännern in § 475 und Krämern, Hausierern, Trödlern und Viktualienhändlern in § 486, denen die Kaufmannsrechte gerade nicht zustanden. Das damalige Handelsrecht betraf also allein den gehobenen Kaufmannsstand.109 Diese rechtliche Herabstufung der Einzelhändler fand sich später auch im Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch von 1861 und 1871 wieder: Art. 10 bestimmte, daß Vorschriften über Firmen, Handelsbücher und Prokura auf Höker, Trödler, Hausierer und ähnliche Handelsleute nicht anzuwenden waren. ___________ 102
Heckmann, Arbeitszeit und Sonntagsruhe, 1986, S. 87. Heckmann, Arbeitszeit und Sonntagsruhe, 1986, S. 87. 104 Heckmann, Arbeitszeit und Sonntagsruhe, 1986, S. 88. 105 Burtscheidt, Sonn- und Feiertagsschutz, 1932, S. 10. 106 § 340 Zif. 8 preußisches Strafgesetzbuch von 1851, Gesetzessammlung für die Königlichen Preußischen Staaten (PrGS) 1851, S. 171. 107 Schricker / Lehmann, Selbstbedienungsgroßhandel, 1987, S. 11. 108 Für Krämer und Höker existierte die Bezeichnung Detailhändler, die bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts gebräuchlich war, da die kleinen Warenmengen in Französisch mit en détail übersetzt werden. 109 Schricker / Lehmann, Selbstbedienungsgroßhandel, 1987, S. 12. 103
1. Kapitel: Geschichte des Sonntags und des Handels an diesem Tag
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Der Einzelhandel wandelte sich im 19. Jahrhundert grundlegend. Es bildeten sich Organisationstypen heraus, die teilweise noch heute bestehen: Neben den überkommenen Formen des Wander- und seßhaften Kleinhandels entstanden Warenhäuser, Konsumvereine und Massenfilialbetriebe, d. h. Einzelhandelgeschäfte mit mehr als zehn Filialen.110 Die Produktion in Manufakturgroßbetrieben, die nicht mehr allein für die örtliche Versorgung am Standort bestimmt war,111 und der erleichterte Warentransport mittels Eisenbahn förderten diese Entwicklung. Aubin / Zorn weisen schließlich darauf hin, daß die Wanderhändler gerade in ländlichen Gebieten eine bedeutende Rolle für die Versorgung der Bevölkerung hatten.112
2. Neuerungen im Recht Bei den rechtlichen Bestimmungen ist in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert zwischen dem geschriebenen Verfassungsrecht und dem einfachen Recht zu unterscheiden.
a) Preußische Verfassung von 1850 Es gab weder in den Länderverfassungen noch in den Verfassungen von 1848 und 1871 Vorschriften, die ausdrücklich einen besonderen Schutz der Sonn- und Feiertage festschrieben. Diskutiert wird, ob Art. 14 der preußischen Verfassung vom 31. Januar 1850 bereits eine verfassungsrechtliche Gewährleistung des Sonntagsschutzes enthielt: „Die christliche Religion wird bei denjenigen Einrichtungen des Staates, welche mit der Religionsausübung im Zusammenhang stehen, unbeschadet der im Art. 12 gewährleisteten Religionsfreiheit zum Grunde gelegt.“
Einige Autoren sind der Auffassung, daß unter „Einrichtung des Staates“ auch die Heiligung der Sonn- und Feiertage fällt.113 Huber ist der Meinung, daß selbst eine enge, liberale Auslegung des Begriffs der „Einrichtungen des Staates“ die christliche Sonn- und Feiertagsheiligung einbeziehe.114 Wählt man aufgrund des Wortlauts als entscheidendes Auslegungsmerkmal für die „Einrichtungen des Staates“ dessen Kompetenz, „Einrichtungen“ zu etablieren ___________ 110
Pfister, VjSozWirtG 2000, S. 39 (41 und 50). Kramer, Kleinhandel und Konsumvereine, 1912, S. 10. 112 Aubin / Zorn, Wirtschafts- und Sozialgeschichte II, 1976, S. 446. 113 Mattner, Sonn- und Feiertagsrecht, 1991, § 2 Rnr. 21; Link, in: Jeserich / Pohl, Verwaltungsgeschichte III, 1984, S. 534 in Fn. 34; Obermayer, in: BK-GG, 2005, Art. 140, Rnr. 20. 114 Huber, Verfassungsgeschichte III, 1988, S. 116. 111
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1. Teil: Geschichte und Grundlagen
und abzuschaffen, lassen sich mit Huber theologische Fakultäten an den staatlichen Universitäten, Religionsunterricht und die geistliche Schulaufsicht an den staatlichen Volksschulen durchaus als Einrichtungen qualifizieren.115 Bei der Sonn- und Feiertagsheiligung ist eine Einsetzung durch den Staat aber gerade zweifelhaft. Die hervorgehobene Stellung des Sonntags dürfte im Verständnis um 1850 nicht auf staatlicher, sondern eher auf religiöser Einsetzung beruhen. Vorzugswürdig scheint die Einschätzung Kaisenbergs, der vorsichtiger und allgemein davon spricht, daß die „in Art. 139 WRV verwirklichten Rücksichten kirchenpolitischer Natur“ bereits in Art. 14 der Preußischen Verfassung zu finden seien.116
b) Ansätze des Arbeits- und Sonntagsschutzes im einfachen Recht Rechtlichen Maßnahmen mit Auswirkungen auf den Sonntagsschutz lassen sich bereits im 19. Jahrhundert danach klassifizieren, ob sie die öffentliche Ruhe oder die Ruhe des einzelnen gewährleisten sollten. Dienten sie der öffentlichen Ruhe, waren sie Teil des Ordnungsrechts. Als individuelle Schutzvorschriften waren sie dem Arbeitsrecht zuzuordnen. Bis zur Gründung des Norddeutschen Bundes lagen die Kompetenzen für alle diese Rechtsgebiete bei den einzelnen deutschen Staaten. Ab 1866 und verstärkt seit 1871 setzte die Tendenz ein, wirtschaftliche Gesichtspunkte auf Bundes-, kulturelle und polizeirechtliche Aspekte dagegen auf Länderebene zu regeln. Folgerichtig erließen die einzelnen deutschen Staaten Gesetze und Verordnungen zu Sonntagen sowie ihrer äußeren Ruhehaltung und bestimmten die gesetzlichen Feiertage. Das sächsische Gesetz über die Sonntagsfeier vom 10. September 1870 belegt dies.117 In Preußen regelte bereits das Königliche Dekret vom 7. Februar 1837 die Befugnis der Polizeibehörden, Vorschriften zur Realisierung der Sonntagsheiligung zu erlassen.118 Eine grundlegende Veränderung erfuhr das Arbeitsrecht im 19. Jahrhundert. Bis dahin war es von den Stände- und Zunftvereinbarungen geprägt. Mit der Abschaffung der Leibeigenschaft und der beginnenden Industrialisierung verlor dieses Recht an Bedeutung. Es entwickelte sich zu einer Materie, die mangels kollektiv-rechtlicher Vereinbarungen ganz im Zeichen des Wirtschaftsliberalismus stand: Das oberste Prinzip war der freie Vertragsschluß zwischen Ar___________ 115
Huber, Verfassungsgeschichte III, 1988, S. 116. Kaisenberg, in: Nipperdey, Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, 1930, Art. 139 WRV, S. 428. 117 Abgedruckt in Lange, Sonntagsruhe in Kontoren und Läden, 1913, S. 6 f. 118 PrGS S. 19; für die Territorien, die nach 1837 zu Preußen kamen, und Hohenzollern war das Gesetz v. 9. Mai 1892, PrGS S. 107, maßgeblich. 116
1. Kapitel: Geschichte des Sonntags und des Handels an diesem Tag
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beitgeber und Arbeitnehmer.119 Dies galt im speziellen für die Frage, ob sich der Arbeiter verpflichtete, auch sonn- und feiertags tätig zu werden. Es bestanden sogar Vereinbarungen, nach denen die Festlegung der Arbeitszeit ins Ermessen der Vorgesetzten gestellt war.120 In gewerberechtlichen Gesetzen fanden sich Normen mit - nach heutiger Sicht - arbeitsrechtlichem Gehalt. Diese Gemengelage zwischen besonderem Ordnungsrecht (Gewerberecht) und speziellem Privatrecht (Arbeitsrecht) hat sich bis heute erhalten, auch wenn man das Arbeitsrecht als im Privatrecht verankertes Rechtsgebiet ansehen kann, das mit einzelnen Gebieten in das öffentliche Recht hineinreicht.121 Die flächendeckende Kinder- und Jugendarbeit war der Anlaß für das erste Gesetz zur Beschränkung der Sonntagsarbeit. Ein Preußisches Regulativ von 1839 untersagte gänzlich die Beschäftigung von Kindern und Jugendlichen bis zum 16. Lebensjahr an Sonn- und Feiertagen sowie werktags vor 5 Uhr morgens und nach 9 Uhr abends.122 Verstöße gegen solche Anordnungen zum Schutz der Sonn-, Feier- und Festtage in Preußen waren strafbewehrt.123 Die praktische Effizienz dieser Arbeiterschutzregelung dürfte nicht sehr groß gewesen sein. Die angedrohten Strafen waren verhältnismäßig gering und es stand kein effektives System zur Überwachung der Vorschriften zur Verfügung.124 Hier deutet sich ein Mangel an Rechtsumsetzung an, der sich über ein halbes Jahrhundert bis zu den 1890er Jahren hinziehen sollte. Zudem fehlte bei Eltern aufgrund der Verelendungstendenz der Wille, ihre Kinder zu schonen.125 Andere deutsche Staaten folgten Preußen, zum Teil mit zwanzigjähriger Verzögerung.126 Baden verbot bereits 1840 die Sonn- und Feiertagsarbeit von Kindern per ministerieller Verfügung,
___________ 119
Stemler / Wiegand, in: Wiegand / Zapf, Wandel der Lebensbedingungen, 1982, S. 17 (41); vgl. auch Schröder, Rechtsgeschichte, 2000, S. 136; Richardi, Grenzen industrieller Sonntagsarbeit, 1988, S. 21. 120 Schröder, Rechtsgeschichte, 2000, S. 136. 121 So Söllner, Arbeitsrecht, 1998, S. 1; die Bezeichnung als „Sonderrecht“ - so etwa Zöllner / Loritz, Arbeitsrecht, 1998, S.1 - ist in zweiter Linie charakteristisch insbesondere wegen der bestehenden eigenen Gerichtsbarkeit. 122 § 5 Preußisches Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken v. 9. März 1839, PrGS S. 156. 123 § 340 Zif. 8 Preußisches StGB, PrGS 1851, S. 171. 124 Stemler / Wiegand, in: Wiegand / Zapf, Wandel der Lebensbedingungen, 1982, S. 17 (27). 125 Vgl. Frerich / Frey, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland I, 1993, S. 45. 126 Stemler / Wiegand, in: Wiegand / Zapf, Wandel der Lebensbedingungen, 1982, S. 17 (27).
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1. Teil: Geschichte und Grundlagen
ab 1862 im badischen Gewerbegesetz.127 In Sachsen durfte man seit 1861 Kinder unter 14 Jahren sonn- und feiertags nicht beschäftigen.128 Weitere gewerberechtliche Regelungen zum Schutz der Arbeiter folgten. Seit einer Änderung der Preußischen Allgemeinen Gewerbeordnung 1849 war niemand zum Arbeiten an Sonn- und Feiertagen vorbehaltlich anderweitiger Vereinbarung in Dringlichkeitsfällen verpflichtet.129 Diese Vorschrift wurde ohne Änderung in die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes vom 21. Juni 1869 übernommen. Die Regelung konnte nicht mit ordnungsrechtlichen Mitteln durchgesetzt werden, was ihre praktische Relevanz stark einschränkte und erklärt, warum sie nicht geeignet war, Sonntagsarbeit in nennenswertem Umfang einzudämmen. Daher entwickelte sich die öffentlich-rechtliche Gewährleistung der Arbeitsruhe neben dem Schutz der Frauen und Kinder zur zentralen politischen Forderung eines verbesserten Arbeiterschutzes.130
3. Deutsches Reich 1871 Mit der Gründung des Deutschen Reiches wurde die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes als Reichsgesetz in das gesamtdeutsche Rechtssystem überführt.131 Bei einer Novelle von 1878 faßten Reichstag und Bundesrat § 105 Abs. 2 GewO wie folgt: „Zum Arbeiten an Sonn- und Feiertagen können die Gewerbetreibenden die Arbeiter nicht verpflichten. Arbeiten, welche nach der Natur des Gewerbebetriebs einen Aufschub oder eine Unterbrechung nicht gestatten, fallen unter die vorstehende Bestimmung nicht. Welche Tage als Festtage gelten, bestimmen die Landesregierungen.“132
Hervorzuheben ist, daß die Regelung lediglich sachlich unbestimmte Ausnahmetatbestände enthielt. Da auch Gehilfen und Lehrlinge in Apotheken und Handelsgeschäften vom Schutz des § 105 GewO ausgenommen waren,133 konnte kein Durchbruch hin zum Sonntagsschutz erreicht werden. ___________ 127
Vgl. Frerich / Frey, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland I, 1993, S. 46. Gewerbegesetz v. 15. Oktober 1861, SächsGVOBl. S. 187. 129 Preußische Allgemeine Gewerbeordnung v. 17. Januar 1845, PrGS S. 41, geändert durch VO PrGS 1849, S. 93 (104). 130 Richardi, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 117 (124). 131 Dies erfolgte in mehreren Gesetzgebungsakten: zum einen durch Reichsgesetze v. 10. November 1871 (RGBl. S. 392) für Baden und Württemberg, v. 12. Juni 1872 (RGBl. S. 170) für Bayern, und v. 27. Februar 1888 (RGBl. S. 57) für Elsaß-Lothringen, zum anderen durch Akte der Länder wie etwa Hessen (vgl. HessPRegBl. S. 741). 132 RGBl. S. 199. 133 § 154 Abs. 1 GewO, vgl. RGBl. 1878, S.199 (212). 128
1. Kapitel: Geschichte des Sonntags und des Handels an diesem Tag
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Nicht anders ist es zu erklären, daß schon 1885 im Reichstag erneut eine Gesetzesinitiative zugunsten des Sonntagsschutzes eingereicht wurde, die parteiübergreifend auf Zustimmung stieß.134 Bismarck lehnte dieses Vorhaben allerdings ab, sagte aber eine systematische Analyse der Sonntagsarbeit von gewerblichen Arbeitern zu und ließ sich so auf eine Objektivierung der Problemlösung ein. Das Reichsamt für Inneres untersuchte in den Jahren 1885/86 den Umfang der tatsächlich geleisteten Sonntagsarbeit auf Grundlage eines Fragebogens, den etwa 40.000 Unternehmer und 30.000 Arbeiter sowie Arbeitgeberund Arbeitnehmerverbände, Innungen, Handels- und Gewerbekammern und Krankenkassen ausgefüllt hatten.135 Als Gründe für die Sonntagsarbeit gaben Handwerker und Einzelhändler an, sich nur so im Konkurrenzkampf behaupten zu können.136 Hier besonders interessant ist die Feststellung, daß Sonntagsarbeit im Großhandel die Ausnahme, im Kleinhandel dagegen die Regel war.137 Beispielhaft seien Berliner Kolonialwarengeschäfte erwähnt, die sonntags um 6 Uhr öffneten und meist erst gegen 23 Uhr schlossen.138 Obwohl die Untersuchung bisherige Argumente Bismarcks gegen ein grundsätzliches Verbot der Sonntagsarbeit widerlegte, scheiterte eine weitere Gesetzesinitiative 1888 an der Ablehnung des Bundesrates.139 Die Akten der Preußischen Ministerien und der Reichsministerien belegen über die aufgeführten Gesetzgebungsinitiativen hinaus eindrucksvoll, mit welcher Regelmäßigkeit sie die Frage der Sonntagsarbeit jahrzehntelang behandelten. Der interministerielle Meinungsaustausch, preußisch-österreichische Konferenzen, Eingaben an Politiker und das Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei zeugen von der intensiven politischen Auseinandersetzung.140
___________ 134
Richardi, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 117 (124). Reichstag-Drs. Nr. 140; aufgrund des großen Umfangs erschien die Untersuchung als dreibändiger Sonderdruck. Auf über 1000 Seiten wurden alle 250 Bereiche der Gewerbestatistik ausgewertet. Zu Einzelheiten siehe Heckmann, Arbeitszeit und Sonntagsruhe, 1986, S.128. 136 Zitiert nach Heckmann, Arbeitszeit und Sonntagsruhe, 1986, S. 129. 137 Wischermann, VjSozWirtG 1991, S. 6 (28). 138 Vgl. zu diesem Ergebnis der Untersuchung von 1885/86 Spiekermann, ZUG 2004, S. 26 (28). 139 Vgl. Richardi, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 117 (126 in Fn. 30). 140 Vgl. die umfangreiche Dokumentation bei Born / Henning / Tennstedt, Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 - 1914, 1994: s. etwa I. Abteilung, Bd. 1: S. 227, 228; 253, 254 dort Fn. 8; 256, 261; 287, 288, 295 und 299; 303, 304 f; 319, 320 f; 380, 413 ff sowie Bd. 3: S. 26, 253 und 283. 135
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1. Teil: Geschichte und Grundlagen
a) Erster Sonntagsladenschluß mit „Neuem Kurs“ Eine Gesetzesänderung ermöglichte erst der „Neue Kurs“ des jungen Kaisers Wilhelm II. in der Arbeiterpolitik. Er legte in zwei Erlassen vom 4. Februar 1890 just nach der Auswechslung Bismarcks als Handelsminister141 durch von Berlepsch die Sonntagsruhe als Ziel neuer Maßnahmen in der Arbeitswelt fest. Diese Reformpolitik wurde insbesondere mit dem sogenannten Arbeiterschutzgesetz vom 1. Juni 1891 umgesetzt.142 Die in die Gewerbeordnung eingefügten §§ 105 a bis 105 i regelten umfassend die Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen bis zum Inkrafttreten des Arbeitszeitgesetzes 1994.143 Inhaltlich konkretisierten diese Bestimmungen der Gewerbeordnung das grundsätzliche Verbot der Sonn- und Feiertagsarbeit mit detaillierten Regelungen und Ausnahmetatbeständen. Dem lag die bis heute im Arbeitszeitgesetz sichtbare Erkenntnis zugrunde, daß nur Detailregelungen im Gegensatz zu einer Generalklausel geeignet sind, Arbeitsruhe an Sonntag herzustellen.144 Regelungen zum Handelsgewerbe und damit zum Einzelhandel führten einen ersten Ladenschluß an Sonn- und Feiertagen ein. § 41 a Abs. 1 GewO bestimmte: Soweit nach den Bestimmungen der §§ 105 b bis 105 h Gehülfen, Lehrlinge und Arbeiter im Handelsgewerbe an Sonn- und Festtagen nicht beschäftigt werden dürfen, darf in offenen Verkaufsstellen ein Gewerbebetrieb an diesen Tagen nicht stattfinden.
Die zentrale Norm des § 105 b Abs. 2 S. 1 GewO lautete: Im Handelsgewerbe dürfen Gehülfen, Lehrlinge und Arbeiter am ersten Weihnachts-, Oster- und Pfingsttage überhaupt nicht, im Übrigen an Sonn- und Festtagen nicht länger als fünf Stunden beschäftigt werden.145
Die Verknüpfung des § 41 a mit § 105 b Abs. 2 GewO bewirkte, daß alle Geschäftsläden grundsätzlich nur fünf Stunden an Sonn- und Feiertagen öffnen durften. Somit unterlagen auch die Gewerbetreibenden und ihre Familienmitglieder dem sonntäglichen Ladenschluß. Jeder Geschäftsbetrieb in Verkaufsstellen war überhaupt verboten.146 Damit ging § 41 a GewO weiter als die Vorschriften zu den restlichen Gewerbebereichen, die in den §§ 105 b ff GewO nur ___________ 141
Bismarck übte dieses Amt zeitweise neben dem des Reichskanzlers aus. RGBl. 1891, S. 261; vgl. zu den wichtigsten Neuerungen den Überblick bei Wlotzke, in: Richardi, Handbuch Arbeitsrecht II, 2000, § 206 Rnr. 65; vgl. näher zum „Neuen Kurs“ und dem Konflikt zwischen Kaiser und Bismarck Gruber, Sonntag und kirchliche Feiertage, 2003, S. 110 f. 143 Neumann, in: Landmann / Rohmer, Gewerbeordnung, 2004, vor § 105 Rnr. 4. 144 Vgl. Richardi, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 117 (126) sowie zu den heute geltenden Regelungen §§ 10 bis 13 ArbZG. 145 G. betreffend Abänderung der Gewerbeordnung v. 1. Juni 1891, RGBl. S. 261 f. 146 Landmann / Rohmer, Gewerbeordnung I, 1952, § 41 a Nr. 2 a, S. 455. 142
1. Kapitel: Geschichte des Sonntags und des Handels an diesem Tag
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ein Beschäftigungsverbot statuierten und die sonntägliche Arbeit des Betriebsinhabers selbst und dessen Familienmitglieder ermöglichte. Allerdings empfand der Gesetzgeber es offensichtlich als unbillig, kleinere Verkaufsstellen auf diese Weise zu privilegieren und fügte speziell für das Handelsgewerbe die Regelung des § 41 a GewO ein.147 Neben die grundsätzliche Intention des Arbeiterschutzes trat somit ein Wettbewerbsaspekt, der bis heute charakteristisch für das Ladenschlußrecht ist. Das Ziel der Wettbewerbsneutralität war auch der Grund, weshalb das „umherziehende Gewerbe“ in die Ladenschlußregelung einbezogen wurde.148 Der besonderen Stellung des Weihnachtsgeschäftes für den Einzelhandel trug man bereits damals Rechnung, da Polizeibehörden an den vier Adventssonntagen weitergehende Sonntagsarbeit und damit Öffnungszeiten zulassen konnten.149 Weitere Ausnahmen waren möglich, falls mit der Sonntagsarbeit das Verderben von Rohstoffen verhütet wurde oder die Behörde den Gewerbebetrieb genehmigte, weil er zur Befriedigung täglicher oder sonn- und feiertäglicher Bedürfnisse erforderlich war.150 Das Gesetz ermächtigte die Gemeinden und weitere Kommunalverbände, die Sonntagsarbeit auf weniger als fünf Stunden in allen oder einzelnen Zweigen des Handelsgewerbes zu beschränken oder ganz zu untersagen. Von dieser Möglichkeit machten zahlreiche Kommunen Gebrauch.151 Die Bestimmungen zur Sonn- und Feiertagsarbeit im Handelsgewerbe traten am 1. Juli 1892 in Kraft.152 Damit galt zum ersten Mal auf nationaler Ebene eine Ladenschlußregelung für Sonn- und Feiertage. Dieser Gesetzesnovelle war insgesamt mehr praktische Wirkung beschieden als den Vorgängerregelungen. Ein wesentlicher Grund ist darin zu sehen, daß das Verbot der Sonntagsarbeit nicht mehr per Generalklausel geregelt wurde, sondern für die Normadressaten durch die exakte Bestimmung der Ausnahmetatbestände deutlich an Konturen ___________ 147
Landmann / Rohmer, Gewerbeordnung I, 1952, § 41 a Nr. 1, S. 453; Rühling, Entstehung Ladenschlußgesetz, 2004, S. 27. 148 § 55 a GewO, RGBl. 1891, S. 261; vgl. auch Schunder, Ladenschlußgesetz, 1994, S. 7. 149 § 105 b Abs. 2 S. 3 i. V. m. § 41 a Abs. 1 GewO. 150 § 105 c Abs. 1 Nr. 4, § 105 e Abs. 1 GewO. 151 Richardi, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 117 (127); vgl. auch einzelne Beispiele der Regelungen in den Städten bei Lange, Sonntagsruhe in Kontoren und Läden, 1913, S. 25 ff. 152 VO v. 28. März 1892, RGBl. S. 339 i. V. m. Art. 9 des Gesetzes betreffend die Abänderung der Gewerbeordnung v. 1. Juni 1891, RGBl. S. 261, 289; am 1. April 1892 traten die Vorschriften für das Handelsgewerbe in Kraft, „soweit es sich um die zu ihrer Durchführung erforderlichen Maßnahmen“ handelte, im übrigen am 1. Juli 1892. Die Regelungen in §§ 41 a, 105 b Abs. 2 GewO bedurften keiner Durchführung, so daß sie zum späteren Zeitpunkt in Kraft traten.
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gewann.153 Außerdem erfolgte der Schutz der Arbeitnehmer nicht mehr nur durch eine zivilrechtliche Unwirksamkeit eines Vertrages, sondern durch ein öffentlich-rechtliches, gesetzliches Verbot der Sonntagsarbeit.154 Diese größere Wirkung zeigte sich auch in zeitgenössischen Einschätzungen: Die Regelung des Sonntagsschutzes wurde als „revolutionierende That“ angesehen.155 Wichtige Konsequenz bis heute ist, daß grundsätzlich allein der Gesetzgeber befugt ist, Sonn- und Feiertagsarbeit zuzulassen. Die Novelle der Gewerbeordnung brach so die Theorie des liberalen Arbeitsvertrages,156 die hinter der Regelung des ursprünglichen § 105 GewO stand. Das Arbeitsverhältnis war seitdem nicht mehr allein von der freien Übereinkunft zwischen Arbeitern und Gewerbetreibenden geprägt. In der Praxis blieben die Gottesdienste die zentralen Fixpunkte am Sonntag, um die herum die Geschäfte von ihrem Recht zum fünfstündigen Offenhalten Gebrauch machten.157
b) Ladenschluß an Werktagen zur Jahrhundertwende Erst im Jahre 1900 führte der Gesetzgeber ein Öffnungsverbot an Werktagen ein und vollzog damit vor allem aus sozialpolitischen Gründen158 den zweiten wichtigen Schritt zur Normierung des Ladenschlusses. Von 21 bis 5 Uhr mußten Verkaufsstellen geschlossen werden. Bei Ladenschluß noch anwesende Kunden durften, wie heute auch noch, bedient werden, § 139 e GewO.159 Die Ortspolizei konnte an bis zu 40 Tagen die Öffnung bis 22 Uhr freigeben, während die höheren Verwaltungsbehörden unter gewissen Maßgaben in Städten mit weniger als 2.000 Einwohnern oder ländlichen Gemeinden eine Genehmigung über 21 Uhr hinaus erteilen durften. Am Sonntagsladenschluß und der Erlaubnis zur fünfstündigen Öffnung an Sonn- und Feiertagen änderte sich nichts.160 Neben dem Arbeitszeitschutz bezweckte die Einbeziehung der Ge___________ 153
Vgl. dazu die umfangreichen Regelungen in den §§ 105 b bis h und § 154 GewO; so auch Richardi, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 117 (126). 154 Vgl. dazu die Begründung der GewO-Novelle von 1891, abgedr. in Landmann / Rohmer, Gewerbeordnung II/2, 1953, § 105 b Nr.1, S. 45. 155 Weber, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, Bd. 21 (1897), S. 1145 (1175), zitiert nach Richardi, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 117 (127). 156 Wischermann, VjSozWirtG 1991, S. 6 (31). 157 Spiekermann, ZUG 2004, S. 26 (30). 158 Spiekermann, ZUG 2004, S. 26 (31). 159 RGBl. 1900, S. 321 (327); zur heutigen Regelung vgl. § 3 S. 3 BLadSchlG. 160 Vgl. zu Einzelheiten der unterschiedlichen Wortwahl in § 41 a GewO („darf in offenen Verkaufsstellen ein Gewerbebetrieb nicht stattfinden“) und § 139 e GewO („müs-
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schäftsinhaber und der Familienangehörigen einen Schutz vor übertriebenem Wettbewerb.161 Die Neuregelung sollte insbesondere den in Berlin üblichen sehr langen Arbeitszeiten des Ladenpersonals bis in die Nacht entgegenwirken.162 Von der Möglichkeit, den Ladenschluß freiwillig auf 20 Uhr vorzuziehen, machten bis 1911 mehr als 1000 Gemeinden, darunter 40 Großstädte, Gebrauch.163 Diese rechtlichen Änderungen traten zu einem Zeitpunkt ein, in dem sich der Einzelhandel im Vergleich mit der vorhergehenden Jahrhundertwende um 1800 grundlegend geändert hatte. Das Warenangebot war erheblich differenzierter geworden. Dazu trug der sich bereits im 18. Jahrhundert abzeichnende Umstand bei, daß zu den lebensnotwendigen und luxuriösen Gütern die „angenehmen“ Waren als dritte Kategorie hinzutraten. Schließlich ging die Quote der Selbstversorgung der Familienhaushalte zurück und die Kaufkraft nahm in beträchtlichem Umfang zu.164 Die Steigerung der Nachfrage nach Waren und Gütern läßt sich schließlich nicht ohne das enorme Bevölkerungswachstum verstehen. Allein von 1851 bis 1907 wuchs die Einwohnerzahl im Reichsgebiet von 35 auf 65 Millionen. Bemerkenswerte Veränderungen der Ladenöffnungsmöglichkeiten brachte der Erste Weltkrieg mit seiner Kriegswirtschaft und seinen Versorgungsengpässen. Für spezielle Geschäftsarten begrenzte man die Öffnungszeiten an Werktagen ebenso wie an Sonn- und Feiertagen. Der Sonntagsverkauf in Bäkkereien und Metzgereien wurde zum Teil durch Ortsstatute, zum Teil sogar freiwillig beschränkt.165 Hintergrund dürfte die Warenknappheit während des Krieges gewesen sein.166 Diese Regelung wurde zu Friedenszeiten wie eine Reihe anderer Vorschriften beibehalten,167 so daß der Krieg dauerhafte Reformen beschleunigte, die zuvor zwar von einigen politischen Richtungen angestrebt wurden, aber nicht verwirklicht werden konnten.168
___________ sen offene Verkaufsstellen für den geschäftlichen Verkehr geschlossen sein“) Landmann/ Rohmer, Gewerbeordnung I, 1952, § 41 a Nr. 2 e, S. 459. 161 Anzinger, in: Richardi, Handbuch Arbeitsrecht II, 2000, § 224 Rnr. 1. 162 Landmann / Rohmer, Gewerbeordnung II, 1925, § 9 AngestAZVO, S. 683. 163 Spiekermann, ZUG 2004, S. 26 (31 f), vgl. dort auch zu einer Statistik für die Jahre 1900 bis 1911. 164 Aubin / Zorn, Wirtschafts- und Sozialgeschichte II, 1976, S. 626. 165 Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, 1949, S. 57 f. 166 Rühling, Entstehung Ladenschlußgesetz, 2004, S. 35. 167 Vgl. Frerich / Frey, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland I, 1993, S. 192. 168 Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, 1949, S. 57.
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1. Teil: Geschichte und Grundlagen
VI. Weimarer Republik 1. Sonntagsschutz in Art. 139 WRV Die Weimarer Reichsverfassung regelte das Verhältnis zwischen Staat und Kirche neu und nahm mehrere Artikel zum sogenannten Staatskirchenrecht auf. Neben Bestimmungen zum öffentlich-rechtlichen Status der Religionsgemeinschaften oder einzelnen Elementen der Religionsfreiheit betonte die Verfassung in besonderer Weise den Schutz der Sonn- und Feiertage. Im zweiten Hauptteil „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“, dort im Zweiten Abschnitt „Das Gemeinschaftsleben“, bestimmt Art. 139 WRV: „Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.“169
Damit erkannte eine deutsche Verfassung zum ersten Mal ausdrücklich die hervorgehobene Stellung der Sonn- und Feiertage an. In den vier Entwürfen der Reichsverfassung, die Hugo Preuß erarbeitet hatte, war ein Artikel zum Sonntagsschutz noch nicht enthalten.170 Der letzte enthielt in Art. 30 lediglich einzelne Bestimmungen zur Religionsfreiheit.171 Wenn also Preuß zuweilen als „Vater der Weimarer Reichsverfassung“ bezeichnet wird,172 gilt dies zumindest nicht für die Artikel zum Staatskirchenrecht. Dabei war bereits kurz zuvor in Fachkreisen über die verfassungsrechtliche Regelung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche diskutiert worden.173 Der Deutsche Evangelische Kirchenausschuß, das Organ zur Vertretung der Interessen aller evangelischen Landeskirchen in Deutschland, intervenierte. In einem Schreiben an die Nationalversammlung vom 13. März 1919 forderte er unter anderem die verfassungsrechtliche Anerkennung der Sonn- und Feiertage.
___________ 169
RGBl. 1919, S. 1383 (1409). Vgl. zum Entwurf v. 3. Januar 1919, Reichsanzeiger Nr. 15 v. 20. Januar 1919, 1. Beilage; dort enthielt § 19 lediglich eine Regelung zur Religionsfreiheit als klassischem Freiheitsrecht und zur Selbstverwaltungsgarantie der Religionsgesellschaften. 171 Aktenstück Nr. 59: Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reiches, Bd. 335 der Stenographischen Berichte des Reichstages, Verhandlungen der Nationalversammlung, S. 48 (51). 172 So Mauersberg, Ideen Hugo Preuß’ für die Verfassung 1919, 1991, S. 194. 173 Vgl. etwa Kahl, Trennung von Staat und Kirche, in: DJZ 1919, Sp. 123, der eine Verankerung der Grundrechte der Religionsgemeinschaften in der Verfassung befürwortete. Kahl war damals Professor für Kirchenrecht an der später in Humboldt-Universität umbenannten Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin und für die DVP Mitglied der Nationalversammlung, vgl. Baldus, AöR 2002, S. 97 (110). 170
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Von Arbeitsruhe und seelischer Erhebung als Schutzzweck war nicht die Rede.174 Zwar ist nicht klar ersichtlich, ob gerade diese Stellungnahme die maßgeblichen Abgeordneten der Nationalversammlung dazu bewegte, einen Antrag auf Aufnahme des Sonntagsschutzes zu stellen. Es besteht aber ein enger zeitlicher Zusammenhang, da ein Sonntagsartikel 2 ½ Wochen später in die Beratungen einfloß. Dies geschah bei der 19. bis 21. Sitzung des Verfassungsausschusses, am 1. bis 3. April 1919.175 Der Vorsitzende der Zentrumsfraktion, Adolf Gröber, erwähnte im Rahmen der Verfassungsberatungen in einem Antrag als erster den Sonn- und Feiertagsschutz. Auch katholische Kreise hatten den speziellen Schutz der Sonntage als politisch zu berücksichtigenden Aspekt schon vor Zusammentritt der Nationalversammlung genannt. Dies belegen Aufzeichnungen des bayrischen Episkopats vom Dezember 1918, das gegenüber dem neuen republikanischen Staat Mindestforderungen formulierte. Sie beinhalten den „Schutz der Sonn- und Feiertage im bisherigen Umfang.“176 Eine längere Diskussion über die staatskirchenrechtlichen Artikel entstand in der 19. Sitzung des Verfassungsausschusses. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung standen die Fragen, ob zum Beispiel die konfessionellen Privatschulen und das kirchliche Steuerprivileg fortexistieren, die Religionsgemeinschaften den Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft erhalten oder die Gesetzgebungskompetenzen in staatkirchenrechtlichen Angelegenheiten allein den Ländern oder dem Reich zukommen sollten. Die grundlegende Frage der absoluten Trennung von Staat und Kirche nach französischem oder amerikanischem Vorbild behandelte man intensiv. Angesichts der Dimension solcher Fragen und der sich diametral entgegenstehenden Auffassungen der Parteien geriet der Sonn- und Feiertagsschutz völlig in den Hintergrund. Dies belegen auch zeitgenössische wissenschaftliche Stellungnahmen zu den Verfassungsberatungen.177 ___________ 174
Punkt 2 der Forderungen des Dt. Ev. Kirchenausschusses, Schreiben an die Nationalversammlung in Weimar v. 13. März 1919, abgedruckt in: Allgemeines Kirchenblatt für das evangelische Deutschland, 48. Jahrgang, Stuttgart 1919, S. 154 (155); wiedergegeben bei Bredt, Ev. Kirchenrecht für Preußen II, 1922, S. 73, s. auch S. 67 in Fn. 1. 175 Kaisenberg, in: Nipperdey, Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, 1930, Art. 139 WRV S. 428. Der Verfassungsausschuß war der 8. Ausschuß der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung. 176 Protokoll einer Konferenz des bayerischen Episkopats v. 17. Dezember 1918, vgl. Volk, Akten Faulhabers I, S. 55, zitiert nach Richter, Kirche und Schule in den Beratungen der Weimarer Nationalversammlung, 1996, S. 30. 177 Vgl. Meurer, Kirchenfrage im Verfassungsausschuß, DJZ 1919, Sp. 383 (386).
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1. Teil: Geschichte und Grundlagen
Der Sonntagsartikel wurde relativ schnell beraten, da von keiner Seite Einwände gegen einen besonderen Schutz dieser Tage erhoben wurden.178 Abgeordnete unterschiedlicher Parteizugehörigkeit, wie etwa Quack (SPD) und Kaas (Zentrum), sprachen sich für ihn aus.179 Schon hier zeigte sich der breite Konsens unter christlich-konservativ und sozialdemokratisch geprägten Politikern, die jeweils aus unterschiedlicher Motivation heraus den Sonn- und Feiertagsschutz auf Verfassungsebene beförderten. Es dürfte nicht zu vermessen sein festzustellen, daß sich diese Traditionslinien bis in die heutige Zeit nachverfolgen lassen und vor allem in beiden großen Volksparteien noch offenbaren. In der 41. Sitzung des Verfassungsausschusses der Nationalversammlung am 17. Juni 1919 brachte Gröber den Antrag ein, den Artikel über den Sonn- und Feiertagsschutz in seiner bis heute gültigen Weise zu formulieren, also insbesondere die Arbeitsruhe und die seelische Erhebung aufzunehmen. Ohne größere Diskussion nahmen die Abgeordneten den Vorschlag an.180 Im Verlauf der Sitzungen der Ausschüsse und des Plenums der Nationalversammlung entwickelte sich der Artikel zum Sonn- und Feiertagsschutz wie folgt (Änderungen kursiv): Verfassungsausschuß: „Die Sonntage und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben erhalten.“181
„Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.“ 182
Plenum der Nationalversammlung: „Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.“183
___________ 178 So auch Richter, Kirche und Schule in der Weimarer Nationalversammlung, 1996, S. 347, in seiner Bewertung zu diesen Beratungen. 179 Aktenstück Nr. 391: Bericht des Verfassungsausschusses, Bd. 336 der Stenographischen Berichte des Reichstages: Verhandlungen der Nationalversammlung, S. 193 f. 180 Aktenstück Nr. 391 (wie Fn. 179), S. 521. 181 Aktenstück Nr. 391, 21. Sitzung des Verfassungsausschusses, S. 208; diese Fassung wurde auf Antrag der Abg. Meerfeld (SPD) und Naumann (DDP) angenommen. 182 Aktenstück Nr. 391 (wie Fn. 179), S. 521. Zu diesem Zeitpunkt sollte Art. 30 d der Sonntagsartikel werden.
1. Kapitel: Geschichte des Sonntags und des Handels an diesem Tag
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Deutlich wird, daß allein die Beratungen im Verfassungsausschuß maßgeblich waren. Art. 139 WRV verbindet die religiöse Wurzel mit dem Motiv des Arbeiterschutzes. Er ist Paradigma für den „Kompromiß der Werte“, den die Weimarer Reichsverfassung darstellt. Der Sonntagsartikel setzt den verfassungsrechtlichen Schlußpunkt einer Auseinandersetzung, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für mehrere Jahrzehnte religiös, sozial- und wirtschaftspolitisch von großer Bedeutung war.
2. Weitere Verkürzung der Öffnungszeiten Auch in der Weimarer Republik setzte sich das Nebeneinander von reichsrechtlicher Regelung im Wirtschaftsverwaltungsrecht und den landesrechtlichen Sonn- und Feiertagsgesetzen über die äußere Ruhe fort. Der Gesetz- und Verordnungsgeber setzte die Ladenöffnungszeiten weiter herab. Die Arbeitszeit-Verordnung für Angestellte (AngestAZVO) verkürzte 1919 den allgemeinen Ladenschluß grundsätzlich auf die zwölf Stunden zwischen 19 und 7 Uhr.184 Dieser zeitliche Rahmen galt bis zum Inkrafttreten des Ladenschlußgesetzes.185 Die Polizeibehörden konnten nur noch an bis zu 20 Tagen jährlich die Ladenöffnung bis 21 Uhr verlängern. Diese zunächst bis 1923 geltende Verordnung wurde zweimal in ihrer Gültigkeit verlängert.186 Die Rechtsverordnung vom 5. Februar 1919 über die Sonntagsruhe im Handelsgewerbe und in Apotheken intensivierte den Sonntagsschutz und änderte die Norm des § 105 Abs. 2 GewO.187 Statt einer Beschäftigung von maximal fünf Stunden war diese im Handelsgewerbe nunmehr grundsätzlich ausgeschlossen. Nur an bis zu zehn Sonn- oder Feiertagen war die Zulassung von Sonntagsarbeit möglich. Dies war eingebettet in eine allgemeine Entwicklung zu kürzeren Arbeitszeiten.188 Durch die Konnexität des § 41 a Abs. 1 zu § 105 b ___________ 183
Eingeführt bei der 2. Beratung der Nationalversammlung, vgl. Aktenstücke 656 v. 22. Juli 1919, S. 24, in Bd. 337; dort werden die Beschlüsse des 8. Ausschusses und der Nationalversammlung in zweiter Beratung gegenübergestellt. In den damaligen Art. 136 wurde nur noch „der“ vor seelische Erhebung eingeführt. 184 § 9 Abs. 1 VO über die Regelung der Arbeitszeit der Angestellten während der Zeit der wirtschaftlichen Demobilmachung v. 18. März 1919 (AngestAZVO), RGBl. S. 315 (317). Diese Norm setzte § 139 e GewO außer Kraft, vgl. Landmann / Rohmer, Gewerbeordnung II, 1925, § 139 e, f Nr. 1, S. 683. Später fiel § 139 e GewO bei Einführung der Arbeitszeitordnung 1934 weg, vgl. RGBl. 1934 I, S. 803. 185 Ab 1934 als § 24 Abs. 1 AZO und ab 1938 als § 22 Abs. 1 AZO. 186 Vgl. im Einzelnen die Nachweise in BVerfGE 1, 283 (285). 187 RGBl. S. 176. 188 In vielen Bereichen wurde 1918/19 der Acht-Stunden-Tag eingeführt, vgl. die Anordnungen über die Arbeitszeit der gewerblichen Arbeiter v. 23. November 1918, RGBl. S. 1334.
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1. Teil: Geschichte und Grundlagen
GewO reduzierte sich der Ladenschluß an Sonn- und Feiertagen damit grundsätzlich auf Null. Seitdem gilt in Deutschland ein grundsätzlicher Sonntagsladenschluß. Es blieb also wie schon in der Gewerbeordnung seit der Änderung von 1900 dabei, daß der Ladenschluß an Werktagen sowie an Sonn- und Feiertagen systematisch unterschiedlich in verschiedenen Normen geregelt war. In einem Spezialgesetz legte der Reichstag 1929 den allgemeinen Ladenschluß für den 24. Dezember auf 17 Uhr, für Verkaufsstellen, die überwiegend Blumen, Lebens- oder Genußmittel anboten, auf 18 Uhr fest.189 Es ist als Vorgängerregelung für Ladenschlußregelungen anzusehen, die bis heute Heilig Abend gesondert behandeln.190 Für die Entwicklung des Sonn- und Feiertagsrechts kommt der Preußischen Polizeiverordnung vom 23. November 1931 große Bedeutung zu, da sie nach dem Zweiten Weltkrieg als Vorbild für viele Sonn- und Feiertagsgesetze westdeutscher Länder diente.191 In ihr ist insbesondere das allgemeine Verbot von öffentlich wahrnehmbaren Arbeiten, ferner der besondere Schutz der Hauptgottesdienstzeiten und der stillen Feiertage festgelegt.192
VII. Drittes Reich Der langsame Rückgang der Ladenöffnungszeiten setzte sich in der Praxis auch nach 1933 fort, da viele Ladeninhaber nur so in der Lage waren, die verkürzte Arbeitszeit der Angestellten mit den Öffnungszeiten zu koordinieren.193 Ausgangspunkt der Regelungen im Dritten Reich war das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20. Januar 1934, nach dessen § 64 Abs. 2 der Reichsarbeitsminister zur Durchführung und Ergänzung des Gesetzes Rechtsverordnungen erlassen konnte und von gesetzlichen Bestimmungen abweichen durfte.194 Hierauf stütze der Minister die Arbeitszeitordnungen (AZO) von 1934 und 1938, die grundsätzlich nur die werktägliche Arbeitszeit regelten.195 Sie übernahmen im wesentlichen die bestehenden Vorschriften zur Arbeitszeit, aber hoben auch Normen der Gewerbeordnung ausdrücklich auf, wie etwa den ___________ 189
G. über den Ladenschluß am 24. Dezember, RGBl. 1929 I, S. 219. Vgl. § 3 S. 1 Nr. 3, § 8 Abs. 1 S. 1, § 9 Abs. 1 S. 1, § 15 und § 19 Abs. 2 BLadSchlG. 191 PrGS S. 249, geändert durch VO v. 3. März 1933, S. 38; abgedruckt bei Mattner, Sonn- und Feiertagsrecht, 1991, § 2 Rnr. 29. 192 Vgl. § 2 Abs.1 , §§ 4 bis 6 Preußische Polizeiverordnung v. 23. November 1931. 193 Spiekermann, ZUG 2004, S. 26 (34). 194 RGBl. I, S. 45. 195 Landmann / Rohmer, Gewerbeordnung II/2, 1953, § 105 b Nr. 1, S. 46. 190
1. Kapitel: Geschichte des Sonntags und des Handels an diesem Tag
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vormals für den werktäglichen Ladenschluß maßgeblichen § 139 e GewO.196 In der seit 1938 geltenden Fassung legte § 22 Abs. 1 AZO den werktäglichen Ladenschluß wie bisher auf die Zeit von 19 bis 7 Uhr fest. Inhaltlich änderte diese Bestimmung der AZO nichts Grundlegendes, da sie mit § 9 Abs. 1 AngestAZVO übereinstimmte und auch die Ausnahmetatbestände sich auf schon bestehende Regelungen zurückführen lassen.197 Die Ladenschlußregelung des § 22 AZO galt für Werktage nach 1945 in der Bundesrepublik bis zum Inkrafttreten des Ladenschlußgesetzes.198 Da er sich im 4. Abschnitt „Werktäglicher Ladenschluß“ befand, ist davon auszugehen, daß § 41 a i. V. m. 105 b GewO weiterhin für das Verkaufsverbot an Sonn- und Feiertagen galt. Während des Zweiten Weltkrieges führte man wie schon 1914 - 1918 besondere Vorschriften zur Kriegswirtschaft und damit auch zum Ladenschluß ein. Um die Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten, wurden die Inhaber von Verkaufsstellen erstmals zur Öffnung verpflichtet,199 während die maßgebliche Verordnung zum Ladenschluß die Vorschriften über die Arbeitszeit und die Sonntagsruhe ausdrücklich unberührt ließ.200 Aufgrund der Gleichschaltung der Länder regelten Reichsgesetze den Sonnund Feiertagsschutz. Dies geschah in einer Verordnung vom 16. März 1934 über den Schutz der Sonn- und Feiertage.201 Sie übernahm im wesentlichen die Kategorien des bis dahin durch die Länder gewährten Schutzes (Schutz des Hauptgottesdienstes, Betonung der äußeren Ruhe, Besonderheiten an Karfreitag und Buß- und Bettag). Die Feiertage wurden ebenfalls auf Reichsebene festgelegt. Bei der Einführung „nationaler Feiertage“ sind die einzelnen darunter fallenden Festtage bemerkenswert: Neben dem Heldengedenktag waren es der 1. Mai und das Erntedankfest.202 Der 1. Mai war bereits 1933 zum gesetzlichen Feiertag erkoren ___________ 196 Arbeitszeitordnung (AZO) v. 26. Juli 1934, RGBl. I, S. 803, und AZO v. 30. April 1938, RGBl. I, S. 447. 197 Vgl. etwa § 22 Abs. 2 AZO, der auf das G. zum Ladenschluß am 24. Dezember von 1929 zurückgeht (vgl. oben Fn. 189); § 22 Abs. 3, 4 und 5 AZO sind nahezu identisch mit § 9 Abs. 2, 3 und 4 AngestAZVO v. 18. März 1919; wirklich neu war seit 1934 eine Regelung zu Warenautomaten, § 24 Abs. 5 AZO 1934 und § 22 Abs. 6 AZO 1938. Auch Stober, GewArch 1985, S. 353, sieht keine wesentlichen Änderungen durch die AZO. 198 Zmarzlik / Roggendorf, Ladenschlußgesetz, 1997, Einf. Rnr. 1. 199 Einzelheiten zur Phase des Zweiten Weltkrieges bei Spiekermann, ZUG 2004, S. 26 (35 f). 200 VO v. 21. Dezember 1939, RGBl. I, S. 2471. 201 RGBl. 1934 I, S.199, geändert durch VO v. 1. April 1935 RGBl. I, S. 510, und VO v. 6. März 1944, RGBl. I, S. 62. 202 Vgl. Gesetz über Feiertage v. 27. Februar 1934, RGBl. I, S. 129.
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1. Teil: Geschichte und Grundlagen
worden.203 Der 9. November wurde zum Gedenktag für die Gefallenen der nationalsozialistischen Bewegung.204 Die kirchenkritische Haltung der Staatsgewalt offenbarte sich seit Kriegsbeginn in der Tatsache, daß man in erster Linie bestimmte kirchliche Feiertage auf einen naheliegenden Sonntag verlegte, um zusätzlich Werktage für gesteigerte Produktionsmöglichkeiten zu gewinnen. Es wurde üblich, etwa Buß- und Bettag, Christi Himmelfahrt, Fronleichnam und Reformationstag „mit Rücksicht auf die besonderen Erfordernisse des Krieges“ vom ursprünglichen Datum zu lösen.205
VIII. Ergebnis Der Sieben-Tage-Rhythmus in der heutigen Form geht auf die Verbindung der jüdischen Woche mit der astrologischen Planetenwoche zurück. Während sich die Namen der Wochentage in europäischen Sprachen vor allem auf die antike Planetenwoche zurückverfolgen lassen, ist die Herausbildung eines wöchentlichen Ruhetages eher mit dem Sabbat in Verbindung zu bringen. In den ersten Jahrhunderten n. Chr. erfolgte die Hinwendung zum Sonntag. Als das Christentum im Römischen Reich zur Staatsreligion erklärt und Mitteleuropa christianisiert wurde, fand die hervorgehobene Stellung des Sonntags den Weg in unsere Breiten. Diese Prägung dauert bis in unsere Tage an. Bedeutende Kategorien des Sonntagsschutzes wie etwa die Arbeitsruhe und der Schutz des Hauptgottesdienstes lassen sich bis zur Mitte des 1. Jahrtausends zurückverfolgen. Bemerkenswert ist auch das Ruhen der Gerichtstätigkeit an Sonn- und Feiertagen, was seit dem Sonntagsgesetz Kaiser Konstantins 321 und den Regelungen des Mittelalters den Schutz dieser Tage gut symbolisiert. Der Blick zurück gerade in die Jahrhunderte bis etwa 1200 zeigt, wie unterschiedlich die Kompetenzen zur Regelung des Sonntagsschutzes und der Öffnungszeiten von Geschäftsstellen aller Art verteilt waren. Zunächst oblag es der Kirche, den Städten und Zünften, Regelungen zu treffen. Die Bedeutung der Flächenstaaten und die Herausbildung eines staatlichen Rechtsetzungsmonopols nahm dagegen erst seit dem Dreißigjährigen Krieg zu, bis im Deutschen Reich von 1871 die nationalstaatliche Ebene erreicht wurde. Seitdem gibt es ___________ 203 Vgl. Gesetz über die Einführung eines Feiertages der nationalen Arbeit v. 10. April 1933, RGBl. I, S. 191. 204 Erlaß v. 25. Februar 1939, RGBl. I, S. 322. 205 Vgl. Erlaß v. 18. November 1939, RGBl. I, S. 2235; VO v. 19. Oktober 1940, RGBl. I, S. 1390; VO v. 15. Mai 1941, RGBl. I, S. 269; VO über die Handhabung des Feiertagsrechts während des Krieges v. 27. Oktober 1941, RGBl. I, S. 662; 1942 wurde auch die Feier des 1. Mai auf den 2. Mai verlegt, vgl. RGBl. I, S. 182.
2. Kapitel: Entwicklung in DDR und Bundesrepublik seit 1945
61
auch eine bis heute gültige Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen. Während auf nationaler Ebene vor allem Bereiche der wirtschaftlichen Betätigung in Gestalt des Ladenschlusses sowie des Arbeits- und Gewerberechts geregelt werden, obliegt es den Ländern, Feiertage gesetzlich anzuerkennen und die Verpflichtung zu öffentlicher Ruhe an Sonn- und Feiertagen zu normieren. Die Regelungsdichte hat für den Bereich des Ladenschlusses seit etwa 1890 stetig zugenommen. Dabei verringerten sich die Ladenöffnungszeiten auch an Sonn- und Feiertagen stetig. Für die folgende Untersuchung von besonderem Gewicht ist die Erkenntnis, daß langjährige Praktizierung der Sonntagsarbeit in einem Wirtschaftsbereich auch Sonntagsarbeit in anderen Branchen nach sich zieht - so wie die Industrie im 19. Jahrhundert den Einzelhandel beeinflußte. Eine heute oft beklagte Verweltlichung des Sonntags war auch schon in vergangenen Jahrhunderten zu beobachten. Am deutlichsten trifft diese Aussage für den Großteil des 19. Jahrhunderts mit dem Ausufern der Sonntagsarbeit zu; die ständigen Neuverordnungen nach 1648 bis ins 18. Jahrhundert legen den Schluß nahe, daß es zu dieser Zeit mit der Sonntagsheiligung ebenfalls nicht zum Besten stand. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitete sich die Erkenntnis, daß ein allgemeiner Ruhetag auch aus Gründen des Arbeitsschutzes sinnvoll ist. Die Verbindung dieses sozialpolitischen Elements mit den religiösen Wurzeln ist Ursache für die auch heute weit verbreitete Überzeugung, den Sonntag aus den übrigen Werktagen hervorzuheben. Typisch für das deutsche Verständnis der Begehung der Sonn- und Feiertage ist schließlich das Fehlen eines bedingungslosen Rigorismus. In Gegensatz zum puritanischen England hatten daher die Normen in Deutschland stets Kompromißcharakter: Grundsätzliche Schutzbestimmungen wurden regelmäßig durch Ausnahmen in ihrer Wirkung relativiert. Dies sind Elemente, welche das Bundesverfassungsgericht im Ladenschlußurteil 2004 zu Recht veranlaßt haben, von einer „deutschen Tradition eines grundsätzlichen Sonntagsschutzes“ zu sprechen.206
2. Kapitel
Entwicklung in DDR und Bundesrepublik seit 1945 Nach 1945 war die Entwicklung in den verschiedenen Teilen Deutschlands sehr unterschiedlich. Während die Ostgebiete Hinterpommern, Schlesien und ___________ 206
BVerfGE 111, 10 (52).
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1. Teil: Geschichte und Grundlagen
Ostpreußen unter polnische und sowjetische Verwaltung gestellt wurden und deutsches Recht nicht mehr zur Anwendung kam, entwickelte sich das Recht in den wieder oder neu gegründeten Ländern westlich und östlich der Elbe in entgegengesetzte Richtungen. Die konträren Wirtschafts- und Staatssysteme hatten Auswirkungen bis in einzelne Wirtschaftszweige und somit auch auf den Einzelhandel und seinen rechtlichen Rahmen. Da das Recht der Bundesrepublik in den weiteren Teilen Grundlage der Untersuchung sein wird, liegt im folgenden der Schwerpunkt bei dem Recht der DDR.
I. DDR Die Situation des Einzelhandels in der DDR war von der Entwicklung zu einer staatlich gelenkten und organisierten Planwirtschaft gekennzeichnet. Schon begrifflich wurde dem privaten der angeblich überlegene „sozialistische Einzelhandel“ gegenübergestellt.207 Zu letzterem gehörten insbesondere die Geschäfte der 1948 gegründeten Staatlichen Handelsorganisation (HO). Sie war ein zentrales Instrument, mit der die Staatsquote im Einzelhandel systematisch erhöht wurde.208 Der „sozialistische Einzelhandel“ erwirtschaftete 1962 bereits 78 % des Umsatzes im gesamten Einzelhandel.209 Ladenöffnungszeiten sind stets auch vor dem Hintergrund der konkreten Verfügbarkeit von Produkten im Handel zu sehen. Das Angebot an Waren war in der DDR Zeit ihrer Existenz ungenügend. Erst im Mai 1958 wurden die Lebensmittelkarten und die Rationierung für Fleisch, Fett und Zucker abgeschafft.210 Die Relevanz von Ladenöffnungszeiten war daher zweitrangig. Ab den 60er Jahren rückte die Versorgung der Bevölkerung mit langlebigen Gütern wie etwa Kühlschränken, Waschmaschinen und Fernsehern ins Blickfeld der Planer. Der Historiker Weber hält fest, daß die Parteiführung der SED bei der Bilanz des Fünfjahresplanes von 1966 - 1970 Mangelerscheinungen bei der Versorgung einräumen mußte.211 Der zehnte Parteitag der SED beschloß 1981 als einen der „10 Punkte der ökonomischen Strategie“, mehr und bessere Konsumgüter zu produzieren.212 Schon diese Zielsetzung zeigt, daß das Warenangebot unzureichend war. Daran änderte sich bis zur Revolution von 1989 nichts mehr. ___________ 207
Vgl. Rößler, Privater Einzelhandel und sozialistische Entwicklung, 1960, S. 14. Weber, DDR, Geschichte, 1991, S. 36. 209 Klatke, Einbeziehung des privaten Einzelhandels in sozialistischen Aufbau der DDR, 1963, S. 4 f. 210 Weber, DDR, Geschichte, 1991, S. 90. 211 Weber, DDR, Geschichte, 1991, S. 122. 212 Weber, DDR, Geschichte, 1991, S. 168. 208
2. Kapitel: Entwicklung in DDR und Bundesrepublik seit 1945
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Zeitweise war die Versorgung so schlecht, daß selbst der sozialistische Einzelhandel nicht mehr als Allheilmittel angesehen wurde. Das Politbüromitglied Egon Krenz versicherte 1984, auch private Geschäfte zu fördern, um die Versorgungslage zu verbessern.213
1. Ladenschluß a) Rechtliche Bestimmungen Während der gesamten Existenz der DDR gab es kein einheitliches Ladenschlußrecht. Regelungen zu Aufgaben der Kommunalverwaltung ermächtigten allerdings Städte und Kommunen, die Öffnungszeiten festzulegen. Das Gesetz über die örtlichen Organe der Staatsmacht vom 18. Januar 1957 beschränkte sich noch darauf, die Entwicklung des staatlichen und genossenschaftlichen Handels sowie die Unterstützung des privaten Einzelhandels zur Aufgabe der örtlichen Volksvertretungen zu machen.214 Soweit ersichtlich existierten erst ab 1961 rechtliche Vorgaben, welche den Räten als Teil der kommunalen Verwaltungsspitze die Befugnis einräumten, Öffnungszeiten für Verkaufsstellen aller Eigentumsformen festzulegen: 1. Beschluß des Präsidiums des Ministerrates von 1961:215 Auf diesen Beschluß nahm § 18 Abs. 1 der Verordnung über Ordnungswidrigkeiten von 1968 Bezug. Er sah die Möglichkeit vor, den Leiter oder Inhaber von Einzelhandelsgeschäften mit Verweis oder Ordnungsstrafe zu belegen, wenn er gegen die von den örtlichen Organen festgelegten Öffnungszeiten verstößt.216 2. § 59 Abs. 1 S. 4 des Gesetzes über die örtlichen Volksvertretungen und ihre Organe vom 12. Juli 1973 verankerte gesetzlich die Kompetenz der Räte der Städte und Gemeinden.217 3. Das Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen von 1985 (GöV)218 übertrug dem Rat des Kreises die Befugnis, Rahmenbedingungen für die Gestaltung der Öffnungszeiten festzulegen. In Berlin (Ost) oblag die Festlegung den Räten der Stadtbezirke.219
Als objektive Anhaltspunkte für die kommunalen Organe nannten Autoren 1973 allein die örtlichen Bedingungen, die bei der Festlegung der Öffnungszei___________ 213
Zitiert nach Weber, DDR, Geschichte, 1991, S. 201. § 6 Abs. 2 n G. über die örtlichen Organe der Staatsmacht (GöO), GBl. I, S. 65. 215 Beschluß v. 5. Januar 1961, GBl. II, S. 23 (26), Punkt II 2 d cc. 216 GBl. II, S. 359. 217 GBl. I, S. 313. 218 § 44 Abs. 2 GöV v. 4. Juli 1985, GBl. I, S. 213. 219 Weise, GewArch 1994, S. 139 (140). 214
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1. Teil: Geschichte und Grundlagen
ten zu beachten waren. Einen allgemeinen Maßstab, der dann republikweit hätte Beachtung finden können, verneinten sie.220 Das Gesetz von 1985 begründete eine neue Rahmenkompetenz des Rates des Kreises. Die Räte der Städte und Gemeinden hatten sich einheitlich an den territorialen Bedingungen des jeweiligen Kreises zu orientieren.221 Laut Kommentierung sollten neben Faktoren wie Schichtsysteme der Produktionsbetriebe und verkehrstechnische Lage der Geschäfte auch die „versorgungspolitischen Anforderungen“ sowie die Besonderheiten der Urlaubs- und Ferienzeit berücksichtigt werden.222 Zugleich unterstrichen die Kommentatoren die Aufgabe des Rates des Kreises, die Einhaltung der Öffnungszeiten stärker zu kontrollieren.223 Bemerkenswert ist, daß die Befugnis, über zeitweilige Schließungen von Verkaufsstellen und Gaststätten zu entscheiden, dem Rat der Stadt oder Gemeinde und nicht den Einzelhandelsbetrieben oblag, § 68 Abs. 2 S. 3 GöV. Damit sollte offenbar die Möglichkeit geschaffen werden, bei Versorgungsengpässen Verkaufsstellen zu schließen.
b) Tatsächliche Öffnungszeiten Ab Ende 1956 war es Handelsorganisations- und Konsumgeschäften erlaubt, sonntags ab 14 Uhr zum Verkauf zu öffnen.224 Auch wenn die Festlegung in die Zuständigkeit der kommunalen Räte fiel, lassen sich folgende regelmäßigen Öffnungszeiten feststellen: Geschäfte waren von montags bis donnerstags zwischen 9 und 18 Uhr, freitags bis 19 Uhr geöffnet. Kaufhallen öffneten länger, in der Regel ab 8 Uhr bis 19 oder sogar 20 Uhr. Samstags galt eine kurz Öffnungszeit von 9 bis 12 Uhr.225 Als eine Besonderheit ist der spezielle Ladenschluß für Spätverkaufsstellen der Konsumgenossenschaften und der staatlichen HO-Läden zu nennen, der Schichtarbeitern werktags von 6 bis 22 Uhr vor allem in Industriegebieten einen Einkauf nach Arbeitsende ermöglichen sollte.226 Zusätzlich wurde privaten Lebensmittelläden und „Getränkestützpunkten“ im Rahmen der Gewerbeer___________ 220
Brandt / Queck, Versorgung der Bevölkerung, 1973, S. 138. Petzold, Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen, 1989, § 44, 2.3. 222 Petzold, Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen, 1989, § 44, 2.3; vgl. für die Vorgängerregelung Petzold, Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen, 1977, § 59, S. 277. 223 Petzold, Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen, 1989, § 44, 2.3. 224 Besier, in: Geschichte des Sonntags, 2002, S. 70 (72). 225 Spiekermann, ZUG 2004, S. 26 (27 in Fn. 3). 226 Weise, GewArch 1994, S. 139 (140); Stober, JZ 1996, S. 541 (547). 221
2. Kapitel: Entwicklung in DDR und Bundesrepublik seit 1945
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laubnis eine Öffnung an Abenden, Samstagen und Sonntagen genehmigt. Diese Sonderregelungen führten nach der Wiedervereinigung zu Anpassungsproblemen, da im Einigungsvertrag keine spezielle Übergangsregelung für das Ladenschlußrecht getroffen worden war.227 Liest man zeitgenössische Ausführungen zum Einzelhandel in der DDR, so fällt auf, daß die Autoren vor allem Fragen der Warenbereitstellung, der Sortimentgestaltung und die Breite der Produktpalette thematisieren. Einige Ausführungen lassen den Schluß zu, daß Inhaber von Verkaufsstellen Anträge zu den gewünschten Öffnungszeiten bei den örtlichen Räten stellen konnten.228 Fragen des Ladenschlusses hatten aber offenbar in der DDR eine geringere Bedeutung als in der Bundesrepublik. Die Probleme waren dem Verkauf vorgelagert, da häufig schon kein ausreichendes Warenangebot zur Verfügung stand.
2. Möglichkeit der Sonntagsarbeit Eine der Bundesrepublik vergleichbare Privat- und Tarifautonomie existierte in der DDR nicht. Eine freie Vereinbarung von Arbeitsbedingungen hätte der zentralistisch geleiteten Planwirtschaft widersprochen und die gesamtvolkswirtschaftliche Planung und Leitung hinfällig gemacht.229 Die DDR schützte die Sonn- und Feiertage allein durch arbeitsrechtliche Vorschriften. Je nach geltendem Gesetz lassen sich drei Epochen im Arbeitsrecht der DDR ausmachen, das teilweise Normen zur Zulässigkeit von Sonntagsarbeit enthielt: 1. Gesetz der Arbeit vom 19. April 1950, 2. Gesetzbuch der Arbeit vom 12. April 1961 und das 3. Arbeitsgesetzbuch vom 16. Juni 1977.230
Das Gesetz der Arbeit von 1950 (GdA) sah keine besonderen Vorschriften zu Sonn- und Feiertagsarbeit vor. § 40 GdA beschränkte die Arbeitszeit auf wöchentlich 48 Stunden. Eine Verordnung von 1951 ließ in allgemeiner Form Sonn- und Feiertagsarbeit zu für „Arbeiten, die ihrer Art nach einen ununterbrochenen Fortgang bedingen, und Arbeiten, für die ein öffentliches Interesse besteht.“231 Nach einer Durchführungsbestimmung waren Zuschläge für Sonnund Feiertagsarbeit zu zahlen.232 Dies deutet zumindest darauf hin, daß auch in ___________ 227
Weise, GewArch 1994, S. 139 (140). Brandt / Queck, Versorgung der Bevölkerung, 1973, S. 138. 229 Pawelzig, in: Maydell, Umwandlung der Arbeits- und Sozialordnung, 1996, S. 18. 230 GBl. 1950, S. 349 ff; GBl. 1961 I, S. 27; GBl. 1977 I, S. 185. 231 § 15 VO v. 25. Oktober 1951, GBl. S. 957. 232 § 4 Abs. 3 Erste Durchführungsbestimmung zum Gesetz über die Verkürzung der Arbeitszeit - Lohndirektive - v. 4. Februar 1957, GBl. I, S. 117. 228
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1. Teil: Geschichte und Grundlagen
den 50er Jahren die Sonn- und Feiertagsarbeit als etwas Besonderes angesehen wurde. Allerdings war in der Arbeitswelt der 50er Jahre eine Zunahme der Sonntagsarbeit festzustellen, was Beschwerden der Evangelischen Kirche 1954 und 1955 an staatliche Stellen belegen.233 Insbesondere in wichtigen Bereichen der Wirtschaft wie dem Kohleabbau, dem Kali- und Kupferbergbau und auf „Großbaustellen des Sozialismus“ wie dem Erdölkombinat Schwedt, Großkraftwerken und Häfen verordnete man Sonntagsarbeit.234 Außerhalb rechtlicher Kategorien organisierte das SED-Regime Mobilisierungskampagnen und rief Anfang der 50er Jahre zu freiwilligen „Aufbausonntagen“ auf, um die Trümmer der zerstörten Städte zu beseitigen und neue Gebäude zu errichten.235 Das 1961 folgende Gesetzbuch der Arbeit (GBA) enthielt grundsätzliche Bestimmungen zur Arbeitszeit für abhängig Beschäftigte in staatlichen und, mit gewissen Einschränkungen, auch in privaten Betrieben insbesondere des Einzelhandels.236 In § 69 GBA waren die Sonn- und Feiertage als Tage der Arbeitsruhe festgelegt. Sonntagsarbeit war danach zulässig, wenn „die Versorgung und Betreuung der Bevölkerung, der technologisch bedingte ununterbrochene Produktionsgang, die volle Ausnutzung hochleistungsfähiger Anlagen oder die Durchführung anderer volkswirtschaftlich besonders wichtiger Aufgaben“ es verlangten. Schließlich galt ab dem 1. Januar 1978 das Arbeitsgesetzbuch (AGB).237 Die Norm des § 168 AGB ähnelte weitgehend der Vorgängerregelung, normierte aber in seinem Absatz 2 die gesetzlichen Feiertage.238 Die Zulässigkeitsvoraussetzungen für Sonntagsarbeit blieben im wesentlichen gleich. Nach Einschätzung eines DDR-Kommentators ergab sich die Entscheidung darüber, welcher Betrieb und welche Einrichtung auch an Sonn- und Feiertagen arbeiten müssen, entweder direkt aus objektiven Gründen oder aus dem Volkswirtschaftsplan, in welchem die zeitliche Ausnutzung der Anlagen vorgegeben ist, sowie aus Festlegungen der zentralen und territorialen Staatsorgane.239 Im Vergleich zum westdeutschen Recht waren die §§ 168 ff AGB für Arbeitnehmer wesentlich ungünstiger. Die Ausnahmetatbestände waren sehr weit gefaßt, so daß Sonntagsarbeit mehr oder weniger nach Belieben angeordnet ___________ 233
Besier, in: Geschichte des Sonntags, 2002, S. 70 (71 f). Gibas, in: Geschichte des Sonntags, 2002, S. 78 (80). 235 Vgl. zu Einzelheiten Gibas, in: Geschichte des Sonntags, 2002, S. 78 (82 f). 236 Gesetzbuch der Arbeit v. 12. April 1961, GBl. I, S. 27; vgl. Mampel, Sozialistische Verfassung der DDR, 1997, Art. 34 Rnr. 8. 237 Mampel, Sozialistische Verfassung der DDR, 1997, Art. 34 Rnr. 8. 238 Gesetzliche Feiertage waren der 1. Januar, Karfreitag, Ostersonntag, der 1. Mai, Pfingstsonntag und -montag, der 7. Oktober sowie der 25. und 26. Dezember als Weihnachtsfeiertage. 239 Paul, in: Kunz / Thiel, Arbeitsrecht, 1986, S. 247. 234
2. Kapitel: Entwicklung in DDR und Bundesrepublik seit 1945
67
werden konnte.240 Nach der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 änderte der Gesetzgeber § 168 AGB: In Absatz 2 erkannte das erste frei gewählte Parlament die 1967 abgeschafften Feiertage Ostermontag, Christi Himmelfahrt sowie Buß- und Bettag wieder an.241 Die Ausnahmen in § 168 Abs. 3 AGB modifizierte man und schränkte die Zulässigkeitsvoraussetzungen insgesamt ein. Mit Ausnahme der Regelung zur Feiertagsanerkennung galt § 168 AGB aufgrund des Einigungsvertrages im Beitrittsgebiet noch bis zum 31. Dezember 1992 fort,242 da die Regelungen im AGB für Arbeitgeber günstiger waren als die §§ 105 b ff GewO und in der Phase des Aufbaus der neuen Länder aufrechterhalten bleiben sollten.243
3. Sonntagsschutz in der Verfassung Das politische System der DDR kann nicht einfach nach der Verfassung analysiert werden, da sie entsprechend dem kommunistischen Rechtsverständnis eine untergeordnete Bedeutung für die Ausübung politischer Macht hatte.244 Die Diskrepanz zwischen Verfassungstext und -wirklichkeit zeigte sich alsbald und war ein Charakteristikum der mangelnden Rechtsstaatlichkeit der DDR.245 Die erste Verfassung von 1949 orientierte sich an den Kirchenartikeln der Weimarer Reichsverfassung, normierte allerdings wichtige Durchbrechungen.246 Sie enthielt noch einen Artikel zum Sonntagsschutz.247 Der Entwurf des SED-Vorstandes vom 14. November 1946 wurde übernommen,248 und Art. 16 Abs. 2 bestimmte: „Der Sonntag, die Feiertage und der 1. Mai sind Tage der Arbeitsruhe und stehen unter dem Schutz der Gesetze.“
Walter Ulbricht installierte und leitete über 15 Jahre später eine Kommission des Parteiapparates, die eine neue Verfassung erarbeiten sollte. Existenz und Tätigkeit dieses Gremiums unterlagen höchster Geheimhaltung. Das Moskauer ___________ 240 Wank in: Maydell, Umwandlung der Arbeits- und Sozialordnung, 1996, S. 32; vgl. zu Fortgeltung Anl. I Kap. VIII Sachgebiet C Abschn. III Nr. 7 Einigungsvertrag. 241 Vgl. zur Abschaffung 1967 Mampel, , Sozialistische Verfassung der DDR, 1997, Art. 34 Rnr. 10. 242 Wank, in: Maydell, Umwandlung der Arbeits- und Sozialordnung, 1996, S. 32. 243 BT- Drs. 11/7817, S. 142. 244 Stern, Staatsrecht V, 2000, S. 1604. 245 Vgl. Gruber, Sonntag und kirchliche Feiertage, 2003, S.198 f. 246 Stern, Staatsrecht V, 2000, S. 1624. Vgl. insbesondere die Art. 41 bis 48 DDRVerfassung 1949 zum Verhältnis Staat - Kirche. 247 Zur Entstehung vgl. Roggemann, DDR-Verfassungen, 1989. 248 Vgl. zum Entwurf Roggemann, DDR-Verfassungen, 1989, S. 485.
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1. Teil: Geschichte und Grundlagen
Politbüro prüfte den von ihm erarbeiteten Entwurf und versah diesen mit Änderungen. Diese Prüfung erfolgte vor der Billigung des Verfassungsentwurfs durch das Zentralkomitee.249 Die Verfassung von 1968 enthielt keinen spezifischen Sonntagsartikel mehr. Lediglich Art. 34 Abs. 2 sah vor, daß das Recht auf Freizeit und Erholung durch die gesetzliche Begrenzung der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit gewährleistet werde. Auch die Revision der Verfassung von 1974 verzichtete auf eine spezifische Regelung zu Sonntagen. Kommentierungen zur Verfassung durch DDR-Rechtswissenschaftler sind nicht erkenntnisfördernd. Dies beruht zum einen auf der Verknüpfung ideologischer Einordnung mit Bezugnahmen auf Marx oder Staats- und Parteichefs.250 Zum anderen wurden solche Veröffentlichungen genutzt, um den „Sieg über den Klassenfeind“ zu propagieren.251
II. Bundesrepublik Deutschland Speziell im Ladenschlußrecht wurden nach Kriegsende einige westdeutsche Länder aktiv. Das damalige Land Württemberg-Hohenzollern verordnete den Ladenschluß 1948, während nach Gründung der Bundesrepublik Baden, Berlin und Bremen Gesetze und Hamburg eine Ladenschlußverordnung erließen.252 Teilweise verpflichteten die Landesregelungen wie zur Kriegszeit die Ladeninhaber zur Öffnung der Verkaufsstellen.253 Auf Bundesebene galt allerdings weiterhin § 22 AZO. Folgerichtig stellte das Bundesverfassungsgericht in einem ersten Verfahren zum Ladenschluß die Nichtigkeit zweier Regelungen des Bremer und des Badener Gesetzes 1952 fest, da diese die Ladenöffnung noch weiter einschränkten.254 Gleichzeitig entschied das höchste Gericht, daß die Ladenschlußverordnung von 1939 in der späteren Fassung von 1942 aufgrund ihres Zuschnitts auf die Kriegsverhältnisse nicht mehr gilt. Es folgte damit dem ___________ 249
Mollnau, in: Ellwein / Grimm, Jahrbuch Staats- und Verwaltungswissenschaft, Bd. 9 / 1996, S. 15. 250 Vgl. etwa die Kommentierung zu Art. 34 Verfassung von 1968 in: Sorgenicht / Weichelt, Verfassung DDR II, 1969, S. 135 ff. 251 Vgl. Sorgenicht / Weichelt, Verfassung DDR II, 1969, Art. 34, S. 135 ff. Hier finden sich Sentenzen wie: „In der Deutschen Demokratischen Republik, in der die sozialistischen Produktionsverhältnisse gesiegt haben, wird mit der Realisierung dieses Grundrechts...“. 252 Regierungsblatt Württemberg-Hohenzollern 1948, S. 126; GVBl. Hamb 1950, S. 79; Badisches GVBl. 1951, S. 67; GVBl. Berl 1951, S. 1085; GBl. Brem 1950, S. 87 und S. 111; vgl. zu den übrigen aufgehobenen Normen § 31 BLadSchlG 1957, BGBl. I, S. 875 (881). 253 Vgl. § 1 VO über den Ladenschluß v. 21. Dezember 1939 RGBl. 1939 I, S. 2471; Einzelheiten bei Rühling, Entstehung Ladenschlußgesetz, 2004, S. 42. 254 BVerfGE 1, 283 (296).
2. Kapitel: Entwicklung in DDR und Bundesrepublik seit 1945
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Beispiel des OVG Hamburg, das bereits 1950 die Hamburger Ladenschlußverordnung für nichtig erklärt hatte.255 Die politischen Diskussionen auf Bundesebene begannen wegen der unterschiedlichen Landesbestimmungen schon bald nach Gründung der Bundesrepublik. Abgeordnete des Bundestages ergriffen im Februar 1950 die Initiative und brachten einen Antrag ein, der die Bundesregierung ersuchte, eine Regelung über Öffnungszeiten im Einzelhandel zu treffen. Trotz umfangreicher Beratungen, Anhörungen und Erarbeitung erster Entwürfe konnte allerdings in der ersten Legislaturperiode keine Einigung erzielt werden. Im September 1954 leitete die Bundesregierung den Entwurf eines Ladenschlußgesetzes dem Bundesrat zu. Dieser beschloß Änderungsvorschläge, zu denen sich die Bundesregierung nicht auf eine einheitliche Stellungnahme einigen konnte. Der Entwurf erreichte daher den Bundestag nicht.256 Statt dessen legten 196 Bundestagsabgeordnete einen Entwurf vor, der in weiten Teilen mit der Regierungsvorlage übereinstimmte.257 Dieser Parlamentsentwurf wurde zur Grundlage der Beratungen und schließlich des geltenden Ladenschlußgesetzes. Nach umfangreichen Diskussionen, die sich nicht auf den Sonntagsladenschluß bezogen, beschloß der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates das Ladenschlußgesetz vom 28. November 1956.258 Es trat am 29. Dezember 1956 in Kraft.259 Seit 1956 hatte der Gesetzgeber das Ladenschlußgesetz mehr als ein dutzendmal geändert, auch wenn er die Grundkonzeption unangetastet ließ. Die wichtigste Änderung in jüngster Zeit erfolgte nicht im Ladenschlußgesetz, sondern auf Verfassungsebene: Bei der umfassenden Grundgesetzänderung im Jahr 2006 übertrugen Bundestag und Bundesrat mit Wirkung zum 1. September 2006 die Gesetzgebungskompetenz für das „Recht des Ladenschlusses“ auf die Länder, Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG.
___________ 255
OVG Hamburg, 1951, S. 35; Ipsen, DVBl. 1950, S. 385 (386). Einzelheiten bei Rühling, Entstehung Ladenschlußgesetz, 2004, S. 136. 257 Zur Gesetzgebungsgeschichte im Überblick vgl. Stober, GewArch 1985, S. 353. 258 BGBl. I, S. 875. Zur Entstehungsgeschichte vgl. umfangreich Rühling, Entstehung Ladenschlußgesetz, 2004, S. 45 bis 196. 259 Die Regelung über verkaufsoffene Sonntage vor Weihnachten trat schon am 29. November 1956 in Kraft, während die VO v. 21. November 1963, BGBl. I, S. 844, dem BLadSchlG im Saarland Geltung verlieh. 256
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1. Teil: Geschichte und Grundlagen
3. Kapitel
Neue Ladenöffnungsgesetze und sonstiges einfaches Recht Durch diese Änderung der Gesetzgebungskompetenz hat sich das einfache Recht des Ladenschlusses in Deutschland maßgeblich geändert. Seit November 2006 haben fast alle Bundesländer eigene Gesetze verabschiedet. Die meisten bezeichnen sie in bewußter Abkehr vom Titel des bisherigen Bundesgesetzes als „Ladenöffnungsgesetz“, lediglich Bremen übernimmt die Bezeichnung des Bundesgesetzes und nennt es „Ladenschlußgesetz“: Baden-Württemberg, Ladenöffnungsgesetz v. 14. Februar 2007, GBl. 2007, S. 135 Berlin, Ladenöffnungsgesetz v. 14. November 2006, GVBl. 2006, S. 1045, Brandenburg, Ladenöffnungsgesetz v. 27. November 2006, GVBl. II 2006, S. 158, Bremen, Ladenschlußgesetz v. 22. März 2007, GBl. 2007, S. 221, Hamburg, Ladenöffnungsgesetz v. 22. Dezember 2006, GVBl. 2006, S. 611, Hessen, Ladenöffnungsgesetz v. 23. November 2006, GVBl. I 2006, S. 606, Mecklenburg-Vorpommern, Ladenöffnungsgesetz v. 18. Juni 2007, GVOBl. 2007, S. 226,260 Niedersachsen, Ladenöffnungsgesetz v. 8. März 2007, GVBl. 2007, S. 111, Nordrhein-Westfalen, Ladenöffnungsgesetz v. 16. November 2006, GV. 2006, S. 516, Rheinland-Pfalz, Ladenöffnungsgesetz v. 21. November 2006, GVBl. 2006, S. 351, Saarland, Ladenöffnungsgesetz v. 15. November 2006, Amtsblatt 2006, S. 1974, Sachsen, Ladenöffnungsvorschaltgesetz v. 16. November 2006, GVBl. 2006, S. 497, sowie Ladenöffnungsgesetz v. 16. März 2007, GVBl. 2007, S. 42, Sachsen-Anhalt, Ladenöffnungszeitengesetz v. 22. November 2006, GVBl. 2006, S. 528, Schleswig-Holstein, Ladenöffnungszeitengesetz v. 29. November 2006, GVBl. 2006, S. 243, Thüringen, Ladenöffnungsgesetz v. 24. November 2006, GVBl. 2006, S. 541. Allein in Bayern gab es im März 2007 noch kein laufendes Gesetzgebungsverfahren, weil bei einer Abstimmung am 8. November 2006 innerhalb der CSU-Fraktion des Bayerischen Landtags ein Patt zwischen Befürwortern und Gegnern einer Änderung der Ladenöffnungszeiten herrschte. Dort gilt weiterhin das Bundesladenschlußgesetz.
Zwar sind in den Bundesländern mit eigenen Landesöffnungsgesetzen diese - vereinfacht gesprochen - gemäß Art. 125 a Abs. 1 GG an die Stelle des Bundesladenschlußgesetzes getreten. Allerdings ist rechtlich keineswegs eindeutig, ___________ 260
Das Gesetz aus Mecklenburg-Vorpommern konnte hier zwar noch berücksichtigt, nachfolgend aber nicht überall in die Darstellung einbezogen werden.
3. Kapitel: Neue Ladenöffnungsgesetze und sonstiges einfaches Recht
71
ob bestimmte Regelungen des Bundesrechts insbesondere zum Arbeitnehmerschutz nicht fortgelten und auf diese Weise Bestimmungen in den Ladenöffnungsgesetzen der Länder verdrängen. Diese Frage wird ausführlich unten im 3. Teil behandelt. Die neuen Landesgesetze sind zwar alle kürzer als das Bundesladenschlußgesetz, sie übernehmen jedoch dessen Grundkonzeption: Sie unterscheiden nach Werktagen und Sonn- und Feiertagen und enthalten Sonderregeln für bestimmte Warengruppen wie etwa Zeitschriften, Backwaren, Früchte oder für bestimmte Verkaufsorte wie Bahnhöfe, Flughäfen und Tankstellen. Daher bietet sich im Folgenden eine Gegenüberstellung der Bundes- und der Landesgesetze an, ohne daß hier alle Details der etwa 15 Gesetze behandelt werden können. Kurze Darstellungen zum Arbeitszeitgesetz, das insbesondere Regelungen zur Sonn- und Feiertagsarbeit enthält, sowie zu den Sonn- und Feiertagsgesetzen der Länder runden die Einführung in das hier besonders interessierende geltende einfache Recht ab. I. Ladenöffnungsgesetze der Länder und Bundesladenschlußgesetz Für alle Ladenschlußgesetze sind vor allem ihr Anwendungsbereich, die Ausnahmen vom allgemeinen Ladenschluß an Sonn- und Feiertagen, Spezialregelungen für Arbeitnehmer in Verkaufsstellen sowie die Durchführung des Gesetzes von Bedeutung. 1. Anwendungsbereich Es handelt sich beim Ladenschlußrecht - gleich, ob es auf Bundes- oder Landesebene gesetzt wird - um besonderes Gewerberecht, das öffentlich-rechtliche Normen für den Einzelhandel beinhaltet. Obwohl die Ladenschlußregelungen des Bundes in fast allen Bundesländern durch deren neue Gesetze ersetzt wurden, sei exemplarisch § 3 S. 1 BLadSchlG als Musterbeispiel für den allgemeinen Ladenschluß zitiert: Verkaufsstellen müssen zu folgenden Zeiten für den geschäftlichen Verkehr mit Kunden geschlossen sein: 1. an Sonn- und Feiertagen, 2. montags bis samstags bis 6 Uhr und ab 20 Uhr, 3. am 24. Dezember, wenn dieser Tag auf einen Werktag fällt, bis 6 Uhr und ab 14 Uhr.
Damit wird das „Gesetz über den Ladenschluß“ seinem Namen gerecht, indem die Schließ- und nicht die Öffnungszeiten festgelegt werden. Es handelt sich um ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt. Ausnahmetatbestände finden sich
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1. Teil: Geschichte und Grundlagen
in den §§ 4 bis 15 BLadSchlG (besondere Ladenschlußzeiten) und in § 23 BLadSchlG. Das Gesetz richtet sich, wie die Ordnungs- und Strafvorschriften der § 24 und § 25 BLadSchlG zeigen, an die Inhaber von Verkaufsstellen. Für diese stellt der Ladenschluß ein Betriebsverbot dar.261 Unabhängig davon, ob sie Arbeitnehmer beschäftigen oder nicht, ist die Öffnung zu Zeiten des Ladenschlusses verboten. Gleiches gilt nach den Ladenöffnungsgesetzen der Länder. Hier finden sich insgesamt ähnliche Regelungen. Neu ist allerdings der Ansatz in vielen Ladenöffnungsgesetzen, positiv die Öffnung zu bestimmten Zeiten zu erlauben.262 Bisher war nur indirekt aus dem Bundesladenschlußgesetz zu entnehmen, wann geöffnet werden darf. In den bisher verabschiedeten Landesgesetzen wird wie im Bundesgesetz zwischen Werktagen sowie Sonn- und Feiertagen differenziert: Während die meisten Bundesländer längere Öffnungszeiten an Werktagen, etwa abends bis 22 Uhr, zulassen263 oder den Ladenschluß unter der Woche ganz aufheben,264 bleibt es im Saarland beim abendlichen Ladenschluß von 20 Uhr.265 Alle Bundesländer behalten jedoch den grundsätzlichen Ladenschluß an Sonn- und Feiertagen bei. Den Anwendungsbereich stecken § 1 und § 20 BLadSchlG ab. Nach § 1 Abs. 1 BLadSchlG fallen Verkaufsstellen aller Art, die von einer festen Stelle aus ständig Waren zum Verkauf an jedermann feilhalten, in den Anwendungsbereich des Gesetzes, gleich, ob es sich um Apotheken, Tankstellen, Bahnhofsläden, Geschäfte von Genossenschaften oder sonstige Läden handelt. Auch Buden und Kioske sind erfaßt. Dem Feilhalten steht es gleich, wenn Warenbestellungen entgegengenommen werden. Die Landesgesetze enthalten weitgehend entsprechende Regelungen.266 Damit fallen Dienstleistungsbetriebe, die sich wie etwa Videotheken, Bräunungs- oder Fitneßstudios vom Warenverkauf unterscheiden, nicht oder wie im
___________ 261
Mattner, Sonn- und Feiertagsrecht, 1991, § 6 Rnr. 94. Vgl. § 3 Abs. 1 LadÖffG Berl, § 3 Abs. 1 LadÖffG Bbg, § 3 Abs. 1 LadÖffG Hamb, § 4 Abs. 1 LadÖffG NRW, § 3 Abs. 1 LadÖffG SH. Sachsen-Anhalt gibt von Montag bis Freitag von 0 bis 24 Uhr und am Samstag von 0 bis 20 Uhr die Geschäftsöffnung frei, vgl. § 3 LadÖffG SAnh; gleiches gilt für Thüringen, § 3 LadÖffG Thür. 263 § 3 LadÖffG RhPf. 264 § 3 Abs. 1 und 2 LadÖffG BW, § 3 Abs. 1 LadÖffG Berl, § 3 Abs. 1 LadÖffG Bbg, § 3 LadSchlG Brem, § 3 Abs. 1 LadÖffG Hamb, § 3 Abs. 1 LadÖffG Hess, § 3 Abs. 1 LadÖffG MV, § 3 Abs. 1 LadÖffG Nds, § 4 Abs. 1 LadÖffG NRW. 265 Bisher bleibt nur das Saarland beim werktäglichen Ladenschluß zwischen 20 Uhr abends und 6 Uhr morgens, § 3 LadÖffG Saar. 266 S. etwa § 2 Abs. 1 LadÖffG Saar, § 2 Abs. 1 LadÖffG SAnh, § 2 Abs. 1 LadÖffG Thür. 262
3. Kapitel: Neue Ladenöffnungsgesetze und sonstiges einfaches Recht
73
Fall der Friseure nicht mehr unter das Ladenschlußgesetz.267 Die Zulässigkeit des Betriebes solcher Einrichtungen bemißt sich mangels bundesgesetzlicher Regelung nach den Sonn- und Feiertagsgesetzen der Länder. Das Merkmal „Verkauf an jedermann“ schließt solche Verkaufsstellen aus, die nur einem bestimmten Kundenkreis offenstehen. Dies ist die Praxis im Großhandel, so daß dieser nicht unter das Ladenschlußgesetz fällt.268 Komplettiert wird der Anwendungsbereich des Bundesgesetzes durch § 20 BLadSchlG. Er verbietet das gewerbliche Feilhalten von Waren auch außerhalb von Verkaufsstellen während des Ladenschlusses. Somit wird das Reisegewerbe in den Regelungsbereich einbezogen. In einigen Ladenöffnungsgesetzen hat der Landesgesetzgeber die Geltung für den Verkauf in und außerhalb von Verkaufsstellen kurzer Hand in einen Paragraphen zusammengeführt.269 In zeitlicher Hinsicht ist es notwendig, den Begriff des „geschäftlichen Verkehrs mit Kunden“ näher zu spezifizieren, um zu definieren, ab welchem Stadium ein Einkaufsprozeß den Ladenschlussregelungen unterfällt. Im Anschluß an den Experten des Ladenschlußrechts Stober lassen sich sechs Phasen unterscheiden:270 1. bloße Werbung durch Ausstellen der Ware zur Besichtigung, 2. reine Warenvorführung durch Zeigen von Produkten wie Kleidung, Möbelstücke, technische Geräte, 3. Möglichkeit der Warenprüfung durch Sitz- oder Liegetests, An- oder Ausprobieren, Ergreifen der Ware, 4. Durchführung von vorbereitenden Verkaufsverhandlungen im Laden in konkretindividueller Weise durch Preisverhandlung, Anpassung und Abmessung der Ware, 5. Vertragsabschluß durch Annahme des Kaufangebots und 6. Vertragsabwicklung in- oder außerhalb der Verkaufsstelle durch Bezahlung und Übergabe der Ware.
Die ersten drei Phasen sind dem Bereich der Werbung zuzuordnen, während die letzten drei der konkreten Anbahnung und Durchführung eines Kaufs dienen. Daher fallen nur die letzen drei nach Sinn und Zweck unter Ladenschlußgesetze.271 Dieser Unterscheidung folgend haben auch das Bundesverwaltungsgericht und der Bundesgerichtshof die Öffnung eines Möbelhauses zur bloßen ___________ 267
Mattner, Sonn- und Feiertagsrecht, 1991, § 6 Rnr. 96. Für Friseurbetriebe galt als einziges Handwerk das Ladenschlußgesetz bis 2003, vgl. zur Aufhebung des § 18 BLadSchlG BGBl. 2003 I, S. 658. 268 Stober, Ladenschlußgesetz, 2000, § 1 Rnr. 8; Mattner, Sonn- und Feiertagsrecht, 1991, § 6 Rnr. 97. 269 Vgl. etwa § 3 Abs. 3 LadÖffG Berl, § 3 Abs. 3 LadÖffG Hamb. 270 Stober, Ladenschlußgesetz, 2000, § 3 Rnr. 39 ff. 271 Stober, Ladenschlußgesetz, 2000, § 3 Rnr. 50.
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1. Teil: Geschichte und Grundlagen
Besichtigung der Ware ohne Anwesenheit von Verkaufspersonal für zulässig erachtet.272 In den neuen Landesgesetzen fehlt teilweise der Bezug auf „den geschäftlichen Verkehr mit Kunden“. Dies ist folgerichtig, da häufig positiv definiert wird, wann Verkaufsstellen öffnen dürfen. Einer näheren Spezifizierung des Zwecks bedarf es eben nur, wenn die Länder den Ladeninhabern verbieten, ihr Geschäft zum Verkehr mit Kunden zu bestimmten Zeiten zu öffnen.273 Schließlich erkennt § 2 Abs. 1 BLadSchlG nur gesetzliche Feiertage als Feiertage im Sinne des Gesetzes an. Die Landesgesetze enthalten entsprechende Regelungen274 oder zählen die Feiertage wie Rheinland-Pfalz einzeln auf, § 2 Abs. 3 LadÖffG RhPf.
2. Ausnahmen vom allgemeinen Ladenschluß an Sonn- und Feiertagen Der grundsätzliche Sonntagsladenschluß wird - je nach konkretem Rechtsgrund - durch gesetzliche (§§ 4 bis 15 BLadSchlG und entsprechende Landesregelungen) und behördliche Ausnahmen (§ 23 BLadSchlG sowie entsprechende Landesnormen) unterbrochen. Da die Ladenschlußgesetze von Bund und Ländern Sonn- und Feiertage mit ganz wenigen Ausnahmen gleich behandeln, umfassen alle folgenden Aussagen zum Ladenschluß an Sonntagen auch den an Feiertagen.275 Im einzelnen haben folgende gesetzliche Ausnahmetatbestände für den Sonntagsladenschluß Relevanz.
a) Sonderregeln für bestimmte Verkaufsorte und Waren Einem Teil der Apotheken ermöglicht § 4 BLadSchlG nach einem speziellen Notdienstplan, der von den Landesbehörden festgelegt wird, sonntags zu öffnen. Dabei ist das zu verkaufende Sortiment auf bestimmte Waren wie etwa Arznei- und Säuglingsnährmittel oder hygienische Artikel beschränkt. Sonder-
___________ 272 273
BVerwGE 28, 295; BGHZ 59, 166. Vgl. etwa § 3 S. 1 LadÖffG RhPf, § 3 S. 2 LadÖffG SAnh, § 3 Abs. 2 LadÖffG
SH. 274 Zum Beispiel in § 2 Abs. 2 LadÖffG Hamb, § 2 Abs. 1 Nr. 6 LadÖffG Hess, § 2 Abs. 2 LadÖffG Saar. 275 Ausnahmen sind § 12 Abs. 2 (2. Weihnachts-, Oster- und Pfingstfeiertag), § 15 (24. Dezember fällt auf Sonntag) und § 27 BLadSchlG (Vorbehalt für die Landesgesetzgebung für andere Festtage).
3. Kapitel: Neue Ladenöffnungsgesetze und sonstiges einfaches Recht
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regelungen für Apotheken finden sich auch in den Ladenöffnungsgesetzen der Länder.276 In Zusammenhang mit Reisen stehen die Ausnahmevorschriften für Tankstellen, Bahnhöfe und Flughäfen. In Tankstellen dürfen sonntags KfZErsatzteile, Betriebsstoffe und Reisebedarf verkauft werden, § 6 Abs. 2 BLadSchlG, wobei die Ladenschlußgesetze den Begriff des Reisebedarfs in der Regel legal definieren. An Personenbahnhöfen von Eisenbahnen und Magnetschwebebahnen ist gem. § 8 Abs. 1 BLadSchlG in ähnlicher Weise der Verkauf von Reisebedarf außerhalb der allgemeinen Ladenschlußzeiten an allen Tagen zulässig. Für Flug- und Fährhäfen schränkt § 9 Abs. 1 S. 2 BLadSchlG die Abgabe von Reisebedarf an Reisende ein. Allerdings sind die Landesregierungen ermächtigt, eine Ausdehnung des Kundenkreises und des Warenangebots auf Produkte des täglichen Ge- und Verbrauchs sowie auf Geschenkartikel zu verordnen. Die Länder Baden-Württemberg, Bayern, Berlin und Hessen hatten unter Geltung des Bundesladenschlußgesetzes beispielsweise davon Gebrauch gemacht.277 Nunmehr enthalten die Landesgesetze vergleichbare Regelungen.278 In der Praxis stellt das Privileg für Kurorte und einzeln zu bestimmende Ausflugs-, Erholungs- und Wallfahrtsorte mit besonders starkem Fremdenverkehr eine wichtige Ausnahme dar, § 10 BLadSchlG. Danach können die Landesregierungen den Verkauf einer Reihe gesetzlich näher spezifizierter Waren279 an bis zu 40 Sonn- und Feiertagen jährlich durch Rechtsverordnung zulassen. Davon hatten alle Länder Gebrauch gemacht.280 Die meisten Länder sehen in ihren Gesetzen ebenfalls solche Sonderregeln an bis zu 40 Sonn- und Feiertagen vor, einige Länder wie Schleswig-Holstein oder Thüringen enthalten etwas anders ausgestaltete Sonderbestimmungen.281 Nach § 12 BLadSchlG kann das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Einvernehmen mit dem Verbraucherschutzministerium durch Rechtsverord___________ 276
Vgl. etwa in den Ladenöffnungsgesetzen § 4 Saar, jeweils § 6 Bbg und SH, jeweils § 5 RhPf und Thür. 277 Anzinger, Ladenschlußrecht, 1996, Rnr. 64. 278 Z. B. § 5 Nr. 3 LadÖffG Berl, §§ 4 und 5 LadÖffG Hamb, § 4 Abs. 1 Nr. 1 und 2 LadÖffG Hess, §§ 8 und 9 LadÖffG NRW, §§ 6 und 7 LadÖffG RhPf, § 4 Nr. 2 und 3 LadÖffG SAnh. 279 Badegegenstände, Devotionalien, frische Früchte, alkoholfreie Getränke, Milch und Milcherzeugnisse, Süßwaren, Tabakwaren, Blumen und Zeitungen sowie Waren, die für den Ort typisch sind, vgl. § 10 Abs. 1 S. 1 BLadSchlG. 280 Vgl. die Übersicht bei Zmarzlik / Roggendorf, Ladenschlußgesetz, 1997, Teil D, S. 198 ff. 281 Z. B. § 5 Abs. 2 LadÖffG Bbg, § 7 Abs. 1 LadÖffG Hamb, § 6 Abs. 2 LadÖffG NRW, § 9 Abs. 2 LadÖffG RhPf. Eine Verordnungsermächtigung für die Zeit vom 15. Dezember bis zum 31. Oktober enthält § 9 Abs. 1 LadÖffG SH. Eine grundsätzliche Öffnungserlaubnis an Sonn- und Feiertagen sieht § 8 Abs. 1 LadÖffG Thür vor.
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1. Teil: Geschichte und Grundlagen
nung mit Zustimmung des Bundesrates bestimmen, daß und wie lange an Sonnund Feiertagen Verkaufsstellen für die Abgabe von Milch, Milcherzeugnissen, Bäcker- und Konditoreiwaren, frischen Früchten, Blumen und Zeitungen geöffnet sein dürfen. Die Reduzierung auf bestimmte Arten von Verkaufsstellen ist nicht zwingend, wie der Blick in § 12 Abs. 2 BLadSchlG belegt. Eine solche Verordnung über den Verkauf bestimmter Waren an Sonn- und Feiertagen existiert seit 1957.282 In ihren Ladenschlußgesetzen sehen die Länder ähnliche Regelungen zu bestimmten Warengruppen vor und privilegieren - wie zuvor das Bundesgesetz - insbesondere den Verkauf von Bäcker- und Konditoreiwaren, Blumen, Zeitungen und Zeitschriften.283 Einen Spezialfall regelt § 15 BLadSchlG für den Fall, daß der 24. Dezember auf einen Sonntag fällt. Dann dürfen insbesondere Verkaufsstellen, die Weihnachtsbäume oder überwiegend Lebens- und Genußmittel anbieten, von Gesetzes wegen öffnen. Vergleichbare Sonderregelungen sind nunmehr auch in den Landesgesetzen festgelegt. Für behördliche Ausnahmen ermächtigt § 23 BLadSchlG die obersten Landesbehörden oder von ihnen bestimmte Stellen, in Einzelfällen befristete Ausnahmen insbesondere vom allgemeinen Ladenschluß und von den genannten Ausnahmetatbeständen zu bewilligen, wenn dies im öffentlichen Interesse dringend nötig ist. Auch diese Regelung haben die Länder in ihre Ladenschlußgesetze übernommen.284
b) Verkaufsoffene Sonn- und Feiertage sowie Adventssonntage Neben der Verlängerung der abendlichen Verkaufszeiten oder der völligen Aufhebung des Ladenschlusses an den Werktagen stellt die Erhöhung der verkaufsoffenen Sonntage die wichtigste Änderung dar, welche die Länder in ihren Ladenöffnungsgesetzen normiert haben. Bisher stellte in der Praxis neben der Privilegierung der Kur- und Erholungsorte § 14 BLadSchlG die bedeutendste Ausnahmevorschrift dar, da er die Öffnung aller Einzelhandelszweige ermöglicht: Die Landesregierungen oder ___________ 282 BGBl. I, S. 1881, geändert durch Gesetz v. 30. Juli 1996, BGBl. I, S. 1186, vgl. Sartorius I Nr. 806. Danach sind etwa nur solche Läden zum Verkauf von Bäcker- und Konditoreiwaren für die Dauer von drei Stunden berechtigt, die diese Erzeugnisse auch herstellen, sowie Blumengeschäfte für zwei Stunden. 283 § 4 Abs. 1 Nr. 3 LadÖffG Berl, § 5 Abs. 1 LadÖffG NRW, § 5 LadÖffG SAnh, § 9 Abs. 1 LadÖffG Thür. 284 Vgl. etwa § 9 LadÖffG Bbg, § 12 LadSchlG Brem, § 7 LadÖffG Hess, § 10 LadÖffG NRW, § 12 LadÖffG RhPf, § 8 LadÖffG SAnh, § 11 LadÖffG SH. Berlin hat allerdings keine solche Einzelfallregelung aufgenommen.
3. Kapitel: Neue Ladenöffnungsgesetze und sonstiges einfaches Recht
77
die von ihnen benannten Stellen können danach an bis zu vier Sonn- und Feiertagen jährlich die Ladenöffnung für bis zu fünf Stunden freigeben, wenn ein Markt, eine Messe oder eine ähnliche Veranstaltung den Anlaß bieten. Einzelne Bundesländer haben nunmehr in ihren Gesetzen entweder vom Vorliegen bestimmter anlaßbezogener Voraussetzungen ganz abgesehen oder sie allgemeiner gefaßt. Die Beschränkung auf fünf Stunden haben einige Länder beibehalten, andere haben den Rahmen für die Öffnungszeiten vergrößert. Vier verkaufsoffene Sonntage erlauben x ganz ohne weitere Voraussetzungen Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland und Sachsen,285 x bereits bei einem bloßen „öffentlichen Interesse“ Berlin,286 x aus Anlaß von besonderen Ereignissen Hamburg,287 x aus besonderem Anlaß Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen,288 x weiterhin aus Anlaß von Märkten, Messen, örtlichen Festen oder ähnlichen Veranstaltungen Bremen und Hessen.289
In Mecklenburg-Vorpommern waren laut des ersten Entwurfs ursprünglich acht verkaufsoffene Sonn- und Feiertage geplant, allerdings beschloß der Landtag schließlich nur eine Öffnungsmöglichkeit an vier Sonntagen.290 Brandenburg ermöglicht aus Anlaß von besonderen Ereignissen sechs verkaufsoffene Sonn- und Feiertage.291 Berlin erlaubt über die vier erwähnten hinaus die Ladenöffnung an den Adventssonntagen von 13 bis 20 Uhr, § 3 Abs. 1 LadÖffG Berl, und aus Anlaß besonderer Ereignisse wie insbesondere Firmenjubiläen und Straßenfesten an zwei weiteren Sonn- und Feiertagen. Dort ist also künftig an bis zu 10 Sonnund Feiertagen jährlich die Geschäftsöffnung möglich. Das einzige Bundesland, das den Sonntagsschutz stärkt, ist BadenWürttemberg, da dort aus Anlaß von örtlichen Festen, Märkten, Messen oder ähnlichen Veranstaltungen nach behördlicher Festlegung nur noch maximal an drei Sonn- und Feiertagen geöffnet werden darf.292 ___________ 285
§ 5 Abs. 1 LadÖffG Nds, § 6 Abs. 1 LadÖffG NRW, § 10 S. 1 LadÖffG RhPf, § 8 Abs. 1 LadÖffG Saar, § 8 Abs. 1 LadÖffG Sa. 286 § 6 Abs. 1 LadÖffG Berl. 287 § 8 Abs. 1 LadÖffG Hamb. 288 § 7 Abs. 1 LadÖffG SAnh, § 5 Abs. 1 LadÖffG SH, § 10 Abs. 1 LadÖffG Thür. 289 § 10 Abs. 1 LadSchlG Brem, § 6 Abs. 1 LadÖffG Hess. 290 § 6 Abs. 1 LadÖffG MV; vgl. zum ersten Entwurf Landtags-Drs. 5/81. 291 § 5 Abs. 1 LadÖffG Bbg. 292 § 8 Abs. 1 LadÖffG BW.
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1. Teil: Geschichte und Grundlagen
Rechtspolitisch besonders umstritten sind die neuen Regelungen der Länder, die eine Öffnung an den Adventssonntagen ermöglichen. Bisher war es nach der Regelung in § 14 Abs. 3 S. 1 BLadSchlG verboten, einen verkaufsoffenen Sonntag im Dezember zu gewähren. Möglich war also nur, den ersten Adventssonntag freizugeben, wenn dieser auf einen Sonntag im November fiel. Die Länder haben nunmehr unterschiedliche Regelungen getroffen: Berlin sieht ausdrücklich per Gesetz eine Öffnungsmöglichkeit zwischen 13 und 20 Uhr an den Adventssonntagen vor. In anderen Ländern ist es möglich, daß ein verkaufsoffener Sonntag im Advent veranstaltet wird. Allerdings bedarf es hierzu einer gesonderten Festlegung durch die zuständige Behörde. Dies gilt z. B. x in Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt an allen Adventssonntagen,293 x in Nordrhein-Westfalen an einem beliebigen Adventssonntag,294 x in Rheinland-Pfalz, wenn der erste Adventssonntag im November liegt,295 x in Mecklenburg-Vorpommern, im Saarland und in Thüringen generell am ersten Adventssonntag.296
In Baden-Württemberg, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein ist dagegen die Öffnung an einem Adventssonntag weiterhin nicht gestattet.297
3. Spezialregelung für Arbeitnehmer Grundsätzlich regelt das Arbeitszeitgesetz, ob und gegebenenfalls unter welchen Bedingungen Arbeitgeber ihre Arbeitnehmer sonn- und feiertags beschäftigen dürfen. Allerdings enthält § 17 Abs. 1 bis 3 BLadSchlG eine Spezialregelung für den Fall, daß Beschäftigte ausnahmsweise an Sonn- und Feiertagen in Verkaufsstellen arbeiten. Diese Personen dürfen außerhalb der Ladenöffnung nur insgesamt 30 weitere Minuten tätig sein. Durch diese Sonderregelung wird deutlich, daß Arbeitnehmer außerhalb der Ladenschlußzeiten an Werktagen grundsätzlich beschäftigt werden dürfen, etwa zu Vorbereitungs- oder Abschlußarbeiten. Spezielle Ersatzruhezeiten für geleistete Sonntagsarbeit sieht § 17 Abs. 3 BLadSchlG in detaillierter Form vor. ___________ 293
§ 5 Abs. 1 Bbg LadÖffG, § 8 LadÖffG Sa, § 7 Abs. 1 LadÖffG SAnh. § 6 Abs. 4 LadÖffG NRW. 295 § 10 S. 2 LadÖffG RhPf. 296 § 6 Abs.2 LadÖffG MV, § 8 Abs. 2 LadÖffG Saar, § 10 Abs. 2 LadÖffG Thür. 297 § 8 Abs. 3 LadÖffG BW, § 10 Abs. 3 LadSchlG Brem, § 8 Abs. 1 LadÖffG Hamb, § 6 Abs. 3 LadÖffG Hess, § 5 Abs. 1 LadÖffG Nds, § 5 Abs. 3 LadÖffG SH. 294
3. Kapitel: Neue Ladenöffnungsgesetze und sonstiges einfaches Recht
79
Die neuen Landesgesetze über die Ladenöffnung enthalten sämtlich Regelungen zum Schutz der Arbeitnehmer, die in Verkaufsstellen beschäftigt sind. Einige Länder übernehmen die Regelung des § 17 BLadSchlG fast vollständig,298 andere nur zum Teil.299 Manche verweisen darüber hinaus auf § 11 ArbZG oder gar das gesamte Arbeitszeitgesetz.300 Vereinzelt werden auch neue Schutzvorschriften wie etwa besondere Freistellungsansprüche für Beschäftigte mit Kindern unter 12 Jahren vorgesehen.301 Eine verfassungsrechtliche Beurteilung dieser zweifelhaften Normierung von arbeitszeitrechtlichen Bestimmungen durch die Länder erfolgt unten im 3. Teil.
4. Durchführung des Gesetzes Die Durchführung des Ladenschlußgesetzes als Bundesgesetz obliegt - wie im Regelfall - den Ländern. Die Aufsicht über die Einhaltung des Gesetzes fällt den nach Landesrecht für den Arbeitsschutz zuständigen Verwaltungsbehörden zu, § 22 Abs. 1 BLadSchlG. Die obersten Landesbehörden können vorsehen, daß andere Dienststellen an der Aufsicht beteiligt werden. Ermächtigungsgrundlage für ein Einschreiten bei Verstößen bietet die jeweilige ordnungsrechtliche Generalklausel in Verbindung mit dem jeweiligen Verbot.302 In ihren Ladenschlußgesetzen haben die Länder nunmehr Regelungen zur Aufsicht getroffen und die Aufgaben teilweise den Gemeinden als Aufgaben des übertragenen Wirkungskreises, teilweise den örtlichen Ordnungsbehörden oder anderen Verwaltungsbehörden übertragen.303
II. Arbeitszeitgesetz Das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) vom 6. Juni 1994 enthält die zentralen Regelungen für die Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen.304 Es trat an die Stelle der sonntagsschützenden §§ 105 a bis j GewO. Seine Verabschiedung erfüllte den Auftrag des Art. 30 Einigungsvertrag, das öffentlich___________ 298
Vgl. etwa § 12 LadÖffG BW, § 13 LadÖffG RhPf. § 7 Abs. 1 LadÖffG Berl, § 13 LadSchlG Brem, § 9 LadÖffG Hamb, § 7 Abs. 1 MV, § 6 LadÖffG Nds. 300 S. in den Ladenöffnungsgesetzen § 7 Abs. 1 Berl, § 9 Abs. 3 Hess, § 11 Abs. 1 NRW, § 10 Abs. 1 Saar, § 9 SAnh, § 13 Abs. 1 SH, § 12 Thür. 301 § 7 Abs. 3 LadÖffG Berl, § 10 Abs. 4 LadÖffG Bbg. 302 Mattner, Sonn- und Feiertagsrecht, 1991, § 6 Rnr. 95. 303 § 10 Abs. 1 LadÖffG Hess, § 12 Abs. 1 LadÖffG NRW, § 11 Abs. 2 LadÖffG Saar, § 11 LadÖffG SH. 304 BGBl. I, S. 1170. 299
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1. Teil: Geschichte und Grundlagen
rechtliche Arbeitszeitrecht einschließlich der Zulässigkeit von Sonn- und Feiertagsarbeit neu zu kodifizieren. Der Zweck des Arbeitszeitgesetzes besteht nach ausdrücklicher Regelung in § 1 ArbZG darin, die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer zu gewährleisten, die Rahmenbedingungen für flexible Arbeitnehmer zu verbessern sowie Sonn- und Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung der Arbeitnehmer zu schützen. Nach dem Grundsatz des § 9 ArbZG ist Arbeit an Sonn- und Feiertagen untersagt. Einen Katalog von Ausnahmen, die keiner Genehmigung durch Behörde bedürfen, enthält § 10 ArbZG. Die Überprüfung der Voraussetzungen obliegt allein dem Arbeitgeber, der dafür allerdings die bußgeld- und strafbewehrte Verantwortung trägt.305 Die Aufsichtsbehörde kann aber feststellen, ob eine Beschäftigung nach § 10 ArbZG zulässig ist.306 Schließlich enthält das Arbeitszeitgesetz Ermächtigungen für den Verordnungsgeber, nach denen er zur Vermeidung erheblicher Schäden unter bestimmten Voraussetzungen weitere Ausnahmen vom Verbot der Sonntagsbeschäftigung erlassen kann.307 Falls Verkaufsstellen ausnahmsweise sonntags öffnen dürfen, gestattet § 17 BLadSchlG direkt die Beschäftigung von Arbeitnehmern. Das Ladenschlußgesetz des Bundes ist insoweit lex specalis zum Arbeitszeitgesetz.
III. Sonn- und Feiertagsgesetze der Länder Die Sonn- und Feiertagsgesetze der Länder enthalten besondere Vorschriften zum Schutz dieser Tage.308 Auch wenn die Bezeichnungen der Gesetze oder Einzelregelungen im Detail leicht voneinander abweichen, kann man eine Reihe von Normen ausmachen, die in allen oder den meisten Sonn- und Feiertagsgesetzen enthalten sind und den gleichen Regelungsgehalt besitzen. Mit Recht
___________ 305 § 22 Abs. 1 Nr. 5, § 23 ArbZG, vgl. Neumann / Biebl, Arbeitszeitgesetz, 2004, § 10 Rnr. 4. 306 § 13 Abs. 3 Nr. 1 ArbZG. 307 § 13 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, Abs. 5 ArbZG. 308 Vgl. etwa das Berliner Gesetz über die Sonn- und Feiertage v. 28. Oktober 1954, GVBl. S. 615, zuletzt geändert durch G. v. 2. Dezember 1994, GVBl. S. 491, sowie die VO über den Schutz der Sonn- und Feiertage v. 5. Oktober 2004, GVBl. S. 441, welche die wesentlichen Schutzvorschriften in Gestalt von Arbeitsverboten und Ausnahmen enthält. Eine Übersicht aller geltenden Sonn- und Feiertagsgesetze bietet Baeck / Deutsch, Arbeitszeitgesetz, 2004, § 9 Rnr. 8.
3. Kapitel: Neue Ladenöffnungsgesetze und sonstiges einfaches Recht
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hat Mattner festgestellt, daß länderspezifische Besonderheiten die Ausnahme bilden.309 Wichtige Beispiele für Gemeinsamkeiten stellen etwa Vorschriften zum besonderen Schutz der Kirchen und ihrer Umgebung während der Hauptgottesdienstzeiten, allgemeine Arbeitsverbote zum Schutz der äußeren Ruhe sowie Versammlungs- und Vergnügungsverbote dar. In der Regel werden Ansprüche auf Arbeitsfreistellung an Festtagen, die keine gesetzlichen Feiertage sind, verbürgt. Einerseits kann man je nach ideellem Hintergrund religiöse und weltliche,310 andererseits folgende Feiertage je nach Grad des rechtlichen Schutzes voneinander unterscheiden:
1. Gesetzliche Feiertage Diese Kategorie ist die rechtlich und praktisch bedeutendste. Darunter fallen Feiertage, die aufgrund der Festlegung des Gesetzgebers Feiertage im Sinne aller Bundes- und Landesgesetze sind, wie es die meisten Sonn- und Feiertagsgesetze bestimmen.311 Sie genießen die höchste rechtliche Anerkennung. In den Landesgesetzen herrscht keine einheitliche Terminologie: Teils werden sie als „staatlich anerkannte“, teils als „allgemeine“, teils als „gesetzliche“ oder ohne Zusatz schlicht als Feiertage bezeichnet.312 Die Länder legen mit Ausnahme des Nationalfeiertages die gesetzlichen Feiertage fest, woraus sich deren unterschiedliche Anzahl in den einzelnen Bundesländern ergibt. Sie reicht von neun bis zu zwölf landesweiten Feiertagen. In einzelnen Gebieten Bayerns mit überwiegend katholischer Bevölkerung werden sogar 13 Feiertage begangen.313 Einige Länder sehen bestimmte gesetzlich Feiertage wie Fronleichnam oder das Reformationsfest nur in solchen Landkreisen oder Gebieten vor, in denen die Bevölkerung überwiegend katholisch oder evangelisch ist. Der einzige Feiertag, den der Bund in Art. 2 Abs. 2 Einigungs-
___________ 309
Mattner, Sonn- und Feiertagsrecht, 1991, § 7 Rnr. 8. Vgl. zu weiteren Unterscheidungen Häberle, Feiertagsgarantie, 1987, S. 11 ff. 311 Vgl. etwa § 4 FTG Hamb, § 3 FTG Hess, § 2 Abs. 1 FTG Nds und § 1 Abs. 2 SFG Sa. 312 Vgl. für „staatlich anerkannte“ Feiertage: § 2 FTG Nds; „allgemeine“: § 1 FTG Berl; „gesetzliche“: § 2 Abs.1 SFG Saar; § 2 Abs. 1 FTG MV; ohne nähere Bezeichnung: § 2 Abs. 1 FTG NRW. 313 Vgl. die Übersicht der gesetzlichen Feiertage Baeck / Deutsch, Arbeitszeitgesetz, 2004, § 9 Rnr. 8. 310
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1. Teil: Geschichte und Grundlagen
vertrag festgelegt hat, ist der 3. Oktober als Tag der Deutschen Einheit. Dem Bund steht nur für ihn eine Kompetenz aus der Natur der Sache zu.314 An den gesetzlichen Feiertagen gilt der allgemeine Ladenschluß sowohl nach dem Bundesladenschlußgesetz, § 3 S. 1 Nr. 1, § 2 Abs. 1 BLadSchlG, als auch nach den neuen Ländergesetzen.315
2. Kirchliche Feiertage Sie sind zwar keine Feiertage im Sinne sonstiger bundes- und landesrechtlicher Vorschriften, werden aber doch staatlich berücksichtigt und in schwächerem Maße als die gesetzlichen Feiertage geschützt.316 In einigen Bundesländern sind sie enumerativ aufgeführt,317 in anderen dagegen nur pauschal mit dem Gattungsbegriff als kirchliche oder religiöse Feiertage bezeichnet.318 Dazu zählt der Buß- und Bettag in allen Bundesländern außer Sachsen, wo er weiterhin auch ein gesetzlicher Feiertag ist. In Gebieten, in denen diese Tage nicht schon als gesetzliche Feiertage anerkannt werden, sind dies häufig das Reformationsfest (31. Oktober), Gründonnerstag und das Fest der Heiligen Drei Könige (Ephiphanias, 6. Januar), Fronleichnam, Maria Himmelfahrt (15. August), Allerheiligen (1. November) und Allerseelen (2. November).319 Schüler haben an kirchlichen Feiertagen schulfrei oder können um eine Befreiung zum Besuch des Gottesdienstes nachsuchen.320 Bekenntniszugehörige
___________ 314
Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, 2006, Art. 70 Rnr. 9; vgl. BVerfGE 11, 89 (99). Rein deklaratorischen Charakter hat es daher, wenn die Feiertagsgesetze der Länder den 3. Oktober als gesetzlichen Feiertag aufführen. Zum Plan der damaligen Bundesregierung, den 3. Oktober als gesetzlichen Feiertag abzuschaffen, zu Recht sehr kritisch Häberle, Sonntag, 2006, S. 115 ff. Für den 1. Mai besteht keine Bundeskompetenz etwa aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, vgl. Pieroth in: Jarass / ders, GG, 2006, Art. 74 Rnr. 29; a. A. Ehlers, in: Sachs, GG, 2003, Art 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 3, sowie Preuß in: AKGG, 1989, Art. 140 GG Rnr. 69. 315 In den Ladenöffnungsgesetzen siehe § 3 Abs. 1 und 2 BW, § 3 Abs. 2 Berl, § 3 Abs. 2 Bbg, § 3 Abs. 2 Hamb, § 3 Abs. 2 Hess, § 3 Abs. 2 MV, § 3 Abs. 2 Nds, § 4 Abs. 1 NRW, § 3 RhPf, § 3 i. V. m. § 7 Saar, § 3 SAnh, § 3 Abs. 2 SH, § 4 Abs. 1 Thür. 316 § 2 FTG BW, §§ 3 bis 6 FTG Bay, § 3 FTG Hamb, §§ 7 bis 12 FTG Nds, § 8 und § 9 FTG NRW sowie § 9 FTG RhPf. 317 § 2 FTG BW, § 7 FTG MV, §§ 7 bis 12 FTG Nds, § 3 Abs. 1 SFG Sa und § 2 Abs. 1 FTG Thür. 318 § 4 FTG Hess, § 8 FTG NRW, § 1 Abs. 1 und § 9 Abs. 1 FTG RhPf. 319 Hoeren / Mattner, Feiertagsgesetze der Länder, 1989, § 7 Rnr. 3; vgl. im einzelnen § 2 FTG BW, §§ 7 bis 12 FTG Nds, § 3 Abs. 1 SFG Sa, § 2 Abs. 1 FTG Thür. 320 § 3 Abs. 2 FTG Hamb.
3. Kapitel: Neue Ladenöffnungsgesetze und sonstiges einfaches Recht
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Beschäftigte haben grundsätzlich das Recht, für einen Gottesdienstbesuch von der Arbeit fernzubleiben.321 Die Kategorie der kirchlichen Feiertage kann ausnahmsweise für Ladenöffnungszeiten an Sonn- und Feiertagen von Bedeutung sein: Dies gilt zum einen im Fall des § 27 BLadSchlG, wenn Länder die Beschäftigung von Arbeitnehmern in Verkaufsstellen und den Gewerbebetrieb an Festtagen verbieten, die keine gesetzlichen Feiertage sind. Das betrifft zum anderen etwa Fälle eines Staatskirchenvertrages. Mecklenburg-Vorpommern hat mit der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs und der Pommerschen Evangelischen Kirche einen solchen Vertrag geschlossen, dessen Art. 23 ausdrücklich die „kirchlichen Feiertage“ schützt. Das OVG Greifswald hat dieser Vertragsnorm ein subjektives Recht einzelner Kirchengemeinden auf Einhaltung des Sonn- und Feiertagsschutzes entnommen.322 Allerdings ist noch nicht entschieden, ob sich der vertragliche Schutz auf andere als die gesetzlich anerkannten christlichen Feiertage bezieht. Eine Sonderrolle innerhalb des Ladenschlußgesetzes nimmt der 24. Dezember ein. Für ihn gelten ein spezieller Ladenschluß ab 14 Uhr, § 3 S. 1 Nr. 3 BLadSchlG, sowie weitere Sonderregelungen. Die Länder haben in ihren Ladenöffnungsgesetzen vergleichbare Bestimmungen aufgenommen, auch für den Fall, daß der 24. Dezember auf einen Sonntag fällt.323 Der Heilige Abend ist auch in den Sonn- und Feiertagsgesetzen der Länder durch Tanzverbote und andere Verbote besonders geschützt, ohne daß es sich bei ihm um einen gesetzlichen Feiertag handelt.324
3. Stille Feiertage Bestimmte Feiertage werden gesetzlich als stille Feiertage bezeichnet. Ihr Sinngehalt wird von besonderem Ernst oder Demut geprägt. Welche Feiertage darunter fallen, ist von Bundesland zu Bundesland verschieden. Es kann sich um einen gesetzlich anerkannten Feiertag wie Karfreitag, um einen kirchlichen
___________ 321
§ 9 Abs. 2 FTG RhPf gilt nur für den Buß- und Bettag. OVG Greifswald, NVwZ 2000, 948 (949). Vgl. zum subjektiv-rechtlichen Gehalt unten den 4. Teil. 323 Vgl. etwa § 3 Abs. 2 Nr. 2 und § 9 Abs. 3 LadÖffG BW, § 3 Abs. 1 Nr. 2 und § 8 Abs. 1 LadSchlG Brem, § 3 Abs. 1 und § 8 Abs. 3 LadÖffG Sa. 324 Bsp. § 2 Abs. 1 FTG RhPf, Art. 3 Abs. 1 FTG Bay, § 6 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 2 Nr. 3 FTG Bbg. 322
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1. Teil: Geschichte und Grundlagen
Feiertag wie den Buß- und Bettag325 oder um einen bloßen Gedenktag wie Totensonntag oder Volkstrauertag, handeln. Auch der 8. Mai ist als Tag der Beendigung des 2. Weltkrieges in Deutschland in Mecklenburg-Vorpommern Gedenk- und Trauertag.326 Diese Tage gebieten gegenüber sonstigen Feiertagen in gesteigertem Maße, äußere Ruhe zu wahren, um den Charakter des Tages nicht öffentlich zu beeinträchtigen. Tanz- und Sportveranstaltungen sind verboten oder nur zu bestimmten Tageszeiten erlaubt. In den Ladenöffnungsgesetzen haben die Länder den stillen Feiertagen in der Regel eine besondere Stellung zugeordnet: Sie dürfen nicht als verkaufsoffene Feiertage freigegeben werden und bleiben somit in jedem Fall Tage eines allgemeinen Ladenschlusses.327 Dennoch gibt es einige Bundesländer, die auch an diesen stillen Feiertagen den Verkauf ganz bestimmter Waren, etwa Bäckerwaren, Zeitungen, Zeitschriften, oder den Verkauf an Flughäfen und Bahnhöfen ermöglichen.328
4. Religiöse Feiertage ohne explizite gesetzliche Anerkennung Schließlich existieren religiöse Feiertage, die in der Rechtsordnung keine explizite gesetzliche Anerkennung gefunden haben. Dazu zählen etwa muslimische und jüdische Feiertage in den meisten Bundesländern. Lediglich einige Landesgesetze enthalten Vorschriften zum Schutz jüdischer Feiertage.329 Die Diskussion um die rechtliche Beachtung oder sogar Anerkennung islamischer Feiertage steht erst ganz am Anfang.330 Eine religiöse Betätigung an diesen Tagen ist aber in jedem Fall durch Art. 4 GG geschützt.
___________ 325
Nur in Sachsen ist der Buß- und Bettag noch gesetzlicher Feiertag. § 2 Abs. 2 Nr. 3 FTG MV. 327 Vgl. etwa § 5 Abs. 1 S. 3 LadÖffG Bbg, § 10 Abs. 3 LadSchlG Brem, § 8 Abs. 1 S. 6 LadÖffG Hamb, § 8 Abs. 3 LadÖffG Sa. 328 Vgl. etwa § 8 LadSchlG Brem und § 6 Abs. 2 LadÖffG Hamb. Sachsen allerdings verbietet auch an ausgewählten (stillen) Feiertagen den Verkauf bestimmter Waren, vgl. § 7 Abs. 5 S. 3 LadÖffG Sa; an Flughäfen und Bahnhöfen bleibt der Verkauf möglich, § 6 LadÖffG Sa. Dies belegt die unterschiedliche Ausgestaltung in den einzelnen Ländern. 329 Vgl. § 6 FTG Bay, § 9 FTG NRW und § 6 a SFG Saar. 330 Vgl. Stollmann, NVwZ 2005, S. 1394. 326
3. Kapitel: Neue Ladenöffnungsgesetze und sonstiges einfaches Recht
85
Im Ladenschlußrecht spielen diese Feiertage grundsätzlich keine Rolle. Eine Ausnahme hat der VGH Kassel für den ersten Tag des islamischen Opferfestes angenommen, wenn dieser wie im Jahr 2004 auf einen Sonntag fällt. Ein muslimischer Metzger wollte in diesem Fall geschächtetes Fleisch an seine Kunden verkaufen. Das Gericht nahm einen Anspruch auf Erteilung einer Öffnungsgenehmigung für den Sonntagsverkauf an. Die Rechtsgrundlage des § 23 Abs. 1 BLadSchlG sei aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Schächten im Lichte der Religionsfreiheit auszulegen.331
___________ 331
VGH Kassel NVwZ 2004, S. 893; s. zum Schächten BVerfGE 104, 337 (345 ff).
2. Teil
Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß Die aufgezeigten Wurzeln des Sonn- und Feiertagsschutzes und der Ladenöffnungszeiten sind eingeflossen in das heutige Normengefüge. Das deutsche Verfassungsrecht bildet mit dem europäischen Recht den Rahmen, innerhalb dessen sich der Gesetzgeber zu bewegen hat und das Spannungsverhältnis zwischen dem Sonntagsschutz und der Ladenöffnung de lege lata wie de lege ferenda zu lösen ist. De lege lata konzentriert sich die Untersuchung auf die Verfassungsmäßigkeit des geltenden Ladenschlusses an Sonn- und Feiertagen, Prüfungsobjekt sind das Bundesladenschlußgesetz sowie die in zahlreichen Bundesländern seit November 2006 verabschiedeten Ladenöffnungsgesetze. De lege ferenda stellt sich gerade für die seit der Grundgesetzänderung zum 1. September 2006 zuständigen Länder die Frage, ob eine Abschaffung des sonntäglichen Ladenschlusses mit dem Grundgesetz und insbesondere Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV vereinbar wäre. Bevor diesen beiden Kernpunkten die notwendige Aufmerksamkeit gewidmet wird, ist ein Blick auf den zentralen Artikel der Verfassung für Sonn- und Feiertage zu werfen.
1. Kapitel
Schutz des Sonntags durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV Art. 140 GG legt im XI. Abschnitt „Übergangs- und Schlußbestimmungen“ fest: „Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteile dieses Grundgesetzes.“
Schon vom reinen Erscheinungsbild unterscheidet sich diese Regelung von anderen Grundgesetzartikeln. Der Wortlaut des Art. 139 WRV ist nicht in der Textfassung des Grundgesetzes enthalten, wie sie im Bundesgesetzblatt vom 23. Mai 1949 abgedruckt ist. Die Bezugnahme auf die Weimarer Reichsverfassung stellt eine Besonderheit dar.
1. Kapitel: Schutz des Sonntags durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV
87
I. Besonderheiten als inkorporierter Artikel 1. Beratungen im Parlamentarischen Rat Grund für die Bezugnahme auf die Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung war letztlich die Uneinigkeit innerhalb des Parlamentarischen Rates. Der Herrenchiemseer Entwurf des Grundgesetzes von 1948 sah keinen Art. 140 GG, ja sogar überhaupt keine Regelung zum Verhältnis zwischen Staat und Kirche vor. Ein gemeinsamer Antrag von CDU/CSU, Zentrum und Deutscher Partei beinhaltete einen neuen, staatskirchenrechtlichen Artikel, der allerdings zu Sonn- und Feiertagen schwieg.1 Die Vertreter der SPD, der KPD und der FDP lehnten ihn ab. Der spätere Bundespräsident Theodor Heuß und der spätere erste Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hermann Höpker-Aschoff (beide FDP) schlugen als Kompromiß vor, die kirchenrechtlichen Artikel aus der WRV zum Bestandteil des Grundgesetzes zu machen. Diesen Vorschlag machte sich der CDU-Abgeordnete Alfred Süsterhenn zu eigen und formulierte in den Beratungen erstmals den Antrag, bestimmte kirchenrechtliche Artikel der Weimarer Reichsverfassung durch Verweis in das Grundgesetz aufzunehmen.2 Damit war der entscheidende Brückenschlag zwischen den politischen Lagern vollzogen, dem sich in den folgenden Abstimmungen und Lesungen im Hauptausschuß jeweils Mehrheiten anschlossen. Im Mittelpunkt der Diskussion um die staatskirchenrechtlichen Bestimmungen standen kompetenzrechtliche Aspekte sowie die Fortgeltung der Verträge mit den Kirchen, insbesondere des Reichskonkordats von 1933.3 Abgesehen von Art. 138 WRV diskutierten die Grundgesetzgeber die einzelnen Weimarer Kirchenartikel weder in den Ausschüssen noch im Plenum des Parlamentarischen Rates.4 Sonn- und Feiertage spielten bei den Beratungen keine Rolle. Daher ist der Verweis auf die Weimarer Artikel keine originäre Absicht der Grundgesetzgeber gewesen, sondern ein Verfassungskompromiß in einem für die beteiligten Parteien weltanschaulich stark besetzten Themenkomplex.
2. Rang in der Normenhierarchie Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates diskutierten über den Rang der inkorporierten Artikel. Im Allgemeinen Redaktionsausschuß bestanden Zweifel, ob die vorgeschlagene Formulierung die Weimarer Artikel im Rang des ___________ 1
Antrag v. 29. November 1948, vgl. JöR n. F. 1 (1951), S. 899 f. Einzelheiten in JöR n. F. 1 (1951), S. 902 f. 3 Vgl. JöR n. F. 1 (1951), S. 899 bis 907. 4 Schlief, Entwicklung des Verhältnisses von Staat und Kirche, 1961, S. 135. 2
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2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
einfachen Rechts oder des Verfassungsrechts einbeziehe.5 Die Vertreter sprachen sich in diesem Gremium daher für eine wörtliche Übernahme der ausgewählten Artikel der WRV aus. Der Organisationsausschuß schloß sich diesen Bedenken allerdings nicht an,6 so daß der Inkorporationstechnik nichts mehr im Wege stand. In der Literatur behauptet Maunz ohne nähere Begründung, Art. 4 GG sei vorrangig gegenüber Art. 139 WRV.7 Alle anderen Autoren gehen mit dem Bundesverfassungsgericht in steter Rechtsprechung seit den beiden Entscheidungen zur Kirchensteuer davon aus, daß die inkorporierten Artikel voll gültiges Verfassungsrecht sind und keinesfalls Verfassungsrecht einer niedrigeren Stufe.8 Das Bundesverfassungsgericht spricht regelmäßig davon, daß die Kirchenartikel mit dem Rest des Grundgesetzes ein „organisches Ganzes“ bilden.9 Für diese richtige Auffassung spricht der Wortlaut des Art. 140 GG. Mit dem Passus „sind Bestandteil dieses Grundgesetzes“ wird verdeutlicht, daß die Kirchenartikel in das Grundgesetz integriert sind. Wenn der Verfassungsgeber ein Rangverhältnis hätte etablieren wollen, hätte er dies wie in Art. 25 GG und Art. 124 ff GG ausdrücklich bestimmen können.
II. Rechtsnatur Bei Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV handelt es sich um eine Einrichtungsgarantie. Eine Einordnung als Grundrecht scheidet aus: Als Grundrechte lassen sich zwar eine Vielzahl von Rechten qualifizieren - je nachdem, ob ein enges oder ein weites Grundrechtsverständnis zugrunde liegt. Es kann hier nicht darum ge___________ 5
Stellungnahme v. 16. Dezember 1948 (PR Drs. 374), JöR n. F. 1 (1951), S. 903. JöR n. F. 1 (1951), S. 903. 7 Maunz in: ders. / Dürig, GG, 2002, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 2, der Art. 139 WRV bis einschließlich zur 41. Lieferung im Oktober 2002 kommentierte. Maunz nimmt wohl Bezug auf die Eidesentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, nach der Art. 136 WRV „nach Bedeutung und innerem Gewicht im Zusammenhang der grundgesetzlichen Ordnung von Art. 4 Abs. 1 GG überlagert“ sei, vgl. BVerfGE 33, 23 (31). Dabei handelt es sich aber um eine Einzelentscheidung, wie mehrere andere BVerfGUrteile belegen (s. Fn. 8). Die Entscheidung offenbart vielmehr, daß jedem inkorporierten Kirchenartikel spezifische Probleme eigen sind. Zu der inhaltlichen Spannung zwischen den Art. 137 und Art. 138 WRV zu Art. 4 GG, vgl. Ehlers, Bedeutungswandel im Staatskirchenrecht, 2000, S. 85 (110) für Art. 137 Abs. 3 WRV. 8 St. Rspr. seit BVerfGE 19, 206 (219); 19, 226 (236), 53, 366 (400); Bayer, Religions- und Gewissensfreiheit, 1997, S. 61; Hoffmann, in: FS Obermayer, 1986, S. 33 (41); Jeand’Heur / Korioth, Staatskirchenrecht, 2000, Rnr. 61; Campenhausen, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 139 WRV Rnr. 8. 9 BVerfGE 19, 226 (236); 53, 366 (400); 70, 138 (167) und 99, 100 (119). 6
1. Kapitel: Schutz des Sonntags durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV
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hen, die verschiedenen Grundrechtsverständnisse, die Exegeten im Grundgesetz finden, nachzuzeichnen. Ihre Zahl ist nur noch schwer überschaubar, was ein Ausdruck der von Häberle beschriebenen „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ sein mag.10 Auf Grundlage eines formal-materiellen Grundrechtsverständnisses11 sind unter Grundrechten im Sinne des Grundgesetzes nur subjektiv-öffentliche Rechte aus den Art. 1 bis 17 GG zu verstehen.12 Die fehlende Grundrechtsqualität bei Art. 12 a, Art. 15, Art. 17 a und Art. 18 GG ist beispielsweise offensichtlich.13 Ebensowenig kann man leugnen, daß sich außerhalb des ersten Abschnitts subjektive öffentliche Rechte finden lassen, wie die grundrechtsgleichen Rechte in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG zeigen. Art. 139 WRV stellt also mit der ganz einhelligen Auffassung kein Grundrecht dar.14 Näher liegt eine Einordnung als Einrichtungsgarantie, Institutsgarantie oder institutionelle Garantie. Diese drei Begriffe werden in der Literatur mal synonym,15 mal antonym16 verwendet. Am meisten Plausibilität kann für sich die Unterscheidung beanspruchen, Einrichtungsgarantie als Oberbegriff für institutionelle Garantie und Institutsgarantie zu verstehen.17 So soll es hier gehalten werden. Unter institutionellen Garantien sind öffentlich-rechtliche, unter Institutsgarantien privatrechtliche Einrichtungen zu verstehen.18 Es spricht mehr dafür, den Sonntag als eine öffentlich-rechtliche Einrichtung anzusehen. Auch wenn die Einsetzung des Sonntags als hervorgehobener Wochentag vor der Entstehung neuzeitlicher Staatlichkeit erfolgte, streitet zum ei___________ 10
Häberle, Verfassungslehre, 1998, S. 83 f. Formell ist darauf abzustellen, ob die Norm im ersten Abschnitt des Grundgesetzes steht, materiell darauf, ob sie einen bestimmten Rechtsträger ein subjektives Recht vermittelt. Dieses Verständnis teilen Manssen, Grundrechte, 2000, Rnr. 16; Sachs, Verfassungsrecht II, Grundrechte, 2000, A 2 Rnr. 13. 12 Lechner / Zuck, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1996, § 90 Rnr. 111; dazu neigend auch Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 391. 13 Dreier, in: ders., GG, 2004, Vorb. zu Art. 1 Rnr. 63. 14 So auch BVerfG NJW 1995, S. 3378 (3379); vgl. nur Ahlers / Schroeder, Jura 2000, S. 641 (645). 15 Campenhausen, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 139 WRV Rnr. 11, spricht in der Überschrift von „Institutsgarantie“, im Text dann von „institutioneller Garantie“; Morlok / Heinig, NVwZ 2001, S. 846 (847 in Fn. 14). 16 Pieroth / Schlink, Grundrechte, 2004, Rnr. 70; Sachs, GG, 2003, vor Art. 1 Rnr. 30. 17 Pieroth / Schlink, Grundrechte, 2004, Rnr. 70; Stern, Staatsrecht III/1, 1988, S. 791; Waechter, Die Verwaltung 29 (1996), S. 47 (48). 18 Schmitt, Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung, 1931, in: Gesammelte Aufsätze 1924 – 54, 1973, S. 140 (152). 11
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2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
nen dafür, daß öffentliche Körperschaften seit Jahrhunderten (der Staat und früher die Kirche) sonntagsschützende Normen erlassen haben.19 Zudem geht dem Sonntag die für Institutsgarantien typische Verbindung zur Privatautonomie und zur privaten Lebensgestaltung ab, wie das Eigentum sowie Ehe und Familie als Paradigmen dieser Art von Einrichtungsgarantien zeigen. Daher stellt Art. 139 WRV eine institutionelle Garantie dar. Autoren und Gerichte ordnen Art. 139 WRV in weitgehender Einigkeit als Einrichtungsgarantie ein, wobei die beschriebene begriffliche Vielfalt sich auf die Einordnung des Sonntagsschutzes überträgt. Beim Sonntagsartikel sind die Befürworter einer institutionellen Garantie20 den Anhängern einer Institutsgarantie21 zahlenmäßig überlegen.
III. Schutzobjekte: Sonntage und staatlich anerkannte Feiertage 1. Sonntag Der Sonntag bedarf nach dem Wortlaut des Art. 139 WRV im Gegensatz zu Feiertagen keiner staatlichen Anerkennung, um als Institution geschützt zu sein. Der Gesetzgeber ist also aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV an die Existenz des Sonntags gebunden.22 Mit der Garantie des Sonntags ist zugleich die Sieben-Tage-Woche sowie der Wechsel zwischen Werktagen und Sonntagen verfassungsrechtlich geschützt.23 Die Verfassung knüpft so an die vorstaatliche Einteilung der Zeit an. Der Zeitrhythmus wurde und wird als so selbstverständlich hingenommen, daß es keiner ausdrücklichen Regelung auf Verfassungs- oder Gesetzesebene bedurfte. Allerdings ist damit nicht die Lage des Sonntags innerhalb der Woche als erster oder letzter Tag geschützt. Die Garantie beschränkt sich auf den ___________ 19
Vgl. oben 1. Teil, 1. Kapitel III. und IV. Als erster wohl: Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 171; dann: Badura, Staatsrecht, 2003, L 48; Ehlers, in: Sachs, GG, 2003, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 1; Häberle, Verfassungslehre, 1998, S. 988; Mattner, Sonn- und Feiertagsrecht, 1991, § 3 Rnr. 12 f; Rüfner, in: FS Heckel, 1999, S. 447 (448); Schatzschneider, NJW 1989, S. 681 (682). 21 Bayer, Religions- und Gewissensfreiheit, 1997, S. 103; Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 16; Schmidt-Bleibtreu, in: ders. / Klein, GG, 2004, Art. 140 GG Rnr. 38; Jarass, in: ders. / Pieroth, 2006, Art. 140 GG, Art. 139 WRV; BayVerfGH DÖV 1996, S. 558 (559); BVerfG NJW 1995, S. 3378 (3379). 22 Pahlke, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 53 (69); Solveen, Sonn- und Feiertagsarbeit, 1962, S. 49; im Ergebnis auch Winkler, Kollisionen verfassungsrechtlicher Schutznormen, 2000, S. 146. 23 Feller, Sonn- und Feiertage, 1990, S. 23; ebenso Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 12; Loritz, Sonntagsarbeit, 1989, S. 34. 20
1. Kapitel: Schutz des Sonntags durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV
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Rhythmus.24 Die Lage des Sonntags innerhalb der Woche ist vielmehr durch eine DIN-Norm bestimmt25 - diese Regelungsweise korrespondiert treffend mit der weltlichen Bedeutung dieser Frage.
2. Staatlich anerkannte Feiertage Der Staat behandelt Feiertage im Vergleich zum Sonntag verfassungsrechtlich anders: Feiertage bedürfen erst der staatlichen Anerkennung, um Rechtswirkungen zu entfalten. Der Wortlaut des Art. 139 WRV läßt offen, ob alle oben dargestellten Arten von Feiertagen in seinen Schutzbereich fallen.26 Sind etwa auch kirchliche Feiertage erfaßt, an denen die Sonn- und Feiertagsgesetze nur schul- und arbeitsrechtliche Folgen vorsehen? Der Artikel spricht von „staatlich anerkannten Feiertagen“, ohne zu spezifizieren, welche Qualität die Anerkennung haben muß. Nach Sinn und Zweck kommt allein die höchste Kategorie der gesetzlichen Feiertage in Betracht. Als Tage „der Arbeitsruhe“ sind nur solche denkbar, an denen der Gesetzgeber ein grundsätzliches Arbeits- oder Beschäftigungsverbot vorsieht. Feiertage, die nur für konfessions- oder religionsangehörige Bürger spezielle Rechtsfolgen normieren, scheiden daher aus. Art. 139 WRV schützt sowohl religiöse als auch weltliche gesetzliche Feiertage. Für religiöse Feiertage ist dies unstreitig, da der Begriff der seelischen Erhebung auch die religiöse Erbauung umfaßt. Für weltliche Feiertage hat Lipphardt unter Hinweis auf die Stellung des Art. 139 WRV in der Weimarer Reichsverfassung im Abschnitt „Religion und Religionsgesellschaften“ die Einbeziehung verneint.27 Allerdings ist zu beachten, daß die Nationalversammlung selbst den 1. Mai einmalig für das Jahr 1919 zum staatlichen Feiertag erhob und ihr so die Existenz weltlicher Feiertage bewußt war.28 Wenn es ihr um den ausschließlichen Schutz der religiösen Feiertage gegangen wäre, hätte sie dies durch eine entsprechende Formulierung klarstellen können.
___________ 24
Kirste, NJW 2001, S. 790 (791). Bis 1976 war der Sonntag als erster Tag, danach als letzter Tag der Woche festgelegt. Normen des DIN (Deutsches Institut für Normung e.V.) sind keine Rechtsnormen. Bei dem DIN e.V. handelt es sich um eine freiwillige Arbeitsgemeinschaft von Wirtschaft, Behörden, Verbrauchern und Wissenschaftlern. 26 Vgl. zu den verschiedenen Arten von Feiertagen oben 1. Teil, 3. Kapitel, 1 bis 4. 27 Lipphardt, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 113. 28 Vgl. das G. über einen allgemeinen Feiertag v. 17. April 1919, RGBl. S. 393. In der Folgezeit der Weimarer Republik konnten sich die Parteien im Reichstag nicht auf einen Nationalfeiertag einigen. 25
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2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
IV. Schutzumfang Nach Art. 139 WRV bleiben der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage „gesetzlich geschützt“. Damit verdeutlicht der Verfassungsgeber, daß sich ihr Schutz als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung nicht allein aus der Verfassung ergibt. Er bedarf einer normativen Ausgestaltung auf einfach-gesetzlicher Ebene. Trotz des ausfüllungsbedürftigen Schutzbereichs stellt sich Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV als unmittelbar anwendbares, den Gesetzgeber bindendes Recht dar.29 Das Bundesverfassungsgericht führt zu dieser im Grundgesetz üblichen Technik aus, daß „die Institution des Sonn- und Feiertags unmittelbar durch die Verfassung garantiert ist, die Art und das Ausmaß des Schutzes aber einer gesetzlichen Ausgestaltung bedürfen. Der Gesetzgeber darf in seinen Regelungen auch andere Belange als den Schutz der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung zur Geltung bringen. Ein Kernbestand an Sonn- und Feiertagsruhe aber ist unantastbar, im übrigen besteht Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers.“30
Damit verdeutlicht das Verfassungsgericht zutreffend, daß nicht der gesamte Schutzbereich des Art. 139 WRV der Definition durch den Gesetzgeber unterliegt. Vielmehr unterscheidet es zwei Ebenen, in denen die Legislative über einen deutlich differierenden Spielraum verfügt: Kern- und Randbereich.
1. Unterscheidung von Kern- und Randbereich Die Unterscheidung zwischen Kern- und Randbereich bei Art. 139 WRV ergibt sich nicht aus dem Wortlaut, so daß die unterschiedlichen Meinungen hierzu nicht verwundern. Die Unschärfe der Trennung mißfällt Korioth, Rüthers und Tietje.31 Korioth bemängelt, daß sich in der Literatur niemand dazu äußert, welche Normen der Aufhebung durch den Gesetzgeber entzogen sind. Als Beleg für die fehlenden Konturen eines Kernbereichs des Art. 139 WRV verweist er auf die Meinung von Stern, nach welcher der Kernbereich bei jeder unverhältnismäßigen Regelung verletzt sei.32
___________ 29
Campenhausen, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 139 WRV Rnr. 11. BVerfGE 111, 10 (50). 31 Korioth, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 20; Rüthers, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 88 (90); Tietje, Grundfragen des Arbeitszeitrechts, 2001, S. 212. 32 Korioth, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 20 in Fn. 3, verweist über Rüfner, in: FS Heckel, 1999, S. 447 (449, Fn. 13), auf Stern, Staatsrecht III/1, 1988, S. 871, der als Faustformel formuliert: „Was unverhältnismäßig ist, greift immer in den Kernbereich ein.“ 30
1. Kapitel: Schutz des Sonntags durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV
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Zuzugeben ist der Kritik, daß die Abgrenzung zum Randbereich durchaus Schwierigkeiten mit sich bringt. Sie tauchen aber auch bei anderen Verfassungsnormen und insbesondere bei Grundrechten auf, wie ein Blick auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht mit einem letzten unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung, auf die Tarifautonomie, auf das Eigentum oder auf Einrichtungsgarantien wie die kommunale Selbstverwaltungsgarantie offenbart.33 Gerade bei der Eigentumsgarantie verdeutlicht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wie schwer es zuweilen fällt, den durch diese Institutsgarantie verbürgten „Grundbestand an Normen“ auszufüllen: „Die Institutsgarantie verbietet jedoch, daß solche Sachbereiche der Privatrechtsordnung entzogen werden, die zum elementaren Bestand grundrechtlich geschützter Betätigung im vermögensrechtlichen Bereich gehören.“34 Ein Subsumtionsprozeß unter diese Ausführungen dürfte eine Herausforderung sein. Der Einwand Korioths verweist jedoch auf ein allgemeineres Problem unserer Rechtsordnung, das man mit der „Verflüssigung“ des Verfassungsrechts bildhaft ausdrücken kann.35 Eine solche Kritik mag auf Motiven beruhen, die Schuppert für das einfache Recht treffend mit der in der Regel unerfüllbaren „Sehnsucht nach festen und eindeutigen Grenzen“ beschrieben hat.36 Gerade für das Verfassungsrecht lassen sich solche Grenzen noch weniger finden als für das einfache Recht. Die Abgrenzungsproblematik stellt also keine Besonderheit des Art. 139 WRV dar. Zudem sieht auch das Grundgesetz in Art. 19 Abs. 2 GG eine solche Unterscheidung für die Grundrechte vor, wenn es zwischen dem Wesensgehalt und einem Bereich unterscheidet, der eben nicht „wesentlich“ ist. Zugegeben, der Begriff „Wesensgehalt“ entbehrt fester Konturen und es fehlt nicht an Kritik, die Luhmanns bon mot „das Wesen des Wesens ist unbekannt“ gerne aufgreift.37 Dreier entgegnet dem überzeugend, daß die Intention des Art. 19 Abs. 2 GG deutlich und klar sei: Sie bestehe darin, die „Grundrechtssubstanz vor einem unbeschränkten, ohne eine derartige Sicherungszone zur vollständigen Entleerung und praktischen Auslöschung des Grundrechts führenden Zugriffs des einfachen Gesetzgebers zu schützen.“38 Zudem haben Rechtsprechung und ___________ 33 Vgl. zu den drei Grundrechten Huber, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 19 Abs. 2 Rnr. 180 ff; zur Tarifautonomie Brauer, in: Dreier, GG, 2004, Art. 9 Rnr. 85; Kannengießer, in: Schmidt-Bleibtreu / Klein, GG, 2004, Art. 9 Rnr. 20; zu Art. 28 Abs. 2 BVerfGE 79, 127 (143, 146). 34 BVerfGE 24, 367 (389). 35 Schuppert, Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000, S. 38, bezeichnet diese Kritik so, ohne sie sich zu eigen zu machen. 36 Schuppert, Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000, S. 38 f. 37 Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 59 f; vgl. zu den Autoren, die diese Formel aufgreifen, die Aufzählung bei Dreier, in: ders., GG, 2004, Art. 19 II, Rnr. 7 in Fn. 20. Ebenfalls kritisch zum Begriff „wesentlich“, aber im Zusammenhang mit der Wesentlichkeitstheorie Battis, Verwaltungsrecht, 2002, S. 85. 38 Dreier, in: ders., GG, 2004, Art. 19 II, Rnr. 7.
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2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
Literatur Art. 19 Abs. 2 GG ausreichend konkretisiert und damit seine Wirkung sichergestellt. Auch wenn hier nicht entschieden werden muß, ob Art. 19 Abs. 2 GG analog anwendbar ist, so ist doch der Grundgedanke Dreiers auf Art. 139 WRV übertragbar. Hier geht es ebenfalls darum, eine völlige Dispositionsfreiheit der Legislative auszuschließen. Der Grund für die Unantastbarkeit des Kerngehalts rührt - mangels direkter Anwendbarkeit des Art. 19 Abs. 2 GG aus dem Sinn der Aufnahme in die Verfassung.39 Dies spricht für die Annahme eines Kernbereichs beim Sonntagsartikel. Schmidt-Jortzig befürwortet allgemein und ohne Bezug zu Art. 139 WRV die Unterscheidung in Kern- und Außenbereich und bringt ihre Wirkung zutreffend in folgendem Bild zum Ausdruck: Es handele sich um die „Konstruktion zweier konzentrischer Kreise [...], deren innerer die prinzipiell unanrührbaren Essentialia und deren äußerer den gesetzlich zugänglichen Bereich der Akzidentalia umgrenzen.“40 Im Ergebnis ist die Unterscheidung zwischen Kern- und Randbereich sinnvoll. Diese Sichtweise teilen nicht nur Bundesverfassungs- und Bundesverwaltungsgericht, sondern auch zahlreiche Autoren.41 Korioth ist allerdings Recht zu geben mit seinem Hinweis, daß sich viele Autoren dem Kernbereich nur mit Vorsicht nähern. Diese Vorsicht soll im folgenden aufgegeben werden insbesondere bei der Frage, ob der Sonntagsladenschluß in diesen Bereich fällt.42 Der Schutz eines Kernbestandes und die Ausgestaltungsbedürftigkeit des Randbereichs durch den Gesetzgeber können als objektiv-rechtliche Dimension des Art. 139 WRV bezeichnet werden.43 Objektiv-rechtlich bedeutet vor allem, daß der Sonntagsschutz nicht zur Disposition des einzelnen steht, sondern es sich um ein abstrakt geschütztes Gut handelt.44
___________ 39
Stern, in: HdbStR V, 1992, § 109 Rnr. 54. Schmidt-Jortzig, Einrichtungsgarantien der Verfassung, 1979, S. 38. 41 Vgl. nur Kästner, in: HdbStKirchR II, 1995, S. 337 (339 f); Mattner, Sonn- und Feiertagsrecht, 1991, § 3 Rnr. 16; Morlok / Heinig, NVwZ 2001, S. 846 (847); BVerfGE 111, 10 (50); Rüfner, in: FS Heckel, 1999, S. 447 (448 f); wohl auch Benda, Probleme der industriellen Sonntagsarbeit, 1990, S. 69; das BVerwG spricht von einem einzuhaltenden Rahmen und davon, daß das gesetzgeberische Ermessen Grenzen findet, BVerwGE 79, 118 (123); 79, 236 (238). 42 Vgl. unten 2. Teil, 3. Kapitel I. 4. a) aa) (2) (b). 43 Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 16; Ehlers, in: Sachs, GG, 2003, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 1; Kästner in: HdbStKirchR II, 1995, S. 337 (339); Rüfner, in: FS Heckel, 1999, S. 447 (449). 44 Campenhausen, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 139 WRV Rnr. 11. 40
1. Kapitel: Schutz des Sonntags durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV
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2. Darstellung des Kernbereichs Die Umschreibung des Kernbestandes einer verfassungsrechtlichen Norm in abstrakten Formulierungen, die sich auf das „Wesentliche“ oder das dem „Sonn- und Feiertagsschutz Eigentümliche“ beziehen, fällt nicht allzu schwer. Aber mit dem Bundesverfassungsgericht bestehen schon Zweifel, ob ein genereller, nicht nur für eine Verfassungsnorm gültiger Maßstab zur Bestimmung des Kernbereichs oder des Wesensgehaltes hilfreich ist. Denninger hält solche Formeln zutreffend für „nichtssagend“.45 Schwieriger ist es schon, eine Liste zu entwickeln, die mehrere konkrete Elemente des Kernbestandes umfaßt. Darauf kann hier aber nicht verzichtet werden. Eine wertende Betrachtung der Rechtsprechung und der Literatur zum Sonntagsschutz läßt einige Punkte hervortreten, welche die meisten Autoren oder Gerichte als zentral einstufen. Verbunden mit der eigenen Bewertung lassen sich folgende Elemente ausmachen, ohne welche die Verankerung des Sonntagsschutzes im Grundgesetz zu einer bloßen Hülle würde. Zum Kernbestand zählen 1. eine angemessene Mindestzahl von staatlich anerkannten Feiertagen.46 Schon der Wortlaut des Art. 139 WRV spricht von Feiertagen im Plural. Daß damit aber mehr als zwei Tage als Feiertage staatlich anerkannt werden müssen, ergibt zum einen der Blick in den vorgefundenen Bestand 1919 und zum anderen die in fast 90 Jahren entwickelte Staatspraxis. Ohne daß dies als Maßstab für die Interpretation des Grundgesetzes dienen könnte, ist in diesem Zusammenhang doch bemerkenswert, daß beide totalitären und antichristlichen Systeme des 20. Jahrhunderts in Deutschland, das Dritte Reich und die DDR, jeweils mindestens sechs bis sieben Feiertage anerkannten. In der Bundesrepublik haben die grundsätzlich zuständigen Länder zwischen neun und 13 Tage zu gesetzlichen Feiertagen bestimmt. 2. eine angemessene Mindestzahl von religiösen Feiertagen unter den staatlich anerkannten.47 Die staatliche Praxis der Anerkennung hat im 19., 20. und im bisherigen Verlauf des 21. Jahrhundert stets dazu geführt, daß der Staat deutlich mehr religiöse als weltliche Feiertage anerkannt hat. Im Wortlaut des Art. 139 WRV läßt sich die Aufnahme der seelischen Erhebung als Indiz werten, daß von allen staatlich anerkannten Feiertagen zu-
___________ 45
Denninger, in: AK-GG, 1989, Art. 19 Abs. 2, Rnr. 12. Kästner, in: HdbStKirchR II, 1995, S. 337 (340); Kirste, NJW 2001, S. 790 (791); Maunz, in: ders. / Dürig, GG, 2002, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 3; Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 13; Stollmann, Sonn- und Feiertagsschutz, 2004, S. 88. 47 Für eine Verpflichtung, ohne dies ausdrücklich dem Kernbestand zuzuordnen: BVerfG NJW 1995, 3378 (3379), BayVerfGH NJW 1982, S. 2656; dem zustimmend Schatzschneider, NJW 1989, S. 681 (682), auch Badura, Staatsrecht, 2003, L 48; Häberle, Feiertagsgarantien, 1987, S. 21 in Fn. 30. Feller, Sonn- und Feiertage, 1990, S. 24, ist lediglich der Auffassung, daß eine Abschaffung aller religiöser Feiertage verfassungswidrig sei. 46
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2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
mindest die Hälfte religiöser Art sein muß. Zwar ist „seelische Erhebung“ bewußt religiös neutral formuliert, allerdings impliziert es eben auch besondere religiöse Feierlichkeiten. Da an religiösen Feiertagen in der Regel der Bezug zum Individuum, die Ansprache der Religion an den einzelnen stärker ausgeprägt ist als bei den staatlichen Feiertagen, streitet das Merkmal der seelischen Erhebung für die Anerkennung einer angemessenen Mindestanzahl gerade religiöser Feste. Allerdings geht damit nicht einher, daß ganz bestimmte Feiertage wie etwa Karfreitag oder der 1. Weihnachtsfeiertag zum Kernbestand des Art. 139 WRV gehören. Zum Kernbestand gehört allerdings die Notwendigkeit für den Staat, bei der Anerkennung das Selbstverständnis der Feiertage aus Sicht der jeweiligen Religion und eine mögliche Höherrangigkeit bestimmter religiöser Feiertage vor anderen innerhalb derselben Religion zu beachten. Ein Verstoß läge etwa vor, wenn der Staat den 1. Weihnachtsfeiertag abschaffen, allerdings den 2. Weihnachtsfeiertag weiterhin anerkennen würde. 3. die Stellung gerade des Sonntags als Tag der Arbeitsruhe und seelischer Erhebung. Das heißt, es obliegt nicht der Verfügungsmacht des Gesetzgebers, an die Stelle des Sonntags einen beliebigen anderen oder gar variablen Wochentag für die Arbeitsruhe und die seelische Erhebung zu setzen.48 Sonst hätte der Verfassungsgeber eine allgemeinere Formulierung ohne Nennung des Sonntags wählen müssen. 4. die Sieben-Tage-Woche.49 Durch die Erwähnung des Sonntags im Text der Verfassung selbst ist indirekt klargestellt, daß es sechs restliche Tage in der Woche, Montag bis Samstag, gibt. 5. das grundsätzliche Verhältnis „Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen“ - „Arbeit an Werktagen“.50 Mit der Charakterisierung der Sonn- und Feiertage als „Tage der Arbeitsruhe“ nimmt Art. 139 WRV schon nach dem Wortlaut den zeitlichen Ablauf des Wirtschafts- und Arbeitslebens und seine Periodisierung in seinen Regelungsgehalt auf. Der Schutzzweck der Arbeitsruhe in Art. 139 WRV ergibt nur dann einen Sinn, wenn das Arbeitsaufkommen an Sonn- und Feiertagen deutlich geringer ist als an Werktagen. Indirekt geht der Verfassungsgeber davon aus, daß sich das Wirtschafts- und Arbeitsleben an Werktagen abspielt. Dieses Element des Art. 139 WRV steht einer Rund-um-die-Uhr-Arbeitswelt an sieben Tagen pro Woche entgegen.
___________ 48
Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 12. Kästner, in: HdbStKirchR II, 1995, S. 337 (340); Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 21; Pahlke, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 53 (57). 50 Morlok / Heinig, NVwZ 2001, S. 846 (851); Schnieders, Sonntagsarbeit, 1996, S. 112; in dieselbe Richtung wohl auch Ehlers, in: Sachs, GG, 2003, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 8, der „eine allgemeine Verwässerung des Sonn- und Feiertagsschutzes“ für nicht mehr verfassungskonform hält; ähnlich Tietje, Grundfragen des Arbeitszeitrechts, 2001, S. 211. 49
1. Kapitel: Schutz des Sonntags durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV
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6. die Freiheit der Sonn- und Feiertage vom werktäglichen Charakter.51 Aus dem vorgenannten, fünften Aspekt folgt die besondere Stellung der Sonn- und Feiertage, an denen seelische Erhebung möglich sein soll. Dies ist nur möglich, wenn die werktägliche Betriebsamkeit fehlt. „Arbeitsruhe“ und „seelische Erhebung“ sind in Art. 139 WRV aufeinander bezogen und stehen nicht unvermittelt nebeneinander. Die über die individuelle Arbeitsfreiheit hinausgehende grundsätzliche Freiheit aller von Arbeit schafft eine äußerliche Atmosphäre, die seelische Erhebung des einzelnen ermöglicht. Dieses Wechselspiel beider Schutzzwecke in Art. 139 WRV läßt sich am prägnantesten in der Forderung nach Freiheit der Sonn- und Feiertage von werktäglichem Charakter ausdrücken.
Den Punkten fünf und sechs tritt im Ergebnis auch Feller bei, wenn er dem Gebot der Arbeitsruhe zwei unüberschreitbare Grenzen entnimmt: „1. Zulässig sind nur unbedingt notwendig Arbeiten, die insgesamt nicht dazu führen dürfen, daß die Mehrzahl der Bevölkerung an Sonntagen - für Feiertage gilt dasselbe - arbeitet. 2. Es muß gewährleistet sein, daß der Arbeitsrhythmus des Einzelnen zumindest überwiegend an Sonntagen unterbrochen ist.“52
3. Eingriff in den Kernbereich Die genannten Elemente lassen zwei große Gruppen des Kernbereichs erkennen. Die erste Gruppe befaßt sich mit der Anzahl der Feiertage und dem Sieben-Tage-Rhythmus, das heißt sie beziehen sich auf zahlenmäßige Festlegungen. Ein Eingriff läßt sich mittels eines quantitativen Maßstabes einfach feststellen, wenn etwa alle christlichen Feiertage abgeschafft würden oder auch wenn es abwegig, aber denkbar ist - eine Zehn- statt einer Sieben-TageWoche eingeführt würde. Die zweite Gruppe bezieht sich auf das Verhältnis der Arbeitsruhe als Grundsatz und der Sonntagsarbeit als Ausnahme einerseits, die Abwesenheit werktäglicher Geschäftigkeit andererseits. Hier sind Wertungen und umfangreiche Analysen notwendig, wenn es um die Ausfüllung der Begriffe „Arbeitsruhe“, „seelische Erhebung“ und „werktägliche Geschäftigkeit“ geht. Für die Prüfung, ob eine Maßnahme den Kernbereich verletzt, ist ein qualitativer Maßstab anzulegen. Eingriffe lassen sich hier weniger eindeutig konstatieren als in der ersten Gruppe. Ist der Kernbereich einer Verfassungsnorm und spezieller des Art. 139 WRV bereits bei jeder unverhältnismäßigen Maßnahme zu Lasten des Sonntagsschutzes verletzt? Oder kommt es auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung und somit ___________ 51 Morlok / Heinig, NVwZ 2001, S. 846 (851); Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 21. 52 Feller, Sonn- und Feiertage, 1990, S. 25.
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2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
auf eine Abwägung nicht an, weil der Schutz des Kerns absolut ist und jeder Eingriff eine Verletzung darstellt? Im Anschluß an die bei Art. 19 Abs. 2 GG in der Literatur geführte Auseinandersetzung, welche Wirkung der Wesensgehaltsforderung zukommt, könnte man die erste Frage als typisch für die relative Theorie, die zweite als charakteristisch für die absolute Theorie ansehen.53 Denn sowohl bei Art. 19 Abs. 2 GG als auch bei Art. 139 WRV geht es letztlich darum, die Konturen einer Schranken-Schranke näher zu definieren. Herbert hat zu Recht festgestellt, daß die Wesensgehaltsgarantie um die Figur des Kernbereichs ergänzt wird und in der Regel bei Einrichtungsgarantien des Grundgesetzes Anwendung findet. Auch in ihrer Unbestimmtheit würden sich die beiden Rechtsfiguren gleichen.54 Dem ist beizupflichten. Nach der absoluten Theorie besteht der Wesensgehalt aus einer eingriffsresistenten, nicht relativierbaren, also einem Abwägungsprozeß von Beginn an unzugänglichen Schutzsubstanz.55 Eine Verletzung wäre nur dann anzunehmen, wenn eines der Kernelemente des Sonntagsschutzes ganz oder teilweise aufgegeben wird. Die relative Theorie stellt dagegen darauf ab, daß der Wesensgehalt, also hier der Kernbereich, nur einen relativen, mit entgegenstehenden Interessen abwägungsfähigen Schutz gewährt, der letztlich nicht weiter reicht als das Verhältnismäßigkeitsprinzip.56 Danach soll der Wesensgehalt der Schutznorm mit deren effektivem Garantiebereich identifiziert werden. Daher überrascht es nicht, daß nach Auffassung einiger Anhänger dieser Theorie die Wesensgehaltsgarantie identisch ist mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.57 Dagegen spricht aber, daß sich die Schranken-Schranke der Verhältnismäßigkeit zu einer weit vorgelagerten Sicherungsprüfung entwickelt hat, die den verfassungsrechtlichen Freiraum einer Grundgesetznorm abschirmt, bevor die Substanz einer verfassungsmäßigen Verbürgung, möge man es als Kernbereich oder Wesensgehalt bezeichnen, tangiert ist. Zu Recht merkt Dreier an, daß recht geringfügige Eingriffe unverhältnismäßig sein können, ohne auch nur in ___________ 53
Dreier, in: ders., GG, 2004, Art. 19 II, Rnr. 14, der die Ansätze so treffend umschreibt. 54 Herbert, EuGRZ 1985, S. 321 (326 ff). 55 So der Sache nach Krüger / Sachs, in: Sachs, GG, 2003, Art. 19 Rnr. 43 und wohl Lerche, in: HdbStR V, 1992, § 122 Rnr. 28; vgl. zur Definition dieser Meinung Dreier, in: ders., GG, 2004, Art. 19 II, Rnr. 15. 56 Dreier, in: ders., GG, 2004, Art. 19 II, Rnr. 14 und 16; Kokott, in: Merten / Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. 1, 2004, § 22 Rnr. 87. 57 Hesse, Verfassungsrecht, 1999, Rnr. 332 f; Alexy, Grundrechte, 1985, S. 272, der die Wesensgehaltsgarantie als zumindest teilweise äquivalent zum Verhältnismäßigkeitsprinzip erachtet.
1. Kapitel: Schutz des Sonntags durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV
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die Nähe des Wesensgehaltes zu kommen.58 Schließlich ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ein in Art. 20 Abs. 3 GG enthaltener Rechtssatz, der die gesamte Rechtsordnung prägt, während es bei der Problematik des Kernbereichs und des Wesensgehalts nur um ein ausgewähltes Problem für Grundrechte und andere Schutznormen im Grundgesetz geht.59 Die absolute Theorie hat dagegen den Vorteil der Klarheit für sich. Zwar könnte man das Bundesverfassungsgericht als Befürworter der absoluten Theorie anführen, wenn man sich einige Urteile zu Art. 19 Abs. 2 GG vergegenwärtigt.60 So heißt es etwa in seiner Entscheidung zur strafrechtlichen Verwertung von Tagebuchaufzeichnungen: „Selbst schwerwiegende Interessen der Allgemeinheit können Eingriffe in diesen Bereich [gemeint ist der letzte unantastbare Bereich privater Lebensgestaltung, d. Verf.] nicht rechtfertigen; eine Abwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes findet nicht statt.“61
Auch für Art. 139 WRV weist das Bundesverfassungsgericht in diese Richtung, wenn es vom unantastbaren Kernbestand der Sonn- und Feiertagsruhe spricht.62 Eine umfassendere Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch mehrere Autoren hat aber ergeben, daß sich das Gericht nach solchen Feststellungen regelmäßig dennoch in eine Abwägungs- und Verhältnismäßigkeitsprüfung begibt und somit den absoluten Ansatz nicht konsequent anwendet.63 Schließlich ist der absoluten Theorie zugute zu halten, daß kein Allgemeininteresse vorgebracht werden kann, das die Einschränkung des Kernschutzes zu rechtfertigen vermag. Dies kann die relative Theorie dagegen nicht gewährleisten, da sie einem überwiegenden Allgemeininteresse möglicherweise den Vorzug geben würde.64 Der absolute Ansatz wird somit auch besser dem Wortlaut des Art. 19 Abs. 2 GG gerecht, der bestimmt, daß „in keinem Falle“ ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden darf. „In keinem Falle“ bedeutet eben schlicht keine Rechtfertigungsmöglichkeit und damit keine Offenheit für eine Abwägung. ___________ 58 Dreier, in: ders., GG, 2004, Art. 19 II, Rnr. 17, der anders als hier zwar die relative Theorie befürwortet, aber die Gleichsetzung mit dem Verhältnismäßigkeitprinzip kritisiert. 59 So auch Huber, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 19 Abs. 2 Rnr. 146. 60 BVerfGE 7, 377 (411); 16, 194 (201); 34, 238 (245). 61 BVerfGE 80, 367 (373). 62 BVerfGE 111, 10 (50). 63 Dreier, in: ders., GG, 2004, Art. 19 II, Rnr 16 und insbesondere Herbert, EuGRZ 1985, S. 321 (326 ff, 328 und 331). 64 Vgl. die Definition bei Dreier, in: ders., GG, 2004, Art. 19 II, Rnr. 16.
100 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
Auch wenn die absolute Theorie den Vorzug verdient und ihr Maßstab auf Art. 139 WRV übertragbar ist, dürften die Unterschiede zur relativen Theorie im konkreten Fall des Art. 139 WRV nicht übermäßig sein: Wie oben gezeigt, ist gerade bei den Elementen des Kernbereichs, welche die grundsätzliche Arbeitsruhe an Sonntagen schützen und vor einer werktäglichen Geschäftigkeit bewahren, eine wertende Betrachtung notwendig. Dieser bedarf es auch bei einem Abwägungsprozeß im Sinne des relativen Ansatzes. Allerdings, und dies ist ein markanter Unterschied, können im Rahmen der absoluten Theorie keine Abwägungsaspekte zugunsten eines Interesses angeführt werden, die einen Eingriff in den Kernbereich rechtfertigen würden. Im Ergebnis liegt eine Verletzung des verfassungsrechtlich garantierten Kernbestandes des Sonn- und Feiertagschutzes vor, wenn in diesen Kern überhaupt eingegriffen wird.65 Die Rechtfertigung eines Eingriffs oder gar eine Abwägung unterschiedlicher Interessen mit dem Sonntagsschutz sind ausgeschlossen. Die Folge einer solchen Verletzung ist die Verfassungswidrigkeit der Maßnahme. Sie tritt ebenfalls ein, falls im Randbereich gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip verstoßen wird.66
4. Weite Ausgestaltungsfreiheit im Randbereich Trotz aller Notwendigkeit, den Schutz der Sonntage gesetzlich auszugestalten, bietet Art. 139 WRV hinreichend Flexibilität, den Schutz dem Lauf der Zeit anzupassen. Art. 139 WRV gewährt weder einen Schutz im Sinne eines „englischen Sonntags“, das heißt absoluter Ruhe, noch friert er einen einfachgesetzlichen Bestand an Gesetzen oder an staatlich anerkannten Feiertagen, die 1919 oder 1949 existierten, auf Ebene des Grundgesetzes ein.67 Der Schutzauftrag verpflichtet die staatliche Gewalt allerdings, geeignete Maßnahmen zum Schutz der Sonn- und Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung zu treffen.68
___________ 65
Stollmann, Sonn- und Feiertagsschutz, 2004, S. 87. Auch Mattner scheint der absoluten Theorie nahezustehen, indem er das Verbot betont, in den Kerngehalt der Sonntagsgarantie einzugreifen, vgl. Mattner, Sonn- und Feiertagsrecht, 1991, § 3 Rnr. 75. 66 So auch Maurer, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 112. 67 Kästner, in: HdbStKirchR II, 1995, S. 337 (345); schon für die Weimarer Reichsverfassung Anschütz, Verfassung des Deutschen Reiches, 1933, Art. 139 Nr. 2. 68 Korioth, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 21.
1. Kapitel: Schutz des Sonntags durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV
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a) Maßgaben für die Ausgestaltung Der Schutzauftrag bindet den Staat, beim „ob“ der Ausfüllung hat er kein Ermessen. Art. 139 WRV begnügt sich gerade nicht mit einem Programmsatz, sondern er begründet die Verpflichtung, Sonn- und Feiertage normativ zu sichern.69 Beim „wie“ verfügt die Legislative über einen weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum, der ihr die Abwägung zahlreicher Aspekte und Interessen erlaubt. Je nachdem, welchen kulturellen, sozialen oder wirtschaftlichen Gesichtspunkten sie den Vorrang einräumt, kann dies zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.70 Über den Inhalt und die Reichweite des Sonntagsschutzes entscheidet vorrangig der Gesetzgeber, wobei er einen Ausgleich mit anderen Gütern von Verfassungsrang suchen muß.71 Denn Art. 139 WRV enthält nach richtiger Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts „keine Verhaltensgebote oder -verbote, sondern Normativbestimmungen für die Gesetzgebung von Bund und Ländern.“72 Erst dadurch werden für den einzelnen rechtsverbindliche, unmittelbar geltende Ver- und Gebote, Freiräume und Ausnahmen geschaffen.73 Darin ähnelt Art. 139 WRV dem Art. 14 GG. Der Gesetzgeber hat Inhalt und Schranken der Eigentumsgarantie unter Beachtung der Grundsatzentscheidung des Verfassungsgebers näher zu bestimmen.74 Beispiel einer wichtigen Ausgestaltung im Rahmen des Art. 14 GG ist etwa die Festlegung konkreter vermögenswerter Rechte, die als eigentumsfähige Positionen in den Schutzbereich fallen. Dieser Grundgedanke ist auf Art. 139 WRV übertragbar, da es sich auch bei Art. 14 GG um eine Einrichtungsgarantie handelt. Das Ermessen des Bundes- oder Landesgesetzgebers wird von drei Seiten begrenzt: Erstens müssen in jedem Fall die Regelungen zum Sonntagsschutz die Schutzzwecke des Art. 139 WRV, die Arbeitsruhe und die seelische Erhebung, erfüllen, zweitens muß der Schutz hinreichend effektiv und drittens verhältnismäßig sein.75
___________ 69
Kästner, in: HdbStKirchR II, 1995, S. 337 (345). BayVerfGH DÖV 1996, S. 558 (559). 71 Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 26. 72 BVerwGE 79, 118 (122). 73 Richardi, JZ 1989, S. 491 (492). 74 BVerfGE 24, 367 (396). 75 BVerwGE 79, 118 (3. Leitsatz und 123); Campenhausen, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 139 WRV Rnr. 11; zum Effektivitätserfordernis s. BVerfGE 111, 10 (52). 70
102 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
aa) Berücksichtigung der Schutzzwecke Die Berücksichtigung der Schutzrichtungen ist bei Art. 139 WRV von besonderer Bedeutung, weil sie die Verfassung expressis verbis aufführt. Diese Grenze der Auslegungsfreiheit belegt, daß sich der Schutz des Art. 139 WRV nicht auf den Kernbestand beschränkt. Daher verlangt jede Durchbrechung der grundsätzlichen Arbeitsruhe an Sonntagen ebenso eine Rechtfertigung wie die Reduzierung der Möglichkeit zur seelischen Erhebung. Der Sonntagsschutz muß auf „die Abwehr potentieller Beeinträchtigungen“ zugeschnitten sein. Auf eine konkrete Gefährdung des Sonntags kommt es nicht an.76 Die Legislative hat den Auftrag, Betätigungen zu unterbinden, die der Arbeitsruhe oder der seelischen Erhebung an Sonntagen zuwiderlaufen.77 Morlok faßt den materiellen Anspruch des Art. 139 WRV an die Ausgestaltung treffend zusammen, wenn er fordert, die rechtlichen Rahmenbedingungen müßten so gestaltet sein, „daß sie Arbeitsruhe und seelische Erhebung an diesen Tagen ermöglichen.“78
bb) Untermaßverbot Der Gesetzgeber hat das Untermaßverbot zu beachten: Wie das Bundesverfassungsgericht zu Recht festgestellt hat, muß der Gesetzgeber stets für ein hinreichendes Niveau des Sonntagsschutzes sorgen.79 Es hat sich zudem im zweiten Abtreibungsurteil 1993 unter Verweis auf Isensee ausdrücklich das Untermaßverbot zu eigen gemacht: Der Gesetzgeber hat für einen angemessenen und wirksamen Schutz - im zitierten Fall des ungeborenen Lebens - zu sorgen.80 Auch hier ist eine Übertragung - bei allen Unterschieden zwischen den geschützten Rechtsgütern - auf Art. 139 WRV möglich. Die zu treffende Schutzvorkehrungen müssen dabei die Bedeutung des zu schützenden Rechtsguts sowie die Eigenart des einschlägigen Sachbereichs berücksichtigen.81 Die Forderung des Bundesverfassungsgerichts nach einem hinreichenden Niveau des Sonntagsschutzes bedarf der Konkretisierung, um in der Rechtspraxis Beachtung finden zu können. Welches Maß positiv erreicht sein muß, damit das Schutzniveau hinreichend ist, wird sich allerdings nur schwerlich abstrakt festlegen lassen. Zwei Annäherungen scheinen geeignet: Zum einen muß mate___________ 76
Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 23. Kirste, NJW 2001, S. 790 (791). 78 Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 8. 79 BVerfGE 111, 10 (52). 80 BVerfGE 88, 203 (254). 81 Vgl. BVerfGE 83, 130 (141) und 88, 203 (254). Kritisch zur Figur des „Untermaßverbots“ Streuer, Positive Verpflichtungen des Staates, 2003, S. 146 ff. 77
1. Kapitel: Schutz des Sonntags durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV
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riell ein hinreichender Abstand zwischen Sonntagen und Werktagen in der Rechtsetzung und -praxis existieren. Zum anderen dürfen prozedural keine Ermessensfehler bei der Ausgestaltung begangen werden.
(1) Abstandsgebot In Anlehnung an die Diskussion bei Art. 6 GG um die Frage, ob der Gesetzgeber nichtehelichen Paaren dieselben Rechte wie Ehepaaren einräumen darf,82 muß der Gesetzgeber das Gebot eines spürbaren Abstands von Sonn- zu Werktagen einhalten. Wie er diesen Abstand in Form des einfachen Rechts gestaltet, steht ihm grundsätzlich frei: Ob er etwa Regelungen für selbständige Ladeninhaber, für die angestellten Beschäftigen im Arbeitsrecht oder besondere Vorschriften über die einzuhaltende äußere Ruhe trifft, ist ihm überlassen. Im Ergebnis muß bei einer Gesamtbetrachtung allerdings ein Normbestand festzustellen sein, der im positiven Recht wie in der Rechtsanwendung einen signifikanten Abstand zu den Regelungen über Werktage entstehen läßt. Wenn man die derzeitigen speziellen Regelungen auf Bundes- und Landesebene in den Blick nimmt, kann man konstatieren, daß vor allem die Feiertagsgesetze der Länder, das Ladenschluß- und das Arbeitszeitgesetz des Bundes hinreichende Sonderregeln für Sonn- und Feiertage aufstellen. Daher sichert das zur Zeit geltende einfache Recht ausreichend den verfassungsrechtlich gebotenen Abstand zu den Regelungen, die für Werktage gelten.
(2) Vermeidung von Ermessensfehlern Der Gesetzgeber hat Ermessensfehler bei der Ausgestaltung zu vermeiden, wenn er nicht gegen das Gebot des Art. 139 WRV verstoßen will. Fehler liegen zum einen vor, wenn die Legislative trotz bestehender Pflicht eine Regelung unterläßt, oder zum anderen, wenn sie die aus Art. 139 WRV resultierenden Verpflichtungen falsch anwendet.83 Diese falsche Umsetzung kann sich im Anschluß an die verwaltungsrechtliche Lehre, die zu Ermessensfehlern entwickelte wurde,84 in unterschiedlicher Gestalt äußern: ___________ 82
Für ein Abstandsgebot der Sache nach etwa Badura, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 6 Rnr. 56; Robbers, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 6 Rnr. 44; auch Gröschner, in: Dreier, GG, 2004, Art. 6 Rnr. 42; a. A. BVerfGE 105, 313 (349); Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 2006, Art. 6 Rnr. 12 a. 83 Morlok / Heinig, NVwZ 2001, S. 846 (851). 84 So auch Morlok / Heinig, NVwZ 2001, S. 846 (851). Zur Ermessenfehlerlehre im einzelnen vgl. Battis, Verwaltungsrecht, 2002, S. 141 ff; Maurer, Verwaltungsrecht, 2004, § 7, Rnr. 19 ff.
104 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß 1. Art. 139 WRV wird durch den Gesetzgeber bei einer legislativen Maßnahme ganz übersehen und daher nicht berücksichtigt. 2. Das Gebot des Sonntagsschutzes wird falsch gewichtet. 3. Es werden Aspekte fälschlicher Weise dem Art. 139 WRV zugeschrieben und berücksichtigt, die tatsächlich in diesem Artikel gar nicht enthalten sind.
Das Bundesverfassungsgericht hat schon 1954 in seinem Urteil zur Investitionshilfe entschieden, daß es nur die äußersten Grenzen des gesetzgeberischen Ermessens überprüft.85 Die Grenzen dieses Ermessens sind mit den drei genannten Fehlergruppen erfaßt.
cc) Beachtung der Verhältnismäßigkeit Schließlich ist das Verhältnismäßigkeitprinzip im Rahmen des Art. 139 WRV zu beachten. Dieser Grundsatz von Verfassungsrang gilt auch für die verfassungsrechtlichen individualbezogenen Verbürgungen außerhalb des Grundrechtsteils.86 Das Bundesverfassungsgericht hatte es zwar für die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung in Art. 28 Abs. 2 GG zeitweise abgelehnt, das Verhältnismäßigkeitsprinzip anzuwenden, jüngst aber auch hier anerkannt.87 Wenn dies selbst für diese Grundgesetznorm gilt, die für juristische Personen gilt, kann für Art. 139 WRV, der mit seinen Schutzzwecken Arbeitsruhe und seelische Erhebung das Individuum in den Blick nimmt, nichts anderes gelten. Dementsprechend wenden alle Autoren das Verhältnismäßigkeitprinzip der Sache nach auf Art. 139 WRV an.88 Da hier die Meinung vertreten wird, daß ein unverhältnismäßiger Eingriff nicht zwingend eine Verletzung des Kernbereichs darstellt, ist das Untermaßverbot eine zu berücksichtigende Leitlinie und Schranken-Schranke im Randbereich. Damit wird gleichzeitig klargestellt, daß der Gesetzgeber außerhalb des Kernbereichs keine beliebigen Regelungen treffen darf.89 Dem Bundesverfassungsgericht ist beizupflichten, wenn es in seinem Urteil zum Sonntag- und Nachtbackverbot den Schutzauftrag des Gesetzgebers wie folgt beschreibt: ___________ 85
BVerfGE 4, 7 (18 f). Vgl. allgemein Sachs, in: ders., GG, 2003, Art. 20 Rnr. 146, nach dem es auf Eingriffe in gesicherte Rechtsposition überhaupt Anwendung findet. 87 Zunächst ablehnend BVerfGE 79, 127 (147 ff und 154) und BVerfGE 91, 228 (241 f); hier lehnte es das BVerfG ab, Entscheidungen zur Organisation der Gemeinden auf hinreichend gewichtige Zielsetzungen zu überprüfen; nunmehr aber ausdrücklich bejahend BVerfGE 103, 332 (366 f). 88 Ehlers, in: Sachs, GG, 2003, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 1; Mattner, Sonnund Feiertagsrecht, 1991, § 3 Rnr. 16. 89 Rüfner, in: FS Heckel, 1999, S. 447 (449). 86
1. Kapitel: Schutz des Sonntags durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV
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„Das Ziel der Regelung [des Sonntagbackverbots, d. Verf.] besteht darin, die Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen zu schützen. Dazu ist der Gesetzgeber nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV verfassungsrechtlich verpflichtet. Mit Rücksicht auf diesen Schutzauftrag gilt die Arbeit an Sonn- und Feiertagen ganz allgemein als Ausnahme.“90
Der Gesetzgeber hat also zusammengefaßt einen doppelten Auftrag: Art. 139 WRV auszugestalten und dabei Sonn- und Feiertage gerade als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung zu schützen.
b) Mittel der Ausgestaltung Bei der Wahl der Mittel gibt Art. 139 WRV dem Gesetzgeber vor, daß der Schutz „gesetzlich“ zu erfolgen habe. Die Ausgestaltung erfolgt mittels eines Gesetzes oder aufgrund eines Gesetzes.91 Die wesentlichen Schutzvorschriften müssen in Parlamentsgesetzen geregelt werden, während Einzelheiten auch dem Verordnungsgeber überantwortet werden können. Der Gesetzgeber verfügt über die üblichen Mittel: Er kann zwischen Ge- und Verboten wählen, Strafvorschriften oder bloße Ordnungswidrigkeiten als Sanktionen vorsehen. Zudem kann die Legislative durch räumliche oder zeitliche Differenzierungen das Schutzniveau variieren. Davon hat sie auch reichlich Gebrauch gemacht, wie etwa die besonderen Regelungen für stille Feiertage, die Hauptgottesdienstzeiten oder die privilegierende Bestimmungen für Tankstellen sowie Verkaufsstellen in Bahnhöfen und Flughäfen, die auch sonntags öffnen dürfen.92 Ausgestaltung ist zwar in erster Linie durch Tun, das heißt durch aktive staatliche Maßnahmen möglich, allerdings fordert der Schutzauftrag des Art. 139 WRV auch den Staat auf, einen Eingriff in den Sonntagsschutz zu unterlassen. Ein Beispiel betrifft den Staat als Dienstherrn. Er ist gehalten, eine grundsätzliche Sonntagsarbeit seiner Beamten zu verhindern. Gleiches gilt für ihn als Arbeitgeber für die öffentlichen Angestellten durch die konkrete Ausprägung des Art. 139 WRV im Arbeitszeitgesetz. In zeitlicher Hinsicht enthebt die einmal erfolgte Ausgestaltung den Gesetzgeber nicht von der Pflicht, die Geeignetheit und Erforderlichkeit seiner getroffenen Maßnahmen regelmäßig, etwa unter dem Aspekt der Änderung von tech___________ 90
BVerfGE 87, 363 (393). A. A. Maunz, in: ders. / Dürig, GG, 2002, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 3, der meint, daß Art. 139 WRV selbst das Gesetz sein könne; mit Recht lehnt dies Stollmann, Sonn- und Feiertagsschutz, 2004, S. 93 f, ab. Preuß, in: AK-GG, 1989, Art. 140 GG Rnr. 69, fordert eine Umsetzung allgemein durch Gesetz. 92 Vgl. § 6, § 8 Abs. 1 und § 9 Abs. 1 BLadSchlG. 91
106 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
nischen Produktionsbedingungen zu überprüfen und gegebenenfalls zu revidieren.93 Ebenso hat er zu evaluieren, ob die von ihm gewählten Mittel effektiv sind, um Arbeitsruhe und seelische Erhebung zu ermöglichen. Gegebenenfalls kann er verpflichtet sein, neue Maßnahmen zu ergreifen oder bestehende zu verschärfen oder abzumildern. Die Zuständigkeit für die gesetzliche Ausgestaltung richtet sich nach Art. 70 ff GG. Die spezifische Kompetenznorm des Art. 105 GG für das Finanzwesen ist höchstens für die Besteuerung von Sonntagsarbeit relevant. Mangels expliziter Erwähnung in Art. 73 ff GG sind demnach die Länder für den generellen Sonntagsschutz, der Bund konkurrierend etwa für wirtschaftliche, arbeitsrechtliche und straßenverkehrsrechtliche Aspekte zuständig, vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11, Nr. 12 und Nr. 22 GG. Art. 139 WRV wirkt schließlich nicht nur gegenüber dem Gesetzgeber, sondern auch gegenüber Rechtsprechung und Verwaltung. Zwar gilt hier Art. 1 Abs. 3 GG nicht, aber eine solche Bindung aller drei Staatsgewalten läßt sich aus Art. 20 Abs. 3 GG folgern. Schließlich sind Rechtsprechung und vollziehende Gewalt an Recht und Gesetz gebunden. Denn Gefährdungen für die von Art. 139 WRV erfaßten Rechtsgüter können auch von der vollziehenden Gewalt ausgehen. Relevant wird diese Wirkung für die Exekutive bei der Ermessensausübung und für die Rechtsprechung bei der Überprüfung derselben. Nicht zu verwechseln ist diese Bindungswirkung mit einem Auftrag oder einer Direktive an Rechtsprechung und Exekutive, Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV ins Werk zu setzen. Denn die Vorschrift des Art. 139 WRV enthält einen Gesetzesgebungsauftrag, der im Unterschied zu Staatszielbestimmungen oder verfassungsrechtlichen Struktur- und Leitprinzipien gerade dem Gesetzgeber einen bestimmten Inhalt („als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt“) vorgibt.94 Allerdings muß sich auch die Exekutive an den Sonntagsartikel halten und seinen Wertungen folgen, wenn sie etwa Rechtsverordnungen i. S. d. § 14 BLadSchlG oder i. S. d. neuen Ladenschlußgesetze der Länder erläßt und verkaufsoffene Sonntage zuläßt.95 Festzuhalten bleibt, daß sich die Schutzrichtung des Art. 139 WRV in erster Linie gegen die Legislative richtet, er aber für alle drei Gewalten gilt.96
___________ 93
Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 23. Vgl. zum Unterschied zwischen Gesetzgebungsaufträgen und Struktur- und Leitprinzipien Schuppert, Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000, S. 43 f m. w. N. 95 BVerwG NJW 1999, S. 1567 (1568). Verordnungsermächtigungen finden sich z. B. in § 8 Abs. 1 LadÖffG Hess, § 6 Abs. 3 und § 9 Abs. 2 LadÖffG NRW oder § 8 Abs. 2 LadÖffG Thür. 96 So allgemein für Einrichtungsgarantien Stern, Staatsrecht III/1, 1988, S. 871; speziell für Art. 139 WRV Stollmann, Sonn- und Feiertagsschutz, 2004, S. 107 f. 94
1. Kapitel: Schutz des Sonntags durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV
107
c) Tatsächlich erfolgte Ausgestaltung Der Gesetzgeber hat auf Bundes- wie auf Landesebene von seiner grundsätzlichen Freiheit zur Ausgestaltung umfangreich Gebrauch gemacht. Eine vollständige Aufzählung würde hier zu weit führen, wie die umfassende und detaillierte Zusammenstellung von Mattner belegt.97 Als Beispiele für Vorschriften zum Sonntagsschutz seien nur genannt: x die Sonn- und Feiertagsgesetze der Länder, x das Arbeitszeitgesetz, x § 55 e Abs. 1 GewO, der grundsätzlich Tätigkeiten im Reisegewerbe untersagt, x Regelungen, nach denen Fristen, die an einem Sonn- oder Feiertag auslaufen würden, erst am folgenden Werktag enden, § 193 BGB und § 31 VwVfG, sowie x die Regelungen zum Sonntagsfahrverbot für LKW in § 30 Abs. 3 und 4 StVO.98
Die hier besonders interessierende Ladenschlußregelungen sehen einige Autoren zutreffend als Ausgestaltung des Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV an, soweit sie den Ladenschluß an Sonn- und Feiertagen normieren.99 Davon geht auch das Bundesverfassungsgericht aus, wenn es ausführt: „Daß das grundsätzliche Verbot der Ladenöffnung an Sonn- und Feiertagen zum Schutz der Arbeitsruhe und seelischen Erhebung an diesen Tagen geeignet ist, bedarf keiner weiteren Begründung. ... Es ist Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, auf welchem regulativem Weg er seine Ziele erreichen will. Da Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV ihm auferlegt, den Ruheschutz an Sonn- und Feiertagen jedenfalls als Regel zu sichern, ist es nicht rechtfertigungsbedürftig, wenn er dies vorsieht.“100
Der Ausgestaltung im positiven Sinne steht quasi spiegelbildlich die Konkretisierung anderer Verfassungsgüter gegenüber. Mit einer konkretisierenden Regelung zu Art. 139 WRV kann auch eine Beschränkung des Sonntagsschutzes verbunden sein. So stellt zwar das grundsätzliche Beschäftigungsverbot in § 9 Abs. 1 ArbZG eine Bestimmung zugunsten, die Ausnahme in § 10 ArbZG allerdings zu Lasten des Sonntagsschutzes dar. Nun gilt es, den Schutzgehalt des Art. 139 WRV in Relation zum Ladenschluß zu setzen. Gerade die ausdrücklich in der Verfassungsnorm genannten Schutzzwecke „Arbeitsruhe“ und „seelische Erhebung“ haben bei zwei Fragen eine wichtige Bedeutung: ___________ 97
Mattner, Sonn- und Feiertagsrecht, 1991, S. XII sowie im einzelnen S. 89 bis 231. Vgl. zur Entwicklung von Minisattelzügen als besondere LKW, die nicht unter das Sonntagsfahrverbot fallen, Hupert, NZV 2005, S. 351. 99 Burger, SächsVBl. 1999, S. 295 (297); Ehlers, in: Sachs, GG, 2003, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 6; Rozek, NJW 1999, S. 2921 (2929); Webers, GewArch 2005, S. 60 (61); Campenhausen, Gutachten für BVerfG-Verfahren, 2003, S. 6 f (unveröff.). 100 BVerfGE 111, 10 (52). 98
108 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
1. Sind die Ladenschlußgesetze von Bund und Ländern mit ihrem grundsätzlichen Verbot der Sonntagsöffnung materiell verfassungswidrig? 2. Verstößt die völlige Abschaffung des Ladenschlusses an Sonn- und Feiertagen gegen Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV? 101
2. Kapitel
Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze Ob das Ladenschlußgesetz des Bundes mit dem Grundgesetz vereinbar ist, hat Literatur und Rechtsprechung seit dessen Inkrafttreten 1956 beschäftigt. Aber schon zuvor waren die staatlichen Regelungen des Ladenschlusses eine „Fundgrube“ staatsrechtlicher Fragen, wie Hans Peter Ipsen 1950 treffend anmerkte.102 Seit November 2006 sind schließlich die zahlreichen Ladenöffnungsgesetze der Länder als Gegenstand wissenschaftlicher und möglicherweise auch richterlicher Auseinandersetzung hinzugekommen. Während die Gewerkschaft ver.di sowie die evangelische und katholische Kirche erwogen haben, gegen die neuen Ladenschlußgesetze der Länder gerichtlich vorzugehen, haben zwei Arbeitnehmer im Januar 2007 in Berlin ihre Klagen gegen die neue Berliner Regelung eingereicht.103 Das Bundesverfassungsgericht hat sich mehrfach mit dem Bundesgesetz befaßt. Bereits 1957 legten Ladeninhaber und Verbraucher Verfassungsbeschwerden direkt gegen Regelungen des Ladenschlußgesetzes ein, die aber erst am 29. November 1961 zu drei Urteilen führten: Das Gericht stellte die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes im allgemeinen sowie einer Ausnahmevorschrift für Bahnhofsapotheken fest.104 Diese Urteile bildeten für das Ladenschlußgesetz als ganzes 43 Jahre den Dreh- und Angelpunkt bis zu der Entscheidung von 2004. Zwischen 1961 und 2004 befaßte sich das Gericht unmittelbar mit weiteren einzelnen Ausnahmetatbeständen oder mittelbar in wettbewerbsrechtlich eingekleideter Fragestellung mit dem Ladenschlußgesetz: ___________ 101 Da der Schutzgehalt des Art. 139 WRV sich für Sonn- und Feiertage weitgehend ähnelt, sollen alle künftigen Bezeichnungen im Zusammenhang mit Sonntagen auch für Feiertage gelten („Sonntagsschutz“, „Sonntagsartikel“). Dies gilt ebenso für den Ladenschluß an Sonn- und Feiertagen. 102 Ipsen, DVBl. 1950, S. 385. 103 Vgl. zu diesen möglichen Klagen Tegebauer, GewArch 2007, S. 49 (54 f); vorsichtig allerdings der Ratsvorsitzende der EKD, Bischof Huber, im Rheinischen Merkur Nr. 46 v. 30. November 2006, S. 23. Ver.di unterstützt Klagen von Arbeitnehmern in Berlin, vgl. Der Tagesspiegel v. 24. Januar 2007, S.12. 104 BVerfGE 13, 225 - Bahnhofsapotheke; BVerfGE 13, 230 - berufstätige Frauen; BVerfGE 13, 237 - Universitätsbuchhändler.
2. Kapitel: Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze
109
x Im Jahr 1962 erklärte es § 7 Abs. 1 BLadSchlG für verfassungswidrig. Damit wurden Automatenbetreiber von der „Residenzpflicht“ befreit, welche die Aufstellung eines Warenautomaten nur im räumlichen Zusammenhang mit einem Laden durch den Ladeninhaber oder zumindest mit dessen Zustimmung gestattete.105 x Aufgrund eines Urteils von 1982 war der inzwischen aufgehobene § 18 Abs. 2 BLadSchlG verfassungskonform dahin auszulegen, daß Friseurbetriebe wählen dürfen, ob sie eine Betriebsöffnung am Samstagnachmittag durch Schließung am Montagvormittag ausgleichen oder ob sie den allgemeinen Ladenschluß einhalten.106 x In einem Beschluß ging es 1993 in der Hauptsache um eine wettbewerbsrechtliche Streitigkeit. Das Gericht stellte mit Verweis auf die Entscheidung von 1961 kurz fest, daß § 3 BLadSchlG als zulässige Schranke der Berufsausübungsfreiheit anzusehen ist.107 Eine Verurteilung durch ordentliche Gerichte bei Zuwiderhandlung sei geeignet, die durch das Ladenschlußgesetz geschützten Allgemeinwohlbelange ausreichend zu schützen.108 x Ein weiterer Beschluß 1998 zu einem zivilrechtlichen Ausgangsverfahren wiederholte den Hinweis auf den verfassungsmäßigen § 3 BLadSchlG.109 x Mit Urteil vom 16. Januar 2002 erklärte das Gericht § 14 Abs. 4 BLadSchlG für verfassungswidrig: Die Regelung, Apotheken von der Teilnahme an verkaufsoffenen Sonntagen auszuschließen, verstößt gegen Art. 12 Abs. 1 GG.110
I. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Juni 2004 im Überblick Das Urteil des ersten Senats vom 9. Juni 2004 - 1 BvR 636/02 - hat zentrale Bedeutung für das hier behandelte Thema, weil sich das Bundesverfassungsgericht zum ersten Mal ausführlich der Vereinbarkeit gerade des Sonntagsladenschlusses mit dem Grundgesetz widmete.111 Zu diesem speziellen Fall des Ladenschlusses hatte es in den Verfahren 1961 aus nachvollziehbaren Gründen keine Ausführungen gemacht: Die Beschwerdeführer hatten sich, soweit aus der amtlichen Sammlung erkenntlich, nur gegen das Ladenschlußgesetz im all-
___________ 105 BVerfGE 14, 19; zu einer Bewertung vgl. Schunder, Ladenschlußgesetz, 1994, S. 144 ff. 106 BVerfGE 59, 336; zu einer Bewertung vgl. Schunder, Ladenschlußgesetz, 1994, S. 144 ff. Seit 2003 gilt das Ladenschlußgesetz nicht mehr für Friseurbetriebe, vgl. zur Aufhebung des § 18 BLadSchlG BGBl. I, S. 658. 107 BVerfG NJW 1993, S. 1969. 108 BVerfG NJW 1993, S. 1969 (1971). 109 BVerfG NJW 1998, S. 2811. 110 BVerfGE 104, 357. 111 BVerfGE 111, 10.
110 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
gemeinen gewendet.112 Die Entscheidung von 2004 ist ein Grundsatzurteil zum Ladenschluß und zum Sonntagsschutz.113
1. Verfahrensgeschichte Das Verfahren nahm seinen Ausgang im Sommer 1999, in dem mehrere, zum Teil medienwirksam in Szene gesetzte Aktionen von Kaufhäusern eine breite politische Debatte um den Ladenschluß an Sonntagen auslösten. Das Land Berlin hatte der Galeria Kaufhof AG, der Beschwerdeführerin vor dem Bundesverfassungsgericht, im Juli 1999 zum einen untersagt, während besonderer, durch Landesverordnung zugelassener Öffnungszeiten solche Waren zu verkaufen, die nicht von der Aufzählung in § 1 Abs. 1 der Landesverordnung erfaßt waren.114 Zum anderen verbot die Behörde dem Warenhauskonzern, während der besonderen Verkaufszeiten Waren ohne Bezug zu Berlin als Souvenirs abzugeben. Die Beschwerdeführerin bemühte sich erfolglos um einstweiligen verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz.115 Sie hielt ihr Warenhaus am Berliner Alexanderplatz dennoch außerhalb der damaligen Ladenschlußzeiten am Samstag, dem 31. Juli 1999, nach 16 Uhr und dem sich anschließenden Sonntag, 1. August 1999, geöffnet und bot ihr gesamtes umfangreiches Warensortiment, darunter Uhren und Schmuck, zum Verkauf an. Die bei ihr käuflichen Produkte versah sie mit einem Aufkleber „BerlinSouvenir“. Die Inhaberin eines Fachgeschäfts für Uhren und Schmuck in BerlinTempelhof, also mehrere Kilometer vom Warenhaus am Alexanderplatz entfernt, erwirkte eine einstweilige Verfügung, die der Beschwerdeführerin unter Androhung der entsprechenden Ordnungsmittel untersagte, samstags nach 16 Uhr und sonntags Uhren und Schmuck zu verkaufen. Das Landgericht Berlin bestätigte auf den Widerspruch des Warenhauses die einstweilige Verfügung. In der Hauptsache verurteilte es die spätere Beschwerdeführerin, die Öffnung ihres Kaufhauses während des genannten Ladenschlusses an Samstagen nach 16 Uhr und an Sonntagen zu unterlassen. Die Entscheidung stütze sich auf § 1 UWG und § 3 BLadSchlG in der Fassung vom 30. Juli 1996. Das Kammerge___________ 112
BVerfGE 13, 230 sowie 13, 237. Die Bedeutung für den Sonntag betont zu Recht Häberle, Sonntag, 2006, S. 97 und 105 f. 114 § 1 Berliner Verordnung über den Ladenschluß in Ausflugs- und Erholungsgebieten v. 14. Juni 1983, GVBl. S. 983, zuletzt geändert durch VO v. 16. Juli 1999, GVBl. S. 411. 115 Vgl. VG Berlin NJW 1999, S. 2988. 113
2. Kapitel: Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze
111
richt Berlin wies die Berufung des Einzelhandelskonzerns zurück.116 Gegen die Entscheidungen des Land- und Kammergerichts erhob die Galeria Kaufhof AG erfolglos Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht.
2. Kernelemente der Entscheidung Wie der Sachverhalt nahelegt, unterscheidet das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zwischen dem Ladenschluß an Samstagen und jenem an Sonnund Feiertagen. Folgende Kernelemente der Entscheidung sind bemerkenswert: 1. Zwar hat der Bund das Ladenschlußgesetz aufgrund der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz der Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 (Handel) und Nr. 12 GG (Arbeitsschutz) geregelt, jedoch liegen die Voraussetzungen des 1994 geänderten Art. 72 Abs. 2 GG nicht vor. Das Gesetz gilt nach Art. 125 a Abs. 2 S. 1 GG sowohl für Samstage als auch für Sonntage als Bundesrecht fort. Der Bund kann einzelne Vorschriften ändern, allerdings ist ihm eine grundlegende Neukonzeption des Ladenschlußgesetzes verwehrt. 2. Die gesetzliche Regelung zum Ladenschluß an Samstagen stellt nach Auffassung der vier die Entscheidung tragenden Richter eine angemessene Einschränkung der Berufsfreiheit der Ladeninhaber dar und steht mit dem Gleichheitssatz im Einklang. Die vier anderen Richter halten es in einem Sondervotum dagegen für einen unangemessenen Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG. Denn die Privilegierung von Einzelhandelsgeschäften durch Ausnahmetatbestände verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Aus diesen beiden Gründen sei der samstägliche Ladenschluß verfassungswidrig. Ihr Votum konnte aber wegen § 15 Abs. 4 S. 3 BVerfGG, der eine ablehnende Entscheidung bei Stimmengleichheit vorsieht, nicht durchdringen. 3. Einstimmig halten die Bundesverfassungsrichter den Ladenschluß an Sonnund Feiertagen für verfassungsgemäß, da Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV die Berufsfreiheit einschränke und die entsprechenden Regelungen des Bundesladenschlußgesetzes einen angemessenen Eingriff darstellten. Ebensowenig liegt eine Verletzung des Gleichheitssatzes vor.117 Da die Frage der Gesetzgebungszuständigkeit das Verhältnis zwischen Bund und Ländern betrifft, wird dieser Aspekt der formellen Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußregelungen weiter unten im 3. Teil dargestellt. In materieller Hinsicht bilden die Grundrechte den entscheidenden Maßstab für die Verfassungsmäßigkeit des Sonntagsladenschlusses. Je nach Grund___________ 116 117
KG Berlin GewArch 2002, S. 207. BVerfGE 111, 10 (49 f).
112 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
rechtsträger sind drei Gruppen zu unterscheiden: Grundrechte des Ladeninhabers aus Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG, die allgemeine Handlungsfreiheit der Verbraucher sowie die Berufsfreiheit sowie die Tarifund Privatautonomie der Arbeitnehmer. Im Ergebnis verletzen Regelungen zum Sonntagsladenschlusses keines dieser Grundrechte.
II. Grundrechte der Ladeninhaber 1. Berufsfreiheit, Art. 12 Abs. 1 GG Wenn Autoren in der Vergangenheit die Verfassungsmäßigkeit des Ladenschlußgesetzes problematisiert haben, war vor allem das Spannungsverhältnis zwischen der Berufsfreiheit und anderen Rechtsgütern von Bedeutung. Im Fall des Ladenschlusses an Sonntagen steht die Untersuchung der Beziehung zwischen Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV im Vordergrund.
a) Eingriff in den Schutzbereich In sachlicher Hinsicht bestehen keine Bedenken, daß sich diejenigen der etwa 266.000 Einzelhandelsunternehmen in Deutschland118 auf Art. 12 Abs. 1 GG berufen können, die im Eigentum inländischer natürlicher oder juristischer Personen stehen.119 Das einheitliche Grundrecht der Berufsfreiheit umfaßt die gesamte Gestaltung der beruflichen Tätigkeit. Es wird auch die Freiheit geschützt, selbst zu bestimmen, wann die Tätigkeit ausgeübt wird.120 ___________ 118
Zahlreiche der stehen im Eigentum juristischer Personen, vgl. Statistisches Bundesamt, Jahrbuch 2004, S. 436. 119 EU-Bürger können sich wie ausländische juristische Personen mit Sitz in einem EU-Staat nicht auf die Berufsfreiheit berufen. Sie ist dem Wortlaut nach auf deutsche Staatsbürger i. S. d. Art. 116 GG beschränkt. Art. 19 Abs. 3 GG beschränkt den Kreis der tauglichen Grundrechtsträger auf juristische Personen aus dem Inland. Wie hier für natürliche Personen Bauer / Kahl, JZ 1995, S. 1077 (1081), die zutreffend nachgewiesen haben, daß das EG-Recht zwar mehrere Regelungen im Primär- und Sekundärrecht enthält, die in das Feld der Berufsfreiheit fallen, diese EG-Regelungen aber weniger weit gehen als der Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG; a. A. für natürliche Personen Breuer, in: HdbStR VI, 1989, § 147 Rnr. 21; Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, 2006, Art. 12 Rnr. 10; vgl. EuGHE 1985, 606 - Gravier, Rnr. 26. Für Art. 19 Abs. 3 wie hier Rüfner, in: FS 50 Jahre BVerfG II, 2001, S. 55 (59); Hain, DVBl. 2002, S. 148 (157); a. A. Dreier, in: ders., GG, 2004, Art. 19 Abs. 3 Rnr. 83. 120 Tettinger, in: Sachs, GG, 2003, Art. 12 GG Rnr. 71; Terhechte, JuS 2002, S. 551 (552).
2. Kapitel: Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze
113
Die zentrale Norm des § 3 BLadSchlG begrenzt zeitlich den geschäftlichen Verkehr natürlicher und juristischer Personen durch ein repressives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt in Ausnahmefällen.121 Ladeninhabern wird damit bei Androhung von Ordnungsmitteln untersagt, ihrem Beruf und ihrer Unternehmung zu dem in diesen Bestimmungen genannten Zeiten in Einzelhandelsgeschäften gerade durch Öffnung nachzugehen, vgl. nur § 24 Abs. 1 Nr. 2 BLadSchlG. Die teilweise andere Regelungstechnik der Länder in ihren Ladenöffnungsgesetzen, die nunmehr positiv die Öffnungszeiten nennen, ändert nichts am Befund: Es liegt nach einhelliger Auffassung in Literatur und Rechtsprechung ein Eingriff in den sachlichen Schutzbereich der Berufsausübungsfreiheit vor, ohne daß in die Berufswahl eingegriffen wird.122
b) Rechtfertigung und Verhältnismäßigkeit des Eingriffs Ein Eingriff in die Berufsfreiheit ist rechtmäßig, wenn hinreichende Gründe des Gemeinwohls ihn rechtfertigen und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit beachtet wird.123 Dies ist hier der Fall. Die vier Prüfungsebenen legitimer Schutzzweck, Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit entsprechen den allgemein anerkannten Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit und schaffen die Bedingung, mit der dieses wichtige Verfassungsprinzip operabel wird.124
aa) Gemeinwohlbelange zugunsten des Sonntagsladenschlusses Die Gemeinwohlbelange, die für den Sonntagsladenschluß sprechen, lassen sich in zwei Gruppen unterteilen: zum einen die allgemeinen Ziele von Ladenschlußregelungen, wie sie sich vor allem an Werktagen, aber eben auch an Sonn- und Feiertagen realisieren, zum anderen die spezifischen Schutzzwecke des sonntäglichen Ladenschlusses. Die allgemeinen Ziele von Ladenschlußbestimmungen sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Arbeitszeitschutz, die Herstel___________ 121
Hufen, NJW 1986, S. 1291 (1293). Vgl. nur Heckmann, JZ 1999, S. 1143 (1146); Hufen, NJW 1986, S. 1291 (1293); Schunder, Ladenschlußgesetz, 1994, S. 147 f; Wieland, in: Dreier, GG, 2004, Art. 12 Rnr. 84; st. Rspr. vgl. nur BVerfGE 13, 237 (240 f), 111, 10 (32); BVerfG NJW 2002, S. 666 (667); BVerwGE 79, 118 (128 f). 123 BVerfG NJW 2002, S. 666 (667). 124 Vgl. Schuppert, in: ders. / Neidhart, Gemeinwohl, 2002, S. 19 (35). Den viergliedrigen Prüfungsmaßstab hat das BVerfG im Urteil zur Apothekenöffnung an verkaufsoffenen Sonntagen 2002 angelegt, während es 2004 bei der Prüfung des Sonntagsladenschlusses eine dogmatisch klare Gliederung vermissen ließ; so zu Recht die Kritik von Sachs, JuS 2004, S. 907 (910). 122
114 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
lung gleicher Wettbewerbsbedingungen sowie eine vereinfachte Verwaltungskontrolle, ob die Arbeitszeitbestimmungen auch eingehalten werden.125 Hierzu im einzelnen: Einhellig wird der Arbeitnehmerschutz als Zweck von Ladenschlußgesetzen angesehen.126 Der Schutz der Arbeitszeit ist eine besondere Ausprägung des Arbeitsschutzes. Das Verkaufspersonal wird damit vor überlanger Beschäftigung bewahrt.127 Das Ladenschlußgesetz soll die zulässige Arbeitszeit auf die Tageszeiten der Werktage verteilen128 und zwischen 20 und 6 Uhr morgens vor allem vor Abend-129 und Nachtarbeit130 schützen. In den Bundesländern, welche die Öffnung an Werktagen völlig freigegeben haben,131 ist dieser arbeitnehmerschützende Aspekt zumindest an Werktagen weggefallen. Die zweite bedeutende Zielsetzung des Ladenschlußgesetzes ist die Wettbewerbsneutralität. Es soll gleiche Chancen im Wettbewerb herbeiführen, indem Verkaufsstellen mit und ohne Personal gleichbehandelt werden.132 Dieser Schutzzweck liegt auch allen Landesregelungen zugrunde. Schließlich bezweckt das Bundesladenschlußgesetz eine wirksame Kontrolle durch die Verwaltung, ob die Arbeitszeitbestimmungen für die Arbeitnehmer eingehalten werden. Dieser Schutzzweck ist wie der Arbeitnehmerschutz in den Bundesländern obsolet, die den Ladenschluß an Werktagen völlig freigeben. Die genannten Schutzzwecke gelten zwar auch für den Ladenschluß an Sonntagen, sie sind aber nicht sein Charakteristikum und daher hier nur nachrangig. In erster Linie treten zwei andere Zielrichtungen hervor: die Gewährleistung eines möglichst zusammenhängenden Wochenendes sowie die Garantie des Sonntagsschutzes. Das Ziel, ein zusammenhängendes Wochenende zu sichern, ist ein Teil des Arbeitszeitschutzes. Eine weitgehend zusammenhängende Freizeit an Samstag
___________ 125
BVerfGE 13, 237 (240); 59, 336 (353); 104, 357 (365); 111, 10 (32 f). BVerfGE 111, 10 (32); Rühling, Ladenschlußgesetz, 2004, S. 248; Stober, JZ 1996, S. 541 (543); Zmarzlik / Roggendorf, Ladenschlußgesetz, 1997, Einf. Rnr. 9. 127 Rozek, NJW 1999, S. 2921 (2923); BVerwG NJW 1999, S. 1567. 128 BVerfGE 13, 230 (235). 129 BVerfG NJW 2002, S. 666 (667). 130 BVerfGE 85, 191 (208, 212 f); Stober, JZ 1996, S. 541 (543) sieht zu unrecht im Schutz der Nachtruhe künftig die wichtigste Aufgabe des Ladenschlusses. 131 § 3 Abs. 1 und 2 LadÖffG BW,§ 3 Abs. 1 LadÖffG Berl, § 3 Abs. 1 LadÖffG Bbg, § 3 Abs. 1 LadÖffG Hamb, § 3 Abs. 1 LadÖffG Hess, § 3 Abs. 1 LadÖffG Nds, § 4 Abs. 1 LadÖffG NRW; s. auch § 3 Abs. 1 LadÖffG MV. 132 BVerfGE 13, 230 (235); Frotscher, Wirtschaftsverfassungsrecht, 2004, Rnr. 391; Rozek, NJW 1999, S. 2921 (2923); Stober, JZ 1996, S. 541 (543). 126
2. Kapitel: Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze
115
und Sonntag soll dem Verkaufspersonal gewährleistet werden.133 Dies dürfte in Sachsen-Anhalt und Thüringen der Grund gewesen sein, weshalb Samstag der einzige Werktag ist, an dem die Läden bereits ab 20 Uhr schließen müssen.134 Dieser Schutzzweck liegt außerdem noch dem Bundesladenschlußgesetz sowie dem saarländischen Ladenöffnungsgesetz zugrunde, welche die Öffnung nur zwischen 6 und 20 Uhr an Werktagen erlauben. Der Ladenschluß an Sonntagen dient schließlich dem besonderen Schutz dieser Tage. Die spezielle Funktion des Ladenschlußgesetzes zum Schutz der Sonn- und Feiertage hatte auch das damals federführende Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung in einem Gesetzentwurf vom 15. Dezember 1995 vorgesehen, indem es ausdrücklich auf Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV als Grund für das Sonntagskaufverbot verwies. Dieser Gesetzentwurf hat aber niemals Eingang ins Bundesgesetzblatt gefunden. Stober schien bei der Würdigung dieses Entwurfs von 1995 dem Zweck des Sonntagsschutzes kritisch gegenüberzustehen, da das Sonn- und Feiertagsrecht Ländersache sei und im übrigen das Arbeitszeitgesetz diese Tage schütze.135 Dem ist entgegenzuhalten, daß man ohne Rückgriff auf Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV nicht erklären kann, warum gerade Sonn- und Feiertage in den Ladenschlußgesetzen so privilegiert behandelt werden. Der Gesetzgeber hat dort einen Ausgleich zwischen dem Sonntagsschutz und anderen Interessen beabsichtigt.136 Auch in der Literatur gibt es neben Rozek, de Wall und Morlok / Heinig mehrere Autoren, nach denen das in § 3 BLadSchlG und in den Landesgesetzen normierte Verbot der Sonntagsöffnung den Schutz der Sonntagsruhe bezweckt.137 Das Bundesverfassungsgericht legt sich zwar in seiner Entscheidung zum Sonntagsladenschluß nicht ausdrücklich fest. Aber der Sache nach tendiert es eindeutig in diese Richtung, wenn es ausführt, daß „Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV ihm [dem Gesetzgeber, d. Verf.] aufgibt, den Ruheschutz an Sonn- und Feiertagen jedenfalls als Regel zu sichern“ und es daher nicht rechtfertigungsbedürftig sei, wenn er dies etwa in Form des Ladenschlußgesetzes vorsehe.138 ___________ 133
Rozek, NJW 1999, S. 2921 (2923); BVerfGE 59, 336 (353); BVerwG NJW 1999, S. 1567. 134 § 3 LadÖffG SAnh, § 3 LadÖffG Thür. 135 Vgl. Stober, JZ 1996, S. 541 (545), auch zum Hinweis auf den Gesetzentwurf von 1995. 136 So dem Grunde nach auch BVerwGE 79, 118 (123). 137 Rozek, NVwZ 2003, S. 397 (399); de Wall, NVwZ 2000, S. 857 (858); Webers, GewArch 2005, S. 60; so wohl auch Heckmann, JZ 1999, S. 1143 (1145). 138 BVerfGE 111, 10 (52).
116 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
Die Intention der Ladenschlußgesetze ist es also, den Sonntagsschutz auszugestalten und Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV zu konkretisieren.139 Es handelt sich bei den dargestellten Gemeinwohlbelangen um ausreichende Gründe, die einen Eingriff in die Berufsfreiheit der Ladeninhaber rechtfertigen.140 Schließlich ist, wie auch Hufen ausführt, insbesondere der durch Art. 139 WRV verbürgte Sonntagsschutz als öffentlicher Belang „unbestritten“.141 bb) Verhältnismäßigkeit im weiteren Sinne In den ersten Ladenschlußurteilen 1961 hatte das Bundesverfassungsgericht die im Apothekenurteil142 begründete Drei-Stufen-Theorie angewandt, indem es anerkannte, dem Gesetzgeber stehe bei Regelungen im Bereich der Berufsausübung „eine wesentlich größere Freiheit der Gestaltung zu als bei Eingriffen in die Berufswahl. Es genügt zur Legitimation einer gesetzlichen Regelung, daß vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls sie zweckmäßig erscheinen lassen.“143 Dem Gesetzgeber hat das Gericht zu Recht einen weiten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum bei der Definition der arbeits-, sozial- und wirtschaftspolitischen Ziele zugestanden, wenn er die Berufsausübung normiert.144 Dieser kommt auch bei Ladenschlußregelungen zur Anwendung, weil es sich dabei um eine objektive Modalität der Berufsausübung handelt. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht die Drei-Stufen-Lehre in einer Reihe von Urteilen spezifiziert und sie in eine umfassende Verhältnismäßigkeitprüfung überführt.145 Dadurch ist sie allmählich in ihrer Anwendung zurückgetreten, ohne daß der maßgebliche personale Grundzug der Berufsfreiheit an Bedeutung verloren hätte.146 (1) Eignung des Ladenschlußgesetzes Das Ladenschlußgesetz ist geeignet, den Arbeitszeitschutz, die Wettbewerbsneutralität, ein möglichst weitgehendes zusammenhängendes Wochenen___________ 139 Burger, SächsVBl. 1999, S. 295 (297); Ehlers, in: Sachs, GG, 2003, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 6; Rozek, NJW 1999, S. 2921 (2929); Webers, GewArch 2005, S. 60 (61). 140 Ähnlich, aber spezifischer auf Apotheken zugeschnitten BVerfG NJW 2002, S. 666 (667). 141 Hufen, Gutachten zu differenzierten Ladenschlußzeiten in Innenstadt- und Stadtrandlagen, 2000, S. 20 (unveröff.); insoweit nicht in der Zusammenfassung in ders., NVwZ 2001, S. 1009, enthalten. 142 BVerfGE 7, 377 (405 f). 143 BVerfGE 13, 237 (240). 144 BVerfGE 46, 246 (257); 77, 308 (332); Terhechte, JuS 2002, S. 551 (552). 145 Tettinger, in: Sachs, GG, 2003, Art. 12 GG Rnr. 109. 146 In diese Richtung auch Wieland, in: Dreier, GG, 2004, Art. 12 Rnr. 45.
2. Kapitel: Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze
117
de sowie den Sonntagsschutz zu gewährleisten. Eine offensichtliche Mittelverfehlung, die allein das Fehlen der Eignung begründen könnte,147 liegt hier nicht vor. Dem Arbeitszeitschutz wird das Bundesladenschlußgesetz gerecht, indem es neben Vorschriften im Arbeitszeitgesetz, in Tarifverträgen, im Jugendarbeitund Mutterschutzgesetz hinzutritt. Es schützt das Interesse der Arbeitnehmer im Einzelhandel, nicht außerhalb der regulären Ladenöffnungszeiten arbeiten zu müssen.148 Für die Ladenöffnungsgesetze der Länder, die an Werktagen die Öffnung völlig freigeben, gilt dies zumindest noch für Sonn- und Feiertage, an denen die Geschäftsöffnung grundsätzlich verboten bleibt. Aufgrund der Ausdehnung der wöchentlichen Gesamtöffnungszeit auf 84 Stunden (statt 64,5 Stunden wie 1957) vertritt Stober für das Bundesladenschlußgesetz die Meinung, der Zweck des Arbeitszeitschutzes trete gegenüber der Epoche seiner Verabschiedung in den 50er Jahren zurück und sei nur noch von sekundärer Bedeutung.149 Allerdings übersieht er dabei, daß immerhin noch die andere Hälfte der insgesamt 168, also ebenfalls 84 Wochenstunden, dem Ladenschluß unterliegen.150 Zumindest stellen das Bundesladenschlußgesetz und einige Ländergesetze sicher, daß eine Beschäftigung in diesen Zeiten nicht dem Kundenverkehr dienen kann. Durch die gesetzlich vorgeschriebene Ladenschließung nimmt der Gesetzgeber dem Inhaber das Interesse, seine Arbeitnehmer zu beschäftigen. Denn das Ladenschlußgesetz verbietet grundsätzlich nicht, Arbeitnehmer auch außerhalb der Ladenöffnungszeiten arbeiten zu lassen. Dies belegt der Umkehrschluß aus § 17 Abs. 1 BLadSchlG. Danach dürfen Arbeitnehmer an Sonn- und Feiertagen nur insgesamt 30 Minuten über die ausnahmsweise zulässigen Öffnungszeiten hinaus beschäftigt werden. Eine entsprechende Regelung für Werktage fehlt.151 Das Bundesladenschlußgesetz und nunmehr einige wenige Landesgesetze verhelfen Arbeitnehmern, die im Einzelhandel beschäftigt sind, zu einem ar-
___________ 147
Dreier, in: ders., GG, 2004, Vorb. Rnr. 147. Andererseits wird das Interesse des Arbeitnehmers, zu bestimmten Zeiten zu arbeiten, durch die Festlegung von Ladenöffnungszeiten eingeschränkt; darauf weist Wallerath hin, NJW 2001, S. 781 (782). Hierzu weiter unten bei der Behandlung der Grundrechte der Arbeitnehmer, 2. Teil, 2. Kapitel III. 149 Stober, JZ 1996, S. 541 (543); ihm folgend Terhechte, JuS 2002, S. 551 (552). 150 Der wöchentliche Ladenschluß beträgt 84 Stunden = 6 x 10 Stunden (20 bis 6 Uhr) + 24 Stunden (0 Uhr bis 24 Uhr am Sonntag). Der Umfang der rechtlich zulässigen Ladenöffnung beträgt ebenfalls 84 Stunden = 6 x 14 Stunden (6 bis 20 Uhr). 151 Von der Ermächtigung des § 17 Abs. 7 Nr. 3 BLadSchlG hat der Bund keinen Gebrauch gemacht und kein Beschäftigungsverbot oder ein Verbot bestimmter Arbeiten während des werktäglichen Ladenschlusses verordnet. 148
118 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
beitsfreien Abend ab 20 Uhr und zu einer zusammenhängenden Pause bis zum Montag morgen. Zwar hat sich diese freie Zeit am Samstag von 1996 bis 2003 um sechs Stunden verringert, da der Gesetzgeber den Ladenschluß auf Bundesebene in zwei Schritten von 14 Uhr auf 20 Uhr verkürzt hat. Damit wurde dieser Schutzzweck etwas aufgeweicht, da gerade freien Stunden tagsüber zur Erholung oder zu sonstiger Betätigung ein höherer Stellenwert als Abend- oder Nachtstunden einzuräumen ist.152 Zuzugeben ist , daß nunmehr in Ländern mit völliger Öffnungsfreiheit an Werktagen der Arbeitnehmerschutz als Regelungszweck völlig entfallen ist. Das Bundesladenschlußgesetz und alle Landesladenschlußgesetze sind aber geeignet, dem Sonntagsschutz zu dienen. Sie sehen nämlich Betriebs- und Beschäftigungsverbote für diese Tage vor: Alle Verkaufsstellen müssen grundsätzlich zum geschäftlichen Verkehr mit Kunden geschlossen sein.153 Diese Regelung wird ergänzt durch ein Verbot, im Einzelhandel an Sonntagen Arbeitnehmer zu beschäftigen. Nur bei ausnahmsweise gestatteter Sonntagsöffnung dürfen sie wie erwähnt maximal 30 Minuten über die Öffnungszeiten hinaus arbeiten. Besondere Schutzvorschriften sind für den Fall vorgesehen, daß Arbeitnehmer bei ausnahmsweise zulässiger Ladenöffnung an Sonn- und Feiertagen arbeiten, § 17 Abs. 1 - 5 BLadSchlG.154 Die detaillierten Ausnahmetatbestände der §§ 4 bis 15 BLadSchlG sowie ähnliche Vorschriften in den Ladenöffnungsgesetzen der Länder stellen eine geeignete Regelungstechnik dar, die Sonntagsöffnung zu beschränken. Zudem realisieren die Gesetze Arbeitsruhe nicht nur für die Arbeitnehmer, sondern auch für die Gewerbetreibenden in einem wichtigen Wirtschaftszweig, in dem 2003 insgesamt etwa 2,46 Mio. Menschen tätig waren.155 Sie schaffen damit eine Bedingung, um seelische Erhebung zu ermöglichen.156 Die Tatsache, daß das Ladenschlußgesetz auch Zwecken dient, die nicht sonntagsspezifisch sind, schadet nach richtiger Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht. Der Gesetzgeber durfte in seinen Regelungen auch andere Belange als den ___________ 152
Die Beschäftigten im Einzelhandel schätzen die Bedeutung des Wochenendes als zusammenhängenden Freizeitblock höher ein als den Feierabend während der Woche, vgl. das Ergebnis des Gutachtens der Sozialforschungsstelle Dortmund 1999 im Auftrag der Bundesregierung, Zusammenfassung der Ergebnisse in BT-Drs. 14/2489, S. 10. 153 § 3 BLadSchlG sowie in den Ladenöffnungsgesetzen § 3 Abs. 1 und 2 BW,§ 3 Abs. 2 Berl, § 3 Abs. 2 Bbg, § 3 Abs. 2 Hamb, § 3 Abs. 2 Hess, § 3 Abs. 2 MV, § 3 Abs. 2 Nds, § 4 Abs. 1 NRW, § 3 RhPf, § 3 i. V. m. § 7 Saar, § 3 SAnh, § 3 Abs. 2 SH, § 4 Abs. 1 Thür. 154 Zur teilweisen Fortgeltung des § 17 BLadSchlG auch für Länder, in denen eigene Ladenöffnungsgesetze in Kraft getreten sind, vgl. unten 3. Teil, 3. Kapitel II. 4. c). 155 Statistisches Bundesamt, Jahrbuch 2004, S. 431; von den 2,46 Mio. Beschäftigten sind etwa 72,5 % Frauen. 156 Das BVerfGE 111, 10 (52), hat die Geeignetheit ebenfalls angenommen.
2. Kapitel: Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze
119
Schutz der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung zur Geltung bringen.157 In der Literatur sind keine Autoren auszumachen, die diese Eignung ernsthaft in Frage stellen. Auch die Wettbewerbsneutralität kann durch die Ladenschlußgesetze geschützt werden. Denn gerade der selbständige Ladeninhaber ohne Angestellte könnte ohne gesetzliche Regelung frei entscheiden, wann er seine Verkaufsstelle öffnet, da er keinen anderweitigen Bestimmungen unterliegt, die wie etwa das Arbeitszeitgesetz oder Tarifverträge Arbeitnehmer vor Sonntagsarbeit schützen. Der Ladenschluß versetzt kleine Einzelhandelsbetriebe in die Lage, mit großen Einzelhandelskonzernen zu konkurrieren, da sich ihr Personalbedarf in Grenzen hält. Allerdings geht damit kein besonderer Schutz zugunsten der kleinen und mittleren Unternehmen einher.158 Der Gesetzgeber wollte nur gewährleisten, daß Geschäfte, die zum Schutze ihrer Beschäftigten zur Schließung verpflichtet sind, keinen Wettbewerbsnachteil aufgrund dieses sozialen Zwecks von Ladenschlußregelungen gegenüber solchen Verkaufsstellen erleiden, in denen keine Arbeitnehmer beschäftigt sind.159 Daher tritt das Ziel, gleiche Wettbewerbsbedingungen zu erhalten, ergänzend zum primären Zweck des Arbeitsschutzes.160 Allerdings erscheint das Bundesladenschlußgesetz nur noch bedingt geeignet für eine effektive Verwaltungskontrolle. Zwar ist es in der Tat einfacher für die zuständigen öffentlichen Bediensteten, aber auch für Nachbarn oder Konkurrenten, lediglich die Schließung einer Verkaufsstelle zu verifizieren und nicht bei jedem einzelnen Angestellten die Einhaltung der Arbeitsschutzbestimmungen nachzuprüfen. Zu Recht weist das Bundesverfassungsgericht aber darauf hin, daß der Unterschied zwischen der regelmäßig unter 40 Stunden betragenden Wochenarbeitszeit und den 84 Stunden möglicher Öffnung so groß ist, daß die Kontrollfunktion im Vergleich zur Entstehungszeit des Ladenschlußgesetzes in den 50er Jahren abgenommen hat. Bei den damals längeren Arbeitszeiten und den kürzeren Öffnungszeiten war ein Verstoß gegen die gesetzlichen Arbeitszeiten noch einfacher festzustellen.161 Dies gilt nun in den Ländern ohne jeglichen Ladenschluß an Werktagen erst Recht. ___________ 157
BVerfGE 111, 10 (50 und 52). Vgl. näher nur Hufen, NJW 1986, S. 1291 (1297); Stober, JZ 1996, S. 541 (544). 159 BVerfGE 13, 230 (235). 160 Hufen, NJW 1986, S. 1291 (1297); Stober, JZ 1996, S. 541 (544), vgl. dort auch eine vertiefte Darstellung der weiteren Auslegung dieses Schutzzwecks in Lehre und Rechtsprechung. Zu oberflächlich dagegen Reineck / Döhring, BB 1996, S. 703 (706), die dem Ladenschlußgesetz seine ursprüngliche wettbewerbsschützende Intention absprechen. 161 BVerfGE 111, 10 (33); diesen Schutzzweck ganz ablehnend Fuchs, NVwZ 2005, S. 1026 (1027). 158
120 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
(2) Erforderlichkeit Das Bundesverfassungsgericht hält im Ladenschlußurteil 2004 fest, daß ein milderes Mittel nicht „vorstellbar“ sei. Weiter führt es aus: „Es ist Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, auf welchem regulativem Weg er seine Ziele erreichen will. Da Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV ihm auferlegt, den Ruheschutz an Sonn- und Feiertagen jedenfalls als Regel zu sichern, ist es nicht rechtfertigungsbedürftig, wenn er dies vorsieht. Dabei darf er an der deutschen Tradition eines grundsätzlichen Sonntagsschutzes festhalten und andere Interessen, etwa Freizeitinteressen, nur über Ausnahmetatbestände berücksichtigen.“162
Diese knappen Ausführungen überraschen auf den ersten Blick. Wäre hier nicht der richtige Ort, um detailliert auf die in der Literatur diskutierten Alternativen einzugehen, die danach fragen, ob nicht das Arbeitszeitgesetz und die Sonn- und Feiertagsgesetze der Länder gemeinsam mit tarifvertraglichen Regelungen ausreichen? Man könnte diese Kürze womöglich damit erklären, daß das Gericht in der Urteilsbegründung zuvor beim Ladenschluß an Samstagen umfangreich Alternativen zum Ladenschlußgesetz geprüft hatte, letzteres aber im Ergebnis einstimmig für erforderlich gehalten hatte. Die übergreifende Wirkung des Gesetzgebungsauftrages aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV dürfte aber entscheidender sein. Denn mit Recht hält das Gericht fest, daß dieser Artikel dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen gerade aufgibt und ihn verpflichtet, zugunsten der Sonn- und Feiertage Regelungen zu treffen. Gleich effektive Mittel lassen sich offensichtlich nicht feststellen. Ohne Ladenschlußgesetze wären solche Einzelhändler, die zur Sonntagsöffnung bereit sind, keine Angestellten haben und somit nicht durch das Arbeitszeitgesetz gebunden sind, besser gestellt. Für sie würden auch keine tarifvertraglichen Kautelen gelten, Vereinbarungen mit dem Betriebsrat erübrigten sich mangels dessen Existenz in solchen Unternehmen. Daher ist das Ladenschlußgesetz als erforderlich anzusehen.
(3) Angemessenheit Die Gegenüberstellung der Berufsfreiheit und des Sonntagsschutzes bildet, wie auch das Bundesverfassungsgericht richtig betont, den Rahmen für die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. Dem Gesetzgeber ist ein Ausgleich zwischen beiden Rechtsgütern aufgeben.163 Dabei wird eine Abwägung notwendig und sogar „unvermeidbar, um die [...] verfassungsrechtlichen Span___________ 162 163
BVerfGE 111, 10 (52). BVerfGE 111, 10 (50).
2. Kapitel: Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze
121
nungslagen abzubauen,“164 die zwischen Ladenöffnung und Sonntagsschutz bestehen. Hier sind die Schwere des Eingriffs, Aspekte wie mögliche Veränderungen im Freizeitverhalten und in der Religiosität sowie das Verhältnis des Sonntagsverkaufs zu den Schutzzwecken des Art. 139 WRV relevant.
(a) Schwere des Eingriffs Wenn die Intensität des Eingriffs in die Berufsfreiheit untersucht werden soll, erscheinen die Erkenntnisse der Drei-Stufen-Lehre immer noch hilfreich. Wie oben dargelegt, handelt es sich bei Ladenschlußregelungen um objektive Regeln für die Berufsausübung, so daß sie auf der untersten Stufe in den Schutzbereich der Berufsfreiheit eingreifen. Für die Eingriffsintensität ist weiterhin zu beachten, welches zeitliches Ausmaß der Sonntagsladenschluß für Inhaber von Verkaufsstellen annimmt. Würde man allein Sonntage zum zeitlichen Maßstab erheben, würde es sich um eine massive Einwirkung handeln, da die Öffnung an diesen Tagen stets untersagt ist. Dies wird aber der beruflichen Tätigkeit von Ladeninhabern nicht gerecht, denn diese läßt sich schließlich nicht auf einen Tag in der Woche beschränken. Sie umfaßt vielmehr die gesamte potentielle Zeit, also sieben Tage pro Woche, 365 Tage pro Jahr. Eine Gesamtbetrachtung ist notwendig: Jedes Geschäft kann bei angenommenen 52 Sonntagen und 10 Feiertagen165 in einem normalen Jahr ohne Schalttag an 303 Tagen öffnen. Davon sind an 302 Werktagen jeweils - nach dem Bundesladenschlußgesetz - 14 Stunden Öffnung möglich und am 24. Dezember acht Stunden.166 Für eine normale Verkaufsstelle, für die kein Ausnahmetatbestand eingreift, ergibt sich nach dem Bundesgesetz oder gleichlautenden Länderregelungen wie im Saarland eine zu-
___________ 164
So allgemein Schuppert, Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000, S. 41. Die Anzahl der Feiertage variiert je nach Bundesland und je nach landesspezifischen Regelungen für Gegenden mit überwiegend protestantischer oder katholischer Bevölkerung zwischen neun und 13 Feiertagen. Der Median der Bundesländer liegt, zieht man die gerade erwähnten lokal beschränkten Feiertage nicht in Betracht, bei zehn Feiertagen: Fünf Länder haben neun Feiertage, jeweils vier Länder zehn oder elf Feiertage und drei Länder zwölf Feiertage gesetzlich anerkannt. Schließlich variiert die jährliche Zahl der Sonntage zwischen 52 und 53, wobei 52 Sonntage häufiger vorkommen als 53 (365 Tage / 7 Wochentage = 52,14 Wochentage jährlich). 166 Für den 24. Dezember vgl. § 3 Nr. 3 BLadSchlG. Der Sonderfall, daß Heilig Abend auf einen Sonntag fällt (§ 15 BLadSchlG), soll aus Gründen der Übersichtlichkeit außer Betracht bleiben. 165
122 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
lässige jährliche Öffnungszeit von 4236 Stunden. In den Bundesländern ohne jeglichen werktäglichen Ladenschluß sind es sogar 7282 Stunden.167 Behandelt man - hypothetisch - Sonn- und Feiertage wie Werktage nach dem Bundesladenschlußgesetz, könnten Verkaufsstellen an zusätzlichen 62 Tagen (52 Sonntage und 10 Feiertage) 14 Stunden öffnen. Damit würde sich die jährliche Gesamtöffnungszeit auf 5104 Stunden erhöhen. Dies wären etwa 20,5 % mehr als nach geltendem Recht (4236 Stunden = 100 %). Setzt man die potentielle Öffnungszeit einschließlich der Sonn- und Feiertage als Maßstab (5104 Stunden = 100 %), dann würden die Sonn- und Feiertage davon 17 % ausmachen. Anders gesagt reduziert der Ladenschluß an Sonn- und Feiertagen die potentielle Öffnungszeit um etwa ein Sechstel. Diese Prozentzahlen gelten auch für die Länder ohne jeglichen Ladenschluß an Werktagen.168 Aufgrund dieser Größenverhältnisse dürfte man den Eingriff in quantitativer Hinsicht als mehr als vernachlässigenswert, aber kaum als massiv betrachten. Die Einschränkung an einem Tag pro Woche und den etwa zehn über das Jahr verteilten Feiertagen ist eher als mäßig einzustufen. Zusätzlich ist der Umfang der Öffnungszeiten an den Werktagen zu berücksichtigen. Durch die Reformen von 1989, 1996 und 2003 hat der Bundesgesetzgeber die Öffnungsmöglichkeiten von 64,5 auf 84 Stunden wöchentlich erweitert. Seit November 2006 ist die Lage unübersichtlicher geworden, weil es keine bundeseinheitlichen Ladenschlußzeiten mehr gibt. Die föderale Vielfalt hat Einzug gehalten. Allerdings ist die Tendenz auch hier eindeutig: Zahlreiche Bundesländer haben die wöchentlichen Öffnungszeiten nochmals zum Teil erheblich ausgedehnt oder sogar ganz aufgehoben. Kein Bundesland hat die Öffnungszeiten reduziert, wie Tabelle 1 der Entwicklung seit 1956 zeigt. Die Einführung des Dienstleistungsabends 1989, die Verlängerungen der Öffnungszeiten 1996 und 2003 durch den Bund und seit Ende 2006 durch die Länder belegen, daß der Gesetzgeber den Belangen der Ladeninhaber und der Verbraucher seit über 15 Jahren eine immer bedeutendere Stellung eingeräumt hat. Gerade aufgrund dieser Entwicklung ist es zumutbar,169 an einem Tag pro Woche, dem Sonntag, und an den Feiertagen die Berufsfreiheit zurückzustellen und den Interessen der dritten großen betroffenen Gruppe, der im Einzelhandel beschäftigten Arbeitnehmer, und derjenigen Personen, die sich seelisch erheben möchten, höheres Gewicht einzuräumen. Aus diesem Zusammenhang läßt sich ___________ 167
7282 Stunden = (24 Stunden mal 302) + 14 Stunden am Heiligen Abend. Die potentielle Öffnungszeit ohne jeden Ladenschluß beträgt 8760 Stunden (365 mal 24 Stunden). Subtrahiert man davon 62 mal 24 Stunden, ergeben sich 7272 Stunden. Im Verhältnis zueinander ergeben sich keine Unterschiede zur Berechnung mit einem werktäglichen Ladenschluß von 20 bis 6 Uhr. 169 So auch Zmarzlik / Roggendorf, Ladenschlußgesetz, 1997, Einf. Rnr. 16. 168
2. Kapitel: Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze
123
Tabelle 1 Entwicklung der gesetzlich möglichen wöchentlichen Ladenöffnungszeit170 Jahr
1956
1989
Inhalt der Regelung / Änderung
wöchentliche Öffnung in Std.
BLadSchlG: Öffnungszeit 7 bis 18 Uhr 30 Montag bis Freitag, 7 bis 14 Uhr am normalen Samstag
64,5
langer Samstag bis 18 Uhr + kurzer Montag ab 13 Uhr
62,5
Einführung des langen Donnerstags bis 20 Uhr 30 unter Beibehaltung der wöchentlichen Gesamtöffnungszeit
64,5
- langer Samstag bis 18 Uhr (Oktober bis März, Adventssamstage)
68,5
- langer Samstag bis 16 Uhr (April bis September) unter Wegfall des verkürzten Montags
66,5
1996
Vorziehen von 7 auf 6 Uhr morgens, Verlängerung bis 20 Uhr montags bis freitags, bis 16 Uhr samstags
80
2003
Verlängerung bis 20 Uhr samstags
84
seit
Ladenöffnungsgesetze der Länder und des Bundes:
2006
- Länder ohne werktäglichen Ladenschluß
144
- Sachsen-Anhalt, Thüringen (montags bis freitags 0 bis 24 Uhr, samstags 0 bis 20 Uhr)
140
- Rheinland-Pfalz (werktags 6 bis 22 Uhr)
92
- Saarland, Bund (werktags 6 bis 20 Uhr)
84
die Faustformel ableiten: Je länger die Öffnungszeiten an den Werktagen sind, desto mehr muß der Inhaber einer Verkaufsstelle den Ladenschluß an Sonnund Feiertagen ertragen.
___________ 170
Vgl. jeweils § 3 BLadSchlG in: BGBl. 1956 I, S. 875; 1989 I, S. 1382; 1996 I, S. 1186 und 2003 I, S. 658. (Frühere) Besonderheiten für Adventssamstage und -sonntage sowie für Bäckereien oder sonstige spezielle Verkaufsstellen sind nicht berücksichtigt.
124 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
Im Ergebnis ist der Eingriff in die Berufsfreiheit durch das grundsätzliche Verbot des Sonntagsverkaufs bei einer Betrachtung auf die ganze Woche und das ganze Jahr in quantitativer und qualitativer Hinsicht als mäßig einzustufen. Die Eingriffsintensität hat durch die drei Ladenschlußreformen seit 1989 auf Bundesebene und die überwiegend deutliche Ausweitung durch die Länder seit Ende 2006 stetig abgenommen.
(b) Hervorhebung des Sonntags durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV Im Unterschied zu Werktagen streitet eine besondere Verfassungsnorm für die Sonn- und Feiertage: Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV. Diese grundsätzliche Differenz hat auch das Kammergericht Berlin betont, als es Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Ladenschlußgesetzes formulierte, dabei aber zwischen Samstagen sowie Sonn- und Feiertagen wegen der Existenz dieses inkorporierten Artikels unterschied.171 Es besteht durchaus Anlaß, diese Unterscheidung zu betonen, da einige Autoren die Verfassungswidrigkeit des Bundesladenschlußgesetzes annehmen, ohne auf Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV und seine Bedeutung für den Sonntagsladenschluß einzugehen.172 Kehrberg meint dagegen, es bestehe kein Unterschied zwischen Werktagen und Sonntagen bei der Ladenöffnung ohne Beschäftigung von Personal.173 Er übersieht aber, daß Art. 139 WRV mit dem Merkmal „Arbeitsruhe“ nicht nur die individuelle Arbeitsruhe meint, sondern auch die kollektive, die erst die Bedingung der Möglichkeit für seelische Erhebung schafft.174 Das Gewicht der Interessen, die den sonntäglichen Ladenschluß rechtfertigen, ergibt sich direkt aus dem Grundgesetz: Der Sonntagsartikel stellt sich mit seinem Erfordernis nach geeigneten Regelungen, die der Arbeitsruhe dienen, als eine verfassungsunmittelbare Schranke der Berufsfreiheit dar.175 Das Bundesverfassungsgericht führte 2004 in diesem Sinne aus: Der in Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV „vorgesehene Schutz der Sonn- und Feiertage bedeutet, daß Art. 12 Abs. 1 GG die Berufsausübung an diesen Tagen nur in eingeschränkter Weise gewährleistet. Art. 12 Abs. 1 GG ist zwar anwendbar, seine
___________ 171 KG Berlin GewArch 2002, S. 207 (209). Diese Entscheidung v. 27. November 2001 bildete gemeinsam mit dem erstinstanzlichen Urteil des LG Berlin v. 14. Juni 2000 den Beschwerdegegenstand der Verfassungsbeschwerde, die zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts am 9. Juni 2004 führte. 172 Vgl. Hufen, NJW 1986, S. 1291; Reineck / Döhring, BB 1996, S. 703; Schunder, Ladenschlußgesetz, 1994, S. 154 bis 170. 173 Kehrberg, GewArch 2001, S. 14 (19). 174 In diesem Sinne Kästner, in: HdbStKirchR II, 1995, S. 337 (342 f). 175 BVerfGE 111, 10 (50).
2. Kapitel: Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze
125
Beschränkung findet aber für das grundsätzliche Verbot der Sonn- und Feiertagsarbeit eine Rechtfertigung in der Verfassung selbst.“176
Rüfner folgert aus dieser Wirkung zu Recht, daß auf die Zulassung von Sonntagsarbeit angesichts der Garantie des Art. 139 WRV grundsätzlich kein grundrechtlicher Anspruch besteht.177 Der Sonntagsschutz hebt sich von bloß vernünftigen Gemeinwohlbelangen ab, die im Rahmen des Art. 12 Abs. 1 GG schon rechtfertigende Wirkung entfallen können. Das Grundrecht auf Berufsfreiheit „genießt keine höhere Dignität“ als der Sonntagsschutz.178 Art. 139 WRV hat im Verhältnis zu Art. 12 Abs. 1 GG eine besondere Stellung, da es sich um die einzige ausdrückliche Arbeitsschutz-Regelung des Grundgesetzes handelt. Zwar schützen auch andere grundgesetzliche Verbürgungen mittelbar die Interessen von abhängig Beschäftigten: Zu denken ist beispielsweise an die Tarifautonomie, Art. 9 Abs. 3 GG, oder die Schutzpflichten des Staates aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 GG, welche der Legislative gebietet, Arbeitnehmer vor den gesundheitsschädlichen Folgen der Nachtarbeit zu bewahren.179 Allerdings kommen arbeitsschützende Merkmale zumindest dem Wortlaut nach dort nicht vor. Art. 139 WRV bringt somit exemplarisch auf Verfassungsebene zum Ausdruck, daß der Wirtschafts- und Arbeitsprozeß nicht als Kontinuum durch das wirtschaftsbezogene Grundrecht des Art. 12 Abs. 1 GG geschützt wird. Im Ergebnis verleiht Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV dem Sonntagsschutz als einem speziellen Zweck des Ladenschlusses an diesen Tagen ein hohes Gewicht. Diese Vorschrift stellt einen qualifizierten Rechtfertigungsgrund dar. Dennoch kann daraus keine Höherrangigkeit des Sonntagsschutzes gegenüber der Berufsausübungsfreiheit eo ipso abgeleitet werden. Dieser Kollisionsfall ist nicht abstrakt, sondern konkret durch Abwägung zu bestimmen.180 Tatsächliche Veränderungen etwa im Freizeitverhalten der Bevölkerung oder in ihrer Religiosität könnten zwar die normative Wirkkraft des Art. 139 WRV einschränken und zur Feststellung eines Verfassungswandels führen. Im Ergebnis ist dies allerdings nicht der Fall.
___________ 176
BVerfGE 111, 10 (50). Rüfner, in: FS Heckel, 1999, S. 447 (454). 178 Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 25. 179 BVerfGE 87, 363 (386). 180 Vgl. allgemein zu Kollisionslagen bei verschiedenen Gemeinwohlbelangen Schuppert, in: ders. / Neidhart, Gemeinwohl, 2002, S. 19 (44). 177
126 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
(c) Verfassungswandel Mit Verfassungswandel läßt sich die Entwicklung beschreiben, durch welche einem geschriebenen Rechtssatz der Verfassung ein anderer als sein ursprünglicher Normgehalt zukommt, ohne daß der Verfassungstext geändert wird. Eine solche Rechtsfolge können kulturelle, soziale, politische und technische Veränderungen bewirken.181 Im Grunde geht es bei der Frage nach Verfassungswandel um die „normative Kraft des Faktischen.“182 Es überrascht nicht, daß diesem Problem gerade bei den „ältesten“ Artikeln des Grundgesetzes, den aus der Weimarer Reichsverfassung inkorporierten Artikeln zum Staatskirchenrecht, ausgiebig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Im Zentrum der Diskussion standen und stehen vor allem Art. 137 und Art. 138 WRV, die Hesse als „Eckpfeiler des kirchenpolitischen Systems der Verfassung“ bezeichnet hat.183 Erst in jüngerer Zeit ist der Sonntagsartikel vermehrt in den Blickpunkt geraten.184 Verfassung und Verfassungsrecht befinden sich, so Schuppert zutreffend, in einem steten Spannungsverhältnis zwischen Stabilität und Rigidität der grundlegenden Strukturen und Werte einerseits sowie Dynamik und Flexibilität im Sinne einer Fortentwicklung aufgrund sich wandelnder Verhältnisse andererseits.185 Hier geht es darum, den Sonntagsschutz des Art. 139 WRV in dem System von Stabilität und Dynamik zu verorten. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist anerkannt, daß eine ursprünglich verfassungsgemäße Regelung wegen Änderung der maßgeblichen Umstände verfassungswidrig werden kann. Bevor die Verfassungswidrigkeit eintritt, besteht aber die Möglichkeit, verfassungsrechtlich relevante Änderungen durch Auslegung zu berücksichtigen.186 Die Verfassungsinterpretation erweist sich als das häufigste Mittel, um dem Verfassungswandel Rechnung zu tragen.187 ___________ 181 Vgl. Stern, Staatsrecht I, 1984, S. 160 f; die dort genannten Merkmale „Zeitablauf“ und „Staatspraxis“ als Änderungsfaktoren können zumindest bei Art. 139 WRV nicht überzeugen. 182 Quaritsch, Der Staat 1 (1962), S. 289 (302). 183 Hesse, JöR 10 (1961), S. 3 (37). 184 Bsp. sind Häberle, Sonntag, 1988 und 2006, S. 60 f; Korioth, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 66; Kunig, Schutz des Sonntags, 1989, S. 28 ff; Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 22 ff; Renck, NVwZ 1993, S. 648 (650); Rüfner, in: FS Heckel, 1999, S. 447 (455 f); Stollmann, Sonn- und Feiertagsschutz, 2004, S. 72 f. 185 Schuppert, AöR 120 (1995), S. 32. 186 BVerfGE 59, 336 (357) mit Verweis auf BVerfGE 39, 169; 41, 360; 54, 11; 56, 54. 187 Schuppert, AöR 120 (1995), S. 32 (68).
2. Kapitel: Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze
127
Zwar gewinnt die Verfassung teilweise ihre ordnende und begrenzende Funktion auch gerade in einer Anpassungsfähigkeit an einen Wandel der Verhältnisse.188 Allerdings darf nicht übersehen werden, daß der unterstellte Verfassungswandel ein Mißbrauchsrisiko enthält, indem das Verfahren der Grundgesetzänderung nach Art. 79 Abs. 2 GG umgangen wird. Daher sind hohe Maßstäbe an einen Verfassungswandel anzulegen,189 um die Umgehungsgefahr zu minimieren. Dies erfordert auch der Respekt vor dem Wortlaut des Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG, der bestimmt: „Das Grundgesetz kann nur durch ein Gesetz geändert werden, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt.“190 Die sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Veränderungen im Leben der Bevölkerung müssen offenkundig, wahrnehmbar und möglichst wissenschaftlich nachweisbar sein. Neben dem rein empirischen ist auch ein subjektives Element erforderlich, nämlich die allgemeine Überzeugung, daß sich eine Veränderung ergeben hat. Ein Indiz für einen solchen Konsens wäre dann gegeben, wenn die Frage nicht stärker politisch kontrovers diskutiert wird. Intensive politische Auseinandersetzungen belegen nämlich, daß eine (angeblich) neue Situation gerade nicht vorliegt und empirischen Aussagen durchaus umstritten sein können. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zum Ladenschluß für Friseure 1982 eine „ersichtliche“ Veränderung der Verhältnisse bejaht und darauf hingewiesen, alle im Verfahren abgegebenen Erklärungen von Bundesregierung, Verbänden und Gewerkschaft ergäben einen einheitlichen Befund.191 Letzteres sprach als Indiz für die Unbestrittenheit. Ausfluß und Ergebnis solcher politischen Auseinandersetzungen können gerade Änderungen von Gesetzen sein, die das streitige Objekt des Wandels betreffen. Dann wird das Recht seiner Funktion als „geronnene Politik“ gerecht.192 Zutreffend betont Stollmann die zentrale Rolle des Gesetzgebers, die ihm beim Prozeß der Anpassung des Grundgesetzes an modifizierte Verhältnisse zukommt. Weil Verfassungsnormen in höherem Maße begriffsoffen sind als einfach-gesetzliche Normen, liefern gesetzliche Regelungen bedeutende Indizi-
___________ 188 So Badura, HdbStR VII, 1992, § 160 Rnr. 15; ähnlich BVerfGE 50, 290 (338), wo das Gericht davor warnt, die normierende Kraft der Verfassung aufs Spiel zu setzen, wenn man dem geschichtlichen Wandel nicht Rechnung trage. 189 Stern, Staatsrecht I, 1984, S. 161 spricht zumindest von engeren Grenzen als beim Bedeutungswandel einfacher Gesetze. 190 Auf dessen Bedeutung weist Stern, Staatsrecht I, 1984, S. 162 zu Recht hin. 191 BVerfGE 59, 336 (356); vgl. zu den Stellungnahmen S. 343 ff. 192 Vgl. zu dieser Formulierung Schuppert, AöR 120 (1995), S. 32 (37), mit Verweis auf Grimm , JuS 1969, S. 501 (502).
128 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
en für gewandelte Begriffs- und Wertvorstellungen.193 Dies gilt um so mehr bei Verfassungsnormen, die wie Art. 139 WRV einer gesetzlichen Ausgestaltung bedürfen. Hier kommt dem Gesetzgeber die Aufgabe zu, dem Wandel tatsächlicher Verhältnisse Rechnung zu tragen.194 Bildhaft könnte man daher bei Art. 139 WRV von einem „atmenden“ Sonntagsschutz sprechen, da er zur Anpassung durch einfache Gesetze fähig bleibt. Der Kernbereich des Sonntagsschutzes bleibt dabei änderungs- und wandelungsresistent. Wie oben gezeigt, geht die Freiheit des Gesetzgebers zur Ausgestaltung mit einer Pflicht zur regelmäßigen Überprüfung der getroffenen Regelungen einher.195 Daher könnten umfangreiche Änderungen der Gesetze zur Ausgestaltung des Sonntagsschutzes ein Indiz für ein gewandeltes Verfassungsverständnis von Art. 139 WRV sein. Die bedeutendste Änderung stellt die Verabschiedung des Arbeitszeitgesetzes 1994 dar, das gegenüber den Vorgängerregelungen in §§ 105 a bis j GewO Sonntagsarbeit in größerem Umfang zuläßt. Zwar bleibt die Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen grundsätzlich verboten, § 9 Abs. 1 ArbZG, und Ausnahmen sollen nach dem Katalog des § 10 ArbZG im bisherigen Umfang zulässig bleiben.196 Allerdings enthält dieser mehr Ausnahmetatbestände als zuvor die Gewerbeordnung.197 § 13 ArbZG regelt zahlreiche neue Ermächtigungen der Exekutive, die durch Rechtsverordnung oder Einzelfallentscheidungen Ausnahmen ermöglichen kann.198 Durch die Einführung des § 13 Abs. 5 ArbZG ist die Aufsichtsbehörde etwa verpflichtet, Ausnahmen vom Beschäftigungsverbot zuzulassen, falls die Konkurrenzfähigkeit unzumutbar beeinträchtigt und die Arbeitsplatzsicherung möglich ist.199 Somit läßt das Arbeitszeitgesetz insgesamt mehr Sonntagsarbeit zu.200 Daneben treten kleinere Änderungen in den Sonn- und Feiertagsgesetzen der Länder, die allerdings an der Grundkonzeption nichts ändern. Mehrere Länder
___________ 193 Stollmann, Sonn- und Feiertagsschutz, 2004, S. 72; auch Walter, AöR 125 (2000), S. 517 (521) neigt der Auffassung zu, daß das einfache Recht auf das Verfassungsrecht und seine Wandlung Einfluß hat. 194 So auch Maurer, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 112 (113). 195 Vgl. oben 2. Teil, 1. Kapitel IV. 4. b). 196 Baeck / Deutsch, Arbeitszeitgesetz, 2004, § 10 Rnr. 1; vgl. dort im einzelnen zu Unterschieden des Arbeitszeitgesetzes gegenüber der Gewerbeordnung. 197 Insbesondere § 10 Abs. 1 Nr. 2, 3, 6, 12 und 14, 3. Alt. ArbZG haben keine Entsprechung in der zuvor geltenden GewO, vgl. Anzinger, BB 1994, S. 1492 (1496 f). 198 Baeck / Deutsch, Arbeitszeitgesetz, 2004, § 13 Rnr. 2. 199 Zur str. Beurteilung der Vereinbarkeit des § 13 Abs. 5 ArbZG mit Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV vgl. Baeck / Deutsch, Arbeitszeitgesetz, 2004, § 13 Rnr. 65 ff. 200 Diller, NJW 1994, S. 2726 (2728); a. A. wohl Anzinger, BB 1994, S. 1492, der meint, daß Sonntagsarbeit nach dem bisherigen Grundsatz zulässig bleibt.
2. Kapitel: Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze
129
haben etwa die Öffnung von Videotheken an Sonntagen ausdrücklich erlaubt,201 nachdem das Bundesverwaltungsgericht 1988 ihr Verbot für vereinbar mit dem schleswig-holsteinischen Feiertagsgesetz und Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV gehalten hatte.202 Schließlich haben die Länder bei der Verabschiedung ihrer Ladenöffnungsgesetze seit November 2006 den grundsätzlichen Ladenschluß an Sonntagen beibehalten. Daher lassen sich in den letzten Jahren nur wenige und behutsame Änderungen ausmachen, die Auswirkungen auf den Sonntagsschutz hatten. Die legislative Entwicklung liefert insgesamt betrachtet kein Indiz für einen Verfassungswandel. Selbst die zahlreichen Entscheidungen der Gerichte zur Einhaltung des Sonntagsschutzes beim Betrieb von Sonnenstudios, Videotheken, Automärkten und -waschanlagen sind kein Anzeichen für ein grundlegend anderes Sonntagsverständnis.203 Sie spiegeln vielmehr gegensätzliche Interessen wider, ohne die keine Klagen eingereicht worden wären. Sie belegen darüber hinaus eine funktionierende Rechtspflege. In tatsächlicher Hinsicht lassen aber womöglich Änderungen im Freizeitverhalten und bei der Religiosität einen Verfassungswandel bei Art. 139 WRV denkbar erscheinen. In den letzten Jahrzehnten haben sich auf beiden Gebieten Änderungen ergeben. (aa) Freizeitverhalten Mit Recht wird unser Freizeitdasein im einschlägigen Schrifttum als „Abend- und Wochenendgesellschaft“ bezeichnet, weil man dann regelmäßig nicht arbeiten muß.204 Ein wesentlicher Aspekt einer veränderten Sonntagsbe-
___________ 201 Vgl. zu den Änderungen etwa § 4 Abs. 1 Nr. 9 FTG MV, eingef. durch G. v. 20. Juli 2004, GVBl. S. 290; § 4 Abs. 3 FTG Nds, eingef. durch G. v. 20. Januar 2002, GVBl. S. 17; § 4 Abs. 2 FTG RhPf, eingef. durch G. v. 22. Dezember 2003, GVBl. S. 396; § 3 Abs. 4 FTG SAnh, eingef. durch G. v. 20. November 2003, GVBl. S. 17. Eine Würdigung der neuen Bestimmungen zu Videotheken enthält Droege, GewArch 2003, S. 406. 202 BVerwGE 79, 236. 203 Vgl. zu den zahlreichen Gerichtsentscheidungen die Übersicht bei Campenhausen, in: Mangoldt / Klein, GG , 2005, Art. 139 WRV Rnr. 10 dort in Fn. 8, sowie Martens, Feiertagsrechtliches Arbeitsverbot, 1995, S. 141 bis 148. 204 Beermann, Erkenntnisse zur Nacht- und Schichtarbeit, 2000, S. 24; der Sache auch Rutenfranz, in: Dahm / Mattner, Sonntags nie?, 1989, S. 71 (78), der von „normalen“ Freizeiterwartungen der Bevölkerung spricht.
130 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
gehung ist die vermehrte Inanspruchnahme des Sonntags als eines Freizeittages unter anderen, worauf Battis zu Recht hingewiesen hat.205 Ausgangspunkt eines veränderten Freizeitverhaltens dürfte, so von Campenhausen zutreffend, ein gewandeltes Verhältnis der berufstätigen Bevölkerung zur körperlichen Arbeit sein. Sicherlich empfinden heute viele Personen solche Tätigkeiten, die herkömmlich als Last erschienen, als angenehmen Ausgleich.206 Dies hat seinen Grund in der Abnahme klassischer Arbeiten in Industrie und Landwirtschaft bei gleichzeitigem Anstieg von Dienstleistungsberufen. Zudem sind die Produktionsmodalitäten in der Industrie so weit technisiert und der Arbeitsschutz so fortentwickelt worden, daß harte körperliche Arbeit gegenüber dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Art. 139 WRV im Jahr 1919 oder auch 1949 abgenommen hat. Dadurch hat sich das Bedürfnis nach Ruhe und Regeneration durch Untätigkeit verringert und gewandelt zu einem größeren Drang nach Aktivität.207 Das Einkaufen an Sonntagen gehört in Deutschland aufgrund des grundsätzlichen Verbots nicht zu den typisch sonntäglichen Aktivitäten. In der Praxis dürfte sich zwar ein beachtliches Interesse an der Zulassung einiger verkaufsoffener Sonntage oder am Einkauf in Bahnhöfen manifestieren. Zudem mag der Sonntagseinkauf auch von manchen subjektiv als genußvolle Freizeitgestaltung angesehen werden.208 Die verhältnismäßig wenigen Ausnahmetatbestände lassen es allerdings nicht zu, hierin schon eine allgemeine Übung oder ein gänzlich verändertes Sonntagsverhalten festzustellen. Burger meint, einen gesellschaftlichen Konsens darüber, daß auch Einkaufen am Sonntag zur Arbeitsruhe zähle wie etwa Restaurant- oder Konzertbesuche, gebe es bislang noch nicht. Dies dürfte richtig sein.209 Weiterhin kann eine Annahme, daß in der Bevölkerung bestimmte Regeln des Sonntagsschutzes auf immer weniger Akzeptanz treffen und sie in der Praxis faktisch häufig umgangen werden, nicht zu dem Schluß führen, der Geltungsgehalt des Sonntagartikels nehme ab. Dies unterstreicht auch das OVG Hamburg, wenn es ausführt: Die „Beurteilung, was der besonderen Natur der Sonn- und Feiertage widerspricht und geeignet ist, die äußere Ruhe dieser Tage zu stören, unterliegt gewiß dem Wandel der Zeit. Es [kann] jedoch nicht Gleichgültigkeit gegenüber dem besonderen Charakter der Sonn- und Feiertage ... zum Maßstabe genommen werden.“210
___________ 205
Battis, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 49. Campenhausen, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 139 WRV Rnr. 6. 207 Korioth, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 66. 208 Vgl. zu dieser Einschätzung auch Burger, SächsVBl. 1999, S. 295 (297). 209 Vgl. Burger, SächsVBl. 1999, S. 295 (297). 210 OVG Hamburg, GewArch 1985, S. 308 (309). 206
2. Kapitel: Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze
131
Art. 139 WRV bezweckt gerade, einen bestimmten Standard an Sonntagsschutz aufrechtzuerhalten.211 Die „Sozialadäquanz" von Durchbrechungen bestimmter Regelungen kann nicht zum Argument für die Geltungsschwäche einer Verfassungsnorm dienen.212 Es ist schon methodisch fragwürdig, den Gehalt einer Verfassungsnorm durch den Hinweis auf eine anderslautende Praxis zu konterkarieren.213 Allzu schnell wird auf diese Weise die stets auch auf Kontrafaktizität angelegte Verfassung ausgehöhlt.214 Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß der einzelne auf den Sonntagsschutz nicht verzichten und ihn abbedingen kann; es handelt sich vielmehr um einen objektiven Wert.215 (bb) Veränderte Religiosität Art. 139 WRV schützt die Sonn- und Feiertage auch als Tage der seelischen Erhebung. Diese verweltlichte Formulierung schließt religiöse und nichtreligiöse Betätigungen ein.216 Besonders leicht wahrnehmbar sind religiös geprägte Ausdrucksformen wie Gottesdienste in Kirchen oder Prozessionen etwa an Fronleichnam. Der Rückgang religiöser Aktivität und Feier an Sonn- und Feiertagen wird als ein Zeichen für die gewandelte Religiosität angesehen. In juristischen Kategorien gesprochen wird mit diesem Vorbringen die Bedeutung des Gemeinwohlbelangs „Religiosität“ reduziert. Die Abwendung von den „Amtskirchen“ wird oft zitiert als ein prägendes Element unserer Zeit.217 Hier kann die Statistik als empirischer Referenzpunkt hilfreich sein, um diese Tendenz zu verifizieren.218 Der Rückgang religiöser Handlungsformen offenbart sich zum einen in der sinkenden Zahl an Gottesdienstteilnehmern. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes nahmen im Jahr 2002 etwa vier Millionen katholische und etwa eine Million evangelische Christen an Gottesdien-
___________ 211
Stollmann, Sonn- und Feiertagsschutz, 2004, S. 73. Kästner, in: HdbStKirchR II, 1995, S. 337 (338 f); Stollmann, Sonn- und Feiertagsschutz, 2004, S. 73; BVerwGE 79, 118 (125); OVG Magdeburg NJW 1999, S. 2982 (2983). 213 Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 22; Kästner, in: HdbStKirchR II, 1995, S. 337 (338); Hesse, Verfassungsrecht, 1999, Rnr. 47, der treffend ausführt: „Es gibt keine Verfassungswirklichkeit contra constitutionem.“ 214 Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 22. 215 Vgl. oben 2. Teil, 1. Kapitel IV. 1. 216 S. nur BVerfGE 111, 10 (51); Korioth, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 1. 217 Vgl. nur jüngst Volkmann, DVBl. 2005, S. 1061 (1070). 218 Zur dienenden Funktion der Statistik bei der Formulierung von Gemeinwohlinhalten vgl. Barlösius, in: Schuppert / Neidhart, Gemeinwohl 2002, S. 219 (220). 212
132 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
sten teil.219 Wichtigstes Ausdruckszeichen dieses Phänomens ist aber zum anderen die Tatsache, daß die Anzahl der Kirchenmitglieder in den letzten Jahrzehnten stetig abgenommen hat. Die folgende tabellarische Übersicht belegt diese Entwicklung seit 1950. Dabei ist mit Maser darauf zu achten, daß exakte statistische Daten zur Religionszugehörigkeit in der DDR für die gesamten 40 Jahre ihrer Existenz und insbesondere seit der Volkszählung 1964 nicht vorliegen.220 Neben den nachfolgend in der Tabelle 2 aufgeführten Konfessionen lebten 2003 etwa 103.000 Juden in Deutschland. Weiteren Religionsgemeinschaften wie etwa Buddhismus oder Hinduismus gehörten nach Ergebnis der Volkszählung 1987 in der Bundesrepublik 1,2 Mio. Menschen an.221 Aktuellere Daten zur Religionszugehörigkeit aller Bürger im vereinten Deutschland liegen nicht vor. Gerade für die in Deutschland lebenden Muslime ist eine genaue Anzahl nicht bekannt, weil die Meldebehörden Muslime in der Kategorie „Religionszugehörigkeit“ nur unter „Verschiedene“ zählen. Hinzu kommt, daß im Ausländerzentralregister die Religionszugehörigkeit erst seit einigen Jahren und auch nur nach freiwilliger Angabe gespeichert wird. Mangels anderer amtlicher Quellen beruhen die Schätzungen der Bundesregierung aus dem Jahr 2007 auf dem Ausländerzentralregister sowie der Einbürgerungsstatistik.222 Wie man erkennt, hatte die Abnahme der Mitgliederzahlen unterschiedliche Ausmaße angenommen in der alten Bundesrepublik und der DDR, wo aufgrund der planmäßig vorangetriebenen Entchristianisierung der „sozialistischen Gesellschaft“223 der Anteil der Kirchenmitglieder sehr viel deutlicher zurückging als im Westen. Durch die Wiedervereinigung wurde die Landkarte der konfessionellen Gebundenheit unter dem Grundgesetz deutlich bunter. Vor allem in Ostdeutschland ist der Anteil der Kirchenmitglieder teilweise geringer als 25 % der Bevölkerung, während er in den westdeutschen Ländern etwa 75 % erreicht.224 Dies läßt auf eine unterschiedlich intensive religiöse Prägung der sonntäglichen freien Zeit in den Bundesländern schließen. ___________ 219 Statistisches Bundesamt, Jahrbuch 2004, S. 63 f. Für die evangelischen Christen handelt es sich um eine Zählung am Sonntag Invokavit ( = der sechste Sonntag vor Ostern), für die Katholiken sind Durchschnittszahlen für das Jahr angegeben. 220 Maser, Kirchen in der DDR, 2000, S. 11. Er verweist darauf, daß die Volkszählung von 1964 die letzte war, die nach der Religionszugehörigkeit fragte. Trotzdem veröffentlichte die DDR die konfessionelle Zusammensetzung nicht mehr in ihren Statistischen Jahrbüchern, vgl. die Ausgaben 1965 und 1966. 221 Vgl. Statistisches Bundesamt, Jahrbuch 2004, S. 43 und 65. 222 Antwort der Bundesregierung auf Große Anfrage „Stand der rechtlichen Gleichstellung des Islam in Deutschland“, BT-Drs. 16/5033, S. 5. 223 So Maser, Kirchen in der DDR, 2000, S. 11. 224 Vgl. etwa Baden-Württemberg mit etwa 72,5 % Christen und Juden (Angaben zu sonstigen Religionsgemeinschaften fehlen), vgl. Statistisches Landesamt, Statistisches
2. Kapitel: Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze
133
Tabelle 2 Konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung225 Angaben in Prozent der Bevölkerung, bis 1990 der jeweiligen Teilbevölkerungen 1950a
1961/64b
1970c
1986/87/88d
BR Deutschland
51,5 %e
51,1 %e
49,0 %e
41,6 %f
DDR
81,3 %
59,3 %
k. A.
30,6 %
BR Deutschland
44,3 %
44,1 %
44,6 %
42,9 %
DDR
11,0 %
8,1 %
Konfession
2004/2007
Evangelisch 31,1 %f
Röm.-katholisch
k. A.
6,6 %
k. A.g
2,7 %
Muslimisch BR Deutschland
k. A.g
k. A.g
31,5 %f
3,8-4,1 %h
(a) Für die Bundesrepublik und die DDR Ergebnis der jeweiligen Volkszählung von 1950, Angaben für die DDR ohne Berlin (Ost). (b) Bundesrepublik: Ergebnis der Volkszählung von 1961; DDR: Ergebnis der Volkszählung von 1964. (c) Bundesrepublik: Ergebnis der Volkszählung von 1970; DDR: es sind keine Angaben (k. A.) verfügbar. (d) Bundesrepublik: Ergebnis der Volkszählung von 1987; DDR: das Jahrbuch 1990 gibt keine exakte Quelle an, der Stand bezieht sich bei Protestanten auf 1986, bei Katholiken auf 1988. (e) Einschließlich der Mitglieder evangelischer Freikirchen. (f) Wert für 2004; bei der evangelischen Kirche ohne Mitglieder evangelischer Freikirchen, deren Anzahl 1987 nur 0,39 Mio. betrug (= 0,6 % der damaligen Bevölkerung). (g) Bis einschließlich zur Volkszählung 1970 ordnete man Muslime in der Bundesrepublik in die Kategorie „sonstige Religionsgemeinschaften“ ein. (h) Da die Behörden die Religionszugehörigkeit in der Bundesrepublik zuletzt bei der Volkszählung 1987 erhoben haben (1,65 Mio. Muslime), ist für die aktuelle Bestimmung auf die Schätzung der Bundesregierung zurückzugreifen. Sie geht im Jahr 2007 von 3,1 bis 3,4 Mio. Muslimen in Deutschland aus (= 3,8 bis 4,1 % der aktuellen Bevölkerung).
___________ Taschenbuch Baden-Württemberg, 2004, S. 26 und 61, sowie MecklenburgVorpommern mit 22,5 % Christen, Statistisches Landesamt, Jahrbuch 2004, S. 42. 225 Alle Daten für die Bundesrepublik entstammen Statistisches Bundesamt, Jahrbuch 2004, S. 43 und S. 63 ff, mit Ausnahme der Zahlen für 2004, vgl. dazu Statistisches Bundesamt, Jahrbuch 2006, S. 65 f. Vgl. für die Daten zur DDR im Jahr 1950 Staatliche Zentralverwaltung für Statistik, Jahrbuch der DDR 1955, 1956, S. 33, für 1964 aus Maser, Kirchen in der DDR, 2000, S. 11, für 1986 und 1988 aus Statistisches Amt der DDR, Jahrbuch der DDR, 1990, S. 451. Die geschätzte Zahl der Muslime für 2007 entstammt BT-Drs. 16/5033, S. 5 f; für 2002 vgl. BT-Drs. 14/4530, S. 5.
134 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
Fragwürdig wäre, gerade im Rückgang der Zahl der Kirchenmitglieder in der DDR vor der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 ein Element für veränderte tatsächliche Verhältnisse zu sehen, die einen Verfassungswandel begründen könnten. Denn das Zustandekommen solcher Veränderungen ist zu beachten. Ohne hier eine vertiefte Analyse der Kirchenpolitik der SED in den 50er Jahren anzustellen, läßt sich wohl mit Recht behaupten, daß eine solche Kirchenpolitik mit den Maßstäben des Grundgesetzes unvereinbar gewesen wäre. Beispiele aus der Zeit des „offenen Kampfes gegen Religion und Kirche“ durch die SED seit 1951 sind etwa die Verunglimpfung der „Jungen Gemeinde“, der Jugendgruppen der Evangelischen Kirche, und Repression ihrer Mitglieder bis hin zu Schulverweis oder Exmatrikulation, Berufsverbot in Schulen, Enteignung evangelischer und katholischer Pflegeeinrichtungen sowie das Verbot der evangelischen Jugendzeitschrift „Die Stafette“ zwischen 1951 und Mitte 1953.226 Es wäre widersinnig, Auswirkungen einer solchen rechtsstaats- und freiheitswidrigen Politik - nämlich die hohe Zahl von Kirchenaustritten - als eine empirische Tatsache hinzunehmen, ohne nach den Umständen ihrer Entstehung zu fragen. Denn sonst würde ein am Maßstab des Grundgesetzes gemessenes verfassungswidriges Verhalten zu einer Veränderung des Normgehalts des Grundgesetzes selbst führen. Dies widerspricht Sinn und Zweck der Rechtsfigur des Verfassungswandels, die gerade solche Veränderungen der Lebensverhältnisse und -einstellungen reflektieren soll, die im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung zustande kommen. Daher kann die niedrige Anzahl von Kirchenmitgliedern in den neuen Ländern nicht für einen Verfassungswandel streiten, soweit der Austritt vor 1990 erfolgte und insgesamt die Austrittszahlen in Westdeutschland deutlich übersteigt. Insgesamt muß man trotz des festzustellenden Rückgangs der Mitgliederzahl darauf hinweisen, daß immer noch fast zwei Drittel der Bevölkerung kirchlich gebunden sind. Dies bleibt eine beachtliche Zahl im Vergleich zu allen anderen Mitgliedschaften in Vereinigungen. Schließlich ist zu betonen, daß Religiosität nicht nur als Kirchenmitglied erlebt werden kann. Gerade weil in Deutschland diese Mitgliedschaft die Kirchensteuerpflicht begründet, kann davon ausgegangen werden, daß zwar Kirchenmitglieder aus finanziellen Gründen ausgetreten sind, aber ähnlich gläubig oder auf der Suche nach Gott sind, wie dies bei Nichtgetauften möglich ist.
___________ 226 Vgl. zu Einzelheiten dieser kirchenfeindlichen Politik Maser, Kirchen in der DDR, 2000, S. 19 - 21, 43; auch Campenhausen, in: HdbStR IX, 1997, § 207 Rnr. 12.
2. Kapitel: Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze
135
(cc) Seelische Erhebung als wandlungsoffener Begriff Obwohl gewandeltes Verhalten am Sonntag und Mitgliederrückgang bei den Kirchen zusammenhängen mögen, bedeutet die Abnahme der Kirchenbindung nicht zwingend ein Absinken an Formen der seelischen Erhebung. Wenn auch eine klassische Form der seelischen Erhebung, nämlich die religiöse in Form des Gottesdienstbesuches, seltener praktiziert wird, können andere nichtreligiöse Formen zugenommen haben. Denn das Merkmal der seelischen Erhebung in Art. 139 WRV verlangt ja gerade keine religiöse Betätigung, worauf in Literatur und Rechtsprechung einstimmig und schon seit der Weimarer Republik zutreffend hingewiesen wird.227 Vor diesem Hintergrund erweist sich die säkulare Formulierung des Art. 139 WRV als wichtig für die Anpassungsfähigkeit des verfassungsrechtlich verankerten Sonntagsschutzes. Der Begriff der „seelischen Erhebung“ stellt den Verfassungsinterpreten vor eine Herausforderung. Häberle kann man beipflichten, wenn er den Juristen mit seiner Rechtssprache und seiner Methode, die an äußere Phänomene anknüpft, nur zu einer punktuellen Umschreibung in der Lage sieht.228 Allerdings ist es Literatur und Rechtsprechung auch gelungen, den Begriff der „Menschenwürde“ in Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG auszufüllen, so daß es kein unmögliches Unterfangen sein dürfte, den Begriff der „seelischen Erhebung“ näher zu bestimmen. Gerade weil Art. 139 WRV die Erhebung und die Arbeitsruhe verbindet, wird deutlich, daß der Sonntagsartikel Arbeit nicht als höchstes Ziel des Menschen und den Mensch nicht als Mittel zum Zweck ansieht.229 „Seelische Erhebung“ offenbart eine deutliche Distanz des Art. 139 WRV zu einem reinen Materialismus. Vielmehr umfaßt er nicht-materielle Kategorien des menschlichen Daseins wie ethische, religiöse, spirituelle und kulturelle Dimensionen.230 Diese Vielschichtigkeit kann man andeutungsweise im Anschluß an Häberle als „Kultur“ beschreiben. Er sieht daher zutreffend die Sonntagsregelung als Teil des Kulturverfassungsrechts an.231 Mit Kultur könnte man in einem klassischen Sinne auf das „Wahre, Gute und Schöne“ abstellen, das dem einzelnen etwa bei Lesen, Musikhören oder -veranstaltungen, Theateraufführungen, Museumsoder Kinobesuchen widerfährt. Auch bei der zeitlich umfangreichsten Sonn___________ 227 Vgl. nur BVerfGE 111, 10 (51); Korioth, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 1; Anschütz, Verfassung des Deutschen Reiches, 1933, Art. 139 Nr. 1. 228 Häberle, Sonntag, 1988, S. 51. Dort bezeichnet er das Wort „seelische Erhebung“ als Wagnis. 229 Campenhausen, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 139 WRV Rnr. 8. 230 Korioth, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 25; Kästner, in: HdbStKirchR II, 1995, S. 337 (343 und 350). 231 Häberle, Sonntag, 1988, S. 50; so in der Tendenz auch Rozek, NJW 1999, S. 2921 (2929).
136 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
tagsbeschäftigung in Deutschland, dem Fernsehen,232 ist dies nicht auszuschließen. Der Begriff der „Erhebung“ ist zwar auf das Individuum zugeschnitten, aber das Verhalten, das zur Erhebung führt, kann durchaus gemeinsame Aktivität sein. Dies dürfte sogar den Regelfall darstellen, wenn man an familiäre und freundschaftliche Begegnungen, den gemeinsamen Besuch einer Veranstaltung, Aktivität im Verein oder in der Natur denkt. Damit spannt die kulturelle Komponente des Begriffs einen Bogen zum Sozialen. Schließlich nehmen auch andere Rechtsnormen auf die Seele Bezug. Art. 6 Abs. 5 GG verlangt, für uneheliche Kinder gleiche Bedingungen für ihre „leibliche und seelische Entwicklung“ zu schaffen. Art. 104 Abs. 1 GG verbietet jede seelische Mißhandlung Gefangener. In einer negativen Wendung schließt eine krankhafte seelische Störung nach § 20 StGB die Schuldfähigkeit aus. Umfassend kann „seelische Erhebung“ aber nur beschrieben werden, wenn neben der Kultur die Religion Beachtung findet. Wenn der religiöse Mensch an ein göttliches Wesen glaubt, sein Dasein im Diesseits in Bezug setzt zum Jenseits, stellen für ihn kultische Handlungen oder das Gebet im Gemeinschaft und allein Augenblicke potentieller seelischer Erhebung dar. Die Vielschichtigkeit einer besonderen Begehung des Sonntags und somit der „seelischen Erhebung“ beschreibt zutreffend der Theologe Romano Guardini, wenn er die Bedeutung des Ruhetages für die „Leistungsfähigkeit des Geistes und das Gleichgewicht des ganzen Lebens“ betont.233 Die aufgeführten Aspekte zeigen, daß „seelische Erhebung“ religiöse und nicht-religiöse Verhaltensweisen einschließt und durchaus wandelbar ist. Zugleich offenbart die Annäherung an diesen Verfassungsbegriff die Grenzen der Rechtswissenschaft und unterstreicht den „reichen Ertrag“, den ein kulturwissenschaftlicher Ansatz zu erbringen vermag und der hier nur skizziert werden kann.234 Neben der Auslegung des Begriffs der „seelischen Erhebung“ ist in empirischer Hinsicht die Zeitbudgeterhebung 2001/02 für den Blick auf die tatsächliche Sonntagsgestaltung der Bevölkerung hilfreich. Sie hat folgendes ergeben:
___________ 232
Danach verbringt jeder sonntags durchschnittlich 2:22 Stunden mit Fernsehen und Video, vgl. Statistisches Bundesamt, Jahrbuch 2004, S. 638. 233 Guardini, Sonntag, 2000, S. 11. 234 So Schuppert, Staatswissenschaft, 2003, S. 773, zu Häberles Ansatz einer kulturwissenschaftlichen Verfassungslehre.
2. Kapitel: Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze
137
Tabelle 3 Sonntagsgestaltung der Bevölkerung in Deutschland235 Tätigkeit
Sonntag
Montag bis Freitag
im Format (Stunden:Minuten) Unterhaltung und Kultur
0:30
0:18
soziale Kontakte
1:08
0:54
körperlich bewegen
0:43
0:24
Fernsehen oder Video
2:22
1:44
Ausruhen
0:23
0:18
Schlafen
9:38
8:08
Gerade der Vergleich zu den typischen Arbeitstagen Montag bis Freitag verdeutlicht, daß trotz möglicher Veränderung im Freizeitverhalten die Bedeutung des Sonntags nach wie vor als wichtig anzusehen ist. Dem tritt im Ergebnis auch Häberle bei, wenn er zu Recht darauf hinweist, daß der Sonntag weiterhin eine Sonderstellung einnimmt und daß ein kultureller Wandel im Sonntagsprinzip des Grundgesetzes eine Grenze finden kann.236 Die kulturelle Dimension des Sonntags läßt sich gerade dann als bedeutend ansehen,237 wenn man zutreffender Weise einem weiten Kulturbegriff nahesteht. (dd) Rolle des Gesetzgebers Dem Gesetzgeber ist es aufgegeben, sowohl Änderungen des Freizeitverhaltens wie auch solche der religiösen Zusammensetzung der Bevölkerung im Rahmen des Sonntagsschutzes im Blick zu behalten. Dazu bietet Art. 139 WRV und insbesondere der Begriff der seelischen Erhebung einen hinreichend großen Spielraum.238 Die vom Bundesgesetzgeber stark geförderte und von den Landesparlamenten vollzogene Abschaffung des Buß- und Bettages als eines gesetzlichen Feiertages in 15 Bundesländern könnte man theoretisch als eine solche Beachtung veränderter Verhältnisse qualifizieren. Im Vordergrund stand ___________ 235
Vgl. zu den Ergebnissen Statistisches Bundesamt, Jahrbuch 2004, S. 638. Häberle, Verfassungslehre, 1998, S. 999. 237 So etwa Rüfner, in: FS Heckel, 1999, S. 447 (455 f). 238 Korioth, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 66. 236
138 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
allerdings, den Anteil der Arbeitgeber an der Pflegeversicherung durch einen zusätzlichen Arbeitstag zu kompensieren. Auch das Bundesverfassungsgericht, dem in der Praxis die Schlüsselrolle für die Feststellung des Verfassungswandels zukommt,239 hat im Ladenschlußurteil 2004 die Rolle der Legislative bei der Bewertung sich wandelnder Freizeitverhältnisse betont, ohne sich aber auf eine Bewertung des derzeitigen Verhaltens der Bevölkerung an Sonntagen einzulassen: „Der Gesetzgeber kann im Rahmen seines Gestaltungsspielraums auf eine geänderte soziale Wirklichkeit, und zwar insbesondere auf Änderungen im Freizeitverhalten, Rücksicht nehmen. .... Selbst wenn das Einkaufen an Sonnund Feiertagen für einen Teil der Bevölkerung infolge von Veränderungen der Einkaufsgewohnheiten keinen ,werktäglichen Charakter’ haben, sondern zum Freizeitvergnügen geworden sein sollte und - wie die Beschwerdeführerin meint - mit dem Besuch eines Theaters oder Kinos vergleichbar wäre, ..., müßte der Gesetzgeber den Schutz der Arbeitsruhe im Zuge der Abwägung mit der Berufsausübungsfreiheit nicht zurücktreten lassen.“240 Schließlich ist in der politischen Debatte keinesfalls Einmütigkeit festzustellen, daß sich Sinn und Zweck sowie Praxis der Sonn- und Feiertagsruhe in erheblichem Maße geändert oder erledigt hätten. Es gibt sowohl Befürworter als auch Gegner einer Nivellierung des Sonntagsschutzes zugunsten einer größeren Beachtung ökonomischer Interessen. Letztere werden insbesondere durch die beiden großen christlichen Kirchen, die Gewerkschaften und insbesondere die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di sowie Politiker in den beiden großen Volksparteien repräsentiert, während vor allem einige größere Einzelhandelsunternehmen auf eine Sonntagsöffnung drängen. Aktionen wie etwa die Kampagne „Ohne Sonntag gibt’s nur noch Werktage“ der Evangelischen Kirche Deutschlands oder jene des Bonifatiuswerkes zugunsten eines Sonntagsladenschlusses versinnbildlichen die öffentliche Diskussion.241 (ee) Ergebnis Mangels empirischer Fundierung läßt sich eine vom Gebot des Art. 139 WRV abweichende soziale und kulturelle Praxis in einem Maße, das den Inhalt des grundgesetzlichen Sonntagsschutzes verändern würde, nicht nachweisen.242 ___________ 239
Walter, AöR 125 (2000), S. 517 (521 f). BVerfGE 111, 10 (51, 53) . 241 Vgl. zur Pressemitteilung der EKD v. 19. Oktober 1999 im Internet unter www.ekir.de/sonntagsruhe/pm_19-10-99.stm sowie zur Aktion des Bonifatiuswerkes Financial Times Deutschland v. 30. März 2007, S. 12. 242 Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 22. 240
2. Kapitel: Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze
139
Ein Konsens über eine solche Veränderung besteht ebenfalls nicht. Zudem ist der Begriff der „seelischen Erhebung“ offen genug, religiöse und nichtreligiöse Formen der Erhebung zu erfassen. Kästner, Korioth, Maurer, Morlok und Rüfner kommen zum selben Ergebnis, wenn sie feststellen, daß sich im Sonn- und Feiertagsrecht die Frage nach derogierendem Verfassungsgewohnheitsrecht noch nicht stelle oder ein Verfassungswandel nicht feststellen lasse.243
(d) Sonntagsverkauf als „Arbeit für den Sonntag“? (aa) „Arbeit für den Sonntag“ und „Arbeit trotz des Sonntages“ Das geänderte Freizeitverhalten äußert sich regelmäßig in einem größeren Bedürfnis nach gewerblichen Dienstleistungen an Sonntagen. Dabei existiert eine Wechselwirkung zwischen dem Angebot der Anbieter und der Nachfrage der Verbraucher. Wirtschaftliche und unternehmerische Interessen fördern die Schaffung von Angeboten, da sich Gewerbetreibende einen höheren Umsatz versprechen. Solche Dienstleistungen kann man unter „Arbeit für den Sonntag“ zusammenfassen, da sie die Freizeitwünsche der Nicht-Arbeitenden bedient. Sie befriedigt sonntägliche Bedürfnisse nach Ruhe, Muße und Vergnügen oder ermöglicht Besuche von Theater-, Film- und Musikvorführungen, von Sport-, Vergnügungs- und Erholungsveranstaltungen oder von Gaststätten und Cafés. Zu diesen Anlässen ist es nach § 10 Abs. 1 Nr. 4 - 9 ArbZG zulässig, Arbeitnehmer ausnahmsweise sonntags zu beschäftigen. Im Gegensatz dazu steht die „Arbeit trotz des Sonntags.“ Sie stillt nicht Freizeitbedürfnisse, sondern ist vielmehr aus gesundheits- oder sicherheitspolitischen, technischen oder sonstigen wichtigen Gründen ausnahmsweise zugelassen. Darunter kann man etwa ärztliche Notfalldienste, Krankenhaus- und Polizeiarbeit fassen. Das Bundesverfassungsgericht unterscheidet ebenfalls zwischen „Arbeit für den Sonntag“ und „Arbeit trotz des Sonntags“, beides sei seit „jeher“ zulässig.244 Diese Auffassung teilen zu Recht alle Autoren, die sich mit Sonntagsschutz und -arbeit befassen. Es gab und gibt kein absolutes Verbot, sonntags zu ___________ 243 Kästner, DÖV 1994, S. 464 (465 in Fn. 10); Korioth, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 66; Maurer, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 112 (113); Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 22; Rüfner, in: FS Heckel, 1999, S. 447 (455 f). 244 BVerfGE 111, 10 (51).
140 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
arbeiten.245 Denn das Merkmal der Arbeitsruhe in Art. 139 WRV verlangte zu keiner Zeit, jegliche Arbeit zu unterlassen.246 Selbst 1919 existierten Ausnahmen, die Sonntagsarbeit nach Maßgabe der §§ 105 a bis j GewO zuließen.247 Auf diese schon damals zulässigen Tatbestände nimmt Art. 139 WRV durch die Formulierung „bleiben gewährleistet“ Bezug.248 Somit bedarf es der Klärung, ob eine der beiden Formen eher dem Schutzgehalt des Art. 139 WRV gerecht wird und in welche Kategorie die Tätigkeit in geöffneten Verkaufsstellen fallen würde. (bb) Beurteilung beider Kategorien im Lichte des Art. 139 WRV Das Bundesverfassungsgericht hat in der Ladenschlußentscheidung 2004 ausgeführt, daß bei der „Arbeit für den Sonntag“ Interessen der Arbeitnehmer eher hinter Freizeitbelange zurücktreten können als bei der „Arbeit trotz des Sonntags“. Damit trägt das Gericht dem Gedanken Rechnung, daß bestimmte Dienstleistungen der besonderen sonntäglichen Zweckbestimmung mehr gerecht werden. Die Kategorien „Arbeit für den Sonntag“ und „Arbeit trotz des Sonntags“ enthalten jeweils eine Opposition widerstreitender Allgemeinwohlbelange. Diese Spannungsverhältnisse unterscheiden sich durch ihren Bezug zu Art. 139 WRV. Die „Arbeit für den Sonntag“ bewirkt ein Gegenüber der beiden Schutzrichtungen des Sonntagsartikels: Die Tätigkeit zugunsten der Freizeitbedürfnisse der Nicht-Arbeitenden kommt - vereinfacht gesagt - tendenziell eher der seelischen Erhebung zugute.249 Sie ist aber nichtsdestotrotz Arbeit und wird dem grundsätzlichen Gebot der Arbeitsruhe nicht gerecht. Hier besteht das Spannungsverhältnis innerhalb des Art. 139 WRV zwischen den beiden Schutzzielen. Anders verhält es sich bei der „Arbeit trotz des Sonntags“. Hier kommt die Arbeit per definitionem nicht den Freizeitbelangen zugute, sondern Rechts- und Verfassungsgütern, die außerhalb des Art. 139 WRV begründet sind. Tätigkeit in Krankenhäusern, bei Notfalldiensten und Feuerwehr realisiert den durch Art. ___________ 245
Loritz, Sonntagsarbeit, 1989, S. 19. Burger, SächsVBl. 1999, S. 295 (296); Feller, Sonn- und Feiertage, 1990, S. 25; Maunz, in: ders. / Dürig, GG, 2002, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 2. 247 Vgl. oben 1. Teil, 1. Kapitel, V. 3. und VI. 2. 248 Burger, SächsVBl. 1999, S. 295 (296). 249 Dabei kann im einzelnen sicherlich gestritten werden, ob jede Freizeitaktivität der seelischen Erhebung dient. Im Ergebnis wird dies zu verneinen sein. Vgl. hierzu unten detailliert 2. Teil, 2. Kapitel II. 1. b) bb) (3) (d) (cc). 246
2. Kapitel: Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze
141
2 Abs. 2 GG erfaßten Gesundheitsschutz.250 Die Arbeit der Polizei, der Ordnungsbehörden, der Staatsanwaltschaft, der Gerichte und der Bundeswehr dient der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie der äußeren Sicherheit, vgl. § 10 Abs. 1 Nr. 2 ArbZG. Damit werden unter anderem die Verfassungsgüter einer funktionierenden Strafverfolgung und Verbrechensbekämpfung sowie der Sicherheit des Staates in die Tat umgesetzt.251 Schließlich verhilft Sonntagsarbeit, die aus technischen Gründen ausnahmsweise zulässig ist, der Berufsausübungsfreiheit und dem Eigentumsschutz zu rechtlicher Anerkennung.252 In allen genannten Fällen wird das Gebot der Arbeitsruhe gem. Art. 139 WRV durch andere Rechtsgüter von Verfassungsrang außerhalb des Sonntagsartikels eingeschränkt. Mit Recht fordert das Bundesverfassungsgericht, daß in beiden Kategorien der Sonntagsarbeit ein hinreichendes Niveau an Sonntagsschutz gewährleistet bleiben muß,253 um kein Einfallstor für alle möglichen gewerblichen Betätigungen zu schaffen. Der kommerziellen Befriedigung von sonntäglichen Bedürfnissen sind ab einer quantitativen Schwelle damit verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt, wie Rüfner zu Recht meint: „Wenn allzu viele für die Freizeitbedürfnisse der anderen arbeiten müssen, wird das Prinzip des Sonntagsschutzes verletzt.“254 Einer effektiven Wirkung des Art. 139 WRV dient es daher mehr, wenn man Ausnahmen vom Gebot der Arbeitsruhe unabhängig davon restriktiv auslegt, welche Art von Sonntagsarbeit vorliegt.255 Innerhalb dieser grundsätzlich restriktiven Auslegung kann man dann mit dem Bundesverfassungsgericht zwischen den beiden Kategorien unterscheiden und die freizeitdienende leicht privilegieren. „Arbeiten trotz des Sonntags“ sind dann eher verfassungsgemäß, wenn sie „existentielle Grundbedürfnisse der Gesellschaft“ betreffen256 und andere Güter von Verfassungsrang in die Tat umsetzen. Für die Zulässigkeit von „Arbeiten für den Sonntag“ kann streiten, daß sie einem Zweck des Sonntagsschutzes dienen: der seelischen Erhebung. Bei der Differenzierung zwischen beiden Arten von Sonntagsarbeit ist der Zweck und das Erscheinungsbild im öffentlichen Leben als ein objektiver Maß-
___________ 250
Diese Tätigkeit ist nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 und 3 ArbZG zulässig. Vgl. BVerfGE 29, 183 (194); 80, 367 (375); für die Sicherheit vgl. BVerfGE 20, 162 (178 f). 252 Vgl. § 10 Abs. 1 Nr. 15 und 16 ArbZG. 253 BVerfGE 111, 10 (52) . 254 Rüfner, in: FS Heckel, 1999, S. 447 (459). 255 Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 23. 256 Burger, SächsVBl. 1999, S. 295 (296). 251
142 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
stab entscheidend.257 Auf das subjektive Empfinden des Individuums kommt es nicht an.258 (cc) Einordnung des Sonntagsverkaufs Denkbar wäre, den Zweck der Ladenöffnung an Sonntagen darin zu sehen, besondere Freizeitbedürfnisse der nicht-arbeitenden Bevölkerung zu stillen. Doch unabhängig von der Frage, ob diese die Geschäftsöffnung als Möglichkeit der Freizeitgestaltung erachten würde, spricht das äußere Erscheinungsbild gegen eine solche Annahme. Die Verkaufsstellen wären sonntags genau aus denselben Gründen geöffnet wie an Werktagen: um die Kaufbedürfnisse der Kunden zu stillen, die notwendige, nützliche oder luxuriöse Gegenstände erwerben wollen, und aus Sicht der Einzelhändler, um Umsatz zu erwirtschaften. Ein weiterer Aspekt betrifft den Zeitpunkt der geschäftlichen Abwicklung der Dienstleistung in Verkaufsstellen. Andere Freizeitgestaltungen erschöpfen sich in der Regel nicht mit dem Abschluß des Rechtsgeschäftes. Der Kauf einer Eintrittskarte für Kino, Theater, Museum, Fitneß- oder Sonnenstudio erlaubt erst die Inanspruchnahme eines Dienstes für einen längeren Zeitraum. Beim Einkauf ist dies gerade nicht der Fall: Hier steht das Rechtsgeschäft erst am Ende des Auswahlprozesses durch den Kunden. Ob dieses Auswählen eine besondere Freizeitgestaltung darstellt, die eine Sonntagsarbeit erfordert, darf bezweifelt werden. Selbst wenn dem so wäre, würde der Schwerpunkt für den Kunden vor dem Rechtsgeschäft Kauf liegen. Es bedürfte dann gar nicht der Möglichkeit zum Vertragsabschluß, sondern eine bloße Betrachtung würde ausreichen, wie dies heute etwa in Möbelgeschäften schon praktiziert wird. Auch das Bundesladenschlußgesetz selbst verdeutlicht, daß es Freizeitbedürfnisse der nicht arbeitenden Bevölkerung in deutlich geringerem Maße berücksichtigt als etwa das Arbeitszeitgesetz. Der Gesetzgeber hat nur in einer Ausnahmevorschrift des Ladenschlußgesetzes zum Ausdruck gebracht, Freizeitbelange von Verbrauchern an Sonntagen besonders anzuerkennen. Für eine angemessene Berücksichtigung etwaiger Versorgungs- und Freizeitinteressen von Touristen sorgt § 10 BLadSchlG, nach dem die Landesregierungen an bis
___________ 257 258
Mayen, DÖV 1988, S. 409 (414). Burger, SächsVBl. 1999, S. 295 (296).
2. Kapitel: Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze
143
zu 40 Sonn- und Feiertagen in touristischen Orten die Ladenöffnung zulassen können.259 Weiterhin ist darauf zu verweisen, daß gewisse Tätigkeiten auch am Samstag durchführbar sind und daher kein Bedürfnis für eine Geschäftsöffnung gerade am Sonntag besteht.260 Denkbar wäre die Argumentation, nach welcher die Ladenöffnung den Sonntagsschutz fördere, weil Einkaufen der seelischen Erhebung der Verbraucher diene.261 Deshalb handele es sich um eine „Arbeit für den Sonntag“. Ohne dies ausdrücklich in diesen Zusammenhang zum Merkmal des Art. 139 WRV zu bringen, könnte man das Vorbringen der Beschwerdeführerin im Ladenschlußverfahren zumindest als Indiz für eine solche Deutung ansehen. Das Bundesverfassungsgericht faßt es wie folgt zusammen: „Zu berücksichtigen sei der gewandelte Stellenwert des Einkaufens in der deutschen Gesellschaft. Während in früherer Zeit unter Einkauf nur die Deckung eines notwendigen Bedarfs an Konsumgütern verstanden worden sei, stelle das ,Einkaufen in Muße’ mittlerweile eine der Erholung dienende Freizeitbeschäftigung dar.“262
Diese Zusammenfassung deckt sich weitgehend mit Ausführungen Kehrbergs an anderer Stelle, der noch anschließt, daß Begriffe wie „Erlebniseinkauf“ oder „smart-shopping“ den Konsumwandel verdeutlicht hätten.263 Auch von „one-stop-shopping“ sprechen einzelne Autoren.264 Der Hinweis auf solche Begriffe mag neue Marketingstrategien der Einzelhandelsunternehmen belegen, gerade wenn es um die Werbung für die zunehmenden großen Einkaufszentren geht.265 Von dort aber auf eine Veränderung des Einkaufverhaltens oder auf eine veränderte Konsumhaltung an sich zu schließen, greift zu weit. Gerade in einem Rechtsraum wie der Bundesrepublik mit etwa 82,5 Mio. Einwohnern sind empirische Untersuchungen zur Stützung solcher Thesen not___________ 259 Die Regelung in § 14 BLadSchlG, die vier verkaufsoffene Sonntage aus Anlaß von Märkten, Messen und ähnlichen Veranstaltungen zuläßt, fällt nicht in diese Kategorie. Sie dient der Gleichbehandlung von Verkaufsstellen und Beschickern der Veranstaltungen sowie der Wirtschaftsbelebung, indem die Ausgabefreudigkeit der Besucher den ortsansässigen Einzelhändlern zu gute kommen soll, vgl. Stober, Ladenschlußgesetz, 2000, § 14 Rnr. 4; Theis, Ladenschlußgesetz, 1991, § 14 Rnr. 3. 260 Feller, Sonn- und Feiertage, 1990, S. 38. 261 In diesem Sinne Korioth, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 25, Tegebauer, GewArch 2007, S. 49 (53). 262 BVerfGE 111, 10 (19). 263 Kehrberg, GewArch 2001, S. 14 (20). 264 Fuchs, NVwZ 2005, S. 1026 (1027), verwendet diesen Begriff. 265 Ein Beispiel ist das Centro in Oberhausen, dessen Erweiterung um 30.000 qm Verkaufsfläche das OVG Münster 2005, S. 1201, bauplanungsrechtlich für rechtmäßig hielt.
144 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
wendig. Juristische Relevanz können diese rhetorischen Figuren der Werbewirtschaft nicht erlangen. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin übersieht darüber hinaus, daß sich der Stellenwert des Einkaufens bereits im 19. Jahrhundert durch das Angebot von angenehmen Konsumgütern im Gegensatz zu notwendigen veränderte und zur Schaffung der Warenhäuser und einer differenzierteren Einzelhandelslandschaft führte.266 Weiterhin begründet die alleinige Qualifizierung einer Betätigung als Freizeitbeschäftigung noch keinen besonderen verfassungsrechtlichen Stellenwert im Rahmen des Art. 139 WRV. Denn jede Tätigkeit in der von Arbeit freien Zeit ist eben Freizeitbeschäftigung. „Freizeit“ ist schon dem Wort nach nur formaler Charakter zuzuschreiben, es bezeichnet die verfügbare Zeit. Allein aus der Tatsache, daß Berufstätige nur außerhalb ihrer Arbeitszeit frei agieren können, wird nicht aus jeder Aktivität die Erfüllung eines Freizeitbedürfnisses. Dies wäre ein rein formaler Ansatz. Ein Freizeitbedürfnis, das im Rahmen des Sonntagsschutzes anerkannt werden soll, muß sich von einer solchen Definition unterscheiden. Denn „seelische Erhebung“ hat gerade einen materiellen, inhaltlichen Gehalt, sie ist zweckgerichtet und ihre Konturen lassen sich wenigstens andeuten.267 Dem steht Korioths Auffassung entgegen, der „seelische Erhebung“ rein subjektiv verstanden wissen will. Alles, was dem einzelnen nach dessen persönlicher Überzeugung gut tue, sei seelische Erhebung und allein dieser Maßstab sei entscheidend. Er verbindet dies mit einer Kritik an Strätz, der den Bürger zu einer sinnvollen Ausfüllung des Sonntags anhalten wolle.268 Ein solches rein subjektives Verständnis der seelischen Erhebung würde die Relevanz dieses verfassungsrechtlichen Schutzzwecks entleeren, da eine Überladung des Begriffs zu befürchten ist. Die Meinungen darüber, wie und was man einer Seele Gutes tun kann, dürften weit auseinandergehen. Gegen ein solches Verständnis spricht auch der Gesetzgebungsauftrag, den Art. 139 WRV enthält: Wie soll der Gesetzgeber seelische Erhebung ermöglichen, wenn zur Definition dieses Zwecks auf die persönliche Auffassung der Bürger abzustellen ist? Dies scheint ein schwieriges Unterfangen. Schließlich verfängt die Kritik Korioths an Strätz nur teilweise: Sicherlich kann aus Art. 139 WRV nicht folgen, daß der Staat bestimmte Verhaltensweisen gebietet. Schon die allgemeine Handlungsfreiheit überläßt es jedem einzel___________ 266
Vgl. oben 1. Teil, 1. Kapitel, V. 3. b). Vgl. oben 2. Teil, 2. Kapitel, II. 1. b) bb) (3) (c) (cc); in diesem Sinne auch jüngst Kingreen / Pieroth, NVwZ 2006, S. 1221 (1225). 268 Korioth, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 25 und dort Fn. 8, mit Verweis auf Strätz, in: HdbStKirchR, 1975, S. 801 (805). 267
2. Kapitel: Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze
145
nen, zu tun und zu lassen, was er will, solange er keine Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten begeht. Der Sonntag ist durch seinen „Angebotscharakter“ geprägt.269 Aber das andere Extrem, das nach Korioths Vorstellung jedes Verhalten als seelische Erhebung anerkennt und somit unter Art. 139 WRV fallen läßt, überzeugt ebensowenig. Der Mittelweg und die Anwendung eines objektiven Maßstabs270 ist vorzugswürdig: Bestimmte Handlungen dienen mehr als andere der seelischen Erhebung und Art. 139 WRV gibt dem Gesetzgeber auf, diese Verhaltensweisen mehr zu schützen als andere Freizeitbeschäftigungen.271 Ihm kommt dabei ein Gestaltungs- und Bewertungsspielraum zu. Wenn er zu dem Ergebnis kommt, Gottesdienste, Theater-, Musik- und Kinoveranstaltungen mehr zu schützen oder zu privilegieren durch das Zulassen entsprechender Sonntagsarbeit als den Sonntagseinkauf, hat er die Grenzen dieses Spielraums nicht überschritten. Denn ein Konsens, nach dem der Abschluß von Kaufverträgen der seelischen Erhebung dient, ist nicht festzustellen. Aus den aufgeführten Gründen würde es sich bei der Beschäftigung in Verkaufsstellen im Ergebnis um eine „Arbeit trotz des Sonntags“ handeln. Diese Arbeit müßte anderen Verfassungsgütern dienen, um im Rahmen des Art. 139 WRV zulässig zu sein. Art. 12 GG kommt nicht in Betracht, weil dieses Grundrecht alle Arbeiten erfaßt und keinen spezifischen Zweck einer Betätigung schützt. Ebensowenig streitet die allgemeine Handlungsfreiheit der Verbraucher für eine Ladenöffnung, da sie der Arbeit über die Befriedigung von Konsuminteressen hinaus keinen qualifizierten Zweck zuschreibt. Besondere Rechtfertigungsgründe zugunsten der Sonntagsarbeit in Geschäften liegen somit nicht vor.272 Selbst wenn man es mit dem Bundesverfassungsgericht und einigen Autoren273 als möglich erachten würde, daß Arbeit in Verkaufsstellen der Freizeitgestaltung anderer dienen kann und daher unter den Begriff der „Arbeit für den Sonntag“ fiele, schränken zwei Aspekte diese Offenheit gegenüber der Sonntagsarbeit wieder ein. Erstens bestünde die Gefahr, daß allein ein Wandel der Freizeitbedürfnisse der Bevölkerung den Bereich der Sonntagsarbeit bedenklich expandieren ließe.274 Zweitens würde das geänderte Freizeitverhalten mit der Nachfrage nach gewerblicher Dienstleistung die Arbeit anderer Personen ver___________ 269
Häberle, Verfassungslehre, 1998, S. 988. So auch Kingreen / Pieroth, NVwZ 2006, S. 1221 (1225). 271 Vgl. zu konkreten Aktivitäten etwa die auf S. 136 aufgezählten. 272 Das Bundesverfassungsgericht spricht vorsichtiger davon, daß keine überwiegenden, den Sonn- und Feiertagsschutz zurückdrängenden Rechtsgüter für die Ladenöffnung sprechen, BVerfGE 111, 10 (52). 273 Frotscher, Wirtschaftsverfassungsrecht, 2004, Rnr. 394; Kehrberg, GewArch 2001, S. 14 (20). 274 Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 24. 270
146 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
langen. Diesen Grundkonflikt zwischen den Arbeit erfordernden Freizeitbedürfnissen und dem Interesse der Arbeitnehmer, selbst von einem arbeitsfreien Sonntag zu profitieren, beschreibt das Bundesverfassungsgericht im Bezug auf den Ladenschluß: „Die Arbeit in Verkaufsstellen an Sonn- und Feiertagen kann insoweit der Freizeitgestaltung der nicht arbeitenden Bevölkerung dienen. Dies beeinträchtigt aber die dort Beschäftigten in ihrer Gestaltung des Sonn- und Feiertags.“275
Es gibt jedoch keinen Anspruch auf die Arbeit anderer für den eigenen Freizeitgenuß. Ein umfassendes Grundrecht auf jede erdenkliche Freizeitgestaltung ist nicht ersichtlich, wenn sie die Arbeit anderer erfordert.276 Allgemeiner formuliert besteht kein Anspruch auf die Einschränkung der Grundrechte anderer. Ausnahmen sind nur beim Schutz höchster Rechtsgüter wie Körper, Leben und Menschenwürde geboten. Da es sich beim Einzelhandel um einen Bereich mit etwa 2,5 Mio. Erwerbstätigen und somit eine der großen Gewerbebranchen handelt, wäre potentiell eine Vielzahl von Arbeitnehmern in der sonntäglichen Ruhe oder Aktivität beeinträchtigt. Zwar würden nicht alle Einzelhandelsbeschäftigten gleichzeitig sonntags arbeiten. Allerdings zeigen Erfahrungen mit der Samstagsöffnung, daß zahlreiche Arbeitnehmer Wochenendarbeit leisten.277 Wie zudem das sozioökonomische Panel (SOEP) empirisch nachgewiesen hat, sind sonntags arbeitende Menschen deutlich unzufriedener mit ihrer Freizeit als Beschäftigte ohne Sonntagsarbeit. Diese Analyse ist bedeutsam, da das SOEP auf einer repräsentativen Wiederholungsbefragung von über 13.000 Personen in Privathaushalten beruht.278 Dieser Aspekt spricht eher für eine Zumutbarkeit des Sonntagsladenschlusses.
c) Ergebnis Ein geänderter Freizeitbedarf und gesteigerte Nachfrage nach Freizeitdienstleistungen sprechen nicht zwingend für die Ladenöffnung an Sonntagen. Eine Beschäftigung in geöffneten Läden fällt in die Kategorie „Arbeit trotz des Sonntags“. Sie stellt keine Arbeit für den Sonntag dar.
___________ 275
BVerfGE 111, 10 (51). Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 24; ihm folgend Webers, GewArch 2005, S. 60 (61). 277 Das sfs-Gutachten kam 1999 zu dem Ergebnis, daß 32 % der Arbeitnehmer im Einzelhandel an Samstagen nach 14 Uhr arbeiten, vgl. BT-Drs. 14/2489, S. 7. 278 Vgl. zum Ergebnis und zum SOEP die Darstellung in DIW, Wochenbericht 25/99, 1999, S. 463 (471). 276
2. Kapitel: Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze
147
Eine Tätigkeit in sonntags geöffneten Verkaufsstellen ist eine Ausnahme zu der durch Art. 139 WRV grundsätzlich geforderten Arbeitsruhe. Sie bedarf einer besonderen Begründung, da die in Frage stehende Aktivität, Einkaufen, keine besondere Nähe zum zweiten Schutzzweck des Sonntagsartikels, der seelischen Erhebung, aufweist oder gar als eine Art der seelischen Erhebung zu verstehen ist.279 Verfassungsrechtliche Gründe neben der hier geprüften Berufsausübungsfreiheit sprechen nicht für eine Öffnung.280 Schließlich ist es gerade Sinn und Zweck des Art. 139 WRV, dem Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum zuzugestehen: Er kann unter Beachtung des Art. 139 WRV und unter Zugrundelegung strenger Maßstäbe auswählen, welche gewerbliche Tätigkeit für den Sonntag ausnahmsweise zugelassen werden soll. Wenn man die Regelungsziele des Sonntagsladenschlusses, den individuellen Arbeitszeitschutz und die Erfüllung des Schutzauftrags aus Art. 139 WRV auf der einen Seite und den mäßig intensiven Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit auf der anderen Seite abwägt, so erweist sich das geltende Recht des Sonntagsladenschlusses als angemessen und den Inhabern von Verkaufsstellen zumutbar. Die Erwerbsinteressen der Ladeninhaber finden durch die mehrfach ausgedehnten Öffnungszeiten an Werktagen ausreichend Berücksichtigung. Eine Verletzung der Berufsfreiheit liegt daher nicht vor.
2. Eigentumsgarantie, Art. 14 Abs. 1 GG Ein rechtswidriger Eingriff in die Eigentumsgarantie etwa in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb scheidet ebenfalls aus. Das Bundesverfassungsgericht hat regelmäßig offen gelassen, ob der eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb den Eigentumsschutz des Art. 14 GG genießt.281 Als ein Kriterium, um eine Verletzung ohne größeren Argumentationsaufwand abzuwenden, scheint es nach dem Urteil zum Sonntagbackverbot von 1992 die Frage anzulegen, ob ein Unternehmen in seinem Bestand gefährdet ist, wenn es seine Gewerbstätigkeit an Sonntagen unterbrechen muß.282
___________ 279
So auch Kingreen / Pieroth, NVwZ 2006, S. 1221 (1225), Kühn, AuR 2006, S. 418 (421). 280 Pahlke, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 53 (64) und Rüfner, in: FS Heckel, 1999, S. 447 (460), die etwas allgemein formulieren, daß jede Rechtfertigung dafür fehle, ein durchschnittliches Ladengeschäft am Sonntag offenzuhalten. 281 BVerfGE 87, 363 (394). 282 BVerfGE 87, 363 (394).
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Nach Ansicht einiger Autoren fällt der eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb in den Schutzbereich des Eigentums.283 Derselben Auffassung war das Bundesverfassungsgericht noch in einem der drei Ladenschlußurteile von 1961.284 Allerdings beziehe sich dieser Schutz nur auf den Gewerbebetrieb als Sach- und Rechtsgesamtheit, so daß nur ein Eingriff in die Substanz eine relevante Beeinträchtigung i. S. d. Art. 14 GG sein könne.285 Eine Verletzung der Substanz eines Einzelhandelsunternehmens ist nicht ersichtlich, wenn es an einem von sieben Tagen geschlossen sein muß.286 Außerdem schützt Art. 14 Abs. 1 GG keine bloßen Wettbewerbschancen, die mit einer längeren Öffnungszeit verbunden werden. Die Eigentumsgarantie umfaßt nicht die Beibehaltung einer einmal am Markt erreichten Stellung gegenüber Konkurrenten.287 Selbst wenn man aber einen solchen Eingriff annehmen würde, handelt es sich keinesfalls um eine unverhältnismäßige Bestimmung. Leisner führt zutreffend aus, daß das Ladenschlußgesetz die Rentabilität des Betriebseigentums nur in einem gewissen Umfange mindere.288 Da hier im wesentlichen dieselben Verhältnismäßigkeitserwägungen wie bei Art. 12 Abs. 1 GG letztlich ausschlaggebend sind, stellen sich die Regelungen zum Sonntagsladenschluß als vereinbar mit Art. 14 Abs. 1 GG dar.
3. Allgemeiner Gleichheitssatz, Art. 3 Abs. 1 GG Auf den ersten Blick problematischer erscheinen mag, ob nicht ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz vorliegt. Im Ergebnis ist dies auch nicht der Fall. Art. 3 Abs. 1 GG wird verletzt, wenn der Gesetzgeber eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu sonstigen Personen anders behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Differenzen von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könn-
___________ 283 Depenheuer, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 14 Rnr. 132; Schunder, Ladenschlußgesetz, 1994, S. 149. 284 BVerfGE 13, 225 (227). 285 Schunder, Ladenschlußgesetz, 1994, S. 149; BVerfGE 13, 225 (229 f). 286 Stober, Ladenschlußgesetz, 2000, Einf. Rnr. 25. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung 2004 nicht geprüft, ob das Ladenschlußgesetz einen Eingriff in Art. 14 Abs. 1 GG darstellt. 287 BVerwGE 79, 167 (173); zum Ausschluß der Wettbewerbschancen aus dem Schutzbereich des Art. 14 GG vgl. BVerfGE 28, 119 (142) und BVerfG NJW 1993, S. 1969 (1971). 288 Leisner, in: HdbStR VI, 1989, § 149 Rnr. 152.
2. Kapitel: Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze
149
ten.289 Der Rechtfertigungsgrund muß in einem angemessenen Verhältnis zum Maß der Ungleichbehandlung stehen.290 Als vergleichbare Normadressaten kommen auf der einen Seite nur Inhaber von Verkaufsstellen in Frage, auf der anderen Seite aber folgende vier Gruppen:
a) Einzelhändler und andere Dienstleister, die keinen Handel treiben Als erste Gruppe sind ganz allgemein andere Dienstleistungsbetriebe zu nennen, die wie der Großhandel gar keinen Einzelhandel betreiben oder keine Waren verkaufen und somit offensichtlich den Bindungen eines Ladenschlußgesetzes nicht unterliegen.291 Diese werden unterschiedlich behandelt, da ihnen der Abschluß von Geschäften allgemein erlaubt, den Inhabern von Verkaufsstellen außerhalb der Ladenöffnungszeiten aber untersagt ist. Gerade Großhändler können auch nach Ladenschluß geöffnet haben und Waren beispielsweise an Kunden mit Einkaufsausweis abgeben.292 Kehrberg irrt, wenn er einen Hauptunterschied in dem zeitlichen Rahmen sieht, in dem Arbeitnehmer in den unterschiedlichen Gewerben eingesetzt werden können. Für sonstige Gewerbe seien dies nach den Bestimmungen des Arbeitszeitgesetzes 144 Stunden (6 x 24 Stunden), für Einzelhändler dagegen nur die Stunden der gesetzlich möglichen Ladenöffnung.293 Arbeitnehmer im Einzelhandel können aber auch an Werktagen außerhalb der noch in einigen Ländern existierenden Ladenschlußzeiten beschäftigt werden. Nur zum Verkehr mit Kunden können sie dann aufgrund der angeordneten Ladenschließung nicht tätig werden.294 Das Bundesverfassungsgericht hat sich in den Ladenschlußfällen mit Art. 3 Abs. 1 GG bisher nicht intensiv auseinandergesetzt. Die Beschwerdeführer hatten im Verfahren 1961 vorgetragen, es fehlten gesetzliche Regelungen für gleichgelagerte Fälle etwa im Gaststätten- und Verkehrsgewerbe.295 Nach Auffassung des Gerichts unterschieden sich diese Gewerbe vom Einzelhandel aber in so erheblichem Maße, daß es keiner näheren Darlegung bedürfe und somit schon eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG ausscheide.296 ___________ 289 BVerfGE 55, 72 (88); 60, 123 (133 f); seitdem st. Rspr. des ersten Senats; vgl. dazu Heun, in: Dreier, GG, 2004, Art. 3 Rnr. 21. 290 Heun, in: Dreier, GG, 2004, Art. 3 Rnr. 21. 291 Schunder, Ladenschlußgesetz, 1994, S. 150. 292 Schädler, Verfassungsrechtliche Beurteilung des Ladenschlußgesetzes, 1995, S. 285. 293 Kehrberg, GewArch 2001, S. 14 (22). 294 Von der Verordnungsermächtigung nach § 17 Abs. 7 BLadSchlG hat der Bund keinen Gebrauch gemacht, vgl. Stober, Ladenschlußgesetz, 2000, § 17 Rnr. 14. 295 BVerfGE 13, 230 (232); 13, 237 (238). 296 BVerfGE 13, 230 (236).
150 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
Dies ist der Sache nach richtig: Zwischen dem Handel mit Waren und der Bereitstellung anderer Dienste besteht nach objektiven Maßstäben ein bedeutender Unterschied. Das kommt nicht nur in der Art der Lagerhaltung zum Ausdruck, die in Verkaufsstellen deutlich aufwendiger als etwa im Gaststättengewerbe ist. Auch der Verzehr vor Ort und die Zubereitung der Getränke und des Essens unterscheidet etwa Cafés und Restaurants von (Lebensmittel-) Geschäften. Zwar kann es durchaus Ähnlichkeiten in der Tätigkeit der Arbeitnehmer in Verkaufsstellen und anderen Dienstleistungsbranchen geben, wie etwa in Videotheken und Sonnenstudios, die nicht dem Ladenschlußgesetz unterfallen.297 Dem Gesetzgeber bleibt es aber möglich, Betätigungen der Arbeitnehmer zu typisieren und dabei in Kauf zu nehmen, daß sich Tätigkeiten ähneln. Allen Einzelfällen kann er nicht gerecht werden.298 Außerdem muß man für den Sonntagsschutz beachten, daß der durch Kundenströme erzeugte zusätzliche Verkehr gerade in Innenstädten eine zusätzliche Lärmquelle schafft. Es ergeben sich Auswirkungen auf die Nachfrage nach öffentlichem Nahverkehr, die bei anderen Gewerbebetrieben nicht in derselben Weise auftreten. Dies unterscheidet zumindest in der flächendeckenden Wirkung den Einzelhandel von anderen Wirtschaftsbranchen.299 Demnach beruht die Unterscheidung auf sachlichen Erwägungen. Sie ist auch im Verhältnis zum unterschiedlichen Maß des Eingriffs angemessen. Diejenigen Autoren, die das Bundesladenschlußgesetz für verfassungswidrig halten, nehmen regelmäßig auch einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG an.300 Diese Auffassung wird hier wie schon bei Art. 12 Abs. 1 GG nicht geteilt.
b) Inhaber von Verkaufsstellen und Händler mit anderen Vertriebsarten Als zweite Gruppe sind Unternehmer des Handels denkbar, die zwar ebenso Waren an den Endverbraucher veräußern, sich jedoch anderer Vertriebsformen wie Internet, Telephon, Fernsehen oder schriftlicher Bestellung bedienen. Hierzu zählen beispielsweise der ambulante Handel oder der Versandhandel, der gerade durch das Internet an Bedeutung gewonnen hat. Diese können ihren Handel auch an Sonntagen betreiben. Gerade eine Gegenüberstellung von Einzel___________ 297 Darauf weisen die Richter Papier, Jaeger, Hömig und Hoffmann-Riem in ihrem abweichenden Votum hin, BVerfGE 111, 10 (46 f). 298 Schädler, Verfassungsrechtliche Beurteilung des Ladenschlußgesetzes, 1995, S. 288 f. 299 So auch Frotscher, Wirtschaftsverfassungsrecht, 2004, Rnr. 397. 300 Heckmann, JZ 1999, S. 1143 (1146); Schunder, Ladenschlußgesetz, 1994, S. 150.
2. Kapitel: Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze
151
handel, Warenhäusern und dem Versandhandel kann die Verletzung des Gleichheitssatzes zu Tage fördern, wie es das Bundesverfassungsgericht schon 1967 für § 6 RabattG feststellte, der Warenhäusern einen Barzahlungsnachlaß untersagte.301 Auch hier beruht der entscheidende Unterschied in der öffentlichen Wahrnehmung und den Folgen der Geschäftsöffnung von Verkaufsstellen. Dadurch werden mehr Lärm und Verkehr verursacht als durch die Büroarbeit, die in Fernseh-, Telephon- oder Internetdiensten erforderlich ist, um Bestellungen aufzunehmen und zu bearbeiten. Gerade der Schutzzweck der kollektiven Arbeitsruhe, der auch die seelische Erhebung ermöglichen soll, rechtfertigt im Rahmen des Sonntagsschutzes diese Ungleichbehandlung. Im Ergebnis liefert die Gewährleistung des Art. 139 WRV auch hier ein ausreichendes Differenzierungskriterium. Hinzu kommt, daß der Bundes- und die Landesgesetzgeber den Bereich des stationären Warenverkaufs an Verbraucher in den Ladenschlußgesetzen erfaßt haben, in dem die meisten Angestellten tätig sind. Zudem bestand ein Bedürfnis nach einer klaren und abgrenzbaren Regelung, was ihm durch die Beschränkung auf Verkaufsstellen, die dem Geschäftsverkehr dienen und fest installiert sind, gelungen ist.302 Daher liegt auch hier keine unzumutbare Ungleichbehandlung i. S. d. Art. 3 Abs. 1 GG vor.
c) Normale und durch Ausnahmetatbestände privilegierte Einzelhändler Als dritte Gruppe werden solche Geschäftsinhaber anders behandelt, die regelmäßig von Ausnahmevorschriften an Sonntagen profitieren und ihre Verkaufsstellen dann im Gegensatz zu durchschnittlichen Ladeninhabern öffnen dürfen. Die Wirkung des Sonntagsladenschlusses ist durch mehrere Ausnahmetatbestände speziell für diese Tage abgemildert. § 14 BLadSchlG, der maximal vier verkaufsoffene Sonn- und Feiertage pro Jahr ermöglicht, kann alle Ladeninhaber betreffen, wenn der Verordnungsgeber die Anwendung nicht auf bestimmte Handelszweige beschränkt. Andere Ausnahmevorschriften betreffen dagegen nur vereinzelte Handelszweige oder festgelegte Warengruppen.303 ___________ 301
BVerfGE 21, 292 (301 ff). Stober, Ladenschlußgesetz, 2000, Einf. Rnr. 27. Schon OLG Hamm, NJW 1958, S. 1695 (1696) hielt die Ungleichbehandlung zwischen stehendem und ambulantem Handel für vereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG. 303 Vgl. § 4 Abs. 1, § 5, § 6 Abs. 2, § 8 Abs. 1, § 9 Abs. 1 S. 2, Abs. 3, § 10, § 11, § 12 und § 15 BLadSchlG und nunmehr auch z. B. § 4, § 5 LadÖffG Berl, § 8, § 9 Abs. 1 und 2 LadÖffG NRW. 302
152 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
Die Entscheidung, welche Verkaufsstellen in den Anwendungsbereich der genannten Ausnahmebestimmungen einbezogen werden, beruht auf einer Abwägung der widerstreitenden Interessen durch den Gesetzgeber. Grundsätzlich kommt ihm dabei ein Gestaltungsspielraum zu, der durch das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG begrenzt ist. Dies folgt aus funktionell-rechtlichen Erwägungen, da sich ansonsten das Bundesverfassungsgericht mittels einer allgemeinen Gerechtigkeitsprüfung an die Stelle der Legislative setzen würde.304 Das Bundesverfassungsgericht hat 2004 nicht abschließend über die Verfassungsmäßigkeit der einzelnen Ausnahmetatbestände vom Sonntagsöffnungsverbot entschieden und noch nicht einmal Erwägungen dazu angestellt. Es stellte lediglich fest, daß der Gesetzgeber nicht verpflichtet sei, Ausnahmen von Art. 139 WRV für Einzelhandelsgeschäfte zu normieren.305 Es führt weiter aus: „Die Ladeninhaber, die nicht in den Genuß der Ausnahmereglung kommen, haben keinen grundrechtlichen Anspruch auf deren Ausweitung auch auf sie. ... Die Anforderungen an die Rechtfertigung von Ausnahmen vom Verbot der Sonnund Feiertagsarbeit sind grundsätzlich größer als bei der abendlichen Ladenschlußzeit, da der Gesetzgeber dem Auftrag des Art. 139 WRV Rechnung zu tragen hat.“306
Für Art. 3 Abs. 1 GG ist daraus ableitbar, daß die Begrenzung der Ausnahmetatbestände auf bestimmte Handelszweige und Warengruppen im Sonntagsschutz einen Grund findet und die grundsätzliche Arbeitsruhe garantiert. Der Gesetzgeber hat sich für die einzelnen Tatbestände von folgenden weiteren sachlichen Erwägungen leiten lassen: § 4 Abs. 1 BLadSchlG und die entsprechenden Bestimmungen in den Landesladenschlußgesetzen sehen für Apotheken besondere Öffnungszeiten, auch an Sonn- und Feiertagen, vor und beschränken das dann zum Verkauf anstehende Warensortiment. Damit soll die Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln sichergestellt werden, wie das Bundesverfassungsgericht zutreffend festgestellt hat.307 Die Vorschrift korrespondiert mit der Pflicht der Apotheker zur ständigen Dienstbereitschaft.308 Ein weiterer Ausnahmetatbestand gestattet den Verkauf von Zeitungen und Zeitschriften zwischen 11 und 13 Uhr an Sonntagen, was dem Informationsbedürfnis der Bürger dient.309 Der Vorschrift liegt die Überlegung zugrunde, daß ___________ 304
Heun, in: Dreier, GG, 2004, Art. 3 Rnr. 51. BVerfGE 111, 10 (52). 306 BVerfGE 111, 10 (53). 307 BVerfG NJW 2002, S. 666 (667). 308 § 23 Abs. 1 Apothekenbetriebsordnung, vgl. Stober, Ladenschlußgesetz, 2000, § 4 Rnr. 3. 309 § 5 BLadSchlG sowie z. B. §7 Abs. 1 Nr. 1 LadÖffG Saar, § 9 Abs. 1 LadÖffG Thür; Theis, Ladenschlußgesetz, 1991, § 4 Rnr. 1. 305
2. Kapitel: Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze
153
die Nachfrage von Presseerzeugnissen außerhalb der regulären Arbeitszeit besonders groß ist.310 Damit ermöglicht § 5 BLadSchlG den Käufern, von Ihrer Informationsfreiheit Gebrauch zu machen. Denn der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG erfaßt das Recht, sich aus allgemein zugänglichen Quellen, auch entgeltlichen, zu informieren.311 In mehreren Paragraphen normiert der Gesetzgeber Ausnahmen vom allgemeinen Ladenschluß im Zusammenhang mit Reisen. Die Möglichkeit zur verlängerten Öffnung geht mit einer Beschränkung des Warenangebots einher. Dabei berücksichtigen sowohl das Bundesladenschlußgesetz als auch die neuen Landesgesetze verschiedene Orte, an denen Reisen beginnen, enden oder unterbrochen werden. Sie behandeln Auto-, Schienen-, Schiffs- und Luftverkehr im wesentlichen gleich:312 1. § 6 Abs. 2 BLadSchlG erlaubt den Verkauf von autospezifischen Waren und Reisebedarf während des Ladenschlusses an Tankstellen.313 2. Letzteres kann ebenso an Personenbahnhöfen feilgeboten werden, § 8 Abs. 1 BLadSchlG. 3. Laut § 9 Abs. 1 S. 2 BLadSchlG kann der Reisebedarf schließlich an Flugund Fährhäfen außerhalb der üblichen Geschäftszeiten an Reisende verkauft werden.314 Durch diese Regelungen erkennt der Gesetzgeber ein Versorgungsbedürfnis während Reisen an. Dieser Anknüpfungspunkt erscheint nicht willkürlich, da die Möglichkeiten durchaus beschränkt sein können, ausreichend Verpflegung mitzunehmen. Daher liegt ein sachlicher Grund vor, so daß diese Regelungen mit dem allgemeinen Gleichheitssatz vereinbar sind.315 Auf die in den letzten Jahren zu beobachtende Praxis des Ausbaus von Tankstellen und Bahnhöfen, die damit ein großes Warensortiment anbieten, wird in anderem Zusammen___________ 310 Stober, Ladenschlußgesetz, 2000, § 5 Rnr. 2; Theis, Ladenschlußgesetz, 1991, § 4 Rnr. 1. 311 Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, 2004, Art. 5 Rnr. 76 f und 80. Den Bezug zu Art. 5 unterstreicht auch Mattner, Sonn- und Feiertagsrecht, 1991, § 6 Rnr. 106. 312 Anzinger, Ladenschlußrecht, 1996, Rnr. 58. 313 Erst die Änderung des BLadSchlG 1996 hat „Reisebedarf“ in § 6 BLadSchlG eingefügt, BGBl. I, S. 1186. 314 Die Ladenöffnungsgesetze der Länder enthalten ebenfalls Sonderregelungen zu Tankstellen vgl. etwa § 5 Nr. 2 Berl, § 7 Bbg, § 5 Hamb, § 8 NRW, § 7 SH, § 6 Thür, zu Bahnhöfen und Flughäfen siehe nur § 5 Nr. 3 Berl, § 8 Bbg, § 4 Hamb, § 9 NRW, § 8 SH, § 7 Thür. 315 So wohl auch die Richter Papier, Jaeger, Hömig und Hoffmann-Riem in ihrem abweichenden Votum zumindest für den Ladenschluß an Werktagen BVerfGE 111, 10 (44).
154 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
hang eingegangen.316 Hier sei nur angemerkt, daß jedenfalls eine möglicherweise rechtswidrige Praxis, Bahnhöfe zu Einkaufszentren auszubauen, nicht zu einer Verfassungswidrigkeit der zugrundeliegenden Ausnahmevorschrift führen kann. Es handelt sich entgegen der Meinung der vier im Ladenschlußurteil 2004 abweichenden Richter317 vielmehr um ein Problem des rechtmäßigen Vollzugs des Ladenschlußgesetzes.318 Die Länder können für Kur- und Erholungsorte an bis zu 40 Sonn- und Feiertagen den Verkauf bestimmter Waren freigeben, § 10 BLadSchlG.319 Damit wird in erster Linie den Einkaufsbedürfnissen der Touristen, in zweiter Linie den wirtschaftlichen Interessen der Verkaufsstellen Rechnung getragen.320 Die Öffnung kann die Attraktivität dieser Orte steigern.321 Durch die Beschränkung auf bestimmte Warengruppen wird eine zu große Anerkennung der Einkaufsund Umsatzbedürfnisse vermieden, so daß die genannten Gründe noch als sachgerecht bezeichnet werden können. Der Bund ist nach § 12 BLadSchlG ermächtigt, den Verkauf bestimmter Waren (u. a. Bäckerwaren, frische Früchte, Blumen, Zeitungen) an Sonn- und Feiertagen zuzulassen. Diese Norm soll insbesondere an Sonn- und Feiertagen bestehende Kaufbedürfnisse der Bevölkerung befriedigen und den Verderb von landwirtschaftlichen Produkten vermeiden. Zudem wird das Ladenpersonal durch die Beschränkung auf bestimmte Waren und auch auf einzelne Verkaufsstellen geschützt.322 Die aufgeführten Gründe sind als sachlich einzustufen. Schließlich regelt § 15 BLadSchlG ebenso wie zahlreiche Normen in den Ladenöffnungsgesetzen der Länder den Sonntagsverkauf am 24. Dezember. Der Fall, daß Heilig Abend auf einen Sonntag fällt, kommt im Abstand einiger Jahre vor. Die Norm wurde 2006 und wird in Zukunft erst wieder 2017, 2023 und 2028 relevant.323 Zwar könnte man mit Stober § 15 BLadSchlG als Paradigma für die perfektionistische Regelung des Ladenschlußrechts bezeich___________ 316
Vgl. unten 3. Teil 4. Kapitel III. Richter Papier, Jaeger, Hömig und Hoffmann-Riem in ihrem abweichenden Votum zumindest für den Ladenschluß an Werktagen, BVerfGE 111, 10 (45 ff). 318 So auch Rozek, AuR 2005, S. 169 (170). 319 Z. B. § 5 Abs. 2 LadÖffG Bbg, § 7 Abs. 1 LadÖffG Hamb, § 6 Abs. 2 LadÖffG NRW, § 9 Abs. 2 LadÖffG RhPf. Eine Verordnungsermächtigung für die Zeit vom 15. Dezember bis zum 31. Oktober enthält § 9 Abs. 1 LadÖffG SH. Eine grundsätzliche Öffnungserlaubnis an Sonn- und Feiertagen sieht § 8 Abs. 1 LadÖffG Thür vor. 317
320 Das Ifo-Institut ist der Auffassung, daß diese Ausnahmeregelung für die Existenzsicherung der betroffenen Geschäfte von ausschlaggebender Bedeutung ist, Bundesministerium der Wirtschaft, Gutachten Ifo-Institut, 1995, S. 33. 321 BVerfGE 111, 10 (41). 322 Stober, Ladenschlußgesetz, 2000, § 12 Rnr. 2. 323 Die letzen zurückliegenden Fälle betrafen die Jahre 1989, 1995 und 2000.
2. Kapitel: Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze
155
nen.324 Allerdings liegt die Annahme näher, daß ein guter Legist am Werk war. Dies offenbart ein Blick auf den Sinn und Zweck. Liegt der 24. Dezember an einem Sonntag, blieben die Verkaufsstellen bei ausnahmsloser Geltung des § 3 BLadSchlG an diesem Tag und an den beiden folgenden Feiertagen, dem ersten und zweiten Weihnachtsfeiertag, geschlossen. Dieser Block von insgesamt drei Sonn- und Feiertagen stellt die einzige Konstellation ihrer Art dar, weil die beiden Weihnachtsfeiertage die einzigen doppelten beweglichen Feiertage sind.325 Daher spricht ein nachvollziehbares Bedürfnis der Bevölkerung, sich mit Lebensmitteln zu versorgen, für die vorgesehene dreistündige Öffnung von Läden, die überwiegend Lebens- und Genußmittel, Milch, Back- und Konditoreiwaren und Früchte anbieten. Daß § 15 BLadSchlG auch den Einkauf von Weihnachtsbäumen privilegiert, erscheint ein Zugeständnis des Gesetzgebers an Liebhaber, die den Christbaum erst am Heiligen Abend aufstellen. Die Reduzierung auf wenige Geschäftsarten und auf die maximale Öffnungsdauer von drei Stunden stellt einen angemessenen Ausgleich zwischen dem Versorgungsinteresse und dem Arbeitsschutz der Arbeitnehmer in Verkaufsstellen dar.326 Damit lassen sich § 15 BLadSchlG ebenso wie die vergleichbaren Sonderregeln der Länder auf eine sachlich fundierte Grundlage zurückführen. Die Vorschriften, die Ausnahmen vom Sonntagsladenschluß zulassen, sind aufgrund sachlicher Gründe im Ergebnis gerechtfertigt. Die Ausnahmevorschriften und die ihnen zugrunde liegenden Erwägungen spiegeln die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers im Rahmen des Sonntagsschutzes wider und sind insgesamt zumutbar.
d) Gleichbehandlung von Einzelhändlern unterschiedlicher Waren Die letzte Fallgruppe bilden Einzelhändler unterschiedlicher Waren. Es gibt höherwertige und einfache, kurz- und langlebige Waren, welche die Ladenschlußgesetze des Bundes und der Länder grundsätzlich alle gleich behandeln.327 Gerade bei höherwertigen Produkten ist aber eine eingehendere Beratung und Information, sprich ein längerer Auswahlprozeß des Kunden notwendig. ___________ 324
Stober, Ladenschlußgesetz, 2000, § 15 Rnr. 2. Die sonstigen „zweiten“ Feiertage, Ostermontag und Pfingstmontag, bewirken lediglich zwei Tage mit geschlossenen Läden. Zwischen Karfreitag und Ostersonntag liegt der verkaufsoffene Karsamstag. 326 Stober, Ladenschlußgesetz, 2000, § 15 Rnr. 2. 327 Eine Ausnahme bilden z. B. Milch, Bäcker- und Konditorwaren, Blumen und Zeitungen, die nach § 12 BLadSchlG i. V. m. § 1 Verordnung über den Verkauf bestimmter Waren (vgl. oben 1. Teil, 3. Kapitel I. 2. a) auch an Sonn- und Feiertagen verkauft werden dürfen. 325
156 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
In einem solchen Fall rügte ein Gewerbetreibender 1961 vor dem Bundesverfassungsgericht die Einbeziehung seiner Buchhandlung in die allgemeinen Ladenschlußzeiten und behauptete eine stärkere Belastung seines Geschäfts gegenüber dem Handel mit lebensnotwendigen Gütern: Die Verbraucher hätten zwischen dem Ende ihrer täglichen Arbeitszeit und dem Ladenschluß nur noch Zeit, lebenswichtige Produkte zu erstehen, aber keine Zeit, Bücher auszusuchen. Das Bundesverfassungsgericht wies diese Argumentation zurück, indem es teils empirisch, teils mit hypothetischen Szenarien argumentierte. Zum einen sei die unterschiedliche Belastung zwischen Buchhändlern und anderen Einzelhändlern nicht so erheblich, daß der Gesetzgeber sie berücksichtigen müßte. Zum anderen könnten sonst auch andere Geschäftszweige für Güter des gehobenen Bedarfs, wie etwa Schallplattengeschäfte, Musik- oder Kunsthandlungen, eine Ausnahme verlangen. Dem Gesetzgeber könne nicht vorgeworfen werden, daß er sich aufgrund solcher Abgrenzungsschwierigkeiten auf den gesamten Einzelhandel beziehe.328 Dem ist zuzustimmen. Es stellt sich für die Legislative als ein schwieriges Unterfangen dar, unterschiedliche Regelungen für die verschiedenen Warengruppen zu treffen. Hier wären gerade große Warenhäuser oder Supermärkte differierenden Bestimmungen zu unterwerfen, wenn man etwa Lebensmittel von höherwertigen Technikgeräten und anderen teureren Produkten normativ trennen würde. Dies wäre in der Praxis nur schwer kontrollierbar. Dem Verweis auf einen längeren Auswahlprozeß bei höherwertigen Waren läßt sich entgegnen, daß durch die Verlängerungen der Öffnungszeiten bei einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit in Deutschland von 36 Stunden329 die Geschäfte die Möglichkeit haben, zwischen 84 und 144 Stunden wöchentlich zu öffnen.330 Damit besteht ausreichend Gelegenheit, auch höherwertige Produkte in Ruhe einzukaufen. Daher ist die Gleichbehandlung verfassungsgemäß. Es gibt keine Waren oder Einzelhandelsbranchen, die der Gesetzgeber zwingend unterschiedlich behandeln müßte.331
___________ 328
BVerfGE 13, 237 (242 f). Breiholz, Wirtschaft und Statistik 2005, S. 327 (331). Die durchschnittliche Arbeitszeit für Männer beträgt 40,2 Stunden und für Frauen aufgrund des höheren Teilzeitanteils 30,8 Stunden. 330 In diesem Sinne Stober, Ladenschlußgesetz, 2000, Einf. Rnr. 28. 331 Stober, Ladenschlußgesetz, 2000, Einf. Rnr. 28; Förster / Höhlscheidt, JuS 1987, S. 57 (61); Schädler, Verfassungsrechtliche Beurteilung des Ladenschlußgesetzes, 1995, S. 289. 329
2. Kapitel: Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze
157
4. Ergebnis Die Vorschriften zum Sonntagsladenschluß sowie die Ausnahmetatbestände im Bundes- und in den Landesladenschlußgesetzen verstoßen nicht gegen die Berufsausübungsfreiheit und das Eigentumsrecht der Verkaufsstelleninhaber. Der allgemeine Gleichheitssatz ist ebenfalls nicht verletzt.
II. Grundrecht der Verbraucher, Art. 2 Abs. 1 GG Eine Verletzung der Grundrechte der potentiellen Kunden, die bei geöffneten Geschäften sonntags einkaufen würden, liegt ebenfalls nicht vor. Es kann sich dabei um dieselben Personen handeln, die auch von der grundsätzlichen Arbeitsruhe an Sonntagen profitieren. Der „sonntagsbeschützte“ Arbeitnehmer ist eben gleichzeitig Verbraucher, der gegebenenfalls sonntags einkaufen will. Die Freiheit des Einkaufens ist von einigen Autoren als eine Art „Verbraucherfreiheit“, „Konsumfreiheit“ oder „Konsumsouveränität“332 qualifiziert worden. Diese Begriffe sind nicht exakt, da sie suggerieren, es bestünde letztlich eine spezielle Freiheit und ein Recht auf die Arbeit anderer. Denn nur wenn andere Personen arbeiten, ihren Laden öffnen oder als Angestellte dort tätig sind, lassen sich überhaupt Konsum erzeugen, Kaufverträge abschließen und somit auch die Konsumentenstellung erlangen. Aber diese mißverständlichen Bezeichnungen ändern inhaltlich nichts daran, daß Art. 2 Abs. 1 GG jedes Tun und Lassen und damit auch das Einkaufen als eine Ausdrucksform der allgemeinen Handlungsfreiheit im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung schützt.333 Zwar sind potentielle Kunden keine Normadressaten der Ladenschlußgesetze. Sie richten sich an die Inhaber der Verkaufsstellen, wie die Regelungen über Ordnungswidrigkeiten und Straftaten belegen.334 Allerdings hat der Schließbefehl Auswirkungen auf die Kunden. Sie können ihre Versorgungsbegehren und -bedürfnisse nicht befriedigen, wann und wo sie wollen.335 Eine mittelbare Einwirkung liegt somit vor. Die Eingriffsintensität ist aber ange-
___________ 332 Schunder, Ladenschlußgesetz, 1994, S. 150; Schädler, Verfassungsrechtliche Beurteilung des Ladenschlußgesetzes, 1995, S. 291. 333 So wohl Dreier, in: ders., GG, 2004, Art. 2 Rnr. 27; Frotscher, Wirtschaftsverfassungsrecht, 2004, Rnr. 397. 334 Vgl. §§ 24 und 25 i. V. m. § 3 BLadSchlG. 335 BVerfGE 13, 230 (233); Hufen, NJW 1986, S. 1291 (1294).
158 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
sichts der rechtlich möglichen 84 bis 144 Wochenstunden an Ladenöffnung als relativ gering anzusehen.336 Dieser Eingriff findet für Sonntage eine verfassungsunmittelbare Rechtfertigung in Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV. Für die vom Ladenschluß an Sonntagen verfolgten Ziele sowie die Eignung und Erforderlichkeit kann auf die Ausführungen im Rahmen des Art. 12 Abs. 1 GG verwiesen werden.337 Im Rahmen der Angemessenheit lassen sich ebenfalls keine neuen schwerwiegenden Gründe zugunsten der Verbraucher ausmachen, die eine andere Beurteilung als bei den primär Betroffenen Ladeninhabern nach sich ziehen. Es besteht angesichts der heutigen Kühlmöglichkeiten keine Notwendigkeit, frische Waren und Lebensmittel auch sonntags einzukaufen.338 Den Verbrauchern ist es zuzumuten, ihre Geschäftsbesorgungen an den sechs Werktagen zu erledigen. Kirste hat den Gedanken allgemein, ohne ausdrücklichen Bezug zum sonntäglichen Ladenschluß treffend zum Ausdruck gebracht: „Gerade die Starrheit des Sonn- und Feiertagsschutzes [kann] betroffenen Grundrechtsträgern Flexibilität zumuten, indem verschiebbare feiertagswidrige Tätigkeiten an Werktagen vorzunehmen sind.“339 Die Verlängerungen der Öffnungszeiten 1996 und 2003 durch den Bund und seit November 2006 durch die Länder haben eine spürbare Entlastung für Verbraucher gebracht. Dies kommt insbesondere erwerbstätigen Frauen zugute, die der Doppelbelastung aus Beruf und Familienversorgung statistisch häufiger ausgesetzt sind als Männer.340 Die Differenz zwischen der durchschnittlichen Arbeitszeit und der wöchentlichen Öffnungszeit ist zudem in einem solchen Maße seit 1956 gestiegen, daß heute der Einkauf notwendiger oder nützlicher Güter mit sehr viel weniger Zeitnot erledigt werden kann, als dies bei längerer Wochenarbeitszeit und Ladenschluß gegen 18 Uhr 30 und 14 Uhr samstags der Fall war. Der vor 1996 wahrscheinlich verbreitetere Streß beim Einkaufen, der für Berufstätige oft zur Nutzung der Mittagspause, der kurzen Zeitperiode zwischen Arbeitsende und Ladenschluß sowie des Samstags mit überfüllten Verkaufsstellen führte,341 müßte abgenommen haben. Sollte dies wider Erwarten nicht der Fall sein, findet er seinen Grund zumindest nicht mehr in zu kurzen ___________ 336 Zumindest für einen gegenüber dem Grundrecht der Ladeninhaber gem. Art. 12 Abs. 1 GG geringeren Eingriff Heckmann, JZ 1999, S. 1143 (1146). 337 Vgl. oben 2. Teil, 2. Kapitel II. 1. b) bb) (1). 338 Rüfner, in: FS Heckel, 1999, S. 447 (460). 339 Kirste, NJW 2001, S. 790 (791). 340 Auf diese hauptsächlich betroffene Gruppe wies auch Hufen, NJW 1986, S. 1291 (1294) vor den beiden wichtigen Verlängerungen der Ladenöffnungszeiten hin; Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend / Statistisches Bundesamt, Wo bleibt die Zeit?, 2003, S. 14 bis 17. 341 Vgl. Kirste, NJW 2001, S. 790 (791).
2. Kapitel: Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze
159
Öffnungszeiten. Schließlich stehen den möglichen 84 bis 144 Stunden Öffnung eine durchschnittliche tatsächliche Wochenarbeitszeit von 36 Stunden gegenüber, auch wenn einzuräumen ist, daß die zwei Stunden von 6 bis 8 Uhr morgens wenig Entlastung bringen und viele Geschäfte in der Praxis zu dieser Zeit nicht öffnen.342 Darüber hinaus wird heute an Samstagen deutlich weniger gearbeitet, als dies bei den ersten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 1961 noch der Fall war.343 Schließlich ist der spontane Wunsch von Verbrauchern, sonntags einkaufen zu gehen, kein Aspekt, der höher wiegt als der Schutz der Sonntage. Art. 139 WRV mutet die Beschränkungen, die mit dem gesetzlichen Sonntagsschutz einhergehen, bewußt den Verbrauchern als verfassungsmäßige Eingrenzung grundrechtlicher Freiheit zu.344 Rüfner faßt treffend zusammen, daß „einem ,Grundrecht’ auf Befriedigung jedes beliebigen Freizeitbedürfnisses (z. B. des uneingeschränkten ,Einkaufsbummels’ auch am Sonntag) [..] Art. 139 WRV entgegen[steht].“345 Daher ist der Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit der Verbraucher verhältnismäßig. Zu diesem Ergebnis kommen zutreffend zahlreiche Autoren sowie das Bundesverfassungsgericht.346 Diejenigen Stimmen in der Literatur, die dagegen schon eine Verletzung des Art. 12 GG annehmen, bejahen sie in der Regel auch bei Art. 2 Abs. 1 GG für die Verbraucher.347
III. Grundrechte der Arbeitnehmer Die Grundrechte der Arbeitnehmer, insbesondere ihre Berufsausübungsfreiheit, die Tarifautonomie und die Privatautonomie sind durch Ladenschlußbestimmungen auch nicht verletzt. ___________ 342 Nach der Verlängerung der Ladenöffnungszeiten auf insgesamt 80 Wochenstunden stellte das ifo-Institut 1999 eine durchschnittliche Öffnungszeit von 50,3 Stunden fest. Bei öffnungsaktiven Läden lag der Durchschnitt bei 58,2 und bei öffnungspassiven bei 48 Stunden. Öffnungsaktive Lebensmittel-Supermärkte öffneten durchschnittlich fast 70 Stunden, vgl. Träger / Halk, Liberalisierung des Ladenschlußgesetzes, 2000, S. 143 und 146 f. 343 Vgl. BVerfGE 13, 230 (236). Nach dem Mikrozensus 2003 arbeiteten 9 % aller Erwerbstätigen ständig, 14,5 % regelmäßig und 19,8 % gelegentlich samstags, Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, 2004, S. 104. 344 BVerwGE 79, 236 (242). 345 Rüfner, in: FS Heckel, 1999, S. 447 (459). 346 BVerfGE 13, 230 (235); Frotscher, Wirtschaftsverfassungsrecht, 2004, Rnr. 397; Schädler, Verfassungsrechtliche Beurteilung des Ladenschlußgesetzes, 1995, S. 296; Stober, Ladenschlußgesetz, 2000, Einf. Rnr. 33; Zmarzlik / Roggendorf, Ladenschlußgesetz, 1997, Einf. Rnr. 16. 347 Heckmann, JZ 1999, S. 1143 (1146); Schunder, Ladenschlußgesetz, 1994, S. 170.
160 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
Art. 12 Abs. 1 GG schützt die berufliche Betätigung von Arbeitnehmern.348 Ladenschlußgesetze normieren den gesetzlichen Rahmen für die Öffnungszeit der Verkaufsstellen und damit mittelbar den zeitlichen Umfang der Arbeit. Ein Arbeitnehmer kann nach Ladenschluß keine neuen Kunden mehr bedienen, auch wenn er über die Ladenschlußzeiten hinaus beschäftigt wird. Für den Fall der Sonntage beschränkt § 17 Abs. 1 BLadSchlG die Arbeit außerhalb der Ladenöffnung auf 30 Minuten und damit die Berufsausübung der Arbeitnehmer.349 Allerdings sprechen dieselben grundlegenden Erwägungen, die oben beim Eingriff in die Berufsfreiheit der Ladeninhaber erörtert wurden, für eine gerechtfertige und verhältnismäßige Einschränkung. Der Ladenschluß an Sonntagen und auch an Werktagen kommt schließlich den Arbeitnehmern, also den Trägern der Berufsfreiheit, zugute. Hier ist vor allem beachtlich, daß der Sonntagsschutz des Art. 139 WRV kein disponibles Recht des einzelnen, sondern einen objektiven Verfassungswert darstellt.350 Die Koalitionsfreiheit gem. Art. 9 Abs. 3 GG umfaßt das Recht, Tarifverträge abzuschließen, um ein annähernd gleichgewichtiges Aushandeln von Löhnen und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. Diese Tarifautonomie bezieht sich auf alle Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen, also auch auf die Dauer von Arbeit.351 Allerdings ist fraglich, ob gerade der Einzelne sich auf Art. 9 Abs. 3 GG berufen kann, wenn es um die Aushandlung bestimmter Punkte eines Tarifvertrages geht. Denn die Ladenschlußgesetze beschränken letztlich die Tarifvertragsfreiheit, indem der Zweck der Arbeit innerhalb der noch teilweise bestehenden Ladenschlußzeiten an Werktagen festgelegt und der ausnahmsweise gestatteten Sonntagsarbeit ein fester zeitlicher Rahmen durch § 17 Abs. 1 BLadSchlG gezogen wird, der nicht zur Disposition der Vertragsparteien steht. Die individuelle Koalitionsfreiheit schützt in erster Linie die Gründung, den Beitritt in und den Austritt aus einer Koalition sowie das Recht, durch koalitionsmäßige Betätigung die in der Verfassungsnorm genannten Zwecke zu verfolgen.352 Damit sind interne und externe Betätigungen erfaßt, wie etwa Teilnahme an der internen Willensbildung und an Arbeitskampfmaßnahmen.353 Für den einzelnen läßt sich daraus aber kein Anspruch ableiten, daß seine Koalition
___________ 348
Wieland, in: Dreier, GG, 2004, Art. 12 Rnr. 65. So Schunder, Ladenschlußgesetz, 1994, S. 153. Der Eingriff ist wie bei Verbrauchern mittelbar, da sich das Ladenschlußgesetz direkt an die Ladeninhaber richtet. 350 Vgl. oben 2. Teil, 1. Kapitel IV. 1. 351 Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, 2006, Art. 9 Rnr. 39; BVerfGE 103, 293 (304). 352 BVerfGE 64, 208 (213). 353 Bauer, in: Dreier, GG, 2004, Art. 9 Rnr. 81. 349
2. Kapitel: Materielle Verfassungsmäßigkeit der Ladenschlußgesetze
161
über alle Arbeitsbedingungen verhandelt. Dies ist vielmehr ein Recht der Koalition als juristischer Person oder sonstiger Personenvereinigung des Privatrechts, also in jedem Fall von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. Aber selbst in dieses Recht greift der Sonntagsladenschluß nicht verfassungswidrig ein, da er sich als verhältnismäßige und insbesondere angemessene Ausgestaltung des Sonntagsschutzes des Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV und somit als eine verfassungsunmittelbare Schranke darstellt. Denn der Gesetzgeber regelt zwar die Arbeitsbedingungen selbst und schränkt sie insbesondere an Sonntagen stark ein, er überläßt aber an den sechs anderen Tagen noch einen ausreichend großen Bereich der Arbeitszeit einer Konkretisierung durch die Tarifparteien.354 Die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Privatautonomie der Arbeitnehmer wird durch die Ladenschlußgesetze durchaus beschränkt. Das Verkaufsstellenpersonal kann seine Arbeitszeit und den Arbeitsinhalt wegen der Ladenschlußregelungen nicht frei mit dem Arbeitsgeber verhandeln.355 Dieser Aspekt tritt aber hinter Art. 12 Abs. 1 GG zurück.356 Ein Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 GG liegt nicht vor.
IV. Ergebnis Die Regelungen zum Ladenschluß an Sonn- und Feiertagen in § 3 Nr. 1 BLadSchlG und in den Ausnahmevorschriften davon gem. § 4 Abs. 1, § 5, § 6 Abs. 2, § 8 Abs. 1, § 9, § 10, § 12 und § 15 BLadSchlG sind ebenso wie inhaltsgleiche Vorschriften in den Ladenöffnungsgesetzen der Länder materiell verfassungsgemäß. Dieses Ergebnis teilen nicht nur das Bundesverfassungsgericht, sondern in Gestalt von Ehlers, Frotscher, von Campenhausen, Korioth, Rozek, Rüfner und Stober sowie sieben weiteren Autoren die überwiegende Meinung in der Literatur.357 Zu unterstreichen ist, daß bei der Entscheidung des Bundesverfassungs-
___________ 354
Zur allgemeinen Erlaubnis des Gesetzgebers, Arbeitsbedingungen im einzelnen zu regeln (ohne Bezug zum Ladenschluß- aber etwa zum Arbeitszeitgesetz), vgl. Kemper, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 9 Rnr. 148 bis 150. 355 Schunder, in: FS Wlotzke, 1996, S. 599 (609). 356 Schunder, Ladenschlußgesetz, 1994, S. 153.
162 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
gerichts zum Ladenschluß 2004 alle acht Richter diese Vereinbarkeit des sonntäglichen Ladenschlusses mit dem Grundgesetz annahmen.358 Mit Recht kann man daher behaupten, daß dieses Urteil den konstitutionellen Sonn- und Feiertagsschutz fördert.359 Hufen und sechs weitere Autoren nehmen dagegen als Mindermeinung generell die Verfassungswidrigkeit des Bundesladenschlußgesetzes an, so daß davon auszugehen ist, daß sie auch die Regelungen zum Ladenschluß an Sonntagen einbeziehen.360 Die Leidenschaft nicht nur der politischen, sondern auch der rechtlichen Debatte um den Ladenschluß spiegelt sich gerade bei Schunder wieder, wenn er die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zum Ladenschluß als „unreflektiert“ abtut.361 Diese Kritik wird dem komplexen Abwägungsprozeß, den die Ladenschlußgesetze beinhalten und der Interessen der Arbeitnehmer, der Verbraucher, der Ladeninhaber sowie der sonntags nach Ruhe und Erhebung strebenden Menschen in Einklang bringt, nicht gerecht.
___________ 357 Konkret für den Ladenschluß an Sonn- und Feiertagen: Schädler, Verfassungsrechtliche Beurteilung des Ladenschlußgesetzes, 1995, S. 297; Burger, SächsVBl. 1999, S. 295 (297); Campenhausen, Gutachten für BVerfG-Verfahren, 2003, S. 14 (unveröff.); Korioth, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 62; Rozek, AuR 2005, S. 169; Ruess, WRP 2004, S. 1324 (1327); Rüfner, Gutachten für BVerfGVerfahren, 2003, S. 9 f (unveröff.), zwar nicht ausdrücklich, aber dem Sinn nach ders., in: FS Heckel, 1999, S. 447 (460); allgemein für das BLadSchlG: Anzinger, in: Richardi, Handbuch Arbeitsrecht II, 2000, § 224 Rnr. 3; Ehlers, in: Achterberg / Püttner, Besonderes Verwaltungsrecht I, 1990, S. 139; Frotscher, Wirtschaftsverfassungsrecht, 2004, Rnr. 397; Neumann / Biebl, Arbeitszeitgesetz, 2004, § 1 BLadSchlG Rnr. 2; Stober, Ladenschlußgesetz, 2000, Einf. Rnr. 23, 33; Zmarzlik / Roggendorf, Ladenschlußgesetz, 1997, Einf. Rnr. 16. 358 Vgl. die Ausführungen zur abweichenden Meinung zum Ladenschluß an Samstagen und somit an Werktagen in den Urteilsgründen, Gliederungspunkt B. I. 1. b), dd) (2) = BVerfGE 111, 10 (38) für die Uneinigkeit sowie B. II. = BVerfGE 111, 10 (49 f) stillschweigend für die Einstimmigkeit. 359 Häberle, Sonntag, 2006, S. 106. 360 Hufen, NJW 1986, S. 1291 (1300); Schunder, Ladenschlußgesetz, 1994, S. 170; Heckmann, JZ 1999, S. 1143 (1146); Kehrberg, GewArch 2001, S. 14 (21 f); Böttner, NJ 1999, S. 518 (521); Reineck / Döhring, BB 1996, S. 703 (707 f); so auch Fuchs, NVwZ 2005, S. 1026 (1027), die den Eingriff in Art. 12 GG für unverhältnismäßig hält. Vor dem Hintergrund der Anzahl der aufgezählten Autoren für beide Meinungen kann der Einschätzung von Hufen, Gutachten für BVerfG-Verfahren, 2003, S. 7 (unveröff.), für den Sonntagsladenschluß nicht gefolgt werden, wenn er die Annahme der Verfassungswidrigkeit als überwiegend einschätzt. 361 Schunder, in: FS Wlotzke, 1996, S. 599 (606).
3. Kapitel: Verstößt Abschaffung des Sonntagsladenschlusses gegen GG?
163
3. Kapitel
Verstößt Abschaffung des Sonntagsladenschlusses gegen GG? Das Verhältnis zwischen dem Grundgesetz und den Ladenschlußgesetzen läßt sich nicht nur nach dem Status quo betrachten. Auch eine andere Fragestellung gewinnt gerade wegen der Föderalisierung des Ladenschlusses an Aktualität und bedarf näherer Betrachtung: Wäre die Abschaffung des grundsätzlichen Ladenschlusses an Sonntagen verfassungsgemäß oder würde sie möglicherweise gegen Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV verstoßen? Seit dem 1. September 2006 sind die Länder für die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Ladenschlußrechts zuständig. An diesem Tag ist die Änderung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG in Kraft getreten, woraus sich die Übertragung der Gesetzgebungskompetenz ergibt. Zwar sehen alle bisher erlassenen Ladenöffnungsgesetze weiterhin einen grundsätzlichen Ladenschluß an Sonn- und Feiertagen vor, allerdings ist die Öffnung an diesen Tagen bereits häufiger oder einfacher möglich als in der Vergangenheit.362 Eine völlige Freigabe oder zumindest deutliche Ausweitung der Ladenöffnungszeiten an Sonntagen in dem einen oder anderen Land könnte in den nächsten Jahren und Jahrzehnten diskutiert werden und Eingang ins Gesetzblatt finden. Sie zeichnet sich am Horizont ab. Zu den sehr öffnungsfreudigen Ländern zählen einige Autoren zu Recht Länder mit bedeutendem Fremdenverkehr wie Berlin oder Mecklenburg-Vorpommern.363 Auch die sächsische Landesregierung dürfte dazu zählen, da die Abschaffung des Ladenschlußgesetzes erklärtes Fernziel des Wirtschafts- und Arbeitsministeriums ist.364 Für eine Aufhebung des Ladenschlusses an Sonn- und Feiertagen spricht zunächst von einem abstrakten Standpunkt die Ausgestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Realisierung des Sonntagsschutzes. Dazu gehört die Wahl der geeigneten Mittel. Aber gerade die Frage, ob die anderen Mittel einen ausreichenden Sonntagsschutz gewährleisten, bedarf näherer Untersuchung. ___________ 362 Vgl. in den Ladenöffnungsgesetzen § 3 Abs. 1 und 2 BW, § 3 Abs. 2 Berl, § 3 Abs. 2 Bbg, § 3 Abs. 2 Hamb, § 3 Abs. 2 Hess, § 3 Abs. 2 MV, § 3 Abs. 2 Nds, § 4 Abs. 1 NRW, § 3 RhPf, § 8 LadÖffG Sa, § 3 i. V. m. § 7 Saar, § 3 SAnh, § 3 Abs. 2 SH und § 4 Abs. 1 Thür. 363 Tegebauer, GewArch 2004, S. 321 (327). Berlin war etwa das erste Bundesland, das ein eigenes Ladenöffnungsgesetz erließ und die Ladenöffnung an den Adventssonntagen von 13 bis 20 Uhr freigab. 364 Vgl. Rozek, NVwZ 2003, S. 397 (398 in Fn. 10); Rozek, NJW 1999, S. 2921 (2922). Für die Abschaffung sprach sich der damalige sächsische Wirtschafts- und Arbeitsminister Schommer aus, vgl. seine bei Burger, SächsVBl. 1999, S. 295, zitierte Pressemitteilung; weniger eindeutig, aber indirekt: Schommer, GewArch 1999, S. 353 (354).
164 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
Denn die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers findet ihre Grenzen im Rahmen des Art. 139 WRV darin, daß erstens die durch das Grundgesetz festgelegte Zweckbestimmung der Sonntage erfüllt wird, eine Regelung zweitens verhältnismäßig ist und drittens die zum Schutz des Sonntags getroffene Regelung effektiv sein muß.365 Da die Aufhebung des Ladenschlusses offensichtlich keine sonntagsschützende Wirkung hat, stehen die Verhältnismäßigkeit und die Erfüllung der Zweckbestimmung des Art. 139 WRV im Blickpunkt.
I. Vereinbarkeit der Abschaffung mit Art. 139 WRV Die Besonderheit besteht hier darin, daß die Abschaffung eines Gesetzes am Grundgesetz geprüft wird. Da der Aufhebung des Ladenschlusses per Gesetz aber auch ein Regelungsgehalt zukommt - Läden dürfen eben dann öffnen -, gelten keine Besonderheiten. Eine völlige Abschaffung des Sonntagsladenschlusses würde unverhältnismäßig in Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV eingreifen und wäre daher verfassungswidrig.366 Eine Verletzung des Kernbereichs läge dagegen nicht vor. Da sich die Maßstäbe für die jeweilige Verletzung zwar unterscheiden, die zu untersuchenden Aspekte aber identisch sind, wird auf spezielle Elemente des Kernbereichs dann eingegangen, wenn ihre Verletzung möglich erscheint.
1. Gemeinwohlbelange zugunsten der Öffnung an Sonn- und Feiertagen Für eine generelle Ladenöffnung an Werktagen und somit auch an Sonntagen sprechen die Berufsausübungsfreiheit der Ladeninhaber, Art. 12 Abs. 1 GG, sowie die allgemeine Handlungsfreiheit der Verbraucher, Art. 2 Abs. 1 GG. Die Berufsausübungsfreiheit der Arbeitnehmer ist nicht als Allgemeinwohlbelang für die Freigabe anzusehen, da Ladenschlußregelungen gerade ihre Interessen schützen. Aus Sicht der Arbeitnehmer im Einzelhandel würde nicht der Gewinn an Freiheit, sondern der Verlust arbeitsschützender Regelungen im Vordergrund stehen. Ein weiterer Zweck könnte in der Schaffung von Arbeitsplätzen zu sehen sein. Dieses Interesse hat das Bundesverfassungsgericht in anderem Zusammenhang zutreffend als Gemeinwohlbelang anerkannt und dem Ziel, die Mas___________ 365 BVerwGE 79, 118 (123); auch BVerfGE 111, 10 (52), wie die Prüfungsreihenfolge zeigt; Campenhausen, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 139 WRV Rnr. 11. 366 Die Frage nach der Gesetzgebungskompetenz für eine Abschaffung und damit nach der formellen Verfassungsmäßigkeit wird unten behandelt, vgl. unten 3. Teil, 3. Kapitel I.
3. Kapitel: Verstößt Abschaffung des Sonntagsladenschlusses gegen GG?
165
senarbeitslosigkeit zu bekämpfen, sogar auf Grund des Sozialstaatsprinzips Verfassungsrang zugesprochen.367 Schließlich ist als Ziel an die Förderung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und des Umsatzes im Einzelhandel zu denken. Gerade in Zeiten der Konsumzurückhaltung durch die Verbraucher könnte der Staat aufgrund seines weiten Gestaltungs- und Einschätzungsspielraums in der Wirtschaftspolitik368 das nachvollziehbare Ziel verfolgen, private Haushalte zu mehr Konsum anzuregen. Die Verbraucher würden verlängerte Öffnungszeiten als Zeichen der Deregulierung und neuer Freiheit ansehen und diese erhoffte positive psychologische Wirkung würde sie animieren, mehr Waren zu kaufen statt zu sparen - so ließe sich etwa eine Zielsetzung des Gesetzgebers formulieren. Die Stimulierung einer mäßig wachsenden Wirtschaft ist als gemeinwohlfördernd im Sinne des Grundgesetzes anzusehen. Das Bundesverfassungsgericht hat im ähnlichen Sinne die Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschlands als Allgemeinwohlbelang im Urteil zur sogenannten Ökosteuer 2004 anerkannt.369 Das Gleiche gilt für die Kehrseite, die Abwehr wirtschaftlicher Gefahren.370
2. Eignung der Ladenöffnung an Sonn- und Feiertagen Zwar ist die Beseitigung des Sonntagsladenschlusses geeignet, Ladeninhabern eine größere Gestaltungsmöglichkeit und somit ein größeres Maß an Berufsausübungsfreiheit zu gewähren sowie Verbraucher in die Lage zu versetzen, ihre allgemeine Handlungsfreiheit zum sonntäglichen Konsum zu nutzen. Es bestehen jedoch Zweifel, ob eine Erweiterung der Ladenöffnungszeiten zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Umsatzsteigerung im Einzelhandel beitragen kann. Nach allen bisherigen Erfahrungen gerade seit 1996 ist dies nicht der Fall.
___________ 367 BVerfGE 21, 245 (251); zu diesem Ziel mit Verfassungsrang vgl. BVerfGE 103, 293 (307). 368 Dieser Spielraum folgt aus der wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes, die dem Gesetzgeber bei Eingriffen in das wichtige Wirtschaftsgrundrecht des Art. 12 Abs. 1 GG eine große Freiheit verleiht, einerseits arbeits-, sozial- und wirtschaftspolitische Ziele zu definieren oder andererseits etwa Subventionen im Einklang mit den europarechtlichen Vorgaben zu gewähren, vgl. Manssen, Art. 12 Rnr. 32 und 126, sowie Starck, Art. 3 Abs. 1 Rnr. 204, beide in: Mangoldt / Klein, GG, 2005. 369 BVerfGE 110, 274 (293). 370 BVerfGE 8, 274 (329).
166 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
a) Schaffung von Arbeitsplätzen Die Behauptung, daß längere Ladenöffnungszeiten zu mehr Beschäftigung im Einzelhandel führen, kommt nicht nur in der politischen Diskussion auf, sondern auch wirtschaftswissenschaftliche Einrichtungen haben diese These aufgestellt. Einer solchen Betrachtungsweise liegt die Annahme zugrunde, daß Verkaufsstellen von den verlängerten Öffnungszeiten Gebrauch machen und für die zusätzlichen Geschäftsstunden Personal einstellen. Diese Annahme klingt auf den ersten Blick zumindest für kleinere Einzelhändler plausibel: Um überhaupt öffnen zu können, bedarf es eines oder zweier Mitarbeiter. Für größere Einzelhandelsgeschäfte, Supermärkte oder gar Warenhäuser ist diese Hypothese schon weniger überzeugend: Hier kann die Anzahl der gleichzeitig anwesenden Mitarbeiter eben reduziert werden, was zu Lasten des Service für den Kunden führt: Ihm steht weniger Personal für Beratung zur Verfügung. Wartezeiten an Kassen oder Theken verlängern sich, wenn weniger Personal zum Einsatz kommt. Das ifo-Institut ging 1995 in seinem für die Bundesregierung erbrachten Gutachten noch davon aus, daß bei einer Erweiterung der Ladenöffnungszeiten etwa 50.000 bis 55.000 Personen im Einzelhandel eingestellt würden; dieses Potential würde bei einer Verlängerung der Öffnungszeiten auf 20 Uhr von Montag bis Freitag und samstags auf 18 Uhr im wesentlichen ausgeschöpft.371 Allerdings sprechen die Erfahrungen nach der Verlängerung der Ladenöffnungszeiten im Jahr 1996 dagegen. Die im Auftrag der Bundesregierung durchgeführte Untersuchung über die Effekte der Erweiterung der Ladenschlußzeiten durch die Sozialforschungsstelle Dortmund ergab 1999, daß sich die Beschäftigungszahlen im Einzelhandel seit 1996 weiterhin negativ entwikkelten.372 Dies belegen auch Zahlen des Statistischen Bundesamtes, wenn man die Jahre 1994 bis 2004 untersucht:
___________ 371 Träger / Vogler-Ludwig, Ladenschlußgesetz, 1995, S. 337; Bundesministerium der Wirtschaft, Gutachten Ifo-Institut, 1995, S. 17 f. Ihm folgend Hufen, Gutachten für BVerfG-Verfahren, 2003, S. 25 (unveröff.). 372 Vgl. Gutachten sfs Dortmund 1999, Zusammenfassung der Ergebnisse in BT-Drs. 14/2489, S. 4 f.
3. Kapitel: Verstößt Abschaffung des Sonntagsladenschlusses gegen GG?
167
Tabelle 4 Anzahl der Beschäftigten im Einzelhandel373 Beschäftigtea
Vollzeitbeschäftigte
Teilzeitbeschäftigte
in Mio. Personen
2000 = 100 %
2000 = 100 %
1994
2,73
117,3
92,5
1995
2,76
113,3
97,0
1996
2,72
109,2
99,0
1997
2,69
104,6
100,8
1998
2,58
101,9
102,9
1999
2,56
100,7
100,7
2000
2,55
100,0
100,0
2001
2,57
98,2
101,7
2002
2,54
95,3
102,1
2003
2,49
91,2
102,5
2004
2,46
87,6
103,8
Jahr
(a) = Unter den Begriff Beschäftigte fallen Inhaber, mithelfende Familienangehörige und Arbeitnehmer. Die Zahlen beziehen sich auf den Einzelhandel ohne KfZ-Handel und Tankstellen.
Seit 1995 läßt sich in der Branche insgesamt ein Rückgang der Beschäftigten feststellen.374 Während die Anzahl der Vollzeitbeschäftigten ständig zurückgegangen ist, stieg die Zahl der Teilzeitbeschäftigten. Allerdings reichte die Zunahme letzterer nicht aus, um den Rückgang insgesamt aufzuhalten. In ihrem Gutachten für die Bundesregierung hat die Sozialforschungsstelle Dortmund während des Berichtzeitraums 1996 bis 1999 einen Rückgang der Beschäftigten um 6 % und des Arbeitszeitvolumens in Stunden um 8 % festgestellt.375 Zwar kann man keinen monokausalen Zusammenhang in der Weise herstellen, daß die Erweiterung der Öffnungszeiten überhaupt keinen positiven Be___________ 373 Zu den Zahlen in der linken Spalte vgl. für 1994 Statistisches Bundesamt, Jahrbuch 1997, S. 267; für 1996 Jahrbuch 1998, S. 252; für 2000 Jahrbuch 2003, S. 256; für die übrigen Jahre Jahrbuch 2004, S. 431. Zu den Zahlen in der rechten Spalte vgl. Decker, Wirtschaft und Statistik, 2005, S. 211 (216). 374 Vgl. Tabelle 4 bei Decker, Wirtschaft und Statistik, 2005, S. 211 (216). 375 Gutachten sfs Dortmund 1999, Zusammenfassung der Ergebnisse in BT-Drs. 14/2489, S. 4.
168 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
schäftigungseffekt hatte. Denn schließlich ist denkbar, daß die Unternehmen ohne diese Reform noch mehr Arbeitsplätze abgebaut hätten. Andere Faktoren spielen bei beschäftigungsrelevanten Entscheidungen nämlich ebenfalls eine wichtige Rolle: Im Rahmen der Internationalisierung und Geschäftsausdehnung haben große Einzelhandelsunternehmen in den 90er Jahren oft eine Strategie der Kostensenkung verfolgt, die sie insbesondere durch Personalabbau umsetzten. Zudem hatten zahlreiche Expansionen durch Fusionen oder Verdrängung von Konkurrenten keinen positiven Beschäftigungseffekt.376 Die Bedeutung der Kostenreduzierung läßt sich am Beispiel der Warenhäuser veranschaulichen: Dort sank der Anteil der Personalkosten am Umsatz von 18 % zu Beginn der 90er Jahre auf etwa 11 % zehn Jahre später, da Stellen abgebaut, der Anteil der Teilzeitbeschäftigten erhöht und auf geringer qualifizierte Arbeitnehmer zurückgegriffen wurde.377 Vor allem ist die Sozialforschungsstelle Dortmund zum Ergebnis gelangt, daß die Erweiterung der Ladenöffnungszeiten keinen positiven Beschäftigungseffekt hatte und selbst Betriebe mit längeren Öffnungszeiten mehr Arbeitsplätze abgebaut haben als öffnungspassive Unternehmen.378 Auch betriebswirtschaftliche Überlegungen sprechen nicht für ein Anwachsen der Beschäftigung. Zwar differieren Öffnungszeit und persönliche Arbeitszeit immer mehr, was zunächst für einen größeren Bedarf an Beschäftigen spricht, wenn weitreichende Geschäftszeiten angeboten werden sollen. Aber gerade mittleren und größeren Einzelhändlern wird es aufgrund ihrer Mitarbeiterzahl möglich sein, ihre Arbeitskräfte verteilt auf die Öffnungszeiten einzusetzen und somit die Zahl der gleichzeitig arbeitenden Personen zu reduzieren. Die Studie der Sozialforschungsstelle hat vielmehr belegt, daß das Einstellungsverhalten der Einzelhändler signifikanter von der Umsatzentwicklung abhängt.379 Empirische Untersuchungen und wirtschaftliche Gründe belegen demnach, daß die Lockerung des Ladenschlusses an Sonntagen kein geeignetes Mittel zur Schaffung von Arbeitsplätzen ist.
___________ 376 Vgl. Schüttpelz / Deniz, in: Rudolph, Aldi oder Arkaden?, 2001, S. 103 (108 und 112 ff); ein Überblick über Fusionen in den 90er Jahren findet sich auf S. 108 in Fn. 5. 377 Bärwald, in: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Psychische Belastungen im Einzelhandel, 2004, S. 58 (60). 378 Gutachten sfs Dortmund 1999, vgl. BT-Drs. 14/2489, S. 3 und 5. 379 Gutachten sfs Dortmund 1999, vgl. BT-Drs. 14/2489, S. 6.
3. Kapitel: Verstößt Abschaffung des Sonntagsladenschlusses gegen GG?
169
b) Steigerung des Umsatzes im Einzelhandel Ähnliche Zweifel bestehen, ob längere Geschäftszeiten den Umsatz im Einzelhandel steigern und somit einen Beitrag zum Wirtschaftswachstum leisten würden. Nach dem erwähnten ersten Gutachten von 1995 hielt das ifo-Institut ein Umsatzplus im Einzelhandel von 2 bis 3 % in einem Zeitraum von drei Jahren für möglich, während es im zweiten Gutachten 1999 vorsichtiger nur noch von „positiven Wohlfahrtseffekten“ sprach.380 Auch Hufen geht offenbar bei erweiterten Öffnungszeiten von Umsatzsteigerungen aus.381 Für eine Kausalität zwischen Verlängerung der Öffnungszeiten und Umsatzsteigerung könnte man anführen, daß die Verbraucher aufgrund der längeren Öffnungszeiten mehr Waren kaufen, gerade weil Ihnen zur Auswahl teuerer Konsumgüter oder größerer Anschaffungen mehr Zeit zur Verfügung steht. Dem häufig gehörten Einwand, daß den Verbrauchern ja nicht mehr Geld zum Ausgeben zur Verfügung gestellt wird, könnte man mit dem Hinweis darauf entgegen, daß Konsumenten möglicherweise für größere Anschaffungen eher bereit sind, erspartes Geld einzusetzen. Die Erfahrungen der letzten Dekade sprechen jedoch gegen die Annahme höherer Umsatzzahlen. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Bedenken 2004 treffend ausgedrückt: „Überdies lassen die mit der Erweiterung von Öffnungszeiten gemachten Erfahrungen zweifeln, ob diese generell zu merklichen Umsatzsteigerungen führen und nicht nur deren Konzentration bei den Marktführern bewirken. Die Erwartung möglicher Umsatzsteigerungen und Gewinne ist jedenfalls kein Belang, dem verfassungsrechtlich ein Vorrang vor dem des Arbeitnehmerschutzes einzuräumen wäre.“382
Studien und Statistiken verfestigen diese Zweifel, wie sich auf folgender Übersicht der Umsatzzahlen seit 1994 ergibt:
___________ 380
Träger / Vogler-Ludwig, Ladenschlußgesetz, 1995, S. 337 ( = Ifo-Gutachten 1); vgl. auch in Bundesministerium der Wirtschaft, Gutachten Ifo-Institut, 1995, S. 19; Träger / Halk, Liberalisierung des Ladenschlußgesetzes, 2000, S. 249 ( = Ifo-Gutachten 2). Interessant ist in diesem zweiten Gutachten der Hinweis, daß die Frage, ob der Einzelhandel durch die Verlängerung der Ladenöffnungszeiten insgesamt Umsatzzuwächse verzeichnet hat, nicht beantwortet werden könne (S. 186). 381 Vgl. Hufen, Gutachten für BVerfG-Verfahren, 2003, S. 24 (unveröff.). 382 BVerfGE 111, 10 (39 f).
170 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß Tabelle 5 Umsatz im Einzelhandel383 Jahr
Umsatz in Mrd. Euroa
Umsatz nominal
real
Meßzahlen 2000 = 100 1994
313
95,5
98,8
1995
317
96,7
99,5
1996
320
97,0
98,9
1997
319
95,9
97,2
1998
310
96,9
98,3
1999
314
97,7
98,8
2000
321
100,0
100,0
2001
328
101,8
100,2
2002
323
100,2
98,8
2003
321
99,7
98,3
2004
315
98,1
96,6
(a) = Umsatz ohne Umsatzsteuer in jeweiligen Preisen, gerundete Angaben.
Nach den umsatzstarken Jahren 1998 bis 2001 kam es im Jahr 2002 erstmals nach 1997 zu einem nominalen und realen Rückgang des Einzelhandelsumsat-
___________ 383 Für die absoluten Zahlen in der linken Spalte vgl. für 1994 Statistisches Bundesamt, Jahrbuch 1997, S. 267; für 1996 Jahrbuch 1998, S. 252; für 2000 Jahrbuch 2003, S. 256; für die übrigen Jahre Jahrbuch 2004, S. 431. Für die relative Entwicklung in der rechten Spalte vgl. Decker, Wirtschaft und Statistik 2005, S. 211 (212). Für 2004 handelt es sich um ein vorläufiges Ergebnis. Real bedeutet nach Eliminierung des nur durch Preiserhöhung verursachten Umsatzzuwachses, während nominal sich auf die tatsächlichen Preise bezieht.
3. Kapitel: Verstößt Abschaffung des Sonntagsladenschlusses gegen GG?
171
zes. Seitdem hält dieser Trend an. In den Jahren 2004 und 2005 verlief die Entwicklung aber wieder positiv.384 Zudem ist zu beachten, daß der Anteil des Einzelhandels am privaten Verbrauch in den letzten Jahren zurückgegangen ist, etwa von 45 % im Jahr 1990 auf nur noch 39 % im Jahr 1998. Private Haushalte geben also einen zunehmenden Anteil ihres Geldes für Güter und Dienstleistungen aus, die nicht vom Einzelhandel angeboten werden.385 So stieg etwa der Anteil der Konsumausgaben für Verkehrs-, Informations- und Kommunikationsdienstleistungen.386 Schließlich bleiben die Einzelhandelsumsätze seit mehreren Jahren hinter den allgemeinen Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts zurück.387 Das ifoInstitut hat in seinem zweiten Gutachten 1999 selbst die große Bedeutung konjunktureller und struktureller Aspekte für die Umsatzentwicklung betont.388 Zwar könnte man aufgrund des weiten Prognosespielraums des Gesetzgebers gerade in wirtschafts- und arbeitspolitischen Fragen annehmen, daß die Verlängerung der Ladenöffnungszeiten an Sonntagen noch geeignet ist, Arbeitsplätze zu schaffen und den Umsatz zu steigern. Selbst wenn man jedoch zu einem solchen hier nicht vertretenen Ergebnis käme, würden die dargestellten Erfahrungen bei der Abwägung der verschiedenen Interessen im Rahmen der Prüfung der Angemessenheit relevant. Aber auch dort wäre ihre Überzeugungskraft keine andere: Sie können nicht zugunsten einer Öffnung ins Gewicht fallen.
3. Erforderlichkeit Erforderlich wäre die Sonntagsladenschlusses nur dann, wenn kein milderes Mittel zur Erreichung der Allgemeinwohlbelange existiert, das bei gleicher Effektivität den Art. 139 WRV weniger intensiv einschränkt. Dem Gesetzgeber stehen zwei Mittel zur Förderung der oben genannten Zwecke zur Verfügung. Entweder er weitet ein weiteres Mal lediglich den zeitlichen Rahmen der Ladenöffnung aus, oder er schafft den sonntäglichen Ladenschluß völlig ab.
___________ 384
Sie läßt sich aber noch nicht exakt beziffern, vgl. Statistisches Bundesamt, Jahrbuch 2006, S. 403; genaue Umsatzzahlen liegen dort erst für 2003 vor, vgl. S. 402. 385 Träger / Halk, Liberalisierung des Ladenschlußgesetzes, 2000, S. 13 und 15; Decker, Wirtschaft und Statistik 2005, S. 211 (214). 386 Decker, Wirtschaft und Statistik 2005, S. 211 (214). 387 Vgl. die Begründung des Gesetzentwurfs zur Verlängerung der Ladenöffnungszeit an Samstagen, BT-Drs. 15/396, S. 7. 388 Träger / Halk, Liberalisierung des Ladenschlußgesetzes, 2000, S. 228.
172 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
a) Teilweise Freigabe der Sonntagsöffnung bei Beibehaltung des Ladenschlusses an Werktagen Wenn es um eine bloße Erweiterung der Möglichkeiten geht, länger einzukaufen und sich gewerblich als Einzelhändler zu betätigen, stellt die Ausweitung der abendlichen Öffnungszeiten ebenfalls ein probates Mittel im Vergleich zur Sonntagsöffnung dar. Diesen Weg haben fast alle Länder in ihren neuen Ladenöffnungsgesetzen bestritten: Sie haben den Ladenschluß an Werktagen entweder ganz oder mit Ausnahme des Samstagabends aufgehoben oder die abendliche Öffnungsmöglichkeit zumindest verlängert. Wie die neuen Landesregelungen zeigen, sind unterschiedliche Modelle denkbar: völlige Freigabe an allen Werktagen, völligen Freigabe Montag bis Freitag und Öffnungsmöglichkeit am Samstag bis 20 Uhr, Verlängerung der abendlichen Öffnungszeit auf 22 Uhr oder Beibehaltung des 20 Uhr-Ladenschlusses.389 Eine Ausdehnung bis 23 Uhr hätte den Vorteil, einen Gleichklang zum Arbeitszeitgesetz herzustellen. Der Ladenschluß fiele mit der Nachtzeit i. S. d. § 2 Abs. 3 ArbZG zusammen, der sie auf 23 bis 6 Uhr festlegt. Selbst eine Festlegung auf 24 Uhr würde keine Nachtarbeit im rechtlichen Sinne verursachen, weil dies mehr als zwei Stunden Arbeit während der Nachtzeit erfordert.390 Der Vorteil einer Fixierung des Ladenschlusses auf 22 Uhr bestünde in einem möglichen Gleichlauf, falls die Tarifparteien im Einzelhandel von der Ermächtigung in § 7 Abs. 1 Nr. 5 ArbZG Gebrauch machen und den Beginn des siebenstündigen Nachtzeitraums auf 22 Uhr vorverlegen. In allen genannten Fällen würde der Gesetzgeber seiner aus Art. 2 Abs. 2 GG folgenden Pflicht, die Gesundheit der Arbeitnehmer vor den Gefahren der Nachtarbeit zu schützen, gerecht. Die Abende an Werktagen genießen im Gegensatz zu Sonntagen keinen verfassungsrechtlichen Schutz. Dies betont zutreffend das Bundesverfassungsgericht im Urteil 2004.391 Wenn keine völlige Freigabe des Ladenschlusses angestrebt wird, sondern nur eine Ausweitung der Einkaufsmöglichkeiten des Verbrauchers um bis zu 84 Stunden pro Woche, wäre eine Verlängerung der Öffnungszeiten an den sechs Abenden von Montag bis Samstag ein milderes Mittel. Im Umkehrschluß bedeutet dies, daß dem Gesetzgeber eine Abschaffung des Sonntagsladenschlusses unter Beibehaltung der bundesgesetzlichen Festlegung der Uhrzeiten an Werktagen (ab 20 bis 6 Uhr) verwehrt bleibt. Vor die Wahl gestellt, die Ladenöffnung an den sechs Abenden von Montag bis Samstag nach 20 Uhr oder an Sonntagen zu ermöglichen, ist er wegen Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV auf die Werktage verwiesen. Die Erwägung, daß die ___________ 389
Vgl. 1. Teil, 1. Kapitel I. 1. Vgl. § 2 Abs. 4 ArbZG. 391 Vgl. das wörtliche Zitat aus BVerfGE 111, 10 (53), auf S. 152. 390
3. Kapitel: Verstößt Abschaffung des Sonntagsladenschlusses gegen GG?
173
Sonntagsöffnung aufgrund eines wahrscheinlich größeren Kundenandrangs ökonomisch sinnvoller wäre, schneidet Art. 139 WRV ab, da dieser Artikel gerade nicht-ökonomische Aspekte schützt.392
b) Völlige Freigabe der Ladenöffnung an Sonntagen Wenn der Gesetzgeber eine völlige Freigabe der Ladenöffnungszeiten beabsichtigt, um etwa die unternehmerische Freiheit der Ladeninhaber und die Einkaufsmöglichkeiten der Verbraucher gar nicht mehr zu beschränken, ist ein milderes Mittel nicht erkennbar. Ein Ausweichen auf andere Wochentage käme nicht in Betracht.
4. Angemessenheit Bei einer Zulassung der Ladenöffnung sind die Bedeutung der Beeinträchtigung des Sonntagsschutzes sowie die Nutzeffekte der Öffnung gegenüberzustellen.
a) Auswirkungen auf Art. 139 WRV Eine Abschaffung des Sonntagsladenschlusses hätte Auswirkungen auf das Maß an Sonntagsschutz, das die gesetzlichen Regelungen des Bundes und der Länder bisher im Zusammenwirken gewährleisten. Zwischen dem Gewinn an Freiheit für Inhaber von Verkaufsstellen und Verbraucher einerseits und dem Sonntagsschutz andererseits hat der Gesetzgeber einen schonenden Ausgleich herzustellen. Dabei sind die konkreten Auswirkungen einer Abschaffung des Sonntagsladenschlusses zu beachten. Mit dem Bundesverwaltungsgericht liegt eine Verletzung des Sonntagsartikels vor, wenn die Tätigkeiten mit der „verfassungsrechtlich festgelegten Zweckbestimmung des Sonntags als Tag der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung nicht vereinbar sind. Schon diese Unvereinbarkeit rechtfertigt ein gesetzliches Verbot..., ohne daß es dabei darauf ankäme, ob die verbotenen Tätigkeiten generell oder im Einzelfall über diese Unvereinbarkeit hinaus zu einer konkreten Gefährdung oder Störung der Sonntagsruhe führen.“393
___________ 392
Vgl. Campenhausen, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 139 WRV Rnr. 39 und
393
BVerwGE 79, 118 (124).
41.
174 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
In diesem Sinne sieht es Morlok als notwendig an, daß der Sonntagsschutz die Abwehr potentieller Gefahren beinhaltet.394 Es kommt also maßgeblich auf die Merkmale der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung an.
aa) Arbeitsruhe Im Rahmen dieses Schutzzwecks ist zwischen der individuellen und der kollektiven Arbeitsruhe zu unterscheiden:395 Die individuelle Arbeitsruhe kann erst eine Atmosphäre der Arbeitsruhe für die Allgemeinheit schaffen, wenn sie für möglichst viele gilt.396
(1) Individuelle Arbeitsruhe und Wirkung anderer Regelungen Durch die Abschaffung des Ladenschlusses würde das Interesse der Ladeninhaber und Einzelhandelsunternehmen geweckt, Arbeitnehmer auch an Sonntagen in Einzelhandelsläden zu beschäftigen. Bestehende Regelungen wie das Arbeitszeitgesetz sowie Sonn- und Feiertagsgesetze der Länder, aber auch die Möglichkeit von Tarif- oder Betriebsvereinbarungen könnten für den Schutz der Arbeitnehmer eine wirksame Alternative zu einem Ladenschlußgesetz sein.397 Dabei ist nicht nur eine isolierte Betrachtung der einzelnen Regelungen angezeigt, sondern auch eine Zusammenschau ihrer Wirkung. Das gesetzgeberische Ermessen im Rahmen des Art. 139 WRV kann sich auf Null reduzieren, wenn durch andere Maßnahmen kein hinreichender Schutz der besonderen Zweckbestimmung der Sonn- und Feiertage mehr gewährleistet wird.
(a) Arbeitszeitgesetz Das Arbeitszeitgesetz schützt Arbeitnehmer vor Sonntagsarbeit, indem es ihre Beschäftigung grundsätzlich verbietet, § 9 Abs. 1 ArbZG. Damit ist die große Mehrzahl der 2,46 Mio. Erwerbstätigen im Einzelhandel erfaßt. Bei einer Aufhebung des Ladenschlusses durch die Länder ist zu unterstellen, daß die Spezialregelung in § 17 Abs. 1 BLadSchlG nicht mehr zur Anwendung käme ___________ 394
Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 23. Zwar nicht ausdrücklich, aber der Sache nach Campenhausen, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 139 WRV Rnr. 32 ff; Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 11 und 24 f. 396 Benda, Probleme der industriellen Sonntagsarbeit, 1990, S. 24. 397 Die Sonderfälle des Jugend- und Mutterschutzes bleiben unberücksichtigt. 395
3. Kapitel: Verstößt Abschaffung des Sonntagsladenschlusses gegen GG?
175
und an die Stelle das Arbeitszeitgesetz tritt.398 Eine Beschäftigung von Arbeitnehmern wäre nur zulässig, wenn einer der Ausnahmetatbestände des Arbeitszeitgesetzes eingreifen würde. Einen umfangreichen Katalog solcher Fallgruppen enthält § 10 ArbZG. Dort ist allerdings kein Tatbestand auszumachen, der die Beschäftigung im Einzelhandel erfaßt. Dies ist im System des bisherigen Bundesladenschlußgesetzes folgerichtig, da das Bundesladenschlußgesetz in § 17 Abs. 1 eine Spezialregelung enthält, die dem Arbeitszeitgesetz insoweit vorgeht und die Sonntagsarbeit in ausnahmsweise geöffneten Läden zuläßt.399 Einzig § 10 Abs. 3 ArbZG könnte in Zusammenhang mit dem Verkauf von Waren gebracht werden. Danach dürfen Arbeitnehmer an Sonn- und Feiertagen für drei Stunden mit dem Austragen und Ausfahren von Konditor- und Bäckerwaren beschäftigt werden. Die Abgabe an den Kunden wird jedoch nicht erfaßt, da dieser durch die Verordnung über den Verkauf bestimmter Waren an Sonn- und Feiertagen vom 21. Dezember 1957 zugelassen ist.400 Daher gab es für den Bundesgesetzgeber vor der Grundgesetzreform zum 1. September 2006 kein Bedürfnis, eine Regelung zur Arbeit in Verkaufsstellen im Arbeitszeitgesetz zu treffen. Selbst bei Wegfall dieser Verordnung ist § 10 Abs. 3 ArbZG nicht so auszulegen, daß er den Verkauf erfaßt. Auch die weitere Ausnahmevorschrift des § 13 Abs. 1 Nr. 2 a ArbZG kann bei einem Wegfall des Ladenschlußgesetzes nicht im selben Umfang weiterhelfen. Sie ermächtigt den Verordnungsgeber, abweichend von § 9 ArbZG und über § 10 ArbZG hinaus zur Vermeidung erheblicher Schäden Ausnahmen zuzulassen für Betriebe, in denen die Beschäftigung von Arbeitnehmern zur Befriedigung täglicher oder an Sonn- und Feiertagen besonders hervortretender Bedürfnisse der Bevölkerung erforderlich ist. Diese Norm ist i. V. m. § 13 Abs. 2 S. 1 ArbZG Rechtsgrundlage für die Bedürfnisgewerbeverordnungen der Länder. Mangels Rechtsverordnung des Bundes haben die obersten Landesbehörden sich auf den Erlaß einer solchen Verordnung verständigt. Der koordinie-
___________ 398 Die Frage, was mit § 17 BLadSchlG in einem Bundesland bei Inkrafttreten eines Landesladenöffnungsgesetzes, das ähnliche arbeitnehmerschützende Regelungen wie § 17 BLadSchlG enthält, geschieht, erfordert eine umfassende Darstellung, vgl. unten 3. Teil, 3. Kapitel. Das dortige Ergebnis (Anwendung des Arbeitszeitgesetzes) wird hier unterstellt. 399 Vgl. Baeck / Deutsch, Arbeitszeitgesetz, 2004, § 9 Rnr. 20; OVG Koblenz DÖV 1996, S. 256 (257). 400 Vgl. Baeck / Deutsch, Arbeitszeitgesetz, 2004, § 10 Rnr. 150; a. A. wohl Anzinger, in: Richardi, Handbuch Arbeitsrecht II, 2000, § 221 Rnr. 57.
176 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
rende Länderausschuß für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik (LASI) hat einen Musterentwurf erarbeitet, an dem sich die Länder orientiert haben.401 Unter den Begriff des Bedürfnisgewerbes fallen keine Verkaufsstellen, da diese von Ladenschlußgesetzen erfaßt werden.402 Zwar ließe sich für eine neue Auslegung des Begriffs vorbringen, daß der Gesetzgeber den Sonntagsladenschluß gerade aufgehoben habe, um den Bedürfnissen der Verbraucher - neben der Berufsfreiheit der Ladeninhaber - besser gerecht zu werden. Diese Vorgehensweise wäre geeignet, im Rahmen der Auslegung des § 13 Abs. 1 Nr. 2 a ArbZG als Argument zu dienen. Die derzeit geltenden Bedürfnisgewerbeordnungen der Länder decken eine Beschäftigung von Arbeitnehmern in Verkaufsstellen nicht ab, da vor dem Inkrafttreten der Ladenöffnungsgesetze der Länder bundesweit die Regelung des § 17 Abs. 1 BLadSchlG galt. In Bayern, Berlin, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen beispielsweise wird im Bezug auf Läden lediglich Blumengeschäften gestattet, Arbeitnehmer außerhalb der nach der Verordnung über den Verkauf bestimmter Waren an Sonn- und Feiertagen zulässigen Öffnung von zwei Stunden zu beschäftigen.403 Aber selbst wenn man mit einigem Argumentationsaufwand die Befriedigung „täglich oder an diesen Tagen besonders hervortretender Bedürfnisse“ noch annehmen könnte, wird in keinem Fall eine generelle Sonntagsöffnung „zur Vermeidung erheblicher Schäden“ notwendig sein. Diese Voraussetzung fordert der 1. Halbsatz des § 13 Abs. 1 ArbZG. Die Sonntagsöffnung würde vielmehr aus demselben Grund erfolgen wie eine Öffnung an Werktagen: aus Sicht der Verbraucher zur Befriedigung ihres Konsumbedarfs und aus Sicht der Einzelhandelsunternehmen zur Erzielung von Umsätzen. Weder für die Bundesregierung noch für die Landesregierungen stellt daher der Erlaß oder die Änderung der bestehenden Gewerbebedürfnisverordnungen eine effektive Alternative dar. Einzig § 13 Abs. 3 Nr. 2 a ArbZG kann als Grundlage von Sonntagsarbeit im Einzelhandel dienen. Die Aufsichtsbehörde kann danach an bis zu zehn Sonnund Feiertagen, an denen besondere Verhältnisse einen erweiterten Geschäftsverkehr erforderlich machen, bewilligen, Arbeitnehmer zu beschäftigen. Unter Handel fällt auch der Einzelhandel.404 Da die Auslegung des Merkmals „beson___________ 401 Anzinger, in: Richardi, Handbuch Arbeitsrecht II, 2000, § 221 Rnr. 64 f; aktuelle Übersicht mit Fundstellen bei Anzinger / Koberski, Arbeitszeitgesetz, 2005, § 13 Rnr. 27. 402 Schnieders, Sonntagsarbeit, 1996, S. 65. 403 Vgl. § 1 VO Bay, GVBl. 1997, S. 395; § 1 VO Berl GVBl. 1997, S. 270; § 1 VO Bbg GVBl. II 1998, S. 622; § 1 VO NRW GVBl. 1998, S. 381. 404 Anzinger, in: Richardi, Handbuch Arbeitsrecht II, 2000, § 221 Rnr. 67; Neumann / Biebl, Arbeitszeitgesetz, 2004, § 13 Rnr. 14.
3. Kapitel: Verstößt Abschaffung des Sonntagsladenschlusses gegen GG?
177
dere Verhältnisse“ umstritten ist,405 wäre es denkbar, daß die Aufsichtsbehörden auch unternehmensinterne Gründe für eine Bewilligung ausreichen lassen. Zwar ist eine dauerhafte Ausnahme nach Sinn und Zweck der Norm unzulässig.406 Aber § 13 Abs. 3 Nr. 2 a ArbZG kommt nur so lange nicht zur Anwendung, wie § 17 BLadSchlG gilt.407 Eine Ausnahmebewilligung nach § 13 Abs. 5 ArbZG kann auch nicht als Grundlage dienen, um Sonntagsarbeit in geöffneten Verkaufsstellen zu ermöglichen. Nach dieser weit gefaßten Regelung darf die Aufsichtsbehörde abweichend von § 9 ArbZG die Beschäftigung bewilligen, wenn bei einer weitgehenden Ausnutzung der gesetzlich zulässigen wöchentlichen Betriebszeit und bei längerer Betriebszeit im Ausland die Konkurrenzfähigkeit unzumutbar beeinträchtigt und die Beschäftigung durch Sonntagsarbeit gesichert werden kann. Bei näherer Untersuchung ergeben sich zwei Einwände gegen eine Übertragbarkeit auf den vorliegenden Fall: Zum einen erfolgt die Ausnahmebewilligung nur betriebsbezogen,408 sie könnte also nicht den ganzen Einzelhandel umfassen. Zum anderen dürften aufgrund des stationären Charakters des Einzelhandels nur in seltenen Fällen in Grenzregionen solche unzumutbaren Beeinträchtigungen durch ausländische Konkurrenz vorstellbar sein. Schließlich ist schon oben gezeigt worden, daß verlängerte Öffnungszeiten im allgemeinen kein Garant für die Schaffung oder Sicherung von Arbeitsplätzen sind.409 Die Ausnahmeregelung des § 14 ArbZG würde regelmäßige Sonntagsarbeit im Einzelhandel nicht zulassen. Sie ermöglicht vorübergehende Arbeiten nur in Notfällen und in außergewöhnlichen Fällen. Im Ergebnis würde das Arbeitszeitgesetz Sonntagsarbeit von Arbeitnehmern in Verkaufsstellen nicht verhindern, falls die Aufsichtsbehörden von der Ermächtigung nach § 13 Abs. 3 Nr. 2 a ArbZG Gebrauch machen.
(b) Sonn- und Feiertagsgesetze der Länder Die Sonn- und Feiertagsgesetze der Länder untersagen in der Regel öffentlich bemerkbare Arbeiten, die geeignet sind, die äußere Ruhe des Tages zu beeinträchtigen oder die dem Wesen des Sonntags widersprechen.410 Teilweise ___________ 405
Vgl. zum Streitstand Baeck / Deutsch, Arbeitszeitgesetz, 2004, § 13 Rnr. 37. Baeck / Deutsch, Arbeitszeitgesetz, 2004, § 13 Rnr. 38. 407 Vgl. zum Vorrang der Regelung in § 17 BLadSchlG vor § 13 Abs. 3 Nr. 2 a ArbZG Neumann / Biebl, Arbeitszeitgesetz, 2004, § 13 Rnr. 11. 408 Baeck / Deutsch, Arbeitszeitgesetz, 2004, § 13 Rnr. 92. 409 Vgl. oben Tabelle 4, 2. Teil, 3. Kapitel I. 2. a). 410 Vgl. etwa § 3 Abs. 2 FTG MV, § 3 Abs. 2 FTG SH, § 4 Abs. 2 FTG Thür. 406
178 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
werden vom Verbot nur solche Arbeiten ausgenommen, die besonders erlaubt sind.411 Sicherlich geht zwar mit der Öffnung von Läden eine höhere Verkehrs- und damit Lärmbelästigung einher. Ob dadurch die Voraussetzungen für ein Verbot der Ladenöffnung nach den Sonn- und Feiertagsgesetzen der Länder erfüllt sind, erscheint zumindest zweifelhaft zu sein. Diese Frage dürfte in der Praxis wie bei der Öffnung von Videotheken, der Veranstaltung von Gebrauchtwagenmärkten oder dem Betrieb von Sonnenstudios zu einer streitigen Rechtsfrage werden.412 Dies zeigt die Auffassung von Kirste, nach der die Länder durch die Abschaffung des Bundesladenschlußgesetzes den Handlungsspielraum für Betriebsverbote wieder erhalten könnten. Die Auffangfunktion der landesrechtlichen Sonn- und Feiertagsgesetze für allgemeine Handlungsverbote (Arbeits-, Beschäftigungs-, Betriebs- und weitere Verbote) würde nach ihm wieder aufleben,413 was voraussetzen würde, daß die Länder von ihrer neuen Gesetzgebungskompetenz keinen Gebrauch gemacht hätten. Zwar ist daran richtig, daß die Ladenöffnung mangels bundesgesetzlicher Regelung dann an den Ländergesetzen zu messen wäre. Deren Schutzniveau ist allerdings gerade bezogen auf wirtschaftliche Tätigkeit nicht einheitlich. Die Ausnahmen von den gesetzlichen Arbeits- und Handlungsverboten sind sehr unterschiedlich ausgestaltet, wie Hoeren / Mattner in ihrer synoptischen Darstellung nachgewiesen haben.414 Daher würde Arbeit in Ladengeschäften nicht zwingend gegen die Verbote der Sonn- und Feiertagsgesetze verstoßen. Eine Effektivität, die den Regelungen eines Ladenschlußgesetzes vergleichbar ist, wäre jedenfalls nicht gegeben.
(c) Wirkung des Arbeitszeitgesetzes und der Sonn- und Feiertagsgesetze Der Verzicht auf eigene Ladenschlußnormen für Sonn- und Feiertage würde den gesetzlichen Sonntagsschutz dem Arbeitszeitgesetz und den Sonn- und Feiertagsgesetzen der Länder überlassen. Deren praktische Wirkung wäre auf Ladeninhaber mit und ohne Verkaufspersonal unterschiedlich. Für Selbstständige, die sich höchstens noch der Hilfe ihrer Familienangehörigen bedienen, käme es nur auf die Sonn- und Feiertagsgesetze an, die einer Geschäftsöffnung nicht entgegenstehen dürften. Dagegen könnten Ladeninhaber mit Personal zwar ihre Verkaufsstelle öffnen, darin aber wegen des Arbeitszeitgesetzes nur dann Ar___________ 411
S. dazu § 3 S. 1 FTG NRW und § 6 Abs. 1 FTG BW. Vgl. zu den drei genannten Problemfällen Hoeren / Mattner, Feiertagsgesetze der Bundesländer, 1989, § 3 Rnr. 34 bis 36, 42 f und 47 bis 49. 413 Kirste, NJW 2001, S. 790 (793). 414 Hoeren / Mattner, Feiertagsgesetze der Bundesländer, 1989, § 4 Rnr. 2 f. 412
3. Kapitel: Verstößt Abschaffung des Sonntagsladenschlusses gegen GG?
179
beitnehmer beschäftigen, wenn die Aufsichtsbehörden eine Ausnahme nach § 13 Abs. 3 Nr. 2 a ArbZG bewilligen. Nach Kirste und Heckmann reichen diese Regelungen aus, um eine gesamtgesellschaftliche Synchronisation im Sinne des Sonntagsschutzes herzustellen, das Ladenschlußgesetz sei dafür nicht erforderlich.415 Demgegenüber ist die Effektivität des Arbeitszeitgesetzes und der Sonn- und Feiertagsgesetze der Länder nicht gleichzusetzen mit der eines Ladenschlußgesetzes. Durch ihre schematische Regelung können Ladenschlußgesetze verkaufsfreie Sonn- und Feiertage wirksam sichern.416 Weiterhin ist zu beachten, daß immer noch zahlreiche Verkaufsstellen im Eigentum kleiner Einzelhandelsunternehmen oder Selbstständiger stehen, bei denen Familienangehörige mithelfen. Dies dürfte ein stattlicher Anteil der etwa 129.000 von insgesamt 280.000 Einzelhändlern sein, die 1998 existierten und mit ein bis zwei Beschäftigten arbeiteten, wobei „Beschäftigter“ den Inhaber und mithelfende Familienangehörige einschließt.417 Sie unterfallen nicht dem Arbeitszeitgesetz. Bei der Mitarbeit von Ehegatten ergibt sich der zivilrechtliche Grund der Mitarbeit aus der Pflicht zur ehelichen Lebensgemeinschaft und bei Kindern aus der Dienstleistung in Haus und Geschäft nach § 1619 BGB, so daß ihre Hilfe familiären Bindungen entspringt und keiner vertraglichen Ausgestaltung eines Arbeitsverhältnisses.418 Es fehlt bei ihnen also ein konstituierendes Merkmal für die Arbeitnehmereigenschaft und damit eine Voraussetzung für die Anwendung des Arbeitszeitgesetzes. Damit würde ein nicht zu vernachlässigender Kreis an Verkaufsstellen öffnen und bei Mithilfe von Ehegatten und Kindern sogar mit mehreren Personen sonntags arbeiten können. Auch in der Literatur gibt es mehrere Stimmen, welche die Effektivität des Ladenschlusses zu Recht betonen. Ohne Bestimmungen zum Ladenschluß ist zwar die Gesamtarbeitszeit garantiert, nicht aber die Wochenendruhe.419
(d) Tarif- oder Betriebsvereinbarungen Neben den gesetzlichen Regelungen können als zentrale Elemente des kollektiven Arbeitsrechts Tarifvereinbarungen sowie innerbetriebliche Mitbestimmung auf Grundlage des Betriebsverfassungsgesetzes zu einem angemessenen Schutz der Sonntage beitragen. Allerdings ist ihre Wirkung nicht flächendek___________ 415
Kirste, NJW 2001, S. 790 (793); Heckmann, JZ 1999, S. 1143. Vgl. in diesem Sinne auch BVerfGE 111, 10 (34) zur Rolle des Arbeitszeitgesetzes beim Ladenschluß an Samstagen; dem zustimmend Rozek, AuR 2005, S. 169 (170). 417 Für die Zahlen vgl. Statistisches Bundesamt, Jahrbuch 2001, S. 259. 418 Richardi, in: ders. / Wlotzke, Handbuch Arbeitsrecht I, 2000, § 24 Rnr. 109. 419 Frotscher, Wirtschaftsverfassungsrecht, 2004, Rnr. 397. 416
180 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
kend und somit nicht mit der Wirkung eines Ladenschlußgesetzes gleichzusetzen. Es gibt keine Ermächtigung für die Tarifpartner, durch Vereinbarung vom grundsätzlichen Verbot der Sonntagsbeschäftigung abzuweichen. Dies ergibt ein Umkehrschluß aus § 7 Abs. 1 und § 12 ArbZG, die den Tarifparteien erlauben, tägliche Ruhezeiten oder Ersatzruhetage für Sonntagsarbeit abweichend zu regeln. Folglich bleibt es bei dem gesetzlichen Grundsatz des Verbots nach § 9 ArbZG und den oben dargestellten Ausnahmen. Dies ist auch einhellige Auffassung in der Literatur.420 Eine solche ausdrückliche Ermächtigung im Arbeitszeitgesetz wäre aber notwendig, da das Arbeitszeitgesetz bis auf ausdrückliche Ausnahmen nur zwingendes Recht enthält: Arbeitsschutzbestimmungen, die der Gesetzgeber selbst normiert und für die er keine abweichende Tarifvereinbarung ausdrücklich vorgesehen hat, unterliegen nicht der Disposition der Tarifparteien. Ein weiterer Grund spricht gegen die Effektivität von Tarifverträgen. Es kann nicht sichergestellt werden, daß Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften eine Tarifbindung eingehen oder das zuständige Bundesministerium solche Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt, vgl. § 5 Abs. 1 TVG. Wie das Bundesverfassungsgericht im Ladenschlußurteil 2004 ausführte, enthalten die wenigen für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge im Einzelhandel keine Arbeitszeitregelungen.421 Somit wären nicht alle Arbeitnehmer erfaßt. Schließlich kann zum Schutz der Sonntage auch keine Betriebsvereinbarung i. S. d. § 77 BetrVG in solchen Unternehmen getroffen werden, die dem Betriebsverfassungsgesetz unterfallen. Denn eine Betriebsvereinbarung ist nur über solche Angelegenheiten möglich, für die sich aus dem Gesetz eine Regelungskompetenz ergibt.422 Dies ist hier nicht der Fall.
(e) Betriebsverfassungsgesetz Soweit keine tarifvertragliche Regelung existiert oder der Tarifvertrag Öffnungsklauseln für betriebliche Regelungen beinhaltet, räumt § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG dem Betriebsrat ein Recht ein, über die Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage mitzubestimmen. Zwei Gründe sprechen beim Sonntagsschutz gegen die Effektivität eines solchen Mittels: Zum einen normiert das Arbeitszeitgesetz ein grundsätzliches ___________ 420 Baeck / Deutsch, Arbeitszeitgesetz, 2004, § 12 Rnr. 1; Neumann / Biebl, Arbeitszeitgesetz, 2004, § 12 Rnr. 2. 421 Vgl. BVerfGE 111, 10 (35). 422 Richardi, in: ders., Betriebsverfassungsgesetz, 2004, § 77 Rnr. 64.
3. Kapitel: Verstößt Abschaffung des Sonntagsladenschlusses gegen GG?
181
Verbot der Sonntagsarbeit. Eine Mitbestimmungsmöglichkeit besteht also nur, soweit die §§ 10 ff ArbZG ausnahmsweise Sonntagsarbeit zulassen.423 Zum anderen erreicht die Mitbestimmung durch einen Betriebsrat keineswegs dieselbe flächendecke Wirkung wie eine gesetzliche Regelung, weil Betriebsräte nicht überall bestehen. Selbst in Unternehmen, in denen Arbeitnehmer ein Recht auf ihre Einrichtung haben, existieren sie teilweise nicht, wie das Beispiel einiger Supermarkt- oder Drogerieketten in den letzten Jahren zeigt.424 Schließlich ist spezifisch für den Einzelhandel zu beachten, daß in zahlreichen Unternehmen die notwenige Schwelle von fünf Arbeitnehmern nicht erreicht wird, die für die Wahl eines Betriebsrates vorgesehen ist, § 1 Abs. 1 S. 1 BetrVG.425 Es dürfte sich dabei um etwa 120.000 bis 140.000 Betriebe handeln, die über 50 % aller Einzelhandelsunternehmen ausmachen.426
(f) Selbstregulierung der Wirtschaft ohne Legislativakt Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht die Hypothese untersucht, nach welcher der Einzelhandel selbst über den Ladenschluß entscheidet: Dies „würde zu mehr Flexibilität, aber voraussichtlich auch zu mehr Sonn- und Feiertagsarbeit führen und damit den regelmäßigen Schutz des Sonn- und Feiertags nicht in gleicher Weise wie das Verbot der Ladenöffnung sichern.“427 In dieser Prognose ist dem höchsten Gericht zuzustimmen. Die Untersuchung des ifo-Instituts München gemeinsam mit der Sozialforschungsstelle Dortmund im Rahmen der umfassenden Evaluierung der Ladenschlußgesetzreform von 1996 ergab, daß sich bei der 1999 durchgeführten Umfrage 57,1 % der Ladeninhaber für eine generelle Schließung an Sonn- und Feiertagen aussprachen. Dagegen lehnten 20,9 % jede gesetzliche Regulierung ab, während 12,4 % eine beschränkte Öffnungszeit befürworteten.428 Über 80 % der kleinen und mittleren Einzelhandelsunternehmen (Jahresumsatz bis 5 Mio. DM) zeigten eine Präferenz für die Beibehaltung der damaligen Öffnungszeiten, während größere Geschäfte (Jahresumsatz über 25 Mio. DM) sich ___________ 423
Richardi, in: ders., Betriebsverfassungsgesetz, 2004, § 87 Rnr. 284 und 321. Vgl. zu Beispielen Der Tagesspiegel Nr. 18965 v. 24. September 2005, S. 10. 425 BVerfGE 111, 10 (34). 426 Im Jahr 1998 arbeiteten ein bis zwei Beschäftigte in 129.000 und drei bis fünf Beschäftigte in 77.000 von insgesamt 280.000 Einzelhandelunternehmen, vgl. Statistisches Bundesamt, Jahrbuch 2001, S. 259. Selbst wenn man den Rückgang auf 266.000 im Jahr 2001 berücksichtigt, dürften die genannten Werte zutreffen, vgl. Jahrbuch 2004, S. 436. 427 BVerfGE 111, 10 (52 f). 428 Keine Angaben machten 9,6 %, vgl. Träger / Halk, Liberalisierung des Ladenschlußgesetzes, 2000, S. 1 und 176. 424
182 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
überdurchschnittlich häufig für eine Erweiterung an Werktagen über 20 Uhr hinaus (45 %) und für eine Öffnung an Sonntagen (38 %) aussprachen.429 Auch wenn diese Umfrage inzwischen schon einige Jahre zurückliegt, zeigt sie dennoch eine Tendenz an, die auch heute noch gültig sein dürfte. Man kann prognostizieren, daß vor allem große Einzelhandelsunternehmen bereit wären, sonntags zu öffnen. Sie haben die berechtigte Vermutung, Kunden durch ihre Größe anzuziehen und über ein attraktives Warenangebot in Breite und Tiefe zu verfügen. Dies gilt auch für die größeren Einkaufszentren, die hohe fixe Kapitalkosten verursachen und daher betriebswirtschaftlich eine hohe zeitliche Ausnutzung erfordern.430 Damit würde voraussichtlich auch ein beachtlicher Anteil der Einzelhändler von der Möglichkeit der Sonntagsöffnung Gebrauch machen. Gerade bei dem intensiven Verdrängungswettbewerb im Einzelhandel wäre nicht zu erwarten, daß sich alle Einzelhändler mit einer Öffnung an sechs Werktagen begnügen. Zudem dürften Einzelhändler eines bestimmten Ortes unterschiedliche Vorstellungen über die für sie günstigste Öffnungszeit haben. Solche Differenzen führen schon heute dazu, daß in Einkaufszentren mit zahlreichen Läden es in der Regel Vermieter oder Betreiber übernehmen, einheitliche Öffnungszeiten zu bestimmen.431 Dies belegt, daß die völlige Freigabe Koordinationsbedarf erfordert. Der Sonntagsschutz wäre somit durch eine Selbstregelung des Einzelhandels nicht so intensiv wie durch Ladenschlußregelungen.432 Rozek teilt zu Recht diese Auffassung des Bundesverfassungsgerichts.433
(g) Zwischenergebnis Arbeitszeitgesetz, Sonn- und Feiertagsgesetze der Länder oder eine Selbstregulierung der beteiligten Unternehmen würde die individuelle Arbeitsruhe nicht gleichwertig wie der gesetzliche Ladenschluß an Sonn- und Feiertagen schützen. Eine Öffnung der Geschäfte an Sonntagen würde dieser Komponente des Schutzzwecks des Art. 139 WRV zuwiderlaufen.
___________ 429
Träger / Halk, Liberalisierung des Ladenschlußgesetzes, 2000, S. 177. Träger / Halk, Liberalisierung des Ladenschlußgesetzes, 2000, S. 180. 431 Darauf weisen hin Thum / Weichenrieder, in: Träger / Halk, Liberalisierung des Ladenschlußgesetzes, 2000, S. 325 (352, 354 in Fn.1). 432 BVerfGE 111, 10 (53). 433 Rozek, AuR 2005, S. 169 (170). 430
3. Kapitel: Verstößt Abschaffung des Sonntagsladenschlusses gegen GG?
183
(2) Kollektive Arbeitsruhe Die kollektive Arbeitsruhe stellt zum einen auf äußere Ruhe ab, zum anderen darauf, daß die deutliche Mehrzahl der Beschäftigten am Sonntag nicht arbeitet.
(a) Mehr Sonntagsarbeit durch Möglichkeit der Öffnung Mit einer Aufhebung des Sonntagsladenschlusses könnten theoretisch alle Ladeninhaber sonntags öffnen. In der Praxis würden sie jedoch abwägen, ob der mit der Öffnung verbundene finanzielle und personelle Aufwand in einem angemessen Verhältnis zum Nutzen und insbesondere zum Gewinn steht. Schon die ersten Erfahrungen mit den neuen Ladenöffnungsgesetzen der Länder zeigen, daß die rechtlich möglichen Öffnungszeiten an Werktagen nicht voll ausgeschöpft werden. Selbst in den Millionenstädten Berlin und Hamburg gibt es werktags derzeit keine durchgehende und flächendeckende Öffnung etwa bis 22 Uhr. Im Einzelhandel gab es 2004 insgesamt etwa 2,46 Mio. Beschäftigte, darunter ca. 1,3 Mio. Teilzeitkräfte. Bei insgesamt 35,66 Mio. Erwerbstätigen entspricht dies einem Anteil von etwa 6,9 %.434 Eine Freigabe der Ladenöffnung an Sonn- und Feiertagen hätte zur Folge, daß ein Teil dieser Personengruppe möglicherweise sonntags arbeiten würde. Dies wäre zwar ein nicht unerheblicher Anstieg. Allerdings ist das Verhältnis zu den insgesamt sonntags arbeitenden Personen zu beachten. Im Frühjahr 2003 arbeiteten laut den Erhebungen des Mikrozensus insgesamt etwa 9,1 Mio. Personen ständig, regelmäßig oder gelegentlich sonntags.435 Eine genauere Aufschlüsselung in absolute und prozentuale Zahlen ergibt folgendes Bild:
___________ 434 Vgl. die Daten aus Statistisches Bundesamt, Jahrbuch 2004, S. 71 und 431. Die Gesamtzahl der Beschäftigten umfaßt alle in einem Arbeitsverhältnis stehenden Personen im privaten und öffentlichen Bereich sowie Selbständige, vgl. S. 71; s. weiterhin Breiholz, Wirtschaft und Statistik 2005, S. 327 (329) sowie Decker, Wirtschaft und Statistik 2005, S. 211 (216). Diese Anzahl der Erwerbstätigen beruht auf den Ergebnissen des Mikrozensus von 2003, also einer Primärerhebung. Im Unterschied dazu werden zur volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung des Statistisches Bundesamtes 48 Ausgangsquellen berücksichtigt, was dort regelmäßig zu höheren Erwerbszahlen führt (etwa 38,19 Mio. im Januar 2006). Die Wissenschaft kritisiert daher am Mikronzensus, daß er nicht in ausreichendem Maße die geringfügig Beschäftigten erfaßt. 435 Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2003, Leben und Arbeiten in Deutschland, Tabelle 32, i. V. m. Breiholz, Wirtschaft und Statistik 2005, S. 327 (329). Darin sind Selbständige enthalten.
184 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß Tabelle 6 Sonntagsarbeit in Deutschland unter allen Erwerbstätigen436 Sonntagsarbeit relativ in % aller Erwerbstätigen Jahr
insgesamt
ständig
regelmäßig
gelegentlich
1991
20,1
4,3
6,4
9,3
1997
22,6
4,2
7,1
11,3
2003
25,2
4,0
8,5
12,8
absolut in Mio. Personen 2003
9,13
1,44
3,08
4,62
Die Größenordnung der Gesamtzahl hat eine repräsentative Telephonbefragung unter 2000 Arbeitnehmern Ende des Jahres 2003 bestätigt, da 23 % angaben, zumindest gelegentlich sonntags zu arbeiten.437 Rechnet man zu den in der Tabelle aufgeführten 25,2 % im Jahr 2003 die gesamten im Einzelhandel Beschäftigten von 6,9 % hinzu, gelangt man zu theoretisch 32,1 % der Erwerbstätigen. Da es sich bei dieser Zahl um eine Maximalzahl handelt, die ständige, regelmäßige oder gelegentliche Arbeit an Sonntagen einschließt, wäre die Anzahl derjenigen, die gleichzeitig an einem Sonntag arbeiten, deutlich geringer. Darüber hinaus ist genaueres Zahlenmaterial nicht ersichtlich, das feststellt, wie viele Personen an einem Sonntag gleichzeitig tätig sind. Im Jahre 1995 arbeiteten nur rund 32.000 Verkäufer sonn- und feiertags.438 Diese Zahl dürfte sich deutlich erhöhen, wenn an Sonntagen Läden geöffnet werden dürfen. Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt ein Teil der Literatur, der durch geöffnete Geschäfte die Zahl von Menschen, die auch sonntags arbeitet, beträchtlich an-
___________ 436 Vgl. zu den Zahlen für 1991 und 1997 DIW, Wochenbericht 25, 1999, S. 463 (468); vgl. für 2003 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, Fachserie 1/ Reihe 4.1.2., Ergebnisse des Mikronzensus, Wiesbaden 2003, S. 104. Es handelt sich jeweils um Durchschnittswerte für die Monate Februar bis April. 437 Klenner, WSI-Mitteilungen 2005, S. 207 (211). 438 DIW, Wochenbericht 25, 1999, S. 463 (469).
3. Kapitel: Verstößt Abschaffung des Sonntagsladenschlusses gegen GG?
185
steigen sieht. Diese Zunahme der sonntags Arbeitenden gefährdet ab einem bestimmten Umschlagspunkt die allgemeine Arbeitsruhe an diesen Tagen.439
(b) Verletzung des Kernbereichs Damit ist die Frage nach einer Verletzung des Kernbereichs aufgeworfen. Es kommt allein ein Verstoß gegen die beiden folgende Elemente des Kernbestandes in Betracht: x das grundsätzliche Verhältnis von „Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen“ zur „Arbeit an Werktagen“ und x die Freiheit der Sonn- und Feiertage vom werktäglichen Charakter.440 Das Gebot der Arbeitsruhe an Sonntagen wäre sicherlich dann verletzt, wenn eine Mehrheit aller Erwerbstätigen an diesen Tagen arbeitet. Ab welchem Prozentsatz genau dieses Verhältnis von Grundsatz und Ausnahme umschlägt, läßt sich aus Sicht der Rechtswissenschaft nur schwer bestimmen. Legt man zugrunde, daß eine Ausnahme wohl schon sprachlich dann nicht mehr als solche bezeichnet werden kann, wenn sie von 40 % der Betroffenen praktiziert wird, könnte man spätestens ab einem Verhältnis 2/3 - 1/3 den Umschlagpunkt verorten. Letztlich wird aber neben der quantitativen auch die qualitative Betrachtung von Bedeutung sein. Wie zuvor dargelegt, ist die Zahl derjenigen, die gleichzeitig an einem Sonntag arbeiten, deutlich von einem Drittel entfernt. Hinzu kommt, daß mögliche Sonntagsarbeit in einem Wirtschaftszweig nicht mit hinreichender Sicherheit die Arbeitsverhältnisse an Sonntagen so verändert, daß man den Umschlagspunkt als erreicht ansehen könnte. Daher dürfte die Ausdehnung der Ladenöffnung auf Sonntage das Verhältnis zwischen der Arbeitsruhe als Regel und der Arbeit als Ausnahme an diesen Tagen nicht umkehren. Eine Verletzung dieses Kernelements liegt nicht vor, auch wenn die Ausweitung der Sonntagsarbeit nicht völlig unbeachtlich ist. Des weiteren stellt sich die Frage, ob Sonntage werktäglichen Charakter annehmen würden. Dies würde verlangen, daß Sonntage quasi nicht mehr von Werktagen zu unterscheiden wären.441 Auch wenn mit der Ladenöffnung an diesen bisher geschützten Tagen zusätzlicher Kunden- und Straßenverkehr und damit mehr Lärm entstehen würde, dürfte doch kaum eine werktägliche Betriebsamkeit in einem solch qualifizierten Maße eintreten, daß man von einer völligen Nivellierung des Sonntags sprechen könnte. Denn vor allem erstreckt ___________ 439
Burger, SächsVBl. 1999, S. 295 (297). Siehe oben zu den Elementen des Kernbestands 2. Teil, 1. Kapitel IV. 2. 441 Campenhausen, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 139 WRV Rnr. 39, hält eine Nivellierung von Sonntagen und Werktagen für einen Verstoß gegen Art. 139 WRV. 440
186 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
sich der Einzelhandel räumlich nicht über die gesamte Fläche von Städten und Gemeinden. Außerdem gibt es noch andere Verbote, die wie das Sonntagsfahrverbot für LKW zur Ruhe und speziellen Atmosphäre des Sonntags beitragen. Dies schließt nicht aus, daß die Ladenöffnung eine Zunahme des Werktäglichen bedeuten würde, die im Rahmen der Zumutbarkeitserwägungen bedeutsam ist. Es reicht aber nicht aus, einen Verstoß gegen den Kernbestand des Sonntagsschutzes, wie er durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV garantiert wird, anzunehmen. Allerdings bleibt eine Verletzung des Schutzgehalts des Art. 139 WRV im Randbereich möglich, wenn die Abschaffung des Sonntagsladenschlusses unverhältnismäßig ist.
(c) Soziales Zusammenleben und kollektive Arbeitsruhe Erst die kollektive Arbeitsruhe ermöglicht Personen, die nicht an Sonntagen arbeiten, soziale Interaktion. Diesen Aspekt betonen Autoren und Gerichte zu Recht.442 Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts rechtfertigt es die Zweckbestimmung des Sonntags „Tätigkeiten zu verbieten, die mit dem Charakter des Sonntags als Nicht-Werktag unvereinbar sind, und dadurch zu ermöglichen, daß der Sonntag im sozialen Zusammenleben seiner Zweckbestimmung entsprechend begangen werden kann.“443 Zutreffend kann der Sonntag als ein „Grundelement sozialen Zusammenlebens“ bezeichnet werden.444 In diesem Sinne unterstreicht von Campenhausen, daß die Festlegung gerade der Sonntage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung das soziale Zusammenleben betont.445 Wenn man den einzelnen in seiner Einbettung in soziale Strukturen - Ehe, Lebensgemeinschaft, Familie, Freundes- und Bekanntenkreis, Vereine, Verbände - im Blick hat, gewinnt der Aspekt an Bedeutung, daß die gesamte Gesellschaft kollektiv an einem Tag nicht arbeitet. Wenn soziale Beziehungen ermöglicht werden, erfolgt dies nicht nur im Allgemeininteresse: Es liegt auch im wohlverstandenen Eigeninteresse des Menschen, in soziale Interaktion zu treten. Der Schutz der Sonntage bildet demnach die Bedingung der Möglichkeit für das Individuum, in Gemeinsamkeit mit seinen Mitmenschen zu leben. Dem kann von wirtschaftswissenschaftlicher Seite nicht entgegengehalten werden, die Menschen in Deutschland hätten zu viel gemeinsame Freizeit, was ___________ 442 Vgl. etwa Häberle, Verfassungslehre, 1998, S. 993; Richardi, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 117 (133). 443 BVerwGE 79, 118 (124). 444 BVerwGE 79, 118 (122). 445 Campenhausen, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 139 WRV Rnr. 10.
3. Kapitel: Verstößt Abschaffung des Sonntagsladenschlusses gegen GG?
187
schon an den wochenendlichen Staus auf Autobahnen abzulesen sei. Daher sei es für den Staat sinnvoller, „asynchrone freie Zeiten zu erzwingen.“446 Damit ist mittelbar die Alternative eines Ersatzruhetages angesprochen. Eine solche 24stündige Arbeitsruhe unter der Woche hätte jedoch negative Auswirkungen auf das soziale Zusammenleben für sonntags Arbeitende. Dies unterstreichen mehrere Untersuchungen. Die erste hat Konsequenzen lageverschobener Arbeitszeiten untersucht und festgestellt, daß eine Hauptfolge sozialer Ausschluß ist. Sie kommt zum Ergebnis, daß Arbeitszeit, die an Wochenenden geleistet wird, nicht gleichwertig durch Freizeit während der Woche ersetzt werden kann.447 Die zweite Forschungsarbeit belegt, daß Sonntagsarbeiter seltener als andere Beschäftigte ihre freie Zeit mit Familien, Freunden oder Bekannten verbringen. Auch kurze Reisen, Ausflüge, Besuche von Kino, Konzert- und Theaterveranstaltungen können nicht im selben Umfang durchgeführt werden.448 Dies ist schließlich auch das Ergebnis einer arbeitsmedizinischen Studie, die für Nacht- und Schichtarbeiter durchgeführt wurde.449 Zwar unterscheidet sich Nacht- und Schichtarbeit grundsätzlich von der Sonn- und Feiertagsarbeit, da sie spezifische Schlafstörungen und damit konkrete physiologische Folgen verursacht. Aber zumindest ist das Ergebnis übertragbar, daß das soziale Leben der Nachtarbeiter in Mitleidenschaft gezogen wird.450 Die Teilnahme an sportlichen und ehrenamtlichen Aktivitäten oder an Festen im Familien- und Freundeskreis ist nicht möglich. Für das Familienleben ist nicht zu vernachlässigen, daß bei permanenter Sonntagsarbeit zumindest eine konstante Bezugsperson für die Kinder, die an Sonntagen stets schulfrei haben, fehlt.451 Die sehr wahrscheinliche Zunahme von Sonntagsarbeit der Arbeitnehmer im Einzelhandel würde ihre Möglichkeiten zu sozialem Zusammensein erschweren. Daher spricht auch dieses Element der von Art. 139 WRV geschützten kollektiven Arbeitsruhe gegen eine Ladenöffnung an Sonn- und Feiertagen.
___________ 446
Thum / Weichenrieder, in: Träger / Halk, Effekte der Liberalisierung des Ladenschlußgesetzes, 2000, S. 325 (350). 447 Breu, Arbeitszeitflexibilisierung und gesellschaftlicher Wandel, 1999, S. 25 f. 448 DIW, Wochenbericht 25, 1999, S. 463 (471). 449 Rutenfranz, in: Dahm / Mattner, Sonntags nie?, 1989, S. 71 (80). 450 Vgl. zu Einzelheiten Hauptverband der beruflichen Berufsgenossenschaften, Lage und Dauer der Arbeitszeit, 2002, S. 29 ff und S. 55 ff; Mattner, Sonn- und Feiertagsrecht, 1991, § 3 Rnr. 24, sagt zwar mit Recht, daß „Arbeitsphysiologie nicht zum Handwerkszeug der Juristen gehört“, allerdings scheint dem Verf. ein Blick in diese Wissenschaftsdisziplin erkenntnisfördernd. 451 Vgl. für Schichtarbeiter, deren Erfahrung insoweit übertragbar ist, Rutenfranz, in: Dahm / Mattner, Sonntags nie?, 1989, S. 71 (78).
188 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
(d) Zwischenergebnis Die Ladenöffnung widerspricht dem Zweck der individuellen und kollektiven Arbeitsruhe. Bei einer Aufhebung des Ladenschlusses an Sonntagen kann eine Zunahme der Sonntagsarbeit prognostiziert werden. Die erklärten Absichten einer beachtlichen Zahl größerer Einzelhandelsunternehmen einerseits sowie die Zunahme der Sonntagsarbeit andererseits stützen diese Annahme. Das Regel-Ausnahme-Verhältnis „Arbeit an Werktagen“ - „Arbeitsruhe an Sonntagen“ würde zwar nicht abgeschafft, aber geschwächt. Weiterhin würde das Ziel der sozialen Interaktion, welche die kollektive Arbeitsruhe ermöglichen soll, in geringerem Umfang erreicht.
bb) Auswirkungen auf Möglichkeiten seelischer Erhebung Die Bedingungen, die für die seelische Erhebung notwendig sind, könnten durch die Ladenöffnung an Sonntagen beeinträchtigt werden. Dabei wird das oben erzielte Ergebnis berücksichtigt, daß kein fester Katalog an Voraussetzungen existiert, der allein seelische Erhebung ermöglicht. Es sind vielmehr mehrere, religiöse und nicht-religiöse Formen der Erhebung denkbar.452 Unzweifelhaft gehört aber ein Mindestmaß an öffentlicher Ruhe dazu, wie schon das Merkmal Arbeitsruhe im Art. 139 WRV andeutet. Dies bringen auch konkrete Regelungen in den Sonn- und Feiertagsgesetzen der Länder zum Ausdruck, die öffentlich bemerkbare Tätigkeiten verbieten, welche die äußere Ruhe stören.453 Vorschriften gegen Lärm, welche die Ruhezeit von 13 bis 15 Uhr sonntags besonders schützen oder den Betrieb bestimmter Geräte in Wohngebieten ganztägig verbieten, sind in zwei Ausführungsverordnungen zum Bundesimmissionsschutzgesetz festgelegt, von denen eine die Rasenmäherlärmverordnung abgelöst hat.454 Am Rande sei bemerkt, daß die sogenannte EG-Umgebungslärmrichtlinie von 2002 keinen Hinweis auf einen besonderen Schutz der Sonn- und Feiertage enthält und somit keinen besonderen Regelungsbedarf in den EU-Mitgliedstaaten zum Schutz vor Lärm an diesen Tagen auslöste.455 ___________ 452
Vgl. oben 2. Teil, 2. Kapitel II. 1. b) bb) (3) (c) (cc). Vgl. etwa § 3 Abs. 2 FTG MV; § 4 Abs. 2 SFG Saar. 454 Vgl. § 2 Abs. 5 SportanlagenlärmschutzVO = 18. BImSchGVO, BGBl. 1991 I, S. 1588 und S. 1790; § 7 Abs. 1 S. 1 Geräte- und Maschinenlärmschutzverordnung - 32. BImSchGVO, BGBl. 2002 I, S. 3478. Letztere ist an die Stelle der RasenmäherlärmVO getreten, vgl. Feldhaus / Hansel, Bundes-Immissionsschutzgesetz, 2004, S. 158. 455 Richtlinie 2002/49 über die Bewertung und Bekämpfung von Umgebungslärm, ABl. L 189 v. 18. Juli 2002, S. 12. 453
3. Kapitel: Verstößt Abschaffung des Sonntagsladenschlusses gegen GG?
189
(1) Mehr Lärm und Verkehr als Folge der Sonntagsöffnung Notwendig erscheint eine Prognose über die tatsächlichen Konsequenzen der Sonntagsöffnung. Es ist anzunehmen, daß Einzelhändler in Großstädten ihre Geschäfte länger öffnen würden als Einzelhändler in ländlichen Gebieten oder kleinen Städten. Letztere machen, wie schon heute zu beobachten ist, in geringerem Umfang von den seit 1996 erweiterten Öffnungsmöglichkeiten Gebrauch.456 Mit der Aufhebung oder Lockerung des Sonntagsladenschlusses würde mehr Kunden- und Autoverkehr an diesen Tagen entstehen.457 Den Zusammenhang zwischen Einkauf und Verkehrsaufkommen haben Baier / Schäfer näher untersucht, wobei der Schwerpunkt ihrer Analyse bei den Verkehrskonzepten für Innenstädte lag. Die Ergebnisse ihrer Studie offenbaren deutliche Unterschiede zwischen Kunden aus Städten oder deren Umland bei der Wahl der Verkehrmittel: Je nach Stadt liegt der Anteil der PKW-Nutzer aus dem Umland zwischen etwa 30 % (München) und 80 % (Saarbrücken, Braunschweig), während die Stadtbewohner sehr viel häufiger den Öffentlichen Personennahverkehr in Anspruch nehmen: Die Werte reichen von etwa 80 % (München) bis zu 20 % (Münster), während dort nur zwischen 45 % (Saarbrükken) und 10 % (München) ihr Auto nutzen.458 Da sich die meisten Ladengeschäfte in Innenstädten oder am Rand der Städte in Gewerbegebieten befinden, ist dort mit einem erhöhten Verkehrsaufsaufkommen zu rechnen. Die Stellung von Ruhe vor Lärm als besonders schützenswertes Gut hat Kloepfer betont, als er - ohne Bezug zur Sonntagsöffnung - die rechtlichen Folgen des Verkehrslärms untersucht hat. Er stellt auch einen Bezug zur Menschenwürde her, welche die Möglichkeit erfordere, sich in Stille zurückziehen zu können.459 Als Argument für die sonntägliche Ladenöffnung könnte man anführen, der Verkehr, der sich sonst an sechs Tagen abspielt, werde dann auf sieben verteilt. Dagegen spricht aber, daß Sonntage im Gegensatz zu Werktagen verfassungsrechtlich besonders geschützt sind. Zudem erscheint die Zunahme des Verkehrs als Folge einer Sonntagsöffnung möglich. Schließlich muß die größere Außenwirkung geöffneter Geschäfte wegen besonderer örtlicher Gegebenheiten beachten werden. Arbeit in Verkaufsstellen ist aufgrund der Schaufenster und geöffneter Türen wahrnehmbarer als andere ___________ 456
Träger / Halk, Liberalisierung des Ladenschlußgesetzes, 2000, S. 111. Bei einer generellen Erweiterung der Ladenöffnungszeiten hat das Ifo-Institut in einem Gutachten per Saldo eine Erhöhung vorausgesagt, vgl. Träger / Vogler-Ludwig, Ladenschlußgesetz, 1995, S. 386. 458 Baier / Schäfer, Innenstadtverkehr und Einzelhandel, 1998, S. 42. 459 Dietrich / Kahle, DVBl. 2005, S. 960 (961) mit Zusammenfassung des Vortrags von Kloepfer, Lärmschutz als Abwägungsaufgabe. 457
190 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
Dienstleistungen, da die Läden notwendig ihre Öffnung zur Schau stellen müssen, um Kunden anzuziehen. Diese Tätigkeit wird gerade in Innenstädten deutlich sichtbarer als reine Bürotätigkeit. Da Art. 139 WRV vor allem das äußerliche Erscheinungsbild erfaßt, entstehen bei der Ladenöffnung leichter rechtliche Spannungen mit den beiden Schutzzwecken des Art. 139 WRV als bei beruflicher Tätigkeit hinter verschlossenen Türen. Diese Folgen der Öffnung würden dem Gebot des Art. 139 WRV widersprechen, der gerade erfordert, daß der Sonntag öffentlich bemerkbar sein muß.460 Die öffentliche Wahrnehmung ist entscheidend, um zu beurteilen, ob das öffentliche Leben ruht.461 Offene Geschäfte und mehr Autoverkehr würden diese sonntägliche Atmosphäre gefährden.
(2) Einengung des Raums und der Zeit für seelische Erhebung Eine generell zulässige Sonntagsöffnung hat Auswirkungen in räumlicher und zeitlicher Sicht. Der Raum, der von Auswirkungen geöffneter Verkaufsstellen erfaßt wird, beschränkt sich nicht auf ihren Standort. Der Zubringerverkehr per Auto oder durch öffentlichen Nahverkehr verursacht Lärm und sonstige Immissionen auf den Straßen und Parkplätzen. Damit sind Nicht-Beteiligte, die wie etwa Anwohner weder Verbraucher noch Ladeninhaber sind, in spürbarem Maße von den Auswirkungen der Geschäftsöffnung tangiert. Die Intensität der Beeinträchtigung wird dabei regelmäßig in Innenstädten, in denen Wohn- und Verkaufsflächen eng nebenoder übereinander liegen, größer sein als bei Einkaufsmöglichkeiten am Rande oder außerhalb der Städte „auf der grünen Wiese“, da es sich dort in der Regel um Gewerbegebiete handelt, in denen nach § 8 Abs. 3 BauNVO Wohnungen nur für einen sehr begrenzten Personenkreis zugelassen sind. In Innenstädten würde zu den Zeiten der Ladenöffnung für Nicht-Beteiligte die Möglichkeit der seelischen Erhebung beeinträchtigt. Den Anwohnern, die nicht einkaufen wollen, ist ein Ausweichen vor der Ladenöffnung zur seelischen Erhebung nicht zuzumuten. (3) Seelische Erhebung als besondere Form der Freizeitgestaltung Zu beachten ist, daß die äußere Ruhe keinen religiösen oder weltanschaulichen Sinngehalt des Sonntagsschutzes erfordert, sondern auch der Realisierung
___________ 460 461
Kirste, NJW 2001, S. 790 (791); Häberle, Sonntag, 1988, S. 54. Isensee, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 91 (92).
3. Kapitel: Verstößt Abschaffung des Sonntagsladenschlusses gegen GG?
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profaner Ziele wie persönliche Ruhe, Besinnung, Erholung und Zerstreuung dient.462 Auch wenn jeder nach seiner persönlichen Vorstellung Sonntage verbringen kann, gibt es doch staatlich zu schützende Grundbedingungen, um denjenigen, die seelische Erhebung erstreben, gerecht zu werden. Denn nicht jede Betätigung in der freien Zeit ist gleichzusetzen mit seelischer Erhebung.463 Der Staat darf sich aufgrund der verfassungsrechtlichen Verankerung in Art. 139 WRV schützend vor besondere Formen der Freizeitgestaltung in Gestalt der seelischen Erhebung, etwa der religiösen, stellen.464 Die werktägliche Geschäftigkeit erscheint dafür abträglich. Art. 139 WRV hat den Zweck, den Sonntagen einen besonderen Charakter zu verleihen, soweit dies mit Mitteln des Rechts möglich ist. Es sollen Freiräume im normalen Wirtschafts- und Arbeitsleben institutionalisiert werden.465 Der Mensch soll die Gelegenheit erhalten, zu sich selbst zu kommen und gerade nicht allein zum Objekt wirtschaftlicher Zwänge werden.466 Denn der Staat ist keinesfalls aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV verpflichtet, jedes Freizeitvergnügen als seelische Erhebung einzuordnen. Dies drücken Staat und Einrichtungen in öffentlicher Trägerschaft dadurch aus, daß sie selbst besondere Formen der Freizeitgestaltung ermöglichen. Der Staat und die Kommunen sind direkt oder indirekt inzwischen selbst in der Rolle des Freizeitgestalters aktiv, wenn sie Straßen für Kraftfahrzeuge sperren und für Fahrräder frei geben, Tage des Denkmals, Museumsnächte oder Musikfestivals ermöglichen und gestalten. Damit äußern staatliche und öffentliche Stellen eigene Vorstellungen von bestimmter weltlicher Freizeitgestaltung. Sie leisten dadurch mittelbar einen Beitrag, den Begriff der seelischen Erhebung zu konturieren. Das verdeutlicht, daß sich das vorliegende Thema in die Debatte um Kulturrelativismus einbetten läßt und Bezüge zu Rechtsgebieten aufweist, in denen der Staat wie etwa im Bildungswesen oder mit Abstrichen im Rundfunkbereich ganz oder teilweise positiv definiert, welche Werte er für vermittelnswert hält.467 ___________ 462
Vgl. BVerfGE 111, 10 (51); ihm folgend Rozek, AuR 2005, S. 169. Steiger, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 111. 464 In diesem Sinne auch Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 24, der Sonntagsarbeit gerade dann für zulässig hält, wenn sie der seelischen Erhebung und der Arbeitsruhe besonders dient. 465 Kästner, in: HdbStKirchR II, 1995, S. 337 (342). 466 OVG Greifswald DVBl. 2000, S. 1072 (1074). 467 Vgl. allgemein zur Debatte um Kultur im Verfassungsstaat Volkmann, DVBl. 2005, S. 1061 (1071), der in der Tendenz einem durchaus leitenden Staat in diesen Fragen nicht abgeneigt scheint. 463
192 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
Klarzustellen ist, daß der Staat im Rahmen des Art. 139 WRV keine Inhalte richtiger Sonntagsgestaltung vorzugeben, sondern nur Bedingungen der Möglichkeit seelischer Erhebung zu schützen hat. Da die Ladenöffnung bisherige Freiräume vom normalen Wirtschaftsbetrieb reduzieren würde, hat sie einen negativen Einfluß auf Möglichkeiten qualifizierter Freizeitgestaltung, die der seelischen Erhebung dient.
(4) Aktuelle Tendenz eines abnehmenden Sonntagsschutzes Der Gesetzgeber ist stets gehalten, das Umfeld und die konkrete Situation zu beurteilen und zu fragen, ob Sonn- und Feiertage gefährdet sind. Je größer Gefährdungen sind, desto mehr muß er schützend tätig werden. Nur so läßt sich ein effektiver Sonntagsschutz realisieren. Dabei ist eine Gesamtschau der Lebensbereiche notwendig, eine Beschränkung auf einzelne Felder würde zu kurz greifen. Das aktuelle Umfeld zeichnet sich durch eine immer größere Infragestellung des Sonntags als Tag der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung aus. Die Sonntagsarbeit nimmt wie dargelegt zu.468 Die Gründe dafür sind weniger technischer Natur - diese wirken schon länger - als kommerzieller Art, da immer mehr Dienstleistungen sonntags angeboten werden.469 Zudem sinkt die tatsächlich frei verfügbare Zeit zumindest der erwerbstätigen Personen, wie der Freizeitforscher Opaschowski nachgewiesen hat. Dieser Teil der Bevölkerung empfindet eine Beschleunigung des Lebens und einen Mangel an frei gestaltbarer Zeit, so daß der Wunsch nach „Zeitwohlstand“ wachse.470 Dies dürfte einer der Gründe sein, weshalb bisherige Zeitreserven wie die Sonntage zunehmend entdeckt werden. Daher werden immer mehr Dienstleistungen im Freizeitbereich auch an Sonntagen angeboten. Wirtschaftliche Aktivität zur Stillung der Freizeitbedürfnisse und Sonntagsschutz geraten immer mehr in Konflikt.471 In den letzten 15 Jahren läßt sich eine Tendenz erkennen, daß sonntägliche Dienstleistungen in steigendem Maße in Anspruch genommen werden.472 Die ___________ 468
Vgl. oben Tabelle 6, 3. Teil, 3. Kapitel 4. a) aa) (2) (a). Campenhausen, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 139 WRV Rnr. 39 470 Es darf nicht verkannt werden, daß ein beachtlicher anderer Teil der Bevölkerung wie etwa Rentner, Pensionäre und Arbeitslose wohl nicht im selben Maße dem Phänomen der Beschleunigung ausgesetzt sind. 471 Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 24. 472 Korioth, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 66, der allgemein bemerkt, daß sich die Rahmenbedingungen des Sonntagsschutzes in den letzten 15 Jahren grundlegend geändert haben. 469
3. Kapitel: Verstößt Abschaffung des Sonntagsladenschlusses gegen GG?
193
Kirchen sprechen selbst zuweilen von Entwicklungen, die den Sonntag gefährden.473 In rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht belegen folgende Entwicklungen die Feststellung, daß die ursprüngliche und von Art. 139 WRV zugrundegelegte Funktion der Sonntage zunehmend in Frage gestellt wird: 1. Erweiterung der Verkaufsflächen in Bahnhöfen und Tankstellen, die sonntags ausnahmsweise Waren verkaufen dürfen, und offensive Werbung für diese Einkaufsmöglichkeiten, 2. die extensive Auslegung anderer Ausnahmetatbestände des Bundesladenschlußgesetzes (Fremdenverkehrsregelungen, weitgehende Zulassung der ausnahmsweisen Öffnung etwa nach dem Elbhochwasser 2002),474 3. die Diskussion um Zulassung der Öffnung von Bräunungsstudios, Waschsalons, Videotheken und der Veranstaltung von Gebrauchtwagenmärkten,475 4. die Änderung einiger Sonn- und Feiertagsgesetze zur Ermöglichung der Öffnung von Videotheken, 5. die Erweiterung der Möglichkeit zur Sonntagsarbeit durch das Arbeitszeitgesetz, das die insgesamt restriktiveren §§ 105 a bis j GewO ersetzte,476 6. die Zulassung des Börsenhandels an einigen Feiertagen wie etwa dem 3. Oktober oder Pfingstmontag. Diese Tendenz einer „immer weitergehenden Aushöhlung der Sonntagsruhe“ findet ihre Grenze im verfassungsrechtlichen Schutz des Sonntags. Zutreffend führt Rüfner aus, daß wegen der zahlreichen Ausnahmen ein verfassungswidriger Zustand droht, selbst wenn gute Gründe für jede einzelne durch Gesetz, Verordnung oder Verwaltungsakt bewilligte Ausnahme streiten.477 Diese Anmerkung offenbart einen wichtigen topos: Eine Verfassungswidrigkeit kann durch allmähliche Entwicklung eintreten, so daß nicht eine isolierte hoheitliche Maßnahme sie herbeiführt, sondern eine Summe von Ausnahmen vom grundsätzlichen Verbot der Sonntagsarbeit.478
___________ 473 Vgl. die Gemeinsame Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der EKD v. 25. Januar 1988, abgedruckt in Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 188. 474 Vgl. detailliert zu den Punkten 1 und 2 unten 3. Teil, 4. Kapitel II. und III. 475 Zur Rspr. zugunsten der Bräunungsstudios vgl. BVerwGE 90, 337 (348), zu Lasten der Gebrauchtwagenmärkte BVerwGE 79, 118 (126 f), zu Lasten der Videotheken BVerfGE 79, 236 (241 f). 476 Vgl. detailliert zu den Punkten 4 und 5 oben 2. Teil, 2. Kapitel II. 1. b) bb) (3) (c). 477 Rüfner, in: FS Heckel, 1999, S. 447 (450). 478 In diesem Sinne auch Pirson, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 96.
194 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
Der Gesetzgeber hat diese Entwicklung bei einer Entscheidung über die völlige Aufhebung des Sonntagsladenschlusses zu berücksichtigen, da ihn Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV anhält, einen effektiven Schutz dieser Tage zu gewährleisten. Die beschriebene Tendenz der letzten Jahre spricht dagegen, daß die Freigabe der Ladenöffnung einen positiven Beitrag zum derzeit insgesamt existierenden Sonntagsschutz liefert und mit Art. 139 WRV vereinbar ist.
cc) Ladenöffnung als typisch werktägliches Phänomen? Ein weiterer Abwägungsgesichtspunkt stellt darauf ab, ob die sonntägliche Arbeit im Kern einen typisch werktäglichen Charakter hat: Ist dies der Fall, besteht kein anerkennenswerter Grund für eine Ausnahme vom allgemeinen Gebot der Arbeitsruhe am Sonntag, und es überwiegt das Sonntagsinteresse.479 Denn die besondere Zweckbestimmung dieser Tage ist nur dann realisierbar, wenn die werktäglichen Bindungen und Zwänge entfallen.480 Wie das Bundesverwaltungsgericht zutreffend und bildhaft ausführt, soll der Sonntagsschutz „das öffentliche Leben seiner werktäglichen Elemente entkleiden und dadurch die Begehung des Sonntags als Nicht-Werktag ermöglichen.“481 Die werktägliche Geschäftigkeit muß ruhen, es sei denn, sie dient gerade der Befriedigung sonntäglicher Bedürfnisse.482 Schon oben wurde gezeigt, daß die Ladenöffnung und die Arbeit in Verkaufsstellen gerade keinen sonntagsspezifischen Belangen dient, sondern als „Arbeit trotz des Sonntags“ zu qualifizieren ist.483 Entscheidend ist ein objektiver Maßstab, der auf das äußere Erscheinungsbild des Verkaufs in Läden abstellt.484 Eine Betätigung kann man in der Regel als werktäglich qualifizieren, wenn sie üblicherweise an Werktagen stattfindet.485 Für eine typische werktägliche Beschäftigung spricht der Umstand, daß Sonn- und Feiertage seit 1919 durch geschlossene Läden geprägt sind.486 Zudem stellt das Einkaufen eine permanent abrufbare und erreichbare Dienstleistung während der Ladenöffnungszeiten an Werktagen dar. Zuzugeben ist zwar, daß hier die Gefahr des Zirkelschlusses besteht: ___________ 479 Vgl. BVerwGE 79, 118 (126); 90, 337 (345 f); Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 24. 480 BVerwGE 79, 118 (124). 481 BVerwGE 79, 118 (126). 482 BVerwGE 79, 118 (126). 483 Vgl. oben 2. Teil, 2. Kapitel II. 1. b) bb) (3) (d) (cc). 484 BVerwGE 79, 118 (127); Campenhausen, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 139 WRV Rnr. 35. 485 Campenhausen, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 139 WRV Rnr. 35; Pahlke, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 53 (80 f). 486 Vgl. oben 1. Teil, 1. Kapitel VI. 2.
3. Kapitel: Verstößt Abschaffung des Sonntagsladenschlusses gegen GG?
195
Einkaufen ist nur an Werktagen rechtlich möglich Æ also ist es eine typisch werktägliche, nicht sonntägliche (Frei-) Zeitgestaltung, Æ das Werktägliche spricht gegen eine Privilegierung im Rahmen des Art. 139 WRV, Æ also ist Einkaufen an Sonn- und Feiertagen die Ausnahme, geschlossene Läden sind die Regel. Also ist Einkaufen grundsätzlich nur werktags möglich (s. oben).
Mit einer solchen Argumentation würden nach Kehrberg veränderte Interessen und Werte der durch Art. 139 WRV Begünstigten nicht berücksichtigt und die Differenzierung zwischen werktäglicher und sonntäglicher Tätigkeit verewigt.487 Diese Kritik übersieht aber, daß die Sonntagsöffnung neben den Verkauf an den sechs Werktagen treten würde. Dadurch würde in der Praxis selbst bei einer Sieben-Tage-Öffnung der Einkauf auch an Werktagen die Regel, an Sonn- und Feiertagen die Ausnahme bleiben. Offene Geschäfte sind daher eher typisch „werktäglich“ als eher „sonntäglich“. Hinzu kommt, daß die Tätigkeit im Einzelhandel typisch für den gesamten Wirtschafts- und Arbeitsprozeß während der Werktage in allen Ländern ist. Dieser Prozeß spielt sich hauptsächlich an Werktagen ab, so daß dieser Aspekt auch gegen den Charakter der Ladenöffnung als sonntägliche Arbeit spricht. Bei der Qualifizierung einer Betätigung als werktäglich und deren Zulässigkeit spielt weiterhin eine Rolle, ob diese Tätigkeit gerade für den Sonntag erforderlich ist und nur in geringerem Maße für die anderen Wochentage. Die Einkaufsmöglichkeit bleibt an Werktagen ebenfalls notwendig, so daß dieser Aspekt auch für die Werktäglichkeit des Einkaufens spricht. Das Bundesverwaltungsgericht ist zu Recht der Auffassung, daß allein der Umstand, daß ein Bedürfnis erst nach der Berufstätigkeit, möglicherweise nur am Wochenende gestillt werden kann, diesem nicht seinen werktäglichen Charakter nimmt.488 Könnte man Verkaufsstellen an Sonntagen regulär und allgemein öffnen, dann würden sich diese Tage in ihrem äußeren Erscheinungsbild immer mehr Werktagen annähern.489 Um das in Art. 139 WRV enthaltene Abstandsgebot490 ___________ 487
Vgl. zu dieser Kritik Kehrberg, GewArch 2001, S. 14 (20). BVerwGE 90, 337 (345 f). 489 Campenhausen, Gutachten für BVerfG-Verfahren, 2003, S. 13 (unveröff.). 490 Vgl. oben 2. Teil, 1. Kapitel IV. 4. a) bb) (1); in diese Richtung auch Kästner, in: HdbStKirchR II, 1995, S. 337 (342), nach dem Art. 139 WRV den Sonntagen einen besonderen Charakter sichert, „der sie von den sonstigen (Werk-) Tagen deutlich abhebt.“ Ebenso Campenhausen, Gutachten für BVerfG-Verfahren, 2003, S. 5 (unveröff.), der eine Entwicklung des Sonntags zu einem Wochentag wie jeder andere als Verstoß gegen Art. 139 WRV ansieht. 488
196 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
ausreichend zu berücksichtigen und Sonntagen ihren besonderen Charakter gegenüber Werktagen zu sichern, liegt es näher, Verkaufsstellen geschlossen zu halten als flächendeckend die Öffnung freizugeben. Schließlich ist von Campenhausen zuzustimmen, daß ein und dieselbe Tätigkeit sowohl Freizeitbeschäftigung als auch berufliche Arbeit sein kann, was die Abgrenzung erschwert.491 Die dargelegten Aspekte legen es aber näher, Ladenöffnung und die damit verbundene Erwerbstätigkeit als typisch werktäglich einzustufen. Diese Einordnung streitet ebenfalls zugunsten des Sonntagsschutzes und gegen eine völlige Freigabe des Ladenschlusses an Sonntagen.
b) Ergebnis für Art. 139 WRV Die Ladenöffnung an Sonntagen dient nicht den Schutzzwecken des Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV. Sie erweist sich gerade nicht „im Lichte der Zweckbestimmung des Sonntags als billigenswert und förderungswürdig.“492 Sie gefährdet vielmehr beide Schutzrichtungen, die Arbeitsruhe und die Möglichkeit zur seelischen Erhebung. Diese abstrakte Gefährdung reicht im Anschluß an den oben dargelegten Maßstab des Bundesverwaltungsgerichts und Morloks aus.493 Die potentiellen Gefahren einer generellen Öffnung an Sonntagen lassen sich mit einer Zunahme des Lärms, des Verkehrs, der Sonntagsarbeit und einer Abnahme individueller und kollektiver Arbeitsruhe und einer geringeren Möglichkeit zur seelischen Erhebung zusammenfassen. Diese Nachteile kann die sonntägliche Ladenöffnung nicht aufwiegen. Die von ihr verfolgten Allgemeinwohlbelange sind auch durch die nunmehr in fast allen Ländern zugelassene Öffnung an Werktagen nach 20 Uhr erreichbar. Darauf, daß eine Ladenöffnung zu einem sozial billigenswerten Zweck erfolgen würde, kommt es nicht an, da sich der Sonntagsschutz nicht als die Summe abdingbarer Rechte einzelner, sondern als objektiver Wert von Verfassungsrang darstellt. Die Interessen für eine völlige Freigabe haben nicht das Gewicht, um den Sonntagsschutz des Art. 139 WRV zurückzudrängen. Die Erwerbsinteressen der Ladeninhaber sind rein ökonomische Aspekte, die gegenüber Art. 139 WRV zurücktreten, da die Schutzzwecke der Sonntage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gerade auf nicht-ökonomische Kategorien gerichtet sind. ___________ 491
Campenhausen, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 139 WRV Rnr. 34 f. So als allgemeinen Maßstab formulierend BVerwGE 79, 118 (125). 493 Vgl. oben 2. Teil, 3. Kapitel I. 4. a). 492
3. Kapitel: Verstößt Abschaffung des Sonntagsladenschlusses gegen GG?
197
Schließlich können andere Normen wie das Arbeitszeitgesetz, die Sonn- und Feiertagsgesetze der Länder oder Tarifvereinbarungen kein gleichwertiges Maß an Sonntagsschutz gewährleisten. Daraus folgt, daß das gesetzgeberische Ermessen sich auf Null reduziert und die Ausgestaltungsfreiheit der Legislative an ihre Grenzen stößt. Der Staat ist verpflichtet, einen grundsätzlichen Ladenschluß an Sonntagen zu normieren.
c) Stellungnahmen der Literatur In der Literatur ist die konkrete Frage, ob die völlige Abschaffung des Sonntagsladenschlusses gegen Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV verstößt, bislang noch nicht detailliert erörtert worden. Die Rechtsprechung hat das Problem bislang nicht behandelt. Mehrere Autoren teilen die hier vertretene Auffassung: Rozek interpretiert im Ergebnis zutreffend das Bundesverfassungsgerichtsurteil zum Ladenschluß aus dem Jahr 2004 so, daß die Ladenöffnung an Sonntagen von Verfassungs wegen in Zukunft die Ausnahme bleiben muß. Dies folge - so Rozek mit Recht weiter - aus der klaren Absage des Gerichts, Erwerbs- und Konsuminteressen höher zu gewichten als Sonntags- und Arbeitnehmerschutz.494 Rüfner hat in seinem Gutachten im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ebenfalls die Meinung geäußert, daß die generelle Ladenöffnung an Sonntagen gegen Art. 139 WRV verstoßen würde. Er verweist auf die potentiell sehr große Zahl von Arbeitnehmern, die der Sonntagsarbeit ausgesetzt wären.495 Das Ergebnis teilt auch Kühn.496 Allein Burger setzt sich mit dem Problem in einem Aufsatz etwas näher auseinander und kommt zum hier vertretenen Ergebnis.497 Ebenso hat die Bundesregierung im Verfahren zum Ladenschlußgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht in ihrer schriftlichen Stellungnahme von 2003 die Auffassung vertreten, daß Art. 139 WRV „einer Freigabe sonn- und feiertäglicher Ladenöffnungszeiten entgegenstünde.“ Sie verweist sogar auf den Kernbereich des Sonntagsartikels.498 Isensee, von Campenhausen und Mattner tendieren ebenfalls in diese Richtung. Isensee hält bei der Behandlung der Verfassungsgarantie des Sonntags eine ersatzlose Streichung der „verfassungsrechtlich bedeutsamen Regelungen“ ___________ 494
Rozek, AuR 2005, S. 169. Rüfner, Gutachten für BVerfG-Verfahren, 2003, S. 10 (unveröff.). 496 Kühn, AuR 2006, S. 418 (421). 497 Burger, SächsVBl. 1999, S. 295 (297). 498 Stellungnahme der Bundesregierung durch das federführende Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit v. 13. Juni 2003 in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren 1 BvR 636/02, S. 8, das zum Ladenschlußurteil v. 9. Juni 2004 führte. 495
198 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
des Ladenschlußgesetzes für unzulässig. Ohne daß er diese ausdrücklich nennt, geht aus dem Zusammenhang seiner Ausführungen hervor, daß „verfassungsrechtlich bedeutsam“ eben Art. 139 WRV ist.499 Von Campenhausen ist der Auffassung, daß ohne den Sonntagsladenschluß in § 3 Nr. 1 BLadSchlG die institutionelle Garantie des Sonntagsartikels in Frage gestellt wäre.500 Aus den praktischen Konsequenzen der Ladenöffnung, der gesteigerten Unruhe und Unrast - so Mattner - „resultiere das verfassungsrechtliche Erfordernis eines Betriebsverbots.“501 Korioth erachtet dagegen ganz allgemein im Rahmen der Kommentierung des Art. 139 WRV eine begrenzte Erweiterung der Ladenöffnungszeiten an Sonntagen als „verfassungsrechtlich zwar nicht geboten, aber zulässig“, ohne dies näher auszuführen.502 Stober hält die völlige Abschaffung des Ladenschlußgesetzes für verfassungsgemäß und insbesondere für vereinbar mit Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV. Das Arbeitszeitgesetz und die Sonn- und Feiertagen der Länder hätten die Aufgabe, Sonn- und Feiertage zu schützen.503 Als keinen Verstoß gegen Art. 139 WRV sieht Kehrberg die Sonntagsöffnung an. Es sei gar nicht gewiß, ob genügend Geschäfte öffnen, um Geschäftigkeit und Unruhe an Sonntagen zu verursachen.504 Wie oben aufgeführt, kommt es aber auf eine solche konkrete Gefährdung nicht an, eine potentielle Gefahr reicht aus und wird hier bejaht.505 Diejenigen Autoren, die Ladenschlußgesetze für verfassungswidrig halten, sehen eine Abschaffung als Erfüllung der Anforderungen des Grundgesetzes an. Daher dürften sie auch eine Abschaffung des Sonntagsladenschlusses für verfassungsgemäß halten, ohne dies ausdrücklich festzustellen und ohne Art. 139 WRV besonders zu problematisieren.506
___________ 499
Isensee, Verfassungsmäßigkeit einer räumlichen Differenzierung des Ladenschlusses, 2000, S. 7 f. (unveröff.). Er faßt auf S. 12 zusammen: „Die Öffnung der Läden an Sonn- und Feiertagen stößt grundsätzlich auf den Widerstand der Verfassung.“ 500 Campenhausen, Gutachten für BVerfG-Verfahren, 2003, S. 13 (unveröff.). 501 Mattner, Sonn- und Feiertagsrecht, 1991, § 6 Rnr. 96. 502 Korioth, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 62. 503 Stober, Ladenschlußgesetz, 2000, Einf. Rnr. 90. 504 Kehrberg, GewArch 2001, S. 14 (19 ff). 505 Vgl. oben 2. Teil, 3. Kapitel I. 4. a) aa) (1) (f) zur Absicht eines beachtlichen Anteils der Einzelhändler, sonntags zu öffnen. 506 Hufen, NJW 1986, S. 1291 (1300); Schunder, Ladenschlußgesetz, 1994, S. 170; Heckmann, JZ 1999, S. 1143 (1146); Reineck / Döhring, BB 1996, S. 703 (707 f).
3. Kapitel: Verstößt Abschaffung des Sonntagsladenschlusses gegen GG?
199
II. Vereinbarkeit mit Gesundheitsschutz, Art. 2 Abs. 2 GG Neben Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV könnte der Gesundheitsschutz für den Ladenschluß an Sonntagen streiten. Dieser ist im Anschluß an die Nachtbackentscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Art. 2 Abs. 2 GG als objektiv-rechtlicher Gehalt verankert, der den Staat verpflichtet, Leben und körperliche Unversehrtheit des Individuums zu schützen.507 Die Zunahme an Verkehr und Lärm bei Sonntagsöffnung der Geschäfte dürfte jedoch kaum das Maß erreichen, daß man eine Verletzung der staatlichen Pflicht zum Gesundheitsschutz aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG annehmen muß, auch wenn das Bundesverfassungsgericht Lärmimmissionen grundsätzlich diese Fähigkeit zuschreibt, unter Umständen in diese Verfassungsnorm einzugreifen.508 Unabhängig von der Frage, ob „körperliche Unversehrtheit“ mit „Gesundheit“ gleichzusetzen ist und somit auch schon das psychische und soziale Wohlempfinden umfaßt,509 liegt ein die Schutzpflicht auslösender Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit erst vor, wenn eine Lärmimmission eine Schwelle erreicht, welche die menschliche Gesundheit in biologischphysiologischer Weise beeinträchtigt. Unterhalb dieses Niveaus wird nach der richtigen Auffassung des Bundesverfassungsgerichts in der Fluglärmentscheidung der Einzelne nur geschützt, wenn eine nicht-körperliche Einwirkung zu Wirkungen führt, die körperlichen Schmerzen vergleichbar sind.510 Ein solches Maß dürfte durch ein erhöhtes Verkehrs- und Kundenaufkommen an verkaufsoffenen Sonntagen in der Regel nicht erreicht sein. Denn erst bei dauerhaftem Lärm mit sehr hoher Intensität ist anerkannt, daß er zu Lärmschwerhörigkeit führt.511 Der Lärm aufgrund geöffneter Geschäfte am Sonntag ist dem werktäglichen vergleichbar und in der modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts als erträglich zu qualifizieren. Er erreicht die Eingriffsschwelle schon nicht. Zwar dürfte ununterbrochene Sonntagsarbeit zu gesundheitlichen Schäden führen.512 Allerdings wird den sonntags Arbeitenden gem. § 11 Abs. 3 ArbZG ein Ersatzruhetag innerhalb von zwei Wochen gewährt. Das Bundesarbeitsgericht hat im Ergebnis den gesundheitsschützenden telos dieser Vorschrift unter___________ 507
Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, 2006, Art. 2 Rnr. 91; BVerfGE 53, 30 (57); 87, 363
(386). 508
Vgl. BVerfGE 79, 174 (201 f). Offen gelassen vom Bundesverfassungsgericht in der Fluglärmentscheidung BVerfGE 56, 54 (74 f). 510 BVerfGE 56, 54 (75). 511 Dietrich / Kahle, DVBl. 2005, S. 960 (961) mit Zusammenfassung des Vortrags von Barbara Griefahn, Gesundheitliche Effekte des Verkehrslärms. 512 Mattner, NJW 1988, S. 2207 (2209). 509
200 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
strichen, indem es feststellte, daß die gesetzlichen Regelungen zur Sonntagsarbeit arbeitgeberübergreifend gelten.513 Schließlich unterliegen schon heute Arbeitnehmer anderer Branchen zumutbarer Sonntagsarbeit, so daß ein Eingriff in Art. 2 Abs. 2 GG abzulehnen ist. Daher erfordert der Gesundheitsschutz nicht zwingend geschlossene Läden an Sonntagen.
III. Teilweise Sonntagsöffnung bei völliger Freigabe an Werktagen Denkbar wäre, daß eine nur teilweise Freigabe der Ladenöffnungszeiten für eine beschränkte Anzahl von Stunden einen geringeren Eingriff in die Garantie des Sonntagsschutzes bedeuten würde und damit eine Verhältnismäßigkeit anzunehmen wäre. Im Gegensatz zu der oben behandelten Variante einer gleichmäßigen Öffnung an Werk- und an Sonntagen514 ist hier der Fall erfaßt, daß die Ladenöffnung am Sonntag kürzer wäre als an Werktagen. Zu denken wäre etwa an eine generelle Öffnung für maximal fünf Stunden. Eine solche Regelung sehen mehrer Bundesländer und der Bund gem. § 14 BLadSchlG für eine beschränkte Anzahl von vier Sonn- und Feiertagen vor.515 Aber auch eine teilweise Öffnung verursacht die oben beschriebenen Folgen: Ein beachtlicher Anteil der im Einzelhandel Beschäftigten müßte mit Sonntagsarbeit rechnen, so daß die individuelle und kollektive Arbeitsruhe ebenfalls beeinträchtigt wäre. Ebenso verhält es sich mit dem zusätzlichen Verkehr und den Lärmimmissionen. Sie treten unabhängig davon auf, wie lange die Geschäfte geöffnet haben, solange sie nicht so kurz ist, daß eine Anfahrt für potentielle Kunden nicht lohnt. Daher werden die Umstände, unter denen seelische Erhebung sonntags ermöglicht wird, im qualitativ selben Maße beeinträchtigt. Schließlich ist zu beachten, daß Art. 139 WRV Sonn- und Feiertage volle 24 Stunden schützt. Die Verfassungsnorm läßt sich nicht auf einen besonderen Schutz spezieller Zeiten wie etwa nur der Hauptgottesdienste am Sonntagvormittag reduzieren.516
___________ 513 Bei einer Beschäftigung bei zwei verschiedenen Arbeitgebern ist in jedem Fall der Ersatzruhetag zu gewähren, BAG AuR 2005, S. 109. 514 Vgl. oben 2. Teil, 3. Kapitel I. 3. a). 515 Solche Regelungen enthalten etwa die Ladenöffnungsgesetze in § 8 Hamb, § 6 Abs. 1 NRW, § 10 RhPf, § 8 Abs. 1 Saar, § 7 Abs. 2 SAnh, § 5 Abs. 1 SH sowie § 1 Abs. 1 LadÖffVschG Sa. 516 De Wall, NVwZ 2000, S. 857 (860); Stollmann, Sonn- und Feiertagsschutz, 2004, S. 102.
3. Kapitel: Verstößt Abschaffung des Sonntagsladenschlusses gegen GG?
201
Daher würde eine allgemeine, zeitlich aber begrenzte Freigabe der Ladenöffnung an Sonntagen ebenfalls einen Verstoß gegen Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV darstellen und wäre verfassungswidrig.517
IV. Höchstzahl der verkaufsoffenen Sonntage pro Jahr Nachdem der Verfassungsgeber die Gesetzgebungskompetenz für den Ladenschluß nun auf die Länder übertragen hat und die meisten von ihnen eigene Gesetze verabschiedet haben, rückt die Frage mehr und mehr in den Mittelpunkt, wie viele verkaufsoffene Sonn- und Feiertage pro Jahr Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV zuläßt. Unter verkaufsoffenem Sonntag ist dabei nicht etwa die Sonderregelung für Kur- und Erholungsorte oder Zeitungskioske zu verstehen, sondern das Recht, für alle Verkaufsstellen in einer Kommune oder einem Teil von ihr, unabhängig von ihrem Warenangebot und ihrer Lage in einem Bahnhof, Flug- oder Seehafen zu öffnen. Während das Bundesladenschlußgesetz nach § 10 jährlich vier solcher verkaufsoffenen Sonntage zuläßt, können Läden zum Beispiel in Berlin nach dem dortigen Gesetz unter bestimmten Voraussetzungen nun an insgesamt zehn Sonn- und Feiertagen jährlich öffnen.518 Wie oben dargestellt, verstößt eine generelle Freigabe der Öffnung an Sonnund Feiertagen gegen Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV. Damit ist der Fall gemeint, daß die Freigabe an allen 52 bis 53 Sonntagen und den neun bis zwölf Feiertagen jährlich gilt. Umgekehrt ist ein Ladenschluß an allen Sonn- und Feiertagen mit Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV offensichtlich vereinbar. Zwischen diesen beiden Extremen liegt der Punkt, ab dem eine bestimmte Anzahl von verkaufsoffenen Sonn- und Feiertagen verfassungswidrig ist. Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV gibt nach dem oben beschriebenen Schutzgehalt vor, daß Sonn- und Feiertage mit Ladenschluß die Regel, verkaufsoffene Sonn- und Feiertagen die Ausnahme bilden müssen. Eine zahlenmäßige Festlegung, ab wie vielen Verkaufssonntagen Art. 139 WRV verletzt wird, ist sicherlich schwierig. Dennoch kann man sich einer solchen Zahl nähern: Oben wurde festgestellt, daß die grundsätzliche Arbeitsruhe an Sonntagen in Bezug auf die Anzahl der Arbeitnehmer dann nicht mehr gegeben ist, wenn etwa 1/3 aller Arbeitnehmer an einem Sonntag gleichzeitig arbeiten.519 Dieses ___________ 517
So auch Kingreen / Pieroth, NVwZ 2006, S. 1221 (1226). Vgl. § 3 Abs. 1 und § 6 LadÖffG Berl. 519 Vgl. oben 2. Teil, 3. Kapitel I. 4. a) aa) (2) (b). 518
202 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
Verhältnis läßt sich auf die Anzahl der mit Art. 139 WRV vereinbaren verkaufsoffenen Sonn- und Feiertage übertragen: Wenn an einem Drittel der Sonnund Feiertagen jährlich die Läden öffnen dürfen, ist das Gebot des verfassungsrechtlichen Sonntagsschutzes nicht mehr gewahrt. Wenn bei einem Drittel eine Verfassungswidrigkeit mit Sicherheit gegeben ist, beginnt der verfassungsrechtliche problematische Bereich etwa ab einem Verhältnis ein Viertel - drei Viertel. Bei 52 bis 53 Sonntagen und durchschnittlich zehn Feiertagen pro Jahr wäre die Festlegung, an bis zu 20 Sonn- und Feiertagen öffnen zu dürfen, in jedem Fall verfassungswidrig.520 Ab etwa 15 verkaufsoffenen Sonn- und Feiertagen beginnt der verfassungsrechtlich problematische Bereich. Die Meinung von Unruh, der bereits ab sechs verkaufsoffenen Sonntagen beinahe mit Gewißheit eine Verfassungswidrigkeit annimmt,521 wird hier nicht geteilt. Bei der Beurteilung der Verfassungswidrigkeit einer bestimmten Anzahl von verkaufsoffenen Sonn- und Feiertagen ist in die Gesamtbetrachtung einzubeziehen, wie lange die Geschäfte öffnen dürfen: Wenn der Ladenschluß völlig aufgehoben ist, also Läden von 0 bis 24 Uhr öffnen dürfen, tritt die Verfassungswidrigkeit bereits bei einer geringeren Anzahl von Sonn- und Feiertagen ein als bei einer Beschränkung auf fünf Stunden. Allerdings ist dieser Aspekt nur von untergeordneter Bedeutung, da Art. 139 WRV Sonn- und Feiertagen volle 24 Stunden schützt.522 Im Ergebnis läßt sich bei einer Betrachtung des Kalenderjahres festhalten, daß nach Art. 139 WRV verkaufsoffene Sonn- und Feiertagen die Ausnahme und eine gesetzliche Pflicht zum Ladenschluß die Regel bilden müssen. In jedem Fall wäre dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis ab etwa 20 verkaufsoffenen Sonn- und Feiertagen nicht mehr gegeben, ab etwa 15 wäre es verfassungsrechtlich problematisch. Daher ist etwa die oben beschrieben Berliner Regelung mit bis zu zehn verkaufsoffenen Sonn- und Feiertagen als verfassungsgemäß anzusehen.
V. Freigabe an Adventssonntagen verfassungsgemäß? Eine weitere Berliner Regelung wirft ebenfalls verfassungsrechtliche Fragen auf: Berlin erlaubt in § 3 Abs. 1 LadÖffG an den vier Adventssonntagen die Öffnung zwischen 13 und 20 Uhr. ___________ 520 20 verkaufsoffene Sonn- und Feiertage entsprechen etwa 1/3 von 62 bis 63 Sonnund Feiertagen pro Jahr. 521 Unruh, ZevKR 2007, S. 1 (23 in Fn. 98). 522 Vgl. dazu 2. Teil, 3. Kapitel III.
3. Kapitel: Verstößt Abschaffung des Sonntagsladenschlusses gegen GG?
203
Diese Regelung stellt sich als Besonderheit in den seit November 2006 verabschiedeten Landesladenöffnungsgesetzen dar, da das Gesetz explizit genau bestimmte Sonntage vom grundsätzlichen Ladenschluß ausnimmt. Ansonsten überlassen es die Gesetzgeber den Landesregierungen oder den Kommunen, die verkaufsoffenen Sonn- und Feiertage zu bestimmen.523 Der Hintergrund der Berliner Regelung ist einfach wie offenkundig: Ein beachtlicher Teil des Umsatzes im Einzelhandel wird im Weihnachtsgeschäft generiert. Zudem dürfte sich damit die Hauptstadt als „Einkaufsmetropole“ positionieren wollen. Es handelt sich hier um einen verfassungsrechtlichen Grenzfall. Denn mit der Freigabe von vier aufeinanderfolgenden Sonntagen stellt sich die Frage, welcher Zeitraum maßgeblich ist, um die Einhaltung der Vorgaben des konstitutionellen Sonntagsschutzes in Art. 139 WRV zu messen. Ist eine Gesamtbetrachtung nur für ein Kalenderjahr oder schon für einen Monat maßgebend? Für die Betrachtung eines ganzen Jahres spricht, daß sich erst mit den jährlich 52 bis 53 Sonntagen eine ausreichend große Menge ergibt, die einer Gesamtwürdigung durch den Gesetzgeber und die Rechtsprechung zugänglich ist. Als Indiz kann man die Regelungen des Bundesladenschlußgesetzes, der Ladenöffnungsgesetze der Länder und des Arbeitszeitgesetzes heranziehen, die in zahlreichen Vorschriften zum Sonntagsschutz auf das gesamte Jahr abstellen.524 Andererseits gibt es auch vereinzelte arbeitnehmerschützende Vorschriften, die einen Monat als Bezugsrahmen wählen und etwa das Recht jedes Arbeitnehmers verbriefen, in einem Kalendermonat einen Samstag frei zu haben.525 Schließlich ist zu beachten, daß der Schutzgehalt des Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV an jedem Sonntag und jedem staatlich anerkannten Feiertag gilt. Der Norm und ihrem Schutzzweck ist nicht zu entnehmen, daß sie nur für eine bestimmte Anzahl von Sonn- und Feiertagen pro Jahr gilt. Dem Gesetzgeber ist vielmehr im Rahmen seines Einschätzungs- und Gestaltungsspielraums durch Art. 139 WRV aufgegeben, unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips Ausnahmen vom Verbot der Sonntagsarbeit zu begrenzen. Da Art. 139 WRV durch die Verankerung des Sonntags den Sieben-Tages-Rhythmus vorgibt, kann daraus das allgemeine Prinzip abgeleitet werden, daß dieser Wochenrhythmus sich auch im Bezug auf jeden Monat und jedes Jahr wiederfinden muß. Es wäre daher mit dem Schutzzweck des Art. 139 WRV offensicht___________ 523
In anderen Ländern wie z. B. Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen ermächtigen die Ladenöffnungsgesetze die zuständigen Behörden, einen der verkaufsoffenen Sonntage auch an Adventssonntagen zu genehmigen, vgl. zu Einzelheiten 1. Teil, 3. Kapitel I. 2. b). 524 Vgl. etwa nur § 10 Abs. 1 S. 2, § 14 Abs. 1 S. 1, § 17 Abs. 2 a BLadSchlG, § 6 LadÖffG Berl. 525 § 17 Abs. 4 BLadSchlG, § 7 Abs. 2 LadÖffG Berl, § 9 Abs. 6 S. 1 LadÖffG HH, § 13 Abs. 3 LadÖffG RhPf.
204 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
lich unvereinbar, wenn etwa über drei Monate der Sonntagsschutz deutlich zurücktritt, dafür aber die restlichen neun Monate des Jahres ein effektiver Sonntagsschutz gilt. Prägnant gesprochen kann Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV nicht für einige Wochen suspendiert werden. Daraus folgt zunächst eine Pflicht, zwischen weniger geschützten und mehr geschützten Sonntagen abzuwechseln.526 Die Vorgaben des Art. 139 WRV sind nicht so eng, daß zwingend alternierend ein geschützter Sonntag einem weniger geschützten Sonntag folgen muß. Aber es scheint mit dem Schutzzweck des Art. 139 WRV nur schwer vereinbar, wenn vier Sonntage hintereinander weniger geschützt sind und erst anschließend wieder ein mehr geschützter Sonntag folgt. Dem Grundgedanken der Rhythmisierung wird daher eine Regelung wie im Berliner Ladenöffnungsgesetz nicht gerecht. Eine gesetzliche Regelung muß - wie oben festgestellt - beiden Zielrichtungen des Art. 139 WRV entsprechen: sowohl der Arbeitsruhe als auch der seelischen Erhebung.527 Das Berliner Ladenöffnungsgesetz berücksichtigt den Aspekt der Arbeitsruhe an den Adventssonntagen, indem § 7 Abs. 5 die Beschäftigung von Verkaufspersonal lediglich an zwei Adventssonntagen erlaubt. Zugunsten der seelischen Erhebung wirkt sich zwar aus, daß Inhaber ihre Läden erst ab 13 Uhr und nicht bereits seit den Morgenstunden öffnen dürfen. Denn der Sonntagmorgen wird gemeinhin nach den Sonn- und Feiertagsgesetzen der Länder als Zeit des Hauptgottesdienstes angesehen. Allerdings ist zu beachten, daß der ab 13 Uhr ermöglichte Einkauf nicht der seelischen Erhebung dient.528 Der Berliner Gesetzgeber hat im Ladenöffnungsgesetz keine speziellen Vorkehrungen zum Schutz der seelischen Erhebung an den Adventssonntagen zwischen 13 und 20 Uhr getroffen, wenn Inhaber ihre Läden öffnen können. Dabei fällt ins Gewicht, daß dadurch sieben Stunden potentieller Ladenöffnung tagsüber die seelische Erhebung erschweren, während nur die Morgenstunden seelische Erhebung ermöglichen, die auch von öffentlicher Ruhe abhängt. Wenn man bedenkt, daß die Deutschen gerade sonntags durchschnittlich 1 ½ Stunden länger als an Werktagen schlafen,529 wird deutlich, daß die Geschäftsöffnung den ganz überwiegenden Teil des Sonntags prägt. Daher wird eine Rhythmisierung des Lebens im Advent während der sieben Stunden potentieller Öffnung deutlich erschwert. Der von Art. 139 WRV geforderte Wechsel zwischen verkaufsoffenen und geschlossenen Sonntagen wird im Advent ganz durchbrochen. ___________ 526 Die Adventssonntage sind in Berlin etwa im Ladenöffnungsgesetz weniger geschützt als andere Sonntage durch die Freigabe der Ladenöffnung. 527 Vgl. oben 2. Teil, 1. Kapitel IV. 4. a) cc). 528 Vgl. oben 2. Teil, 2. Kapitel II. 1. b) bb) (3) (d) (cc). 529 Vgl. oben Tabelle 3 im 2. Teil, 2. Kapitel II. 1. b) bb) (3) (c) (cc).
3. Kapitel: Verstößt Abschaffung des Sonntagsladenschlusses gegen GG?
205
Die Tatsache, daß alle vier aufeinanderfolgenden Sonntage ohne Ausnahme530 den Schutzzweck der seelischen Erhebung während dieser sieben Stunden außer Acht lassen, streitet für eine Unvereinbarkeit dieser Regelung mit Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV. Daher sprechen gewichtige Argumente für eine Verfassungswidrigkeit der Berliner Regelung zu den Adventssonntagen. Der Berliner Landesgesetzgeber hat zu wenige Vorkehrungen zum Schutz der seelischen Erhebung an diesen Sonntagen getroffen. Abhilfe könnte er etwa schon dadurch schaffen, daß er die Öffnungsmöglichkeit auf zwei Adventssonntage beschränkt.
VI. Ergebnis Eine völlige oder teilweise Abschaffung des Sonntagsladenschlusses wäre verfassungswidrig, weil dies unverhältnismäßig in den Schutzgehalt des Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV eingreift. Es liegt zwar keine Verletzung des Kernbereichs vor, aber der unangemessene Eingriff in den Randbereich des Art. 139 WRV führt mangels Verhältnismäßigkeit zur Verfassungswidrigkeit. Ebenso verhält es sich mit einer Regelung, die eine verkürzte Öffnung an Sonnund Feiertagen erlauben würde. Nach der Übertragung der Gesetzgebungskompetenzen auf die Länder könnten nur diese den Sonntagsladenschluß abschaffen. Der Form nach wäre ein Änderungsgesetz zu den jeweiligen Ladenöffnungsgesetzen notwendig. Um dagegen vorzugehen, käme für die Berechtigten als Klageart eine abstrakte Normenkontrolle in Betracht, Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG i. V. m. § 76 BVerfGG. Die Tatsache, daß es sich um ein Gesetz mit einem Aufhebungsbefehl handelt, ändert nichts daran, daß es ein tauglicher Antragsgegenstand ist. Es reicht aus, daß das Aufhebungsgesetz im Gesetzblatt verkündet ist.531 Antragsbefugt sind ein Drittel der Mitglieder des Bundestages, die Bundesregierung oder jede Landesregierung, selbst wenn es um die Vereinbarkeit des Rechtes eines anderen Landes mit Bundesrecht geht.532 Die Regelungen in den Ladenöffnungsgesetzen, bis zu zehn verkaufsoffene Sonn- und Feiertage jährlich für Verkaufsstellen unabhängig von ihrem Warenangebot oder ihrer Lage533 zuzulassen, ist mit Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV vereinbar. Das Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen geschlossenen und ___________ 530 Andere Bundesländer sehen solche Ausnahmen vor, indem sie die Anzahl verkaufsoffener Sonntage beschränken, vgl. oben 1. Teil, 3. Kapitel I. 2. b). 531 Vokuhle, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 93 Rnr. 122. 532 Wieland, in: Dreier, GG, 2000, Art. 93 Rnr. 56. 533 Damit ist also nicht die Möglichkeit in Kur- und Erholungsorten gemeint, an bis zu 40 Sonn- und Feiertagen zu öffnen.
206 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß
verkaufsoffenen Sonn- und Feiertagen schlägt ab einem Verhältnis 2/3 (geschlossen) zu 1/3 (verkaufsoffen) offensichtlich um und ist dann nicht mehr mit Art. 139 WRV vereinbar. Eine Möglichkeit zur Öffnung an 20 Sonn- und Feiertagen pro Jahr würde also gegen Art. 139 WRV verstoßen. Der verfassungsrechtlich kritische Bereich ist bereits ab etwa einem Viertel erreicht, das heißt ab einer Zahl von etwa 15 verkaufsoffenen Sonn- und Feiertagen pro Jahr. Die Berliner Regelung, die Ladenöffnung an allen vier Adventssonntagen für sieben Stunden zu ermöglichen, dürfte verfassungswidrig sein, weil der Gesetzgeber den Schutzzweck der seelischen Erhebung nach Art. 139 WRV nicht ausreichend berücksichtigt hat.
3. Teil
Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis Das Verhältnis zwischen Bund und Ländern war im Bereich des Ladenschlußrechts über Jahrzehnte geklärt:1 Der Bund legte im Ladenschlußgesetz den entscheidenden zeitlichen Rahmen fest, die Länder konnten einige Ausnahmetatbestände qua Delegation näher ausgestalten und führten das Gesetz aus. Diese Verteilung der Gesetzgebungskompetenz hat sich seit dem 1. September 2006 grundlegend geändert: Nunmehr sind die Länder ausschließlich für die Gesetzgebung bei Fragen des Ladenschlusses zuständig. Von dieser Regionalisierung des Ladenschlußrechts ist der entscheidende Impuls für die zahlreichen Landesgesetze über Ladenöffnungszeiten ausgegangen, welche die Länder seit November 2006 verabschiedet haben.2 Allein der bayrische Landtag hat bisher noch kein Ladenschlußgesetz beschlossen, alle anderen 15 Länder sind inzwischen eigene und zum Teil neue Wege in Sachen Ladenschluß gegangen und haben eigene Gesetze erlassen. Damit sind neue Rechtsfragen entstanden, die sich insbesondere auf die Reichweite der neuen Länderkompetenz beziehen. Nach einem Überblick über die bis 2006 geltende Bundeskompetenz (1. Kapitel) werden die Grundgesetzänderung von 2006 (2. Kapitel) und die neue Länderkompetenz de constitutione lata untersucht (3. Kapitel). Schließlich hat die praktische Anwendung des Ladenschlußgesetzes des Bundes in den letzten Jahren gerade an Tankstellen, in Bahnhöfen und in einigen Bundesländern wie Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen Züge angenommen, aus denen sich Fragen nach dem rechtmäßigen Vollzug des Gesetzes durch die Länder ergeben. Sie werden im 4. Kapitel thematisiert.
___________ 1
Diese Annahme gilt nur für den Rechtsraum der Bundesrepublik, für das wiedervereinigte Deutschland gilt das Bundesladenschlußgesetz seit dem Tag der Deutschen Einheit 1990. 2 Vgl. die Ladenöffnungsgesetze in Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, NordrheinWestfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein sowie Thüringen. Zu den Fundstellen s. oben S. 70.
208
3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
1. Kapitel
Zuständigkeit des Bundes bis 2006 In den 50 Jahren seiner Geltung - zumindest in der Bundesrepublik - lassen sich für das Ladenschlußgesetz des Bundes zwei Phasen unterscheiden, in denen die verfassungsrechtliche Grundlage variierte. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Juni 2004 stellt den entscheidenden Wendepunkt dar, da nicht mehr der feste Boden des Art. 72 Abs. 2 i. V. m. Art. 74 Abs. 1 GG a. F. Kompetenzgrundlage war, sondern der mit einem Überleitungscharakter ausgestattete und daher dynamischere Art. 125 a GG.
I. Einigkeit über konkurrierende Bundeskompetenz bis 2004 Die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes zur Regelung des Ladenschlusses aus Art. 72 Abs. 2 i. V. m. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und Nr. 12 GG a. F. war seit der Verabschiedung des Ladenschlußgesetzes bis zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2004 nur sehr vereinzelt in Frage gestellt worden. Es herrschte seit einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 1952 für Vorgängerregelungen zum Ladenschlußgesetz weithin Einigkeit, daß sich die gesetzliche Fixierung der Verkaufszeiten für den Einzelhandel zwei der in Art. 74 GG genannten Materien zuordnen läßt: dem Handel i. S. d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG und dem Arbeitsschutz i. S. d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG.3 Der Einzelhandel ist neben dem Großhandel eine der beiden Handelsarten und der Arbeitsschutz umfaßt die Regelung der Arbeitszeit, die durch das Ladenschlußgesetz einen festen Rahmen erhält.4 Die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG galten ebenfalls lange als erfüllt; erst die Änderung der Erforderlichkeitsklausel 1994 brachte letztlich Bewegung in die rechtliche Debatte und Beurteilung. Vor 1994 überprüfte das Bundesverfassungsgericht allgemein die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG a. F. (1949) nur sehr begrenzt.5 Folgerichtig fragte Karlsruhe in einem der Ladenschlußurteile 1961 lediglich, ob der Bundesgesetzgeber „die in Art. 72 ___________ 3 BVerfGE 1, 283 (292); vgl. statt aller übrigen Schädler, Verfassungsrechtliche Beurteilung des Ladenschlußgesetzes, 1995, S. 207 f. 4 BVerfGE 1, 283 (292); a. A. Schunder, Ladenschlußgesetz, 1994, S. 139, der bezweifelte, ob die Voraussetzungen für eine konkurrierende Gesetzgebungsbefugnis des Bundes noch gegeben seien. 5 Bereits erheblich zweifelnd, aber im Ergebnis offen lassend BVerfGE 1, 264 (272 f); konkretisiert in BVerfGE 2, 213 (224 f).
1. Kapitel: Zuständigkeit des Bundes bis 2006
209
Abs. 2 Nr. 3 GG verwendeten Begriffe im Prinzip zutreffend ausgelegt und sich in dem dadurch bezeichneten Rahmen gehalten hat.“6 Dies bejahte das Gericht. Mit Schuppert ist anzunehmen, daß das Bundesverfassungsgericht in seiner gesamten Rechtsprechung vor 1994 die als Länderschutzklausel gedachte Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG a. F. de facto in ihr Gegenteil verkehrt hatte.7 Das Gericht räumte später selbst ein, daß der Rechtsprechung zur Vorgängerregelung „jedenfalls im Ergebnis keine begrenzende Funktion zugewiesen“ wurde.8 In der Wissenschaft war allein Schunder der Auffassung, daß zwar der Bundesgesetzgeber für die Verabschiedung des Ladenschlußgesetzes zuständig sei, es aber aufgrund alternativer Regelungen zum Arbeitsschutz in Tarifverträgen und anderen Gesetzen kein Bedürfnis mehr nach einer bundeseinheitlichen Regelung gäbe.9 Hufen sah 1986 in seiner verfassungsrechtlichen Analyse des Ladenschlußgesetzes die Frage nach der Gesetzgebungskompetenz des Bundes aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als „erledigt“ an.10 Ebensowenig zweifelte der Experte des Ladenschlußrechts Stober an der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes.11
II. Wende mit BVerfG-Urteil von 2004 - Kritik Im Urteil von 2004 nahm das Bundesverfassungsgericht die Gelegenheit wahr, die strengeren Maßstäbe des 1994 geänderten Art. 72 Abs. 2 GG auf das Ladenschlußgesetz anzuwenden und sie im Ergebnis als nicht mehr erfüllt anzusehen. Zwar hat sich mit der Grundgesetzänderung von 2006 die Grundlage für die Beurteilung ladenschlußrechtlicher Verfassungsfragen grundlegend geändert. Ein näherer Blick lohnt dennoch, weil das Urteil einerseits im Rückblick einen ganz erheblichen Anstoß für die rechtspolitische Debatte brachte
___________ 6
BVerfGE 13, 230 (234). Schuppert, AöR 120 (1995), S. 32 (80). 8 BVerfGE 106, 62 (136). 9 Schunder, Ladenschlußgesetz, 1994, S. 140. Seine Arbeit berücksichtigte die Grundgesetz-Änderung desselben Jahres nicht mehr. 10 Hufen, NJW 1986, S. 1291 (1295); nach Änderung des Art. 72 Abs. 2 GG allerdings zweifelnd ders., Gutachten für BVerfG-Verfahren, 2003, S. 12 (unveröff.). 11 Stober, GewArch 1985, S. 353 (358); offener dagegen nach der Änderung des Art. 72 Abs. 2 GG, als er eine Rückübertragung von Befugnissen auf die Länder wegen der geänderten Bedürfnisklausel für angezeigt hielt, vgl. Stober, JZ 1996, S. 541 (549). 7
210
3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
und es andererseits Maßstäbe enthält, die bei einer möglichen Rückübertragung des Ladenschlußrechts auf den Bund relevant werden könnten.12 Die verschärften Bedingungen des Art. 72 Abs. 2 GG (1994) ergaben sich weniger aus dem Wortlaut der geänderten Vorschrift selbst als vielmehr aus der Entstehungsgeschichte, die das Bundesverfassungsgericht im AltenpflegeUrteil, einer Grundsatzentscheidung zu Art. 72 Abs. 2 GG, ausführlich darstellte.13 Es betonte gegenüber anderslautenden Stimmen in der Literatur, die weiterhin einen Beurteilungsspielraum des Bundes befürworteten,14 in zutreffender Weise die Bedeutung der historischen Interpretation. Die Position der Länder sollte nach dem Willen des Verfassungsgebers bei der Änderung von 1994 gestärkt und zudem eine effektive Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht ermöglicht werden.15 Das Gericht leitet daraus zu recht die Befugnis ab, die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG in vollem Umfang zu überprüfen, und lehnt einen seiner Kontrolle entzogenen gesetzgeberischen Beurteilungsspielraum ab. Dies hat es im Urteil zu den Hundeverboten 2004 ausdrücklich bestätigt und die Regelungen zur Juniorprofessur anhand dieses Maßstabes geprüft.16 Als ein Mittel für eine effektive gerichtliche Überprüfung wendet es sich von einer alleinigen Orientierung am Gesetzesziel ab, das vom Bundesgesetzgeber bestimmt wird. Die Kompetenz muß auch nach den tatsächlichen Folgen des Gesetzes beurteilt werden, soweit sie erkennbar und vorab abschätzbar sind.17 Für diese Prognose müssen Annahmen zu Grunde gelegt werden, die sorgfältig nach einer angemessenen Methode ermittelt sind oder sich zumindest im Rahmen einer gerichtlichen Prüfung bestätigen lassen.18 Nebenbei sei bemerkt, daß diese strengeren ___________ 12
Zwar mag eine solche Rückübertragung zum jetzigen Zeitpunkt sehr unwahrscheinlich sein, aber es ist nicht völlig auszuschließen, daß sich in mehreren Jahren oder Jahrzehnten der Ruf nach einer bundeseinheitlichen Regelung verstärken wird. An dieser Stelle sei daran erinnert, daß die Arbeitsminister der Länder selbst Mitte der 50er Jahre den Bund aufforderten, eine bundeseinheitliche Regelung für den Ladenschluß zu schaffen. 13 BVerfGE 106, 62 (136 bis 142) - Altenpflege. Rspr. bestätigt in den Verfahren zum Hundeverbot, BVerfGE 110, 141 (175), und zur Juniorprofessur, BVerfGE 111, 226 (265 ff). 14 Vgl. Oeter, in: Mangoldt / Klein, GG, 2000, Art. 72 Rnr. 96; Rybak / Hofmann, NVwZ 1995, S. 230 (231). 15 BVerfGE 106, 62 (136); einen Gestaltungsspielraum lehnt ebenfalls ab Stettner, in: Dreier, GG, 1998, Art. 72 Rnr. 17. Wie sich aus einzelnen Beratungsdokumenten der Verfassungskommission sowie des Bundestages und des Bundesrates ergab, war ein tragendes Motiv für die Modifikation des Art. 72 Abs. 2 GG, dessen Justitiabilität zu verbessern; vgl. die Hinweise in BVerfGE 106, 62 (139 f). 16 BVerfGE 110, 141 (175); BVerfGE 111, 226 (265 ff). 17 BVerfGE 106, 62 (148). 18 BVerfGE 106, 62 (152).
1. Kapitel: Zuständigkeit des Bundes bis 2006
211
Maßstäbe das Hauptmotiv des Verfassungsgebers für die erneute Änderung des Art. 72 Abs. 2 GG zum 1. September 2006 waren, die dessen Anwendungsbereich deutlich einschränkte.19 Das höchste deutsche Gericht wendete zwar zu Recht diese neuen Prinzipien auf das Ladenschlußgesetz an. In seiner Entscheidung vom 9. Juni 2004 begründete es allerdings nur relativ kurz, warum es die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG als nicht erfüllt ansah. Das Gericht setzte sich nicht ausführlich mit der Frage auseinander, ob für „die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung“ der Ladenöffnungszeiten erforderlich ist. Zunächst hielt es dem Bundesgesetzgeber mittelbar vor, seiner Darlegungslast nicht nachgekommen zu sein, da sich in der Gesetzesnovelle zum Ladenschlußgesetz von 1996 keine Ausführungen zu Art. 72 Abs. 2 GG fänden. Ein dann zu erwartendes spezielles Argument, warum das Gericht die gleichwertigen Lebensverhältnisse durch uneinheitliche Öffnungszeiten nicht tangiert sah, fehlt aber völlig. Nur zwischen den Zeilen kann man erahnen, warum Karlsruhe die Ausführungen zur Erforderlichkeit i. S. d. Art. 72 Abs. 2 GG sehr kurz hielt und keine Aspekte ansprach, die zwar nicht in den Gesetzesmaterialien enthalten sind, aber vernünftigerweise hätten herangezogen werden und die für ein Vorliegen der Merkmale des Art. 72 Abs. 2 GG hätten sprechen können. Prinzipiell hält das Bundesverfassungsgericht eine solche nachholende Begründung im gerichtlichen Verfahren offensichtlich für möglich.20 Es unternahm hier aber keinen solchen Versuch.21
1. Gleichwertige Lebensverhältnisse bei nationalem Ladenschluß Beim Merkmal der „gleichwertigen Lebensverhältnisse“ hätte es sich durchaus angeboten, die tatsächlichen Auswirkungen unterschiedlicher Ladenöffnungszeiten in den Ländern rechtlich zu würdigen. Aufgrund des verfassungs___________ 19
Vgl. die Passagen in der Gesetzesbegründung in BT-Drs. 16/813, S. 7 und 11. Vgl. BVerfGE 106, 62 (153 f), wo das Gericht das Merkmal der gleichwertigen Lebensverhältnisse bei unterschiedlicher Altenpflegeausbildung in den Ländern prüft und fordert, daß in einem Land die Altenpfleger oder die Pflegebedürftigen deutlich schlechter gestellt sein müßten. Auf S. 154 heißt es: „Solche Feststellungen sind weder im Gesetzgebungsverfahren noch im vorliegenden Normenkontrollverfahren getroffen worden.“ In der Sache bestätigt durch BVerfGE 110, 141 (175). 21 Diese Vorgehensweise begrüßt Poschmann, NVwZ 2004, S. 1318 (1319), weil damit die Grenzen der Aufbereitung entscheidungserheblicher Tatsachen im verfassungsgerichtlichen Verfahren geachtet würden. 20
212
3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
rechtlich verankerten Sonntagsschutzes hätte sich ein sachliches Kriterium geboten, nur die Auswirkungen für Sonn- und Feiertage zu analysieren.22 Unabhängig von dem Aspekt, daß eine völlige Freigabe der Ladenöffnung nach der hier vertretenen Auffassung materiell verfassungswidrig wäre,23 ergäben sich deutlich markantere Unterschiede zwischen den Bundesländern gerade an Sonntagen: Hier stünden sich eventuell Freigabe an zahlreichen oder sogar allen Sonntagen in einigen und grundsätzlicher Ladenschluß in anderen Ländern gegenüber, während die Differenz an Werktagen bei einem Ladenschluß ab 20 Uhr bis 6 Uhr im Vergleich zur völligen Freigabe nur die umsatzschwachen Abend- und Nachtstunden umfassen würde. Hier könnten sich Lebensgewohnheiten und damit auch der Charakter der Sonntage in einem Maße ändern, der nicht unerheblich sein dürfte. Denn gerade an Sonn- und Feiertagen wäre es möglich, daß unterschiedliche Öffnungszeiten in den Ländern aufgrund des vermehrten Auto- und Kundenverkehrs durchaus zu einem anderen Maß an öffentlicher Ruhe als bisher führen. Ein Aspekt wie die Ruhe ist im Rahmen des Merkmals „Lebensverhältnisse“ neben wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen. Das Grundgesetz selbst geht von Ruhe und Lärm als Faktoren für die Bewertung der Lebensverhältnisse nach Art. 72 Abs. 2 GG aus, wie die Aufnahme der Lärmbekämpfung in Art. 74 Abs. 1 Nr. 24 GG zeigt.24 Das vom Bundesverfassungsgericht geforderte Tatsachenmaterial, das der Bundesgesetzgeber sorgfältig zu ermitteln hat,25 um eine etwaige Auseinanderentwicklung der Lebensverhältnisse zu belegen oder eine entsprechende Prognose zu stützen, könnten künftig - eine Wiederaufnahme des Ladenschlusses in die konkurrierende Gesetzgebung vorausgesetzt - Untersuchungen liefern, welche die Folgen differierender Öffnungszeiten aufgrund unterschiedlicher staatlicher Anerkennung christlicher Feiertage an Ländergrenzen analysieren. Es wäre möglich, sich hierbei auf bereits existierende Phänomene in Ballungszentren mit mehreren hunderttausend Einwohnern zu stützen. Je näher Städte mit teilweise unterschiedlichen Öffnungszeiten beieinander liegen, desto ___________ 22 Weder das Bundesverfassungsgericht noch Hufen und Stelkens ziehen eine Unterscheidung im letztgenannten Sinne in Erwägung, vgl. BVerfGE 111, 10 (28 f); Hufen, Gutachten für BVerfG-Verfahren, 2003, S. 12 (unveröff.); Stelkens, GewArch 2003, S. 187 (190). 23 Vgl. oben 2. Teil, 3. Kapitel IV. 24 Der Begriff der Lebensverhältnisse ist weit zu fassen, weil er die gesamten Regelungsmaterien des Katalogs im Art. 74 Abs. 1 GG in den Blick nimmt. Das Bundesverfassungsgericht bezieht auch körperliches und psychisches Wohlergehen ein, wie sich aus der Altenpflegeentscheidung im Bezug auf die Pflegebedürftigkeit ergibt. 25 BVerfGE 106, 62 (144).
1. Kapitel: Zuständigkeit des Bundes bis 2006
213
größer ist nach der Lebenserfahrung die Wahrscheinlichkeit, daß Verbraucher zum Einkauf in eine andere Stadt fahren. Bei einer getrennten Betrachtung der Lebensverhältnisse an Werk- und Sonntagen könnte man also in vertretbarer Weise zur Prognose kommen, daß es zu einer erheblichen Auseinanderentwicklung der Lebensverhältnisse an Sonntagen kommen würde, wenn in einigen Bundesländern Läden an diesen Tagen geöffnet, in anderen geschlossen wären.
2. Wahrung der Wirtschaftseinheit Das Bundesverfassungsgericht stellte im Ladenschlußurteil 2004 zum Merkmal der Wirtschaftseinheit etwas apodiktisch fest, daß die Funktionsfähigkeit des Wirtschaftsraums keine einheitlichen Ladenöffnungszeiten erfordere. Das Für und Wider möglicher Auswirkungen differierender Ladenöffnungszeiten in den Ländern wog es nicht ab. Dafür, daß unter anderem mit dieser Feststellung ein seit fast 50 Jahren existierendes Bundesgesetz der Neuordnung durch den Bund entzogen wurde, fiel die Argumentation des Gerichts überraschend kurz aus. Denn es lassen sich durchaus Prognosen für Sachverhalte aufstellen, die bei einer unterschiedlichen Regelung der Ladenschlußzeiten voraussichtlich einträten. Das Vorbringen der Bundesregierung in den Verfahren beim Bundesverfassungsgericht 1961 und 2004, man solle das Ladenschlußgesetz im Zusammenhang mit anderen bundeseinheitlichen Arbeitsschutzvorschriften wie etwa Arbeitszeitgesetz, Jugendarbeitschutzgesetz und Mutterschutzgesetz sehen, streitet nachvollziehbar für eine bundesgesetzliche Regelung, da so ein einheitliches Schutzniveau garantiert werden kann.26 Der Arbeitsschutz stellt insgesamt eine Regelungsmaterie dar, die Rahmenbedingungen für die Beschäftigung von Arbeitern und Angestellten setzt. Solche Umstände können Entscheidungen wie Einstellungen oder Entlassungen beeinflussen und daher Auswirkungen auf die vom Bundesverfassungsgericht als relevant angesehene Verteilung des wirtschaftlichen personellen Potentials27 haben. Länder mit kürzeren Öffnungszeiten werden sich möglicherweise gezwungen sehen, ebenfalls längere einzuführen.28 Diese Konsequenz ließ sich schon ___________ 26 Vgl. BVerfGE 13, 230 (234); ihm schließt sich Schädler, Verfassungsrechtliche Beurteilung des Ladenschlußgesetzes, 1995, S. 209, an; a. A. Hufen, Gutachten für BVerfG-Verfahren, 2003, S. 12 (unveröff.). 27 BVerfGE 106, 62 (146 f). 28 So auch Schädler, Verfassungsrechtliche Beurteilung des Ladenschlußgesetzes, 1995, S. 210.
214
3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
in Berlin und Brandenburg im November 2006 beobachten. Nachdem Berlin als erstes Bundesland in seinem Ladenöffnungsgesetz vom 14. November 2006 die Ladenöffnung an den vier Adventssonntagen von 13 bis 20 Uhr freigegeben hatte, änderte der Brandenburger Landtag im laufenden Verfahren den ursprünglichen Entwurf des eigenen Ladenschlußgesetzes noch ab und gab die Ladenöffnung an den Adventssonntagen ebenfalls frei. Wahrscheinlich dürften sich das Phänomen einer „Spirale nach unten“ oder, wie es Oeter als Ausdruck der ökonomischen Föderalismustheorie nennt, ein „Wettbewerb nach unten“29 einstellen, in dem das Land mit den längsten Ladenöffnungszeiten die anderen nachzieht. Damit würde der Arbeitsschutz bundesweit abnehmen. Uneinheitliche Ladenöffnungszeiten würden also voraussichtlich von Land zu Land unterschiedliche Wettbewerbsbedingungen schaffen. Das würde Anreize schaffen für Einzelhandelsunternehmen, in Ländern mit längeren Öffnungszeiten vermehrt Filialen zu öffnen. Umgekehrt dürften Arbeitnehmer versucht sein, in Ländern mit kürzeren Öffnungszeiten zu arbeiten, um in den Genuß eines kleineren Arbeitszeitrahmens zu kommen.30 Daher könnten Wirtschaftsstandorte in Abhängigkeit von den Ladenschlußzeiten auf- oder abgewertet werden. Die vorgenannten Gesichtspunkte könnten in der Summe durchaus ausreichen, um eine hinreichend intensive unterschiedliche Verteilung ökonomischer Ressourcen zu bewirken. Problematisch war für das Bundesverfassungsgericht 2004 allerdings, daß sich für die wirtschaftlichen Auswirkungen unterschiedlicher Ladenöffnungszeiten in den Bundesländern keine empirischen Untersuchungen finden lassen, da der Ladenschluß seit über 100 Jahren auf nationaler Ebene geregelt war. Durch die zahlreichen seit Ende 2006 erlassenen neuen Ladenschlußgesetze der Länder kann sich dies ändern.
3. Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung Der „Vorwurf“ des Bundesverfassungsgerichts gegenüber dem Bund, er habe den Ländern selbst viele Befugnisse in Ausnahmetatbeständen des Ladenschlußgesetzes eingeräumt, zielte auf die mangelnde Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung und somit auf das Fehlen einer weiteren Voraussetzung des Art. 72 Abs. 2 GG. Anders ist der einzige etwas ausführlichere Passus des Gerichts bei der Prüfung des Art. 72 Abs. 2 GG nicht zu verstehen: Der Bundesgesetzgeber habe durch ___________ 29 30
Oeter, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 72 Rnr. 105. Stelkens, GewArch 2003, S. 187 (190).
1. Kapitel: Zuständigkeit des Bundes bis 2006
215
„weit reichende Ermächtigungen an die Bundesländer zur Schaffung von Ausnahmen selbst zum Ausdruck gebracht, daß er einheitliche rechtliche Regelungen für das gesamte Bundesgebiet nicht für geboten erachtet. Ein Erfordernis bundeseineinheitlicher Regelung hat sich auch nach der Novellierung im Jahre 1996 nicht gezeigt. Vielmehr sind die Ausnahmemöglichkeiten mit der erneuten Novellierung im Jahre 2003 noch erweitert worden.“31
Poschmann teilt die Auffassung des Gerichts.32 An dem Befund des Bundesverfassungsgerichts lassen sich aber durchaus Zweifel anbringen, da die ganz überwiegende Mehrzahl der festgelegten möglichen Öffnungszeiten dem Bundesladenschlußgesetz selbst entspringen. Ein Blick auf die Ermächtigungen für Bund und Länder belegt dies. Zwar gestattet das Ladenschlußgesetz insgesamt in elf Fällen den Ländern, spezielle Regelungen zu treffen oder Einzelakte vorzunehmen.33 Dem Bundesverordnungsgeber sind dagegen nur sieben Fälle vorbehalten.34 Letztere sind aber qualitativ in der Summe ebenso bedeutsam, wie die Festsetzung des Ladenschlusses an Flughäfen und Bahnhöfen oder die Öffnungszeiten für den Verkauf bestimmter Waren (Milch- und Backerzeugnisse, Früchte, Blumen, Zeitungen) belegen. ___________ 31
BVerfGE 111, 10 (28 f). Poschmann, NVwZ 2004, S. 1318 (1319). 33 Im Ladenschlußgesetz ermächtigt der Bund die Länder zu folgenden Regelungen: § 4 Abs. 2: Anordnung des Apothekennotdienstplanes. § 8 Abs. 2 a: Öffnung in Bahnhöfen werktags bis 22 Uhr in Städten über 200.000 Einwohnern. § 9 Abs. 3: Erweiterung des Warenkorbs, der über den Reisebedarf hinausgeht und während der Ladenschlußzeiten an internationalen Flug- und Fährhäfen verkauft werden kann. § 10 Abs. 1: Festlegung der touristischen Orte, in denen Verkaufsstellen an bis zu 40 Sonn- und Feiertagen acht Stunden öffnen dürfen. § 11: Festlegung, ob und welche Läden zur Zeit der Feldbestellung oder Ernte bis zu zwei Stunden an Sonn- und Feiertagen öffnen dürfen. § 12 Abs. 2 S. 3: Festlegung der Lage der vom Bundesverordnungsgeber bestimmten Öffnungszeiten an Sonn- und Feiertagen für den Verkauf bestimmter Waren (Milch- und Backerzeugnisse, Früchte, Blumen, Zeitungen). § 12 Abs. 2: Festlegung der Lage der Öffnungszeit für den Verkauf bestimmter Waren an Sonntagen. § 14 Abs. 1: Zulassung von höchstens vier Verkaufssonntagen oder -feiertagen mit einer Höchstverkaufsdauer von fünf Stunden. § 19 Abs. 1: Zulassung erweiterter Öffnungszeiten für Groß- und Wochenmärkte in den Grenzen der §§ 10 bis 15. § 20 Abs. 2 a: Zulassung des Feilhaltens von leicht verderblichen Waren und von Waren zum sofortigen Verzehr oder Gebrauch während der Ladenschlußzeiten. § 23 Abs. 1: Möglichkeit, ausnahmsweise Öffnung im Einzelfall im dringenden öffentlichen Interesse zuzulassen. 34 Folgende Ermächtigungen stehen dem Bundesverordnungsgeber im Ladenschlußgesetz zur Verfügung: § 1 Abs. 2: Festsetzung, welche Einrichtungen Verkaufsstellen sind. § 8 Abs. 2: Festsetzung des Ladenschlusses an Bahnhöfen. § 9 Abs. 2: Festsetzung des Ladenschlusses an Flughäfen. § 12 Abs. 1: Festlegung der Öffnungszeiten an Sonnund Feiertagen für den Verkauf bestimmter Waren (Milch- und Backerzeugnisse, Früchte, Blumen, Zeitungen). § 17 Abs. 7: Festlegung von weitergehenden Schutzvorschriften zugunsten der Arbeitnehmer bei ausnahmsweise zulässiger Sonn- und Feiertagsöffnung. § 20 Abs. 4: Festlegung von weiteren Schutzvorschriften zugunsten der Arbeitnehmer bei erweitertem gewerblichen Feilhalten. § 23 Abs. 2: Festlegung der näheren Voraussetzungen, unter denen Länder ausnahmsweise im Einzelfall die Öffnung im dringenden öffentlichen Interesse erlauben können. 32
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
Hält man sich vor Augen, daß die allgemeine Ladenschlußzeit nach dem Bundesladenschlußgesetz im Zeitpunkt des Urteils werktags lediglich von 20 Uhr abends bis 6 Uhr morgens dauerte, also Geschäfte pro Tag 14 Stunden, pro Woche 84 Stunden geöffnet haben durften, erscheinen die aufgezählten Ausnahmetatbestände alles andere als eine weitgehende Delegation des Bundesgesetzgebers an die Länder. Drei Ausnahmetatbestände zugunsten der Länder illustrieren dies beispielhaft: 1. § 14 BLadSchlG ermächtigt eine Landesregierung oder die von ihr bestimmte Stelle, per Rechtsverordnung bis zu vier verkaufsoffene Sonn- oder Feiertage zu ermöglichen, an denen die Ladenöffnung fünf zusammenhängende Stunden nicht überschreiten darf. Damit besteht die Möglichkeit, die jährliche Öffnungszeit um 20 Stunden zu verlängern. Die vier verkaufsoffenen Sonn- und Feiertage konnten damit die bis 2006 geltende durchschnittliche jährliche Öffnungszeit einer normalen Verkaufsstelle (4236 Stunden = 100 %) um lediglich 0,47 % steigern. 2. Die Möglichkeit, in Städten mit über 200.000 Einwohnern die Öffnungszeit von 6 bis 22 Uhr festzusetzen, § 8 Abs. 2 a BLadSchlG, verlängert die potentielle tägliche Öffnungszeit um zwei Stunden von 14 auf 16 Stunden. Setzt man 14 Stunden als Maßstab (= 100 %) an, stellt dies immerhin eine Erweiterung um 14,14 % dar (2/14). Sie betrifft aber nur 38 Städte mit über 200.000 Einwohnern, in denen auf Grundlage der Angaben des Statistischen Bundesamtes zum 31. Dezember 2002 etwa 19,6 Millionen Menschen lebten. Dies sind bei etwa 82,54 Millionen Einwohnern in Deutschland 23,7 %, also weniger als ein Viertel.35 3. Die für die Praxis bedeutsamste Regelung zugunsten der Länder vor der Verabschiedung eigener Ladenschlußgesetze stellte sicherlich die Ermächtigung in § 10 BLadSchlG dar, in touristischen Orten oder Ortsteilen an bis zu 40 Sonn- und Feiertagen den Ladenschluß für acht Stunden aufzuheben. Geht man von der oben errechneten durchschnittlichen Jahresöffnungszeit von 4236 Stunden nach dem Bundesladenschlußgesetz aus, dann stellt eine Erweiterung um 320 Stunden (40 x 8 Stunden) einen prozentualen Zuwachs von etwa 7,6 % dar.36 Insbesondere in touristisch geprägten Regionen ist den Landesregierungen damit ein wichtiges Gestaltungsmittel in die Hand gegeben. Nicht zu übersehen bleibt aber, daß in etlichen Bundesländern die touristischen Ziele im Verhältnis zur Gesamtzahl der Orte oder Ortsteile überschaubar sind.
Im Ergebnis muß daher die ohne nähere Ausführungen aufgestellte These des Bundesverfassungsgerichts bestritten werden, nach welcher der Bund durch die zahlreichen Ausnahmevorschriften selbst zu erkennen gegeben habe, daß er eine einheitliche Regelung für das gesamte Bundesgebiet nicht für geboten halte. Die Möglichkeiten, die der Bund in seinem Ladenschlußgesetz den Ländern eröffnet hat, können gerade als Ausdruck dafür gesehen werden, daß er den früher grundsätzlich nach Art. 72 Abs. 1 GG zuständigen Ländern noch einen Gestaltungsspielraum überlassen wollte. Ihm dies im Rahmen der Prüfung des Art. 72 Abs. 2 GG vorzuhalten, überzeugt nicht. ___________ 35 Vgl. zur Gesamtbevölkerungszahl und den Einwohnerzahlen der einzelnen Städte die Angaben in Statistisches Bundesamt, Jahrbuch 2004, S. 30 bis 35. 36 4236 Stunden = 100 %.
1. Kapitel: Zuständigkeit des Bundes bis 2006
217
Schließlich sieht Art. 72 Abs. 2 GG auch nicht vor, eine bundeseinheitliche Regelung für geboten zu erachten, sondern eine bundesgesetzliche. Damit stellt der Verfassungsgeber klar, daß der Bundesgesetzgeber auch Abweichungen für die regionale oder kommunale Ebene vorsehen kann. Die Regelung in § 10 BLadSchlG für touristische Orte ist gerade ein Musterbeispiel des Bundes, lokale Differenzierung zu ermöglichen.
4. Ergebnis Die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts im Ladenschlußurteil von 2004, eine bundesgesetzliche Regelung der Ladenschlußzeiten erfülle keines der Ziele des Art. 72 Abs. 2 GG, kann man zwar als vertretbar ansehen. Aufgrund der Kürze der Argumentation überzeugt aber das höchste Gericht in diesem Punkt nicht voll. Unterscheidet man nämlich zwischen dem Ladenschluß an Werktagen einerseits sowie demjenigen an Sonn- und Feiertagen andererseits, kann man für die letzteren das Merkmal der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in vertretbarer Weise als gegeben ansehen. Ob das Ladenschlußgesetz die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG a. F. (1994) erfüllte und damit eine Bundeskompetenz begründete, wurde vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts durchaus unterschiedlich beurteilt. Hufen zweifelte etwa daran, während Zmarzlik es zur Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse für erforderlich hielt.37 Nach dem Urteil hat sich Poschmann der Meinung des Bundesverfassungsgerichts angeschlossen.38
III. Rechtsfolgen nach Art. 125 a Abs. 2 GG Folgte man dem Bundesverfassungsgericht und sah die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG a. F. (1994) beim Ladenschlußgesetz als nicht erfüllt an, trat bis zur Grundgesetzänderung zum 1. September 2006 die besondere Rechtsfolge des Art. 125 a Abs. 2 GG ein. Zwar konnte man theoretisch auch an die Anwendbarkeit des aktuellen Art. 72 Abs. 4 GG (vor 2006 Absatz 3) denken; die Aufnahme eines Stichtags in Art. 125 a Abs. 2 GG spricht aber dafür, daß letzterer lex specialis für alle vor dem 15. November 1994 und auf Grundlage des Art. 72 Abs. 2 GG verabschie___________ 37
Hufen, Gutachten zu differenzierten Ladenschlußzeiten in Innenstadt- und Stadtrandlagen, 2000, S. 7 (unveröff.); Zmarzlik / Roggendorf, Ladenschlußgesetz, 1997, Einf. Rnr. 16. 38 Poschmann, NVwZ 2004, S. 1318 (1321).
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
deten Bundesgesetze wie dem Ladenschlußgesetz ist. Folgerichtig zog das Bundesverfassungsgericht im Verfahren zum Ladenschluß das Änderungsgesetz von 1996 als Prüfungsgegenstand heran. Für dieses Gesetz stellte es die Unvereinbarkeit mit Art. 72 Abs. 2 GG (1994) fest.39 Art. 125 a Abs. 2 GG vermeidet die Nichtigkeitsfolge, die bei mangelnder Gesetzgebungskompetenz nach den Art. 70 ff GG grundsätzlich einträte.40 Ein „Regelungsvakuum“ wird vermieden, und die Kontinuität der Geltung gewährleistet Rechtssicherheit. Die Weitergeltung erfolgt „als Bundesrecht“, also in derselben Weise wie zuvor; dann kann man im Anschluß an Lindner von einem Weitergeltungs- und Identitätsprinzip sprechen, auf dem Art. 125 a GG basiert.41 An dieser Stelle ist der Hinweis wichtig, daß das Ladenschlußgesetz zwischen dem 9. Juni 2004 als Tag der verfassungsgerichtlichen Entscheidung bis zum Inkrafttreten der Grundgesetzreform am 1. September 2006 aufgrund von Art. 125 a Abs. 2 GG fortgalt. Den Ländern war eine Änderung des Gesetzes untersagt, weil der Bund weder teilweise noch ganz den Ländern durch ein Freigabegesetz ermöglichte, eigene Gesetze zu erlassen.42
1. Keine Verpflichtung des Bundes zur Freigabe Der Bundesgesetzgeber war zwischen 2004 und 2006 auch nicht verpflichtet, das Ladenschlußgesetz zur Regelung durch die Länder freizugeben. Es bestanden keine tatsächlichen Umstände, die eine Ermessensreduktion auf Null herbeiführten. Zwar wurden und werden in der politischen Diskussion immer ___________ 39 BVerfGE 111, 10 (28); vgl. zum Änderungsgesetz BGBl. 1996 I, S. 1186. Damit verlängerte der Gesetzgeber die Ladenöffnung montags bis freitags bis 20 Uhr und samstags bis 16 Uhr. 40 Das Gebot für das BVerfG, verfassungswidrige Gesetze für nichtig zu erklären (§ 78 Abs. 1 und § 95 Abs. 3 S. 1 BVerfGG), deutet auf diese grundsätzliche Folge hin. Die Unterschiede zwischen Nichtigkeits- und Unvereinbarkeitserklärung durch das Bundesverfassungsgericht können hier nicht vertieft werden. 41 Lindner, NJW 2005, S. 399 (400) bezieht dies zwar auf Art. 125 a Abs. 2 GG, aber insoweit sind die Prinzipien auf Art. 125 a Abs. 1 GG übertragbar. 42 A. A. Lindner, NJW 2005, S. 399 (401), der eine Änderungskompetenz der Länder auch ohne Freigabegesetz allein aus Art. 125 a Abs. 2 GG annimmt. Damit würde aber Art. 31 GG umgangen, da das ändernde Landesrecht nach der Vorstellung Lindners das expressis verbis nach Art. 125 a Abs. 2 GG fortgeltende Bundesrecht verdrängen würde, ohne daß verfassungsrechtlich eine ausdrückliche Ausnahme vorgesehen ist. Eine Ausnahme zu Art. 31 GG bedarf aber, wie Art. 125 a Abs. 1 GG zeigt, einer ausdrücklichen Grundlage im GG. Gramm, AöR 124 (1999), S. 212 (230 in Fn. 82) und Rybak / Hofmann, NVwZ 1995, S. 230 (235) nehmen zu recht an, daß Art. 125 a Abs. 1 GG lex specialis und Ausnahme zu Art. 31 GG ist.
1. Kapitel: Zuständigkeit des Bundes bis 2006
219
wieder Stimmen laut, welche die Sinnhaftigkeit des Ladenschlußgesetzes in Frage stellen oder behaupten, es sei nicht mehr zeitgemäß.43 Allerdings wird ebenso die Meinung vertreten, daß das Ladenschlußgesetz einen angemessenen Ausgleich zwischen den Interessen der Verbraucher, der im Einzelhandel beschäftigten Arbeitnehmern und der großen und kleinen Ladeninhaber darstelle.44 Eine Ermessenreduktion auf Null wäre nur dann eingetreten, wenn eine bloße Modifikation des Bundesgesetzes aufgrund sachlicher Änderungen nicht mehr genügt oder der Bund aus politischen Gründen eine Neukonzeption für erforderlich gehalten hätte.45 Demgemäß wäre es nach der insoweit zutreffenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in beschränktem Umfang möglich gewesen, das Ladenschlußgesetz zwischen 2004 und 2006 zu ändern, um eine „Versteinerung“ des Gesetzes zu verhindern.46 Es spricht im Rahmen des Art. 125 a Abs. 2 GG allgemein ein sachliches Bedürfnis dafür, zumindest in beschränktem Umfang Modifikationen auch schon vor Freigabe durch den Bund zuzulassen. Den durchaus berechtigten Bedenken kann dadurch Rechnung getragen werden, daß die Grenzen der Änderungskompetenz eng gesteckt werden und daß sie justitiabel sind.47 Das Bundesverfassungsgericht setzt also mit seiner Auslegung des Art. 125 a Abs. 2 GG zu Recht eine Art Dynamikaxiom für die Gesetzgebung. Die Rechtslage muß jederzeit veränderbar sein, damit der Gesetzgeber auf neue tatsächliche Bedingungen angemessen reagieren kann. Diese Festlegung ist - neben der materiellen Prüfung des Ladenschlußgesetzes - für die Praxis eine Kernaussage des Urteils von 2004: Obwohl die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG nicht vorliegen, kann der Bund ein Bundesgesetz wie das Laden___________ 43
Vgl. etwa Hufen, JuS 2000, S. 197. In diese Richtung etwa Zmarzlik / Roggendorf, Ladenschlußgesetz, 1997, Einf. Rnr. 16; vgl. auch die Zusammenstellung der typischen Argumente der Befürworter eines Ladenschlusses bei Stober, Ladenschlußgesetz, 2000, Einf. Rnr. 79. 45 BVerfGE 111, 10 (31). 46 BVerfGE 111, 10 (30); a. A. Poschmann, NVwZ 2004, S. 1318 (1321), der weder den Ländern noch dem Bund eine Änderungskompetenz einräumt, da ungeschriebene Ausnahmen von der grundsätzlichen Länderzuständigkeit die Ausnahme bleiben müßten; Depenheuer, ZG 2005, S. 83 (90), hält Poschmanns Kritik insgesamt für plausibel und das Konzept des BVerfG für nicht voll überzeugend, aber bindend. 47 In diesem Sinne argumentiert auch Sommermann, Jura 1995, S. 393 (396), wenn er anhand der unterstellten Annahme der Extremposition veranschaulicht: Wenn der Bundesgesetzgeber uneingeschränkt das fortgeltende Bundesrecht i. S. d. Art. 125 a Abs. 2 GG ändern dürfte, könnte er die Regelungsdichte des bestehenden Gesetzes nach seinem Belieben erhöhen und somit eine durch expansive Kompetenzausübung des Bundes entstandene Schieflage verstärken. Dies würde Sinn und Zweck des Art. 125 a Abs. 2 GG i. V. m. Art. 72 Abs. 2 GG widersprechen. 44
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
schlußgesetz, das vor dem 15. November 1994 aufgrund einer konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz beschlossen wurde, ändern.48
2. Abschaffung des Sonntagsladenschlusses als Neukonzeption Da die Modifikationskompetenz eng auszulegen ist und die wesentlichen Elemente des fortgeltenden Bundesgesetzes beibehalten werden müssen, hätte der Bundesgesetzgeber im konkreten Fall den Ladenschluß an Sonn- und Feiertagen zwischen 2004 und dem 1. September 2006 nicht nur aus materieller,49 sondern auch aus kompetenzrechtlicher Sicht nicht abschaffen dürfen. Eine solche Abschaffung hätte eine grundlegende Neukonzeption dargestellt. Denn damit wären die letzten Tage, an denen der Ladenschluß grundsätzlich den ganzen Tag über gilt, freigegeben worden. Dies hätte qualitativ den Charakter des Ladenschlußgesetzes verändert. Die zahlreichen auf Sonntage bezogenen Ausnahmetatbestände50 wären überflüssig geworden und auch in der Außenwahrnehmung hätte sich wohl ein grundlegender Wechsel hin zu einer Sieben-Tage-Geschäftswoche vollzogen. Die einzige tatsächlich vorgenommene Änderung zwischen dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2004 und der Übertragung der Gesetzgebungskompetenz auf die Länder stellte sich als geringfügig und damit als verfassungsmäßig dar: Der Gesetzgeber hob im Jahr 2005 eine Regelung über die wettbewerbsrechtliche Zulässigkeit von Empfehlungen über Ladenöffnungszeiten auf, § 3 Abs. 2 BLadSchlG 2003.51 Er beseitigte damit eine Vorschrift die keinen direkten Einfluß auf die rechtliche Zulässigkeit der Ladenöffnung hatte.
IV. Ergebnis Die Länder hätten den Ladenschluß erst ändern oder neu konzipieren können, wenn der Bund dies durch Gesetz freigegeben hätte. Die Freigabe stand im Ermessen des Bundes. Dieses hätte sich unter gewissen, in der politischen Praxis zwischen Bund und Ländern möglicherweise umstrittenen Umständen auf Null reduzieren können. Dann hätte den Ländern ein Anspruch aus dem Prinzip ___________ 48
In diese Richtung auch Sachs, JuS 2004, S. 907 (910). Materiell-rechtlich wäre eine solche Angleichung ein Verstoß gegen Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV, vgl. oben 2. Teil, 3. Kapitel VI. 50 Vgl. § 4 Abs. 1, § 5, § 6 Abs. 2, § 8 Abs. 1, § 9 Abs. 1 S. 2, Abs. 3, § 10, § 11, § 12, § 14 und § 15 BLadSchlG. 51 BGBl. 2005 I, S. 1954. 49
2. Kapitel: Neuregelung der Gesetzgebungszuständigkeit 2006
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der Bundestreue i. V. m. dem Freigaberechtsverhältnis zwischen Bund und Ländern i. S. d. Art. 125 a Abs. 2 GG zugestanden. Solche Umstände lagen beim Ladenschlußgesetz aber vor dem 1. September 2006 nicht vor.
2. Kapitel
Neuregelung der Gesetzgebungszuständigkeit 2006 Die Gesetzgebungsorgane und die Bundesregierung als praktisch wichtigster Verfasser von Gesetzesentwürfen standen nach dem Ladenschlußurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Juni 2004 vor der Frage, ob sie die Gesetzgebungskompetenz für den Ladenschluß auf die Länder übertragen wollen oder nicht. Im Fall einer positiven Antwort bestanden theoretisch drei Möglichkeiten zur Umsetzung: Freigabegesetz i. S. d. Art. 125 a Abs. 2 GG,52 eine völlige Aufhebung des Ladenschlußgesetzes, so daß das Gesetzgebungsrecht der Länder nach den Prinzipien der konkurrierenden Gesetzgebung wieder aufleben würde, oder eine Änderung des Grundgesetzes. Wenn die Antwort dazu negativ ausgefallen wäre, hätte der Bund nichts weiter unternehmen müssen und das Ladenschlußgesetz des Bundes würde noch heute auf der Grundlage der Art. 125 a Abs. 2 GG fortgelten, ohne daß den Ländern irgendeine Gesetzgebungskompetenz zustehen würde. Der Bundesgesetzgeber war in der Beantwortung völlig frei, und es bestand entgegen tendenziell anderer Stimmen in der Literatur53 gerade keine Verpflichtung i. S. d. Art. 125 a Abs. 2 GG, da eine Reduzierung des Freigabeermessens nicht feststellbar war. Der Verfassungsgeber hat sich für die weitgehendste Möglichkeit entschieden, das Grundgesetz geändert und die Kompetenz für den Ladenschluß ausdrücklich dem Bund entzogen. Wie es dazu kam und welche Konsequenzen sich daraus ergeben, soll im Folgenden vertieft werden.
___________ 52 Kurz nach dem Urteil des BVerfG im Juni 2004 hatte der Bundesrat einen Gesetzentwurf beschlossen, der die völlige Freigabe des Ladenschlußgesetzes durch den Bund in Form eines neuen § 29 BLadSchlG vorsah, vgl. BR-Drs. 526/04 v. 24. September 2004. Zu einem entsprechenden Gesetzentwurf der FDP-Fraktion im Bundestag v. 19. April 2005 s. BT-Drs. 15/5370. 53 Schönleiter, GewArch 2006, S. 371 (372) meint - offenbar verkürzend -, das Bundesverfassungsgericht habe „vorgegeben, daß künftig die Länder die Ladenschlußzeiten für ihr Gebiet regeln.“
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
I. Entwicklung und Beratungen der Grundgesetzänderung Die Übertragung der Gesetzgebungskompetenz für den Ladenschluß auf die Länder war eingebettet in die umfassende Föderalismusreform, welche die Grundgesetzänderung vom 28. August 2006 darstellt.54 Diese Änderung trat am 1. September 2006 in Kraft. Die Reform hat eine mehrjährige Vorgeschichte, da die Ministerpräsidenten bereits im Dezember 1998 vereinbarten, die bundesstaatliche Aufgaben-, Ausgaben- und Einnahmeverteilung einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Im Oktober 2001 beschlossen sie, Verhandlungen mit dem Bund über die Reform des Bundesstaates aufzunehmen. In diesem Sinne vereinbarten die Ministerpräsidenten und der Bundeskanzler am 20. Dezember 2001, auf Regierungsebene die Reform des Bundesstaates zu beraten.55 Zur Durchführung und Vorbereitung der Verhandlungen setzten die Regierungen von Bund und Ländern einen Lenkungsausschuß „Föderalismusreform“ ein, dem die beiden Arbeitsgruppen „innerstaatliche Kompetenzordnung“ und „Finanzen“ zuarbeiteten. Aus der Rückschau läßt sich festhalten, daß die erstgenannte Gruppe wertvolle Vorarbeiten erbracht hat, die in die Grundgesetzänderung vom 28. August 2006 eingeflossen sind,56 während eine grundlegende Reform der Finanzverfassung noch aussteht und seit März 2007 von Bundestag und Bundesrat beraten wird („Föderalismuskommission II“).57 Zur innerstaatlichen Kompetenzordnung legte die Bund-LänderArbeitsgruppe im Dezember 2002 einen Bericht vor, in dem sie den Bestand aufnahm und Probleme beschrieb. Aufgrund divergierender Haltungen zwischen Bund und Ländern enthielt dieses Dokument aber noch keinen konsentierten Text zur Grundgesetzänderung. Es behandelte vielmehr einige Materien wie das Versammlungsrecht oder das Notariatswesen, bei denen eine Übertragung der Gesetzgebungskompetenz auf die Länder in Betracht kam. Das hier interessierende Ladenschlußrecht war nicht enthalten.58 ___________ 54
Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 28. August 2006, BGBl. I, S. 2034. Vgl. Deutscher Bundestag, Kommission, 2005, S. 15; Maiwald, Grundgesetz, 2006, S. VIII. Die Vereinbarung trafen die Regierungschefs von Bund und Ländern im Rahmen eines ihrer jeweils halbjährigen Treffen. 56 So auch die Wertung von Maiwald, Grundgesetz, 2006, S. IX. 57 Im politischen Raum ist die Grundgesetzreform v. 28. August 2006 auch als „Föderalismusreform I“, die noch ausstehende Reform der Finanz- und der Verwaltungsbeziehungen als „Föderalismusreform II“ bezeichnet worden. Für letztere setzten Bundestag und Bundesrat mit Beschlüssen v. 15. Dezember 2006 erneut eine Kommission ein (BT-Drs. 16/3885 und BR-Drs. 913/06), die ihre Arbeit im März 2007 aufnahm. 58 Bericht ist veröffentlicht in: Deutscher Bundestag, Kommission, 2005, in beigefügter CD-ROM Zusatzmaterial / Arbeitsunterlagen / AU 2. 55
2. Kapitel: Neuregelung der Gesetzgebungszuständigkeit 2006
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Ursprüngliches Ziel der Regierungsverhandlungen war es, die Arbeiten bis Ende 2003 abzuschließen und die Reform bis Ende 2004 umzusetzen. Noch vor Erfüllung dieses Zeitplans zogen jedoch die für die Verfassungsänderung zuständigen Organe die Sache an sich: Bundestag und Bundesrat setzten durch gleichlautende Beschlüsse im Oktober 2003 die „Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“ (Föderalismuskommission) ein.59 Die genauen Hintergründe für diese Neustrukturierung sind zwar nicht ersichtlich, aber womöglich verfügten die zuvor für die Regierungen handelnden Akteure nicht über ein ausreichendes politisches Mandat für die Verhandlungen. Die Kommission konnte auf die Vorarbeiten der Regierungsverhandlungen zwischen Bund und Ländern zurückgreifen. Dies wurde dadurch sichergestellt, daß die bereits zuvor involvierten Bundes- und Landesministerien über die (beratenden) Mitglieder der Kommission weiterhin an den Beratungen teilnehmen konnten.
1. Politische Beratungen zum Ladenschluß bis Ende 2004 Da die Föderalismuskommission im Vorfeld der Grundgesetzänderung von 2006 die entscheidenden Aspekte beriet, aus denen heraus der Verfassungsgeber letztlich das Ladenschlußrecht auf die Länder übertrug, sind ihre Beratungen Teil der Entstehungsgeschichte des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG n. F. Ein vertiefter Blick auf ihre Arbeit lohnt daher. Die Kommission konnte sich aufgrund ihrer politischen Zusammensetzung in größerer Offenheit den Themen der Föderalismusreform zuwenden, als es zuvor während der Regierungsverhandlungen den Mitarbeitern der Bundesund Landesministerien möglich war: 16 Mitglieder des Bundestages sowie die 16 Regierungschefs der Länder waren stimmberechtigte Mitglieder, während die Bundesregierung nicht mehr die Verhandlungen führte, sondern nur noch vier beratende Mitglieder entsandte. Die Kommission hatte zudem gegenüber den vorherigen Regierungsverhandlungen den Vorteil, daß sie in Miniatur die Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat in etwa abbildete.60 Es verwundert daher nicht, daß die heutige Formulierung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG wie viele andere neu gefaßte Grundgesetzartikel auf ein letztlich nicht ver___________ 59 BT-Drs. 15/1685 und BR-Drs. 750/03; abgedruckt in Deutscher Bundestag, Kommission, 2005, S. 17. 60 Neben den 16 Ministerpräsidenten gehörten der Kommission acht SPD-, sechs CDU/CSU-Bundestagsabgeordnete sowie jeweils ein Abgeordneter der FDP und von Bündnis 90/ Die Grünen an, vgl. Deutscher Bundestag, Kommission, 2005, S. 20 ff. Den strukturellen Vorteil der Föderalismuskommission gegenüber den vorherigen Regierungsverhandlungen übersieht Fischdick, Reform des föderalen Systems, 2005, S. 19, bei seiner Würdigung der Rolle der Bundesregierung.
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
abschiedetes Kompromißpapier der beiden Vorsitzenden der Föderalismuskommission, Edmund Stoiber und Franz Müntefering, vom 13. Dezember 2004 zurückgeht.61 Aufgabe der Kommission war es nach dem Einsetzungsbeschluß, Vorschläge im Jahr 2004 vorzulegen. Insgesamt standen also nur etwa 14 Monate für die Beratungen zur Verfügung. Die Kommission setzte im November 2003 nach Vorbild der beendeten Regierungsverhandlungen die Arbeitsgruppen „Gesetzgebungskompetenzen und Mitwirkungsrechte“ (Arbeitsgruppe 1) und „Finanzbeziehungen“ (Arbeitsgruppe 2) ein, um ihre Arbeit zu strukturieren. Die Mitglieder der Föderalismuskommission verteilten sich auf diese beiden Gruppen. Im Mai 2004 beschloß die Kommission, sieben Projektgruppen zu ausgewählten Themen einzusetzen, um den ehrgeizigen Zeitplan einhalten zu können. Prinzip aller dieser Gruppen war stets die politische Besetzung mit Kommissionsmitgliedern. In der Arbeitsgruppe 1 war neben der Reduzierung der Zustimmungstatbestände für Bundesgesetze von Beginn an zentrales Thema, die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern nach den Art. 72 ff GG zu reformieren. Aufgrund der Vorarbeiten bei den Regierungsverhandlungen konnten die Beratungen zügig auf Grundlage konkreter Vorschläge erfolgen. Zu Beginn der Arbeiten der Kommission schlugen Berlin und BadenWürttemberg in einem gemeinsamen Schreiben vom 20. Januar 2004 erstmals vor, den Bereich des Ladenschlusses auf die Länder zu übertragen. Sie formulierten in einer umfassenden Diskussionsgrundlage für die Klausurtagung der Kommission am 22./ 23. Januar 2004 zu allen Bereichen der Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern erste inhaltliche Punkte sowie eine grobe Zuordnung der Zuständigkeiten.62 Damit war bereits der Anstoß gegeben, den Ladenschluß aus dem Recht der Wirtschaft nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG herauszulösen. Dieser Vorschlag schlug sich über zwei Jahr später in der Grundgesetzänderung vom 28. August 2006 nieder. Das gemeinsame Schreiben vom 20. Januar 2004 dürfte der erste und ein durchaus wichtiger Impuls gewesen sein, die Gesetzgebungskompetenz für den Ladenschluß auf die Länder zu übertragen. Es ist nicht ersichtlich, daß der Ladenschluß vor dem 20. Januar 2004 bei den politischen Diskussionen um die
___________ 61 Vgl. den Vorentwurf v. 13. Dezember 2004 der beiden Vorsitzenden vor der vermeintlich abschließenden Beratung, Deutscher Bundestag, Kommission, 2005, S. 452. 62 Schreiben des Chefs der Staatskanzlei Baden-Württemberg und des Chefs der Senatskanzlei Berlin an die Mitglieder und Gäste der Kommission v. 20. Januar 2004, S. 5, vgl. Deutscher Bundestag, Kommission, 2005, Anlage CD-Rom Zusatzmaterial / Arbeitsunterlagen/ AU 15.
2. Kapitel: Neuregelung der Gesetzgebungszuständigkeit 2006
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Föderalismusreform ins Visier genommen wurde.63 Allerdings dürfte rechtspolitisch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Juni 2004 noch schwerer wiegen, da sie den Ländern ein mit hoher Aussageautorität ausgestattetes Argument für ihr Anliegen lieferte. Die Arbeitsgruppe 1 behandelte den Ladenschluß in ihrer Sitzung am 1. April 2004, also noch vor dem Bundesverfassungsgerichtsurteil, als es um den Kompetenzbereich zum „Recht der Wirtschaft“ ging. Die Diskussion fokussierte sich laut den Sitzungsprotokollen nicht etwa nacheinander auf die verschiedenen Sachbereiche, sondern global auf alle denkbaren Bereiche des Wirtschaftsrechts, die für eine Übertragung auf die Länder in Betracht kamen, also etwa auch auf Gaststättenrecht, Bergbau, Schornsteinfegerrecht, allgemeines Gewerberecht und vor allem die strittigen Bereiche des Handwerksrecht und der beruflichen Bildung.64 Die das Wort ergreifenden Ländervertreter sahen ebenso wie einige Sachverständige das Ladenschlußrecht stets als Materie an, das auf die Länder übertragen werden könnte. Nach den Sitzungsunterlagen läßt sich niemand ausmachen, der ausdrücklich für einen Verbleib beim Bund plädierte, allerdings ließ auch kein Bundespolitiker der damaligen Regierungsfraktionen oder der Bundesregierung zu diesem Zeitpunkt Sympathie für den Länderwunsch erkennen.65 Die Länder unterstrichen ihr Petitum zum Ladenschluß, indem die Ministerpräsidenten und damit 16 Mitglieder der Kommission selbst in einem umfangreichen Positionspapier zur Bundesstaatsreform vom 6. Mai 2004 für stärkere Gestaltungsmöglichkeiten der Länder u. a. bei der Ladenöffnung eintraten. Als Form schlugen sie eine Vollübertragung oder ein Zugriffsrecht vor.66 Die Kommissionsmitglieder aus dem Bundestag, insbesondere den Regierungsfraktionen, und die Bundesregierung gingen allerdings noch nicht auf die Forderungen der Länder ein. Vielmehr hatte der damals für den Ladenschluß zuständige Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit Clement im Rahmen einer ___________ 63 Vgl. auch die Synopse der Länder Baden-Württemberg und Berlin v. 6. Januar 2004, welche die erwähnten Vorarbeiten der Bund-Länder-Gespräche, Vorschläge und Positionen der Ministerpräsidentenkonferenz, der Bundesregierung, der Landtagskonferenz und der Kommissionssachverständigen zusammenfaßt: Dort ist vom Ladenschluß noch nicht die Rede, vgl. Deutscher Bundestag, Kommission, 2005, Anlage CD-Rom Dokumentation / Zusatzmaterial / Arbeitsunterlagen / AU 4, insb. dort S. 12 zu Art. 74 GG. 64 Vgl. die Zusammenfassung der Beratungen Deutscher Bundestag, Kommission, 2005, S. 444 bis 452. 65 Vgl. insb. das Protokoll der 4. Sitzung der Arbeitsgruppe 1 der Föderalismuskommission am 1. April 2004, in: Deutscher Bundestag, Kommission, 2005, Anlage CDRom Zusatzmaterial / 08 Protokollvermerke der AG 1 / 4. Sitzung, S. 21 bis 26. 66 Deutscher Bundestag, Kommission, 2005, Anlage CD-Rom Dokumentation / Zusatzmaterial / Kommissionsdrucksache 45, S. 7 f.
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
Initiative zum Bürokratieabbau Ende April 2004 noch Pläne vorgestellt, das (Bundes-) Ladenschlußgesetz zu ändern und die Ladenöffnungszeiten zu erweitern. Es existierten jedoch zumindest nach Pressemeldungen unterschiedliche Meinungen innerhalb der Bundesregierung, so daß sie von einer konkreten Gesetzesinitiative absah.67 Zu diesem Zeitpunkt gab es keinerlei Indizien auf ein Einschwenken des Bundes zugunsten der Länder. Bewegung in diese Situation brachte das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil zum Ladenschluß vom 9. Juni 2004. Diese Entscheidung gab den Befürwortern einer Regionalisierung des Ladenschlusses Auftrieb, da das Bundesverfassungsgericht die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG 1994 als nicht mehr erfüllt ansah und das Ladenschlußgesetz „nur“ noch auf Grundlage der Übergangsvorschrift des Art. 125 a Abs. 2 GG als Bundesrecht fortgalt. Nach dem Urteil erfolgte die politische Debatte zunehmend im öffentlichen Raum. Bundesminister Clement schlug bereits kurz nach der Verkündung in Karlsruhe vor, die Frage der künftigen Gesetzgebungskompetenz für den Ladenschluß in der Föderalismuskommission zu verhandeln.68 Die erwähnten ersten Beratungen der Kommission zum Ladenschluß vom April 2004 wurden nunmehr ergänzt durch Initiativen in den gesetzgebenden Bundesorganen: Der Bundesrat brachte den Entwurf eines Gesetzes ein, mit dem der Bund die Regelung des Ladenschlusses für die Länder i. S. d. Art. 125 a Abs. 2 GG freigegeben sollte. In dieselbe Richtung ging ein Entschließungsantrag der FDPBundestagsfraktion,69 der zur Bundestagsdebatte am 1. Oktober 2004 führte. Während die Redner der Regierungsfraktionen SPD und Bündnis 90/ Die Grünen vorschlugen, die künftigen Gesetzgebungskompetenzen in der Föderalismuskommission zu erörtern, sprachen sich der Vertreter der FDP deutlich, der Abgeordnete der CDU/CSU mittelbar dagegen aus, die Frage in dieser Kommission zu verhandeln.70 Die Bundestagsdebatte spiegelte aber bereits nicht mehr den aktuellen Beratungsstand in der Föderalismuskommission wieder: Längst war dort eine Übertragung des Ladenschlusses auf die Länder thematisiert und von allen Seiten als möglich erachtet worden. Denn die zuvor zögernde Bundesregierung hatte am 17. September 2004 in der Projektgruppe 5 der Föderalismuskommission eine Verlagerung des Ladenschlusses auf die Länder als möglich bezeichnet.71
___________ 67
Vgl. FAZ v. 10. Mai 2004, S. 13, sowie v. 13. Mai, S.11. Vgl. FAZ v. 11. Juni 2004, S. 13. 69 BR-Drs. 526/04 v. 24. September 2004 sowie BT-Drs. 15/3359 v. 17. Juni 2004. 70 BT-Plenarprotokoll 15/130, S. 11920 f und 11923 f. 71 Deutscher Bundestag, Kommission, 2005, Anlage CD-Rom Dokumentation / Zusatzmaterial / Ergebnisvermerk der Projektgruppen/ PG 5 / 5. Sitzung, S. 4. 68
2. Kapitel: Neuregelung der Gesetzgebungszuständigkeit 2006
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Die wichtigsten Beratungen zum Ladenschluß fanden innerhalb der Föderalismuskommission in der Projektgruppe 5 „Mögliche Gesetzgebungskompetenzen mit regionaler Bedeutung“ statt. Die im Mai 2004 eingesetzten sieben Projektgruppen hatten den Auftrag, Vorschläge zu unterbreiten, auf deren Grundlage Änderungen am Grundgesetz formuliert werden konnten, oder sogar selbst bereits Textvorschläge abzufassen.72 Die erste Projektgruppensitzung fand erst nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts statt. Zunächst konkretisierten die Länder ihre Position zum Recht der Wirtschaft in einem schriftlichen Beitrag vom 24. Juni 2004 und schlugen bereits eine dem heute geltenden Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG sehr ähnliche Formulierung vor.73 Das federführende Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit entgegnete in einer Stellungnahme mit einem Verweis auf die Konsequenzen des Urteils aus Karlsruhe: Das derzeit geltende Ladenschlußgesetz sei verfassungsgemäß. Eine Neukonzeption obliege künftig den Ländern. Zumindest ausdrücklich lehnte das Bundesministerium das Anliegen der Länder also im Gegensatz zu anderen Bereichen wie dem Gewerberecht oder der außerschulischen Bildung nicht ab.74 In der Projektgruppe 5 bewegte sich dann die Bundesseite wie oben beschrieben in der Sitzung am 17. September 2004. Folglich konnte ihr Sprecher, Staatssekretär Böhmler, in der anschließenden Sitzung der Projektgruppe am 29. September und als Berichterstatter in der Sitzung der Arbeitsgruppe 1 am 30. September 2004 den Ladenschluß als einen Bereich darstellen, bei dem Bund und Länder im Einklang einer Übertragung zustimmen könnten.75 Der baden-württembergische Ministerpräsident Teufel stellte dieses Ergebnis im Plenum der Föderalismuskommission am 14. Oktober 2004 vor; es blieb die einzige Erwähnung des Ladenschlusses in dieser Sitzung, und Widerspruch erhob sich dagegen nicht mehr.76 Folgerichtig schlugen schließlich die beiden Vorsitzenden im Entwurf ihres Kompromißpapiers vom 13. Dezember 2004 eine Verlagerung der Kompetenz
___________ 72
Deutscher Bundestag, Kommission, 2005, S.36. Deutscher Bundestag, Kommission, 2005, Anlage CD-Rom Dokumentation / Zusatzmaterial / Projektgruppenarbeitsunterlagen/ PG 5 / PAU 5-0008, S. 4. Der Vorschlag lautete: “Nr. 11. das Recht der Wirtschaft (....) mit Ausnahme des Rechts...des Ladenschlusses“. 74 Deutscher Bundestag, Kommission, 2005, Anlage CD-Rom Dokumentation / Zusatzmaterial / Protokollvermerke der AG 1 / 7. Sitzung, S. 85. 75 Deutscher Bundestag, Kommission, 2005, Anlage CD-Rom Dokumentation / Zusatzmaterial / Protokollvermerke der AG 1 / 7. Sitzung, S. 22. 76 Vgl. Deutscher Bundestag, Kommission, 2005, Anlage CD-Rom Dokumentation / Zusatzmaterial / Stenografische Protokolle / 9. Sitzung, S. 231. 73
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
für das Ladenschlußrecht auf die Länder vor.77 Danach sollte Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG wie folgt ergänzt werden: „Die konkurrierende Gesetzgebung erstreckt sich auf folgende Gebiete: ... 11. Das Recht der Wirtschaft ... ohne das Recht des Ladenschlusses...“78
Dieser Punkt war zwischen den Teilnehmern der Föderalismuskommission nicht mehr streitig. Da es aber in einigen Bereichen wie etwa Hochschulrecht, Bildungsplanung und Umweltrahmenrecht keine Einigkeit gab, war ein mehrheitsfähiger Vorschlag der Föderalismuskommission bei ihrer letzten Sitzung am 17. Dezember 2004 nicht erzielbar.79 Formal erklärte die Kommission ihre Arbeit daher für beendet. Statt ein konkretes Ergebnis an Bundestag und Bundesrat zu übermitteln, veröffentlichte und dokumentierte sie ihre umfangreichen Arbeiten.80 Der Kompromißvorschlag der Vorsitzenden vom 13. Dezember 2004 fand aber weitgehend Eingang in den Koalitionsvertrag, den CDU, CSU und SPD auf Bundesebene am 18. November 2005 schlossen. Im Rahmen ihrer Verabredung zu einer Föderalismusreform fügten sie dem Koalitionsvertrag als Anlage den ausformulierten Text einer Grundgesetzänderung bei.81 Den hier interessierenden Vorschlag der Föderalismuskommission zu Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG übernahmen die Koalitionspartner unverändert in diesen Text, so daß sich damit zumindest die großen Parteien politisch einigten.
2. Vom politischen Konsens bis zur Gesetzesverkündung Allerdings war die beabsichtigte Übertragung der Gesetzgebungskompetenz für den Ladenschluß auf die Länder nicht die einzige Aussage zum Ladenschluß im Koalitionsvertrag. An anderer Stelle findet sich unter der eigentümlich anmutenden Überschrift „Umsetzung der EU-Arbeitszeitrichtlinie“ der hier besonderes interessierende Passus: „Es wird gesetzlich festgelegt, daß Einzelhandelsgeschäfte höchstens an vier Sonntagen im Jahr geöffnet haben.“82
___________ 77
Vgl. den Vorentwurf v. 13. Dezember 2004 der beiden Vorsitzenden der Föderalismuskommission vor der vermeintlich abschließenden Beratung, Deutscher Bundestag, Kommission, 2005, S. 452. 78 Vgl. Schmidt-Jortzig, ZG 2005, S. 16 (24 f). 79 Vgl. Einzelheiten bei Maiwald, Grundgesetz, 2006, S. IX. 80 Vgl. Deutscher Bundestag, Kommission, 2005, Anlage CD-Rom Dokumentation / Zusatzmaterial / Stenografische Protokolle / 11. Sitzung, S. 282. 81 CDU, CSU und SPD, Koalitionsvertrag, 2005, S. 109, 168 und 184. 82 CDU, CSU und SPD, Koalitionsvertrag, 2005, S. 38.
2. Kapitel: Neuregelung der Gesetzgebungszuständigkeit 2006
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Da es sich um eine Koalition auf Bundesebene handelt, konnte diese Passage nur so verstanden werden, daß diese Regelung in einem Bundesgesetz, also etwa im Ladenschlußgesetz oder im Arbeitszeitgesetz getroffen werden sollte. Damit entstand zumindest politisch das Problem, daß sich zwei Aussagen im Koalitionsvertrag widersprechen. Denn wie hätte der Bund noch rechtssicher die Beschränkung auf vier verkaufsoffene Sonntagen regeln sollen, wenn er die Gesetzgebungskompetenz für den Ladenschluß auf die Länder überträgt? Daher begannen im Hintergrund Überlegungen, wie man diesen Widerspruch auflösen könnte. Eine Möglichkeit hätte darin bestanden, den Ländern nur die Kompetenz für den Ladenschluß an Werktagen zu übertragen und dies in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG in klarzustellen: „Das Recht der Wirtschaft....ohne das Recht des Ladenschlusses an Werktagen.“
Diese sicherste Variante zugunsten des Sonntagsschutzes verfolgte man allerdings nicht, hätte man doch damit den Text der Grundgesetzänderung, über den politisch Einvernehmen herrschte, zu Lasten der Länder modifizieren müssen. Weitere Überlegungen gab es etwa von der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, die vorschlug, eine entsprechende Regelung in Arbeitszeitgesetz aufzunehmen.83 Weder die Bundesregierung noch die gesetzgebenden Organe griffen diesen Vorschlag auf. Eine Bund-Länder-Redaktionsgruppe erarbeitete auf Basis der Einigung im Koalitionsvertrag zur Grundgesetzänderung zwei Gesetzentwürfe: einen zur Änderung des Grundgesetzes sowie einen zu einem Begleitgesetz. Das Gesetzgebungsverfahren führten Bundestag und Bundesrat in einer kaum zu überbietenden Eile durch: Die Regierungsfraktionen sowie die Länder brachten jeweils identische Entwürfe zeitgleich am 7. März 2006 ins Verfahren ein.84 Der Bundestag verabschiedete das Gesetz am 30. Juni 2006 und der Bundesrat am 30. Juli 2006. Zur Verfahrensbeschleunigung hörte man 105 Sachverständige in gemeinsamen Sitzungen von Bundestag und Bundesrat an. Zwar kam es noch zu einigen Änderungen des ursprünglichen Gesetzentwurfs, nicht jedoch beim Ladenschluß. Dieses schriftlich dokumentierte Verfahren läßt aber außer acht, daß der Ladenschluß und seine künftige Regelung durchaus Thema in Hintergrundgesprächen war. Es ist erstaunlich, daß die Frage der künftigen Zuständigkeit für den Ladenschluß offensichtlich kaum Parlamentarier interessierte; denn dieses Rechtsgebiet betrifft im Lebensalltag deutlich mehr Bürger in ihrer Rolle als ___________ 83
Vgl. www.verdi.de/positionen/foederalismusreform/data/verdi-fedref-060508 dort S. 14. 84 BT-Drs. 16/813 und BR-Drs. 178/06 jeweils v. 7. März 2006. Vgl. zu Einzelheiten des Verfahrens Maiwald, Grundgesetz, 2006, S. IX f.
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
Verbraucher, als dies bei den politisch heftiger umstrittenen Themen wie Strafvollzug, Heimrecht oder Hochschulfinanzierung der Fall war.
II. Ladenschluß als neuer Verfassungsbegriff Mit der am 1. September 2006 in Kraft getretenen Änderung hat erstmals das Wort „Ladenschluß“ Einzug in das Grundgesetz gehalten. Die Auslegung dieses Begriffs ist vor allem für die Frage von Bedeutung, ob er auch die Arbeitszeit an Sonn- und Feiertagen in Verkaufsstellen mit umfaßt und wie weit die neue Kompetenz der Länder reicht. Bereits wenige Monate nach dem Inkrafttreten der Grundgesetzänderung zeigt sich, daß die Reichweite der Gesetzgebungskompetenz der Länder ein zentrales Problem darstellt.85 Bei der Grundgesetzänderung bediente sich der Verfassungsgeber einer Technik, die er 1994 erstmals in Art. 74 GG verwendet hatte, als er das „Recht der Erschließungsbeiträge“ von der Bundeskompetenz für das Bodenrecht ausnahm.86 Er beschreibt nicht mehr positiv die (konkurrierende) Kompetenz des Bundes, sondern schließt bestimmte Gebiete ex negativo von einer Bundeskompetenz aus: „Das Recht der Wirtschaft (Bergbau, Industrie, Energiewirtschaft...) ohne das Recht des Ladenschlusses, der Gaststätten,...“
Damit wird im Umkehrschluß klargestellt, daß für das Ladenschlußrecht der Grundsatz des Art. 70 GG gilt und die Länder zuständig sind. Man kann diese Festlegung regelungstechnisch als „mittelbare Residualkompetenz“ bezeichnen. Als Residualkompetenz läßt sich im allgemeinen eine Kompetenz beschreiben, die in einem Mehrebenensystem bei der Ebene angesiedelt wird, die grundsätzlich zuständig ist. Es geht um den Rest an Kompetenzen, welcher der grundsätzlich zuständigen Ebene verbleibt.87 Beispiele sind etwa das Verhältnis zwischen Bund und Ländern nach dem Grundgesetz und das Verhältnis zwischen den Europäischen Gemeinschaften / der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten. In diesen Verhältnissen sind Kompetenzen, ___________ 85 Vgl. erste Stellungnahmen dazu bei Kämmerer / Thüsing, GewArch 2006, S. 266; Kingreen / Pieroth, NVwZ 2006, S. 1221. 86 Vgl. den seitdem gültigen Art. 74 Abs. 1 Nr. 18 GG, s. BGBl. I 1994, S. 3146. 87 Vgl. Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 2006, Art. 70 Rnr. 1, der den „unbenannten Rest als Residual-Kompetenz“ bezeichnet. Es besteht aber keine Notwendigkeit, nur den unbenannten Rest zu erfassen, auch der benannte Rest ist nach dem hier zugrundegelegten Verständnis erfaßt. Vgl. auch Heintzen, DVBl. 1997, S. 689, der das Verständnis von der Bund-Länder-Kompetenzverteilung nach dem Prinzip „nach der Grundregel die Länder, es sei denn ausdrücklich der Bund“ als Lehre von der Residualkompetenz darstellt, die er aber nicht teilt.
2. Kapitel: Neuregelung der Gesetzgebungszuständigkeit 2006
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die den Ländern bzw. den Mitgliedstaaten obliegen, Residualkompetenzen.88 Da Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG i. V. m. Art. 70 GG regelt, daß die Länder ausschließlich für das Recht des Ladenschlusses zuständig sind, kann man diese Festlegung als Residualkompetenz definieren. Mittelbar ist sie deshalb, weil Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes regelt und gerade nicht wie etwa Art 105 Abs. 2 a GG die Kompetenz der Länder. Die Änderung vom 28. August 2006 hat zahlreiche solcher mittelbaren Residualkompetenzen ins Grundgesetz eingefügt.89 Unabhängig von der Regelungstechnik lassen sich aus dem Bedeutungsgehalt des neuen Verfassungsbegriffs Ladenschluß Folgerungen ziehen, inwieweit die Länder den Inhabern von Verkaufsstellen deren Öffnung und die Beschäftigung von Arbeitnehmern ermöglichen können. Schließlich ist die Fortgeltung des Bundesladenschlußgesetzes nach Art. 125 a GG und die Bundeskompetenz für arbeitszeitrechtliche Normen von Interesse, die sich auf Beschäftigte in Verkaufsstellen beziehen. Bei der Auslegung der einzelnen Kompetenztitel der Art. 73 ff GG spielen ihre Entstehungsgeschichte und ihr historisches Verständnis neben den übrigen Auslegungsmethoden eine bedeutende Rolle.90 Dies hat seinen Grund zum einen in der Tatsache, daß zahlreiche Zuständigkeitsregelungen der Art. 73 und Art. 74 GG bereits in vorherigen deutschen Verfassungen, insbesondere der Weimarer Reichsverfassung, enthalten waren.91 Zum anderen unterscheiden sich die einzelnen Kompetenztitel in ihrer Struktur, teilweise sind sie sachgebietsbezogen, teilweise funktional ausgerichtet.92 Eine Orientierung am historischen Verständnis erleichtert gerade bei dem kasuistisch gestalteten Katalog des Art. 74 Abs. 1 GG die Abgrenzung der Zuständigkeitsbestimmungen voneinander. Offen läßt der Verfassungsgeber, ob der gesamte Normgehalt des Ladenschlußgesetzes unter den verfassungsrechtlichen Begriff des Ladenschlusses fällt, also auch die arbeitszeitrechtliche Regelung in § 17 BLadSchlG. Wäre ___________ 88
Gerade bei der Debatte um eine bessere Kompetenzabgrenzung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten im Konvent zur Zukunft der EU spielte der Begriff der Residualkompetenz etwa bei Diskussionen der Bundesregierung eine Rolle, da es um Regelungen im EU-Verfassungsvertrag ging, welche ausdrücklich die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten festschreiben: Vgl. etwa Art. III – 267 Abs. 5 EU-VV, der den Mitgliedstaaten vorbehält festzulegen, wie viele Drittstaatsangehörige aus Drittstaaten in ihr Hoheitsgebiet einreisen dürfen, um dort als Arbeitnehmer oder Selbständige Arbeit zu suchen. 89 Vgl. etwa die neuen Art. 72 Abs. 3 Nr. 1, 2, 5 und Art. 74 Abs. 1 Nr. 1, 7, 17, 24. 90 BVerfGE 7, 29 (49); 36, 193 (203 und 206); 61, 149 (174 f); Oeter, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 73 vor Rnr. 1, Art. 74 Rnr. 3. 91 Vgl. Oeter, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, 73 vor Rnr. 1, Art. 74 Rnr. 1. 92 Stettner, in: Dreier, GG, 2006, Art. 74 Rnr. 14.
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
dies der Fall, könnten die Länder ohne weiteres arbeitsrechtliche Regelungen in ihren Ladenschlußgesetzen treffen. Allerdings sprechen im Ergebnis die überzeugenderen Argumente gegen ein solches Verständnis, wie nun näher ausgeführt wird. Ladenschluß i. S. d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG ist eng auszulegen und umfaßt nur die gewerberechtliche Regelung an die Adresse des Ladeninhabers, wann er sein Geschäft öffnen darf und wann er es geschlossen halten muß. Dies ergibt sich aus der Auslegung der Neuregelung zum Ladenschluß in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG.
1. Bedeutung des Begriffs Wenn man allein vom Wortlaut ausgeht, so legt „Laden-schluß“ die eher restriktive Bedeutung nahe, daß allein das Ende des Geschäftsbetriebs in Läden erfaßt wird und gerade nicht die Frage der Beschäftigung von Arbeitnehmern.93 Dies wird auch durch ein allgemeines Verständnis des Begriffs Ladenschluß gestützt, der sich auf die Frage bezieht, wann - aus Sicht des Ladeninhabers - er sein Geschäft öffnen darf oder - aus Verbrauchersicht - wann ein Einkauf ebendort möglich ist. Dieser Sinngehalt entspricht dem allgemeinen Sprachgebrauch und hat auch allen rechtspolitischen Diskussionen der letzten Jahre und Jahrzehnte zugrunde gelegen. Es ist nicht ersichtlich, daß die Frage, ob Arbeitnehmer zur Öffnungszeit in Geschäftslokalen arbeiten dürfen, in dieses allgemeine Verständnis eingeflossen ist. Die Einbeziehung dieses Aspekts der Arbeitnehmerbeschäftigung liegt zumindest nach dem Wortlaut fern. Bei näherer Betrachtung könnte es als Besonderheit erscheinen, daß im Grundgesetz nicht näher konkretisiert ist, ob nur der Ladenschluß im Einzelhandel oder auch der im Großhandel gemeint ist. Nach der Formulierung in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG ist theoretisch der Bezug auf beide Handelsarten denkbar. Beim Großhandel dürfte aber nur schwerlich ein „Laden“ eine Rolle spielen, da „Laden“ die Assoziation zu einem öffentlich zugänglichen Verkauf auslöst. Da es sich beim Großhandel aber in der Regel um einen nichtöffentlichen Verkauf handelt,94 legt der Wortlaut schon eine Begrenzung auf den Einzelhandel nahe. Es war also durchaus folgerichtig aus Sicht des Verfassungsgebers, keinen erläuternden Zusatz wie etwa „Recht des Ladenschlusses für den Einzelhandel“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG aufzunehmen. Schließlich ist zu beachten, daß Einzelhandel und Handel in örtlich fixierten Verkaufsstellen keine Synonyme sind. Einzelhandel ist der weitere Begriff, wie ___________ 93 Kämmerer / Thüsing, GewArch 2006, S. 266 (268); Kühn, AuR 2006, S. 418 (419). 94 Vgl. oben 1. Teil, 3. Kapitel I. 1.
2. Kapitel: Neuregelung der Gesetzgebungszuständigkeit 2006
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schon die Formulierungen in § 184 StGB und § 15 JuSchG zeigen. In beiden Normen wird ausdrücklich vom Einzelhandel außerhalb von Geschäftsräumen gesprochen, womit der ambulante Handel gemeint ist. Die im Bundesladenschlußgesetz ebenfalls geregelten Verkaufsarten auf Märkten und außerhalb von Verkaufsstellen, also durch sogenannte fliegende Händler, fallen auch unter den verfassungsrechtlichen Begriff des Ladenschlusses. Sie stellen sich als Randbereiche des Verkaufs dar; es ist kein Indiz ersichtlich, daß der Verfassungsgeber den Ländern die Regelung dieser Verkaufsarten vorenthalten wollte. Denn nach Sinn und Zweck von Ladenschlußregelungen, die den Verkauf an jedermann zeitlich reglementieren, ist es gleichgültig, ob eine Verkaufsstelle stationär oder mobil ist oder es sich um einen Markt handelt. Ausgenommen sind allerdings weiterhin der klassische Versandhandel und der Handel via Internet, da sich diese Verkaufsarten nicht unter den Wortbestandteil Laden(-schluß) subsumieren lassen.
2. Historisch-genetische Auslegung Was die Entstehung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG n. F. angeht, ist zwischen zwei Dimensionen zu unterscheiden: Die historisch-genetische Auslegung läßt sich in einem engeren und in einem weiteren Sinne verstehen. Zum einen ist die Entstehungsgeschichte selbst von Interesse, sie gibt über die Motive des Verfassungsgebers bei der Abfassung der Norm Aufschluß (historische Auslegung im engeren Sinne oder genetische Auslegung). Zum anderen gewährt der rechtshistorische Kontext, in dem eine Norm geschaffen wird, Aufschluß über ihren Bedeutungsgehalt (historische Auslegung im weiteren Sinne).
a) Entstehung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG neue Fassung Da es beim Ladenschluß keine Vorläuferregelung in früheren deutschen Verfassungen gibt, kommt es allein auf die Grundgesetzänderung von 2006 an. Dem Ansatz von Kämmerer / Thüsing kann nicht gefolgt werden: Sie knüpfen nicht an die Entstehung der Grundgesetzreform, sondern an die der Ladenschlußregelungen an. Dies mag sich daraus erklären, daß ihre Untersuchung vor den abschließenden Abstimmungen in Bundestag und Bundesrat bereits abgeschlossen war. Allerdings ist diese Anknüpfung nur insoweit sinnvoll, als dadurch die Zuordnung von einzelnen Normen des Bundesladenschlußgesetzes zu den Kompetenztiteln der Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und Nr. 12 GG beabsichtigt ist. Für die Auslegung des Verfassungsbegriffs „Ladenschluß“ bleibt die Entstehungsgeschichte des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG n. F. maßgeblich, nicht die Ent-
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
stehung des einfachen Rechts in Gestalt des Ladenschlußgesetzes. Methodisch kann beiden Autoren demnach nicht gefolgt werden.95 Zu differenzieren sind bei der Analyse der Entstehungsgeschichte der Verfassungsreform zwei Phasen: Die Beratungen der Föderalismuskommission zum Ladenschluß zum einen sowie diejenigen des Bundestages und des Bundesrates während des Gesetzgebungsverfahrens 2006 zum anderen. Der Hauptaugenmerk ist auf die Frage gerichtet, ob der Verfassungsgeber auch die Kompetenz für die Regelung der Arbeitszeit von Arbeitnehmern in Verkaufsstellen thematisierte.
aa) Beratungen der Föderalismuskommission zum Ladenschluß 2004 Nach dem gerade beschriebenen Verlauf der politischen Beratungen96 steht hier die juristische Diskussion zum Rechtsbegriff „Ladenschluß“ im Mittelpunkt. Allerdings lassen sich laut den zur Verfügung stehenden Dokumenten keinerlei vertiefte juristische Aussprachen ausmachen. Bei den Sitzungen der Arbeitsgruppe 1 und der Projektgruppe 5 der Föderalismuskommission war in allgemeiner Form vom „Ladenschluß“ oder vom „Ladenschlußrecht“ die Rede. Insgesamt neun Redner sprachen von Ladenschluß, Ladenöffnung oder Ladenschlussrecht.97 Diese Wendungen stellen Begriffe dar, die nicht deckungsgleich mit dem Regelungsgehalt des Ladenschlußgesetzes sind. Vielmehr kommt damit eine Konzentration auf die Frage zum Ausdruck, wann Geschäfte öffnen dürfen; die Beschäftigung von Verkaufspersonal während der Öffnungszeiten klingt damit nicht an. Einzig der Vertreter Berlins, Schmitz, verwendete einmal den Begriff „Ladenschlußgesetz“, das man auf die Länder übertragen solle.98 In den anschließenden Diskussionen griff aber niemand diesen Wortlaut auf. Allgemein vom „Ladenschlußrecht“ sprach beispielsweise auch der badenwürttembergische Staatssekretär Böhmler als Berichterstatter der Projektgruppe ___________ 95
Dies betrifft insbesondere den Passus bei Kämmerer / Thüsing, GewArch 2006, S. 266 (268): „Dieses enge Verständnis des neuen Verfassungsbegriffs Ladenschluß wird bestätigt durch die historische Auslegung. Maßgeblich sind insoweit die Genese und Ratio des Ladenschlußgesetzes.“ 96 Vgl. oben 3. Teil, 2. Kapitel I. 97 Für die dem Ergebnis nach wiedergegebenen Äußerungen von Kröning, Funke, de Maizière, Schneider, Huber, Böhmler, Teufel, Scholz vgl. Deutscher Bundestag, Kommission, 2005, S. 356, 360, 370 ff, 444 bis 448 sowie für Schönleiter in der Sitzung der Projektgruppe 5 am 17. Sept., Deutscher Bundestag, Kommission, 2005, Anlage CDRom Pfad Dokumentation / Zusatzmaterial / Ergebnisvermerk der Projektgruppen / PG 5 / 5 Sitzung, S. 4. 98 Deutscher Bundestag, Kommission, 2005, S. 444.
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5 sowohl bei der Projektgruppensitzung am 29. September als auch bei der Sitzung der Arbeitsgruppe 1 am 30. September 2004. In seinem Bericht erwähnt er auch den Vorschlag der Länder zur Formulierung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG: „Das Recht der Wirtschaft (....) mit Ausnahme des Gewerberechts, des Ladenschlusses...“.99 In der 5. und 6. Sitzung der Projektgruppe 5 war ebenfalls vom Ladenschlußrecht die Rede, ohne daß hierzu eine intensivere oder gar kontroverse Aussprache stattfand.100 Ähnliche Formulierungen wählten die Länder in ihren schriftlichen Beiträgen: Entweder wird allgemein von „Ladenschluß“ oder vom „Recht des Ladenschlusses“ oder der „Ladenöffnung“ gesprochen. Erstes Beispiel ist das bereits erwähnte Schreiben der Länder Berlin und Baden-Württemberg vom 20. Januar 2004: Beim Punkt „Zuständigkeiten der Länder“ erwähnten sie unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG neben anderen Politikbereichen den „Ladenschluß“ als einen „Sachverhalt mit überwiegend regionalen oder örtlichen Bezügen (insbesondere auch im Hinblick auf unterschiedliche Lebensverhältnisse)“.101 In ihrem Positionspapier vom 6. Mai 2004 verwendeten die Ministerpräsidenten die Wendung „Recht der Ladenöffnung“.102 In einem Beitrag des Staatsministeriums Baden-Württemberg sowie der Senatskanzlei Berlin vom 24. Juni 2004 konkretisierten die Länder schriftlich ihre Position zum Recht der Wirtschaft i. S. d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG. Dort findet sich die mit Abstand ausführlichste Argumentation der Länder für ihr Petitum nach einer Übertragung der Gesetzgebungskompetenz: „Die konkrete Ausgestaltung des Ladenschlusses ist maßgeblich von örtlichen und regionalen Besonderheiten geprägt. Dies zeigt bereits die Tatsache, daß die Ladenöffnungszeiten im Rahmen der jetzt gegebenen Möglichkeiten unterschiedlich gehandhabt werden; des Weiteren wird das Bedürfnis nach örtlich und regional angepaßten Regelungen derzeit auch durch eine ausgiebige Nutzung der Ausnahmetatbestände im Ladenschlußgesetz befriedigt. Allein die Tatsache, daß Ladenschlußzeiten in grenznahen Regionen länderübergreifende wirtschaftliche Auswirkungen haben können, rechtfertigt keine bundeseinheitliche Regelungen. Dies wird durch die Feiertagsgesetze der Länder belegt, die - wenn auch in geringerem Umfang - schon jetzt
___________ 99 Deutscher Bundestag, Kommission, 2005, Anlage CD-Rom Pfad Dokumentation / Zusatzmaterial / Protokollvermerke der AG 1/ 7. Sitzung, S. 22 f sowie .../ Zusatzmaterial / Ergebnisvermerk der Projektgruppen / PG 5 / 6 Sitzung, S. 2. 100 5. Sitzung und 6. Sitzung der Projektgruppe 5 am 17. sowie am 29. September 2004 vgl. Deutscher Bundestag, Kommission, 2005, Anlage CD-Rom Pfad Dokumentation / Zusatzmaterial / Ergebnisvermerk der Projektgruppen / PG 5 / 5. Sitzung, S. 4, sowie 6. Sitzung, S. 2. 101 Schreiben des Chefs der Staatskanzlei Baden-Württemberg und des Chefs der Senatskanzlei Berlin an die Mitglieder und Gäste der Kommission v. 20. Januar 2004, S. 5, vgl. Deutscher Bundestag, Kommission, 2005, Anlage CD-Rom Dokumentation / Zusatzmaterial / Arbeitsunterlagen / AU 15. 102 Deutscher Bundestag, Kommission, 2005, Anlage CD-Rom Pfad Dokumentation/ Zusatzmaterial/ Kommissionsdrucksachen 0045, S. 8.
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
Kaufkraftströme lenken. Hinsichtlich des bundeseinheitlichen Feiertagsschutzes ist auf Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV zu verweisen. Die Forderung der Länder wird bestätigt durch die Ausführungen im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Juni 2004.“ 103
Von Bundesseite brachte einzig das für den Ladenschluß damals federführende Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit eine Stellungnahme ein, die noch kein positives Votum der Bundesregierung enthielt. Dementsprechend allgemein war die Formulierung gehalten: „Soweit dieser Vorschlag die Übertragung der Gesetzgebungskompetenz für den ,Ladenschluß’ vorsieht, wird auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Juni 2004 verwiesen. Das Bundesverfassungsgericht hat erklärt, daß das Ladenschlußgesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Sowohl die Regelungen zum Ladenschluß an Sonn- und Feiertagen als auch zum Ladenschluß an Werktagen sind verfassungsgemäß. Sofern in Zukunft eine Neukonzeption des gesetzlichen Ladenschlusses erforderlich wird, sind hierfür die Länder zuständig. Die Bundesregierung plant derzeit keine Neukonzeption des Ladenschlußrechts.“104
Interessant ist der auf Nachfrage gegebene Hinweis der Bundesjustizministerin in der Sitzung der Arbeitsgruppe 1 vom 30. September 2004, nach dem es sich bei den Stellungnahmen der Bundesministerien zwar um im Ressortkreis abgestimmte Positionen handelt, sie aber nicht in allen Fällen politisch konsentiert seien. Was für die Stellungnahme zum Ladenschluß gilt, ist aus den Materialien nicht ersichtlich. Aus den zur Verfügung stehenden Materialien lassen sich demnach drei Schlüsse ziehen: 1. Die Föderalismuskommission diskutierte stets in allgemeiner Form über den Ladenschluß, ohne die Frage der Kompetenz für Regelungen über Arbeitnehmer in Verkaufsstellen zu thematisieren. 2. Die Übertragung wurde stets im Hinblick auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG diskutiert, also ohne Bezug zum Arbeitsrecht nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. 3. Es läßt sich kein Wille feststellen, das Ladenschlußgesetz eins zu eins, also mit allen Einzelregelungen inklusive der arbeitsrechtlichen Bestimmungen, in die Kompetenz der Länder zu übertragen. bb) Beratungen in Bundesrat und Bundestag 2006 In den Materialien des Gesetzgebungsverfahrens zur Grundgesetzänderung von 2006 finden sich ebensowenig direkte Hinweise darauf, daß der Rege___________ 103
Deutscher Bundestag, Kommission, 2005, Anlage CD-Rom Pfad Dokumentation/ Zusatzmaterial/ Projektgruppenunterlagen/ PG 5/ PAU 5-0002, S. 1 und 7. 104 Deutscher Bundestag, Kommission, 2005, Anlage CD-Rom Pfad Dokumentation/ Zusatzmaterial/ Protokollvermerke der AG 1/ 7. Sitzung, S. 85.
2. Kapitel: Neuregelung der Gesetzgebungszuständigkeit 2006
237
lungsbereich des gesamten Ladenschlußgesetzes, also auch der Arbeitsschutzvorschrift des § 17 BLadSchlG, auf die Länder übertragen werden sollte. In der gemeinsamen Anhörung von Bundestag und Bundesrat am 31. Mai 2006 gingen mehrere Sachverständige auf das Ladenschlußrecht ein, allerdings in der Regel in allgemeiner Weise. Der Sachverständige Kluth merkte etwa an, daß die Arbeitsschutzfunktion des Ladenschlußgesetzes nur noch sehr beschränkt wirksam wäre wegen des geltenden Tarifrechts.105 Auch die Fragen von Abgeordneten, etwa diejenige von Joachim Pfeiffer, bezogen sich mehr auf rechtspolitische Erwägungen wie auf die größere Flexibilität für grenznahe Bundesländer.106 Daher überrascht es wenig, daß sich die Antworten und Beiträge der Sachverständigen mehr auf die rechtspolitische Opportunität einer Übertragung als auf die juristischen Konsequenzen bezogen.107 Allerdings kann man einer Passage in der Begründung des Gesetzentwurfs der Regierungsfraktionen mittelbar entnehmen, daß nur ein Teil des Ladenschlußgesetzes in die Gesetzgebungskompetenz der Länder übertragen werden sollte. Dort heißt es, daß das „Ladenschlußrecht (bisher Teilbereich aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11)“ auf die Länder übergehen soll.108 Es ist also nicht vom Regelungsbereich des Ladenschlußgesetzes die Rede. Man kann davon auszugehen, daß dies bewußt erfolgte. Denn es hat dem Vernehmen nach innerhalb der Bundesregierung vor der Einbringung der Gesetzentwürfe Diskussionen zum Ladenschluß gegeben. Dem verfassungsändernden Gesetzgeber war bekannt oder es mußte ihm zumindest bekannt sein-, daß das im Zeitpunkt der Einbringung des Gesetzentwurfs geltende Ladenschlußgesetz nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 (Handel) und Nr. 12 (Arbeitsschutz) GG beruht.109 Grundsätzlich ist es möglich, daß sich ein Gesetz auf verschiedene Kompetenztitel nach Art. 74 Abs. 1 GG stützen kann.110 Denn die alleinige Entscheidung des Gesetzgebers, bestimmte Fragen im Verbund in einem einzigen Gesetz zu regeln und als Ganzes im Bundesgesetzblatt zu veröffentlichen, erfordert keine exklusive Zuordnung zu einer einzigen Zuständigkeitsbestimmung. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß der Verfassungsgeber
___________ 105
BT-Rechtsausschußprotokoll 18, S. 9, s. auch seinen Beitrag auf S. 42. BT-Rechtsausschußprotokoll 18, S. 39. 107 Vgl. insbesondere die mündlichen Beiträge von Kluth und Renzsch sowie ihre schriftlichen Beiträge und denjenigen von Berhold, BT-Rechtsausschußprotokoll 18, S. 42 f, 47, 113, 140, 160. 108 BT-Drs. 16/813, S. 9. 109 BVerfGE 1, 283 (292); 13, 230 (233), 13, 237 (239), 111, 10 (28). 110 Münch, in: ders., GG, 1983, Art. 74 Rnr. 120; Förster / Höhlscheidt, JuS 1987, S. 57 (58). 106
238
3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
im Fall des Ladenschlusses eine abweichende Meinung von der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zur Kompetenzgrundlage des Bundesladenschlußgesetzes vertreten wollte.
b) Anknüpfung an den einfachgesetzlichen Normbestand Ein enges Verständnis von „Ladenschluß“ legt auch die juristische Verwendung des Begriffs in einfachen Gesetzen nahe, namentlich in dem seit 1956 in der Bundesrepublik geltenden „Gesetz über den Ladenschluß“, wie es offiziell heißt. Weniger bekannt, aber für die Begriffsgeschichte durchaus von Interesse ist die Verwendung des Wortes „Ladenschluß“ im Titel eines Spezialgesetzes von 1929 zum Umfang der Ladenöffnung am 24. Dezember.111 Man kann auf die Regelungen der §§ 3 bis 15 BLadSchlG zurückgreifen, um einige Kernelemente des Begriffs Ladenschluß auszumachen. Der erste Satz des § 3 BLadSchlG lautet: „Verkaufsstellen müssen zu folgenden Zeiten für den geschäftlichen Verkehr mit Kunden geschlossen sein.“ Die §§ 4 bis 15 BLadSchlG regeln Ausnahmen und bestimmen, an welchen Orten welche Waren während der allgemeinen Ladenschlußzeiten dennoch verkauft werden dürfen. Zwar ist durch diese einfach-gesetzliche Verwendung seit über 75 Jahren keine Vorfestlegung für den Sinngehalt des Verfassungsbegriffs getroffen, aber ein Indizcharakter kann dem nicht abgesprochen werden. Zudem knüpfte die rechtspolitische Diskussion in der Föderalismuskommission im hier interessierenden Bereich an einen vorgefundenen Normbestand in Gestalt des Ladenschlußgesetzes und nicht etwa einen abstrakten Regelungsbereich „Ladenschlußrecht“, der noch nicht kodifiziert ist. Daher dürfte es nahe liegen, daß der Verfassungsgeber 2006 mit seiner Wortwahl an das überkommene, durch das Ladenschlußgesetz und seine Vorgängerregelungen geprägte Verständnis des Begriffes Ladenschluß anknüpfen wollte.112 In entsprechender Weise ist er bereits 1994 verfahren beim Recht der Erschließungsbeiträge, als der verfassungsändernde Gesetzgeber diesen einfachgesetzlich bereits normierten Bereich von der konkurrierenden Gesetzgebung ausdrücklich ausnahm, vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 18 GG. Die §§ 127 bis 135
___________ 111 112
Gesetz über den Ladenschluß am 24. Dezember, RGBl. 1929 I, S. 219. So auch Kämmerer / Thüsing, GewArch 2006, S. 266 (268).
2. Kapitel: Neuregelung der Gesetzgebungszuständigkeit 2006
239
BauGB regelten und regeln auf Bundesebene mit Wirkung für die meisten Bundesländer weiterhin das Recht der Erschließungsbeiträge.113 Allerdings ist festzuhalten, daß im einfachen Recht eine Legaldefinition des Begriffs Ladenschluß fehlt.114 Kernregelung der Ladenschlußgesetze des Bundes und nunmehr der Länder ist jeweils das öffentlich-rechtliche Gebot für Inhaber von Verkaufsstellen, ihre Läden zu bestimmten Zeiten für den Publikumsverkehr geschlossen zu halten, vgl. § 3 BLadSchlG. Ergänzt wird die Grundregel in § 3 BLadSchlG und in den Landesgesetzen von zahlreichen Tatbeständen in den §§ 4 bis 15 BLadSchlG, die in örtlicher, zeitlicher und warenspezifischer Hinsicht Sonderregelungen aufstellen. Flankierend hinzu treten arbeitszeitrechtliche Regelungen für die Sonn- und Feiertagsarbeit in § 17 BLadSchlG sowie Ordnungs- und Strafvorschriften in § 24 und § 25 BLadSchlG. Diese ändern aber nichts daran, daß sich § 3 BLadSchlG als Drehund Angelpunkt des Gesetzes darstellt, der in nachfolgenden Paragraphen für Sonderfälle modifiziert wird. Kurz gesprochen ist der „Schließbefehl“ für die Verkaufsstelleninhaber Kerngehalt des Ladenschlußgesetzes. Dies spricht dafür, diesen Regelungsgehalt in jedem Fall dem Verfassungsbegriff „Recht des Ladenschlusses“ zuzuordnen.
3. Abgrenzung zu Arbeitsrecht und Arbeitszeitrecht Darüber hinaus streitet die Einordnung beim Recht der Wirtschaft in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG und nicht etwa beim Arbeitsrecht und beim Arbeitsschutz nach Nr. 12 des Art. 74 Abs. 1 GG für die alleinige Einbeziehung des „Schließbefehls“. Denn die Regelung eines Ladenschlusses im engeren Sinne gilt gerade nach der einfach-gesetzlichen Bestimmung unabhängig von der Beschäftigung von Arbeitnehmern; es handelt sich also um eine spezielle gewerberechtliche Bestimmung. Historisch wird diese Zuordnung zum Gewerberecht von der Tatsache untermauert, daß die ersten Ladenschlußregelungen in der Gewerbeordnung enthalten waren.115 Das Gewerberecht und als spezielle Gewerbeform der Handel fallen schon nach dem Klammerzusatz in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG unter das „Recht der Wirtschaft“. Im Zentrum der auf Grundlage des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG beschlossenen Gesetze steht in individueller Hinsicht schließlich der ak___________ 113 Nur Bayern hat von der den Ländern eingeräumten Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht, vgl. Driehaus, Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 2004, § 1 Rnr. 11, sowie BayVGH BayVBl. 2003, S. 21. 114 Im Bundesladenschlußgesetz enthalten lediglich die §§ 1 und 2 Legaldefinitionen zu den Begriffen Verkaufsstellen, Feiertage und Reisebedarf. 115 Vgl. oben 1. Teil, 1. Kapitel V. 3. a).
240
3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
tiv Wirtschaft Betreibende;116 als Ergänzung hierzu treten systematisch folgerichtig die Rechtsverhältnisse der Beschäftigten mit ihren Arbeitgebern in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. Im Rahmen des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG stellt sich seit dem 1. September 2006 der Ladenschluß als Unterfall des Handels dar, der wiederum als spezieller Fall des Gewerbes in dieser Norm zu betrachten ist.117 Das letztgenannte Verhältnis Verkaufsstelleninhaber - Arbeitnehmer in der Verkaufsstelle regeln arbeitsrechtliche Bestimmungen. Zu diesen zählt § 17 BLadSchlG. Er ist in verfassungsrechtlichen Kategorien gesprochen eine rein arbeitsrechtliche Vorschrift und regelt allein die Beschäftigung von Arbeitnehmern in Verkaufsstellen an Sonn- und Feiertagen. Damit sind schon solche Verkaufsstelleninhaber nicht von dieser Regelung erfaßt, die selbst oder nur mit Hilfe ihrer Familienangehörigen ihren Laden betreiben. Die Regelung des § 17 BLadSchlG stellt sich also als arbeitszeitbezogen und somit als arbeitsschützende Regelung i. S. d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG dar.118 Die Frage, wann Arbeitnehmer an Sonn- und Feiertagen ausnahmsweise beschäftigt werden dürfen, ist für andere Gewerbe- und Arbeitszweige im Arbeitszeitgesetz geregelt, das sich auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG stützt.119 Eine Sonderregelung von arbeitzeitrechtlichen Aspekten abweichend von dem allgemein gültigen Arbeitszeitgesetz stellt allerdings keine Besonderheit dar. Wie Kämmerer / Thüsing zu Recht anführen, gibt es auch andere Gesetze wie etwa das Gaststättengesetz, die Öffnungsregelungen enthalten.120 Die Sonderstellung des § 17 BLadSchlG unterstreicht schon die Überschrift im Ladenschlußgesetz selbst: „Besonderer Schutz der Arbeitnehmer“. Sie verdeutlicht, daß dem § 17 BLadSchlG ein anderer Regelungsgehalt zugrunde liegt. Es handelt sich also um eine arbeitszeitrechtliche Norm im Umfeld des Ladenschlusses,121 die sich auf Einzelhändler bezieht, die dem Ladenschlußgesetz unterworfen sind. ___________ 116 Über den einzelnen Wirtschaft Betreibenden umfaßt das „Recht der Wirtschaft“ auch die Wirtschaftsverfassung, vgl. Oeter, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 74 Rnr. 81 f. 117 Zum Spezialverhältnis des Handels in Relation zum Gewerbe vgl. Oeter, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 74 Rnr. 97. 118 So auch Tegebauer, GewArch 2007, S. 49; Försterling, ZG 2007, S. 36 (55). 119 Ausdrücklich für die Bundeskompetenz auch nach der Föderalismusreform von 2006 für das Verhältnis Arbeitgeber - Arbeitnehmer Richardi, AuR 2006, S. 379 (380), ebenso Kühling, AuR 2006, S. 386; vgl. zur allgemeinen Zuordnung der Arbeitszeit zu Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG: Oeter, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 74 Rnr. 115; Stettner, in: Dreier, GG, 2006, Art. 74 Rnr. 66. 120 Kämmerer / Thüsing, GewArch 2006, S. 266 (268). 121 Kämmerer / Thüsing, GewArch 2006, S. 266 (270).
2. Kapitel: Neuregelung der Gesetzgebungszuständigkeit 2006
241
4. Ergebnis Damit kann im Ergebnis das Recht des Ladenschlusses i. S. d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG als Summe solcher Normen definiert werden, welche die Öffnungszeiten von Verkaufsstellen regeln, unabhängig davon, ob in diesen Verkaufsstellen Arbeitnehmer beschäftigt werden oder nicht. Es sind alle Regelungen zur Frage erfaßt, wann und welche Verkaufsstelle mit welchem Warenangebot für den geschäftlichen Verkehr mit Kunden geschlossen sein müssen. Verkürzt und zugespitzt geht es um den „Schließbefehl“ oder die „Öffnungsmöglichkeit“ für den Verkaufsstelleninhaber. Ladenschlußregelungen i. S. d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG legen also allein das Verhältnis Staat - Verkaufsstelleninhaber und gerade nicht das Verhältnis Verkaufsstelleninhaber - Arbeitnehmer fest. Als Kriterium der Zuordnung zu Nr. 11 und Nr. 12 des Art. 74 Abs. 1 GG läßt sich zwischen arbeitszeitrelevanten Regelungen im Bundesladenschlußgesetz und speziellen gewerberechtlichen unterscheiden. Eine danach vorgenommene Zuordnung der einzelnen Paragraphen des Ladenschlußgesetzes zu diesen beiden Kompetenzgrundlagen in Art. 74 GG ergibt folgendes: x Kompetenzgrundlage in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG alte Fassung bis 31. August 2006: §§ 3 bis 15 sowie § 19, § 20 und § 23 BLadSchlG. x Kompetenzgrundlage in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG auch nach dem 31. August 2006: § 17 BLadSchlG. Lediglich die Legaldefinitionen in § 1 und § 2 BLadSchlG sowie die Vorschriften zur Durchführung des Gesetzes in § 21, § 22 und § 24, § 25 BLadSchlG lassen sich jeweils beiden zuordnen, da sie für § 17 BLadSchlG und die anderen genannten Normen des Ladenschlußgesetzes relevant sind. Die Regelungen zum Arbeitsschutz und damit zur Arbeitszeit werden somit von Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG nicht erfaßt. Der Bund ist weiterhin nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zuständig, jetzt sogar ohne die Pflicht, die strengen Anforderungen der Erforderlichkeitsklausel nach Art. 72 Abs. 2 GG erfüllen zu müssen. Dies ergibt sich aus dem geänderten Wortlaut des Art. 72 Abs. 2 GG, der nunmehr enumerativ einzelne Kompetenztitel aus Art. 74 Abs. 1 GG aufzählt, für welche die Erforderlichkeitsklausel gilt. Die Zulässigkeit der Beschäftigung von Arbeitnehmern in Verkaufsstellen unterfällt also dem Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung in Gestalt des Arbeitsrechts nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG.
242
3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
Der neue Verfassungsbegriff „Ladenschluß“ umfaßt also nicht den gesamten Bereich des bisherigen Bundesladenschlußgesetzes, sondern nur einen - wenn auch großen - Teil davon.122
3. Kapitel
Umfang neuer Länder- und fortgeltender Bundeskompetenz Als Ergebnis der Auslegung zu Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG n. F. lassen sich nunmehr Folgerungen für den Umfang der Länderkompetenz im Bereich des Ladenschlusses ziehen. Konkret sind den Ländern Regelungen möglich, wie sie bisher die §§ 1 bis 15, §§ 19 bis 25 BLadSchlG enthalten.
I. Ladenöffnung 1. Kompetenz der Länder Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich, daß die Länder den Ladenschluß im engeren Sinne in jedem Fall regeln können. Mit anderen Worten obliegt ihnen die Regelungen des gewerberechtlichen Schließbefehls, der sich an die Inhaber von Verkaufsstellen richtet. Die Länder dürfen gesetzlich bestimmen, wer wann wo welche Waren an jedermann von Verkaufsstellen aus verkaufen darf. Zeitliche Limitierungen des Versandhandels, der auf Bestellungen per Telephon, Fax, E-Mail oder Internet beruht, sind davon nicht erfaßt.
2. Kompetenz des Bundes Abgesehen von der Frage der Änderung der rein arbeitsrechtlichen Regelung des § 17 BLadSchlG hinaus - hierzu sogleich - verbleibt dem Bundesgesetzgeber nur noch ein sehr geringer Spielraum, die nach Art. 125 a Abs. 1 GG fortgeltenden Regelungen des Bundesladenschlußgesetz zu ändern. Aufgrund der Änderung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG ist ihm die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz entzogen. Zumindest die Regelungen zum Ladenschluß im engeren Sinne gelten unstreitig nach Art. 125 a Abs. 1 GG als Bundesrecht fort. ___________ 122
So auch Tegebauer, GewArch 2007, S. 49.
3. Kapitel: Umfang neuer Länder- und fortgeltender Bundeskompetenz
243
Die praktische Relevanz einer Modifikationskompetenz des Bundes im Rahmen des Art. 125 a Abs. 1 GG wird sich für die ladenschlußspezifischen Normen des Bundesladenschlußgesetzes dann erledigen, sobald das letzte Land ein eigenes Ladenschlußgesetz verabschiedet hat. Allerdings ist die Frage nach einer solchen Kompetenz keine rein theoretische, wie das Recht der Erschließungsbeiträge zeigt, das der Verfassungsgeber schon 1994 auf die Länder übertragen hat. Dort gelten schon seit 1994 die §§ 127 bis 135 BauGB fort, ohne daß die Länder flächendeckend eigene Gesetze erlassen hätten. Außerdem hat der Bund das Bundesladenschlußgesetz nach Inkrafttreten der Grundgesetzänderung zum 1. September 2006 einmal geändert: Mit einer Rechtsverordnung zur Anpassung der Zuständigkeiten hat er die Verordnungsermächtigungen zugunsten einiger Bundesministerien an den neuen Zuschnitt der Ministerien seit Ende 2005 angepaßt. Dabei hat er die §§ 8, 9, 12, 17, 20 und 23 des Bundesladenschlußgesetzes geändert.123 Der Umfang der Modifikationskompetenz des Bundes nach Art. 125 a Abs. 1 GG ist bisher noch nicht höchstrichterlich entschieden. Zwar könnte man theoretisch die Maßstäbe von Absatz 2 auf Absatz 1 übertragen und somit eine nicht ganz unbedeutende Änderungskompetenz annehmen. Wolff und Uhle treten etwa in allgemeiner Form für eine solche Änderungskompetenz ein, Rengeling folgt ihnen offenbar.124 Sie gehen aber sachlich zu weit, da sie auch Einzelanpassungen für rechtmäßig halten. Es besteht nämlich im Unterschied zu Absatz 2 bei Art. 125 a Abs. 1 GG keine Versteinerungsgefahr, da die Länder jederzeit die gesetzliche Lage ändern können und nicht auf eine Freigabe durch den Bund angewiesen sind. Aus Gründen der Rechtssicherheit und der Rechtsförmlichkeit sollte es dem Bund allerdings möglich sein, Zuständigkeiten oder Verweise anzupassen oder andere rein formale Änderungen vorzunehmen. Demnach würde sich eine Veränderung der Ladenschlußzeiten oder der Ausnahmetatbestände als inhaltliche Modifikation darstellen, die dem Bundesgesetzgeber seit dem 1. September 2006 verwehrt ist. Im Ergebnis besteht damit keine Parallelität zwischen Absatz 1 und Absatz 2 des Art. 125 a GG. Diese sehr eingeschränkte Änderungskompetenz bezieht sich auch auf die Rechtsverordnung des Bundes über den Verkauf bestimmter Waren an Sonnund Feiertagen, die sich auf § 12 Abs. 1 BLadSchlG stützt. Sie gilt ebenfalls nach Art. 125 a Abs. 1 GG weiter. Recht i. S. d. Art. 125 a Abs. 1 GG umfaßt
___________ 123
Rechtsverordnung v. 31. Oktober 2006, BGBl. 2006 I, S. 2434. Wolff, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 125 a Rnr. 12; Uhle, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 125 a Rnr. 27 f; Rengeling, DVBl. 2006, S. 1537 (1546). 124
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
nicht nur förmliche, sondern auch materielle Gesetze und somit auch Rechtsverordnungen.125
II. Kernproblem: Arbeitszeitvorschriften Deutlich schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob die Länder arbeitszeitrechtliche Regelungen für Arbeitnehmer in Verkaufsstellen126 in ihre Ladenschlußgesetze zur Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen aufnehmen dürfen oder ob hier eine Kompetenzsperre durch Bundesregelungen besteht. Vor dem 1. September 2006 war den Ländern zweifellos eine solche Regelung nicht möglich. Nunmehr stellt sich die Rechtslage komplizierter dar. Zwei Aspekte sind für die Beurteilung der neuen Rechtslage bedeutsam: Erstens kommt es entscheidend auf den verfassungsrechtlichen Geltungsgrund des § 17 BLadSchlG an. Denn nur eine Wirkung aufgrund der Art. 72 i. V. m. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG oder Art. 125 a Abs. 2 GG entfaltet eine Kompetenzsperre zu Lasten der Ländern. Zweitens gilt § 17 BLadSchlG gegebenenfalls selbst dann weiter, wenn die Länder Öffnungszeiten gesetzlich geregelt haben, oder es kommt das Arbeitszeitgesetz mit seinen Normen zur Sonntagsarbeit zur Anwendung. Dies stellt keineswegs ein theoretisches Problem, sondern eine aktuelle verfassungsrechtliche Frage dar, da alle Bundesländer mit Ladenöffnungsgesetzen in diesen die Beschäftigung von Arbeitnehmern in Verkaufsstellen an Sonn- und Feiertagen normiert haben.127 Im Ergebnis ist den Ländern weiterhin kompetenzrechtlich untersagt, Regelungen, wie sie in § 17 BLadSchlG enthalten sind, zu treffen. Entsprechende Normen in Landesladenschlußgesetzen sind formell verfassungswidrig. Die Vorschrift in § 17 BLadSchlG tritt weder wegen gleichlautenden Landesrechts gemäß Art. 125 a Abs. 1 GG außer Kraft noch verliert sie ihren Anwendungsbereich und somit ihre Wirksamkeit.
1. Tritt § 17 BLadSchlG gem. Art. 125 a Abs. 1 GG außer Kraft? Entsprechendes Landesrecht hätte § 17 BLadSchlG dann überlagern können, wenn diese Regelung aufgrund Art. 125 a Abs. 1 GG seit dem 1. September 2006 fortgegolten hätte. Nur dann wäre es den Ländern jederzeit möglich ge___________ 125
Uhle, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 125 a Rnr. 20. Es handelt sich um dem § 17 BLadSchlG vergleichbare Regelungen. 127 Vgl. in den Ladenöffnungsgesetzen § 12 BW, § 7 Abs. 1 Berl, § 10 Bbg, § 9 Hamb, § 9 Abs. 3 Hess, § 7 Abs. 1 MV, § 6 Nds, § 11 Abs. 1 NRW, § 13 RhPf, § 10 Abs. 1 Saar, § 9 SAnh, § 13 Abs. 1 SH, § 12 Thür. 126
3. Kapitel: Umfang neuer Länder- und fortgeltender Bundeskompetenz
245
wesen, eigene Regelungen über die Arbeitzeit von Arbeitnehmern in Verkaufsstellen zu treffen, da es keines Freigabegesetzes durch den Bund bedurft hätte. Denn diese Überleitungsvorschrift in Art. 125 a Abs. 1 GG legt den Vorrang des lex-posterior-Prinzips vor dem Grundsatz des Art. 31 GG fest, nach dem Bundesrecht inhaltsgleiches Landesrecht bricht. Wie oben gezeigt, erfaßt die Änderung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG nur das Ladenschlußrecht im engeren Sinne, also nicht die rein arbeitszeitrechtliche Norm des § 17 BLadSchlG. Dieser stützt sich allein auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. Die letztgenannte Norm ist aber im Rahmen der Föderalismusreform 2006 nicht verändert worden. Dies spricht gegen eine Anwendung des Art. 125 a Abs. 1 GG auf § 17 BLadSchlG, der eine Änderung des Katalogs in Art. 74 Abs. 1 GG voraussetzt. Nur wenn man wie Försterling annähme, das Bundesladenschlußgesetz fiele als ganzes allein unter Art. 125 a Abs. 1 GG, wäre eine Verdrängung des § 17 BLadSchlG durch entsprechende Landesregelungen denkbar.128 Eine solche Sichtweise müßte aber rein formal auf den gesamten Korpus eines Gesetzes abstellen, auch wenn dieses materiell unterschiedliche Regelungsmaterien enthält, die sich mehreren Kompetenztiteln des Art. 74 GG zuordnen lassen. Der Gesetzgeber läßt sich aber nicht immer von der Aufteilung der Gesetzgebungsmaterien in Art. 74 GG leiten, wenn er den sachlichen Umfang eines Gesetzes und seinen Anwendungsbereich festlegt. Es existieren auch Fälle, in denen der Gesetzgeber aus anderen Motiven handelt, wenn er ein Gesetz zusammenfaßt oder inhaltlich zusammengehörende Regelungen in zwei Gesetzen normiert. Letzteres ist insbesondere dann in der Praxis - mit nachträglicher Billigung des Bundesverfassungsgerichts - geschehen, wenn ein zustimmungspflichtiger Teil eines Gesetzes wegen unterschiedlicher Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat abgetrennt wurde.129 Eine formale Betrachtung scheidet daher aus. Hinzu kommt, daß der Anwendungsbereich des Art. 125 a Abs. 1 GG nach Sinn und Zweck nur soweit reicht, wie Art. 74 Abs. 1 GG geändert wurde. Bei Art. 125 a Abs. 1 GG handelt es sich um eine Überleitungsvorschrift, die Rechtssicherheit gewähren soll, wenn Materien nicht mehr in die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes fallen, damit ein regelungsfreier Zustand vermieden wird. Wenn dagegen ein Sachverhalt weiterhin unter den Katalog des Art. 74 Abs. 1 GG fällt, besteht schon sachlich kein Bedürfnis, den Regelungszweck des Art. 125 a Abs. 1 GG zur Anwendung kommen zu lassen, weil dessen Anwendungsbereich nicht eröffnet ist. ___________ 128 129
Försterling, ZG 2007, S. 36 (56). Vgl. BVerfGE 105, 313 (338).
246
3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
Die einheitliche Behandlung eines ganzes Gesetzes im Rahmen des Art. 125 a Abs. 1 GG käme dann in Betracht, wenn Regelungen so aufeinander bezogenen sind, daß eine unterschiedliche Behandlung eine Sinneinheit auflösen würde. Falls eine inhaltliche Nähe bestimmter Regelungen in einem Gesetz aber so groß ist, daß eine Regelung ohne die andere keinen Sinn mehr ergibt, wird dies eher dazu führen, im Rahmen des Art. 74 Abs. 1 GG die gesetzlichen Regelungen einem einzigen Kompetenztitel zuzuordnen. Die in Art. 74 Abs. 1 GG getroffene Entscheidung des Verfassungsgebers, die zu regelnden Sachverhalte relativ genau zu umschreiben, gilt auch für den Geltungsumfang des Art. 125 a Abs. 1 GG. Bildlich gesprochen existiert eine Parallelität zwischen den Änderungen des Art. 74 Abs. 1 GG und dem Regelungsgehalt Art. 125 a Abs. 1 GG. Nur soweit der Verfassungsgeber den Katalog des Art. 74 Abs. 1 GG ändert, reicht die Wirkung des Art. 125 a Abs. 1 GG, sie geht aber nicht über den Umfang der Änderung des Art. 74 Abs. 1 GG hinaus. Dies spricht dafür, daß § 17 BLadSchlG als Norm, die sich auch nach der Grundgesetzänderung auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG stützt, nicht unter Art. 125 a Abs. 1 GG fällt. Eine pauschale Anwendung des Art. 125 a Abs. 1 GG auf ein gesamtes Gesetz, dessen Kompetenzgrundlage in Art. 74 Abs. 1 GG sich nur teilweise ändert, wird hier abgelehnt. Anders gesagt ist die Teilbarkeit eines Gesetzes in einen nach Art. 125 a Abs. 1 GG fortgeltenden Teil und einen übrigen Teil, der nach anderen Kompetenzregeln des Grundgesetzes gilt, möglich. Für diese Ansicht spricht auch schon der Wortlaut des Art. 125 a Abs. 1 GG, der eben nicht die Fortgeltung eines „Gesetzes“ sondern des „Rechts“ anordnet, das als Bundesrecht erlassen worden ist. Die Verwendung des Begriffs Gesetz hätte für ein eher formales, am Gesamttext eines Gesetzes orientiertes Verständnis der Fortgeltung nach Art. 125 a GG gesprochen. Dagegen legt die Verwendung von „Recht“ die Auslegung nahe, daß auch nur einzelne Bestimmungen eines Gesetzes nach Art. 125 a Abs. 1 GG fortgelten, andere Normen sich auf andere verfassungsrechtliche Kompetenzgrundlagen stützen. Von dieser Auslegung des Art. 125 a Abs. 1 GG ist auch der Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes vom 7. März 2006 ausgegangen, der zur Verfassungsänderung vom 1. September 2006 führte.130 In der Begründung zur Änderung des Art. 125 a GG führen die Initiatoren der Grundgesetzänderung selbst aus, daß sich Art. 125 a Abs. 1 GG nur auf Teile bestimmter Bundesgesetze bezieht. Genannt sind etwa „wesentliche Teile des Hochschulrahmengesetzes“, wobei für den hier interessierenden Fall des Bundesladenschlußgesetzes folgender ___________ 130 Im Gesetzgebungsverfahren ist der Entwurf des neuen Art. 125 a GG nicht mehr verändert worden, wenn man von Veränderung einer Ziffer in Abs. 1 (im Gesetz nunmehr Art. 84 Abs. 1 S. 6 statt S. 7 im Entwurf) absieht, vgl. BT-Drs. 16/813, S. 5, sowie BGBl. I, S. 2034 (2038).
3. Kapitel: Umfang neuer Länder- und fortgeltender Bundeskompetenz
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Passus der Gesetzesbegründung wegen des arbeitsrechtlichen Bezuges besonders interessant ist: „Der auf der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG (Arbeitsrecht) beruhende arbeitsrechtliche Teil des Hochschulrahmengesetzes (§§ 57 a bis 57 f) bleibt verbindliches Bundesrecht (weder Abweichungs- noch Ersetzungsbefugnis der Länder).“131
Da Bundesrat und Bundestag letztlich in den Beratungen keine inhaltliche Änderung am Entwurf des Art. 125 a GG mehr verabschiedet haben, ist davon auszugehen, daß sich der verfassungsändernde Gesetzgeber diese Rechtsauffassung zu eigen machte. Aus dem zitierten Passus kann folgender Schluß gezogen werden: Dem verfassungsändernden Gesetzgeber war sehr wohl bewußt, daß durch Änderungen der Kompetenzzuordnungen bestehende Bundesgesetze in solche Bereiche unterteilt werden, die der Änderung durch die Länder aufgrund Art. 125 a Abs. 1 GG zugänglich sind, und in solche, die weiterhin als verbindliches Bundesrecht fortgelten. Gesteigert wird die Aussagekraft des Zitats, weil der Gesetzentwurf sogar ausdrückliche arbeitsrechtliche Normen eines Bundesgesetzes nennt, die ihre verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG finden. Die Entstehungsgeschichte des veränderten Art. 125 a Abs. 1 GG spricht also auch dafür, daß Bundesgesetze wie das Bundesladenschlußgesetz nur teilweise Art. 125 a Abs. 1 GG unterfallen können. Wie auch in anderem Zusammenhang bisher vom Bundesverfassungsgericht bestätigt worden ist, geht es bei der Frage der Fortgeltung von Normen als Bundesrecht nicht stets um Gesetze als monolithischen Block, sondern ganz konkret um die Fortgeltung einzelner Paragraphen. Diese Frage stellte sich insbesondere in Verfahren gem. Art. 126 GG i. V. m. § 86 BVerfGG.132 Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Ladenschlußgesetz von 2004 steht dieser Ansicht nicht entgegen. Karlsruhe hatte dort festgestellt: „Der Bund hatte die Zuständigkeit, das nach Art. 125 a Abs. 2 S. 1 GG als Bundesrecht fortgeltende Ladenschlußgesetz zu ändern.“133 Dieser Passus läßt darauf schließen, daß sich die nicht mehr vorliegenden Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG auf das ganze Gesetz beziehen, da im Zeitpunkt der Urteilsverkündung beide verfassungsrechtlichen Kompetenztitel für das Ladenschlußgesetz, Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und Nr. 12 GG, dem Erfordernis des Art. 72 Abs. 2 GG genügen mußten. Man könnte daraus folgern, daß auch das gesamte Gesetz nach Art. 125 a Abs. 1 GG behandelt werden müßte. Allerdings ist zu beachten, daß für das Bundesverfassungsgericht 2004 kein Anlaß bestand, weiter zu bestimmen, ___________ 131
BT-Drs. 16/813, S. 20. Vgl. etwa BVerfGE 28, 119 (151) zum Spielbankrecht, als das Bundesverfassungsgericht allein für § 7 einer VO über öffentliche Spielbanken von 1938 feststellte, daß er nicht als Bundesrecht fortgilt. 133 BVerfGE 111, 10 (28). 132
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
men, welche Teile des Gesetzes genau nach Art. 125 a Abs. 2 GG fortgelten. Es machte die Änderung des Ladenschlußgesetzes von 1996 zum Gegenstand seiner Prüfung. Diese Änderung bezog sich gerade nicht auf den § 17 BLadSchlG, sondern nur auf öffnungsrelevante Bestimmungen.134 An weiteren Stellen des Urteils kommt das Verständnis des Bundesverfassungsgerichts, das gesamte Ladenschlußgesetz gelte nach Art. 125 a Abs. 2 GG fort, aber ebenfalls zum Ausdruck: „Das Ladenschlußgesetz ist vor In-Kraft-Treten des Art. 72 Abs. 2 GG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 27. Oktober 1994 erlassen worden. Die zu diesem Zeitpunkt bereits geltenden Bundesgesetze bleiben nach Art. 125 a Abs. 2 S. 1 GG als Bundesrecht in Kraft. ....Die Zuständigkeit zur Änderung eines von Art. 125 a Abs. 2 S. 1 GG erfaßten Gesetzes liegt weiterhin beim Bundesgesetzgeber.“135
Dabei muß man berücksichtigen, daß sich das Bundesverfassungsgericht 2004 gar nicht mit der Abgrenzung zwischen Nr. 11 und Nr. 12 des Art. 74 Abs. 1 GG auseinandersetzen mußte, weil sich die Verfassungsbeschwerde auf die Kernregelung zu Ladenöffnungszeiten, § 3 BLadSchlG, bezog und nicht auf § 17 BLadSchlG. Zudem galt die Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG für beide Kompetenztitel in Art. 74 Abs. 1 GG, während nunmehr das Arbeitsrecht gemäß dem neuen Art. 72 Abs. 2 GG nicht mehr der Erforderlichkeitsklausel unterfällt. Diese Erwägungen führen zum Ergebnis, daß die Anwendbarkeit des § 17 BLadSchlG nicht schon wegen Art. 125 a Abs. 1 GG entfällt, weil die Länder entsprechende Regelungen in ihren Ladenschlußgesetzen aufgenommen haben.
2. Verfassungsrechtliche Grundlage der Fortgeltung des § 17 BLadSchlG Bevor die Sperrwirkung des § 17 BLadSchlG für die Länder weiter untersucht wird, bietet es sich an, die seit dem 1. September 2006 wirkende verfassungsrechtliche Grundlage dieser Norm zu klären, wenn es Art. 125 a Abs. 1 GG jedenfalls nicht ist. Die eher rechtshistorische Frage, ob neben den öffnungsrelevanten Regelungen der §§ 3 bis 15 BLadSchlG auch § 17 BLadSchlG zwischen dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts am 9. Juni 2004 und dem 1. September 2006 nach Art. 125 a Abs. 2 GG fortgalt oder § 17 BLadSchlG weiterhin in Art. 72 i. V. m. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG seinen verfassungsrechtlichen Geltungsgrund fand, kann hier dahinstehen. ___________ 134 135
Vgl. BGBl. 1996 I, S. 1186. BVerfGE 111, 10 (29 f).
3. Kapitel: Umfang neuer Länder- und fortgeltender Bundeskompetenz
249
Selbst wenn das Urteil des Bundesverfassungsgerichts das gesamte Bundesladenschlußgesetz erfaßt hätte und § 17 BLadSchlG in dieser Zwischenzeit nur auf Grundlage des Art. 125 a Abs. 2 GG als Bundesrecht fortgegolten hätte,136 stellt Art. 72 i. V. m. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG jedenfalls seit der Grundgesetzänderung zum 1. September 2006 die verfassungsrechtliche Grundlage der Bestimmungen des § 17 BLadSchlG dar. Durch die Föderalismusreform zum 1. September 2006 hat der Gesetzgeber den Anwendungsbereich der Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG auf eine Auswahl der Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 GG beschränkt und das Arbeitsrecht nach dessen Nr. 12 ausgenommen, vgl. Art. 72 Abs. 2 GG n. F. Hintergrund dieser Beschränkung sind die mit dem Altenpflegeurteil konkretisierten und gestiegenen Anforderungen an das Vorliegen der Voraussetzung der Erforderlichkeitsklausel, die sich für den Bund als „hinderlich“ für seinen legislativen Gestaltungswillen darstellen.137 Wenn eine Regelung wie § 17 BLadSchlG noch nicht existieren würde und der Bundesgesetzgeber sie heute einführen wollte, wäre ihm dies aufgrund dieser Neuerung ohne Probleme auf der Grundlage des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG möglich. Kann etwas anderes gelten, weil er diese Vorschrift schon vor etlichen Jahren erlassen hatte und die Regelung möglicherweise schon dem Anwendungsbereich des Art. 125 a Abs. 2 GG unterfallen war? Im Ergebnis ist diese Frage zu verneinen. Wenn § 17 BLadSchlG schon vor dem 1. September 2006 aufgrund von Art. 72 Abs. 2 GG i. V. m. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG galt und sich das Urteil des Bundesverfassungsgericht von 2004 nur auf die öffnungsrelevanten Regelungen der §§ 3 bis 15 BLadSchlG bezog, wäre dies unproblematisch auch danach der Fall. Nur auf den ersten Blick komplizierter ist die Frage, ob nunmehr auch Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG die Grundlage des § 17 BLadSchlG darstellt, wenn diese Regelung zwischenzeitlich unter Art. 125 a Abs. 2 GG fiel. Mit der Verfassungsänderung vom 28. August 2006 hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, daß arbeitsrechtliche Normen nicht mehr den Anforderungen des Art. 72 Abs. 2 GG unterliegen sollen. Für den Fall, daß eine bundesgesetzliche Regelung nur nach Art. 125 a Abs. 2 GG gilt, durch die Föderalismusreform 2006 ___________ 136 Dagegen spricht aber, daß es sich bei dem dem Urteil zugrundeliegenden Verfahren um eine Verfassungsbeschwerde, nicht um eine abstrakte Normenkontrolle handelte. Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen Urteile der ordentlichen Gerichte bezogen sich auf § 1 UWG und § 3 BLadSchlG und somit auf die Ladenschlußregelung im engeren Sinne und nicht explizit auf § 17 BLadSchlG, vgl. BVerfGE 111, 10 (11). Wie hier auch Kämmerer / Thüsing, GewArch 2006, S. 266 (272). 137 Vgl. die Formulierung in der Gesetzesbegründung, nach der sich die nunmehr konkretisierten Kriterien „als hinderlich“ erweisen in Bereichen, „bei denen das gesamtstaatliche Interesse an einer bundesgesetzlichen Regelung allgemein anerkannt ist“, BTDrs. 16/813, S. 7.
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
wie im vorliegenden Fall aber der Bund profitiert und die Norm sich Art. 72 Abs. 2 i. V. m. Art. 74 GG (wieder) zuordnen läßt, existiert keine Übergangsvorschrift in den Art. 125 a, 125 b und 125 c GG. Auch dem Grundgedanken nach können diese Artikel nicht zur (analogen) Anwendung kommen, da sie gerade solche Fälle regeln, in denen eine Gesetzgebungskompetenz von einer staatlichen Ebene auf die andere übergeht. Ein solcher Fall liegt aber bei § 17 BLadSchlG gar nicht vor, da er sich vor und nach dem 1. September 2006 zweifelsfrei auf eine Kompetenzgrundlage des Bundes gründet. Art. 125 a Abs. 2 GG ist nicht (mehr) auf § 17 BLadSchlG anwendbar, weil diese Norm noch als Bundesrecht erlassen werden könnte und damit schon eine Voraussetzung des Art. 125 a Abs. 2 GG nicht erfüllt ist. Daher sind die allgemeinen Regeln der Art. 70 ff GG anzuwenden: Der verfassungsrechtliche Grund der Geltung des § 17 BLadSchlG ist seit dem 1. September 2006 also Art. 72 Abs. 1 i. V. m. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, weil es sich um eine Regelung zur Arbeitszeit und somit des Arbeitsschutzes handelt.
3. Sperrwirkung für die Länder durch § 17 BLadSchlG Die Länder dürften eine Regelung über die Beschäftigung von Arbeitnehmern in Verkaufsstellen in ihren Ladenschlußgesetzen nur treffen, wenn § 17 BLadSchlG oder eine andere Bundesregelung etwa im Arbeitszeitgesetz keine Sperrwirkung entfaltet. Unabhängig von der verfassungsrechtlichen Grundlage fragt sich zunächst, ob § 17 BLadSchlG überhaupt noch Geltung beanspruchen kann, wenn ein Bundesland ein eigenes Ladenschlußgesetz verabschiedet hat. Denn dann gelten die Normen des Bundesladenschlußgesetzes (§§ 3 bis 15), auf die einzelne Absätze des § 17 BLadSchlG verweisen, unstreitig als Folge des Art. 125 a Abs. 1 GG für dieses Bundesland nicht mehr. § 17 BLadSchlG nimmt in vier Absätzen explizit auf die im Bundesladenschlußgesetz geregelten Öffnungszeiten Bezug.138 Bevor die einzelnen Absätze des § 17 BLadSchlG gesondert untersucht werden, ist eine Gesamtbetrachtung dieser Norm notwendig. Auch das Bundesverfassungsgericht verlangt stets bei Fragen der Kompetenzabgrenzung eine Beachtung des Regelungszusammenhangs.139 ___________ 138
§ 17 Abs. 1 verweist auf §§ 4 bis15, § 17 Abs. 2 a auf § 10, § 17 Abs. 3 auf §§ 4 bis 6, 8 bis 12, 14 und 15 sowie § 17 Abs. 7 auf mehrere Paragraphen der §§ 4 bis 16 BLadSchlG. 139
BVerfGE 98, 265 (299).
3. Kapitel: Umfang neuer Länder- und fortgeltender Bundeskompetenz
251
a) Entstehungsgeschichte Für eine solche Gesamtbetrachtung ist zunächst ein Blick auf die Entstehung des § 17 BLadSchlG hilfreich. Wie die Materialien und der Gesetzeswortlaut selbst zu erkennen geben, war es von Anfang an Wille des Gesetzgebers, bestimmte andere Normen zugunsten von Arbeitnehmern unberührt zu lassen und lediglich einen zusätzlichen Schutz im Ladenschlußgesetz zu schaffen.140 Dafür spricht etwa der bereits 1956 eingeführte und erst 1994 aufgehobene § 17 Abs. 6 BLadSchlG, der zum einen in Satz 1 ausdrücklich vorschrieb, daß weitergehende Vorschriften zum Schutze der Arbeitnehmer in anderen Gesetzen durch die Regelungen in den § 17 Abs. 1 bis 5 unberührt bleiben.141 Zum anderen ließ diese Vorschrift laut Satz 2 ausdrücklich bestimmte Regelungen der damals für die Sonntagsbeschäftigung maßgeblichen Gewerbeordnung unberührt. Damit wird deutlich, daß sich § 17 BLadSchlG von Beginn seiner Geltung an mit Inkrafttreten des Ladenschlußgesetzes in ein Gesamtgefüge von sonntags- und arbeitnehmerschützenden Vorschriften einpaßte. Bemerkenswert ist die Tatsache, daß der Gesetzgeber mit der Verabschiedung des Arbeitszeitgesetzes 1994 den erwähnten § 17 Abs. 6 S. 1 BLadSchlG (1956) aufhob, ohne die Gründe dafür näher darzulegen.142 Wie Zmarzlik / Roggendorf zur Recht anmerken, handelte es sich bei § 17 Abs. 6 S. 1 BLadSchlG (1956) um eine rein deklaratorische Vorschrift.143 Daher entfiel die Notwendigkeit, ausdrücklich den Charakter des § 17 BLadSchlG als Mindestschutz144 zugunsten der Arbeitnehmer hervorzuheben, da sich das Verhältnis zu anderen Vorschriften etwa des Arbeitszeitgesetzes nach allgemeinen Regeln bestimmen ließ. Die Entstehung des § 17 BLadSchlG und seine bis 1994 geltende Fassung lassen also folgenden Schluß zu: Diese Regelung verstand sich nicht als exklusive Vorschrift für den Schutz der Arbeitnehmer in Verkaufsstellen, sondern als Spezialregelung,145 die einer Geltung von nicht geregelten Fragen des Arbeitnehmerschutzes keinesfalls entgegenstand.
___________ 140
Rühling, Ladenschlußgesetz, 2004, S. 118 f. BGBl. 1956 I, S. 875. 142 Vgl. BT-Drs. 12/5888, S. 34, wo lediglich die Streichung des Satzes 2 des § 17 Abs. 6 BLadSchlG erläutert wird. 143 Zmarzlik / Roggendorf, Ladenschlußgesetz, 1997, § 17 Rnr. 4. 144 So Stober, Ladenschlußgesetz, 1990, § 17 Rnr. 11. 145 OVG Koblenz, DÖV 1996, S. 256 (257). 141
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
b) Absätze ohne ausdrücklichen Verweis auf BLadSchlG Der Wortlaut des § 17 BLadSchlG läßt auf die Fortgeltung einiger Absätze schließen: Eine kursorische Übersicht über den Regelungsgehalt des § 17 BLadSchlG gibt eine Zweiteilung innerhalb dieses Paragraphen zu erkennen: Einige Absätze beziehen sich ganz konkret auf Normen des Bundesladenschlußgesetzes, während andere diesen Bezug nicht ausdrücklich, sondern nur konkludent enthalten. Letztere können selbst dann einen sinnvollen, rechtssicher zu bestimmenden Regelungscharakter entfalten, wenn die Ladenöffnungszeiten durch andere gesetzliche Regelungen wie etwa Landesladenschlußgesetze normiert werden. § 17 Abs. 4 BLadSchlG enthält z. B. den Anspruch auf einen arbeitsfreien Samstag pro Monat, während Absatz 5 das Verbot festschreibt, Arbeitnehmer außerhalb der Öffnungszeiten zur Beschickung von Warenautomaten zu beschäftigen. Absatz 9 schließt die Anwendung des gesamten § 17 BLadSchlG auf pharmazeutisch vorgebildete Arbeitnehmer aus. Diese drei genannten Absätze entbehren jedes ausdrücklichen Bezugs zu den Regelungen über die Öffnungszeiten des Bundesladenschlußgesetzes, so daß man von ihrer Anwendbarkeit auch dann ausgehen kann, wenn nicht mehr der Bund, sondern die Länder die Öffnungszeiten regeln. Gleiches gilt für die Regelung des Absatzes 2, der die maximale Beschäftigungsdauer an Sonn- und Feiertagen auf acht Stunden beschränkt, ohne auf einzelne Paragraphen des Bundesladenschlußgesetzes Bezug zu nehmen. Allen diesen vier Absätzen liegt die Annahme zugrunde, daß die Ladenöffnung nicht völlig freigegeben ist, sondern zwischen Zeiten des Ladenschlusses und der Ladenöffnungszeiten differenziert wird. Zwar kann man nicht bestreiten, daß der Bundesgesetzgeber den gesamten § 17 BLadSchlG von Anfang an in den Kontext der Ladenschlußregelungen im Bundesladenschlußgesetz einfügen wollte. Ob der Bundes- oder der Landesgesetzgeber die genauen Zeiten festlegt, ändert am Sinn und Zweck der Vorschriften allerdings nichts. Denn die genaue Stundenzahl an erlaubter Öffnung ist nicht erheblich für die Frage, ob etwa ein freier Samstag gewährt werden soll oder man maximal acht Stunden in Verkaufsstellen beschäftigt werden darf an Sonn- und Feiertagen. Der Normbefehl dieser Absätze läßt sich auch nach Inkrafttreten von landeseigenen Ladenschlußregelungen in einem Bundesland rechtssicher feststellen. c) Absätze mit ausdrücklichem Verweis auf BLadSchlG Dagegen nehmen § 17 Abs. 1, 2 a, 3 und 7 BLadSchlG ausdrücklich auf Einzelregelungen des Bundesladenschlußgesetzes Bezug. Damit kommt zum Ausdruck, daß der Gesetzgeber bei der Abfassung und späteren Änderung des § 17 BLadSchlG genau differenziert hat, welche Regelungen für Arbeitnehmer in
3. Kapitel: Umfang neuer Länder- und fortgeltender Bundeskompetenz
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welchen Fällen gelten sollen. Beispielsweise hat er die Möglichkeit zur ausnahmsweisen Öffnung im Einzelfall nach § 23 BLadSchlG nicht in den Absätzen 1 und 3 des § 17 BLadSchlG berücksichtigt, sondern eine Einzelfallregelung für die ausnahmsweise Beschäftigung von Arbeitnehmern in § 17 Abs. 8 BLadSchlG getroffen. Diese differenzierte Gesetzgebung spricht gegen eine pauschale Gleichbehandlung aller Absätze des § 17 BLadSchlG nach Inkrafttreten der Ladenöffnungsgesetze in den Bundesländern. Eine solche Unterscheidung von Regelungen innerhalb eines Paragraphen hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung stets praktiziert, wenn es einzelne Absätze oder sogar nur Sätze eines Paragraphen für verfassungswidrig, andere für verfassungsgemäß erklärt hat.146 Offensichtlich unanwendbar wird § 17 Abs. 2 a BLadSchlG, da dort ganz konkret auf den ausnahmsweise Sonntagsverkauf nach § 10 BLadSchlG verwiesen wird. Die bisher erlassenen Ladenöffnungsgesetze enthalten zwar ganz überwiegend Sonderregelungen für Kur- und Erholungsorte,147 aber der klare Wortlaut des § 17 Abs. 2 a mit seiner ausdrücklichen Bezugnahme auf einen bestimmten Paragraphen des Bundesladenschlußgesetzes steht einer weiteren Anwendung entgegen. Weil man nämlich nicht generell davon ausgehen kann, daß die Länder genau diese Regelungen in ihren Ladenschlußgesetzen für Kurund Erholungsorte beibehalten, verliert § 17 Abs. 2 a BLadSchlG seinen Bezugspunkt und enthält keinen rechtssicheren Tatbestand mehr. Etwas weniger eindeutig ist das Außerkrafttreten der Absätze 1, 3 und 7 des § 17 BLadSchlG, da sie sich bei der Umschreibung der ausnahmsweise zulässigen Öffnungszeiten auf konkrete Normen des Bundesladenschlußgesetzes beziehen. Als Beispiel sei § 17 Abs. 1 BLadSchlG zitiert: „In Verkaufsstellen dürfen Arbeitnehmer an Sonn- und Feiertagen nur während der ausnahmsweise zugelassenen Öffnungszeiten (§§ 4 bis 15 und die hierauf gestützten Vorschriften) und, falls dies zur Erledigung von Vorbereitungs- und Abschlußarbeiten unerläßlich ist, während insgesamt weiterer 30 Minuten beschäftigt werden.“
Dem Wortlaut nach ist der Klammerzusatz bei Inkrafttreten eines Landesladenschlußgesetzes hinfällig, weil die §§ 3 bis 15 BLadSchlG gemäß Art. 125 a Abs. 1 GG dann ihre Gültigkeit verlieren. Zwei Schlüsse sind denkbar: Entweder die in Klammern gesetzten Paragraphen definieren abschließend den vor der Klammer stehenden Begriff „ausnahmsweise zugelassenen Öffnungszei___________ 146
Vgl. nur BVerfGE 26, 338 (339); 78, 179 (180); 109, 64 (65), wo es jeweils einzelne Sätze oder Absätze und nicht etwa einen gesamten Paragraphen für verfassungswidrig erklärt. Zu allgemein für § 17 BLadSchlG Kämmerer / Thüsing, GewArch 2006, S. 266 (270 f, 273 f), die lediglich davon sprechen, daß die Fortgeltung des § 17 BLadSchlG ungewiß sei. 147 Z. B. § 5 Abs. 2 LadÖffG Bbg, § 7 Abs. 1 LadÖffG Hamb, § 6 Abs. 2 LadÖffG NRW, § 9 Abs. 2 LadÖffG RhPf.
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
ten“; dann ist der gesamte Absatz nicht mehr anwendbar, weil dieser Begriff nicht mehr rechtssicher bestimmt werden kann. Oder die Paragraphen sind nur beispielhaft erwähnt und man könnte eine dynamische Verweisung auf die jeweils gültigen gesetzlichen Regelungen zu den „ausnahmsweise zugelassenen Öffnungszeiten“ annehmen. Für die erste Alternative spricht die übliche Praxis des Gesetzgebers, Legaldefinitionen in Klammern kenntlich zu machen.148 Für die zweite Alternative ließe sich vorbringen, daß § 17 Abs. 1 BLadSchlG auch ohne konkrete Paragraphenangabe weiterhin einen rechtssicheren Normbefehl enthält, solange die Ladenöffnungszeiten nach dem Grundmuster „allgemeine Ladenöffnungszeiten - ausnahmsweise Ladenöffnungszeiten“ normiert sind: Arbeitnehmer dürfen sonn- und feiertags nur während der ausnahmsweise zulässigen Ladenöffnungszeiten und maximal 30 Minuten darüber hinaus beschäftigt werden, falls dies zur Erledigung von Vorbereitungs- und Abschlußarbeiten unerläßlich ist. Selbst wenn man sich im Sinne der zweiten Alternative vom konkreten Wortlaut löst und § 17 Abs. 1 BLadSchlG im Lichte der Verfassung und - genauer gesagt - der neuen Kompetenzregelung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG auslegt und es sich so ergibt, daß sich die in Bezug genommenen Öffnungszeiten aus dem jeweiligen Landesladenschlußgesetz ergeben, verbleiben Zweifel, ob eine solche dynamische Verweisung auf die jeweiligen Länderregelungen zulässig ist. Es würde sich nicht um eine klassische dynamische Verweisung handeln, weil sie vom Gesetzgeber ursprünglich nicht vorgesehen war und nur durch Auslegung entgegen dem Wortlaut zu ermitteln wäre. Die schon bei einer ausdrücklichen dynamischen Verweisung des Bundesgesetzgebers auf Landesgesetze bestehenden Zweifel an ihrer Zulässigkeit149 wären im Fall des § 17 Abs. 1 BLadSchlG noch gesteigert. Zwar sind auch ebenenübergreifende dynamische Verweisungen mit der Rechtsprechung und Teilen der Literatur als grundsätzlich zulässiges Mittel der Gesetzgebungstechnik anzusehen, sofern sie den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und der Bundesstaatlichkeit genügen.150 Allerdings muß eine Verweisung hinreichend bestimmt sein und klar erkennen lassen, welche Vorschriften im einzelnen gelten sollen, um dem Gebot der Rechtssicherheit zu genügen.151 Im Falle des § 17 Abs. 1 BLadSchlG wäre aber gerade eine klare Erkennbarkeit nicht gegeben: Wenn trotz des Wortlauts nicht der Klammerzusatz für ___________ 148
Vgl. nur Art. 109 Abs. 4 Nr. 2, Art. 107 Abs. 1 S. 1 und Art. 115 a Abs. 1 GG. Eine dynamische Verweisung bei fehlender Identität des Normgebers lehnt ab Dreier, in: ders., GG, 2006, Art. 20 (Demokratie), Rnr. 121. 150 BVerfGE 78, 32 (36); 47, 285 (312 f); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, 2006, Art. 20 (Rechtsstaat), Rnr. 144. 151 BVerfGE 26, 338 (367); 78, 32 (35); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, 2006, Art. 20 (Rechtsstaat), Rnr. 143. 149
3. Kapitel: Umfang neuer Länder- und fortgeltender Bundeskompetenz
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die Bestimmung der ausnahmsweise zulässigen Öffnungszeiten maßgebend ist, sondern es Landesgesetze sind, wird dies für den Rechtsanwender nicht ersichtlich. Daher scheidet eine verfassungskonforme Auslegung des § 17 Abs. 1 BLadSchlG mit der Folge eines schweigenden dynamischen Verweises auf die Landesladenschlußgesetze aus. Gleiches gilt für die Absätze 3 und 7 des § 17 BLadSchlG, die auch auf einzelne, genau bestimmte Normen des Bundesladenschlußgesetzes verweisen. Die Ausgleichsregelung des § 17 Abs. 3 BLadSchlG bezieht sich wie § 17 Abs. 1 BLadSchlG ebenfalls auf alle Ausnahmen vom generellen Ladenschluß, auch wenn die Aufzählung in der Norm selbst zunächst anderes vermuten läßt.152 Als Zwischenergebnis läßt sich festhalten: Mangels expliziten Verweises auf die Ladenschlußregelungen des Bundesladenschlußgesetzes gelten § 17 Abs. 2, 4 und 5 BLadSchlG fort. Die Ermächtigungsnorm des § 17 Abs. 8 BLadSchlG kann auch für Einzelfälle für die vorgenannten Absätze 2, 4 und 5 des § 17 BLadSchlG angewandt werden. § 17 Abs. 9 BLadSchlG enthält keinen Bezug zu speziellen Öffnungszeiten und bleibt daher gleichfalls anwendbar. Mangels direkter Anwendbarkeit läßt sich für die Absätze 1, 3 und 7 des § 17 BLadSchlG noch an eine analoge Anwendung denken, wofür eine planwidrige Regelungslücke und eine Vergleichbarkeit der Fälle gegeben sein muß.153
4. Geltung des Arbeitszeitgesetzes für Verkaufspersonal Allerdings könnte die gesetzliche Lücke durch die allgemeinen Regelungen des Arbeitszeitgesetzes gefüllt werden und damit die analoge Anwendung ausscheiden. Das Arbeitszeitgesetz des Bundes bringt für die Länder eine Kompetenzsperre i. S. d. Art. 72 Abs. 1 GG mit sich, wenn es die mit der Beschäftigung von Arbeitnehmern in Verkaufsstellen zusammenhängenden Fragen abschließend regelt. Dies ist im Ergebnis der Fall: Das Arbeitszeitgesetz stellt i. V. m. den fortgeltenden Absätzen 2, 4, 5 und 9 des § 17 BLadSchlG für diese Arbeitnehmer eine abschließende Regelung dar. Dieses Ergebnis liegt keinesfalls auf der Hand, sondern ist Resultat einer differenzierenden Analyse. Nach der richtigen Ansicht des Bundesverfassungsgerichts sind bei der Beantwortung der Frage, ob und wieweit der Bund von einer ___________ 152 Die Aufzählungen in § 17 Abs. 1 und Abs. 3 BLadSchlG sind nur deshalb unterschiedlich, weil Absatz 3 schon berücksichtig, daß die § 7 und § 13 BLadSchlG weggefallen sind. 153 Diese Kriterien legt sowohl die Rechtsprechung als auch die Literatur an, vgl. statt aller Hemke, Methodik der Analogiebildung, 2006, S. 27 und 39.
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
Kompetenz Gebrauch gemacht hat, mehrere Aspekte zu berücksichtigen: Zunächst ist das Bundesgesetz selbst heranzuziehen, in zweiter Linie der dem Gesetz zugrundeliegende Regelungszweck und drittens die Gesetzgebungsgeschichte und die Gesetzesmaterialien. Ob die Kompetenz schließlich gerade abschließend genutzt wurde, muß in einer Gesamtwürdigung des betreffenden Normkomplexes festgestellt werden. Dieser Maßstab gilt auch für die Frage, ob ein absichtsvoller Regelungsverzicht vorliegt. Ein solches Unterlassen kann auch ein Gebrauchmachen einer Bundeskompetenz darstellen und Sperrwirkung für die Länder entfalten.154
a) BLadSchlG keine abschließende Regelung für Arbeitnehmer Auf den ersten Blick spricht für einen solchen Regelungsverzicht im Arbeitszeitgesetz, daß der Bundesgesetzgeber schon 1956 in Gestalt des § 17 BLadSchlG eine Sondervorschrift über den Schutz von Arbeitnehmern geschaffen hat, die in Verkaufsstellen beschäftigt sind. Im Zentrum der Betrachtung muß jedoch das Arbeitszeitgesetz stehen. Das Arbeitszeitgesetz enthält keinen Katalog derjenigen Wirtschaftsbranchen oder Arbeitnehmergruppen, für die es positiv gilt. Vielmehr geht es grundsätzlich von einer Anwendung auf alle Arbeitnehmer über 18 Jahre aus, wie die Legaldefinition des Arbeitnehmers in § 2 Abs. 2 ArbZG und der Zweck des Gesetzes in § 1 ArbZG zeigen. Dagegen sind bestimmte Berufsgruppen wie etwa Chefärzte, im liturgischen Bereich der Kirchen Tätige oder Besatzungsmitglieder von Kauffahrteischiffen in den Sonderregeln der §§ 18 bis 21 ArbZG ganz oder teilweise aus dem persönlichen Anwendungsbereich ausdrücklich ausgenommen.155 In diesen Sonderregeln finden sich keine Ausnahmen für Arbeitnehmer in Verkaufsstellen. Weil sie auch unter die Legaldefinition des Arbeitnehmers in § 2 Abs. 2 ArbZG fallen, ist grundsätzlich von einer Geltung des Arbeitszeitgesetzes für diese abhängig Beschäftigten auszugehen. Der Gesetzgeber hätte andernfalls in den §§ 18 bis 21 ArbZG eine Sonderregel oder Ausnahmevorschrift schaffen können, wie er es beispielsweise bis 1996 für Arbeitnehmer in Bäckereien und Konditoreien in § 18 Abs. 4 getan hatte.156 ___________ 154
BVerfGE 98, 265 (300 f); 109, 190 (229 f). Beamte, Richter und Soldaten sind aufgrund ihres öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses ausgenommen; vgl. auch zu weiteren Ausnahmen Anzinger, in: Richardi, Handbuch Arbeitsrecht II, 2000, § 218 Rnr. 76 bis 82. 156 Mit der Aufhebung des Gesetzes über die Arbeitszeit in Bäckereien hob der Gesetzgeber gleichzeitig § 18 Abs. 4 ArbZG auf und führte Sonderregeln für Bäckereien in § 2 Abs. 3 und § 10 ArbZG ein, BGBl. I 1996, S. 1187. Allerdings dürfen Bäckereien rechtlich gesehen nicht mit Verkaufsstellen für Backwaren verwechselt werden, vgl. § 3 Abs. 1 S. 2 BLadSchlG in der Fassung v. 30. Juli 1996, BGBl. I 1996, S. 1186, der aus155
3. Kapitel: Umfang neuer Länder- und fortgeltender Bundeskompetenz
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b) Ineinandergreifen von Ladenschluß- und Arbeitszeitgesetz seit 1994 Eine nähere Analyse zeigt, daß das Arbeitszeitgesetz bereits seit seinem Inkrafttreten 1994 neben den speziellen Regelungen in § 17 BLadSchlG für Arbeitnehmer in Verkaufsstellen gilt. Denn § 17 BLadSchlG regelt keinesfalls alle zum Arbeitszeitrecht gehörenden Fragen. Wie Anzinger zutreffend ausführt, umfaßt das Arbeitszeitrecht im weiteren Sinne vier Bereiche: 1. die Dauer der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit, 2. die zeitliche Lage der Arbeit während des Tages, 3. Pausen während der Arbeit und arbeitsfreie Zeit nach der Arbeit (u. a. Ausgleichszeiten) und 4. Regelungen zur allgemeinen Arbeitsruhe bzw. Voraussetzungen für die ausnahmsweise Zulässigkeit von Arbeit an Sonn- und Feiertagen.157
aa) § 17 BLadSchlG als Ausschnitt des Arbeitsschutzes Von diesen vier Bereichen regelt § 17 BLadSchlG nur Teilbereiche und privilegiert insgesamt das Verkaufspersonal des Einzelhandels gegenüber anderen Arbeitnehmern. Dieses Ergebnis ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Die maximale Dauer der täglichen Arbeitszeit von acht Stunden ist zum Beispiel nur in § 17 Abs. 2 BLadSchlG speziell für Sonn- und Feiertage geregelt, so daß diese Regelung § 11 Abs. 2 i. V. m. § 3 S. 2 ArbZG vorgeht,158 die auch eine zehnstündige sonntägliche Arbeitszeit zuläßt. Für die werktägliche maximale Arbeitszeit der Arbeitnehmer in Verkaufsstellen gilt aber unstreitig § 3 ArbZG, weil das Bundesladenschlußgesetz dazu keine Sonderregelung enthält. Die zeitliche Lage der Arbeit während des Tages ist im Bundesladenschlußgesetz für die Werktage gar nicht geregelt, und für den Sonn- und Feiertagsschutz nur mittelbar, wenn ohne den Rückgriff auf bestimmte Uhrzeiten in § 17 Abs. 1 BLadSchlG festgelegt wird, daß die Beschäftigung von Arbeitnehmern nur während der ausnahmsweise zulässigen Öffnungszeiten und insgesamt 30 weiteren Minuten erlaubt ist. ___________ drücklich von „Verkaufsstellen für Bäckerwaren“ spricht. Ebenso Zmarzlik / Roggendorf, Ladenschlußgesetz, 1997, S. 173 f. 157 Anzinger, in: Richardi, Handbuch Arbeitsrecht II, 2000, § 217 Rnr. 1. Ziel des Arbeitszeitgesetzes von 1994 ist, diese vier Bereiche abzudecken, vgl. die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 12/5888, S. 19. 158 Anzinger, in: Richardi, Handbuch Arbeitsrecht II, 2000, § 224 Rnr. 55.
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
Zu den notwendigen Pausen enthält das Bundesladenschlußgesetz gar keine Regelung, so daß hier auch schon vor dem 1. September 2006 und vor entsprechenden Landesladenschlußgesetzen § 11 Abs. 2 i. V. m. § 4 ArbZG galt und heute noch gilt. Für die Ausgleichszeiten trifft § 17 Abs. 3 BLadSchlG eine Sonderregelung, die § 11 Abs. 3 ArbZG vorgeht, da sie speziellere und deutlich detailliertere Vorschriften auf Tatbestands- und Rechtsfolgenseite enthält.159 Gleiches gilt für § 17 Abs. 4 BLadSchlG, der einen ganz konkreten Anspruch der Arbeitnehmer auf Freistellung an einem Samstag pro Kalendermonat begründet; eine entsprechende Regelung fehlt im Arbeitszeitgesetz. Die ausnahmsweise Zulässigkeit von Sonntagsarbeit ergibt sich aus § 17 Abs. 1 BLadSchlG, der damit eine Abweichung zum grundsätzlichen Verbot der Beschäftigung von Arbeitnehmer an Sonn- und Feiertagen nach § 9 ArbZG statuiert.160 Für die Höchstzahl von 22 Sonntagen, an denen eine Beschäftigung erlaubt ist, enthält § 17 Abs. 2 a BLadSchlG eine Sonderregelung, die für den in Kur- und Erholungsorten beschäftigten Arbeitnehmer günstiger ist, als die mindestens 15 beschäftigungsfreien Sonntage nach § 11 Abs. 1 ArbZG.161 Somit ergibt sich ein differenziertes Bild, was die Anwendung des Arbeitszeitgesetzes auf die Arbeitnehmer in Verkaufsstellen angeht: § 17 BLadSchlG regelt einige, aber längst nicht alle Bereiche des Arbeitszeitrechts im weiteren Sinne. Er enthält insbesondere Spezialbestimmungen für die Sonn- und Feiertagsarbeit.162 § 17 BLadSchlG verstärkt den Schutz der Arbeitnehmer in Verkaufsstellen, indem die Beschäftigungszeit auf maximal acht Stunden begrenzt wird und ein besonderer Freizeitausgleich geschaffen wird.163 Wenn § 17 BLadSchlG keine Regelung trifft, kommt das Arbeitszeitgesetz zur Anwendung. Schließlich ist zu beachten, daß das Arbeitszeitgesetz für alle oben genannten vier Bereiche des Arbeitszeitrechts im weiteren Sinne Regelungen trifft. Dem Gesetz läßt sich also ein Anspruch auf vollständige Regelungen entnehmen. Wie mehrere Öffnungsklauseln für ausfüllende oder anderslautende tarifliche Vereinbarungen oder Ermächtigungen für die Aufsichtsbehörden zeigen, hat der Gesetzgeber bei Abfassung des Arbeitszeitgesetzes sich durchaus be___________ 159 Anzinger, in: Richardi, Handbuch Arbeitsrecht II, 2000, § 224 Rnr. 56; Zmarzlik / Roggendorf, Ladenschlußgesetz, 1997, § 17 Rnr. 12. 160 Neumann, Ladenschlußgesetz, 2003, § 17 Rnr. 3. 161 Geschäfte in Kur- und Erholungsorten dürfen nach § 10 BLadSchlG bei entsprechender Regelung der Landesregierung an maximal 40 Sonn- und Feiertagen öffnen. 162 Vgl. Anzinger, BB 1994, S. 1492 (1493), OVG Koblenz NJW 1995, S. 741 (742) und DÖV 1996, S. 256 (257) zum Spezialverhältnis des Bundesladenschlußgesetzes zum Arbeitszeitgesetz. 163 Stober, Ladenschlußgesetz, 2000, § 17 Rnr. 2.
3. Kapitel: Umfang neuer Länder- und fortgeltender Bundeskompetenz
259
wußt entschieden, seinen Geltungsanspruch in diesen Punkten unter gewissen Bedingungen zurückzunehmen. Es ist dem Arbeitszeitgesetz aber gerade nicht zu entnehmen, daß es sich in keinem Fall auf Arbeitnehmer beziehen wollte, die in Verkaufsstellen beschäftigt sind.164 Es wäre also verfehlt anzunehmen, das Arbeitszeitgesetz von 1994 bezöge die Arbeitnehmer in Verkaufsstellen nicht in den gesetzgeberischen Willen ein. Dieses Gesetz selbst und sein Verhältnis zu der 1994 bereits existierenden vorgreiflichen Regelung des § 17 BLadSchlG lassen erkennen, daß der Gesetzgeber im Arbeitszeitgesetz auch Regeln für die Arbeitnehmer in Verkaufsstellen aufstellen wollte.
bb) Regelungszweck des Arbeitszeitgesetzes Der Regelungszweck des Arbeitszeitgesetzes spricht ebenfalls für eine Einbeziehung dieser hier besonders interessierenden Arbeitnehmer. Laut § 1 ArbZG bezweckt das Gesetz, die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer zu gewährleisten und den Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage zu schützen. Den umfassenden Geltungsanspruch bringt auch § 9 ArbZG zum Ausdruck, der das grundsätzliche Verbot der Sonntagsbeschäftigung niederlegt, das nur durch die kasuistisch geprägten §§ 10 ff ArbZG durchbrochen wird. Daraus kann man schließen, daß das Arbeitszeitgesetz als eine abstrakt-generelle Regelung auch für solche Fälle gelten sollte, die der Gesetzgeber im Zeitpunkt der Verabschiedung noch nicht im Blick hatte und bei denen sich später aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen die Frage der Zulässigkeit von Sonntagsarbeit stellte. Zu denken ist etwa an sich neu entwikkelnde Branchen wie Internetdienstleister, die zwar 1994 noch nicht existierten, die der Gesetzgeber aber einbeziehen wollte. Diese Erstreckung auf erst entstehende Fallkonstellationen ist gerade der Vorteil einer abstrakt-generellen Regelungstechnik, wie sie auch dem Arbeitszeitgesetz zugrunde liegt.
cc) Entstehung des Arbeitszeitgesetzes Die Gesetzgebungsgeschichte des Arbeitszeitgesetzes zeigt zumindest, daß sich der Gesetzgeber der Existenz des § 17 BLadSchlG und seiner Fortgeltung auch nach Inkrafttreten des Arbeitszeitgesetzes bewußt war. Dies belegt zum einen die rein redaktionelle Anpassung des § 17 BLadSchlG durch das Arbeitzeitrechtsgesetz, das als Artikelgesetz nicht nur ___________ 164
So auch OVG Koblenz, NJW 1995, S. 741 (742).
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
das Arbeitszeitgesetz als Art. 1 enthielt, sondern auch die Änderung zahlreicher anderer Gesetze wie des Ladenschlußgesetzes in Art. 8.165 Zwar könnte man daraus schließen, daß der Gesetzgeber gerade die Arbeitnehmer in Verkaufsstellen nicht in den Geltungsbereich des Arbeitszeitgesetzes einbeziehen wollte. Jedoch hätte er dann diese Berufsgruppe wie andere auch ausdrücklich einer Sonderregelung gem. §§ 18 bis 21 ArbZG unterwerfen können. Aus der bewußten Entscheidung, § 17 BLadSchlG 1994 mit seinen Sonderregeln fortgelten zu lassen, kann also keineswegs geschlossen werden, daß das gesamte Arbeitszeitgesetz mit seinen sonstigen Arbeitschutzaspekten, die nicht im Bundesladenschlußgesetz geregelt sind, für das hier interessierende Verkaufspersonal nicht zur Anwendung kommen sollte.166 Zum anderen geben die Beratungsdokumente von Bundestag und Bundesrat bei der Erarbeitung des Arbeitszeitgesetzes ebenfalls keine Hinweise auf einen kompletten Ausschluß der Arbeitnehmer in Verkaufsstellen aus dem Geltungsbereich des Arbeitszeitgesetzes: Weder der Entwurf der Bundesregierung zum Arbeitszeitrechtsgesetz vom 13. Oktober 1993 noch die Beschlußempfehlung des innerhalb des Bundestages federführenden Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung liefern Indizien für diese Annahme.167 Die Materialien sprechen für eine bewußte Beibehaltung des § 17 BLadSchlG. Der Bundesrat hatte in seiner Stellungnahme vorgeschlagen, eine Regelung zur Arbeitszeit an Sonn- und Feiertagen in Verkaufsstellen in das zu erlassende Arbeitszeitgesetz aufzunehmen und folgerichtig § 17 BLadSchlG ganz zu streichen.168 Die Bundesregierung lehnte aber den Vorschlag des Bundesrates ab, zu einem späteren Zeitpunkt das Ladenschlußgesetz noch weitergehend ändern zu wollen. Damit kommt zum Ausdruck, daß § 17 BLadSchlG nur als Spezialregelung angesehen wurde im Hinblick auf die Frage der Zulässigkeit, Verkaufspersonal sonntags zu beschäftigen, und nicht auf die anderen Regelungen des Arbeitszeitgesetzes insbesondere zur werktäglichen Arbeitszeit. Das Arbeitszeitgesetz läßt bei einer Gesamtbetrachtung insgesamt nicht erkennen, daß die Länder gesetzliche Regelungen treffen können sollen, falls das Arbeitszeitgesetz keine Regelung trifft. Wie die ausdrücklichen Sonderregelungen in den §§ 18 bis 21 ArbZG zeigen, entfaltet das Gesetz nur in bestimmten Bereichen keinen Geltungsanspruch. Dieser grundsätzlich umfassende Regelungswille manifestiert sich auch in der Tatsache, daß den Tarifparteien an ___________ 165
BGBl. 1994 I, S. 1170. OVG Koblenz NJW 1995, S. 471 (472). 167 BT-Drs. 12/5888 sowie BT-Drs. 12/6990. 168 BT-Drs. 12/5888, S. 41. Ein Gesetzentwurf der SPD-Fraktion sah ebenfalls die Inkorporation des § 17 BLadSchlG in das Arbeitszeitgesetz vor, vgl. BT-Drs. 12/5282, S. 6 und 8. 166
3. Kapitel: Umfang neuer Länder- und fortgeltender Bundeskompetenz
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mehreren Stellen ausdrücklich abweichende Regelungen ermöglicht werden, damit diese in den genau umschriebenen Bereichen von ihrer Tarifautonomie Gebrauch machen können, vgl. § 6 Abs. 5, § 7 und § 12 ArbZG. Solche Öffnungsklauseln zugunsten des Landesgesetzgebers finden sich gerade nicht im Arbeitszeitgesetz. Den Ländern werden vielmehr auf zwei andere Arten bestimmte Kompetenzen eingeräumt: Entweder wird den Landesregierungen die Befugnis zum Erlaß von Rechtsverordnungen verliehen, § 13 Abs. 2 ArbZG, oder der nach Landesrecht bestimmten Aufsichtsbehörde werden bestimmte Kompetenzen zugeordnet, vgl. etwa § 13 Abs. 3 bis 5 sowie § 15 Abs. 1 und 2 ArbZG. Weiterhin ist zu beachten, daß das Arbeitszeitgesetz gerade dazu diente, verschiedene bis dahin existierende Bundesregelungen zur Arbeitszeit zusammenzuführen.169 Schließlich erfüllte Deutschland mit dem Arbeitszeitgesetz auch seine Verpflichtung, die Arbeitszeitrichtlinie der EG 93/104 vom 23. November 1993 umzusetzen. Diese Richtlinie erstreckt sich auch auf Arbeitnehmer in Verkaufsstellen und enthält zudem Bestimmungen zur werktäglichen Arbeitszeit.170 Dies alles spricht dafür, daß der Bundesgesetzgeber die Zulässigkeit von Sonn- und Feiertagsarbeit auf Bundesebene umfassend regeln wollte. Diesen weitgehenden Anspruch formulierte der Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Arbeitszeitgesetz. Er entsprach ferner dem Auftrag aus Art. 30 Abs. 1 Nr. 1 Einigungsvertrag, das öffentlich-rechtliche Arbeitszeitrecht einschließlich der Zulässigkeit von Sonn- und Feiertagsarbeit und den besonderen Frauarbeitsschutz einheitlich zu regeln.171 Die Gesetzesbegründung spricht daher auch davon, daß der Arbeitszeitschutz „im Grundsatz für alle Arbeitnehmer und für alle Beschäftigungsbereiche“ gilt. Vor diesem Hintergrund der Entstehungsumstände hätte es eines ausdrücklichen Hinweises des Gesetzgebers bedurft, wenn er bestimmte Regelungen der gesetzlichen Ausfüllung durch die Länder hätte überlassen wollen.
c) Gesamtwürdigung und Ergebnis Bei einer Gesamtwürdigung der dargelegten topoi läßt sich der umfassende Geltungsanspruch des Arbeitszeitgesetzes feststellen. Es sind weder im Gesetz noch in den Gesetzesmaterialien Hinweise darauf zu finden, daß der Bund von ___________ 169
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung nennt ausdrücklich als Ziel, bisher verstreuter Vorschriften in einem Gesetz zusammenzufassen, vgl. BT-Drs. 12/5888, S. 1. 170 Vgl. näher zur Entstehungsgeschichte Neumann / Biebl, Arbeitszeitgesetz, 2004, Einleitung Rnr. 15 ff. 171 BT-Drs. 12/5888, S. 1 und 19.
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
einer abschließenden Regelung absehen und den Ländern in bestimmtem Umfang Gesetzgebungsbefugnisse einräumen wollte. Vielmehr hat er genau unterschieden, welche Bereiche er für abweichende Regelungen der Tarifparteien, der Landesregierungen oder der Aufsichtsbehörden öffnet. Diese differenzierte Wertung würde man umgehen, wenn man einen absichtsvollen Verzicht auf Regelungen zugunsten (oder zu Lasten) von Arbeitnehmern in Verkaufsstellen annehmen würde. Diese genannten Aspekte sprechen insgesamt dafür, daß die arbeitszeitrechtlichen Regelungen des Bundes insbesondere im Arbeitszeitgesetz, aber auch in den Spezialgesetzen wie dem Mutter- oder Jugendschutzgesetz eine abschließende Regelung des Arbeitszeitrechts darstellen. Für die Gruppe der Arbeitnehmer in Verkaufsstellen enthält das Arbeitszeitgesetz also keine Regelungslücke. Die Länder dürften bei einer solchen abschließenden Regelung durch den Bund nur dann tätig werden, wenn es der Bund den Ländern ausdrücklich vorbehält. Das Bundesverfassungsgericht stellt mit Recht fest, daß es dem „rechtstaatlichen Prinzip der Gesetzesklarheit zuwider[liefe], wenn der Bundesgesetzgeber eine abschließende Regelung nachträglich unförmlich zu einer nicht abschließenden erklären könnte.“172 Einen ausdrücklichen Vorbehalt zugunsten der Länder hat der Bundesgesetzgeber weder bei der Grundgesetzreform 2006 noch im Begleitgesetz zu dieser Reform formuliert. Das Arbeitszeitgesetz war für Verkaufspersonal auch schon vor der Übertragung der Ladenschlußkompetenz auf die Länder anwendbar, soweit § 17 BLadSchlG keine Spezialregelung traf. Von dieser ineinandergreifenden Geltung des Arbeitszeitgesetzes und des Bundesladenschlußgesetzes geht auch die Literatur aus.173 § 17 BLadSchlG ist - entsprechend den allgemeinen Regeln nur insoweit lex specialis zum Arbeitszeitgesetz,174 wie es überhaupt Regelungen trifft. Konkret bedeutet dies für pharmazeutisch vorgebildete Arbeitnehmer in Apotheken, für die schon bisher wegen § 17 Abs. 9 BLadSchlG die Regelung des § 17 BLadSchlG nicht galt, daß schon seit 1994 das Arbeitszeitgesetz auf sie Anwendung findet.175 Wenn die Absätze 1, 2 a, 3 und 7 des § 17 BLadSchlG aufgrund des Inkrafttretens eines Landesladenschlußgesetzes ihren Anwendungsbereich verlieren, treten an ihre Stelle die allgemeinen Regelungen ___________ 172
BVerfGE 109, 190 (234). Anzinger, BB 1994, S. 1492 (1493) und ders., Ladenschlußrecht, 1996, Rnr. 80 ff; Neumann, Ladenschlußgesetz, 2003, § 17 Rnr. 1; Stober, Ladenschlußgesetz, 2000, § 17 Rnr. 3; Wank, in: Dieterich / Müller-Glöge, Arbeitsrecht, 2006, § 17 LadSchlG Rnr. 1 ff, Zmarzlik / Roggendorf, Ladenschlußgesetz, 1997, § 17 Rnr. 1. 174 OVG Koblenz DÖV 1996, S. 256 (257). 175 Anzinger, in: Richardi, Handbuch Arbeitsrecht II, 2000, § 224 Rnr. 58. 173
3. Kapitel: Umfang neuer Länder- und fortgeltender Bundeskompetenz
263
des Arbeitszeitgesetzes. Die Absätze 2, 4, 5 und 9 des § 17 BLadSchlG gelten dagegen fort. Selbst wenn man diese Fortgeltung einiger Absätze des § 17 BLadSchlG ablehnt und von einer Beendigung der Geltung des gesamten § 17 BLadSchlG bei Inkrafttreten der Landesladenschlußgesetze ausgeht, wird diese Lücke durch das dann anwendbare Arbeitszeitgesetz geschlossen.
d) Folgen der Anwendbarkeit des Arbeitszeitgesetzes für Arbeitnehmer Somit stellt sich die Kernfrage, ob Arbeitnehmer in Verkaufsstellen nach Erlaß der Landesladenschlußgesetze gemäß den Regelungen des Arbeitszeitgesetzes beschäftigt werden dürfen. Wie oben bereits dargestellt, ist die einzig maßgebliche Vorschrift von den Ausnahmevorschriften der §§ 10 ff ArbZG die Bestimmung des § 13 Abs. 3 Nr. 2 a ArbZG. Sie lebt dann auf, wenn § 17 Abs. 1 BLadSchlG nicht mehr eingreift.176 Solange § 17 Abs. 1 BLadSchlG gilt, entfaltet er für die Arbeitnehmer in Verkaufsstellen eine Sperrwirkung gegenüber § 13 ArbZG. Beide Normen regeln nämlich die Frage, wann Arbeitgeber ihre Arbeitnehmer an Sonn- und Feiertagen beschäftigen dürfen. Das Beschäftigungsrecht des Arbeitgebers richtet sich bei Wegfall des § 17 Abs. 1 BLadSchlG nach § 13 Abs. 3 Nr. 2 a ArbZG, da es sich bei Arbeit in Verkaufsstellen um eine Tätigkeit im Einzelhandel und damit im Handelsgewerbe handelt.
aa) Beschäftigungsrecht an bis zu zehn Sonntagen nach Arbeitszeitgesetz Nach § 13 Abs. 3 Nr. 2 a ArbZG kann die Aufsichtsbehörde abweichend vom grundsätzlichen Beschäftigungsverbot des § 9 ArbZG bewilligen, Arbeitnehmer im Handelsgewerbe an bis zu zehn Sonn- und Feiertagen im Jahr zu beschäftigen, an denen besondere Verhältnisse einen erweiterten Geschäftsverkehr erforderlich machen, und Anordnungen über die Beschäftigungszeit unter Berücksichtigung der für den öffentlichen Gottesdienst bestimmten Zeiten treffen. Diese Regelung erfaßte unstreitig schon vor dem 1. September 2006 und vor der Verabschiedung neuer Landesladenschlußgesetze grundsätzlich sowohl den ___________ 176
Vgl. oben 2. Teil, 3. Kapitel I. 4. a) aa) (1). Es kommt insbesondere keiner der Tatbestände des § 10 ArbZG zur Anwendung, der die Beschäftigung von Arbeitnehmer in bestimmten Branchen erlaubt.
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
Großhandel als auch den Einzelhandel,177 allerdings ging für Beschäftigte in Verkaufsstellen § 17 BLadSchlG dem § 13 Abs. 3 Nr. 2 a ArbZG vor.178 Zwar könnte man meinen, gerade die letztgenannten Bestimmung zeige, daß das Arbeitszeitgesetz den Bedürfnissen von Arbeitnehmern in Verkaufsstellen nicht Rechnung trage, da sie alle Beschäftigten im Handel gleich behandelt . Jedoch liefert der Gesetzeswortlaut für eine solche Auslegung keinen Hinweis. Das Arbeitszeitgesetz behandelt hier die Arbeitnehmer in allen Formen des Handels grundsätzlich gleich, und es tritt nur dann zurück, wenn es für bestimmte Arbeitnehmer Sonderregelungen in anderen Gesetzen - wie bisher in § 17 BLadSchlG - gibt. Falls das Spezialgesetz - wie hier einige Absätze des § 17 BLadSchlG - nicht mehr eingreift, gilt nach allgemeinen Regeln die lex generalis und damit das Arbeitszeitgesetz. Wenn von diesem Grundsatz abgewichen werden soll und das allgemeine Gesetz nicht zur Anwendung kommen soll, bedarf es besonderer Umstände und Hinweise auf einen anderslautenden Willen des Gesetzgebers. Solche Hinweise sind aber gerade im Verhältnis des § 13 Abs. 3 Nr. 2 a ArbZG zu § 17 Abs. 1 BLadSchlG nicht ersichtlich. Wenn nun § 13 Abs. 3 Nr. 2 a ArbZG anwendbar ist für den gesamten Einzelhandel und die hier interessierenden Verkaufsstellen, obliegt es nach dem Wortlaut den Aufsichtsbehörden, Ausnahmen von § 9 ArbZG zu bewilligen. Das Arbeitszeitgesetz bestimmt in § 17 Abs. 1 ausdrücklich, daß die Einhaltung des Gesetzes von den nach Landesrecht zuständigen Behörden, den Aufsichtsbehörden, überwacht wird. Diese Zuständigkeitsregelung verwehrt dem Landesgesetzgeber, an Stelle der Aufsichtsbehörde mit ihren Befugnissen eine solche Ausnahmeregelung per Gesetz in seinem Landesöffnungsgesetz festzuschreiben. Denn schon formal umschreibt die Ermächtigungsgrundlage in § 13 Abs. 3 ArbZG Fälle des exekutiven, nicht des legislativen Handelns. Es wird gerade keine generelle Öffnungsklausel für den Landesgesetzgeber geschaffen, sondern nur eine Befugnis für solche Sonn- und Feiertage, „an denen besondere Verhältnisse einen erweiterten Geschäftsverkehr erforderlich machen“, wie es im Gesetzestext lautet. Das Erfordernis „besonderer Verhältnisse“ spricht dagegen, eine dauerhafte Ausnahmegenehmigung auf § 13 Abs. 3 Nr. 2 a ArbZG
___________ 177
Wank, in: Dieterich / Müller-Glöge, Arbeitsrecht, 2006, § 13 ArbZG Rnr.6; Gäutgen, in: Heussler / Willemsen, Arbeitsrecht, 2004, § 13 ArbZG Rnr. 11. 178 Neumann / Biebl, Arbeitszeitgesetz, 2004, § 13 Rnr. 14; Rauschenberg, in: Linnenkohl / ders., Arbeitszeitgesetz, 2004, § 13 Rnr. 22, spricht von einem kumulativen Nebeneinander beider Gesetze; ebenso Schliemann, in: ders. / Meyer, Arbeitszeitrecht, 2002, Rnr. 766, und Buschmann / Ulber, Arbeitszeitgesetz, 2004, § 13 Rnr. 16. Damit ist offenbar gemeint, daß selbst bei einer Bewilligung nach § 13 Abs. 3 Nr. 2 a ArbZG die Vorgaben des § 17 BLadSchlG zu beachten sind. Dies spricht aber nicht dagegen, § 17 BLadSchlG als lex specialis für die dort getroffenen Regelungen zu bezeichnen.
3. Kapitel: Umfang neuer Länder- und fortgeltender Bundeskompetenz
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stützen zu können.179 Eine solche dauerhafte, gegebenenfalls auf Jahre im Voraus erteilte Genehmigung hätte gleichsam abstrakt-generellen Charakter. Zu beachten ist schließlich folgendes: Das Arbeitszeitgesetz nennt die Länder nicht nur bei der Überwachung des Gesetzesvollzugs, sondern es räumt ihnen auch die Befugnis zum Erlaß von Rechtsverordnungen ein, vgl. § 13 Abs. 2 S. 1 ArbZG. Dies zeigt, daß der Bundesgesetzgeber bei der formellen Zuständigkeitsverteilung innerhalb eines Landes genau zwischen den Landesregierungen und den Aufsichtsbehörden differenziert. Würde also statt der Aufsichtsbehörde der Landesgesetzgeber von der Ermächtigungsgrundlage des § 13 Abs. 3 Nr. 2 a ArbZG Gebrauch machen, wäre damit der ursprüngliche Wille umgangen. Zwar könnte man argumentieren, daß der Landesgesetzgeber als das umfassender legitimierte Verfassungsorgan der Länder sich stets an die Stelle der Aufsichtsbehörde setzten könnte. Jedoch würde ein solcher Ansatz die Trennung zwischen Legislative und Exekutive im Bund-Länder-Verhältnis ignorieren. Das Bund-Länder-Verhältnis bei der Gesetzgebung regeln die Art. 70 ff GG: Wenn der Bundesgesetzgeber etwa von einer konkurrierenden Gesetzgebung keinen Gebrauch macht, sind die Länder eo ipso zuständig; darüber hinaus kann der Bund in seinen Gesetzen ausdrücklich vorsehen, daß die Länder bestimmte Regelungen treffen können.180 Für die Kontrolle der Länder im legislativen Bereich stehen dem Bund nur die Klageverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zur Verfügung. Dies sind namentlich die abstrakte Normenkontrolle sowie der Bund-Länder-Streit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 und 3 GG. Die Kontrollmittel des Bundes sind also beschränkt., wenn die Länder in ihren eigenen Gesetzen Regelungen schaffen. Anders verhält es sich, wenn die Länder Bundesgesetze wie das Arbeitszeitgesetz als eigene Angelegenheit i. S. d. Art. 83 und Art. 84 GG ausführen. Hier stehen dem Bund bestimmte Aufsichtsmittel wie die Mängelrüge oder die Entsendung von Beauftragten zur Verfügung, vgl. Art. 84 Abs. 3 und 4 GG. Diese Unterschiede der verfassungsrechtlichen Kontrollmittel sprechen gegen das Recht der Landesparlamente, sich an Stelle der vom Bundesgesetzgeber ermächtigten Aufsichtsbehörden zu setzen. Für Ausnahmebewilligungen nach § 13 Abs. 3 Nr. 2 a ArbZG sind daher allein die nach Landesrecht zuständigen Aufsichtsbehörden zuständig. Die Länder können ihre Regelungen zur Beschäftigung von Verkaufspersonal an Sonn- und Feiertagen in ihren Ladenöffnungsgesetzen nicht auf die Ermächtigungsnorm des § 13 Abs. 3 Nr. 2 a ArbZG stützen, da sie formal nicht zuständig sind. Solche Regelungen verstoßen also auch ___________ 179
So auch Baeck / Deutsch, Arbeitszeitgesetz, 2004, § 13 Rnr. 38; Rauschenberg, in: Linnenkohl / ders., Arbeitszeitgesetz, 2004, § 13 Rnr. 22; Schliemann, in: ders. / Meyer, Arbeitszeitrecht, 2002, Rnr. 766. 180 Vgl. etwa § 27 BLadSchlG.
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
aus Gründen fehlender Zuständigkeit des handelnden Landesorgans gegen Bundesrecht. bb) Ergebnis und Auffangnormen im Arbeitszeitgesetz Das Arbeitszeitgesetz galt schon vor dem 1. September 2006 und vor der Verabschiedung der insgesamt 15 Landesladenschlußgesetze ergänzend zu § 17 BLadSchlG. Mit dem Inkrafttreten der Ladenöffnungsgesetze der Länder kommen die Regelungen in § 17 Abs. 1, 2 a, 3 und 7 BLadSchlG nicht mehr zur Anwendung. An ihre Stelle treten die grundsätzlichen Regelungen des Arbeitszeitgesetzes: x statt § 17 Abs. 1 BLadSchlG gilt die Ermächtigung nach § 13 Abs. 3 Nr. 2 a ArbZG, x statt § 17 Abs. 2 a BLadSchlG ist § 11 Abs. 1 ArbZG anzuwenden, wenn es um die Anzahl der mindestens frei zu haltenden Sonn- und Feiertage geht; für die Beschäftigungserlaubnis der Arbeitnehmer gilt § 13 Abs. 3 Nr. 2 a ArbZG, x statt § 17 Abs. 3 BLadSchlG greift § 11 Abs. 1, 3 und 4 ArbZG für die Lage der Ausgleichzeiten oder des Ersatzruhetages und zum Rhythmus der in jedem Fall frei zu haltenden Sonntage ein, x statt des Bereichs der Verordnungsermächtigung nach § 17 Abs. 7 Nr. 2 BLadSchlG gilt § 11 Abs. 1, 3 und 4 ArbZG für weitergehenden Freizeitausgleich. Lediglich die Verordnungsermächtigung nach § 17 Abs. 7 Nr. 1 und Nr. 3 BLadSchlG entfällt ersatzlos. Besonders problematisch ist das Außerkrafttreten des § 17 Abs. 2 a BLadSchlG, da diese Norm eine Beschäftigung an immerhin 22 Sonn- und Feiertagen pro Jahr ermöglicht und damit über den Rahmen des § 13 Abs. 3 Nr. 2 a ArbZG hinausgeht, der lediglich Arbeit an zehn Sonn- und Feiertagen ermöglicht. Dies hat in der Praxis insbesondere für Kur- und Erholungsorte Konsequenzen, da dort - nach § 10 BLadSchlG und den meisten neuen Landesregelungen - an bis zu 40 Sonn- und Feiertagen geöffnet werden darf. Falls der Bundesgesetzgeber hier keine Abhilfe schafft durch eine entsprechende Änderung des § 17 BLadSchlG oder einer Ergänzung im Arbeitszeitgesetz, können Arbeitnehmer maximal an zehn Sonn- und Feiertagen in diesen Verkaufsstellen beschäftigt werden, wenn die Aufsichtsbehörden Bewilligungen i. S. d. § 13 Abs. 3 Nr. 2 a ArbZG erlassen. Damit gehen die Regelungen zu Kur- und Erholungsorten in den Landesgesetzen aber keineswegs ins Leere: Läden, in denen allein die Inhaber oder helfende Familienangehörige arbeiten, können davon profitieren, aber eben keine Verkaufsstellen, in denen Arbeitnehmer tätig sind.
3. Kapitel: Umfang neuer Länder- und fortgeltender Bundeskompetenz
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Letzteren ist zwar eine Öffnung, aber keine Beschäftigung von Verkaufspersonal gestattet. Dagegen gelten die Absätze 2, 4 und 5 des § 17 BLadSchlG - jeweils auch i. V. m. den Absätzen 8 und 9 des § 17 BLadSchlG - auch nach Inkrafttreten der Landesladenschlußgesetze weiter. Eine Regelungslücke läßt sich somit nicht ausmachen, so daß eine analoge Anwendung der Absätze 1, 2 a, 3 und 7 des § 17 BLadSchlG nach Inkrafttreten der Ladenöffnungsgesetze der Länder ausscheidet.
e) Ergebnis Nach dem hier dargelegten Ergebnis entfalten nach Inkrafttreten der Landesladenschlußgesetze die Absätze 2, 4, 5 und 8 des § 17 BLadSchlG sowie die Regelungen des Arbeitszeitgesetzes, insbesondere § 10, § 11 sowie § 13 Abs. 3 Nr. 2 a ArbZG, eine Sperrwirkung gem. Art. 72 Abs. 1 GG zu Lasten der Länder.181 Die speziellen arbeitnehmerschützenden Regelungen, welche die Länder in ihre Ladenöffnungsgesetze aufgenommen haben, sind formell verfassungswidrig, weil den Ländern die Gesetzgebungskompetenz fehlt.182 Dies dürfte auch der Ansatzpunkt von Klagen sein, die zwei Arbeitnehmer im Januar 2007 beim Verwaltungsgericht Berlin eingereicht haben.183
5. Keine Kompetenz als Annex oder aus Sachzusammenhang Als Ermächtigungsgrundlage zugunsten der Länder scheidet - neben der gerade ausgeschlossenen Kompetenz aus Art. 72 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG - auch eine Annexkompetenz oder eine Kompetenz kraft Sachzusammenhangs aus.184
___________ 181 Nicht nach Absätzen differenzierend, aber allgemein feststellend, daß § 17 BLadSchlG eine Sperrwirkung zu Lasten der Länder entfaltet, Tegebauer, GewArch 2007, S. 49. 182 Dies sind in den Ladenöffnungsgesetzen § 12 BW, § 7 Abs. 1 Berl, § 10 Bbg, § 9 Hamb, § 9 Abs. 3 Hess, § 7 Abs. 1 MV, § 6 Nds, § 11 Abs. 1 NRW, § 13 RhPf, § 10 Abs. 1 Saar, § 9 SAnh, § 13 Abs. 1 SH, § 12 Thür. 183 Nach dem Pressebericht im Tagesspiegel v. 24. Januar 2007, S.12, stützen die Kläger ihr Anliegen insbesondere auf § 10 ArbZG. Im Umkehrschluß bedeutet dies, daß sie gerade nicht von einer Wirksamkeit von § 7 Abs. 1 LadÖffG Berl ausgehen, der die Beschäftigung von Verkaufspersonal an Sonn- und Feiertagen erlaubt. 184 So auch Kühn, AuR 2006, S. 418 (420) und Tegebauer, GewArch 2007, S. 49.
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
Niedersachsen und Schleswig-Holstein haben in ihren Begründungen zu den Ladenöffnungsgesetzen ausgeführt, daß Normen zur Arbeitszeit des Verkaufspersonals untrennbar mit Regelungen zur Ladenöffnung verbunden seien und sich somit als Annex zu den Ladenschlußregelungen darstellen.185 Die Bedingungen für eine Annexkompetenz der Länder sind aber vorliegend nicht erfüllt. Zum einen ist eine Arbeitszeitregelung für Sonn- und Feiertage in Landesgesetzen nicht zwingend erforderlich, damit die Ladenschlußregelungen Anwendung finden können. Denn es ist sehr gut möglich, daß eben nur Selbstständige oder Familienangehörige in Ladengeschäften arbeiten. Zum anderen würde eine Annexkompetenz in den Kompetenzbereich des Bundes des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG eingreifen.186 Eine Länderkompetenz wird auch nicht kraft Sachzusammenhangs begründet. Das Bundesverfassungsgericht verlangt zu Recht, daß eine Bundeskompetenz kraft Sachzusammenhangs nur anzuerkennen ist, „wenn eine dem Bund zugewiesene Materie verständigerweise nicht geregelt werden kann, ohne daß zugleich eine andere Materie mit geregelt wird, wenn also das Übergreifen in einen an sich den Ländern übertragenen Kompetenzbereich für die Regelung der zugewiesenen Materie unerläßlich ist.“187 Ein Vergleich zu den Werktagen zeigt, daß die Arbeitszeit von Arbeitnehmer an Sonn- und Feiertagen nicht zwingend nur durch die Länder verständigerweise geregelt werden muß: Für die Werktage haben die Landesgesetze nur die Ladenöffnung geregelt und nicht die Arbeitszeit oder Ausgleichszeiten für die Arbeitnehmer. Für Sonn- und Feiertage kann daher ein zwingender Zusammenhang zwischen Ladenöffnung und Arbeitszeit nicht begründet werden.188 Die Arbeitszeiten sind eben nicht zwingend mit den Öffnungszeiten identisch. Zudem widerspricht eine Kompetenz kraft Sachzusammenhang zugunsten der Länder der Systematik der Art. 70 ff GG: Alle Sachgebiete, die nicht dem Bund durch die Art. 72 ff oder eine Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs oder als Annexkompetenz den Ländern zugeordnet sind, unterfallen schon nach Art. 70 GG dem Kompetenzbereich der Länder.189
___________ 185 Vgl. für Niedersachsen LadÖffG-E, Drs. 15/3276, S. 7, und für SchleswigHolstein LadÖffG-E, Drs. 16/996, S. 9 f. 186 Tegebauer, GewArch 2007, S. 49. 187 BVerfGE 110, 33 (48). 188 Tegebauer, GewArch 2007, S. 49 (50). 189 Kühn, AuR 2006, S. 418 (420).
3. Kapitel: Umfang neuer Länder- und fortgeltender Bundeskompetenz
269
6. Konsequenzen für den Bundesgesetzgeber Damit die Länder in diesen Fragen des Schutzes von Verkaufspersonal gesetzgeberisch tätig werden dürfen, müßte der Bundesgesetzgeber zwei Änderungen vornehmen: erstens die Absätze 2, 4, 5 und 8 des § 17 BLadSchlG aufheben und zweitens entsprechende Öffnungsklauseln in das Arbeitszeitgesetz aufnehmen, die dem Landesgesetzgeber entweder ausdrücklich eine Gesetzgebung auf diesem Gebiet erlauben oder die Arbeitnehmer in Verkaufsstellen ganz aus dem Anwendungsbereich des Arbeitszeitgesetzes herausnehmen.190 Für die letztgenannte Regelung würde sich eine Ergänzung des § 18 ArbZG anbieten. Ein Bundesgesetz wäre aber auch notwendig, wenn man die hier abgelehnte Meinung vertritt, § 17 BLadSchlG gälte (auch) nach dem 1. September 2006 gemäß Art. 125 a Abs. 2 GG fort; in diesem Fall wäre ein Freigabegesetz des Bundes erforderlich. Eine bloße Meinungsäußerung oder Stellungnahme der Bundesregierung, sei es schriftlich oder mündlich, reicht also nicht aus. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits ausdrücklich festgestellt, daß Äußerungen der Bundesregierung oder - wie in der Praxis geschehen - der Bundesjustizministerin keine Übertragung einer Gesetzgebungskompetenz an die Länder bewirken können, weil ein Mitglied der Bundesregierung nicht für den Bundesgesetzgeber sprechen kann.191 Für den Bundesgesetzgeber ergibt sich auch keine Einschränkung seiner gesetzgeberischen Freiheit beim Arbeitszeitrecht aus dem Gebot der Bundestreue.192 Zwar kann man grundsätzlich eine solche Beschränkung zur Ausübung einer konkurrierenden Bundeskompetenz aus diesem Verfassungsprinzip herleiten, allerdings müßte die Kompetenzwahrnehmung dann mißbräuchlich sein.193 Freilich sind die Anforderungen an eine solche mißbräuchliche Kompetenznutzung hoch: Es bedarf einer unvertretbaren Schädigung der Interessen des anderen Kompetenzträgers.194 Im Fall des Ladenschlusses könnte man an die Gefahr einer mittelbaren Beeinflussung der Ladenöffnungszeiten durch Regelungen des Bundes denken, wenn die Beschäftigung von Arbeitnehmern in Verkaufsstellen zu bestimmten Zeiten nicht möglich ist. Im Fall solcher Regelungen wie § 17 BLadSchlG kann aber von einem solchen Mißbrauch nicht die Rede sein, da er den Gestaltungsspielraum der Länder für die Festlegung der Öffnungszeiten hinreichend groß ___________ 190
In diesem Sinne auch Kämmerer / Thüsing, GewArch 2006, S. 266 (272). BVerfGE 109, 190 (234 f). 192 Kämmerer / Thüsing, GewArch 2006, S. 266 (272 f). 193 BVerfGE 14, 197 (215); 61, 149 (205). 194 Kämmerer / Thüsing, GewArch 2006, S. 266 (272). 191
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
läßt. Zudem ist es gerade eine vom verfassungsändernden Gesetzgeber bewußt in Kauf genommene Trennung zwischen gewerberechtlichen Regelungen zum Ladenschluß im engeren Sinne und arbeitnehmerschützenden Bestimmungen im Arbeitszeitrecht. Eine Aufspaltung von Regelungen zum Betrieb eines Gewerbes und zum Arbeitnehmerschutz ist dem deutschen Recht nicht fremd, sondern gerade im Hinblick auf Sonn- und Feiertage gängige Praxis: Während die Sonn- und Feiertagsgesetze der Länder bestimmte unternehmerische Tätigkeiten wie etwa die Öffnung von Videotheken oder den Betrieb von Bräunungsstudios erlauben, findet sich der Schutz der Arbeitnehmer in allgemeiner Form im Arbeitszeitgesetz wieder.
a) Arbeitszeitregelungen Wenn der Gesetzgeber sich entscheiden sollte, § 17 BLadSchlG in das Arbeitszeitgesetz zu überführen oder andere Sonderregelungen für Arbeitnehmer in Verkaufsstellen im Arbeitszeitgesetz zu schaffen, hat er darauf zu achten, daß er keine mittelbare Regelung zu den Ladenöffnungszeiten trifft. Wäre dies schon der Fall, wenn er die Beschäftigung von Arbeitnehmern überhaupt nur an einer bestimmten Anzahl von Sonntagen im Jahr ermöglicht? Bei der Lösung dieser Frage sind zwei Kategorien streng voneinander zu trennen: Einerseits die Öffnungserlaubnis, andererseits die Beschäftigungserlaubnis für die Ladeninhaber. Die Befugnis für den Inhaber einer Verkaufsstelle zu öffnen, richtet sich soweit die Länder solche erlassen haben - nach den Ladenöffnungsgesetzen der Länder, andernfalls (noch) nach dem Bundesladenschlußgesetz. Für die Beschäftigungserlaubnis ist grundsätzlich das Arbeitszeitgesetz und somit Bundesrecht maßgebend. Daraus folgt als erster Schluß, daß der Personenkreis in jedem Fall sonntags in Verkaufsstellen arbeiten darf, der gerade nicht dem Arbeitszeitgesetz unterfällt: der Inhaber einer Verkaufsstelle als Selbständiger sowie helfende Familienangehörige.195 Dabei handelt es sich keinesfalls um eine geringe Zahl. Eine wohl große fünfstellige Zahl an Verkaufsstellen werden in Deutschland nur vom Inhaber unter Mithilfe seiner Familienangehörigen betrieben.196 Bei der zweiten Erlaubnis, der Beschäftigungserlaubnis, sind zwei Unterfälle zu unterscheiden: Erstens die Frage, ob ein einzelner Arbeitnehmer an einer bestimmten Anzahl von Sonn- und Feiertagen in Verkaufsstellen beschäftigt werden darf, und zweitens, ob überhaupt an bestimmten Sonn- und Feiertagen Ar___________ 195 196
Vgl. oben 2. Teil, 3. Kapitel I. 4. a) aa) (1) (c). S. zu dieser Schätzung oben 2. Teil, 3. Kapitel I. 4. a) aa) (1) (c).
3. Kapitel: Umfang neuer Länder- und fortgeltender Bundeskompetenz
271
beitnehmer dort arbeiten dürfen. Diese Unterscheidung ist beim vorliegenden Thema von erheblicher praktischer Relevanz, wie ein Beispiel zeigt: Das börsennotierte Einzelhandelsunternehmen E besitzt 100 Warenhäuser in Deutschland mit je 50 Beschäftigten. Zwei Regelungstechniken sind denkbar: Der Gesetzgeber legt eine Höchstzahl an Sonn- und Feiertagen für den einzelnen Arbeitnehmer fest, an denen dieser beschäftigt werden darf, etwa vier. Dann könnte das Unternehmen den Arbeitnehmer X zwar nur an den verkaufsoffenen Sonntagen eins, zwei, drei und vier beschäftigten, den Arbeitnehmer Y dagegen an den verkaufsoffenen Sonntagen fünf, sechs, sieben und acht. Im anderen Fall bestimmt der Gesetzgeber, daß überhaupt nur an vier Sonntagen im Jahr Arbeitnehmer beschäftigt werden dürfen. Die 50 Beschäftigten eines Warenhauses dürften dann nur an vier bestimmten Sonntagen eins, zwei, drei und vier tätig sein. An allen anderen Sonntagen wäre eine Beschäftigung untersagt. Im ersten Fall würde es sich um eine Regelung i. S. d. § 11 ArbZG handeln. Dort ist zwar in § 11 Abs. 1 ArbZG positiv festgeschrieben, daß ein Arbeitnehmer mindestens 15 Sonntage beschäftigungsfrei bleiben muß, aber im Umkehrschluß bedeutet dies, daß er an den anderen 37 bis 38 Sonntagen beschäftigt werden kann. Im zweiten Fall würde es sich um eine Sonderregelung i. S. d. § 10 ArbZG handeln. § 10 ArbZG erlaubt generell und ohne Beschränkung auf eine bestimmte Anzahl von Sonntagen die Beschäftigung von Arbeitnehmern. Ein solches Verbot für eine gesamte Verkaufsstelle oder sogar ein ganzes Einzelhandelsunternehmen würde faktisch die Öffnung der Verkaufsstelle erschweren, da nur der Inhaber selbst oder Familienangehörige arbeiten dürften, da sie nicht dem Arbeitszeitgesetz unterliegen. Allerdings darf die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers nicht übersehen werden, wie sie in der Systematik des Arbeitszeitgesetzes zum Ausdruck kommt: Es unterliegt dem Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers, ob er eine Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen entgegen der Regel des § 9 ArbZG dauerhaft oder nur an einer bestimmten Anzahl von Sonn- und Feiertagen für erforderlich hält. Denn dem Bundesgesetzgeber würde es freistehen, die Grundregel des § 9 ArbZG auch bei Arbeitnehmer in Verkaufsstellen voll zur Anwendung kommen zu lassen und den Ausnahmetatbestand nach § 13 Abs. 3 Nr. 2 a ArbZG zu streichen. Dann wäre generell die Beschäftigung von Arbeitnehmern in Verkaufsstellen untersagt, da kein Ausnahmetatbestand des Arbeitszeitgesetzes anwendbar wäre. Zwischen einem völligen Verbot nach § 9 ArbZG und völliger Freigabe nach § 10 Abs. 1 ArbZG steht dem Gesetzgeber die Möglichkeit offen, abzuschichten und abzustufen. Wenn man meint, eine generelle Beschränkung der Beschäftigung von Arbeitnehmern in Verkaufsstellen stelle eine verkappte Ladenschlußregelung dar
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
und wäre daher dem Bund im Arbeitszeitgesetz verwehrt, übersieht man zwei Aspekte: Erstens bleibt die Öffnung von Verkaufsstellen möglich, sofern dort der Inhaber oder Familienangehörige tätig sind. Dies ist etwa die Gesetzeslage in Frankreich, wo allein auf die Beschäftigung und die Arbeitsruhe des Arbeitnehmers abgestellt wird.197 Zweitens wäre es dem Bundesgesetzgeber möglich, alle für die Verkaufsstellen einschlägigen Ausnahmetatbestände im Arbeitszeitgesetz zu streichen und die Grundregel des § 9 ArbZG zur Anwendung kommen zu lassen. Dann wäre eine Beschäftigung von Arbeitnehmern in Verkaufsstellen an Sonn- und Feiertagen generell verboten. Wenn dem Gesetzgeber aber ein Verbot für 52 oder 53 Sonntage im Jahr möglich ist, wäre es ihm erst recht möglich, an vier Sonntagen pro Jahr eine Ausnahme davon zuzulassen. Der Bundesgesetzgeber könnte also die Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag umsetzen,198 indem er etwa die Anzahl der möglichen Sonntage im Handelsgewerbe nach § 13 Abs. 3 Nr. 2 a ArbZG von zehn auf vier reduziert. Alternativ wäre es zulässig, Verkaufsstellen auch in den Katalog des § 10 ArbZG aufnehmen, womit eine Dauerbeschäftigung von Arbeitnehmern - mit der Grenze des § 11 Abs. 1 ArbZG von 15 freien Sonntagen - möglich würde. Dieses Ergebnis mag für die Praxis des Einzelhandels überraschen, beruht aber auf einem Kerngedanken unseres Wirtschafts- und Arbeitsrechts, der dem Arbeitszeitgesetz zugrunde liegt: Wer das Recht hat, ein Gewerbe zu bestimmten Zeiten zu betreiben, hat daraus keinen zwingenden Anspruch darauf, zu genau denselben Zeiten Arbeitnehmer zu beschäftigen. Es ist gerade ein Kernanliegen des Arbeitszeitschutzes, wie er im Arbeitszeitgesetz ausgestaltet ist, daß Arbeitnehmer nicht zu allen Zeiten arbeiten müssen, in denen der Inhaber des Gewerbes arbeiten könnte. Dies unterscheidet den selbständigen Unternehmer vom abhängig Beschäftigten, der gerade keine völlige Freiheit der Arbeitszeitgestaltung genießt. Ein Vergleich zu einem durchaus ähnlichen Bereich verdeutlicht, wie die gewerberechtlich zulässige Betriebszeit vom Gesetzgeber im Arbeitszeitgesetz nachgezeichnet wird. Nach dem (noch) geltenden § 18 Abs. 1 S. 1 GaststättenG können die Länder Sperrzeiten für Gaststätten festlegen. Die Ländern haben davon Gebrauch gemacht.199 Der Bundesgesetzgeber hat in § 10 Abs. 1 Nr. 4 ArbZG die Beschäftigung von Arbeitnehmern in Gaststätten generell erlaubt, ohne sie auf eine bestimmte Anzahl von Sonn- und Feiertagen zu beschränken. ___________ 197 Vgl. Art. L 221 - 19 des französischen code du travail, der etwa die Beschäftigung von Arbeitnehmern an fünf verkaufsoffenen Sonntagen pro Jahr zuläßt. 198 So auch Kämmerer / Thüsing, GewArch 2006, S. 266 (274). Die Bundesregierung sieht jedoch keinen Bedarf für eine bundesrechtliche Regelung, vgl. Försterling, ZG 2007, S. 36 (57 in Fn. 78). Der Koalitionsvertrag wird in diesem Punkt nicht umgesetzt. 199 Vgl. nur GaststättenVO NRW v. 28. Januar 1997, GVBl. S. 17.
3. Kapitel: Umfang neuer Länder- und fortgeltender Bundeskompetenz
273
Damit ist ein befriedigendes Ineinandergreifen von Landes- und Bundesregelung sichergestellt. b) Ergebnis Der Bundesgesetzgeber kann weiterhin, vor allem im Arbeitszeitgesetz, die Frage regeln, ob Verkaufspersonal sonn- und feiertags entgegen dem grundsätzlichen Verbot des § 9 ArbZG in Verkaufsstellen beschäftigt werden darf. Es sind zwei Regelungen möglich: Zum einen kann der Gesetzgeber den einzelnen Beschäftigten in den Blick nehmen und etwa einem Arbeitgeber gestatten, einen individuellen Arbeitnehmer an einer bestimmten Anzahl von Sonn- und Feiertagen (z. B. vier) zu beschäftigen. Einer besonderen Begründung der Schutzbedürftigkeit von Arbeitnehmern in Verkaufsstellen bedürfte es nicht, da bereits jetzt § 13 Abs. 3 Nr. 2 a ArbZG die im Handel beschäftigten Personen im Blick hat und für sie Sonderregeln aufstellt, die nicht für Arbeitnehmer anderer Branchen gelten. Zum anderen kann der Gesetzgeber - restriktiver - einem Arbeitgeber nur an einer beschränkten Anzahl von Sonntagen überhaupt gestatten, Arbeitnehmer zu beschäftigen.
7. Maßgaben und Grenzen für Landesgesetzgeber Aus Gründen der Kompetenzverteilung sind den Ländern nur Regelungen des Ladenschlusses im engeren Sinne möglich. Sie dürfen keine Regelungen zur Frage der Arbeitszeit von Arbeitnehmern in Verkaufsstellen, zu deren Ruhetage, deren Ausgleichszeiten und sonstigen Aspekten des Arbeitszeitrechts treffen. Entsprechende Regelungen in den existierenden Ladenöffnungsgesetzten der Länder sind formell verfassungswidrig. In materiell-rechtlicher Hinsicht sind die Länder wegen Art. 31 GG insbesondere an die Vorgaben des Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV gebunden. Daher ist ihnen eine völlige oder teilweise Freigabe der Ladenöffnungszeiten an Sonn- und Feiertagen aus denselben Gründen verwehrt.200 Es ist den Ländern allerdings möglich, etwa ein weitgehend mit dem bisherigen Ladenschlußgesetz gleichlautendes Landesgesetz zu verabschieden201 oder den Ladenschluß an Werktagen ganz frei zu geben. Von dieser Möglichkeit haben inzwischen die meisten Länder Gebrauch gemacht. ___________ 200
Vgl. oben 2. Teil, 3. Kapitel VI. So BVerfGE 111, 10 (30) als obiter dictum, wie Sachs, Jus 2004, S. 907 (908) zutreffend anmerkt. 201
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
Prozedural ist von Interesse, wie gegen die teilweise verfassungswidrigen Landesgesetze vorgegangen werden kann: Zum einen steht die abstrakte Normenkontrolle zur Verfügung, die eine Landesregierung, die Bundesregierung oder ein Drittel der Mitglieder des Bundestages beim Bundesverfassungsgericht beantragen können, Art. 93 Abs. 1 S. 2 GG. Darüber hinaus kann auch ein einzelner Arbeitnehmer in einer Verkaufsstelle gegen eine ihm vom Arbeitgeber auferlegte Pflicht zur Sonntagsarbeit vorgehen, wenn keine Ermächtigung der Aufsichtsbehörde gem. § 13 Abs. 3 Nr. 2 a ArbZG vorliegt. Klagen sind vor dem Verwaltungsgericht möglich. Ein Beispiel dafür sind die Klagen, die zwei Arbeitnehmer im Januar 2007 beim Verwaltungsgericht Berlin eingereicht haben.202
III. Kompetenz für Ordnungswidrigkeiten und Straftatbestände Für die Länder stellt sich bei der Abfassung ihrer Ladenschlußgesetze die Frage, ob sie auch Vorschriften über Ordnungswidrigkeiten und Straftatbestände aufnehmen dürfen. Dies ist im Ergebnis der Fall, soweit die entsprechenden Vorschriften des Bundesladenschlußgesetzes nicht mehr zur Anwendung kommen. Die Befugnis, solche Sanktionsregelungen zu treffen, richtet sich nach der Kompetenzzuweisung für das Strafrecht nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG. Das Recht der Ordnungswidrigkeiten stellt zwar kein Strafrecht dar, wird diesem aber der Regelung in Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG zugerechnet.203 Es fällt damit nicht etwa unter den Kompetenztitel für den Ladenschluß nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG. Andernfalls wäre für jeden Politikbereich die strafrechtliche Sanktionsnorm quasi als Annexkompetenz enthalten. Durchschlagende Anhaltspunkte für eine solche einschränkende Auslegung des Begriffs Strafrecht in Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG lassen sich aber nicht ausmachen. Der Bundesgesetzgeber hat in den §§ 24 und 25 BLadSchlG Regelungen zur Straf- und Bußgeldbewehrung getroffen, die sich vor allem auf die öffnungsrelevanten Vorschriften des Bundesladenschlußgesetzes beziehen. Nachdem die in den Sanktionsnormen in Bezug genommenen Vorschriften des Bundesladenschlußgesetzes aufgrund Art. 125 a Abs. 1 GG nunmehr in den meisten Ländern außer Kraft getreten sind, hat der Bund von seiner Kompetenz keinen Gebrauch mehr gemacht. Den Ländern ist eine Regelung über Ordnungswidrigkeiten und Straftaten möglich, soweit sie sich nicht auf die fortgeltenden Bestim___________ 202
Vgl. Der Tagesspiegel v. 24. Januar 2007, S.12. BVerfGE 31, 144; Lemke / Mosbacher, Ordnungswidrigkeitenrecht, 2005, Einleitung, Rnr. 12. 203
3. Kapitel: Umfang neuer Länder- und fortgeltender Bundeskompetenz
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mungen der § 17 Abs. 2, 4 und 5 BLadSchlG beziehen. Die entsprechenden Vorschriften in den Ladenöffnungsgesetzen der Länder sind also verfassungsgemäß.204
IV. Gesamtbewertung der GG-Änderung Die Übertragung der Gesetzgebungskompetenzen für den Ladenschluß auf die Länder dürfte ein Beispiel sein, wie problematische Aspekte einer Verfassungsänderung erst zu einem späteren Zeitpunkt voll ins Bewußtsein der Entscheidungsträger rücken. Dies scheint der plausibelste Erklärung für die widersprüchlichen Aussagen im Koalitionsvertrag zum Ladenschluß zu sein. Dafür sprechen auch politische Bemühungen, die Beschränkung auf vier verkaufsoffene Sonntage gesetzlich auf Bundesebene zu regeln. Die Bundesregierung war Ende 2005, Anfang 2006 mit der Prüfung der Frage befaßt. Als Argument für die Grundgesetzänderung diente den Befürwortern in der Föderalismuskommission häufig der Hinweis auf den ausschließlich regionalen Bezug dieses Rechtsgebietes. Ganz überzeugen kann dieser topos nicht, da es zunächst in der Natur von landesgesetzlichen Regelungen liegt, daß sie zuvörderst regionale Auswirkungen haben. Zudem gibt es zahlreichen Ballungsräume oder Großstädte, die nahe an den Landesgrenzen liegen, so daß differierende Öffnungszeiten in Nachbarländern durchaus überregionale, weil Verbraucher anziehende Wirkung entfalten können.205 Besonders offenkundig werden solche Unterschiede gerade an Sonn- und Feiertagen, weil dann öfters ein Gegensatz zwischen völliger Schließung und Öffnung besteht. Die Unterscheidung zwischen Werktagen einerseits sowie Sonn- und Feiertagen andererseits spielte allerdings in der Föderalismuskommission keine Rolle.
___________ 204 Vgl. etwa in den Ladenöffnungsgesetzen § 9 Abs. 1 Berl, § 11 Abs. 1 Hamb, § 11 Hess, § 13 NRW, § 12 SAnh. 205 Schon vor der Föderalisierung des Ladenschlusses gab es in Grenzregionen der Bundesländer solche Phänomene. Dies gilt etwa bei einer guten Erreichbarkeit per PKW aufgrund einer vollständigen oder weitgehenden Autobahnverbindung für folgende Großstädte mit einer Distanz von etwa 40 km, in denen ein bis zwei Feiertage unterschiedliche staatliche Anerkennung genießen (die Pfeile geben die Richtung der Verbraucher zu den geöffneten Läden an): Potsdam und Umland von Berlin ĺ Berlin (25 km, Reformationstag ist nur in Brandenburg gesetzlicher Feiertag); Leipzig ĸ ĺ Halle (ca. 40 km, Buß- und Bettag ist nur in Sachsen gesetzlicher Feiertag, Heilige Drei Könige nur in Sachsen-Anhalt); Mainz ĺ Wiesbaden (10 km) und Mainz ĺ Frankfurt (ca. 40 km, Allerheiligen ist nur in Rheinland-Pfalz Feiertag); Mannheim ĺ Ludwigshafen (unter 5 km, Heilige Drei Könige ist nur in Baden-Württemberg Feiertag).
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
Die Neuordnung der Gesetzgebungsbefugnisse hat die Möglichkeit geschaffen, daß die Zeiten, in denen Arbeitnehmer beschäftigt werden dürfen, und die erlaubten Öffnungszeiten auseinander fallen können.206 Dem Bund verbleibt die Kompetenz zur Regelungen arbeitszeitrechtlicher Fragen, soweit die Anknüpfung an die Beschäftigung des einzelnen Arbeitnehmers und nicht an die Öffnung der Verkaufsstellen erfolgt.207 Die momentan vorhandenen kompetenzrechtlichen Probleme zwischen Bund und Ländern im Arbeitszeitrecht waren absehbar. Sie hätten verhindert werden können, wenn der Bund lediglich die Befugnis zur Regelung des Ladenschluß an Werktagen auf die Länder übertragen hätte. Bei den derzeit laufenden Arbeiten zur „Föderalismusreform II“ bietet sich die Gelegenheit, Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG entsprechend zu ändern.
4. Kapitel
Problematischer Vollzug des Bundesladenschlußgesetzes Ein anderer Aspekt des Bund-Länder-Verhältnisses, der vor der Regionalisierung des Ladenschlusses eine bedeutende Rolle gespielt hat, betrifft den Vollzug des Bundesladenschlußgesetzes. Es fällt unter den Grundsatz des Art. 83 GG, wonach die Länder Bundesgesetze als eigene Angelegenheiten ausführen. Da kein Ausnahmefall in Gestalt der Bundesauftragsverwaltung oder sogar der bundeseigenen Verwaltung vorliegt, sind die Bestimmungen des Art. 84 GG für die Ausführung des Ladenschlußgesetzes maßgebend, solange das Bundesladenschlußgesetz noch in einem Land gilt.208 Da die meisten Länder eigene Ladenschlußgesetze verabschiedet haben, wird es nunmehr vermehrt um einen gesetzesmäßigen Vollzug ihrer eigenen Gesetze gehen. Allerdings zeigt die Art und Weise, wie die Länder teilweise das Bundesladenschlußgesetz vor dem Inkrafttreten der Landesladenschlußgesetze vollzogen haben, Probleme auf, die auch künftig relevant sein dürften. In einigen Bereichen ließen sich seit einigen Jahren Tendenzen feststellen, daß Länderbehörden aktiv Ausnahmetatbestände des Ladenschlußgesetzes überdehnen (aktive Vollzugsfehler) oder passiv gegen rechtswidrige Zustände nicht einschreiten (passive Vollzugsfehler). Den öffentlichen Stellen stehen je ___________ 206
So auch Kämmerer / Thüsing, GewArch 2006, S. 266 (271). Kämmerer / Thüsing, GewArch 2006, S. 266 (271). 208 Rozek, NJW 1999, S. 2921 (2927). Die o.g. Absätze 2, 4 und 5 des § 17 BLadSchlG gelten - jeweils i. V. m. den Absätzen 8 und 9 - auch dem Inkrafttreten der zahlreichen Landesladenschlußgesetze weiter. 207
4. Kapitel: Problematischer Vollzug des Bundesladenschlußgesetzes
277
nach Rechtsgrundlage Mittel wie Rechtsverordnung (§ 10, § 14 BLadSchlG) oder Verwaltungsakt (§ 23 BLadSchlG) zur Verfügung, ausnahmsweise die Sonntagsöffnung zuzulassen. Beim Verkauf in Tankstellen oder Bahnhöfen steht die Überwachung über die Einhaltung des Gesetzes im Vordergrund. Um das Verhalten einiger Behörden besser nachzuvollziehen, muß man sich die unterschiedlichen Wirkungsweisen der Ausnahmetatbestände vergegenwärtigen. Das zugelassene Warensortiment und der zeitliche Umfang der Ausnahmen differieren. Die Regelungen in § 14 und § 23 BLadSchlG lassen den Verkauf des gesamten Warensortiments zu und sind somit für alle Einzelhändler von Interesse. Dagegen erlaubt § 10 BLadSchlG nur den Verkauf relativ weniger Waren, etwa von Badegegenständen, Devotionalien, alkoholfreien Getränken und Souvenirs. In zeitlicher Hinsicht sind die vermeintlichen Vorteile umgekehrt verteilt. Eine Rechtsverordnung i. S. d. § 10 BLadSchlG kann die Ladenöffnung bis zu acht Stunden an bis zu 40 Sonn- und Feiertagen jährlich freigeben, während § 14 BLadSchlG nur für vier Sonn- und Feiertage gilt. Schließlich ist § 23 BLadSchlG beschränkt auf „befristete Ausnahmen“ in Einzelfällen. Die Länder haben nunmehr in ihren Ladenöffnungsgesetzen ähnliche Regelungen vorgesehen.209 Auch für Einzelfälle ermöglichen sie, befristete Ausnahmen zuzulassen. Allerdings liegen derzeit noch keine Erfahrungen vor, wie die Länder ihre Gesetze vollziehen. Im Folgenden wird daher insbesondere untersucht, wie die Länder das Bundesladenschlußgesetz vor dem Inkrafttreten ihrer eigenen Gesetze vollzogen haben.
I. Rechtsverordnungen der Länder nach § 10 und § 14 BLadSchlG In der Praxis haben vor der Übertragung der Gesetzgebungskompetenz zwei Verordnungsermächtigungen zugunsten der Länder eine wesentliche Rolle für die Ausnahmen vom Grundsatz des Sonntagsladenschlusses gespielt: Alle Länder hatten Verordnungen für Fremdenverkehrsorte i. S. d. § 10 BLadSchlG erlassen und bis zu vier Sonn- und Feiertage für den Einkauf bis zu fünf Stunden freigegeben, § 14 BLadSchlG.210 Beispiele zu § 14 BLadSchlG mögen die Ver-
___________ 209 Z. B. § 5 Abs. 2 LadÖffG Bbg, § 7 Abs. 1 LadÖffG Hamb, § 6 Abs. 2 LadÖffG NRW, § 9 Abs. 2 LadÖffG RhPf. 210 Vgl. für § 10 und § 14 BLadSchlG die Übersicht bei Zmarzlik / Roggendorf, Ladenschlußgesetz, 1997, § 10 Rnr. 19, § 14 Rnr. 4 und Teil D, S. 198 ff; für Berlin s. etwa VO über den Ladenschluß in Ausflugs- und Erholungsgebieten v. 14. Juni 1983, GVBl. S. 983, zuletzt geändert durch VO v. 16. Juli 1999, GVBl. S. 411.
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
suche der letzten Jahre belegen, die Normen des Ladenschlußgesetzes großzügig auszulegen oder sogar zu umgehen.211
1. „Erfinden“ von Festen für verkaufsoffene Sonntage Verkaufsstellen dürfen aus Anlaß von Märkten, Messen oder ähnlichen Veranstaltungen an jährlich höchstens vier Sonn- und Feiertagen für bis zu fünf Stunden geöffnet sein, wenn die Landesregierungen oder die von ihnen benannten Stellen diese Tage freigeben, § 14 BLadSchlG. Um die Voraussetzungen des § 14 BLadSchlG zu erfüllen, sind in den letzten Jahren neue Feste und Veranstaltungen mit beachtlichem Erfindungsgeist geschaffen worden, wie beispielsweise ein Fest zum Jubiläum eines Brunnens in Berlin zeigt.212 Ein weiterer typischer Fall beschäftigte 2004 das OVG Bremen. Zunächst beantragte ein Einkaufszentrum, ihm die Ladenöffnung am ersten Adventssonntag zu ermöglichen, da es auf seinem Parkplatz das Fest „maritimes Weihnachten“ plane. Da die Industrie- und Handelskammer Bremen eine Wettbewerbsverzerrung bei alleiniger Öffnung des Einkaufszentrums befürchtete, gegen eine allgemeine Öffnung an diesem Sonntag aber nichts einzuwenden sei, gab der Magistrat der Stadt Bremerhaven mit Rechtsverordnung auf Grundlage des § 14 BLadSchlG im gesamten Stadtgebiet die Ladenöffnung von 12 bis 17 Uhr frei.213 Das OVG Bremen folgte dem Normkontrollantrag einer Arbeitnehmerin und erachtete die Rechtsverordnung für rechtswidrig.214 Zutreffend führte das Gericht aus, daß § 14 BLadSchlG die Freigabe der Öffnungszeiten nicht in das freie Ermessen des Verordnungsgebers gestellt hat, sondern vielmehr verlangt, daß dies aus „Anlaß von Märkten, Messen oder ähnlichen Veranstaltungen“ geschieht. Aufgrund des vom Ladenschlußgesetz bezweckten Arbeitnehmer- und Sonntagsschutzes sei - so das Oberverwaltungsgericht zutreffend weiter - § 14 BLadSchlG als Ausnahmevorschrift eng auszulegen. ___________ 211 Als Beispiel für die hier nicht vertieften Fälle rechtswidriger Rechtsverordnungen i. S. d. § 10 BLadSchlG vgl. OVG Magdeburg, NJW 1999, S. 2985. In diesem Fall hielt das OVG eine VO der Stadt Dessau für offensichtlich nichtig, da sie räumlich den Bereich privilegierter Öffnungszeiten zu weit ausgedehnt hatte. 212 Vgl. das Sommerfest zum 30-jährigen Bestehen des Brunnens am Berliner Alexanderplatz, Kerwer, NZA 1999, S. 1313 (1315). 213 Zum Sachverhalt vgl. OVG Bremen NordÖR 2005, S. 77. Da der Adventssonntag im November und nicht im Dezember lag, war die Rechtsverordnung nicht schon aus diesem Grund nichtig, vgl. § 14 Abs. 3 S. 1 BLadSchlG. 214 OVG Bremen NordÖR 2005, S. 77 (78).
4. Kapitel: Problematischer Vollzug des Bundesladenschlußgesetzes
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Allgemeine verkaufsoffene Sonntage können nicht freigegeben werden.215 Erforderlich ist daher mit dem Bundesverwaltungsgericht, daß ein beträchtlicher Besucherstrom wegen der Veranstaltung und nicht gerade durch die Ladenöffnung entsteht.216 Der Sonntagsverkauf darf nicht zum hauptsächlichen Motiv des Festes werden.217 Indizien für eine Veranstaltung, welche die Voraussetzungen erfüllt, sind Tradition und die überörtliche Bedeutung.218 In der Literatur werden ganz überwiegend diese richtigen Vorgaben, die eine restriktive Auslegung sicherstellen, geteilt.219 Ohne daß hier auf mögliche Streitfragen bei der Auslegung des § 14 BLadSchlG eingegangen wird,220 offenbart der vorgestellte Fall die Ladenöffnung als Hauptzweck, da der Magistrat die ermächtigende Rechtsverordnung erst nach dem Antrag des Einkaufszentrum auf Sonntagsöffnung erließ. Ähnliche Fälle mehren sich in den letzten Jahren und sind teilweise Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen geworden. Das OVG Lüneburg, der VGH München und das OVG Weimar beurteilten mit der hier vertretenen Ansicht Rechtsverordnungen i. S. d. § 14 BLadSchlG und teilweise im Sinne des 2003 aufgehobenen § 16 BLadSchlG als rechtswidrig.221 Dagegen hat das OVG Münster es als rechtmäßig erachtet, wenn die Motivation der Veranstaltung gerade darin bestehe, einen Anlaß für verlängerte Öffnungszeiten herbeizuführen.222 Diese fragwürdige Praxis dürfte der Grund dafür sein, weshalb einige Länder in ihren Ladenöffnungsgesetzen niedrigere Voraussetzungen für verkaufsoffene Sonntage fordern.223
___________ 215
Stober, Ladenschlußgesetz, 2000, § 14 Rnr. 3. BVerwG NVwZ 1990, S. 761. 217 OVG Bremen NordÖR 2005, S. 77 (78); der Sache nach auch OVG Lüneburg GewArch 2001, S. 259. 218 OVG Lüneburg NVwZ-RR 2005, S. 172 (173). 219 Kerwer, NZA 1999, S. 1313 (1315); Zmarzlik / Roggendorf, Ladenschlußgesetz, 1997, § 14 Rnr. 2; Anzinger, Ladenschlußrecht, 1996, Rnr. 74. 220 Vgl. Stober, Ladenschlußgesetz, 2000, § 14 Rnr. 16, meint, daß unerheblich sei, ob eine alte Veranstaltung zum Zwecke der Anwendung des § 14 BLadSchlG neu belebt oder ob sie erst geschaffen werde. Dies deutet auf eine andere Ansicht als die hier vertretene hin. 221 OVG Lüneburg NVwZ-RR 2005, S. 172; OVG Weimar NVwZ-RR 2001, S. 234; für § 16 BLadSchlG a. F. OVG Koblenz GewArch 2000, S. 495; OVG Bremen NVwZ 2002, S. 873 (875); VGH München NVwZ-RR 2002, S. 497 (498). 222 Für den aufgehobenen § 16 BLadSchlG OVG Münster NVwZ 2003, S. 493 (494). 223 Vgl. oben 1. Teil, 3. Kapitel I. 1. b). 216
280
3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
2. Möglichkeiten der Abhilfe durch den Bund Die Ausführung eines Bundesgesetzes gem. Art. 83 ff GG bleibt beschränkt auf den Vollzug „in verwaltungsmäßiger Weise“, wie das Bundesverfassungsgericht schlicht und zutreffend ausgeführt hat.224 Zur Ausführung von Gesetzen gehört der hier interessierende Erlaß von Rechtsverordnungen allerdings nicht. Zwar beziehen mehrere Autoren Rechtsverordnungen in den Vollzugsbegriff ein.225 Es sei gerade typisch und zweckmäßig für die Verwaltung, daß sie beim Vollzug zwischen einem Einzelakt und einem normativen Akt wählen könne.226 Zudem sei eine generelle Handlungsform der Exekutive eben der Erlaß von Rechtsverordnungen. Diese Ansicht übersieht aber, daß für Rechtsverordnungen die Spezialregelung des Art. 80 GG gilt.227 Das Grundgesetz behandelt Rechtsverordnungen im Abschnitt VII „Die Gesetzgebung des Bundes“ und sieht dort weitere Regelungen für die Verkündigung und das Inkrafttreten vor.228 Damit erachtet der Verfassungsgeber diese Form der abstrakt-generellen Regelung als delegierte Gesetzgebung, nicht als typisches Verwaltungshandeln.229 Zudem spricht die Art und Weise der Aufsichtsmaßnahmen, die etwa Art. 84 Abs. 3 GG erfaßt, gegen eine Einbeziehung von Rechtsverordnungen. Die Bundesregierung kann einen Beauftragten zu den obersten Landesbehörden entsenden, um die rechtmäßige Ausführung durch das Land zu überprüfen. Dazu kann er Auskünfte einholen, Akten einsehen, Zeugen vernehmen oder sich in sonstiger Weise Informationen beschaffen.230 Diese Maßnahmen führen aber erkennbar nicht weiter, wenn eine Rechtsverordnung verkündet wurde. Sie sind vielmehr auf andere Vollzugsmaßnahmen zugeschnitten. Daher ist mit Groß, Pieroth und Trute der Erlaß von Rechtsverordnungen von der Anwendung der Art. 83 ff GG auszuschließen.231 Der Bundesregierung bleibt die Möglichkeit, eine abstrakte Normenkontrolle gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG anzustrengen. Diese kann sich auf Rechtsverord___________ 224
BVerfGE 11, 6 (15). Lerche, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 83 Rnr. 66; Dittmann, in: Sachs, GG, 2003, Art. 83 Rnr. 22; in diese Richtung tendierend Blümel, in: HdbStR IV, 1990, § 101 Rnr. 21. 226 Lerche, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 83 Rnr. 66. 227 Groß, in: Friauf / Höfling, GG, 2005, Art. 83 Rnr. 20; Trute, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 83 Rnr. 55. 228 Art. 82 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 GG. 229 Groß, in: Friauf / Höfling, GG, 2005, Art. 83 Rnr. 20. 230 Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 2006, Art. 84 Rnr. 13. 231 Groß, in: Friauf / Höfling, GG, 2005, Art. 83 Rnr. 20; Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 2006, Art. 83 Rnr. 4, Trute, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 83 Rnr. 55. 225
4. Kapitel: Problematischer Vollzug des Bundesladenschlußgesetzes
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nungen der Länder beziehen232 und würde im konkreten Fall zu einer Überprüfung führen, ob die Verordnungen die Maßgaben des Ladenschlußgesetzes und des Grundgesetzes einhalten. Da die Flächenländer unter Geltung des Bundesladenschlußgesetzes die Ermächtigung nach § 14 BLadSchlG jedoch in der Regel an die örtlichen Ordnungsbehörden delegiert hatten oder noch haben,233 handelt es sich bei solchen kommunalen Rechtsverordnungen nicht mehr um Landesrecht.234 Sie scheiden als Antragsgegenstand einer abstrakten Normenkontrolle aus.
II. Ausnahmen im Einzelfall nach § 23 BLadSchlG Die obersten Landesbehörden oder die von ihnen bestimmte Stellen können in Einzelfällen befristete Ausnahmen vom allgemeinen Ladenschluß und von den Ausnahmetatbeständen der §§ 3 bis 15 und 19 bis 21 BLadSchlG bewilligen, wenn dies im öffentlichen Interesse dringend nötig ist. Zwei Beispiele aus den letzten Jahren mögen die fragwürdige Anwendung des § 23 BLadSchlG illustrieren. Die verlängerten Ladenöffnungszeiten an Sonntagen zur FußballWeltmeisterschaft 2006 in Deutschland sollen hier außen vor bleiben.235
1. Bäder- und Fremdenverkehrsregelung in Mecklenburg-Vorpommern Das Wirtschaftministerium stützte 1998 die „Bäder- und Fremdenverkehrsregelung Mecklenburg-Vorpommern für 1999 - 2003“ auf § 23 BLadSchlG. Sie ___________ 232
Wieland, in: Dreier, GG, 2000, Art. 93 Rnr. 57. Vgl. zu den Zuständigkeitsverordnungen i. S. d. § 14 Abs. 1 S. 3 BLadSchlG Zmarzlik / Roggendorf, Ladenschlußgesetz, 1997, § 14 Rnr. 4 f. 234 Vgl. Rozek, in: Maunz, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2004, der zutreffend Rechtsverordnungen von „Landesorganen“, also nicht von Kommunen für taugliche Antragsgegenstände hält. 235 Vgl. zu rechtlichen Fragen des Ladenschlusses während der Fußball-WM , Kühn AuR 2006, S. 257, sowie VG Weimar, AuR 2006, S. 249, und Tegebauer, GewArch 2007, S. 49 (51). Als weiteres Beispiel dient zum einen die ursprünglich geplante fast sechsmonatige Verlängerung der Ladenöffnung an Samstagen während der Bundesgartenschau 1999. Das OVG Magdeburg, NJW 1999, S. 2538, hielt eine entsprechende Rechtsverordnung für unvereinbar mit § 23 BLadSchlG. Zum anderen ist die in Berlin seit einigen Jahren durchgeführte „Lange Nacht des Shoppings“ in der City-West zu nennen. Im Jahr 2002 stützte das Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf die Allgemeinverfügung zur Verlängerung der Ladenöffnungszeiten am Samstag, 6. April 2002, bis 24 Uhr, auf § 23 Abs. 1 BLadSchlG. Anlaß sei das Straßenfest „4. Lange Nacht des Shoppings“, vgl. ABl. Berlin 2002 v. 2. April 2002, S. 1138. Dieser Anlaß stellt offensichtlich keinen besonderen Einzelfall mit einem gesteigerten Versorgungsinteresse dar, so daß eine rechtswidrige Anwendung des Ladenschlußgesetzes vorliegen dürfte. 233
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
erlaubte Verkaufsstellen in über 190 Orten und Ortsteilen in allen Landkreisen und kreisfreien Städten des Landes, vom 1. Januar bis zum 30. November eines Jahres besondere Artikel an Sonn- und Feiertagen von 11 - 18 Uhr 30 zu verkaufen.236 Sie sollte für vier Jahre gelten. Der Rechtsform nach handelte es sich um einen Verwaltungsakt in Gestalt einer adressatenbezogenen Allgemeinverfügung. Schon die Geltungsdauer überrascht den unbefangenen Leser, wenn er sich den Zuschnitt des § 23 BLadSchlG auf Einzelfälle vergegenwärtigt. Es ist offensichtlich, daß der Gesetzgeber bei der Abfassung des Passus „in Einzelfällen befristete Ausnahmen“ keine quasi flächendeckende Erstreckung auf zahlreiche Orte in einem Bundesland für die Dauer von vier Jahren vor Augen hatte. Die zeitliche und örtliche Ausdehnung läuft dem Zweck des § 23 BLadSchlG zuwider. Diese Vorschrift schützt nur ein vorübergehendes Versorgungsinteresse, das den grundsätzlich im Ladenschlußrecht vorrangigen Arbeitnehmerschutz überlagert. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht im Fall der Stuttgarter Klett-Passage bereits 1982 klargestellt: Die Behörden hatten Ausnahmebewilligungen für einen Zeitraum von insgesamt zehn Jahren auf § 23 BLadSchlG gestützt, was das Gericht zutreffend für rechtswidrig hielt.237 In systematischer Hinsicht zeigen die Ausnahmeregelungen der §§ 4 bis 15 BLadSchlG, daß der Gesetzgeber besondere dauerhafte Versorgungsinteressen schon speziell anerkannt hat. Das besondere Bedürfnis an einer Öffnung kann nicht in dem Ziel der Arbeitsplatzbeschaffung, der Förderung notleidender Branchen oder einfach in dem Wunsch der Verbraucher nach umfangreicheren Einkaufsmöglichkeiten bestehen, sondern es bedarf eines aus dem Einzelfall hervorgehenden, vorübergehenden Interesses.238 Auch der Wortlaut, der die dringende Notwendigkeit von Ausnahmen im öffentlichen Interesse fordert, offenbart die hohen Hürden für eine Ausnahmeregelung. Eine faktische Dauerregelung kann nicht auf § 23 BLadSchlG gegründet werden.239 Vielmehr ist diese Vorschrift eng auszulegen.240 Das besondere öffentliche Bedürfnis an einer Öffnung, das ein spezielles Versorgungs- oder
___________ 236 Verkauft werden durften Gegenstände des täglichen Ge- und Verbrauchs, Souvenirartikel, ortstypische Waren, Devotionalien, Schmuck- und Kunstgegenstände. Zum weiteren Inhalt der Bäderregelung v. 22. Juli 1998, vgl. Rozek, NJW 1999, S. 2921. 237 BVerwGE 65, 167 (169 f). 238 Rozek, NJW 1999, S. 2921 (2924); BVerwGE 65, 167 (169); OVG Magdeburg, NJW 1999, S. 2538. 239 BVerwGE 65, 167 (170). 240 Rozek, NJW 1999, S. 2921 (2924); Zmarzlik / Roggendorf, Ladenschlußgesetz, 1997, § 23 Rnr. 1.
4. Kapitel: Problematischer Vollzug des Bundesladenschlußgesetzes
283
auch Verwertungsinteresse sein muß,241 war in Mecklenburg-Vorpommern offensichtlich nicht vorhanden. Schließlich bleibt bemerkenswert, daß das Ministerium die Allgemeinverfügung nicht auf § 10 BLadSchlG gestützt hat, der eine Ausnahme für Sonn- und Feiertage gerade in Fremdenverkehrsorten ermöglicht. Mißverständlich ist daher die Bezeichnung „Bäder- und Fremdenverkehrsregelung“, weil sie den Anschein einer anderen Rechtsgrundlage erzeugt. Zwar orientierte sich das Ministerium an dieser Norm, erweiterte aber den beschränkten Warenkorb des § 10 BLadSchlG um Produkte des täglichen Ge- und Verbrauchs und damit beachtlich.242 Ziel der Ausnahmeregelungen war erkennbar, daß man sämtliche Waren für den allgemeinen Lebens- und Haushaltsbedarf anbieten kann und die erwähnte Restriktion des § 10 BLadSchlG vermeidet.243 Das OVG Greifswald entschied im Dezember 1999 folgerichtig, daß den Klagen von Arbeitnehmern und Kirchengemeinden aufschiebende Wirkung zukommt.244 Daraufhin ordnete das Wirtschaftsministerium in Schwerin die sofortige Vollziehung der Bäderregelung an, da angeblich das öffentliche Interesse am Vollzug überwiege. Erst nach erneuter gerichtlicher Klärung und einem Urteil in der Hauptsache durch das VG Schwerin nahm das Ministerium wenigstens in größeren Städten die Allgemeinverfügung zum Teil zurück.245 Auch nach der mehrmaligen Feststellung der Rechtswidrigkeit durch Gerichte hat sich das Wirtschaftsministerium in Mecklenburg-Vorpommern nicht daran hindern lassen, eine neue Fremdenverkehrsregelung für die Jahre 2003 bis 2006 auf der Grundlage des § 23 BLadSchlG zu erlassen. Sie erlaubt die Öffnung von Verkaufsstellen sonn- und feiertags von 12 - 18 Uhr 30. Die erneute Regelung ist wiederum rechtswidrig, was schon aus ihrem vierjährigen Geltungsanspruch und dem Mangel an einem besonderen Versorgungsinteresse folgt.246 De Wall weist zu Recht daraufhin, daß die mißbräuchliche Wahl der Rechtsform Allgemeinverfügung Schwächen des Rechtsschutzsystems offenbart, weil Klagen nur insoweit Erfolg haben, als etwa Kirchengemeinden oder Arbeitnehmer in ihren eigenen Rechten betroffen sind, § 113 Abs. 1 VwGO.247 Ähnliche „Fremdenverkehrsregelungen“, die für mehrere Jahre galten und zahlreiche Verkaufsstellen erfaßten, erließen die zuständigen kreisfreien Städte ___________ 241
BVerwGE 65, 167 (170). Rozek, NJW 1999, S. 2921 (2923). 243 De Wall, ZevKR 45 (2000), S. 626 (627); Rozek, NJW 1999, S. 2921; vgl. auch oben 3. Teil, 4. Kapitel. 244 OVG Greifswald DVBl. 2000, S. 1072. 245 De Wall, ZevKR 45 (2000), S. 626. 246 Tegebauer, GewArch 2004, S. 321 (325), vgl. dort zum Inhalt der Regelung. 247 De Wall, ZevKR 45 (2000), S. 626 (627). 242
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
und Landkreise in Sachsen. Sie konnten auf einen Musterentwurf und eine entsprechende Aufforderung des sächsischen Wirtschafts- und Arbeitsministeriums zurückgreifen.248 In Sachsen-Anhalt versuchten insbesondere die Städte Halle und Dessau, die Sonntagsöffnung zu ermöglichen, um den eigenen Einzelhandel vor Wettbewerbsnachteilen aufgrund der rechtswidrigen sächsischen Öffnungspraxis zu schützen.249 Am längsten existieren Bäderregelungen in Schleswig-Holstein. Sie waren nach Rozek Vorbild für Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen.250 An ihrer Rechtsmäßigkeit zweifelte schon der Bundesgerichtshof in den 90er Jahren.251 Zutreffend erachteten nicht nur das OVG Greifswald, sondern auch das OVG Bautzen, das OVG Magdeburg und mehrere Autoren diese Fremdenverkehrsregelungen oder die städtischen Allgemeinverfügungen als offenkundig rechtswidrig.252 Besonders befremdlich mutet das Verhalten der Stadtverwaltung Leipzig im Jahre 1999 an: Zunächst wurde ihr ein Beschluß des Verwaltungsgerichts zugestellt, nach dem ein Widerspruch gegen ihre Fremdenverkehrsregelung in Form einer Allgemeinverfügung wieder aufschiebende Wirkung hat. Am folgenden Tag erließ die Verwaltung 578 einzelne Ausnahmebewilligungen für Ladeninhaber, um diesen die Öffnung zu denselben Zeiten (u. a. sonntags von 12 bis 18 Uhr 30) zu gestatten. Das OVG Bautzen sah sich durch dieses Verhalten zu Recht veranlaßt, der Stadt im folgenden Verfahren auf Zulassung der Beschwerde ein Rechtsschutzbedürfnis abzusprechen, da sie klar gezeigt habe, eine ihr mißliebige gerichtliche Entscheidung nicht zu akzeptieren.253
2. Ladenöffnung nach Elbe-Hochwasser 2002 Das zweite Beispiel betrifft Sachsen. Nach der Hochwasserkatastrophe im August 2002 an Elbe und Mulde stützten die zuständigen Behörden ihre Aus___________ 248 Vgl. für einen Überblick Stober, Ladenschlußgesetz, 2000, Einf. Rnr. 88, zu Einzelheiten Rozek, NJW 1999, S. 2921 f. 249 Vgl. Stober, Ladenschlußgesetz, 2000, Einf. Rnr. 88. 250 Rozek, NJW 1999, S. 2921. 251 BGH, NJW 1995, S. 2558. 252 OVG Bautzen NJW 1999, S. 2986; OVG Greifswald NVwZ 2000, S. 945 (947); OVG Magdeburg, NJW 1999, S. 2982; de Wall, ZevKR 45 (2000), S. 626 (628); Rozek, NJW 1999, S. 2921 (2925); Burger, SächsVBl. 1999, S. 295 (297); Tegebauer, GewArch 2004, S. 321 (325). 253 OVG Bautzen NJW 1999, S. 2986.
4. Kapitel: Problematischer Vollzug des Bundesladenschlußgesetzes
285
nahmeverfügungen für verlängerte Ladenöffnungszeiten auf die Norm des § 23 BLadSchlG.254 Der Impuls ging erneut vom sächsischen Wirtschafts- und Arbeitsministerium aus. Der Minister erklärte kurzer Hand das ganze Ladenschlußgesetz für aufgehoben.255 Auf ein entsprechendes Schreiben des Ministeriums an die sachlich zuständigen Landratsämter und kreisfreien Städte, die Ladenschlußzeiten „möglichst einheitlich und großzügig“ auf Grundlage des § 23 BLadSchlG bis zum 31. Dezember 2003 freizugeben, folgten zahlreiche Behörden dieser Empfehlung und gaben die Ladenöffnung völlig frei. Auch wenn während und in den Wochen nach dem Hochwasser ein deutlich erhöhter Versorgungsbedarf bestand und daher eine Freigabe der Ladenöffnung in den betroffenen Gebieten rechtmäßig war,256 ist eine mehr als viermonatige pauschale Freigabe mit den genannten Voraussetzungen des § 23 BLadSchlG nicht in Einklang zu bringen.257 Dies gilt um so mehr für Gebiete, die nicht vom Hochwasser betroffen waren. Das OVG Bautzen bejahte eine dringende Notwendigkeit verlängerter Öffnungszeiten bis zum 31. Oktober und wies zugleich darauf hin, daß den Betroffenen mit einer mehr als zweimonatigen völligen Freigabe bis Ende Oktober hinreichend Möglichkeit gegeben wurde, ihre Versorgungsinteressen zu stillen.258 Die Stadt Chemnitz blieb nicht nur nach dieser Aussage des OVG für November und Dezember untätig, sondern auch auf Beschluß des VG Chemnitz, das den Suspensiveffekt eines Widerspruchs gegen ihre Allgemeinverfügung wiederherstellte und der damit für diesen Verwaltungsakt insgesamt galt.259 Trotz des richtigen Hinweises des Gerichts, daß aus dem Prinzip der Rechtmäßigkeit der Verwaltung die Pflicht folge, die rechtswidrige Allgemeinverfügung unmittelbar aufzuheben, blieb die Stadt untätig. Die Geschäfte öffneten an den beiden ersten Adventssonntagen 2002, obwohl der allgemeine Ladenschluß galt. Das VG Chemnitz bescheinigte der Stadtverwaltung anschließend: ___________ 254
Vgl. OVG Magdeburg NVwZ-RR 2003, S. 112; OVG Bautzen LKV 2003, S.
138. 255 Vgl. das wörtliche Zitat des Staatsministers bei Rozek, NVwZ 2003, S. 397: „Wir haben in ganz Sachsen das Ladenschlußgesetz aufgehoben.“ 256 Rozek, NVwZ 2003, S. 397. 257 Rozek, NVwZ 2003, S. 397 (399); vgl. auch OVG Magdeburg NVwZ-RR 2003, S. 112. 258 OVG Bautzen LKV 2003, S. 138 (139). 259 Rozek, NVwZ 2003, S. 397 (400). Zur mangelnden rechtlichen Teilbarkeit von Allgemeinverfügungen i. S. d. § 23 BLadSchlG s. auch OVG Magdeburg NVwZ-RR 2003, S. 112.
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
„Aus alledem läßt sich nur der Schluß ziehen, daß die Stadt Chemnitz diese offenen Rechtsbrüche duldet, um den Händlern in der Innenstadt höhere Einnahmen im Vorweihnachtsgeschäft unter Mißachtung von Recht und Gesetz und gegen eindeutige Gerichtsentscheidungen zu ermöglichen.“260
Auch das VG Leipzig sah zu Recht keine Notwendigkeit einer Ausnahme vom Ladenschluß bis zum 23. Dezember 2002.261 Noch restriktiver war das OVG Magdeburg nach der Hochwasserflut in Sachsen-Anhalt im selben Zeitraum. Es hielt die Allgemeinverfügung eines Landkreises, die Ladenöffnung montags bis freitags bis 21 Uhr und samstags bis 18 Uhr sowie an Sonntagen zuzulassen, für rechtswidrig. Das Gericht stellte klar, daß eine Verlängerung der Einkaufszeiten zwar die Bedarfsdeckung erleichtere, dies aber nicht die Voraussetzungen des § 23 BLadSchlG erfülle. Danach muß die Bevölkerung darauf gerade angewiesen sein.262
3. Beurteilung der Verwaltungspraxis Die Gründe für die rechtswidrige Anwendung des § 23 BLadSchlG können theoretisch zweierlei sein. Man mag im erstem Augenblick der These von Korioth etwas abgewinnen, der mehr Maßgaben des Gesetzgebers fordert, da § 23 BLadSchlG auf Tatbestandsseite unbestimmte Rechtsbegriffe verwendet und auf Rechtsfolgenseite Ermessen einräume.263 Allerdings hat die Rechtsprechung die Norm hinreichend deutlich konkretisiert und Maßstäbe für ihre Anwendung aufgestellt. Schließlich existiert § 23 BLadSchlG nunmehr seit 1956 und ist mit Ausnahme des Falls der Stuttgarter Klett-Passage bis zum Erlaß der Fremdenverkehrsregelungen am Ende der 90er Jahre rechtmäßig angewendet worden, ohne daß fortgesetzt Mißbrauchsfälle auftraten. Zudem würde man die Intention der handelnden Verwaltungsbehörden wohl falsch beurteilen. Es ging anscheinend vielmehr, wie de Wall und Rozek treffend analysieren, darum, das Ladenschlußgesetz zu umgehen.264 Ein Teil der Bundesländer, insbesondere Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen, zeitweise auch Sachsen-Anhalt, hat versucht, das Ladenschlußgesetz auszuhebeln und ___________ 260
VG Chemnitz, Beschl. v. 11. Dezember 2002, zitiert nach Tegebauer, GewArch 2004, S. 321 (325). Den Fall der Stadt Chemnitz hat Rozek, NVwZ 2003, S. 397 (400 ff) umfangreich nachgezeichnet. 261 VG Leipzig, Beschl. v. 10. Dezember 2002, zitiert nach Tegebauer, GewArch 2004, S. 321 (325). 262 OVG Magdeburg NVwZ-RR 2003, S. 112 (113). 263 Korioth, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 36. 264 De Wall, ZevKR 45 (2000), S. 626 (627); Rozek, NJW 1999, S. 2921 ff.
4. Kapitel: Problematischer Vollzug des Bundesladenschlußgesetzes
287
etwa eine regelmäßige Sonntagsöffnung mit Hilfe von Ausnahmegenehmigungen gem. § 10 oder § 23 BLadSchlG zu ermöglichen.265 Die teilweise tatkräftige Unterstützung der Landes- und Kommunalbehörden, welche gerichtlichen Feststellungen der Rechtswidrigkeit nur zögernd nachkommen oder sie sogar ignorieren, ist nicht vereinbar mit dem rechtsstaatlichen Gebot der gesetz- und rechtmäßigen handelnden Verwaltung nach Art. 20 Abs. 3.266 Einzelne Verkaufsstellen oder Gemeinden dürfen das Ergebnis einer offenen Diskussion zum Ladenschlußgesetz nicht durch administrative „Tricks“ vorwegnehmen.267 Solche Auffassungen müssen sich vielmehr im demokratischen Willensbildungsprozeß Gehör verschaffen. Selbst wenn Einzelhändler und Verbraucher einen weitgehenden Sonntagsverkauf in ihren Gebieten befürworten, bleibt es dem Gesetzgeber überlassen, die unterschiedlichen Interessen abzuwägen und das Ladenschlußgesetz gegebenenfalls zu ändern. 268 Dies gebieten das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip.
4. Möglichkeiten des effektiveren Vollzuges Anders als bei den Fällen der Rechtsverordnungen kommen hier - solange das Bundesladenschlußgesetz noch in einem Bundesland gilt - die Aufsichtsmaßnahmen des Art. 84 Abs. 3 und 4 GG zum Tragen, da es sich bei den Verwaltungsakten i. S. d. § 23 BLadSchlG offensichtlich um einen verwaltungsmäßigen Vollzug des Ladenschlußgesetzes handelt. Es steht im Ermessen der Bundesregierung, einen Beauftragten zu den obersten Landesbehörden zu entsenden und die Mängelrüge einzusetzen. Aufsicht erfordert in erster Linie Beobachtung und somit Information und Auskunft.269 Allerdings könnte der Beauftragte keine Aktenvorlage verlangen, wie der Umkehrschluß aus den strengeren Aufsichtsmitteln bei der Bundesauftragsverwaltung ergibt, vgl. Art. 85 Abs. 4 S. 2 GG.270 Außerdem kann die Bundesregierung die Mängelrüge erheben, die feststellt, daß das geltende Bundesrecht nicht dem geltenden Recht gemäß ausgeführt worden ist. Eine verbindliche Feststellung der Rechtswidrigkeit läßt sich nur ___________ 265
So auch Tegebauer, GewArch 1999, S. 470. Rozek, NJW 1999, S. 2921 (2927); ähnlich de Wall, ZevKR 45 (2000), S. 626. 267 Tegebauer, GewArch 1999, S. 470; Rozek, NJW 1999, S. 2921 (2928); TillmannGehrken, NVwZ 2000, S. 162 (163); Hufen, JuS 2000, S. 197 (198). 268 Hufen, JuS 2000, S. 197 (198); Kerwer, NZA 1999, S. 1313 (1315); OVG Magdeburg NVwZ-RR 2003, S. 112 (113). 269 Trute, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 84 Rnr. 49. 270 Zu dessen sonstigen Möglichkeiten vgl. oben 3. Teil, 4. Kapitel I. 2. Er kann also mit Einverständnis der Landesbehörde Akten einsehen, aber dies nicht einfordern. 266
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3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
nach dem Verfahren des Art. 84 Abs. 4 GG erreichen, in dem der Bundesrat einen Beschluß über die Rechtsverletzung durch das betreffende Land fassen kann. Gegen diesen Beschluß ist der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht eröffnet.271 Eine Einzelweisung der Bundesregierung an die oberste Landesbehörde ist im Fall des Ladenschlußgesetzes nicht möglich. Diese hätte explizit im Ladenschlußgesetz vorgesehen werden müssen.272 Auch dem Beauftragten der Bundesregierung steht kein Weisungsrecht zu.273 Die Effektivität der Aufsichtsmittel des Bundes muß daher als mäßig eingestuft werden.
III. Tankstellen und Bahnhöfe als Einkaufsmärkte Anders als bei den zuvor behandelten Fallgruppen ist bei Tankstellen und Bahnhöfen zur Sonntagsöffnung kein zusätzlicher Rechtsakt durch die Länder notwendig. Diese Möglichkeit ergibt sich direkt aus dem Gesetz. Die Verwaltungsstellen der Länder sind lediglich in ihrer Funktion als Aufsichtsbehörde gefragt, § 22 BLadSchlG. Die Regelungen für Tankstellen und Verkaufsstellen in Personenbahnhöfen sind grundsätzlich parallel strukturiert. Sie können an allen Tagen ohne Einschränkung öffnen und während des allgemeinen Ladenschlusses Reisebedarf verkaufen, § 6 und § 8 Abs. 1 BLadSchlG.274 Die Landesladenschlußgesetze enthalten ebenfalls solche Regelungen.275
1. Praktische Anwendung Zentrales Problem in beiden Fällen ist die sehr weite Auslegung des Begriffs „Reisebedarf“. Er ist in § 2 Abs. 2 BLadSchlG detailliert definiert und umfaßt
___________ 271
Art. 84 Abs. 4 S. 2 GG. S. zum Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage Art. 84 Abs. 5 S. 1 GG. 273 Trute, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 84 Rnr. 50. 274 Geringe Unterschiede sollen hier außen vor bleiben, da sie für das untersuchte Problem nachrangig sind: Tankstellen dürfen zusätzlich Ersatzteile für KfZ und Betriebsstoffe abgeben, während nur Verkaufsstellen in Personenbahnhöfen am 24. Dezember um 17 Uhr schließen müssen, vgl. § 6 Abs. 2 und § 8 Abs. 1 BLadSchlG. 275 S. in den Landesgesetzen §§ 5 f BW, § 5 Berl, §§ 7 f Bbg, §§ 4 f Hamb, § 4 Abs. 1 Nr. 1 und 2 Hess, § 5 Abs. 2 und 3 MV, § 4 Abs. 1 Nr. 1 Nds, §§ 8 f NRW, §§ 6 f RhPf, §§ 5 f Saar, § 4 Nr. 2 und 3 SAnh, §§ 7 f SH, §§ 6 f Thür. 272
4. Kapitel: Problematischer Vollzug des Bundesladenschlußgesetzes
289
insbesondere Reisetoilettenartikel sowie Lebens- und Genußmittel in kleineren Mengen.276 Die Praxis läuft dem erkennbar zuwider, wenn etwa ganze Getränkekisten, Holzkohle zum Grillen, Wasch- und Spülmittel für die entsprechenden Maschinen oder Tiefkühlkost in Tankstellen oder Bahnhofsläden verkauft werden.277 Hier ist eine Subsumtion unter den Begriff Reisebedarf und seine einzelnen Elemente schlicht nicht mehr möglich. Auch wenn nicht der gesamte tatsächliche Bestand an angebotenen Produkten auf seine Vereinbarkeit mit dem Reisebedarfbegriff des Ladenschlußgesetzes geprüft werden kann, soll die Entscheidung des OLG München nicht unerwähnt bleiben, nach der eine „Miracoli“Packung keinen Reisebedarf darstellt.278 Dafür benötigt man schließlich Topf und Herd, was auf Reisen schwerlich verfügbar sein wird. Seit vielen Jahren ist die Entwicklung vieler Tankstellen zu Minisupermärkten sichtbar und von mehreren Autoren zutreffend und bildhaft beschrieben worden („Tankstellen als Tante-Emma-Laden“).279 Man könnte dieses Phänomen mit der Einfügung des „Reisebedarfs“ in die Ladenschlußnorm zu Tankstellen, § 6 BLadSchlG, im Jahr 1996 in Zusammenhang bringen.280 In Betracht kommt als Ursache auch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das diese Vorschrift im Jahr 1993, also vor der Ergänzung, über den Wortlaut hinaus auslegte und einen Verkauf bestimmter Waren als Reisebedarf für zulässig erachtete.281 Die Zunahme der durchschnittlichen Verkaufsfläche von 20 - 30 qm auf etwa 130 qm im Zeitraum 1971 - 1990 in der alten Bundesrepublik belegt aber, daß Tankstellen schon zuvor bewußt ihre Verkaufsflächen ausgebaut haben.282 Ähnliches ist in den letzten Jahren in Bahnhöfen des Fern- und Regionalverkehrs festzustellen. Zahlreiche Lebensmittel-, Drogeriegeschäfte sowie sonstige Einzelhändler bieten ein breites Warensortiment an. Für die Einkaufsmöglichkeiten an Sonntagen wirbt die Bahn offensiv, und es ist ein klares unternehme___________ 276
Reisebedarf sind daneben noch Zeitungen, Zeitschriften, Straßenkarten, Stadtpläne, Reiselektüre, Schreibmaterialien, Filme, Tonträger, Bedarf für Reiseapotheken, Reiseandenken und Spielzeug geringeren Wertes sowie ausländische Geldsorten. 277 Ruess, WRP 2004, S. 1324 (1327), weist zu Recht darauf hin, daß Tiefkühlkost auf Reisen schwerlich zubereitet werden kann. 278 OLG München MDR 1992, S. 953. 279 Vgl. Webers, GewArch 2005, S. 60; Schädler, Verfassungsrechtliche Beurteilung des Ladenschlußgesetzes, 1995, S. 206; Ruess, WRP 2004, S. 1324 (1327); Heckmann, JZ 1999, S. 1143 (1145). 280 Vgl. die Änderung des § 6 Abs. 2 BLadSchlG durch G. v. 30. Juli 1996, BGBl. I, S. 1186. 281 BVerwG NJW 1994, S. 1017; kritisch hierzu Stober, JZ 1996, S. 541 (545 f). 282 Zu den Zahlen vgl. Jahn, JuS 1995, S. 589 (590).
290
3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
risches Konzept hinter dem Ausbau der Verkaufsfläche in zahlreichen Bahnhöfen zu erkennen.283 Durch höchstrichterliche Beachtung geadelt ist der Leipziger Hauptbahnhof. Die vier dissentierenden Bundesverfassungsrichter führten im Ladenschlußurteil 2004 die dort gelegenen mehr als 140 Verkaufsstellen als Beispiel dafür an, daß die Ausnahmetatbestände des Ladenschlußgesetzes über ihren eigentlichen Zweck hinausgehen und allgemeinen Konsuminteressen dienen. Wie die Richter zutreffend ausführen, orientiert sich das Warenangebot an einem sehr weit verstandenen Kaufbedürfnis der Verbraucher, und es kann von einem „Einkaufszentrum im Bahnhof“ gesprochen werden.284 Allerdings ist die Klarstellung wichtig, daß es sich im Leipzig um einen Fall der Verlängerung des werktäglichen Ladenschlusses bis 22 Uhr gem. § 8 Abs. 2 a BLadSchlG i. V. m. der sächsischen Ladenschlußverordnung285 handelt. Diese gestattet den Verkauf von Waren des täglichen Ge- und Verbrauchs und Geschenkartikeln, was deutlich über den Reisebedarf i. S. d. § 2 Abs. 2 BLadSchlG hinausgeht. Es besteht hier also kein Problem an Sonntagen.286 Der Begriff des Reisebedarfs wird erkennbar in zahlreichen Tankstellen und Bahnhöfen überdehnt, was schlicht die Rechtswidrigkeit des Verkaufs solcher Waren zur Folge hat.287 Die Analyse von Ruess, daß dies aus ökonomischen Gründen hingenommen wird,288 dürfte zutreffend sein. Die Privilegierung der Tankstellen und Bahnhöfe hat zu einer Begünstigung dieser nicht zeitgebundenen Handelsformen geführt.289 Als problematisch erweist sich in der Praxis die Rolle der Ladeninhaber als Gesetzesinterpreten. Ihnen fällt zunächst die Aufgabe zu, die Legaldefinition des Reisebedarfs in die Tat umzusetzen, da keine öffentliche Stelle den Umfang ___________ 283 Vgl. etwa die Bahnhöfe Berlin-Hauptbahnhof, -Ostbahnhof und -Friedrichstraße, Mainz oder Köln. Vgl. zum breiten Warensortiment in Bahnhöfen Müller, NVwZ 2003, S. 824 (825). 284 BVerfGE 111, 10 (44 ff). 285 LSchlVO Sa v. 30. November 1993, GVBl. S. 1125, geändert durch VO v. 4. November 1997, GVBl. S. 573. 286 Leipziger Einzelhändler, die außerhalb des Bahnhofs Geschäfte betreiben, strengten ein Normenkontrollverfahren gegen die zugrundeliegende Rechtsverordnung an, allerdings lehnte das OVG Bautzen NJW 1999, S. 2539, den Antrag mangels Rechtsschutzbedürfnisses ab; zweifelnd hierzu Rozek, SächsVBl. 1999, S. 149 (157), der ein subjektives Recht aus § 8 Abs. 2 a BLadSchlG annimmt. 287 Vgl. zu einem Fall, in dem Bahnhofsläden über den Reisebedarf hinausgehenden Waren verkauften und ein Verbraucherverein den Prozeß gewann, BGH GewArch 1995, S. 384. 288 Ruess, WRP 2004, S. 1324 (1327). 289 Schädler, Verfassungsrechtliche Beurteilung des Ladenschlußgesetzes, 1995, S. 81 f.
4. Kapitel: Problematischer Vollzug des Bundesladenschlußgesetzes
291
ihrer Tätigkeit außerhalb des allgemeinen Ladenschlusses genehmigen muß. Die Entwicklung der letzten Jahre ist durch den Verkauf an jedermann, nicht nur an Reisende begünstigt worden.
2. Möglichkeiten des effektiveren Vollzuges Zunächst obliegt es den Ländern selbst, die Einhaltung der Regelungen für Tankstellen und Personenbahnhöfe zu kontrollieren. Den nach Landesrecht für den Arbeitsschutz zuständigen Behörden stehen die Mittel gemäß § 22 BLadSchlG i. V. m. § 139b GewO zur Verfügung. Danach ist ihnen eine Besichtigung der Geschäftsräume und Prüfung des Sachverhalts möglich. Anschließend können sie eine unselbständige Verfügung erlassen, die den Gesetzesbefehl in Gestalt eines Verwaltungsaktes wiederholt. Diese Behörden sind befugt, Bußgeldverfahren anzustrengen, wenn sie für die Verfolgung und Ahndung zuständig sind.290 Beim Vollzug und bei der Kontrolle bestehen im Fall der Tankstellen und Bahnhöfe in der Praxis die größten Defizite. Einen solchen Mangel haben auch die vier die Entscheidung tragenden Bundesverfassungsrichter 2004 angedeutet: „Werden durch einen möglicherweise rechtswidrigen Vollzug des Gesetzes im Einzelfall konkrete und nachweisbare Wettbewerbsnachteile für nicht privilegierte Betriebe bewirkt, begründet dies nicht die Unangemessenheit der gesetzlichen Regelung, sondern deutet auf mangelnde Kontrolle hin.“291
Die im Ladenschlußgesetz des Bundes angedrohten Sanktionen sind nicht mehr effektiv. Wenn ein Inhaber einer Verkaufsstelle gegen den sonntäglichen Ladenschluß verstößt, kann er mit einem Ordnungsgeld i.H.v. 500 € belegt werden, § 24 Abs. 1 Nr. 2 a BLadSchlG. Dies ist für große Einzelhandelsunternehmen alles andere als abschreckend. Effektiver ist die Möglichkeit zur Gewinnabschöpfung, die nach § 17 Abs. 4 OWiG besteht. Danach soll eine Geldbuße den wirtschaftlichen Vorteil des Täters übersteigen. Unternehmen würden des ökonomischen Interesses beraubt, rechtswidrig sonntags zu öffnen. Aber davon wird, wie etwa der Fall Chemnitz zeigt, bisher kein Gebrauch gemacht.292
___________ 290
Tettinger, in: ders. / Wank, Gewerbeordnung, 2004, § 139b Rnr. 9; Zmarzlik / Roggendorf, Ladenschlußgesetz, 1997, § 22 Rnr. 3f. 291 BVerfGE 111, 10 (42). 292 Rozek, NVwZ 2003, S. 397 (401). Dort zitiert er den Leiter eines großen örtlichen Kaufhauses: „Wir lassen uns von Bußgeldandrohungen nicht abschrecken.“
292
3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis
Die Länder haben in ihren Ladenöffnungsgesetzen die möglichen Geldbußen erhöht: In den meisten Ländern können die zuständigen Behörden nunmehr bis zu 15.000 € Geldbuße verhängen.293
IV. Ergebnis Vor der Übertragung der Gesetzgebungskompetenz auf die Länder haben sich in der Praxis seit mehreren Jahren Defizite beim Vollzug des Ladenschlußgesetzes durch einige Länder feststellen lassen. Rozek ist zuzustimmen, wenn er in diesem defizitären Vollzug und nicht im Gesetz selbst das aktuelle Problem des Ladenschlußrechts sieht.294 Bei Tankstellen und Bahnhöfen setzen die zuständigen Landesbehörden Kontrollen und die zur Verfügung stehenden Ordnungsmittel nicht in ausreichendem Maße ein. Dagegen haben die Länder- oder Kommunalbehörden in einigen anderen Ländern tatkräftig daran mitgewirkt, die Ausnahmetatbestände nach § 14 und § 23 BLadSchlG zu umgehen. Die Aufsichtsmittel des Art. 84 Abs. 3 und 4 GG des Bundes sind in dieser Konstellation beschränkt, aber nicht wirkungslos. Sie mögen in der Staatspraxis bisher wenig Anwendung gefunden haben.295 Dies beruhte womöglich darauf, daß nach gerichtlichen Entscheidungen zu Lasten der Verwaltung aufgrund des Art. 20 Abs. 3 GG mit einem rechtmäßigen Verwaltungshandeln zu rechnen war. Aufgrund neuerer Entwicklungen scheint ein solches rechtstreues Verhalten der Verwaltung nicht mehr selbstverständlich, wie vor allem die Fälle in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern zeigen. Vor dem Hintergrund, daß gerade Tankstellen und Bahnhöfe ihre Privilegien beim Ladenschluß strategisch ausnutzen, ist de lege ferenda zu erwägen, ob diese Ausnahmen in der bisherigen Form und Umfang fortbestehen sollen. Denkbar wäre es zum Beispiel, in Tankstellen Waren nur an Käufer von Kraftstoffen und in Bahnhöfen nur an Reisende abzugeben. Letzteres ist an Flughäfen für den Verkauf außerhalb der allgemeinen Öffnungszeiten vorgesehen, vgl. § 9 Abs. 1 S. 2 BLadSchlG.296 Zwar bleibt nach der Verlängerung der werktäglichen Öffnungszeiten in den meisten Ländern abzuwarten, ob die genannten ___________ 293
Vgl. nur § 15 Abs. 2 LadÖffG BW, § 15 Abs. 2 LadSchlG Brem, § 7 Abs. 1 S. 2 LadÖffG Nds, § 13 Abs. 2 LadÖffG NRW, § 13 Abs. 2 LadÖffG Sa. 294 Rozek, NJW 1999, S. 2921 (2926). 295 So auch Rozek, NJW 1999, S. 2921 (2928). 296 Für internationale Flughäfen ermächtigt § 9 Abs. 3 BLadSchlG die Landesregierungen allerdings, den Verkauf während des allgemeinen Ladenschlusses auch an andere Personen als Reisende freizugeben.
4. Kapitel: Problematischer Vollzug des Bundesladenschlußgesetzes
293
besonderen Verkaufsorte durch länger öffnende, früher nicht-privilegierte Verkaufsstellen Konkurrenz erhalten. Allerdings wird gerade an Sonn- und Feiertagen keine neue Konkurrenz entstehen, weil dann der allgemeine Ladenschluß weiterhin gilt und Tankstellen, Bahnhöfe und Flughäfen somit privilegiert bleiben.
4. Teil
Subjektives Recht auf Sonntagsschutz Im vorigen Teil sind unter anderem Möglichkeiten der Bundesorgane erwähnt worden, gegen den fragwürdigen Vollzug von Ladenschlußregelungen vorzugehen. Weitergehend stellt sich die Frage, ob einzelnen natürlichen oder juristischen Personen - etwa Religionsgemeinschaften, jeder Erwerbstätige oder jeder Mensch, da sich alle potentiell seelisch erheben können - ein durchsetzbares Recht auf Sonntagsschutz zukommt. Als Quellen solcher Rechte sind das Verfassungsrecht und insbesondere Art. 139 WRV, das einfache Gesetzesrecht sowie die Staatskirchenverträge in Erwägung zu ziehen. Da seit etwa 20 Jahren vermehrt Klagen wegen eines angeblichen Verstoßes gegen das Gebot der Sonn- und Feiertagsruhe bei den Verwaltungsgerichten erhoben werden, ist schon auf der Ebene der Zulässigkeit im Rahmen der Klage- oder Antragsbefugnis die Frage nach subjektiven Rechten relevant.
1. Kapitel
Aus Verfassungsrecht I. Subjektives Recht aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV Das OVG Greifswald hat die Frage, ob Art. 139 WRV ein subjektives Recht begründet, in einem Beschluß vom 22. Dezember 1999 ausdrücklich offen gelassen.1 Auch das Schlewig-Holsteinische OVG hat in seinem Beschluß vom 25. November 200 es nicht als unmöglich angesehen, daß Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV nicht nur eine objektiv-rechtliche Garantie, sondern darüber hinaus auch subjektive Rechte begründet.2 Der subjektiv-rechtliche Gehalt des Sonntagsartikels ist nämlich keinesfalls so offensichtlich zu verneinen, wie es ohne nähere Begründung in der Literatur3 oder in der Rechtsprechung4 oft ge___________ 1
OVG Greifswald, DVBl. 2000, S. 1072 (1073). Vgl. Unruh, ZevKR 2007, S. 1 (13), der aus dem nicht veröffentlichten Beschluß zitiert. 3 Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, 2006, Art. 140 GG, Art. 139 WRV. 4 BVerfG NJW 1995, S. 3378 (3379). 2
1. Kapitel: Aus Verfassungsrecht
295
schieht. Meist wird allein auf den Rechtscharakter als institutionelle Garantie oder Institutsgarantie verwiesen.5 Wer aber die Literatur und die Rechtsprechung zur allgemeinen Frage, ob Einrichtungsgarantien subjektive Rechte enthalten, analysiert, kommt zum Ergebnis, daß ein solcher Verweis auf die Rechtsnatur nicht selbsterklärend ist6 und die Meinungen durchaus geteilt sind.7
1. Kriterien zur Bestimmung eines subjektiven Verfassungsrechts Einige Autoren und auch die Rechtsprechung schließen von der Rechtsnatur des Art. 139 WRV als institutionelle Garantie auf die objektiv- oder subjektivrechtliche Dimension.8 Eine solche deduktive Methode läßt jedoch nur dann allgemeinverbindliche Aussagen zu, wenn weitgehende Einigkeit über Bezeichnung und Inhalt der Kategorien herrscht. Dies ist aber gerade bei den Einrichtungsgarantien und den institutionellen Garantien selten der Fall. Schon ihre bloße Existenzberechtigung wird - wie etwa durch Alexy - in Frage gestellt.9 Weiterhin herrscht begrifflich Uneinigkeit.10 Die Inhalte, die mit diesen Begriffen verbunden werden, mögen im Schemenhaften einheitlich sein, ein fester, unbestrittener Bestand läßt sich nur schwer ausmachen. Die induktive Annäherung an Art. 139 WRV erscheint fruchtbarer.
a) Verfassungsbeschwerde als Maßstab? Teilweise wird die Regelung über die Verfassungsbeschwerde herangezogen, um den Kanon der grundrechtsgleichen Rechte zu bestimmen. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG zähle diese Rechte abschließend auf11 und biete keinen normativen Bezugspunkt, um gewisse Rechte, auf die Art. 140 GG verweist, zu den grundrechtsgleichen Rechten zu zählen.12 ___________ 5
Loritz, Sonntagsarbeit, 1989, S. 40; Schlette, JA 1996, S. 955 (956 in Fn. 11). So Korioth, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 19. 7 Siehe dazu nur die Hinweise bei Stern, Staatsrecht III/1, 1988, S. 873 ff, und de Wall, Der Staat 38 (1999), S. 377 ff. 8 BVerfG NJW 1995, S. 3378 (3379); Steinbeiß-Winkelmann, Grundrechtliche Freiheiten, 1986, S. 112 ff; Loritz, Sonntagsarbeit, 1989, S 40. 9 Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 444, hält Institutsgarantien für überflüssig; Waechter, Die Verwaltung 29 (1996), S. 47 ff. 10 Stern, Staatsrecht III/1, 1988, S. 776, de Wall, Der Staat 38 (1999), S. 377 (379). 11 So Dreier, in: ders., GG, 2004, Vorb. Rnr. 63; ebenso Battis / Gusy, Staatsrecht, 1999, Rnr. 327. 12 Pieroth / Schlink, Staatsrecht II, 1992, Rnr. 61; ebenso ablehnend für Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 WRV Beyer, Beschwerdebefugnis von Verbänden, 1976, S. 31. 6
296
4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
Zwar kann eine Verfassungsbeschwerde nicht (allein) auf Art. 140 GG und die dort enthaltenen Rechte gestützt werden.13 Allerdings ist kein durchschlagender Grund ersichtlich, warum nicht der Verfassungsgeber auch subjektive Rechte im Grundgesetz normiert hat, die nicht in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG aufgeführt sind. Es stellt eine durchaus plausible Wertung des Verfassungsgebers dar, wenn er die subjektiven Rechte im Grundgesetz in Grundrechte, grundrechtsgleiche und sonstige subjektive Verfassungsrechte unterteilt. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG bringt damit zum Ausdruck, daß nur Rechte einer ganz bestimmten Qualität einer Person die Berechtigung vermitteln, Verfassungsbeschwerde einlegen zu können.14 Bei anderen subjektiven Rechten im Grundgesetz kann immer noch auf die Klagearten vor den Verwaltungsgerichten zurückgegriffen werden, um diese Rechte gerichtlich durchzusetzen. Ein solcher weiter Ansatz, der von drei Arten subjektiver Rechte im Grundgesetz ausgeht (Grundrechte, grundrechtsgleiche Rechte und sonstige subjektive Verfassungsrechte), kann mehr Schlüssigkeit für sich beanspruchen.15 Diesen Ansatz denkt Löw zumindest mit, wenn er die inkorporierten Kirchenartikel der Art. 136 ff WRV ihrem Wesen nach als Grundrechte bezeichnet und gleichzeitig eine analoge Anwendung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG auf Art. 140 GG als fraglich einstuft.16 Die Freiheit der Parteiengründung nach Art. 21 Abs. 1 S. 2 GG, die nach Art. 29 und Art. 118 S. 2 GG notwendigen Volksabstimmungen und die Abschaffung der Todesstrafe nach Art. 102 GG sind z. B. solche sonstigen subjektiven Verfassungsrechte.17 Daher steht Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG einem subjektiv-rechtlichen Gehalt des Art. 139 WRV nicht von vornherein entgegen.
b) Eindimensionale Ansätze Es herrscht in Wissenschaft und Rechtsprechung keine Einigkeit über die Kriterien, nach denen festgestellt werden kann, wann ein Grundgesetzartikel
___________ 13
BVerfGE 19, 129 (135). So im Ergebnis auch Dietlein, in: FS Rüfner, 2003, S. 131 (145), für den Fall, daß man ein subjektives Recht aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV annimmt. 15 Im Ergebnis ebenso Maunz / Zippelius, Staatsrecht, 1998, S. 132 f, der etwa die Art. 46 bis 48, Art. 97 GG zu den subjektiven Verfassungsrechten zählt; Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/1, 1988, S. 365 ff. 16 Löw, Grundrechte, 1982, S. 24. 17 Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/1, 1988, S. 372 f und 375; so wohl auch Battis / Gusy, Staatsrecht, 1999, Rnr. 327, die Art. 21 und Art. 102 GG zwar als Rechte nennen, auf die man aber keine Verfassungsbeschwerde stützen kann. 14
1. Kapitel: Aus Verfassungsrecht
297
einem bestimmbaren Träger ein subjektives Recht einräumt.18 Mehrere Ansätze stellen jeweils auf einen einzigen Aspekt ab.
aa) Effektivitätskriterium Ein möglicher Maßstab läßt sich aus der Frage entwickeln, wie effektiv eine Verfassungsnorm ohne subjektiven Gehalt wirkt. De Wall und ihm für Art. 139 WRV folgend Morlok nennen dieses Kriterium im Zusammenhang mit den Einrichtungsgarantien.19 In dieselbe Richtung weist Stern, nach dem „Einrichtungsgarantien stets nur soviel wert sind, wie sie im Bedrohungsfall verteidigt werden können.“20 Zwar mag das Bundesverfassungsgericht diesem Effektivitätsargument durch die Forderung Vorschub leisten, Verfassungsnormen so auszulegen, daß sie eine möglichst große Wirkungskraft entfalten können.21 Allerdings ist dieser Effektivitätsaspekt auf jede objektiv-rechtliche Norm anwendbar.22 Er würde bei konsequenter Anwendung dem Reich der subjektiven Rechte Tür und Tor öffnen, da die Subjektivierung einer Rechtsnorm nur noch schwer abzulehnen wäre. Welche Norm wirkt nicht effektiver, wenn sie auch ein subjektives Recht vermittelt und vor Gericht durchgesetzt werden kann? Dieser Ansatz zeigt besonders anschaulich die Nachteile einer deduktiven Vorgehensweise. Entscheidend ist dann nicht mehr die Exegese unter dem Blickwinkel der Gewährung eines subjektiven Rechts, sondern nur noch die Einordnung als Einrichtungsgarantie.23 Die Bedenken gegen ein solches Vorgehen bei Einrichtungsgarantien wurden gerade dargelegt. Daher ist dieser Ansatz abzulehnen.
bb) Grundrechtsnähe Zuweilen wird vorgeschlagen, die „Grundrechtsnähe“ einer Norm sei für ihren subjektiv-rechtlichen Gehalt entscheidend. Auch dieses Kriterium ist an___________ 18
So auch Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/1, 1988, S. 366 f. De Wall, Der Staat 38 (1999), S. 377 (384 f), verwendet es aber nicht als alleiniges Kriterium; vgl. auch Morlok / Heinig, NVwZ 2001, S. 846 (850). 20 Stern, Staatsrecht III/1, 1988, S. 875. 21 BVerfGE 6, 55 (72); 43, 154 (167). 22 Darauf weist de Wall, Der Staat 38 (1999), S. 377 (385), mit Recht hin und fordert weitere Kriterien, um einer Einrichtungsgarantie auch ein subjektives Recht zuschreiben zu können. 23 Vgl. für Art. 139 WRV Loritz, Sonntagsarbeit, 1989, S. 40. Er argumentiert, daß Art. 139 WRV nicht dem einzelnen individuelle Ruhe und seelische Erhebung sichere, weil es sich um eine institutionelle Garantie handele. 19
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4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
hand der Frage entwickelt worden, ob Einrichtungsgarantien subjektive Rechte enthalten.24 Notwendig sei eine grundrechtsdienende und -effektivierende Funktion der in Frage stehenden Norm.25 Letzteres gilt etwa für die Regelungen in Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 3 S. 1 und Abs. 4 WRV, die als Elemente der negativen Religionsfreiheit auch von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG erfaßt werden.26 Sie zeigen deutlich, daß Artikel außerhalb des ersten Abschnitts den Grundrechten inhaltlich sehr nahe stehen können oder sogar Freiheitsbereiche mitumfassen. Entscheidend soll nach diesem Ansatz die sachliche Verbindung der Verfassungsnorm zu einem Grundrecht sein, das in seinem subjektiven Gehalt unstreitig ist und dessen Effektivierung Zweck der Verfassungsnorm ist.27 Für Art. 139 WRV steht Morlok einer Anwendung dieses Merkmals - neben anderen Kriterien - nahe.28 Zwar stellen sich Fragen, ob „Grundrechtsnähe“ als Kriterium taugt. Decken die Schutzbereiche der Grundrechte - gerade wenn man an Art. 2 Abs. 1 GG denkt - nicht fast alle denkbaren Lebensbereiche ab? Läßt sich nicht leicht die Nähe einer Verfassungsnorm zu einem Grundrecht konstruieren? Auch wenn Zweifel an der Trennschärfe dieses Kriteriums nicht völlig ausgeräumt werden können, ist die Grundrechtsnähe zumindest ein Indiz für einen möglichen subjektiv-rechtlichen Gehalt. Die bei Grundrechten unzweifelhaft vorhandene subjektive Berechtigung kann durchaus Rückschlüsse auf sachlich nahe stehende Verfassungsnormen zulassen, bei denen der subjektiv-rechtliche Gehalt zweifelhaft ist.
cc) Individualbezug Sachs stellt den Individualbezug einer Verfassungsnorm in den Vordergrund, um grundrechtsähnliche Rechte von staatsorganisatorischen und sonstigen Verfassungsrechtsnormen zu scheiden.29 Erforderlich sei ein enger Bezug der Norm zum Individuum. ___________ 24
Steinbeiß-Winkelmann, Grundrechtliche Freiheiten, 1986, S. 115 - 117. De Wall, Der Staat 38 (1999), S. 377 (385); Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 18. 26 Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, 2006, Art. 140 GG, Art. 136 WRV Rnr. 4. Art. 136 Abs. 3 S. 1 und Abs. 4 WRV lauten: „Niemand ist verpflichtet, seine religiöser Überzeugung zu offenbaren“ und „Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden.“ 27 De Wall, Der Staat 38 (1999), S. 377 (385). 28 Morlok / Heinig, NVwZ 2001, S. 846 (850). 29 Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/1, 1988, S. 367 und 372. 25
1. Kapitel: Aus Verfassungsrecht
299
Dieser Gedanke läßt sich fruchtbar machen, bedarf aber einer Ergänzung. Entscheidend für eine Einordnung als subjektives Verfassungsrecht muß neben dem Individualbezug sein, daß die Norm den Rechtskreis des Trägers zumindest nicht beschränkt. So kann man Grundpflichten aus dem Bereich der grundrechtsähnlichen Normen ausscheiden. Fraglich ist, ob es sachlich einen Unterschied dieses Ansatzes zur Schutznormtheorie gibt.
c) Schutznormtheorie Die Schutznormtheorie wird angewendet, um im Verwaltungsprozeß zu untersuchen, ob eine Norm ein subjektiv-öffentliches Recht und somit eine Klagebefugnis im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO sowie ein nach § 113 Abs. 1 VwGO verletzbares Recht begründet.30 Von dogmatischer Seite wird der Schutznormtheorie eine Analysefähigkeit zugesprochen, die sie kaum erfüllen kann. Aber es ist nicht zu leugnen, daß sie einer als topisches Denken verstandenen Jurisprudenz hilfreiche Aspekte liefern kann. Bei einer Zusammenschau der Literatur und der Rechtsprechung läßt sich ein gemeinsames Verständnis ausmachen. Ein Rechtssatz beinhaltet nach der Schutznormtheorie dann ein subjektives Recht, wenn 1. es sich um eine Norm des objektiven Rechtes handelt, die den Staat zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet,31 2. er bezweckt, zumindest auch Individualinteressen zu schützen,32 und 3. der Kreis der Berechtigten klar abgrenzbar ist.33 Bei der Untersuchung eines Verfassungsrechts auf seinen subjektivrechtlichen Gehalt ist allerdings nicht zu fordern, daß der Kreis der Berechtigten abgrenzbar sein muß.34 Zu beachten ist nämlich, daß die Schutznormtheorie in engem Zusammenhang mit § 42 Abs. 2 VwGO steht. Dieser Regelung zur ___________ 30 Im einzelnen herrscht Uneinigkeit, ob die Schutznormtheorie dem Verwaltungsprozeßrecht oder dem materiellen öffentlichen Recht zuzuordnen ist; vgl. Bauer, AöR 113 (1988), S. 582 (584). Diese Frage ist hier nicht entscheidend. 31 Maurer, Verwaltungsrecht, 2004, § 8 Rnr. 8; Richter / Schuppert, Casebook Verwaltungsrecht, 1995, S. 66; de Wall, ZevKR 45 (2000), S. 626 (628). 32 Battis, Verwaltungsrecht, 2002, S. 90; Hufen, Verwaltungsprozeßrecht, 2005, § 14 Rnr. 97; Kopp / Schenke, VwGO, 2005, § 42 Rnr. 83 m. w. N.; Richter / Schuppert, Casebook Verwaltungsrecht, 1995, S. 66; BVerwGE 1, 83; 28, 268 (270); 72, 226 (229), 77, 70 (73); BVerfGE 27, 297 (307). 33 Frers, Klagebefugnis des Dritten, 1988, S. 71; Hufen, Verwaltungsprozeßrecht, 2005, § 14 Rnr. 97; BVerwGE 52, 122 (129). 34 So auch Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/1, 1988, S. 543.
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4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
Klagebefugnis wohnt der Rechtsgedanke inne, Popularklagen auszuschließen. Das Erfordernis der Abgrenzbarkeit korrespondiert mit diesem Sinn und Zweck. Die Voraussetzung, Begünstigte abgrenzen zu können, wird teilweise als Indiz herangezogen, um nur im Baurecht Normen zu identifizieren, die nachbarschützend oder allgemein drittschützend sind. Sie wird somit nicht als konstituierendes Merkmal für ein subjektiv-öffentliches Recht im allgemeinen betrachtet.35 Es überzeugt, diesem Erfordernis bloßen Indizcharakter zuzusprechen. Denn es existieren mit den Grundrechten durchaus Normen, die zwar zweifelsfrei subjektive Rechte vermitteln, die aber den Kreis der Berechtigten nicht beschränken. Zu berücksichtigen ist in unserem Fall, daß der subjektive Gehalt einer Verfassungsrechtsnorm untersucht wird. Es ist also nicht von vornherein notwendig, die Summe der Berechtigten abzugrenzen. Dieses Abgrenzungsbedürfnis erscheint im Verwaltungsprozeßrecht nachvollziehbar, im Verfassungsrecht dagegen nicht. Zwei Voraussetzung der Schutznormtheorie, nämlich die erste und die zweite, können aber für die hier vorzunehmende Prüfung als Maßstab herangezogen werden. Es begegnet keinen Bedenken, im Verfassungsrecht für die Annahme eines subjektiven Rechtes zu fordern, daß es sich bei der Norm um einen Rechtssatz des objektiven Rechtes handeln muß, der den Staat zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet. Der wertvollste Beitrag der Schutznormtheorie ist das zweite Kriterium: Es muß der Zweck der Vorschrift sein, zumindest auch dem Schutz von Individualinteressen zu dienen. Die Schutznormtheorie erweist sich damit in ihren Grundzügen als übertragbar auf das Verfassungsrecht.36
d) Maßgebliche Kriterien Demnach ergeben sich bei einer Anwendung der Schutznormtheorie folgende Voraussetzungen, damit man Art. 139 WRV einen subjektiv-rechtlichen Gehalt zuschreiben kann. Es muß 1. sich um eine Norm des objektiven Rechtes handeln, die den Staat zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet,
___________ 35
Frers, Klagebefugnis des Dritten, 1988, S. 71; so wohl auch Maurer, Verwaltungsrecht, 2004, § 8 Rnr. 9, der von der Abgrenzbarkeit nur im Zusammenhang mit dem Baurecht spricht; Peine, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2000, Rnr. 82, sieht die Relevanz auch nur im Baurecht. 36 Ebenso de Wall, NVwZ 2000, S. 857 (859), und noch deutlicher ders., Rechtsgutachten zum subjektiven Recht kirchlicher Körperschaften, 1999, S. 12 (unveröff.); nur für die Grundrechte Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/1, 1988, S. 541.
1. Kapitel: Aus Verfassungsrecht
301
2. der Zweck der Norm sein, zumindest auch Individualinteressen zu schützen, und 3. der Träger des Rechtes erkennbar oder zumindest bestimmbar sein. Diese Voraussetzungen stellen die Auslegungsdirektiven für die Exegese des Art. 139 WRV dar. In einer Kombination der älteren und neueren Schutznormtheorie37 kommt allen vier klassischen Auslegungsmethoden (Wortlaut, historische, systematische und teleologische Auslegung) Bedeutung zu.38 Im Rahmen der systematischen Auslegung ist als ein Indiz die Grundrechtsnähe des Sonntagsartikels zu berücksichtigen. Schließlich sind bei der Auslegung des Art. 139 WRV die für das Grundgesetz maßgebenden Regeln anzuwenden, da diese Vorschrift durch die Inkorporation in die Systematik des Grundgesetzes eingegliedert wurde.39
2. Anwendung auf Art. 139 WRV a) Schutzauftrag des Staates Die erste Voraussetzung, nach der es sich um eine Norm des objektiven Rechtes handeln muß, die den Staat zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet, läßt sich unschwer als erfüllt ansehen. Art. 139 WRV verpflichtet den Gesetzgeber, den Schutz der Sonntage und der staatlich anerkannten Feiertage zu konkretisieren. Indem der Zweck dieses Schutzes („als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“) aufgeführt ist, erlangt der Auftrag eine hinreichende Bestimmtheit.
___________ 37 Ältere und neuere Schutznormtheorien unterscheiden Bauer, AöR 113 (1988), S. 582 (587 ff), und Sodan, in: ders. / Ziekow, VwGO, 2002, § 42 Rnr. 378 f. Die ältere Schutznormtheorie stellt in erster Linie auf die historische Auslegung ab, vgl. Bühler, Subjektive öffentliche Rechte, 1914, S. 45; in jüngerer Zeit Frers, Klagebefugnis des Dritten, 1988, S. 70; ihr Nachteil besteht darin, daß die Gesetzesmaterialien oft zum subjektiv-rechtlichen Gehalt schweigen. Dies gleicht die neuere Schutznormtheorie dadurch aus, daß sie die anderen Auslegungsmethoden ebenfalls heranzieht, vgl. Kopp / Schenke, VwGO, 2005, § 42 Rnr. 83; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 19 Abs. 4 Rnr. 128. 38 Vgl. Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1998, § 11 Rnr. 40; SchmidtAßmann, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 19 Abs. 4 Rnr. 136 ff. 39 BVerfGE 111, 10 (50).
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4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
b) Schutzzweck Weniger eindeutig ist dagegen, ob es gerade Zweck des Art. 139 WRV ist, zumindest auch Individualinteressen zu schützen. Eine umfassende Auslegung führt zu einer positiven Antwort:
aa) Wortlaut Formulierungen wie „hat Anspruch auf“, „steht das Recht auf ... zu“ oder „niemand darf zu... gezwungen werden“ zeugen von einer klaren Individualisierung eines Rechtssatzes. Sie machen jede intensive Auslegungsarbeit entbehrlich.40 Damit kann Art. 139 WRV jedoch nicht dienen. Der Umkehrschluß gilt aber nicht: Die subjektive Dimension einer Norm läßt sich nicht allein deshalb negieren, weil sie nicht von „Recht“ oder „Anspruch“ spricht. Höfling weist bei der Analyse des Grundrechtscharakters des Art. 1 Abs. 1 GG zu Recht daraufhin, daß eine Norm nicht zwingend expressis verbis ein subjektives Recht benennen muß, um den Grundrechtscharakter anzunehmen.41 So verhält es sich etwa bei den Gewährleistungen der Art. 4 Abs. 1 und 2, Art. 5 Abs. 3 S. 1, Art. 10 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 GG. Bei sonstigen subjektiven Verfassungsrechten gibt es keinen Grund, einen anderen Maßstab anzulegen. Weniger eindeutig als die Wendung „Recht“ oder „Anspruch“ erscheint die häufig, auch in Art. 139 WRV wiederkehrende Formulierung, daß ein bestimmtes Rechtsgut „gewährleistet“ wird. Dies ist etwa beim Eigentum und dem Erbrecht nach Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG oder bei speziellen Rechten der Religionsgemeinschaften nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 138 Abs. 2 WRV der Fall. Hieraus einen subjektiv-rechtlichen Gehalt abzuleiten, dürfte alles andere als zwingend sein. Gerade wenn das Rechtsobjekt im Nominativ verwendet wird, führt dies nicht zwingend zu dem Schluß auf ein subjektives Recht auf dieses Rechtsobjekt. Loritz vertritt die Auffassung, daß die grammatikalische Ausrichtung eines Satzes auf das Rechtsobjekt gegen den subjektiv-rechtlichen Gehalt spricht. Hier stünden die Rechtsobjekte „Sonntag“ und „Feiertage“ im Nominativ und damit im Vordergrund. Sie verliehen den Schutzzwecken, der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung, einen Allgemeinheitsbezug, der vom Individuum losgelöst sei.42 ___________ 40
Vgl. Battis, Verwaltungsrecht, 2002, S. 88, zu Beispielen. Zu Recht beschreibt er Normen mit einem solchen Wortlaut als die einzigen unzweifelhaften Fälle eines subjektiven öffentlichen Rechts. 41 Höfling, JZ 1995, S. 857 (858). 42 Loritz, Sonntagsarbeit, 1989, S. 40.
1. Kapitel: Aus Verfassungsrecht
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Es ist zwar richtig, daß bei typischen Grundrechten das Rechtssubjekt auch das Subjekt des Rechtssatzes im grammatikalischen Sinne ist: Zahlreiche Grundrechte beginnen mit der Wendung „Jedermann hat das Recht...“ oder „Alle Deutschen haben das Recht, ...“.43 Gegenbeispiele sind aber die Gewährleistung des Eigentums, des Erbrechts und der Unverletzlichkeit der Wohnung: Hier steht das Rechtsobjekt grammatikalisch im Nominativ und damit im Zentrum, ohne daß jemand den subjektiven Gehalt dieser Verfassungsnormen ernsthaft anzweifelt.44 Vielmehr ist der Wortlaut bei solchen Formulierungen neutral und enthält keinen Hinweis auf den subjektiv-rechtlichen Gehalt. So verhält es sich auch bei Art. 139 WRV. Der Träger eines möglichen Rechtes wird wie bei Eigentums-, Erbrechts- und Wohnungsgrundrecht nicht ausdrücklich genannt. Der Wortlaut liefert daher keine eindeutigen Hinweise, weder für noch gegen einen subjektiven Gehalt des Art. 139 WRV.45
bb) Historisch-genetische Auslegung Im Anschluß an die oben getroffene Differenzierung ist zwischen den Motiven des Verfassungsgebers bei der Erarbeitung der Regelung und dem rechtshistorischen Kontext, in dem eine Norm geschaffen wird, zu unterscheiden.46 (1) Entstehungsgeschichte Das Bundesverfassungsgericht hat mit Recht festgestellt, daß das rechtliche und historische Umfeld der Entstehung einer Verfassungsnorm und die Zielrichtung, wie sie sich in den Beratungen dargestellt und schließlich im Normzusammenhang ihren Ausdruck gefunden hat, zu analysieren sind. So könne man „Sinngehalt und Tragweite der Grundrechtsbestimmungen und anderer
___________ 43 Vgl. etwa Art. 2, Art. 5 Abs. 1 S. 1, Art. 8 Abs. 1, Art. 9 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 1 GG. 44 Art. 13 Abs. 1 GG bestimmt: Die Wohnung ist unverletzlich. Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG lautet: Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. 45 De Wall, NVwZ 2000, S. 857 (859). Widersprüchlich Westphal, Garantie der Sonn- und Feiertage, 2003, S. 132 und 153, die zunächst feststellt, daß der Wortlaut weder für noch gegen ein subjektives Recht spricht, während sie später als Ergebnis festhält, daß der Wortlaut keine Grundlage für die Annahme eines subjektiven Rechtsgehalts biete. Mattner, NJW 1988, S. 2207 (2208), sieht den Wortlaut unzutreffend als Argument gegen einen Abwehrcharakter des Art. 139 WRV an. 46 Vgl. oben 3. Teil, 2. Kapitel II. 2.
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4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
Garantienormen, denen oft eine lapidare Sprachgestalt eigen ist, richtig [...] erfassen.“47 Die Meinungen einzelner Abgeordneter bei den Beratungen geben nicht eo ipso die Auffassung des Gesetzgebers wieder. Eine qualitative Aufwertung erfahren solche Äußerungen nur, wenn sie Eingang in die Gesetzesmaterialien, also in amtliche Begründungen oder Berichte der maßgebenden Ausschüsse, gefunden haben.48 Dieses Kriterium ist tauglich, bloße Wertungen und Einschätzungen, die in jedem kommunikativen Prozeß wie einem Verfassungsoder Gesetzgebungsverfahren enthalten sind, von solchen Aussagen zu unterscheiden, die einem Organ oder dem Plenum des Parlaments zurechenbar sind. Wie oben näher ausgeführt,49 befaßte sich der Parlamentarische Rat 1948/49 nicht im einzelnen mit Art. 139 WRV. Die Entstehungsgeschichte des Art. 140 GG ist unergiebig.50 Es kommt allein auf die Verfassungsgebung von 1919 an. Die Mitglieder des Verfassungsausschusses behandelten bei den Beratungen des Art. 139 WRV keine dogmatischen Fragen wie etwa den subjektivrechtlichen Gehalt. Im Plenum der Nationalversammlung war der Zentrumsabgeordnete Mausbach der Berichterstatter. Er führte in der zweiten Beratung der Verfassung zu Art. 136 des Entwurfes, dem späteren Art. 139 WRV, aus: „Es bleiben nur noch die Art. 136, 137 und 138, von denen Art. 136 die öffentliche Sitte und die christliche Tradition und Religionsausübung bezüglich der Sonntage und Feiertage schützt. Die großen geschichtlichen Bestandteile unserer Kultusausübung enthalten aber auch wertvolle Freiheitsrechte für die einzelnen; und gerade diese Seite der Sonntagsruhe, die Schonung der Freiheit und der sozialen Gleichwertigkeit aller Klassen, ist darin ausgesprochen, daß diese Tage Tage der ,Arbeitsruhe’ und der ,seelische Erhebung’ für alle bleiben sollen.“51
Bemerkenswert ist, daß Mausbach der Kultusausübung an Sonn- und Feiertagen auch freiheitsrechtlichen Charakter zuspricht. Zuvor war davon in den Aussprachen und Diskussionen noch nicht die Rede gewesen.52 Zwar ist die Aussage Mausbachs nicht unerheblich, da gerade er der Berichterstatter zu dieser Materie war und somit intensiv mit ihr befaßt war. Legt man allerdings den oben definierten Maßstab an, reicht diese mündliche Aussage nicht aus, um als ___________ 47 BVerfGE 79, 127 (143f); a. A. Loritz, Sonntagsarbeit, 1989, S. 18. Er meint, daß zur Interpretation des Art. 139 WRV und zur Lösung von damit zusammenhängenden Einzelproblemen überhaupt nicht auf die Entstehungsgeschichte zurückgegriffen werden könnte. 48 Sondervotum der Richter Papier, Graßhof, Haas, BVerfGE 98, 265 (339). 49 Vgl. oben 2. Teil, 1. Kapitel I. 1. 50 Ebenso Benda, Probleme der industriellen Sonntagsarbeit, 1990, S. 24. 51 Heilfron, Nationalversammlung 1919, Bd. 6, S. 4007 = Bd. 328 der Stenographischen Berichte des Deutschen Reichstages: Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung v. 17. Juli 1919, 59. Sitzung, S. 1645. 52 Vgl. 1. Teil, 1. Kapitel, VI. zu den Beratungen im Verfassungsausschuß 1919.
1. Kapitel: Aus Verfassungsrecht
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Ergebnis der historischen Auslegung festgehalten zu werden: Sie ist in keinem Dokument eines Gremiums der Nationalversammlung wiederzufinden. Bei den Beratungen der sonstigen staatskirchenrechtlichen Bestimmungen sind ebenfalls keine intensiven Diskussionen um eine mögliche subjektiv-rechtliche Dimension auszumachen. Die genetische Auslegung ergibt, daß die Abgeordneten in den Beratungen zu Art. 139 WRV ein subjektives Recht im Sinne eines einklagbaren Anspruchs nicht in einer Weise thematisierten, die der Nationalversammlung oder einem ihrer Ausschüsse zuzurechnen ist.
(2) Historische Auslegung Die historische Auslegung im weiteren Sinne, welche die Geschichte des Rechtsinstituts und sein rechtshistorisches Umfeld berücksichtigt, erhält womöglich im Rahmen des Art. 139 WRV eine besondere Bedeutung: Denn die Sonntage und die staatlich anerkannten Feiertag „bleiben ... gesetzlich geschützt“. Es soll also dem Grunde nach garantiert werden, daß ein gesetzlicher Schutz der Sonn- und Feiertage fortexistiert.53 Diese Kontinuitätswahrung bezieht sich zwar in erster Linie auf das „ob“ der Existenz von Verhaltensgeboten und -verboten und „friert“ den einfach-gesetzlichen Bestand aus dem Jahr 1919 nicht einfach ein.54 Genauso wird aber die Tatsache erfaßt, daß der Sonntagsschutz stets Ausnahmen und Durchbrechungen kannte.55 Interessant ist hier, ob das einfache Recht vor 1919 bereits Normen enthielt, welche dem einzelnen ein subjektives Recht vermitteln sollten. Legt man etwa die damalige Gewerbeordnung zugrunde, lassen sich durchaus gesetzliche Regelungen ausmachen, die eine subjektive Rechtsposition des einzelnen ausgestalten. Sie bestimmte zum Beispiel zur Sonntagsarbeit: § 105 b Abs. 2 Satz 1 Im Handelsgewerbe dürfen Gehilfen, Lehrlinge und Arbeiter an Sonn- und Festtagen nicht beschäftigt werden.56 § 105 c Abs. 3 GewO Bei den unter Ziffer 2 und 3 genannten Arbeiten sind die Gewerbetreibenden verpflichtet, jeden Arbeiter entweder an jedem dritten Sonntage volle vierundzwanzig
___________ 53
Mausbach, Kulturfragen in der Deutschen Verfassung, 1920, S. 78. Kästner, in: HdbStKirchR II, 1995, S. 337 (345); Rüfner, in: FS Heckel, 1999, S. 447 (449). 55 Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 9. 56 In der Fassung der VO über Sonntagsruhe im Handelsgewerbe und in Apotheken v. 5. Februar 1919, vgl. RGBl. S. 176. 54
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4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
Stunden oder an jedem zweiten Sonntage mindestens in der Zeit von sechs Uhr abends von der Arbeit frei zu lassen.
Diese Normen verdichten den Regelungsgehalt zugunsten der Arbeiter und benennen die Verpflichtungen des Gewerbetreibenden so konkret, daß sich daraus eine individualisierte Rechtsposition des einzelnen ableiten läßt. Da das Gewerberecht besonderes Ordnungsrecht darstellt, gilt es nicht direkt zwischen Unternehmer und Arbeiter, sondern richtet sich unter der Bewehrung der Ordnungswidrigkeit an den Gewerbetreibenden. Gleichzeitig verbot § 105 a GewO es Gewerbetreibenden, ihre Arbeitnehmer vertraglich zur Arbeit an Sonn- und Feiertagen zu verpflichten. Damit ist offensichtlich, daß die öffentlich-rechtliche Regelung die Interessen der Arbeiter schützen sollte. In erster Linie ging es darum, die Rechtsposition des Arbeiters gegenüber seinem Arbeitgeber zu stärken und sie als unabdingbar auszugestalten. Durch die Verankerung im Gewerberecht wurde das öffentliche Interesse grundgelegt, daß an Sonn- und Feiertagen Arbeitgeber ihre Arbeiter grundsätzlich nicht beschäftigen. Im Verwaltungsrecht der Bundesrepublik ist es gerade anerkannt, daß eine Person einen Anspruch gegen die zuständige Behörde auf Einschreiten gegen rechtswidrige Handlungen Dritter hat, wenn dadurch seine öffentlich geschützten Interessen beeinflußt werden.57 Dieser Grundgedanke läßt sich auch auf die bis 1994 geltenden §§ 105 a ff GewO übertragen. Im übrigen haben die bundesrepublikanische Literatur und Rechtsprechung teilweise für die Sonn- und Feiertagsregelungen in der Gewerbeordnung einen drittschützenden Charakter angenommen.58 Diese Einordnung erfolgte zwar nicht im Zeitpunkt der Verfassungsgebung 1919, aber sie stellt zumindest ein Indiz für den subjektiv-rechtlichen Gehalt des damals geltenden einfachen Rechts dar. Folglich läßt sich der Gewerbeordnung, wie sie 1919 galt, ein subjektivrechtlicher Gehalt entnehmen. Gleiches dürfte für eine Sonderregelung zugunsten von Kindern von 1903 gelten. Nach § 9 des Gesetzes betreffend die Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben war es grundsätzlich verboten, Kinder an Sonn- und Festtagen zu beschäftigen.59
___________ 57
OVG Münster, NJW 1987, S. 2603 m. w. N. Vgl. - auch zu Einzelheiten - etwa Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 1992, S. 388; Wahl / Schütz, in: Schoch / Schmidt-Aßmann, VwGO, 2004, § 42 Rnr. 320, nehmen für einen Konkurrenten ein subjektives Recht aus § 28 AZO i. V. m. § 105 b GewO an; ebenso VG Düsseldorf GewArch 1988, S. 300 f; so wohl auch im Ergebnis Zmarzlik, RdA 1988, S. 257 (260), der den Schutz der Arbeitnehmer und der Gewerbetreibenden als Zweck des § 105 b GewO ansieht. A. A. OVG Koblenz NVwZ 1993, S. 699 (700), das einen Konkurrentenschutz ablehnt. 59 RGBl. 1903, S. 113 (115). 58
1. Kapitel: Aus Verfassungsrecht
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Daher kann der Auffassung von Morlok / Heinig, welche die Existenz einzelner subjektiver Rechte in einfach-gesetzlichen Normen zum Zeitpunkt der Verfassungsgebung annehmen,60 gefolgt werden. Der Normbestand im Jahre 1919 liefert ein Indiz für eine subjektiv-rechtliche Komponente des Art. 139 WRV.
cc) Teleologische Auslegung Eine maßgebliche Rolle kommt der teleologischen Auslegung zu.61 Entscheidend ist, ob es Zweck des Sonntagsschutzes ist, nur dem Allgemeinwohl oder zumindest auch dem Individualinteresse zu dienen. Ein Anknüpfungspunkt für die nähere Bestimmung der Schutzzwecks bildet zunächst die Gewährleistung des Sonntags und somit eines Sieben-TageRhythmus: Dient er der Allgemeinheit oder dem Individuum? Die Verankerung des Sieben-Tage-Rhythmus als Zeiteinheit könnte vornehmlich im Allgemeininteresse erfolgt sein: Der Gemeinschaft wird einerseits ein einheitlicher Zeitrahmen gegeben, der Festlegungen und gegenseitige terminliche Abstimmung sowie Organisation und Abhalten von Veranstaltungen erleichtert. Gerade die Festlegung des Sonntags stellt sich als gesellschaftsbezogenes Element dar, indem der Rhythmus der Bevölkerung und damit die „soziale Zeit“ strukturiert wird.62 Dem Wechsel zwischen Werktagen und Sonntag kommt somit eine soziale Koordinierungsfunktion zu. Andererseits wird dem einzelnen eine Rhythmisierung seines Alltags möglich. Nicht zu verkennen bleibt, daß die Sieben-Tage-Woche in unseren Breiten seit etwa 1 ½ Jahrtausenden eine kulturelle Konstante darstellt.63 Sie ist gerade nicht das Produkt eines differenzierten Abwägungsprozesses, der das moderne besondere Verwaltungsrecht, in Teilen auch jüngere verfassungsrechtliche Änderungen und umfangreiche Ergänzungen zum Asylrecht oder zur akustischen Wohnraumüberwachung prägt.64 Sie entzieht sich daher einer einseitigen Zuordnung zu den Kategorien Individual- oder Allgemeinwohlinteresse. Die Rhythmisierung des Zeitablaufs durch die Sonntagsgarantie des Art. 139 WRV dient beiden Belangen. ___________ 60 Morlok / Heinig, NVwZ 2001, S. 846 (850) mit Verweis auf Mattner, Sonn- und Feiertagsrecht, 1991, § 2 Rnr. 19 bis 27. 61 So im Ergebnis auch Morlok / Heinig, NVwZ 2001, S. 846 (850). 62 Kirste, NJW 2001, S. 790 (791). 63 Vgl. Häberle, Sonntag, 1988, S. 55. 64 Schuppert, Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000, S. 47, bezeichnet die genannten Ergänzungen des Grundgesetzes zu Recht als eine „Konstitutionalisierung im umgekehrten Sinne“, durch die „einfaches Gesetzesrecht zu Verfassungsrecht hochgezont wird.“
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4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
Maßgeblich wird daher im folgenden sein, ob die Schutzzwecke, Arbeitsruhe und seelische Erhebung, auch Individualinteressen schützen oder dem einzelnen nur als Teil des Allgemeininteresses zugute kommen.
(1) Arbeitsruhe Dem Merkmal „Arbeitsruhe“ lassen sich sowohl kollektive als auch individuelle Elemente zuordnen: Es kann die Ruhe des nicht arbeitenden Einzelnen ebenso wie die Ruhe der Allgemeinheit gemeint sein, die darauf beruht, daß grundsätzlich niemand arbeitet.
(a) Individuelle Arbeitsruhe Arbeitsruhe läßt sich aus Sicht des einzelnen als Freiheit von Arbeit definieren. Zwar kann man diese Freiheit von Arbeit schlechterdings als klassisches, gleichsam naturgegebenes Recht des Menschen ansehen, da insbesondere abhängige Beschäftigung gerade die Einwilligung in Arbeit, also ein SichEinlassen auf einen Zustand der Unfreiheit, voraussetzt. Niemand arbeitet gegen seinen Willen. Zieht man die praktische Wirkung der abhängigen Beschäftigung aber in Betracht, wird deutlich, daß es auch Freiheit von Arbeit geben kann: Dies gilt gerade dann, wenn etwa der Arbeitgeber über die (tarif-) vertraglich vereinbarte Arbeitszeit hinaus Überstunden seiner Mitarbeiter erwartet. Hier kann sich ein faktischer, oft unausgesprochener sozialer Druck entwickeln, den der Einzelne als Beschränkung wahrnimmt. Subjektiv dürften daher abhängig Beschäftigte die grundsätzliche Garantie arbeitsfreier Sonn- und Feiertage als Freiheitsgewinn, nämlich als Freiheit von der Arbeitspflicht, empfinden. Dadurch wird Arbeitsruhe zu einem Freiheitsbegriff.65 Die individuelle Arbeitsruhe dient der Erholung und somit dem Gesundheitsschutz des Menschen: Ihm wird Zeit zur Verfügung gestellt, sich zumindest an jedem siebten Tag zu regenerieren. Diese wöchentliche Erholungszeit stellt einen Zusatz zur täglichen Erholungszeit dar, die ihrerseits durch einfachgesetzliche Regelungen wie etwa §§ 3 bis 5 ArbZG garantiert wird. Dem Gesundheitsschutz durch die grundsätzliche Arbeitsruhe dient nicht nur die tägliche Ruhepause in der Nacht, sondern auch die wöchentliche an Sonn- und Feiertagen. Dies belegt § 1 Nr. 1 ArbZG, in den die Legislative als Zweck des Gesetzes den Gesundheitsschutz in allgemeiner Form ohne Bezug zur Nachtruhe aufnahm. Häberle teilt diese Einschätzung.66 ___________ 65 66
Steiger, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 111. Häberle, Sonntag, 1988, S. 71.
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Der Umstand, daß eine wöchentliche Erholungszeit auch der Gesundheit dient, ist auf den ersten Blick plausibel, da zusammenhängende Regenerationsphasen längerer Dauer (mindestens 24 Stunden) ermöglicht werden.
(b) Kollektive Arbeitsruhe Die Verknüpfung der „Arbeitsruhe“ mit den Sonn- und Feiertagen und dem weiteren Schutzzweck der seelischen Erhebung legt es nahe, das Element der „Ruhe“ im Sinne öffentlicher Ruhe zu verstehen. Denn für die Ermöglichung seelischer Erhebung - wie auch immer diese ausgestaltet sein mag - kann man zum einen die individuelle Freiheit von Arbeit, zum anderen aber auch die öffentliche Ruhe als Voraussetzung ansehen. Arbeitsruhe läßt sich daher auch als „allgemeine, öffentliche Arbeitsruhe“ verstehen.67 Richardi meint, nach dem Zweck der Arbeitsruhe sei der Sonntag „in unserer Gesellschaft der Feiertag der Woche“.68 Wie Bredt bereits 1922 bei der Auslegung des Art. 139 WRV zutreffend feststellte, bewirkt die Gewährleistung einer äußeren Ruhe, daß auch Nicht-Gläubige dem Arbeitsverbot unterworfen sind.69 Zu kurz würde man allerdings greifen, Arbeitsruhe ausschließlich als kollektive (Arbeits-) Ruhe, also kollektive Freiheit von Arbeit, anzusehen. Dem könnte nur gefolgt werden, wenn der Verfassungsgeber die Sonn- und Feiertage als Tage der Ruhe, nicht der Arbeitsruhe geschützt hätte. Denn dann würde der Aspekt der öffentlichen Ruhe deutlich in den Vordergrund gerückt. Erst kollektive Arbeitsruhe ermöglicht soziale Kontakte, was sowohl dem Individualinteresse als auch dem Allgemeinwohl dient: Es kommt dem einzelnen und ebenso der Allgemeinheit zugute, wenn die Mitglieder der Gesellschaft untereinander in Beziehung treten können. Das Zusammenwirken der individuellen und der kollektiven Arbeitsruhe zugunsten des einzelnen hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Ladenschlußurteil 2004 treffend beschrieben: „An den Sonn- und Feiertagen soll grundsätzlich die Geschäftstätigkeit in Form der Erwerbsarbeit, insbesondere der Verrichtung abhängiger Arbeit, ruhen, damit der Einzelne diese Tage allein oder in Gemeinschaft mit anderen ungehindert von werktäglichen Verpflichtungen und Beanspruchungen nutzen kann. Von Bedeutung ist auch die Möglichkeit zur zeitlichen Verzahnung des sozialen Lebens der Bürger und insbesondere zur gemeinsamen Freizeit und gemeinsamen Gestaltung des Familienlebens. Besonders wichtig ist, daß die Bürger sich an Sonn- und Feiertagen von der beruflichen Tätigkeit erholen und das tun können, was sie je individuell für die Ver-
___________ 67
De Wall, NVwZ 2000, S. 857 (860). Vgl. Richardi, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 117. 69 Bredt, Neues evangelisches Kirchenrecht für Preußen II, 1922, S. 125. 68
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4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
wirklichung ihrer persönlichen Ziele und als Ausgleich für den Alltag als wichtig ansehen.“70
Aus der Gesamtschau läßt sich folgern, daß dem Schutzzweck Arbeitsruhe in seiner individuellen und kollektiven Ausprägung zumindest ein starkes persönliches Substrat zukommt und er auch Individualinteressen dient.
(2) Seelische Erhebung Hier interessiert besonders, ob der Schutzzweck der seelischen Erhebung mehr den Individual- oder mehr den Allgemeinheitsinteressen dient. Der Begriff der Seele legt den Bezug zum Individuum nahe. Dies zeigen mehrere Wissenschaftszweige wie etwa Philosophie, Theologie und Psychologie, die sich mit der Seele befassen. Bereits die klassische griechische Philosophie stellte die menschliche Seele in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Insbesondere Platon begreift die Seele als individuelle Einheit, die den Körper des Menschen überdauert.71 In der Scholastik im Mittelalter untersuchte man das Verhältnis zwischen Seele und Körper und sah beide als Teilsubstanzen eines einheitlichen Wesens Mensch an. Bei einem anderen Verständnis müßte einer Mehrzahl von Menschen eine gemeinsame Seele zukommen. Dies wäre nur möglich, wenn man von einer kollektiven Seele ausgeht. Es sind aber weder in der Weimarer Reichsverfassung noch im Grundgesetz Anhaltspunkte ersichtlich, die eine solche Annahme rechtfertigen würde. Mit Recht meinen Morlok / Heinig, daß Art. 139 WRV weder eine Kollektiv- noch eine Volksseele im Blick hat.72 Insoweit stellt der Begriff „seelische Erhebung“ den einzelnen Menschen klar in den Vordergrund. Davon geht auch das Bundesverfassungsgericht aus, wenn es ausführt, daß die von Art. 139 WRV „erfaßte seelische Erhebung [...] allen Menschen unbeschadet einer religiösen Bindung zuteil werden können [soll].“73 In der Entscheidung zum Fluglärm hat das Bundesverfassungsgericht zutreffend ausgeführt, daß der Mensch als Einheit von Leib, Seele und Geist zu verstehen sei, wodurch der Bezug des Begriffs Seele zum Individuum unterstrichen wird.74 Durch den starken Bezug zum Individuum sind mit der „seelischen Erhebung“ gerade seine Interessen in Art. 139 WRV angesprochen. Es ist deutlich ___________ 70
BVerfGE 111, 10 (51). Vgl. etwa den Dialog um die Seele bei Platon, Phaidon, insb. 69e, sowie Politeia, 435 b bis 444 a, zu den einzelnen Bestandteilen der menschlichen Seele, wobei stets vorausgesetzt wird, daß es sich um die Seele des Individuums handelt. 72 Morlok / Heinig, NVwZ 2001, S. 846 (850). 73 BVerfGE 111, 10 (51). 74 BVerfGE 56, 54 (74 f). 71
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zu unterscheiden: Die dort genannten Tage sollen dem einzelnen zu etwas Bestimmtem dienen, nämlich zur seelischen Erhebung. Warum die Verfassung den einzelnen sich aber seelisch erheben lassen will oder ihm zumindest die Möglichkeit dazu bietet, wird damit nicht ausgedrückt. Das Motiv ist vom Zweck des Sonntagsschutzes zu trennen. Zwar kann man theoretisch daran denken, daß die seelische Erhebung im öffentlichen Interesse geschützt wird, etwa um die geistigen und körperlichen Kräfte des einzelnen für die Erhaltung der Arbeitskraft und somit für das Funktionieren der Wirtschaft zu stärken. Dies wäre aber eine Verengung des Sonntagsartikels in Richtung eines „homo oeconomicus“, für die Art. 139 WRV keinen Anhaltspunkt liefert. Nach dem oben Gesagten liegt es näher, daß der Verfassungsgeber den Sonntagsschutz aus Rücksicht auf die umfassenden Interessen des einzelnen normiert hat und ihn nicht zum bloßen „Zahnrad“ des Wirtschafts- und Arbeitsprozesses reduzieren möchte. Der Gehalt der seelischen Erhebung ist so sehr auf den einzelnen Menschen zugeschnitten, daß dieser Schutzzweck ganz überwiegend dem Individualinteresse dient. Damit verleiht „seelische Erhebung“ - verstärkt durch das auch auf den einzelnen abstellende Merkmal „Arbeitsruhe“ - Art. 139 WRV eine individualschützende Tendenz. Neben natürlichen Personen können ebenso bestimmte juristische Personen dem Element der seelischen Erhebung zugeordnet werden. Auch wenn es sich bei der „seelischen Erhebung“ um eine weltliche Formulierung handelt, die eine Festlegung etwa auf Religiöses vermeiden soll, beinhaltet dieser Schutzzweck auch Interessen von Kirchen und Religionsgemeinschaften am Sonntagsschutz:75 Für sie sind Sonn- und Feiertage in besonderem Maße von Wichtigkeit, damit ihren Angehörigen Raum zum gemeinsamen Gottesdienst bleibt und die Verbindung zwischen Kirche und Gläubigen gewährleistet wird. Dies ergibt sich für die christlichen Kirchen aus kirchenrechtlichen Regelungen oder ihrem Verständnis des Sonntages: Die katholische Kirche hat in den Canones 1244 bis 1253 des Codex Iuris Canonici von 1983 unter anderem geregelt, was der katholische Christ an Sonn- und Feiertagen als Christenpflicht zu tun hat, nämlich insbesondere einer Messe beizuwohnen und solche Arbeiten zu unterlassen, die der kultischen Verehrung Gottes und der notwendigen körperlichen und seelischen Erholung hinderlich sind.76 Dagegen erwarten die evangelischen Kirchen auch ohne einheitlich kodifiziertes Recht, daß sich ihre Angehörigen am gottesdienstlichen Leben beteiligen, grundsätzlich die Arbeitsruhe einhalten und somit Sonn- und Feiertage in besonderer Weise begehen.77 ___________ 75
OVG Greifswald, NVwZ 2000, S. 945 (947). Vgl. Voll, Handbuch des Bayerischen Staatskirchenrechts, 1985, S. 311. 77 Voll, Handbuch des Bayerischen Staatskirchenrechts, 1985, S. 311. 76
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(3) Verhältnis zwischen Arbeitsruhe und seelischer Erhebung Arbeitsruhe und seelische Erhebung können nicht nur isoliert voneinander betrachtet werden. Die Sonn- und Feiertage werden gerade nicht nur als Tage der Ruhe geschützt, sie sollen auch konkrete Verhaltensweisen wie die seelische Erhebung ermöglichen. Loritz muß man beipflichten, wenn er es als Konsequenz allgemeiner Ruhe beschreibt, daß auch eine individuelle Ruhe und seelische Erhebung des einzelnen Bürgers eintreten könne. Umgekehrt ist ohne individuelle Ruhe keine allgemeine Ruhe nicht möglich.78 Damit ergibt sich ein Stufenverhältnis: Erst individuelle und kollektive Arbeitsruhe schaffen die Bedingungen für die seelische Erhebung. Mit der Konkretisierung, zu welchem Zweck Sonn- und Feiertage überhaupt geschützt werden (Arbeitsruhe und seelische Erhebung), nimmt der Verfassungsgeber das Individuum in den Blick: Die personale Integrität des einzelnen ist erfaßt.79
(4) Ergebnis Die beiden Schutzrichtungen, Arbeitsruhe und seelische Erhebung, verleihen dem Art. 139 WRV ein persönliches Substrat. Mehr spricht daher für die Annahme, daß der Schutzzweck des Art. 139 WRV letztlich auch den Interessen des einzelnen dient, da Arbeitsruhe ebenso wie seelische Erhebung zugleich auf das Individuum und nicht nur auf die Allgemeinheit Bezug nehmen. Der Sinn und Zweck des Art. 139 WRV ist ein Argument für die Annahme eines sonstigen subjektiven Verfassungsrechts. Diesem Ergebnis der teleologischen Auslegung kommt gerade im Fall des Art. 139 WRV besondere Bedeutung zu, weil der Verfassungsgeber den Zweck des Schutzes expressis verbis in der Norm verankert hat: Sonn- und Feiertage sollen nicht allgemein geschützt werden, sondern konkret als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung. Auch das Bundesverwaltungsgericht betont, daß die Zweckbestimmung des Sonntagsschutzes verfassungsrechtlich festgelegt ist.80 In der Nennung des Schutzzwecks unterscheidet sich Art. 139 WRV ganz erheblich von anderen Verfassungsnormen, die sprachlich eine ähnliche Struktur aufweisen. Weder bei der Gewährleistung des Erbrechts noch beim Schutz der Pressefreiheit oder der Unverletzlichkeit der Wohnung ist der Schutzzweck genannt. Bei anderen Verfassungsnormen findet sich selten der (Schutz-) Zweck ausdrücklich normiert. Zu denken ist etwa an die Allgemeinwohlbindung des Eigentums, an Art. 15 GG, der Sozialisierungen zum Zwecke ___________ 78
Loritz, Sonntagsarbeit, 1989, S. 40. Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 Rnr. 19. 80 BVerwGE 79, 118 (122). 79
1. Kapitel: Aus Verfassungsrecht
313
der Vergesellschaftung ermöglicht, oder an die Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG, nach der sich Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen gründen können „zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“.
dd) Systematik Der subjektiv-rechtliche Gehalt des Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV aufgrund der teleologischen Auslegung muß sich in das „organische Ganze“ des Grundgesetzes einpassen. Denn die Exegese einzelner Grundgesetznormen erfordert es, die Systematik des Grundgesetzes stets im Blick zu haben. Hierfür ist es angebracht, zwischen horizontaler und vertikaler Einbettung des Art. 139 WRV in das Normengefüge zu unterscheiden, also zwischen gleich- und nachrangigen Vorschriften.
(1) Stellung im Grundgesetz Die Stellung des Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV im XI. Abschnitt „Übergangs- und Schlußbestimmungen“ des Grundgesetzes spricht keineswegs gegen einen subjektiv-rechtlichen Gehalt. Nach dem hier vertretenen Verständnis ist nicht die Stellung im Grundgesetz conditio sine qua non für ein subjektives Verfassungsrecht. Die Einordnung im Grundgesetz liefert weder in die eine noch in die andere Richtung Anhaltspunkte. Bei Art. 140 GG handelt es sich nicht um eine typische Schlußbestimmung, die Fragen des Inkrafttretens, der Verkündung oder ähnliches regeln würde, und auch keineswegs um eine Übergangsbestimmung, da er ebenso wie die Art. 116, Art. 121, Art. 137 Abs. 1 und Art. 142 GG im selben Abschnitt endgültige Regelungen trifft.81 Die anderen in das Grundgesetz inkorporierten Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung, also die Art. 136, 137, 138 und Art. 141 WRV, stellen ebenfalls einen Teil der systematischen Stellung des Art. 139 WRV dar. Im Schrifttum werden einzelne der Weimarer Kirchenartikel als grundrechtsähnliche Rechte angesehen. Bei den zwei folgenden Artikeln wird dies etwa zu Recht vertreten,82 da schon der Wortlaut eindeutig auf eine subjektiv-rechtliche Dimension hindeutet:
___________ 81
Schlief, Verhältnis von Staat und Kirche und Ausgestaltung im Grundgesetz, 1961, S. 126. 82 Hillgruber, NVwZ 2001, S. 1347 (1348); Denninger, in AK-GG, 2002, Art. 1 Abs. 2 und 3, Rnr. 16; a. A. Pieroth / Schlink, Staatsrecht II, 1992, Rnr. 61.
314
4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
Art. 136 Abs. 4 WRV regelt, daß „niemand [...] zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden [darf].“ Art. 137 Abs. 2 WRV gewährleistet die Freiheit zur Vereinigung zu Religionsgesellschaften.
Hollerbach interpretiert weiterhin die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 137 Abs. 3 WRV in einer Weise, daß die Anerkennung als grundrechtsähnliches Recht die logische Konsequenz wäre; de Wall und Hillgruber teilen seine Meinung.83 Schließlich deutet der Wortlaut der Art. 137 Abs. 6 und Art. 141 WRV auf einen subjektiv-rechtlichen Gehalt hin.84 Gleiches gilt für folgende Regelungen:85 Art. 136 WRV (1) Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt. (3) Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren.86 Art. 138 WRV (2) Das Eigentum und andere Rechte der Religionsgesellschaften und religiösen Vereine an ihren für Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und sonstigen Vermögen werden gewährleistet.
Es sind aber nicht nur subjektive Rechte geregelt, wie schon die Regelung in Art. 137 Abs. 1 WRV belegt, nach der keine Staatskirche besteht. Auch wenn man bei kursorischer Betrachtung wohl der Mehrzahl der Regelungen in den Art. 136, Art. 137, Art. 138 und Art. 141 WRV einen subjektivrechtlichen Charakter wird zurechnen können, stellt sich ihr unmittelbarer Regelungszusammenhang zu Art. 139 WRV nicht so eindeutig dar, daß auch der Sonntagsartikel zwingend ein subjektives Recht enthalten müßte. Umgekehrt schließen die im Umfeld genannten subjektiven Rechte den subjektivrechtlichen Gehalt des Art. 139 WRV aber nicht aus.
(2) Grundrechtsnähe Die Nähe des Art. 139 WRV zu Grundrechten stützt die Annahme einer subjektiv-rechtlichen Dimension. ___________ 83
Hollerbach, in: FS Hesse, 1990, S. 73 (80); ebenso de Wall, NVwZ 2000, S. 857 (859) und Hillgruber, NVwZ 2001, S. 1347 (1348). 84 De Wall, NVwZ 2000, S. 857 (859), der zusätzlich noch Art. 137 Abs. 4 WRV einbezieht. 85 De Wall, NVwZ 2000, S. 857 (859); Hillgruber, NVwZ 2001, S. 1347 (1348). 86 Campenhausen, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 136 WRV, Rnr. 35, sieht Art. 136 Abs. 3 WRV als Bestandteil der Bekenntnisfreiheit an.
1. Kapitel: Aus Verfassungsrecht
315
In erster Linie dürfte das Verhältnis zu Art. 4 GG aufschlußreich sein. Eine Nachrangigkeit des Art. 139 WRV gegenüber Art. 4 GG wurde bereits oben als nicht haltbar verworfen.87 Ebenso verhält es sich mit Auffassungen, die über einen methodischen Umweg mittelbar einem Rangverhältnis zu Lasten des Art. 139 WRV das Wort reden: Art. 4 sei nicht von Art. 140 GG her, sondern Art. 140 GG sei (auch) auf Art. 4 GG hin zu interpretieren.88 Häufig wird dagegen zu Recht die Auffassung vertreten, man müsse Art. 140 GG, also die gesamten inkorporierten Kirchenartikel, so lesen, als stünden sie unmittelbar hinter Art. 4 GG.89 Mit Art. 139 WRV werden Rahmenbedingungen für die durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützte Religionsfreiheit gesichert.90 Im Hinblick auf die religiösen Feiertage und den Sonntag handelt es sich bei dem in Art. 139 WRV verankerten Sonn- und Feiertagsschutz um eine Ergänzung und Konkretisierung der Religionsfreiheit. Die kollektive Religionsfreiheit des Art. 4 GG hat umgekehrt als Kultusfreiheit u. a. in Art. 139 WRV eine Ausformung erhalten.91 Die Schutzbereiche des Art. 4 GG und des Art. 139 WRV decken sich also teilweise, etwa wenn es um den Schutz des Besuchs oder die Abwehr von Störungen des sonntäglichen Gottesdienstes geht. Die Befähigung des einzelnen, seine Religion in Gemeinschaft an den Hauptkultustagen der ganz überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung auszuüben, schafft eine Verbindung zwischen Art. 4 GG und Art. 139 WRV.92 Der individuelle Schutz religiöser Feiertage erfolgt dagegen unmittelbar aus Art. 4 GG.93 Im Verhältnis beider Normen ist allerdings zu beachten, daß nicht der ganze Schutzbereich des Art. 139 WRV erfaßt wird: Weltliche Feiertage wie der 1. Mai oder der 3. Oktober haben ebensowenig einen Bezug zu Art. 4 GG wie der vor allem sozialpolitisch geprägte Schutzzweck der Arbeitsruhe. Aufgrund dieser Schnittmenge zwischen beiden Verfassungsnormen stellt Art. 4 GG ein Grundrecht dar, dem der Sonntagsschutz in Art. 139 WRV nahe steht. Ein ähnliches Verhältnis, wenn auch weniger intensiv, besteht zwischen Art. 6 GG und Art. 139 WRV, da die zeitliche Synchronisierung durch die grundsätzliche Arbeitsruhe Familienleben an Sonn- und Feiertagen ermöglicht. Art. 6 ___________ 87
Vgl. oben 2. Teil, 1. Kapitel I. 2. Schmidt-Aßmann, VVDStRL 59 (1999), S. 327. 89 De Wall, NVwZ 2000, S. 857 (859); Campenhausen, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 140 Rnr. 8; Hollerbach, in: HdbStR VI, 1996, § 138 Rnr. 19; Ehlers, in: Sachs, GG, 2003, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 2. 90 De Wall, NVwZ 2000, 857 (860). 91 Obermayer, in: BK-GG, 2005, Art. 140, Rnr. 67. 92 Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV, Rnr. 10. 93 Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, 2006, Art. 140 GG, Art. 139 WRV. 88
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4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
GG schützt alle Bereiche des familiären Zusammenlebens und „berechtigt die Familienmitglieder, ihre Gemeinschaft nach innen in familiärer Verantwortlichkeit und Rücksicht frei zu gestalten.“94 Diese Freiheit erfordert praktisch gemeinsame Zeit der Eltern mit ihren Kindern, so daß der Schutz der Sonn- und Feiertage hier eine grundrechtsdienende Funktion hat. Sonn- und Feiertage ermöglichen familiäres Zusammenleben.95 Dieselbe Wirkung hat der Sonntagsschutz für Tätigkeiten i. S. d. Art. 8 und Art. 9 GG. Durch die einheitlichen arbeitsfreien Tage werden Aktivitäten wie Versammlungen oder im Verein gerade an diesen Tagen gefördert.96 Weiterhin macht der Sonntagsschutz zum Zweck der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung psychische und physische Regeneration möglich. Damit dient Art. 139 WRV der körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit, die durch Art. 2 Abs. 2 GG geschützt werden.97 Der Bezug zu diesen verschiedenen Grundrechten macht deutlich, daß die grundsätzliche Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen eine wichtige Voraussetzung für die Grundrechtsausübung schafft.98 Eine Grundrechtsnähe des Art. 139 WRV ist daher mit Morlok und Unruh anzunehmen.99
(3) Einpassung in Gesamtkonzeption des Grundgesetzes Weiterhin ist notwendig, daß sich ein subjektives Recht aus Art. 139 WRV in die Gesamtkonzeption des Grundgesetzes einpaßt. Ein solches Recht wäre kein klassisches Freiheitsrecht, sondern ein Recht auf einen effektiven Schutz durch den Staat. Man muß etwa beachten, daß das Grundgesetz grundsätzlich
___________ 94
BVerfGE 80, 81 (92). Campenhausen, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 139 WRV, Rnr. 9; Häberle, Sonntag, 1988, S. 65; Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV, Rnr. 19; Rüfner, in: FS Heckel, 1999, S. 447 (455); Tettinger, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 99 (101). 96 Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV, Rnr. 10. 97 Heinig, Religionsgemeinschaften, 2003, S. 221; Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV, Rnr. 10. Für Art. 8 GG s. Häberle, Sonntag, 1988, S. 65. 98 Campenhausen, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 139 WRV, Rnr. 9; in diesem Sinne wohl Westphal, Garantie der Sonn- und Feiertage, 2003, S. 101, nach der Art. 139 WRV der Ausgestaltung oder Effektuierung bestimmter Grundrechte dient. 99 Morlok / Heinig, NVwZ 2001, S. 846 (850); Unruh, ZevKR 2007, S. 1 (15). Trotz der wie hier angenommenen Verknüpfung des Art. 139 WRV mit mehreren Grundrechten sieht Westphal, Garantie der Sonn- und Feiertage, 2003, S. 104, darin kein Argument für ein subjektives Recht. 95
1. Kapitel: Aus Verfassungsrecht
317
keine sozialen Grundrechte enthält. Allerdings gibt es auch andere subjektive Verfassungsrechte, die auf aktive Maßnahmen des Staates ausgerichtet sind: Dem Staat obliegt die Verpflichtung, die Wissenschaft zu fördern und auszugestalten. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht erfordert beispielsweise ein funktionsfähiges Gegendarstellungsrecht.100 Der Gesetzgeber ist in einigen Bereichen zu positiven Maßnahmen verpflichtet, welche die Gestalt von Verboten oder Genehmigungsvorbehalten annehmen können.101 Darüber hinaus sehen mehrere Autoren den Sonntagsschutz mit Recht als eine Ausprägung der Würde des Menschen an.102 Durch den besonderen Schutz der Arbeitsruhe an Sonntagen stellt Art. 139 WRV klar, daß Arbeit keinen Selbstzweck darstellt, sondern als Korrelat der Ruhe bedarf. Der Mensch ist nicht bloßes Objekt der Arbeitswelt, nicht bloßes Funktionselement des Wirtschaftsprozesses.103 In diesem Sinne führt von Campenhausen treffend aus: „Art. 139 WRV bewahrt die ursprünglich aus religiösen Quellen gespeiste Erkenntnis, daß der Sonntag etwas mit der Würde des Menschen zu tun hat. Er erinnert daran, daß der Mensch kein Mittel zum Zweck ist und daß Arbeit nicht der einzige Inhalt und das höchste Ziel des Menschen ist.“104 Auch Häberle betont den Bezug zur Menschenwürde und faßt in Anlehnung an die Dürigsche Objektformel105 zusammen: „Der Mensch darf nicht zum Objekt wirtschaftlichtechnischer Sachzwänge gemacht werden.“106 Art. 139 WRV bewahrt ihn gerade vor dieser Degradierung. Die Menschenwürde belegt auch beim Sonntagsartikel ihre Funktion als Dreh- und Angelpunkt des vielbeschworenen Menschenbildes des Grundgesetzes.107 Der Sonntagsschutz paßt sich auch in das vom Bundesverfassungsgericht zutreffend gezeichnete Menschenbild des Grundgesetzes ein. Das höchste Gericht sieht den Menschen nicht als isoliertes Individuum an,108 sondern betont, daß „...das Grundgesetz die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person ent___________ 100
Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, 2006, Art. 2, Rnr. 71. Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, 2006, Vorb. vor Art. 1, Rnr. 7. 102 Richardi, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 117 (149); Häberle, Sonntag, 1988, S. 65 f; Kästner, DÖV 1994, S. 464 (467); in der Tendenz auch Campenhausen, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 139 WRV, Rnr. 9. 103 Kästner, DÖV 1994, S. 464 (467). 104 Campenhausen, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 139 WRV Rnr. 8. 105 „Die Menschenwürde als solche ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“, vgl. Dürig, AöR 81 (1956), S. 117 (127 ff). 106 Häberle, Verfassungslehre, 1998, S. 989. 107 Huber, Jura 1998, S. 505 (506). 108 Vgl. Huber, Jura 1998, S. 505 (506). 101
318
4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
schieden (habe), ohne deren Eigenwert anzutasten.“109 Das Bundesverfassungsgericht betont damit die Sozialgebundenheit des Menschen, es sieht ihn gleichsam in Anlehnung an Aristoteles als „zoon politikon“. Gerade der Sonntagsschutz darf so mit Recht als eine Ausprägung des Menschenbildes des Grundgesetzes bezeichnet werden. Dort, wo der einzelne im Dickicht ökonomischer Anforderungen nicht alleinbestimmt seinen eigenen Lebensentwurf an Sonntagen realisieren kann, kommt es dem Staate zu, die dafür erforderlichen Voraussetzungen zu sichern.110 Ein subjektives Recht aus Art. 139 WRV paßt sich demnach in die Gesamtstruktur des Grundgesetzes ein.
(4) Einfachgesetzliche Regelungen Im Schrifttum hat Morlok die Relevanz unterverfassungsrechtlicher Vorschriften für die Frage nach dem subjektiv-rechtlichen Gehalt des Art. 139 WRV hervorgehoben. Nach seiner Auffassung gehört ein gewisses Maß an einfach-gesetzlichen Normen mit subjektiv-rechtlichem Gehalt zum Kernbereich des Art. 139 WRV.111 Im Zentrum stehen Bestimmungen des Ladenschlußrechts, des Arbeitszeitgesetzes, der Gewerbeordnung und der Feiertagsgesetze der Länder. Ohne, daß hier schon Details behandelt werden, zeigt eine Analyse der Gerichtsentscheidungen, daß keineswegs alle einfachgesetzlichen Normen, die den Sonn- und Feiertagsschutz ausgestalten, natürlichen oder juristischen Personen subjektive Rechte verleihen. Dies ist andererseits aber auch nicht die Ausnahme. Hervorzuheben aus dem Kreis der potentiell Berechtigten sind Arbeitnehmer, die sich sowohl auf Regelungen des Arbeitzeitgesetzes als auch des Bundesladenschlußgesetzes berufen könnten.112 Es ist mit Schuppert nicht zu übersehen, daß gerade bei der Figur des subjektiven Rechts das Verhältnis von einfachem Recht und Verfassungsrecht diffizil ist, da auf beiden Ebenen subjektive Rechte bestehen.113 Allerdings erscheint das Heranziehen des einfachen Rechts zur Exegese einer Verfassungsnorm me___________ 109 110
BVerfGE 4, S. 7 (15 f). Vgl. dazu allgemein und ohne Bezug zu Art. 139 WRV Huber, Jura 1998, S. 505
(508). 111 Morlok / Heinig, NVwZ 2001, S. 846 (850), die den generellen Ansatz von Abel und de Wall zu Einrichtungsgarantien auf Art. 139 WRV anwenden, vgl. de Wall, Der Staat 38 (1999), S. 377 (387), und Abel, Bedeutung der Einrichtungsgarantien, 1964, S. 68 f. 112 Siehe weiter unten S. 344 und S. 353. 113 Schuppert, Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000, S. 17.
1. Kapitel: Aus Verfassungsrecht
319
thodisch fraglich. Wenn auch die konkrete Ausgestaltung des Sonntagsschutzes dem Gesetzgeber überantwortet ist, darf nicht der Vorrang der Verfassung unberücksichtigt bleiben. Dieses verfassungsrechtliche Prinzip schließt die Auslegung verfassungsrechtlicher Begriffe anhand des einfachen Rechts aus.114 Das einfache Recht sollte daher höchstens als Indiz herangezogen werden, das auf einen subjektiv-rechtlichen Gehalt des Art. 139 WRV hinweist.
ee) Bloße Reflexwirkung? Teilweise wird der subjektiv-rechtliche Gehalt einer Regelung mit dem Hinweis verneint, der Normgehalt stelle sich für den einzelnen lediglich als Reflex des objektiven Inhalts dar.115 Die Begünstigung des Individuums sei hier zufällig und gerade nicht gewollt.116 Der Gesetzgeber visiere mit der Regelung die Allgemeinheit und nicht eine bestimmte Personengruppe an. Es sei nicht zu vermeiden, daß abstrakt-generelle Normen einzelne Personen besser stellen als andere. Daraus könne aber nicht zugleich auf die Regelungsintention des Gesetzgebers geschlossen werden, diesen eine einklagbare Rechtsposition zuzugestehen. Die Bezeichnung als „bloße Reflexwirkung“ oder „Rechtsreflex“ legt nahe, daß es sich dabei um ein strukturelles Merkmal einer Norm handelte. Diese Argumentationsfigur wird häufig bei der Analyse einfach-gesetzlicher Vorschriften verwendet, wenn eine Norm zumindest teilweise für einzelne Personen günstige Auswirkungen hat, aber diese Begünstigung nicht ausreicht, um einen subjektiv-rechtlichen Gehalt anzunehmen. Bei der Untersuchung verfassungsrechtlicher Vorschriften findet sich ein solches Vorbringen seltener, aber sie könnte auch im Fall des Art. 139 WRV gegen eine subjektive Dimension vorgebracht werden, etwa nach folgendem Muster: „Sonn- und Feiertage würden vor allem objektiv geschützt, dies zeige schon der Wortlaut, der ganz auf die Sonn- und Feiertage und gerade nicht auf den einzelnen zugeschnitten sei. Zwar habe der Schutz des Sonntages auch für den einzelnen günstige Auswirkungen, aber dies sei lediglich eine Art Nebenwirkung, ein Reflex, der vom Verfassungsgeber nicht intendiert sei.“ Westphal lehnt einen subjektivrechtlichen Gehalt des Art. 139 WRV unter anderem mit dem Hinweis auf einen solchen Rechtsreflex ab.117
___________ 114
BVerfGE 12, 45 (53): Danach besteht nämlich die „Gefahr, daß die Interpretationsversuche [des einfachen Rechts] mit der Verfassung in Widerspruch geraten.“ 115 Vgl. Hufen, Verwaltungsprozeßrecht, 2005, § 6 Rnr. 24, § 19 Rnr. 29, sowie Dietlein, DVBl. 1991, S. 685 (687 f) m. w. N. 116 Battis, Verwaltungsrecht, 2002, S. 90. 117 Westphal, Garantie der Sonn- und Feiertage, 2003, S. 152.
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4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
Diese Argumentationsfigur, die verkürzt als „objektiver Gehalt mit bloßer Reflexwirkung“ bezeichnet werden kann, überzeugt zumindest im Verfassungsrecht nicht. Normen, die zumindest auch den einzelnen schützen (= subjektives Recht), und Normen, deren objektiver positiver Gehalt sich für den einzelnen lediglich als Reflex darstellt, unterscheiden sich nicht grundlegend in ihrer Struktur, sondern nur graduell in der Intensität des Schutzes des Individuums. Die Bezeichnung als „bloßer Reflex“ mag dabei die rhetorisch willkommene Formulierung sein, das finale Argument gegen einen subjektiv-rechtlichen Gehalt einer Norm zu liefern. In der Sache erweist sie sich aber als bloße Tarnung für die Aussage, daß der subjektive Gehalt einer Vorschrift nicht ausreicht, um von einem prozessual durchsetzbaren Recht des einzelnen zu sprechen. Daher kann dieses strukturell anmutende Argument hier bei der Analyse des Art. 139 WRV nicht durchschlagen. Entscheidend bleibt die Zusammenschau der Elemente, die das Individuum schützen sollen. Der bloße Hinweis auf eine vermeintliche Reflexwirkung genügt nicht, um einen subjektiv-rechtlichen Charakter des Art. 139 WRV auszuschließen.
c) Bestimmbarkeit des Rechtsträgers Zuweilen erheben sich in Rechtsprechung und Literatur Bedenken gegen einen subjektiv-rechtlichen Gehalt des Art. 139 WRV mit dem Argument, daß der Kreis der Berechtigten nicht erkennbar und völlig offen sei.118 Der Schutzzweck, Arbeitsruhe und seelische Erhebung, würde dem VGH Mannheim zufolge jedermann Einwendungen einräumen, der sich durch Veranstaltungen an Sonn- und Feiertagen „in seiner ,Erhebung’, einem notwendig seelischen Vorgang, beeinträchtigt sähe“. Dies sei mit dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 3 GG, unvereinbar.119 Der Schutzkreis sei nicht beschränkt, Art. 139 WRV verliere durch das Nebeneinander sozialpolitischer und religiöser Schutzzwecke die notwendige spezifische Verbindung zu individualisierbaren Trägern.120 Ehlers befürchtet die Zulassung einer Popularklage.121 Zwar mag die Einschränkbarkeit des geschützten Personenkreises im einfachen Recht, vor allem im besonderen Verwaltungsrecht und öffentlichen Baurecht eine zentrale Rolle spielen. Nach dem hier angelegten Maßstab wird allerdings nur gefordert, daß der Träger des Rechts erkennbar oder zumindest ___________ 118
De Wall, NVwZ 2000, S. 857 (860); Ehlers, in: Sachs, GG, 2003, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 1; VGH Mannheim NVwZ 1991, S. 180, zum vergleichbaren Art. 3 Abs. 1 S. 1 Verf. BW. 119 VGH Mannheim NVwZ 1991, S. 180. 120 De Wall, NVwZ 2000, S. 857 (860). 121 Ehlers, in: Sachs, GG, 2003, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 1.
1. Kapitel: Aus Verfassungsrecht
321
bestimmbar sein muß.122 Wenn durch die seelische Erhebung alle Bürger erfaßt sind, gibt es keinen Grund, ihnen den Schutz zu verweigern: Auch bei anderen subjektiven Verfassungsrechten wie den Grundrechten wird kein eingeschränkter Kreis der Rechtsträger verlangt. Es ist kein Bedürfnis ersichtlich, bei sonstigen subjektiven Verfassungsrechten strengere Maßstäbe als bei Grundrechten anzulegen. Auch der Hinweis, daß bei anderen Einrichtungsgarantien nur bestimmten natürlichen oder juristischen Personen ein subjektives Recht zusteht, kann Art. 139 WRV nicht entgegenhalten werden. Zwar mag eine solche personelle Beschränkung bei der Gewährleistung der Forschung und damit der Universitäten (Art. 5 Abs. 3 GG), der Parteien (Art. 21 GG), der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 GG) und des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG) vorliegen. Es läßt sich aber gerade kein einheitliches Kriterium für alle Einrichtungsgarantien mit subjektiv-rechtlichem Gehalt erkennen, nach dem nur eine Teilmenge aller natürlichen oder juristischen Personen tauglicher Rechtsträger sein kann. Es spricht also nicht gegen eine subjektiv-rechtliche Dimension des Art. 139 WRV, daß potentiell alle Personen Träger eines solchen Rechts sein könnten. Es muß nur bestimmbar sein, welche Rechtssubjekte vom Sonntagsschutz profitieren können. Diese Bestimmbarkeit liegt vor: Die Kombination des sozialpolitischen mit einem religiös und weltanschaulich neutralen Schutzzweck schließt eine Beschränkung auf bestimmte Bevölkerungskreise aus: In der Tat ist der potentielle Kreis der Rechtsträger nicht eingegrenzt auf abhängig Beschäftigte und wirtschaftliche Konkurrenten einerseits, Gläubige und die Religionsgemeinschaften andererseits.123 „Arbeitsruhe“ verlangt keine tatsächliche Beschäftigung, allein die Möglichkeit zu arbeiten reicht aus. Wie oben gezeigt, bezweckt Art. 139 WRV nicht nur die individuelle, sondern auch die kollektive Arbeitsruhe, die es auch Nicht-Erwerbstätigen seien es erziehende Mütter oder Väter, Kinder, Jugendliche, bon-vivants, Rentner oder Pensionäre - ermöglicht, mit ihrem Umfeld in soziale Beziehung zu treten. Außerdem ist „seelische Erhebung“ so neutral und allgemein gehalten, daß es keine Rechtfertigung für eine Einschränkung etwa nur auf religiöse Menschen gibt. Entscheidend ist allein die Tatsache, daß jeder Mensch die Potenz in sich trägt, sich seelisch zu erheben. Diesen weiten Kreis der Berechtigten erkennt letztlich auch der VGH Mannheim an, indem er betont, daß durch ___________ 122
Vgl. oben 4. Teil, 1. Kapitel I. 1. d). So auch de Wall, Gutachten, S. 19 (zitiert in OVG Greifswald, NVwZ 2000, S. 948, 949): Dort spricht de Wall vom Sonntagsschutz zum „Wohle Aller“, während er in NVwZ 2000, S. 857 (860) das „Wohl der Allgemeinheit“ anführt. Der Unterschied besteht darin, daß „alle“ durchaus Träger eines subjektiven Verfassungsrechts sein können, nicht dagegen die „Allgemeinheit“. 123
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4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
den doppelten Schutzzweck jedermann berechtigt sei.124 Der anschließend gezogene Schluß des Gerichts einen subjektiv-rechtlichen Gehalt abzulehnen, trägt tendenziell Züge des typischen Argumentationsmusters „es kann nicht sein, was nicht sein darf.“ Daher läßt Art. 139 WRV den möglichen Kreis der Berechtigten in Gestalt aller natürlicher Personen erkennen.125
3. Ergebnis Nach den Maßstäben der Schutznormtheorie für subjektive Verfassungsrechte sind bei Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV alle Voraussetzung erfüllt. Es handelt sich um eine Norm, die den Staat zur Ausgestaltung und effektiven Gewährleistung des Sonntagsschutzes verpflichtet. Zweck des Artikels ist es zumindest auch, Individualinteressen zu dienen. Die potentiellen Träger sind schließlich bestimmbar. Folglich enthält Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV ein subjektives Recht auf Einhaltung des Schutzes der Sonn- und Feiertage. Maßgebend für dieses Ergebnis sind x die hauptsächlich auf das Individuum bezogenen, in der Norm ausdrücklich genannten Schutzzwecke des Sonn- und Feiertagsschutzes, nämlich Arbeitsruhe und seelische Erhebung, die verdeutlichen, daß Art. 139 WRV auch dem Schutz des einzelnen dient, sowie x die Einordnung in die Gesamtkonzeption des Grundgesetzes. Als Indizien treten hinzu x die Nähe zu Grundrechten, x die Feststellung, daß auch einfache Gesetze wie das Ladenschlußgesetz des Bundes und das Arbeitszeitgesetz etwa Arbeitnehmern subjektive Rechte verleihen, sowie x das Ergebnis der historischen Auslegung im weiteren Sinne, nach dem der Bestand an einfach-gesetzlichen Normen 1919 in Gestalt der §§ 105 a ff GewO bereits subjektive Rechte begründete. In Rechtsprechung und Literatur wird die Frage nach einem subjektivrechtlichen Gehalt im Ergebnis unterschiedlich beantwortet.
___________ 124
VGH Mannheim NVwZ 1991, S. 180. Offenbar zieht Unruh, ZevKR 2007, S. 1 (16) den Kreis enger, indem er nur Gläubigen und Arbeitnehmern ein subjektives Recht aus Art. 139 WRV zuspricht. 125
1. Kapitel: Aus Verfassungsrecht
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Mit guten Gründen nehmen eine subjektive Berechtigung an: Morlok, Unruh, jüngst in ihren Dissertationen Heinig und Heinemann sowie - für die vergleichbare Regelung in der früheren West-Berliner Verfassung - Schwan.126 Isensee scheint dem subjektiven Recht aus Art. 139 WRV zugeneigt, legt sich aber im Ergebnis nicht fest.127 Das OVG Greifswald und Benda haben die Frage aufgeworfen, aber im Ergebnis offen gelassen.128 Überwiegend wird es abgelehnt, aus Art. 139 WRV ein subjektives Recht abzuleiten. Häufig geschieht dies ganz ohne nähere Begründung oder nur unter Verweis auf den Rechtscharakter als institutionelle Garantie, so etwa beim Bundesverfassungsgericht, beim OVG Münster sowie bei Jarass / Pieroth, Maunz und Rüfner.129 De Wall, Dietlein, Stollmann, Korioth und der VGH Mannheim lehnen mit Begründung ein subjektives Recht ab.130 Weiterhin verneinen Jeand’Heur / Korioth, Ehlers, Rüfner, Dirksen, Richardi / Annuß, Martens, Pahlke, Rozek und Badura eine solche Dimension des Art. 139 WRV.131 Nicht ausdrücklich, aber der Sache nach teilt wohl auch Häberle diese Auffassung.132 Die vorgebrachten Einwände - wie der Verweis auf den Charakter als institutionelle Garantie, die fehlende Beschränkung der Berechtigten sowie der auf Sonn- und Feiertage konzentrierte Wortlaut - sind im einzelnen oben zurückgewiesen worden.
___________ 126 Morlok / Heinig, NVwZ 2001, S. 846 (851); Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 18 f; Unruh, ZevKR 2007, S. 1 (16); Heinig, Religionsgesellschaften, 2003, S. 221; Heinemann, Vorgaben bei Anerkennung von Feiertagen, 2004, S. 151; Schwan, in: Pfennig / Neumann, Verfassung von Berlin, 1987, Art. 22 Rnr. 3. 127 Isensee, Räumliche Differenzierung des Ladenschlusses, 2000, S. 11 f (unveröff.). 128 OVG Greifswald NJW 1999, S. 945 (947); Benda, Probleme der industriellen Sonntagsarbeit, 1990, S. 22. 129 BVerfG NJW 1995, S. 3378 (3379); OVG Münster, NJW 1987, S. 2603; Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, 2006, Art. 140 GG, Art. 139 WRV; Maunz, in: ders. / Dürig, GG, 2002, Art. 140 GG, Art. 139 WRV, Rnr. 4; Rüfner, in: FS Heckel, 1999, S. 447 (450). 130 De Wall, NVwZ 2000, S. 857 (860); Dietlein, in: FS Rüfner, 2003, S. 131 (144 f); Korioth, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 42; Stollmann, Sonn- und Feiertagsschutz, 2004, S. 45; VGH Mannheim NVwZ 1991, S. 180, zum vergleichbaren Art. 3 Abs. 1 S. 1 Verf. BW. 131 Jeand’Heur / Korioth, Staatskirchenrecht, 2000, Rnr. 155; Ehlers, in: Sachs, Grundgesetz, 2003, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 1; Rüfner, in: FS Heckel, 1999, S. 447 (448); Dirksen, Feiertagsrecht, 1961, S. 26; Pahlke, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 53 (57); Richardi / Annuß, Sonn- und Feiertagsarbeit unter der Geltung des Arbeitszeitgesetzes, 1999, S. 12; Martens, Feiertagsrechtliches Arbeitsverbot, 1995, S. 42; Rozek, NJW 1999, S. 2921 (2929); Badura, Staatsrecht, 2003, L 48. 132 Häberle, Verfassungslehre, 1998, S. 989: Er spricht davon, daß nicht „einfach auf den Sonntag geklagt werden könnte.“
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4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
4. Inhaber des Rechts Das vorliegende, hier vertretene Ergebnis wirft die Frage nach dem Träger dieses Rechtes und seinem Inhalt auf. Wie dargelegt können sich aufgrund der Offenheit der beiden Schutzzwecke alle natürlichen Personen auf Art. 139 WRV berufen.133 Weniger eindeutig ist, ob sich juristische Personen, wie etwa Gewerkschaften, oder Religionsgemeinschaften auf Art. 139 WRV berufen können. Zur Beantwortung dieser Frage kann man den Regelungsgedanken des Art. 19 Abs. 3 GG heranziehen, wonach die Grundrechte auch für inländische juristische Personen gelten, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. Zwar handelt es sich beim Sonntagsartikel nicht um ein Grundrecht. Aber einer Übertragung des Rechtsgedankens auf Art. 139 WRV stehen keine durchschlagenden Gründe entgegen.134 Subjektive Verfassungsrechte wie Art. 139 WRV sind ihrem Wesen nach auf juristische Personen anwendbar, wenn die geschützte Tätigkeit von ihnen selbst ausgeübt werden kann oder wenn sie sich in einer natürlichen Personen vergleichbaren Gefährdungslage befinden.135 Das Bundesverfassungsgericht verlangt weiterhin, insbesondere für juristische Personen des öffentlichen Rechts, daß die Bildung und Betätigung der Vereinigung Ausdruck der freien Entfaltung der natürlichen Personen sind.136 Das letztgenannte Kriterium läßt sich gut auf die großen Kirchen und Religionsgemeinschaften transformieren: Art. 139 WRV bildet zwar kein klassisches Freiheitsgrundrecht. Es kann aber von der freien Entschließung der Angehörigen einer Religionsgemeinschaft gesprochen werden, am Sonntag gemeinsam Gottesdienst zu feiern. Im sonntäglichen Gottesdienst verbinden sich individuelle seelische Erhebung und Betätigung der Religionsgemeinschaft, die für die Gläubigen den Rahmen bildet. Zwar hat der Verfassungsgeber Art. 139 WRV bewußt religiös-weltanschaulich neutral formuliert. Allerdings ermöglicht es gerade die allgemeine Arbeitsruhe den organisierten religiösen Gemeinschaften, Gottesdienste und andere kultische Veranstaltungen abzuhalten.137 ___________ 133
So auch Morlok / Heinig, NVwZ 2001, S. 846 (851); Heinemann, Vorgaben bei Anerkennung von Feiertagen, 2004, S. 151; vgl. oben 4. Teil, 1. Kapitel I. 2. c). 134 Eine analoge Anwendung des Art. 19 Abs. 3 GG würde noch über die Übertragung des Rechtsgedankens hinausgehen. Sie ist lediglich für die grundrechtsgleichen Rechte der Art. 101 und Art. 103 Abs. 1 GG anerkannt, vgl. Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, 2006, Art. 19, Rnr. 15. 135 Vgl. zu dem allgemeinen Maßstab BVerfGE 42, 212 (219); 45, 63 (79); 61, 82 (105 f). 136 BVerfGE 21, 362 (369); 61, 82 (101); 68, 193 (205 f). 137 Morlok / Heinig, NVwZ 2001, S. 846 (851).
1. Kapitel: Aus Verfassungsrecht
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Der Schutz der Bedingung der Möglichkeit zu seelischer Erhebung bewahrt Religionsgemeinschaften und Kirchen in gleicher Weise vor einer Gefährdungslage wie natürliche Personen. Sie können sich daher grundsätzlich auf Art. 139 WRV berufen. Fraglich ist, ob dies für alle Religionsgemeinschaften gilt oder nur für solche, die nach ihrem Selbstverständnis den entsprechenden Tag (Sonn- oder Feiertag) in besonderer Art und Weise begehen. Diese Frage zeigt das Spannungsfeld, in dem sich das Sonn- und Feiertagsrecht bewegt: religiösweltanschauliche Neutralität des Staates einerseits, mögliche rechtliche Anerkennung der religiösen Zusammensetzung der Bevölkerung andererseits. Da die besondere Stellung des Sonntags und der religiösen Feiertage dem Christentum entspringt,138 sind die christlichen Religionsgemeinschaften und Kirchen unzweifelhaft Träger des Rechts aus Art. 139 WRV. Problematischer stellt es sich für andere Religionsgemeinschaften wie etwa die muslimische, jüdische, buddhistische und hinduistische dar. Hier muß man zwischen Sonntag und den religiösen Feiertagen differenzieren. Zu beachten ist, daß das Grundgesetz selbst keine Feiertage festlegt. Vielmehr bestimmt der Landesgesetzgeber, welche religiösen Feiertage staatlich anerkannt werden und so in den Schutzbereich des Art. 139 WRV fallen. Daher können nicht von vornherein bestimmte Religionsgemeinschaften ausgeschlossen werden. Vielmehr sind alle Religionsgemeinschaften potentielle Rechtsträger des Art. 139 WRV. Ob sie es konkret sind, bestimmt sich nach den jeweils staatlich anerkannten religiösen Feiertagen. Beim Sonntag ist bedeutsam, daß dieser auch den nicht-christlichen Religionsgemeinschaften Gelegenheit gibt, gemeinschaftliche Veranstaltungen abzuhalten. Dies gilt gleichfalls für muslimische und jüdische Glaubensgemeinschaften, obwohl nach ihrem Selbstverständnis ihre jeweiligen wöchentlichen Ruhe- oder besonderen Gebetstage Freitag oder Samstag sind. Auch wenn sie theologisch den Sonntag als normalen Tag verstehen, schließt dies nicht von vornherein eine Berufung auf Einhaltung des Sonntagsschutzes aus. Auch nicht-christliche Religionsgemeinschaften können sich auf Art. 139 WRV berufen, soweit sie Sonntage für Veranstaltungen nutzen. Hier ist eine Prüfung des Einzelfalls notwendig. Art. 139 WRV ist also grundsätzlich auf alle Religionsgemeinschaften anwendbar.139 Man kann weiterhin die Berechtigung von Gewerkschaften in Betracht ziehen. Im Hinblick auf die generelle Arbeitsruhe an Sonntagen sind sie nicht ei___________ 138
Vgl. zur historischen Entwicklung oben 1. Teil, 1. Kapitel II. Morlok / Heinig, NVwZ 2001, S. 846 (851); Heinemann, Vorgaben bei Anerkennung von Feiertagen, 2004, S. 151, spricht von „Kirchen“, ohne zu spezifizieren, ob damit nur die christlichen oder auch andere Religionsgemeinschaften gemeint sind. 139
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4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
ner vergleichbaren Gefährdungslage ausgesetzt wie natürliche Personen. Zwar haben Gewerkschaften durchaus ein Interesse als Arbeitnehmervertretung, daß ihre Mitglieder sonntags nicht arbeiten müssen. Allerdings gibt es für sie kein Mehr an Schutzbedarf gegenüber der Summe der Arbeitsbefreiung ihrer Mitglieder. Eine solche Anerkennung einer Verbandsrechtsposition ist dem Grundgesetz bei subjektiven Verfassungsrechten fremd. Im Unterschied zu den Religionsgemeinschaften existiert für Gewerkschaften im Sonn- und Feiertagsrecht kein spezieller Anknüpfungspunkt, wie er etwa bei Art. 9 Abs. 3 GG existiert. Grundsätzlich sind sie also nicht Träger des Rechts aus Art. 139 WRV. Eine Ausnahme könnte höchstens für den 1. Mai gelten, der den Gewerkschaften traditionell als Veranstaltungstag dient und in Deutschland seit Ende des 19. Jahrhunderts als Tag der Arbeiterbewegung begangen wird.140 Fraglich ist aber, ob der 1. Mai so eindeutig hauptsächlich von den Gewerkschaften begangen wird, daß sie als konkrete Rechtsträger angesehen werden können. Wie Häberle in einer beispielhaften Darstellung der Feiern zum 1. Mai 1987 in der alten Bundesrepublik Deutschland festgestellt hat, wurde der 1. Mai von Parteipolitikern aller Couleur begangen und kann somit gerade nicht nur einer Gruppe, den Arbeitern und Gewerkschaften, zugeschrieben werden.141 Dies dürfte auch der Feiertagspraxis zu Beginn des 21. Jahrhunderts entsprechen. Ein weiteres Indiz stellen die gesetzlichen Beifügungen dar, mit denen die Landesverfassungen und -gesetze den 1. Mai zum Feiertag erheben. Daraus kann zumindest ein Rückschluß auf den vom Gesetzgeber intendierten Sinngehalt gezogen werden. Einige Länderverfassungen sprechen vom Bekenntnis zur sozialen Gerechtigkeit, der Freiheit, dem Frieden, der Völkerverständigung und der Menschenwürde.142 Das besondere Bekenntnis zu diesen immateriellen Werten erschwert es, eine besondere Fokussierung des 1. Mai auf Gewerkschaften anzunehmen. Es soll zwar nicht bestritten werden, daß es sich beim 1. Mai in der Rechtswirklichkeit um den wichtigsten Feiertag für die Gewerkschaften handelt. Allerdings sprechen die aufgeführten Argumente gegen eine subjektive Berechtigung der Gewerkschaften aus Art. 139 WRV.143 Zu demselben Ergebnis kommt man beim 3. Oktober als dem Tag der Deutschen Einheit. Hier ist schon keine Personenvereinigung auszumachen, die sich in individualisierbarer Weise aus der deutschen Bevölkerung hervorhebt, um potentieller Träger eines Rechts aus Art. 139 WRV zu sein. ___________ 140
Zur Geschichte des 1. Mai und seiner Feier in der alten Bundesrepublik vgl. Häberle, Feiertagsgarantien, 1987, S. 44 ff. 141 Häberle, Feiertagsgarantien, 1987, S. 49. 142 Vgl. etwa Art. 3 Abs. 2 Verf. BW; Art. 55 Abs. 1 Verf. Brem, Art. 32 S. 2 Verf. Hess; Art. 25 Abs. 2 Verf. NRW. 143 So auch Morlok / Heinig, NVwZ 2001, S. 846 (851).
1. Kapitel: Aus Verfassungsrecht
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5. Inhalt des Rechts Die Substanz des subjektiven Rechts hat sich am Schutzbereich des Art. 139 WRV zu orientieren. Da Art. 139 WRV selbst die Ausgestaltung des genauen Schutzes der Sonntage dem Gesetzgeber überläßt, ist diese Normgeprägtheit bei der Bestimmung des Inhalts des subjektiven Rechts zu berücksichtigen. Zwar weist de Wall mit Recht darauf hin, daß sich die Frage, ob eine Einrichtungsgarantie subjektive Rechte enthält, einfacher beantworten läßt als diejenige nach dem Inhalt eines solchen Rechts.144 Um sich dem Schutzumfang aber dennoch anzunähern, bietet sich ein Rückgriff auf die Kategorien der allgemeinen Grundrechtsdogmatik an.145 Die ausdifferenzierten Maßstäbe, die Rechtsprechung und Lehre für die Grundrechte als dem Inbegriff grundgesetzlicher Individualrechte entwickelt haben, lassen sich auf andere subjektive Verfassungsrechte, wie etwa Einrichtungsgarantien und eben Art. 139 WRV, übertragen. Zu unterscheiden ist daher im folgenden, 1. ob Art. 139 WRV subjektive Ansprüche auf Abwehr staatlicher Eingriffe enthält, 2. inwieweit aus ihm Ansprüche auf staatliche Leistungen folgen, 3. inwieweit er organisations- und verfahrensrechtliche Sicherungen zugunsten der betroffenen Rechtssubjekte gewährleistet und 4. ob es einen Anspruch auf effektive Ausgestaltung und auf Schutz der Sonnund Feiertage gegenüber Eingriffen Dritter gibt.146 Bei allen Aspekten ist davon auszugehen, daß der subjektiv-rechtliche nicht weiter gehen kann als der objektiv-rechtliche Gehalt.147
a) Anspruch auf Abwehr staatlicher Eingriffe Der Anspruch auf Abwehr staatlicher Eingriffe ist typisch und prägend für Freiheitsrechte. Das Abwehrrecht sichert den Freiheitsraum des Bürgers gegen den Staat ab. Möglicherweise läßt sich aber diese Kategorie auf eine Einrichtungsgarantie wie Art. 139 WRV nicht ohne Einschränkungen übertragen. Der in Art. 139 WRV enthaltene Gesetzgebungsauftrag zeigt, daß das Schutzgut nicht allein vorrechtlich beschrieben werden kann, wie es bei klassischen Freiheitsrechten der Fall ist: Der Gehalt der Meinungsfreiheit etwa kann ___________ 144
De Wall, Der Staat 38 (1999), S. 377 (387 f). De Wall, Der Staat 38 (1999), S. 377 (388). 146 Im Anschluß an de Wall, Der Staat 38 (1999), S. 377 (388). 147 Stern, Staatsrecht III/1, 1988, S. 875. 145
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4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
ohne Rückgriff auf eine konkrete Verfassungsregelung wie etwa Art. 5 GG oder sogar auf einfache Gesetze beschrieben werden: Es wird immer die Äußerung einer Meinung in verschiedenen Medien geschützt, Grenzen finden sich in den Rechten und der Würde anderer. Dieser Inhalt wird bei einem Blick in andere Verfassungen bestätigt.148 Gleiches gilt für andere klassische Freiheitsrechte wie etwa die Religions- und Handlungsfreiheit sowie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, die alle Wurzeln haben, welche über das positive Recht hinausgehen. Demgegenüber bedarf der Sonntagsschutz eines regulativen Systems und einer Ausgestaltung, damit er an Konturen gewinnt. Die Zweidimensionalität von Einrichtungsgarantien - einerseits bedürfen sie der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber, andererseits binden sie den Gesetzgeber in gewissem Umfang hat Konsequenzen für den Inhalt einer aus ihnen abzuleitenden subjektiven Berechtigung. Eine Folge ist, daß sich die subjektiv-rechtliche Dimension im Vergleich zu Freiheitsrechten weniger intensiv darstellt. Die von Verfassungs wegen angeordnete Ausgestaltung durch den Gesetzgeber bei Art. 139 WRV ist ein Indiz dafür, daß die rein objektiv-rechtliche Dimension einen wichtigen Bestandteil der Einrichtung ausmacht. Bei Freiheitsrechten steht der auf das Individuum bezogene subjektiv-rechtliche Regelungsgehalt gegenüber der objektivrechtlichen Dimension deutlich im Vordergrund. Die geringere Ausprägung des subjektiv-rechtlichen Elementes bei Einrichtungsgarantien kann sich - bildlich gesprochen - auf die Breite und die Tiefe des Schutzbereichs beziehen. Ein Ansatz bestünde darin, die „Breite“ einzuschränken, also das subjektive Recht nur auf den Kernbereich und nicht auf die ganze Einrichtungsgarantie einschließlich des Randbereichs zu beziehen. Über diesen Ansatz geht de Wall richtiger Weise hinaus: Nach seiner Auffassung erstreckt sich der Schutz auch auf den Randbereich. Dort sei er dann schwächer ausgeprägt und nur noch darauf bezogen, daß der Rechtsträger unverhältnismäßige Eingriffe abzuwehren vermag. Er verweist mit Recht auf die Parallele zum Schutz des Eigentums nach Art. 14 GG. Das Eigentum ist ebenfalls als Einrichtungsgarantie geschützt.149 Dort kann der einzelne unter Beru___________ 148 Vgl. etwa Art. 10 der Erklärung der Menschenrechte von 1789, die integraler Bestandteil der aktuellen französischen Verfassung der V. Republik ist: „Niemand kann für seine Meinungen, auch seine religiösen, belangt werden, solange ihre Äußerung nicht die durch Gesetz etablierte öffentliche Ordnung stört.“ Art. 21 Satz 1 der Italienischen Verfassung lautet: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und durch jedes sonstige Mittel der Meinungsäußerung frei zu äußern.“ 149 Vgl. statt aller Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, 2006, Art. 14 Rnr. 4, der zu Recht eine Institutsgarantie annimmt.
1. Kapitel: Aus Verfassungsrecht
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fung auf sein Grundrecht die Verfassungswidrigkeit einer gesetzgeberischen Maßnahme geltend machen, wenn diese unverhältnismäßig ist, ohne daß der Kern der Eigentumsgarantie als solches verletzt worden wäre.150 Diese Argumentation überzeugt, greift sie doch auf eine Dogmatik zurück, die zu Art. 14 GG ausdifferenziert wurde und einen richtigen Gedanken in sich trägt: Die scharfe Trennung zwischen dem absoluten Schutz des Kernbestands und dem Fehlen jeglicher Gewährleistung im Randbereich würde dem grundgesetzlich intendierten Schutz des Individuums nicht in vollem Maße gerecht. Überzeugender ist daher die Alternative, die „Tiefe“ des Schutzbereichs einzuschränken. Angesichts der Normprägung des Schutzbereichs erstreckt sich das subjektive Recht nicht auf jede Einzelheit des Sonntagsschutzes. Hier ist zwischen Kern- und Randbereich zu unterscheiden.
aa) Randbereich Im Randbereich besteht im Anschluß an die soeben dargelegten Überlegungen de Walls ein Anspruch des einzelnen, daß der Gesetz- und Verordnungsgeber unverhältnismäßige Eingriffe unterläßt.
bb) Kernbereich Das Recht des einzelnen wird mehr tangiert, wo in den Kernbereich der Institution eingegriffen wird.151 Allerdings reicht es nicht aus, daß einer einzelnen Person eine ganz bestimmte individuelle Rechtsposition entzogen wird. Nach SteinbeißWinkelmann liegt - allgemein und ohne Bezug zu Art. 139 WRV - ein Eingriff in den Kernbestand durch staatliche Maßnahmen erst dann vor, wenn mehr als einzelne konkrete Rechtspositionen einzelner Rechtsträger tangiert sind.152 Daraus folgert sie zu Recht, daß sich das Individuum auf die Einrichtungsgarantie regelmäßig nur dann berufen kann, wenn nicht allein seine Rechte, sondern die Rechte einer Reihe von Personen bedroht sind. Dies hat auch für Art. 139 WRV zu gelten, so daß das subjektive Recht vor allem bei abstrakt-generellen Maßnahmen des Gesetz- und Verordnungsgebers zum Tragen kommt. Im Anschluß an den oben näher dargelegten Kernbestand kann der einzelne Rechtsträger sich dann auf Art. 139 WRV berufen, wenn der Gesetz- oder Verordnungsgeber ___________ 150
De Wall, Der Staat 38 (1999), S. 377 (391). Steinbeiß-Winkelmann, Grundrechtliche Freiheit, 1986, S. 121 f. 152 Steinbeiß-Winkelmann, Grundrechtliche Freiheit, 1986, S. 121. 151
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4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
1. alle Feiertage abschafft, 2. einen religiösen Feiertag abschafft, und dadurch insgesamt keine angemessene Zahl religiöser Feiertage mehr geschützt ist, 3. die Sieben-Tage-Woche durch einen anderen Zeitrhythmus ersetzt, 4. das grundsätzliche Verhältnis „Arbeit an Werktagen“ - „Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen“ bis zur Konturenlosigkeit auflöst153 oder 5. gewerberechtliche oder arbeitszeitrechtliche Schutzbestimmungen für Sonnund Feiertage völlig beseitigt, so daß auch Sonn- und Feiertage werktäglichen Charakter annehmen würden.154
cc) Ergebnis Entscheidend für eine konkrete Berechtigung eines Klägers bleibt bei Verletzung des Kern- wie des Randbereichs, daß die Maßnahme des Gesetz- oder Verordnungsgebers ihn individuell betrifft. Bei Abschaffung aller christlicher Feiertage in einem Bundesland wäre etwa erforderlich, daß der potentielle Rechtsträger in diesem Land wohnt oder dort arbeitet. Es besteht somit ein Anspruch des einzelnen auf Unterlassung staatlicher Eingriffe in den Kernbestand der Sonn- und Feiertagsgarantie,155 soweit die Verletzung der Rechtsposition mehrerer Personen und damit der Einrichtung droht oder bereits eingetreten ist. Das subjektiv Recht erstreckt sich auch auf unverhältnismäßige Eingriffe in den Randbereich.
b) Anspruch auf staatliche Leistung Unter Leistung im weiteren Sinne soll hier in Anlehnung an Alexy sowohl eine Teilhabe an öffentlichen Einrichtungen als auch eine positive staatliche Handlung (Leistung im engeren Sinne) verstanden werden.156 Ein typisches Beispiel für letzteres ist eine finanzielle Zuwendung. ___________ 153 Morlok / Heinig, NVwZ 2001, S. 846 (851) nehmen als Inhalt des subjektiven Rechts ebenfalls die Punkte 1, 3 und 4 an. 154 Siehe zum Kernbestand oben 2. Teil, 1. Kapitel IV. 2. 155 Morlok / Heinig, NVwZ 2001, S. 846 (851); Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 140 GG, Art. 139 WRV, Rnr. 21. 156 Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 402 f, der noch weiter geht und auch den Schutz des Bürgers vor anderen Bürgern durch Strafrechtsnormen und die Statuierung von Organisations- und Verfahrensvorschriften als Leistung ansieht.
1. Kapitel: Aus Verfassungsrecht
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Einen Anspruch auf eine Leistung im engeren Sinne durch den Staat kennt das Grundgesetz nur in Ausnahmefällen: Zu nennen sind etwa der Anspruch auf Gewährung eines Existenzminimums, das ein menschenwürdiges Dasein sichern soll und aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip hergeleitet wird, oder das spezielle Leistungsrecht gem. Art. 6 Abs. 4 GG zugunsten der Mutter.157 Man könnte erwägen, steuerrechtliche Begünstigungen von Lohn oder von Lohnzuschlägen für Sonn- und Feiertagsarbeit als Leistung des Staates anzusehen. Nach § 3 b Abs. 1 EStG bleiben Zuschläge für tatsächlich geleistete Sonn-, Feiertags- und Nachtarbeit steuerfrei, soweit sie einen bestimmten Prozentsatz des Grundlohns nicht übersteigen. Theoretisch könnte aus Art. 139 WRV ein Anspruch auf eine solche steuerrechtliche Bevorzugung der Sonnund Feiertagsarbeit abgeleitet werden. Allerdings steht im Steuerrecht die Belastung des Bürgers im Vordergrund, also der Eingriff in seine Freiheitssphäre. Wenn Sonn- und Feiertagsarbeit steuerlich günstiger behandelt wird als Arbeit an Werktagen, stellt dies also keine Leistung, sondern einen weniger intensiven Grundrechtseingriff dar, der sich lediglich als mittelbare Vergünstigung offenbart. Ein Anspruch auf Steuerermäßigung läßt sich also aus Art. 139 WRV nicht ableiten. Dem Bundesverfassungsgericht ist beizupflichten, wenn es nur selten ein subjektives Recht auf Leistungen annimmt. Von Ausnahmefällen abgesehen hat es einen solchen Inhalt von subjektiven Rechten stets abgelehnt.158 Bei der Darstellung des Umfangs der subjektiven Berechtigung aus der institutionellen Garantie des Berufsbeamtentums nach Art. 33 Abs. 5 GG hat es zum Beispiel ausgeführt, daß „die Eigentümlichkeit von in der Verfassung gewährten Ansprüchen, mögen sie in Grundrechten, grundrechtsähnlichen Vorschriften oder Grundsätzen der Verfassung enthalten sein, darin besteht, daß sie in summarischer Kürze formuliert sind, daß man ihnen durch eine Vielzahl von Varianten des Sichverhaltens gerecht werden kann, daß sie also nicht auf eine bestimmte, konkrete Leistung gehen.“159
Nicht zu verwechseln mit Ansprüchen auf ein positives Tun sind allgemeine Schutzpflichten des Gesetzgebers. Man könnte etwa daran denken, einen Anspruch auf Ausgestaltung des Sonn- und Feiertagsschutzes - insbesondere auf Schließung von Läden - als einen Leistungsanspruch zu verstehen. Hierbei ___________ 157
Dreier, in: ders., GG, 2004, Vorb. Rnr. 89. Vgl. BVerfGE 39, 1 (46 f); 46, 160 (164 f); wie hier auch die Wertung von Stern, in: HdbStR V, 1992, § 109, Rnr. 63; BVerfGE 33, 303 (333) läßt bei Befassung mit den Regelungen zum numerus clausus ausdrücklich offen, ob es einen einklagbaren Anspruch des Bürgers auf Schaffung von Studienplätzen gibt. 159 BVerfGE 43, 154 (168). 158
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4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
handelt es sich vielmehr originär um eine Schutzpflicht, die resubjektiviert ist.160 Erwägenswert ist weiterhin ein Anspruch auf Teilhabe an bestehenden oder gar auf Schaffung neuer öffentlicher Einrichtungen. Insbesondere kämen solche Einrichtungen in Betracht, die der seelischen Erhebung dienen können. Ohne die vielfältigen Möglichkeiten zur seelischen Erbauung vorgeben zu wollen, könnte man an kulturelle Einrichtungen wie etwa Theater, Opernhäuser und Museen denken. Ein solch konkreter und weitgehender Anspruch würde sich allerdings nicht in die Gesamtkonzeption des Grundgesetzes einpassen. Denn es bleibt nach der richtigen Auffassung des Bundesverfassungsgerichts auch im modernen Sozialstaat grundsätzlich „dem Gesetzgeber überlassen [...], ob und wieweit er im Rahmen der darreichenden Verwaltung Teilhaberechte gewähren will.“161 Dies gilt um so mehr für den Kulturstaat, der in der Sonntagsgarantie eine Ausprägung findet. Im Rahmen des Sonntagsschutzes sind keine weiteren Vermögenswerte oder Einrichtungen denkbar, die der Staat zwingend zur Verfügung stellen müßte, um dem Art. 139 WRV gerecht zu werden. Das subjektive Recht aus Art. 139 WRV enthält also keinen Anspruch auf Leistung im weiteren Sinne. Es stellt kein Teilhaberecht dar.162
c) Organisations- und verfahrensrechtliche Sicherungen Die Grundrechte beeinflussen nicht nur das gesamte materielle, sondern auch das Verfahrensrecht.163 Nach der zutreffenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts setzen die Grundrechte auch „Maßstäbe für eine den Grundrechtsschutz effektuierende Organisations- und Verfahrensgestaltung sowie für eine grundrechtsfreundliche Anwendung vorhandener Verfahrensvorschriften.“164 Einen derartigen Einfluß des Art. 139 WRV kann man bei Formvorschriften ausmachen, die Sonderregeln für Sonn- und Feiertage aufstellen. In Betracht kommen zum Beispiel Verbote, Verfahrenshandlungen vorzunehmen, oder Normen, die den - vermeintlichen - Fristablauf an diesen Tagen regeln.165 Die ___________ 160
Dreier, in: ders., GG, 2004, Vorb. Rnr. 89. BVerfGE 33, 303 (331). 162 So auch schon Mattner, NJW 1988, S. 2207. 163 BVerfGE 53, 30 (65). Zur staatlichen Verpflichtung, materielle Grundrechte verfahrens- und organisationsrechtlich abzusichern und zu stärken, vgl. auch Streuer, Positive Verpflichtungen des Staates, 2003, S. 167 ff. 164 BVerfGE 69, 315 (355); vgl. auch BVerfGE 63, 131 (143). 165 Mattner, Sonn- und Feiertagsrecht, 1991, § 6, Rnr. 2. 161
1. Kapitel: Aus Verfassungsrecht
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Verschiebung des eigentlichen Fristendes auf den nächsten Werktag gemäß § 193 BGB bezweckt etwa, daß niemand dafür einstehen soll, gerade bis zu einem Sonn- oder Feiertag notwendige Rechtshandlungen vornehmen zu müssen. Im Verwaltungsverfahren gilt grundsätzlich das Gleiche.166 Weitere Sondervorschriften finden sich etwa im Prozeß-, Zustellungs- sowie Scheck- und Wechselrecht.167 Damit wird auch bei Verfahrens- und Formvorschriften dem Grundgedanken des Art. 139 WRV Rechnung getragen, daß an Sonntagen die Arbeit ruht. Allerdings erscheinen diese Vorschriften nicht von solcher Erheblichkeit, daß sie zum Kernbestand des Art. 139 WRV zu rechnen sind. Auch ein unverhältnismäßiger Eingriff in den Randbereich ist in diesem Rechtsgebiet schwer vorstellbar. Es dürfte daher kein grundgesetzlicher subjektiver Anspruch auf die Einhaltung dieser Normen bestehen.
d) Anspruch auf effektive Ausgestaltung und auf Schutz vor Eingriffen Dritter Weiterhin besteht ein Anspruch auf sachgemäße, effektive Ausgestaltung des Sonntagsschutzes.168 Damit werden keine neuen Wege in der Dogmatik subjektiver Verfassungsrechte beschritten. Schon bisher sind aus dem Grundgesetz grundrechtlich geschützte Ansprüche auf staatliches Tätigwerden sowie Ansprüche des Bürgers auf staatlichen Schutz seiner Rechte gegenüber Dritten abgeleitet worden.169
aa) Effektive Ausgestaltung Wie oben bereits näher ausgeführt, fällt es in die Zuständigkeit der Legislative, Art und Umfang des Schutzes im Detail zu bestimmen.170 Zwar sind dem Gesetzgeber Schutzzweck und damit Zielrichtung seiner zu treffenden Regelungen in Gestalt der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung bereits durch ___________ 166 § 31 Abs. 1 VwVfG verweist auf § 193 BGB und nur § 31 Abs. 3 und 4 VwVfG modifiziert die BGB-Vorschrift. 167 Vgl. auch zu weiteren einfach-gesetzlichen Normen Mattner, Sonn- und Feiertagsrecht, 1991, § 6, Rnr. 13 und 18 ff. 168 Morlok / Heinig, NVwZ 2001, S. 846 (851). 169 De Wall, NVwZ 2000, S. 857 (860), der im Ergebnis subjektive Rechte aus Art. 139 WRV verneint, räumt aber ein, daß diese Aspekte nicht gegen einen subjektivrechtlichen Gehalt des Art. 139 WRV sprechen; vgl. Dreier, in: ders., GG, 2004, Vorb. Rnr. 101 ff; zu den Schutzpflichten vgl. auch Streuer, Positive Verpflichtungen des Staates, 2003, S. 158 ff. 170 Vgl. zu demselben Maßstab bei der Umsetzung der Pflicht des Gesetzgebers zum Schutz des Lebens aus Art. 2 Abs. 2 GG BVerfGE 88, 203 (254).
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4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
Art. 139 WRV vorgegeben. Allerdings obliegt ihm die Abwägung der unterschiedlichen Interessen, die durch Regelungen zum Sonntagsschutz tangiert sind. Um den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers auch bei einem subjektivrechtlichen Gehalt des Art. 139 WRV ausreichend Rechnung zu tragen, ist ein einklagbarer Verstoß gegen seine Ausgestaltungspflicht im Anschluß an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, insbesondere an das numerusclausus-Urteil,171 erst bei einer evidenten Verletzung des Verfassungsauftrags anzunehmen.
bb) Schutz vor Gefahren durch Dritte Die Pflicht zur Ausgestaltung muß alle Gefährdungslagen erfassen. Daher hat der Gesetzgeber nicht nur unmittelbare staatliche Eingriffe in den Kernbestand des Art. 139 WRV zu unterlassen. Ein besonderer Unterfall der Verpflichtung zur effektiven Ausgestaltung ist auch in Drittbeteiligungsfällen gegeben: Der Gesetzgeber hat vor nichtstaatlichen Störern und somit vor Gefahren, die von Dritten für die Arbeitsruhe und die Möglichkeit zur seelischen Erhebung an Sonntagen ausgehen, zu schützen. Hier trifft den Staat eine Pflicht, geeignete Maßnahmen gegen solche Handlungen Dritter zu treffen, welche die Rechtsgüter des Art. 139 WRV gefährden.172 Da die staatliche Schutzpflicht nicht unmittelbar gegen den nichtstaatlichen Störer wirkt, ist ein Gesetz notwendig, das die Pflicht einlöst und aufgrund dessen die privaten Eingriffe in das grundgesetzliche Schutzgut unterbunden werden können.173 Das Bundesverfassungsgericht hat insbesondere im Kalkar-Urteil zutreffend festgestellt, daß sich aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG „verfassungsrechtliche Schutzpflichten ergeben [können], die es gebieten, rechtliche Regelungen so auszugestalten, daß auch die Gefahr von Grundrechtsverletzungen eingedämmt bleibt.“174 Zwar ist das Gebot zum Schutz der Menschenwürde in Art. 1 GG nicht mit dem Auftrag an den Gesetzgeber, Sonn- und Feiertage zu schützen, gleichzusetzen. Das Bundesverfassungsgericht hat außerdem in der soeben zitierten Passage nicht ausdrücklich die Grundrechtsverletzung durch Dritte erwähnt. Im Kalkar-Fall geht aber gerade von einem Dritten, dem Betreiber des Kernkraftwerks, die Gefahr für den einzelnen aus. Ausdrücklich hat das Bun___________ 171
BVerfGE 33, 303 (333). Morlok / Heinig, NVwZ 2001, S. 846 (851). Zur staatlichen Verpflichtung zum Schutz eines Grundrechtsträgers vor Eingriffen Dritter, Streuer, Positive Verpflichtungen des Staates, 2003, S. 101 ff. 173 Möstl, DÖV 1998, S. 1029. 174 BVerfGE 49, 89 (142). 172
1. Kapitel: Aus Verfassungsrecht
335
desverfassungsgericht den Drittbeteiligungsfall im ersten Abtreibungsurteil erfaßt:175 „Die Schutzpflicht des Staates [...] gebietet es dem Staat auch, ...dieses Leben ...auch vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren.“176
Der Leitgedanke kann auf Art. 139 WRV übertragen werden, so daß Verletzungen eines grundgesetzlich geschützten Gutes auch dann soweit wie möglich einzuschränken sind, wenn sie nicht vom Staat, sondern von Dritten ausgehen. Auch hier ist eine einklagbare Verletzung erst dann anzunehmen, wenn der Gesetzgeber evident gegen die Schutzpflicht verstößt.
cc) Drittwirkung des Art. 139 WRV zwischen Privaten Schließlich ist die Frage nach der Drittwirkung des Art. 139 WRV zu klären.177 Es handelt sich um einen Spezialfall der soeben behandelten Fallgruppe: Die Gefahren gehen von dritter, nicht-staatlicher Seite aus, aber sie entstehen in Konstellationen, in denen Private aus freiem Willen ihre Rechtsbeziehungen gestalten. Auch hier können die Maßstäbe allgemeiner Grundrechtslehren auf Art. 139 WRV übertragen werden. Grundsätzlich sind Private nicht an die subjektiven Verfassungsrechte gebunden. Verfassungsnormen wirken aber auf privatrechtliche Generalklauseln wie § 134 und § 242 BGB ein, die nach richtiger Ansicht des Bundesverfassungsgerichts Übermaßverbote darstellen.178 Im Bereich des Sonntagsschutzes und des Ladenschlußrechts lassen sich kaum Reste verbliebener Privatautonomie ausmachen, die Raum für eine solche Drittwirkung ließen: Die Feiertagsgesetze, die Ladenschlußgesetze und insbesondere das Arbeitszeitgesetz enthalten zwingendes Recht, das gerade nicht zur Disposition der Vertragsparteien oder des Unternehmers steht.179 Das Verbot der Sonntagsöffnung kann nicht durch Vereinbarung zwischen Ladeninhaber und Beschäftigten abbedungen werden, Verstöße werden vielmehr öffentlich___________ 175 Siehe ausführlicher hierzu Streuer, Positive Verpflichtungen des Staates, 2003, S. 101 f. und 153 ff. 176 BVerfGE 39, 1 (42). 177 Zur Abgrenzung von staatlichen Schutzpflichten einerseits und (unmittelbarer) Drittwirkung der Grundrechte andererseits vgl. Streuer, Positive Verpflichtungen des Staates, 2003, S. 50 ff. 178 BVerfGE 81, 242 (256). 179 Vgl. § 22 ArbZG und §§ 24 f BLadSchlG, die Zuwiderhandlungen gegen Ladenschlußbestimmungen als Ordnungswidrigkeit oder Straftat sanktionieren. Die nach § 12 ArbZG möglichen abweichenden Regelungen in einem Tarifvertrag oder auf Grund eines Tarifvertrages in einer Betriebsvereinbarung sind nicht von solchem Gewicht, daß sie eine andere Beurteilung nach sich ziehen.
336
4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
rechtlich als Ordnungswidrigkeit geahndet, vgl. § 24 Abs. 1 Nr. 2 a BLadSchlG. Daher spielt dieser Sonderfall der Drittwirkung bei Art. 139 WRV in der Praxis keine Rolle. Die zahlreichen Sonderregelungen sowohl in den Ladenschlußgesetzen wie im Arbeitszeitgesetz zeigen,180 wie sehr die Sonn- und Feiertagsarbeit der Privatautonomie und der freien Entscheidung des Unternehmers entzogen bleibt.
6. Auswirkung auf Ladenöffnung an Sonn- und Feiertagen Aus dem subjektiv-rechtlichen Gehalt des Art. 139 WRV ergeben sich für den hier besonders interessierenden Bereich der Sonntagsöffnung die folgenden Konsequenzen:
a) Berechtigung bei völliger Abschaffung des Sonntagsladenschlusses Die Abschaffung des Sonntagsladenschlusses wäre unverhältnismäßig und würde damit in den Randbereich des Art. 139 WRV eingreifen.181 Sie könnte sich ebenso als eine Verletzung des Rechts auf effektive Ausgestaltung des Sonntagsschutzes darstellen. In welchem Verhältnis stehen beide Ansprüche? Der Anspruch auf effektive Ausgestaltung ist ein Spezialfall des Anspruchs, unverhältnismäßige Eingriffe in den Randbereich zu unterlassen. Dies wird bei einem Blick auf die jeweils zugrundeliegende staatliche Maßnahme deutlich. Ein Gesetz muß zumindest auch den Zweck verfolgen, Art. 139 WRV auszugestalten, damit das Verdikt der uneffektiven Ausgestaltung ausgesprochen werden kann. Dagegen kann jedes Vorhaben unverhältnismäßig in den Randbereich des Art. 139 WRV eingreifen, ohne eine spezifische Ausgestaltung des Sonntagsartikels zu beabsichtigen. Die Einordnung einer Maßnahme zu einem der beiden Ansprüche ist hier durchaus relevant, da aus Respekt vor dem Ausgestaltungsfreiraum des Gesetzgebers nur eine evidente Verletzung der Ausgestaltungspflicht aus Art. 139 WRV ein subjektives Recht begründet.182 Bei der Aufhebung des Sonntagsladenschlusses würde es sich zwar um eine sonntagsrelevante Maßnahme handeln, sie würde aber allein anderen Zwecken dienen wie den Verbraucher- und Unternehmerinteressen. Daher würde es sich nicht um eine uneffektive Ausgestaltung handeln, sondern um einen sonstigen unverhältnismäßigen Eingriff in ___________ 180
Vgl. §§ 4 bis 15 BLadSchlG und §§ 10 bis 14, 15 Abs. 1 ArbZG. Vgl. oben 2. Teil, 3. Kapitel VI. 182 Vgl. oben 4. Teil, 1. Kapitel I. 5. d) aa). 181
1. Kapitel: Aus Verfassungsrecht
337
den Randbereich des Art. 139 WRV. Eine Beschränkung des subjektiven Rechts auf evidente Verstöße ist hier also nicht notwendig. Eine Verfassungsbeschwerde wäre allerdings gegen die Aufhebung des Sonntagsladenschlusses durch Gesetz nicht möglich. Nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis berechtigen nur Grundrechte und die in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG aufgezählten grundrechtsgleichen Rechte zur Einlegung einer Verfassungsbeschwerde. Auf sonstige subjektive Rechte wie Art. 139 WRV kann Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG nicht analog angewendet werden.183 Wie die Existenz der Kommunalverfassungsbeschwerde belegt,184 hat der Verfassungsgeber im gesamten Art. 93 Abs. 1 GG bewußt Einrichtungsgarantien mit subjektivem Gehalt ausgewählt, auf die eine Beschwerde zum Bundesverfassungsgericht direkt gestützt werden kann. Für eine Analogie ist mangels Regelungslücke daher kein Raum. Als eine Rechtsschutzmöglichkeit verbliebe bei der gesetzlichen Abschaffung des Sonntagsladenschlusses eine Verpflichtungsklage. Die direkt auf Art. 139 WRV gestützte Klage gegen die zuständige Ordnungsbehörde könnte etwa darauf gerichtet sein, zum Schutz des Sonntags einen Verwaltungsakt gegen einen sonntags öffnenden Ladeninhaber zu erhalten. Da das Einschreiten der Behörde aber nach dem Opportunitätsprinzip in ihrem Ermessen steht,185 würde sich der Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung beziehen. Das Erfordernis eines effektiven Sonntagsschutzes könnte dieses Ermessen auf Null reduzieren und die Behörde zum Einschreiten verpflichten.
b) Klagemöglichkeit gegen gesetzeswidrige Ladenöffnung Für die Praxis bedeutsam ist die Frage, ob jede Verletzung gegen die Sonntagsregelungen der geltenden Ladenschlußgesetze gleichzeitig Art. 139 WRV verletzt und somit Klagemöglichkeiten auslöst. Beim Verstoß gegen Ladenschlußregelungen ist nach dem Verursacher zu unterscheiden. Denn sowohl die Verwaltung als auch ein Ladeninhaber können sich rechtswidrig verhalten.
___________ 183
So im Ergebnis auch Dietlein, in: FS Rüfner, 2003, S. 131 (145), für den Fall, daß man ein subjektives Recht aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV annimmt; Benda, Probleme der industriellen Sonntagsarbeit, 1990, S. 22; ebenso allgemein ohne ausdrückliche Bezugnahmen auf Art. 140 GG Battis / Gusy, Staatsrecht, 1999, Rnr. 327; a. A. Heinemann, Vorgaben bei Anerkennung von Feiertagen, 2004, S. 153. 184 Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 b GG. 185 Für das Ladenschlußgesetz vgl. Zmarzlik / Roggendorf, Ladenschlußgesetz, 1997, § 22 Rnr. 3.
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4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
aa) Verstoß durch die Exekutive Wie oben festgestellt kann die Exekutive durch ein Überschreiten der Verordnungsermächtigungen oder durch eine falsche Anwendung der Einzelfallregelungen gegen die Ladenschlußgesetze verstoßen.186 Da selbst die Abschaffung des sonntäglichen Ladenschlusses nicht in den Kernbestand des Art. 139 WRV eingreifen würde, ist dies erst recht nicht der Fall, wenn ein einfacher Verstoß gegen diese Normen vorliegt. Allerdings bleibt eine Verletzung des Randbereichs möglich. Wenn die Exekutive in Mißachtung und Überdehnung der Ausnahmetatbestände Sonntagsverkauf ermöglicht, handelt sie gerade dem Verbot der Sonntagsöffnung in § 3 S. 1 BLadSchlG zuwider, das die Legislative zur Ausgestaltung des Art. 139 WRV verabschiedet hat. Sie greift damit in den Randbereich des Schutzes der Einrichtungsgarantie ein. Dadurch, daß der Gesetzgeber die beim Ladenschluß widerstreitenden Interessen differenziert abgewogen hat, kommt bei einer falschen Anwendung einer Ladenschlußnorm keine Rechtfertigung durch andere Gesichtspunkte mehr in Betracht. Ein Verstoß gegen die Sonntagsbestimmungen der Ladenschlußgesetze wird somit zu einer Verletzung des Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV. Verallgemeinert gesagt liegt in jedem Verstoß gegen ein Ausgestaltungsgesetz des Art. 139 WRV ein Eingriff in dessen Randbereich. Klageberechtigt vor dem Verwaltungsgericht187 ist dann aufgrund des Art. 139 WRV jedermann, der im Geltungsbereich der exekutiven Maßnahme wohnt und sich in seiner persönlichen Art der seelischen Erhebung, wie zum Beispiel Lesen, Spazieren im Freien oder Gottesdienstbesuch gestört fühlt. Dies trifft insbesondere für Anlieger, aber auch auf Religionsgemeinschaften zu. Ein reines Empfinden, gestört zu sein, reicht nicht aus. Ein objektives Mindestmaß an Beeinträchtigung ist notwendig. Der Sonntagsartikel würde dann im Fall der Rechtsverordnungen nach § 10 und § 14 BLadSchlG oder der jeweiligen Norm in den Ladenöffnungsgesetzen bei entsprechender Zulassung durch Landesgesetze188 eine Antragsbefugnis i. S. d. § 47 Abs. 2 VwGO für ein Normenkon-
___________ 186
Vgl. oben 3. Teil, 4. Kapitel I. und II. Heinemann, Vorgaben bei Anerkennung von Feiertagen, 2004, S. 151, spricht allgemein davon, daß gegen Maßnahmen der Exekutive der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten eröffnet ist. 188 Nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO entscheidet das OVG über die Gültigkeit von im Rang unter dem Landesgesetz stehenden Rechtsvorschriften, sofern Landesrecht dies bestimmt. Rechtsverordnungen des Landes oder der in der Auftragsverwaltung tätigen Kommunen zählen also ggf. auch dazu. Zu den Ländern, die von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, vgl. Kopp / Schenke, VwGO, 2005, Art 47 Rnr. 23. 187
1. Kapitel: Aus Verfassungsrecht
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trollverfahren, bei einem Verwaltungsakt nach § 23 BLadSchlG oder der jeweiligen Landesnorm eine Klagebefugnis i. S. d. § 42 Abs. 2 VwGO für eine Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage begründen.
bb) Verstoß durch Ladeninhaber Dem einzelnen steht auch ein subjektives Recht aus Art. 139 WRV zu, wenn sich ein Ladeninhaber nicht an die Öffnungszeiten hält und so gegen das Ladenschlußgesetz verstößt. Zwar ist zu bedenken, daß dem Bürger nach unserer Rechtsordnung kein allgemeiner Anspruch auf Gesetzesvollzug zusteht. Er kann nur dann mit Erfolg gerichtlich gegen Gesetzesverstöße vorgehen, wenn seine eigenen Rechte berührt sind. Entscheidend ist, daß der Eingriff in den Schutzbereich des Art. 139 WRV nicht vom Staat, sondern von einem Dritten ausgeht. Einziger Anknüpfungspunkt ist in solchen Konstellationen das Unterlassen der Behörde, gegen den Störer in Gestalt des Ladeninhabers vorzugehen. Ein Anspruch auf Einschreiten besteht für den durch die Ladenöffnung Beeinträchtigten nur, wenn er eigene Rechte geltend machen kann. Dies vermittelt Art. 139 WRV. Da auch hier das Einschreiten gegenüber dem Inhaber der Verkaufsstelle durch Verwaltungsakt erfolgt, kommt eine Verpflichtungsklage gegen die Behörde in Betracht. Der Anspruch ist auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung gerichtet.189 Das Ermessen kann sich gegebenenfalls nach Art und Umfang der Störung auf Null reduzieren. Wie im vorhergehenden Fall des Verstoßes durch die Exekutive muß der Berechtigte durch die Ladenöffnung beeinträchtigt sein, zum Beispiel als Anwohner.
II. Sonstige Grundlagen subjektiver Rechte Subjektive Rechte auf Einhaltung der Sonn- und Feiertagsruhe können sich auch aus anderen Verfassungsnormen ergeben. In Betracht kommen die Religionsfreiheit, die allgemeine Handlungsfreiheit, das Recht auf körperliche Unversehrtheit sowie die Sonntagsregelungen der Landesverfassungen.
___________ 189
Nach richtiger Auffassung von Zmarzlik / Roggendorf, Ladenschlußgesetz, 1997, § 22 Rnr. 3, steht das Eingreifen im Ermessen der Aufsichtsbehörde i. S. d. § 22 BLadSchlG.
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4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
1. Religionsfreiheit, Art. 4 GG Nach dem Bundesverfassungsgericht und der richtigen überwiegenden Auffassung der Literatur verbürgt Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG die Religionsfreiheit in einem einheitlichen Schutzbereich.190 Unter die geschützte Ausübung des Glaubens fällt als ein Bestandteil die Kultusfreiheit, die kultische Handlungen wie etwa Gottesdienste, Gebete, Prozessionen und das Zeigen religiöser Zeichen und Symbole beinhaltet.191 Nach dem christlichen Selbstverständnis sind der Sonntag und die christlichen Feiertage durch die Verkündung des Gotteswortes und durch Gottesdienste geprägt.192 Da Art. 4 GG eine ungestörte Kultusausübung schützt, fällt gerade die sonntägliche Gottesdienstteilnahme in seinen Schutzbereich. Ein Teil des von Art. 139 WRV intendierten Schutzes ist somit Bestandteil der Religionsfreiheit, eine Deckungsgleichheit besteht allerdings nicht.193 Eine Verfassungsbeschwerde könnte also auf Art. 4 GG gestützt werden, wenn staatliche Maßnahmen den Gottesdienst oder andere religiöse Veranstaltungen an Sonn- und Feiertagen stören oder dem einzelnen Pflichten aufgegeben werden, die ihn in der Wahrnehmung seiner Freiheit der Religionsausübung beeinträchtigen.194 Dieses Beschwerdeverfahren kommt auch in Betracht, wenn durch die Sonntagsarbeit religiöse Betätigung ausgeschlossen wäre.195 Ein von Häberle angedachtes Recht des einzelnen auf Einhaltung der Substanz des Sonntags in seiner religiösen Dimension dürfte zu weit gehen.196
2. Handlungsfreiheit und Recht auf körperliche Unversehrtheit, Art. 2 GG Einzelmaßnahmen, die eine Person belasten, greifen stets in deren allgemeine Handlungsfreiheit ein. Ein rechtswidriger Eingriff in dieses Grundrecht ist dann gegeben, wenn der Eingriff nicht von der verfassungsmäßigen Ordnung gerechtfertigt wird. Zur verfassungsmäßigen Ordnung gehört die Gesamtheit ___________ 190 BVerfGE 24, 236 (245); Campenhausen, in: HdbStR VI, 1996, § 136 Rnr. 36 und 61; Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, 2006, Art. 4 Rnr. 1; a. A. Morlok, in: Dreier, GG, 2000, Art. 4 Rnr. 42. 191 Starck, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 4 Rnr. 12 und 53; vgl. auch BVerfGE 24, 236 (248). 192 Stollmann, Sonn- und Feiertagschutz, 2004, S. 115. 193 Weber, in: Marré / Stüting, Essener Gespräche 24, 1990, S. 105 (106). 194 Z. B. ist eine Ladung zum Verkehrsunterricht am Sonntagvormittag eine solche Verletzung, vgl. Stollmann, Sonn- und Feiertagschutz, 2004, S. 121 f, mit weiteren Beispielen. 195 Ruess, WRP 2004, S. 1324 (1326). 196 Häberle, Sonntag, 1988, S. 64.
1. Kapitel: Aus Verfassungsrecht
341
der Normen, die formell und materiell verfassungsgemäß sind.197 Damit kann der einzelne das gesamte hoheitliche Handeln auf seine verfassungsmäßige Anwendung überprüfen lassen, soweit ein Eingriff in seine Handlungsfreiheit vorliegt. Das Bundesverfassungsgericht legt seit der Elfes-Entscheidung Art. 2 Abs. 1 GG besonders weit aus.198 Jeder belastende rechtswidrige Akt der öffentlichen Gewalt kann die allgemeine Handlungsfreiheit verletzen. Art. 2 Abs. 1 GG schützt nach allgemeiner Meinung jedes menschliche Tun und Unterlassen, soweit es nicht vom Schutzbereich eines spezielleren Freiheitsrechts erfaßt wird. Diese Subsidiarität gegenüber anderen Freiheitsrechten erstreckt sich in erster Linie auf andere Grundrechte. Allerdings ist der Rechtsgedanke auch auf andere Freiheitsgarantien und Individualrechte außerhalb des ersten Grundgesetzabschnitts zu beziehen. Soweit ein subjektives Verfassungsrecht einen Freiheitsbereich speziell regelt, geht dieses vor. Art. 139 WRV schafft für den einzelnen einen Freiheitsbereich an Sonn- und Feiertagen, der von der Arbeitsruhe und der Möglichkeit zur seelischen Erhebung geprägt ist. Daher geht Art. 139 WRV dem Art. 2 Abs. 1 GG vor, soweit sein subjektivrechtlicher Gehalt reicht.199 Im Fall der Sonntagsöffnung kommt weiterhin eine mittelbare Beeinträchtigung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG dadurch in Betracht, daß Ladenbesitzern ausnahmsweise gestattet wird, ihre Läden zu öffnen. Der so entstehende Kundenauflauf und der verstärkte Zubringerverkehr in Gestalt eines erhöhten Verkehrsaufkommens würden eine Lärmbelästigung bewirken.200 Der Eingriffscharakter solcher Wirkungen wurde schon weiter oben verneint.201 Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG vermittelt daher kein subjektives Recht bei sonntäglicher Geschäftsöffnung.
___________ 197
Dreier, in: ders., GG, 2004 , Art. 2 Rnr. 54. BVerfGE 6, 32. 199 Benda, Probleme der industriellen Sonntagsarbeit, 1990, S. 22, läßt die Frage des subjektiven Rechts aus Art. 139 WRV offen, nimmt aber eine Beschwerdebefugnis aus Art. 2 Abs. 1 GG an, falls jemand behauptet, in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit betroffen zu sein, da eine Maßnahme die Sonntagsruhe einschränke und somit Art. 139 WRV verletze. 200 Vgl. oben 2. Teil, 3. Kapitel I. 4. a) bb) (1). 201 Vgl. oben 2. Teil 3. Kapitel II. 198
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4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
3. Verfassungen der Bundesländer Quelle subjektiver Rechte sind auch die Landesverfassungen.202 Mit Ausnahme Hamburgs, Niedersachsens und Schleswig-Holsteins enthalten alle Länderverfassungen Artikel zum Sonn- und Feiertagsschutz. Entweder übernehmen Länderverfassungen Art. 139 WRV oder sie gewährleisten den Sonn- und Feiertagsschutz in anderen Worten. Er befindet sich teilweise im Abschnitt über Kirchen und Religionsgemeinschaften,203 teilweise bei Regelungen über Arbeit und Wirtschaft204 und teilweise bei den Grundrechten.205 Bei Identität oder Abweichung zwischen der Länderregelung und Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV ist Art. 31 GG maßgeblich. Eine Anwendung des Art. 142 GG scheidet aus. Danach bleiben Landesgrundrechte in Kraft, soweit sie mit Art. 1 bis 18 GG übereinstimmen. Art. 142 GG soll den Grundrechtsschutz auch durch Landesverfassungsgerichte ermöglichen.206 Da hier angenommen wird, daß eine Verfassungsbeschwerde nicht auf Art. 139 WRV gestützt werden kann, spricht dieser Sinn und Zweck des Art. 142 GG gegen seine analoge Erstreckung auf Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV. Im Rahmen des Art. 31 GG bricht eine Grundgesetzregelung nach richtiger Auffassung des höchsten deutschen Gerichts nicht inhaltsgleiches Landesverfassungsrecht.207 In denjenigen Landesverfassungen, die Art. 139 WRV auch inkorporieren208 oder quasi wortgleich übernehmen,209 gelten die Sonntagsartikel neben Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV weiter. In Ländern, in denen zusätzlich zu den Schutzzwecken Arbeitsruhe und seelische Erhebung noch die religiöse Erbauung oder die Gottesverehrung genannt ist,210 ist gleichwohl eine materielle inhaltliche Deckung anzunehmen, da diese religiösen Elemente einen Unterfall ___________ 202
Kopp / Schenke, VwGO, 2005, Art 42 Rnr. 117, sprechen allgemein davon, daß Verfassungsrecht auch subjektive Rechte enthalten kann. 203 Art. 147 Verf. Bay; Art. 47 Verf. RhPf. 204 Art. 55 Verf. Brem; Art. 25 Verf. NRW. 205 Art. 9 Abs. 1 Verf. MV; ähnlich Art. 35 Verf. Berl, der im 2. Abschnitt „Grundrechte, Staatsziele“ zu finden ist. 206 BVerfGE 96, 345 (364). 207 BVerfGE 36, 342 (363 und 367). 208 Art. 9 Abs. 1 Verf. MV; Art. 109 Abs. 4 Verf. Sa; Art. 32 Abs. 5 Verf. SAnh; Art. 40 Verf. Thür. 209 Art. 147 Verf. Bay; Art. 53 Verf. Hess. Auch Art. 3 Abs. 1 Verf. BW dürfte dazugehören, der lediglich eine schlichte statt einer seelischen Erhebung vorsieht: „Die Sonntage und die staatlich anerkannten Feiertage stehen als Tage der Arbeitsruhe und der Erhebung unter Rechtsschutz.“ 210 Art. 47 Verf. RhPf, Art. 41 Verf. Saar fügen die religiöse Erbauung ein, während Art. 25 Abs. 1 Verf. NRW von Gottesverehrung spricht.
1. Kapitel: Aus Verfassungsrecht
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der seelischen Erhebung darstellen. Gleiches gilt für Art. 25 Abs. 1 Verf. NW, der als vierten Zweck des Sonntagsschutzes die körperliche Erholung aufführt. Alle diese Erweiterungen gegenüber dem Grundgesetz sind zulässig, da der ethische und sozialpolitische Schutzzweck des Art. 139 WRV durch Zusätze veranschaulicht wird.211 In allen diesen Fällen gelten die Artikel der Landesverfassungen fort und begründen entsprechend dem Ergebnis für Art. 139 WRV auch subjektive Rechte.212 Lediglich in dem Fall, in dem ein Schutzzweck des Art. 139 WRV weggelassen wurde, stellt dies eine Verkürzung des grundgesetzlichen Sonntagsschutzes dar. Art. 35 Abs. 1 Verf. Berl und Art. 14 Abs. 1 Verf. Bbg unterschlagen die seelische Erhebung und schützen die Sonn- und Feiertage nur als Tage der Arbeitsruhe. In Berlin gilt: „Der Sonntag und die gesetzlichen Feiertage sind als Tage der Arbeitsruhe geschützt.“ Da das Merkmal „seelische Erhebung“ wesentlich für die geistig-spirituelle Dimension des Sonntagsschutzes steht und dem Gesetzgeber aufträgt, spezielle Möglichkeiten zur seelischen Erhebung besonders zu schützen, kann dieser Regelungsgehalt nicht durch das andere Element der Arbeitsruhe aufgewogen werden. Mit Rüfner sind beide Landesartikel daher als verfassungswidrig gem. Art. 31 GG anzusehen.213 Einen Sonderfall stellt schließlich das kleinste Bundesland Bremen dar. Art. 55 S. 3 der Verfassung bestimmt schlicht: „Alle Sonn- und gesetzlichen Feiertage sind arbeitsfrei.“ Da sich diese Norm mangels Gesetzgebungsauftrag und deutlicherer individueller Ausrichtung auf die Arbeitsfreiheit maßgeblich von Art. 139 WRV unterscheidet, handelt es sich hier um eine Norm sui generis. Sie wird nicht durch eine anderslautende Norm des Grundgesetzes gem. Art. 31 GG verdrängt. Dieser Überblick zeigt, daß die zugrundeliegende Einstellung bei der Verfassungsgebung in den Bundesländern unterschiedlich war: Alle gewährleisten zwar Schutz, aber bei einigen tritt der sozialpolitische Gesichtspunkt in den Vordergrund, indem sie die Sonn- und Feiertage ausschließlich als Tage der ___________ 211
Vgl. Campenhausen, in: Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 139 WRV Rnr. 7. Eine Fortgeltung nehmen an: BayVerfGH NJW 1982, S. 2656 (2657); Meder, Verfassung Bayern, 1992, Art. 147 Rnr. 1; Braun, Verfassung Baden-Württemberg, 1984, Art. 3 Rnr. 2. Ein subjektives Recht nimmt Schwan, in: Pfennig / Neumann, Verfassung von Berlin, 1987, Art. 22 Rnr. 3, für den früheren Art. 22 Verf. Berlin (West) an. Dagegen lehnen ein subjektives Recht aus Art. 9 Abs. 1 Verf. MV ab: de Wall, ZevKR 45 (2000), S. 626 (630); ihm folgend Ehlers, in: Sachs, GG, 2003, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 1. Ebenso ablehnend für alle Sonntagsartikel in den Landesverfassungen Westphal, Garantie der Sonn- und Feiertage, 2003, S.169. 213 Kästner, in: HdbStKirchR II, 1995, S. 337 (357). 212
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4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
Arbeitsruhe bezeichnen.214 Die religiöse Bedeutung betonen die Verfassungen, die Regelungen im Abschnitt Religion und Religionsgemeinschaft treffen oder religiöse Erhebung und Gottesverehrung als Schutzzweck aufnehmen.215
2. Kapitel
Aus einfach-gesetzlichen Vorschriften Auf der Ebene des Bundes und der Länder einfach-gesetzlicher Vorschriften können insbesondere die Ladenschlußgesetze, das Arbeitszeitgesetz und die Sonn- und Feiertagsgesetze subjektive Rechte enthalten.
I. Ladenschlußgesetz Im Hinblick auf den Ladenschluß ist nach den potentiellen Anspruchsinhabern zu differenzieren.
1. Arbeitnehmer Seitdem mehrere Länder den Ladenschluß an Werktagen ganz aufgehoben haben, dienen Ladenschlußnormen vor allem mit dem sonntäglichen Ladenschluß dem Arbeitnehmerschutz.216 Den Arbeitnehmern soll möglichst weitgehend ein zusammenhängendes freies Wochenende gewährleistet werden.217 Arbeitnehmer können sich daher auf Normen des Ladenschlußgesetzes stützen, um daraus eine Klagebefugnis i. S. d. § 42 Abs. 2 VwGO oder eine Antragsbefugnis für einen Normenkontrollantrag i. S. d. § 47 Abs. 2 VwGO herzuleiten. Dieses Recht hat die Rechtsprechung für § 3 und § 14 BLadSchlG anerkannt.218 Dies gilt selbst dann, wenn die unmittelbare Betroffenheit des Arbeit___________ 214
Art. 55 Abs. 3 Verf. Brem; Art. 31 Verf. Hess. Art. 147 Verf. Bay; auch Art. 54 Verf. Hess. 216 Vgl. oben 2. Teil, 2. Kapitel II. 1. b) aa). 217 BVerfG NJW 2002, S. 666 (667). 218 BVerwG NJW 1999, S. 1567; OVG Koblenz GewArch 1998, S. 346; OVG Magdeburg NJW 1999, S. 2985; VG Schwerin, NVwZ 2001, S. 708; s. zu Einzelheiten die Rechtsprechungsübersicht bei Tegebauer, GewArch 1999, S. 470 (473) und GewArch 2002, S. 185 (189). Zustimmend Westphal, Garantie der Sonn- und Feiertage, 2003, S. 111. 215
2. Kapitel: Aus einfach-gesetzlichen Vorschriften
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nehmers von der Entscheidung des Arbeitsgebers abhängt, sein Ladengeschäft tatsächlich während der Sonderöffnungszeiten zu öffnen.219 Des weiteren ist nach Auffassung des VGH München kein konkreter Entschluß des Arbeitgebers, den Angestellten während der verlängerten Ladenöffnungszeiten tatsächlich einzusetzen, erforderlich.220 Anders beurteilt dies der VGH Mannheim: Er folgt zwar der übrigen Rechtsprechung und nimmt eine Antragsbefugnis an. Allerdings sei ein Rechtsschutzinteresse gerade dann nicht gegeben, wenn der Arbeitgeber gegenüber den Arbeitnehmern schriftlich erklärt, daß die Mitarbeit zu den verlängerten Öffnungszeiten ausschließlich auf freiwilliger Basis erfolgt und niemand gezwungen werde.221 Dieser Ansatz verkennt jedoch, daß in der Arbeitswelt trotz verbriefter Arbeitnehmerrechte auch sozialer Druck entstehen kann, der faktisch den Entscheidungsspielraum des Arbeitnehmers einschränkt. Dies gilt bei hoher Arbeitslosigkeit um so mehr, da die Angst um den Erhalt des Arbeitsplatzes hinzutritt. Ein Arbeitnehmer dürfte in der Regel schon nicht mehr völlig frei entscheiden, wenn er in die Situation gebracht wird, auf eine Ansprache des Arbeitsgebers, sonntags zu arbeiten, zu reagieren. § 14 soll den Arbeitnehmer vor einer solchen Entscheidungssituation gerade bewahren. Dies hat das OVG Bremen zutreffend erkannt.222 Aus diesen Gründen kann der Auffassung des VGH Mannheim nicht gefolgt werden. Die Regelung des § 14 Abs. 1 BLadSchlG schützt daher das Interesse der Arbeitnehmer unabhängig von seiner konkret geplanten Beschäftigung. Auch für § 14 Abs. 1 S. 2 BLadSchlG a. F., der an Samstagen, denen ein verkaufsoffener Sonntag folgt, die Schließung ab 14.00 Uhr vorschrieb, erkannte das Bundesverwaltungsgericht die individualschützende Wirkung zu Recht an. Arbeitnehmer sollten vor überlangen Arbeitszeiten gerade am Wochenende bewahrt und ihnen ein weitgehend zusammenhängendes Wochenende gewährt werden.223 Schon dem Wortlaut nach schützt weiterhin § 17 BLadSchlG die Interessen der Arbeitnehmer. Diese Vorschrift legt zum einen fest, Arbeitnehmer in Verkaufsstellen an Sonn- und Feiertagen nur während der ausnahmsweise zulässigen Öffnungszeiten und insgesamt weitere 30 Minuten beschäftigen zu dürfen. Zum anderen werden Details zugunsten des Arbeitnehmers wie etwa maximale Beschäftigungszeit, Freizeitausgleich oder eine Höchstzahl von Sonntagen, an denen Arbeitnehmer im Jahr in solchen Verkaufsstellen arbeiten dürfen, geregelt. Daher vermittelt auch § 17 BLadSchlG dem Arbeitnehmer ein subjektives ___________ 219
BVerwGE 108, S. 182 (184). BayVGH, GewArch 2002, S. 87 mit Verweis auf BVerwG GewArch 1999, 168 = BVerwGE 108, S. 182 (184). 221 VGH Mannheim, GewArch 2001, S. 81 (82). 222 OVG Bremen NordÖR 2005, S. 77 (78). 223 BVerwGE 108, 182 (184); Schoch, JZ 2001, S. 406 (407). 220
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4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
Recht. In der Praxis dürfte es aber in erster Linie in zivil- und arbeitsrechtlichen Prozessen relevant werden, wenn ein Arbeitgeber einen Arbeitnehmer über die zulässigen Zeiten hinaus beschäftigt oder sich weigert, den vorgeschriebenen Freizeitausgleich zu gewähren.224
2. Gewerbetreibende und Konkurrentenschutz Ladenschlußregelungen dienen neben dem Arbeitnehmerschutz auch der Wahrung gleicher Wettbewerbsbedingungen und somit der Wettbewerbsneutralität.225 Bei den zahlreichen Ausnahmevorschriften der §§ 4 bis 15 BLadSchlG und der neuen Ladenöffnungsgesetze der Länder kann es zu Konkurrenzsituationen kommen. Strittig ist, ob sich für Inhaber einer Verkaufsstelle ein subjektives Recht auf Einschreiten der Ordnungsbehörde gegenüber Wettbewerbern aus der Norm zum grundsätzlichen Ladenschluß226 ableiten läßt, wenn diese von den Regelungen profitieren, die ihnen ausnahmsweise die Öffnung an Sonntagen oder außerhalb der noch verbliebenen Ladenschlußzeiten an Werktagen ermöglichen. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Frage in seiner Entscheidung zur Stuttgarter Klett-Passage 1982 ebenso wie die meisten Oberverwaltungsgerichte zum Nachteil der Konkurrenten des Gewerbetreibenden entschieden. Sie könnten danach kein subjektives Recht geltend machen.227 Gleiches gelte für Konkurrenten eines Gewerbetreibenden, der von einer Rechtsverordnung profitiert, die aufgrund von § 14 BLadSchlG vier verkaufsoffene Sonntage im Jahr bestimmt: Der Wortlaut des § 14 BLadSchlG biete keinen Hinweis auf eine drittschützende Wirkung zugunsten der Ladeninhaber. Auch soll dem nicht be___________ 224 Stober, Ladenschlußgesetz, 2000, § 17 Rnr. 18, hält fest, daß § 17 BLadSchlG ausschließlich dem Schutz der Arbeitnehmer dient, ohne ausdrücklich den subjektivrechtlichen Gehalt zu erwähnen. Vgl. dort auch zu den möglichen zivilrechtlichen Ansprüchen. 225 Vgl. oben 2. Teil, 2. Kapitel II. 1. b) aa). 226 § 3 BLadSchlG sowie in den Ladenöffnungsgesetzen § 3 Abs. 1 und 2 BW, § 3 Abs. 2 Berl, § 3 Abs. 2 Bbg, § 3 Abs. 2 Hamb, § 3 Abs. 2 Hess, § 3 Abs. 2 MV, § 3 Abs. 2 Nds, § 4 Abs. 1 NRW, § 3 RhPf, § 3 i. V. m. § 7 Saar, § 3 SAnh, § 3 Abs. 2 SH, § 4 Abs. 1 Thür. 227 BVerwGE 65, 167 (171) = NJW 1982, 2513 (2515); vgl. auch OVG Bautzen GewArch 1999, S. 487 (488) für § 8 Abs. 2 a BLadSchlG, VG Neustadt a. d. W., Beschl. v. 26. April 2001, Az. 7 L 635/01.NW, S. 4 (unveröff.), und zu weiteren Fällen, in denen Ladeninhabern ein subjektives Recht aus dem BLadSchlG verweigert wurde, die Übersicht bei Tegebauer, GewArch 1999, S. 470 (473) und GewArch 2002, S. 185 (189); allerdings sind immer noch zivilrechtliche Unterlassungsansprüche etwa aus § 1 UWG zu beachten, wie sie das KG Berlin annahm, vgl. GewArch 2002, S. 207.
2. Kapitel: Aus einfach-gesetzlichen Vorschriften
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rücksichtigten Konkurrenten aus Art. 12 GG zumindest dann kein subjektives Recht zustehen, wenn er nicht in schwerwiegender Weise in seiner beruflichen Betätigungsfreiheit beeinträchtigt ist.228 Dieser verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung entspricht auch die Auffassung des Bundesgerichtshofes, für den das Ladenschlußgesetz keine allgemeine Chancengleichheit im Wettbewerb herstellen soll.229 Allein das OVG Bremen ist von dieser Rechtsprechung abgewichen.230 Aber auch in der Literatur erheben sich in den letzten Jahren immer mehr Stimmen, die aus Ladenschlußregelungen einen wettbewerbsrechtlichen Drittschutz ableiten, sei es nur für die Inhaber von Läden ohne Personal gegenüber solchen mit Personal, sei es für alle Ladeninhaber.231 Gegen einen Konkurrentenschutz spricht, daß Ladenschlußgesetze allein die Verhältnisse zwischen Einzelhändlern und der zuständigen Behörde regeln. Es existieren keine Regelungen, die einen Konfliktausgleich zwischen zwei Gewerbetreibenden ermöglichen oder eine Abwägung unter den kollidierenden Interessen der Ladeninhaber vornehmen.232 Dies dürfte ein Grund dafür sein, warum die Rechtsprechung und ein Teil des Schrifttums keinen Anhaltspunkt im Bundesladenschlußgesetz sehen, der für einen Schutz dritter Verkaufsstelleninhaber spricht.233 Gleiche Chancen im Wettbewerb sollen nur zwischen Geschäften mit und ohne Personal herrschen. Allerdings ist nicht zu verkennen, daß in einzelnen Regelungen des Bundesladenschlußgesetzes auch Belange konkurrierender Ladeninhaber Berücksichtigung gefunden haben. Dies gilt etwa nach den richtigen Ausführungen des OVG Bautzen für § 8 Abs. 2a BLadSchlG.234 Danach werden die Landesregierungen ermächtigt, durch Rechtsverordnung die Ladenöffnungszeiten von Verkaufsstellen in Bahnhöfen in Städten mit mehr als 200.000 Einwohnern für die Deckung des Reisebedarfs an Werktagen bis 22 Uhr zu erweitern. Ausdrücklich hat der Verordnungsgeber nach dem Gesetzestext dabei die Größe der Verkaufsfläche auf das für die Deckung des Reisebedarfs erforderlich Maß zu begrenzen. Gerade diese Begrenzung der Verkaufsflächen nach § 8 Abs. 2a, 2. Halbsatz ___________ 228
OVG Lüneburg, NVwZ-RR 2001, S. 584. BGHZ 66, 159 (163). 230 OVG Bremen, GewArch 2001, S. 472. 231 Vgl. den Überblick bei Wallerath, NJW 2001, S. 781 (783); a. A. Schmitz, NVwZ 2002, S. 822 (824). 232 Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 1992, S. 350 in Fn. 568. 233 So auch Wallerath, NJW 2001, S. 781 (783). 234 OVG Bautzen GewArch 1999, S. 487 (488). 229
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4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
BLadSchlG schützt die Wettbewerbsneutralität. In Städten über 200.000 Einwohner verteilen sich die Nachteile einer Umsatzverlagerung allerdings auf eine größere Anzahl von Geschäften, so daß für den einzelnen Gewerbetreibenden die Umsatzverringerung zumutbar bleibt.235 Daraus leitet das OVG Greifswald zu Recht ab, daß die Ausnahmen vom allgemeinen Ladenschluß möglichst wettbewerbsneutral zu gestalten sind.236 Dies spiegelt sich nicht nur in § 9 Abs. 2, 2. Halbsatz BLadSchlG wieder, der für Flug- und Fährhäfen der gerade behandelten Vorschrift für Bahnhöfe nachgebildet ist, sondern auch in den Ausnahmetatbeständen, die jeweils nur den Verkauf bestimmter Warengruppen erlauben.237 Könnten die von solchen Ausnahmen profitierenden Ladeninhaber auch andere als die dem speziellen Ausnahmezweck entsprechenden Warengruppen verkaufen, würden sie in noch stärkerem Maße von günstigeren Ladenöffnungszeiten profitieren. Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 16. Januar 2002 zum Ladenschluß für Apotheken den Wettbewerbsaspekt betont. Es hat den damaligen § 14 Abs. 4 BLadSchlG für verfassungswidrig erklärt, der es Apotheken verbot, an verkaufsoffenen Sonn- und Feiertagen von den Öffnungszeiten Gebrauch zu machen. Zwar war bei der Entscheidung der Konkurrentenschutz einer Norm des Ladenschlußgesetzes kein entscheidungserheblicher Aspekt. Aber im Rahmen der Prüfung, ob der Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit des Apothekers verhältnismäßig ist, hat das Bundesverfassungsgericht den Wettbewerbsgedanken stark betont: Der Apotheker habe gewichtige Interessen, im Wettbewerb mit anderen Verkaufsstellen seine Kundenorientierung herauszustellen. Leistungsbereitschaft und Kundenorientierung seien wesentliche Werbe- und Marketingstrategien für Apotheker. Weiter betont das Gericht, die Sicherheit der Arbeitsplätze hänge davon ab, daß sich die Apotheke im Wettbewerb mit Verkaufsstellen im unmittelbaren Umfeld und mit benachbarten Apotheken behaupten müsse.238 Der Sache nach kann man aus diesem Urteil ableiten, daß das Recht auf gleiche Wettbewerbschancen, die das Gericht aus Art. 12 GG ableitet,239 bei der Auslegung der Ladenschlußgesetze berücksichtigt werden muß. Da diese Argumente bereits deutlich für einen Konkurrentenschutz in den Ladenschlußgesetzen sprechen, ist der von Schunder befürwortete Rückgriff ___________ 235
OVG Bautzen GewArch 1999, S. 487 (488) mit Verweis auf BT-Drs. 10/4741, S.
24 f. 236
OVG Bautzen GewArch 1999, S. 487 (488). Vgl. nur § 6 Abs. 2, § 8 Abs. 1 Satz 2, § 10 Abs. 1 und § 12 Abs. 1 BLadSchlG. 238 BVerfG NJW 2002, S. 666 (668). 239 Ebenso Rozek, NJW 1999, S. 2921 (2928). Wallerath, NJW 2001, S. 781 (787) leitet das Grundrecht auf gleiche Wettbewerbsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG ab. 237
2. Kapitel: Aus einfach-gesetzlichen Vorschriften
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auf veränderte Umstände nicht erforderlich.240 Aus den dargelegten Gründen folgt aus § 3 BLadSchlG oder der jeweiligen Landesnorm i. V. m. Art. 12 GG ein subjektives Recht eines Ladeninhabers auf eine rechtmäßige Ladenöffnung seines Konkurrenten. Dies umfaßt sowohl die allgemeinen Ladenschlußzeiten nach § 3 BLadSchlG und den Länderregelungen als auch die Rechtmäßigkeit einer ausnahmsweisen Ladenöffnung aufgrund der §§ 4 bis 15 BLadSchlG und der nunmehr in den meisten Ländern geltenden Normen der Ladenöffnungsgesetze. Allerdings ist dem Bundesverwaltungsgericht für § 23 Abs. 1 BLadSchlG zu folgen, wenn es ein subjektives Recht aus dieser Generalklausel ablehnt. Befristete Ausnahmen sind danach möglich, wenn eine Erweiterung der Ladenschlußzeiten im öffentlichen Interesse dringend notwendig ist. Das Merkmal „öffentliches Interesse“ allein beinhaltet keinen Anhaltspunkt, daß damit die Belange der Wettbewerber geschützt werden sollen.241 Ergänzend sei darauf hingewiesen, daß ein Ladeninhaber gegebenenfalls eine zivilrechtliche Klage gegen einen Wettbewerber, der über den Ladenschluß hinaus sein Geschäftslokal öffnet, auf § 13 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 1 UWG stützen kann.242 Materiell-rechtlich ist ein Verstoß gegen das Ladenschlußgesetz dann wettbewerbswidrig gem. § 1 UWG, wenn gegen die Bestimmungen bewußt und planmäßig verstoßen wird und damit ein sachlich nicht gerechtfertigter Wettbewerbsvorsprung erstrebt wird. Solche Normen dürfte das Bundesverfassungsgericht im Blick gehabt haben, als es im Urteil über das Ladenschlußgesetz 2004 auf fachgerichtlichen Rechtsschutz verwiesen hat, wenn ein rechtswidriger Vollzug des Ladenschlußgesetzes konkrete und nachweisbare Wettbewerbsnachteile für nicht privilegierte Betriebe bewirkt.243 Als unproblematisch stellt sich der spezielle Fall dar, daß eine begünstigende Sondergenehmigung zur Sonntagsöffnung zurückgenommen wird. Hier wird eine zunächst geschaffene Rechtsposition eines Ladeninhabers wieder beseitigt. Hier steht dem nicht mehr begünstigten Einzelhändler eine Klagebefugnis zu.244 Der Gewerbetreibende, dem eine beabsichtigte Sonntagsöffnung durch einen konkreten Verwaltungsakt untersagt wird,245 kann ebenfalls ein subjektives ___________ 240 Vgl. Schunder, Ladenschlußgesetz, 1994, S. 129, der den Drittschutz für Konkurrenten ebenfalls bejaht; ebenso Wahl / Schütz, in: Schoch / Schmidt-Aßmann, VwGO, 2004, § 42 Rnr. 320; Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 1990, S. 462; Huber, Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht, 1991, S. 390. 241 BVerwGE 65, 167 (171). 242 Stober, JZ 1996, S. 541 (544); BGH GewArch 1995, S. 384; KG Berlin GewArch 2002, S. 485; vgl. auch KG Berlin GewArch 2002, S. 207. 243 BVerfGE 111, 10 (42). 244 Hufen, JuS 2000, S. 197. Eine solche Konstellation lag dem Fall des OVG Magdeburg NJW 1999, S. 2982, zugrunde. 245 Vgl. zu einem solchen Fall VG Berlin NJW 1999, S. 2988.
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4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
Recht geltend machen. In beiden Fällen folgt die Klagebefugnis aus der „Adressatentheorie“.246
3. Nachbarn von Läden Es sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, daß Ladenschlußgesetze Nachbarn von Verkaufsstellen, die an Sonntagen durch ausnahmsweise geöffnete Geschäfte als Anlieger in ihrer Ruhe gestört werden, schützen wollen. Sie können sich daher nicht auf Ladenschlußregelungen berufen, um gegen solche Lärmimmissionen vorzugehen.
4. Religionsgemeinschaften Soweit sich Literatur und Rechtsprechung überhaupt mit der Frage befassen, wird ein subjektives Recht aus § 3 und § 23 BLadSchlG zugunsten der Kirchen und Religionsgemeinschaften überwiegend abgelehnt. Diese Vorschriften würden nicht dem Schutz kirchlicher oder religiöser Interessen dienen.247 Nur faktisch bewirke das Ladenschlußgesetz einen Religionsschutz, indem es an die teilweise religiös begründeten Sonn- und Feiertagsregelungen anknüpfe. Auch käme dem Schutz der Religion keine eigene Bedeutung bei der Auslegung zu.248 Weiterhin wird auf die Entstehungsgeschichte des Bundesladenschlußgesetzes verwiesen, bei dem religiöse Gesichtspunkte deshalb keine Rolle gespielt hätten, weil die Länder nach Art. 70 GG für den Sonn- und Feiertagsschutz zuständig seien.249 Der Hinweis auf die Gesetzgebungskompetenz der Länder überrascht, da der Bund vor allem im Arbeitszeitgesetz und bis zum 30. Juni 1994 in der Gewerbeordnung Regelungen geschaffen hat, die dem Sonntagsschutz dienen, vgl. insbesondere § 1 ArbZG. Richtig ist zwar, daß der Sonn- und Feiertagsschutz nicht ausdrücklich in den Art. 71 bis 75 GG aufgeführt ist, und damit nach Art. 70 GG den Ländern die Gesetzgebungsbefugnis zukommt. Allerdings hat der Bund bei der Wahrnehmung seiner konkurrierenden Kompetenzen zur Regelung des Rechts der Wirtschaft und damit des Gewerberechts sowie des Arbeitsrechts (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und 12 GG) auch den Verfassungsauftrag des Art. 139 WRV zu berücksichtigen. Wie die bisherige Darstellung gezeigt hat, ___________ 246
Hufen, JuS 2000, S. 197. OVG Greifswald, NVwZ 2000, S. 948 (949). 248 Schunder, Ladenschlußgesetz, 1994, S. 24 f; Stober, JZ 1996, S. 541 (545). 249 Mattner, Sonn- und Feiertagsrecht, 1991, § 6, Rnr. 94; Schunder, Ladenschlußgesetz, 1994, S. 24; Stober, JZ 1996, S. 541 (545). 247
2. Kapitel: Aus einfach-gesetzlichen Vorschriften
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läßt sich Sonntagsschutz gerade nicht nur auf die Sonn- und Feiertagsgesetze der Länder reduzieren. Das kompetenzrechtliche Argument der ablehnenden Meinung überzeugt daher nicht. Richtig ist aber der Hinweis dieser Autoren, daß religiöse Überlegungen soweit ersichtlich bei der Schaffung des Bundesladenschlußgesetzes keine Rolle gespielt haben. So findet sich insbesondere in der jüngsten Ausarbeitung von Rühling zur Entstehung des Ladenschlußgesetzes des Bundes in den 50er Jahren kein Hinweis auf religiöse Aspekte im Diskussionsprozeß des Gesetzgebungsverfahrens.250 Dies könnte zum einen daran liegen, daß gerade Konsens darüber herrschte, die Sonn- und Feiertage grundsätzlich anders zu behandeln als die Werktage. Zum anderen ist zu beachten, daß der sonntägliche Ladenschluß damals schon über 60 Jahre existierte in Gestalt des § 41a GewO und der Gesetzgeber schlicht die Fortgeltung des grundsätzlichen Sonntagsladenschlusses im neuen Gewand des Ladenschlußgesetzes vorsah. Für einen Schutz auch religiöser Aspekte spricht der Gesetzestext selbst: Das Ladenschlußgesetz des Bundes - ebenso wie die Ladenöffnungsgesetze der Länder -251 nimmt an mehreren Stellen ausdrücklich auf die Zeiten des Hauptgottesdienstes Bezug, also auf ein Element der kollektiven Religionsausübung. § 10 Abs. 1 Satz 3 und § 12 Abs. 2 Satz 3 BLadSchlG verlangen vom Verordnungsgeber, bei der ausnahmsweisen Zulassung des Sonntagsverkaufs die Zeit des Hauptgottesdienstes zu berücksichtigen. Noch weiter geht § 14 Abs. 2 Satz 3 BLadSchlG: Falls die Landesregierung oder die von ihr bestimmte Stelle von der Ermächtigung Gebrauch macht, an vier Sonn- und Feiertagen im Jahr die Ladenöffnung zu ermöglichen, sollen die Öffnungszeiten (maximal 5 Stunden) außerhalb der Zeit des Hauptgottesdienstes liegen. Eine weitere ermessenslenkende Vorschrift, die religiöse Aspekte schützt, sieht § 12 Abs. 2 Satz 2 BLadSchlG vor: Eine Ausnahmevorschrift zugunsten des Verkaufs bestimmter Waren an Sonn- und Feiertagen soll eine Offenhaltung der Verkaufsstellen am 2. Weihnachts-, Oster- und Pfingsttag nicht zulassen. Damit werden die zweiten Feiertage dieser christlichen Hochfeste besonders geschützt. Auch die neuen Ladenöffnungsgesetze nehmen in der Regel auf die Belange der Religionsgemeinschaften an bestimmten christlichen Feiertagen ausdrücklich Rücksicht.252 Der besondere Schutz der Hauptgottesdienstzeit und bestimmter Feiertage oder Sonntage läßt sich nur damit erklären, daß diese Vorschriften auch religiösen Belangen dienen.253 ___________ 250
Rühling, Entstehung Ladenschlußgesetz, 2004. In den Ladenöffnungsgesetzen vgl. etwa § 8 Abs. 2 und § 9 Abs. 5 BW, § 7 Abs. 1 Hamb, § 5 Abs. 1 Nds, § 6 Abs. 4 NRW, § 8 Abs. 1 Saar. 252 Vgl. in den Ladenöffnungsgesetzen z. B. § 4 Abs. 3 S. 2 Berl, § 4 Abs. 3 Hess, § 5 Abs. 4 NRW, § 7 Abs. 1 SAnh. 253 So auch Unruh, ZevKR 2007, S. 1 (22). 251
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4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
Insgesamt stellen sich die Regelungen zum Sonntagsladenschlusses und die Ausnahmetatbestände als Umsetzungen des Verfassungsauftrags des Art. 139 WRV an den Gesetzgeber dar, den Sonntagsschutz durch einfache Gesetze auszugestalten.254 Daher sind alle Regelungen zum Ladenschluß an Sonn- und Feiertagen im Lichte des Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV auszulegen.255 Der subjektivrechtliche Gehalt des Art. 139 WRV spricht für einen Schutz der Kirchen und Religionsgemeinschaften durch die Ladenschlußgesetze: Bei der Auslegung der Vorschriften zum Sonntagsladenschluß und den vereinzelt möglichen Ausnahmen ist höherrangiges Verfassungsrecht zu beachten. Daher erscheint es hier nur folgerichtig, nicht nur Art. 139 WRV, sondern auch einzelnen Vorschriften der Ladenschlußgesetze drittschützenden Charakter zugunsten der Religionsgemeinschaften zuzusprechen. Auch de Wall, der selbst ein subjektives Recht aus Art. 139 WRV ablehnt, sieht eine solche Auslegung des Bundesladenschlußgesetzes als konsequent an, wenn man ein subjektives Recht aus der Sonn- und Feiertagsgarantie des Grundgesetzes annimmt.256 Aus diesen Gründen dient das Bundesladenschlußgesetz auch dem Religionsschutz und damit den Interessen der Religionsgemeinschaften.257 Aus folgenden Normen ergeben sich für sie subjektive Rechte: x § 3 S. 1 Nr. 1: Recht auf Einhaltung des grundsätzlichen Ladenschlusses an Sonn- und Feiertagen. x § 10 Abs. 1 S. 3, § 12 Abs. 2 S. 3 und § 14 Abs. 2 S. 3: Anspruch auf Berücksichtigung der Lage der Hauptgottesdienstzeiten und damit auf ermessensfehlerfreie Entscheidung. x § 12 Abs. 2 S. 2: Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung, daß eine Offenhaltung der Verkaufsstellen am 2. Weihnachts-, Oster- und Pfingsttag nicht zugelassen werden soll. x § 23 Abs. 1: Recht auf Berücksichtigung der Belange der Religionsgemeinschaften, wenn im Einzelfall die öffentlichen Interessen gegeneinander abgewogen werden. Bei einem dringenden öffentlichen Interesse ist eine befristete Ausnahme von den Ladenschlußzeiten möglich. Es besteht auch hier ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung. Dies gilt nunmehr auch für entsprechende Regelungen in den Ladenöffnungsgesetzen der Länder. Schließlich ist zu beachten, daß sich die Kirchen an ___________ 254
Vgl. oben 2. Teil 1. Kapitel IV. 4. a). So auch Burger, SächsVBl. 1999, S. 295 (297). 256 De Wall, NVwZ 2000, S. 857 (859); Rozek, SächsVBl 1999, S. 149 (152). 257 Zumindest für einen mittelbaren Religionsschutz Kirste, NJW 2001, S. 790. 255
2. Kapitel: Aus einfach-gesetzlichen Vorschriften
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weltlichen Feiertagen, also dem 1. Mai und dem 3. Oktober, nicht auf die vorgenannten Normen berufen können.
5. Gewerkschaften Gewerkschaften sind durch Normen der Ladenschlußgesetze nicht begünstigt. Zwar schützen Ladenschlußbestimmungen gerade Arbeitnehmerbelange. Allerdings finden sich keine Stellen, die den Gewerkschaften als Interessenvertretung eine besondere Stellung verleihen. Auch aus Art. 9 Abs. 3 GG können sie keine Klagebefugnis ableiten.258 Dies ist auch der Grund, weshalb die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di nicht selbst gegen die Konsequenzen aus dem neuen Berliner Ladenöffnungsgesetz geklagt hat, sondern lediglich die im Januar 2007 von zwei Arbeitnehmern eingereichten Klagen unterstützt.259
II. Arbeitszeitgesetz Das Arbeitszeitgesetz erwähnt wie viele andere neuere Gesetze in § 1 Nr. 2 ArbZG seinen Zweck, der darin besteht, „den Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung der Arbeitnehmer zu schützen.“
Daher überrascht es nicht, daß das Bundesverwaltungsgericht dritt- und damit individualschützende Normen im Arbeitszeitgesetz ausgemacht hat: „Die primäre Schutzrichtung zielt zwar auf die Sonn- und Feiertage als solche, mittelbar dienen diese Regelungen des Arbeitszeitrechts [gemeint sind die im Urteil zuvor genannten Vorschriften über den Sonn- und Feiertagsschutz, der Verf.] aber auch dem Schutz der Arbeitnehmer.“260
Das Gericht stellt damit zutreffend ausdrücklich fest, daß die Bestimmungen des Arbeitszeitgesetzes drittschützende Wirkung zugunsten des Arbeitnehmers haben und dies auch für die Vorschriften über den Sonntagsschutz gilt.261 Diese Rechtsprechung kritisiert Schoch. Er hält die Argumentation des Bundesverwaltungsgerichts nicht für zwingend.262 Ulber sowie Baeck / Deutsch unterstützen dagegen das Bundesverwaltungsgericht.263 ___________ 258 VG Karlsruhe, Beschl. v. 11.09.1998, - 13 K 2931/98 -, zitiert nach Tegebauer, GewArch 1999, S. 470 (473). 259 Vgl. Der Tagesspiegel v. 24. Januar 2007, S.12. 260 BVerwG, DVBl. 2001, S. 567 (568) = JZ 2001, S. 403 (404). 261 BVerwG, DVBl. 2001, S. 567 (568). 262 Schoch, JZ 2001, S. 406 (407).
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4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
Zu beachten ist, daß der zitierte § 1 Nr. 2 ArbZG den Wortlaut des Art. 139 WRV erweitert, indem er ausdrücklich die Arbeitnehmer als Personengruppe aufführt, die das Arbeitszeitgesetz schützen soll. Die besondere Erwähnung dieser abhängig Beschäftigten spricht für die Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts. Außerdem stellt sich § 10 Abs. 1 ArbZG als Konkretisierung des Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV dar,264 der nach der hier vertretenen Auffassung Arbeitnehmern subjektive Rechte verleiht. Diese Ausstrahlungswirkung des Verfassungsrechts legt ebenfalls nahe, eine Klagebefugnis der Arbeitnehmer anzunehmen. Selbst Beschäftigte, die nach ihren Arbeitsverträgen an Sonn- und Feiertagen tätig werden dürfen, haben nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts eine Klagebefugnis für den Fall, daß ihr Arbeitgeber die behördliche Feststellung beantragt, daß eine Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen zulässig sei.265 Ob aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts auch ein Recht des Betriebsrates auf Einhaltung der Bestimmungen des § 10 ArbZG folgt, das er im Wege der Klage geltend machen kann, erscheint zweifelhaft. Ulber nimmt ein solches Recht mit der Begründung an, die Anordnung der Sonn- und Feiertagsarbeit unterliege der Mitbestimmung. Der Bescheid der Behörde über die Zulässigkeit der Sonn- und Feiertagsarbeit könnte Anlaß für eine Änderung bestehender Betriebsvereinbarungen sein.266 Zwar bestimmt § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG in der Tat, daß der Betriebsrat über die Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage mitzubestimmen hat, so daß hierunter auch die Zulassung von Sonntagsarbeit fällt, soweit sie gesetzlich zulässig ist.267 Dieses Mitbestimmungsrecht wird gewahrt, auch wenn die Behörde die Zulässigkeit von Sonntagsbeschäftigung feststellt. Lehnt der Betriebsrat die Sonntagsarbeit ab, so entscheidet nach § 87 Abs. 2 BetrVG die Einigungsstelle. Stimmt der Betriebsrat zu, besteht gar kein Bedürfnis für eine klageweise Durchsetzung, denn seinem Mitbestimmungsrecht wurde Genüge getan. Nur wenn der Arbeitsgeber ohne zustimmendes Votum des Betriebsrates Sonntagsarbeit einseitig anordnen würde, stünde dem Betriebsrat unbestritten ein Anspruch auf Unterlassung der Maßnahme aus dem Betriebsverfassungsgesetz zu und der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten offen.268 Im Fall der behördlichen Feststellung, daß Sonntagsarbeit zulässig ist, ___________ 263
Baeck / Deutsch, Arbeitszeitgesetz, 2004, § 9 Rnr. 5; Ulber, AuR 2000, S. 470
(471). 264
So auch Ulber, AuR 2000, S. 470 (471). BVerwG, JZ 2001, S. 403. Der Antrag führt zu einer Behördenentscheidung nach § 13 Abs. 3 ArbZG. 266 Ulber, AuR 2000, S. 470 (471). 267 Fitting, Betriebsverfassungsgesetz, 2002, § 87 Rnr. 111. 268 Fitting, Betriebsverfassungsgesetz, 2002, § 87 Rnr. 596. 265
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würde sich eine Berechtigung des Betriebsrates aber lediglich als Summe der Individualrechte der Arbeitnehmer darstellen und nicht als Verletzung der Mitbestimmungsrechte. Deshalb ist eine Klagebefugnis des Betriebsrates gegen einen solchen Bescheid abzulehnen.269 Auf folgende Regelungen des Arbeitszeitgesetzes können Arbeitnehmer im Ergebnis ein subjektives Recht und damit eine Klagebefugnis stützen: x § 9 Abs. 1 ArbZG, der bestimmt, daß Arbeitnehmer an Sonn- und Feiertagen von 0 bis 24 Uhr nicht beschäftigt werden dürfen, x § 10 ArbZG, der die Voraussetzung regelt, unter denen Sonn- und Feiertagsarbeit ausnahmsweise zulässig ist, x § 11 ArbZG, der Ersatzruhetage bei Sonn- und Feiertagsarbeit anordnet.
III. Sonn- und Feiertagsgesetze der Länder Als weitere einfach-gesetzliche Quelle subjektiver Rechte kommen die Ländergesetze zum Schutz der Sonn- und Feiertage in Betracht. Zu denken ist etwa an Vorschriften, die eine bestimmte Ruhe verlangen und damit Lärmimmissionen unterbinden sollen. Aufgrund der weitgehenden Übereinstimmung der 16 Gesetze werden die inhaltsgleichen Normen im folgenden synoptisch zusammengefaßt und auf ihren subjektiv-rechtlichen Gehalt hin untersucht. Außen vor bleiben bei der näheren Betrachtung besondere Rechte für Arbeitnehmer, Auszubildende, Schüler und Lehrer, denen an bestimmten rein kirchlichen Feiertagen der Besuch des Gottesdienstes zu ermöglichen ist oder an denen sie von der Arbeit oder vom Unterricht befreit sind. In der Regel handelt es sich um „privatrechtsgestaltende Schutzvorschriften“,270 nur im schulischen Bereich dürften subjektive öffentliche Rechte der Schüler und der im Beamtenverhältnis stehenden Lehrer vorliegen.271
1. Arbeits- und Handlungsverbote zum Schutz der äußeren Ruhe Fast alle Sonn- und Feiertagsgesetze verbieten öffentlich bemerkbare Arbeiten, Tätigkeiten oder Handlungen, die geeignet sind, die äußere Ruhe des Tages ___________ 269
So auch Baeck / Deutsch, Arbeitszeitgesetz, 2004, § 9 Rnr. 5. OVG Münster NJW 1987, S. 2603. 271 Vgl. etwa die Regelungen in § 8 Abs. 2 FTG NRW (Arbeitgeberverpflichtung), § 9 Abs. 3 FTG RhPf (Recht zum Fernbleiben an jüdischen Feiertagen) sowie § 9 Abs. 2 FTG RhPf, § 7 Abs. 3 FTG SchHol (Antragserfordernis am Buß- und Bettag). Die Unterrichtsbefreiung wird in der Regel auf Antrag genehmigt. 270
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4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
zu beeinträchtigen oder die dem Wesen des Sonn- und Feiertags widersprechen.272 Bei diesen allgemein gehaltenen Verboten ist aus der Norm keine Person ersichtlich, zu deren Gunsten der Schutz erfolgt. Es sind weder ein spezifischer Schutzzweck noch eine räumliche Einschränkung mit Bezug zu einer bestimmten Personengruppe, etwa Nachbarn, auszumachen. Somit fehlt jeder Anknüpfungspunkt, der einem Dritten eine besondere Rechtsstellung dann einräumt, wenn er durch rechtswidrige Sonntagsarbeit in seiner Ruhe gestört wird. Auch eine verfassungskonforme Auslegung, die aufgrund des subjektiv-rechtlichen Gehalts des Art. 140 GG i. V. m. Art.139 WRV einen drittschützenden Charakter des einfachen Landesrechts begründen könnte, führt zu keinem anderen Ergebnis: In den allgemeinen Arbeitsverboten der Ländergesetze fehlt gerade - im Gegensatz zu Art. 139 WRV - der Hinweis auf den Zweck des Schutzes, nämlich die Arbeitsruhe und die seelische Erhebung. Mangels Individualisierbarkeit enthält eine solche Norm des einfachen Rechts also kein subjektives Recht. In der Regel schließen sich an die generellen Verbotsnormen Tatbestände an, die bestimmen, welche Tätigkeiten ausnahmsweise erlaubt sind: etwa Dienste von Hilfseinrichtungen, Post-, Telekommunikations- oder Versorgungsbetrieben oder solche unaufschiebbare Handlungen, die zur Abwendung von Schäden an Gesundheit und Eigentum oder zur Befriedigung von häuslichen oder landwirtschaftlichen Bedürfnissen erforderlich sind.273 Diesen einfachgesetzlichen Ausnahmeregelungen fehlt es ebenfalls an einer drittschützenden Dimension, da sie nicht auf potentiell Berechtigte hinweisen. Zu diesem Ergebnis kommen auch zu Recht mehrere Oberverwaltungsgerichte, die den Arbeits- und Handlungsverboten den drittschützenden Charakter abgesprochen haben. Der VGH Mannheim hat dies für die allgemeine Verbotsklausel der bemerkbaren Arbeiten und ihre Ausnahmen in § 6 FTG BW festgestellt.274 Das OVG Münster und das OVG Lüneburg haben eine individualschützende Drittwirkung des allgemeinen Arbeitsverbots in § 3 S. 1 FTG NW und § 5 Abs. 1 FTG SH in der Fassung von 1981 ebenfalls verneint.275 Es ist ___________ 272
Vgl. etwa § 6 Abs. 1 FTG BW, Art. 2 Abs. 1 FTG Bay; § 3 FTG NRW; § 3 Abs. 2 FTG SH und § 4 Abs. 2 FTG Thür. 273 Vgl. beispielsweise § 4 FTG Bbg, § 6 Abs. 3 FTG BW, § 4 FTG NRW und § 5 SFG Saar. 274 Nur im Hinblick auf § 6 FTG BW kann dem VGH Mannheim, NVwZ 199, S. 180, gefolgt werden. Seine Ablehnung eines subjektiven Rechts aus Art. 139 WRV und der gleichlautenden Regelung der baden-württembergischen Verfassung wird hier nicht geteilt, vgl. oben Fn. 209, da für Verfassungsnormen das Erfordernis eines beschränkten Kreises an Berechtigten nach der hier vertretenen Ansicht nicht gilt. 275 OVG Münster NJW 1987, S. 2603; OVG Lüneburg NJW 1990, S. 1685. Das neue Sonn- und Feiertagsgesetz Schleswig-Holsteins ist am 29. Juni 2004 in Kraft getreten,
2. Kapitel: Aus einfach-gesetzlichen Vorschriften
357
kein Gericht ersichtlich, das bislang eine gegenteilige Entscheidung getroffen hat. Daher steht insbesondere Personen, die gegen eine sie störende Tätigkeit auf dem Nachbargrundstück an Sonntagen vorgehen wollen, kein Anspruch auf Einhaltung der Normen der Sonn- und Feiertagsgesetze zu.276
2. Schutz der Gottesdienste In allen Sonn- und Feiertagsgesetzen genießt die Zeit des (Haupt-) Gottesdienstes besonderen Schutz, der in der Regel zweifach ausgestaltet ist. Dieser Schutz erfolgt zum einen durch einen allgemeinen Tatbestand: Er untersagt alle Veranstaltungen in der Nähe von religiösen Zwecken dienenden Gebäuden und Örtlichkeiten, die einen Gottesdienst (unmittelbar) stören.277 Hinzu kommen zum anderen spezielle Regelungen, die Versammlungen, Vergnügungen und Sportveranstaltungen an den stillen Feiertagen oder während des Hauptgottesdienstes verbieten, also nach der jeweiligen gesetzlichen Festlegung während des Zeitraumes zwischen 6 Uhr und 11 Uhr 30.278 Durch die spezifische Bezugnahme auf den Hauptgottesdienst wird der Schutzzweck gegenüber den zuvor abgehandelten allgemeinen Arbeits- und Handlungsverboten konkretisiert. Die Möglichkeit zur seelischen Erhebung liegt der Regelung zugrunde. Der Kreis der Begünstigen ist daher individualisierbar: Zu nennen sind die Teilnehmer am Hauptgottesdienst sowie die Religionsgemeinschaft, die den Gottesdienst veranstaltet, als juristische Person. Geschützt werden gerade nicht allgemeine Interessen an äußerer Ruhe, sondern spezifische religiöse Kulthandlungen an Sonntagen als typisches Verhalten von Menschen, sich seelisch zu erheben. Solche Vorschriften enthalten daher ein subjektives Recht der veranstaltenden Religionsgemeinschaft sowie der daran teilnehmenden Personen.279 In allgemeiner Form teilen von Campenhausen, Pirson und Morlok diese Auffassung. Letzterer führt etwa aus, daß Religions___________ GVBl. 2004, S. 213. Das vorherige Sonn- und Feiertagsgesetz von 1953 war vor der Entscheidung des OVG Lüneburg zuletzt 1981 geändert worden. 276 So auch Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 1992, S.350. 277 Vgl. zum Beispiel § 7 Abs. 1 FTG BW, § 6 Abs. 1 SFG Saar und § 5 FTG Thür. 278 Vgl. etwa § 5 Abs. 1 FTG NRW, § 8 Abs. 1 SFG Saar, § 5 FTG SH, § 5 Abs. 1 FTG RhPf, § 6 i. V. m. § 10 FTG Thür an den stillen Feiertagen. 279 A.A. VG Neustadt a. d. W., Beschl. v. 26. April 2001, Az. 7 L 635/01.NW, S. 8 (unveröff.), das Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV i. V. m. § 3 FTG RhPf, der während der Hauptgottesdienstzeit bestimmte Verhaltensverbote statuiert, keinen subjektivrechtlichen Gehalt zuschreibt.
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4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
gemeinschaften ein subjektives Recht darauf haben, die Einhaltung solcher Vorschriften zu fordern, die speziell ihren Belangen dienen.280
IV. Staatskirchenverträge und Konkordate Ein subjektives Recht auf Einhaltung des Sonn- und Feiertagsschutzes ergibt sich auch aus Verträgen zwischen Staat und Kirche. Solche Staatskirchenverträge und Konkordate haben in erster Linie die Länder mit den christlichen Kirchen in Deutschland geschlossen, da sie innerstaatlich für das Verhältnis zu den Kirchen zuständig sind. Verträge des Bundes, wie etwa der Vertrag zwischen der Bundesrepublik und dem Zentralrat der Juden über eine jährliche finanzielle Unterstützung, bilden die Ausnahme.281 Allerdings bindet nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1957 auch das Reichskonkordat, welches das Deutsche Reich 1933 mit dem Heiligen Stuhl geschlossen hatte, weiterhin die Bundesrepublik, also Bund und Länder.282 Die ersten wichtigen staatskirchenrechtlichen Verträge und Konkordate des letzten Jahrhunderts wurden vor allem in den 20er und 30er Jahren geschlossen, nachdem die Weimarer Reichsverfassung das Verhältnis Staat-Kirche grundlegend neu geordnet hatte. Hervorzuheben sind das preußische Konkordat von 1929 sowie das Reichskonkordat von 1933, deren Fortgeltung im Beitrittsgebiet nach 1990 eine intensive wissenschaftliche Diskussion auslöste.283 In jüngerer Zeit haben insbesondere die fünf wiedergegründeten Länder, die 1990 der Bundesrepublik beitraten, Verträge mit den christlichen Kirchen und Landesverbänden der jüdischen Gemeinden geschlossen.284 Diese Vereinbarungen sind Ausdruck des Koordinationsprinzips, das die Beziehungen zwischen Kirche und Staat zu einem Teil bestimmt. Der andere Teil wird vom Subordinationsprinzip geprägt.285
___________ 280 Campenhausen, in: von Mangoldt / Klein, GG, 2005, Art. 139 WRV Rnr. 38; Pirson, in: Evangelisches Staatslexikon II, 1987, Sp. 3150 (3153); Morlok / Heinig, NVwZ 2001, S. 846 (850). 281 Vgl. zu diesem Vertrag das Vertragsgesetz BGBl. 2003 I, S. 1597. 282 BVerfGE 6, 309 (340). Das Bundesverfassungsgericht stützte sein Urteil u. a. auf die richtige Erwägung, daß das Deutsche Reich 1945 nicht untergegangen und damit der Vertragspartner des Heiligen Stuhls nicht weggefallen ist. 283 Vgl. zu Einzelheiten Fuchs, Staatskirchenrecht der neuen Bundesländer, 1999, S. 14 ff. 284 Vgl. zur Übersicht der Verträge Anke, Staats-Kirche-Verhältnis in den neuen Ländern, 2000, S. 21. 285 Vgl. zu diesen beiden Strukturprinzipien des Staatskirchenrechts im Einzelnen Heckel, in: Gesammelte Schriften, 1989, S. 917 (940 ff).
2. Kapitel: Aus einfach-gesetzlichen Vorschriften
359
1. Unus pro multis: Mecklenburg-Vorpommern Exemplarisch für die derzeit geltenden staatskirchenrechtlichen Verträge seien hier die beiden herausgegriffen, die Mecklenburg-Vorpommern nach Herstellung der Deutschen Einheit mit dem Heiligen Stuhl und den evangelischen Kirchen geschlossen hat. Beide Verträge sind gerade beim Sonntagsladenschluß relevant geworden, da das OVG Greifswald aus ihnen eine subjektive Berechtigung abgeleitet hat, eine Vertragsbestimmung über den Sonn- und Feiertagsschutz einzuhalten.286 Der Vertrag zwischen dem Land Mecklenburg-Vorpommern und der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs und der Pommerschen Evangelischen Landeskirche vom 20. Januar 1994 (im folgenden StVevK) ist nach der Zustimmung durch das Landesparlament in Schwerin am 22. April 1994 in Kraft getreten.287 Art. 23 StVevK gewährleistet „den staatliche Schutz der Sonntage und der kirchlichen Feiertage.“ Diese Regelung hat aufgrund des Zustimmungsgesetzes des Landtags den Rang eines formellen Landesgesetzes.288 Art. 7 des Vertrages des Landes mit dem Heiligen Stuhl enthält ebenso einen Sonntagsartikel.289 Die Begründung zum Vertragsgesetz führt zum Inhalt des Art. 23 StVevK aus, daß dieser dem Schutzgehalt des Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV entspreche.290 Diese Erläuterung sieht Korioth als Argument gegen die Annahme eines subjektiven Rechts aus der Vertragsbestimmung an. Die Kirchenverträge sollten lediglich der Absicherung und Perpetuierung des Sonntagsschutzes dienen, wie ihn Art. 139 WRV vorsehe. Da Korioth einen subjektiv-rechtlichen Gehalt des Art. 139 WRV ablehnt, fehlt nach seiner Auffassung auch den Sonn- und Feiertagsregelungen in den Kirchenverträgen MecklenburgVorpommerns der subjektive Gehalt.291 Diese Auffassung kann nicht überzeugen. Auch wenn in der Vertragsbegründung festgehalten ist, daß die vertragliche Festschreibung keine Abweichung von Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV darstelle, sprechen mehrere Argumente gegen eine völlig identische Übernahme der Verfassungsregelung in die entsprechende Vertragsbestimmung:
___________ 286
OVG Greifswald, NVwZ 2000, S. 948. GVBl. MV 1994, S. 559, s. zum Vertrag mit dem Hl. Stuhl GVBl. 1998, S. 2. 288 De Wall, NVwZ 2000, S. 857 (860). 289 Aufgrund des gleichen Regelungsgehalts wird im folgenden nur auf Art. 23 StVevK eingegangen. 290 De Wall, NVwZ 2000, S. 857 (860). 291 Korioth, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 19. 287
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4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
1. Der Wortlaut des Art. 23 StVevK weicht von Art. 139 WRV und Art. 9 Abs. 1 Verf. MV deutlich ab, indem er die Schutzzwecke (Arbeitsruhe und seelische Erhebung) nicht ausdrücklich nennt und von „kirchlichen“ statt „staatlich anerkannten Feiertagen“ die Rede ist. Die durch den Staatskirchenvertrag erfaßten Feiertage bedürfen also nicht der staatlichen Anerkennung. Die Wendung „kirchliche Feiertage“ knüpft der Sache nach an § 7 FTG MV an, der diese Kategorie von Feiertagen regelt. Zudem sind die weltlichen Feiertage, die Art. 139 WRV auch erfaßt, kein Regelungsgegenstand des Art. 23 StVevK. 2. Bei der Auslegung des Zustimmungsgesetzes ist zu berücksichtigen, daß es sich auf eine vertragliche Regelung bezieht. Das Zustimmungsgesetz kann nicht alleinige Auslegungsmaxime des Vertrages sein, nur weil damit Deutungen und möglicherweise auch Motive einer Vertragspartei die Gestalt eines Gesetzes angenommen haben. 3. Selbst wenn man - entgegen der hier vertretenen Auffassung - Art. 139 WRV keinen subjektiv-rechtlichen Gehalt zuschreibt, steht es dem Gesetzgeber offen, unterhalb des Verfassungsrechts subjektive Rechte auf Einhaltung des Sonntagsschutzes zu gewähren oder sie in Verträgen zu begründen. Die Forderung Korioths, daß alle Erweiterungen des objektiven Gehalts des Art. 139 WRV einer ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Grundlage bedürften,292 kann nicht überzeugen. Der Verfassungsgeber hat die Ausgestaltung des Sonnund Feiertagsschutzes dem Gesetzgeber übertragen, wobei dieser die verfassungsrechtliche Wertung zu beachten hat. Warum aber gerade die objektivrechtliche und die Negierung einer subjektiv-rechtlichen Dimension zum unveränderlichen, auch der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers entzogenen Kernbestand des Art. 139 WRV gehören soll, ist nicht ersichtlich. Unabhängig davon, daß hier ein subjektiv-rechtlicher Gehalt des Art. 139 WRV angenommen wird, ist bei der vertraglichen Zusicherung des Sonn- und Feiertagsschutzes zwischen zwei juristischen Personen erst recht ein subjektives Recht anzunehmen. Hier muß man den Bindungswillen der Vertragsparteien beachten. Als freie Vereinbarung unterliegt der staatskirchenrechtliche Vertrag anderen Auslegungsregeln als ein Gesetz: Während es bei Gesetzen auf den objektivierten Willen des Gesetzgebers ankommt, ist bei Verträgen der tatsächliche Wille der Parteien maßgebend.293 Der Gesetzgeber hat durch sein Zustimmungsgesetz zum Ausdruck gebracht, gegenüber dem Vertragspartner an die Vorschriften des Staatskirchenvertrages gebunden zu sein. Es ist typisch für vertragliche Regelungen, daß sich beide Seiten zu einem Tun, Dulden oder Unterlassen verpflichten. Daher ist bei Ver___________ 292 293
(949).
Korioth, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 19. De Wall, ZevKR 45 (2000), S. 626 (629); OVG Greifswald, NVwZ 2000, S. 948
2. Kapitel: Aus einfach-gesetzlichen Vorschriften
361
trägen als Regel anzunehmen, daß die Bindungen im Vertrag auch einklagbar sein sollen.294 Der Ausschluß der Einklagbarkeit bedarf eines besonderen Anhaltspunktes oder einer besonderen Begründung.295 Dies gilt auch für den vorliegenden Staatskirchenvertrag als eine spezielle Art von Verträgen zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts. Der Wortlaut des Art. 23 StVevK wie die Entstehungsgeschichte liefern keine Hinweise, warum hier von einer Durchsetzbarkeit abgesehen werden sollte.296 Im Gegenteil: Die Entstehungsgeschichte liefert gerade ein Argument für die subjektiv-rechtliche Dimension des Art. 23 StVevK. Wie das OVG Greifswald zu Recht ausführt, waren in der DDR die Beziehungen zwischen Kirche und Staat rechtlich nicht geordnet. Daher sollte der Staatskirchenvertrag das Verhältnis zwischen Staat und Kirche nach der Revolution von 1989 rechtsklar und rechtssicher in Form eines Vertrages festschreiben.297 Aus diesen Gründen ist mit de Wall und dem ihm folgenden OVG Greifswald sowie mit Ehlers, Unruh und Westphal ein subjektives Recht der evangelischen Kirchen aus Art. 23 StVevK auf Einhaltung des Sonn- und Feiertagsschutzes anzunehmen. Gleiches gilt für Art. 7 des Vertrages des Landes Mecklenburg-Vorpommern mit dem Heiligen Stuhl. Diese Rechte können im Verwaltungsgerichtsverfahren geltend gemacht werden und vermitteln im Streitfall - wie im Verfahren vor dem OVG Greifswald geschehen - eine Klagebefugnis im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO.298 Tauglicher Klagegegenstand ist im Rahmen einer Anfechtungsklage etwa eine auf § 23 BLadSchlG oder auf eine entsprechende Norm der Ladenöffnungsgesetze der Länder gestützte Allgemeinverfügung, mit der die zuständige Behörde Ausnahmen vom Sonntagsladenschluß regelt. In räumlicher Hinsicht muß allerdings folgendes beachtet werden: Die aufschiebende Wirkung einer Klage gegen eine Allgemeinverfügung wirkt nur zugunsten der Kirchengemeinden, soweit ihr Gemeindegebiet davon betroffen ist.
___________ 294
De Wall, NVwZ 2000, S. 857 (861); Ehlers, in: FS Maurer, 2001, S. 333 (339 f). OVG Greifswald, NVwZ 2000, S. 948 (949). 296 Vgl. zu weiteren Einzelheiten de Wall, NVwZ 2000, S. 857 (861), der auch zu diesem Ergebnis kommt. 297 De Wall, NVwZ 2000, S. 857 (861) und ihm folgend OVG Greifswald, NVwZ 2000, S. 948 (949) jeweils mit weiteren Einzelheiten. 298 De Wall, NVwZ 2000, S. 857 (861); Ehlers, in: Sachs, GG, 2003, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 1; ders., in: FS Maurer, 2001, S. 333 (340); Unruh, ZevKR 2007, S. 1 (20); OVG Greifswald, NVwZ 2000, S. 948 (949); Westphal, Garantie der Sonn- und Feiertage, 2003, S. 191. 295
362
4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
2. Überblick über die sonstigen Staatskirchenverträge Folgende Staatskirchenverträge enthalten sehr ähnliche Regelungen und gewährleisten jeweils den Schutz der Sonntage und der kirchlichen Feiertage: 1. Verträge der evangelischen Kirchen mit x Berlin, Art. 21, x Brandenburg, Art. 18, x Sachsen, Art. 21, x Sachsen-Anhalt, Art. 19, und x Thüringen, Art. 20.299 2. Verträge des Heiligen Stuhls mit x Sachsen, Art. 8, x Sachsen-Anhalt, Art. 3, x Thüringen, Art. 3, sowie
x Niedersachsen, Art. 1 Abs. 2.300 ___________ 299
Die Bestimmungen lauten in den Verträgen der evangelischen Kirchen mit 1. Berlin, Art. 21: „Der Schutz der Sonntage und kirchlichen Feiertage wird gewährleistet“, vgl. Abgeordnetenhaus Berlin Drs. 15/4764, S. 14. Die Ratifikationsurkunden wurden am 18. April 2007 ausgetauscht, vgl. Der Tagesspiegel v. 19. April 2007, S. 12; 2. Brandenburg, Art. 18: „Der Schutz der Sonntage und der gesetzlich anerkannten Feiertage wird gewährleistet“, vgl. GVBl. I 1997, S. 4; 3. Sachsen, Art. 21: „Der Schutz des Sonntags und der kirchlichen Feiertage wird gewährleistet“, vgl. GVBl. 1994, S. 1252; 4. Sachsen-Anhalt, Art. 19: „Der Schutz der Sonntage und der kirchlichen Feiertage wird gewährleistet“, vgl. GVBl. 1994, S. 172; 5. Thüringen, Art. 20: „Der Schutz der Sonntage und der staatlich anerkannten kirchlichen Feiertage wird gewährleistet“, vgl. GVBl. 1994, S. 509. Zu Einzelheiten dieser Bestimmungen und der Verträge mit der katholischen Kirche vgl. Anke, Staats-KircheVerhältnis in den neuen Ländern, 2000, S. 87 ff. 300 Die Bestimmungen lauten in den Verträgen des Heiligen Stuhls mit 1. Sachsen, Art. 8: „Der Schutz des Sonntags und der kirchlichen Feiertage wird gewährleistet“, vgl. GVBl. 1997, S. 17; 2. Sachsen-Anhalt, Art. 3: „Der Schutz der Sonntage und der kirchlichen Feiertage wird gewährleistet“, vgl. GVBl. 1998, S. 160; 3. Thüringen, Art. 3: „Der Schutz der Sonntage und der staatlich anerkannten kirchlichen Feiertage wird gewährleistet“, vgl. GVBl. 1997, S. 266; 4. Niedersachsen, Art. 1 Abs. 2: „Der Schutz der Sonntage und der kirchlichen Feiertage bleibt gewährleistet“, vgl. GVBl. 1965, S. 192.
2. Kapitel: Aus einfach-gesetzlichen Vorschriften
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Die Abweichungen zwischen den einzelnen Sonntagsbestimmungen sind nur marginal. Während in fast allen Verträgen ausdrücklich die kirchlichen Feiertage explizit als Schutzobjekte genannt werden, spricht nur der Vertrag des Landes Brandenburg mit der evangelischen Kirche von den gesetzlich anerkannten Feiertagen. Bei letzterem dürften trotz der offenen Formulierung aufgrund der vertraglichen Beziehung mit einer Kirche nur die religiösen und nicht die weltlichen Feiertage Vertragsgegenstand sein. Aufgrund der inhaltlich bis auf Einzelheiten übereinstimmenden Vertragsbestimmungen und des Mangels an entgegenstehenden Hinweisen spricht alles dafür, daß den evangelischen Kirchen und der katholischen Kirche aus diesen Regelungen ebenfalls ein subjektives Recht zusteht. Es ist insbesondere auf die Einhaltung der Bestimmungen zum Ladenschluß an Sonn- und Feiertagen gerichtet. Die älteren, in der Zeit vor und einige Jahre nach 1949 geschlossenen Kirchenverträge enthalten keine Regelungen zum Sonn- und Feiertagsschutz. Korioth sieht zutreffend den Grund darin, daß die Kirchen damals keine Befürchtung um die Einhaltung des Sonntags haben mußten, ganz im Gegenteil zu den letzten Jahrzehnten.301 Das Reichskonkordat von 1933 enthält in Art. 31 Abs. 4 lediglich eine Klausel, nach der es Mitgliedern von staatlich betreuten Sport- und Jugendorganisationen an Sonn- und Feiertagen ermöglicht wird, ihren kirchlichen Verpflichtungen nachzukommen.302 Daraus läßt sich kein allgemeines subjektives Recht in Bezug auf Einhaltung des Sonntagsschutzes und insbesondere der Ladenschlußgesetze des Bundes und der Länder ableiten. Die Sonderfrage, ob es sich bei den mit dem Heiligen Stuhl geschlossenen Verträgen um völkerrechtliche Übereinkünfte handelt, kann daher hier zurückstehen und bedarf keiner näheren Untersuchung.303
IV. Ergebnis Festzuhalten bleibt als Ergebnis, daß sich vor Gericht 1. alle natürlichen Personen auf die Garantien des Sonn- und Feiertagsschutzes in Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV und in den Länderverfassungen, 2. Arbeitnehmer auf einzelne Regelungen des Arbeitszeitgesetzes, insbesondere § 9, § 10 und § 11 ArbZG, und Normen der Ladenschlußgesetze, worunter ___________ 301
Korioth, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 18. RGBl. 1933 II, S. 679; vgl. Kästner, in: HdbStKirchR II, 1995, S. 337 (357). 303 Zur völkerrechtlichen Qualität des Reichskonkordats vgl. BVerfGE 6, 309 (320 f); s. im übrigen Ehlers, in: Sachs, GG, 2003, Art. 140 Rnr. 6. 302
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4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz
etwa § 3 S. 1, § 10, § 14 und § 17 BLadSchlG oder entsprechende Regelungen der Ladenöffnungsgesetze der Länder fallen, 3. Angehörige einer Religionsgemeinschaft auf die Vorschriften der Sonn- und Feiertagsgesetze, welche die Zeit des Hauptgottesdienstes schützen, 4. Ladeninhaber im Rahmen des Konkurrentenschutzes auf Bestimmungen der Ladenschlußgesetze (Norm des allgemeinen Ladenschlusses i. V. m. Art. 12 GG) sowie 5. Kirchen und Religionsgemeinschaften auf die Garantien des Sonn- und Feiertagsschutzes in Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV und in den Länderverfassungen, auf Regelungen der Ladenschlußgesetze (z. B. § 3 S. 1, § 10 Abs. 1 S. 3, § 12 Abs. 2 S. 2 und 3, § 14 Abs. 2 S. 3 und § 23 BLadSchlG), auf Vorschriften der Sonn- und Feiertagsgesetze der Länder, welche die Zeit des Hauptgottesdienstes schützen, und auf Vereinbarungen in Staatskirchenverträgen, berufen können.
5. Teil
Europarecht Das vorliegende Thema weist mehrere Bezüge zum Europarecht auf: Es geht um die Frage, ob nationale Regelungen zum Ladenschluß an Sonntagen mit den Grundfreiheiten vereinbar sind und ob sich die EG-Arbeitszeitrichtlinie1 auf die Beschäftigung von Verkaufspersonal an Sonn- und Feiertagen auswirkt. Schließlich sind Folgen eines Vertrages zur Änderung des EG- und des EUVertrages von Interesse, dessen Ausarbeitung in einer Regierungskonferenz der Europäische Rat im Juni 2007 beschlossen hat.
1. Kapitel
Vereinbarkeit des Sonntagsladenschlusses mit dem EG-Vertrag Ladenschlußregelungen sind in erster Linie an der Warenverkehrsfreiheit nach Art. 28 EGV aber auch an der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit sowie am EG-Wettbewerbsrecht zu messen. Im Ergebnis sind die deutschen Ladenschlußbestimmungen europarechtskonform.
I. Warenverkehrsfreiheit Beim Verkauf von Waren in Ladengeschäften könnte man an eine Dienstleistung denken, wenn man die Tätigkeit der Abgabe in den Vordergrund stellt. Zur Abgrenzung der Warenverkehrs- von der Dienstleistungsfreiheit ist auf den Schwerpunkt des fraglichen Sachverhalts abzustellen. Wenn Waren an Kunden verkauft werden, liegt der Schwerpunkt beim Inverkehrbringen des Produkts, so daß Art. 28 EGV2 einschlägig ist. ___________ 1 EG meint hier die Europäische Gemeinschaft im Sinne des EG-Vertrages. Dies erfaßt den Bereich der sog. ersten Säule. Soweit es auf die zweite und dritte Säule (EUVertrag) oder säulenübergreifende Fragen ankommt, wird der Begriff EU verwendet. 2 Bis zum Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages am 1. Mai 1999 Art. 30 EGV. Die folgenden Darstellungen legen EU- und EG-Vertrag in der Fassung des NizzaVertrages sowie der nachfolgenden beiden Beitrittsverträge zugrunde.
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5. Teil: Europarecht
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte in den 80er und 90er Jahren mehrfach zu entscheiden, ob nationale Regelungen zum Ladenschluß an Sonntagen mit dem Europarecht vereinbar sind. Er hat dies stets bejaht, auch wenn er zwei unterschiedliche Argumentationsmuster wählte. Eine Zäsur in der jeweiligen Urteilsbegründung des EuGH stellt das Keck-Urteil vom 23. November 1993 dar.3 Das Keck-Urteil betrifft den Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit und wird hier daher zunächst behandelt. Dagegen betraf die Sonntagsrechtsprechung des EuGH vor 1993 die Rechtfertigungs- und Verhältnismäßigkeitsebene, so daß sich ihre Darstellung anschließt.
1. Anwendungsbereich - Beurteilung seit dem Keck-Urteil Da Ladenschlußzeiten offensichtlich keine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung bewirken, könnten sie nur als Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen gegen Art. 28 EGV verstoßen.
a) Anforderungen des Keck-Urteils Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH ist gemäß der im Dassonville - Urteil entwickelten Formel jede Regelung, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, als Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung anzusehen.4 Im Fall Keck hat der EuGH seine Rechtsprechung konkretisiert, erneuert und den Anwendungsbereich des Art. 28 EGV im Wege einer teleologischen Reduktion eingeschränkt: Danach ist die Anwendung solcher Bestimmungen der Mitgliedstaaten, die Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten nicht geeignet, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten im Sinne der Dassonville-Rechtsprechung zu behindern. Ausgenommen sind aber nur solche Bestimmungen, die 1. für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit in dem betroffenen Mitgliedstaat ausüben, und 2. den Absatz in- und ausländischer Erzeugnisse rechtlich wie tatsächlich in gleicher Weise berühren. Zur Konkretisierung der zweiten Voraussetzung kann man nach richtiger Auffassung des Generalanwalts van Gerven zwei Aussagen des EuGH im ___________ 3 4
EuGHE 1993, I-6126 = EuZW 1993, S. 770 = NJW 1994, S. 121 - Keck. EuGH, Slg. 1974, 837 = NJW 1975, S. 515 - Dassonville, Rnr. 5.
1. Kapitel: Vereinbarkeit des Sonntagsladenschlusses mit dem EG-Vertrag
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Keck-Urteil heranziehen. Zum einen reicht es nicht aus, daß eine mitgliedstaatliche Vorschrift das Absatzvolumen im allgemeinen und somit auch das Absatzvolumen ausländischer Produkte im speziellen beschränken kann, um eine Maßnahme gleicher Wirkung i. S. d. Art. 28 EGV anzunehmen. Zum anderen kommt darf die nationale Norm nicht bezwecken, den Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten zu regeln.5 Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so ist die Anwendung derartiger Regelungen auf den Verkauf von Erzeugnissen aus einem anderen Mitgliedstaat nicht geeignet, den Marktzugang für diese Produkte zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische Erzeugnisse tun.6 Im Kern kommt es darauf an, daß Verkaufsmodalitäten, die unterschiedslos gelten, gerade keine Kontingentierung oder ähnliche Hindernisse zum Marktzugang zur Folge haben.7 Generalanwalt van Gerven hat in seinem Schlußantrag in der Rechtssache ´t Heukske und Boermans (Ladenöffnungszeiten an Tankstellen) den Sinn und Zweck dieser Unterscheidung prägnant beschrieben: Bei produktbezogenen Modalitäten ist es wahrscheinlicher, daß ein Produzent seine Ware, die Etikettierung oder Verpackung den inländischen Bestimmungen anpassen und damit zusätzliche finanzielle Mittel aufwenden muß, als bei Verkaufsmodalitäten, bei denen das Produkt unverändert bleiben kann.8 Der Lebensmittelexporteur ist nicht gezwungen, etwa seine Waren zu verändern, wenn Läden sonntags geschlossen bleiben, während eine allein in Deutschland geltende Pflicht zur Kennzeichnung genveränderter Lebensmittel eine veränderte Etikettierung erfordern würde. Der EuGH hat im Keck-Urteil das Merkmal Verkaufsmodalitäten nicht näher definiert.9 Zahlreiche Autoren haben versucht, diese Lücke zu schließen. Eine Nachzeichnung aller dieser Annäherungen ist hier nicht möglich, eine gründliche Übersicht bietet Hammer.10 Den Vorteil der Prägnanz hat der Vorschlag des Generalanwalts Tesauro für sich, der unter Verkaufsmodalitäten alle Regelungen versteht, die inhaltlich folgendes festlegen: „Wer verkauft was, wann darf verkauft werden, wo und wie darf verkauft werden.“11 Diese Definition soll hier maßgebend sein. Regelungen über den Ladenschluß fallen offen___________ 5
Schlußantrag van Gerven, EuGHE 1994, I-2199 - ´t Heukske und Boermans, Rnr.
22. 6
EuGH EuZW 1993, S. 770 - Keck, Rnr. 16 f, seitdem st. Rspr. Arndt, ZIP 1994, S. 188 (190). 8 Schlußantrag van Gerven, EuGHE 1994, I-2199 - ´t Heukske und Boermans, Rnr. 7
20. 9
Vgl. EuGH EuZW 1993, S. 770 - Keck, Rnr. 16. Hammer, Warenverkehr, 1998, S. 128 bis 135. 11 Schlußantrag EuGHE 1993, I-6787 (6803) - Hünermund, Rnr. 20. 10
368
5. Teil: Europarecht
sichtlich darunter, wie der EuGH selbst kurze Zeit nach dem Keck-Urteil entschieden hat:
b) Entscheidungen zu Sonntagsverkauf und Ladenschluß Zwei wichtige Urteile in Sachen Ladenschluß fällte der EuGH etwa ein halbes Jahr nach dem Keck-Urteil: 1. In der Sache ´t Heukske und Boermans ging es um zwei niederländische Tankstellen der Kette ´t Heukske und Boermans, die außerhalb der zugelassenen Ladenöffnungszeiten geöffnet hatten und zudem verbotener Weise Waren verkauften, die in keinem Zusammenhang mit dem Straßenverkehr standen. Damit standen die Ladenschlußzeiten, die auch an Werktagen gelten, auf dem europarechtlichen Prüfstand. 2. Der Fall Punto Casa betraf in zwei verbundenen Rechtssachen die italienischen Regelungen zum Ladenschluß an Sonn- und Feiertagen. Ein Einkaufszentrum hatte an mehreren Sonn- und Feiertagen geöffnet, weshalb der Bürgermeister den Betreiber, die Punto Casa SpA, mit Verwaltungssanktionen belegt hatte.12 In beiden Fällen wendete der EuGH die Dassonville- und die Keck-Formel kumulativ an. Er kam jeweils nach kurzer Subsumtion zu dem Ergebnis, daß die Voraussetzungen des Keck-Urteils erfüllt sind. Ein Blick in die etwas ausführlichere Begründung in Sachen ´t Heukske und Boermans ist daher ausreichend: „Die in Rede stehende Regelung betrifft nämlich die zeitlichen und räumlichen Voraussetzungen, unter denen die fraglichen Waren an die Verbraucher verkauft werden können. Außerdem gilt sie ohne Unterscheidung nach der Herkunft der fraglichen Erzeugnisse für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer und berührt den Absatz der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten nicht in anderer Weise als den der inländischen Erzeugnisse.“13
Daher war der Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit i. S. d. Art. 28 EGV in den beiden Rechtssachen nicht eröffnet. Die vorläufig letzte, weitere Entscheidung zum Sonntagsverkauf traf der EuGH am 20. Juni 1996 in der Sache Semeraro Casa Uno und andere. Sie ging, wie schon im Fall Punto Casa, auf Vorlagefragen der Pretura circondariale Rom zurück. Nach einem Verweis auf dieses Urteil führt der EuGH zutreffend aus, daß die fraglichen italienischen Vorschriften gerade keine „Regelung des Warenverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten bezwecken oder, insgesamt be___________ 12 13
Beide abgedruckt in NJW 1994, S. 2141. EuGH NJW 1994, S. 2141 - ´t Heukske und Boermans, Rnr. 14.
1. Kapitel: Vereinbarkeit des Sonntagsladenschlusses mit dem EG-Vertrag
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trachtet, eine Ungleichbehandlung inländischer und eingeführter Erzeugnisse im Hinblick auf ihren Zugang zum Markt bewirken können.“ Damit greift der EuGH folgerichtig auf die im Keck-Urteil aufgeführten Aspekte des Zwecks der nationalen Bestimmung und des Marktzugangs zurück. Er begründet so, warum auch in diesem Fall Verkaufsmodalitäten vorliegen und sie somit die Anwendung des Art. 28 EGV ausschließen. Er stellt klar, es sei für eine Maßnahme gleicher Wirkung i. S. d. Art. 28 EGV nicht ausreichend, daß nationale Regelungen ganz allgemein das Absatzvolumen und damit auch den Absatz von Produkten aus anderen Mitgliedstaaten beschränken können. Damit unterstreicht der EuGH, mit dem Keck-Urteil für den Bereich der Verkaufsmodalitäten ein Diskriminierungsverbot eingeführt zu haben.14 Überraschend fährt der EuGH mit einem Hinweis zur gemeinschaftsrechtlichen Rechtfertigung nationaler Ladenschlußregelungen fort. Nach der Logik der Keck-Rechtsprechung, die den Anwendungsbereich beschränkt, wären solche Ausführungen entbehrlich. Im vorliegenden Verfahren könnten sie als zusätzliches Argument und als Hinweis für das vorlegende Gericht zu verstehen sein, den EuGH nicht noch einmal mit dem Sonntagsladenschluß zu befassen: Immerhin verdankte der Gerichtshof diesem Gericht 17 Vorlageverfahren in der - rechtlich gesehen - gleichen Angelegenheit. Zudem hatte das Vorlagegericht die Anfrage des EuGH, ob die Fragen durch das in der Zwischenzeit ergangene Urteil Punto Casa beantwortet worden seien, negativ beschieden.15 Der EuGH verweist auf seine wiederholten Entscheidungen vor dem Keck-Urteil und stellt erneut klar, daß nationale Regelungen zum Ladenschluß an Sonntagen Ausdruck von Entscheidungen sind, „die auf landesweite oder regionale soziale und kulturelle Besonderheiten Bezug“ nehmen. Solche Entscheidungen seien Sache der Mitgliedstaaten, welche die gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen zu beachten haben. 16 Mit dem letzten Hinweis dürfte der EuGH auf offene oder versteckte Diskriminierungen anspielen. Das vorlegende italienische Gericht hatte außerdem vorgebracht, daß der Inhaber eines großen am Rande oder außerhalb der Städte gelegenen Einkaufszentrums durch die Ladenschlußregelung an Sonn- und Feiertagen in tatsächlicher Hinsicht intensiver betroffen sei als der Inhaber eines kleinen Einzelhandelgeschäfts. Ersterer bestreite einen wesentlichen Teil seines Umsatzes mit ausländischen Waren und letzterer biete in der Regel weniger ausländische Produkte an. Zudem verfügten die Verbraucher an Werktagen über wenig Freizeit, daher seien die großen Supermärkte nur am Sonntag leicht erreichbar.17 ___________ 14
Hammer, Warenverkehr, 1998, S. 216. EuGHE 1996, I-2975 (2980) - Semeraro Casa Uno, Rnr. 16 f. 16 EuGHE 1996, I-2975 (2980) - Semeraro Casa Uno, Rnr. 25. 17 EuGHE 1996, I-2975 (2980) - Semeraro Casa Uno, Rnr. 17 f. 15
370
5. Teil: Europarecht
Der EuGH ist auf diese Argumentation nicht näher eingegangen und hat lediglich festgestellt, daß die Ladenschlußregelungen die Bedingungen der KeckRechtsprechung erfüllen und damit der Anwendungsbereich des Art. 28 EGV nicht eröffnet ist. Dem Gerichtshof ist im Ergebnis recht zu geben, da die Argumentation des vorlegenden Gerichts nicht verfängt: Es ist zwar nicht auszuschließen, daß ein Ladeninhaber im Einzelfall mehr Umsatz mit ausländischen Waren erwirtschaftet als ein Konkurrent. Allerdings neigt der EuGH im Keck-Urteil eher einen globalen Beurteilung der Auswirkungen einer Norm zu als einer Einzelfallbetrachtung, die nach richtiger Auffassung des Generalanwalts van Gerven den nationalen Gerichten zu überlassen wäre.18 Eine generalisierbare Aussage, nach der tendenziell Ladeninhaber mehr Umsatz mit ausländischen als mit inländischen Waren generieren, läßt sich nicht treffen. Entscheidend ist vielmehr die abstrakt-generelle Sicht bei einer Ladenschlußregelung,19 die im Ergebnis zu einer ganz strikten Gleichbehandlung der in- und ausländischen Waren führt: Ladenschlußregelungen zielen gleichermaßen auf in- wie ausländische Erzeugnisse, behindern in keiner Hinsicht ausländische Waren mehr als inländische und sind auch sonst in keiner Weise geeignet, den innergemeinschaftlichen Handel zu beeinflussen.20 Sie gelten nämlich völlig unabhängig vom jeweiligen Warensortiment des Inhabers. Dieses unterliegt zudem einem steten Wechsel, das Verhältnis zwischen in- und ausländischen Waren kann sich stets verändern. Es ist daher nachvollziehbar und richtig, wenn der EuGH sich nicht auf eine empirisch schwierig zu unterlegende Diskussion einläßt, welcher Ladeninhaber in welchem Maß vom Umsatz mit ausländischen Waren abhängt. Eine unterschiedliche Wirkung auf Wirtschaftsteilnehmer reicht nicht aus, um die Voraussetzungen im Sinne der Keck-Rechtsprechung zu verneinen und somit eine Maßnahme gleicher Wirkung im Sinne des Art. 28 EGV anzunehmen.21 Im Ergebnis unterfallen daher Ladenschlußzeiten für Sonn- und Feiertage nicht der Warenverkehrsfreiheit.22 Schon der Anwendungsbereich des Art. 28 EGV ist nicht eröffnet. Dies gilt im übrigen allgemein für alle Ladenschlußregelungen, also auch für Werktage.23
___________ 18
Schlußantrag van Gerven, EuGHE 1994, I-2199 - ´t Heukske und Boermans, Rnr. 23, wo er das Keck-Urteil interpretiert. 19 So auch EuGH 1991, I-1027 (1040) - Conforama, Rnr. 9, der alleine auf die abstrakt-generelle Regelung abstellt und die konkreten Umsätze des betroffenen Geschäftsinhabers außer acht läßt. 20 Schlußantrag van Gerven, EuGHE 1994 I-2355 - Punto Casa, Rnr. 9. 21 Vgl. Schlußantrag van Gerven, EuGHE 1994, I-2355 - Punto Casa, Rnr. 9. 22 EuGH NJW 1994, S. 2141 - Punto Casa, Rnr. 15. 23 EuGH NJW 1994, S. 2141 - ´t Heukske und Boermans.
1. Kapitel: Vereinbarkeit des Sonntagsladenschlusses mit dem EG-Vertrag
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c) Vereinbarkeit der deutschen Ladenschlußgesetze mit Europarecht Die deutschen Ladenschlußregelungen erfüllen die Voraussetzungen der Keck-Rechtsprechung und sind europarechtskonform: Es handelt sich um Verkaufsmodalitäten, da sie die zeitlichen und räumlichen Voraussetzungen, unter denen Waren an Verbraucher abgegeben werden können, festschreiben. Die besonderen Bestimmungen, die grundsätzlich die Sonntagsöffnung untersagen, sowie die diesbezüglichen Ausnahmetatbestände regeln spezielle Verkaufsmodalitäten für bestimmte Tage. Die Vorschriften der Ladenschlußgesetze gelten für alle in Deutschland tätigen Ladeninhaber und berühren den Absatz in- und ausländischer Erzeugnisse rechtlich wie tatsächlich in gleicher Weise. Ihr Zweck ist es auch nicht, den Warenverkehr unter den EU-Mitgliedstaaten zu regeln, sondern die Arbeitnehmer zu schützen, gleiche Wettbewerbsbedingungen und Wettbewerbsneutralität herzustellen. Der ausländische wie inländische Produzent muß für die Ware keine zusätzlichen Verkaufs- oder Vertriebskosten aufwenden.
d) Stellungnahmen der Literatur und eigene Bewertung Die Unterscheidung des EuGH in produkt- und vertriebsbezogene Regelungen ist eine sinnvolle Beschränkung des Anwendungsbereichs der Warenverkehrfreiheit und zu begrüßen. Diese EuGH-Rechtsprechung zu Ladenschlußregelungen hat auch in der Rechtsprechung und Literatur zu Recht Zustimmung gefunden.24 Der Bundesgerichtshof hat in einem Verfahren, in dem die Klägerin die Verkaufspraktiken in Bahnhofsgeschäften unterbinden wollte, den Einwand der Revision zurückgewiesen, die entsprechende Regelung im Ladenschlußgesetz sei europarechtswidrig. Der BGH verwies auf die einschlägige EuGHRechtsprechung im Fall ´t Heukske und Boermans.25 In dem hier behandelten Feld ist ebenfalls interessant, daß das Bundesverwaltungsgericht aufgrund der Keck-Rechtsprechung keine Veranlassung sah, die Frage, ob das Verbot der Sonntagsöffnung für Videotheken mit Art. 28 und Art. 49 EGV vereinbar sei, dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen.26 Hammer begrüßt die konsequente Anwendung der Keck-Rechtsprechung auf den Sonntagsladenschluß und bringt ihn zu Recht in Verbindung mit dem ___________ 24
Speziell für den Ladenschluß Campenhausen, in: Mangoldt / Klein, GG, 2001, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 5. 25 BGH GewArch 1995, S. 384 (386). 26 Keller, in: Bergmann / Kenntner, Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 2002, S. 449.
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5. Teil: Europarecht
Grundgedanken des Subsidiaritätsprinzips: In jedem Mitgliedstaat hat die Festlegung der Ladenschlußzeiten eine besondere soziale und kulturelle, an Sonntagen auch religiöse Bedeutung, sie bietet daher ausreichenden „politischen Sprengstoff“.27 Es ist nicht ersichtlich, warum eine mittelbare Vereinheitlichung der Ladenschlußzeiten durch die Hintertür eines Verstoßes gegen die Warenverkehrsfreiheit eine sinnvollere und bessere Entscheidung, ein besserer Interessenausgleich sein soll als eine Festlegung auf Ebene der Mitgliedstaaten. Im Rahmen der Besprechung des Urteils zu Punto Casa sieht Fischer die Keck-Rechtsprechung als adäquate Einschränkung der Dassonville-Formel an, um von vornherein innerstaatliche Bestimmungen von der Anwendung des Art. 28 EGV auszunehmen, die keinen Bezug zum Handel zwischen den Mitgliedstaaten haben.28 Darin dürfte eine Zustimmung zum EuGH-Urteil zu sehen sein. Hödl hebt zutreffend hervor, daß bei Ladenschlußzeiten die Behinderung, also das Verbot der Öffnung zu einem Zeitpunkt einsetzt, in dem die ausländischen Produkte ja schon problemlos importiert werden konnten und sich nun bei den inländischen Vertreibern befinden. Betroffen ist ausschließlich der Weitervertrieb, der dem gemeinschaftsrechtlich relevanterem Tatbestand, dem grenzüberschreitenden Import nachfolgt.29 Er bewertet den nunmehr geltenden europarechtlichen Prüfungsmaßstab als Stärkung des nationalen Spielraums, sozial- und kulturpolitische Besonderheiten zu beurteilen. Mit Recht hält er als Fazit fest, daß es nicht Ziel des freien Warenverkehrs sein könne, nichtprotektionistische Zielsetzungen der Mitgliedstaaten einzuebnen.30 Bei Stober scheint ein Bedauern anzuklingen, daß der EuGH nationale Ladenschlußregelungen nicht unter Art. 28 EGV fallen läßt. In seinem Bestreben nach Vereinfachung der Ladenschlußgesetzgebung hoffte er offensichtlich auf „Deregulierungsdruck“ für die deutsche Legislative durch das Gemeinschaftsrecht.31 Diese Kritik am EuGH scheint eher rechtspolitische als rechtswissenschaftliche Motive zu haben. Sie hat sich wohl auch mit den neuen Ladenöffnungsgesetzen der Länder und der damit verbundenen deutlichen Ausweitung der Öffnungszeiten erledigt. Leible unterstreicht zutreffend, daß der Bezug zwischen Ladenöffnungszeiten, Sonntagsruhe einerseits und dem innergemeinschaftlichen, also grenzüberschreitenden Warenverkehr andererseits nicht erkennbar sei.32 ___________ 27
Hammer, Warenverkehr, 1998, S. 189. Fischer, WiB 1994, S. 570 (571). 29 Hödl, Verkaufsbehindernde Maßnahmen, 1997, S. 175 f. 30 Hödl, Verkaufsbehindernde Maßnahmen, 1997, S. 179. 31 Stober, JZ 1996, S. 541 (547). 32 Leible, in: Grabitz / Hilf, Recht der EU, 2005, Art. 28 Rnr. 27. 28
1. Kapitel: Vereinbarkeit des Sonntagsladenschlusses mit dem EG-Vertrag
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Diese Aussage verdient Unterstützung: Das Keck-Urteil und seine Entscheidung, Verkaufsmodalitäten aus dem Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit auszunehmen, verdeutlichen, wie weit der EuGH zuvor die auf Grenzüberschreitung hin konzipierten Grundfreiheiten ausgelegt hatte. Da nach der Dassonville-Formel eine mittelbare Beeinträchtigung des Warenverkehrs ausreicht, konnte der EuGH auch Inlandssachverhalte, die keinen Bezug zum Import von Waren aufweisen, einer Beurteilung durch das Gemeinschaftsrecht unterziehen.33 Nationale Ladenschlußregelungen für Sonn- und Feiertage, die der EuGH vor dem Keck-Urteil behandelte, sind ein Beispiel dafür, das sogleich vertieft wird. Wie sehr der EuGH damit Art. 28 EGV überdehnte,34 ist ihm offensichtlich selbst bewußt geworden: Der Richter am Gerichtshof René Joliet hat als Ausgangspunkt der Keck-Entscheidung die Überlegung dargestellt, daß der EuGH durch seine vorherige Rechtsprechung dazu geführt worden sei, „nationale Regelungen unterschiedlichster Art, die keinen Zusammenhang mit dem Import aufweisen, zu kontrollieren und rein politische Entscheidungen zu treffen.“35 Dies könne nicht die Aufgabe des Gerichtshofs sein, und sie wird dies auch zu Recht nicht mehr sein. Joliet gesteht, wie Steindorff ausführt, Schwierigkeiten bei der Rechtfertigung nationaler Regelungen ein. Diese entstanden, wenn nationale beschränkende Normen auf ihre Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit hin geprüft werden, wie etwa im einem Fall zum Verbot der Sonntagsarbeit. Hier erwies sich die vom EuGH verlangte Verhältnismäßigkeitsprüfung für den britischen High Court als kompliziert.36 Solche Schwierigkeiten sind erfreulicher Weise durch das Keck-Urteil behoben worden. Das Echo auf das zugrundeliegende Keck-Urteil ist gewaltig gewesen. Die Autoren kritisierten insbesondere, daß der EuGH den Begriff der Verkaufsmodalitäten im Gegensatz zu den „produktbezogenen Regelungen“ nicht näher definiert hat.37 Daher rührt etwa der Vorschlag eines anderen Kriteriums, nach dem nur spürbare Beeinträchtigungen unter Art. 28 EGV fallen sollen;38 dies dürfte aber keinesfalls zu mehr Rechtssicherheit führen. Im Ergebnis sehen zahlreiche Stimmen in der Literatur es zu Recht als unproblematisch an, Laden-
___________ 33
Steindorff, ZHR 158 (1994), S. 149 (167 f). Hödl, Verkaufsbehindernde Maßnahmen, 1997, S. 176, spricht auch von einer Überdehnung des Gemeinschaftsinteresses zu Lasten der mitgliedstaatlichen Regelungsautonomie im Bezug auf die Sonntagsverkaufsurteile vor Keck. 35 Joliet, GRUR Int. 1994, S. 979 (984). 36 Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, 1996, S. 103 f. 37 Vgl. statt aller Hammer, Warenverkehr, 1998, S. 128. 38 Vgl. nur Boutard-Labarde, La Semaine Juridique, Doctrine, 1995, S. 122 (126), bei der Besprechung des Urteils Punto Casa. 34
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5. Teil: Europarecht
schlußregelungen als Verkaufsmodalitäten einzustufen.39 Die meisten dieser Autoren veröffentlichten ihre Kommentare vor der EuGH-Entscheidung Punto Casa, die ihren Standpunkt bestätigte. Lediglich Nesemann hält weiterhin den Anwendungsbereich des Art. 28 EGV für eröffnet, da das Ladenschlußgesetz für regional grenzüberschreitende Märkte zu einer Marktaufsplitterung führe.40 Dem kann mit der ganz überwiegenden Meinung nicht gefolgt werden. Daher ist davon auszugehen, daß Bestimmungen zum Ladenschluß nicht in den Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit fallen. Ladenschlußregelungen können sogar als Paradigma der Verkaufsmodalitäten im Sinne der Keck-Rechtsprechung bezeichnet werden, da sie allein die zeitliche Dimension bestimmen, zu der Endverbraucher die Möglichkeit erhalten, Waren im Einzelhandel zu kaufen. Aber selbst wenn man entgegen der hier vertretenen Auffassung dem topos der Verkaufsmodalitäten nicht folgt, gibt es gute Gründe, den Sonntagsladenschluß als europarechtskonform zu qualifizieren. Dies belegt die EuGHRechtsprechung vor dem Keck-Urteil.
2. Rechtfertigung und Verhältnismäßigkeit - Beurteilung vor Keck-Urteil Der EuGH fällte zwischen 1989 und dem Keck-Urteil 1993 insgesamt sechs Entscheidungen zum Sonntagsverkauf oder zum Verbot, sonntags Arbeitnehmer in Einzelhandelsgeschäften zu beschäftigen. Sie betrafen durchaus unterschiedliche Fallgestaltungen: x Verbot nach dem „United Kingdom Shopping Act“ von 1950, Geschäfte sonntags zu öffnen (Rechtssache „Torfaen Borough Council“),41 x die Bestimmung des französischen Arbeitsgesetzbuches, die es verbietet, Arbeitnehmer in Einzelhandelsgeschäften zu beschäftigen („Conforama“),42 x die Regelung im belgischen Arbeitsgesetz, nach der Arbeitnehmer sonntags nach 12 Uhr nicht in Einzelhandelsgeschäften beschäftigt werden dürfen („Marchandise“),43 und ___________ 39
Hierzu zählen etwa Ackermann, Arndt, Dubach, Hammer, Joliet, Petschke, Roth, Sack, Schröder / Federle, Schricker und Stuyck, vgl. zu diesen Autoren die Auszüge und Belege bei Hammer, Warenverkehr, 1998, S. 128 ff; ebenso Becker, in: Schwarze, EUKommentar, 2000, Art. 28 Rnr. 74; Feiden, „Keck“-Rechtsprechung, 2003, S. 73; Schalla, Sonntagsverkaufsverbot, 1995, S. 93. 40 Nesemann, Ladenschluß im europäischen Wirtschafts- und Wettbewerbsrecht, 1995, S. 127. 41 EuGH NJW 1991, S. 626 - Torfean Borough Council / B&Q. 42 EuGHE 1991, I-997 (1024) - Conforama, Rnr. 8.
1. Kapitel: Vereinbarkeit des Sonntagsladenschlusses mit dem EG-Vertrag
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x die nationale Vorschrift, die den Verkauf von Waren mit Ausnahme von Alkoholika, bestimmten Lebensmitteln, Tabak, Zeitungen und einigen sonstigen Produkten des täglichen Bedarfs an Sonntagen verbietet („City of Stokeon-Trent“, „Reading Borough Council“ und „Rochdale Borough Coucil“).44 Wie sich an den Entscheidungen zeigt, brauchte der EuGH einige Jahre, um alle seine Erwägungen zum Sonntagsverkauf zu entwickeln. In allen genannten Urteilen ging der EuGH noch davon aus, daß Ladenschlußregelungen potentiell eine beschränkende Wirkung zukommt und somit der Anwendungsbereich des Art. 28 EGV eröffnet ist. Erst in den Urteilen Conforama und Marchandise lieferte der EuGH 1991 eine Begründung: „Denn selbst wenn es wenig wahrscheinlich ist, daß die sonntägliche Schließung bestimmter Arten von Geschäften die Verbraucher veranlaßt, endgültig vom Erwerb von Erzeugnissen abzusehen, die an den anderen Wochentagen erhältlich sind, so kann das fragliche Verbot doch negative Folgen für das Verkaufsvolumen und folglich auch für das Einfuhrvolumen haben.“45
Der Urteilsauszug und die Tatsache, daß der EuGH in späteren Urteilen nach Keck Ladenschlußzeiten als Verkaufsmodalitäten qualifizierte und somit den Anwendungsbereich des Art. 28 EGV für nicht eröffnet hielt,46 zeigen anschaulich, daß das Keck-Kriterium als teleologische Reduktion anzusehen ist und eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit darstellt. Der Gerichtshof griff die Auffassung des Generalanwalts van Gerven, der bereits im Sinne der späteren Keck-Rechtsprechung eine einschränkende Wirkung des Sonntagsladenschlusses in seinem Schlußantrag beim ersten zu entscheidenden Fall verneinte hatte,47 1989 nicht auf. Folgerichtig hatte der EuGH vor Keck auf der Rechtfertigungsebene geprüft, ob Ladenschlußregelungen ein „nach Gemeinschaftsrecht gerechtfertigtes Ziel verfolgen“.48 Allerdings bediente er sich nicht der klassischen Cassis-de-DijonRechtsprechung,49 suchte also kein zwingendes Erfordernis des Allgemeininter___________ 43
EuGHE I-1027 (1040) - Marchandise, Rnr. 9. EuGHE 1992, I-6457 - Rochdale Borough Council / Stewart John Anders, EuGHE 1992, I-6493 - Reading Borough Council / Payless DIY, und EuGHE 1992, I-6635 (6657) - Stoke-on-Trent Council / B & Q. 45 EuGHE 1991, I-997 (1024) - Conforama, Rnr. 8, und EuGHE 1991, I-1027 (1040) - Marchandise, Rnr. 9. 46 EuGH NJW 1994, S. 2141 - Punto Casa, Rnr. 12f. 47 Schlußantrag van Gerven, EuGHE 1989, 3851 - Torfean Borough Council / B&Q, Rnr. 25. 48 EuGHE 1989, 3885 = NJW 1991, S. 626, Rnr. 13 - Torfean Borough Council / B&Q. 49 EuGHE 1979, 649 - Cassis de Dijon. 44
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5. Teil: Europarecht
esses“, sondern legte einen großzügigeren Maßstab an.50 Der Gerichthof nahm zu konkreten Rechtfertigungsgründen wie etwa Arbeitnehmerschutz nicht Stellung. Er hatte statt dessen in allgemeiner Formulierung Ladenöffnungszeiten wiederholt als Ausdruck „politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen“ der Mitgliedstaaten angesehen, die nationalen oder regionalen sozialen und kulturellen Besonderheiten Rechnung tragen und Sache der Mitgliedstaaten seien. Sie dienten der Verteilung der Arbeitszeit und der arbeitsfreien Zeit.51 Der EuGH knüpfte damit an sein Urteil zum deutschen Nachtbackverbot („Oebele“) an, in dem er wirtschafts- und sozialpolitische Entscheidungen der Mitgliedstaaten rechtfertigende Wirkung zugesprochen hatte.52 Im Bereich der Verhältnismäßigkeit hat sich die Rechtsprechung des EuGH in den Sonntagsurteilen vor 1994 am intensivsten entwickelt. Im ersten Urteil zum Sonntagsverkauf 1989 hielt er nationale Ladenschlußbestimmungen nur für vereinbar mit Art. 28 EGV, „wenn die sich hieraus ergebenden beschränkenden Wirkungen auf den innergemeinschaftlichen Handel den Rahmen der einen solchen Regelung eigentümlichen Wirkungen nicht überschreiten.“53 Diese umständliche Definition des Verhältnismäßigkeitsmaßstabs war aber weniger bedeutsam, als die Entscheidung, den innerstaatlichen Gerichten die Beurteilung zu überlassen, ob die tatsächlichen Auswirkungen des Sonntagsladenschlusses verhältnismäßig im eben dargestellten Sinne sind. Damit vermied das Gericht 1989 eine klare und Rechtssicherheit schaffende Entscheidung, so daß die erneute Befassung des EuGH mit derselben Problematik nur kurze Zeit später nicht überraschte. Zu Recht kritisierte daher die Literatur das erste Sonntagsurteil. Den französischen Autoren Bandrac / Momege kann in dem Hinweis gefolgt werden, daß es dem Gerichtshof keineswegs verwehrt war, zur Verhältnismäßigkeit Stellung zu nehmen und eindeutig zu entscheiden. Schließlich war der EuGH in anderen Rechtssachen ebenso verfahren und hatte den nationalen Gerichten keinen Entscheidungsspielraum mehr belassen.54 Arnull bemängelte in nachvollziehbarer Weise, daß der Gerichtshof den nationalen Gerichten nur sehr wenige Leitlinien ___________ 50
Feiden, „Keck“-Rechtsprechung, 2003, S. 14 f. EuGH NJW 1991, S. 626, Rnr. 14 - Torfean Borough Council / B&Q. 52 EuGH NJW 1981, S. 1885 (1886) - Oebel; zweifelnd, ob das deutsche Ladenschlußgesetz nach der Cassis-de-Dijon-Formel gerechtfertigt werden könnte Arndt, ZIP 1994, S. 188 (190). 53 EuGH NJW 1991, S. 626, Rnr. 17 - Torfean Borough Council / B&Q. Zur Definition dieses Maßstabs orientierte sich der EuGH an der Richtlinie 70/50/EWG, die Art. 30 EGV besonders eng interpretiert. Daran hielt der EuGH allerdings in späteren Urteilen nicht fest. Kritisch zum Hinweis auf diese Richtlinie Arnull, European Law Review 1991 (vol.16), S. 112 (124). 54 Bandrac / Momege, Gazette du palais, Doctrine, 1990, S. 552 (554). 51
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für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit mit an die Hand gegeben hatte.55 In diesem Sinne kritisierten weitere Autoren die Kürze und die mangelnde Klarheit des Urteils.56 Nach dem ersten Sonntagsverkaufsurteil von 1989 konnten vor allem britische, aber auch französische Gerichte keine europarechtliche Klarheit für sich gewinnen und entschieden in den unteren Instanzen unterschiedlich.57 Auf Vorlagen mehrerer britischer Gerichte sah sich der Gerichtshof im Urteil City of Stoke-on-Trent 1992 hinreichend unterrichtet, über die Verhältnismäßigkeit selbst zu entscheiden. Zudem stellte er ausdrücklich die Gewährleistung der Rechtseinheit als Motiv für seinen Sinneswandel gegenüber dem ersten Sonntagsurteil dar.58 Selbst der Richter am EuGH Joliet räumte später in einem Vortrag zum Keck-Urteil und seinen Hintergründen ein, daß der EuGH mit seinem Verweis auf die Verhältnismäßigkeit den weniger klaren Weg beschritten habe. Mehr Klarheit hätte die Entscheidung gebracht, Sonntagsverkaufsregeln sogleich vom Anwendungsbereich auszunehmen.59 Der EuGH forderte, daß das mitgliedstaatliche Interesse an der Erreichung eines gemeinschaftsrechtlich gerechtfertigen Ziels mit dem Gemeinschaftsinteresse am freien Warenverkehr gegeneinander abgewogen werde. Weiterhin sei bei der Prüfung der beschränkenden Wirkung der nationalen Regelung darauf abzustellen, „ob diese Wirkungen unmittelbar, mittelbar oder nur hypothetisch sind und ob sie den Absatz eingeführter Erzeugnisse nicht stärker beeinträchtigen als denjenigen einheimischer.“60 Der EuGH hielt nationale Regelungen, welche die Ladenöffnung an Sonntagen verbieten, richtiger Weise für verhältnismäßig. ___________ 55
Arnull, European Law Review 1991 (vol.16), S. 112 (124). Schroeder, EWiR 1990, S. 155 (156); Gormley, Common Market Law Review, 27 (1990), S. 141 (143), meint zu Recht: „the reasoning appears to be unclear to say the least.“ 57 Vgl. zu diesem Ergebnis und zu Einzelheiten der Rechtsprechung britischer Gerichte nach der EuGH-Entscheidung Torfean Borough Council / B&Q die Übersicht bei Schalla, Sonntagsverkaufsverbot, 1995, S. 64 bis 74; ebenso Davis, EuZW 1992, S. 569 (570). In Frankreich hielt das Tribunal de police von Narbonne den Sonntagsladenschluß für unvereinbar mit dem Gemeinschaftsrecht, während die Cour d´appel von Lyon vom Gegenteil überzeugt war, vgl. Bandrac / Momege, Gazette du palais, Doctrine, 1990, S. 552 (555). 58 EuGHE 1992, I-6654 (6658) - City of Stoke-on-Trent, Rnr. 14. Am selben Tag entschied er in den Verfahren Rochdale Borough Council und Reading Borough Council, vgl. EuGHE 1992, I-6457 und I-6493. 59 Joliet, GRUR Int., 1994, S. 979 (982). 60 EuGHE 1992, I-6654 (6658f) - City of Stoke-on-Trent, Rnr. 15. 56
378
5. Teil: Europarecht
Die Urteile zum Sonntagsverkauf vor Keck lassen daher die Deutung zu, daß der EuGH die sozial- und wirtschaftspolitischen Entscheidungen der Mitgliedstaaten in Sachen Ladenschluß und ihre unterschiedlichen sozialen und kulturellen Werte achten wollte.61 Die Einschätzung von Bandrac / Momege, die schon 1990 die „sozio-kulturellen Besonderheiten“ als Fundament des Sonntagkaufverbots für überholt hielten und daher die Verhältnismäßigkeit anzweifelten,62 wird vom Gerichtshof zutreffend nicht geteilt. Insgesamt war die Aufnahme dieser Rechtsprechung von 1992 in der Literatur freundlich. Davis unterstreicht zum einen, daß der EuGH der Argumentation der betroffenen englischen Einzelhandelsunternehmen nicht gefolgt sei, nach deren Ansicht Art. 28 EGV jede Einschränkung des Warenverkehrs eine Verletzung der Warenverkehrsfreiheit darstelle, es sich also um ein absolutes Beschränkungsverbot handele. Zum anderen begrüßt sie zu Recht, daß der EuGH das berechtigte Interesse eines Mitgliedstaates anerkannt hat, seine gesellschaftlich-kulturellen Eigenheiten zu schützen und zu bewahren.63 Die Einschätzung Schroeders, die europarechtliche Zulässigkeit des Ladenschlusses an Sonntagen sei damit geklärt, ist aus der ante-Keck-Perspektive verständlich.64 Zusammengefaßt läßt sich die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Sonntagsverkauf vor Keck auf die Kurzformel bringen, daß die Warenverkehrsfreiheit anwendbar ist, allerdings eine weitreichende Rechtfertigungsmöglichkeit besteht. Diese geht mit einer lockeren Prüfung der Verhältnismäßigkeit einher, die keine übermäßigen Anforderungen an die Erforderlichkeit und Angemessenheit nationaler Ladenschlußgesetze stellt.65 Außerdem veranschaulichen die Sonntagsverkaufsfälle vor dem Keck-Urteil die Schwierigkeit, die der Gerichtshof bei der Entscheidung zu national äußerst sensiblen Themen des Wirtschafts-, Sozial- und Religionslebens zu bewältigen hatte. Es ist durchaus nachvollziehbar, daß die Sonntagsverkaufsfälle ihren Beitrag zum Umdenken unter den EuGH-Richtern geleistet haben.66 Der steinige Weg vom ersten Sonntagsverkaufsurteil im November 1989 bis zu den klarer begründeten Entscheidungen 1992 zeugt davon.
___________ 61
So auch Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, 1996, S. 93. Bandrac / Momege, Gazette du palais, Doctrine, 1990, S. 552 (554 f). 63 Davis, EuZW 1993, S. 224. 64 Schroeder, EWiR 1993, S. 375. 65 Roth, in: FS Großfeld, 1999, S. 929 (934). 66 So wohl auch Mayer, EuR 2003, S. 793 (811), der die Sonntagsverkaufsfälle als Musterbeispiel aufführt, um den Begriff „Verkaufsmodalitäten“ im Keck-Urteil zu verstehen. 62
1. Kapitel: Vereinbarkeit des Sonntagsladenschlusses mit dem EG-Vertrag
379
Auch nach der alten Rechtsprechung war ein möglicher Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit in jedem Fall gerechtfertigt und verhältnismäßig.67 Lediglich die Begründung der damaligen EuGH-Urteile ist heute überholt.68 Der EuGH hat mit dem Keck-Urteil eine sinnvolle Korrektur seiner Rechtsprechung zu einem sehr weiten Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit vorgenommen. Europarechtlich ist eine Rechtfertigung von Ladenschlußregelungen für Sonntage nunmehr richtiger Weise entbehrlich.
3. Ergebnis Da Ladenschlußzeiten Modalitäten für den Absatz und den Verkauf von Waren darstellen, ist im Sinne der Keck-Rechtsprechung schon der Anwendungsbereich des Art. 28 EGV nicht eröffnet. Sie stellen bereits tatbestandsmäßig keine Handelshemmnisse im Sinne der Dassonville-Rechtsprechung des EuGH dar.69 Ein Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit liegt nicht vor.
II. Andere europarechtliche Bestimmungen In den verschiedenen Verfahren vor dem EuGH haben sich die Parteien der Ausgangsverfahren oder die vorlegenden Gerichte auch auf andere primär- und sekundärrechtliche Normen als die Warenverkehrsfreiheit berufen.70 Im Ergebnis sind nationale Ladenschlußregelungen auch mit diesen europarechtlichen Vorgaben vereinbar.
___________ 67
EuGH NJW 1991, S. 626 - Torfean Borough Council / B&Q, Rnr. 13. Solbach, Verkaufsmodalitäten, 1996, S. 149; vgl. statt aller weiterer die über 20 Nachweise bei Hammer, Warenverkehr, 1998, S. 143, und ihre Klarstellung in Fußnote 841, durch die deutlich wird, daß sich ihre allgemeine Formulierung„alle diesbezüglichen Urteile [seien] überholt“ lediglich auf die Begründung und nicht auf den Tenor bezieht. 69 So auch Fischer, WiB 1994, S. 570 (571). 70 Die abwegige Frage des vorlegenden Gerichts, ob nationale Ladenschlußregelungen technische Spezifikationen darstellen und der Notifizierungspflicht unterliegen, hat der EuGH zu Recht verneint, EuGHE 1996 I-2975 - Semeraro Casa Uno u. a., Rnr. 34 bis 38. Die Notifizierungsrichtlinie erfordert, daß ein Mitgliedstaat ein Gesetzesvorhaben, das technische Spezifikationen betrifft, rechtzeitig an die Kommission übermittelt, vgl. Richtlinie 83/189/EWG in der Fassung der Richtlinie 88/182/EWG. 68
380
5. Teil: Europarecht
1. Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit Nationale Ladenschlußregelungen verletzen nicht die Niederlassungsfreiheit, Art. 43 EGV. Es ist offensichtlich, daß Ladenschlußgesetze gleiche Bedingungen für alle Wirtschaftsteilnehmer schaffen, die dauerhaft und selbständig als Geschäftsinhaber in einem Mitgliedstaat tätig werden wollen. Eine direkte oder indirekte Diskriminierung, wie sie die Niederlassungsfreiheit verbietet,71 liegt nicht vor. Des weiteren stellte der EuGH im Fall Semeraro Casa Uno auf die Intention des italienischen Ladenschlußgesetzes ab und entschied, daß dieses nicht bezwecke, die Bedingungen für die Niederlassung von Einzelhändlern zu regeln. Schließlich seien die möglicherweise beschränkenden Wirkungen „zu ungewiß und mittelbar“, als daß die Verpflichtung zur Beachtung des Ladenschlusses die Freiheit der geschäftlichen Niederlassung behindern könnte.72 Damit fordert der EuGH eine Erheblichkeitsschwelle, die überschritten sein muß, um eine Beeinträchtigung des Art. 43 EGV überhaupt in Betracht zu ziehen. Zu Recht merkte die französische Autorin Luby an, daß die Niederlassungsfreiheit bei diesen Konstellationen nur eine untergeordnete Rolle spielt („une place résiduelle“).73 Auch einen Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 49 EGV hat der EuGH im Verfahren Marchandise abgelehnt. Denn Art. 50 EGV bestimme, daß die Dienstleistungsfreiheit nicht auf Sachverhalte Anwendung fände, die dem freien Warenverkehr unterfallen.74 Hierin ist ihm zu folgen.
2. Wettbewerbsrecht Ein Verstoß gegen die Wettbewerbsbestimmungen der Art. 81 und 82 EGV liegt ebenfalls nicht vor. Dies ist auch die Auffassung des EuGH. Im bereits erwähnten Verfahren ´t Heukske und Boermans hatte der Gerichtshof Herzogenbusch dem EuGH unter anderem die Frage vorgelegt, ob die niederländischen Vorschriften über den Ladenschluß an Tankstellen deshalb gegen Art. 81 und 82 i. V. m. Art. 3 lit. f und 5 EGV verstoßen, weil sie zwischen verschiedenen Wirtschaftsteilnehmern - Tankstellen, Läden in Flughäfen, Bahnhöfen, Krankenhäusern und Museen einerseits und sonstigen Einzelhandelsgeschäften andererseits - unterscheiden. ___________ 71
Oppermann, Europarecht, 1999, Rnr. 1591. EuGHE 1996 I-2975 - Semeraro Casa Uno u. a., Rnr. 29 bis 33. 73 Luby, Journal du droit international 1997, S. 558. 74 EuGHE 1991, I-1027 (1040 ff) - Marchandise, Rnr. 19. 72
2. Kapitel: Relevanz der Arbeitszeitrichtlinie
381
Der EuGH stellte im Anschluß an seine bisherige Rechtsprechung dar, daß Art. 81 und Art. 82 EGV jede staatliche Maßnahme verbieten, welche die praktische Wirksamkeit der für die Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln aufheben könnten. Dies sei der Fall, wenn ein Mitgliedstaat gegen Art. 81 EGV verstoßende Kartelle vorschreibt oder erleichtert oder deren Auswirkungen verstärkt. Schließlich hielt er lapidar fest, das vorliegende Verfahren biete keine Anhaltspunkte dafür, daß die speziellen niederländischen Regelungen ein schon bestehendes Kartell verstärken wollen.75 Zudem hatte der Generalanwalt in seinem Schlußantrag zu Recht darauf verwiesen, es sei nicht hinreichend dargetan, daß die oben erwähnte Ungleichbehandlung zwischen privilegierten und normalen Verkaufsläden gerade den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtige.76
3. Ergebnis Nationale Regelungen, die eine Ladenschließung zu bestimmten Tageszeiten oder an Sonn- und Feiertagen vorsehen, sind mit dem Europarecht vereinbar.
2. Kapitel
Relevanz der Arbeitszeitrichtlinie Auch wenn die Regelung der Arbeitszeiten keine direkte Auswirkung auf die Sonntagsöffnung von Geschäften hat, spielen Arbeitsschutzbestimmungen wegen der wöchentlichen Ruhezeit eine bedeutsame Rolle. Ladeninhaber könnten aufgrund des Gemeinschaftsrechts77 verpflichtet sein, ihrem Personal grundsätzlich den Sonntag als Tag der Arbeitsruhe zu gewähren. Fast wäre es soweit gekommen.
I. Arbeitszeitrichtlinie von 1993 Der Rat hatte die Richtlinie 93/104/EG über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung am 23. November 1993 erlassen. Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie sah ___________ 75
EuGH NJW 1994, S. 2141 - ´t Heukske und Boermans, Rnr. 16 f. Schlußantrag des Generalanwalts in EuGHE 1994, I-2199 (2225 f) - ´t Heukske und Boermans. 77 Darunter ist auch der Fall einer in nationales Recht umgesetzten Richtlinie zu verstehen. 76
382
5. Teil: Europarecht
vor, daß eine kontinuierliche Mindestruhezeit von 24 Stunden den Sonntag einschließe. Erwägungsgrund 10, der auf die Forderungen Großbritanniens aufgenommen wurde,78 erläuterte Sinn und Gehalt dieser Vorschrift. Den unterschiedlichen kulturellen, ethnischen und religiösen Faktoren in den Mitgliedstaaten müsse Rechnung getragen werden. Daher hätten letztlich die Mitgliedstaaten zu entscheiden, ob und in welchem Maße der Sonntag wöchentlicher Ruhetag ist.79 Damit war klargestellt, daß die Festlegung auf den Sonntag einen Regelfall darstellt, von dem durchaus abgewichen werden kann. Der EuGH erklärte auf die von Großbritannien erhobene Nichtigkeitsklage den Sonntagsabsatz für nichtig. Der EG stehe keine Kompetenz zur Festlegung des Sonntags als dem grundsätzlichen Ruhetag zu. Die Begründung des EuGH ist - wie so oft - knapp. Der Gerichtshof zog Art. 137 Abs. 1 Buchst. a EGV heran, um die Sonntagsregelung an dem dort genannten Ziel des Gesundheitsschutzes zu messen. Er warf dem Rat vor, nicht dargelegt zu haben, „warum der Sonntag als wöchentlicher Ruhetag in engerem Zusammenhang mit der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer stehen solle als ein anderer Wochentag.“80 Der EuGH stellte keine Hilfserwägung wie etwa in dem Sinne an, daß eine soziale Synchronisation eines wöchentlichen Ruhetages eine positive Auswirkung auf die Gesundheit der Arbeitnehmer haben könnte. Heinig kann in seiner Beurteilung des Urteils nicht gefolgt werden, wenn er darlegt, daß der EuGH die Regelung aus Gründen der Subsidiarität für nichtig erklärt hat.81 Der EuGH nimmt gerade kein Bezug auf das Subsidiaritätsprinzip. Dogmatisch liegt der Gerichtshof richtig, da eine Prüfung der Subsidiarität nach Art. 5 EGV erst dann möglich ist, wenn zunächst eine EG-Kompetenz bejaht wurde. Art. 5 EGV geht nämlich davon aus, daß die EG gerade im Fall einer bestehenden Ermächtigungsgrundlage von ihrem Gebrauch absieht, weil das Subsidiaritätsprinzip dagegen spricht. Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß in Deutschland das 1994 verabschiedete Arbeitszeitgesetz die ursprüngliche Fassung der Richtlinie umsetzte, bevor der EuGH die Sonntagsbestimmung in der Arbeitszeitrichtlinie für nichtig erklärte. Der Sonntagsschutz im Arbeitszeitgesetz stellt sich aber als Ausgestaltung des Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV dar, wie seine fast wörtliche Übernahme belegt, vgl. § 1 Nr. 2 ArbZG.
___________ 78
Tietje, Grundfragen des Arbeitszeitrechts, 2001, S. 63. Richtlinie 93/104/EG ABl. L 307 v. 13. Dezember 1993, S. 18 (20). 80 EuGHE 1996, I-5755 - Arbeitszeitrichtlinie, Rnr. 37 = AuR 1996, S. 500. 81 Heinig, ZEE 1999, S. 294 (307). 79
3. Kapitel: Neuerungen durch Änderungsvertrag ab 2009?
383
II. Arbeitszeitrichtlinie von 2003 und ihre Reform In der neuen Arbeitszeitrichtlinie von 2003 legte der Rat erwartungsgemäß den Sonntag nicht als wöchentlichen Regelruhetag fest.82 Denn die seit der ersten Arbeitszeitrichtlinie in Kraft getretenen Verträge von Amsterdam und Nizza hatten keine Veränderung der Ermächtigungsgrundlage, Art. 137 EGV, gebracht. Dadurch war und ist das oben erörterte EuGH-Urteil weiter zu beachten. Der Richtliniengeber unternahm auch nicht den Versuch, nunmehr zu rechtfertigen, in welchem Zusammenhang der arbeitsfreie Sonntag mit dem Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer steht. Den Mitgliedstaaten steht es somit weiterhin frei, ob sie die wöchentliche Ruhezeit auf den Sonntag legen. Nach Veröffentlichung der neuen Richtlinie wurde sehr bald eine erneute Reform notwendig: Der EuGH hatte in den zwei Fällen SIMAP und Jäger unter anderem entschieden, daß ärztliche Bereitschaftszeiten, die eine Anwesenheit am Arbeitsplatz mit sich bringen, als Arbeitszeit zu qualifizieren sind.83 Der von der Kommission daraufhin vorgelegte Richtlinienentwurf wird an der Regelung zur wöchentlichen Ruhezeit nichts ändern, und es wird kein erneuter Versuch unternommen werden, den Sonntag als Regelruhetag europarechtlich vorzuschreiben.84
3. Kapitel
Neuerungen durch Änderungsvertrag ab 2009? Am 29. Oktober 2004 unterzeichneten zwar 25 Staats- und Regierungschefs den Vertrag über eine Verfassung für Europa (EU-Verfassungsvertrag = EUVV) in Rom. Der Ratifizierungsprozeß ist aber nach der Ablehnung des Vertrages im Referendum in Frankreich am 29. Mai 2005 und bei der juristisch nicht bindenden Volksbefragung in den Niederlanden am 1. Juni 2005 politisch gescheitert. Rein völkerrechtlich blieb eine Ratifizierung möglich. Allerdings hat der Europäische Rat am 21./22. Juni 2007 ein Mandat für eine neue Regierungskonferenz beschlossen, welche die bestehenden Verträge ändern und dabei auf Bestimmungen des EU-Verfassungsvertrages zurückgreifen soll. Es wird insbesondere nicht mehr das Wort „Verfassung“ im Titel der Verträge aufgenommen. Rechtsförmlich handelt es sich um inhaltliche Änderungen ___________ 82
Richtlinie 2003/88, ABl. L Nr. 299 v. 18. November 2003, S. 9. EuGHE 2000, I-7963 - SIMAP und EuGHE 2003, I-8389 - Jäger. 84 Vgl. den KOM-Vorschlag v. 22. September 2004, Dok. KOM (2004), 607. Eine Einigung konnte bisher im Ministerrat allerdings nicht erzielt werden und war bei Drucklegung auch nicht absehbar, vgl. auch EuZW 2006, S. 387. 83
384
5. Teil: Europarecht
des EU- und des EG-Vertrages, wobei letzterer in „Vertrag über die Arbeitsweise der Union“ umbenannt werden soll.85 Die Staats- und Regierungschefs haben sich zum Ziel gesetzt, die Arbeiten der Regierungskonferenz bis Ende 2007 abzuschließen. Somit wird der Ratifikationsprozeß in den 27 Mitgliedstaaten von neuem starten müssen. Politisches Ziel ist derzeit ein Inkrafttreten des neuen Vertrages im Jahr 2009, damit vor den Wahlen zum Europäischen Parlament 2009 vor allem neue institutionelle Regelungen in Kraft treten. Trotz der Ungewißheit über das Verhandlungsergebnis der Regierungskonferenz und des anschließenden Ratifzierungsprozesses lohnt sich ein kurzer Blick auf mögliche Änderungen des Primärrechts. Mangels anderen Textes beziehen sich die nachfolgenden Ausführungen auf den EU-Verfassungsvertrag von 2004, auch wenn im folgenden schlicht von Änderungsvertrag die Rede ist.
I. Warenverkehrsfreiheit Der Änderungsvertrag würde die Bestimmungen zur Warenverkehrsfreiheit inhaltlich nicht verändern, sondern nur redaktionell die weiterhin geltenden Art. 28 und 29 EGV in einem Artikel zusammenfassen, vgl. Art. III - 153 EU-VV. Ebensowenig werden andere Vorschriften wie zum Beispiel die Niederlassungsfreiheit geändert, welche die Vereinbarkeit nationaler Ladenschlußregelungen mit dem EU-Recht beeinflussen könnten.
II. Keine EU-Kompetenz für Ladenschluß und Sonntagsschutz Wie die bestehenden Verträge sieht auch der EU-Verfassungsvertrag keine Kompetenz der EU vor, den Ladenschluß oder den Schutz der Sonn- und Feiertage EU-weit zu regeln.86 Ein Änderungsvertrag dürfte nichts Neues bringen. Dieser Hinweis mag überraschen, ist aber wegen der Tendenz der EUKommission und auch des Rates, Ermächtigungsgrundlagen in den Verträgen großzügig zugunsten der EG auszulegen, notwendig. Zudem belegt ein Beispiel die mögliche Relevanz des EG-Rechts für den Sonntagsschutz: Der Ministerrat diskutiert seit mehreren Jahren ein EG-Sonntagsfahrverbot.87 Bei kursorischer ___________ 85 Zu inhaltlichen Einzelheiten, die der Europäische Rat im Juni 2007 bereits beschlossen hat, s. das Ratsdokument 11177/07 v. 23. Juni 2007, S. 15 ff. 86 Eine Kompetenz der Mitgliedstaaten bei der Sonn- und Feiertagsgesetzgebung nimmt ebenfalls Westphal, Garantie der Sonn- und Feiertage, 2003, S. 147, an. 87 Vgl. Art 3 des geänderten Kommissionsvorschlags für eine Richtlinie über ein transparentes System harmonisierter Vorschriften zur Beschränkung des grenzüber-
3. Kapitel: Neuerungen durch Änderungsvertrag ab 2009?
385
Betrachtung ist die Rechtsgrundlage für ein EG-Sonntagsfahrverbot mehr als zweifelhaft. Aus dem einzig in Betracht kommenden Art. 71 EGV ist nicht ersichtlich, daß die EG den zeitlichen Umfang der Straßennutzung durch Lastkraftwagen regeln könnte. Zwar meint Korioth im Anschluß an das EuGH-Urteil zur Arbeitszeitrichtlinie und der Verwerfung der Sonntagsbestimmung, daß ein Sonntagsschutz durch die EG nicht ganz ausgeschlossen wäre: „...der Sonntag kann aber nur als Kompetenzannex geschützt werden, sofern ein enger Zusammenhang zu einem anderen Kompetenztitel besteht.“88 Diese vorsichtige Zuweisung einer möglichen EG-Kompetenz im Wege der Annexkompetenz ist jedoch abzulehnen. Es gilt weiterhin das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Selbst die EuGH-Rechtsprechung zur „implied-powers“-Doktrin, nach der die EG zur Regelung von solchen Sachverhalten ermächtigt ist, die mit einer gewissen inneren Logik mit einer Frage verknüpft ist, welche die EG zu regeln ermächtigt ist,89 verlangt dies nicht. Im EG-Vertrag ist kein Artikel ersichtlich, welcher der EU eine Annexkompetenz in Sachen Sonntagsschutz verleihen könnte. Der neu vorgesehene Kirchenartikel, Art. I - 52 EU-VV, enthält keine Bestimmung zu Sonn- und Feiertagen. Er übernimmt vielmehr in den Absätzen 1 und 2 die Erklärung Nr. 11 zum Amsterdamer Vertrag und erkennt somit den Status der Religionsgemeinschaften und der weltanschaulichen Gemeinschaften, den sie im jeweiligen Mitgliedstaat genießen, an. In Absatz 3 führt er einen strukturierten Dialog mit den Kirchen ein. Dieser Artikel stellt zwar einen bedeutenden Fortschritt dar und konnte auch aufgrund der Unterstützung der deutschen Konventsmitglieder in den Entwurf des EU-Konvents aufgenommen werden, allerdings ist er für unser Thema unergiebig.90 Den gemeinsamen Vorschlag des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Lehmann, und des damaligen Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche Deutschlands, Bischof Kock, ein positives europäisches Religionsrecht zu entwickeln, das unter anderem die religiösen Feiertage in der EU respektieren möge,91 griffen weder Konvent noch die Regierungskonferenz von 2004 auf. Schließlich
___________ schreitenden Güterverkehrs mit schweren Lastkraftwagen auf ausgewiesenen Straßen, ABl. C E v. 24. April 2001, S. 3. 88 Korioth, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 11. 89 Vgl. Herdegen, Europarecht, 2005, § 9 Rnr. 57 f. Er zweifelt zu Recht, ob außer der Außenkompetenz der EG in Angelegenheiten, für die sie nach innen ermächtigt ist (ATER-Rspr. des EuGH), weitere Gemeinschaftskompetenzen auf die implied-powersDoktrin gestützt werden können. 90 Zu Einzelheiten vgl. Robbers, in: FS Listl, 2004, S. 753. 91 Gemeinsame Stellungnahme v. 7. Juni 2002, vgl. www.dbk.de/presse/menusuchen.html unter dem Stichwort Europa.
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5. Teil: Europarecht
betreffen weitere Änderungen des EU-Verfassungsvertrages im Bereich der Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialpolitik nicht den Einzelhandel.92
III. Einführung eines Europafeiertages? Durchaus denkbar gewesen wären Auswirkungen der geplanten vertraglichen Verankerung des Europatages am 9. Mai, auch wenn nach Berichten über das Ergebnis des Europäischen Rates die Symbole und damit auch der Feiertag gestrichen und nicht in einen Änderungsvertrag aufgenommen werden sollen.93 Er sollte nach Art. I - 8 EU-VV in Erinnerung an den 9. Mai 1950 in der gesamten EU gefeiert werden. An diesem Tag gab der französische Außenminister Robert Schuman seine Erklärung ab, die zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, „Montanunion“) führte und die sein Mitarbeiter Jean Monnet verfaßt hatte. Ob die Erinnerung an diese Rede eine gemeinschafsstiftende Funktion innerhalb der Europäischen Union bisher entwickelt hat oder künftig entfalten wird, mag dahinstehen.94 Der Europäische Rat von Mailand legte 1985 den 9. Mai als Europatag fest.95 Die Formulierung des Art. I - 8 EU-VV lautet schlicht: „Der Europatag wird in der gesamten Union am 9. Mai gefeiert.“
Dieser Satz läßt aus sich heraus keine gesicherte Aussage zu, ob damit ein gesetzlicher Feiertag eingeführt werden sollte. Möglich und durchaus naheliegend ist etwa die Interpretation, daß es den Mitgliedstaaten überlassen bleiben sollte, den 9. Mai zum gesetzlichen Feiertag zu erheben oder ihn als schlichten Gedenktag zu begehen. Wenn man bedenkt, welche wirtschaftlichen Dimensionen sich hinter der Abschaffung oder Einführung eines Feiertages verbergen - verwiesen sei nur auf die Abschaffung des deutschen Buß- und Bettages sowie des französischen Pfingstmontags als jeweiliger gesetzlicher Feiertag -, spricht auch die Intention des EU-Konvents gegen die verbindliche Einführung eines gesetzlichen Feiertages im Sinne der nationalen Feiertagsregelungen.96 Es dürfte eher die Absicht vorgeherrscht haben, den Mitgliedstaaten einen Spielraum in dieser Frage zu überlassen. Für diese Auslegung läßt sich anführen, daß das Präsidium des Konvents den entsprechenden Artikel erst ganz am Ende ___________ 92 Vgl. Denkschrift der Bundesregierung zum Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa, S. 44 und 46, wo die gegenüber EU- und EG-Vertrag neuen oder geänderten Artikel erläutert werden. 93 S. FAZ v. 25. Juni 2007, S. 1 ff; vgl. Ratsdokument 11177/07 v. 23. Juni 2007. 94 Kritisch zum Angebot des 9. Mai als identitätsstiftendes Element Bogdandy, in: Schuppert / Pernice, Europawissenschaften, 2005, S. 331 (347). 95 Röttinger, EuR 2003, S. 1095 (1101). 96 So im Ergebnis auch ohne nähere Begründung Röttinger, EuR 2003, S. 1095 (1108).
3. Kapitel: Neuerungen durch Änderungsvertrag ab 2009?
387
der Beratungen des EU-Konvents vorgeschlagen hat. Eine ausführliche Debatte über die Rechtsnatur des Europatages konnte so nicht mehr entstehen. Es ging dem EU-Konvent wohl eher um die Verankerung der EU-Symbole. Für die Einführung eines gesetzlichen Feiertages im Sinne der nationalen Rechtsordnungen hätte es einer ausdrücklichen Klarstellung im Vertragstext selbst bedurft. Die Einführung eines gesetzlichen Feiertages durch die EU hätte möglicherweise Auswirkungen auf den Ladenschluß gehabt, weil sich damit die Frage gestellt hätte, ob es sich auch um einen gesetzlichen Feiertag i. S. d. § 2 BLadSchlG oder i. S. d. Ladenöffnungsgesetze der Länder handelt. In Deutschland war die Frage von Seiten der Bundesregierung insoweit präjudiziert worden, als sie in der Denkschrift zum EU-Verfassungsvertrag klargestellt hatte, daß es sich beim Europatag nicht um einen arbeitsfreien gesetzlichen Feiertag im Sinne der nationalen Rechtsordnungen handelt. Dementsprechend hatte die Innenministerkonferenz der Länder 2004 auf Bitten der Europaministerkonferenz beschlossen, in Deutschland den Europatag von nun an am 9. Mai statt wie bisher am 5. Mai zu begehen.97 Am 5. Mai 1949 hatten die Signatarstaaten in London den Vertrag mit der Satzung des Europarates abgeschlossen.98 Interessant ist die Frage, ob in Deutschland Bund oder Länder für die Einführung eines Europatages als gesetzlicher Feiertag zuständig wären. Für den Bund würde wohl die Natur der Sache (Außenpolitik) streiten, für die Länder ihre grundsätzliche Kompetenz, die Feiertage zu bestimmen. Allgemein richtet sich bei EU-Rechtsakten wie Richtlinien die Umsetzung nach der innerstaatlichen Kompetenzverteilung, was ebenfalls für die Länder sprechen würde. Allerdings wiegt wegen der Besonderheit des zu regelnden Gegenstandes die Natur der Sache schwerer, so daß eine Bundeskompetenz vorzuziehen ist.
IV. Rechtsverbindlichkeit der EU-Grundrechtscharta Der EU-Verfassungsvertrag inkorporierte die EU-Grundrechtscharta und wollte ihr dadurch Rechtsverbindlichkeit verleihen. Zwar wird teilweise bereits gegenwärtig von einer beschränkten rechtlichen Wirksamkeit der Charta ausgegangen, da sie im Hinblick auf die klassischen Grundrechte nur den bereits bestehenden europäischen Grundrechtsschutz festschreibe.99 Zudem bedienen ___________ 97 Beschluß der Innenministerkonferenz v. 7./8. Juli 2004, TOP 3.4. Der Bundesminister des Innern nimmt an dieser Konferenz als Gast teil. 98 Röttinger, EuR 2003, S. 1095 (1101). 99 Grabenwarter, DVBl. 2001, S. 1 (11).
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5. Teil: Europarecht
sich das Europäische Gericht erster Instanz und mehrere Generalanwälte in Verfahren vor dem EuGH ihrer als Argumentationshilfe.100 Allerdings verleiht sie unbestritten noch keine einklagbaren Rechte für die Begünstigten. Die Grundrechtscharta soll - so der Europäische Rat im Juni 2007 - durch Verweis in die Verträge einbezogen und damit rechtsverbindlich werden.101 Während der Konvent und die Vertragsparteien bei der Ausarbeitung des EU-Verfassungsvertrages die einzelnen Grundrechte unverändert von der in Nizza feierlich proklamierten Charta übernommen haben, nahmen sie kleinere Änderungen an den Vorschriften vor, die den Anwendungsbereich betreffen. Für das vorliegende Thema sind insbesondere von Interesse: Art. II - 70 Abs. 1 EU-VV (= Art. 10 Grundrechtscharta) schützt die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Diese Vorschrift entspricht mit Ausnahme der Unterscheidung von Mensch und Person dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 1 EMRK. Art. II - 70 Abs. 1 EU-VV verbürgt die Religionsfreiheit in ihrer individuellen und kollektiven Form.102 Die Ausübung der Religion in der Gruppe, etwa im sonntäglichen Gottesdienst, wird also geschützt. Allerdings ergeben sich daraus keine besonderen Berechtigungen, die einen Bezug zum Ladenschluß an Sonntagen aufweisen. Darüber hinaus hat auch der EuGH in seiner bisherigen Rechtsprechung zu den ungeschriebenen Grundrechten der EU die Religionsfreiheit nicht näher konkretisiert.103 Die Berufsausübungsfreiheit ist in Art. II - 75 Abs. 1 EU-VV (= Art. 15 Grundrechtscharta) garantiert. Damit wird in Anknüpfung an die bisherige Rechtsprechung des EuGH die Handelsfreiheit, die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit und die Freiheit der Arbeit geschützt.104 Sie verbürgt aber kein Recht der Einzelhändler auf unbeschränkte Öffnung und führt nicht zur Europarechtswidrigkeit nationaler Ladenschlußregelungen. Denn schon der Anwendungsbereich des Art. II - 75 Abs. 1 EU-VV wäre bei Inkrafttreten des Vertrages nicht eröffnet, da die EU-Grundrechte für Mitgliedstaaten nur bei der Durchführung des EU-Rechts gelten würden, vgl. Art. II - 111 Abs. 1 EU-VV. Nationale Gesetze zum Ladenschluß können aber mangels Kompetenz nicht auf EU-Recht beruhen. Art. II - 91 Abs. 2 EU-VV (= Art. 31 Grundrechtscharta) enthält das Recht eines jeden Arbeitnehmers „auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub.“ Dieser ___________ 100
EuGE 2002, II-313 (337) - max.mobil, Rnr. 57; Muckel, DÖV 2005, S. 191 (192). Vgl. Ratsdokument 11177/07 v. 23. Juni 2007, S. 17. 102 Bernsdorff, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU, 2003, Art. 10 Rnr. 13. 103 Muckel, DÖV 2005, S. 191 (193). 104 Rengeling, DVBl. 2004, S. 453 (457). 101
3. Kapitel: Neuerungen durch Änderungsvertrag ab 2009?
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Artikel rührt von Art. 2 der Europäischen Sozialcharta her. Insgesamt spielte dieser Artikel in den Beratungen des Grundrechtskonvents keine große Rolle, da man zu dem Schluß kam, nicht zu viele Details vorzugeben und eine weitgehende Flexibilität zu gewährleisten.105 Eine konkrete Berechtigung eines Arbeitnehmers auf eine Ruhezeit gerade am Sonntag läßt sich aus Art. II - 91 Abs. 2 EU-VV offensichtlich nicht ableiten. Schließlich enthält die Grundrechtscharta keinen Artikel zu Sonn- und Feiertagen. Während des Grundrechtskonvents hatte die Vertretung der Bischofskonferenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften (COMECE) versucht, den Sonntag als allgemeinen Ruhetag in der Charta zu verankern und ihm somit eine europäische Dimension zu verleihen. Dieser Versuch blieb ohne Erfolg, was Korioth als folgerichtig bezeichnet, da die Grundrechtscharta nur subjektive Rechte des Individuums verbürge und ein objektiv-rechtlicher Schutz des Sonntags systemfremd gewesen wäre.106 Insgesamt ist davon auszugehen, daß ein Vertrag zur Änderung des EG- und des EU-Vertrages spürbar weniger ambitioniert sein wird als der EUVerfassungsvertrag. Daher dürfte sich auch mit Zeichnung, Ratifikation und Inkrafttreten eines solchen Vertrages frühestens 2009 keine Veränderung gegenüber dem hier dargestellten Ergebnis ergeben: Vertragliche Änderungen werden keine Auswirkungen auf Fragen des Sonntagsladenschlusses haben.
___________ 105 106
Riedel, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU, 2003, Art. 31 Rnr. 19. Korioth, in: Maunz / Dürig, GG, 2006, Art. 140 GG, Art. 139 WRV Rnr. 14.
Zusammenfassung der Ergebnisse Die Untersuchung des Sonntagsladenschlusses ergibt im Kern folgendes: Zum 1. Teil: Geschichte und Grundlagen 1. Durch die Industrialisierung im 19. Jahrhundert leisteten die Arbeiter deutlich mehr Sonntagsarbeit als früher. Dies führte auch im Einzelhandel und in anderen Wirtschaftsbranchen zu ihrer Verbreitung. Der Konflikt um einen arbeitsfreien Sonntag war jahrzehntelang einer der wichtigsten Punkte in der Auseinandersetzung um einen besseren Arbeiterschutz. Die Ladenöffnung war sonntags vor allem in Großstädten üblich. 2. Das von Kaiser Wilhelm II. initiierte Arbeiterschutzgesetz führte 1891 die erste nationale Regelung zum Ladenschluß in die Gewerbeordnung ein: Durch eine Kopplung an die maximale Beschäftigungszeit durften alle Geschäfte an Sonn- und Feiertagen nur noch bis zu fünf Stunden öffnen. Ab 1900 mußten Läden werktags von 21 bis 5 Uhr schließen. 3. Die Weimarer Reichsverfassung garantierte in Art. 139 den Schutz der Sonn- und Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung. Diese Regelung gilt aufgrund des Art. 140 GG bis heute fort. Seit einer Rechtsverordnung vom Februar 1919 ist der Sonntagsverkauf grundsätzlich ganz verboten. 4. In der DDR gab es kein Ladenschlußrecht auf zentraler Ebene, vielmehr legten die Kommunen die Öffnungszeiten fest. Da einerseits die ausreichende Versorgung mit Waren stets prekär war und im Vordergrund der staatlichen Planung stand und weil andererseits eine freie politische Diskussion nicht stattfand, gab es um Ladenöffnungszeiten keinen rechtspolitischen Streit. In der Praxis waren die Geschäfte und insbesondere Spätverkaufsstellen teilweise länger geöffnet als in der Bundesrepublik. Auf Verfassungsebene existierte zwar bis 1968 ein Artikel zum Schutz der Sonntage als Tage der Arbeitsruhe, allerdings entfaltete dieser mangels Bedeutung der Verfassung nach sozialistischem Verständnis und mangels Umsetzung durch einfaches Recht keine effektive Wirkung. 5. Das Ladenschlußgesetz von 1956 regelte in der Bundesrepublik erstmals systematisch den Ladenschluß und sah einen grundsätzlichen Ladenschluß an Sonntagen und gesetzlichen Feiertagen vor. Seit der Grundgesetzänderung zum
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1. September 2006 sind die Bundesländer für die Gesetzgebung zum Ladenschluß zuständig. Seitdem haben fast alle Länder eigene „Ladenöffnungsgesetze“ verabschiedet. 6. Die Ladenöffnungszeiten verringerten sich seit 1892 - auch an Sonn- und Feiertagen - stetig. Diese Entwicklung kehrt sich erst seit 1996 an Werktagen um. Die nunmehr zuständigen Länder haben fast alle den werktäglichen ganz oder zumindest weitgehend aufgehoben, aber den grundsätzlichen Ladenschluß an Sonn- und Feiertagen beibehalten. Zum 2. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen für Sonntagsschutz und Ladenschluß 7. Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV stellt als institutionelle Garantie eine verfassungsmäßige Wertentscheidung und eine Grundsatznorm der zeitlichen Periodisierung des Lebens, auch des Wirtschafts- und Arbeitsprozesses, dar. Diese Bestimmung gründet sich gleicher Maßen auf soziale und religiöse Aspekte. Art. 139 WRV ist Teil des Kulturverfassungsrechts und aufgrund seiner Stellung im Verfassungsgefüge auch Teil eines weit verstandenen Staatskirchenrechts. 8. Art. 139 WRV bedarf der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber. Dabei muß er den ausdrücklich in der Verfassung genannten Schutzzwecken, der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung, gerecht werden sowie das Abstandgebot zwischen Sonn- und Werktagen wahren. 9. Der Sonntagsartikel umfaßt einen unantastbaren Kernbereich, während jeder Eingriff in den Randbereich verhältnismäßig sein muß. Zum Kernbereich gehören als quantitative Elemente die Sieben-Tage-Woche und eine angemessene Mindestzahl staatlich anerkannter religiöser Feiertage sowie als qualitative Elemente das grundsätzliche Verhältnis „Arbeitsruhe an Sonntagen - Arbeit an Werktagen“ und die Freiheit der Sonn- und Feiertage vom werktäglichen Charakter. Verfassungsmäßigkeit des geltenden Sonntagsladenschlusses 10. Der gesetzliche Ladenschluß an Sonn- und Feiertagen, der eine Ausgestaltung des Art. 139 WRV darstellt, verstößt weder gegen Grundrechte der Inhaber von Verkaufsstellen, von Verbrauchern und Arbeitnehmern noch gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. Der Sonntagsladenschluß greift keineswegs unverhältnismäßig in die Berufsfreiheit der Ladeninhaber ein und ist damit verfassungsgemäß. Die Verlängerung der Öffnungszeiten an Werktagen in den Jahren 1989, 1996, 2003 und seit Ende 2006 hat der Berufsausübungsfreiheit der Ladeninhaber und der allgemeinen Handlungsfreiheit der Verbraucher ge-
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dient. Je länger die Öffnungszeiten an den Werktagen sind, desto eher ist diesen Gruppen der Ladenschluß an Sonn- und Feiertagen zumutbar. 11. Art. 139 WRV hat im Verhältnis zum Grundrecht der freien Berufsausübung in Art. 12 Abs. 1 GG eine besondere Stellung, da es sich um die einzige ausdrückliche Arbeitsschutzregelung des Grundgesetzes handelt. 12. Ein verändertes Freizeitverhalten an Sonntagen und eine Abnahme der Zahl der Kirchenmitglieder verursacht keinen Verfassungswandel des Art. 139 WRV. Der Schutzzweck der seelischen Erhebung bleibt durch seine weltanschaulich neutrale Fassung entwicklungsoffen. 13. Was unter seelischer Erhebung zu verstehen ist, bestimmt sich nicht rein subjektiv nach der Vorstellung jedes einzelnen, sondern nach objektiven Elementen. Verhaltensweisen zur seelischen Erhebung schließen etwa eine Beschäftigung mit Kunst und Musik, mit „Gott und der Welt“, eine Teilnahme am Gottesdienst sowie Aktivitäten in der Natur, in Vereinen, Verbänden und Gewerkschaften sowie im Familien- und Freundeskreis ein. Damit fällt nicht jede Freizeitaktivität unter seelische Erhebung. Beim Einkaufen ist nicht zu erkennen, was zur seelischen Erhebung führen soll. Der Staat kann keine Verhaltensweisen an Sonn- und Feiertagen vorschreiben, er kann und muß aufgrund Art. 139 WRV aber solche mehr schützen, die der seelischen Erhebung dienen. 14. Im Rahmen des Art. 139 WRV sind „Arbeiten für den Sonntag“ eher zulässig als „Arbeiten trotz des Sonntags“. Letztere bedürfen einer stärkeren Rechtfertigung, die sich in der Regel aus anderen Allgemeinwohlbelangen von Verfassungsrang ergibt. Bei der Beschäftigung in Verkaufsstellen handelt es sich um eine „Arbeit trotz des Sonntags“, für die sich eine solche Rechtfertigung nicht ausmachen läßt. 15. Die Ausnahmetatbestände in den Ladenschlußgesetzen, die Sonntagseinkauf ermöglichen, beruhen auf sachlichen Gründen. Eine rechtswidrige Überdehnung dieser Ausnahmen führt nicht zur Verfassungswidrigkeit der Gesetze, sondern stellt ein Vollzugsproblem dar. Verfassungswidrigkeit einer Abschaffung des Sonntagsladenschlusses 16. Die mit einer völligen Freigabe der Ladenöffnung verbundenen Ziele, den Ladeninhabern eine größere Berufsausübungsfreiheit und den Verbrauchern umfangreichere Einkaufsmöglichkeiten zu gewähren, sind im Vergleich zu dem verfassungsmäßig verankerten Sonntagsschutz nur von mäßigem Gewicht. Die Erfahrungen mit den Ladenschlußreformen 1996 und 2003 zeigen, daß längere Ladenöffnungszeiten nicht geeignet sind, Arbeitsplätze zu schaffen und den Umsatz im Einzelhandel zu steigern. 17. Arbeitszeitgesetz, Sonn- und Feiertagsgesetze der Länder, Tarifvereinbarungen und betriebliche Mitbestimmung können Sonntagsarbeit in Verkaufs-
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stellen nicht im gleichen Umfang verhindern wie eine Ladenschlußregelung. Sie sind kein milderes Mittel. Denn Ladeninhaber und ihre helfenden Familienangehörige unterfallen zum einen nicht dem Arbeitszeitgesetz. Für Arbeitnehmer wäre allerdings zum anderen die genaue Ausgestaltung der Aufhebung des Sonntagsladenschlusses entscheidend: Gilt die Regelung zur Sonntagsbeschäftigung in § 17 BLadSchlG oder eine vergleichbare Regelung, so ist die Sonntagsarbeit aufgrund einer solchen Einzelbestimmung in engen Grenzen gestattet. Ist dies nicht der Fall, kann die Aufsichtsbehörde nur auf die Ausnahme des § 13 Abs. 3 Nr. 2 a ArbZG zurückgreifen, wonach sie bei besonderen Verhältnissen die Beschäftigung von Handelspersonal an bis zu zehn Sonn- und Feiertagen jährlich gestatten kann. Für Tarif- oder Betriebsvereinbarungen bliebe aufgrund zwingender gesetzlicher Regelungen kein Raum. 18. Eine Freigabe der Ladenöffnung an Sonn- und Feiertagen dürfte flächendeckend zu erheblich mehr Sonntagsarbeit in Verkaufsstellen führen. Zu den 9,13 Mio. Personen, die insgesamt 2003 ständig, regelmäßig oder gelegentlich sonntags in Deutschland arbeiteten, könnten bei einer Freigabe der Sonntagsöffnung ein beachtlicher Teil der etwa 2,46 Mio. Erwerbstätigen des Einzelhandels hinzukommen, was bei vollem Einsatz dieses Personals dann insgesamt 32,1 % der arbeitenden Bevölkerung entspräche. Ein deutlich geringerer Anteil würde aber gleichzeitig an einem bestimmten Sonntag arbeiten. Zwar wäre damit das Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen Arbeitspause am Sonntag und Arbeit an Werktagen nicht umgekehrt, aber die Gesamtbeschäftigung würde sich dem Umschlagpunkt weiter annähern, von dem man nicht mehr von einer grundsätzlichen Arbeitsruhe an Sonntagen sprechen kann. 19. Eine völlige Freigabe der Ladenöffnungszeiten an Sonn- und Feiertagen würde den beiden Schutzzwecken des Art. 139 WRV, der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung, zuwiderlaufen. Mehr Lärm und mehr Verkehr dürften die Möglichkeiten zur seelischen Erhebung einschränken, individuelle und kollektive Arbeitsruhe würden durch mehr Sonntagsarbeit reduziert. Die Ladenöffnung und ihre Wirkungen (Verkehr) sind von außen deutlich wahrnehmbarer und beeinträchtigender als reine Bürotätigkeit. Die Abwehr solcher potentieller Gefahren gebietet Art. 139 WRV, eine konkrete Gefährdung ist nicht erforderlich. 20. Die Ausgestaltungsfreiheit des Gesetzgebers im Rahmen des Art. 139 WRV reduziert sich aufgrund dieser potentiellen Gefahren auf Null und verbietet dem Gesetzgeber, die Ladenöffnungszeiten an Sonn- und Feiertagen völlig freizugeben. Da Art. 139 WRV den Sonntag 24 Stunden lang schützt und die praktischen Auswirkungen einer langen und einer kurzen Sonntagsöffnung nahezu gleich sind, wäre auch eine teilweise Freigabe etwa für einige Stunden bei längeren Öffnungszeiten an den restlichen Wochentagen verfassungswidrig. Es läge jeweils ein unverhältnismäßiger Eingriff in den Rand-, nicht aber in den Kernbereich des Art. 139 WRV vor.
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21. Die Regelungen in den Ladenöffnungsgesetzen, bis zu zehn verkaufsoffene Sonn- und Feiertage jährlich für Verkaufsstellen unabhängig von ihrem 1 Warenangebot oder ihrer Lage zuzulassen, ist mit Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV vereinbar. Das Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen geschlossenen und verkaufsoffenen Sonn- und Feiertagen schlägt ab einem Verhältnis 2/3 (geschlossen) zu 1/3 (verkaufsoffen) um und ist dann nicht mehr mit Art. 139 WRV vereinbar. Eine Möglichkeit zur Öffnung an 20 Sonn- und Feiertagen pro Jahr würde also gegen Art. 139 WRV verstoßen. Der verfassungsrechtlich kritische Bereich ist bereits ab etwa einem Viertel erreicht, das heißt ab einer Zahl von etwa 15 verkaufsoffenen Sonn- und Feiertagen pro Jahr. 22. Es sprechen gewichtige Argumente für eine Verfassungswidrigkeit der Berliner Regelung, nach der Geschäfte an allen vier Adventssonntagen öffnen dürfen. Zwar hat der Landesgesetzgeber Vorkehrungen zur Berücksichtigung des Merkmals Arbeitsruhe, aber zu wenige zum Schutz der seelischen Erhebung an diesen Sonntagen vorgesehen. Abhilfe könnte er etwa dadurch schaffen, daß er die Öffnungsmöglichkeit auf zwei Adventssonntage beschränkt.
Zum 3. Teil: Sonntagsladenschluß im Bund-Länder-Verhältnis 23. Das Bundesverfassungsgericht hat im Ladenschlußurteil 2004 in vertretbarer Weise die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG i. d. F. von 1994 als nicht mehr erfüllt angesehen. Zwingend war diese Annahme nicht, da gerade bei spezieller Betrachtung des Sonntagsladenschlusses das Merkmal der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse zugunsten einer Bundesregelung streitet.
Umfang der Bundes- und der neuen Länderkompetenzen 24. Die Kompetenz zur Regelung des Ladenschlusses ist nach über 110 Jahren mit der Grundgesetzänderung zum 1. September 2006 („Föderalismusreform I“) von der Bundes- auf die Landesebene übergangen: Der Verfassungsgeber hat das „Recht des Ladenschlusses“ ausdrücklich vom Recht der Wirtschaft nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG ausgenommen und in die ausschließliche Zuständigkeit der Länder überführt. 25. Das „Recht des Ladenschlusses“ i. S. d. Grundgesetzes umfaßt alle Regelungen zur Frage, wann welche Verkaufsstelle mit welchem Warenangebot für den geschäftlichen Verkehr mit Kunden geschlossen sein muß. Es geht um ___________ 1 Damit ist also nicht die Möglichkeit in Kur- und Erholungsorten gemeint, an bis zu 40 Sonn- und Feiertagen zu öffnen.
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den „Schließbefehl“ oder die Öffnungsmöglichkeit für Ladeninhaber. Die gesetzliche Bestimmung, nach der Arbeitnehmer in Verkaufsstellen beschäftigt werden dürfen, fällt weiterhin unter das Arbeitsrecht i.S.d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und damit unter die konkurrierende Gesetzgebung. Ladenschlussregelungen i. S. d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG regeln allein das Verhältnis Staat Verkaufsstelleninhaber und nicht das Verhältnis Verkaufsstelleninhaber - Arbeitnehmer (dafür gilt Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG). 26. Dem verfassungsändernden Gesetzgeber war 2006 bewußt, daß durch Änderungen der Kompetenzzuordnungen bestehende Bundesgesetze in solche Bereiche unterteilt werden, die der Ersetzung durch die Länder nach Art. 125 a Abs. 1 GG zugänglich sind, und in solche, die weiterhin als verbindliches Bundesrecht - ohne Änderungskompetenz der Länder - fortgelten. Letzteres gilt auch für § 17 BLadSchlG, der (zumindest) seit dem 1. September 2006 auf Grundlage des Art. 72 Abs. 1 i. V. m. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gilt. 27. Nur die Regelungen zum Ladenschluß im engeren Sinne sind im Bundesladenschlußgesetz gem. Art. 125 a Abs. 1 GG außer Kraft getreten, nachdem die Länder eigene Gesetze erlassen haben. Von der arbeitnehmerschützenden Vorschrift des § 17 BLadSchlG sind zwar die Absätze 1, 2 a, 3 und 7 ebenfalls nicht mehr anwendbar, weil ihre Verweise auf Paragraphen des Bundesladenschlußgesetzes ins Leere gehen. Dagegen gelten die Absätze 2, 4, 5 und 8 des § 17 BLadSchlG auch nach dem Inkrafttreten der Ladenöffnungsgesetze der Länder fort. 28. Soweit § 17 BLadSchlG keine Regelung (mehr) trifft, gilt im übrigen wie bereits seit 1994 - für alle Fragen der Beschäftigung von Arbeitnehmern in Verkaufsstellen das Arbeitszeitgesetz, insbesondere die für die Sonntagsarbeit relevanten § 10, § 11 sowie § 13 Abs. 3 Nr. 2 a ArbZG. Der Bund hat mit diesen Regelungen von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz auch für das Verkaufspersonal Gebrauch gemacht. Es liegt kein absichtsvoller Regelungsverzicht des Bundes vor. Daher sind die Normen in den Landesladenschlußgesetzen, welche die Beschäftigung von Arbeitnehmern in Verkaufsstellen regeln, mangels Kompetenz verfassungswidrig. 29. Auch den nunmehr zuständigen Ländern ist die grundsätzliche Freigabe der Öffnungszeiten an Sonn- und Feiertagen wegen Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV verwehrt. 30. Der Bundesgesetzgeber kann weiterhin, insbesondere im Arbeitszeitgesetz, die Frage regeln, ob Verkaufspersonal überhaupt entgegen dem grundsätzlichen Verbot nach § 9 ArbZG in Verkaufsstellen beschäftigt werden darf. Es sind zwei Regelungen möglich: Zum einen kann der Gesetzgeber den einzelnen Beschäftigten in den Blick nehmen und zum Beispiel einem Arbeitgeber gestatten, einen individuellen Arbeitnehmer an einer bestimmten Anzahl
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von Sonn- und Feiertagen (z. B. vier) zu beschäftigen. Einer besonderen Begründung der Schutzbedürftigkeit von Arbeitnehmern in Verkaufsstellen bedürfte es nicht, da bereits jetzt § 13 Abs. 3 Nr. 2 a ArbZG für die im Handel beschäftigten Personen Sonderregeln aufstellt, die nicht für Arbeitnehmer anderer Branchen gelten. Zum anderen kann der Gesetzgeber - restriktiver - einem Arbeitgeber nur an einer beschränkten Anzahl von Sonntagen überhaupt gestatten, Arbeitnehmer zu beschäftigen: Da dem Gesetzgeber ein generelles Verbot für 52 oder 53 Sonntage im Jahr möglich ist, wäre es ihm erst recht möglich, an vier Sonntagen pro Jahr eine Ausnahme davon zuzulassen. Daß Regelungen im Arbeitszeitgesetz damit Auswirkungen auf die faktischen Öffnungsmöglichkeiten von Einzelhandelsunternehmen haben, schadet nicht: Es besteht keine Verpflichtung für den Gesetzgeber, Ladenöffnungs- und Beschäftigungszeiten identisch zu regeln. Denn es gilt ein Kerngedanke unseres Wirtschafts- und Arbeitsrechts, der dem Arbeitszeitgesetz zugrunde liegt: Wer das Recht hat, ein Gewerbe zu bestimmten Zeiten zu betreiben, hat daraus keinen zwingenden Anspruch darauf, zu genau denselben Zeiten Arbeitnehmer zu beschäftigen. Ladenöffnungszeiten verlieren bei einem Auseinanderfallen mit den möglichen Beschäftigungszeiten nicht ihren Sinn: Mehrere zehntausend Inhaber und mithelfende Familienangehörige können in solchen Läden arbeiten, da sie nicht dem Arbeitszeitgesetz unterfallen. 31. In der Praxis lassen sich seit mehreren Jahren Defizite beim Vollzug des Ladenschlußgesetzes durch die Länder feststellen. Länderbehörden überdehnen aktiv Ausnahmetatbestände (aktive Vollzugsfehler) oder schreiten gegen rechtswidrige Zustände nicht ein (passive Vollzugsfehler). Bei Tankstellen und Bahnhöfen setzen die zuständigen Behörden Kontrollen und die zur Verfügung stehenden Ordnungsmittel nicht in ausreichendem Maße ein, um der rechtswidrigen Überdehnung des Begriffs Reisebedarf entgegenzuwirken. Dagegen haben es Länder- oder Kommunalbehörden vor allem in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern aktiv betrieben, die Ausnahmetatbestände nach § 14 und § 23 BLadSchlG durch großzügige Rechtsverordnungen oder Allgemeinverfügungen zu umgehen. Zum 4. Teil: Subjektives Recht auf Sonntagsschutz 32. Nach den für das Verfassungsrecht angepaßten Maßstäben der Schutznormtheorie enthält Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV ein subjektives Recht. Dafür sprechen vor allem die hauptsächlich auf das Individuum bezogenen Schutzzwecke Arbeitsruhe und seelische Erhebung sowie die Einordnung in die Gesamtkonzeption des Grundgesetzes. Als Indizien stützen die Nähe zu den Grundrechten aus Art. 4, Art. 6, Art. 8 und Art. 9 GG sowie die Feststellung, daß auch einfache Gesetze wie das Ladenschluß- und das Arbeitszeitgesetz etwa Arbeitnehmern subjektive Rechte verleihen, dieses Ergebnis.
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33. Das Recht steht allen natürlichen Personen zu, da sie sich potentiell seelisch erheben können. Als juristische Personen sind christliche und nichtchristliche Religionsgemeinschaften Träger des subjektiven Rechts aus Art. 139 WRV. 34. Klageberechtigt ist beim Verstoß der Exekutive aufgrund des Art. 139 WRV jedermann, der im Geltungsbereich der exekutiven Maßnahme wohnt, seiner persönlichen Art seelischer Erhebung, wie etwa Kirchenbesuch oder Spazieren im Freien, nachgeht oder sich in seinen sonstigen Bedingungen zur Möglichkeit seelischer Erhebung gestört fühlt. Ein objektives Mindestmaß an Beeinträchtigung ist notwendig. Die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde ist nicht möglich, da man Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG mangels Regelungslücke nicht analog auf Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV anwenden kann. 35. Es besteht für den einzelnen ein Anspruch gegen den Staat, Eingriffe in den Kernbestand der Sonn- und Feiertagsgarantie zu unterlassen. Das subjektive Recht richtet sich auch gegen Maßnahmen, die unverhältnismäßig den Randbereich des Sonntagsartikels verletzen. Ein Verstoß gegen die Sonntagsbestimmungen der Ladenschlußgesetze stellt eine Verletzung des Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV dar. Allgemein liegt in jedem Verstoß gegen ein Gesetz zur Ausgestaltung des Art. 139 WRV ein Eingriff in dessen Randbereich. 36. Als weitere Quellen subjektiver Rechte lassen sich neben den Sonntagsartikeln der Landesverfassungen, die in gleicher Weise schützen wie Art. 139 WRV, festhalten: x für Arbeitnehmer einzelne Regelungen des Arbeitszeitgesetzes, insbesondere § 9, § 10 und § 11 ArbZG, sowie Bestimmungen der Ladenschlußgesetze wie etwa § 3 S. 1, § 10, § 14 und § 17 BLadSchlG oder vergleichbare Landesnormen, x für Angehörige einer Religionsgemeinschaft Vorschriften der Sonn- und Feiertagsgesetze, die die Zeit des Hauptgottesdienstes schützen, x für Ladeninhaber im Rahmen des Konkurrentenschutzes Regelungen der Ladenschlußgesetze aus § 3 BLadSchlG oder der entsprechenden Landesnorm i. V. m. Art. 12 GG, sowie x für Kirchen und Religionsgemeinschaften Normen der Ladenschlußgesetze (§ 3 S. 1, § 10 Abs. 1 S. 3, § 12 Abs. 2 S. 2 und 3, § 14 Abs. 2 S. 3 und § 23 BLadSchlG oder vergleichbare Landesbestimmungen), ferner Vorschriften der Sonn- und Feiertagsgesetze, welche die Zeit des Hauptgottesdienstes schützen, und schließlich Vereinbarungen zum Sonntagsschutz in Staatskirchenverträgen.
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Zum 5. Teil: Europarecht 37. Nationale Ladenschlußregelungen stellen das Paradigma einer bloßen Verkaufsmodalität im Sinne der Keck-Rechtsprechung des EuGH dar und fallen daher nicht in den Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit. Sie sind auch mit sonstigen Vorschriften des Europarechts vereinbar. Der Europäische Rat hat nach der gescheiterten Ratifikation des EU-Verfassungsvertrages am 21./22. Juni 2007 beschlossen, einen Änderungsvertrag bis Ende 2007 auszuhandeln und dabei auf zahlreiche wesentliche Bestimmungen des EUVerfassungsvertrages zurückzugreifen. Wenn der Änderungsvertrag die Bestimmungen des EU-Verfassungsvertrages im hier relevanten Bereich übernehmen würde, brächte er keine Veränderungen für den Sonntagsladenschluß. Der im EU-Verfassungsvertrag noch vorgesehene, aber aus dem Änderungsvertrag verbannte Europatag am 9. Mai wäre in Deutschland kein gesetzlicher Feiertag gewesen.
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Sachregister Abstandsgebot, zwischen Sonn- und Werktagen 103 Adventssonntage 77, 202 f Altenpflege-Entscheidung 209 Arbeit für den Sonntag 139 ff Arbeit trotz des Sonntags 139 ff, 145 Arbeiterschutzgesetze von 1891 50 Arbeitnehmer 160 f - Regelung auf Landesebene 79, 263 - Regelung für Verkaufspersonal 174, 251, 255, 266, 273 Arbeitslosigkeit 164 ff - Abbau durch längere Öffnung 166 - Reduzierung als Ziel 164 Arbeitsruhe 102, 174 ff - individuelle 174 ff, 308 - kollektive 183 ff, 186, 309 Arbeitszeitgesetz 107, 174 ff, 178, 239 f - Anwendung neben LadSchlG 257 ff, 261 - Entstehung 259 - Geltung für Verkaufspersonal 255 ff, 266 - Konzeption 80 f, 174 ff - subjektives Recht aus 353 f Aufhebung Ladenschluß - an Sonn- und Feiertagen 77, 163 ff, 220, 273 - an Werktagen 73 Ausgestaltungsfreiheit bei Art. 139 WRV - Grenzen 92 ff, 101 ff, 145, 273 - Mittel 105 Babylon 29 Bäckerei, Backwaren 71, 256 Bäderregelung 76 f, 282 f Bahnhöfe 71, 75, 288 ff
Bedürfnisgewerbeverordnung 175 Berufsfreiheit 112 ff Beschäftigte - im Einzelhandel 167 - insgesamt 183 Beschäftigungsverbot/ -recht 263 ff Betriebsrat 180 Betriebsverbot für Inhaber 72 Betriebsverfassungsgesetz 180 Christentum - Anzahl Christen in Deutschland 133 - christliche Feiertage 82 ff - Sonntagsheiligung 32 f, 35, 47, 61 Codex Iuris Canonici 34 DDR 62 ff, 134 Deutsche Einheit, Feiertag 82 Dienstleistungsfreiheit 380 f Drittes Reich 59 f Einigungsvertrag 65, 68, 80, 82 Einkaufen als seelische Ergebung 145 Einrichtungsgarantie 88 f Einzelhandel 44, 167, 170 Englischer Sonntag 40 Erfinden von Festen für verkaufsoffene Sonntage 278 f Etymologie 31 Europatag 386 Familie - Angehörige als Helfer im Laden 178 f, 239 f - gemeinsame Zeit am Sonntag 186 Feiertage 38, 60, 81 ff, 91 - christliche 82 ff
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Sachregister
- gesetzliche 81 - Gleichbehandlung mit Sonntagen im Ladenschlußrecht 25, 74 - jüdische 84 - muslimische 84 - Relevanz für Ladenschluß 82 - von Art. 139 WRV erfaßte 91 Feiertagsgesetze 81 ff, 107, 178, 355 ff Flughäfen 71, 75 Föderalismusreform - I (2004 - 2006) 23, 222 ff, 233 ff - II (ab Ende 2006) 222, 276 Fortgeltung - Bundesladenschlußgesetz 217, 242 f - Verhältnis zwischen Art. 125 a Abs. 1 zu Abs. 2 GG 242 f - § 17 BLadSchlG 248 Freigabegesetz 217, 221 Freizeit 130, 138 - Staat als Anbieter 191 - Verhältnis zu seelischer Erhebung 144 Fußball-WM, längere Öffnungszeiten 281 Gesetzgebungskompetenz - Arbeitszeit 239 f - Beschäftigungserlaubnis für Verkaufspersonal an Sonntagen 269, 273 f - erster Mai 82 - Ladenschluß 208, 243, 269, 273 - mehrere Kompetenznormen 238 - Sonn- und Feiertage 81 f - Tag der Deutschen Einheit 82 Gesundheitsschutz 199 Gewerbeordnung 50, 58 f, 80, 305 ff Gewerkschaften 138 - Träger des subjektiven Rechts 326 f, 353 - Unterstützung von Klagen gegen Berliner Ladenöffnungsgesetz 108 Gleichheitssatz 148 ff Gottesdienst 81, 105, 131 f, 135, 357 Grundrechtsnähe Art. 139 WRV 315 ff Halbfeiertag 39 Hauptgottesdienst, s. Gottesdienst
Heiliger Abend 58, 72, 83, 155 Industrialisierung 43 f Inkorporation Art. 139 WRV in GG 87 Institutionelle Garantie 88 f Institutsgarantie 88 f Islam - Anzahl Muslime in Deutschland 133 - islamische Feiertage 84 - Ladenöffnung wegen Schächtens 85 Judentum - Anzahl Juden in Deutschland 133 - jüdische Feiertage 84 - Sabbat 29 f Katholiken, s. Christentum Keck-Rechtsprechung des EuGH 366 ff Kernbereich Art. 139 WRV 92, 95 ff, 185 Koalitionsvertrag von 2005 228, 272 Kompetenz s. Gesetzgebungskompetenz Konkordate 160 ff Konkurrentenschutz 346 ff Kultur 136, 138 Kulturverfassungsrecht 390 Kurort, Erholungsort 76 f, 266, 282 f Ladenöffnungsgesetze der Länder - Fundstellen 70 f - Übersicht über Inhalt 71 ff - teilweise Verfassungswidrigkeit 267 Ladenschlußgesetz - des Bundes 69, 71 ff, 217, 242 f - der Länder 70, 71 ff, 267 - Entscheidungen des BVerfG 109 f - subjektives Recht aus 344 ff - Zweck 114 f Ladenschlußzeiten, Entwicklung seit 1956 123 Länderverfassungen 342 Lärm 188 f, 211 f Lebensverhältnisse, gleichwertige 211 f
Sachregister Liberalisierung s. Aufhebung Ladenschluß Mai, erster 60, 82, 91 Märkte, Messen 35 f, 78 Mittelalter 34 ff Muslime, s. Islam Nationalfeiertag, s. Tag der Deutschen Einheit Parlamentarischer Rat 87 Protestanten, s. Christentum Randbereich Art. 139 WRV 92, 100 ff Recht der Wirtschaft 233 ff, 239 f Rechtsnatur Art. 139 WRV 88 Reformation 39 Reisebedarf 75, 290 Religionsfreiheit 315 f, 340 Religionsgemeinschaft, als Träger eines subjektiven Rechts 324, 326, 350 ff Religionszugehörigkeit der Bevölkerung 133 Religiosität der Bevölkerung 131 ff, 135 Rhythmisierung des Lebens 97, 204 f Sabbat 29 f Schutznormtheorie 299 f Schutzpflicht des Staates 334 f Seele 136, 310 f Seelische Erhebung 135 ff, 188 ff, 310 - als besondere Freizeitgestaltung 190 - inhaltliche Umschreibung 135 f - rein subjektive Definition 131, 144 f Sonn- und Feiertagsgesetze 81 ff, 107, 177 f, 355 ff Sonntagsarbeit - Regel-Ausnahme-Verhältnis 185 - Umfang der geleisteten 184 Sonntagsgestaltung 137, 187 Sonntagsladenschluß - in Ländergesetzen 73, 75, 77 - teilweise Abschaffung 172, 200
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- völlige Abschaffung 163 ff, 173, 274, 336 Sozialsynchronisation 186 f Staatskirchenverträge 84, 358 ff Subjektives Recht auf Sonntagsschutz - Berechtigte 324 ff - Inhalt des Rechts 327 ff Tag der Arbeit, s. Mai, erster Tag der Deutschen Einheit 82 Tankstellen 75 f, 288 ff Topik 26 Umsatz im Einzelhandel - als Grund für Liberalisierung 142, 168 ff - Übersicht über Entwicklung 170 Verbraucher 157 ff Verfassungsbeschwerde, als Maßstab subjektiver Rechte 295 f Verfassungswandel 126 ff Verkaufsoffene Sonntage - Höchstzahl 77 f, 201 f - nach Ländergesetzen 77 f Verkaufsstelle 73 Vollzug 79, 281, 287, 291 Warenverkehrsfreiheit 365 ff, 384 Weimarer Reichsverfassung - Entstehung Art. 139 WRV 54 ff, 87, 303 ff - Staatskirchenrecht 54 f, 87 Weltliche Feiertage 81 Werbung 73 Werktage - Ladenöffnungszeiten 72 f - typisch werktägliche Betätigung 185 f Wettbewerbsneutralität 114, 119, 346 Zeit, Sonntagsgestaltung der Bevölkerung 137 Zeitungen, Zeitschriften 75